Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften: Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte 9783110213034, 9783110208092

The increasing cultural significance of the natural sciences presents conceptual history with the task of reorganising i

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German Pages 400 [404] Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Begriffsgeschichte epistemischer Objekte
Schwelle, Grad, Intensität. Zur Formierung dynamischer Denkfiguren im Wissensdiskurs des 18. Jahrhunderts
Vom Prinzip zum Begriff. Theodor Schwann und die Entdeckung der Zelle (1835–1838)
Katalysator – Annäherung an einen Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts
,Entwerfungsarten‘ im Zusammenhang. Zur interdisziplinären Geschichte des Projektionsbegriffs
Haben naturwissenschaftliche Begriffe eine Geschichte? Anmerkungen zum Zusammenhang von Metaphorologie und Begriffsgeschichte bei Hans Blumenberg
Von der ‚Großen Kette der Wesen‘ zur ‚Kette der Cultur‘? Eine Frage zur Verbindbarkeit von Traditionsgehalten
Übertragungen im Informationsbegriff
Dreifache Dezentrierung. Canguilhem und die Geschichte wissenschaftlicher Begriffe
Die Sprache des Fehlers. Foucault liest Canguilhem (und Darwin)
Kontinuität und Kontamination. Georges Canguilhems Begriffsgeschichte des Reflexes
Reflex. Begriff und Experiment
Begrifflich angeleitete Natursimulation im physikalischen Experiment von Galilei bis Hertz – Zur historischen Rekonstruktion physikalischer Grundbegriffe
Die Konstruktion semantischer Kontinuität in der wissenschaftlichen Begriffsbildung
Funktionen der Begriffsgeschichte
Begriffsgeschichte des Mediums oder Mediengeschichte von Begriffen? Methodologische Überlegungen
Die Emotion in der Maschine
Oszillation und Reversibilität. Neue Begrifflichkeiten in der Krebsforschung? Vom Querdenken innerhalb von Begriffstraditionen
Monods Tagtraum. Begriff und Gestalt
Die Geschichte der Begriffe als Geschichte des Wissens. Methodische Überlegungen zum ‚practical turn‘ in der Historischen Semantik
Begriff und Praxis am Beispiel der Elektrizitätslehre um 1800
Backmatter
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Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften: Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte
 9783110213034, 9783110208092

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Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften



Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte

Herausgegeben von

Ernst Müller und Falko Schmieder

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020809-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Martin Zech, Bremen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Vorwort Der vorliegende Band geht auf eine im Februar 2007 von den Herausgebern am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Berlin) veranstaltete Tagung zurück. Sie diente der Vorbereitung eines Projektes zur Interdisziplinären Begriffsgeschichte, doch hat uns ein breiteres wissenschaftliches Interesse dazu ermutigt, die dort gehaltenen Vorträge zu veröffentlichen. Der Band führt Vertreter unterschiedlichster Disziplinen wie Philosophen, Naturwissenschaftler, Wissenschaftshistoriker, Philologen und Kulturwissenschaftler zusammen. Es ist dabei keineswegs zufällig, sondern der Thematik geschuldet, dass viele der Autoren über die Doppelqualifikation eines geistes- und eines naturwissenschaftlichen Faches verfügen und mithin die Grenze zwischen den ‚zwei Kulturen‘ (Charles Percy Snow) gleichsam professionell unterlaufen. Der Titel ‚Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften‘ erweckt dagegen den Eindruck, zunächst die Trennung der zwei Kulturen erneut zu befestigen und die Dichotomien nur einseitig zu kreuzen. Dennoch schien es angebracht, den Fokus einmal scharf auf das heikelste Problemfeld einer interdisziplinären Begriffsgeschichte zu lenken und die Grenzüberschreitungen von hier aus zu starten. Die Autoren waren aufgefordert, exemplarische begriffsgeschichtliche Untersuchungen mit methodischen Überlegungen zu verknüpfen. Der Ertrag des Bandes liegt deswegen auch in Beiträgen zur Geschichte ausgewählter Begriffe: Experiment, Gen, Protein, Information, Katalyse, Reflex, Zelle, Schwelle – Grad – Intensität, Projektion, Elektrizität, Masse – Gravitationsmasse, Körper, Medium, Diversität und Oszillation. Wir freuen uns, dass sich nicht nur nahezu alle Tagungsteilnehmer an dieser Publikation beteiligt haben, sondern mit Gunhild Berg, Peter Berz, Otniel E. Dror, Ohad Parnes, Erik Porath, Frank Rösl und Benjamin Steininger die Liste der Autoren und damit das Themenspektrum noch stark erweitert werden konnte. Der besondere Dank der Herausgeber geht an Sigrid Weigel. Sie hat nicht nur die Tagung großzügig unterstützt, sondern überhaupt zur kulturwissenschaftlichen ‚Neuentdeckung‘ der Begriffsgeschichte sowie zur Schärfung der hier verhandelten Fragestellungen wesentlich beigetragen. – Problemlos und professionell gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Verlag Walter de Gruyter, der der Veröffentlichung dieses thematisch

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Vorwort

hybriden Buches ohne Zögern zugestimmt hat. – Veit Friemert hat uns mit der Übersetzung des Beitrages von Otniel Dror unterstützt. – Herzlich danken wir schließlich Silvia Pohl, die mit bewährter Sorgfalt und Geduld das Manuskript lektoriert und druckfertig gestaltet hat. Ernst Müller, Falko Schmieder

Berlin, September 2008

Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................................. V Ernst Müller / Falko Schmieder Einleitung ............................................................................................................ XI Hans-Jörg Rheinberger Begriffsgeschichte epistemischer Objekte......................................................... 1

BEGRIFFS- UND FIGURENGESCHICHTLICHE EXEMPEL Erich Kleinschmidt Schwelle, Grad, Intensität. Zur Formierung dynamischer Denkfiguren im Wissensdiskurs des 18. Jahrhunderts.................................. 13 Ohad Parnes Vom Prinzip zum Begriff. Theodor Schwann und die Entdeckung der Zelle......................................... 27 Benjamin Steininger Katalysator – Annäherung an einen Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts ........................................................................................... 53 Falko Schmieder ‚Entwerfungsarten‘ im Zusammenhang. Zur interdisziplinären Geschichte des Projektionsbegriffs .......................... 73

METAPHER UND ÜBERTRAGUNG Dieter Teichert Haben naturwissenschaftliche Begriffe eine Geschichte? Anmerkungen zum Zusammenhang von Metaphorologie und Begriffsgeschichte bei Hans Blumenberg ............................................... 97

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Inhaltsverzeichnis

Christian Strub Von der ‚Großen Kette der Wesen‘ zur ‚Kette der Cultur‘? Eine Frage zur Verbindbarkeit von Traditionsgehalten .............................117 Ernst Müller Übertragungen im Informationsbegriff.........................................................129

REFLEX UND BEGRIFF Hennig Schmidgen Dreifache Dezentrierung. Canguilhem und die Geschichte wissenschaftlicher Begriffe ...................149 Philipp Sarasin Die Sprache des Fehlers. Foucault liest Canguilhem (und Darwin) ......................................................165 Yvonne Wübben Kontinuität und Kontamination. Georges Canguilhems Begriffsgeschichte des Reflexes ..............................175 Margarete Vöhringer Reflex. Begriff und Experiment......................................................................203

(RE)KONSTRUKTIONEN DER BEGRIFFSGESCHICHTE Winfried Thielmann Begrifflich angeleitete Natursimulation im physikalischen Experiment von Galilei bis Hertz – Zur historischen Rekonstruktion physikalischer Grundbegriffe .............................................215 Andreas Bartels Die Konstruktion semantischer Kontinuität in der wissenschaftlichen Begriffsbildung ................................................................223 Carsten Dutt Funktionen der Begriffsgeschichte.................................................................241 Erik Porath Begriffsgeschichte des Mediums oder Mediengeschichte von Begriffen? Methodologische Überlegungen..................................................253

Inhaltsverzeichnis

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VOR UND GEGEN DEN BEGRIFF Otniel E. Dror Emotion in der Maschine ................................................................................275 Frank Rösl Oszillation und Reversibilität. Neue Begrifflichkeiten in der Krebsforschung? Vom Querdenken innerhalb von Begriffstraditionen ............................................................................................287 Peter Berz Monods Tagtraum. Begriff und Gestalt .......................................................301

MATERIALITÄT UND PRAXEN Gunhild Berg Die Geschichte der Begriffe als Geschichte des Wissens. Methodische Überlegungen zum ‚practical turn‘ in der Historischen Semantik .....................................................................................327 Olaf Breidbach Begriff und Praxis am Beispiel der Elektrizitätslehre um 1800 .................345 Zu den Autoren.................................................................................................365 Personenregister ................................................................................................371

Ernst Müller / Falko Schmieder

Einleitung Naturwissenschaften und Begriffsgeschichte gingen lange getrennte Wege. Zu tief war und ist der methodische Riss zwischen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Wenn der Wiener Wissenschaftshistoriker Edgar Zilsel bereits 1930 schrieb, in den letzten 40 Jahren habe sich „ein erheblicher Teil der Philosophen damit beschäftigt, zwischen gesellschaftlichen und Naturvorgängen möglichst viele Trennungsschranken zu errichten“,1 so lässt sich seine Aussage mutatis mutandis auf das tradierte Verhältnis von Begriffsgeschichte und Naturwissenschaften beziehen. Dennoch sind in jüngerer Zeit vielversprechende, wenn auch spannungsreiche Annäherungen beider Wissenskulturen zu erkennen. Seitens der Begriffsgeschichte haben vor allem die medien- und kulturwissenschaftliche Neubesinnung der Geisteswissenschaften sowie der Abschluss der großen Wörterbuchprojekte Debatten über eine Erweiterung der Gegenstandsfelder und ihre methodologische Neuausrichtung angestoßen.2 Zu den in diesem Zusammenhang diskutierten Forderungen gehört eine interdisziplinarisierte, naturwissenschaftliche Konzepte einbeziehende Begriffsgeschichte. Die kulturwissenschaftliche Konfiguration der Gegenstände, die wissenschaftsgeschichtliche Ausrichtung und die Untersuchung des Begriffstransfers zwischen verschiedenen Wissenschaften erfordert die Einbeziehung erweiterter Methoden, wie die der Metaphern- und Rhetorikforschung, der Diskurstheorie und Epistemologie sowie der ikonischen Semantiken. Da Hans Blumenberg schon 1960 in seinen Überlegungen zu einer Metaphorologie „die Zusammenarbeit mit der Naturwissenschaftlichen Klasse“ der Mainzer Akademie gefordert hatte, können die gegenwärtigen Bemühungen auch als Wiederaufnahme zeitweilig ausgeschlos-

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Edgar Zilsel, Soziologische Bemerkungen zur Philosophie der Gegenwart. In: Der Kampf 23 (1930), S. 410–424, hier S. 411, zit. nach Johann Dvoőak, Zu Leben und Werk Edgar Zilsels und zur Soziologie des Geniekults. In: Edgar Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung, hg. u. eingel. v. J. Dvoőak. Frankfurt a.M. 1990, S. 16. Ernst Müller (Hg.), Begriffsgeschichte im Umbruch? (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jg. 2004) Hamburg 2005.

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sener oder nur randständig bearbeiteter Forschungsansätze angesehen werden.3 Befreit sich die Begriffsgeschichte allmählich von ihrer geisteswissenschaftlichen und ideengeschichtlichen Fixierung, so lässt sich auf dem Feld der Wissenschaftsgeschichte, die in diesem Prozess zweifellos eine wichtige Vorreiterrolle gespielt hat, umgekehrt ein zunehmendes Interesse an der Begriffsgeschichte konstatieren. Zwar hat die Konzentration auf das konkrete Forschungshandeln und die experimentellen Praktiken der Wissensproduktion zunächst vor allem Mikrogeschichten privilegiert. „Doch je kürzer dabei die untersuchten Zeiträume geworden sind, umso mehr droht die systematische Ausblendung der historischen Dauer. Gerade um die Wiederkehr der großen Fortschrittserzählungen zu verhindern, ist es an der Zeit, nach längerfristigen historischen Anschlüssen solcher lokalen Geschichten zu fragen, ohne deren Detailreichtum aufzugeben.“4 Vor diesem Hintergrund ist das verstärkte Interesse an den Arbeiten von Ludwik Fleck zusehen und auch an Georges Canguilhem, der zu den Begründern der epistemologischen Historie zählt und die Wissenschaftsgeschichte methodisch auf der Begriffsgeschichte gegründet hat.5 – Ein weiterer Ausgangspunkt für die Begriffsgeschichte findet seinen Ausdruck in grenzüberschreitenden, auf die neue Qualität der Durchdringung von ,Natur‘ und ,Kultur‘ abhebenden Theorien, die mit Begriffen wie ,Hybride‘ (Bruno Latour), ,epistemisches Ding‘ (Hans-Jörg Rheinberger), ,dritte Kultur‘ (John Brockman) oder dem Natur-Schrift-Diskurs gefasst werden. Die Begriffsgeschichte ist vielleicht die Disziplin, die solche Hybridbildungen in ihrer Genese aufzeigen könnte. Dieser Perspektivenwechsel vollzieht sich auch vor dem Hintergrund rasanter, oft krisenhafter Entwicklungen der Wissenschaften, insbesonde_____________ 3

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Hrn. Blumenbergs Nachbemerkungen zum Bericht über das Archiv für Begriffsgeschichte. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, 17 (1967), S. 79– 81, hier S. 80. Zu Blumenberg vgl. Sigrid Weigel, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006, S. 242–245. Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie. Frankfurt a.M. 2006, S. 17. Vgl. Georges Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Wolf Lepenies, Frankfurt a.M. 1979. Zu inhaltlichen Interferenzen zwischen der historischen Epistemologie in Frankreich (Gaston Bachelard) und Ludwik Flecks wissenssoziologischem Ansatz vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg 2007, insbes. S. 35–55. – Canguilhems Reflexschrift enthält wohl die ausführlichste Darlegung seiner Methode der Begriffsgeschichte und ein Exempel ihrer praktischen Durchführung. Deren erste deutsche, kommentierte Übersetzung ist gerade erschienen: Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert. A. d. Frz. übers. u. durch e. Vorw. eingel. v. Henning Schmidgen. München 2008. Vgl. auch Cornelius Borck / Volker Hess / Henning Schmidgen (Hg.), Maß und Eigensinn. Studien im Anschluß an Georges Canguilhem. München 2005.

Einleitung

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re der Naturwissenschaften selbst, die zu einer Reflexion ihrer geschichtlichen Voraussetzungen drängen. Für das epistemische Selbstverständnis vieler Naturwissenschaftler gilt zwar nach wie vor, dass „das jeweils aktuelle Prozedieren von Naturwissenschaft zumeist ohne Historisierung auskommt und sich eher durch das Abstoßen von überkommenen Wissensbeständen regeneriert, ohne diese Abstoßungsprozesse einer expliziten Reflexion zu unterziehen.“6 Doch die wissenschaftliche Dynamik basiert oftmals auf technischen Systemen, Medientechniken und Analyseverfahren, die quasi naturwüchsig aus externen Kontexten in die jeweiligen Disziplinen eingewandert sind. Zudem ergeben sich neue wissenschaftliche Entwicklungen häufig an den Schnittstellen benachbarter Forschungsfelder, was blinde Flecken oder aber Fragen nach der Bedeutung der übernommenen wissenschaftlichen Begriffe und den Bedingungen interdisziplinärer Verständigung aufwirft. Indem sich aber die Wissenschaften der Bedingungen und der Reflexionsformen zu vergewissern suchen, die in ihre Forschungs- und Erkenntnistätigkeit eingegangen sind, begreifen sie sich selbst und die Verfahren, mit denen sie Wirklichkeit bearbeiten, als geschichtlich und kulturell geprägt.7 Freilich werden Naturwissenschaftler weiterhin eine ahistorische Perspektive auf Begriffe ihrer Forschungsobjekte haben, wie die Diskussionen um die neuesten molekulargenetischen oder neurowissenschaftlichen Entwicklungen zeigen. Im vorliegenden Band betont FRANK RÖSL bezogen auf den interdisziplinären Begriffstransfer die institutionellen Hindernisse sowie die kompetitiven und wissenschaftspolitischen Aspekte, auf die schon Flecks Kategorien des Denkstils und Denkkollektivs zielten.8 Gerade vor dem Hintergrund der immer gravierenderen sozialen und kulturellen Folgen naturwissenschaftlichen Handelns wird es jedoch dringlicher, „einzelne Phänomene und Erkenntnisse auf ihre historischen, konzeptuellen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen hin zu untersuchen und in größere Kontexte zu stellen“.9 Die Reflexion auf die Sprachbedingtheit von Denken und Handeln in der Wissensproduktion ist dafür unabdingbar. Eine Voraussetzung für eine wechselseitige Durchdringung von Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte ist die Aufarbeitung der Geschichte _____________ 6 7 8 9

Vgl. den Bericht von Erik Porath, Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften – die historische Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte. Ein Workshop des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung. In: Weimarer Beiträge 53 (2007) 3, S. 452–465, hier S. 452. Vgl. Michel Fichant / Michel Pêcheux, Überlegungen zur Wissenschaftsgeschichte. A. d. Frz. v. B. Schwibs. Frankfurt a.M. 1977. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Basel 1935 (Nachdr. Frankfurt a.M. 1980). Sigrid Weigel, Geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung zwischen Tradition und Modernisierung. In: Perspektiven geisteswissenschaftlicher Forschung, hg. v. Vorstand des Vereins Geisteswissenschaftlicher Zentren Berlin. Berlin 2002, S. 28–36, hier S. 31.

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ihrer (historischen, disziplinären und internationalen) Trennungen.10 Das Getrennte aufeinander zu beziehen, verspricht Synergieeffekte. In der Wissenschaftsgeschichte und in der geistesgeschichtlich ausgerichteten Begriffsgeschichte haben sich zwei, auch national konnotierte Traditionen begriffsgeschichtlicher Reflexion ausgebildet, die sich wechselseitig kaum zur Kenntnis oder wenigstens nicht ernst genommen haben. Wenn es in jüngerer Zeit in den Technik- und Naturwissenschaften durchaus Anstrengungen einer historischen Reflexion der eigenen Begriffe gibt, so entstehen solche Unternehmungen oft völlig unabhängig von den methodischen Standards bisheriger begriffsgeschichtlicher Forschung.11 Umgekehrt ist es symptomatisch, dass von der institutionalisierten Begriffsgeschichte die eigentlich einschlägigen Ansätze Flecks und Canguilhems lange ebenso vernachlässigt worden sind12 wie die begriffs- und bedeutungstheoretischen Arbeiten, die in den Diskussionen um das Werk von Thomas S. Kuhn entstanden sind.13 Die der traditionellen Begriffsgeschichte bis heute zum Vorwurf gemachte Überbetonung der Kontinuität, ihre geistesgeschichtliche Fixierung und die Ausblendung der Metaphorologie sind in diesen Debatten bereits diskutiert worden. Komplementär dazu ist die Wissenschaftsgeschichte von den Pionierarbeiten der Begriffsgeschichte lange unbeeindruckt geblieben. Erst in jüngster Zeit werden die Arbeiten von Blumenberg rezipiert und es lassen sich Bemühungen erkennen, die Ergebnisse begriffsgeschichtlicher Forschung und Methodenreflexion für wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen fruchtbar zu machen.14 Verfechter des traditionellen ideengeschichtlichen Ansatzes verweisen zurecht auf theoretische Errungenschaften sowie kategoriale und methodische Standards begriffsgeschichtlicher Forschung, hinter die nicht zurückgegangen werden sollte. In einer Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften kehren viele methodische Probleme wieder, die in den Geistes_____________ 10 11

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Die Herausgeber erarbeiten zurzeit eine Monographie zur Begriffsgeschichte und historischen Semantik, die u. a. die Folgen der Trennungsgeschichte aufzuzeigen versucht. Vgl. Alfred Warner, Historisches Wörterbuch der Elektrotechnik, Informationstechnik und Elektrophysik. Zur Herkunft ihrer Begriffe, Benennungen und Zeichen. Frankfurt a.M. 2007; Karl-Heinz Schlote, Chronologie der Naturwissenschaften. Der Weg der Mathematik und Naturwissenschaften von den Anfängen in das 21. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2002. Auf die Bedeutung Flecks für die Begriffsgeschichte hat insbesondere Clemens Knobloch aufmerksam gemacht. Clemens Knobloch, Überlegungen zur Theorie der Begriffsgeschichte aus sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht. In: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), S. 7–24. Vgl. Nancy J. Nersessian, Faraday to Einstein: Constructing Meaning in Scientific Theories. Dordrecht 1984; Andreas Bartels, Bedeutung und Begriffsgeschichte. Die Erzeugung wissenschaftlichen Verstehens. Paderborn 1994. Vgl. die umfangreiche Aufarbeitung der Literatur zur Metapher in Christina Brandt, Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischen Code. Göttingen 2004.

Einleitung

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und Sozialwissenschaften diskutiert wurden. Auch behalten einige der hier von CARSTEN DUTT in seinem Aufsatz betonten zentralen Funktionen der philosophischen Begriffsgeschichte wie die Auflösung des Scheins von Begriffskonstanz, die Rekonstruktion von Begriffsnetzen und die Erklärung von Begriffswandel für das Unternehmen einer Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften ihre Relevanz. Es könnte sogar sein, dass dem Kontinuitätsmythos in der geisteswissenschaftlich geprägten Begriffsgeschichte eine Blindheit für konstante semantische Elemente bei naturwissenschaftlichen Begriffen entspricht, weswegen hier Begriffsentstehungstheorien überwiegen, denen die Vor- und Nachgeschichte fehlt. In den Aufsätzen des vorliegenden Bandes erscheinen Kategorien wie Deutungsmacht, kulturelles Kapital oder Kampfcharakter von Begriffen. Sie zeigen möglicherweise, dass sich der Bruch zwischen der mit dem Namen Joachim Ritter verbundenen, an Fachtermini orientierten, und der auf Reinhard Koselleck zurückgehenden, auf den politisch-sozialen Sprachgebrauch zielenden Begriffsgeschichte in der Wissenschaftsgeschichte leichter unterlaufen lässt. Doch Bemühungen um eine Integration von Begriffsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte sehen sich zugleich mit dem Problem konfrontiert, dass es mit einer einfachen Anwendung oder Übernahme begriffsgeschichtlicher Methoden allein nicht getan ist. Da die Begriffsgeschichte zunächst in der Philosophie, Philologie und Geschichtswissenschaft, also in solchen Disziplinen und an solchen Gegenständen entwickelt worden ist, die sich lange im methodischen Gegensatz zu den Naturwissenschaften verstanden haben, bedarf ihr Instrumentarium, soll es auf wissenschaftsgeschichtliche Gegenstände und naturwissenschaftliche Begriffe bezogen werden, einer Reflexion, wenn nicht Revision. Bei allem Bemühen um eine Erweiterung der Begriffsgeschichte ist nicht zu vergessen, dass die Entgegensetzung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften nicht umstandslos übersprungen werden kann. Denn natürlich sind die Geltungsansprüche der Naturwissenschaften systematischer, nicht historischer Natur, und aus diesem Grund hat die Wissenschaftsgeschichte die Wissenschaften als Geschichte eines „wahrheitsorientierten Diskurses“ zu behandeln.15 Der Beitrag von DIETER TEICHERT in diesem Band zielt auf diesen Umstand, wenn er – mit Ernst Cassirer – festhält, dass eine Begriffs- und Metapherntheorie nur für nicht-formalisierbare Naturwissenschaften sinnvoll ist; formalisierbare Wissenschaften wie die Mathematik oder Physik operierten dagegen mit reinen Relationsbegriffen. _____________ 15

Michel Foucault, Vorwort von Michel Foucault [zu: G. Canguilhem, On the Normal and the Pathological. Boston 1978]. In: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band III: 1976–1979, hg. v. Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Frankfurt a.M. 2003, S. 551–567, hier S. 558.

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Dass dennoch selbst auf dem Gebiet der Physik die Methode der Begriffsgeschichte sinnvoll und notwendig ist, verdeutlichen in diesem Buch die Aufsätze von WINFRIED THIELMANN und ANDREAS BARTELS. Während Begriffe der Physik durchaus disziplinenüberschreitend und interdiskursiv sind, haben sich, wie BENJAMIN STEININGER zeigt, nur wenige Begriffe der Chemie (wie Katalysator) von ihrem funktionalen Ursprungskontext gelöst, so dass sie als Metapher chemisches Wissen und chemischen Weltzugang in der Sprache anzeigen. Auch stellt die Berücksichtigung der materiellen Faktoren naturwissenschaftlichen Forschungshandelns neue Probleme, die mit dem traditionellen hermeneutischen Verfahren der philosophischen Begriffsgeschichte schwerlich angegangen werden können. In der Geschichte der Naturwissenschaften stellen „die technisch-apparative Ebene wie die konkreten, materiellen Praktiken der Durchführung von Experimenten Eigendynamiken dar, während eine Grundlage der traditionellen geisteswissenschaftlichen Begriffsgeschichte die These von der Begriffsbildung als einem der wichtigsten Artikulations- und Operationsmittel der theoretischen Orientierung im Prozess der Wissensgenerierung war.“16 Eine Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften will mehr und anderes: Sie möchte u. a. zeigen, wie der Bedeutungswandel von Begriffen zusammenhängt mit kulturellen Leitvorstellungen, medialen Techniken und Experimentierverfahren. Im Sinne von Foucaults Archäologie des Wissens arbeitet sie heraus, unter welchen Bedingungen Wissen, Begriffe, Redeweisen, einschließlich der Objekte, über die gesprochen wird, sich konstituieren. In diesem Sinne geht es in der Studie von GUNHILD BERG um die historische Analyse der diskursiven Formierung des Experiment-Begriffs. In der methodischen Trennung kommen naturwissenschaftlicher Positivismus und geisteswissenschaftliche Hermeneutik darin überein, dass sie die Gegenstände der Naturwissenschaften als ein naturgegebenes Faktum unterstellen. Der Bakteriologe und Wissenssoziologe Fleck hat die wissenschaftliche Tatsache am Beispiel der Syphilis selbst als historisch erzeugten und variierbaren Begriff aufgezeigt. Im vorliegenden Band sind es eine ganze Reihe von solchen Objekten (Gen, Zelle, Protein), deren vordergründige Faktizität in Relationen begrifflich-praktischer Genese aufgelöst wird. Ein solcher antihermeneutischer Ansatz ist auch dadurch legitimiert, dass wissenschaftliche Disziplinen theoretische Voraussetzungen machen, die sie selbst disziplinär nicht einholen können. Für die Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften stellen sich damit auch Probleme der ‚blinden Flecken‘, des Verdrängten und der Grenzen zum Nicht-Wissen. Konzepte _____________ 16

Porath, Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften [Anm. 6], S. 452.

Einleitung

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einer begriffsgeschichtlich angeleiteten Wissenschaftsgeschichte, die das Nichtverstehen von Bereichen konstitutiv aufnehmen oder eine „Genealogie von Fehlschlägen“ rekonstruieren, fehlen bisher.17 PHILIPP SARASIN nimmt das Problem in seiner Foucault-Lektüre auf, OTNIEL DROR zeigt in historischen Varianten, wie sich der Begriff der Emotion als Fehler oder Störfaktor, als das Regelwidrige, Unerklärliche, Abweichende oder Ausgeschlossene des maschinell und begrifflich scharf gefassten Körpers konstituiert. Unter der Perspektive der Naturwissenschaften verändern sich das Verständnis der Begriffsgeschichte und ihre Fragestellungen. Wie auch die Untersuchungen im vorliegenden Band zeigen, geht es weniger um die historisch wechselnden Bedeutungen eines Terminus, sondern um Begriffsentstehungsprozesse, nicht abstrakt um ideelle Begriffe, sondern zugleich um deren materiale Einbindung in Praktiken und nichtdiskursives Wissen. Einige der im dichten Beziehungsgeflecht der einzelnen Begriffe wiederkehrenden Muster und zentralen Problemkreise sollen wenigstens andeutungsweise bezeichnet werden.

Formen neuer Begriffsgeschichtsschreibung Die Begriffsgeschichte als Methode steht wie die Gegenstände, die sie untersucht, nicht außerhalb der Geschichte. Es liegt daher nahe, dass sie sich im Zuge ihrer Interdisziplinarisierung und speziell im Zusammenhang ihrer Anwendung auf die Naturwissenschaften grundlegend wandeln muss. HENNING SCHMIDGEN stellt in seiner Abhandlung mit Canguilhem drei Dezentrierungen der Begriffsgeschichte heraus: die Dezentrierung der Geschichte bedeutet, dass der Gegenwart für die Geschichtsschreibung eine zentrale epistemologische Bedeutung zukommt. Sie liefert die Beurteilungskriterien und Motive für die wissenschaftliche Rekonstruktion, womit zugleich gesagt ist, dass die Begriffsgeschichte eine normative Komponente hat. Die Dezentrierung der Wissenschaft zielt auf die historische Konstellation, in der sich ein später wissenschaftlich gewordener Begriff herausgebildet hat. Eine Begriffsgeschichte in diesem Sinne prozediert als Rekonstruktion der Genealogie eines wissenschaftlichen Begriffs beziehungsweise seiner Vorgeschichte. Das auffällige Interesse vieler Beiträge für solche historischen Konstellationen und Schauplätze, auf denen Begriffe neu eingeführt werden, hängt offenbar damit zusammen, dass hier _____________ 17

Vgl. Wolfgang Neuser, Natur und Begriff. Studien zur Theorienkonstitution und Begriffsgeschichte von Newton bis Hegel. Stuttgart u. Weimar 1995, S. 16; Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Rev. u. erw. Neuaufl. Frankfurt a.M. 2002, S. 119.

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die Probleme von Begriffsbildungen besonders gut studiert werden können. Weil die Begriffsgeschichte die historischen Brüche und Bedeutungswandlungen besonders klar reflektiert, setzten nahezu alle Pionierarbeiten zu einer Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften an wissenschaftlichen Wendepunkten an. Die Dezentrierung des Begriffs schließlich setzt sich von terminologiegeschichtlichen und lexikologischen Formen einer Begriffsgeschichtsschreibung ab, die auf den isolierten Wortkörper fixiert ist. Ein wissenschaftlicher Begriff ist nach Canguilhem dann formiert worden, wenn sich eine geregelte Verbindung eines terminologischen Ausdrucks mit der Sache und einer Vorstellung aufweisen lässt. Eine solche triadische Begriffskonzeption erlaubt eine differenzierte Betrachtung der Relationen der einzelnen Begriffskomponenten, die für die Analyse der Entstehung semantischer Neuerungen von Bedeutung sind. Die Dezentrierung des Begriffs führt auch zu Darstellungsformen, die sich historisch wandelnden Konstellationen mehrerer, wechselseitig voneinander abhängiger Begriffe widmen (vgl. den Beitrag von ERICH KLEINSCHMIDT zum Zusammenhang von Schwelle, Grad, Intensität). Damit überschreitet die Begriffsgeschichtsschreibung – und das geht mit der wiederkehrenden Kritik an der am Alphabet orientierten Lexikographie einher – die traditionelle Orientierung an einem Begriffswort zugunsten von Untersuchungen begrifflicher Netzwerke und Clusterbildungen. YVONNE WÜBBEN und MARGARETE VÖHRINGER treiben mit kritischem Bezug auf Canguilhem das Programm einer Dezentrierung des Begriffs sogar noch weiter. Die Rekonstruktion der Geschichte des Reflexbegriffs erfordert unerlässlich eine Überschreitung des Feldes der Wissenschaften und die Untersuchung von Spuren außerdisziplinärer Sphären, die zur Formierung des Begriffs beigetragen haben. Im Fall der Herausbildung des Reflexbegriffs betrifft das vor allem ikonische Traditionen, diagrammatische Kontexte und biopolitische Praktiken. Auch im Falle des Proteins steht, folgt man PETER BERZ, am Anfang eine ikonische Figur. Gerade viele aktuell interessierende Begriffe lassen sich im Sinne Canguilhems nicht als definierte begreifen. Sie sind konstitutiv unscharf, ihre Entwicklung ist nicht abgeschlossen, gerade die tendenzielle Unbeherrschbarkeit der Begriffe ist es aber auch, die unvorhergesehene Zusammenhänge stiftet (vgl. dazu HANS-JÖRG RHEINBERGER). Die begriffliche Unschärfe ist produktiv, Begriffe sind nur solange forschungsleitend, wie sie sozusagen etwas zu wünschen übrig lassen. Umgekehrt können scharfe begriffliche Distinktionen wegen ihrer zu großen Restriktivität zu einem Forschungshindernis werden.

Einleitung

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Begriffe und Praktiken Eine Vielzahl von Beiträgen bekräftigt die Auffassung, dass eine Geschichte naturwissenschaftlicher Begriffe ohne die Reflexion ihrer materialen Einbindung in konkrete Forschungspraktiken und Experimentalsysteme unzulänglich ist. Einbindung heißt dabei auch, dass Begriffe in keinem nur äußerlichen, etwa abbildenden Verhältnis zur Praxis stehen, sondern in Form verkörperter kognitiver Gehalte als praktische Agentien im Forschungsprozess fungieren. Im Anschluss an RHEINBERGER lässt sich dabei zwischen stabilen und instabilen gegenständlichen Verankerungen von Begriffen unterscheiden.18 Stabile Begriffsverkörperungen seien vergegenständlichte Theoreme, technische Dinge oder, mit dem Begriff Gaston Bachelards, ‚Phänomenotechniken‘, die eine definierte Funktion besitzen. Als Ensemble von Experimentalbedingungen erzeugten sie den standardisierten Rahmen des Forschungsprozesses. In diesem Rahmen instabil verankert seien die ,epistemischen Dinge‘ als spezifische wissenschaftliche Erkenntnisgegenstände, an denen oder über die Wissen gewonnen werden soll. Für die Begriffsgeschichte bilden diese hybriden Objekt/Begriffs-Paare aufgrund ihrer konstitutiven Unschärfe eine besondere Herausforderung. Es scheint so, als ob die Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften das alte Thema der traditionellen Begriffsgeschichte – die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Metapher – im Zusammenhang des Studiums konkreter Experimentalsysteme und ihrer historischen Dynamik als Frage nach dem Verhältnis der Aufeinanderfolge und dem Zusammenwirken verschiedener Phänomenotechniken und epistemischer Objekte untersuchen muss. Dass dabei mit Ungleichzeitigkeiten und einem nicht so schnell zu schließenden Hiatus zwischen Begriffen und Praktiken zu rechnen ist, zeigt OLAF BREIDBACH in seinem Beitrag zur Elektrizität. Es ist natürlich sehr plausibel, wenn die jüngere Wissenschaftsgeschichte sich nicht mehr vorrangig auf die Fortentwicklung von Theorien konzentriert bzw. sich darauf beschränkt. Praktiken können Begriffe implizieren – sind sie aber tatsächlich schon selber welche? Wie sonst sollte man das praktische Wissen im Experimentieren beschreiben; umgekehrt aber lassen sich Experimente in ganz unterschiedlichen Richtungen begrifflich deuten. Sind Begriffe also an Sprache gebunden oder ist jeder, etwa auch experimentelltechnischer Bedeutungskomplex bereits ein Begriff? _____________ 18

Rheinberger, Objekt und Repräsentation. In: Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, hg. v. Bettina Heintz u. Jörg Huber. Zürich, Wien u. New York 2001, S. 55–61. Ders., Experiment: Präzision und Bastelei. In: Instrument – Experiment. Historische Studien, hg. v. Christoph Meinel. Berlin 2000, S. 52–60.

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Ein anderes wichtiges Problemfeld, das auf einen weiteren locus classicus der traditionellen Begriffsgeschichte verweist, ist die Frage nach dem ‚Eigenleben‘ der Begriffe, das, bezogen auf die Naturwissenschaften, mitunter eine geradezu unmetaphorische Dimension anzunehmen scheint. Die hier versammelten Studien liefern diesbezüglich unterschiedlichste Perspektiven. Einige Beiträge verhandeln die Eigendynamik sogar als Biologie der Begriffe (vgl. HENNING SCHMIDGEN, PHILIPP SARASIN, PETER BERZ) und entwerfen damit ein extremes Gegenstück zur geistesgeschichtlichen Begriffsgeschichte. Für YVONNE WÜBBEN emergieren Begriffe dagegen nicht direkt aus einer lebendigen Wissenschaft, sie sind eingebunden in die menschliche Geschichte und ihre Narrationen. In diese Richtung verweist auch WINFRIED THIELMANNS handlungstheoretischer Ansatz, der den ursprünglichen Zweck und das Problemlösungspotential historisch am Beispiel des Körperbegriffs untersucht.

Kontinuität – Bruch – Paradigmenwechsel Die neuere Wissenschaftsgeschichtsschreibung gründet auf der These, dass sich die Entwicklung der Wissenschaften nicht kontinuierlichsukzessiv oder gar teleologisch vollzieht, sondern dass sich in ihr revolutionäre Brüche (epistemologische Einschnitte, Paradigmenwechsel) ereignen. In Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen hat Thomas S. Kuhn ein Schema erarbeitet, das den Prozess des Theorienwandels erfassen soll. Eine Phase so genannter normaler Wissenschaft gerate an einem bestimmten Punkt in eine Krise, auf die ein Paradigmenwechsel folge. Diese wird von Kuhn wesentlich sprachgebunden als Wandel der Begriffssysteme dargestellt. Er führt dazu, dass die Wissenschaftler vor und nach dem Bruch verschiedene Sprachen sprechen; synchron betrachtet heißt das, dass Wissenschaftler, die verschiedene Paradigmen verfolgen, einander nicht verstehen. Auch in Canguilhems Wissenschaftsgeschichtsschreibung spielt der Begriff der Diskontinuität eine zentrale Rolle, und auch hier ist es primär die Betrachtung der „Formung, Umformung und Formalisierung der Begriffe“,19 die das Charakteristikum seiner epistemologischen Historie ausmacht. ANDREAS BARTELS fasst in seinem Beitrag die Begriffsgeschichte als Teilmoment und Medium des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts

_____________ 19

Canguilhem, Die Geschichte der Wissenschaften im epistemologischen Werk Gaston Bachelards. In: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie [Anm. 5], S. 7–21, hier S. 9.

Einleitung

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auf: In seinem ‚chains-of-meaning-Ansatz‘ wird die Begriffsdynamik selbst zum Angelpunkt wissenschaftlicher Begriffe. Ihre Identität ist nicht durch alle semantischen, von der jeweiligen Theorie ausgehenden Merkmale allein bestimmt, sondern die Begriffe verdanken ihre Identität zugleich dem Licht, das durch die jeweiligen historischen Nachbarn auf sie geworfen wird. Interessant ist dieser Lösungsversuch eines zentralen Problems moderner, vom Vorwurf einer ideengeschichtlichen Verengung sicher freizusprechenden Wissenschaftstheorie auch deswegen, weil ‚chains-of-meaning‘ doch die zentrale Metapher des Standardwerks der amerikanische Ideengeschichte aufruft (Arthur O. Lovejoys The Great Chain of Being), die wiederum CHRISTIAN STRUB in diesem Band einer erneuten Lektüre und Interpretation unterwirft. Mit der Multiplizierung epistemologisch relevanter Faktoren im Zuge der Dezentrierung des Begriffs, mit der Einbeziehung anderer Textsorten (wie der von OHAD PARNES untersuchten Labortagebücher des Zelltheoretikers Theodor Schwann) scheint sich dabei der Fokus von den großen Umbrüchen auf die Permanenz wissenschaftlichen Wandels und auf Mikrobrüche hin verschoben zu haben. Nach dem Einbezug der Medienund Technikgeschichte sowie der Bildwissenschaften (vgl. die Beiträge von ERIK PORATH und MARGARETE VÖHRINGER) treten neue historische Apriori der Wissensproduktion und Wahrnehmung in den Blick; die Kulturgeschichte der Wissenschaft erscheint damit noch stärker frakturiert und es hängt nicht zuletzt von der Wahl der Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse ab, ob eine bestimmte Entwicklung einen Neubeginn markiert oder nicht. Mit der im vorliegenden Band dokumentierten Pluralisierung der Methoden ist die Einsicht der notwendigen Unvollständigkeit und Perspektivik einer jeden Rekonstruktionsarbeit verbunden. Eine interdisziplinär ausgerichtete Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften, die sich auf die hochgradige Komplexität und Kontextualität ihrer Gegenstände einlässt, erfordert neue Formen kooperativer Schreib- und Forschungspraxis.

Übertragungen, Metaphorisierungen, Registerwechsel Bereits die von der Philosophie herkommende Begriffsgeschichte hatte Begriffe der Wissenschaften, auch solche der Naturwissenschaften in den Blick genommen. Bei Karlfried Gründer, einem der Herausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, heißt es programmatisch: „Die Wissenschaften arbeiten mit Grundbegriffen, die von philosophischer Herkunft oder von philosophischer Erheblichkeit sind. Begriffsgeschichte ist inter-

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disziplinär und als solche immer philosophisch.“20 Und doch unterscheidet sich die philosophische Interdisziplinarität, an die noch in jüngerer Zeit angeknüpft wurde,21 von der hier intendierten. Viele wissenschaftshistorische Artikel des Ritter-Wörterbuches entfalten die Interdisziplinarität nicht über die Analyse von Übertragungsprozessen oder Registerwechsel, sondern über philosophische Universalisierung, die die disziplinären Besonderheiten eher nivelliert. Eine kulturwissenschaftliche Begriffsgeschichte hätte dagegen die Philosophie nur als eine Wissenschaft oder Wissensform unter gleichen zu behandeln. Nach dem ‚practical turn‘ hat sich die Wissenschaftsgeschichte wieder vermehrt für die begrifflichen Werkzeuge und die Dialektik von kategorialen und pragmatischen Verfahren interessiert. Eine besondere Aufmerksamkeit haben dabei die Operationen an der Grenze zum Unbekannten und die Kategorie des Neuen gefunden, die für die Dynamik und Ausdifferenzierung der Wissenschaften von zentraler Bedeutung ist. Dazu gehört die Frage, wie die Wissenschaften mit unvorhergesehenen und zunächst unerklärlichen Phänomenen umgehen, wie die Differenz zum Vertrauten stabilisiert und wie das Neue produktiv angeeignet wird. Bereits die ältere Wissenschaftsgeschichte hat sich in diesem Zusammenhang für die Metapher interessiert. Im Rahmen der traditionellen Perspektive, die den Prozess der Wissenschaft als stetiges Fortschreiten zur Rationalität und Abstraktion sah, ging sie davon aus, dass die Metapher zum Einsatz kommt, um neue, quer zum bisherigen Wissen liegende Phänomene durch den Rekurs auf ein bekanntes Erfahrungsfeld zu veranschaulichen, oder um momentane Verstehenslücken zu schließen. Die Metapher erschien als ein heuristisches Instrument von transitorischer Bedeutung, das im weiteren Fortgang der Wissenschaft zu einer klar definierten Terminologie entbehrlich bzw. durch den wissenschaftlichen Begriff abgelöst wird. Im Zuge der Herausbildung einer kulturwissenschaftlich informierten Wissenschaftsgeschichtsschreibung ist diese Auffassung hinsichtlich all ihrer Komponenten (Kontrollierbarkeit, Transitorität, zugrunde liegender Metaphernbegriff) in Frage gestellt worden. Es wurde gezeigt, dass Metaphern eine Eigendynamik entfalten, die nicht vollständig kontrolliert werden kann, und dass zahlreiche Metaphern nicht restlos in Begriffe aufgelöst werden können. Grundbegriffe wie Gen, Atom, Zelle oder Information weisen untilgbare metaphorische Überschüsse auf und entziehen sich einer verbindlichen Definition. Das Phänomen der unkontrollierbaren Ei_____________ 20 21

Karlfried Gründer, Vorbemerkung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 4: I – K. Darmstadt 1976, S. VI. Gunter Scholtz, Vorwort. In: ders. (Hg.): Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte. (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft) Hamburg 2000, S. 10.

Einleitung

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gendynamik tritt besonders dann ins Blickfeld, wenn die Zirkulation von Metaphern durch die verschiedenen Wissensfelder untersucht wird. Hierbei zeigt sich, dass die Metapher in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext immer neue semantische Felder eröffnet. Diese Beobachtung hat weitreichende Bedeutung. Sie zwingt zur Revision von Metapherntheorien, die von der Übertragung einer vermeintlich feststehenden Bedeutung auf einen neuen Kontext oder von dem Konzept einer Interaktion zweier Komponenten ausgehen. Diese substantialistischen Sichtweisen sollten zugunsten einer Auffassung von der Metapher als einem überdeterminierten, viele Sinnschichten enthaltenden Textelement aufgegeben werden. Die Metapher erscheint dann als Knotenpunkt und Schnittstelle in einem Netzwerk von Diskursen und als Stimulus, der eine wechselseitige Rückkopplung verschiedener Diskurse erlaubt. Sigrid Weigel betont deswegen mit Blumenberg, das Interesse „auf die Durchstreichung hilfreicher Metaphern“ zu lenken, „d. h. auf jene Praktiken, die ein Vergessen des unreinen Ursprungs und der blinden Flecken oder Ungereimtheiten im wissenschaftlichen Konzept signalisieren“.22 Die Beiträge des vorliegenden Bandes reflektieren eine Fülle von Übertragungsformen, die sich nicht in das lineare Schema der Ablösung von Metaphern durch Begriffe pressen lassen. Mehrere hier behandelte ‚Figuren des Wissens‘ thematisieren selbst Übertragungen (siehe Projektion, Oszillation, Experiment, Medien, Information). Der Hinweis von DIETER TEICHERT, dass Metaphern nicht nur im Vorfeld von Begriffen entstehen, sondern Begriffe nicht selten zu Metaphern werden, verweist auf die Einseitigkeit des cartesianischen (und später positivistischen) Ideals voller Vergegenständlichung, von dem sich bereits Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie abgesetzt hatten.

_____________ 22

Vgl. Weigel, Genea-Logik [Anm. 3], S. 245.

Hans-Jörg Rheinberger

Begriffsgeschichte epistemischer Objekte Leitlinien oder gar strategische Perspektiven zu einer Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften kann ich in diesem kurzen Beitrag, wenn überhaupt, dann bestenfalls andeuten. Es muss hier bei einigen Überlegungen bleiben, für die ich auf Fallstudien zurückgreife, die mich in der letzten Zeit beschäftigt haben. Auf eines kommt es mir dabei besonders an. In der Ankündigung zu dieser Tagung über die historische Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte aus der Perspektive einer Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften ist als Frage formuliert: ‚Lässt sich eine Begriffsgeschichte konzipieren, die die materiale Einbindung von Begriffen mitreflektiert?‘ Darauf würde ich gerne zuspitzend antworten: Eine Geschichte neuzeitlicher naturwissenschaftlicher Begriffe, sofern es sich um die empirischen Wissenschaften handelt, ist ohne deren materiale Einbindung gar nicht sinnvoll; es ohne diese Einbindung zu versuchen, wäre ein Unterfangen, das keinerlei brauchbare historischen Ergebnisse liefern würde. Zunächst möchte ich am Beispiel der Vorstellungen über das Gen und damit im Rahmen der Biologiegeschichte des 20. Jahrhunderts etwas über in Bewegung befindliche Objekte und unscharfe Begriffe sowie deren Funktion für die Forschung sagen. Im zweiten Teil meiner Ausführungen komme ich dann anhand eines ‚close reading‘ einiger der Schriften von François Jacob noch spezieller auf die Einführung des Informationsbegriffs in die molekulare Genetik zu sprechen. Wie ich in meiner Studie zur Evolution des Genbegriffs ausgeführt habe,1 führen die konkreten experimentellen Praktiken der modernen Forschung, wie ich ganz allgemein behaupten möchte, zu Begriffen, die eng mit den Objekten dieser Forschung verflochten sind. Als solche stellen sie Attraktoren dar, die trotz – und vermutlich sogar genau wegen – der ihnen eigenen Unschärfe eine mehr oder weniger ausgeprägte Orientierungsfunktion entfalten und gerade deshalb auch die Forschung vorantreiben. Mitunter bilden sich ganze Disziplinen um eines oder wenige dieser unscharf definierten und selbst ebenso unscharfen epistemischen _____________ 1

Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie. Frankfurt a.M. 2006, Kap. 8: Die Evolution des Genbegriffs – Perspektiven der Molekularbiologie, S. 221–244.

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Hans-Jörg Rheinberger

Objekte. In der Physik war das Atom lange Zeit ein solches Objekt/Begriffs-Paar; in der Chemie das Molekül; in der Evolutionsbiologie die Art; und in der Genetik des frühen 20. Jahrhunderts übernahm bekanntlich das Gen diese Funktion. Um die spezifischen historischen Konturen zu bestimmen, die solche Objekt/Begriffs-Paare annehmen, muss man sich mit den korrespondierenden, sie hervorbringenden Praktiken befassen. In der klassischen Genetik, die auf der Herstellung reiner Linien und immer ausgeklügelter werdender Kreuzungsversuche beruhte, fungierte das Gen als eine im Wesentlichen formal bestimmte Einheit, mit der das Erscheinen oder Verschwinden bestimmter Merkmale in der Folge der Generationen erklärt werden konnte. Dabei unterschied sich die klassische Genetik von den Untersuchungen und Überlegungen zur Vererbung im 19. Jahrhundert wesentlich durch die eben genannten Praktiken. Sie waren es, die es gestatteten, die in der Darwin’schen und De Vries’schen Tradition wurzelnde Vorstellung der Diskretheit von Merkmalen einerseits mit August Weismanns Differenzierung zwischen Keimplasma und Körpersubstanz andererseits zu verbinden. Das Ergebnis, das im Zuge ihrer ‚Wiederentdeckung‘ dann auch in Mendels Experimente und Regeln hineingelesen wurde, war eine Unterscheidung zwischen genetischen Anlagen einerseits und durch sie bedingten Merkmalen andererseits; in ihrer jeweiligen Gesamtheit betrachtet, um mit Wilhelm Johannsen zu sprechen, eine Abgrenzung und Gegenüberstellung von Genotyp und Phänotyp. Aus welchem Stoff aber die Gene bestanden, war aus der Perspektive der Praxis der klassischen Genetik nicht von Belang. Wenn wir uns in ähnlich verkürzter Weise vor Augen stellen, was die molekulare Genetik mit ihren neuen biophysikalischen und biochemischen Praktiken und der genetischen Manipulation von Mikroorganismen dem Genbegriff angetan hat, so lässt sich Folgendes feststellen. Experimentell war für die Molekularbiologie vor allem der Übergang von höheren Tieren und Pflanzen zu einzelligen Pilzen, Bakterien und Viren als Modellorganismen einerseits und zu Analysesystemen im Reagenzglas auf der anderen Seite charakteristisch. Auf diesem Wege verwandelte sie das aus der klassischen Genetik überkommene Objekt, das formale Gen, zunächst in eine Substanz, eine Ribonukleinsäure, die sich physikalischchemisch charakterisieren ließ. In der Folge verwandelte sie es dann, dem Aufbau von Nukleinsäuren entsprechend, in eine mit Informationseigenschaften ausgestattete Sequenz. Auf diesen Vorgang werde ich im zweiten Teil meiner Darlegungen dann noch einmal einen Blick unter dem Vergrößerungsglas werfen. Die erstgenannte Verwandlung half ein Problem lösen, das die klassische Genetik mit der Stabilität – und der Veränderbarkeit – ihrer Einheiten hatte. Die Lösung hieß: Gene bestehen aus Makromolekülen, und diese Makromoleküle sind ihrerseits wieder aus Baustei-

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nen aufgebaut, die sich vertauschen lassen, also dauerhaft mutiert werden können. Die zweite Veränderung half ein Problem lösen, das die klassische Genetik erstens mit der postulierten Reproduktionsfähigkeit ihrer Einheiten und zweitens mit der postulierten Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp hatte. Die Lösung hieß hier: Sequenzen von Nukleinsäurebausteinen, insbesondere die DNA, können aufgrund der komplementären stereochemischen Eigenschaften ihrer Basen exakt verdoppelt werden; außerdem bestimmt die Sequenz der DNA aufgrund einer molekular gesteuerten Übersetzungsvorschrift die Sequenz einer anderen Art von Makromolekülen, der Proteine. Diese wiederum katalysieren die vielfältigen Stoffwechselreaktionen in der Zelle. Dieser höchst schematische Überblick ist allerdings in seiner nachträglichen und auf Kondensation beruhenden Klarheit nahezu irreführend. Denn in dieser Form enthält er bis auf die großen Umschwünge kaum mehr einen Hinweis darauf, dass die besondere Fruchtbarkeit vager Objekte im Detail der Forschungsprozesse gerade darin besteht, dass ihnen von Anfang an eben keine festgelegte Bedeutung beigemessen werden kann. Und er lässt kaum erahnen, dass im weiteren Verlauf der Entwicklung der Molekularbiologie die scheinbar gewonnene Konkretisierung gegenüber dem Genbegriff der klassischen Genetik sich seit den frühen 1970er Jahren mit den zunehmend bekannt werdenden Einzelheiten der Genexpression, insbesondere bei höheren Organismen, wiederum in neue Unbestimmtheiten auflöste. Im Forschungsprozess selbst kann es sich sogar als kontraproduktiv erweisen, die konzeptuellen Grenzen von Forschungsobjekten, die sich, um mit Yehuda Elkana zu sprechen, ‚im Fluss‘ befinden,2 vorschnell abstecken und abschließen zu wollen. Unscharfe Begriffe und vage Objekte hängen zusammen. Ihre Fruchtbarkeit steckt in ihrem nach vorne offenen operationalen Potenzial. So scheiterten etwa die Bemühungen der frühen 1950er Jahre, eine rein quantitative, präzise definierte Bestimmung biologischer Information in Sinne der zeitgenössischen Informationstheorie vorzunehmen. Und noch ein weiteres Beispiel: Als der Bakteriengenetiker Seymour Benzer 1955 versuchte, auf der Grundlage seiner Experimente zur genetischen Kartierung von Bakterienviren Ordnung in das unübersichtliche Geschehen zu bringen, unterschied er Gene bezüglich dreier Ebenen: eine betraf die Expression, eine die Rekombination, und eine die Mutation. Die entsprechenden jeweils darauf bezogenen Einheiten nannte er ‚Cistron‘, ‚Recon‘ und ‚Muton‘. Ein Cistron war zerlegbar in Recons, ein Recon in Mutons, die vermutlich ihrerseits zur einfachsten möglichen _____________ 2

Yehuda Elkana, Helmholtz’ ‚Kraft‘. An illustration of concepts in flux. In: Historical Studies in the Physical Sciences 2 (1970), S. 263–298.

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Hans-Jörg Rheinberger

Einheit führten, einem DNA-Basenpaar. Diese begrifflichen Bestimmungen erwiesen sich gerade wegen ihrer terminologischen Schärfe für die bunt gemischte Gemeinde der molekularen Experimentatoren als zu restriktiv und ins Detail gehend, kurz, sie sorgten gerade wegen ihrer Bestimmtheit für Verwirrung und setzten sich dementsprechend auf lange Sicht auch nicht durch. Solange epistemische Objekte und die ihnen korrespondierenden Begriffe unscharf sind, erzeugen sie eine Spannung, in der auch ihre forschungsleitende Produktivität liegt. Sie ragen so in den Bereich dessen vor, was man gerade noch nicht weiß, und nur so können sie auch als Instrumente der Forschung wirken. Sie transportieren einen unbestimmten und dennoch gebändigten Überschuss und ermöglichen damit, was François Jacob einmal das „jeu des possibles“ genannt hat.3 In dessen Verlauf wird natürlich ständig versucht, vage Objekte mit ihren unscharfen Begriffen präziser zu konturieren. Häufig führt das dann aber gerade zum Ausschluss der schärfer bestimmbaren Objekte aus dem vorgegebenen Definitionsbereich und damit zu Verschiebungen im Referenz-Potenzial wissenschaftlicher Ausdrücke. So entstehen immer wieder neue Objekte, die dann zunächst wieder mindestens ebenso vage sind wie diejenigen, von denen die Suche einmal ausging. Die Forschung kann natürlich auch zu definitorisch festgelegten Objekten führen. Diese wandern dann aber in der Regel in die technischen Bedingungen von Experimentalsystemen ein und sind als solche nicht länger forschungsleitend. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen zweiten Punkt ansprechen. Er hängt mit der Koexistenz verschiedener begrifflicher Register zusammen, was wiederum an der Molekularbiologie und ihren Genbegriffen verdeutlicht werden kann. Die Molekularbiologie ist eine hybride Wissenschaft, die Experimentalsysteme umfasst, die sich aus der Biophysik, der Biochemie und der Genetik herleiten. Für einen Biophysiker, der mit einer kristallinen DNA-Faser und einem Röntgenapparat arbeitet, mag ein Gen durch eine bestimmte Konformation einer NukleinsäureDoppelhelix ausreichend charakterisiert sein. Für einen Biochemiker, der mit isolierten DNA-Fragmenten im Reagenzglas arbeitet, sind Gene vielleicht ausreichend als stereochemisch komplementäre Nukleotidpolymere beschrieben. Molekulargenetiker wiederum werden Gene als Informationselemente ansprechen, deren Sequenz funktionelle oder strukturelle Produkte spezifiziert. Wenn Evolutionsbiologen von Genen reden, werden sie sich auf Begriffe wie Abstammung und historische Kontingenz stützen. Für Entwicklungsbiologen schließlich mögen die regulatorischen _____________ 3

François Jacob, Le jeu des possibles. Essai sur la diversité du vivant. Paris 1981.

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Aspekte genetischer Schaltkreise im Zentrum stehen, wenn sie zwischen Struktur- und Regulatorgenen unterscheiden. Bei dieser Vielzahl von Perspektiven ist es nicht verwunderlich, dass auch die Begriffssysteme der molekularen Biologie hybrid sind. Und dennoch ist sie als Wissenschaft deshalb nicht inkonsistent: Genau in der Hybridität ihrer Begriffssysteme liegt ja das Verbreitungspotenzial ihres Diskurses, der faktisch innerhalb von einigen Jahrzehnten die gesamte zeitgenössische Biologie durchdrungen hat. Gerade unter begriffshistorischen Gesichtspunkten sollte man sich intensiver um die Formen und Wirkweisen solcher ‚hybriden Konsistenzen‘ kümmern, wie ich sie jetzt einmal nennen will. Aber nicht nur zwischen verschiedenen, sondern auch im Rahmen der Entwicklung eines einzelnen Experimentalsystems lässt sich zeigen, dass sich die Einkreisung bestimmter Phänomene auf begrifflich vielschichtige und dementsprechend hybride Weise entwickeln und gestalten kann. Das soll nun noch, im Gegensatz zu der vorher eingenommenen makroskopischen Perspektive, ein mikroskopischer Blick auf die Einführung einer im weitesten Sinne semiotischen Terminologie in die Charakterisierung genetischer Regelkreise in den Arbeiten des bereits erwähnten François Jacob zeigen.4 An diesem Beispiel können die verschlungenen Pfade aufgezeigt werden, auf denen der molekularbiologische Informationsbegriff sich formiert und seine hohe heuristische Bedeutung erlangt hat. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Periode, in der Jacob und sein Kollege Jacques Monod am Pariser Institut Pasteur ihre Zusammenarbeit begannen und auf der Basis ihres bakteriellen Modellorganismus Escherichia coli ein gemeinsames Experimentalsystem entwickelten. Es war selbst ein in sich hybrides System, das Analysepraktiken der biochemischen Bakteriengenetik mit genetischen Techniken der Induktion temperenter Phagen und der Übertragung genetischen Materials in Bakterien zusammenführte. Der Begriff der biologischen Information, wie er zu dieser Zeit im Institut Pasteur in Gebrauch genommen wurde, vermittelte zwischen diesen unterschiedlichen Forschungsgrundlagen. Wie man konstatieren kann, trug er wesentlich zum produktiven Umgang mit den epistemischen Objekten bei, die in Jacobs und Monods Experimentalsystem Gestalt annahmen. An den Publikationen von Jacob und Monod zwischen 1958 und 1965 lässt sich exemplarisch und Schritt für Schritt die Entwicklung eines hybriden Diskurses verfolgen, der zur Beschreibung der Expression und der Regulation von Genen nacheinander verschiedene Beschreibungsebenen _____________ 4

Rheinberger, Epistemologie des Konkreten [Anm. 1], Kap. 10: Regulation, Information, Sprache. Molekulargenetische Konzepte in François Jacobs Schriften, S. 293–312.

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einführte.5 Dem von der biologischen Chemie übernommenen Vokabular von ‚Spezifität‘ und ‚Determination‘ wurde zunächst eine Ebene performativer Begriffe wie ‚Vorschrift‘, ‚Ausführung‘ und ‚Kontrolle‘ hinzugefügt. Ihre Bildung ging einerseits auf Jacobs Untersuchungen der Lysogenie von Bakterienviren und andererseits auf Monods Analyse des LaktoseZuckerstoffwechsels von Escherichia coli zurück. Im Laufe der mit Arthur Pardee zwischen 1958 und 1959 durchgeführten Experimente, bei denen über den neu entdeckten Prozess der bakteriellen Konjugation genetisches Material von einem mutierten Bakterium in einen Wildtyp und umgekehrt eingeschleust werden und man dann die Auswirkungen dieser teilweisen Diploidie auf den Zuckerstoffwechsel beobachten konnte, fanden erstmals die Begriffe von ‚Information‘ und ‚Botschaft‘ Verwendung. In einer Veröffentlichung von 1961, in der nachgewiesen wurde, dass eine instabile Nukleinsäure, also ein RNA-Molekül, zwischen den Genen einerseits und den Genprodukten andererseits vermittelte, war dann zum ersten Mal von ‚Informationsübertragung‘ und von ‚Codierung‘ die Rede. Im Laufe der Jahre bis 1965, die ausgefüllt waren mit Experimenten zur Analyse von genetischen Regelkreisen, die im sogenannten Operonmodell ihren Ausdruck fanden, wurden diese Termini dann eingebettet in eine Sprache, die sich der breiter gefassten Begriffe von ‚Kommunikation‘ und ‚Signalgebung‘ auf molekularer Ebene bediente. Schließlich, in einer deutlich mehr an ein allgemeines, wissenschaftlich interessiertes Publikum gewendeten Serie von Publikationen wurden diese noch einmal überformt von Ausdrücken, die das genetische Geschehen in Begriffen von ‚Alphabet‘ und ‚Sprache‘, des ‚Lesens‘ und des ‚Schreibens‘ von ‚Texten‘ fassten. Wenn man diese Publikationen der Reihe nach durchgeht, stellt man fest, dass zwischen den einzelnen Verschiebungen keine klaren Zäsuren lagen und auch keine völlige Ersetzung einer Begriffsschicht durch eine andere stattfand. Die Schichten überlagerten sich vielmehr und koexistierten in Form unterschiedlicher Register, die Feineinstellungen und vorsichtige Richtungsänderungen in der Deutung alter und der Planung neuer Experimente erlaubten. Diese kreisten alle um ein Zentrum: die Kinetik der Enzymbildung nach der Übertragung bestimmter Gene von einer Bakterienzelle in die andere. Die Sprache einer Experimentalwissenschaft mit ihren Begriffen entsteht, wie man mit Jacob sagen könnte, aus fortgesetztem Basteln; sie funktioniert grundsätzlich im Rahmen der technischen Mittel und Medien zur Realisierung jener experimentellen Systeme, auf die sie sich bezieht und die sie auch sinnfällig machen. Es ist natürlich nicht von der Hand zu _____________ 5

Jacob, Travaux scientifiques de François Jacob, hg. v. Nadine Peyrieras u. Michel Morange. Paris 2002.

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weisen, dass dies gegebenenfalls in unterschiedlicher Form geschehen kann. Es mag also zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr als ein äquivalentes Begriffsregister geben, und mehrere von ihnen können durchaus, auch über längere Zeiträume, gleichzeitig Verwendung finden. Ein aus der klassischen biochemischen Stoffwechselanalyse stammender Ausdruck wie ‚Zwischenprodukt‘ wurde durchaus auch im neuen Diskurshorizont der molekularen Genetik weiterverwendet. Doch wurde in der hier erzählten Geschichte insbesondere der Begriff der Information zum Dreh- und Angelpunkt eines weit gespannten diskursiven Netzwerkes, das sich um den Genbegriff herum ausbildete. Nicht zufällig aber hat ‚Information‘ in der Molekularbiologie nie jene rein quantitative Bedeutung angenommen, die ihr zuvor die Informationstheorie der 1940er Jahre verliehen hatte. Der molekularbiologische Begriff der Information trat stattdessen an die Stelle älterer Versuche, zu bestimmen, was biologische Spezifität ausmacht. Er vermittelte zwischen einer Struktur, die mit sich identisch vermehrt werden konnte, und einer biologischen Funktion, die durch diese Struktur bestimmt war. Insofern blieb er semantisch aufgeladen, als Träger biologischer Bedeutung. Eine Begriffsgeschichte der empirischen Wissenschaften muss mit dieser Plastizität auf der einen und Hybridität auf der anderen Seite sowie der damit verbundenen Problematik der Polysemie umgehen; sie darf sie nicht ausblenden. Letztere tritt umso stärker hervor, je interdisziplinärer die betrachtete Forschungstrajektorie ausgerichtet ist, lässt sich aber sicher nicht darauf reduzieren. Man kann sich natürlich fragen, wie auf dieser Basis überhaupt eine effiziente Kommunikation in einer Wissenschaftlergemeinschaft möglich sein soll. Dass sie möglich ist, ist der Tatsache geschuldet, dass empirische Wissenschaftler so etwas wie ein phänomenförmiges Bewusstsein entwickeln. Ihre Verständigung untereinander ruht auf dem experimentellen Umgang mit den verfügbar gemachten Phänomenen. Kein anderer als Sigmund Freud, der seine Psychoanalyse ja auch als empirisch vorgehende Wissenschaft verstand, hat das einmal so ausgedrückt: „Allein ich meine, das ist eben der Unterschied zwischen einer spekulativen Theorie und einer auf Deutung der Empirie gebauten Wissenschaft. Die letztere wird der Spekulation das Vorrecht einer glatten, logisch unantastbaren Fundamentierung nicht neiden, sondern sich mit nebelhaft verschwindenden, kaum vorstellbaren Grundgedanken gerne begnügen, die sie im Laufe ihrer Entwicklung klarer zu erfassen hofft, eventuell auch gegen andere einzutauschen bereit ist. Diese Ideen sind nämlich nicht das Fundament der Wissenschaft, auf dem alles ruht; dies ist vielmehr allein die Beobachtung. Sie sind nicht das Unterste, sondern das Oberste des ganzen Baues und können ohne Schaden ersetzt und abgetra-

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gen werden.“6 Aus der hier eingenommenen Perspektive wäre dem nur hinzuzufügen, dass in einer experimentellen Wissenschaft das, was Freud hier unter Beobachtung subsumiert, immer mit der experimentellen Realisierung von Phänomenen verbunden ist oder, um es mit Gaston Bachelard zu sagen, einer bestimmten ‚Phänomenotechnik‘,7 in deren Rahmen sich die von Freud so bezeichneten „nebelhaft verschwindenden, kaum vorstellbaren Grundgedanken“ bewegen müssen. Will man demnach die historische Bewegung der Begriffe einer experimentell vorgehenden, empirischen Wissenschaft verstehen, so muss man die Dynamik und die Aufeinanderfolge dieser Phänomenotechniken rekonstruieren, denn die entscheidenden Begriffsverschiebungen lassen sich nicht als reine, aus sich selbst heraus erfolgende Begriffsdifferenzierungen fassen. Die Begriffe sind aber keineswegs bloße Ausflüsse solcher Phänomenotechniken. Termini können zwischen Feldern lateral wandern; verlangt ist einzig Kompatibilität. Die Begriffsbildung ist deshalb nicht abgeschlossen gegenüber breiteren disziplinären und auch transdisziplinären Kontexten. Es gibt hier also so etwas wie, um es mit einem Wort von Isabelle Stengers zu sagen, ein ‚Begriffsnomadentum‘. Begriffe können durch ‚Operationen der Propagation‘ und durch ‚Operationen der Passage‘, um die Terminologie von Stengers zu verwenden, innerhalb eines weiteren Forschungsgebietes oder auch über Disziplinen- und weitere Diskursgrenzen hinweg wandern.8 Eine Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften hat natürlich auch diese Herkünfte und diese Wanderungen zu rekonstruieren, sowohl was mikrologische Bewegungen als auch was wissenschaftliche Großwetterlagen wie etwa mechanische, energetische oder informationelle Begriffskreise betrifft. Es ist ja etwa kein Zufall, dass der Begriff des morphogenetischen Feldes in der Embryologie zu einer Zeit Fuß fasste, als der Feldbegriff seinen Siegeszug in der Physik angetreten hatte. Gleichzeitig bekam er Konkurrenz aus der Chemie unter dem Topos des Gradienten. Der Begriff der Regulation, wie er im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Biologie Gestalt annahm, machte – wie Georges Canguilhem gezeigt hat – nicht nur Anleihen bei der Technik, sondern auch der Physiko-Theologie und lud sich erst allmählich mit spezifisch biologischen Bedeutungen auf.9 _____________ 6 7 8 9

Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzissmus [1914]. Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt a.M. 1982, Bd. 3, S. 37–68, hier S. 44 f. Gaston Bachelard, Noumène et microphysique [1931/1932]. In: ders., Études. Paris 1970, S. 11–24, hier S. 19. Isabelle Stengers, La propagation des concepts. In: dies. (Hg.), D’une science à l’autre. Des concepts nomades. Paris 1987, S. 9–26. Georges Canguilhem, La formation du concept de régulation biologique aux XVIIIe et XIXe siècles. In: ders., Idéologie et rationalité dans l’histoire des sciences de la vie. Nouvelles études d’histoire et de philosophie des sciences. 2. korr. Aufl., Paris 1981, S. 81–99.

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In der Regel verhält es sich so, dass Begriffe, wenn sie einmal in einem Phänomenbereich haben Fuß fassen können, sich an dessen Experimentaldynamik auszurichten beginnen. So geschah es etwa mit dem Begriff der Vererbung, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der Jurisprudenz in einzelne Bereiche der Biologie einwanderte und dort im Laufe des 19. Jahrhunderts eine zentrale Stellung einzunehmen begann. Solche Begriffe laden sich dann zunehmend mit lokaler Semantik auf, und deren Verschiebungen, die sich oft ohne Veränderung des Terminus selbst auf phänomenotechnischer Ebene vollziehen, gilt es für eine Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften nachzuzeichnen. Der Begriff des Gens in der Genetik des 20. Jahrhunderts ist ein gutes Beispiel dafür. Was er im Rahmen der Kreuzungsanalysen des frühen 20. Jahrhunderts und der darauf beruhenden formalen Genkartierung bedeutete und was im Rahmen einer Postgenomik des beginnenden 21. Jahrhunderts, in der auch die Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese, mit der die Heraufkunft der Molekularbiologie um die Mitte des 20. Jahrhunderts eingeläutet worden war, längst wieder aus dem Verkehr gezogen ist, das erschließt sich nur dem nahen Blick auf die experimentellen Wendungen, die dieses Forschungsfeld im Laufe eines langen Jahrhunderts genommen hat. Das vom Phänotyp her erschlossene und von Lenny Moss so bezeichnete ‚Gen P‘ und das als Entwicklungs- und Stoffwechselressource begriffene ‚Gen D‘ lassen sich nicht ohne weiteres auseinander ableiten.10 Sie bleiben auf unterschiedliche Experimentalkontexte bezogen, die ebenfalls nicht kontinuierlich auseinander hervorgingen, wie ja auch die molekulare Genetik nicht als eine lineare Verlängerung der klassischen Genetik aufgefasst werden kann. Die diesen Verschiebungen zugehörigen Genvorstellungen müssen in ihrer historischen Kontingenz erschlossen und nachvollzogen werden. Um also noch einmal auf den Anfang zurückzukommen: Eine Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften lässt sich nur so konzipieren, dass sie die materiale Einbindung von Begriffen mitreflektiert.

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Lenny Moss, What Genes Can’t Do. Cambridge, Mass. 2003.

BEGRIFFS- UND FIGURENGESCHICHTLICHE EXEMPEL

Erich Kleinschmidt

Schwelle, Grad, Intensität. Zur Formierung dynamischer Denkfiguren im Wissensdiskurs des 18. Jahrhunderts Jean Paul notiert 1795 im Hesperus eine eigenartige Spekulation, wie Wissen graduell zu steigern sei. Der französische Naturhistoriker GeorgesLouis Leclerc de Buffon schreibe „den Fingern des Menschen die Deutlichkeit seiner Begriffe“ zu, „so daß sich die Gedanken zugleich mit der Hand“ zergliederten. Hätte nun einer an jeder Hand sechs Finger, so könne er „um 1/5 oder 1/11 deutlicher denken“ und folglich mehr „mit einem solchen Supranumerar-Schreibfinger [...] in den Wissenschaften tun als wir mit der ganzen Hand.“1 Die Buffonsche Parametrisierung von Wissenspräsenz am Körperdiskurs erscheint bei Jean Paul erweitert durch die Idee einer Gradsteigerung. Mehr Unterteilung bedeutet eine Intensivierung des Wissens. Das hier aufscheinende Denken von Intensität, das bei Buffon (1707–1787) noch fehlt, ermöglicht es Jean Paul, die Formierung von Wissen so umzuschreiben, dass dessen Wachstum und Ausdifferenzierung graduell gleitend vermehrt und geschärft projiziert werden kann. Derart sich überschichtende Begrifflichkeiten unterschiedlicher epistemologischer Herkunft sind charakteristisch für den Wissensraum um 1800. Die begriffliche Benennungsproblematik und damit die Erfassungsfrage von Phänomenen, die in zügig sich erweiternden Wissensbereichen thematisch werden, prägen indes schon entscheidend die Intellektualitätsgeschichte des ganzen 18. Jahrhunderts. Die Reflexionshoheit der Begriffsbildung liegt dabei bei der Philosophie, doch sind zunehmend auch die sich formierenden Naturwissenschaften als Stichwortgeber beteiligt, erschließen sie doch neue Vorstellungsbereiche. Georg Christoph Lichtenberg importiert so zum Beispiel den primär naturwissenschaftlich definierten Latenzbegriff in eine Digression seiner Ausführliche(n) Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche (1794–1799) bei der Erörterung von ‚Evening / Der Abend‘. Veranlasst wird sie durch das Thema des Nachruhms, der mit der Existenz und notwendigen Nutzung von Papiergeld in Beziehung _____________ 1

Vgl. Jean Paul, Hesperus. Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Miller. München 1960, Abt. 1, Bd. 1, S. 629.

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Erich Kleinschmidt

gesetzt wird, weil, „wer [...] weiter reisen will, kömmt ohne echtes Papiergeld nicht fort“. Lichtenbergs Überschneidung von Memoria und Währung bringt nun nicht das erwartete Bild von Kapitalsubstanz ins Spiel. Der Denkweg, um den es geht, gilt der Latenz von materieller Substanz. Man möge bedenken, „was Papier nicht ist! Ein Feld mit Flachs, welcher Prospekt! Was da nicht, würde ein Physiker sagen, für Dinge latent sind! O wer an einem solchen Felde vorbei fährt oder reitet oder geht, der nehme den Hut ab, und denke einmal nicht bloß an latente Manschettenhemde, sondern auch an die Unsterblichkeit.“2 Lichtenberg argumentiert um die Ecke, wenn er das mögliche Umwandlungspotential von Flachs (in dem auf der Grundlage von Hanf erzeugten Hadernpapier der Geldscheine oder im Hanfstoff für Hemden) analogisiert mit der Verwandlung von (nicht explizit benannter) Lebensleistung in Nachruhm. Den gedanklichen Zusammenschluss ermöglicht der physikalische und medizinische Kunstausdruck des Latenten, d. h. ‚Verborgenen‘, ‚Gebundenen‘,3 der vom Fachwort zur integralen Denkfigur4 hin changiert. Die Engführung solcher ‚Erkenntnis durch Begriffe‘, die sich als Prädikate möglicher Urteile‘ auf die Vorstellung einer noch unbestimmten Gegenständlichkeit beziehen, findet ihre philosophische Systematisierung bekanntlich durch Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781). Er fokussiert das Problem jeglicher Begriffsbildung dahingehend, dass wir zwar „unsre Begriffe noch so hoch anlegen“ mögen „und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahieren, so hängen ihnen doch noch immer bildliche Vorstellungen an.“5 Begriffe rekurrieren somit letztlich doch immer wieder auf Anschaulichkeit. Kant begründet dies damit, dass wir nur „unseren Begriffen Sinn und Bedeutung verschaffen“ könnten, wenn ihnen „irgendeine Anschauung“ unterlegt würde.6 Es bedarf für Kant einer sinnlich eingebundenen Wahrnehmung, um zu Begriffen zu finden,

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3 4 5 6

Vgl. Georg Christian Lichtenberg, Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche. Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies. München 1972, Bd. 3, S. 720. Der Erstdruck der gesamten Abhandlung Die vier Tags-Zeiten erfolgte schon im Göttinger Taschen Calender von 1790. Vgl. H. Schulz / O. Basler (Hg.), Deutsches Fremdwörterbuch. Berlin 1942, Bd. 2, S. 11, s.v. latent. Zu ihr und ihrer Geschichte vgl. Anselm Haverkamp, Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt a.M. 2002. Vgl. Immanuel Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren. Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1958, Bd. 3, S. 267. Vgl. ebd.

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die dann durch den Verstand gedacht werden, denn: „von ihm entspringen Begriffe“.7 Das philosophische Szenarium der Begriffsbildung basiert im 18. Jahrhundert wesentlich auf einem Evidenzmoment, das Kant als ‚Form der Anschauung‘ systematisiert. In der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet er so für Raum und Zeit, dass sie, „die formale[n] Bedingung[en]“, a priori entweder „aller Erscheinungen überhaupt“ (Zeit) oder „bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt“ (Raum) seien.8 Zugleich gelte aber, dass „die Zeit [...] keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein“ könne, denn „sie gehöret weder zu einer Gestalt, oder Lage etc.“, sondern sie bestimme „das Verhältnis der Vorstellungen in unserm innern Zustande.“9 Dieser Gegensatz von äußerer Gestaltwahrnehmung und unanschaulicher ‚innrer Anschauung‘ scheint zunächst aporetisch. Kant erläutert indes, dass unser Vorstellungsvermögen darauf drängt, den ‚Mangel‘ der Zeitanschaulichkeit durch ‚Analogien‘ ihrer Konkretisation zu lösen, stellten wir uns doch die „Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor [...] und schlössen aus den Eigenschaften dieser Linie auf alle Eigenschaften der Zeit“. Folglich sei „die Vorstellung der Zeit selbst Anschauung [...], weil alle ihre Verhältnisse sich an einer äußern Anschauung ausdrücken lassen.“10 Damit ist die Problematik in diesem Fall elegant gelöst und es zeigt sich zugleich, wie eine definitorische Begriffsarbeit im Schnittfeld von Empirie und Theorie funktioniert. Aber auch die Perspektive, wie sich eine fachsprachliche Begriffsarbeit mit einem gemeinsprachlichen Einordnungsmuster konkretisierend kreuzt, lässt sich hier gut demonstrieren. Unabhängig von der spezifischen Abgrenzungsfrage zwischen Raumund Zeitwahrnehmung interessiert am zitierten Paradigma außerdem, dass Kant für die Begriffsbildung einer intellektuellen Technik des Tauschs im Festschreibungsakt der Analogisierung folgt. Er nutzt diese, um die disparate Erfahrung von Unähnlichkeit zu domestizieren und den Zusammenhang verschiedener ‚Wirklichkeiten‘ begrifflich zu fassen. Es geht dabei nicht mehr um jene naive Operation einer frühneuzeitlichen Wissenspraxis, mit Hilfe von Analogien Unbekanntes durch Bekanntes zu erschließen. Kant sieht Analogie-‚Schlüsse‘, denen die „logisch-strenge[n] Vernunftschlüsse“11 gegenüberstehen, grundsätzlich als problematisch an, billigt _____________ 7 8 9 10 11

Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Werke [Anm. 5], 1956, Bd. 2, S. 69: „Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.“ Vgl. ebd., S. 81. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft. Werke [Anm. 5], Bd. 5, S. 593.

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ihnen aber zu, dass sie doch zu „denken“ seien.12 „Nach der Analogie eines Verstandes denken“ ist deshalb (etwa in der Frage, ob auch Tiere „Vorstellungen“ wie Menschen haben) immer dann sinnvoll, wenn eine „paritas rationis“, d. h. ein gleicher theoretischer Referenzhorizont („Einerleiheit“)13 vorliegt.14 Damit ist der Begriffsgewinn durch Analogisierung auf eine andere Reflexionsstufe gestellt als der ältere, entsprechende Denkmodus der Frühen Neuzeit. Aus einer anschauungsparitätisch erschlossenen Begriffsarbeit resultiert für Kant der Gewinn einer „synthetischen Einheit des Mannigfaltigen“. Es sind bei Kant die „Analogien der Erfahrung“, über die eine „Zusammenstellung des Mannigfaltigen der empirischen Anschauung“ durch eine „Vorstellung“ ermöglicht wird.15 Erst solch ein intellektuelles Konzept strukturiert die phänomenalen Divergenzen der Anschauung und überführt sie in kohärente Begriffe. Diese ihrerseits bilden dann wiederum das Reservoir für eine Wissenslogik der analogisierenden Übertragung, die allerdings nur dann Sinn macht, wenn es um ähnliche Bereiche geht, d. h. wenn eine sinnvoll referentialisierbare paritas rationis im Sinne Kants vorliegt. Erst ihre Gegebenheit bildet die methodische Grundlage dafür, in Analogien und begrifflichen Querungen zu denken, wie sie dann auch für den terminologischen Übertrag von Fachbegriffen in metaphorische Kontexte wichtig werden. Methodisch funktioniert die Analogie zunächst aber als eine mathematische Proportion, wie dies der Mathematiker und Philosoph Johann Heinrich Lambert (1728–1777) in seinem Neuen Organon (1764) formuliert. Eine Analogie liege vor, „wenn zwischen A, B und zwischen C, D einerlei Verhältnis“ sei.16 Das bleibt nicht nur eine theoretische Formel, sondern Lambert sieht in einer so definierten Analogie gleich auch das Denkinstrument naturwissenschaftlichen Fortschritts. Es habe zum Beispiel „die Analogie zwischen Luft und Wasser dem Guerike Anlaß gegeben, aus Wasserpumpen, Luftpumpen zu machen.“17 Auch für die „chymisch[en]“ Prozesse müsse man mit Analogien arbeiten, um dann _____________ 12 13

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Vgl. ebd., S. 594 f. Vgl. zu Einerleiheit als philosophisches Modewort für ‚Identität‘ Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Wien 1811, Bd. 1, Sp. 1693: „Das Hauptwort die Einerleyheit, welches einige neuere Philosophen für Identität einführen wollen, hat außer einigen Compendien sein Glück zur Zeit noch nicht gemacht.“ Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft. Werke [Anm. 5], Bd. 5, S. 594. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Werke [Anm. 5], Bd. 2, S. 216. Vgl. Johann Heinrich Lambert, Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein, hg. v. Günter Schenk. Berlin 1990, Bd. 1, S. 242, § 481. Vgl. ebd., S. 243, § 485. Das Beispiel bezieht sich auf den Pionier der Vakuumtechnik und Erfinder der Luftpumpe Otto von Guericke (1602–1686).

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„durch Versuche [zu] finden, ob sie angehen“.18 Schließlich seien auch die „Gesetze“ der „Geisterwelt“,19 die auch als eine Welt „der denkenden Naturen“20 zu begreifen ist, von Analogien beherrscht. Auch Kant affirmiert dieses Verhältnis von geistiger Welt, die abstrakt sei, und dem „persönliche(n) Bewußtsein des Menschen“ als ein abgeleitetes. Die „geistigen Vorstellungen“ erzeugen „nach dem Gesetz der vergesellschafteten Begriffe diejenige(n) Bilder [...], die mit ihnen verwandt“ sind, und wecken „analogische Vorstellungen unserer Sinne [...], die wohl nicht der geistige Begriff selber, aber doch deren Symbolen sind.“21 Damit wäre in der Formulierung Kants eine wichtige Konstellation bei der sprachlichen Begriffsbildung im Denkhorizont des 18. Jahrhunderts berührt. Zum einen soll sie über die direkte Anschauung gehen. Zum anderen wird diese Anschaulichkeit, wo sie fehlt, über eine ‚litterale‘ Bildsymbolik substituiert. Kant selbst liefert für diesen Übersetzungsvorgang als Beispiel Leibniz’ immaterielle Monaden, die in der philosophischen Diskussion dann als „kleine Klümpchen“ ‚realisiert‘ (und in dieser falsch verstandenen Materialität entsprechend kritisierbar) würden.22 Die Denkstruktur der Begriffskonstitution korrespondiert in ihrer Substitutionspraxis mit dem, was sich auch sprachlich bei der relationalen Definition von Begrifflichkeiten vollzieht. Der eine Begriff wird „mittelst eines andern [...] kenntlich gemacht.“23 Damit rückt ein definitorischer Zirkulationsmechanismus der Episteme ins Blickfeld, der sich im sprachlich vorhandenen Begriffsmaterial eines jeweiligen Zeit- und Wissenshorizontes erschöpfen müsste. Bei den begrifflich eingeführten, vorkantischen Verhältnistableaus, die für den Begriffsapparat die bestimmenden Identitäten bzw. Differenzen in einem Ordnungssystem der Repräsentation festschreiben,24 stellen sich jedoch Eigendynamiken ein. Sie bewegen sich zunächst im 18. Jahrhundert in den _____________ 18 19

20 21 22 23 24

Vgl. ebd., S. 268, § 543. Vgl. ebd., S. 269, § 545: „Die Geisterwelt hat ebenfalls ihre Gesetze, und die Aufgaben der Sitten und Staatslehre, werden teils durch die Analogie der Fälle veranlaßt [...].“ Zu ‚Geisterwelt‘ als spirituellem Leitwort der deutschen Aufklärung (charakteristisch dafür u. a. Kants ‚Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik‘ [1766]) vgl. Jakob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1897, Bd. 4, Abt. 1, Th. 2, Sp. 2755. Bei Lambert zeichnet sich hier aber schon der Bedeutungswandel ab, der in neuerem Gebrauch in ‚Geisteswelt‘ (vgl. Grimm, ebd., Sp. 2768 f.) aufgeht. Vgl. zur Begrifflichkeit bezogen auf „Bewohner der Gestirne“ Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Werke [Anm. 5], Bd. 1, S. 377. Vgl. Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Werke [Anm. 5], Bd. 1, S. 948. Vgl. ebd. Vgl. Lambert, Neues Organon [Anm. 16], S. 9, § 12 zum Verhältnisbegriff. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1971, S. 107 ff.

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„Falten dieser Organisation“25 von disziplinärem Wissen, das sich im Foucaultschen Dispositionsnetz von mathesis, taxinomia und Genese stabilisiert. Leitvorstellung und Einlösungspraxis der Begriffsarbeit zielen dabei auf Festschreibung von universalen Gültigkeitsräumen, deren Begriffswissen auf einem Einschluss- bzw. Ausschlussverfahren beruht. Etwas gilt oder gilt nicht. Differenz wird erzeugt und ebenso ihre Umkehrung, die Negation.26 Damit sind die Funktionsfelder prinzipiell klar umrissen und disziplinär verortet. Relative oder gar nur latente Begriffsverwendungen und Querungen des Wissenssystems sind unerwünscht und vom Systemanspruch der Episteme her eigentlich ausgeschlossen, wenn auch praktisch vorhanden. In diese dezisionistische Wissensverfasstheit und ihre epistemologische Statik bricht im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts ein Denken ein, das beim Gewinn und Verlust von Begrifflichkeit durch Analogisierung nicht mehr allein auf proportionale Stillstellung setzt. Es taucht eine Denkform auf, die Festschreibungen dynamisiert und begriffliche Gültigkeit(en) graduell definiert. Die Erfindung der Intensität erlaubt es, Zustände abgeschwächt oder gestärkt gleitend zu begreifen, ihnen Bemerkbarkeits- und Funktionsschwellen zuzuweisen sowie für sie auch einen nur latenten Modus anzusetzen. Hintergrund für diesen neuen Ansatz sind zum einen die aktuell eingeführten mathematischen Näherungskalküle der Differenzialrechnung, deren Theorie auf innovative Problemanwendungen und zugehörige Begriffe umgesetzt werden konnte. Zum anderen aber erforderten mobilisierte Wahrnehmungskonstellationen, die sich auf gradualisierte Beobachtungsphänomene wie Licht, Wärme oder Kraft beziehen, eine spezifische, in den bis dahin geläufigen Modifikationstermini nicht ohne weiteres verfügbare Beschreibungsbegrifflichkeit.27 Intensität zu denken, beruht auf der theoretischen Herausforderung, sich bei der Begriffsbildung die Vielheit als ein beliebig unterteilbares Einheitskontinuum zu imaginieren. Dieser Ansatz der modalen Gradualisierbarkeit geht wesentlich auf Leibniz zurück. In der Monadologie (entst. 1714, Erstdruck 1720) wollte er alle Bewegung, allen Wandel, alle Entwicklung in der Natur im Modus einer gradualen Verfasstheit („par degrés“) ablaufen sehen.28 Entspre_____________ 25 26 27 28

Vgl. ebd., S. 111. Vgl. dazu Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung. München 1992, S. 297. Ihren Katalog nach Locke listet Lambert, Neues Organon [Anm. 16], S. 368 f., § 36: Ausdehnung, Solidität, Bewegung, Existenz, Dauer, Einheit, Bewußtsein, Kraft zu bewegen und das Wollen auf. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie. Philosophische Schriften, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Hildesheim 1978, Bd. 6, S. 706, § 13. Vgl. auch ebd., S. 711, § 72 zur exemplarischen Annahme, dass sich auch Seele und Körper gradualisiert („peu à peu et par degrés“)

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chend definiert Leibniz, dass es „une infinité de degrés dans les monades“29 gebe. Der Mathematiker und Philosoph Christian Wolff (1679– 1754) erfindet um 1730 deshalb im Kontext seiner begriffssystematisch ausgerichteten Ontologie für die Bezeichnung solch pluraler Verfasstheit einer Wesenseinheit den Modifikationsbegriff intensitas, den er erläuternd mit sive intensio lemmatisiert.30 Der explizit als proprium nomen eingeführte Neologismus ist abgeleitet vom lateinischen Verbum intendere in der Bedeutung ‚(an)spannen‘.31 Das vertraute physikalische Phänomen der Spannung bildet die Basis, um die neue Denkfigur der Intensität über eine Analogiebildung zu definieren. Dabei entsteht allerdings in der analogischen Engführung eine Unschärfe, da der Spannungsbegriff auf (räumliche) Extension (‚Ausdehnung‘) rekurriert, der Intensitätsbegriff aber zunächst auf Intension, die immanente ‚Kraftanspannung‘ reflektiert. Der traditionell geläufige, hier aber funktional neu modelliert zugeordnete Gradbegriff ergibt in Verbindung mit dem innovativen Intensitätsbegriff32 eine neue Perspektive. Sie erlaubt die Unterscheidung zwischen intellegiblen Einheiten, die gradualisierbare Phänomene betreffen, und solchen, die keinen „Gradus intensitatis“ aufweisen wie z. B. existierende Gegenstände, „weil etwas nicht mehr oder minder existent“ sein kann.33 Intensität steigt damit zu einem Differenzkriterium auf, das Lambert programmatisch neben Qualität, Quantität und Extensivität („Größe“) als vierte „Klasse“ einer philosophischen und zugleich mathematisierten Begriffsbildung in seiner eine erste Systemtheorie darstellenden Architectonic (entst. 1763/64, Erstausgabe 1771) einführt und als Maßbegriff der „Stärke“ definiert.34 Keiner Intensität unterliegen können für ihn _____________ 29 30 31 32 33

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voneinander trennen. Darauf stützen sich (§ 74) generische Vorstellungen von Präformation (préformation) und Transformation (transformation). Vgl. ebd. S. 715. Vgl. Christian Wolff, Philosophia prima, sive ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cognitionis humanae principia continentur. Frankfurt u. Leipzig 1730, § 759, zit. n. d. Nachdr. d. 2. Aufl. v. 1736, Hildesheim 1964, S. 562 f. Vgl. Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Hannover 111962, Bd. 2, Sp. 350 f. Vgl. dazu ausführlich Erich Kleinschmidt, Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2004. Vgl. Lambert, Neues Organon [Anm. 16], Bd. 1, S. 355, § 12. Vgl. auch ebd. Bd. 2, S. 555, § 190: „eine existierende Sache ist nicht existierender als eine andere“. Vgl. zur fehlenden Gradierung zwischen Sein und Nichtsein auch ders., Anlage zur Architectonic [Anm. 34], hier zit. n.: ders., Texte zur Systematologie und zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, hg. v. Geo Siegwart. Hamburg 1988, S. 113, § 104: „[...] die Existenz hat keine Gradus intensitatis“. Lambert erläutert dazu, nähme „man aber solche erdichtungsweise an“, so ändere „sich der Begriff der Existenz in den Begriff der Wahrscheinlichkeit der Existenz der Sache“. Vgl. Lambert, Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Ersten und des Einfachen in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß. In: ders., Philosophische Schriften. Riga

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deshalb die absoluten Einheiten wie Existenz oder Wahrheit,35 aber auch die Dimensionen von Raum und Zeit sind nicht gradualisierbar.36 Logische Denkbereiche wie Identität oder Wahrscheinlichkeit37 besitzen ebenfalls keinen Intensitätsbezug, können allerdings gradualisiert gedacht werden.38 Intensität ist immer erst dann gegeben, wenn es um die Wahrnehmung bzw. Empfindung von „Stärke(n)“ geht. Eine Aussage darüber zu machen, sieht Lambert (wie bei der Extensität) an eine empirische Grundlage gebunden: „[...], daß wir actiue bey der Vorstellung der Sache gleichsam eine Probe machen, ob die Fibern [= Nerven] uns ein Bewußtseyn von der veränderten Ausdehnung und Intensität einer Größe geben können, oder nicht.“39 Intensität erlaubt es, sowohl relative Zuständlichkeiten40 und Latenzen als auch korrespondierende Wahrnehmungen um eine Bemerkbarkeitsschwelle herum zu denken. Lambert liefert mit dieser Äußerung mittelbar auch den Verweis auf eine empirische wissenschaftliche Experimentalsituation im Umgang mit Intensität. Sie dient dazu, vermittels ihrer Erfahrbarkeit kognitive An_____________

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39 40

1771. Nachdr. hg. v. Hans-Werner Arndt. Hildesheim 1965, Bd. 4, S. 415 ff., § 792 ff. zu den „Klassen“. Nach ihm (ebd., S. 316, § 693) ist Kennzeichen des Extensiven das „Ausmeßbare der Größe“ und Signatur des Intensiven die „Stärke“. Bezogen auf eine mathematisch-formale Darstellung von Verhältnissen „ist die wahre Größe [...] der Intensität und der Ausdehnung nach zugleich“ (ebd., S. 75, § 454). Intensität wie Extensität sind also messbare ‚Größen‘. Vgl. Lambert, Anlage zur Architectonik [Anm. 34], Bd. 3, S. 77 f., § 164: „die Existenz hat keine Gradus intensitatis“ bzw. ders., Neues Organon [Anm. 16], S. 355, § 12 sowie S. 387, § 77: „hat auch die Wahrheit keine Gradus intensitatis“. Vgl. Lambert, Anlage zur Architectonic [Anm. 34], Bd. 4, S. 314, § 690: „[...], daß sich in dem Raume und der Zeit keine Gradus intensitatis unterscheiden lassen“. Vgl. Lambert, Anlage zur Architectonic [Anm. 34], Bd. 3, S. 91, § 27: „Identität ist absolut [...], die der Intensität nach nicht größer werden kann“; vgl. auch ebd., Bd. 4, S. 417, § 793 bzw. S. 308, § 685: die wahrscheinlichen „Grade der Möglichkeit“ lassen sich nicht als Gradus intensitatis verstehen; vgl. auch ebd., S. 412 f., § 789. Das Denken von Graden hat vor allem Bedeutung für das Wahrscheinlichkeitskalkül. Vgl. dazu Lambert, Neues Organon [Anm. 16], Bd. 2, S. 730 ff., § 149 ff. das ganze Fünfte Hauptstück, dort u. a. zum „Grad der Hoffnung“ im Glücksspiel (S. 731, § 151). Lambert spricht auch davon, dass „unsere ganze Erkenntnis in Absicht auf die Gewißheit und ihre Grade“ einteilbar sei. Vgl. Lambert, ebd., S. 817, § 258. Gradvorstellungen von Gewissheit und Wahrscheinlichkeit sind dann um 1800 philosophisches Gemeingut. Vgl. Wilhelm Traugott Krug, Handbuch der Philosophie und der philosophischen Literatur. Leipzig 31828, Bd. 1, S. 97, § 87 f. Vgl. Lambert, Anlage zur Architectonic [Anm. 34], Bd. 4, S. 340, § 719. Hierher gehört im Grunde auch der ästhetische und poetologische Wertungsdiskurs, der über die „Grade der Vollkommenheit“ eines Kunstwerks geführt wird. Vgl. etwa Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelne, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgende Artikeln abgehandelt. Leipzig 1771, Bd. 1, S. 54. Er funktioniert auch schon unabhängig von einer Intensitätsmodellierung, impliziert aber deren mögliche Auflage. Vgl. auch ebd., S. 60 („Grad des Schönen“), S. 80 („Grad der Gemüthsbewegung“), S. 84 („der höchste Grad starker Leidenschaften“) usw.

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schaulichkeit und Präsenz zu gewinnen. Die funktionale Begriffsbildung von Intensität bleibt dann nicht nur ein theoretisches Konzept, sondern sie kann zugleich in Wahrnehmungs- und Empfindungsakten ‚realisiert‘ werden, was sie allgemein verwendbar macht. Ihre begrifflich abstrakte Vorstellung korrespondiert mit ihrer physischen ‚Lesbarkeit‘. Im Hintergrund des Begriffsverständnisses von Intensität existieren naturale Gegebenheiten, zu deren physikalischer Theoretisierung Lambert maßgeblich beigetragen hat. Seine Untersuchungen zur Lichtmessung und Lichtbrechung41 erschließen dem Intensitätstheorem seine naturwissenschaftlichen Referenzbereiche. Lambert formulierte zwei bis heute gültige Intensitätsgesetze des Lichts, das sogenannte Lambert-Beer-Gesetz von der Absorption des Lichts bei Durchtritt durch ein farbiges Medium und das Lambertsche Kosinusgesetz über die Winkelfunktion zur Intensität von auf ein mattes Reflektionsmedium auftreffendem Licht. Auf diese Weise machte Lambert deutlich, dass die Intensität des Lichtes nicht nur „mit der Aufhäufung der Substanzen, Materien, Kräften etc.“ zu tun hat, „sondern sie verändert sich auch nach der Art, wie die Kräfte wirken, und in solchen Fällen richtet sie sich gewöhnlich nach dem sinu incidentiae [= Einfallswinkel].“42 Winkelgrad und Stärkegrad des Lichts werden so erstmals in einen naturgesetzlichen Bezug gesetzt. Das ist wichtig, weil Gradualisierungsphänomene nicht mehr nur eine angenommene Denkfigur wie noch bei Leibniz sind, sondern auch durch eine reale Evidenz bestätigt werden. Diese wiederum begründet dann auch wieder die Möglichkeit, Intensität als allgemein ansetzbares Gradualisierungstheorem zu denken. Zu der physikalischen Basierung von Intensität tritt auch ihr mathematisches Substrat hinzu, das Lambert bewusst war und um dessen Berücksichtigung es ihm geht. Er möchte „das Maaß der Stärke oder Intensität“ entweder durch Zahlangaben metrisiert oder durch eine Kurve („Linie“) visuell formalisiert sehen.43 Diese für physikalische Intensitätsprozesse charakteristische „Linie“ ergibt sich durch die seit Leibniz eingeführte, stetige Exponentialfunktion vom Typus y = ax. Die dadurch herstellbare Kurve ist das analytische Abstraktionsbild der „logarithmischen Linie“,44 das Lambert im Hinblick auf die „Vorstellung der Größen durch

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Vgl. als Hauptschrift dazu Lambert, Photometria, sive de mensura et gradibus luminis colorum et umbrae. Augsburg 1760. Dt.: Photometrie, übers. u. hg. v. Ernst Anding. (Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, 33) Leipzig 1892. Vgl. Lambert, Anlage zur Architectonic [Anm. 34], S. 351, § 731. Vgl. ebd., S. 318, § 695. Vgl. ebd., S. 351, § 730.

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Figuren“,45 d. h. auf eine geometrische Anschaulichkeit gebracht favorisierte. Die Annahme von Intensität mit einer gleitenden Gradualisierung reflektiert aber auch noch auf andere mathematische Theoreme. Ihre Formulierung setzt voraus, dass es eine schwächste und eine stärkste Wirkung geben muss, die zugleich Referenzpunkte für die Messeinteilung sind. Intensität wird deshalb erst denkbar, wenn es für ihre Konturierung eine Theorie der Extreme gibt. Diese entsteht für den physikalischen Kraft-/ Energiediskurs und seine mathematische Behandlung im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts. Der französische Mathematiker Pierre Fermat (1601– 1665) formulierte für die Optik erstmals ein solches Minimalprinzip, indem er feststellt, dass Licht stets den zeitlich kürzesten Weg nimmt. Die mathematische Darstellung dieses Prinzips und seine Übertragung in die Mechanik als Theorie der kleinsten Wirkung führen im Weiteren zu einer infinitesimalen Variationsrechnung, die es erlaubte, Extremalaufgaben zu lösen. Differentialfunktionen mit Minimal- bzw. Maximalpunkten zeichnen sich dadurch aus, dass an diesen Stellen deren erste Ableitung gleich null ist. Die Nullstellen kennzeichnen dann entweder eine maximale Kräftesumme oder deren Minimierung. In beiden Fällen befindet sich das Potential der wirkenden Kräfte in einem stabilen oder labilen „Gleichgewichte und Beharrungsstande“.46 Dazwischen liegen ansteigende oder abfallende Zustände, die sich zueinander stetig verhalten. Alle bilden ein einheitliches, durchgängiges System stufenloser Gradualisierung, das oszillierend oder asymptotisch gestaltet sein kann. In diesem theoretischen Funktionsrahmen von Physik und Mathematik entsteht und bewegt sich letztlich der Intensitätsdiskurs. Er wird zumeist nicht explizit aufgerufen, weil sich die relevanten Grundlagen einer mathematischen Funktionenlehre erst über eine wirkliche Vertrautheit mit Differential- und Integralrechnung voll erschließen. Deren theoretische Relevanz ist im 18. Jahrhundert aber nur bedingt allgemein erinnert und bewusst. So sind Intensitätsdiskurse möglich, ohne dass ein entsprechendes Hintergrunds- und Einordnungswissen vorliegt. Typisch ist dafür die um 1800 häufiger aufgerufene Oszillation. Ihr liegt ein energetischer Intensitätsmodus zugrunde, der nur mittelbar erinnert bleibt, wenn etwa Novalis über die „Oszillation“ von geschichtlichen „Zeiten und Perioden“ und deren „Wechsel entgegengesetzter Bewegun_____________ 45 46

Vgl. ebd., S. 521, § 885. Vgl. Lambert, [Selbstrezension seiner Anlage zur Architectonic 1771]. In: ders., Philosophische Schriften. Riga 1787. Nachdr. hg. v. Hans-Werner Arndt u. Lothar Kreimendahl. Hildesheim 1969, Bd. 7, S.413–428, hier S. 426.

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gen“47 reflektiert. Lamberts Entdeckung und Propagierung der Intensität als innovativer Denkform von gleitend gradualisierter ‚Stärke‘ ist trotz einer beachtlichen Rezeption über die involvierten Fachdisziplinen hinaus48 kein Gemeingut. Dennoch ist er eine Schlüsselfigur des Intensitätsdenkens, das er in aktiver Kenntnis seiner theoretischen Basis durch „Differentialgrößen“49 formulierte und veranschaulichte. Der Gewinn einer fachterminologisch definierten Beschreibungsgröße Intensität zeitigt Möglichkeiten ihres metaphorischen Transfers in einen verallgemeinerten Sprachgebrauch. Der Einsatz hängt dabei wesentlich vom Gradualisierungstheorem ab. Das Intensitätsdenken des 18. Jahrhunderts geht deshalb stets von einer mehr oder minder explizit namhaft gemachten Skalierung aus. Dabei gerät vorerst nur bedingt ins Blickfeld, dass eine Gradmessung von Intensität die Einführung eines Schwellentheorems einschließt. Es muss einen Nullpunkt der Bemerk- und Zählbarkeit geben. Entsprechende sinnesphysiologische Reizwerte testet dann zwar erst die empirische Wahrnehmungspsychologie im 19. Jahrhundert systematisch aus. Aber schon im 18. Jahrhundert entbindet der sinnesphysiologische Diskurs ein hermeneutisches Potential,50 an dessen Konturierung auch die Denkfigur der Intensität ihren dispositiven Anteil hat. Die Vernetzung von intensitärer Gradfunktionalität und initialem Schwellentheorem verdoppelt das dynamische Potential, indem sie die Evidenz gleitender Stärkedifferenzen mit beweglich definierten, qualitativen Übergangsschwellen51 verknüpft. Der im 18. Jahrhundert sich öffnende metaphorische Gebrauch des Intensitätsbegriffs gründet auf seiner grundsätzlichen Eignung, Wahrnehmung in Wissen und damit in die Deutlichkeit von Begriffen zu überführen. Die innovative Denkfigur ermöglicht neue Lesbarkeiten, sei es, dass sie an sich Vertrautes perspektivisch ummodelliert, sei es, dass sie bestimmte Aspekte überhaupt erst zu erfassen erlaubt. Intensität erweitert ihren Funktionsbereich relativ rasch im 18. Jahrhundert vom quantifizierenden Modifikationsterm zum kulturhermeneutischen Qualifikationsbe_____________ 47 48 49 50 51

Vgl. Novalis, Die Christenheit oder Europa. In: ders., Schriften, hg. v. P. Kluckhohn u. R. Samuel. Darmstadt 1968, Bd. 3, S. 510. Vgl. Hinweise dazu bei Gesine Leonore Schiewer, Cognitio symbolica. Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis. Tübingen 1996 und Kleinschmidt, Die Entdeckung der Intensität [Anm. 32], S.39 f. Vgl. Lambert, Anlage zur Architectonic [Anm. 34], S. 358, § 737. Vgl. dazu Albrecht Koschorke, Wissenschaften vom Arbiträren. Die Revolutionierung der Sinnesphysiologie und die Entstehung der modernen Hermeneutik um 1800. In: Poetologien des Wissens um 1800, hg. v. Joseph Vogl. München 1999, S. 19–52. Zu ihnen vgl. Elmar Anhalt, Über die Schwelle. Zum Problem, Übergänge zu denken. In: Schrift-Zeiten. Poetologische Konstellationen von der Frühen Neuzeit bis zur Postmoderne, hg. v. Jan Broch u. Markus Rassiller. Köln 2006, S. 289–315.

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griff, über den wesentlich auch mathesis (Wissen) in poiesis (Literatur) zu verwandeln möglich wird.52 Aus der Maßgröße Intensität ließ sich im analogisierenden Begriffsdenken der Epoche eine hochattraktive Qualität ableiten. Strukturell fällt dabei auf, dass das Intensitätstheorem nicht selbst dynamisiert erscheint, sondern überwiegend als statischer Vorstellungsbegriff eingesetzt wird. Die Entwicklung eines Denkfeldes Intensität vollzog sich nicht autonom, sondern vernetzte sich mit kulturgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, deren dominante Leitströmungen Empfindsamkeit und Genieästhetik sind. Sie generieren nicht nur Intensität als kulturhermeneutische und kulturpoetische Größe, sie sind auch selbst schon wesentlich das Ergebnis intensitärer Modellierung. Der Spagat zwischen ursprünglich gelehrtem „Kunstwort“53 energetischer ‚Stärke‘ und kulturtopologisch wirksamer Denkform wird in der praktischen Verwendung letztlich eingeebnet. Das Gradmaß- und Schwellenkonzept eines empirischen Wissenshorizonts, wie es der modale Intensitätsbegriff in Wahrnehmung, Anschauung und Theorie einführt, eröffnet intellektuelle Begriffs- und Diskursmischungen in die Kulturtopologie hinein. Wesentlich dazu trägt der medizinisch-physiologische, dann aber vor allem der psychische Empfindungs- und Bewusstseinsbereich bei. Für beide werden zunächst Gradualisierungen (Schmerz-/Bewusstseinsgrad), nach 1800 aber auch Schwellen (Schwelle des Unbewussten)54 systematisch beobachtet und durchdacht. Die Augenscheinlichkeit von Intensitätserfahrungen zwischen Empirie und Imagination begünstigt die Integration des zunächst eher abstrakten naturwissenschaftlich induzierten Begriffs in die kulturelle Hermeneutik als – um mit Novalis pointiert zu sprechen – „intellektuale Chemie“.55 Novalis ist es auch, der das Intensitätstheorem in den Kontext einer physiologischen „Erregungstheorie“ über das „Phänomen der Reitzung“ einbringt und so das „Leben“ als gradualisiert projizieren kann: „Es ist eine Gradbewegung, und diese h[eißt] im strengern Sinn Leben.“56 Die _____________ 52 53 54 55

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Vgl. zu diesem Transformationsprozess Andreas B. Kilcher, Mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000. München 2003. Vgl. dazu Lambert, Neues Organon [Anm. 16], Bd. 2, S. 597, § 267: „Die sogenannten Kunstwörter, Termini technici“. Belege ab Anfang des 19. Jahrhunderts. Systematisch durchdacht wird der Komplex bei Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin 1869, Nachdr. Hildesheim 1989. Vgl. Novalis, Das allgemeine Brouillon. In: Werke, Tagebücher und Briefe. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. München u. Wien 1978, S. 662, Nr. 785 (bezogen auf ‚Lamberts Grundl[ehre]‘, was Johann Heinrich Lambert [1728–1777] und dessen Archtitektonik von 1771 meint). Vgl. ebd. S. 591, Nr. 514: „Es ist eine Gradbewegung, und diese h[eiß]t im strengern Sinn Leben.“

Schwelle, Grad, Intensität

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ursprünglich physikalische Begriffsbildung vermag so über ihre physiologische Rezeption in den Bereich einer philosophischen Lebenshermeneutik kreativ eingebaut zu werden.

Ohad Parnes

Vom Prinzip zum Begriff. Theodor Schwann und die Entdeckung der Zelle (1835–1838) 1. Einleitung Die gängige Historiographie zur Zelltheorie ist eng mit der Historiographie der Mikroskopie verknüpft: Die Geschichte der Entdeckung der Zellen ist in der Regel als die Geschichte einer Reihe von mikroskopischen Beobachtungen und ihrer Interpretation erzählt worden.1 Die Entstehung des Begriffs der Zelle ist somit nahezu identisch mit der Geschichte der Mikroskopie und ihrer Praktiken: Es handelt sich um die Geschichte einer allmählich sich einstellenden Erkenntnis, des fortschreitenden Vordringens zu den kleinsten Elementen der lebenden Körper. Der Begriff der ‚Zelle‘ ist gleichbedeutend mit einer materiellen, strukturellen Einheit. Entsprechend ist die Geschichte des Begriffs identisch mit der Geschichte der Beobachtung und experimentellen Manipulation dieser Einheiten des Lebens. Die Erzählung beginnt in der Regel mit dem britischen Mikroskopiker Robert Hooke, der 1665 in seiner Micrographia Kork mikroskopisch untersuchte und diesen als zusammengesetzt aus „Poren oder Zellen“ oder auch „sehr vielen kleinen Boxen“ beschrieb und zeichnete.2 Ähnliche Beobachtungen machten kurz darauf in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts auch andere Mikroskopiker wie Nehemiah Grew und Marcello Malpighi.3 Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatte _____________ 1

2 3

Die Literatur zur Zelltheorie ist so umfangreich, dass ich an dieser Stelle darauf verzichte, sie im Einzelnen anzuführen. Ein Großteil folgt der Standardansicht, d. h. er zeichnet die technologischen Entwicklungen in der Optik, die zur größeren Auflösung der neuen Mikroskope und daraus folgend verbesserten Beobachtungen in der Zytologie führten. Oder aber die Literatur verfolgt eine Geschichte der Ideen und der Theorien zum anatomischen Atomismus. Ein typisches Beispiel für diese Perspektive ist Arthur Frederick Wilhelm Hughes, A History of Cytology. London u. New York 1959. Die neuesten Bücher zum Thema stammen von Thomas Cremer, Von der Zellenlehre zur Chromosomentheorie. Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Theorienwechsel in der frühen Zell- und Vererbungsforschung. Berlin u. New York 1985, sowie: François Duchesneau, Genèse de la théorie cellulaire. Paris 1987, die im Großen und Ganzen dem üblichen historiographischen Ansatz folgen. Robert Hooke, Micrographia. Or some Physiological Descriptions of Minute Bodies Made by Magnifying Glasses. With Observations and Inquiries thereupon. London 1667, hier S. 114. Marcello Malpighi, Anatome Plantarum. Cui subjungitur appendix, iteratas & auctas ejusdem authoris de ovo incubato observationes continens. London 1675; Nehemiah Grew, Anatomy

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sich die zellulare Natur von Pflanzen unter Botanikern als Tatsache durchgesetzt. Um auch tierische Zellen zu sehen, reichte dagegen nach der gängigen Ansicht die damalige Technik nicht aus.4 Überhaupt, so wird oft behauptet, stagnierte die Mikroskopie im 18. Jahrhundert. Mikroskope in der Zeit um 1800 leisteten demnach – ‚bis auf ein paar mechanische Verbesserungen‘5 – nicht bedeutend mehr als jene der Epoche um 1700. Erst weitere Verbesserungen der mikroskopischen Optik aufgrund neuer theoretischer Überlegungen ermöglichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bedeutend stärkere und zuverlässigere Vergrößerung – vor allem durch die Beseitigung irreführender achromatischer und asphärischer Täuschungen. Erst jetzt, so die Geschichte weiter, wurde es möglich, auch tierische Zellen ‚zu sehen‘. Dies eröffnete einer einheitlichen Zelltheorie den Weg.6 Es gibt viele Ungereimtheiten in diesem, hier nur kurz skizzierten historiographischen Paradigma, die ich an dieser Stelle nicht ausführlich diskutieren kann. Eine der Herausforderungen an das Paradigma jedoch betrifft das Verhältnis von Mikroskopie und biologischer Theorie vor dem 19. Jahrhundert. Es wurde bereits angedeutet, dass die ersten Berichte von der Zellstruktur der Pflanzen schon in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts fallen. Tatsächlich wurde diese Form der Beschreibung von Pflanzengewebe als zusammengesetzt aus einer Vielzahl von Zellen bereits im 18. Jahrhundert zum weit verbreiteten Jargon und darüber hinaus in unzähligen Illustrationen festgehalten. Bemerkenswert jedoch ist die Tatsache, dass während all dieser Zeit – also fast zwei Jahrhunderte lang bis zur Etablierung der Zelltheorie um 1850 – praktisch kein Versuch unternommen wurde, die Zelle zu einer erklärenden Einheit zu machen – also zu einem ‚Konzept‘ im engen Wortsinne. Waren sie mithin kein Konzept, was waren die ‚Zellen‘ in den botanischen Trakten des 17. und 18. Jahr_____________ 4

5 6

of Plants. With an Idea of a Philosophical History of Plants, and several other Lectures, read before the Royal Society. London 1682. Tatsächlich blieben Mikroskope während des gesamten 18. Jahrhunderts ein unverzichtbares Werkzeug für viele Anatomen und Naturforscher. Bei den ‚lediglich mechanischen Verbesserungen‘ handelt es sich de facto um grundlegende Entwicklungen, die die systematische und zuverlässige Anwendung professionell hergestellter Instrumente ermöglichten – dazu gehören zum Beispiel der Mechanismus zur Fokussierung oder bessere Methoden der Beleuchtung. Hinzu kommt, dass Aberrationen (sphärische, chromatische) nicht am Gebrauch des Mikroskops hinderten: Einfache Mikroskope mit nur einer Linse waren sowieso nahezu frei von Aberrationen, und auch zusammengesetzte Mikroskope galten, wissend um die Aberrationen, dennoch als allgemein nützlich und zuverlässig, vgl. Brian John Ford, Single Lens. The Story of the Simple Microscope. London 1985. Brian Bracegirdle, A History of Microtechnique. The Evolution of the Microtome and the Development of Tissue Preparation. London 1978. Eine neuerliche Wiederholung dieser Ansicht findet sich bei Henry Harris, The Birth of the Cell. New Haven 2000.

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hunderts dann? Mit sehr wenigen Ausnahmen wurde das Wort ausschließlich als bloße Beschreibung einer Struktur benutzt, ohne dass damit eine theoretische oder gar universell gültige Aussage verknüpft war. In gewisser Weise handelte es sich um einen metaphorischen Gebrauch, um eine Aussage von der Art: ‚wenn man durch ein Mikroskop blickt, sieht das Gewebe so aus, als ob es aus Zellen bestehe‘. In ihrer modernen Fassung dagegen beinhaltet die Zelltheorie die radikale Behauptung von einem elementaren Baustein des Lebens, von einer strukturellen Regularität, die universal ist und die ohne Ausnahme in jedem lebenden Organismus gefunden werden kann – angefangen bei einzelligen Bakterien bis hin zum Menschen. Allein der Sprung vom deskriptiven, gar metaphorischen Gebrauch des Begriffs ‚Zelle‘ hin zum modernen, umfassenden Konzept ist alles andere als selbstverständlich und kann nicht allein durch die graduelle Verbesserung mikroskopischer Techniken erklärt werden. Eine noch größere Herausforderung für die übliche Geschichte der Zelle stellt das Verhältnis von Pflanzen- und Tierzelle dar. Darum geht es mir in diesem Beitrag. In der Regel geht man davon aus, dass die Anfänge des ‚modernen‘ Verständnisses der Zelle auf die Arbeiten von Theodor Schwann zurückgehen, die er in Berlin in den späten 1830er Jahren veröffentlichte. Schwann war es, der in seiner Publikation Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen aus dem Jahr 1839 systematisch darlegte, dass nicht nur Pflanzen, sondern auch Tiere aus Zellen aufgebaut sind und dass diese beiden Arten von Zellen als ‚analog‘ gelten können. Schwanns Arbeit markiert eine bemerkenswerte Zäsur in der Geschichte der mikroskopischen Anatomie. Heutzutage stehen Wissenschaftshistoriker Zäsuren eher skeptisch gegenüber – an die Stelle kurzer und dramatischer Entdeckungsnarrative sind komplexe und vielschichtige Geschichten getreten, die überzeugender erscheinen. In diesem Falle jedoch stützen alle verfügbaren Informationen und Dokumentationen das Narrativ einer einzigartigen Entdeckung: Tatsächlich hat niemand vor Schwann je behauptet, dass alle tierischen Gewebe aus Zellen aufgebaut sind und erst recht nicht, dass diese Zellen derselben Art seien wie jene der Pflanzen. Umgekehrt haben praktisch alle Forscher nach Schwann (mindestens jedoch nach 1850) und bis heute die Zelltheorie als gültige und unbestreitbare Tatsache anerkannt. Im Prinzip ist also die ‚Zelle‘ der Biologie der 1850er Jahre dieselbe Zelle wie in den Biologiehandbüchern heute: sowohl die Materialität des Objekts, auf das der Begriff Bezug nimmt, als auch die theoretischen Implikationen seiner Definition gelten bis heute weitgehend unverändert (neu ist lediglich die Präzision der Beschreibung). Nur für wenige Konzepte in der Geschichte der modernen

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Wissenschaften lässt sich eine vergleichbare Bilanz von nahezu zweihundert Jahren Gültigkeit ohne nennenswerte Modifikationen ziehen. Es ist daher von besonderer Wichtigkeit, Art und Charakter von Theodor Schwanns Arbeiten genau zu untersuchen. Was befähigte ihn in den Jahren etwa um 1838, ‚Zellen‘ als die elementaren Bausteine von Pflanzen und Tieren gleichermaßen zu bestimmen? Tierische Gewebe unterscheiden sich fundamental von pflanzlichen. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen haben tierische Gewebe keine anatomische Struktur, die den Beobachter leicht zur Beschreibung von ‚Zellen‘ veranlasst. Muskelgewebe sind im Wesentlichen feinfaserig, das Gehirn besteht aus einer amorphen Masse, große Teile des Bindegewebes wiederum bestehen unter dem Mikroskop betrachtet aus breiten elastischen Streifen. Was erlaubte es Schwann, all diese verschiedenen Formen zu ‚Zellen‘ zu reduzieren? Warum wählte er gerade dieses Wort, um all die kleinen Komponenten des Tierkörpers zu beschreiben? Wir wissen, dass Schwann keineswegs eine bessere mikroskopische Technologie zur Verfügung stand als vielen seiner Zeitgenossen.7 Warum also war er dennoch als einziger fähig, Zellen ‚zu sehen‘? Was waren die konzeptuellen und technischen Annahmen, die es Schwann möglich machten, eine Terminologie, die bis dahin zur gelegentlichen Beschreibung von Pflanzenstrukturen benutzt wurde, in einen vereinheitlichenden Begriff für die gesamten Lebenswissenschaften zu konvertieren?

2. Schwanns wissenschaftliches Tagebuch Theodor Schwann (1810–1882) studierte an der Universität Bonn. Hier lernte er auch den zu dieser Zeit bereits berühmten Johannes Müller kennen. 1833 wechselte er zum Abschluss seines medizinischen Examens nach Berlin. Johannes Müller war unterdessen zum Professor für Anatomie und Physiologie an die Berliner Universität berufen worden, und bei ihm reichte Schwann 1834 seine Dissertation ein. Darin untersucht er die Notwendigkeit atmosphärischer Luft für die Embryonalentwicklung. Müller überredete Schwann, sich der Forschung zu widmen, und bot ihm die Stelle eines Assistenten am anatomischen Museum der Universität an. Dort gelang Schwann in der kurzen Periode von nur drei Jahren (1835–1838) ein Großteil seiner wissenschaftlichen Entdeckungen. Nachdem er seine Arbeit über die Zellen 1938 publiziert hatte, zog es ihn weiter nach Belgien, wo ihm eine Position an der Katholischen Universität Louvain angeboten worden war. Dieser Schritt bedeutete de facto auch das Ende seiner aktiven Forschungskarriere. 1849 wurde Schwann zum _____________ 7

Vgl. Rembert Watermann, Theodor Schwann. Leben und Werk. Düsseldorf 1960.

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Anatomieprofessor an der Universität von Liège berufen, wo er bis zu seiner Pensionierung 1879 blieb. Von 1835 bis 1838, in weniger als drei Jahren, revolutionierte der junge Theodor Schwann die Biologie. Als Assistent bei Johannes Müller in Berlin und scheinbar mit so disparaten Forschungsthemen wie der Muskelkontraktion, der Verdauung im Magen und der Mikrobiologie der Verwesung beschäftigt, identifizierte Schwann 1838 die elementare Einheit des Lebens. Sowohl Pflanzen als auch Tiere, postulierte er, entstehen und bestehen ausschließlich aus Zellen. Diese, so Schwann, seien nicht nur als strukturelle Einheiten, sondern auch als physiologische Kausalfaktoren zu verstehen. Die Bedeutung der Entdeckung Schwanns lässt sich kaum überschätzen. Die Zelltheorie überwand nicht nur den jahrhundertealten Glauben an die Lebenskraft als Antrieb der Entstehung und Entwicklung des Lebens, vielmehr sollte sie das Denken in Biologie und Medizin grundlegend verändern. Im Folgenden werde ich die Entdeckung der Zellen in den Zusammenhang von Schwanns physiologischen Untersuchungen und experimentellen Praktiken in der Zeit zwischen 1835 und 1838 stellen. Meine Analyse stützt sich hierbei auf die unveröffentlichten Forschungsnotizen von Theodor Schwann aus diesen Jahren. Mehrere Bände von Schwanns unpublizierten Notizen aus seiner Berliner Zeit sind erhalten geblieben.8 Schwann selbst nannte sie Tagebuch über naturwissenschaftliche und medizinische Beobachtungen und Versuche, eigentlich jedoch dienten sie ihm als Notizblock, auf dem er gelegentliche Notizen und Gedanken sowie experimentelle Aufbauten und Ergebnisse festhielt. Ich hatte das Glück, vier Bände des Tagebuchs einsehen zu können: Das erste (im Folgenden TB 1835) umfaßt das Jahr 1835. Der zweite Band (TB 1836) beginnt im Juni 1836 und reicht bis zum Ende desselben Jahres. Der dritte Band (TB 1837) deckt die Zeit von Januar bis Oktober 1837 ab. Der vierte, weniger systematische Band schließlich (TB 1838) enthält sporadische Notizen und Entwürfe der Zeit von Januar bis Juli 1838.9 _____________ 8

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Die originalen Notizbücher wurden von Schwanns Familie in Düsseldorf verwahrt und von seinem Biographen Marcel Florkin in den 1960er Jahren dupliziert und transkribiert. Ich habe die Notizen aus Florkins Nachlass eingesehen, der sich im Centre d’Information et de Conservation der Bibliothek der Universität von Liège, Belgien, befindet. Die Notizen sind möglicherweise unvollständig. Meines Wissens haben nur sehr wenige Historiker die Tagebücher konsultiert; niemand hat sie bisher systematisch untersucht. Marcel Florkin, Schwanns Biograph, diskutiert einige Passagen des Tagebuchs, siehe Marcel Florkin, Naissance et déviation de la Théorie Cellulaire dans l’œuvre de Théodore Schwann. Paris 1960. Das Gleiche gilt für seinen zweiten Biographen Watermann, Theodor Schwann [Anm. 7]. Ergänzend dazu benutzt Holmes Schwanns Aufzeichnungen zur Magenverdauung in seinem Buch über Claude Bernard, siehe Frederic Lawrence Holmes, Claude Bernard and Animal Chemistry. The Emergence of a Scientist. Cambridge, Mass. 1974. Richard Kremer analysiert zwei Seiten der Notizen, in denen Schwann einige experimentelle Ergebnisse zur Muskelkontraktion festhielt, siehe Ri-

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Auf den ersten Blick und in der Perspektive der Standardhistoriographie der Zelltheorie erscheinen die Tagebücher völlig unspektakulär. Sie bieten keine direkten Einblicke in den Kontext von Schwanns Entdeckung der Zellen. Zudem ist jene Phase, die die Entdeckung der Zellen betrifft, in den verfügbaren Tagebüchern nicht dokumentiert: Der bereits erwähnte dritte Band (TB 1837) enthält lediglich die Periode bis Ende Oktober 1837 – das ist kurz bevor Schwann mit der Arbeit an seinem ersten Aufsatz zur Zelltheorie begann (veröffentlicht im Januar 1838).10 Der nächste Band dagegen – beginnend im Januar 1838 – enthält bereits Entwürfe zu einem von mehreren vorbereitenden Artikeln zu diesem Thema. Man sucht mithin vergebens nach früheren programmatischen Äußerungen oder einem emphatisch von Schwann geäußerten Wunsch, die elementaren Bausätze des Lebens zu finden. Ebenso wenig enthalten die Aufzeichnungen Berichte über systematische mikroskopische Untersuchungen zur Struktur der Gewebe. Zellen oder vergleichbare elementare mikroskopische Einheiten tauchen in den ersten drei Bänden des Tagebuches (1835– 1837) gleichfalls nicht auf Demgegenüber erhalten dieselben Tagebücher eine völlig andere historiographische Kohärenz, wenn sie nicht in Begriffen einer ‚Geschichte der Zelltheorie‘ gelesen werden, sondern als Dokumentation eines beharrlichen und konsistenten Versuchs, Leben neu in Begriffen von Kausalbeziehungen bzw. –verursachern zu konzeptualisieren.

3. Von ‚Prinzipien‘ zu Zellen. Schwanns Suche nach den Agenten des Lebens Eine zentrale Rolle in den modernen biomedizinischen Wissenschaften spielt der Begriff des Erregers. Während der Begriff heutzutage allerdings ausschließlich auf den Krankheitserreger verengt wird, benutzten ihn Schwann und seine Zeitgenossen in umfassenderem Sinn. Die weniger konnotierte und weiter gefasste Bezeichnung Agens (oder im Englischen _____________ 10

chard L. Kremer, The Thermodynamics of Life and Experimental Physiology, 1770–1880. (Harvard dissertations in the history of science) New York u. London 1990. Theodor Schwann, Ueber die Analogie in der Structur und dem Wachstum der Thiere und Pflanzen. In: Neue Notizen aus dem Gebiete der Natur- und Heilkunde 5 (1838) 91, S. 34– 36. Diese Arbeit ist die erste in einer Reihe von drei kürzeren Abhandlungen (gefolgt im Februar vom Aufsatz: Fortsetzung der Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Structur der Thiere und Pflanzen. In: ebd., 5 (1838) 103, S. 225–229; und im April: Nachtrag zu den Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Structur der Thiere und Pflanzen. In: ebd., 6 (1838) 112, S. 21–23), die seiner endgültigen Monographie: Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. Berlin 1839 vorausgingen.

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agent), die ich im Folgenden verwende, bezeichnet zutreffender die Vorstellung Schwanns: Mit dem Agens bezeichnete er eine spezifisch strukturierte, materielle Einheit, die in der Lage ist, bestimmte Vorgänge hervorzurufen. In dieser Rolle als materielle Objekte, die spezifische Kräfte ausüben und damit spezifische physiologische Prozesse evozieren, ist das Agens ein konstitutives Element der Lebenswissenschaften. Solch typische Agenten sind Zellen und Enzyme, Viren und Gene. Agenten treten somit nicht nur häufig auf, sie sind auch eine der mächtigsten Konzeptualisierungen der Lebenswissenschaften überhaupt. Weil sie so häufig und so dominant in Erscheinung treten, werden sie im Allgemeinen als offensichtlich, gar trivial gehandelt. Hinzu kommt, dass das moderne, an der Ätiologie geschulte Denken von Erregern oder Agenten in der Historiographie oftmals in der ‚bakteriologischen Revolution‘ der letzten zwei Dekaden des 19. Jahrhunderts verankert wird, die mit den Arbeiten Louis Pasteurs und Robert Kochs verbunden ist.11 Praktisch von seinen ersten experimentellen Arbeiten an strebte Schwann danach, neue Methoden in die Physiologie einzuführen und zu einer Erklärung der Lebensprozesse zu gelangen, die keinen Rekurs auf eine Lebenskraft mehr nötig hatte. In diesem Zusammenhang soll daran erinnert werden, dass zu Zeiten Schwanns alle physiologischen wie auch pathologischen Prozesse als Manifestationen einer ihnen zugrundeliegenden Lebenskraft gedeutet wurden. Leben wurde typischerweise als ein kontingentes Phänomen betrachtet, abhängig von einem fragilen Gleichgewicht der Lebenskraft des Individuums und seiner Umwelt. Normales, gesundes Leben war das Resultat einer komplizierten Interaktion der vitalen Fähigkeiten des Organismus mit einer Vielzahl von Impulsen und Stimuli, die er von der Umgebung empfing.12 Im Gegensatz zu dieser herkömmlichen Auffassung glaubte Schwann, dass es möglich sein müsse – vorausgesetzt man könne einen geeigneten experimentellen Aufbau schaffen –, für ein spezifisches physiologisches Phänomen einen ihm eigenen Verursacher zu isolieren und zwischen diesem Verursacher und seiner Wirkung eine strikte Kausalbeziehung aufzuzeigen. Woher aber kam die Motivation, ein solch ambitioniertes Projekt zu versuchen? Schwanns veröffentlichte Schriften verraten nur wenig über _____________ 11

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Siehe für eine solche Betrachtungsweise z. B. Alfred S. Evans, Causation and Disease. A Chronological Journey. New York u. London 1993. Mit dieser Begrifflichkeit ist jedoch auch eine konzeptionelle Verengung unseres Blicks auf Schwann verbunden, wie ich nachfolgend im Einzelnen darlege. Zur Rolle des Vitalismus in der Geschichte der Biowissenschaften siehe die großenteils sehr guten Beiträge in: Vitalisms from Haller to the Cell Theory. Proceedings of the Zaragoza Symposium XIXth International Congress of History of Science, 22.–29. August 1993, hg. v. Guido Cimino u. François Duchesneau. Firenze 1997.

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den Kontext, in dem sich dieser radikale Bruch vollzog. Dennoch gibt es gerade in seinen unveröffentlichten Notizen viele Hinweise, die zeigen, wie sehr sich Schwann mit den Grundlagen der Physiologie auseinandersetzte und sich wünschte, diese Disziplin auf eine neue Epistemologie zu gründen. Im März 1835, kurz nach Beginn des Tagebuchs, fügte er Zitate aus einem Brief an seinen Bruder in die Aufzeichnungen ein.13 Darin bestand er auf der notwendigen Unterscheidung zwischen Geist und Gehirn, um „die Frage über den Sitz der Seele [...] ganz aus der Physiologie zu verbannen“. Indem er diesen Standpunkt einnehme, so schreibt er seinem Bruder, werde es möglich zu behaupten, dass „jedes Individuum mit einem ihm eigentümlichen neuen psychischen Prinzip begabt wird“ und dabei gleichzeitig zu vermeiden, ein ähnliches individuelles Lebensprinzip (eine Ansicht, die er Johannes Müller zuschrieb) annehmen zu müssen.14 Letzteres, fügt er hinzu, könne somit als lediglich abhängig von der Organisation erachtet werden. Eine Physiologie, die die Seele ausklammert, könne nunmehr eine streng gesetzmäßige Wissenschaft werden, die allein auf strikten kausalen Abhängigkeiten beruhe. Einen anderen Weg zu einer strengen Wissenschaft zeigt er schon im Februar 1835 zu Beginn seiner Aufzeichnungen auf: „Meiner Ansicht nach muß unser Hauptstreben darauf gerichtet sein, Rechnung in die Physiologie einzuführen.“ Ein plausibler Anfang für solch ein Programm, fährt er fort, könnte die Untersuchung von Muskelkontraktionen sein. Folgerichtig beschäftigt er sich damit zwischen Februar und Oktober 1835. Da die Experimente im Einzelnen nie publiziert wurden, können sie lediglich aus seinen Notizen rekonstruiert werden.15 Im Wesentlichen bestanden sie aus der Messung, in welchem Maß ein Froschmuskel bei einem bestimmten (galvanischen) Impuls kontrahierte. Während diese Experimentenreihe als eines der ersten Beispiele einer gelungenen Quantifizierung der Muskelaktivität gilt, wurde sie doch niemals in Verbindung gesetzt zu Schwanns späteren mikroskopischen Arbeiten. 16 _____________ 13 14 15

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Dieser Brief ist abgedruckt in Florkin (Hg.), Lettres de Théodore Schwann (1810–1882). (Mémoires de la société royale des sciences de Liège, 5. Serie, Bd. 2, Nr. 3) Liège 1960, S. 13. Hervorh. vom Verfasser. Lediglich die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden von Johannes Müller sehr knapp in seinem Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen. Coblenz 1840, Bd. 2, S. 59–62, sowie auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Jena im November 1938 von Schwann wiedergegeben: Auszug seiner Untersuchungen über die Gesetze der Muskelkraft (Versammlung der Naturforscher und Aertze zu Jena am 18. September 1836). In: Isis. Enzyklopädische Zeitschrift (1837) 5–7, S. 523 f. Siehe z. B. Kremer, The Thermodynamics of Life [Anm. 9].

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Eine neue Interpretation dieses Experiments ergibt sich jedoch, wenn es nicht allein als gelungene Messung betrachtet wird, sondern als der Versuch, einen physiologischen Verursacher (oder Erreger) der Muskelkontraktion zu erkennen. In der Tat formuliert Schwann explizit in seinem Tagebuch, dass der bloße quantitative Aspekt seines Experiments trivial und vorhersehbar sei. Sein eigentliches Ziel ging viel weiter: die Rechnung sollte ihm als Instrument dienen, die Regelmäßigkeiten und damit Gesetze des physiologischen Prozesses zu entdecken. Entsprechend war das Experiment folgendermaßen angelegt (TB 1835, 16. April): Um die Lehre über die Muskelkontraktilität wissenschaftlich zu bearbeiten, müßte man folgenden Weg einschlagen: Man denke sich eine Muskel-Primitivfaser vertikal mit ihrem unteren Ende an einem unbeweglichen Punkte, mit ihrem oberen an einem Wagebalken befestigt. An der anderen Seite des Wagebalkens hänge eine Schale. Ist alles im Gleichgewicht, so daß die Muskelfaser nicht gezerrt, sondern bloß ihre Schwere überwunden wird, so lege man ein Gewicht G auf die Schale und bewirke eine Kontraktion der Faser. Sie verkürzt sich dadurch auf die Länge L. Die Kraft, welche der Muskel bei der Länge L auszuüben vermag, wird also ausgedrückt durch das Gewicht G. Wir können diese Kraft Kontraktionsgröße nennen, analog dem Begriffe der Bewegungsgröße, von dem in der Physik die Rede ist, und sie mit C bezeichnen.

Es ist bemerkenswert, wie sehr Schwanns Vorstellungswelt von der herrschenden Physiologie seiner Zeit abweicht. Das gilt umso mehr, als er sich erst am Anfang seiner Forschungen befindet. Sein Abweichen von eingefahrenen Wegen hat direkte Auswirkungen auf seine experimentelle Praxis: Anstelle der traditionsreichen ‚Kontraktilität‘ des gesamten Muskels stellt Schwann sich die „Kraft“ eines elementaren physiologischen Verursachers vor – in diesem Fall die der Muskelfaser. Das sucht er ‚auszudrücken‘, indem er den Muskel gegen einen kontrollierten Widerstand (in Form von Metallgewichten) arbeiten lässt und damit die experimentelle Einheit der „Kontraktionsgröße“ definiert. Diese Größe wiederum hängt von der „eigentümlichen Kontraktionskraft“ des Muskels ab. Letztere könne natürlich nicht direkt gemessen werden, aber Schwann notiert: [Die eigentümliche Kontraktionskraft] läßt sich aber berechnen aus der Kontraktionsgröße, welche ein Muskel äußert bei gleicher Stärke des Reizes, aber verschiedenen Grade der Lebenskraft. (TB 1835)

Schwann postuliert hier Folgendes: Durch eine Reihe von Muskelexperimenten unter variierenden Bedingungen und unter der Annahme, dass alle relevanten Größen abgesehen von der Lebenskraft des Muskels kontrollier- und messbar seien, sei zu schließen, dass die verbleibenden Variationen der Kontraktionen des Muskels den Veränderungen seiner Lebenskraft zuzurechnen sind. Folgerichtig müsse die (vermutlich regelmäßige)

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Veränderungsrate als die numerische Repräsentation der Lebenskraft angesehen werden! Auch hier muss wieder betont werden, wie ungewöhnlich Schwanns Gebrauch des Begriffes ‚Lebenskraft‘ für seine Zeit ist. Die Lebenskraft wird bei Schwann zum ersten Mal zu der konkreten Eigenschaft einer elementaren mikroskopischen Einheit, in diesem Fall der Muskelfaser. Schwann räsonierte sogar über die Gründe, die diesem Kausalverhältnis zugrunde liegen und es erklären könnten: Es läßt sich daher die Muskelkontraktion vielleicht erklären, wenn man annimmt, daß die hellen Teile der Primitivfasern bloß durch ihre Elastizität wirken, die dunklen Punkte aber die Eigenschaft besitzen, bei Anbringung von Reizen eine Anziehungskraft aufeinander auszuüben.

Des Weiteren: Die gegebene Erklärung paßt für die Zusammenziehung der Primitivfasern in gerader Linie, aber nicht sofort für die Kräuselung der Muskeln. Ich sehe überhaupt nicht ein, wie beide Kontraktionsweisen aus einem Prinzip erklärt werden können, wenn nicht die mikroskopische Anatomie Tatsachen dazu liefert. (TB 1835)

Man beachte hier, wie der Begriff des ‚Prinzips‘ in einem mikroskopischanatomischen Kontext gebraucht (und offensichtlich auch wahrgenommen) wird.17 Schwann benutzt ihn in einem doppeldeutigen Sinn: sowohl als ein erklärendes ‚Prinzip‘ für ein physiologisches Phänomen als auch als eine anatomisch-mikroskopische (materielle) Einheit. Vier Tage später, am 24. April, notiert er: Ein eigenes noch zu bearbeitendes Feld der Wissenschaft wäre eine „vergleichende allgemeine Anatomie“. Wie die spezielle vergleichende Anatomie in Bezug auf die Physiologie dazu dient, die wesentliche Form der Organe kennen zu lernen, so würde diese Wissenschaft bezwecken, die wesentliche Struktur zu ermitteln. (TB 1835)

Es werden noch weitere zweieinhalb Jahre vergehen, bevor Schwann Zellen beobachten wird. Dennoch beginnt schon hier seine Arbeit an der Zelltheorie – das heißt sein Streben, physiologische Prozesse als gesetzmäßige Effekte von Kraft ausübenden, mikroskopischen Einheiten zu begreifen. Der erwähnte Versuchsaufbau, die Lebenskraft in einer einzelnen Muskelfaser auszumachen, schlug fehl.18 Die einzige Folgerung, die Schwann aus _____________ 17

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Zur Frühgeschichte des Begriffs ‚Prinzip‘ siehe Erich Mende, Der Einfluß von Schellings ‚Princip‘ auf Biologie und Physik der Romantik. In: Philosophia Naturalis 13 (1975), S. 461–485 sowie ders., Die Entwicklungsgeschichte der Faktoren Irritabilität und Sensibilität in deren Einfluß auf Schellings ‚Prinzip‘ als Ursache des Lebens. In: ebd., 17 (1979) 3, S. 327–348. Der Versuch schlug aus zwei Gründen fehl, wie Schwann zugibt: 1. Wegen der Unmöglichkeit, tatsächlich einzelne Fasern zu isolieren und mit ihnen zu experimentieren, sowie 2. wegen der problematischen Rolle der Nerven in diesem Prozess, d. h. die Abhängigkeit der Kontraktionsgröße von der Fähigkeit der Nerven, einen galvanischen Stimulus zu lei-

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diesem Experiment (durchgeführt im Oktober 1835) ziehen konnte, war jene, dass es eine gesetzmäßige Beziehung zwischen der ursprünglichen Länge eines Muskels und der ihm entsprechenden Kontraktionskraft gebe. Die ungewöhnliche Verwendung des Begriffes ‚Prinzip‘ aber wird er beibehalten und weiterentwickeln: Das Prinzip als erklärende wie auch materielle Einheit wird zum Grundstein seines großen Projekts, physiologische Prozesse durch ihre mikroskopische Organisation zu erklären. Ende 1835 zogen andere Themen Schwann in ihren Bann. Die Periode von Dezember 1835 bis Juni 1836 war überwiegend der Untersuchung der Verdauung im Magen gewidmet und kulminierte in der Entdeckung einer aktiven Verdauungssubstanz: Schwann nannte sie später ‚Pepsin‘. Diese Arbeit gilt als ein Meilenstein in der Geschichte der Physiologie und Biochemie: Es handelt sich nicht nur um den ersten entschlüsselten und künstlich simulierten Verdauungsprozess, sondern auch um die erste Identifizierung eines menschlichen Enzyms überhaupt.19 Schwann hat in dieser Untersuchung kaum mit dem Mikroskop gearbeitet; trotzdem ist sie von direkter Relevanz für die Entstehung seiner Zellentheorie, wenn wir von der These der physiologischen Kausalbeziehungen ausgehen. Den Tagebüchern können wir entnehmen, dass Johannes Müller das Thema der Verdauung, das ihn mehrere Jahre lang beschäftigt hatte, im Oktober 1835 an Schwann übergab, nachdem ein anderer Schüler Müllers, Jacob Gerson, daran gescheitert war.20 Gerson war es nur teilweise gelungen, Experimente zur Erzeugung einer künstlichen Verdauung mittels eines Extrakts der Magenschleimhaut, die Johann Eberle zwei Jahre zuvor bereits publiziert hatte, zu wiederholen.21 Müller und Schwann versuchten im November 1836 eine ähnliche Serie von Experimenten mit der Magenschleimhaut. Diesmal bestätigten sie Eberles Arbeiten, doch gelang es ihnen nicht, den der Aktivität der Schleimhaut zugrundeliegenden Mechanismus zu erkennen.22 Müller hielt die Untersuchungen damit für abge-

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ten. Vermutlich war es gerade dieses Scheitern seiner weitreichenden Pläne, das Schwann davon abhielt, seine Untersuchungen zu publizieren. Der Begriff ‚Enzym‘ selbst wurde natürlich erst viel später eingeführt. Zur Begriffsgeschichte siehe Mikuláš Teich, Ferment or Enzyme: What’s in a Name? In: History and Philosophy of the Life Sciences 3 (1981), S. 193–215. Jakob Gerson, Experimenta de chymificatione artificiosa. Berlin 1835. Johann N. Eberle, Physiologie der Verdauung, nach Versuchen auf natürlichem und künstlichem Wege. Würzburg 1834. Sie publizierten ihre Ergebnisse in einem gemeinsamen Bericht, siehe Johannes Müller / Theodor Schwann, Versuche über die künstliche Verdauung. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin (1836), S. 66–89, der tatsächlich jedoch von Schwann allein verfasst worden war.

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schlossen, nicht jedoch Schwann. Er schrieb, das eigentliche Ziel sei es, das „Wesen des Verdauungsprozesses“ zu verstehen.23 Zu diesen Zeiten galt die Verdauung als eine chemische Reaktion in einem vitalen Umfeld.24 Im Gegensatz dazu strebte Schwann bereits von Anfang an eine Erklärung an, die die Verdauung nicht als Teil komplexer vitaler Aktivitäten konzeptualisierte, sondern als spezifischen Prozess, verursacht durch einen eigentümlich organischen Verursacher. Dieser Ansatz war alles andere als naheliegend. Es bestanden keinerlei Hinweise auf einen solchen materiellen Verursacher: Er konnte weder aus einem der bekannten anatomischen Bestandteile des Magens bestehen, noch gaben die mikroskopischen Beobachtungen Anlass, seine Existenz zu vermuten. Wo also sollte man nach einem solchen Agens suchen? Am 30. November notiert Schwann in seinem Tagebuch: Bei den Versuchen über die Verdauung habe ich gefunden, daß, wenn man den auf die gewöhnliche Weise bereiteten künstlichen Magensaft mit Wasser verdünnt und dann erst durch Leinwand und dann durch Papier filtriert, die durchlaufende klare, strohgelbe Flüssigkeit die Fähigkeit zu chymifizieren hat. (TB 1836)

In dieser „strohgelben Flüssigkeit“ vermutete Schwann ein Verdauungsprinzip. Aber wie ist die materielle Natur eines solchen „Verdauungsprinzips“ zu bestimmen? „Die bekannten Wege der Analyse“, notiert Schwann in seiner Veröffentlichung, „sind in diesem Falle ausgeschlossen.“ Der einzig wirkliche Beweis für die Existenz dieser Substanz, argumentiert er, liege in seiner ‚Verdauungskraft‘, welche wiederum nur in Verbindung mit einer Säure demonstriert werden könne. Hitze und Alkohol zerstören nun aber die Verdauungsfähigkeit, so dass sie nicht als Extraktions- oder Destillationsmittel eingesetzt werden können. Deshalb entscheidet sich Schwann für einen anderen Weg: Die Idee dazu war die, das Verhalten des Verdauungsprinzips gegen gewisse Reagentien in der Verdauungsflüssigkeiten selbst zu bestimmen, ohne den Stoff zu isolieren, bloß dadurch, daß ich beobachtete, ob die verdauende Kraft den durch diese Reagentien bewirkten Niederschlägen folgt oder in der Flüssigkeit bleibt.

_____________ 23 24

Schwann, Über das Wesen des Verdauungsprocesses. In: ebd., S. 90–138, hier S. 90. Die Natur der Magensäure war mindestens seit den Arbeiten von William Prout, On the nature of the acid salien matters usually existing in the stomaches of animals. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London 114 (1824), S. 45–49 und den ausführlichen Untersuchungen von Friedrich Tiedemann / Leopold Gmelin, Die Verdauung nach Versuchen. 2 Bde. Heidelberg u. Leipzig 1826–1827 bekannt. Gleichzeitig wurde jedoch angenommen, dass Säure allein für den gesamten Prozess nicht ausreiche. Aus diesem Grund wurden zusätzliche vitale Faktoren für notwendig erachtet. Eine ausführliche Bearbeitung der Forschungen zur Verdauung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – inklusive der (allerdings nur publizierten) Arbeiten Schwanns – gibt Holmes, Claude Bernard and Animal Chemistry [Anm. 9].

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Auf diese Reaktionen wird sich dann später ein analytisches Verfahren zur isolierten Darstellung des Verdauungsprinzips gründen lassen.25

Der epistemologische Schritt, der sich in diesem Satz verbirgt, kann kaum überschätzt werden: Tatsächlich handelt es sich um eine der fundamentalsten Voraussetzungen der modernen Lebenswissenschaften. Schwann schlägt vor, eine Reihe experimenteller Abläufe einzusetzen, um eine physiologische Entität zu spezifizieren, die auf anderen Wegen unzugänglich ist: die z. B. nicht direkt zu beobachten, zu isolieren oder chemisch zu definieren ist. Der Beweis für die Existenz einer solchen Entität hängt somit gänzlich vom experimentellen Kontext ab, d. h. von dessen Eignung, unter bestimmten Bedingungen bestimmte Effekte zu produzieren. Mit anderen Worten: Schwann fordert die volle epistemologische Souveränität für das physiologische Experiment. Chemie und Physik sind in ihm zwar enthalten, doch der herauskristallisierte Verursacher muss weder chemisch noch physikalisch sein; er kann allein durch das experimentelle Profil bestimmt werden. Tatsächlich bestehen Schwanns Untersuchungen hauptsächlich aus einer Reihe von Reaktionen der Lösung – von der er annimmt, sie enthalte das Verdauungsprinzip – mit gängigen chemischen und physikalischen Substanzen. Er fasst seine Ergebnisse wie folgt zusammen: Es ist löslich in Wasser und in verdünnter Salzsäure und in Essigsäure; von Weingeist wird es zersetzt, es ist aber unbekannt, ob es darin auflöslich ist oder nicht. Von Siedehitze wird es ebenfalls verändert, aber es ist ungewiß, ob es davon niedergeschlagen wird oder nicht. Essigsaures Blei schlägt dasselbe sowohl aus der sauren, als noch vollständiger, aus der neutralen Auflösung nieder. Kaliumeisencyanür schlägt dasselbe weder aus der sauren, noch aus der neutralen Auflösung nieder. Durch Sublimat wird es aus der neutralen Auflösung gefällt. Galläpfelinfusion zerstört seine verdauende Kraft, wahrscheinlich, indem der Gerbstoff einen unlöslichen Niederschlag mit ihm bildet.26

Die exakten Details eines jeden Ergebnisses in der langen Reihe von Reaktionsversuchen sind von sekundärer Bedeutung, da die Auswahl der Reagentien weitgehend willkürlich war. Schwann folgert: Durch diese Reaktionen charakterisiert sich das verdauende Prinzip des Eiweißes als ein eigentümlicher Stoff.27

Er definiert mithin ein Verdauungsprinzip, das er Pepsin28 nennt, das nicht nur eine von vielen Bedingungen für die Verdauung ist, sondern das einen Faktor von privilegiertem epistemologischen Status darstellt. Dies war _____________ 25 26 27 28

Schwann, Über das Wesen des Verdauungsprocesses [Anm. 23], S. 113 f. Ebd., S. 122 f. Ebd., S. 123 [Hervorhebung – O. P.]. Schwann benannte sein ‚Verdauungsprinzip‘ erst in einer etwas späteren Veröffentlichung „Pepsin“, siehe Schwann, Ueber das Wesen des Verdauungsprocesses. In: Annalen der Physik und Chemie 38 (2. Serie) (1836) S. 358–364.

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ein völlig neuer Weg, physiologische Prozesse zu denken: Statt eine endlose Reihe materialer Transformationen – abhängig von der Vitalität des Organismus wie auch von seiner komplexen Interaktion mit der Umwelt – darzustellen, wird der physiologische Prozess auf spezifische materielle Agentien reduziert. Schwann war sich sofort darüber im Klaren, wie nützlich diese Auffassung für eine allgemeine Theorie des Lebens sein würde. In seinem Tagebuch vom 28. Juni 1836 schreibt er, es sei vorstellbar, dass auch viele andere physiologische Prozesse einem analogen Muster folgen:29 Gerade so könnte es sich nun bei der Ernährung verhalten: nehmen wir als Beispiel einen Muskel, so läßt sich derselbe in Bezug auf seine Ernährung mit dem Verdauungsprinzip vergleichen. Die Stelle der Säuren und des Eiweißes mag bei der Ernährung des Muskels durch das arterielle Blut vertreten werden. Es läßt sich nun denken, daß die Muskelsubstanz auf das Blut, womit sie getränkt wird, so wirkt, wie das Verdauungsprinzip auf das Eiweiß nur mit dem Unterschiede, daß unter den Produkten, welche aus dem Blut durch die zersetzende Kraft der Muskelsubstanz gebildet werden, auch Muskelsubstanz ist. Nehmen wir dieses an, so ist die beständige Erneuerung der Substanz erklärlich, analog wie bei der Verdauung auch das verdauende Prinzip seine Kraft verliert.

Schwann wendet hier sein neues Konzept des „Verdauungsprinzips“ auf ein allgemeines Modell von Ernährung an: alle Gewebe besäßen eine Vielfalt von ‚Nutritionsprinzipien‘, die die Fähigkeit besäßen, neue Gewebe zu generieren (zum Bespiel aus den vom Blut bereitgestellten Substanzen), die ihrerseits wieder eine Vielzahl von diesen Prinzipien enthielten. Wenn man zudem weiter annimmt, dass ein Nebenprodukt dieses Prozesses eine Substanz ist, die Wachstum blockiert, kann man, so Schwann, sogar das Aufhören von Wachstum im hohen Alter erklären (TB 1836, 28. Juni): Die neu erzeugte Substanz bringt nämlich dieselbe Zersetzung des Blutes hervor, während die ‚frühere‘ Substanz, durch deren Einwirkung sie selbst gebildet wurde, verändert wird und sich wieder auflöst. Fügt man hier nun noch die Hypothese hinzu, daß diese Wiederauflösung nicht vollständig ist, sondern daß jedesmal irgend etwas, z. B. Bestandteile, zurückbleibt, was dem Prozeß der Ernährung auf dieselbe Weise hinderlich ist, wie z. B. schwefelsaures Natron der Verdauung, so läßt sich daraus auch der Entwicklungsgang des Lebens aller organischen Körper erklären.

Schwann denkt somit an ein umfassendes physiologisches Modell: Generation, Embryonalentwicklung und Ernährung sollen auf einem gemein_____________ 29

Schwanns Überlegungen beinhalteten auch ein Modell von ‚Kontaktwirkung‘, das er von Eilhard Mitscherlich entlehnte, z. B. Eilhard Mitscherlich, Ueber die Aetherbildung. In: ebd., 31 (1834) 18, S. 273–282. Berzelius transformierte dieses Modell später in jenes der ‚Katalyse‘, z. B. Jöns Jacob Berzelius, Einige Ideen über eine bei der Bildung organischer Verbindungen in der lebenden Natur wirksame, aber bisher nicht bemerkte Kraft. In: Jahresbericht über die Fortschritte der physischen Wissenschaften 15 (1836), S. 237–245. Ich werde auf diesen Aspekt hier nicht näher eingehen.

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samen Weg erklärbar sein – im Sinne dieser ‚Ernährungsprinzipien‘, also der aktiven Agentien innerhalb der Gewebe. Schwann schwebten sogar mehrere Experimente vor, seine Nutritionstheorie zu bestätigen. Er vermutete, die Milchdrüsen und vielleicht die Leber besäßen solche Nutritionsagentien. Ein möglicher experimenteller Test dieser Hypothese konnte nach Schwann so aussehen, Teile dieser Gewebe in den Blutstrom eines lebenden Tieres zu injizieren und ihre Einwirkung auf das Blut zu überwachen (z. B. auf die Konzentration des Gallensaftes). Diese Vorstellungswelt weist bereits auf das, was Schwann später die ‚metabolische‘ Aktivität der Zelle nennen wird. An diesem Punkt seiner Arbeit angelangt dachte Schwann bereits in Begriffen von aktiven physiologischen Agentien. Die Verdauungsexperimente versorgten ihn mit einer ersten erfolgreichen Anwendung dieses Konzepts. Der nächste Schritt war nunmehr die Verortung derartiger Agentien innerhalb beobachtbarer mikroskopischer Strukturen. Allerdings hat Schwann diesen Schritt nicht beabsichtigt, wie ich im Folgenden zeigen werde. Er gelang ihm vielmehr nur auf einem Umweg, und zwar über seine Untersuchungen zum Prozess der Fäulnis. Nachdem er seine Arbeit zur Verdauung beendet hatte, widmete sich Schwann einem Thema, dass ihn von Anbeginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn fasziniert hatte: das Problem der Zersetzung organischer Substanzen und die Frage nach der Möglichkeit der ‚Urzeugung‘ organisierter Formen aus solchen Zersetzungen. Für diesen Zusammenhang offenbaren die Tagebücher eine überraschende Tatsache: Die ursprüngliche Motivation, Fäulnisprozesse zu untersuchen, bestand darin, ein weiteres physiologisches Agens zu entdecken, nämlich jenen der Respiration! Tatsächlich war Schwann mehrere Jahre lang davon überzeugt, die Atmung werde von einer bestimmten mikroskopischen Einheit hervorgerufen, die in der Luft schwebe und den Atemvorgang in der Lunge auslöse. Diese Hypothese zur Atmung ist sogar das früheste bekannte Zeugnis für Schwanns Suche nach physiologischen Agentien. Es erscheint zwar in keiner seiner Veröffentlichungen, aber umso ausführlicher in seinem Tagebuch. Erst Jahre später, nach dem Tode von Johannes Müller 1858, erwähnt Schwann seine Hypothesen zur Atmung, die bereits auf das Jahr 1831 zurückreichen, öffentlich: Als Student in Bonn im Jahre 1831 teilte ich ihm auf einem Spaziergange die Idee mit, ob nicht bei der Respiration irgendein in der atmosphärischen Luft als Dampf enthaltender organischer Stoff eine wesentliche Rolle spielen könne. Bei den gewöhnlichen (damals bekannten) Luftanalysen würde ein solcher Stoff nicht

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bemerkt sein, weil er als Dampf vorhanden wäre, und vielleicht besitze er auch keine auffallenden Reaktionen.30

Einer der ersten Einträge in Schwanns Tagebuch diskutiert am 5. Februar 1835 mögliche Verfahren, diese Hypothese zu testen. Wie die meisten seiner Zeitgenossen so hielt auch Schwann bewegliche mikroskopische Organismen für kleine Tierchen (‚Infusorien‘).31 Wenn er zeigen könnte, dass diese Mikroorganismen nicht in Luft ohne ‚Atmungs-Prinzip‘ leben können, so wäre dies der Beweis seiner Hypothese. Das war der Hintergrund für ein Experiment, in dem Luft erwärmt wurde, weil Schwann glaubte, die Hitze zerstöre das organisierte Prinzip der Atmung. Um zu entscheiden, schreibt Schwann in seinem Tagebuch, ob eine organische Substanz eine entscheidende Rolle bei der Atmung spiele, müsse man ein Gefäß mit verwesender Substanz (Fleisch) und Infusorien in Berührung bringen mit Luft, die vor der Berührung mit dem Gefäß zum Sieden gebracht worden war. Das Gefäß selbst solle auch erhitzt werden, um alle in ihm vorher enthaltenen Atmungsprinzipien zu zerstören. Bei konstanter Versorgung mit heißer Luft solle man nach einer Weile prüfen, ob neue Infusorien daraus entstanden bzw. ob sie noch am Leben seien. Angenommen, man fände keine lebenden Infusoria mehr in der Lösung, dann: Zeigt die spätere Analyse des Gases, das hier die Luft durch das Kochen nicht verändert worden ist, so ist eine doppelte Erklärung der Infusorien nötig, die durch das Kochen zerstört wurden, oder es ist zur Respiration der Infusorien jener fragliche Stoff in der Luft notwendig. Ausgeschlossen dagegen ist bei der ersten Erklärung die Behauptung, daß Infusorien durch generatio aequivoca entstehen. (TB 1835)

Im Januar 1837 schließlich gelang es Schwann, einen geeigneten experimentellen Aufbau zu konstruieren. Er konnte zeigen, dass eine organische Substanz (eine Fleisch-Infusion) nicht verwest, wenn sie in ein kochendes Gefäß gebracht und dann Luft ausgesetzt wurde, die aus einem glühenden Metallschlauch strömte. Bald aber begriff Schwann, dass seine Untersuchung kaum dazu geeignet war, die Existenz eines ‚Atmungsprinzips‘ zu beweisen. Umso mehr war sie geeignet, die Möglichkeit der Urzeugung zu falsifizieren. Das Experiment bewies also, dass die Zersetzung lebloser organischer Materie nicht erfolgte, indem man sie bloßer Luft aussetzte, sondern durch lebende Organismen in der Luft. Verwesung war mithin nicht, wie traditionell angenommen, eine ‚spontane Zersetzung‘ organischer Materie _____________ 30 31

Schwann zitiert bei Watermann, Theodor Schwann [Anm. 7], S. 173 f. Siehe Christian Gottfried Ehrenberg, Die Infusionthierchen als vollkommene Organismen. Ein Blick in das tiefere organische Leben der Natur. Leipzig 1838.

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infolge des Entzugs der Lebenskraft, sondern ein ganz spezifischer, von Infusorien, d. h. lebenden Mikroorganismen, hervorgebrachter Prozess.32 Diese Untersuchungen hatten eine wichtige Konsequenz für Schwanns physiologische Vorstellungswelt: Eine Serie ähnlicher Experimente im Februar 1837 – diesmal benutzte Schwann Johannisbeersaft anstelle der Fleisch-Infusion – führte zur Identifizierung von Hefe als Verursacher der alkoholischen Gärung.33 Ohne diese Untersuchung hier ausführlich diskutieren zu können, ist es dennoch wichtig zu erwähnen, dass Schwann in der Hefe eine mikroskopische Pflanze, nämlich einen Pilz, erkannte. Weiterhin lokalisierte er die Ursache der Gärung innerhalb der ‚Hefekügelchen‘ – manchmal auch ‚Körnchen‘ oder sogar ‚Zellen‘ genannt.34 Dass viele Pflanzen aus ‚Zellen‘ zusammengesetzt schienen, war zur Zeit Schwanns eine durchaus verbreitete Ansicht. Schwanns Untersuchungen waren dennoch die ersten, die eine physiologische Aktivität (die Umwandlung von Zucker in Alkohol und Kohlensäure) innerhalb einer solchen morphologischen Einheit ansiedelten.

4. Ein kurzer Exkurs über das Verhältnis von Schwanns publizierten Arbeiten zu seinen unveröffentlichten Notizen Der aufmerksame Leser hat bemerkt, dass ich in meiner Analyse abwechselnd sowohl aus Schwanns veröffentlichten wie auch handschriftlichen Werken zitiere. Dies mag nun der Ort sein, kurz auf das Verhältnis beider zueinander sowie auf die Rolle einzugehen, die Schwanns Tagebücher in seiner Forschung gespielt haben mögen. Eine der größten Auffälligkeiten von Schwanns Tagebüchern ist die Unregelmäßigkeit der Eintragungen. Sind einige Beobachtungen in großer _____________ 32

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Schwann, Vorläufige Mittheilung Betreffend Versuche Über Die Weingährung Und Fäulnis. In: Annalen der Physik und Chemie 41 (2. Ser.) (1837), S. 184–193. Der Terminus ‚Infusoria‘ bezeichnete damals alle tierähnlichen mikroskopischen Organismen in Abgrenzung von mikroskopischen Pflanzen wie den Pilzen oder Algen. Die Unterscheidung zwischen tierähnlichen ‚Protozoa‘ und pflanzenähnlichen ‚Bakterien‘ etablierte sich allmählich in der Zeit zwischen 1850 und 1870. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen stellte Johannes Müller der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin im Februar 1837 vor, siehe Schwann, Untersuchungen des Herrn Theodor Schwann über Fäulnis und Weingährung. In: Mittheilungen aus den Verhandlungen der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 1837, S. 9–15. Später wurden sie von Schwann unter dem Titel: Vorläufige Mittheilung Betreffend Versuche Über Die Weingährung [Anm. 32], publiziert. Damals wurde Hefe als eine besondere chemische Substanz betrachtet, die sich durch ihre Gärungseigenschaften auszeichnete. In meiner Dissertation (Ohad Parnes, Agents of Life and Disease. Diss. Univ. Tel-Aviv 2000) bespreche ich auch diesen Aspekt von Schwanns Arbeit ausführlich.

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Detailfülle ausgebreitet, so werden andere nur spärlich beschrieben. Zudem sind einige der interessantesten und erfolgreichsten Experimente – im Detail in seinen Veröffentlichungen beschrieben – in seinen Tagebüchern kaum erwähnt. So werden zum Beispiel die Arbeiten zur Verdauung in den Notizen nur rudimentär und viel weniger detailliert als in der Veröffentlichung verhandelt. Auch in den Notizen zur Urzeugung fehlen einige der zentralen Experimente. Bemerkenswert ist insbesondere die Tatsache, dass die Beobachtungen zur Muskelkontraktion aus dem Jahr 1835, die Schwann schlussendlich nicht publizierte, in großem Detailreichtum in den Notizen ausgebreitet werden – einschließlich allgemeiner theoretischer Überlegungen und aller Aufzeichnungen des gesamten Experimentverlaufs. Hinzu kommt, dass dieses Experiment aus dem gesamten Korpus der Notizen das Einzige ist, bei dem sich Schwann nicht mit dem Festhalten der experimentellen Ergebnisse begnügte, sondern sie in ausgearbeiteter, gar zur Veröffentlichung geeigneter Form niederschrieb. Warum sollte Schwann in seinen Notizen den ausgearbeiteten Bericht eines Experiments verfassen, der nie veröffentlicht werden sollte? Warum sollte er es überdies vermeiden, erfolgreiche Experimente zu notieren? Eine plausible Erklärung wäre, dass Schwann gelegentlich seine Tagebücher einsetzte, um Entwürfe seiner Publikationen zu machen. Er mag diese Entwürfe im Fall der Veröffentlichung sogar direkt in Form der Notizbücher überreicht haben. Das würde erklären, warum einige der veröffentlichten Untersuchungen in den Notizen gänzlich fehlen. In diesem Fall wäre der Grund für die ausführliche Behandlung der Muskelkontraktion in den Notizen, dass auch sie zur Veröffentlichung gedacht waren, und sich Schwann erst dann aus den oben diskutierten Gründen dafür entschied, sie doch nicht zu publizieren.35 Diese Variante implizierte also, dass Schwann seine Berichte kaum überarbeitete und edierte, bevor er sie zur Veröffentlichung gab. Wenn meine Vermutung richtig ist, dann ist das doppelt bedeutsam für die Analyse von Schwanns Arbeiten: Während die Einträge in seinem wissenschaftlichen Tagebuch gelegentlich als Publikationsentwurf dienten, so waren die veröffentlichten Beiträge umgekehrt recht authentische Berichte des experimentellen Vorgehens und können praktisch als chronologische Mitschriften seiner tatsächlichen experimentellen Arbeit gelesen werden.36 _____________ 35

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Eine andere Möglichkeit wäre die Annahme, dass nahezu alle Experimente, über die Schwann in seinen Veröffentlichungen berichtete, tatsächlich nie erfolgreich durchgeführt wurden. Das ist in höchstem Maße unwahrscheinlich. Es gibt zahlreiche Zeugnisse dafür, dass Schwann einige seiner Experimente der Öffentlichkeit (zum Beispiel bei den Versammlungen deutscher Naturforscher in Jena 1836) oder seinen Kollegen (so Johannes Müller oder Eilhard Mitscherlich) vorführte. Das heißt natürlich weder, dass Schwann alles, was er in sein Tagebuch schrieb, auch publizierte, noch dass er seine Arbeiten nie veränderte oder edierte. Dennoch vertrete ich

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Diese Annahme wird umso überzeugender, wenn man sich Schwanns Schrift über Zellen von 1839 anschaut, seine Mikroskopischen Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen (MU).37 Auch hier gibt es historische Belege für eine solche Hypothese. Es ist bekannt, dass Schwann unter erheblichem Zeitdruck seine letzte Arbeit in Berlin beendete, da er über seine Arbeitssituation sehr unglücklich war. Für die Berufung zum Professor war das Abfassen eines Buches eine der Hauptvoraussetzungen. Wir wissen außerdem, dass diese Arbeit in derselben Reihenfolge wie jeder ihrer drei Teile geschrieben und zur Publikation eingereicht wurde: Der erste Teil der MU (eine Untersuchung zur Chorda Dorsalis bzw. zum Knorpel) wurde im August 1838 an die französische Akademie der Wissenschaften geschickt; der zweite (die Verallgemeinerung des Ansatzes) im Dezember 1838; der dritte und abschließende Teil (zusammen mit der gesamten Abhandlung) war im Februar/März 1839 beendet. Ich möchte daher den ungewöhnlichen Vorschlag machen, diese Arbeit als chronologische Dokumentation von Schwanns experimentellen Untersuchungen zu betrachten. Ich behaupte, dass die veröffentlichte Arbeit – mit kleineren Änderungen und minimaler Überarbeitung – Schwanns tatsächlichen Forschungsweg hin zu seiner Zelltheorie repräsentiert. Diese historiographische Annahme ist zugegeben auch eine sehr nützliche – wie angedeutet gibt es in den Quellen kaum eine Dokumentation seiner Arbeiten zur Zelltheorie. Dennoch ist sie meines Erachtens eine sehr überzeugende, die ein kohärentes Verstehen von Schwanns Entdeckung der Zellen ermöglicht.

5. Zellen: Die Mikroskopischen Untersuchungen als Forschungsnotizen Teil 1: Oktober 1837 – Februar 1838 Schwann behauptete wiederholt, dass der anfängliche Impuls, Zellen zu studieren, ein informeller Bericht des Botanikers Matthias Schleiden über seine Untersuchungen zur Entwicklung der Pflanzenzellen gewesen sei. Jahre später schrieb Schwann: _____________

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die These, dass große Teile seiner Veröffentlichungen nahezu unbearbeitete Exzerpte seiner Forschungsnotizen darstellen. Tatsächlich unterstützt der Stil seiner wichtigsten Publikationen diese Vermutung, so die Berichte über experimentelle Missschläge und Einbahnstraßen (z. B in Schwann, Vorläufige Mittheilung Betreffend Versuche Über Die Weingährung [Anm. 32]). Schwann, Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. Berlin 1839. [Im Folgenden zitiert als MU].

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Eines Tages speiste ich mit Schleiden. Da machte mich dieser berühmte Botaniker auf die Rolle aufmerksam, die der Kern bei der Entwicklung der Pflanzenzellen spielt. Ich erinnerte mich sofort, ein ähnliches Gebilde in den Zellen der Chorda gesehen zu haben, und begriff gleich die große Wichtigkeit, welche meine Entdeckung haben würde, wenn es mir gelänge, zu zeigen, daß dieser Kern in den Zellen der Chorda dieselbe Rolle spielt wie der Kern der Pflanzen bei der Entwicklung der Pflanzenzellen.38

Dieser Bericht ist, wie angedeutet, mit vierzigjähriger Verspätung geschrieben worden und entsprechend zu betrachten. Ich möchte argumentieren, dass Schwanns Konzeption von Zellen sowie ihre Einpassung in das moderne bio–medizinische Denken ursprünglich nicht das Ergebnis eines rein anatomisch-mikroskopischen Unternehmens war. Vielmehr war die Zellentheorie eine plausible Erweiterung der Vorstellungswelt, die Schwann antrieb, also das Begreifen aller Lebensprozesse durch spezifische kausale Agentien. Als Schleiden im Oktober 1837 Schwann, während des oben erwähnten Mittagessens, über seine neuesten Entdeckungen zur Entwicklung der Pflanzenzelle informierte, nahm er lediglich die Nützlichkeit dieser Ideen für sein eigenes Forschungsprogramm wahr.39 Der erste Teil der Mikroskopischen Untersuchungen (MU), fertiggestellt in der ersten Hälfte des Jahres 1838 (also direkt nach seiner Begegnung mit Schleiden), beinhaltet noch keine umfassende Theorie der mikroskopischen Bestandteile der Körper. In dieser Zeit versuchte Schwann bloß zu demonstrieren, dass ähnliche generative Zellprozesse – wie sie Schleiden für Pflanzenzellen aufgezeigt hatte – auch in einigen Tiergeweben existieren. Zu diesem Zweck untersuchte er im Detail die generativen Eigenschaften eines spezifischen Gewebes, und zwar des Knorpels. Dieser Tatbestand entspricht meiner historiographischen Vermutung, dass Schwanns Monographie ein mehr oder weniger chronologischer Bericht von seinen tatsächlichen Experimenten ist. Später behauptete Schwann sogar, dass Schleidens Ideen ihm lediglich geholfen hätten, den „bis dahin noch rätselhafte[n] Inhalt der Zellen der Kiemenknorpel der Froschlarven“ zu verstehen. Nun aber vermochte er, darin „junge, mit einem Kern versehene Zellen“ zu erkennen.40 Es war erst gegen Ende dieser Experimentenreihe, also etwa um Januar 1838, dass er darüber nachdachte, die Zelle als ein allgemeines Erklä_____________ 38

39 40

Manifestation en l’honneur de M. le Professeur Th. Schwann. Liège, 23 Juin 1878. Liber memorialis. Publié par la Commision organisatrice. Düsseldorf 1879, S. 51. Übersetzung nach Franz Bosch, Aus der Geschichte der Zellenlehre. Festschrift zum hundertjährigen Geburtstage (7. Dezember 1910) ihres Begründers Theodor Schwann. Düsseldorf 1910, S. 17. Schleidens Arbeit wurde erst später publiziert, Matthias Schleiden, Beiträge zur Phytogenesis. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin (1838), S. 90–138. Schwann, Mikroskopische Untersuchungen [Anm. 37], S. 9.

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rungsprinzip zu verwenden. Januar 1838 schreibt er in seinem Tagebuch, seine bisherigen Beobachtungen seien nicht genug für einen Beweis der zellularen Natur aller tierischen Gewebe. Zu dieser Zeit war Schwann offensichtlich immer noch nicht überzeugt, wie radikal er diese Verallgemeinerung formulieren sollte: Aus der Entwicklungsgeschichte der übrigen Gewebe aber wird es sehr wahrscheinlich, daß auch sie ursprünglich aus Zellen entstehen zum Teil vielleicht alle ursprünglich aus Zellen entstehen, die einige Analogien mit Pflanzenzellen zeigen und die, nachdem einmal der strenge Beweis geliefert ist, daß im tierischen Körper den Pflanzenzellen analoge Gebilde vorkommen, nun mit Pflanzenzellen parallelisiert werden können, so daß die tierische Organisation in ihrer Entstehung nichts ist als eine Modifikation der pflanzlichen.41

Schwann war bewusst, dass jene Kriterien, die Schleiden für seine Arbeiten zur Pflanzenzelle wählte, für eine allgemeine Zelltheorie nicht ausreichten. Die bloße zellulare Erscheinung des Tiergewebes war ein unzureichendes Kriterium für diese Verallgemeinerung. Im Januar 1838 verzeichnet er weiter in seinem Tagebuch: Nicht jede Zelle ist ein den Pflanzenzellen analoges Gebilde und selbst die polyedrische Form, da sie ein notwendiges Attribut dichtgedrängter Zellen ist, fügt kaum ein neues Merkmal der Ähnlichkeit hinzu, als eben das dicht Gedrängtsein der Zellen.

Stattdessen müsse gelten: Wenn man ein tierisches Gebilde den Pflanzenzellen parallel stellen will, so muß man beweisen, nicht nur daß das eine Zelle ist, sondern daß in dieser Zelle ähnliche Kräfte wirken, wie in den Pflanzenzellen oder, da dies direkt unmöglich ist, daß die Erscheinungen, wodurch sich die Tätigkeit dieser Zellen Kräfte äußert, nämlich Ernährung und Wachstum, auf dieselbe, oder ähnliche Weise vor sich gehe wie bei den Pflanzen.42

Bemerkenswert ist, dass Schwann das Wort „Zellen“ ausstreicht, welches er offenbar für nahezu austauschbar mit „Kräften“ hält. Die mikroskopische Struktur wird hier als Ausdruck eines physiologischen Prozesses begriffen – eines von spezifischen Verursachern (Agentien) hervorgebrachten und in Form von spezifischen (generativen) Wirkungen manifesten Prozesses. Während er den ersten Teil der MU fertigstellte, erkannte Schwann also, dass ein Beweis der zellularen Struktur aller Arten von Gewebe nicht allein in reiner Beobachtung bestehen konnte. Vielmehr musste _____________ 41

42

Die durchgestrichenen Passagen finden sich original im Manuskript (TB 1838, Januar). Auch diese Passagen dienten als ein Entwurf für eine Veröffentlichung, und zwar für seine erste, vorläufige Ankündigung der Zellentheorie, Schwann, Ueber die Analogie in der Structur [Anm. 10]. Das Wort „Zellen“ ist wie im Original durchgestrichen. Auch diese Passage wurde in etwas veränderter Form später in Schwann, Mikroskopische Untersuchungen [Anm. 37], S. 7 integriert.

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er argumentieren, dass alle diese Gewebe auch als physiologische Wirkungen der Aktivität ein und desselben materiellen Prinzips anzusehen waren. Dementsprechend versuchte Schwann ab Februar 1838 zu zeigen, dass die Entwicklung von Tiergeweben hervorgebracht wird von einem spezifischen Agens innerhalb des jeweiligen Gewebes. Er postulierte folglich, Zellen würden aus einer amorphen generativen Substanz, die er ‚Cytoblastem‘ nannte, generiert. Innerhalb dieser Substanz würden sich die Zellkerne formieren und um diese herum die Zelle.43 Es galt also zu beweisen, dass diese Theorie für alle möglichen Gewebearten gelte. Für jede Form von Gewebe musste Schwann seine Theorie aufs Neue beweisen, und jede dieser Beobachtungen bedurfte daher eines eigenen und unabhängigen Experiments. Der zweite Teil seines Buches, geschrieben im Herbst und Winter 1838, stellt genau diesen Versuch dar. Teil 2: März bis August 1838 Diese historische Reihenfolge von Schwanns Untersuchungen zeigt sich bei dem Vergleich von Schwanns Diskussion des Knorpels im ersten Teil der MU (vermutlich gegen Ende 1837 zu datieren) mit jener im zweiten Teil (durchgeführt fast ein Jahr später). Bei seinen Untersuchungen des Knorpels im Jahr 1837 zielte Schwann darauf, eine Analogie aufzuzeigen zwischen der Struktur dieses Gewebes und jener von Pflanzen, wobei er sich auf Schleidens Theorie der Formation von (Pflanzen)Zellen berief. Zu Beginn seiner Beobachtungen im Winter 1837/38 baute er noch auf die traditionelle Konzeption der Zelle als morphologisches Attribut: Die einfachste Form der Knorpel zeigt sich in den Knorpeln der Kiemenstrahlen der Fische. Die Struktur des Knorpels ist sehr einfach [...] [er] gleicht in seinem Totalanblick ganz dem parenchymatösen Pflanzengewebe. [...] Man sieht kleine, polyedrische, dicht aneinanderliegende Zellenhöhlen mit abgerundeten Ecken. (TB 1838)

Der Versuch jedoch, Schleidens Theorie auf die Erklärung der Entstehung von Gewebe anzuwenden, stellte sich als ziemlich erzwungen heraus. Die Argumentation blieb überwiegend morphologisch. Der ‚Anblick‘ war eines der zentralen Anzeichen, die Schwann für die zellulare Natur des Gewebes in diesem Zusammenhang auflistete. Die Betonung auf dem Vorhandensein eines ‚Kerns‘ in jeder Zelle ist ebenso ein Relikt von Schleidens Ansatz, demzufolge neue Zellen innerhalb von existierenden _____________ 43

In Schwanns Theorie ist die Zellbildung somit analog der Kristallisation. Die Erkenntnis, dass Zellvermehrung sich allein durch Teilung vollziehe, stammt erst einige Jahrzehnte später von Rudolf Virchow und Robert Remak.

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durch das Anschwellen der Membran dieses Kerns – den Schleiden auch ‚Cytoblast‘ nennt – generiert werden: Der Bildungsprozeß des Knorpels ist hier also folgender. Er besteht ursprünglich aus dicht aneinanderliegenden Zellen, von denen aber jede ihre besondere, sehr dünne Zellenmembran hat. Dies folgt 1. aus der Übereinstimmung des jüngsten Knorpels mit dem Pflanzenzellgewebe in seinem Totalanblick; 2. aus der Anwesenheit des Zellkerns in den jungen Knorpelzellen, eines Gebildes, welches, wie wir später sehen werden, an der bei weitem größten Zahl der Zellen, die sich bei anderen Geweben nachweisen lassen, vorkommt; 3. aus den bei den verdickten Zellenwänden oft deutlich erkennbaren getrennten Zellenwänden.44

1838 hatte sich das Projekt weitgehend gewandelt: Schwann verfolgte nicht mehr den Beweis einer Analogie mit dem Pflanzenmodell, sondern die Begründung einer Übereinstimmung mit seiner Zellentheorie. Einige Monate später, im zweiten Teil des Buches, wendet sich Schwann erneut dem Knorpel zu. Dieses Mal argumentiert er für seine zellulare Natur folgendermaßen: Untersucht man nach Abstreifung der Schleimhaut die Ränder des Knorpels, so sieht man, daß die Interzellularsubstanz zwischen den Knorpelzellen sich über die äußeren Zellen fortsetzt und selbst über die am meisten nach außen gelegenen Zellen noch einen dünnen Überzug bildet, so daß der Rand des Knorpels nicht unmittelbar von den Knorpelzellen selbst gebildet wird. Die Knorpelzellen liegen also vollständig eingebettet in dieser Interzellularsubstanz, welche ihr Cytoblastem ist. In diesen Cytoblastem, nicht in den schon vorhandenen Zellen, entstehen nun auch die neuen Zellen. [...] Man sieht nämlich teils bloße Zellenkerne, die etwas kleiner sind als die Kerne der erwachsene Zellen [a und b], teils Kerne, die dicht von einer Zelle umgeben sind [c c], kurz alle Übergangsstufen von bloßen Zellenkernen und mit kleinen Zellen umgebenen Kernen bis zu den erwachsenen Zellen, so daß also hier die Entwicklung wie bei den meisten Zellen geschieht, und der Kern der wirkliche Cytoblast derselben ist.45

Anstelle einer Struktur (oder eines ‚Anblicks‘) beschreibt Schwann hier einen Prozess. Der ‚Effekt‘ ist der postulierte generative Prozess, also die Entwicklungsgeschichte der Zellen – beginnend mit der formlosen generativen Substanz und endend mit dem vollständigen Gewebe. Jetzt liegt die Betonung hauptsächlich auf der „interzellularen Substanz“, welche als „Cytoblastem“ identifiziert wird, d. h. als amorphe Substanz, in welche die Agenten der Zellbildung eingebettet sind. Der Knorpel ist nur ein Gewebe, das Schwann im zweiten Teil der MU untersucht. Sein Ziel ist es zu beweisen, dass ‚alle verbleibenden Gewebe‘ auf ähnliche Weise als hervorgehend aus Zellen betrachtet werden können. Das tat er, indem er dasselbe Analyseschema, das er auf den _____________ 44 45

Schwann, Mikroskopische Untersuchungen [Anm. 37], S. 19. Ebd., S. 112 f. [Hervorhebung – O. P.].

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Ohad Parnes

Knorpel anwandte, nun systematisch auf eine lange Liste von Gewebe ausweitete. Sein Ziel, die zellulare Natur aller Tiergewebe zu beweisen, war damit de facto schon im zweiten Teil der MU bzw. etwa im September 1838 erreicht. Teil 3: September 1838 bis Januar 1839 Der dritte Teil des Buches wurde gegen Ende des Jahres 1838 und in den ersten Monaten von 1839 geschrieben. Schwann nannte diesen Teil Theorie der Zellen (im Gegensatz zu ‚Zellentheorie‘ in den ersten beiden Teilen der MU). Historiker betrachteten diesen dritten und letzten Teil häufig als ein unglückliches Addendum zu Schwanns Arbeit oder als einen theoretischspekulativen Anhang zu seiner ‚empirischen‘ Zellentheorie.46 Wenn man aber, wie ich es hier versuche, Schwanns Zellentheorie als ein Element in seinem größeren Vorhaben der Neubegründung der Physiologie betrachtet, dann bekommt auch dieses letzte Kapitel eine ganz andere Bedeutung. Dieser Teil, Schwanns letzte in Berlin geschriebene Arbeit, wird gar Rekapitulation des gesamten physiologischen Programms, das Schwann in den vergangenen fünf Jahren entfaltet hatte. Vom Muskelexperiment über Verdauung und bis zu Gärung war es der heuristische Agent, der es ihm erlaubte, ‚physiologische Prozesse ohne Rückgriff auf eine Lebenskraft zu erklären‘; und es war dieselbe Heuristik, die ihn letztlich zur Zellentheorie führte. Nunmehr setzte eine Art umgekehrte Logik ein. Nachdem er die Zellen als Grundelemente der Organismen sichtbar gemacht hatte, erkannte er in ihnen, was er für das ultimative Agens des Lebens hielt. Seine vorhergehenden Beobachtungen und Experimente konnte er jetzt in diesem Licht neu interpretieren und sogar bestätigen – als zelluläre Prozesse. Kurz gesagt: Zellen werden damit die endgültige Verwirklichung seines Programms: Wir haben gesehen, daß alle Organismen aus wesentlich gleichen Teilen, nämlich aus Zellen zusammengesetzt sind, daß diese Zellen nach wesentlich denselben Gesetzen sich bilden und wachsen, daß also diese Prozesse überall auch durch dieselben Kräfte hervorgebracht werden müssen.47

Die Idee des physiologischen, eine Kraft ausübenden Agens, das schon in seinem Muskelexperiment eine entscheidende Rolle spielte, musste nur leicht modifiziert werden, um in die neue Zellentheorie zu passen: Finden wir nun, daß einzelne dieser Elementarteile, die sich von den übrigen nicht unterscheiden, sich vom Organismus lostrennen und selbständig weiter

_____________ 46 47

Siehe z. B. Hughes, A History of Cytology [Anm. 1]. Schwann, Mikroskopische Untersuchungen [Anm. 37], S. 227.

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wachsen können, so können wir daraus schließen, daß auch jeder der übrigen Elementarteile, jede Zelle für sich schon die Kraft besitzt, neue Moleküle anzuziehen und zu wachsen, daß also jeder Elementarteil eine eigentümliche Kraft, ein selbständiges Leben besitzt, vermöge dessen er selbständig sich zu entwickeln imstande wäre, wenn ihm bloß die äußeren Bedingungen dargeboten würden, unter welchen er im Organismus steht.48

Auch seine Überlegungen zum Nutritionsprinzip, erarbeitet aus seiner Untersuchung zur Magenverdauung Mitte 1836, werden auf ähnliche Weise in die Sprache der Zelltheorie inkorporiert: [...] so müssen wir überhaupt den Zellen ein selbständiges Leben zuschreiben, [...]. Der Grund der Ernährung und des Wachstums liegt nicht in dem Organismus als ganzem, sondern in den einzelnen Elementarteilen, den Zellen.49

Zellen sind also mit der Fähigkeit ausgestattet, sich zu differenzieren und zu spezialisieren; sie sind in der Lage Spezifisches aus dem Unspezifischen zu schaffen. Diese Eigenschaft definiert Schwann als „metabolisch“: Das Cytoblastem, in dem sich Zellen bilden, enthält zwar die Elemente der Stoffe, aus denen die Zelle zusammengesetzt wird, aber in anderen Kombinationen; es ist keine bloße Auflösung von Zellensubstanz, sondern es enthält nur bestimmte organische Substanz aufgelöst. Die Zellen ziehen daher nicht bloß Stoff aus dem Cytoblastem an, sondern sie müssen die Fähigkeit haben, die Bestandteile des Cytoblastems chemisch umzuwandeln. Außerdem können alle Teile der Zelle selbst während ihres Vegetationsprozesses chemisch verändert werden. Die unbekannte Ursache all dieser Erscheinungen, die wir unter dem Namen metabolische Erscheinungen der Zellen zusammenfassen, wollen wir die metabolische Kraft nennen.50

Damit vollzieht Schwann einen radikalen Einschnitt in der Art, wie Lebensprozesse konzeptualisiert werden; die Bewertung des Ausmaßes, in dem er die bestehende Vorstellungswelt der Physiologie umstürzt, lässt sich kaum übertreiben. Zellen werden hier ganz explizit als die fundamentalen, Kraft ausübenden Prinzipien des Lebens definiert. Anders gesagt: Das Leben wird begriffen als zusammengesetzt aus einer Reihe von spezifischen, materiellen Prozessen, und die Agentien dieser Prozesse sind die Zellen.

_____________ 48 49 50

Ebd., S. 227 f. Ebd., S. 228 f. Ebd., S. 234 [Hervorhebungen – O. P.]. Man beachte, wie diese Beschreibung Schwanns Spekulationen zum Nutritionsprinzip ähnelt, die seiner Arbeit zur Verdauung folgte.

Benjamin Steininger

Katalysator – Annäherung an einen Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts 1. Einleitung Die Geschichte des Begriffs der Katalyse ist eine Erfolgsgeschichte. Ich weiß kein Beispiel in der Geschichte der Wissenschaft, wo die Ausführung der Begriffsbildung allein, ohne irgendwelche erhebliche Vermehrung des tatsächlichen Materials, ihre entscheidende und fördernde Wirkung auf die Fortentwicklung der Wissenschaft so glänzend offenbart hätte, wie in diesem Beispiel,1

schreibt der Physikochemiker Wilhelm Ostwald (1953–1932) 1908 in Werdegang einer Wissenschaft zur Begriffskarriere der Katalyse. Nicht zuletzt die von ihm selbst zum Ende des 19. Jahrhunderts geleistete kinetische Begriffsdefinition, nach der ein Katalysator eine chemische Reaktion beschleunigt, ohne in der Gesamtreaktion verbraucht zu werden, habe den Forschritt bewirkt. Und er hält es nur noch für eine „Frage kurzer Zeit, daß wir unsere Gesamtkenntnisse über Katalyse in einem wohlgeordneten, wenn auch recht dickleibigen Handbuche werden überschauen können.“2 Die kulturhistorische Bedeutung des Begriffs der Katalyse hängt am Umstand, dass nicht nur der Werdegang einer einzigen chemischen Wissenschaft und auch nicht der Werdegang nur von reinen Wissenschaften mit diesem Begriff zu assoziieren sind. Vital verbunden sind der Katalyse ein bunter Strauß unterschiedlicher, im Erkenntnisinteresse fast unvereinbarer Wissenschaften wie etwa die (physikalische) Chemie, die Oberflächenphysik, aber auch die Physiologie, die Biologie und die Biochemie. Dazu kommt ein kaum als Zeitschnitt und noch weniger als historische Entwicklung ganz zu überblickendes Feld der katalytischen Techniken und der auf dem Prinzip der Katalyse verpflichteten (Groß-)Industrien.3 Von der Gärungstechnik zur Farbenindustrie und Düngemittelproduktion, von den Hochdrucksynthesen des Ammoniaks und der Salpetersäure _____________ 1 2 3

Wilhelm Ostwald, Werdegang einer Wissenschaft. Sieben gemeinverständliche Vorträge aus der Geschichte der Chemie. 2. verm. u. verb. Aufl. d. ‚Leitlinien der Chemie‘. Leipzig 1908, S. 291. Ebd. Vgl. das Kapitel: Die katalytischen Industrien. In: Albrecht Schmidt, Die industrielle Chemie in ihrer Bedeutung im Weltbild und Erinnerungen an ihren Aufbau. Nach 25 Vorlesungen an d. Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt a.M., bearb. in Gemeinschaft mit d. Verf. v. Kurt Fischbeck. Berlin u. Leipzig 21943, S. 164–192.

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bis zur Polymerisation von Kunststoffen, von der Petrochemie mit ihren Verfahren des Crackens und des Synthetisierens bis zu ökologischen Hoffnungsträgern wie der Wasserstoffproduktion und dem bekannten automobilen Abgasfilter spannt sich ein ungeheurer Bogen weltwirksamer und nicht zuletzt in historischer Perspektive weltkriegsrelevanter Techniken. Seit den Ammoniak-Projekten des Ersten Weltkriegs zur Erzeugung von Spreng- und Düngemitteln ist die Technologie der Katalyse, sind Orte wie Leuna und Ludwigshafen aus der Weltpolitik nicht mehr wegzudenken. Mit Kunstgummi, Kohle- und Crackbenzin prägen katalytische Produkte auch den Zweiten Weltkrieg, auf beiden Seiten der Front, an Land, zu Wasser und vor allem in der Luft. Aktuell kommen laut „Roadmap der deutschen Katalyseforschung. Katalyse, eine Schlüsseltechnologie für nachhaltiges Wirtschaftswachstum“ mehr als 80 Prozent aller Chemieprodukte im Zuge ihrer Synthese mindestens einmal mit Katalysatoren in Berührung,4 indirekt sicher noch mehr, etwa das gesamte Spektrum zwischen Lebensmitteln (Nitratdünger!) und aus fossilen Rohstoffen erzeugten Kunst- und Kraftstoffen, samt Effekten. Produktiv ist der ‚ohne Vermehrung des tatsächlichen Materials‘ gebildete Katalysebegriff, weil er seinerseits immer neue Materialitäten, immer neue technische und wissenschaftliche Felder erzeugt. Schon Gertrud Wokers zwischen 1910 und 1931 in fünf Bänden erschienene Stoffsammlung Die Katalyse wird der „von Tag zu Tag reicher erscheinenden Fundgrube“5 kaum mehr Herr, und als das von Ostwald erwartete Handbuch der Katalyse mit einigen Jahrzehnten Verspätung von 1940 bis 1957 als siebenbändiges Werk erscheint, ist Katalyse schon zu ubiquitär, um kohärent in ein Handbuch zu passen.6 Ganze Industrien, alle Lebenstätigkeit auf der Erde, ja in gewissem Sinn sogar die Kernfusion in der Sonne und damit _____________ 4 5

6

siehe www.connecat.de: Katalyse – eine Schlüsseltechnologie für nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Roadmap der deutschen Katalyseforschung, hg. v. DECHEMA e.V. 22006, S. 3. Getrud Woker, Die Katalyse. Die Rolle der Katalyse in der analytischen Chemie. Stuttgart 1910, S. 5. I. Allgemeiner Teil, 1910. II. Spezieller Teil. Abt. 1: Anorganische Katalysatoren, 1915. II. Spezieller Teil. Abt. 2: Biologische Katalysatoren, 1. Hälfte: Hydrolysierende Fermente, 1924. II. Spezieller Teil. Abt. 2: Biologische Katalysatoren, 2. Hälfte: Atmungsfermente, 1931. Georg-Maria Schwab (Hg.), Handbuch der Katalyse. Wien 1940 ff. Bd. 1. Allgemeines und Gaskatalyse, 1941. Bd. 2. Katalyse in Lösungen, 1940. Bd. 3. Biokatalyse, 1941. Bd. 4. Heterogene Katalyse I, 1943. Bd. 5. Heterogene Katalyse II, 1957. Bd. 6. Heterogene Katalyse III, 1943. Bd. 7. Katalyse in der organischen Chemie (2 Teile), 1943.

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Energieerzeugung überhaupt, werden um 1940 mit dem Begriff des Katalysators verknüpft.7 „Vom Explosionsmotor und der Virusforschung bis zum Atommodell“, spannt Georg-Maria Schwab im Vorwort des ersten Bandes den Rahmen der ‚Wissenschaft von der Katalyse‘8 und bemerkt, dass eine Fachgemeinde, das den gesamten Rahmen dieser ‚Wissenschaft‘ sachkundig überblickt, bei einem so verzweigten Gegenstand kaum mehr zu erwarten ist. Dennoch wird mit dem Nachweis der Bedeutsamkeit katalytischer Vorgänge für einen derart weiten, tatsächlich zwischen Virusforschung, Explosionsmotor und Sternenforschung ausgedehnten Bereich natürlicher und ab 1900 auch industrieller chemischer Vorgänge keine Vielfalt eigentlich unverwandter Ereignisse generiert. Über die Auffindbarkeit so unterschiedlicher Ereignisse und geradezu unvereinbarer Felder des Wissens und des Produzierens im Begriffsraster der Katalyse wird auch ein spezifischer Zusammenhang gestiftet. Kulturhistoriographisch muss keine verdeckte Verwandtschaft dieser Wissensfelder diskursanalytisch ans Licht gebracht werden, vielmehr kann die historisch offenkundige Verbreitung eines Begriffs rekonstruiert werden. Die in diesem Text exemplarisch verwendeten Quellen stammen vor allem aus den 1930er und 1940er Jahren. Es hat nicht nur den Anschein, dass die wissenschaftliche und technische Rolle der Katalyse zu dieser Zeit besonders weit gefasst wurde, sondern dass diese Rolle auch mit einer Aufladung des Begriffs der Katalyse zu einem Denkmodell einherging. Besonders rund um die Figur des BASF-Chefkatalytikers, zeitweiligen BASF-Vizedirektors und nachmaligen Historikers und ‚Philosophen der Katalyse‘, dem Schüler Wilhelm Ostwalds und Wilhelm Wundts Alwin Mittasch (1869–1953) ist es möglich, die Begriffsgeschichte der Katalyse nicht nur in Richtung einer klassischen Wissenschaftsgeschichte, sondern auch als Geschichte eines spezifischen, an einen wissenschaftlichen Begriff angelagerten imaginären Potenzials zu lesen, als Einsicht in ein von einem chemischen Begriff zusammengehaltenes und historisch hergeleitetes Weltbild. In diesem Beitrag soll der in vielfältige Dynamiken eingebundene Begriff der Katalyse beziehungsweise des Katalysators ansatzweise auf drei Ebenen verortet werden. In einem ersten, grundlegenden Schritt wird die Begriffsbildung als Kunstwort im Jahr 1835 durch Jöns Jakob Berzelius angesprochen, darauf aufbauend wird auf die wichtigsten Schritte der _____________ 7

8

Vgl. zum von Hans Bethe um 1940 entdeckten, als ‚katalytisch‘ bezeichneten Kohlenstoffzyklus in der Sonne bzw. allgemein in bestimmten Fixsternen Jeremy Bernstein, Prophet der Energie: Hans Bethe. A. d. Amerik. übers. v. L. Trueb. Stuttgart 1988, bes. S. 38. Noch Oparin rekurriert darauf: Aleksandr I. Oparin, Die Entstehung des Lebens auf der Erde. A. d. Russ. übers. n. d. 3., stark veränd. Aufl. v. D. Bernhardt. Berlin 1957, S. 107. Schwab, Vorwort. In: Handbuch der Katalyse [Anm. 6], 1941, Bd. 1, S. VI.

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weiteren Begriffsdefinition als Beschleuniger sowie als Mittel zur Steuerung von Reaktionsrichtungen eingegangen. Nach diesem Blick auf die Binnengeschichte des Begriffs sollen Beziehungen des Begriffs des Katalysators zu verwandten (bio-)chemischen Begriffen wie dem des Ferments (bzw. des fast gleichbedeutenden Enzyms) angedeutet werden. Die begriffsgeschichtliche Pointe ist hier, dass mit der ‚Einheit des Fermentbegriffs‘ über nicht weniger als über die kategoriale Grenzziehung zwischen Lebendigem und Totem, zwischen Organischem und Anorganischem hinwegoperiert werden kann. Dies ist sowohl von harter wissenschaftshistorischer Bedeutung, gibt aber schon historisch Anlass zur Hoffnung nach einer neuen, ganzheitlichen Technik. Ein weiterer begrifflicher Kontext der Katalyse erscheint in der Formulierung eines über den engeren Bereich des Chemischen hinausweisenden ‚katalytischen Gedankens‘ vor allem im Werk von Mittasch. Dem technisch so rationalen und geerdeten Begriff des Katalysators wird hier als allgemeinem ‚Auslösungs- und Steuerungsgedanken‘ heuristisches Potenzial bis hin zur Deutung menschlicher Handlungen und historischer Prozesse zugetraut; vor dem Hintergrund des NS alles andere als unproblematisch. In Beziehung steht der Begriff der Katalyse hier zum vom Thermodynamiker Robert Mayer geprägten, von Mittasch weitergeführten Begriff der ‚Auslösung‘. Insgesamt wird ein historisches Fallbeispiel präsentiert; eine sehr spezielle, vielschichtige und assoziationsreiche Begriffsgeschichte. Ein theoretischer Ansatz allgemeinerer Gültigkeit zu begriffsgeschichtlichem Vorgehen wird nicht angestrebt. Dennoch steht exemplarisch die Frage im Raum, welchen kulturwissenschaftlichen Erkenntniswert eine um den Begriff der Katalyse und des Katalysators zentrierte, kulturhistorische Erforschung der Bedeutung chemischen Denkens für das Verhältnis von Natur und Industrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben kann. Es stellen sich Fragen nach der Veränderung eines Begriffs im Laufe seiner wissenschaftlichen Bearbeitung, nach seiner imaginären Aufladung, nach seiner Rolle als Denkfigur, als Modell für Erkenn- und Gestaltbares.

2. Drei Schritte der Entwicklung des Katalysebegriffs Zunächst ist bemerkenswert, dass der Begriff der Katalyse an einem klar anzugebenden Datum als Kunstwort in die Welt gesetzt wird. In seinem Jahresbericht fasst der schwedische Chemiker Jöns Jakob Berzelius (1779– 1848) im Februar 1835 (dt. 1836) Experimente der Chemiker Eilhard Mitscherlich (1794–1863), Constantin Kirchhoff (1764–1833) und Louis Jacques Thénard (1777–1857), aber auch Johann Wolfgang Döbereiners

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(1780–1849) 1823 in diversen Weimarer Salons exerzierte Spektakel mit an Platin entzündetem Knallgas unter dem Dach eines neuen Begriffs, der ‚katalytischen Kraft‘ zusammen. Unter der Überschrift Einige Ideen über eine bei der Bildung organischer Verbindungen in der lebenden Natur wirksame, aber bisher noch nicht bemerkte Kraft fungiert also nicht der Experimentator, sondern der Berichterstatter Berzelius als Begriffsbildner, wenn er konstatiert, [...], daß viele, sowohl einfache als zusammengesetzte Körper, sowohl in fester als in aufgelöster Form, die Eigenschaft besitzen, auf zusammengesetzte Körper einen, von der gewöhnlichen chemischen Verwandtschaft ganz verschiedenen Einfluß auszuüben, indem sie dabei in dem Körper eine Umsetzung der Bestandteile in anderen Verhältnissen bewirken, ohne daß sie dabei mit ihren Bestandteilen notwendig selbst teilnehmen, wenn dies auch mitunter der Fall sein kann. Es ist dies eine eben sowohl der unorganischen, als der organischen Natur angehörige neue Kraft zur Hervorrufung chemischer Tätigkeit, die gewiß mehr als man bis jetzt dachte, verbreitet sein dürfte, und deren Natur uns noch verborgen ist. [...] Ich werde sie daher, um mich einer in der Chemie wohlbekannten Ableitung zu bedienen, die katalytische Kraft der Körper, und die Zersetzung durch dieselbe Katalyse nennen, gleichwie wir mit dem Wort Analyse die Trennung der Bestandteile der Körper, vermöge der gewöhnlichen chemischen Verwandtschaft verstehen. Die katalytische Kraft scheint eigentlich darin zu bestehen, daß Körper durch ihre bloße Gegenwart, und nicht durch ihre Verwandtschaft, die bei dieser Temperatur schlummernden Verwandtschaften zu erwecken vermögen.9

Berzelius stellt die ‚Katalyse‘ in einem Grenzbereich von Organischem und Unorganischem der ‚Analyse‘ zur Seite, eine für die interdisziplinäre Verbreitung des Begriffs in horizontaler wie vertikaler Weise wichtige Weichenstellung. Sowohl die Verbreitung der Katalyse in einer Vielzahl von Naturwissenschaften wie die Eignung des Begriffs zur abstrakten Denkfigur wird von hier aus verständlich. Für die innere Logik des Begriffs ist hier, wie auf den weiteren Definitionsstationen, entscheidend, dass äußere Kriterien für das Vorliegen eines katalytischen Vorgangs – Wirkung durch bloße Gegenwart anstatt durch gewöhnliche Verwandtschaft – beschrieben werden können, dass die Frage aber, wie genau diese Wirkung erzielt wird, bewusst umschifft wird. Mittasch hält es 1939 in Theorie und Praxis der Katalyse, einem seiner zahlreichen historischen Überblicke, für „weise Beschränkung“, dass Berzelius es „(anders als Liebig) abgelehnt hat, in seine Definition irgendwelche hypothetischen oder fiktiven Momente aufzunehmen, die sich auf den ‚tieferen Grund‘ der Erscheinung beziehen“ und dass er „durchaus bei rein deskriptiver Kennzeich_____________ 9

Jöns Jakob Berzelius, Einige Ideen über eine bei der Bildung organischer Verbindungen in der lebenden Natur wirksame, aber bisher noch nicht bemerkte Kraft. [o.O.] 1836, wiederabgedr. in: Alwin Mittasch, Lebensproblem und Katalyse. Mit klassischen Dokumenten aus der Geschichte der katalytischen Forschung u. e. Beitr. v. Jerome Alexander. Ulm 1947, S. 71–78, hier S. 77.

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nung stehengeblieben ist“.10 Ereignisse, die sich vom Hintergrund einer stöchiometrisch gedachten Verwandtschaftslogik „mit ihren ‚niedrigen ganzen Zahlen‘ hinwegsetzen“,11 die also durch das Raster der beginnenden, exakt messenden und zählenden Chemie des frühen 19. Jahrhunderts fallen, lassen sich als besondere Ereignisse in eine Art begriffliche black box einordnen, ohne dass man genau weiß oder wissen muss, was in dieser mit dem Namen Katalyse versehenen Schublade wirklich vor sich geht. Erst ein eher physikalisches als chemisches Experimentalsystem wird im 20. Jahrhundert röntgentechnisch die oberflächenphysikalischen Einsichten bringen, die die Aktivität metallischer Katalysatorgrenzflächen während des katalytischen Prozesses im Detail verständlich macht. Auch die in technischer und industrieller Hinsicht so wichtige, weitere Station in der Binnenbegriffsgeschichte der Katalyse, die kinetische Definition des Katalysators in den 1890er Jahren, erscheint als äußere Definitionsleistung. Bewusst wird von einer einige Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts kompliziert, abenteuerlich und vergeblich versuchten Erklärung des katalytischen Mechanismus abgesehen. „Sie sollte ausschließlich Begriffsbestimmung, in keiner Weise Erklärung der Erscheinung sein,“12 schreibt der Ostwald-Schüler Max Bodenstein über die klassische Definition des Katalysators von Wilhelm Ostwald aus dem Jahr 1894: Hiernach versteht man unter Katalyse [...] die Beschleunigung einer an sich möglichen Reaktion durch die Gegenwart eines fremden Körpers; ein Katalysator aber ist danach ein Stoff, der einen Vorgang beschleunigt, ohne durch diesen Vorgang wesentlich geändert oder verbraucht zu werden.13

Vermessen werden um 1900 grob ausgedrückt nicht nur stöchiometrische Gewichtsverhältnisse, sondern zusätzlich die Geschwindigkeiten chemischer Umsetzungen. Die wissenschaftshistorische Grundlage dieser Neudefinition katalytischer Aktivität ist – wie Mittasch bemerkt – „die aufstrebende physikalische Chemie, mit ihrem ‚Massenwirkungsgesetz‘, ihrer kinetischen Gastheorie und ihrer elektrolytischen Dissoziationstheorie.“14 Entscheidend ist die Einordnung des chemischen Geschehens in den theoretischen Gesamtrahmen der Thermodynamik, also in eine Ordnung, in der chemische Reaktionen als Ausdruck von in Stoffen manifesten Energieniveaus und als entsprechende Einstellung von Gleichgewichtszuständen verstanden werden. Reaktionen sind hier Vorgänge, in denen _____________ 10 11 12 13 14

Alwin Mittasch, Kurze Geschichte der Katalyse in Praxis und Theorie. Berlin 1939, S. 33. Ebd., S. 5. Max Bodenstein / Wilhelm Jost, Katalyse bei homogenen Gasreaktionen. In: Schwab, Handbuch der Katalyse [Anm. 6], 1941, Bd. 1, S. 268. Max Bodenstein, zit. nach: Mittasch, Von der Chemie zur Philosophie. Ausgew. Schriften und Vorträge, hg. v. Hermann Schüller. Ulm 1948, S. 107. Mittasch, Kurze Geschichte der Katalyse [Anm. 10], S. 2.

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Hin- und Rückreaktionen – also die Verbindung und Lösung von Stoffen – gleichzeitig stattfinden und bei gewissen äußeren Umständen – Druck und Temperatur – sich ein Gleichgewichtszustand dynamisch derart einpendelt, dass brutto zwei Stoffe einen neuen ergeben (bei einer Reaktion AB A+B spricht man dann davon, dass sich das Gleichgewicht auf Seiten von AB befindet). Die Aussage, der Katalysator beschleunige eine ‚an sich mögliche Reaktion‘ ist Ausdruck der Erkenntnis, dass Katalysatoren an den thermodynamisch gefassten Grundbedingungen einer Reaktion nichts ändern, dass sie aber vor dem Hintergrund konstanter energetischer Bedingungen einen zusätzlichen Reaktionsweg eröffnen, so dass sich das zwischen zwei Stoffen unter gewissen Umständen bestehende Gleichgewichtsverhältnis schneller einstellt. Die Vermessung katalytischer Einflüsse auf das Einstellen von Gleichgewichten ist aber nicht nur passives Registrieren, aktiv gewendet liegt hier der Kern der technischen und ökonomischen Bedeutung der Katalyse als zu Temperatur und Druck hinzutretendes, drittes tool der chemischen Produktion. Da sowohl Hin- wie Rückreaktion beeinflusst werden kann, und ‚Katalyse‘ nicht nur mit Berzelius eine Sonderform der ‚Analyse‘ (als Lösung) darstellt, sondern auch zur Synthese dienen kann, wird die kinetisch gefasste Katalyse zum bald unverzichtbaren Vielzweckinstrument der chemischen Industrie. Überlegt man, daß die Beschleunigung der Reaktionen durch katalytische Mittel ohne Aufwand an Energie, also in solchem Sinne gratis vor sich geht, und daß in aller Technik, also auch in der chemischen, Zeit Geld ist, so sehen Sie, daß die systematische Benutzung katalytischer Hilfsmittel die tiefgehendsten Umwandlungen erwarten lässt,15

erklärt Ostwald 1901 in seinem berühmten Vortrag Über Katalyse auf der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Hamburg. Diese ‚tiefgehendsten Umwandlungen‘ sind bekanntlich eingetreten. Schon die Laudatio zum Nobelpreis, den Ostwald 1909 für seine Leistungen zur Katalyse erhält, vermerkt, dass praktisch die gesamte zeitgenössische Chemieindustrie auf den zeitsparenden Faktor Katalyse angewiesen ist, indem der Schlüsselstoff der Farbenindustrie schlechthin, die Schwefelsäure, seit den 1890ern vom alten Bleikammerverfahren auf das ‚Kontaktverfahren‘ mit Platinkatalysatoren nach Rudolf Knietsch – hier kehrt die vorberzelius’sche Vokabel vom ‚Kontakt‘ wieder – umgestellt wurde.16 _____________ 15 16

Ostwald, Über Katalyse. Vortrag, gehalten 1901 in der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Hamburg. In: ders., Abhandlungen und Vorträge allgemeinen Inhaltes (1887–1903). Leipzig 1904, S. 71–96, hier S. 96. Nobel Lectures, including presentation speeches and laureates’ biographies: Chemistry. Amsterdam, London u. New York 1966, S. 148.

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Schon die Makrologik des auf dieser ersten katalytischen Grundindustrie aufbauenden großindustriellen Gebäudes legt aber nahe, dass mit der von Ostwald der Berzelius’schen Wirkung durch ‚Gegenwart‘ hinzugefügten ‚Beschleunigung‘ die Definition des Katalysebegriffs noch nicht abgeschlossen ist. Die ganze Familie der Hochdrucksyntheseverfahren (Ammoniakproduktion als Schlüsseltechnologie, Methanol- bis Kohlebenzinsynthese als auf dieser Basis aufbauende Effekte),17 die im Anschluss an das Haber-Bosch-Verfahren bei der BASF im Laufe der 1920er Jahre entwickelt wurden, zeigen im fast planetaren Maßstab, dass Katalysatoren nicht nur bereits in messbarem Ausmaß ablaufende Reaktionen beschleunigen, sondern dass Katalysatoren auch Reaktionen in ganz unterschiedliche Richtungen lenken, und sie so in gewisser Perspektive spontan ‚hervorrufen‘18 können. Dass es möglich ist, das industriell so bedeutsame ‚System CO + H2‘ auf nahezu identischer technologischer Basis durch Auswahl eines anderen Katalysators in Richtung so unterschiedlicher Produkte wie Methan, Methanol, Benzin oder Isobutylalkohol zu dirigieren, ist ein immer wieder gebrachtes, makroindustrielles Argument für diese, vor allem auch für das Verständnis physiologischer Steuerungsvorgänge wichtige Erweiterung des Katalysebegriffs. Diese Einbeziehung der Reaktionslenkung in den Begriff des Katalysators wird meist dem mit dieser großindustriellen Aufbauleistung intim verknüpften schon erwähnten Mitarbeiter Carl Boschs während der Entwicklung der Ammoniak-Projekte, dem Laborleiter Dr. mult. Alwin Mittasch zugeschrieben. Seine immer noch gebräuchliche Definition des Katalysators nimmt die Zurückhaltung der bisherigen Begriffsbildner Berzelius und Ostwald gegenüber einer Erklärung auf und erweitert die Definition des Katalysators rein äußerlich: „Ein Katalysator ist ein Stoff oder Körper, der scheinbar durch bloße Gegenwart eine chemische Reaktion oder Reaktionsfolge nach Richtung und Geschwindigkeit bestimmt.“19 _____________ 17

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19

Vgl. Gottfried Plumpe, Die IG-Farbenindustrie-AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904– 1945. Berlin 1990; Thomas P. Hughes, Das „technologische Momentum“ in der Geschichte. Zur Entwicklung des Hydrierverfahrens in Deutschland 1898–1933. In: Moderne Technikgeschichte, hg. v. Karin Hausen u. Reinhard Rürup. Köln 1975, S. 358–384; Werner Abelshauser, Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München 2002. Wilhelm Ostwald hat aus Gründen persönlicher, thermodynamischer Prinzipientreue lange darauf beharrt, dass Katalysatoren Reaktionen ausschließlich beschleunigen, nicht aber hervorrufen. Um nicht von spontaner Auslösung von Reaktionen sprechen zu müssen, hat er derartige Vorgänge lieber als Beschleunigung zunächst unendlich langsamer Reaktionen gedeutet. Vgl. Mittasch, Wilhelm Ostwalds Auslösungslehre. Heidelberg 1951; vgl. auch ders., Über Begriff und Wesen der Katalyse. In: Schwab, Handbuch der Katalyse [Anm. 6], 1941, Bd. 1, S. 1–52, hier bes. S. 11–15. Mittasch, Über Begriff und Wesen, ebd., S. 1–51, hier S. 14.

Katalysator – Annäherung an einen Schlüsselbegriff

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Abb. 1: „Reaktionslenkung durch Katalysatoren“ im System Kohlenoxyd-Wasserstoff.20

3. Die ‚Einheit des Fermentbegriffs‘ Von Berzelius’ Begriffsstiftung bis in die Gegenwart fungiert der Begriff des Katalysators als Brücke zwischen physiologischen und anorganischen Forschungsanstrengungen. Hier liegt seine besondere wissenschafts- und kulturhistorische Bedeutung, indem er Forschungsfelder verknüpft, die in gewisser Hinsicht durch eine kategoriale Grenze voneinander geschieden waren. Schon das 19. Jahrhundert kennt diesbezügliche „Gemeinschafts-

_____________ 20

Erich Theis, Wie wirkt ein Katalysator? Eine alte Frage und die Antwort von heute. In: Kraftstoff. Fachblatt für Kraftstoff- und Schmierölforschung, -industrie und -handel 17 (1941), Jan., S. 3–6, hier S. 6.

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forschung der Chemiker, Bakteriologen und Physiologen“,21 wie Paul Walden in einem Rückblick Aus der Entwicklungsgeschichte der Enzymologie von ihren Anfängen bis zum Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts 1949 bemerkt. Das Feld, in dem die Verwandlung von Stoffen nach dem organisch konnotierten, technisch simulierten Prinzip der Katalyse vor sich geht, reicht zu Beginn der 1940er Jahre von der Gärungschemie bis zur (sogar bakteriologischen) Benzinherstellung und hinein in die unmittelbare Vorgeschichte der molekularen Genetik. Hier können nur schlaglichtartig drei Zeitschnitte angedeutet werden. Angesprochen wird die Phase der Formulierung des Katalysebegriffs in den 1830er Jahren, dann die Zeit um 1900 sowie Mittaschs Reflexion der Katalyse in den 1930er Jahren. Den kulturhistorischen Hintergrund für diese Seite der wissenschaftlichen Fruchtbarkeit des Katalysebegriffs bildet die Geschichte der Fermentation. Seit den ältesten Zeiten haben die Gärungsvorgänge das Interesse der Menschen erregt. [...] Zu der ‚Fermentatio‘ rechnete man alle Fäulnis- und Gärungserscheinungen, die sich äußerlich – ohne sichtbaren Grund, beim Stehenlassen – durch eine auffällige Veränderung der Stoffe [...] bemerkbar machen,22

beginnt Walden seinen Rückblick. Die Epoche, in der Berzelius seinen Begriff der Katalyse entwickelt, zeichnet sich nach Walden dadurch aus, dass die gerade fassbaren, anorganischen Wirkungen durch ‚Gegenwart‘ bzw. durch ‚Kontakt‘ „erstmalig die Brücke zu den alten Gärungserscheinungen“ schlugen und so einen „einen neuen Begriff auslösten, der erst im 20. Jahrhundert voll erfasst wurde“.23 Schon vor Berzelius’ Gründungsakt schreibt Eilhard Mitscherlich über Gärungsvorgänge: „Für sich erleiden diese Substanzen keine Veränderung, aber durch den Zusatz einer sehr geringen Menge Ferment, welches dabei die Kontaktsubstanz ist und bei einer bestimmten Temperatur findet diese sogleich statt.“24 Fermente werden also als eine Art Kontaktsubstanz gedeutet und umgekehrt Kontaktsubstanzen als Fermente: Was das Platina bewirkt, bewirken Gärungsmittel, welche man dem Alkohol zusetzte, auf die selbe Weise; und da es gerade die organischen Verbindungen sind, welche auf diese Weise zerlegt werden, so darf man hieraus schließen, daß durch solche Kontaktsubstanzen die chemischen Zersetzungen und Verbindungen im tierischen Organismus vor sich gehen,25

_____________ 21 22 23 24 25

Paul Walden, Aus der Entwicklungsgeschichte der Enzymologie. In: Ergebnisse der Enzymforschung, hg. v. Rudolf Weidenhagen. Leipzig 1949, Bd. 10, S. 1–64, hier S. 19. Ebd., S. 1. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15.

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so ebenfalls Mitscherlich im Jahr 1834, womit er vorwegnimmt, was Berzelius’ 1835 zur Ubiquität katalytischer Prozesse im Organismus bemerkt: Wir bekommen begründeten Anlass zu vermuten, daß in den lebenden Pflanzen und Tieren Tausende von katalytischen Prozessen zwischen den Geweben und Flüssigkeiten vor sich gehen, und die Mengen ungleichartiger chemischer Zusammensetzungen hervorbringen, von deren Bildung aus dem gemeinschaftlichen rohen Material, dem Pflanzensaft oder dem Blut, wir nie eine annehmbare Ursache einsehen konnten, die wir künftig vielleicht in der katalytischen Kraft des organischen Gewebes, woraus die Organe des lebenden Körpers bestehen, entdecken werden.26

Schon die Entstehung des Begriffs der Katalyse resultiert so aus einem gemeinsamen Forschungsfeld von organischem Forschungsinteresse und einer im Kern anorganischen Denkfigur. In welche Richtung die Erklärungsmuster hier angewandt werden, ist nicht immer klar. Walden bemerkt um das Jahr 1870, d. h. noch vor einer physikalisch-thermodynamischen Chemie: „Es ist nicht das chemischerseits geschaffene Denkmittel des Katalysators, das etwa auf die Physiologie sich überträgt, sondern der Fermentbegriff der Physiologen wird zur Veranschaulichung von Chemikern verwendet.“27 Zeitgleich zur kinetischen Katalysedefinition von Ostwald wird mit dem Nachweis von Eduard Buchner von 1897, dass der „Prototyp der Fermente“,28 das Ferment der alkoholischen Gärung, von keiner Lebenskraft der Hefezellen abhängt, sondern im Kern anorganisch katalytisch funktioniert, die Verknüpfung aus Ferment- und Katalyseforschung noch einmal enger. Nun gilt aber durchaus der Primat des ‚Denkmittels des Katalysators‘. „E. Buchner gebührt das große Verdienst, die Einheitlichkeit des Fermentbegriffs wiederhergestellt und den Bann der vitalistischen Anschauungsweise, die eine große Beengung der chemischen Forschung bedeutete, gebrochen zu haben,“ schreibt Anton Schäffner in Allgemeines über Biokatalyse im Band Biokatalyse des Katalyse-Handbuchs von 1941.29 Interessant erscheint vor allem die positive Betonung der ‚Einheitlichkeit‘ sowie die Bemerkung, hier sei ein Zustand ‚wiederhergestellt‘ worden. In der Tat wird die Einheitlichkeit wohl nicht ‚wieder-‘, sondern durchaus neu und unter neuen Vorzeichen, nämlich im Zuge einer physikalisch messenden Chemie experimentell ‚hergestellt‘. Ist dann aber einmal festgestellt, dass „alle Lebensvorgänge eng mit chemischen Reaktionen, die sich innerhalb der Organismen abspielen und die zu ihrem größten Teil _____________ 26 27 28 29

Berzelius, Einige Ideen [Anm. 9], S. 78. Walden, Paul, Aus der Entwicklungsgeschichte [Anm. 21], S. 38. Ebd., S. 49. Anton Schäffner, Allgemeines über Biokatalyse. In: Schwab, Handbuch der Katalyse [Anm. 6], 1941, Bd. 3, S. 4 [Hervorh. – B. S.].

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katalytisch bedingt sind“ – wie Schäffner im ersten Satz seines HandbuchBeitrags feststellt –, zusammenhängen, dann ist ein Abstrahieren von katalytischer Aktivität im Bereich des Organismus kaum mehr möglich, dann ist die Prognose von Carl Ludwig von 1852, dass „die physiologische Chemie ein Teil der katalytischen würde“,30 unter physikochemischen Bedingungen eingetreten. Eines der für diesen Zusammenhang interessantesten Werke der Phase um 1900 ist die Habilitation des Ostwald-Schülers Georg Bredig Anorganische Fermente.31 Untersucht werden hier Parallelen der katalytischen Wirkung von ‚Blutkörperchen‘ und von in den kolloiden Zustand überführten Metallen, vor allem von Platin. Sowohl die katalytische Wirkung dieser Stoffe ist vergleichbar wie auch deren ‚Vergiftbarkeit‘, also die Hemmung der katalytischen Wirkung durch Stoffe wie Blausäure, Schwefelwasserstoff, arsenige Säure etc. Am Ende ausgedehnter Messreihen kommt Bredig zum Ergebnis: Zum Schluß brauche ich mich wohl kaum dagegen verwahren, als wolle ich hier irgend eine geheimnisvolle Identität zwischen den Metallen und den Enzymen aufstellen. Aber, wenn man sich auch vor Übertreibungen der allerdings überraschenden zahlreichen Analogien zu hüten hat, so muss man doch die kolloidalen Metallsole (und wahrscheinlich auch Sole von MnO2 etc.) in vielen Beziehungen wenigstens als anorganische Modelle der organischen Enzyme betrachten.32

Bemerkenswert erscheinen nicht nur die Befunde, die für die Erforschung der Vergiftung und Aktivierung von Katalysatoren durch stoffliche Akteure zweiter Ordnung allergrößte industrielle Effekte nach sich zogen,33 interessant ist auch das begriffliche Wechselspiel aus ‚anorganischem Ferment‘, und ‚Fermentmodell‘. Technisch beherrschbare Materie wie kolloides Platin ist einerseits ‚Modell‘ für noch nicht beherrschbare, weil feinere und viel spezifisch wirksamere Oberflächen, gleichzeitig legt die Vokabel ‚anorganische Fermente‘ auch den umgekehrten Schluss nahe, dass nämlich durchaus die – ganz unvitalistisch augenfällige – ‚Vitalität‘ natürlicher Fermente als Vorbild für anorganische Nachahmer dient. Eine herkömmliche Abgrenzung von technischen und vitalen Aktivitäten scheint hier kaum mehr greifbar. Das bedeutet aber noch nicht, dass auf den Mikroebenen der beteiligten Wissenschaften die bloße Zuordnung von Vorgängen zum Definitionsraum der Katalyse bereits als befriedigend verstanden wird. In Das _____________ 30 31 32 33

Carl Ludwig zit. nach Walden, Aus der Entwicklungsgeschichte [Anm. 21], S. 48. Georg Bredig, Anorganische Fermente. Darstellung kolloidaler Metalle auf elektrischem Wege und Untersuchung ihrer katalytischen Eigenschaften. Hab.-Schr., Leipzig 1901. Ebd., S. 99. Vgl. zur Bedeutung der Vergiftungs- und Aktivierungsforschung: Mittasch, Geschichte der Ammoniaksynthese. Weinheim 1951.

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Fermentproblem erklärt Andor Fodor 1929, dass die „Bestrebungen der physikalischen Chemiker, die Fermentreaktion ausschließlich vom Standpunkte katalytischer Vorgänge zu beurteilen, aussichtslos geblieben“ seien.34 Oft erweist sich das begriffliche Kriterium ‚katalytisch‘ als ‚zu vieldeutig‘ und zu unscharf, obwohl Enzyme ohne Zweifel auch als Katalysatoren angesprochen werden können. Für die hier verfolgte Perspektive erscheint dennoch bemerkenswert, dass mit dem in aller Unschärfe passenden Begriff des Katalysators ein kontinuierlicher Raum des Forschens eröffnet wird, in dem zwischen industriellen Einstoff- wie auch Mehrstoffkatalysatoren und den sehr viel komplizierteren Strukturen der Biokatalysatoren nur noch graduell nach Wirkungsgrad und Spezifität unterschieden werden kann. Darauf verweist auch Mittasch 1935 in Über katalytische Verursachung im biologischen Geschehen: Nur graduelle Unterschiede liegen also schließlich gegenüber den Katalysatoren des Organismus vor, bei denen jene Spezifität meist ganz besonders scharf ausgeprägt ist, eine Spezifität, die sich in der Mikrobiologie als Wirkungsverschiedenheit der zahllosen Spalt- und Hefepilze usw. (früher oft ‚geformte Fermente‘ genannt) wiederfindet.35

Die Beziehung des Begriffs des Katalysators zum gesamten Wirkstoffarsenal der Organismen kann dabei enger oder weiter gefasst werden. Tendenzen zur Ausdifferenzierung des Begriffsfelds der Biokatalysatoren stehen Tendenzen zur Verteidigung des Biokatalysators als heuristisch wertvollem Einheitsbegriff entgegen. Mittasch ist hier einer der auffälligsten Streiter für einen historisch nicht erwartbaren, entdifferenzierten Begriff des Biokatalysators, der nicht nur wie allgemein üblich Enzyme, sondern alle möglichen Hilfs-, Wirk- und Botenstoffe wie Hormone, Vitamine bis Gene umfassen sollte.36 Zum Berzelius-Gedenken schreibt er 1835: [Berzelius würde,] glaube ich, über einen Umstand verwundert sein, nämlich darüber, daß seine Namensgebung noch heute in Physiologie und Biologie nicht konsequent auf alle Erscheinungen angewendet wird, für die seine Definition zutrifft, sondern daß eine gewisse Scheu sichtbar wird, über Enzyme und (eventuell) Hormone hinaus den Ausdruck ‚Katalysator‘ auch auf weitere chemische Körper anzuwenden, die gleichfalls im Organismus durch ihre ‚bloße Gegenwart‘ chemische Tätigkeiten mit physiologischer Wirkung hervorrufen, indem sie etwa Zellen zum Wachsen oder Teilen anregen oder Formbildungen verursachen, oder als Erbfaktoren in die Entwicklung des Individuums aus dem Keim chemisch len-

_____________ 34 35 36

Andor Fodor, Vorwort. In: ders., Das Fermentproblem. Zugleich Einführung in die Chemie der Lebenserscheinungen. 2. völlig umgearb. Aufl. Dresden u. Leipzig 1929, S. VII. Mittasch, Über katalytische Verursachung im biologischen Geschehen. Berlin 1935, S. 8. Vgl. zu den Effekten auf die Fachdiskussion: Schäffner, Allgemeines über Biokatalyse [Anm. 29], S. 2.

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kend und steuernd, fördernd und hemmend eingreifen; hier überall würde, wie ich meine, Berzelius den Ausdruck ‚Katalyse‘ angewendet wissen wollen.37

4. Der katalytische Gedanke Die wissenschaftshistorische Bedeutung Alwin Mittaschs für die Begriffsgeschichte der Katalyse und des Katalysators gründet sich in seiner Labortätigkeit und seiner Arbeit am wissenschaftlichen Katalysatorbegriff. Kulturhistorisch kommt hinzu, dass der „Meister der Katalyse“38 sich nach seinem Ausscheiden aus der BASF/IG-Farben 1933/1934 der Aufarbeitung der Katalysegeschichte sowie der quasiphilosophischen Ausdeutung der Denkfigur des Katalysators angenommen hat. ‚Katalyse‘ wird hier nicht, wie von Berzelius’ Analogie zu ‚Analyse‘ sowie von der operativen Nähe zu ‚Synthese‘ auch möglich gewesen wäre, als interdisziplinäre Methode, sondern als in abstrakter Form fast ubiquitär anzutreffender Ereignistyp gefasst. In Mittaschs letzten beiden Lebensjahrzehnten entsteht ein mehrere tausend Seiten starkes schriftliches Werk, in dem der ehemalige Laborchef mit großer Lust an der chemistischen Spekulation einen über die chemische Katalyse hinausweisenden ‚katalytischen Gedanken‘ als allgemeinen Gedanken der Auslösung und Steuerung propagiert.39 Sein Projekt versteht Mittasch als eine Art chemi_____________ 37 38

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Mittasch, Über katalytische Verursachung im physiologischen Geschehen In: Naturwissenschaften 23 (1935), S. 377–383, hier zit. aus: Mittasch, Von der Chemie zur Philosophie [Anm. 13], S. 164. Karl Holdermann, Alwin Mittasch 1869–1953 in memoriam. Nachruf. Deutsches Museum München, abgedr. in: Chemische Berichte, Weinheim, (1957) 12, S. XVLL–LIV, hier S. LIV: „Dr. Alwin Mittasch, Dem Meister der Katalyse, Dem Schöpfer des Ammoniaklaboratoriums, Dem gütigen Menschen.“; Arnold F. Holleman / Egon Wiberg, Lehrbuch der anorganischen Chemie. Berlin 1964, S. 661: „Er hatte allein 80 amerikanische Patente. Man nennt ihn mit Recht den ‚Meister der Katalyse‘.“ Publikationsliste mit bis einschließlich 1948 vollen 99 Titeln, darunter zwölf Bücher in: Alwin Mittasch, Von der Chemie zur Philosophie. Ausgew. Schriften und Vorträge, hg. v. Hermann Schüller. Ulm 1948, S. 747 ff. Darunter: Alwin Mittasch / Erich Theis, Von Davy und Döbereiner bis Deacon. Ein halbes Jahrhundert Grenzflächen-Katalyse. Berlin 1932; Mittasch, Über katalytische Verursachung im biologischen Geschehen. Berlin 1935; Mittasch, Über Katalyse und Katalysatoren in Chemie und Biologie. Berlin 1936; Mittasch, Katalyse und Determinismus. Ein Beitrag zur Philosophie der Chemie; Berlin 1938; Mittasch, Kurze Geschichte der Katalyse in Praxis und Theorie. Berlin 1939; Mittasch, Julius Robert Mayers Kausalbegriff. Berlin 1940; Mittasch, Naturforschergedanken über Unsterblichkeit. Heidelberg 1944. Sowie bis 1953: Mittasch, Geschichte der Ammoniaksynthese. Weinheim 1951; Mittasch, Wilhelm Ostwalds Auslösungslehre. Heidelberg 1951; Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph. Stuttgart 1952; Mittasch, Entelechie. München u. Basel 1952; Mittasch, Salpetersäure aus Ammoniak. Weinheim 1953; Mittasch, Erlösung und Vollendung. Gedanken über die letzten Fragen. Meisenheim u. Wien 1953; Mittasch (Hg.), Julius Robert Mayer über Auslösung von Wilhelm Ostwald. Weinheim 1953.

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sche Mission: „Wen Sie einmal für den katalytischen Gedanken gewonnen haben, der kommt nicht wieder davon los“, zitiert er am Schluss des Sammelbandes Von der Chemie zur Philosophie – dessen erstes, gut 300 Seiten starkes Kapitel ist mit Der Katalytische Gedanke überschrieben – den „verdienstvollen Cusanus-Forscher Ernst Hoffmann“.40 Der Wert dieser noch kaum erforschten Schriften ist für eine lineare Geschichte der Philosophie sicher begrenzt.41 Als Symptom einer Epoche, in der tatsächlich mit Hilfe des ‚Denkmittels der Katalyse‘ das Verhältnis von Technik und Natur im makroindustriellen bis mikrostrukturellen Rahmen neu ausbalanciert wird, kann es aber für die kulturhistorische Ausdeutung dieses Prozesses fruchtbar gemacht werden. Im Rahmen dieses Essays kann nur ein Aspekt von Mittaschs katalytischer Spekulation kursorisch angedeutet werden: Mittaschs, an eine Lesart von Robert Mayers Ueber Auslösung42 von 1876 angelehnter Entwurf einer zweiwertigen Kausallehre mit einer Trennung in ‚Erhaltungskausalität‘ (E.K.) und ‚Auslösungskausalität‘ (A.K.)43 sowie einer in diese Struktur eingebundenen Engführung von – mit einem Aufsatztitel vom Beginn der 1940er Jahre – Katalytischer Kraft, Lebenskraft, Willenskraft.44 Mittasch nimmt in seiner Mayer-Lektüre vor allem Bezug auf die prominente Position, die Mayer in Ueber Auslösung, einer knappen Skizze über verstörende Ereignisse, in denen winzige Ursachen riesige Folgen nach sich ziehen, der Katalyse und besonders Döbereiners Knallgasreaktion beimisst. Mit dem Chemiehistoriker und Lebenskraftforscher Edmund von Lippmann nimmt Mittasch an, dass es sich bei der Mayer’schen Vokabel und dem Begriff der ‚Auslösung‘ um nicht weniger als um eine Rückübersetzung der Berzelius’schen Katalyse handelt.45 Schon in Die Mechanik der Wärme hat Mayer immerhin in einer Fußnote über die kausale Relevanz eines bestimmten Katalysebegriffs nachgedacht. _____________ 40 41

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Mittasch, Von der Chemie, ebd., S. 746. Vgl. zur spärlichen Mittasch-Forschung: Maria Osietzki, Die nationalsozialistische Rezeption Julius Robert Mayers. Alwin Mittasch und das Konzept der „Auslösung“. In: Mitteilungen der Fachgruppe Geschichte der Chemie 8 (1993), S. 61–65; Osietzki, 1942 – Ein „Genie“ wird gefeiert: Zur Rezeption Julius Robert Mayers. In: Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, hg. v. Christoph Meinel u. Peter Voswinckel. Stuttgart 1994, S. 274–281; sowie eine kommentierte Auswahledition aus Mittaschs Lebenschronik in: Uwe Niedersen / Ludwig Pohlmann, Selbstorganisation und Determination. (Selbstorganisation, Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, 1) Berlin 1990. Julius Robert Mayer, Über Auslösung. In: ders., Die Mechanik der Wärme. In gesammelten Schriften, hg. v. Jakob Weyrauch. Stuttgart 31893. Vgl. vor allem Mittasch (Hg.), Julius Robert Mayers Kausalbegriff. Seine geschichtliche Stellung, Auswirkung und Bedeutung. Berlin 1940. Mittasch, Von der Chemie [Anm. 13], S. 285. Mittasch, Zur Vorgeschichte von Robert Mayers Auslösungsbegriff. In: ders., ebd., S. 553.

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‚Katalytisch‘ heißt eine Kraft, sofern sie mit der gedachten Wirkung in keinerlei Größenbeziehung steht. Eine Lawine stürzt in das Tal; der Windstoß oder der Flügelschlag eines Vogels ist die ‚katalytische Kraft‘, welche zum Sturze das Signal gibt und die ausgebreitete Zerstörung bewirkt. – Das ‚katalytische‘ dieser Kraft bezieht sich zu allernächst auf die Logik oder das Kausalgesetz, welches durch selbige paralysiert wird.46

In Robert Mayer erblickt Mittasch den geeigneten Stammvater einer noch zu gründenden Traditionslinie, um das weit gefasste Begriffsfeld ‚Auslösung / Katalyse‘ in eine allgemeine Kausalordnung einzubetten. In seinem Buch Julius Robert Mayers Kausalbegriff. Seine geschichtliche Stellung, Auswirkung und Bedeutung schreibt er: Es ist nicht hinreichend bekannt, daß R. Mayer dem eng mechanistischen Kausalbegriff seiner Zeit einen weiteren und freieren Kausalbegriff dualer Art entgegengestellt hat, der [...] geeignet ist, nicht nur für sämtliche Naturwissenschaften, sondern auch für Psychologie und Geisteswissenschaften als logischer Rahmen zu dienen. Erhaltungs- und Auslösungskausalität, konservative und impulsive Tendenzen, entsprechend den komplementären Grundbegriffen Sein und Werden, sind nach R. Mayer die Hauptformen, in denen das allgemeine Kausalpostulat als Denkerwartung seine Befriedigung finden kann, von Physik und Chemie über die Biologie bis zu den Kultur- und Sozialwissenschaften.47

Der Katalysator wird als einer der wichtigsten Auslöser überhaupt, als – mit Richard Woltereck – „bilanzfreier Impuls“48 gedacht, und ist insofern vergleichbar allen anderen, aus grob energetischen Bilanzierungen ausscherenden Stellgrößen. Gleichsam am Vorabend des Informationsbegriffs gerät die Denkfigur des Katalysators als chemischer Regler noch vor dem Interesse der Systemtheoretiker an der Autokatalyse in eine Art protokybernetisches Assoziationsfeld.49 Mittasch vertritt in diesem chemisch spekulativen Feld seit Mitte der 1930er die These, Katalyse „als ein Prozeß, der zwischen stofflichem ‚Einwickeln und Ausgewickeltwerden‘ be_____________ 46 47 48

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Mayer, Die Mechanik der Wärme, hg. v. Arthur J. v. Oettingen. Leipzig 1911, S. 57. Mittasch, Julius Robert Mayers Kausalbegriff [Anm. 43], S. III. Richard Woltereck, Grundzüge einer allgemeinen Biologie. Die Organismen als Gefüge/Getriebe, als Normen und als erlebende Subjekte. Stuttgart 1932 S. 457: „Die Organismen unterscheiden sich von solch einer Fabrik oder Maschine dadurch, daß die ‚bilanzfreien‘ Impulse nicht von außen an das System herangebracht, sondern von und in ihm selbst produziert werden. Wir haben uns daran gewöhnen müssen, in fast allen Energieumsätzen der Organismen ‚katalytische‘ Impulse am Werk zu sehen, von der Kohlensäureassimilation bis zu den zahllosen Stoffumsätzen im Wirbeltierkörper.“ Vgl. zur Begriffsgeschichte der Autokatalyse, eines für die Steuerung von biologischen Reproduktionsvorgängen essentiellen, rückkoppelnden Katalysetyps, wo das Produkt einer Reaktion die Reaktion ihrerseits katalysiert: Hans-Jürgen Krug, Autokatalyse. Herkunft und Geschichte eines Begriffes. In: Konzepte von Chaos und Selbstorganisation in der Geschichte der Wissenschaften, hg. v. Wolfgang Krohn, Hans-Jürgen Krug u. Günter Küppers. (Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, 3) Berlin 1992.

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stimmter Art hin und her ‚vibriert‘, [erscheine] als einfachstes Modell zweckhaft gelenkt erscheinender Lebensvorgänge“,50 und der Katalysators sei entsprechend auch das einfachste Modell für die energetische Deutung des menschlichen Willens. Dass Begriffe hier weiter zu denken sind, als in der jeweiligen Fachgemeinde üblich, ficht den über fachliche Zweifel erhabenen Laborchemiker nicht an. Nur einige Zitate sollen illustrieren, in welche Richtung die Begriffsgeschichte der Katalyse von ihren wissenschaftlichen Protagonisten fortgeführt wird. Eines seiner letzten Bücher, Goethe, Döbereiner und die Katalyse, beginnt Mittasch mit folgender ‚Definition‘: Was ‚Katalyse‘ bedeutet, ist heute jedermann bewußt: chemische Befehlgebung hinsichtlich Richtung und Geschwindigkeit stofflicher Umsetzungen, hervorgerufen von einer bestimmten Substanz, die selbst ebenso unversehrt aus ihrer Tätigkeit hervorgeht wie der menschliche Wille aus seinen Befehlgebungen und Entschlüssen.51

Es gehört zu den Besonderheiten der Kulturgeschichte der Katalyse, dass Mittaschs Schreiben über den Katalysator als modernen „Stein der Weisen“52 nicht nur in apokryphen Organen sein Publikum findet, auch im siebenbändigen Handbuch der Katalyse stammt der einleitende Beitrag Über Begriff und Wesen der Katalyse nicht vom Herausgeber Georg-Maria Schwab, sondern von Alwin Mittasch. Seine Vorbemerkung: Es soll erkenntniskritisch und allgemein-chemisch, jedoch unter Verzicht auf mathematisch-theoretische Behandlung erörtert werden, welches die wesentlichen Merkmale derjenigen Erscheinung sind, die man seit Berzelius (1835) in nie ernstlich angefochtener Weise mit dem Namen Katalyse bezeichnet. Die verschiedenen Anschauungen und Bilder, Modelle und Figmente, die über den zugrundeliegenden Chemismus im Laufe der Zeit entwickelt worden sind, werden zu diesem Zwecke Beachtung finden, doch soll nach Möglichkeit dasjenige in den Vordergrund gerückt werden, was bleibend gilt, unabhängig von wandelbarem Sinnbild und Zeichen.53

Mittaschs Anspruch, ahistorisch über Begriff und Wesen der Katalyse handeln zu wollen, steht seinerseits in einem historisch tief belasteten Kontext. Katalyse ist um 1940 weltkriegsrelevante Spitzentechnologie und Chiffre für vermeintlich ganzheitliche, in der Tat nationalsozialistische ‚Versöhnung‘ von Natur, Technik und Mensch in einem. Vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Willensreligion, fast zeitgleich zu Tischgesprächen im Führerbunker über die zersetzende Rolle des Juden als „Katalysator, an _____________ 50 51 52 53

Mittasch, Über katalytische Verursachung [Anm. 35], S. 64. Mittasch, Döbereiner, Goethe und die Katalyse. Stuttgart 1951, S. 11. Ebd. sowie an zahllosen anderen Fundorten bei Mittasch und in der gesamten Katalyseliteratur. Mittasch, Vorbemerkung. In: ders., Über Begriff und Wesen der Katalyse [Anm. 18], S. 2.

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denen sich die Brennstoffe entzünden“,54 sowie zu IG-Farben Produktions- und Vernichtungsstätten wie Buna-Monowitz wirkt Mittaschs Engführung von Katalysator und menschlichem Willen schlicht gespenstisch. „Ja, es erscheint die Wirksamkeit des Katalysators geradezu als Modell für sämtliche diaphysischen Kräfte – vor allem für die Willenskraft –, indem er ‚verursacht‘, ohne energetisch Arbeit zu leisten.“55 Nicht nur Mittaschs Meister Wilhelm Wundt – „Der Organismus, auch der Mensch, ist den chemischen Stoffen gegenüber ein Katalysator großen Stils [...]“ – sowie Hans Driesch kommen im Handbuch zu Wort, auch der NS-Oberpädagoge Ernst Krieck mit seinen Thesen von der „analogischen Beziehung der Katalyse zum ‚Steuermann Leben‘“, und von der „Politik [als] ‚Katalysator der Geschichte‘“.56 Der ‚katalytische Gedanke‘ zeigt hier – mit Klaus Theweleit gleichsam am ‚Machtpol‘ – eine ideologische Schlagseite, als Führerprinzip in einem natürlich-industriellpolitischen Kontinuum. Wenn chemisches Steuern und kausale Hierarchien in Natur und Technik über den Begriff der Katalyse operabel werden, so bedeutet die umgekehrte Verwendung des katalytischen Vokabulars für außerchemische Steuerungs- und Befehlkontexte eine Aufladung strategischer Sachverhalte mit dem zusätzlichen, imaginären Potenzial des Katalysators. Politik hat so scheinbar Teil am ‚Stein der Weisen‘, an einer der Physis entlehnten Produktivkraft und Effizienz, an der begrifflich wie technisch gelungenen Überwindung einer alten Grenzziehung zwischen organischer und anorganischer Sphäre.

5. Schluss Nur wenige Begriffe der Chemie haben sich von ihrem funktionalen Ursprungskontext lösen können, um als feststehende Wendung bzw. als Metapher chemisches Wissen und chemischen Weltzugang auch im Raum der Sprache anzuzeigen. Der Begriff des Katalysators als Figur des Dritten, die seltsam kostenlos Fortschritt schafft, ist spätestens seit Ostwalds Nobelpreisrede einer davon,57 ja, er hat sogar Eingang in die Metaphorologie gefunden, wenn Hans Blumenberg in einer berühmten Wendung davon spricht, die Metapher fungiere als „katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundieren_____________ 54 55 56 57

Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Stuttgart 31976, S. 107. Mittasch, Über Begriff und Wesen der Katalyse [Anm. 18], S. 30. Ebd., S. 48. Ostwald, Über Katalyse. In: ders. (Hg.), Annalen der Naturphilosophie, Leipzig, 9 (1910) 1, S. 20.

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den Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren“.58 Dass bei dieser metaphorischen Wendung des Metaphorologen selbst eine vollständige Reinigung des Wortes von all dem stattgefunden hat, was ihm an historisch industrieller Belastung, an strategischer Bedeutung, an symbolischer Brisanz und an Hoffnung auf kostenlosen Fortschritt anhaftet, darf bezweifelt werden. Katalysatoren sind nicht nur materiell besondere chemische Funktionskörper, eine Art Hybrid zwischen Ding und chemischem Medium, mit Emil Fischers Metapher aus den 1890er Jahren „Schlüssel“ in chemischen Schlössern,59 auch der Begriff des Katalysators fungiert als besonderer Verdichtungspunkt von Geschichte und Geschichten, als Relais, das ganz verschiedenartige Diskurse miteinander verschaltet und so bestimmte Perspektiven erst erschließt. Um die Klärung der wissenschaftshistorischen Frage, inwiefern die rhetorische Verwendung des Katalysatorbegriffs seiner Bedeutung im konkreten chemischen Forschungszusammenhang entspricht, konnte es hier nicht gehen. Vielmehr sollte mit diesem Panorama ein von Kulturwissenschaftlern bislang vernachlässigtes Gebiet als vielschichtiges und in vielfacher Hinsicht brisantes Problemgebiet vorgestellt werden. Der Begriff des Katalysators eignet sich besonders gut als Leitfaden zur kulturwissenschaftlichen Erschließung der historischen Bedeutung chemischen Denkens und Produzierens im 20. Jahrhundert, indem in diesem Begriff zwei Dynamiken historisch übereinanderliegen: die materielle Bedeutung des chemische Forschung und Industrie tragenden Prinzips der Katalyse und als Symptom dieser real veränderten Welt die nicht selten verstörenden Versuche, die Effekte dieser Industrie in einem katalytischen Weltbild zusammendenken zu wollen.

_____________ 58 59

Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1998, S. 10. Vgl. Walden, Aus der Entwicklungsgeschichte [Anm. 21], S. 47.

Falko Schmieder

,Entwerfungsarten‘ im Zusammenhang. Zur interdisziplinären Geschichte des Projektionsbegriffs Der Terminus ,Projektion‘ hat seit Beginn der Neuzeit eine erstaunliche Karriere zurückgelegt. Es gibt kaum eine wissenschaftliche Disziplin, in der er nicht verwendet worden ist; auf einigen Feldern hat oder hatte er eine Schlüsselstellung inne, und nicht selten stand er im Zentrum erbittert geführter wissenschaftstheoretischer oder weltanschaulicher Debatten – so etwa auf dem Feld der Sinnesphysiologie oder auf dem Feld der Religionskritik. Einen aktuellen Schauplatz der Diskussion wenn nicht um den Begriff,1 dann doch um zentrale Probleme, die immer wieder anhand des Projektionsbegriffs diskutiert worden sind, bildet die Neurophysiologie unter den Bedingungen der neuen bildgebenden Verfahren: Es handelt sich um die Probleme der Differenz der Verfahren des Messens und Deutens bzw. – allgemeiner – um die Probleme der Vermittlung der Kluft zwischen empirischen und qualitativen Befunden, Physik und Metaphysik, Körper und Geist, Existenz und Essenz usw. Die Rekonstruktion der interdisziplinären Geschichte des Projektionsbegriffs2 und seiner Verflechtung mit experimentellen Anordnungen und Medienentwicklungen ist somit kein antiquarisches Unternehmen, sondern eine historische Vergegenwärtigung, die der Erhellung aktueller Problemzusammenhänge und Fragestellungen dienlich sein kann. In einem emphatischen Sinne aufgerissen und problematisch geworden ist die Kluft zwischen Subjekt und Objekt am Beginn der Neuzeit, wo auch der Begriff Projektion eine fundamentale semantische Neubestimmung erfährt. Vor der Neuzeit wurde der Begriff in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet. Im populären Sprachgebrauch benutzte man ihn _____________ 1 2

Vgl. aber Christian Büchel / Cornelius Weiller, Bildgebende Verfahren und elektrische / magnetische Verfahren in der Neuropsychologie. In: Klinische Neuropsychologie, hg. v. Wolfgang Hartje u. Klaus Poeck. Stuttgart u. New York, 62006, S. 52–66, hier S. 52. Vgl. Falko Schmieder, Von der Methode der Aufklärung zum Mechanismus des Wahns. Zur Geschichte des Begriffs ,Projektion‘. In: Archiv für Begriffsgeschichte 47 (2005), S. 165-191. Diese Arbeit zielte auf die Klärung der Frage, was es mit der Entstehung des religionskritischen Projektionsbegriffs um die Mitte des 19. Jahrhunderts und seinem Hineinlesen in die klassischen Werke der Religionskritik auf sich hat. Im vorliegenden Aufsatz, der sich auf sachdienliches Material aus dieser Arbeit stützt, sollen verstärkt die naturwissenschaftlichen Felder erschlossen werden.

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sehr unspezifisch in der Bedeutung von ‚heraus-‘ oder ‚hervorwerfen‘, ,-strecken‘ oder ,-treten‘ und in dieser Bedeutung immer zur Bezeichnung elementarer körperlicher Vorgänge. Eine zweite Verwendung findet sich auf dem Gebiet der Alchemie. Der Begriff bezeichnet hier den Vorgang des Auswerfens einer Tinktur auf das im Flusse stehende Metall, der die Verwandlung unedler Metalle in Gold bewirken soll.3 Im Zuge der Erfindung und der Experimente mit der Zentralperspektive und der Camera obscura bildete sich dann ein neuer Begriff von Projektion zur Bezeichnung eines methodisch geregelten Bildwurfs oder Bildentwurfs heraus. Von der sprachlichen Seite her betrachtet vollzog sich die Bildung des neuen Begriffs durch die Fusion der semantischen Kerngehalte der beiden vorneuzeitlichen Begriffsverwendungen, also der Bedeutung des Hervorwerfens einerseits und der Verwandlung durch Aufwerfen andererseits. Von der Ebene der neuen materiellen Praxen her gesehen erweist sich die begriffliche Innovation als sachlich motiviert durch den Umstand, dass die Repräsentationen der neuzeitlichen Wissenschaftssubjekte untrennbar verbunden waren mit neuartigen performativen Verfahren und spezifischen Techniken verwandelnden Vor-Stellens. Wie Martin Heidegger dargetan hat, ist der neuzeitliche Begriff von Repräsentation nicht mehr als bloßes Abbild von etwas zu begreifen. Vielmehr entfaltet er sich im Zusammenhang einer völlig neuen Experimentalkultur, die in das Wesen der Wirklichkeit nach Maßgabe von „Verfahren der Gesetzbewährung im Rahmen und im Dienste eines exakten Entwurfs von der Natur“4 eindringt. Bei den Entwürfen der Neuzeit handelt es sich demnach um ein tätiges Ins-Bild-Setzen des Menschen, das sich von den traditionellen Formen der Repräsentation grundlegend unterscheidet – der Prozess der Erkenntnis nimmt Arbeitscharakter an.5 Der sachliche Konnex von Abbilden und (Um)bilden beziehungsweise von Vorstellen und Herstellen findet seinen sprachlichen Ausdruck in der terminologischen und begrifflichen Nachbarschaft von Projekt (Entwurf, Vorhaben) und Projektion beziehungsweise von Projektieren und Projizieren, die nicht selten promiscue verwendet werden;6 darüber hinaus in der häufigen Verbindung des Begriffs Projektion mit praktischen Tätigkeitsworten wie Vergegenständlichung, Entäußerung oder Konstruktion, die sich bis in die aktuelle Gegenwart gehalten hat. Eine Pointe der Argumentation von Heidegger _____________ 3 4 5 6

Vgl. Karl Christoph Schmieder, Geschichte der Alchemie [1832], hg. u. m. e. Vorw. v. Marco Frenschkowski neu gesetzte u. überarb. Ausg. Wiesbaden 2005, S. 36. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes. In: ders., Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. (Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 5) Frankfurt a.M. 1977, S. 75–113, hier S. 82. Vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1998, S. 34. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 73. Stück, 12. Jan. 1768. Gesammelte Werke, hg. v. Paul Rilla. Berlin u. Weimar 1968, Bd. 6, S. 374.

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besteht in dem Nachweis, dass sich die Neuzeit nicht lediglich durch ein neues ,Weltbild‘ von mittelalterlichen oder antiken ,Weltbildern‘ abhebt; der radikale Bruch der Neuzeit mit allen früheren Epochen zeige sich vielmehr darin, dass überhaupt erst seit der Neuzeit „die Welt zum Bild“ – verstanden als „Gebild des vorstellenden Herstellens“ – wird und „die Eroberung der Welt als Bild“ in Angriff genommen werden konnte.7 Was Heidegger in seiner Analyse des neuzeitlichen Weltbildes allerdings unterschlägt beziehungsweise vergisst, ist das neue mediale Apriori der Camera obscura, das überhaupt erst die Voraussetzung dafür bildet, dass der praktische Weltbezug des neuzeitlichen Subjektes unter den – miteinander vermittelten – Begriffen ,Bild‘ und ,Projektion‘ gefasst werden kann.8 Eine Spezifik dieses in der frühen Neuzeit erfundenen Apparates ist es, dass er das Licht nicht lediglich abbildet, sondern darüber hinaus das vom Licht Beleuchtete in einen isolierten Bildraum projiziert.9 Mit seiner Hilfe wird es möglich, das Licht zu einem einzigen Bündel geradliniger Strahlen zu konzentrieren und geometrisch exakte Konstruktionen von Ausschnitten der Wirklichkeit zu liefern. Allein auf dieser Grundlage konnte „das revolutionäre Konzept einer perfekt perspektivischen Malerei“ entstehen, „wie sie weder Ägypter noch Griechen gekannt hatten“.10 Die Planentwürfe der technischen Zeichner wiederum materialisierten sich in neuen Raumkonstruktionen und Formen der Architektur. Wie Erwin Panofsky gezeigt hat, wurde die Perspektive – zunächst gleichbedeutend mit geometrischer Projektion11 – zu einer neuen ,symbolischen Form‘, die die Alltagserfahrung des neuzeitlichen Menschen zu prägen begann.12 Der in diesem Zusammenhang neu geschaffene Begriff der Projektion dient bis heute als Terminus technicus zur Bezeichnung der optisch-physikalischen Funktionsprinzipien der neuen Bildapparaturen und – allgemein – von Abbildverfahren, die ihre Gegenstände nach exakten mathematischen Prinzipien konstruieren. Mit dem Überschritt von spontan-leiblichen zu geometrisch geregelten körperlichen Vorgängen war die Basis geschaffen für eine zweite fol_____________ 7 8 9 10 11 12

Vgl. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes [Anm. 4], S. 88–90, hier S. 94. Vgl. Iris Därmann, Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte. München 1995, S. 262. Vgl. Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin 2002, S. 56. Ebd. Vgl. Gert König / Walter Kambartel, (Art.) Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritten u. Karlfried Gründer. Basel 1989, Bd. 7, Sp. 363–377. Vgl. Erwin Panofsky, Die Perspektive als ‚symbolische Form‘ [1927]. In: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. v. Hariolf Oberer u. Egon Verheyen. Berlin 1992; Franco Farinelli, Von der Natur der Moderne. Eine Kritik der kartographischen Vernunft. In: Räumliches Denken, hg. v. Dagmar Reichert. Zürich 1996, S. 267–301.

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genreiche begriffliche Abstraktion. Sie realisiert sich im Zuge einer Analogisierung von Auge und Camera obscura, mit der der Begriff Projektion auf das Feld der Wahrnehmungslehre übertragen wird. Als erster vollzog diesen Abstraktionsschritt der Astronom Johannes Kepler, der das Auge vom aktiven Betrachter isoliert und als optischen Apparat beschrieben hat, in dem dieselben Gesetze gelten sollen wie in der dunklen Kammer. So wie dort ein Umkehrbild entstehe, verfahre auch das Auge, indem es Projektionsbilder auf der Netzhaut herstelle. „Das Sehen“ – so Kepler – „wird also durch das Bild der sichtbaren Dinge auf der konkav gekrümmten Netzhautfläche hervorgebracht.“13 Auffällig an Keplers Darstellung ist die Verwendung des Bildbegriffs (pictura). Pictura, so Peter Bexte, meint hier das Ergebnis einer Projektion, die kategorial von Spiegelbildern zu unterscheiden ist, „welche das Gezeigte seitenverkehrt präsentieren, es möglicherweise verzerren oder sphärisch beugen, aber keinesfalls auf den Kopf stellen. Die Katoptrik, als die Lehre von der Spiegelreflexion, hat damit ihre modellbildende Wirkung an die Dioptrik abgetreten. Ursprung der pictura ist nicht mehr das narzisstische Spiegelbild, welches die Renaissancekünstler immer wieder gemalt hatten, sondern das im Wortsinne von revolutio auf den Kopf gestellte Projektionsbild in der Augenhöhle. Eben dies ist die optische Revolution der Dioptrik“,14 die ebenso wie der wahrnehmungstheoretische Projektionsbegriff ohne das neue Medium der Camera obscura undenkbar wäre. Da der Mensch von der – unmittelbar nicht zugänglichen – Umkehrung der Bilder auf der Netzhaut nur über den Umweg der Experimente mit dem Artefakt der Camera obscura weiß, deren Funktionsprinzipien Rückschlüsse auf diejenigen des menschlichen Auges zulassen, ist die Camera obscura als das mediale Apriori des neuzeitlichen Projektionsdiskurses zu bezeichnen.15 Dass die Orientierung an dem neuen Perspektivverfahren zugleich mit einem Ausschluss anderer ,Perspektiven‘ verbunden war, lässt sich am Umgang mit Edme Mariottes Entdeckung des blinden Flecks erkennen. Mariotte hatte einen Ausfall der Wahrnehmung beobachtet, „der dann eintritt, wenn das Bild des Objekts genau auf den optischen Nerv fällt.“16 Damit hatte er eine Entdeckung gemacht, die den Rahmen des mechanistischen Projektionsmodells sprengt, das auf den Annahmen einer automatischen Entstehung des Bildes (bzw. eines passiven Auges) und einer Identität von Sehraum und Bildraum beruhte. Erst nachdem am Beginn des _____________ 13 14 15 16

Johannes Kepler, zit. n. Peter Bexte, Blinde Seher. Wahrnehmung von Wahrnehmung in der Kunst des 17. Jahrhunderts. Dresden 1999, S. 22. Bexte, ebd., S. 22 f. Vgl. Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden u. Basel 1996, bes. S. 56. Edme Mariotte, zit. n. Bexte, Blinde Seher [Anm. 13], S. 18.

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19. Jahrhunderts das an die Camera obscura gebundene Projektionsmodell grundsätzlich an Plausibilität zu verlieren begann, fand Mariottes Entdeckung aus dem Jahre 1668 die gebührende Beachtung.17 Erst ein dritter Abstraktionsschritt schließlich führt zu der von René Descartes eingeführten erkenntnistheoretischen Kategorie der Projektion, die in den traditionellen begriffsgeschichtlichen Darstellungen von Projektion – so exemplarisch im Historischen Wörterbuch der Philosophie – umstandslos vorausgesetzt wird.18 Nach dem Vorbild Keplers konstruiert Descartes unter Zugrundelegung des Modells der Camera obscura den Wahrnehmungsvorgang am Leitfaden einer „natürliche[n] Geometrie“19, die den Geist als inneren Beobachter eines durch Projektion vermittelten Bildes der Außenwelt begreift.20 Wie Jutta Müller-Tamm gezeigt hat, entwickelt Descartes darüber hinaus eine Erkenntnismethode, in der der Begriff Projektion herangezogen wird, um das Verhältnis von Objekt und Idee gleichnishaft zu erläutern: „So wie in der perspektivischen Projektion die Gegenstände unähnlich, nämlich verzerrt wiedergegeben werden, um das Objekt adäquat abzubilden, so repräsentiert die Idee einen Gegenstand, ohne Ähnlichkeit mit dem Urbild aufzuweisen.“21 Descartes verweist in diesem Zusammenhang auf Zeichen und Worte, die es „als Bilder gibt, die unser Denken anregen können“ und „die in keiner Weise den Dingen gleichen, die sie bezeichnen. [...] Es genügt aber völlig, dass die Bilder den Gegenständen in wenigen Dingen gleichen. Ihre Vollkommenheit hängt sogar oft gerade davon ab, dass sie den Gegenständen nicht so ähnlich sind, wie sie es sein könnten. [...] So dürfen oft Bilder, um in ihrer Eigenschaft als Bilder vollkommen zu sein und die Gegenstände besser darzustellen, diesen häufig gerade nicht gleichen. Dasselbe müssen wir von den Bildern annehmen, die sich in unserem Gehirn bilden. Wir müssen dabei beachten, dass es hierbei darauf ankommt zu wissen, wie sie der Seele die Möglichkeit geben können, die verschiedenen Eigenschaften der Gegenstände, die sie darstellen, zu empfinden, und nicht, welche Ähnlichkeit sie mit ihnen haben.“22 Auch diese gleichnishafte Inanspruchnahme der Projektion bewegt sich, so Müller-Tamm, „ganz im Rahmen einer physikali_____________ 17 18 19 20 21 22

Vgl. dazu näher Bexte, Blinde Seher [Anm. 13], S. 17–36. Vgl. Rudolf Eisler, (Art.) Projektion. In: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hg. v. R. Eisler. Berlin 1929, Bd. 2, S. 502 ff.; Hans-Martin Sass, (Art.) Projektion. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie [Anm. 11], Sp. 1458–1462. René Descartes, Über den Menschen [1632], hg. v. Karl E. Rothschuh. Heidelberg 1969, S. 89. Vgl. Jutta Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg 2005, S. 102. Ebd., S. 102 f. René Descartes, Dioptrik, hg. v. Gertrud Leisegang. Meisenheim 1954, S. 89 f.

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schen Optik, die den Wahrnehmungsprozess als Bestandteil der Körpermechanik bis zum Entstehen der seelischen Vorstellung geometrisch ableitet. Obwohl also zwischen dem Gegenstand als Element der Außenwelt und dem Wahrgenommenen als Bestandteil des Intellekts keine bildliche oder gestalthafte Entsprechung besteht, basiert das Camera-obscuraModell des Auges auf der Vorstellung einer ungetrübten und nicht medialisierten Wahrnehmung der Gegenstände; es ist gleichsam ein Abbildverfahren höherer Ordnung, das Descartes‘ Modell der reinen Repräsentation auf diese Weise begründet.“23 Ausgehend vom Punkt des Denkenden wird mittels nachvollziehbarer Methoden eine metaphysische Begriffsstruktur entworfen, die den formalen Rahmen konkreter Erkenntnisse bereitstellt.24 Die Öffnung der Camera obscura entspricht hier dem Punkt, von dem aus der Verstand mit seinen eingeborenen Ideen qua Deduktion eine geordnete Projektion der Welt unternimmt. Mit seiner Basierung der Erkenntnistheorie auf das Modell der Camera obscura hat Descartes die Grundstruktur eines erkenntnistheoretischen Dispositivs geschaffen, das im Wesentlichen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts Verbindlichkeit besaß. Die Herausbildung der Anthropologie als neuer Wissensformation ließ die auf dem Dualismus von Geist und Körper beruhende und an eine mechanistische Körperkonzeption gebundene Bewusstseinsphilosophie fragwürdig werden. An ihr Ende gelangte diese Denkform allerdings erst durch die Etablierung der neuen Disziplin der Sinnesphysiologie, die sich für die organischen Grundlagen der Erkenntnis und damit für die Frage nach der Abhängigkeit des Wissens von der spezifischen Organisation und Materialität des Körpers und der Wahrnehmungsorgane interessierte, auf die Mariotte durch seine Experimente zum blinden Fleck gestoßen war. Obwohl die Experimente von Mariotte leicht nachvollziehbar und in ihren Ergebnissen nicht anfechtbar waren, konnten sie nicht in das Transparenzmodell des reinen Sehens integriert werden. Es waren vor allem die – mit den Namen von Goethe, Jan Evangelista Purkinje, Joseph Antoine Ferdinand Plateau und Gustav Fechner verbundenen – sinnesphysiologischen Experimente mit den Nachbildern auf der Netzhaut, in denen sich experimentalpraktisch die Abkehr vom klassischen Sehmodell bekundete.25 „Hatte man von Kepler und Descartes bis zu Newton optische Me_____________ 23 24 25

Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung [Anm. 20], S. 103. Vgl. Angelica Horn, Das Experiment der Zentralperspektive. Filippo Brunelleschi und René Descartes. In: Descartes im Diskurs der Neuzeit, hg. v. Wilhelm Friedrich Niebel, Angelica Horn u. Herbert Schnädelbach. Frankfurt a.M. 2000, S. 9–32, hier S. 10. Zum breiteren wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der Aufhebung der exklusiven Kopplung von Licht und Sehen vgl. Monika Renneberg, Sehen mit unsichtbarem Licht. Das Auge und andere optische Instrumente im frühen 19. Jahrhundert. In: Instrument – Expe-

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dien wie die Camera obscura als einen Reizschutz verstanden, mit dem nicht nur der direkte Blick in die Sonne, sondern auch das Delirium der Unvernunft und des Wahnsinns vermieden werden konnte, so war Fechner mit dem obstinaten Blick durch das Diopterloch an den Abgrund des Wahnsinns und zugleich des Schreibens gelangt. Denn was er als ,Photograph der Vorgänge‘26 erfahren hatte, war ein Reales, das sich im mathematischen Symbolismus bestenfalls anschreiben, im mystischen Symbolismus aber nur metaphorisieren ließ. Für den inneren Blick auf die Nachbilder stand dem Psychophysiker – im Gegensatz etwa zum Astronomen Jules Janssen – eben nicht die Fotoplatte als ,Netzhaut des Wissenschaftlers‘ und somit das technische Medium als ,Remedium‘ bereit, als Mittel zur Rückkehr in die Normalität.“27 Als einer der ersten Philosophen drückte Arthur Schopenhauer sein Ungenügen an der traditionellen Philosophie aus: „Eine Philosophie, welche, wie die Kantische, diesen [physiologischen] Gesichtspunkt für den Intellekt gänzlich ignoriert, ist einseitig und eben dadurch unzureichend. Sie läßt zwischen unserm philosophischen und unserm physiologischen Wissen eine unübersehbare Kluft, bei der wir nimmermehr Befriedigung finden können.“28 In der Folge ging es dann darum, im Rückgriff auf die Ergebnisse der neuen Wissenschaft der Sinnesphysiologie die ins Blickfeld getretene „Kluft“ zwischen philosophischem und physiologischem Wissen zu schließen. Wie Hans Martin Sass im Anschluss an Wolfgang Metzger ausgeführt hat, tritt nun „an die Stelle der Konstruktion der Welt durch den Rückschluß des Verstandes auf die Ursachen der Empfindung [...] entweder die Hypothese der Rückverlegung, zunächst auf den erregten Nervenbahnen bis zum Sinnesorgan (,Somatisierung‘)‘ oder aber weitergehend ,auf dem Weg der physikalischen Vorgänge bis zu dem reizaussendenden Gegenstand (,Projektion‘)‘.“29 Vergleicht man die Projektionskonzeptionen der Sinnesphysiologie mit denjenigen, die unter dem mentalistischen Paradigma formuliert worden sind, dann lassen sich zwei charakteristische Unterschiede festhalten. _____________

26 27 28 29

riment. Historische Studien, hg. v. Christoph Meinel. Berlin u. a. 2000, S. 242–249. Renneberg verweist auf zwei komplementäre epistemologische Neufassungen: „Zum einen waren nun Lichteigenschaften, die nicht auf den Sehsinn wirken, tatsächlich als Eigenschaften des Lichts denkbar. Zum anderen wurde das menschliche Auge als nicht für alle Lichteigenschaften empfänglich vorgestellt.“ (S. 246) Zugleich hält sie fest, „wie schwer es den Naturforschern um 1800 fiel, Licht als dem Sehsinn nicht zugängliches Licht zu denken.“ (Ebd.). Vgl. Claude Bernard, Einführung in das Studium der experimentellen Medizin. Biograph. eingef. u. kommentiert v. Karl E. Rothschuh. Leipzig 1961, S. 266. Burkhardt Wolf, Die Allseele hinterm Diopterloch. Fechners Psychographien im Licht von Mystik und Experimentalwissenschaft. In: Psychographien, hg. v. Cornelius Borck u. Armin Schäfer. Zürich u. Berlin 2005, S. 141–161, hier S. 159. Arthur Schopenhauer, zit. n. Crary, Techniken des Betrachters [Anm. 15], S. 84. Sass, (Art.) Projektion [Anm. 18], S. 1458.

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Der erste Unterschied besteht darin, dass die neuen Projektionskonzeptionen kaum mehr das Modell der Camera obscura zugrunde legen, von dem sie sich vielmehr unter Bezugnahme auf andere, neue Wahrnehmungstechnologien30 abzugrenzen bemühen; die Camera obscura, die noch im 18. Jahrhundert als Referenzmodell einer wahren Erkenntnis galt, beginnt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, diesen Status zu verlieren.31 Der zweite Unterschied ist, dass der Versuch einer Fundierung der Geistestätigkeit in der Körperlichkeit des Menschen mit einem Abbau der reflexiven Dimension der Erkenntnistheorie einhergeht. Verdeutlichen lassen sich beide Aspekte anhand von Carl Gustav Carus’ 1851 erschienener Physis und anhand von Otto Liebmanns Arbeit Über den objektiven Anblick aus dem Jahre 1869. Um die Überholtheit der traditionellen Vorstellungen von einem körperlosen, reinen Sehen und um die große Bedeutung der durch zahlreiche wahrnehmungsphysiologische Experimente nachgewiesenen Produktivität bzw. Mit- oder „Selbsttätigkeit“32 der organischen Grundlagen zu verdeutlichen, bedient sich Carus in der Nachfolge von Johannes Müller des Vergleichs der Funktionsweise des menschlichen Auges mit der Funktionsweise eines Daguerreotyp-Apparates, der Carus zufolge ein tieferes Verständnis der Natur des Sehens befördert.33 Der spezifische Aufbau des Apparates sowie die bestimmte chemische Zusammensetzung der lichtempfindlichen Schicht verweisen für Carus darauf, dass das Sehen ein Prozess ist, der nicht abgelöst von seinen am Sehprozess mitbeteiligten, „mitschaffenden“34 organischen Bedingungen zu betrachten ist. Mit dieser Einsicht tritt Carus an das klassische Sehmodell heran, wie es Descartes (in der Nachfolge Keplers) in seiner Dioptrik (1637) graphisch dargestellt und theoretisch fundiert hat: „Wenn man seine [des Auges] eigentümliche daguerreotypische Funktion sich wahrhaft klar zu machen vermag, so wird man alsbald einen weit andern und vollständigern Begriff vom Sehen erhalten, als wenn man nach der bisher hergebrachten Weise an ihm bloß seine Einrichtung als Camera obscura bewundert und damit sich begnügt zu verstehen, daß da drinnen von den äußeren Gegenständen ein kleines Bildchen abgespiegelt werde, ein Bildchen, vor welches sich dann freilich _____________ 30 31

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Dazu gehören u. a. das Diorama, das Stereoskop, die Telegrafie und die Fotografie. Zur Problematik der Transformation des medialen Bezugsrahmens der Philosophie im 19. Jahrhundert vgl. die Arbeiten von Crary, Techniken des Betrachters [Anm. 15]; Ulrike Hick, Geschichte der optischen Medien. München 1999; F. Schmieder, Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Zum Verhältnis von anthropologischem und historischem Materialismus. Berlin u. Wien 2004. Carl Gustav Carus, Physis. Zur Geschichte des leiblichen Lebens. Stuttgart 1851, S. 418 f. Vgl. ebd., S. 410 ff. Vgl. ebd., S. 420.

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erst wieder ein besonderes Seelen-Auge stellen müßte, um es gewahr zu werden; anstatt daß das Auge, als ein selbst durchaus seelisches Gebilde, davon doch nur dann wirklich erfahren kann, wenn jene als Bild erscheinende Strahlung sich wahrhaft in das Organ eingelebt hat. – Dahin also, meinen Lesern diesen wahren Sehprozeß, dieses wirklich so höchst wunderbare und merkwürdige daguerreotypische Einleben der Licht-Strahlungen in das Auge, möglichst begreiflich zu machen, werde ich hier besonders trachten, denn wer das begriffen hat, der weiß wirklich, was ,sehen‘ heißt, wer aber nur die Vorstellung von dem Bildchen hat, welches in der Augen-Camera obscura sich abspiegelt, der muß immer wieder ein neues Auge, und zu diesem wieder ein Auge und immer so fort ins Unendliche sich hinzudenken, und wird alsdann freilich bei dem letzten Auge ebenso im Dunkeln bleiben, als bei dem allerersten.“35 Das ergänzende Gegenstück zu dieser Auffassung bildet die Ansicht Liebmanns, dass zwischen der Entstehung einer Gesichtsempfindung und dem Anblick eines fertigen Gegenstandes „eine Translocation der empfundenen Qualitäten aus uns hinaus in den Raum hinein“ stattfindet: „Das sehende Subjekt versetzt den Inhalt seiner Gesichtsempfindungen durch einen geistigen Akt gerade an diejenigen Stellen im Außenraum, wo es dann den hellen farbigen Gegenstand erblickt. Nun kommt aber dieser Akt der Hinausverlegung oder Projektion des Empfundenen uns niemals in concreto zum Bewußtsein“; es ist also so, „daß der intellektuelle Faktor eine Projektion der Gesichtsempfindung vornimmt“.36 Die wahrgenommene Welt wurde mithin als projiziertes Bild einer subjektiven Reizkonfiguration aufgefasst. Diese Konzeption der projektiven Selbstversetzung erschien allerdings bald als erkenntnistheoretisch prekär, was um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer hitzigen Debatte um das Projektionsmodell beziehungsweise die ,Projektionshypothese‘ führte. Zwischen den Vertretern der Nativisten und der Empiristen wurde zentral darüber gestritten, „ob die Raumwahrnehmung ein intellektuelles Konstrukt aus nicht-räumlichen Empfindungen oder eine elementare physiologisch gegebene Sinnesfähigkeit sei.“37 Die verwirrende Unübersichtlichkeit der Diskussion kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass sich die Opponenten wechselseitig den Vorwurf machten, ein Projektionstheoretiker zu sein, und dass die dezidierten Gegenbegriffe zu ,Projektion‘ – wie etwa der von Richard Avenarius geprägte Begriff der Introjektion38 – durch den Begriff Projektion ersetzt werden konnten. Der tiefere Grund für dieses Dilemma liegt zum einen darin, dass die polaren Auffas_____________ 35 36 37 38

Ebd., S. 401. Otto Liebmann, zit. nach Sass, (Art.) Projektion [Anm. 18], Sp. 1460. Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung [Anm. 20], S. 117. Vgl. Richard Avenarius, Der menschliche Weltbegriff. Leipzig 31912, S. 67 ff.

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sungen auf denselben erkenntnistheoretischen Prämissen beruhten und mithin als perspektivische Entwürfe ein und derselben Diskursformation gelten können; als herausragende Figur, welche der Debatte die Fragestellungen und Begrifflichkeiten vorgegeben hatte, ist Johannes Müller anzusehen, dessen 1840 erschienenes Handbuch der Physiologie einen Referenzpunkt der Diskussion bildete. Eine zweite Ursache für die Unklarheiten liegt in den unterschiedlichen Graden der Metaphorizität beziehungsweise in der Diversität der Inhalte der begrifflichen Bestimmung von ,Projektion‘, die sich, so Müller-Tamm, auf ganz Unterschiedliches beziehen können: „auf das Verhältnis von Außenwelt und retinalem Bild bzw. Netzhautpunkten und Punkten im äußeren Raum, also auf den physikalisch bestimmbaren mathematisch konstruierbaren Anteil der Wahrnehmung; er kann physiologisch verstanden werden und das Verhältnis von retinalem Bild und zerebraler Repräsentation meinen; hier wiederum kann er annähernd wörtlich oder aber metaphorisch verstanden werden, als ein der Bildübertragung analoger Vorgang der Eins-zu-eins-Abbildung von Punkten oder als bloßer, nicht zu spezifizierender Vorgang der Übertragung; er kann psychophysiologisch die Beziehung von ,Empfindung‘ und ,Vorstellung‘ betreffen – diese Ebene wird vor allem beschritten beziehungsweise diese Begrifflichkeit verwendet, wenn es im 19. Jahrhundert um die Frage nach der Lokalisation der Gegenstände, nach Richtungsund Entfernungssehen geht –, und in dieser Form, als Unterschied und Akt zwischen Empfindung und Vorstellung gefasst, ist die Projektion mit der Problematik des Empfindungsbegriffs insgesamt belastet. Schließlich kann der Projektionsbegriff erkenntnistheoretisch orientiert sein und das Verhältnis von Vorstellung und Außenwelt oder Denken und Sein bezeichnen.“39 Die Konfusion dieser verschiedenen begrifflichen Bestimmungen und die Ausweglosigkeit der Debatte haben zu einer erkenntnistheoretischen Reflexion der Prämissen des Projektionsmodells geführt. Es trat jetzt ins Blickfeld, dass überhaupt erst das neuzeitliche System der Trennung der Empfindung von der bewussten Vorstellung das Projektionsmodell auf den Plan gerufen hat, dem die Aufgabe zufällt, „die begrifflich und empirisch nicht aufzufüllende Kluft zwischen Leib und Seele und die zwischen physikalischer, physiologischer und psychologischer Analyse des Wahrnehmungsaktes im Bild zu überbrücken. Insofern die wahrnehmungstheoretische Metapher der Projektion selbstreferentiell ist und das von ihr bezeichnete Verfahren selbst vollzieht, wurde sie auch erst an dem Punkt, an dem das Verhältnis von Gegenstand und Methode bzw. Modell und _____________ 39

Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung [Anm. 20], S. 118.

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Diskurs in den Blick geriet, wirklich problematisiert.“40 Auffällig an dieser Kontroverse um den Projektionsbegriff seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist es, dass sie mit einem Bedeutungsverlust des Paradigmas der geometrischen Optik und mit einer Verabschiedung des überkommenen Referenzmodells der Camera obscura verbunden war, an dessen Stelle neue Wahrnehmungstechnologien, allen voran die Fotografie, traten.41 In den erkenntnistheoretischen Debatten wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff Projektion häufig mit dem in den 1830er Jahren geprägten Begriff der ,Widerspiegelung‘ oder dem Begriff des Reflexes verknüpft. In dieser Bedeutung einer reflexologischen Kategorie führte Iwan Sechenov, der Begründer der russischen Experimentalphysiologie, den Begriff in den russischen Sprachraum ein.42 Parallel dazu lässt sich deutlich die Tendenz einer Austreibung der spekulativen Gehalte des Projektionsbegriffs erkennen. Als Folge aus der Einsicht in den metaphorischen Charakter des sinnesphysiologischen Projektionsbegriffs und der empirisch unzugänglichen Verbindung von psychischen Funktionen und anatomischen Gegebenheiten etablierte sich das Konzept des psychophysischen Parallelismus.43 Einer seiner prominentesten Vertreter, Wilhelm Wundt, stellte vor dem Hintergrund der Wirrnisse um den Projektionsbegriff die Forderung auf, den überkommenen spekulativen Begriff von Projektion preiszugeben und die Verwendung des Projektionsbegriffs auf jene Zusammenhänge zu beschränken, „welche eine angeborene oder mindestens eine fest gegebene Beziehung der Netzhautpunkte zu den Punkten im äußeren Raume voraussetzen“.44 Diese Auffassung gewann rasch allgemeinere Verbreitung. Die Befolgung des metaphysikkritischen Ansinnens von Wundt führte jedoch keineswegs zu einer Tilgung der metaphorischen Dimension bzw. der semantischen Überdeterminierung des Projektionsbegriffs. Vielmehr wurde der Versuch der Objektivierung des Begriffs zum Ausgangspunkt seiner Anbindung an neue mediale Referenzmodelle, die zu einer neuen metaphorischen Aufladung führten. _____________ 40 41 42 43 44

Ebd., S. 119. Vgl. Crary, Techniken des Betrachtens [Anm. 15]. Vgl. Ivan M. Sechenov, Reflexes of the brain [1863]. Cambridge, Mass. 1965, S. 41. Vgl. zur Begriffs- und Problemgeschichte dieses Konzepts Helmut Hildebrand, Psychophysischer Parallelismus, psychisches Problem und die Gegenstandsbestimmung der Psychologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 29 (1985), S. 147–181. Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig 1874, S. 632. Wie Manfred Sommer, Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt a.M. 1987, S. 147 festhält, hat Friedrich Albert Lange in der 1875 erschienenen zweiten Auflage seiner Geschichte des Materialismus die neuesten Forschungen über „Gehirn und Seele“ gewürdigt; Wundts Grundzüge werden von Lange gerühmt, weil der Verfasser das Programm einer „Zurückführung der Geistestätigkeit auf die Reflextätigkeit“ verficht; vgl. Sommer, ebd., S. 147 f.

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Bei dem Versuch der Hirnphysiologen, eine Brücke zwischen dem Hirn und physischen Funktionen zu konstruieren, hatte sich nach der Erfindung der Telegrafie die Metapher der Leitung aufgedrängt.45 Der durch die Ähnlichkeit zwischen Anatomie und funktionaler Wirkungsweise von Draht und Nerven provozierten Analogiebildung kam eine eminent praktische Bedeutung zu: Sie öffnete einen neuen Erfahrungs- und Verstehensraum, denn Nerven konnten als Überbringer elektrischer Impulse und damit als materielle Form eines Nachrichtensystems aufgefasst werden.46 Nach Theodor H. Meynerts Entdeckung zweier Typen von Nervenfasern in der Hirnrinde ließ sich das Konzept der Leitungsbahnen mit dem von Wundt metaphorisch gereinigten Projektionsbegriff verknüpfen. Meynert unterschied so genannte ,Projektionsfasern‘, die den Kortex mit tiefer gelegenen Hirnteilen und der Außenwelt verbinden, von so genannten ,Assoziationsfasern‘, welche eine Verbindung zwischen den KortexArealen untereinander herstellen. Im Falle der Vereinigung einer bestimmten Anzahl von Fasern zu einem Bündel spricht Meynert von ,Projektionssystemen‘.47 In seiner Weiterentwicklung der Assoziationstheorie hat Paul Flechsig dann die Begriffe des ,Projektionszentrums‘ und des ,Assoziationszentrums‘ eingeführt, um die Verbindung und den Verlauf der Leitungsbahnen, die Verbindungen zwischen den Sinneszentren und geistigen Zentren und insbesondere diejenigen zwischen den verschiedenen Rindenregionen zu konzeptualisieren. Der Assoziationstheorie gelang es damit, „einen Schritt weiter ins Gehirn hinein zu tun [...]. Waren die Windungen bis dahin als Monaden aufgefasst worden, von denen nicht recht klar war, wie die einzelnen Teile ein funktionelles Ganzes ergeben, deutete sich nun ein Weg an, Hirnfunktionen anatomisch fassen zu können.“48 Sigmund Freuds berühmter Entwurf zu einer Psychologie aus dem Jahre 1895 steht noch ganz im Banne dieser physiologischen Psychologie. Wie Rudolf _____________ 45 46 47

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Vgl. Christoph Hoffmann, Nervensystemtelegrafie. Organismus und Apparatur. In: KörperTopoi. Sagbarkeit – Sichtbarkeit – Wissen, hg. v. Dietmar Schmidt. Weimar 2002, S. 39–66. Vgl. Heinz-Peter Schmiedebach, ,Zellenstaat‘ und ,Leukozytentruppen‘ – Metaphern und Analogien in medizinischen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Der Deutschunterricht 5 (2003), S. 51–63. Vgl. Theodor H. Meynert, Neue Untersuchungen über Grosshirnganglien und Gehirnstamm. Wien 1881, S. 1. Dass Meynert sich ganz auf der Linie von Wundts definitorischer Neubestimmung von Projektion bewegt, lässt Freuds Kommentierung erkennen, die zugleich an die Urszene der Entstehung des neuzeitlichen Projektionsbegriffs erinnert: „Meynert nennt diese Abbildung eine Projection und einige seiner Bemerkungen lassen schließen, dass er in der Tat eine ,Projection‘, d. h. eine Abbildung Punkt für Punkt des Körpers in der Hirnrinde annimmt. In diesem Sinne deutet zum Beispiel der so häufige Vergleich der Hirnrinde mit der Retina des Auges [...].“ Sigmund Freud, Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie. Leipzig u. a. 1891, S. 49. Michael Hagner, Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung. Göttingen 2004, S. 197.

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Bühlmann gezeigt hat, ist es dieser wissenschaftliche Bezugsrahmen gewesen, innerhalb dessen Freud zuerst Bekanntschaft mit dem Projektionsbegriff macht, und höchstwahrscheinlich hatte er den Begriff der Projektion von seinem Lehrer Meynert übernommen, denn in seinen ersten Arbeiten, in denen Freud den Begriff Projektion verwendet, geschieht dies „genau im Sinne Meynerts“,49 bevor er dann im Zuge der Entwicklung der Psychoanalyse zu einer grundsätzlichen Neubestimmung des Begriffs im Rahmen seiner Theorie des Unbewussten gelangt. Zeitlich parallel und unbeeinflusst von der theoretischen Revolution Freuds entwickelt die empirische Psychologie ihren Projektionsbegriff im Sinne ‚fest gegebener neurophysiologischer Beziehungen‘ weiter. Von besonderer Bedeutung hierfür waren im 20. Jahrhundert die Informationstheorie beziehungsweise Kybernetik50 sowie die enormen Fortschritte der technischen Instrumente und Nachweisverfahren, die eine immer detailliertere Erfassung neuronaler Strukturen und Stoffwechselprozesse möglich machten. Im Zuge der Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Forschung lagerten sich an die überkommenen Projektionsbegriffe, wie etwa an die Begriffe ,Projektionsfaser‘ oder ,Projektionsbahn‘, die die sinnesphysiologische Wende zur Voraussetzung haben, neue Bedeutungsschichten an, oder es wurden neue Komposita gebildet. Ein Beispiel dafür ist der Begriff des Projektionsneurons, der auf dem 1891 von Wilhelm Waldeyer eingeführten Begriff des Neurons aufbaut.51 Dieser Begriff war für die Entwicklung der Hirnforschung von immenser Bedeutung. Mit seiner Hilfe konnte die Fixierung auf die Nervenfasern überwunden und eine Grundeinheit des Nervensystems konzipiert werden, die sowohl Anschluss an die körperbezogenen Zelltheorien als auch an die Modelle der Nachrichtentechnik ermöglichte. Charles Sherringtons Prägung des Begriffs ,Synapse‘ (1897) für die Schaltstelle zwischen den einzelnen Neuronen verlieh dem Begriff und der implizierten Fragestellung weitere Kontur, wie Austauschprozesse zwischen den einzelnen Neuronen funktionieren. Der Begriff des Projektiosneurons ist auf diese Bruch- und Übertragungs_____________ 49 50

51

Rudolf Bühlmann, Zur Entwicklung des tiefenpsychologischen Begriffs der Projektion. Zürich 1971, S. 29. Zur Verwendung des Begriffs Projektion im Zusammenhang der Kybernetik vgl. Warren S. McCulloch, Embodiments of mind. Cambridge, Mass. 1965, S. 371. Wie Cornelius Borck herausstellt, erklärt McCulloch hier in expliziter Anknüpfung an Helmholtz’ Projekt einer physiologischen Erkenntnistheorie die Neurophysiologie zur Fundamentalwissenschaft einer „experimentellen Epistemologie“, vgl. Cornelius Borck, Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie. Göttingen 2005, S. 315 ff. Vgl. Wilhelm Waldeyer, Über einige neuere Forschungen im Gebiete der Anatomie des Centralnervensystems. In: Deutsche Medicinische Wochenschrift 17 (1891), Nr. 44 ff., S. 1213–1218, 1244–1246, 1287–1289, 1331 f., 1350–1356, auch als Sonderdruck Leipzig 1891.

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stelle bezogen, und darüber hinaus dient er dazu, das Modell der elektrischen Erregung mit dem Modell der chemischen Informationsübertragung zu verknüpfen: Projektionsneuronen dienen der Reizübertragung und der Freisetzung so genannter Neurotransmitter, die ihrerseits als Aktions- und Überträgersubstanzen bezeichnet werden. Die Disziplinen der Neurochemie und Neurophysiologie haben das Wissen über die chemischen und physikalischen Grundlagen der Denkvorgänge erheblich erweitert. Andererseits können auch sie den qualitativen Graben zwischen physiologischen und psychologischen Vorgängen, auf den der Projektionsbegriff bezogen ist, nicht überspringen. So handelt der Begriff Überträgersubstanzen von psychoaktiven Botenstoffen, die für die Regulierung von Stoffwechselprozessen im Gehirn von zentraler Bedeutung sind; über metaphorische Transfers, logische Folgerungen oder den Inhalt von Gedanken sagt er nichts aus. Wie oben schon angedeutet wurde, lässt sich die Geschichte des Projektionsbegriffs nicht linear erzählen; sie ist charakterisiert durch ungleichzeitige Entwicklungen und eine Diskontinuität begrifflicher Konzepte, über die die Identität des Terminus leicht hinwegtäuschen kann. Einen markanten Einschnitt in der Entwicklung des Projektionsbegriffs bilden die begrifflichen Innovationen, die sich im Zusammenhang der Entwicklung der Psychoanalyse vollzogen haben. Ich deute einige Mittelglieder an, die als begriffliche Voraussetzungen für die kopernikanische Wendung des Projektionsdiskurses gelten können, wie sie in den Schriften von Sigmund Freud vollzogen wird: Einen wichtigen Kristallisationspunkt der Diskussion bilden Ernst Kapps Grundlinien einer Philosophie der Technik,52 die auf die Krise des Projektionsbegriffs der Sinnesphysiologie reagieren. Wie Wilhelm Wundt, so sieht auch Kapp keine Möglichkeit einer Schlichtung des Streits um den Begriff, und wie Wundt möchte auch Kapp die herrschende Konfusion im Verständnis desselben beenden und mit seiner Theorie der ,Organprojektion‘ den Projektionsbegriff auf eine neue und – wie Kapp meint – unwiderlegbare Grundlage stellen. Unwiderlegbar beansprucht die Konzeption der Organprojektion zu sein, weil sie hinter den nur scheinbar metaphorischen Relationen zwischen Anthropologie und Technik strukturelle Identitäten nachweisen möchte.53 Es geht Kapp also darum, eine eindeutige Repräsentationsbeziehung aufzudecken, die die Unschärfe der Begriffsbestimmung tilgt und den Bedeutungsstreit beendet. Wir „wenden uns zu einem Vorgang, dem es in Wahrheit zukommt, als Projection bezeichnet zu werden, da ihm nur solche Thatsachen zum Grunde liegen, welche eine Verschiedenheit der Ansichten gänzlich aus_____________ 52 53

Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Braunschweig 1877. Vgl. Borck, Hirnströme [Anm. 50], S. 102.

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schließen.“54 Kapp versteht seine Theorie als kulturhistorische Begründung der Erkenntnislehre. Ihr zufolge sind die menschlichen Werkzeuge und technischen Geräte, ja die gesamten kulturellen Institutionen als unbewusste Projektionen menschlicher Organe, mit anderen Worten als technische Nachbildungen körperlicher Konstruktions- und Funktionsprinzipien anzusehen. Die nachträgliche Bewusstwerdung der Projektion liefert Kapp zufolge den Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Wesens.55 Die zweite Projektionskonzeption, die aus der Krise der Erkenntnistheorie um 1870 erwächst, konfigurieren die kultur- und erkenntniskritischen Arbeiten von Friedrich Nietzsche. Der Begriff Projektion wird von Nietzsche in einem doppelten Sinne verwendet: Zum einen dient er in einem beschreibenden Sinne zur Charakterisierung diverser Formen menschlicher Geistestätigkeit.56 Zum anderen findet er sich in seiner Kritik der erkenntnistheoretischen Prämissen der Bewusstseinsphilosophie. „Der Mensch hat seine drei ,inneren Thatsachen‘, Das, woran er am festesten glaubte, den Willen, den Geist, das Ich, aus sich herausprojicirt – er nahm den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die ,Dinge‘ als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache. Was Wunder, dass er später in den Dingen immer nur wiederfand, was er in sie gesteckt hatte?“57 Nietzsche baut damit die negative Dimension des Projektionsbegriffs aus, der jetzt als Instrument zur Kritik einer ganzen Epoche des Philosophierens eingesetzt wird. Die bei Kapp vorgenommene Engführung von Projektionsbegriff und unbewusster Tätigkeit wird in Nietzsches Erkenntniskritik weiter profiliert und mit kritischen Vorzeichen versehen, womit die Wege vorgebahnt sind, die zu Freuds psychoanalytischem Projektionsbegriff führen. Als drittes schließlich ist der begriffsgeschichtlich bedeutsame Befund festzuhalten, dass ab der Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff sukzessive zur kritischen Kennzeichnung vorbürgerlicher, vorrationaler Weltdeu_____________ 54 55

56 57

Kapp, Grundlinien einer Philosophie [Anm. 52], S. 32. Kapps Theorie der Organprojektion ist wirkungsgeschichtlich sehr einflussreich gewesen und unter verschiedenen Konzepten reformuliert worden, vgl. dazu Robert Stockhammer, (Art.) Prothese. In: Grundbegriffe der Medientheorie, hg. v. Alexander Roesler u. Bernd Stiegler. Paderborn 2005, S. 210–213 mit Hinweisen auf Marshall McLuhans ,Extensions of Man‘, André Leroi-Gourhans Begriff der ,Exteriorisierung‘ u. a. – Nach der Preisgabe der geschichtsphilosophischen Hintergrundannahme einer organizistisch gedachten Rahmenvernunft lässt sich Kapps Konzeption in das Projekt einer offenen Epistemologie überführen, vgl. Borck, Hirnströme [Anm. 50], S. 103 f; zum Projekt einer offenen Epistemologie vgl. Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a.M. 1991. Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1988, Bd. 1, S. 4, 47 u. 88. Nietzsche, Götzendämmerung. Sämtliche Werke [Anm. 56], Bd. VI.3, S. 85.

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tungssysteme verwendet wird. Diese Übertragung lässt sich als verklausulierte Selbstkritik verstehen: In dem Maße, wie ihre eigene kulturellmediale Entwicklung den fetischistischen Umgang mit Bildern erneuert, erscheint den Erben der Aufklärung die traditionelle Religion unter den Bestimmungen der neuen technischen Form. Zum Gemeinplatz verfestigt hat sich dieses Quidproquo in den Auffassungen, unter den Verhältnissen der Religion werde eine phantastische Bildwelt ,projiziert‘, und der Kern des Unternehmens der Aufklärung bestehe in der Demaskierung der religiösen Projektionen.58 Einen Höhepunkt dieser Entwicklung markiert das Werk von Sigmund Freud. Wurde der Begriff am Beginn der Neuzeit zur Charakterisierung von Methoden einer rationalen Welterschließung verwendet, so dient er in Freuds psychologischen Schriften zur Charakterisierung unbewusster psychischer Abwehrmechanismen. Freud zufolge werden subjekteigene Inhalte, die das Subjekt nicht als eigene anerkennen kann, nach außen geworfen bzw. ,projiziert‘, so dass sie nun dem Ich als Zumutungen der Außenwelt erscheinen.59 Diese Konzeption von Projektion hat mit der sinnesphysiologischen nicht viel mehr als den Namen gemein. Freuds Psychoanalyse zielt auf die Erhellung eines verkörperten Geistigen, das mit traditionellen Denkmitteln nicht zu erschließen ist. Als verkörpertes Geistiges ist es anatomisch nicht greifbar, als verkörpertes Geistiges ein unbewusstes Wissen, das sich der Identitätslogik und den Methoden der traditionellen Hermeneutik nicht fügt. Für Freud hat das unbewusste Wissen eine körperliche Seite, aber den Zugang zu diesem Wissen eröffnet erst die psychoanalytische Technik im Medium der Sprache. Die Psychoanalyse operiert deshalb nicht mit dem Messer oder Laserstrahl, sondern prozediert als ,talking cure‘. Das Erkenntnisideal der empirischen Psychologie hängt demgegenüber ganz am „Phantasma eines sprachunabhängigen Wissens“.60 Auf der Basis seiner psychoanalytischen Einsichten und nach Maßgabe der Methode der Anwendung individualpsychologischen Wissens zur Erhellung kultureller Sachverhalte begreift Freud das Phänomen der Religion nach dem Vorbild der individuellen Erkrankung als kollektive Neurose: „Ich glaube in der Tat, daß ein großes Stück der mythologischen _____________ 58 59

60

Vgl. dazu näher Schmieder, Von der Methode [Anm. 2]. Vgl. Sigmund Freud, Manuskript H. Paranoia, Beilage zum Brief an Wilhelm Fliess vom 24. 1. 1895. In: Sigmund Freuds Briefe an Wilhelm Fliess 1887 – 1904, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson. Frankfurt a.M. 1986, S. 108 f. Vgl. auch: Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1994, S. 406. Sigrid Weigel, Phantombilder zwischen Messen und Deuten. Bilder von Hirn und Gesicht in den Instrumentarien empirischer Forschung von Psychologie und Neurowissenschaft. In: Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne, hg. v. Bettina von Jagow u. Florian Steger. Heidelberg 2004, S. 159–199, hier S. 174.

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Weltauffassung, die weit bis in die modernsten Religionen hineinreicht, nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie. Die dunkle Erkenntnis (sozusagen endopsychische Wahrnehmung) psychischer Faktoren und Verhältnisse des Unbewußten spiegelt sich – es ist schwer, es anders zu sagen, die Analogie mit der Paranoia muß hier zu Hilfe genommen werden – in der Konstruktion einer übersinnlichen Realität, welche von der Wissenschaft in Psychologie des Unbewußten zurückverwandelt werden soll.“61 Der Begriff wird damit zur Bezeichnung kollektiver Weltanschauungen verwendet, die eine adäquate Auffassung der Wirklichkeit per definitionem verhindern. Mit dieser – bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts noch undenkbaren – Negativisierung hat Freud die Basis gelegt für eine Verwendung des Begriffs als kritisches Instrument zur Charakterisierung irrationaler kollektiver Verhaltensweisen der modernen Gesellschaft. Über den Umweg der Religionskritik fand der Begriff seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts Eingang in die Soziologie und Politikwissenschaft. Während der Begriff – wie dargetan – auf einigen Feldern im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend mit negativen Bedeutungsgehalten angereichert wird, dringt er nach der sinnesphysiologischen Wende zugleich in neue Wissensbereiche vor, die er in positivem Sinne zu strukturieren verhilft.62 Dazu gehört etwa sein Auftauchen auf den Feldern der Wahrnehmungsästhetik, der Literatur der frühen Moderne63 und der Sprachwissenschaft.64 Es lässt sich sogar feststellen, dass er zeitgleich auf ein und demselben Feld in gänzlich entgegengesetzter Bedeutung benutzt wird, was zum einen – etwa auf dem Feld der Psychologie um die Jahrhundertwende – den verschiedenen Methoden65 und Erkenntnisinteressen geschuldet ist, zum anderen aber auch aus entgegengesetzten Welt_____________ 61 62

63 64 65

Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a. Frankfurt a.M. 1964, Bd. 4, S. 287 f. In diesem Zusammenhang ist auch die zur Negativisierung des Begriffs gegenläufige begriffliche Verbindung von Kunst und Projektion zu sehen, die sich in dem Kompositum ,Projektionskunst‘ realisiert. Dieser Begriff taucht in Deutschland vermutlich erstmals im Titel von Franz Paul Liesegangs Projektionshandbüchern auf, die in der 5. Auflage (1876) vom Titel ,Das Sciopticon‘ zu ,Die Projections-Kunst‘ wechseln. Zur französischen Herkunft der Neuprägung und zum weiteren Zusammenhang vgl. Jens Ruchatz, Licht und Wahrheit. Eine Mediumsgeschichte der fotografischen Projektion. München 2003, S. 225. Vgl. Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung [Anm. 20]. Vgl. zur Verwendung des Begriffs bei Ferdinand de Saussure und Roman Jacobson Anselm Haverkamp, Einleitung in die Theorie der Metapher. In: Theorie der Metapher, hg. v. A. Haverkamp. Darmstadt 1996, S. 1–27, hier S. 13–16. Zum Begriff der projektiven Testverfahren, der aus der Verbindung des von Hermann Rorschach entwickelten Formdeuteverfahrens mit psychoanalytischen Einsichten hervorgegangen (und als Begriff erst nach dem Tod von Rorschach geprägt worden) ist, vgl. Lawrence K. Frank, Projective Methods for the Study of Personality. In: Journal of Psychology 8 (1939), S. 389–413 sowie Peter Galison, Das Bild des Ich. In: Psychographien [Anm. 27], S. 111–140.

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auffassungen resultiert. So kommt es vor, dass sich die Vertreter der Kritischen Theorie einerseits und des Kritischen Rationalismus andererseits des Projektionsbegriffs bedienen, um den jeweiligen Gegner einer realitätswidrigen Anschauung zu zeihen. Der Begriff wird vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus innerdisziplinär zu einem politischen Kampfbegriff. Schließlich sind auch rekursive Entwicklungen nachweisbar, wie sich näher an Carl Gustav Jungs Revitalisierung des Projektionsbegriffs der Alchemie im Zusammenhang seiner gegen Freuds Psychoanalyse gerichteten Archetypenlehre zeigen ließe.66 Noch immer gilt weithin als Erkenntnisideal der Naturwissenschaften eine objektive, das heißt subjekt- und sprachunabhängige Erfassung der Wirklichkeit. Spätestens nach den Entwicklungen der Quantenphysik und der modernen Epistemologie ist dieses Ideal und die damit verbundene strikte Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften als Anachronismus anzusehen, denn unser Wissen über die Natur hängt an Apparaten und ist abhängig von sozialen und kulturellen Voraussetzungen, die in die Erkenntnisbildung und Gegenstandskonstitution einfließen. Diese Dialektik wird an den abschließenden Entwicklungen deutlich, die weitere Felder erfassen, auf denen der Projektionsbegriff eine strukturierende Bedeutung gewonnen hat. Es wurde oben herausgestellt, dass die technischen Projektionsapparaturen die materielle Voraussetzung für die Bildung des wahrnehmungstheoretischen Projektionsbegriffs der Bewusstseinsphilosophie waren. Dieser Begriff erfährt im Zuge der praktischen Experimente mit der Zentralperspektive und den Projektionstechniken eine Ausweitung auf zahlreiche neue Disziplinen, mit der weitere Wandlungen seines Bedeutungsgehaltes einhergehen. Von besonderer Bedeutung sind dabei neben der Mathematik und Geometrie die Optik, Kristallographie und Kartographie. Allgemein formuliert dient der Projektionsbegriff auf diesen Feldern immer der Charakterisierung von Repräsentationsverfahren, die ihre Gegenstände nach exakt berechenbaren Methoden konstruktiv abbilden. Das dominante Paradigma war dabei zunächst das Verfahren der Zentralperspektive, dessen Bedeutung in der Prägung des Begriffs der ,projektiven Geometrie‘ zum Ausdruck kommt. Die projektive Geometrie – als Teilgebiet der Geometrie – ist eine Erweiterung der euklidischen Geometrie. Hervorgegangen ist sie aus der perspektivischen Darstellung dreidimensionaler Gegenstände in der zweidimensionalen Ebene – ein Verfahren der Übersetzung, das niemals ohne Rest aufgehen kann. Ein wichtiges praktisches Anwendungsfeld ist die Kartographie. Schon den Pionieren dieser _____________ 66

Vgl. Carl Gustav Jung, Psychologie und Alchemie [1944]. Zürich 21952.

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Disziplin war bekannt, dass der vorgesehene praktische Zweck einer Karte für die Wahl des Projektionsverfahrens ausschlaggebend ist. Für die Darstellung von Geländeflächen und für die Bedürfnisse des Straßen-, Verkehrs- und Wasserbaus wurde vor allem die ,Parallelprojektion‘ relevant; die ,Zentralprojektion‘ fand vor allem Verwendung in der Architektur. Im Laufe der historischen Entwicklung der Kartographie wurden immer komplexere Repräsentationsverfahren entwickelt, die sich von der Anschaulichkeit immer weiter entfernt haben. Die komplizierten Modellbildungen sind nicht mehr anschaulich graphisch oder geometrisch zu erklären, sondern nur mehr mit Hilfe von Abbildungsvorschriften, die mathematisch ausgedrückt werden. Dies ist der Grund dafür, warum Johann Heinrich Lambert, der die ersten allgemeinen Untersuchungen über Kartenprojektionen angestellt hat, als Überbegriff für die kartographischen Verfahren den Begriff ,Entwerfungsarten‘ verwendet hat – moderne Kartographen sprechen von Kartennetzentwürfen.67 Daneben wurde, um die neuen Verfahren zu charakterisieren, die keine Projektionen in physikalischer Hinsicht mehr sind, da sie auf mathematischen Formeln oder spezifischen ,Projektionsoperatoren‘ beruhen, der Begriff der so genannten ‚unechten Projektionen‘ gebräuchlich. Die damit verbundene Lockerung der Bindung des Begriffs der Projektion an die geometrischen Darstellungsformen war die Voraussetzung dafür, dass der Begriff Projektion bald zur Charakterisierung jedweder, irgendwie geregelter, methodisch abgesicherter Darstellungsformen dienen und in dieser Form Eingang in zahlreiche andere Wissensgebiete finden konnte. Ein Beispiel dafür ist die Chemie. Bei vielen chemischen Verbindungen ist die Stellung der Atome im Raum entscheidend für ihre Eigenschaften, was eine Unterscheidung verschiedener Stereoisomere notwendig macht. Vor allem bei Kohlenstoffverbindungen ist es oft schwierig, die räumliche Ausrichtung der einzelnen Bindungspartner deutlich zu machen. Es wurden nun verschiedene Modelle entwickelt, die Raumstruktur chemischer Verbindungen eindeutig zweidimensional abzubilden. Diese Methoden werden bis heute als ,Projektionsmethoden‘ oder ,Projektionsformeln‘ bezeichnet und im Einzelnen näher nach ihren Erfindern benannt. Die Verfahren zur Ermittlung der Konfiguration verschiedener chemischer Substanzen sind die Voraussetzung für ihre erfolgreiche praktische Synthetisierung. Die moderne Chemie löst damit in gewisser Hinsicht den Traum der Alchemisten ein, die ihre Versuche der Transformation, Rekombination und Veredelung von Stoffen noch auf einer methodisch ungeregelten Basis unternommen hatten. _____________ 67

Vgl. Stockhammer, Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur. München 2007, S. 19–29, hier S. 21.

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Diese Erfolgsgeschichte ließe sich auch als Geschichte der Rationalisierung des Projektionsbegriffs schreiben. Die Politisierung und das schließliche Auseinanderbrechen des Begriffs nach der Erfahrung des ‚Zivilisationsbruchs‘ (Dan Diner) verweist jedoch zugleich auf fundamentale Ambivalenzen der Moderne, die sich am chronometrischen Projektionsbegriff speziell der Zukunftsforschung ablesen lassen. Seine Konstruktion vollzieht sich im Modus der Übertragung raumbezogener Darstellungsverfahren auf die Dimension der Zeit. In der chronometrischen Reduktion der ,verjüngenden Projektion‘ werden verschiedene historische Zeiträume miteinander in eine mathematisch darstellbare Beziehung gesetzt,68 Zukunftsprojektionen entstehen durch die Extrapolation historischer Entwicklungsreihen über die Gegenwart hinaus. Dass die Zukunft überhaupt zum Gegenstand empirisch verfahrender Wissenschaften werden kann, fußt auf technologischen und methodischen Voraussetzungen komplexer Rechentechnik und Statistik, wie sie erst das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat.69 Darüber hinaus basiert die Zukunftsforschung auf der Grundannahme einer determinierenden Macht der Vergangenheit, die aus strukturbedingten Sachzwängen erwächst. Die Urszene der neuen Disziplin liegt in der Vorausberechnung der Flugbahnen von Geschosskörpern, die nicht zufällig auch ,Projektile‘ genannt werden. Im Verlaufe der weiteren Entwicklungen dehnte sich das Spektrum der Projektionen der Zukunftsforschung, die zunächst Ballistik hieß, auf eine Vielzahl weiterer Felder aus: so auf die Entwicklung der Technik, des Energie- und Ressourcenverbrauchs, des Klimas u. a. m. Mit dem Übergang von der Betrachtung physikalischer Vorgänge zur Betrachtung kultureller Phänomene wachsen dem Begriff notwendig neue Dimensionen der Unschärfe zu, denn zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen, die von unzähligen Parametern abhängig sind, können nicht wie die Flugbahnen einmal abgeschossener Projektile exakt vorausberechnet werden. Die Zukunftsforscher wissen um die Metaphorizität des Begriffs bzw. um die Differenz zwischen der physikalischen und der erkenntnistheoretisch-approximativen Bedeutung, an die unterdessen die Frage des Überlebens der Gattung geknüpft scheint.70 Wenn mancher Wissenschaftler auch den Eindruck hat, als verlaufe die Globalisierung nach der Logik eines abgeschossenen Pfeils, so ist doch prinzipiell die Möglichkeit gegeben, die in der Tat er_____________ 68 69 70

Ein wirkungsgeschichtlich einflussreich gewordenes Beispiel für eine ,verjüngende Projektion‘ findet sich in Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gott – Natur. (Gemeinverständliche Werke, hg. v. Heinrich Schmidt-Jena, 3) Leipzig u. Berlin (1924), S. 22. Vgl. Norbert Wiener, Extrapolation, Interpolation, and Smoothing of Stationary Time Series, with engineering Applications [1942]. Cambridge, Mass. u. a. 1949. Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M. 1984, S. 66 ff.

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schreckenden Projektionen der Zukunftsforschung, die auf Millionen empirischer Daten beruhen, nicht eintreffen, nicht Wirklichkeit werden zu lassen. Im Rückblick auf die Ausführungen zeigt sich, dass sich zentrale paradigmatische Umbrüche in der Entwicklung des Projektionsbegriffs im Zusammenhang mit medialen Umbrüchen vollzogen haben: das mediale Apriori des bewusstseinsphilosophischen Projektionsdiskurses war die Camera obscura; die Leitmodelle der anthropologistischen Sinnesphysiologie waren die Telegrafie und die fotografische Platte; der tiefenpsychologische Projektionsbegriff Freuds entwickelte sich parallel zur Etablierung des Films, der Hugo Münsterberg als Apparat zur Vergegenständlichung der Traumvorgänge erschien.71 Dieser Zusammenhang ergibt sich keineswegs zufällig, und keineswegs zufällig ist es auch, dass es gerade der Projektionsbegriff ist, an dem dieser Zusammenhang deutlich wird. Wie dargestellt wurde, springt der Projektionsbegriff ein, um die Kluft zwischen empirischen und symbolischen Praxen oder die Differenz zwischen physiologischen und sprachlichen Befunden im Bild der Übertragung zu überbrücken. Die Entwicklung des Projektionsbegriffs lässt erkennen, dass diese Kluft bzw. Differenz prinzipiell unhintergehbar und nur auf der Grundlage kultureller Konventionen und medialer Praktiken analysierbar ist. Ändern sich diese, so erscheint die Kluft an einer neuen Stelle und in einem anderen Licht – sie kann aber aufgrund der Diversität der Methoden beziehungsweise der unhintergehbaren Differenz der Verfahren der Lokalisierung und der Frage nach Bedeutungen niemals eingeholt werden. Vor diesem Hintergrund kann man Projektion auch als eine absolute Metapher ansehen, wenn man mit und gegen Hans Blumenberg bedenkt, dass auch absolute Metaphern ihre Geschichte haben.72

_____________ 71 72

Vgl. Hugo Münsterberg, The Photoplay. A Psychological Study. New York 1916; dt.: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, hg. v. Jörg Schweinitz. Wien 1996. Hans Blumenberg rechnet das Höhlen-Gleichnis zur Vorgeschichte des Films, womit der spezifisch neuzeitliche Einsatz der Geschichte des Projektionsbegriffs und der damit verbundenen Probleme verfehlt wird, vgl. Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1996, S. 675; Müller-Tamm dagegen, die sich auf Blumenberg bezieht, betont diesen historischen Einsatz.

METAPHER UND ÜBERTRAGUNG

Dieter Teichert

Haben naturwissenschaftliche Begriffe eine Geschichte? Anmerkungen zum Zusammenhang von Metaphorologie und Begriffsgeschichte bei Hans Blumenberg 1. Vom Begriff zur Metapher Aus Metaphern können Begriffe werden. Und aus Begriffen können Metaphern werden. Für die Epistemologie und Wissenschaftstheorie ist der Weg von der Metapher zum Begriff von besonderem Interesse. Denn es handelt sich um eine bemerkenswerte Weise der Begriffsbildung. Einleitend soll der zweite Weg, der vom Begriff zur Metapher führt, kurz anhand zweier Beispiele vorgestellt werden. Der Begriff der ‚Seele‘ wird spätestens bei Aristoteles zu einem theoretischen Begriff und mit seinem Traktat De anima zu einem Element von Überlegungen und begrifflichen Klärungen, die heute dem Bereich der Psychologie zugeordnet werden. In Johannes Brahms’ erster Sonate für Violine und Klavier op. 78 hat der Text im 1. Satz in Takt 36 für die Violinstimme die agogische Anweisung ‚con anima‘:

Bei Brahms wird ‚con anima‘ als Anweisung für die Ausführung der Melodie durch die Violine gebraucht. Die Verwendung des Begriffs ‚anima‘ ist hier metaphorisch. Die Metapher präzisiert die Ausführungsweise für die Melodiestimme. Bei dem zweiten, ebenfalls musikalischen Beispiel wird der Begriff der Wärme metaphorisch gebraucht: Gustav Mahler schreibt im Adagio der nicht vollendeten Symphonie Nr. 10 im Takt 16 für die 1. Violine vor: ‚p aber sehr warm‘. Was hier mit dem Begriff ‚warm‘ gesagt wird, ist aber-

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mals metaphorischer Natur. Mahler verlangt keine bestimmte Raumtemperatur im Konzertsaal und er will auch nicht, dass die Musiker ihre Geigen aufheizen. Das adversative ‚aber‘ in ‚p aber sehr warm‘ präzisiert die Vorschrift. Offensichtlich verlangt Mahler zwar ein ‚piano‘, aber eine Artikulation des ‚piano‘, die intensiv und innig ist. Naturgemäß bedarf es

einer bewussten Gestaltung, um beide Tonqualitäten gleichzeitig zu erzielen. Meist gerät eine Passage leise und zurückgenommen, möglicherweise blass, oder forte und ‚warm‘. Gleichzeitig ‚piano‘ und ‚warm‘ ist etwas Spezielles, daher das warnende ‚aber‘. Natürlich kann man versuchen, in begrifflicher Rede zu erläutern, was es bedeutet, dass die Melodie ‚con anima‘ oder eine Passage ‚p aber sehr warm‘ ausgeführt werden sollen. Aber das entsprechende begriffliche Wissen ist lediglich ein Teil des praktischen Könnens, das als solches hier ausschlaggebend ist. Diesem praktischen Können des Musikers, das in eine komplexe Form der Überlieferung einer bestimmten musikalischen Praxis eingebettet ist, entspricht auf Seiten der Rezeption die Fähigkeit des Hörers, dem Gehörten eine bestimmte expressive Qualität zuzuschreiben, es als einen spezifischen Ausdruck wahrzunehmen.1 _____________ 1

Für eine Analyse des Konzepts der Ausdrucksqualität ist nach wie vor Nelson Goodmans Begriff der metaphorischen Exemplifikation zu empfehlen; vgl. Nelson Goodman, The

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2. Von der Metapher zum Begriff In den beiden angesprochenen Fällen des Übergangs vom Begriff zur Metapher handelt es sich um außerwissenschaftliche Formen des Sprachgebrauchs. Die umgekehrte Richtung – von der Metapher zum Begriff – ist für Hans Blumenberg zentral, denn sie verspricht, Aufschluss über den Prozess der Begriffsbildung zu geben. Somit handelt es sich um ein Thema, das für die Epistemologie, die Sprachtheorie, die Wissenschaftstheorie, die Wissenschafts-, Geistes- und Ideengeschichte von beträchtlichem Interesse ist und dessen Bearbeitung von erheblicher Bedeutung sein könnte. Blumenberg stellte das Projekt einer ‚Metaphorologie‘ 1960 erstmals vor.2 Dabei bestimmte er die Untersuchung der Metaphern und ihrer Geschichte als ein Unternehmen, das die „Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein“ bringt.3 Innerhalb dieser Horizonte und Sichtweisen erfahren dann ihrerseits einzelne Begriffe ihre Modifikationen: Metaphern indizieren Sinnhorizonte, Veränderungen der Metaphorik lassen Rückschlüsse auf Verschiebung der Sinnhorizonte zu und die Verschiebung von Sinnhorizonten bedingt die Veränderung von Begriffsbedeutungen. „Durch dieses Implikationsverhältnis bestimmt sich das Verhältnis der Metaphorologie zur Begriffsgeschichte [...]als ein solches der Dienstbarkeit: die Metaphorologie sucht an die Substruktur des Denkens heranzukommen [...].“4 Die folgenden Überlegungen beziehen sich primär auf den frühen Blumenberg und nehmen ihn hinsichtlich der Beziehung von Metaphorologie und Begriffsgeschichte beim Wort. Dass Blumenberg selbst und seine Interpreten das anfängliche Projekt Metaphorologie modifiziert haben, mag durchaus zutreffen. Zu klären wäre die Frage, wie diese Modifikationen im Detail vonstatten gehen. Erläuterungsbedürftig wäre in diesem Zusammenhang dann auch eine derzeit verbreitete Tendenz, Begriffsgeschichte durch Metaphorologie als Fundamentaldisziplin zu ersetzen oder die Unterscheidung von Begriff und Metapher zugunsten der Metapher aufzuheben. _____________ 2 3 4

Sound of Pictures. In: ders., Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis 1976, S. 45–95. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 7–142, hier zit. nach der Monographie-Ausgabe Frankfurt a.M. 1998. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13; vgl. ebenfalls die folgende Charakterisierung der Metaphorologie: „[E]ine Metaphorologie – als Teilaufgabe der Begriffshistorie und wie diese selbst als Ganzes – [hat] immer eine Hilfsdisziplin der aus ihrer Geschichte sich selbst verstehenden und ihre Gegenwärtigkeit erfüllenden Philosophie zu sein.“ (S. 111).

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Das bloße Faktum der Vagheit vieler Begriffswörter ist allerdings kein Grund für eine Verabschiedung der Begriffe. Denn Vagheit ist ebenso wie Eindeutigkeit eine kontextrelative Bestimmung. Diejenigen Autoren, die eine skeptische Einstellung zum Begriff einnehmen und eine Unterscheidung von Begriff und Metapher generell aufgeben, scheinen kaum die Konsequenzen zu überblicken, die sie mit diesem Manöver herbeiführen. Unter anderem berauben sie sich selbst der Möglichkeit, einen Begriff der Metapher zu verwenden. Blumenberg selbst jedenfalls kann nicht ohne weiteres für eine solche Strategie vereinnahmt werden, im Gegenteil: [T]atsächlich können wir auf Metaphern nicht ausweichen, wo Formeln möglich sind. Den Überfluß an Metaphern, den unsere Rhetorik produziert, können wir uns nur leisten, weil die Leistungsfähigkeit von Formeln unseren Spielraum bestimmt für das, was über die blanke Daseinssicherung hinausgreift, also auf das, was für uns Metaphern an Überschreitung der Formelhaftigkeit anbieten.5

In ähnlicher Weise hatte Blumenberg in einem 1971 im Archiv für Begriffsgeschichte publizierten Text festgestellt: Die Aufgabe nun, Metaphorik selbst noch in der internen Wissenschaftssprache aufzuspüren, zielt nicht auf deren mögliche ästhetische Umwertung, also nicht auf Erhaltung oder Erweckung von Vieldeutigkeit [...]. Die Metaphorologie hat deshalb keinen ästhetischen Aspekt, weil sie Vieldeutigkeit gerade nicht hinnimmt, sondern die Tendenz auf Eindeutigkeit der wissenschaftlichen Sprache akzeptiert.6

Für ein Verständnis der Metaphorologie und ihrer Relevanz für die Begriffsgeschichte ist es sinnvoll vier Aspekte der Metapher zu unterscheiden: 1. Metapher als Schmuck, Ornament der Rede: Es ist möglich das Gesagte ohne Metapher begrifflich zu artikulieren. Die ohne inhaltliches Defizit erreichbare begriffliche Bestimmung des semantischen Gehalts der Metapher geht aber im Regelfall mit einem Verlust an rhetorischen Qualitäten (Prägnanz, Eleganz, Anschaulichkeit und Ähnliches) der Rede einher. 2. Metaphern als vor-begriffliche Redeform. Es handelt sich um ein nicht-klares, nicht-deutliches Denken, das sich metaphorisch ausdrückt. Blumenberg spricht von dem „Vorfeld der Begriffsbildung“7 und thematisiert „Übergänge von der Metapher zum Begriff“.8 Mitunter wird davon ausgegangen, dass alle „Formen und Elemente über_____________ 5 6 7 8

Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1997, S. 100. Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern. In: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), S. 161–214, hier S. 191. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer [Anm. 5], S. 87. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie [Anm. 2], S. 117.

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tragener Redeweise [...] vorläufig und logisch überholbar [...]“ sind.9 Von manchen Logikern und Sprachphilosophen, die eine Idealsprache oder eine ‚Begriffsschrift‘ (Gottlob Frege) in Aussicht nahmen, wurden die Philosophie und die Wissenschaften insgesamt als metaphernfreie Zonen angepeilt.10 3. Metaphern als nicht durch Begriffe ersetzbare Diskurselemente (‚schwarze Milch der Frühe‘). 4. Noch mehr als Nichtreduzierbarkeit auf begriffliche Rede wird mit der These behauptet, welche die Metapher als eine notwendige Bedingung der Begriffsbildung zur Geltung bringt. Blumenberg spricht von „Grundbestände[n] der philosophischen Sprache“, die als „absolute Metaphern“ bezeichnet werden.11 Absolute Metaphern sind nicht durch die Begriffe zu ersetzen. Blumenbergs Begriff der absoluten Metapher hat viel Beachtung gefunden. Er selbst erläutert ihn wie folgt: „Absolute Metaphern beantworten jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden.“12 Nicht jedem Leser wird klar sein, welche Fragen das denn sind, die „wir [...] als im Daseinsgrund gestellte [...] vorfinden“. Das existenzialphilosophische Hintergrundrauschen, das diese Worte begleitet, kontrastiert mit dem ansonsten über weite Strecken dominierenden Stil nüchterner Abgeklärtheit und Sinnabstinenz. Blumenberg schlüsselt die Rede von den Fragen im Daseinsgrund nicht auf, sondern bestimmt die absolute Metapher durch den Hinweis, dass sie eine theoretische und eine pragmatische oder anthropologische Funktion erfüllen kann. Aus dieser Skizze einiger Momente der Metapher ergibt sich ein erster Hinweis für die Beantwortung der Frage ‚Braucht die Begriffsgeschichte eine Metaphorologie?‘. Tatsächlich liegt es nahe, die Begriffsgeschichte in einem Zusammenhang mit einer Metaphorologie zu bringen, weil Begriffe nicht fertig vom Himmel fallen, sondern gebildet werden.13 _____________ 9 10

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Ebd., S. 7. Gottlieb Frege, Bertrand Russell und der frühe Ludwig Wittgenstein sind die einflussreichsten Autoren, deren Sprachkonzeption von der Überzeugung getragen ist, dass eine ideale Sprache die Struktur der Wirklichkeit darstellen und alle Unklarheiten der Alltagssprache ausschalten kann. Die eindrücklichste Kritik dieses Programms hat Wittgenstein später in seinen Philosophischen Untersuchungen formuliert. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie [Anm. 2], S. 10. Ebd., S. 23. Wer so redet, vertritt anders als Frege, Russell und andere Logiker keine objektive Theorie des Begriffs. Bei Frege sind Begriffe prinzipiell unabhängig von natürlichen Sprachen sowie von den Denk- und Sprechakten konkreter Sprecher und Denker. Begriffe sind abstrakte Entitäten. Diese werden nicht durch das Denken und Sprechen der Menschen gebildet.

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Die Arten der Begriffsbildung sind zahlreich. Man muss nicht behaupten, dass immer metaphorische Prozesse relevant sind. Aber eine wesentliche Form der Begriffsbildung führt von Metaphern zu Begriffen und Blumenberg zeigt, dass in wichtigen Fällen, die ‚absolute Metapher‘ ein zentraler Bedingungsfaktor der Begriffsbildungen ist. In einem frühen Aufsatz hatte Blumenberg das in erhellender Weise am Zusammenhang zwischen dem Wortfeld ‚Licht‘ und ‚Sehen‘ sowie den Begriffen der Wahrheit, der Erkenntnis, des Wissens gezeigt.14 Eine Fülle von Redeweisen und von akademischen Terminologisierungen beweist, in welch hohem Maß die epistemischen Begriffe der Philosophie und Wissenschaften aus dem Feld der visuellen Wahrnehmung bezogen sind. ‚Evidenz‘, ‚Kontemplation‘, ‚Spekulation‘, ‚Aufklärung‘, ‚Erleuchtung‘ (‚illuminatio‘) sind ebenso einschlägig wie die rationalistische Schulterminologie der ‚claritas‘ und ‚obscuritas‘ der Ideen oder Repräsentationen, das ‚lumen naturale‘ oder die umgangssprachliche Wendung „Jetzt sehe ich“, wenn einem ein Licht aufgegangen ist, nachdem ein Diskussionspartner entnervt sagt: „Ja, siehst Du denn nicht, wie der Beweis funktioniert?“. Diese Sichtweise des Zusammenhangs von Metaphorik und Begriffsbildung ist weitgehend unbestritten. Strittig ist, welche Bedeutung dieser Zusammenhang für den Begriff des Begriffs hat. Handelt es sich um mehr als ein kontingentes Moment? Ist die Herkunft der Begriffe für Wahrheit, Erkenntnis und Wissen aus dem Bereich des Sehens mehr als eine Kuriosität oder auch ein geistesgeschichtlich aufschlussreiches Faktum, das aber für die systematische Klärung der Bedeutung von ‚Wahrheit‘, ‚Erkenntnis‘ und ‚Wissen‘ ohne Belang ist? Sind die begrifflichen Gehalte und die Funktionen der Begriffe nicht vollständig unabhängig von diesen Gene_____________

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Das Denken und Sprechen der Menschen nimmt – in unterschiedlicher Weise – Bezug auf diese unabhängigen objektiven Entitäten. Diese sind Voraussetzungen des erkennenden Denkens. Für einen Einblick in die logische, sprachphilosophische, kognitionswissenschaftliche Diskussion über den Begriff des Begriffs vgl. Edward Smith / Douglas Medin, Categories and Concepts. Cambridge, Mass. 1981; Morris Weitz, Theories of Concepts. A History of the Major Philosophical Tradition. London 1988; Frank C. Keil, Concepts, Kinds and Cognitive Development. Cambridge, Mass. 1989; Christopher Peacocke, Concepts. In: A Companion to Epistemology, hg. v. Jonathan Dancy u. Ernest Sosa. Oxford 1992, S. 74– 76; Peacocke, A Study of Concepts. Cambridge 1992; Georges Rey, Concepts. In: A Companion to the Philosophy of Mind, hg. v. Samuel Guttenplan. Oxford 1994, S. 185–193; Jerry A. Fodor, Concepts. Where Cognitive Science went Wrong. Oxford 1998; John Skorupski, Meaning, Use, Verification. In: A Companion to the Philosophy of Language, hg. v. Bob Hale u. Crispin Wright. Oxford 1999, S. 28–59; Nancy J. Nersessian, Conceptual Change. In: A companion to Cognitive Science, hg. v. William Bechtel u. George Graham. Malden, Mass. u. Oxford 1999, S. 157–166; Douglas Medin / Sandra R. Waxman, Conceptual Organization. In: ebd., S. 167–175; Concepts. Core Readings, hg. v. Eric Margolis u. Stephen Laurence. Cambridge, Mass. 1999. Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung. In: Studium Generale, 10 (1957), S. 432–447.

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sen? Um zu verstehen, was die in dem Satz ‚Das Wasser kocht‘ gebrauchten Begriffe bedeuten, um zu begreifen, dass dieser Satz in einer bestimmten Situation wahr ist, muss man – so die Metaphorologie-Skeptiker – nichts über die etwaigen metaphorischen Quellen des Begriffs ‚Wasser‘ wissen. Es kommt noch schlimmer: Die Anhänger einer Idealsprache, einer Begriffsschrift (Frege), einer objektiven Begriffstheorie bestreiten nicht nur die sachliche Bedeutung des Metaphorischen für die Bedeutungen der in den Theoriesprachen verwendeten Ausdrücke, sie sind auch mit Blick auf die Relevanz und Möglichkeit einer Begriffsgeschichte skeptisch eingestellt. Dabei spielt die Orientierung an den formalen Disziplinen – Logik und Mathematik – eine zentrale Rolle. Tatsächlich ist die Vorstellung einer Invarianz der Begriffsbedeutung ein Stück weit verständlich, solange man am Vorbild strenger Theoriebildung orientiert ist und davon ausgeht, dass die Bedeutung eines Begriffs B1 durch eine Definition exakt fixiert wird.15 Die Definition artikuliert den semantischen Gehalt deutlich und verbindlich. Eine Veränderung der Bedeutung führt dazu, dass man sagt, anstelle von B1 werde ein Begriff B2 gebraucht, der dann möglicherweise als Nachfolger zu bezeichnen ist. Allerdings ist nicht ersichtlich, weshalb es generell außerhalb des Bereichs von sehr speziellen, terminologisch hochstilisierten Spezialsprachen unangemessen sein sollte zu sagen, die Bedeutung von B1 habe sich verändert, sie sei enger, weiter usw. geworden.16 Bei allen diesen Bemerkungen ist vorausgesetzt, dass Begriffe nicht identisch mit einzelnen Lexemen sind. Das ist möglicherweise zunächst eine überraschende Feststellung. Die Unterscheidung von Begriff und Begriffswort ist aber von elementarer Bedeutung. Falls man Begriff und Begriffswort nicht unterscheiden würde, wäre unklar, wie man mit den Fällen zu Recht kommen könnte, in denen unterschiedliche Ausdrücke und Wörter als Artikulationen desselben Begriffs aufgefasst werden. Wenn Bernadette sagt „La fenêtre est ouverte“ und Fritz in derselben Situation _____________ 15 16

So etwa Winfried Schröder, Was heißt ‚Geschichte eines philosophischen Begriffs‘? In: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. v. Gunter Scholtz. (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 2000) Hamburg 2000, S. 159–172. „Ändern sich die Unterscheidungen, ändern sich auch die entsprechenden Begriffe, entstehen ‚neue‘ Begriffe. Allerdings haben solche Veränderungen nicht immer im wirklich strengen Sinne ‚neue‘ Begriffe zum Resultat. Vielmehr können Unterscheidungen, die äquivalenten Prädikatoren (als Darstellungen von Begriffen) zugrunde liegen, auch solche Veränderungen erfahren, die sich etwa als Erweiterung, Entfaltung oder Präzisierung der ursprünglichen Unterscheidung auffassen lassen. Es ist dann gerechtfertigt zu sagen, dass sich ein Begriff entwickelt oder dass es eine Unterscheidungsgeschichte bzw. B[egriffsgeschichte] gibt.“ Jürgen Mittelstraß, (Art.) Begriffsgeschichte. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaft, hg. v. J. Mittelstraß. Mannheim, Wien u. Zürich 1980, Bd. 1, S. 270–271, hier S. 271.

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sagt „Das Fenster ist offen“, dann liegt es nahe, festzustellen, dass beide dieselbe Überzeugung haben und denselben Begriff ‚Fenster‘ gebrauchen, auch wenn sie unterschiedliche Wörter verwenden, um den begrifflichen Gehalt zu artikulieren. Mit der Unterscheidung von Begriff und Begriffswort hat man noch keine positive Auskunft darüber erhalten, was Begriffe sind. Aber man erkennt, dass es nicht angeht, Begriffe ohne Umstände als Lexeme zu identifizieren. Für Blumenberg stellt sich die Frage nach der Berechtigung der Begriffsgeschichte überhaupt nicht und er behandelt auch das Verhältnis von Begriff und Begriffswort nicht. Er geht ohne weiteres von der Berechtigung der Begriffsgeschichte aus und betont die Verbindungen von Metaphorik und Begrifflichkeit. So verweist er etwa auf Kants Versuch, die Zeit als primäre Anschauungsform einzuführen. Dabei rekurriert Kant bekanntlich auf den Raum-Begriff. Dieser wird metaphorisch zur Verdeutlichung dessen eingesetzt, was als Zeit thematisiert wird. Widerspricht dieser Befund der Behauptung Kants über den Primat der Zeitanschauung oder handelt es sich um eine unproblematische Form der sprachlichen Formulierung der Sachlage?17 Aus der Perspektive der Ideen- und Philosophiegeschichte betrachtet ist Blumenbergs absolute Metapher zweifellos eine wichtige und außerordentlich fruchtbare Konzeption. Eine absolute Metapher ist eine nicht restlos in Begriffe aufzulösende Metapher, die den umfassenden Rahmen, den Sinnhorizont markiert, innerhalb dessen sich die gedankliche Arbeit, die Theoriebildung und möglicherweise auch die alltäglichen Verstehensprozesse vollziehen. Die absolute Metapher ist so etwas wie ein quasitranszendentaler Rahmen, der bestimmte Begriffsbildungen ermöglicht und trägt. Blumenberg präsentiert eine Fülle an Beispielen. Die Wahrheit als Licht, als tätige Kraft, durch die dem Individuum Erkenntnis möglich wird, ist eine absolute Metapher, der die Metapher der Wahrheit als Arbeit oder als Ergebnis der Arbeit des Subjekts gegenübersteht. Blumenbergs These bezüglich des Implikationsverhältnisses von Metaphorologie und Begriffsgeschichte besagt, dass die Begriffe der wissenschaftlichen Diskur_____________ 17

Die zentralen Überlegungen zum Zeitbegriff formuliert Kant in der Kritik der reinen Vernunft im 2. Abschnitt der transzendentalen Ästhetik (KrV, §§ 4–8) und in den Passagen, die den Analogien der Erfahrung (KrV, B 218–265) gewidmet sind. Ich gehe hier nicht auf die Details der Kant-Exegese ein, sondern begnüge mich mit diesem Blumenberg unterstützenden Beispiel der Rolle von Metaphern auf der fundamentalsten Ebene philosophischer Grundbegriffe. Zu Kant vgl. Peter Frederick Strawson, Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘. Frankfurt a.M. 1992; Paul Guyer, Kant and the Claims of Knowledge. Cambridge 1987; Georg Mohr, Transzendentale Ästhetik, §§ 4–8 (A30/B46–A49/B73). In: Immanuel Kant ‚Kritik der reinen Vernunft‘, hg. v. Georg Mohr u. Marcus Willaschek. Berlin 1998, S. 107–130; Bernhard Thöle, Die Analogien der Erfahrung (A 176/B218–A218/B265). In: ebd., S. 267–296.

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se, je nachdem im Bereich welcher absoluten Metaphern sie entwickelt werden, unterschiedliche Bedeutungen besitzen. Sowohl die Metaphern der Welt als Organismus, des Kosmos als Uhrwerk wie auch die Welt als ‚terra incognita‘ oder ‚unvollendete Welt‘ sind ‚absolute Metaphern‘. Die ‚terra incognita‘-Metapher verweist auf die Erfahrung des Zeitalters der Entdeckungsreisen, die den Horizont der ‚alten‘ Geografie sprengten. Die Metapher der unvollendeten Welt begreift den Kosmos als ein Artefakt, das seine endgültige, unveränderliche Gestalt nicht erreicht hat. Diese Konzeption ist der Antike und der mittelalterlichen Welt fremd. Es handelt sich um eine Leitvorstellung, eine umfassende Sinneinheit. Die ‚unvollendete Welt‘, das ist der allgemeine Rahmen des neuzeitlichen Denkens, eines Denkens, das sich als prinzipiell nicht abschließbaren Prozess der Forschung verstehen kann. Die Konzeption der absoluten Metapher wird zudem durch die Möglichkeit einer ‚Hintergrundmetaphorik‘ erweitert. Dabei handelt es sich um implizite Metaphern: eine Aussage wird interpretiert ausgehend von einer Metapher, die nicht explizit gebraucht ist, aber den Text in seiner eigentümlichen Bedeutung erschließt. Damit ist es möglich, auch dann leitende Orientierungen als operativ wirksam anzusetzen, wenn sie weder begrifflich noch in metaphorischer Form artikuliert sind.

3. Metapher und naturwissenschaftlicher Begriff Orientierende Annahmen und umfassende Modelle bestimmen die Arbeit der Wissenschaften. Diese Annahmen sind gerade nicht ausschließlich als begriffliche Überzeugungen fixiert. Sie sind in Form von Metaphern wirksam. Diese Metaphern lassen sich nur partiell, niemals komplett begrifflich auflösen. Sie haben einen vor-begrifflichen oder nicht-begrifflichen Gehalt. Einerseits vollzieht sich wissenschaftliche Theoriebildung als Arbeit innerhalb des durch absolute Metaphern aufgespannten Rahmens. Dieser Rahmen ist oft erst retrospektiv angemessen erkennbar. Der wissenschaftliche Verstand interessiert sich nicht für diese übergreifenden Zusammenhänge, sondern für die spezifischen Forschungsresultate. Insofern ist der wissenschaftliche Verstand aus guten Gründen blind für absolute Metaphern. Andererseits werden Theorien entwickelt durch Transformationen bestehender Theorien und durch Formulierung neuer Begriffe. Neue Begriffe können als Konstruktionen per Definition oder im Lauf der empirischen Forschung formuliert werden. Sie können auch – und darauf weist Blumenberg ausdrücklich hin – durch Umarbeitung von Metaphern gewonnen werden. Die theoretischen Begriffe werden ihrerseits außerhalb

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ihres primären wissenschaftlichen Kontexts gebraucht. Dies geschieht etwa in Form einer popularisierten Wissenschaft – so beispielsweise im Fall der alltäglichen Rede über ‚Teilchenbeschleuniger‘, ‚Schwarze Löcher‘, den ‚genetischen Code‘ oder die ‚string theory‘.18 Der Wandel vom geozentrischen Weltbild zum heliostatischen Weltbild, der mit der Arbeit des Nikolaus Kopernikus verknüpft ist, bildet ein klassisches Beispiel für einen Wechsel grundlegender Theorien in der Wissenschaftsgeschichte. Blumenberg hat der kopernikanischen Wende große Aufmerksamkeit gewidmet und sie mehrfach behandelt.19 Das Beispiel ist prominent, weil es sich nicht nur um eine Veränderung handelt, die von fundamentaler Bedeutung im Gebiet der Wissenschaften ist, sondern weil dieser wissenschaftliche Wandel Relevanz für außerwissenschaftliche Orientierungen hatte. Blumenberg diagnostiziert, dass die kopernikanische Arbeit einerseits oft als eine der drei klassischen Kränkungen aufgefasst wird, die dem hypertrophen Selbstverständnis des Menschen als Abbild eines allmächtigen Gottes zugemutet werden. Der Aufenthaltsort des Menschen ist nicht länger das unbewegte Zentrum des Kosmos. Neben Kopernikus sind es Darwin und Freud, die die Vorrangstellung des Menschen und sein Selbstbewusstsein erschüttern. Dieser beliebte Topos der Kränkungen ist allerdings nur bedingt akzeptabel. Das kann man bereits daran erkennen, dass die Zentralposition der Erde in der aristotelischen Kosmologie kein Ehrenplatz ist. Das aristotelische Weltmodell ist von der Peripherie her aufgebaut. Der Bereich jenseits der Fixsternsphäre ist der wichtigste. Dort befindet sich der unbewegte Beweger. Die Tätigkeit des unbewegten Bewegers bei Aristoteles besteht keineswegs darin, die Erde und den Menschen als das Zentrum der Welt zu denken. Das Denken des unbewegten Denkers ist ein Denken des Denkens. Die Erde, der Aufenthaltsort des Menschen ist der am weitesten von der Sphäre des unbewegten Bewegers _____________ 18

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Gebrauchsweisen und Funktionen medizinischer Begriffe als Metaphern im außerwissenschaftlichen Bereich werden von Susan Sontag in Illness as Metaphor (1977) und AIDS and its Metaphors (1989) untersucht. Gerade medizinische Begriffe sind außerordentlich instruktive im Hinblick auf die beiden hier thematisierten Richtungen semantischer Prozesse: Metaphorisierung des Begriffs und Begriffswerdung der Metapher. Blumenberg, Der kopernikanische Umsturz und die Weltstellung des Menschen. Eine Studie zum Zusammenhang von Naturwissenschaft und Geistesgeschichte. In: Studium Generale 8 (1955), S. 637–648; Kosmos und System. Aus der Genesis der kopernikanischen Welt. In: Studium Generale 10 (1957), S. 61–80; Metaphorisierte Kosmologie. In: ders., Paradigmen zu einer Metaphorologie [Anm. 2], S. 142–165 sowie in folg. Monographien: Kopernikus im Selbstverständnis der Neuzeit. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse, 1964) Mainz 1965; Die kopernikanische Wende. Frankfurt a.M. 1965; Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a.M. 21988; Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt a.M. 1975, 21985; Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981.

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entfernte Ort des Universums.20 Blumenberg hebt hervor, dass für Kopernikus die angebliche Kränkung des metaphysischen Narzissmus des homo sapiens nicht entscheidend ist. Im Gegenteil: [Obwohl] Kopernikus die Weltkonstruktion eingreifend verändern mußte, war seine Intention doch insofern ‚konservativ‘, als er erst dadurch dem Prinzip der durchgehenden Rationalität des Kosmos seine Geltung wahren zu können glaubte und damit ineins den Menschen wiederum als den durch sein theoretisches Vermögen im Bezugszentrum der Intelligibilität des Seins Stehenden auszuweisen unternahm. Diese Bewährung und Ausweisung an einem immer noch von seinem antiken Rang der Göttlichkeit her bestimmten, noch nicht zum Naturobjekt ni-

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Aristoteles, De caelo II 6, Met. XII, Phys. VIII. Die Bestimmung der Aktivität des unbewegten Bewegers (Denken des Denkens) ist in der Forschung umstritten; vgl. Hans Joachim Krämer, Grundfragen der aristotelischen Theologie. In: Theologie und Philosophie 44 (1969), S. 363–382 u. S. 481–505; Klaus Oehler, Der höchste Punkt der antiken Philosophie. In: Einheit und Vielheit. Festschr. f. Carl Friedrich von Weizsäcker, hg. v. Eberhard Scheibe u. Georg Süßmann. Göttingen 1973, S. 45–59. Der kosmologische und ‚theologische‘ Begriff eines ersten, unbewegten Bewegers wird als e)ne/rgeia bestimmt: die ihm eigentümliche innere Tätigkeit ist das Denken des denkendes Denken (no/hsiv noh/sewv no/hsiv) (Met XII 9, 1074b34). Diese spezielle Form innerer Tätigkeit/Wirklichkeit ist als höchste Seinsstufe keiner räumlichen oder temporalen Bestimmung zugänglich und sie ist auch nicht mehr als mit einer bestimmten Potentialität korrelierte Aktualisierung, sondern als reine Aktivität – ohne Werden und ohne gradierbare Abstufungen im Sinn der ‚xi/nesiv‘ – konzipiert. Im Zusammenhang mit der Konzeption eines ‚intellectus agens‘ aus De anima III, 4 macht dieser Begriff in der neuplatonischen und spekulativen Metaphysik spät- und nachantiker Zeiten Karriere. – In der Forschungsdiskussion ist nicht nur die Frage einer angemessenen Übersetzung von ‚e)ne/rgeia‘ umstritten, sondern es werden auch gegensätzliche Ansichten hinsichtlich des systematischen Schwerpunkt dieses Begriffs, seiner Konsistenz und seiner Funktion vertreten; vgl. John L. Ackrill, Aristotle’s Distinction between Energeia and Kinesis. In: New Essays on Plato and Aristotle, hg. v. Renford Bambrough. London 1965, S. 121–141; George A. Blair, Aristotle on ENTELEXEIA: A Reply to Daniel Graham. In: American Journal of Philology 114 (1993), S. 91–97; ders., Unfortuantely, it is a bit more Complex. Reflexions on Ene/rgeia. In: Ancient Philosophy 15 (1995), S. 565–580; ders., The Meaning of ‚Energeia‘ and ‚Entelecheia‘ in Aristotle. In: International Philosophical Quarterly 7 (1967), S. 101–117; ders., Energeia and Entelecheia. ‚Act‘ in Aristotle. Ottawa 1992; Chung-Hwan Chen, The Relation between the Terms ENERGEIA and ENTELEXEIA in the Philosophy of Aristotle. In: Classical Quarterly 52 (1958), S. 12–17; Daniel W. Graham, The Development of Aristotle’s Concept of Actuality. Comments on a Reconstruction by Stephen Menn. In: Ancient Philosophy 15 (1995), S. 551–564; Johannes Hübner, Die Aristotelische Konzeption der Seele als Aktivität in De Anima II 1. In: Archiv für die Geschichte der Philosophie 81 (1999), S. 1–32; Louis Aryeh Kosman, Substance, Being, and Energeia. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 2 (1984), S. 121–151; Stephen Menn, The Origins of Aristotle’s Concept of Ene/rgeia: Ene/rgeia and Du/namiv. In: Ancient Philosophy 14 (1994), S. 73– 114; Frederik P. Pickering, Aristotle on Walking. In: Archiv für Geschichte der Philosophy 59 (1977), S. 37–43; Timothy C. Potts, States, Acitivities and Performances. In: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplement 39 (1965), S. 65–84; Josef Stallmach, Dynamis und energeia. Untersuchungen am Werk des Aristoteles zur Problemgeschichte von Möglichkeit und Wirklichkeit. Meisenheim 1959; Zeno Vendler, Verbs and Times. In: Philosophical Review 66 (1957), S. 143–160.

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vellierten Gegenstand sollte für den menschlichen Geist eine reelle Selbstbestätigung, nicht eine metaphorische Selbstlokalisation bedeuten.21

Die Entdeckung der die alltägliche Erfahrung augenscheinlicher Sonnenbewegung widerlegenden Heliostatik bezeugt die Erkenntniskraft des Menschen. Als erkennendes Wesen steht der Mensch zwar nicht im räumlichen Mittelpunkt des Universums, aber er steht aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten an der Spitze. Dass das Werk des Kopernikus zunächst allgemein nicht als Kränkung aufgenommen wurde, wird durch ein Epigramm von Andreas Gryphius (1616–1664) bestätigt.22 Uber Nicolai Copernici Bild. Du dreymal weiser Geist / du mehr denn grosser Mann! Dem nicht die Nacht der Zeit die alles pochen kan / Dem nicht der herbe Neyd die Sinnen hat gebunden / Die Sinnen / die den Lauff der Erden new gefunden. Der du der Alten Traeum und Duenckell widerlegt: Und Recht uns dargethan was lebt und was sich regt: Schaw itzund blueht dein Ruhm / den als auff einem Wagen / Der Kreiß auff dem wir sind muß umb die Sonnen tragen. Wann diß was irrdisch ist / wird mit der Zeit vergehn / Soll dein Lob unbewegt mit seiner Sonnen stehn.

Hier wird deutlich, dass primär die theoretische Erkenntnisleistung Bewunderung hervorruft. Sie wird im Abschlussvers durch die metaphorische Gleichstellung mit der unverrückbaren Zentralstellung der Sonne nobilitiert, wobei die platonische Analogie von Sonne, Wahrheit, Unvergänglichkeit und Erkenntnis im Hintergrund wirksam ist. Keine Frage, der epochale Wandel, der oft mit dem Namen des Kopernikus verbunden wird – und vielleicht besser durch Kepler bezeichnet würde –, ist ein Musterbeispiel für Theoriegeschichte mit weit ausgreifenden Folgen.23 Aber ist dieser Wandel überhaupt ein begriffsgeschichtlicher Befund? Handelt es sich um ein Beispiel für die Veränderung eines Begriffs? _____________ 21 22

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Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie [Anm. 2], S. 145. Ich gebe mit typographisch veränderter Orthographie der Diphtonge die Text-Version der Reclam-Ausgabe: Andreas Gryphius, Uber Nicolai Copernici Bild. In: ders., Gedichte. Eine Auswahl, hg. v. Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 2003, S. 107; eine sorgsame Interpretation hätte die beiden im zweiten Band der Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke abgedruckten Varianten zu diskutieren; vgl. Gryphius, Oden und Epigramme, hg. v. Marian Szyrocki u. Hugh Powell. Tübingen 1964, S. 152 u. S. 187. Im Gegensatz zu dieser Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung stehen die von der Heliozentrik unbeeindruckten Passagen in: Georg Philipp Harsdörffer / Daniel Schwenter, Deliciae Physico-Mathematicae oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden [1636], Bd. 1, Neudr. eingel. u. hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt a.M. 1991. „Dem Ausmaß der kosmologischen Umwälzungen nach ist Kepler [...] ein bedeutenderer Neuerer als Kopernikus.“ Martin Carrier, Nikolaus Kopernikus. München 2001, S. 166; vgl. auch S. 174.

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Das kommt darauf an: man kann durchaus sagen, dass alles, was passiert, als Austausch relationaler Eigenschaften der Erde und der Sonne bestimmt werden kann. Die intrinsischen Eigenschaften der Erde und der Sonne bleiben erhalten. Es sind nicht die Begriffe ‚Erde‘ und ‚Sonne‘, die einen radikalen Begriffswandel durchmachen, sondern das Modell der Positionen beider Körper und der Bewegungsvorgänge wird insgesamt umgebaut. Statt unbeweglich im Zentrum der Bewegung der Sonne und der Planeten zu stehen, bewegt sich die Erde nun um die Sonne. Ob man sagen wird, dass dieser Theoriewandel eine Veränderung der Begriffe ‚Erde‘ und ‚Sonne‘ mit sich führt, hängt also davon ab, welche Relevanz diesen relationalen Eigenschaften oder den Eigenschaften der Beweglichkeit und Unbeweglichkeit zuzusprechen ist. Und das hängt offensichtlich von den Kontexten ab. Es scheint also möglich, dass theoretischer Wandel keine Begriffsgeschichte voraussetzt, falls Theoriegeschichte sich als Umstrukturierung eines Begriffsrepertoires vollzieht und nicht durch Einführung neuer oder Aussonderung alter Begriffe zu bestimmen ist. Aber müsste man nicht sagen: Kopernikus erkennt, dass der Begriff der Sonne dadurch festgelegt ist, dass seine Intension das Merkmal enthält, unbewegt zu sein? Und müsste man dann nicht sagen, der geozentrische Begriff der Sonne schließt gerade diese intensionale Eigenschaft aus? Und würde das nicht bedeuten, dass man zwar dasselbe Wort ‚Sonne‘ verwendet, dass aber dieses Wort nicht denselben Begriff artikuliert? Und ist dann der Wechsel von der Geozentrik zur Heliostatik überhaupt kein Wandel der Begriffsbedeutung und kein Beispiel für Begriffsgeschichte, sondern ein Beispiel für die Ersetzung eines Begriffs durch einen neuen? Eine anschauliche Unterstützung der Lesart, die den Wechsel von Geozentrik zu Heliostatik nicht als Revolution und nicht als Begriffsveränderung nimmt, liefern Diagramme, mit denen die beiden Weltmodelle anschaulich gemacht werden. Ein zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert entstandenes Diagramm in einer Handschrift des Macrobius-Kommentars zum ‚Somnium Scipionis‘ zeigt um die im Zentrum stehende Erde herum angeordnete Planetenbahnen.24 Im Manuskript von De revolutionibus des Kopernikus findet sich ein strukturell gleiches Diagramm, das im Zentrum die Sonne zeigt.25 Der Vergleich beider Darstellungen macht unmittelbar _____________ 24

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Es handelt sich um einen zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert entstandenen Codex, der sich in der Dombibliothek zu Köln befindet und in der exzellenten Präsentation der Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis zugänglich ist: http://www.ceec.uni-koeln.de (Stand: 15. 3. 2008). Der Codex 186 hat auf Nr. 98v ein Kreis-Diagramm mit dem von sieben Planetenbahnen umgebenen Erdkreis im Zentrum. Die äußere Planetenbahn ist ihrerseits von einem Kreis umschlossen, der die Namen des Tierkreises trägt. Nikolaus Kopernikus, De revolutionibus. Faksimile des Manuskriptes. Gesamtausgabe, hg. v. Herbert M. Nobis. Hildesheim 1974, Bd. 1, Blatt 9 verso.

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deutlich, wie wenig spektakulär die Veränderung der Stellung von Sonne und Erde im Modell ist. Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass es entscheidend ist, eine Vorstellung davon zu haben, wodurch die Identität von Begriffen bestimmt werden kann, wenn man sich mit der Möglichkeit und der Funktion von Begriffsgeschichte befasst. Auf welcher Grundlage kann man von der Geschichte eines Begriffes im Kontrast zur Ersetzung eines Begriffs durch einen neuen Begriff sprechen? Wann genau haben wir es mit der Geschichte eines Begriffs zu tun im Gegensatz zu einer Serie unterschiedlicher, einander ablösender Begriffe? – Blumenberg stellt diese Fragen nicht, denn er ist an einer systematischen Klärung des Begriffs des Begriffs ebenso wenig interessiert wie an einer Metapherntheorie. Blumenberg selbst führt Kopernikus in den Paradigmen zu einer Metaphorologie auch nicht als Beispiel für Begriffsgeschichte vor. Er erläutert den Weg vom Begriff zur Metapher mittels des Beispiels der kopernikanischen Wende.26 Die theoretische Dezentrierung der Erde wird nicht von Kopernikus selbst, aber von den späteren Bewunderern als eine ‚absolute‘ Metapher aufgefasst, als Metapher für eine Depotenzierung der Privilegposition des Menschen im Kosmos.27 In diesem Rahmen ist es in der Tat nicht zwingend, sich dafür zu interessieren, was ein Begriff ist und wie man die Kriterien der Identität eines Begriffs angeben kann. Aber es ist wohl lohnend im Zusammenhang mit Blumenbergs Akzentuierung des Zusammenhangs von Metapher und Begriff der Frage nachzugehen, inwieweit naturwissenschaftliche Begriffe eine Geschichte haben.

4. In welchem Sinn haben naturwissenschaftliche Begriffe eine Geschichte? Obwohl die begriffsgeschichtlichen Großprojekte28 inzwischen vollendet sind, gilt nach wie vor, was seit 1971 der Artikel Begriffsgeschichte im Historischen Wörterbuch der Philosophie feststellt: „Eine Theorie der B[egriffsgeschichte] _____________ 26

27 28

Blumenberg, Metaphorisierte Kosmologie. In: ders., Paradigmen zu einer Metaphorologie [Anm. 2], S. 142–165. „Diese Deutungen [...] haben mit dem Vorgang der kopernikanischen Reform als einem theoretisch-terminologischen Werk der Astronomie nichts zu tun. Sie nehmen, was da geschah und entdeckt wurde, nicht als Erkenntnis, nicht als Hypothese, sondern als Metapher !“ (S. 144). Ebd., S. 144. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. 7 Bde. u. e. Reg.bd. Stuttgart 1972–1997 [GG]; Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. 12 Bde. u. e. Reg.bd. Basel u. a. 1971–2007 [HWPh]; Ästhetische Grundbegriffe, hg. v. Karlheinz Barck u. a. 7 Bde. Stuttgart 2000–2005 [ÄGB].

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ist zur Zeit noch Desiderat“.29 Diese Diagnose zu wiederholen, heißt nicht, die vielfältigen theoretischen und methodologischen Überlegungen zu ignorieren, die in diesem Feld zwischenzeitlich angestellt wurden.30 Nur wird man nicht sagen können, dass diese Bemühungen bereits in eine Theorie der Begriffsgeschichte eingemündet sind, die den heterogenen und komplexen Problembereich insgesamt aufzuschlüsseln fähig ist. Gerade, weil die Arbeit an den Großprojekten zu einem Abschluss gekommen ist, besteht Anlass, die vorliegenden Resultate der Begriffsgeschichte auch daraufhin zu betrachten, inwiefern sie die Potentiale der Begriffsgeschichte ausgeschöpft haben. Zu Beisetzungsfeierlichkeiten oder Mumifizierungen der Begriffsgeschichte, wie Hans Ulrich Gumbrecht sie im Sinn zu haben scheint, bestünde nur dann Veranlassung, wenn tatsächlich alle wesentlichen Aspekte der Begriffsgeschichte hinreichend zur Geltung gebracht worden wären.31 _____________ 29 30

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Helmut G. Meier, (Art.) Begriffsgeschichte. In: HWPh [Anm. 28], 1971, Bd. 1, Sp. 788–807, hier Sp. 789. vgl. u. a. die Sammelbände: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. v. Reinhart Koselleck. Stuttgart 1979; Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. v. Gunter Scholtz. (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jg. 2000) Hamburg 2000; Herausforderungen der Begriffsgeschichte, hg. v. Carsten Dutt. Heidelberg 2003; Begriffsgeschichte im Umbruch, hg. v. Ernst Müller. (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jg. 2004) Hamburg 2005. – Im Archiv für Begriffsgeschichte finden sich neben den programmatischen Präsentationen des HWPh und der GG durch die Herausgeber (Ritter, Leitgedanken und Grundsätze des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. In: 11 (1968), S. 75–80; Koselleck, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit. In: ebd., S. 81–99) verschiedentlich Beiträge, die das Unternehmen der Begriffsgeschichte reflektieren: Hans-Georg Gadamer, Begriffsgeschichte als Philosophie. In: 14 (1970), S. 137–151; Heiner Schultz, Einige methodische Fragen der Begriffsgeschichte. In: 17 (1974), S. 221–231; Jakob Lanz, Begriffsgeschichte im Großversuch. In: 22 (1979), S. 7–29; Horst Günther, Begriffe in der Geschichte. In: 23 (1979), S. 99–105; Clemens Knobloch, Überlegungen zur Theorie der Begriffsgeschichte aus sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht. In: 35 (1992), S. 7–24; Franz-Hubert Robling, Probleme begriffsgeschichtlicher Forschung beim ‚Historischen Wörterbuch der Rhetorik‘. In: 38/39 (1995/1996), S. 9–22; Kari Palonen, Begriffsgeschichte und/als Politikwissenschaft. In: 44 (2002), S. 221–234; Rainer Wiehl, Gadamers philosophische Hermeneutik und die begriffsgeschichtliche Methode. In: 45 (2003), S. 1020. – Für den Bereich der Geschichts- und Sozialwissenschaften sind die Studien Kosellecks unverzichtbar: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979; Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2000; Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a.M. 2006. Hans Ulrich Gumbrecht, Pyramiden des Geistes. Über den schnellen Aufstieg, die unsichtbaren Dimensionen und das plötzliche Abebben der begriffsgeschichtlichen Bewegung. In: ders., Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München 2006, S. 7–36. Vgl. hierzu die konzise Kritik von Carsten Dutt, Postmoderne Zukunftsmüdigkeit. Hans Ulrich Gumbrecht verabschiedet die Begriffsgeschichte. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 1 (2007) 1, S. 118–122. Gumbrecht erwidert: (Un)dankbare Generationen. Eine Replik auf Carsten Dutt. In: ebd., 1 (2007) 3, S. 122–124. Abschließend: Dutt, Keine Frage des Alters. Eine Duplik. In: ebd., S. 125–127.

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Blumenberg weist daraufhin, dass die wissenschaftliche Theorie- und Begriffsbildung von übergreifenden Vorgaben abhängig ist, die im Rahmen der Wissenschaftstheorie und Theoriegeschichte oft unbeachtet bleiben. Seine Arbeiten konzentrieren sich auf diese Vorbedingungen und Ränder der Theoriebildung. Sie breiten in geistesgeschichtlicher Makroperspektive mit großer Bereitwilligkeit die Details der Texte akribisch aus und präsentieren eine Fülle geistes- und ideengeschichtlicher Verknüpfungen. Weshalb aber sollte man überhaupt neben Geistesgeschichte, Ideengeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Theoriegeschichte eine Begriffsgeschichte schreiben? Diese Frage stellt sich zumindest für alle diejenigen, die Begriffsgeschichte für mehr halten als für eine bloße Hilfsdisziplin. Dass Blumenberg keine Begriffsgeschichte im engeren Sinn betreibt, mag seinen Grund haben, denn vieles spricht dafür, dass es problematisch ist, die Geschichte eines isolierten naturwissenschaftlichen Begriffs zu erforschen. Begriffe kommen immer in ‚clustern‘ vor, sie stehen in Verbindung zu anderen Begriffen, zu Axiomen, Definitionen, Theorien. Die Begriffsgeschichte ignoriert diesen Sachverhalt nicht notwendigerweise, aber sie hat offensichtlich eine andere Konzeption der Sachlage als die Wissenschaftsgeschichte und die Philosophiegeschichte. Das hängt sicherlich auch mit der weitgehend terminologiegeschichtlichen und lexikologischen Arbeitsweise der Autoren von Handbuchartikeln zusammen. Sachlich lässt sich diese Reduktion von Begriffsgeschichte auf diachrone Lexikologie aber nicht begründen. Man kann Begriffe nicht mit einzelnen Lexemen identifizieren. Es ist sinnvoll, in diesem Zusammenhang an Überlegungen zu erinnern, die Ernst Cassirer über den Prozess der Begriffsbildung und seine Veränderungen insbesondere im Rahmen der mathematischen Naturwissenschaften angestellt hat. Cassirer – der in den Kulturwissenschaften primär als Autor der Philosophie der symbolischen Formen bekannt ist – hat sich intensiv mit der neuzeitlichen Erkenntnistheorie und der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften beschäftigt.32 Neben seinem vierbändigen Werk Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit sind vor allem seine Ausführungen in dem 1910 publizierten Buch Substanzbegriff und Funktionsbegriff – Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik aufschlussreich.33 _____________ 32

33

Der Ausdruck ‚forme symbolique‘ wird von Pierre Duhem in seinem Buch La Théorie physique. Son objet, sa structure (1906, 21914) verwendet, auf das sich Ernst Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff bezieht. Den Begriff der symbolischen Form gebraucht Cassirer erstmals 1921 in seiner Arbeit Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (Berlin 1921, 21922); vgl. die Hinweise bei Andreas Graeser, Ernst Cassirer. München 1994, S. 11. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Berlin 1906, Bd. 1; 1907, Bd. 2; 1920, Bd. 3: Die Nachkantischen Systeme sowie Bd. 4:

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Vor dem Hintergrund des Neukantianismus und im Kontext der Entwicklungen der modernen Naturwissenschaften stellte sich für Cassirer mit großer Dringlichkeit die Aufgabe, eine Konzeption der Begriffsbildung und ihrer Grundlagen zu erarbeiten. Dabei spielt die Begriffsgeschichte eine zentrale Rolle. So besteht das dem Erkenntnisproblem gewidmete Werk über weite Strecken aus historischen Studien zu einschlägigen Wissenschaftsbegriffen. Das die ‚Entstehung der exakten Wissenschaft‘ behandelnde zweite Kapitel des ersten Bandes etwa stellt Keplers Werk unter den drei Überschriften ‚Der Begriff der Harmonie‘, ‚Der Begriff der Kraft‘ und ‚Der Begriff des Gesetzes‘ vor. Cassirer betont, dass die naturwissenschaftlichen Begriffe weitgehend von den alltagsweltlichen Begriffen abgekoppelt sind. Die modernen Naturwissenschaften sind in unterschiedlichem Ausmaß – aber in zentralen Bereichen der Theoriebildung außerordentlich stark – bestimmt durch Logik und Mathematik.34 Die Differenz alltäglicher bzw. außerwissenschaftlicher Begriffsverwendung und naturwissenschaftlicher Begriffe ist in erster Linie auf einen Zuwachs an Komplexität und Präzision zurückzuführen, durch den ein Bezug auf substantielle Gegenstände in den Wissenschaften an Bedeutung verliert.35 Die mit den logischen und mathematischen Mitteln gebildeten Funktionsbegriffe haben aufgrund ihres Artefaktcharakters keine direkte Anbindung an außerwissenschaftliche Sprachformen und Anschauungen mehr.36 Es handelt sich um Konstruktionen und Instrumente der Erkenntnis, die in speziellen theoretischen Zusammenhängen ihre spezifische Funktion erfüllen. Sie gewinnen ihre Bedeutung ausschließlich innerhalb dieser theoretischen Rahmenbedingungen. Diese – durch die Lektüre der Arbeiten Pierre Duhems – angeregte Sicht_____________

34

35 36

Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932). Zürich 1957; Repr. Darmstadt 1995, Bd. 1 u. 1991, Bd. 2–4; ders., Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Berlin 1910, 21923, Repr. Darmstadt 1994. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff [Anm. 33], S. 429: „Die idealen Zusammenhänge, von denen die Logik und Mathematik sprechen, sind die gleichbleibenden Richtlinien, nach denen die Erfahrung selbst in ihrer wissenschaftlichen Gestaltung sich orientiert. Diese Funktion, die sie stetig erfüllen, ist ihr dauernder und unverlierbarer Gehalt, der sich gegenüber allem Wandel des zufälligen Erfahrungsstoffes als identisch behauptet [...].“ [kursiv i.O. gesperrt]. Ebd., S. 431: „Die Identität, der der Gedanke fortschreitend zustrebt, ist nicht die Identität letzter substantialer Dinge, sondern die Identität funktionaler Ordnungen und Zuordnungen.“ Ebd., S. 302 f.: „Keiner der Grundbegriffe der Naturwissenschaft läßt sich als Bestandteil der sinnlichen Wahrnehmung aufweisen und durch einen unmittelbar entsprechenden Eindruck belegen. Immer deutlicher hat es sich vielmehr gezeigt, daß das naturwissenschaftliche Denken, je weiter es seine Herrschaft ausdehnt, um so mehr zu begrifflichen Konzeptionen gedrängt wird, die im Gebiet der konkreten Empfindungen kein Analogon mehr besitzen.“ [kursiv i.O. gesperrt].

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weise kann man als Cassirers Holismus der Begriffsbedeutung bezeichnen.37 Man könnte gegen Cassirer einwenden, dass der Verlust der Anschaulichkeit der Theorie partiell kompensiert wird durch didaktische Illustrationen, Diagramme usw. Aber Cassirer würde darauf erwidern, dass die Illustrationen von Theoriestücken der modernen Astronomie oder der Theoretischen Physik pädagogisch zwar legitim sein mögen, systematisch aber anachronistisch sind. Denn die Anschauung ist nicht mehr der adäquate Weg, um zu begreifen, was die Theorie mit ihren mathematischen und logischen Strukturen behauptet. Die Beobachtungsdaten dieser Theorien sind in einem außerordentlich hohen Maß instrumentell vermittelt, mathematisch oder diagrammatisch formatiert, in jedem Fall theoriegeladen. Sie lassen sich ohne Verlust nicht in alltagsweltliche Wahrnehmungsbegriffe übersetzen. Mit Blick auf die Quantenphysik schreibt Cassirer: Geht man von den ersten Atommodellen aus, so scheint durch sie die Forderung der Anschaulichkeit in höchstem Maße befriedigt. Man glaubt, durch sie gewissermaßen unmittelbar in die Welt des Atoms hineinblicken zu können, und der Mikrokosmos stellt sich uns hierbei in genau derselben Gestalt wie der Makrokosmos dar. [...] Aber diese Einfachheit des Bildes verschwand im weiteren Ausbau der Theorie mehr und mehr. [...] In seinem Aufsatz ‚Atomtheorie und Mechanik‘ (1925) spricht Bohr es als seine Überzeugung aus, daß es bei dem allgemeinen Problem der Quantentheorie sich nicht um eine auf Grund der gewöhnlichen physikalischen Begriffe beschreibbare Abänderung der mechanischen und elektrodynamischen Theorien handelt, sondern um ein tiefgehendes Versagen der raum-zeitlichen Bilder, mittels welcher man bisher die Naturerscheinungen zu beschreiben suchte. Ohne eine ‚Resignation hinsichtlich der Wünsche nach Anschaulichkeit‘ ließ sich die Atomphysik nicht aufbauen. 38

Die Veränderung der Begriffsbildung tangiert nicht nur die anschauliche Vorstellbarkeit, sie betrifft den logischen und ontologischen Status des ‚Gegenstands‘. Die Rede von einem Wandel, der von Substanzbegriffen zu Funktionsbegriffen führt, betrifft den Umstand, dass zentrale naturwissenschaftliche Begriffe nicht mehr durch den Bezug auf ein substantielles Einzelding bestimmt werden können. Cassirer zitiert Werner Heisenberg, _____________ 37

38

Ebd., S. 194: „[D]ie Gültigkeit des physikalischen Begriffs beruht nicht auf seinem Gehalt an wirklichen, direkt aufzeigbaren Daseinselementen, sondern auf der Strenge der Verknüpfung, die er ermöglicht. In diesem Grundcharakter bildet er die Erweiterung und Fortsetzung des mathematischen Begriffs. [...] Der einzelne Begriff kann daher niemals für sich allein an der Erfahrung gemessen und beglaubigt werden, sondern er erhält diese Bestätigung stets nur als Glied eines theoretischen Gesamtkomplexes. Seine ‚Wahrheit‘ bekundet sich zunächst in den Folgerungen, zu denen er hinführt; in dem Zusammenhang und der systematischen Geschlossenheit der Erklärungen, die er ermöglicht. Jedes Element bedarf hier des anderen zu seiner Stütze und Rechtfertigung; keines läßt sich aus dem Gesamtorganismus herauslösen und in dieser Sonderung darstellen und prüfen.“ [kursiv i.O. gesperrt]. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit [Anm. 33], Bd. 4, S. 122 f.

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der darauf hinweist, dass das Atom zunächst nur „‚[...] durch eine partielle Differentialgleichung in einem abstrakten vieldimensionalen Raum [symbolisiert werden kann]. Für das Atom der modernen Physik sind alle Qualitäten abgeleitet, unmittelbar kommen ihm überhaupt keine materiellen Eigenschaften zu; d. h. jede Art von Bild, das unsere Vorstellung von Atom entwerfen möchte, ist eo ispo fehlerhaft. [...].‘“ 39 Die Betonung des konstruktiven Charakters der Begriffsbildung scheint mit Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriffen einherzugehen, die man in ihren Grundlinien als anti-realistisch bestimmen kann. So schreibt Cassirer: Die universellen Wahrheiten der Logik und Mathematik entziehen sich nicht nur der empiristischen Begründung, sondern sie scheinen auch jede Beziehung zur Welt der empirischen Gegenstände entbehren zu können. Ihre Apriorität stützt sich auf ihre ‚Daseinsfreiheit‘ und gilt nur in dem Maße, als diese Bedingung erfüllt ist. In dem Augenblick, in dem der Gedanke sich der empirischen Existenz der Gegenstände zuwendet, scheint er sich daher von dem eigentlichen Fundament seiner Gewißheit loszulösen. Wahrhafte Einsicht in die Notwendigkeit eines Zusammenhangs läßt sich nur dort erreichen, wo wir darauf verzichten, irgend etwas über die Wirklichkeit der Elemente, die in die Relation eingehen, zu behaupten und auszumachen. Dennoch kann es bei dieser unbedingten Trennung [...] nicht bleiben: da schon die bloße Möglichkeit der mathematischen Naturwissenschaft ihr widerstreitet. Denn in dieser sind die beiden Wissenstypen, die hier einander entgegengestellt werden, wiederum unmittelbar auf einander bezogen: das empirische Sein selbst ist es, das wir in der Form rationaler mathematischer Ordnungen zu fassen und zu begreifen suchen.40

Die Vorstellung einer direkten Abbildung oder Repräsentation der Realität durch die Theorien wird durch Cassirer als unzureichend zurückgewiesen. Der Wahrheitsanspruch der Wissenschaften wird dadurch nicht tangiert, aber modifiziert: Wirklichkeit wird zu einem Grenzbegriff.41 Die Wirklichkeit selbst wird naturwissenschaftlich nicht mehr als Gesamtzusammenhang aller uns in alltäglicher Einstellung begegnenden Dinge und der zwischen ihnen bestehenden Relationen gedacht. Insofern die theoreti_____________ 39 40 41

Ebd., Bd. 4, S. 123. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff [Anm. 33], S. 425. Ebd., S. 427: „Die Eine Wirklichkeit kann nur als die ideale Grenze der mannigfach wechselnden Theorien aufgezeigt und definiert werden; aber die Setzung dieser Grenze selbst ist nicht willkürlich, sondern unumgänglich, sofern erst durch sie die Kontinuität der Erfahrung hergestellt wird.“ u. S. 428: diese „Begriffe gelten, nicht sofern sie ein gegebenes starres Sein abbilden, sondern sofern sie einen Entwurf zu möglichen Einheitssetzungen in sich schließen, der sich in der Ausübung, in der Anwendung auf das empirische Material fortschreitend bewähren muß.“ – S. 423: „‚Wahr‘ heißt uns ein Satz, nicht weil er mit einer festen Realität jenseit [sic] alles Denkens und aller Denkbarkeit übereinstimmt, sondern weil er sich im Prozeß des Denkens selbst bewährt und zu neuen fruchtbaren Folgerungen hinleitet. Seine eigentliche Rechtfertigung ist die Wirksamkeit, die er in der Richtung auf die fortschreitende Vereinheitlichung entfaltet.“

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Dieter Teichert

schen Konstruktionen jeweils von nachfolgenden Theorien abgelöst werden, hat der Prozess der Wissenschaft eine Geschichte. Aber dies ist nur für die externe Beobachtung erkennbar. Innerhalb des Bereichs der naturwissenschaftlichen Begriffsbildungen selbst bleibt die Dimension der Geschichtlichkeit peripher. Die Spannung zwischen einer als unveränderlich angesetzten Bedeutung der Begriffe, auf die sich die Theoretiker in ihren systematischen und konstruktiven Schritten stützen, und dem Wandel der Bedeutungen, den die Begriffsgeschichte herausstellt, lässt sich nicht einfach zugunsten einer der beiden Seiten lösen.42

_____________ 42

Ebd., S. 359: „Und immer schärfer prägt sich nunmehr der Widerstreit aus: wenn die Objekte nur als Vielheit Bestand haben, so ist dem Subjekt die Forderung der Einheit wesentlich, wenn zum Wesen der Wirklichkeit das Moment der Veränderung und der Bewegung gehört, so sind es dagegen Identität und Unwandelbarkeit, die vom echten Begriff gefordert werden.“ [kursiv i.O. gesperrt].

Christian Strub

Von der ‚Großen Kette der Wesen‘ zur ‚Kette der Cultur‘? Eine Frage zur Verbindbarkeit von Traditionsgehalten Das Konzept der Kette wird seit Homer1 dazu benutzt, um basale Strukturen des menschlichen Selbstverständnisses darzustellen. Ich will zunächst kurz die m. E. fünf wesentlichen Gebrauchskontexte des Kettenkonzepts skizzieren (A.).2 Die für die Begriffsgeschichte relevante methodische Frage, die mich im Anschluss daran interessiert, lautet schlicht: Hängen diese Gebrauchskontexte überhaupt zusammen und wenn ja nach welchem Muster? (B.)

A. Fünf Gebrauchskontexte des Kettenkonzepts Ich etikettiere die fünf Gebrauchskontexte des Kettenkonzepts wie folgt: (1) Die Kette der Ursachen; (2) Die Große Kette der Wesen; (3) Die Kette der Ideen; (4) Die Kette der Wahrheiten; (5) Die Kette der Tradition bzw. Kultur bzw. Bildung. 1. Die Kette der Ursachen Mittels des Begriffspaars von Ursache und Wirkung kann ein äußerst stabiler Zusammenhang aller Ereignisse in der Welt untereinander gedacht werden: Es gibt nichts in der Welt, das nicht verursacht wäre. Determinismus ist die philosophische Theorie, die behauptet, jeder Zusammenhang zwischen Elementen der Welt sei ‚restlos‘ mit dem UrsacheWirkungsschema zu beschreiben. Die Gesamtheit aller Zusammenhänge kann man Schicksal nennen. Das erste ausgearbeitete philosophische Konzept des Schicksals (heimarmene, fatum) findet sich in der Stoa. In dieser _____________ 1 2

Homer, Ilias 8, 18–27. Ich kann Material, das die im ersten Teil gemachten Behauptungen angemessen belegt, hier nicht ausbreiten; sie haben deshalb stark thetischen Charakter. Das Material für eine Geschichte des Kettenkonzepts ist etwas ausführlicher präsentiert in: Christian Strub, (Art.) Band, Kette. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. v. Ralf Konersmann. Darmstadt 2007, S. 23–34.

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Christian Strub

stoischen Tradition beschreibt am schönsten Leibniz in seinem kurzen Text Von dem Verhängnisse das Schicksalsprinzip als Kausalprinzip mit dem Kettenkonzept: „Daß alles durch ein festgestelltes Verhängniß herfürgebracht werde, ist eben so gewiß, als daß drey mal drey neun ist. Denn das Verhängniß besteht darin, daß alles an einander hänget wie eine Kette, und eben so unfehlbar es geschehen ist, wenn es geschehen.“3 Mit dem Kettenkonzept kann zum einen die hohe Stabilität des internen Zusammenhangs der Weltelemente ausgedrückt werden, und zum zweiten, dass es kein Glied gibt, das nicht – wie vermittelt auch immer – mit allen anderen Gliedern der Kette zusammenhängt, und zwar so, dass eine Veränderung (Bewegung) eines einzigen Gliedes (letztlich) alle anderen Glieder mitbewegt. 2. Die Große Kette der Wesen Das Konzept der Kette der Ursachen ist symptomatisch für eine nivellierende Ontologie: Alles, was ist, ist ontologisch betrachtet von derselben Art, und deshalb gibt es auch einen allumfassenden Kausalzusammenhang. Im Gegensatz zu dieser ‚schlichten‘ Nivellierungs-Ontologie entwirft der Gedanke der ‚Großen Kette der Wesen‘ (GKW), dessen ‚Gerinnung‘ im Neuplatonismus spätestens bei Proklos anzusiedeln ist, eine sehr viel anspruchsvollere, ‚komplexe‘ Stufen-Ontologie. Es hilft, den Gedanken der GKW in seine Teilgedanken zu zerlegen, wie dies auch Arthur O. Lovejoy zu Beginn seines mittlerweile klassisch zu nennenden Buches The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea von 1936 getan hat. Der Gedanke der GKW ist nicht nur der Gedanke, dass die Welt eine ist und dass es nichts Singuläres in der Welt gibt, also etwas, das mit keiner anderen Entität in der Welt zusammenhängt (dies ist schon im Gedanken von der Kette der Ursachen formuliert). Er ist, folgt man Lovejoy,4 darüber hinaus – und das macht sein Spezifikum aus – die spannungsvolle Kombination von drei eigenständigen und voneinander trennbaren Teilgedanken. Sie betreffen 1. die Vollständigkeit, 2. die Kontinuität und 3. die Rangordnung von allem, was in der Welt existiert. 1. Gott muss alle Arten von denkbaren Wesen hervorbringen, d. h. es darf nichts geben, was zwar denkbar, aber nicht von Gott realisiert ist – denn eine solche Nicht-Realisierung bei gleichzeitiger Denkbarkeit _____________ 3 4

Gottfried Wilhelm Leibniz, Von dem Verhängnisse. Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. v. Artur Buchenau u. Ernst Cassirer. Leipzig 1924, Bd. 2, S. 129. Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers. v. D. Turck. Frankfurt a.M. 1985, S. 32.

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wäre Zeichen einer göttlichen Missgunst und damit Unvollkommenheit. Dieses zum ersten Mal in Platons Timaios zu findende metaphysische Prinzip erhält von Lovejoy den Namen ‚Prinzip der Fülle‘ („principle of plenitude“)5 – Es gibt eine interessante Modifikation dieses Prinzips, nämlich Leibniz’ Kompossibilitätsprinzip: Nicht alles, was denkmöglich (also in sich widerspruchsfrei) ist, muss nach diesem Prinzip existieren, sondern nur die widerspruchsfrei denkbaren Dinge, die auch miteinander existieren können. Diese Modifikation des Prinzips der Fülle schließt eine Unzahl denkmöglicher Dinge von der Existenzforderung aus. 2. Der aristotelische Gedanke der Kontinuität besagt, dass alles, was es gibt, nicht in Gestalt von scharf abgegrenzten Arten und Gattungen miteinander zusammenhängt, sondern im Sinn einer Reihe von unmerklichen Übergängen (lex continui in natura).6 Das Kontinuitätsproblem ist in der Geschichte der europäischen Philosophie eines der schwierigsten und hier nicht zu erörtern. Noch nicht einmal die Formulierung des Kontinuitätsprinzips ist einfach: Es ist überhaupt nicht klar, wie der minimale Unterschied zwischen zwei Dingen, die im Kontinuum aller Dinge direkt nebeneinanderliegen, angegeben werden kann. 3. Bei Aristoteles findet sich auch der Gedanke der linearen Abstufung der Wesen, vom Vollkommensten bis zum Unvollkommensten (gleichgültig zunächst, welche Kriterien zur Bestimmung von Vollkommenheit angesetzt werden müssen). Dies ist das Prinzip der scala naturae, einer ontologischen Stufenleiter. Lovejoy nennt es „Prinzip der Abstufung“ (principle of Gradation).7 Kombiniert man nun, so Lovejoy, die Gedanken (1.) – (3.), erhält man das Konzept der GKW: In ihr existiert alles, was denkbar ist (1.), es existiert so, dass es in der engstmöglichen Verbindung, nämlich der der Kontinuität, zueinander steht (2.); und es existiert so, dass es in eine Hierarchie eingeordnet ist, an deren Spitze ein ens perfectissimum steht (das diese Hierarchie selbst erschaffen hat) (3.). Es ist das äußerst anspruchsvolle Konzept nicht einer gleichförmigen, sondern einer ‚dichten‘ Welt.

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Ebd., S. 64–69. Ebd., S. 75. Ebd., S. 76–78.

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3. Die Kette der Ideen Locke spricht in seinem Essay concerning human understanding, in dem er seine Lehre von der Ideenverbindung entwickelt, nicht von Ideenketten, sondern lediglich von „association“ und „Wechselbeziehung und Verbindung [correspondence and connexion]“.8 Von der Kette der Vorstellungen und Ideen spricht in seiner Nachfolge Condillac. Nur dann, wenn mittels des Gedächtnisses eine solche Kette gebildet wird, ist eine Person zu mehr als einer augenblicklichen Empfindung fähig. Das Gedächtnis ist also eine Reihe von Vorstellungen, die eine Art Kette bilden. Diese Verbindung nun ermöglicht den Übergang von einer Vorstellung zu einer anderen und die Wiederkehr der entlegensten. Folglich erinnert man sich an eine Vorstellung, die man vor einiger Zeit gehabt hat, nur dadurch, daß man die dazwischenliegenden Vorstellungen mehr oder weniger rasch erneuert.9

Schon Locke spricht bei der Entwicklung seiner Lehre von der Ideenverbindung davon, dass es zwei verschiedene Ordnungen der Ideen gebe, nämlich einerseits die natürliche, andererseits die zufällige bzw. auf Gewohnheit beruhende („natural correspondence and connexion“ vs. „connexion of ideas wholly owing to chance or custom“).10 Es kommt alles darauf an, gegen die falschen Verbindungen der Ideen zu kämpfen – denn sie haben einen verderblichen Einfluss11 und führen zu einer Art ganz normalem Wahnsinn – und die natürliche Verbindung herzustellen. Gegeben zwei Ideen, ist deren Verbindung so lange potentiell ‚wahnsinnig‘, solange die Vernunft diese Verbindung nicht auf ihre Legitimität hin geprüft hat. 4. Die Kette der Wahrheiten Der Rationalismus wählt für den ‚qualifizierten‘ Zusammenhang unserer Denkereignisse das Konzept einer ‚Kette von Wahrheiten‘ als zentrales _____________ 8 9

10 11

John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, II. 33, § 5. „La mémoire est donc une suite des idées, qui forment une espèce de chaine. C’est cette liaison qui fournit les moyens de passer d’une idée à une autre, et de se rappeler les plus éloignées. On se souvient, par conséquent, d’une idée qu’on a eue, il y a quelque temps, que parce qu’on se retrace avec plus ou moins de rapidité les idées intermédiaires.“ Étienne Bonnot de Condillac, Traité des sensations [1754], I. 2, § 20. Œuvres philosophiques, hg. v. Georges Le Roy. Paris 1947, Bd. 1, S. 227a; dt.: Abhandlung über die Empfindungen, hg. v. Lothar Kreimendahl. Hamburg 1983, S. 9. Insbesondere in Kap. I.II.3 seines Essai sur l’origine des connaissances humaines von 1746 benutzt Condillac den Gedanken von der Kette der Ideen zur Beschreibung der Struktur des menschlichen Geistes. Locke, An Essay Concerning Human Understanding, II. 33, § 5. Ebd., II, 33.9.

Von der ‚Großen Kette der Wesen‘ zur ‚Kette der Cultur‘?

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Bild; mit ihm setzt sich die neuzeitliche Wissenschaft selbstbewusst als methodisch neu in Szene. Bei Descartes findet sich der entscheidende Passus im Discours de la méthode: Jene langen Ketten ganz einfacher und leichter Begründungen [longues chaines de raisons, toutes simples et faciles], die die Geometer zu gebrauchen pflegen, um ihre schwierigsten Beweise durchzuführen, erweckten in mir die Vorstellung, daß alle Dinge, die menschlicher Erkenntnis zugänglich sind, einander auf dieselbe Weise folgen und daß, vorausgesetzt, man verzichtet nur darauf, irgend etwas für wahr zu halten, was es nicht ist, und man beobachtet immer die Ordnung, die zur Ableitung der einen aus den anderen notwendig ist [pour les déduire les unes des autres], nichts so fern liege, daß man es nicht schließlich erreichte, und nichts so verborgen sein kann, daß man es nicht entdeckte.12

Mit demselben Bild heißt es bei Leibniz: „Ein Beweis ist nichts anderes als eine Kette von Definitionen [Est enim Demonstratio nil nisi catena definitionum]“; in der Scientia Generalis preist er den „enchainement exact des demonstrations de toutes les verités“ als „grande Methode“.13 So definiert er schließlich mittels des Konzeptes der Kette, was die Vernunft ist: eine Kette von Wahrheiten. „Gegen die Vernunft sprechen, heißt gegen die Wahrheit sprechen, denn die Vernunft ist eine Verkettung von Wahrheiten“.14 Das Konzept der Kette der Wahrheiten ist das Gegenkonzept zum syllogistischen Schließen als ‚privilegierter‘ Form des wahrheitsfähigen Denkens. Mit ihm wird die neuzeitliche Methode gegen die traditionelle Syllogistik profiliert. Descartes lehnt die Syllogistik nicht rundweg ab – er schätzt sie sehr zur Darstellung schon gefundener Ergebnisse –, seine These ist allerdings, dass sie zum Auffinden und zur Verkettung der Wahrheiten schlichtweg nichts beitrage; gefährlich werde sie dann, wenn sie als Ersatz für Invention und Deduktion verwendet wird.15 _____________ 12

13 14 15

René Descartes, Discours de la méthode. Œuvres, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery. Paris 1902, Bd. 6, § 19, S. 40; dt.: Discours de la méthode = Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung [frz.-dt.], übers. u. hg. v. Lüder Gäbe. Hamburg 1960, S. 32 f. Laut Ernst Cassirer schließt der Begriff der Kette bei Descartes „den Keim zu einer neuen Form der Wissenschaftslehre überhaupt in sich“, siehe: Phänomenologie der Erkenntnis. Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. v. Birgit Recki. Hamburg 2002, Bd. 13, S. 403. Leibniz, Guilielmi Pacidii initia et specimina SCIENTIAE GENERALIS sive de instauratione et augmentis scientiarum in publicam felicitatem. In: ders., Die philosophischen Schriften, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1890, Bd. 7, S. 168. Leibniz, Nouveaux Essais, II, 21, § 50. Vgl. Theodizee, Discours préliminaire § 1; § 3; § 23; § 61, § 63. Es findet sich eine äußerst interessante Passage beim jungen Peirce, in der dieser – „without wishing to return to scholasticism“ – den cartesischen Ansatz als einen, für das Kettenkonzept zentral ist, kritisiert: „Philosophy ought to imitate the successful sciences in its methods, so far as to proceed only from tangible premises which can be subjected to careful scrutinity, and to trust rather to the multitude and variety of its arguments than to the con-

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5. Die Kette der Tradition bzw. Kultur bzw. Bildung Das Konzept einer Kette der Tradition, Kultur und Bildung wird erst in dem Moment eine prominente Denkfigur, in dem Wahrheit nicht mehr als unabhängig von einer kontingenten Geschichte gedacht werden kann, einer Geschichte also, die keinen rational rekonstruierbaren ‚Entwicklungsgesetzen‘ gehorcht. Was die Identität des Gegenstandes und die Wahrheit des Gedankens konstituiert, ist die Traditionskette, nicht mehr Verfahrensweisen einer – wie auch immer formulierten – Logik. Die Kette der Tradition und die Kette der Wahrheiten schließen sich somit aus. Ging es im Fall der prominent bei Descartes fassbaren Opposition gegen die Scholastik um die Frage, wie man die Eigenschaft eines Gedankens, Glied einer Traditionskette zu sein, hinsichtlich seiner Wahrheitsprüfung einzuschätzen habe, so geht es jetzt um die viel radikalere Frage, ob man den Wahrheitsgehalt eines Gedankens überhaupt unabhängig von seiner Geschichte, d. h. seiner historischen Verkettetheit mit anderen Gedanken überprüfen könne. Diese Frage wird erstmals von Vico in seiner Kritik am cartesischen Erkenntnisideal aufgeworfen (und negativ beantwortet); er benutzt jedoch zur Modellierung seines neuen Wahrheitsbegriffs das Konzept der Kette nicht. Dies tut in extenso erst Herder, der konsequent nicht mehr von der ‚Kette der Wahrheiten‘, sondern von der ‚Kette der Bildung‘ bzw. der ‚Kette der Cultur‘ spricht. Was diese ‚Kette der Bildung‘ mit sich führt, ist die Wahrheit: Die Frage nach der Wahrheit wird in die Darstellung der ‚Kette der Bildung‘ transformiert. Die Herdersche Kette der Bildung ist Eine, sie hat einen genau bestimmbaren Anfang und wächst. In ihr gibt es einen Fortschritt mit dem letzten Ziel der Bildung der gesamten Menschheit. Andererseits aber betont Herder, dass das Ende dieses Fortschritts nicht als einheitlich gedacht werden darf, sondern jedes Volk und jede Nation ihr eigenes Maß der Vollendung in sich trägt – die Humanität, zu der die ‚Kette der Bildung‘ hinzieht, darf nicht als ein einheitliches Ziel der Entwicklung aller Völker und Nationen verstanden werden: „Es ziehet sich demnach eine Kette der Cultur in sehr abspringenden krummen Linien durch alle gebildete Nationen [...]. In jeder derselben bezeichnet sie zu- und abnehmende Größen und hat Maxima allerlei Art. Manche von diesen schließen einander aus oder schränken einander ein, bis zuletzt dennoch ein Ebenmaas im Ganzen stattfindet, so daß es der trüglichste Schluß wäre, wenn man von Ei_____________ clusiveness of any one. Its reasoning should not form a chain which is no stronger than its weakest link, but a cable whose fibres may be ever so slender, provided they are sufficiently numerous and initimately connected.“ Charles S. Peirce, Some Consequences of four Incapacities [1868]. In: Writings of Charles S. Peirce. Chronological Edition, hg. v. Nathan Houser u. a. Indianapolis 1984, Bd. 2, S. 213.

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ner Vollkommenheit einer Nation auf jede andere schließen wollte.“16 Auch wenn die ‚Kette der Bildung‘ genau nicht als Verzeitlichung der Kette der Wahrheiten gedacht werden kann, bleibt sie bei Herder mit ihr in zwei Hinsichten verbunden: Zum einen kann nicht jede faktische Äußerung oder jedes faktische Produkt eines Individuums ein Beitrag zur ‚Kette der Bildung‘ genannt werden, es bedarf einer zur wahr-/falsch-Differenz analogen Differenz – freilich ist dann nicht klar, woher diese Differenz ihre Legitimation erhalten soll; zum anderen gibt es nur eine einzige ‚Kette der Bildung‘ und nicht mehrere – freilich mit einem Bildungsziel, das nur noch plural gedacht werden kann.

B. Hängen diese Gebrauchskontexte zusammen? Soweit in aller Kürze und Grobheit fünf Gebrauchskontexte für philosophisch relevante Gebrauchsweisen des Kettenkonzepts. Für Begriffsgeschichtler interessant ist die Frage, ob und wie diese Gebrauchskontexte zusammenhängen, oder ob es sich einfach um Mehrdeutigkeiten handelt. Zunächst möchte ich in der Benennung dieser Kontexte einen schwachen Zusammenhang herstellen, indem ich ganz traditionell von Ontologie, Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie spreche: die Gebrauchskontexte (1) und (2) sind ontologische, die Gebrauchskontexte (3) und (4) erkenntnistheoretische, Gebrauchskontext (5) ein geschichtsphilosophischer. Man wünscht sich natürlich gerne einen sachlichen Zusammenhang zwischen allen diesen Kontexten; eine zeitliche Abfolge kann manchmal als Indikator für einen sachlichen Zusammenhang fungieren, muss es aber nicht. Bleiben wir zunächst bei den beiden ontologischen Gebrauchskontexten (1) und (2): Man kann etwas zu ihren wechselseitigen systematischen Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten sagen, wenn man zwischen zwei Typen von Kausalität unterscheidet, einer ‚horizontalen‘ und einer ‚vertikalen‘. Die horizontale Kausalität ist die der gleichförmigen, die vertikale die der dichten Welt. Christoph Horn charakterisiert die entscheidende Differenz zwischen beiden Kausalitätstypen wie folgt: Im Fall der horizontalen Kausalität sind Rückwirkungen des Verursachten auf die Ursache prinzipiell möglich, im Fall der vertikalen Kausalität nicht. Dies liegt daran, dass bei der horizontalen Kausalität „die hervorgerufene Wirkung – z. B. die vom kausalen Subjekt auf das Objekt transferierte Eigenschaft F – unvermindert, zumindest ohne ontologischen Niveauverlust _____________ 16

Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Menschheit. Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1909, Bd. 14, S. 229.

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weitergereicht wird.“ Im Fall der vertikalen Kausalität ist dies genau ausgeschlossen: jede Weitergabe muss vom ontologisch Höheren zum ontologisch Niedrigeren, also mit „ontologischem Niveauverlust“ erfolgen.17 Soweit der Gegensatz. Andererseits muss irgendein Zusammenhang von horizontaler und vertikaler Kausalität gedacht werden. Zum einen muss jede akzeptable Ontologie der dichten Welt, in der vertikale Kausalität herrscht, zumindest begreiflich machen können, warum uns die sinnliche Welt als gleichförmige von horizontaler Kausalität vollständig bestimmt erscheint; allerdings muss sie die ontologische Realität der horizontalen Kausalität ausschließen. Berkeley etwa erklärt die Existenz der horizontalen Wirkursachen für notwendig, damit die Menschen die Welt soweit verstehen, dass sie sich in ihr planvoll bewegen können. Niemals aber kann eine daraus abzuleitende mechanistische Erklärung der Welt die wahren Ursachen der Geschehnisse entdecken.18 – Umgekehrt schließt eine Ontologie der gleichförmigen Welt mit horizontaler Kausalität die ontologische Realität der vertikalen Kausalität aus – und meistens auch, wie am neuzeitlichen Naturbegriff zu sehen ist, den Schein einer vertikalen Kausalität: Die Ontologie der gleichförmigen Welt mit horizontaler Kausalität ist suisuffizient; die Ontologie der dichten Welt mit vertikaler Kausalität ist es nicht, denn sie hat notwendigerweise einen Teil, in dem sie die horizontale Kausalität behandeln muss. Eine solche systematische Behauptung hinsichtlich der wechselseitigen Verträglichkeit beider Ontologien lässt eine einfache historische Interpretation ihres In-Erscheinung-Tretens zu: Die Ontologie der gleichförmigen Welt kann unabhängig von der komplexen Ontologie der dichten Welt existieren, nicht aber umgekehrt. Die Ontologie der gleichförmigen Welt von Ursache und Wirkung ist zum einen die älteste (Stoa), zum anderen die langlebigste; erst die statistische Interpretation der Naturgesetze scheint eine ernstzunehmende Alternative zu dieser Ontologie zu sein. Die komplexe Ontologie einer dichten Welt hingegen beginnt erst mit dem Neuplatonismus wirkmächtig zu werden und beendet aus Gründen, die hier nicht erläutert werden können, ihre Karriere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Soweit die beiden ontologischen Gebrauchskontexte. Was die beiden erkenntnistheoretischen Gebrauchskontexte (3) und (4) angeht, so scheinen sie zunächst nicht verbindbar zu sein: der eine betrifft die Psychologie als allgemeine Beschreibung von Denkprozessen, der andere die Erkennt_____________ 17

18

Vgl. Christoph Horn, Vertikale Verursachung – ein Aspekt des Kausaldenkens in der antiken Philosophie. In: Kreativität. XX. Deutscher Kongress für Philosophie 26.–30. Sept. 2005 in Berlin an der Technischen Universität Berlin. Kolloquienbeiträge, hg. v. Günter Abel. Hamburg 2006, S. 745–768. George Berkeley, Siris, §§ 160 u. 230–251.

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nistheorie im engeren Sinn, nämlich das Denken unter der wahr-/falschDifferenz. Gleichwohl scheint mir hier ein bemerkenswerter Zusammenhang zu existieren, den man mit dem Etikett ‚Kohärentismus‘ benennen mag. Für Leibniz musste eine Kette von Gedanken, um eine Kette von Wahrheiten sein zu können, zwei Prüfungen bestehen: Eine – nach welchen Kriterien auch immer – plausible Verkettung von Sätzen allein reicht nicht aus, die Sätze selbst müssen auch wahr sein. „Diese Strenge besteht in einem ordnungsmäßigen Verfahren, dessen Beobachtung bei jedem Teil eine Gewähr für das Ganze ist, wie man sich der Güte einer Kette dadurch versichert, daß man sie [1.] Ring für Ring prüft und jeden einzelnen besichtigt, um zu sehen, ob er fest ist, wobei man [2.] mit der Hand Maßnahmen trifft, um keinen zu überspringen.“19 Die Bezugnahme auf die Welt mittels einer Gedankenkette kann also aus zwei Gründen scheitern: zum einen, weil man den Stoff, aus dem die Kettenglieder sind, d. h. die Wahrheit der zu verkettenden Sätze, nicht hinreichend geprüft hat, zum zweiten, weil man die Kettenglieder nicht in der richtigen Reihenfolge geordnet hat. Der erste Faktor betrifft die Fragen der Erkenntnisevidenz und der Prinzipien, der zweite die Frage der Methode. Für Leibniz bleiben dies immer zwei getrennte Fragen. Man sieht es den Gedanken, auch wenn sie korrekt verkettet sind, nicht an, ob sie eine Kette der Wahrheit bilden oder nicht. Es gibt durchaus auch die Kette der Vorurteile und Irrtümer. Eine angebliche Kette der Wahrheiten kann zwar in sich kohärent, aber ein Wahngebilde, d. h. ohne Welthaltigkeit sein. Stark kohärentistische Ansätze behaupten nun, dass eine korrekte Verkettung der Gedanken allein ausreicht, um die Verbindung zur Welt zu garantieren; es bedürfe keines externen Verfahrens mehr, um die Kette der Gedanken mit der Struktur der Welt zu verbinden. Es ist damit die entscheidende Voraussetzung des methodischen Kohärentismus, dass alles verkettet ist; diese Voraussetzung ist nicht selbst noch im Denken einholbar, erzeugt aber das notwendige Vertrauen, das es erst ermöglicht, von einer Wahrheit zur nächsten fortschreiten zu können. Das Ergebnis des neuzeitlichen methodischen Denkens ist nichts anderes als die Bestätigung dieser vertrauensvollen Voraussetzung im Einzelnen: dass jede beliebige Menge von Gedanken sich letztlich als Kette erweist. Es ist nicht undenkbar, die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie von Petrus Ramus bis Hegel unter der Fragestellung zu schreiben, wie man glaubte, die Fragen der Evidenz und der Prinzipien durch die ausführliche Behandlung der Methodenfragen überflüssig machen zu können – um im Bild zu bleiben: Wie man zur Auffassung gelangen konnte, die schiere Verkettetheit aller Gedanken genüge, um ihre Welthaltigkeit zu garantieren. Das „Ein_____________ 19

Leibniz, Nouveaux Essais, IV, 1, § 9.

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klammern“ der Frage nach dem „fundamentum in re“ im Ramismus und die „artistische Transformation der Wissenschaft“20 gehen Hand in Hand insofern, als erst eine solche als poietisch-technisch gedachte methodische Ordnungsmacht des Ordnenden diesen die Kohärenz der Welt als aktive Eigenleistung erfahren lässt. Den Abschluss dieses Prozesses bildet Hegel. Für ihn ist die Wissenschaft der Logik nur noch die vollständige Selbstexplikation ihrer Methode, Wissenschaft und ihre Logik fallen zusammen; dies meint seine Formulierung, das erst am Ende der „Wissenschaft der Logik“ „der Inhalt des Erkennens als solcher in den Kreis der Betrachtung eintritt, weil er nun als abgeleiteter der Methode angehört. Die Methode selbst erweitert sich durch dies Moment zu einem Systeme.“21 Freilich stellt sich dann die Frage nach der Welthaltigkeit der Ordnung nur um so dringlicher: mit dem Stolz auf die selbsterzeugte Ordnung der Welt geht die Angst einher, dass sie inadäquat geordnet werde; diese Angst ist schon formuliert in Hobbes’ viertem Einwand zu Descartes’ Meditationen: Was, so Hobbes, wenn alle Verkettungen und Verknüpfungen nicht Produkte unserer Vernunft, sondern nur unserer Einbildungskraft sind? Herder zieht später daraus die radikale anthropologische Konsequenz eines allgemeinen idiosynkratischen Kohärentismus: „Wäre es möglich, daß wir die Kette unsrer Gedanken anhalten, und an jedem Gliede seine Verbindung suchen könnten – welche Sonderbarkeiten! welche fremde Analogien der verschiedensten Sinne, nach denen doch die Seele geläufig handelt! Wir wären alle, für ein blos vernünftiges Wesen, jener Gattung von Verrückten ähnlich, die klug denken, aber sehr unbegreiflich und albern verbinden!“22 Die Angst des Kohärentismus ist es, dass die Kette der Wahrheiten sich eben doch nur als eine phantastische ‚chaine des idées‘ erweist. Was die Kette der Tradition angeht, so habe ich oben behauptet, sie schließe die Kette der Wahrheiten aus: Erst wenn Wahrheit mit einem kontingenten Zeitindex gedacht wird, kann die Kette der Tradition eine eigenständige Rolle zu spielen beginnen und nicht unter welcher angeblichen Entwicklungslogik der Menschheit auch immer zum Appendix einer Entwicklung der Wahrheit gemacht werden. Zusammengefasst: Es finden sich zwei ontologische Gebrauchskontexte, die in eine Richtung kompatibel sind, und es finden sich drei andere _____________ 20 21 22

Vgl. Tilman Borsche, System und Aphorismus. In: Nietzsche und Hegel, hg. v. Mihailo Djuriý u. Josef Simon. Würzburg 1992, S. 48–64, hier S. 58 f. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Wissenschaft der Logik. Werke, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1969, Bd. 6, S. 567; vgl. ders., Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse § 237. In: ebd., 1970, Bd. 8, S. 388 f. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Sämmtliche Werke [Anm. 16], 1891, Bd. 5, S. 61 f.

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Gebrauchskontexte, die man miteinander in Zusammenhang bringen kann, wie ich es eben versucht habe – nicht muss. Zwischen den beiden ontologischen und den drei anderen Gebrauchskontexten besteht, soweit ich sehe, kein Zusammenhang – wie ihn etwa Bernhard Taureck behauptet, wenn er in seinem Buch Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie23 schreibt, die ‚chain of being‘ werde zur ‚chain of arguments‘. Die schlichte Vorstellung einer Ablösung – dass das Ende des Gedankens der ‚Großen Kette der Wesen‘ zum Aufstieg des Konzepts der Kette der Wahrheiten geführt habe – ist ganz fernzuhalten. Ist das Ende des Konzepts der GKW durch naturwissenschaftliche und philosophische Überlegungen verursacht, so das Aufkommen des Konzepts der Kette der Wahrheiten durch eine neue Idee hinsichtlich der Form alles Wissens, die seit 1600 auch einen Namen hat: systematisches Wissen. Die Idee des systematischen Wissens ist aber völlig unabhängig vom Gedanken der GKW formulierbar. Abschließend will ich fragen, ob man diese fünf Gebrauchskontexte zusammenfassen und die Bedeutung ‚des Kettenkonzepts in der europäischen Philosophie‘ bestimmen soll – oder ob man die verschiedenen Kontexte lieber voneinander getrennt halten sollte. Ich möchte sie nicht beantworten, sondern eine Stelle aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft zitieren, die zeigen kann, wie viel an der Beantwortung der Frage hängt – wie viel daran hängt, ob man ein Kettenkonzept in der europäischen Philosophie haben will oder nicht: „Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten?“24 Nietzsche ist der Meister in der Benutzung traditioneller Bilder und ihrer Umkehrung. So ist es auch hier: Er zitiert ex negativo den Anfang der Großen Erzählung von der Kette, die Zusammenhang und Ordnung der ganzen Welt stiftet, nämlich Platons Bemerkung im Theaitetos,25 Homer meine mit der goldenen Kette die Sonne. Nietzsches Bild sollte nicht mehr allein so verstanden werden, dass wir uns von dem alten Gedanken einer ‚dichten‘ Welt (wie sie im Konzept der GKW dargestellt wurde) und der systematisch gedachten Kette der Wahrheiten verabschiedet haben. Vielmehr sollte es darüber hinaus so verstanden werden, dass wir uns auch von dem Gedanken des in einer Traditionskette fassbaren Weltzusammenhangs verabschiedet haben. Wir haben uns nicht nur von _____________ 23 24 25

Bernhard H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie. Frankfurt a.M. 2004, S. 88 f. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [1882]. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 21988, Bd. 3, S. 481. Platon, Theaitetos, 153c–d.

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der Großen Kette der Wesen und der Wahrheit, sondern auch von der Großen Kette der Tradition losgekettet, wie sie Herder noch mit seiner ‚Kette der Bildung‘ zu denken wagte. Was uns – als Modernen – einzig zu bleiben scheint, ist, so Nietzsche, nur noch die Herstellung der „goldnen Kette [unseres] Selbst“.26

_____________ 26

Nietzsche, Nachgelassene Fragmente [1880–1882] [Anm. 24], Bd. 9, S. 555.

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Übertragungen im Informationsbegriff Während die Geschichte vieler naturwissenschaftlicher und technischer Begriffe bislang kaum hinreichend erforscht ist, trifft auf den Begriff der Information eher das Gegenteil zu. Gerade im letzten Jahrzehnt sind verschiedene, teilweise allerdings disziplinär beschränkte und sich wechselseitig kaum zur Kenntnis nehmende historische Narrationen dieses Schlüsselbegriffs des 20. Jahrhunderts entstanden. Neben einer umfassenden begriffsgeschichtlichen Studie von Sascha Ott1 bildet dabei ein Schwerpunkt die Metaphorik von ‚Information‘ im molekularbiologisch-genetischen Diskurs und Experimentalsystem2 sowie eine – begriffsgeschichtliche Momente einbeziehende – Streitsache in der Philosophie.3 Das Problem besteht im Falle von ‚Information‘ deswegen vielleicht zunächst weniger darin, neues begriffsgeschichtliches Material zu erheben, als vielmehr das vorhandene in seiner Struktur zu sondieren und in seiner Relevanz zu gewichten. Die Problematik einer Geschichte interdisziplinärer Begriffe lässt sich am Informationsbegriff gut verdeutlichen. Information ist, wie die interessantesten neuzeitlichen ‚Figuren des Wissens‘, selbst eine der Übertragung. Abgesehen davon, dass der die Grenzen von Natur-, Technik-, Sozial und Geisteswissenschaften mehrfach kreuzende Begriff in ganz unterschiedlichen Wissenschaften verwendet wird – neben Mathematik, Genetik und Molekularbiologie auch in der Physik (Thermodyna_____________ 1 2

3

Sascha Ott, Information. Zur Genese und Anwendung eines Begriffs. M. e. Vorw. v. Rafael Capurro. Konstanz 2004. Lily E. Kay, Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code? A. d. Amerik. v. G. Roßler. Frankfurt a.M. 2005. Evelyn Fox Keller, Das Leben neu denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert. A. d. Engl. v. I. Leipold, München 1998. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Frankfurt a.M. 2006. Vgl. auch Christina Brandt, Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischen Code. Göttingen 2004. Weiterhin, und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Predrag Sustar, Crick’s notion of genetic information and the ,central dogma‘ of molecular biology. In: The British Journal for the Philosophy of Science Advance Access (2007), 31. Jan., S. 1–24. Edna Maria Suárez Diaz, The Rhetoric of Informational Molecules. Authority and Promises in the Early Study of Molecular Evolution. In: Science in context, Cambridge Univ. Press, 20 (2007) 4, Dez. S. 64–677. Vgl. auch Ulrich E. Stegmann, Der Begriff der genetischen Information. In: Philosophie der Biologie. Eine Einführung, hg. v. Ulrich Krohs u. Georg Toepfer. Frankfurt a.M. 2005, S. 212–230. Vgl. vor allem: Ethik und Sozialwissenschaften. Zeitschrift für Erwägenskultur 9 (1998) 2 und erneut in 12 (2002) 1 [Im Folgenden – EuS]. Peter Janich, Was ist Information? Kritik einer Legende. Frankfurt a.M. 2006.

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mik, Optik), Kybernetik, Psychologie, Philosophie, Ökonomie, Soziologie, Rechtswissenschaft sowie der Informatik und Informationswissenschaft –, lassen sich an ihm wesentliche methodische Instrumentarien der Begriffsgeschichte erörtern: Metaphorologie, Diskursgeschichte, Etymologie, Medialität. Eine charakteristische Form, mit dem Vorkommen von Information in verschiedenen Wissenschaften umzugehen, findet sich in allgemeinen Enzyklopädien und Lexika. Die disparaten Bedeutungen des Begriffs in unterschiedlichen Disziplinen werden lexikalisch nacheinander – und oftmals nummeriert – aufgeführt. Wikipedia, und darin unterscheidet sich das neue lexikalische Medium nicht von seinen Vorgängern, nennt Information 1. in seinem alltagssprachlichen Gebrauch mit der Bedeutung von Unterricht, Mitteilung, Auskunft oder Nachricht, 2. als Terminus der Mathematik (auch der Kybernetik), der die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Folgen von Elementen aus einer festgelegten Menge (etwa eines Alphabets) angebe, 3. als naturwissenschaftlichen Begriff, der in der Genetik die Abfolge der Nukleotide auf dem DNA-Strang bezeichne, mittels derer die Erzeugung bestimmter Proteine in der Zelle codiert sei.4 Erstaunlicher aber ist, dass sogar der Artikel zur Information im Historischen Wörterbuch der Philosophie (HWdPh) dieser Typik entspricht: nachdem der Autor die Etymologie und vormoderne Bedeutungsgeschichte von ‚informatio‘ und die drei Kernbedeutungen von Information in der ‚Theorie informationsverarbeitender Systeme‘, in der ‚Informationstheorie‘ und in der logisch-semantischen Theorie aufgeführt hat, fordert er in einem vierten Punkt normativ einen Allgemeinbegriff, der semantische Designate an die Stelle linguistischer Beschreibungen treten lässt.5 Die dem Begriff in den verschiedenen Einzelwissenschaften zukommenden unterschiedlichen Bedeutungen werden in dieser Darstellung ebenso wie ihr historisch genetischer Zusammenhang ausgeblendet und die Genese des Allgemeinbegriffs nicht als Übertragung, sondern als Subsumtion unter einen universellen Begriff in den Blick genommen. Ein solcher Umgang mit interdisziplinären Begriffen im HWdPH entspricht durchaus den konzeptionellen Richtlinien seines Gründers Joachim Ritter, die freilich in vielen Artikeln durchbrochen wurden. Gegenwärtig wird von unterschiedlicher Seite als Hauptmanko des RitterWörterbuches vor allem der Verzicht auf die Einbeziehung von Meta-

_____________ 4 5

http://de.wikipedia.org/wiki/Information, v. 8. Aug. 2008. Helmut Schnelle, (Art.) Information. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 4: I – K. Darmstadt 1976, Sp. 356–357.

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phern genannt.6 Ritter hatte bekanntlich aus pragmatischen Gründen „darauf verzichtet, Metaphern und metaphorische Wendungen in die Nomenklatur des Wörterbuchs aufzunehmen“, obwohl ihm mit Hans Blumenberg klar gewesen sei, dass „die der Auflösung in Begrifflichkeit widerstehenden Metaphern ‚Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe‘ haben und an die ‚Substruktur des Denkens‘ heranführen“.7 Wenn bis in gegenwärtige Debatten ein das HWdPh ergänzendes Metaphernlexikon gefordert wird, dann wird allerdings vergessen, dass das Hauptproblem nicht darin besteht, dass Metaphern nicht in die Nomenklatur aufgenommen wurden, sondern dass die Metaphorizität genuin bereits das Problem nahezu aller in die Nomenklatur aufgenommenen, insbesondere aber der interdisziplinären Begriffe gewesen wäre. Mit der Metapher wird das Problem der Übertragungen ausgeblendet, zumal das zwischen verschiedenen Disziplinen und Kulturen. Ritter hat versucht, das Problem der Interdisziplinarität technisch, nämlich mittels einer scheinbar nur formalen, aber problematischen Rahmenrichtlinie aufzulösen. „Vor ein besonderes Problem stellten Begriffe, die sowohl in der Philosophie wie in fachwissenschaftlichen Disziplinen eine tragende, aber durchaus differenzierte Bedeutung haben.“ (Ritter nennt Feld und Struktur als Beispiele). Es sei der Weg gewählt worden, statt einer abstrakten Zusammenfassung die sachliche und methodische Differenzierung deutlich zu machen. „Zugleich aber wurde die zunächst vorgesehene Kennzeichnung dieser Artikel durch Angabe der jeweiligen Disziplin durch eine neutrale Nummerierung mit römischen Ziffern ersetzt, damit nicht die fachliche Trennung, sondern die Differenzierung geltend gemacht und das in ihr liegende systematische Problem aufgewiesen werde“.8 Es ist ganz offensichtlich, dass die von Ritter eingeführten römischen Ziffern nun gleichsam als Statthalter für eine interdisziplinäre Begriffsgeschichte stehen, nämlich für die jeweils zu eruierende Antwort auf die Frage, ob die verschiedenen Begriffe einen historisch-genetischen Zusammenhang aufweisen bzw. Resultat von Übertragungen sind oder nicht – ein Problem, das sich nicht auf das Metaphernproblem beschränken lässt.

_____________ 6 7 8

Vgl. u. a. Ralf Konersmann, Figuratives Wissen. Zur Konzeption des Wörterbuchs der philosophischen Metaphern. In: Neue Rundschau 116 (2005) 2, S. 19–35. Hans Ulrich Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München 2006. Joachim Ritter, Vorwort. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie [Anm. 5], 1971, Bd. 1, S. VIII f. Ebd., S. X.

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1. Der nachrichtentechnische und Alltagsbegriff der Information Die Begriffsgeschichtsforschung ist sich wenigstens darin ziemlich einig, dass ‚Information‘ zu einem Grundbegriff erst mit der Nachrichtentheorie von Claude E. Shannon wird. Wenn der, bereits mathematische Elemente der Shannonschen Nachrichtentheorie behandelnde Artikel Transmission of Information Ralph V. L. Hartleys von 1928 dagegen die engen Fachgrenzen seines Spezialdiskurses noch nicht überschritten hatte, dann ist das ein Zeichen dafür, dass hier eben keine kontinuierliche Vorgeschichte, sondern ein zu klärender Bruch vorliegt. Shannons Mathematical Theory of Communication, 1940 geschrieben und, wahrscheinlich aufgrund von Geheimhaltungsmaßgaben im 2. Weltkrieg, erst 1948 mit Kommentar von Warren Weaver veröffentlicht, untersucht die statistische Häufigkeit von Zeichen in einem abgeschlossenen System (z. B. die Syntax einer Sprache) unter dem Gesichtspunkt ihrer effizienten, verlust- und redundanzfreien technischen Übertragung in einem Nachrichtenkanal.9 Nachricht und Information, Kommunikation und Signale werden nicht trennscharf unterschieden, Information nirgends definiert. Shannon klärt in seiner Schrift keine Begriffe, sondern entwickelt Lösungen für eine ingenieurtechnisch klar definierte Fragestellung. Für die weitere Geschichte des Informationsbegriffs ist dabei entscheidend, dass Shannon von der Bedeutungsdimension oder Semantik absieht (unter ‚Austreibung aller Semantik‘)10 und den Informationsgehalt hochformalisiert, digitalisiert und quantifiziert fasst. Wenn allerdings im Nachhinein Shannons Informationsbegriff als bewusste Abstraktion der semiotischen Unterscheidung von Syntax, Semantik und Pragmatik bei Charles W. Morris beschrieben wird,11 dann relativiert diese Interpretation den radikalen Bruch, der das Maschinenmodell von der menschlichen Kommunikation trennt. Nicht bei Shannon, bestenfalls bei seinem Kommentator Weaver, lässt sich die Aussage, die „semantischen Aspekte der Kommunikation sind irrelevant für das technische Problem“, auf Morris beziehen.12 Mehrfach wurde, wie zunächst durch Rudolf Carnap und Ye_____________ 9 10 11

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Claude Ellwood Shannon, Eine mathematische Theorie der Kommunikation. In: ders., Ein – Aus. Ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie, hg. v. Friedrich A. Kittler u. a. Berlin 2000, S. 7–100. Read me first. Nachwort der Herausgeber. In: ebd., S. 333. Vgl. Janich, Was ist Information? [Anm. 3], S. 39. Ott, Information [Anm. 1], behandelt die ganze Geschichte des Informationsbegriffs nach den Unterscheidungen von Charles William Morris ohne eigentlich die Übertragung des Modells vom Zeichen- auf den Informationsbegriff zu problematisieren. Shannon, Eine mathematische Theorie [Anm. 9], S. 009.

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hoshua Bar-Hillel, versucht den Informationsbegriff um die (freilich wiederum formallogisch gefasste) Semantik zu ergänzen.13 Der Beginn der modernen Geschichte von ‚Information‘ ist nicht frei von Kontingenzen. Das betrifft bereits die anfangs noch unentschiedene, aber folgenreiche Terminologie. In ersten Entwürfen von 1939 ging es Shannon nicht um die Übertragung von ‚information‘, sondern um „transmission of intelligence, including telephony, radio, television, telegraphy etc“.14 Der (auch im Titel genannte) Grundbegriff der Shannonschen Schrift ist nicht Information, sondern Kommunikation (auch Nachricht). Es ist sogar behauptet worden, dass es nicht einmal zentral um Kommunikation, sondern um Codierungsverfahren gehe, die ganz unabhängig von Übertragungen funktionieren.15 Die erste deutsche Übersetzung von Shannons Aufsatz ersetzte schon im Titel Kommunikation durch Information.16 Die wirksamere Verwendung von Information geht offenbar von Norbert Wieners nahezu gleichzeitig erschienener, aber selbständiger Schrift Cybernetics. Control and Communication in the Animal and the Machine (1948) aus. So mathematisch glasklar Shannons Übertragungstheorie ist, so umstritten war von Beginn an der damit verbundene Begriff der Information. Das betrifft insbesondere die Verschiebung von der Alltags- zur technischen Bedeutung von Information. Ein vehementer Streit, der die Problemlage noch einmal bündelte und auch mit begriffsgeschichtlichen Argumenten arbeitete, wurde noch vor knapp zehn Jahren zwischen zwei Parteien geführt, die das Zwei-Kulturen-Problem als philosophischen Gegensatz zwischen Kulturalisten (mit dem Philosophen Peter Janich) und Naturalisten (mit dem Wissenschaftstheoretiker Günter Ropohl) austrugen.17 Der Streit berührt zunächst die Frage nach der Priorität des all_____________ 13 14 15 16 17

Rudolf Carnap / Yehoshua Bar-Hillel, An Outline of a Theory of Semantic Information. (Technical report, 247) Cambridge, Mass. 1952. Zit. nach: Read me first [Anm. 10], S. 332. Vgl. Michael Kary / Martin Mahner, Warum Shannons ‚Informationstheorie‘ keine Informationstheorie ist. In: Naturwissenschaftliche Rundschau. Organ der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte 57 (2004) 677, Nov., S. 609–617. Shannon, Mathematische Theorie der Informationstheorie, übers. v. H. Dressler. (Scientia nova) München, Wien u. Oldenburg 1976. Vgl. die Debatten in Ethik und Sozialwissenschaften [Anm. 3]. Bernd-Olaf Küppers, Zur konstruktivistischen Kritik am Informationsbegriff der Biologie. In: Wolfram Hogrebe (Hg.), Subjektivität. München 1998, S. 27–47. – Gumbrecht (Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte [Anm. 6]) sieht in dem – von ihm ganz ähnlich gefassten – Gegensatz von Realismus und Konstruktivismus eine „Unentschiedenheit im Hinblick auf das Problem der Weltreferenz der Sprache“ (S. 27). Für den Konstruktivismus, den Gumbrecht als epistemologisches Äquivalent der Selbstfindung bezeichnet, und für einen neuen philosophischen Realismus der ‚Unmittelbarkeit sinnlicher Wahrnehmung‘ sieht er jede Hoffnung gestorben, „daß [...] Begriffe eine nicht-semantische Wirklichkeit erreichen können“ (S. 35). Die Metaphorolo-

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tagssprachlichen oder wissenschaftlichen Begriffs von Information. Für Janich ist der technische Begriff von Information ein bloßes Modell der lebensweltlichen face-to-face-Kommunikation, der damit Priorität zukäme. Keinesfalls dürfe dieser Informationsbegriff auf nichtmenschliche Übertragungen projiziert werden. Denn der technische, auf rein syntaktische Beziehungen orientierte Begriff verkürze Information um die semantische oder pragmatische Dimension. Tatsächlich hatte Shannon die mathematische Theorie der Information nicht für den Bereich menschlicher Kommunikation, sondern für die technische Optimierung von Übertragungssystemen konzipiert. Information ist bei Shannon ein Begriff, der zur Beschreibung effizienter Kommunikation in künstlichen Sprachen modelliert wird. Ein Modell, das sich, wie Shannon schreibt, auch auf die natürliche Sprache übertragen ließe, aber eben keineswegs aus ihr entwickelt ist.18 In den Informationsbegriff als technisches Artefakt gehen dabei bereits eine Reihe kultureller und sozialer Voraussetzungen ein: dass Schnelligkeit und Exaktheit das Maß sind und Redundanz zu vermeiden ist, dass Kommunikation nach dem Muster technischer Kommunikation gedacht wird etc. Wenn von den kulturalistischen Kritikern angeführt wird, dass der technische Begriff von Information auf den alltagspraktischen zurückgehe, dann wird hier deutlich, wie Begriffsgeschichte zum Idol werden kann, wenn sie normativ wird. Information sei ursprünglich gewesen, was heute Bildung heiße. Information habe, etwa bei Johann Amos Comenius, Unterrichtung, Unterweisung bedeutet. Der Hauslehrer hieß noch im 18. Jahrhundert ‚Informator‘. Erst Christian Martin Wieland habe ‚Information‘ durch ‚Bildung‘ abgelöst, wodurch ‚Information‘ auf die Weitergabe von Fakten oder Stoffvermittlung reduziert worden sei. Kant unterschied schon in diesem Sinne den Informator als bloßen ‚Lehrer‘ für die Schule vom Hofmeister als Führer fürs Leben. Insbesondere, aber nicht nur im Französischen scheint dagegen, wie der Artikel von 1765 in der Encyclopédie zeigt, die juristische Bedeutung im Sinne von (schriftlich fixierter) Wissensermittlung, Nachforschung und Zeugenaussage dominant gewesen zu sein. Der ursprüngliche Begriff diene den modernen Verwendungen als Metaphernspender. Die als naturalistisch titulierte Seite führt dagegen an, dass der technische Begriff selbst (zumindest im Deutschen) erst den alltagssprachlichen Begriff geformt habe. Wo in der ersten deutschen Übersetzung von Georg Orwells Roman 1984 von 1950 noch von Auskünften, Nachrichten und _____________

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gie, mit ihrem „Interesse an jenem Sein, das nicht vollends zur Sprache wird, weil es nie ganz zu verstehen ist“ (S. 36) erscheint bei Gumbrecht – allerdings in einer anderen als in der hier verfolgten Weise – als Alternative. Shannon, Eine mathematische Theorie der Kommunikation [Anm. 9], S. 019.

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Hinweisen die Rede gewesen war, ist in der Neuübersetzung aus dem Jahr 1984 durchgehend ‚Information‘ zu finden, ein Hinweis darauf, wie spät sich der Terminus in seiner heutigen Bedeutung etabliert habe.19 Tatsächlich verzeichnen die deutschen Lexika bis in die fünfziger Jahre hinein nur äußerst kurze, damit eher die Ungebräuchlichkeit des Wortes anzeigende Artikel: „Information [lat.], Belehrung, Anweisung; Auskunft“.20 Was das Wort Information betrifft, so gewinnt es einerseits durch die Verwendung in den Wissenschaften unzweifelhaft auch an Relevanz in seiner Alltagsbedeutung, diese wird aber zugleich durch das technischmediale Apriori überformt. In diesem Sinne bedeutet es, eine historisch längst vergangene ‚Lebenswelt‘ zu fetischisieren, wenn ein nichttechnischer Begriff von Information normativiert wird. Terminologische Überformungen oder Ersetzungen, die zu Hybridbildungen führen, sind nicht selten (man denke an den Begriff ‚Diskurs‘, der Karriere aufgrund seiner Dignität im französischen Strukturalismus machte, dann aber – oft nicht anders als in der Bedeutung von Diskussion – bis in die (gehobene) Alltagssprache hinein Verwendung fand). So scheint es wenig sinnvoll, die eine Verwendung zum Maßstab der anderen zu machen.

2. Übertragungen (Entropie und Organismus) Für die Übertragung des nachrichtentechnischen Informationsbegriffs in andere Wissenschaften lassen sich in der Literatur mindestens zwei, sich zunächst widersprechende Szenarien unterscheiden. Eine erste interpretiert das Eindringen des Informationsdiskurses in Physik und Molekularbiologie als Effekt eines Gedankenexperiments. Eine zweite, jüngere wissenschaftsgeschichtliche Interpretation thematisiert die Übernahme von Information und Molekularbiologie bzw. Genetik vorrangig als einen – mikrologisch zu untersuchenden – Vorgang, der sich weniger in paradigmatischen Theoriebildungen vollziehe, als eher in Umorientierungen der experimentellen oder Laborpraxis. Tatsächlich steht eine weitere, die Geschichte des modernen Informationsbegriffs auszeichnende Merkwürdigkeit ganz am Beginn der Karriere des Begriffs bei Shannon. Die disziplinäre Eindeutigkeit des Begriffes wird sogleich dadurch aufgebrochen, dass Shannon den nachrichtentechnischen Begriff der Information und den physikalischen Begriff der Entro_____________ 19 20

Vgl. Günter Ropohl, Der Informationsstreit im Kulturstreit. In: EuS 12 (2001) 1, S. 1–13, hier S. 13, Anm. 10. Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in 20 Bänden. 15., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 9: I – Kas, Leipzig 1931, ebenso 16., völlig neubearb. Aufl. in 12 Bdn. Bd. 5: Gp – Iz. Wiesbaden 1954, S. 280.

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pie eng zusammenrücken lässt. Shannon bezieht das Maß für Information sogleich auf den Entropiebegriff der physikalischen Wärmelehre (als Maß für die Unordnung oder Zufälligkeit eines Systems) und formuliert zunächst vorsichtig: „Die Form von H entspricht der Entropie, wie sie in bestimmten Formulierungen der statistischen Mechanik definiert ist“.21 Über zwanzig Jahre später enthüllt Shannon die Verbindung zwischen Information und Entropie als einen Coup; bei seinem Bericht ist freilich einzurechnen, dass es sich auch um eine ironische Selbstmythisierung handeln kann. Shannon berichtet, wie ihm John von Neumann nahegelegt hatte, Entropie und Information gleichzusetzen: My greatest concern was what to call it. I thought of calling it ,information‘, but the word was overly used, so I decided to call it ,uncertainty‘. When I discussed it with John von Neumann, he had a better idea. Von Neumann told me, you should call it entropy, for two reasons. In the first place your uncertainty function has been used in statistical mechanics under that name, so it already has a name. In the second place, and more important, nobody knows what entropy really is, so in a debate you will always have the advantage!22

Für die Übertragung des Informationsbegriffs von der Nachrichtentechnik auf die Biologie bedurfte es des Zwischenschrittes des physikalischen Entropiebegriffs – über ihn ergab sich eine Vergleichbarkeit zwischen physikalischen und organischen Objekten.23 Erwin Schrödingers What is life? (1944), erschienen noch vor Shannons Schrift, verwendet den Informationsbegriff nicht, lässt jedoch ein Einsickern der physikalischen Sprache in die Biochemie und Genetik sowie den Versuch erkennen, die Gesetze der Physik auf die Biologie zu übertragen.24 Wenn Hans-Jörg Rheinberger mit Isabelle Stengers vom Begriffsnomadentum spricht, so ist das bezogen auf den Informationsbegriff besonders sinnvoll. Denn es waren zunächst Physiker wie Schrödinger oder Wiener, die sich, aus unterschiedlichen Gründen, von der Physik ab- und der Biologie zugewandt und dabei ihr begriffliches Instrumentarium mitgenommen haben. Schrödinger prägt den Begriff negative Entropie (Negentropie) und definiert Leben als etwas, das negative Entropie aufnimmt und speichert. Der Begriff der negativen Entropie dient dazu, Analogien zwischen Materie und Organismus, Maschine und Lebewesen aufzuzeigen.25 Leben halte _____________ 21 22 23 24 25

Shannon, Eine mathematische Theorie der Kommunikation [Anm. 9], S. 026. Myron Tribus / Edward C. McIrvine, Energy and information. In: Scientic American 225 (1971) 3, S. 179–188, zit. nach Ott, Information [Anm. 1], S. 75. Vgl. Sigrid Weigel, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften. München 2006, Kap.: ‚Negative Entropie‘ als Übergangsmetapher – zwischen Organismus und Automat (Schrödinger, Wiener), S. 246–253. Erwin Schrödinger, Was ist Leben? Die lebende Zelle mit Augen des Physikers betrachtet. M. e. Einführung v. Ernst Peter Fischer. München u. Zürich 1987. Vgl. Weigel, Genea-Logik [Anm. 23], S. 248.

Übertragungen im Informationsbegriff

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die eigene Entropie niedrig. 1949 führt der Strahlenbiologe Henry Quastler den Informationsbegriff in die Biologie nicht metaphorisch, sondern im technischen Sinne Shannons ein. Er fasst das Konzept der biochemischen Spezifität in informationstechnische Begriffe und wendet es auf Chromosomen und Gene an. In einer so erzählten Geschichte scheint es, als ob François Jacob und Jacques Monod bei der Erklärung der Synthese von Proteinen bezogen auf das Informationsmodell nur noch auszubuchstabieren hatten, was längst theoretisch entworfen war. Gegen die These, dass der Informationsbegriff in Form der Nachrichtentheorie Shannons und daran anschließender Gedankenexperimente in die Modelle der Molekularbiologie bzw. Genetik eingedrungen sei, überwiegen in jüngerer Zeit mikrologische Erzählungen.26 Gleichsam eine innere Destruktion der Information als Metapher in der Molekularbiologie vollzieht Lilly E. Kay mit ihrer Untersuchung des Übergangs von ‚Spezifität‘ zu ‚Information‘. Für Kay ist Spezifität der Schlüsselbegriff zwischen den beiden Weltkriegen. „Damals wurde die Funktionsweise des Gens mit dem Schlüsselbegriff der biologischen und chemischen Spezifität erklärt. Seit der Jahrhundertwende war Spezifität ein leitendes Thema in der gesamten biowissenschaftlichen Forschung und wurde hauptsächlich im älteren Diskurs der Organisation artikuliert.“27 Kays Hauptthese besagt, dass Molekularbiologen ‚Information‘ als eine Metapher für biologische Spezifität verwendeten. „Beim Begriff ‚Spezifität‘ handelt es sich um eine Modellbildung der Molekularbiologie im Vorfeld des für die Genetik entscheidenden und die Lebenswissenschaft mit der Physik verbindenden Informationsbegriffs. ‚Information‘ ist damit die Metapher einer Metapher und somit ein Signifikant ohne Referent, eine Katachrese.“28 Zum einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Rheinberger, der den Begriff Information (sowie Kodierung) in François Jacobs Veröffentlichungen vor 1960 nicht, danach jedoch auch nur als Synonym des Ausdrucks ‚strukturelle Spezifität‘ aufweisen konnte.29 Auch Rheinberger zieht nach seiner Untersuchung der molekulargenetischen Konzepte die Konsequenz, dass der Informationsbegriff nicht _____________ 26

27 28 29

Gegen Kays These von der Übernahme der Informationsmetapher zitiert Evelyn Fox Keller als eine unter Mikrobiologen weitverbreitete Ansicht diejenige von Horace Freeland Judson: „Die Informationstheorie hat den Verlauf biologischer Entdeckungen nicht verändert.“ Keller, Das Leben neu denken [Anm. 2], S. 126. Ähnlich auch Stegmann, Der Begriff der genetischen Information [Anm. 2], hier insbes. S. 212 f. Kay, Das Buch des Lebens [Anm. 2], S. 21. Ebd., S. 17. – In ihrer Kritik an Kay vermutet Sigrid Weigel, dass deren Abwertung der Metapher mit ihrem Epochenmodell der Wissenschaftsgeschichte verbunden ist. Vgl. Weigel, Genea-Logik [Anm. 23], S. 246 f. Vgl. Rheinberger, Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie. Frankfurt a.M. 2006, S. 300 f.

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direkt aus der Shannon-Weaverschen Nachrichtentheorie und Physik in die Molekularbiologie eingedrungen sei, sondern – unspezifischer – in einem eher alltäglichen, damit die Semantik einbeziehenden Verständnis. „Die Molekularbiologie ist [...] nicht das Resultat einer allumfassenden paradigmatischen Theorie, die auf dem Informationsbegriff basiert.“30 Für die ‚Epistemologie von unten‘ (Rheinberger) ergeben sich also Verbindungen der Begriffe der Molekularbiologie mit dem Begriff der Information eher durch allmähliche Verknüpfungen. Die Annahme solcher mikrologischer, sich auch wiederholender Operationen31 – so berechtigt ihre Positionierung gegen große Ursprünge, Erzählungen und vielleicht auch antizipierenden Gedankenexperimenten auch ist – wird dann nicht in isolierte Begriffsgeschichten zurückfallen, wenn sie in Betracht zieht, dass der Forscher immer zugleich auch Teilnehmer interdiskursiver Welten und damit zugleich Diffusionsmedium ist, so dass Begriffe, Metaphern, Gedankenexperimente und Diskurse auch in seiner Laborpraxis wirksam werden können. In diesem Sinne lässt sich – wie gezeigt wurde – kein ‚reiner‘ nachrichtentechnischer Informationsbegriff von einem anderen, etwa alltagssprachlichen unterscheiden. Auf einer anderen Ebene bewegt sich auch der zweite zentrale Streitpunkt zwischen Kulturalisten und Naturalisten. Er betrifft das Verhältnis zwischen dem Informationsbegriff der mathematischen Kommunikationstheorie und dem Begriff der genetischen oder Erbinformation. Mit welchem Recht, so die Kulturalisten, verwenden wir mit Information einen Begriff, der eigentlich nur in Relation auf Bewusstsein gedacht und damit einem Organismus nicht sinnvoll zugeschrieben werden könne? Oder aber ist, wie die Gegenseite behauptet, die zwischenmenschliche Kommunikation nur der Spezialfall eines allgemeineren Begriffs, der allen lebendigen Systemen als spezifisches Kennzeichen zukomme, weswegen eigentlich die Biologie für die Informationswissenschaften zuständig sei? Am weitesten gehen dabei diejenigen, die die biochemischen Informationsprozesse sogar als epistemische oder ontische Grundlage der menschlichen Kommunikation verstehen. „Diese Erb-Information kann nun als Modell für das menschliche Verstehen von Information dienen, dessen naturwissenschaftliche Beschreibung ungeheuer viel komplizierter wäre.“32 In dem Streit ist keine Seite ohne blinden Fleck. Denn beide Parteien sind sich dabei merkwürdigerweise in der Feststellung einig, dass es darauf ankomme, ob ein Begriff wörtlich oder aber ‚nur metaphorisch‘ verstanden werden dürfe. Die kulturalistische Seite beharrt darauf, dass Informa_____________ 30 31 32

Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge [Anm. 2], S. 35. Vgl. auch Brandt, Metapher und Experiment [Anm. 2], die die Metaphern Information, Schrift etc. am Beispiel der Erforschung des Tabakmosaikvirus analysiert hat. Michael Drieschner, Semantik – naturalisiert? In: EuS 9 (1998) 2, S. 197.

Übertragungen im Informationsbegriff

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tion in der Biologie ‚nur eine Metapher‘ sei,33 während viele Biologen die Rede von Information ‚wörtlich‘ verstehen wollen. Dabei sind sich die Metapherntheorien inzwischen weitgehend einig, dass in den Naturwissenschaften Metaphorisierungen unumgänglich und ein produktives Erkenntnismittel sind. Nicht auf die Unterscheidung eigentlicher und uneigentlicher Bedeutungen käme es dann in wissenschaftshistorischer Perspektive an, also nicht darauf, festzustellen, dass etwas ‚nur‘ eine Metapher sei, sondern darauf, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie sich Metaphorisierungen vollziehen und was sie implizieren.34

3. Information als Diskurs Betrachtet man die plötzliche Emergenz von Informationsbegriffen in unterschiedlichen Disziplinen, sieht man, wie der moderne Informationsbegriff seit den endvierziger Jahren in seiner Verbreitung gleichsam explodiert und in den sechziger Jahren – zumindest in Deutschland – auf die Verwendungshäufigkeit in der Alltagssprache zurückwirkt, so stellt sich die Frage, ob die aus der Geisteswissenschaft stammende und mitunter auch dort als fragwürdig erkannte Suche nach den begrifflichen Erstbelegen hier überhaupt noch sinnvoll ist. Die Debatte lässt sich aber mit den Prinzipien der klassischen Begriffsgeschichte auch deswegen nicht eindeutig klären, weil sich die wichtigsten Begriffsveränderungen parallel oder in kurzer Folge ereignet haben. Der Versuch, den Streitpunkt dadurch zu klären, dass man feststellt, wo der Begriff originär auftaucht und wo er übertragen wird, scheitert deswegen, weil die Verquickung, die heute als interdisziplinär beschrieben wird, bereits von Beginn an den Forschungsgegenstand ausmacht. Es ist kein ‚reiner‘ disziplinärer Ursprung zu finden, auch nicht in Technik und Mathematik, damit würden die kulturellen, besser mit Walter Benjamin gesprochen: zugleich barbarischen Quellen des Informationsbegriffs verkannt. Eine epistemologische Schwäche von Begriffsgeschichte, oft benannt, aber nicht immer in der Praxis beachtet, ist die Konstruktion von Konti_____________ 33

34

Vgl. Janich, Was ist Information? [Anm. 3], z. B. S. 55. Die Abwertung und damit Verkennung der Metaphorik nehmen aber beide Seiten vor; auch Ropohl, Der Informationsstreit im Kulturstreit [Anm. 19], S. 10, spricht davon, dass die Biologen zu klären hätten, inwieweit die Zeichen in der Molekularstruktur „bloß vage Metaphorik“ darstellen. Vgl. auch Keller, Das Leben neu denken [Anm. 2]. – Meist werden nur solche Übertragungen als Metaphern behandelt, die entweder aus der Lebenswelt auf die Wissenschaften bezogen werden oder die eine deutliche poetische Spannung aufweisen. Ott etwa behandelt nicht die Übertragung von Information, wie zum Beispiel in die Biologie, als Metapher, wohl aber explizit im Anhang Metaphern wie Datenmüll, Datenhighway, Meer, Flut, Müll, Dorf, s. Ott, Information [Anm. 1], Teil V.2.: Analyse einiger Metaphern, S. 264–296.

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nuitäten. Eine kulturwissenschaftlich reflektierte Begriffsgeschichte geht stärker von Brüchen aus, aus der Kontinuität des Begriffswortes darf keineswegs auf eine Kontinuität von Bedeutung geschlossen werden. Der ‚Sprung auf die Bühne des Wissens‘, wie Foucault es genannt hat, lässt sich für den Informationsbegriff offenbar nur als Moment eines neuen, in seiner gesellschaftlich-institutionellen Verankerung zu untersuchenden Diskurses erklären. Natürlich knüpfen Begriff und Metapher der Information an eine lange Tradition von Metaphorik an, die Blumenberg unter dem Stichwort der Lesbarkeit der Welt vom Buch der Bücher bis zum genetischen Code entfaltet hat.35 Und auch das mediale Apriori, die telegraphische Nachrichtenübertragung, deren diagrammatische Darstellung (Sender-Kanal-Empfänger) nahezu die Evidenz einer Ikone bekommen hat, ist älter. Doch insbesondere Lily E. Kay hat gezeigt, wie eine neue Form von Biomacht und Organisationsdiskurs erst vor dem Hintergrund effizienter technischer Nachrichtenübermittlung, kriegswichtiger Kryptographie (Sprache verstanden als Befehl und Code), militärischer Raketentechnik und der Kybernetik als Schnittstelle von biologischem Organismus und Maschine während des zweiten Weltkrieges und zu Beginn des Kalten Krieges entstanden ist.36 Shannon selbst arbeitete in den nahezu völlig auf Kriegsforschung umgestellten Bell Telephone Laboratorien und war ab 1941 mathematischer Berater der Signal Intelligence Agency, der Behörde also, die für den gesamte amerikanische Nachrichtenfluss des Zweiten Weltkrieges zuständig war. Praktischer Zweck der Forschung Wieners, aber auch Shannons waren vor allem Feuerleitsysteme, um die alliierte Flugabwehr gegen deutsche Raketen zu lenken. „Shannon wird aus der Kryptologie des Weltkriegs eine algebraische Theorie der Verschlüsselung und Entschlüsselung von Nachrichten entwickeln, die in eine universale Theorie der Kommunikation eingeht.“37 In Praktiken, in spezifischen technisch und gesellschaftlich vermittelten Zielen und Institutionen – die schon im Untertitel von Wieners Cybernetics auftauchende Verbindung von ‚Lebewesen und Maschine‘ zeigt das: Control and Communication in the Animal and the Machine – war also bereits verflochten, was dann an Begriffen wie Information sukzessive diszi_____________ 35

36

37

Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1986, insbes. Kap.: Der genetische Code und seine Leser, S. 372–409. Wenn Blumenberg am Schluss des Buches und bei der Behandlung der genetischen Information das Ende der Lesbarkeitsmetapher beschreibt (und beklagt), so läge hier der bei Blumenberg eigentlich nicht vorgesehene Fall vor, dass eine ‚absolute Metapher‘ an ihr Ende kommt. Vgl. zum Folgenden insbesondere Kay, Das Buch des Lebens [Anm. 2]; Friedrich-Wilhelm Hagemeyer, Die Entstehung von Informationskonzepten in der Nachrichtentheorie. Eine Fallstudie zur Theoriebildung in der Technik in Industrie- und Kriegsforschung. Diss. Freie Univ. Berlin 1979, [http://193.97.251.33/rbtext/rb2/_wissen/hagemey]; Read me first [Anm. 10], S. 331 f. Read me first [Anm. 10], S. 331.

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plinär ausbuchstabiert und später kontrovers debattiert wurde.38 Die in der Begriffsgeschichtsforschung etablierte Trennung zwischen disziplinärer Fachsprachengeschichte (nach dem Vorbild des HWdPh) und der Geschichte politischer Semantik (wie Reinhard Koselleck Geschichtliche Grundbegriffe) greift hier ganz offensichtlich zu kurz. Eine kulturwissenschaftliche Begriffsgeschichte hätte überdies die zunehmende politische Konnotation des Begriffs einzubeziehen: in den westlichen Ländern den Begriff der Informationsfreiheit, der nach dem 2. Weltkrieg und etwa in der ‚Internationalen Charta der Menschenrechte‘ den Begriff der Pressefreiheit ablöst.39 Bereits in den 60er Jahren kommt der Begriff der Informationsgesellschaft auf, die – oft synonym mit Dienstleistungsgesellschaft verwendet – an die Stelle der ‚Industrieproduktion‘ getreten sei. Im Rahmen der Kybernetik, in der DDR zeitweise geradezu Staatsdoktrin, wird in den sozialistischen Ländern ‚Information‘ in den 60er Jahren zum Schlüsselbegriff: Leitungsprozesse der Gesellschaft, „alle Leitungsdirektiven der Betriebsan die Abteilungsleitung und entsprechende Rückantworten“ seien als „informationelle Prozesse“ zu beschreiben, so das kanonische philosophische Wörterbuch der DDR.40 Information war so auch einer der zentralen Begriffe der Konvergenztheorie der Systeme. Zur Erklärung der Ausbreitung des Informationsbegriffs ist sicher auch der wissenssoziologische Aspekt zu beachten, dass gerade der Informationsbegriff in einer an der Reputation von Wissenschaft orientierten Gesellschaft auch den ‚soft sciences‘ eine Verwissenschaftlichung ihrer Disziplinen (von den Lebenswissenschaften, die sich an den mathematisch-physikalischen Wissenschaften messen, bis zur Psychologie, Ästhetik oder Pädagogik) erlauben. Wenn die Emergenz des Informationsbegriffs auch nur innerhalb eines Diskurses beschreibbar ist, der nicht allein sprachlicher Natur ist, so lässt sich seine Analyse mit zwei Methoden der Begriffsgeschichte verbinden: zum einen realisiert sich der Diskurs auch durch Übertragungen (Metaphoriken), zum anderen durch ein Netz von Begriffen, das es in synchroner und diachroner Hinsicht zu untersuchen gilt. Beide Gesichts_____________ 38 39

40

Kay, Das Buch des Lebens [Anm. 2]. Was heute oft Grundrecht die Informationsfreiheit genannt wird, bezieht sich hierzulande auf das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 5 Abs. 1; der Paragraph enthält aber das Wort nicht; es wird vielmehr vom Recht gesprochen, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“. Heinz Liebscher, (Art.) Information. Philosophisches Wörterbuch, hg. v. Georg Klaus u. Manfred Buhr. 10., neubearb. u. erw. Aufl., Bd. 1: A bis Kybernetik. Leipzig 1974, S. 569– 573, hier S. 572. Vgl. auch Information als Universaltheorie bei Horst Völz, Information. Bd. 1: Studie zur Vielfalt und Einheit der Information. Theorie und Anwendung vor allem in der Technik; Bd. 2: Ergänzungsband zur Vielfalt und Einheit der Information. Theorie und Anwendung vor allem in der Biologie, Medizin und Semiotik. Berlin 1982 u. 1983.

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punkte lassen sich freilich nicht genau voneinander trennen, weil gerade das Netz von Begriffen auf gemeinsamen Hintergrundsmetaphoriken beruhen kann. Zum Informationsdiskurs gehören u. a. Code, Alphabet, Nachricht, Botschaft, Schrift, Programm, Transkription, Leser, Interpretation etc.; auf der diachronen Ebene sind es die Begriffe Spezifikation, Gen, RNA, oder Entropie, die gleichsam in die Sprache des neuen Diskurses eingelesen werden.

4. Philosophie und Etymologie Erst nachdem sich der Informationsbegriff in den verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlicher Semantik etabliert hat, entstehen historische Rekonstruktionsbemühungen, die einer für die traditionelle Begriffsgeschichte typischen Logik folgen. Begriffsgeschichte bedeutet dann geradezu eine Umkehrung der Ordnung des Materials gegenüber den so genannten Sachgeschichten. Logisches und Historisches fallen auseinander. Relativ am Ende der Debatte und symptomatischerweise nicht etwa an deren Anfang steht 1. die Frage nach der Etymologie sowie 2. die philosophischuniversalistische Deutung, die dann mitunter zum Grund des modernen Begriffs verkehrt wird. Hier beginnt sich der Begriff, der aus ganz spezifischen technischen und naturwissenschaftlichen Konstellationen entstanden ist, in Abstraktionen aufzulösen. Rafael Capurros, durch Carl Friedrich von Weizsäcker und Martin Heidegger angeregte, historisch kenntnisreiche ‚Aufhellung des etymologischen und ideengeschichtlichen tragenden Ursprungs‘ (so der Untertitel) ist ein Beispiel für ein solches Vorgehen.41 Er geht so weit, in lat. informatio eine epigenetische, und im Begriff ‚nisus formativus‘ „eine vorgenetische Anschauung des modernen Begriffs der Erbinformation“ zu sehen.42 Für Capurro ist die „gegenwärtige Diskussion auf Grund der Mißverständnisse, die seit der Annexion dieses Begriffs durch die Nachrichtentechnik entstanden, sowie auf Grund der unüberschaubaren Anzahl von einzelwissenschaftlichen Definitionen“ nur _____________ 41

42

Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker, Sprache als Information. In: Die Sprache. Vortragsreihe Jan. 1959 in München u. Berlin, hg. v. d. Bayrischen Akademie der Schönen Künste, Red. Clemens Graf Podewils. Darmstadt 1959, S. 33–53; und Martin Heidegger, Der Weg zur Sprache. In: ebd., S. 93–114. Rafael Capurro, Information. Ein Beitrag zur etymologischen und ideengeschichtlichen Begründung des Informationsbegriffs. München u. a. 1978, S. 177. Allerdings gesteht Capurro später selbst ein, dass „ein Rückblick auf die Etymologie eines Wortes uns kaum zur Erhellung der Bedeutung eines Begriffs, geschweige zu seiner Präzisierung innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin verhilft.“ Capurro, Vorwort. In: Ott, Information [Anm. 1], S. 10 f.

Übertragungen im Informationsbegriff

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als philosophische, d. h. durch Aufhellung des etymologischen und ideengeschichtlich tragenden Ursprungs zu lösen.43 Ein anderer Lösungsversuch besteht darin, philosophisch als Universalbegriff zu rekonstruieren, was durch sprachliche Übertragung, durch Allgemeinsetzung des Besonderen entstanden ist. Eine wiederkehrende Diskursstrategie, für die die Begriffsgeschichte besonders verführerisch ist, besteht in der Rückprojektion einer Figur in eine durch Zeit geadelte oder Ursprungsgeschichte. Die Rückführung des Informationsbegriffs auf die antike Philosophie, auf Platon und Aristoteles, findet sich wohl erstmals bei Max Delbrück. Was bei ihm noch eher ironisch und im pragmatischen Kontext einer Rede Verwendung findet, wird bei Heidegger und Weizsäcker ernsthaft philosophisch, dann bei Capurro auch philologisch ausbuchstabiert. Capurro versucht zu zeigen, dass die Einheit der in den unterschiedlichen Bereichen sich entfaltenden Momente des Informationsbegriffs aus dem griechischen Ursprung, nämlich aus Platons und Aristoteles’ Begriffen týpos, morphé und eidos/idéa verstanden werden müssten. Die Übersetzung des aristotelischen Formbegriffs ins Lateinische sei nämlich informatio (Darlegung, Erläuterung; Bild in der Vorstellung) vom Verb informare: eine Gestalt geben, bildend gestalten, durch Unterweisung bilden, unterrichten, in der Vorstellung bilden.44 Letztlich sei ‚Information = Bestimmung der Form‘. Gegen diese wortgeschichtliche Deutung ist nicht zuletzt einzuwenden, dass bei Aristoteles wie auch beim lateinischen Äquivalent der Bezug zum Bild und zur Gestalt wesentlich ist, der beim modernen, an Schrift und Zahl orientierten Begriff gerade fehlt. Praktischer Hintergrund ist die antike künstlerisch-plastische Tätigkeit, und das markiert einen gravierenden Unterschied zum moderntechnischen Begriff. Vermag die etymologische Rekonstruktion verschütteter Bedeutungsschichten eines Wortes also kaum etwas zum Verständnis der Genese eines Begriffs beizutragen, so geht sie aber, wenn auch nachträglich, selbst in die Begriffsgeschichte ein.45 Die Etymologie bestimmt die Semantik eines Begriffs mit, aber nicht so, dass sie die Begriffsentwicklung gleichsam vom Ursprung her steuert, sondern so, dass Elemente der Etymologie immer wieder in neue Begriffsverwendungen eingelesen werden. Eine kritische Begriffsgeschichte hätte also im Falle von Information die Etymologie à la Heidegger nicht am Anfang der Chronologie, sondern präzise im Jahr 1959 anzusiedeln – auch eingedenk der Tatsache, dass es zum _____________ 43 44 45

Capurro, Information [Anm. 42], zit. nach http://www.capurro.de/info.html. Karl Ernst Georges, Kleines lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 6. verb. u. verm. Aufl., Leipzig 1890, Sp. 1280 f. Vgl. Stefan Willer, Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik. (Literaturforschung) Berlin 2003.

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hermeneutischen Diskurs dieser Zeit gehörte, dem sprachlichen Ursprung Erklärungspotentiale zuzusprechen. Auch wenn die Philologie heute die Etymologie keineswegs so abzuwerten geneigt ist, wie es zwischenzeitlich en vogue war, so lässt sich sagen, die Leistung der kulturwissenschaftlichen und kritischen Begriffsgeschichte bestünde ebenso sehr in der Heranziehung semantischen Wissens wie darin, historisch befangene Narrationen von Begriffsbildungen zu dekonstruieren. Die Literaturwissenschaft ist für ein solches Unterfangen besonders geeignet, weil sie einen scharfen Blick für Narrationsweisen, textuelle Kohärenzstiftungen, aber auch für die Paradoxien von Tropen und sprachlichen Figuren hat.

5. Ausblick: Information und Begriff Insgesamt gilt: Bei der Ordnung des Materials ist die Zeitachse offenbar keineswegs ein so eindeutiger Gesichtspunkt der Darstellung, wie es zunächst scheint. Nimmt man eine bestimmte, etwa die aktuelle Konstellation eines Begriffs zum Ausgangspunkt, um dessen Genese zu erklären, so entsteht zwangsläufig eine andere Geschichte als eine Begriffsgeschichte, die gleichsam ‚ab ovo erzählt‘, welche unterschiedlichen Bedeutungen ein Terminus in historischer Abfolge durchlaufen hat. Beide Methoden haben Gewinne und Verluste: die erste Variante wird möglicherweise gerade keinen Zugriff auf Vergessenes haben, und will sie nicht zur Geschichte der Begriffssieger werden, hat sie dennoch zugleich darzustellen, welche Dimensionen, Semantiken jeweils abgeschnitten, verdrängt oder vergessen wurden. Die zweite Variante kann zwar solch Vergessenes deutlich machen, sie suggeriert und konstruiert indes bereits über das Begriffswort eine Kontinuität, um deren Erweis es eigentlich erst zu tun wäre. Gerade weil abschließend nicht zwischen den Varianten der Begriffsgeschichte entschieden werden kann und gerade die Rückläufigkeit oder historische Rekurrenz der Erkenntnisperspektive (Gaston Bachelard) keinen zeitlosen Beobachter erlaubt, gehören die Narrations- und Konstruktionsprinzipien und damit gleichsam eine Metatheorie der Begriffsgeschichte zu jeder Begriffsgeschichte. Sicher kann auch eine interdisziplinäre Begriffsgeschichte keine systematischen Probleme lösen – Begriffsgeschichte ist eine Hilfswissenschaft, die aber selbst als Methode nicht positivistisch und abstrakt, sondern kontextuell und methodisch reflektiert vorzugehen hat. Sie kann die Probleme präzisieren helfen, indem sie Unterschiede in der Begriffsverwendung bewusst macht und deren Genese aufzeigt. Dabei kann der Mechanismus von Übertragungen deutlich werden, der gerade in den Naturwissenschaften zwar permanent praktiziert, aber nicht selten vergessen

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wurde. Wenn sich langsam die Einsicht durchsetzt, dass die Entschlüsselung des menschlichen Genoms zwar eine Menge strukturierter Daten hervorbringt, aber kaum, wie anfänglich erhofft, die Spezies Mensch umfassend erklärt, dann lässt sich die Enttäuschung möglicherweise auch darauf zurückführen, dass der semantische Alltags- und der mathematische Informationsbegriff ineinander gespiegelt wurden.46 Andererseits war diese Übertragung produktiv und hat überhaupt erst den Übergang von der klassischen biochemischen Genetik zur Molekularbiologie ermöglicht. Gegen Ansätze allerdings, die einen in sich konsistenten, für alle Wissensbereiche zutreffenden Informationsbegriff entwerfen wollen, ist dagegen festzustellen, dass die Produktivität des Begriffs gerade durch seine Vagheit und Unbestimmtheit entsteht. Oder, schärfer und mit Koselleck formuliert: Begriffe sind überhaupt nur deswegen Begriffe (und historisch relevant), weil sie nicht definitorisch festgeschrieben werden können, sondern umstritten sind. – Das ist vielleicht auch die entscheidende Differenz zwischen Information und Begriff. Doch die Konfrontation der Begriffsgeschichte mit dem Informationsbegriff hat noch eine andere subtile Seite. Denn beide, Begriff und Information, markieren auf der Repräsentationsebene die Trennung der Naturund Geisteswissenschaften. Zwar lässt die Sprache einen Bezug beider aufeinander zu, denn sie können jeweils den anderen zu ihrem Objekt machen: es ist sinnvoll vom Begriff der Information zu sprechen, wie man umgekehrt sich über den Begriff informieren kann. Auf beide lässt sich die auf Morris zurückgehenden Unterscheidungen Syntax, Semantik, Pragmatik beziehen. Dabei betont ‚Information‘ die Syntax, ‚Begriff‘ die Semantik. Information steht für Digitalisierung, Steuerung, Maschinisierung und bezeichnet in den Naturwissenschaften ‚harte‘ belastbare Aussagen, der Begriff der hermeneutischen Wissenschaften gilt als ‚weich‘, d. h. interpretierbar. Es macht vielleicht gerade das hochproduktive Charakteristikum des Begriffes aus, dass er sich gleichsam nicht feststellen lässt, vage und umstritten ist. Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen Information und Begriff, bezieht man beide auf ihren Zeitindex. Gibt es, wie die Geschichte eines Begriffs, auch die Geschichte einer Information? Information hat offenbar keinen oder wenigstens einen anderen Zeitindex. Begriffe können durch ihr Alter und ihre wechselvolle Geschichte sogar geadelt sein. Informationen werden zwar in der physikalischen Zeit übertragen, ansonsten veralten sie nur oder sie enthalten einen Fehler. Auf diesen Gesichtspunkt des Fehlers, der dann für die wissenschaftshistorische Epis_____________ 46

Sigrid Weigel, Genea-Logik, [Anm. 23], S. 246, hat das in die Geschichte eines doppelten Sprachbegriffes gestellt, der Zahl und Buchstabe miteinander verbindet.

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temologie eine Rolle spielt, kommt insbesondere Michel Foucault zu sprechen.47 Möglicherweise aber lässt sich bezogen auf den Begriff deswegen von einer Geschichte sprechen, weil jeder Begriff über drei Referenzen verfügt, von denen zumeist nur eine sich verändert, während die anderen konstant bleiben. Die eine Komponente ist die Referenz auf den Gegenstand, die zweite die Bedeutung, die dritte das Begriffswort, die Bezeichnung oder der Terminus. Information fehlt diese Doppelbödigkeit. Sie ist, was sie ist, und wenn sie sich verändert, dann ist sie tatsächlich eine andere. Doch in einem kommen Begriff und Information wiederum überein: bei beiden gibt es den umstrittenen Versuch, sie selbst tiefer als nur als Instrument der Erkenntnis zu verankern. Das gilt für Hegel, der den ‚Begriff‘ ähnlich ontologisiert hat, wie heute ‚Information‘ mitunter biologisiert wird.

_____________ 47

Vgl. in diesem Band Philipp Sarasin, Die Sprache des Fehlers. Foucault liest Canguilhem (und Darwin).

REFLEX UND BEGRIFF

Henning Schmidgen

Dreifache Dezentrierung. Canguilhem und die Geschichte wissenschaftlicher Begriffe Ohne Begriffsgeschichte keine Wissenschaftsgeschichte. Auf diese Formel lässt sich die Sichtweise bringen, die Georges Canguilhem auf das Verhältnis der beiden Felder hatte. In seinen Überlegungen zum Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte unterscheidet Canguilhem verschiedene Gegenstandsebenen des Theoriebereichs, den er für die Wissenschaftsgeschichte als spezifisch betrachtet: „Dokumente, die zu katalogisieren, Instrumente und Techniken, die zu beschreiben, Methoden und Fragen, die zu interpretieren, schließlich Begriffe, die zu analysieren und kritisieren sind.“ Dann fügt er an: „Diese letzte Aufgabe allein verleiht den übrigen den Rang von Wissenschaftsgeschichte.“ Und er setzt nach: „Es ist leichter, über die damit den Begriffen zugesprochene Bedeutung zu spotten, als zu verstehen, warum es ohne sie keine Wissenschaft gibt.“1 Canguilhem schreibt diese Sätze 1966. Sie fallen damit in eine Zeit, in der erst der Aufstieg dessen beginnt, was man im deutschen Kontext als das ‚begriffsgeschichtliche Paradigma‘ bezeichnet hat. Doch Canguilhem, der den deutschsprachigen Diskursen stets aufgeschlossen gegenüberstand, erwähnt auch später an keiner Stelle seiner Schriften Namen wie Hans Blumenberg, Joachim Ritter oder Reinhart Koselleck. Ebenso vergeblich sucht man nach Bezügen auf andere Wissenschaftshistoriker, die sich in dieser Zeit der Auseinandersetzung mit Begriffen gewidmet haben. 1958 war Norwood Hansons Inquiry into the Conceptual Foundations of Science erschienen, 1965 William Palmers A History of the Concept of Valency, selbst Hélène Metzgers frühe Abhandlung Les concepts scientifiques (1926) bleibt unerwähnt. Statt dessen greift Canguilhem in seinen Studien direkt auf Wörterbücher, Enzyklopädien und Fachlexika zurück: vor allem Littrés Dictionnaire de la langue française, gelegentlich das Oxford English Dictionary, dann natürlich die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert, Dechambres Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales und Rudolf Wagners Handwörterbuch der Physiologie. _____________ 1

Georges Canguilhem, Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte. In: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, übers. von M. Bischoff u. W. Seitter, hg. v. Wolf Lepenies. Frankfurt a.M. 1979, S. 22–37, hier S. 32.

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Ob aber aus freiwilliger oder unfreiwilliger Beschränkung, wenn Canguilhem die Rolle der Begriffe in der Wissenschaftsgeschichte stark macht, agiert er in dem Bewusstsein eines Erneuerers. Es geht ihm um nichts anders als eine ‚neue Kunst‘ des Schreibens von Wissenschaftsgeschichte: „Diese Geschichte kann keine Sammlung von Biographien mehr sein, auch kein Tableau von Doktrinen in der Art einer Naturgeschichte. Sie muß eine Genealogie von Begriffen rekonstruieren.“2 Keine Begriffsgeschichte also, sondern eine Begriffsgenealogie. An anderer Stelle ist auch von der Rekonstruktion ‚begrifflichen Abstammungslinien‘ die Rede, und wie wir sehen werden, ist es kein Zufall, dass in diesem Zusammenhang Bezeichnungen mit biologischem Resonanzboden gewählt und verwendet werden. Canguilhems Beiträge zur Geschichte wissenschaftlicher Begriffe sind in unterschiedlichsten Zusammenhängen entstanden und erschienen. Sie beziehen sich zumeist auf Grundbegriffe der biomedizinischen und biologischen Wissenschaften. Mehr oder weniger umfangreiche Aufsätze sind den Begriffen der Zelle, der Umwelt, der Regulation, der Entwicklung, der Gesundheit und des Lebens gewidmet. Sein ausführlichster Beitrag zur Geschichte solcher Begriffe ist jedoch das 1955 erschienene Buch zur Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert. Die Geschichte, die in diesem Buch rekonstruiert wird, ist die einer kopernikanischen Wende in der Geschichte der Physiologie. Der Reflexbegriff bildet sich nach Canguilhem unter dem Vorzeichen einer „Verneinung des zerebralen Privilegs im Bereich der Sensomotorik“ heraus.3 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts haben sich die Theorien über den physiologischen Mechanismus unwillkürlicher Bewegungen demnach in eine anthropozentrische Sichtweise des Organismus eingeschrieben, die über deutliche Parallelen zur vor-kopernikanischen Kosmologie verfügt: „Das Herz oder das Gehirn stellen für den Tierkörper, der sich um dieses oder jenes als Zentrum bewegt, das dar, was der Mensch in der ptolemäischen Astronomie für die Sterne war, die sich in bezug auf seinen irdischen Aufenthalt hoben oder senkten, und das, was der König in der monarchistischen Politik für seine folgsamen Subjekte war. Die kopernikanische Revolution in der Physiologie der Bewegung ist die Dissoziation der Begrifflichkeiten von Gehirn und sensomotorischem Zentrum, die Entdeckung exzentrischer Zentren, die Herausbildung des Reflexbegriffs.“4 _____________ 2 3 4

Canguilhem, Die Geschichte im epistemologischen Werk Gaston Bachelards. In: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie [Anm. 1], S. 7–21, hier S. 17. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert, übers. v. H. Schmidgen. München 2008, S. 97. Ebd., S. 157.

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Die Entdeckung exzentrischer Zentren bleibt in diesem Buch allerdings keine bloße Angelegenheit der historischen Akteure. Canguilhem selbst ist an ihrer Entdeckung beteiligt, freilich nicht auf der Ebene der Physiologie, sondern auf der der Physiologiegeschichte oder, allgemeiner, der der Wissenschaftsgeschichte. Thesenhaft zugespitzt: Was der Reflex für den Bereich der Sensomotorik leistet, leistet der Begriff für den Bereich der historischen Epistemologie. Das Reflexbuch verneint das Privileg der großen historiographischen Entitäten: Personen, Institutionen, Methoden oder wissenschaftliche Weltanschauungen. An deren Stelle wird der Begriff als kleinste Einheit der epistemischen Integration gesetzt, das heißt der Abgrenzung, Verallgemeinerung und Interpretation von Erfahrung. Die Geschichtsschreibung, die aus der Fokussierung dieser Peripherie resultiert, zeigt die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Begriffe als kollektives und langfristiges Unterfangen (der Reflexbegriff braucht mehr als 150 Jahre, um von einem Begriff zu einer Tatsache zu werden, und mindestens sechs Autoren sind auf originäre Weise an dieser Entwicklung beteiligt), ein Unterfangen, das entscheidend durch Analogien angetrieben und gezügelt wird, welche sich aus unterschiedlichen materiellen Kulturen speisen, und in dem dennoch die persönlichen Verantwortlichkeiten aller Beteiligten unterscheidbar sind und unterschieden werden müssen, wenn es denn ernst gemeint ist, die Wissenschaftsgeschichte nicht als Ablauf, sondern (wie Canguilhem es fordert) als ein „Abenteuer“ zu schildern5 – ein Abenteuer, in dem, wie in der formalen Logik, auch das Falsche das Richtige in sich schließen kann. Wenn im Folgenden also Reflex und Begriff enggeführt werden, dann ist dies keineswegs einem oberflächlichen Abfärben des Gegenstands von Canguilhems historischer Studie auf deren Methode geschuldet. Mit Pierre Macherey ist vielmehr davon auszugehen, dass sich bei Canguilhem auf dem Weg der Biologiegeschichte eine Erkenntnistheorie der Biologie entwickelt, die letztlich wiederum durch nichts anderes als die Biologie erhellt wird.6 Michel Foucault sagt eben dies, wenn er schreibt: „Georges Canguilhem will durch die Klärung des Wissens über das Leben und der Begriffe, die dieses Wissen artikulieren, herausfinden, wie es um den Begriff im Leben steht.“7 Der in vorliegendem Beitrag entwickelte Blick auf die von Canguil_____________ 5 6 7

Ebd., S. 192. Siehe Pierre Macherey, La philosophie de la science de Georges Canguilhem. Épistémologie et histoire des sciences. In: La pensée 113 (1964), S. 50–74, hier S. 69. Michel Foucault, Vorwort (zu: Georges Canguilhem, On the Normal and the Pathological. Boston 1978), übers. von H. Kocyba. In: Schriften in vier Bänden / Dits et écrits. Bd. 3: 1976 – 1979, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Frankfurt a.M. 2003, S. 551–567, hier S. 564.

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hem praktizierte Geschichte wissenschaftlicher Begriffe versteht sich vor dem Hintergrund dieses scheinbar zirkulären Verhältnisses. In Abwandlung eines Satzes aus Canguilhems berühmtesten Buch, Das Normale und das Pathologische, ließe sich diese Relation wie folgt beschreiben: ‚Die Gegenwart ist die Quelle der theoretischen Aufmerksamkeit, die die Biologie – über die Geschichte als Mittler – der Biologie entgegenbringt.‘8 Damit ist zugleich eine Grenze markiert. Das Reflexbuch erscheint 1955. Die Biologie, von der in diesem Buch die Rede ist, berücksichtigt nicht das einschlägige Datum 1953. Die Auswirkungen der molekularbiologischen Revolution haben in den Schriften Canguilhems erst später ihren Abdruck hinterlassen – welche Konsequenzen dies für seine Auffassung des Begriffs hatte, ist an anderer Stelle erörtert worden.9 Die historiographische Dezentrierung, die Canguilhem in und mit seiner Studie über den Reflexbegriff bewerkstelligt, vollzieht sich auf drei Ebenen. Die erste Dezentrierung betrifft die Geschichte: Canguilhem schreibt nicht die Geschichte der Vergangenheit, sondern die der Gegenwart. Die zweite Dezentrierung betrifft die Wissenschaft: Es geht nicht eigentlich um die Geschichte eines wissenschaftlichen Begriffs, sondern um dessen ‚Vorgeschichte‘, das heißt die vorwissenschaftliche Geschichte eines später wissenschaftlich gewordenen Begriffs. Die dritte Dezentrierung betrifft den Begriff selbst: Ausgangs- und Endpunkt sind nicht länger Worte, Ausdrücke oder Formulierungen, sondern triadische Einheiten, die sich aus einem Namen, einer Bestimmung und einer Sache zusammensetzen und die sich eben deshalb auf unterschiedlichen ‚theoretischen Terrains‘ ansiedeln können.

Die Dezentrierung der Geschichte In zweifacher Weise schließt Canguilhem an Gaston Bachelard an, um seinen Zugriff auf die Wissenschaftsgeschichte zu charakterisieren. Zum einen versteht sich das Reflexbuch explizit als Beitrag zur Erhellung der ‚aktuellen Vergangenheit‘ einer Wissenschaft, nicht als quasi paläontologische Studie eines längst untergegangenen wissenschaftlichen Projekts. „Indem wir für das 17. und 18. Jahrhundert die Geschichte der Herausbil_____________ 8

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Canguilhem, Versuch über einige Probleme, das Normale und das Pathologische betreffend. In: ders., Das Normale und das Pathologische, übers. von M. Noll und R. Schubert. München 1974, S. 9–156, hier S. 65: „Die Krankheit ist die Quelle der theoretischen Aufmerksamkeit, die das Leben – über den Menschen als Mittler – dem Leben entgegenbringt.“ Siehe Henning Schmidgen, Leben und Erkenntnis. Über eine Entwicklung im Werk von Georges Canguilhem. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, in Vorb.

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dung des Reflexbegriffs schreiben, haben wir zu der Konstitution dessen beitragen wollen, was wir in bezug auf die Biologie mit Bachelard ‚eine rekurrente Geschichte, eine Geschichte die man durch die Zielbestimmung der Gegenwart erhellt‘, nennen werden [...].“10 Zum anderen greift Canguilhem, um die Wirkungsweise des Reflexbegriffs zu beschreiben, den Bachelardschen Begriff der Phänomenotechnik auf. Einmal als Tatsache anerkannt, schreibt sich der Reflexbegriff nicht nur in die Bücher, sondern auch in die Laboratorien, die Kliniken und weite Teile von Kultur und Gesellschaft ein. Mit Blick auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sagt Canguilhem in diesem Sinn: „Der Reflex hört auf, ein bloßer Begriff (concept) zu sein, um eine Wahrnehmung (percept) zu werden. Er existiert, weil er Gegenstände existieren läßt, die er verständlich macht.“11 Konkret sind hier die Explorations- und Demonstrationsapparate der Laboratoriumsphysiologen gemeint: diverse Halter und Stative, die für Demonstrationsexperimente an dekapitierten Fröschen und Kaninchen verwendet werden, Vorrichtungen zur Durchtrennung und Reizung des Rückenmarks von Versuchstieren, die ‚Zuckungstelegraphen‘ und ‚Froschpistolen‘ Emil Du Bois-Reymonds sowie Gestelle, die zur Erforschung des Kniesehnenreflexes beim Menschen dienen. Der eigentliche Ausgangspunkt ist aber ein anderer. Es ist die Beobachtung, dass der ‚Reflex‘ in der Alltagssprache der Gegenwart seinen Platz gefunden hat. „Insoweit seine Arbeit und seine Lebensweise davon abhängen, weiß heute jedermann oder möchte es wissen, ob er gute oder schlechte Reflexe hat.“12 Im Frankreich der fünfziger Jahre ist der Reflex also eine „Tatsache öffentlicher Nützlichkeit und allgemeiner Bekanntheit“ geworden.13 Der Grund für diese Konjunktur liegt Canguilhem zufolge nicht nur darin, dass die Prüfung von Reflexen zur Routine in ärztlichen Praxen und Krankenhäusern geworden ist. Um 1950 ist der in diesem Sinne klassische Reflex durch ein verallgemeinertes Reflexverständnis ergänzt und überholt worden. Ausschlaggebend für diese Entwicklung ist nach Canguilhem eine kulturelle Ausrichtung an den Idealen der industriellen Zivilisation. Diese fordere und fördere Reflexreaktionen, vor allem in der Interaktion des Arbeiters mit der Maschine. Ingenieure und Psychotechniker verfolgten in ihr das Ziel, die Geschwindigkeit und Einförmigkeit von Bewegungen, die in elementare Gesten zergliedert werden, immer enger an das Funktionieren der Maschinen und den Ertrag der Unternehmen anzupassen. Unter Berufung auf den Reflexbegriff wer_____________ 10 11 12 13

Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs [Anm. 3], S. 203. Ebd., S. 197. Ebd., S. 199. Ebd.

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de die Tätigkeit des Arbeiters auf eine Summe mechanischer Gesten reduziert. Man kann hinzufügen, dass es nicht nur der „tayloristische Fetischismus der Geschwindigkeit“14 gewesen ist, der zur kulturellen Verbreitung des Reflexes im Frankreich der 50er beigetragen hat. In einer bemerkenswerten Parallelaktion haben die anglo-amerikanische Kybernetik und die russische Physiologie es erleichtert, den Reflex aus dem Labor und der Klinik zu holen. Dies kann hier nur vignettenartig verdeutlicht werden.15 Im akademischen Jahr 1950/51 unterrichtete Norbert Wiener am Collège de France. Im Januar 1951 organisierte Louis Couffignal eine KybernetikKonferenz, an der neben zahlreichen Teilnehmern aus Frankreich auch Ross Ashby, Grey Walter, Warren McCulloch und natürlich Wiener teilnahmen. Bestandteil dieser Konferenz war eine Ausstellung von kybernetischen Maschinen, u. a. Ashbys Homöostat, der mechanische Schachspieler von Leonardo Torres y Quevedo und die künstlichen Schildkröten Grey Walters. Während letztere zunächst nur die Bewegungen von Tierorganismen im Raum simulieren sollten, wurden sie in einem weiteren Schritt mit einem Schaltkreis versehen, den Walter CORA nannte – Conditionned Reflex Analogue. Dieser Schaltkreis mache aus den Schildkröten, wie ihr Schöpfer erklärte, ‚leicht belehrbare Maschinen‘. Begeistert berichtete denn auch ein französischer Journalist von der Ausstellung, die entsprechend ausgestatteten Schildkröten lernten scheinbar mühelos, „reflexartig“ auf den Pfiff von einer bestimmten Tonhöhe zu reagieren.16 Im selben Jahr, 1951, erschien in Frankreich die erste Nummer der Zeitschrift La Raison: Cahiers de psychopathologie scientifique. Als Präsident des Redaktionsstabes fungierte der marxistische Psychologe Henri Wallon. Lacan-Kennern ist er als Erfinder des Begriffs ‚Spiegelstadium‘ bekannt. Nach dem Kriegsende wandte sich Wallon im Namen des dialektischen Materialismus von der Psychoanalyse ab. Haupteinsatz war dabei die Reflexlehre Iwan Pawlows. Dies zeigt auch die erste Nummer von La Raison. In ihr findet sich nicht nur die Übersetzung eines Texts von Pawlow über die ‚Psychiatrie des Kindes‘, sondern auch eine Studie von Sven Folin über den ‚Beitrag Pawlows zur Psychiatrie‘. Das Editorial huldigt den „bemerkenswerten Arbeiten von Pawlow und seinen Nachfolgern“ und wartet mit einigen griffigen Formeln auf, wie z. B.: „Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen und sein gesellschaftliches Leben kann dem, was _____________ 14 15 16

Ebd., S. 202. Siehe ausführlicher dazu Schmidgen, Fehlformen des Wissens. Vorwort zu: Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs [Anm. 3], S. VII–LVIII. Pierre de Latil, Cybernétique (La). In: Larousse mensuel 472 (1953), S. 371–373, hier S. 372.

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ihm zustößt, und besonders seiner Krankheit, zu keinem Zeitpunkt äußerlich sein.“ 17 Diese Sätze haben ihre Wirkung auf einen jungen Philosophen und Psychologen, der gerade an einer Einführung zum Thema ‚Geisteskrankheit und Persönlichkeit‘ arbeitete, offenbar nicht verfehlt. In der Tat beruft sich Foucault 1954 in seinem ersten Buch, Maladie mentale et personnalité, auf die Autorität Pawlows, um Geisteskrankheiten als eine „Folge von gesellschaftlichen Widersprüchen“ zu beschreiben, „in denen der Mensch historisch entfremdet ist“. Ähnlich wie Wallon erklärt der frühe Foucault – gegen die Psychoanalyse gewendet –, dass die pawlowsche Reflexphysiologie es ermögliche, eine ganzheitliche Psychologie zu begründen, die jeden Psychologismus hinter sich lasse, da sie die Probleme des Individuums auf die Konflikte und Widersprüche der Gesellschaft beziehe. Durch ihre funktionalen Analysen des Verhältnisses von Persönlichkeit und sozialem Umfeld erlaube es diese Physiologie, pathologische Prozesse in denselben Begriffen zu erfassen und zu definieren wie die normale Anpassung.18 Mit einem Zitat aus Pawlows Rede auf dem Internationalen Physiologie-Kongress 1932 in Rom, das er auf den letzten Seiten seines Buches bringt, legt Foucault sogar nahe, dass sich durch dessen Lehre der alte Dualismus von Leib und Seele aufheben lasse: „Ich bin überzeugt davon“, so hatte Pawlow erklärt, „daß gegenwärtig eine wichtige, neue Stufe des menschlichen Denkens herannaht, auf der das Physiologische und das Psychologische, das Objektive und das Subjektive sich wirklich vereinigen, tatsächlich miteinander verfließen werden.“19 Canguilhem bezieht sich in seinem Buch zur Herausbildung des Reflexbegriffs nicht auf Foucault. Aber er erwähnt die künstlichen Schildkröten von Grey Walter. Und er kritisiert in diesem Zusammenhang Norbert Wiener dafür, angesichts von neuen technischen Errungenschaften zu leichtfertig an einen Sieg des Mechanismus über den Vitalismus zu glauben. Was Pawlow angeht, so ist Canguilhems Vorgehen subtiler, indirekter. Nachdem er gezeigt hat, dass nicht Descartes, sondern Thomas Willis der erste war, der den Reflexbegriff definiert hat, rückt er die Descartes’sche Theorie der unwillkürlichen Bewegung in die Nähe von Pawlow – und kritisiert zugleich den Versuch, psychische Funktionen ausgehend von Reflexbewegungen einer allgemeinen Erklärung zuzuführen. Nament_____________ 17 18 19

Anonymus, Où va la psychiatrie? In: La Nouvelle Critique. Revue du marxisme militant 3 (1951) 25, S. 104–109, hier S. 108. Foucault, Maladie mentale et personnalité. Paris 1954, S. 104–106. Iwan P. Pawlow, Die Physiologie der höheren Nerventätigkeit, übers. von A. Kopp. Sämtliche Werke, hg. v. Lothar Pickenhain. Berlin 1953, Bd. 3.2, S. 455–467, hier S. 467 sowie Foucault, Maladie mentale et personnalité [Anm. 18], S. 107.

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lich erwähnt werden in diesem Zusammenhang allerdings nur zwei historische Akteure: Wilhelm Griesinger und Sigmund Exner. Canguilhem hat sich in seiner Beschäftigung mit dem Reflexbegriff also sicherlich von den früheren, auch historischen Beiträgen zu dieser Problematik anregen lassen – stammen diese nun von Erwin Straus, Kurt Goldstein, Viktor von Weizsäcker oder etwa Charles Kayser. In seinem Selbstverständnis als rekurrent arbeitender Wissenschaftshistoriker ist der Anlass für seine Studie allerdings in der Fassung und kulturellen Ausdehnung des Reflexbegriffs zu sehen, die für das Frankreich der fünfziger Jahre charakteristisch waren.

Die Dezentrierung der Wissenschaft Das letzte Datum von Canguilhems historischer Analyse ist das Jahr 1800. Aber erst 1833 formulieren die Physiologen Marshall Hall und Johannes Müller den Begriff des unbedingten Reflexes. Canguilhem scheint mit einem Paradox oder zumindest einer Asymmetrie zu konfrontieren: zunächst wird der Reflexbegriff in seiner Verbindung zu Laboratorien, Kliniken und sogar Fabriken geschildert; wenn es dann um seine Herausbildung geht, kann er schon aus chronologischen Gründen nicht mehr in vergleichbarer Weise an eine materielle Kultur des Experiments zurückgebunden werden. Das 17. Jahrhundert kennt keine Laboratorien der Physiologie; und dennoch prägt es den Begriff des Reflexes. Canguilhem lässt keinen Zweifel daran: nicht das Hantieren mit Modellorganismen und wissenschaftlichen Instrumenten, sondern eine bestimmte theoretische Praxis, eine Praxis der Einbildungskraft ist es, die die Herausbildung des Reflexbegriffs angetrieben, aber auch gebremst hat. So heißt es in Bezug auf Willis etwa: Es seien „spekulative Veränderungen“ an der Galenschen Theorie der Lebensgeister gewesen, die es ihm erlaubt haben, den Reflexbegriff zu bilden. Seiner Erfindung liege der Gebrauch einer „analogischen Einbildungskraft“ zugrunde.20 An dieser spekulativen und imaginativen Praxis werden von Canguilhem zwei Aspekte unterschieden. Einerseits bedient sich die Einbildungskraft Analogien; andererseits verfolgt sie übergreifende Themen, die sich aus dem Umgang mit diesen Analogien ergeben oder ihm zugrunde liegen. Ihrerseits verweist die Bildung von Analogien auf die grundlegende Tätigkeit der Assimilation, der Ähnlichmachung, der Angleichung und Anpassung. Tatsächlich deckt der Reflexbegriff, auf einen einfachen Nenner gebracht, die Assimilation eines biologischen an ein optisches Phänomen _____________ 20

Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs [Anm. 3], S. 206.

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ab. Willis ist deswegen in der Lage, den Reflexbegriff zu bilden, weil er die optische Analogie nicht nur sehr viel ernster nimmt als Descartes, sondern sie auch weiterentwickelt und bis zu Ende denkt. Die technischen Analogien, auf die sich Willis bei der Beschreibung und Erklärung von physiologischen Prozessen stützt, sind nämlich vorwiegend Feuergeräte, ‚LichtMaschinen‘: glühende Spiegel, griechisches Feuer, Kanonen, Kanonenpulver. Auch die Anordnung der Nerven gegenüber dem Gehirn fasst er als ein System von Lichtstrahlen auf. Des Weiteren konzipiert Willis die Sensomotorik im Sinne einer Explosion oder Detonation von Lebensgeistern im Muskel, die dort eine Kontraktion und die anschließende Bewegung hervorruft. Mit anderen Worten, für Willis ähnelt das Leben, sofern es Bewegung ist, dem Licht, dem Feuer, und es sind eben solche Erscheinungen, in deren Gesetzen er, wie Canguilhem sagt, einen ‚Archetyp‘ für die Gesetze des Lebens erkennt. Konsequenterweise verlängern sich seine physiologischen Theorien in eine Chemie und Energetik des lebenden Körpers, während Descartes im Rahmen der Mechanik verbleibt. Descartes’ bevorzugte Analogien sind der Hebel, die Winde und der Flaschenzug, das Uhrwerk, die Orgel und die Springbrunnenanlagen im Park von Saint-Germain en Laye.21 Um die Aktualität der analogischen Einbildungskraft von Willis zu verdeutlichen, zitiert Canguilhem Physiologen des frühen 20. Jahrhunderts, unter anderem Keith Lucas, William Bayliss und Louis-Camille Soula.22 Auch diese bringen die chemischen Aspekte der Fortpflanzung der Nervenwirkung in einen erklärenden Vergleich mit der Verbrennung entlang eines train of gun powder. Noch heute ist uns die Rede von den feuernden Neuronen vertraut. Zugleich spürt Canguilhem der Herkunft dieses Komparationsthemas, ‚Leben-Licht‘, nach. Ihm zufolge greift Willis auf die antike, stoizistische Lehre der Feuerseele zurück, um von ihr einen revolutionären wissenschaftlichen Gebrauch zu machen. Im Anschluss an Bachelards Psychoanalyse des Feuers versucht er dann noch die Grundlagen solcher Lehren zu erschließen. Mit Bachelard geht er davon aus, dass die Flamme zu jenen Bildern gehört, die „von grundlegendem Interesse für den menschlichen Geist“ sind: zum einen, weil die Welt der Flamme einen Gegenpol zur Welt der Schwerkraft bilde und sich insofern als Platzhalter für das Seelische anbiete; zum anderen, weil sie mit der körpereigenen Wärme, „mit unserer eigenen Glut“ (wie er, Bachelard zitierend, formuliert) in enger Verbindung stehe.23 An dieser Stelle geht Canguilhems „Vor“-Geschichte des Reflexbegriffs in eine Psychologie der Archetypen _____________ 21 22 23

Ebd., S. 84 f. Ebd., S. 95. Ebd., S. 109.

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Archetypen über, die sich ihrer Nähe zu Carl Gustav Jungs Thesen über die Gebundenheit wissenschaftlicher Theorien an bestimmte ‚Urbilder‘ durchaus im Klaren ist.24 Der Tendenz, über eine Vorgeschichte gleichsam ins Unhistorische zu geraten, ist Canguilhem erst zu einem späteren Zeitpunkt entgegengetreten, nämlich 1966, in dem Aufsatz Le concept et la vie. Zumindest zeigt sich dort, in der Auseinandersetzung mit Henri Bergsons Theorie der Allgemeinbegriffe, wie der psychologische Standpunkt, der sich im Reflexbuch noch bemerkbar macht, zugunsten eines allgemein-biologischen überwunden werden kann. In La pensée et le mouvant bindet Bergson die Funktion der Begriffsbildung an die Beziehung organischer Individuen zu ihrer Umwelt zurück. In dieser Perspektive entfaltet der Begriff der Assimilation seine ganze Tragweite. In der Tat geht Bergson davon aus, dass „jedes lebendige Wesen, vielleicht sogar jedes Organ, jedes Gewebe eines lebendigen Wesens verallgemeinert, oder man könnte auch sagen, klassifiziert, weil es versteht, in dem Milieu, in dem es sich befindet, aus den verschiedenartigsten Substanzen die Teile oder Elemente herauszuziehen, die dieses oder jenes seiner Bedürfnisse befriedigen können; das übrige wird vernachlässigt.“25 Anders gesagt, qua Assimilation isolieren Lebewesen Merkmale, an denen sie interessiert sind, aus ihrer Umwelt, und in diesem Sinn klassifizieren und abstrahieren sie schon, noch bevor sie bewusst denken. Bergson zufolge trifft auch für den Menschen zu, dass er das Allgemeine zunächst mehr lebt und wahrnimmt, als dass er es denkt. Sogar ohne Beteiligung des Bewusstseins sei der Mensch in der Lage, eine Ähnlichkeit aus verschiedenartigen Gegenständen abzuziehen, um diese Gegenstände in eine Gruppe zu ordnen. Bergson fügt hinzu: Der Allgemeinbegriff, der so geschaffen wird, ist „mehr eine unbewußte Reflexbewegung als eigentlich gedacht“.26 Man sieht hier, wie sich die Engführung von Reflex und Begriff bestätigen kann: Der Begriff ist ein Reflex, bevor ‚Reflex‘ ein Begriff ist. Damit scheint man noch weiter ins Unhistorische vorgedrungen zu sein, als mit Bachelards Psychologie der Archetypen. Ganz im Gegenteil!, würde Canguilhem wahrscheinlich einwerfen. Denn Bergsons Theorie der Begriffsbildung als quasi-reflexhafte Verallgemeinerung beruht, wie Canguilhem in den sechziger Jahren erklärt, auf der Voraussetzung, dass diese Art der _____________ 24

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Siehe z. B. Canguilhem, La théorie cellulaire. In: ders., La connaissance de la vie. 2. Ausg., Paris, 91992, S. 41–80, hier S. 79, wo (der Sache nach) verwiesen wird auf Carl Gustav Jung, Gesammelte Werke. Bd. 6: Psychologische Typen [1921, 1950]. 9., rev. Aufl., Olten u. Freiburg 1971, S. 327. Henri Bergson, Einleitung (Zweiter Teil). In: ders., Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, übers. v. L. u. F. Kottje. Meisenheim 1948, S. 42–109, hier S. 69. Ebd., S. 70.

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Verallgemeinerung nun ihrerseits verallgemeinert wird. Und dafür braucht es, so ergänzt er, einen Vorwand, einen prétexte, oder eine Gelegenheit, die nicht mehr vom Instinkt oder dem Bedürfnis des einzelnen Organismus abhängig ist, sondern sozusagen in den Dingen – und das heißt hier: im Leben – liegt.27 Es geht also um eine Erkenntnistheorie, die nicht von der Erkenntnis zu den Dingen wandert, sondern umgekehrt, von den Dingen ausgeht: in diesem Fall den Lebewesen – als Lebewesen. Gemeint ist nichts anderes als die evolutionäre oder eben historische Tatsache, dass sich das Leben in Arten manifestiert. Bergson zufolge arbeitet das Leben so, als ob es dadurch, dass es unterschiedliche und sich doch ähnelnde Wesen schafft, Begriffe bilden wolle. Canguilhem paraphrasiert: „[D]as Leben findet sich so eingerichtet, daß es in seinen Produkten das skizziert, was eines seiner Produkte, der Mensch, zu Recht oder zu Unrecht, als eine Einladung des Lebens zur begrifflichen Erkenntnis des Lebens durch den Menschen wahrnimmt.“28 Eine biologische Konzeption des Begriffs gründet sich so gesehen auf die Wirklichkeit der Begriffe in der Biologie, und diese Wirklichkeit ist eine eminent historische, evolutionäre.

Die Dezentrierung des Begriffs gegenüber sich selbst Am 8. Juli 1858 hält der Berliner Physiologe Emil Du Bois-Reymond in der Leibniz-Sitzung der Berliner Akademie der Wissenschaften eine Gedenkrede auf Johannes Müller. In dieser Rede vertritt Du Bois-Reymond die Auffassung, Descartes sei der Urheber des Reflexbegriffs in der Physiologie. Nicht zuletzt deshalb weist Du Bois-Reymond auf diesen prominenten Vorläufer hin, weil er seinen eben verstorbenen Lehrer Müller gegen die durch Autoren wie Eduard Pflüger, Ernst Heinrich Weber und Andreas Jeitteles nahegelegte Annahme in Schutz nehmen möchte, der tschechische Physiologe Georg Prochaska habe den Reflexbegriff bereits 1784 richtig formuliert – also fast 50 Jahre bevor dies Müller, etwa zeitgleich mit Hall, getan hat.29 Man wird kaum darin fehlgehen, Du Bois-Reymond als prominenteste Verkörperung jener Positionen zu verstehen, gegen die das Reflexbuch _____________ 27 28 29

Canguilhem, Le concept et la vie. In: ders., Études d’histoire et de philosophie des sciences. 7., erw. Ausg., Paris 22002, S. 335–364, hier S. 350. Ebd., S. 352. Emil Du Bois-Reymond, Gedächtnisrede auf Johannes Müller [1858]. Berlin 1860 sowie ders., Gedächtnisrede auf Johannes Müller [1887]. In: Reden von Emil Du Bois-Reymond in zwei Bänden, hg. v. Estelle Du Bois-Reymond. 2. verm. Aufl., Leipzig 1912, Bd. 1, S. 135–317.

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geschrieben ist – und zwar sowohl in physiologischer wie physiologiehistorischer Hinsicht, vielleicht sogar in kultureller. Mit Blick auf die Motivation der Müller-Gedenkrede spricht Canguilhem jedenfalls von der „Anmaßung und Brutalität“, mit der der damalige „Papst der deutschen Physiologie“ auf die Ansprüche jener Autoren reagiert, die offenbar – da sie einem Tschechen, nämlich Prochaska, die Urheberschaft am Reflexbegriff zusprechen – „von der Überlegenheit der germanischen Zivilisation nicht hinreichend überzeugt“30 sind. Was hier interessiert, ist aber etwas anderes. Es ist die Präzisierung des begriffsgeschichtlichen Vorgehens, die Canguilhem in Absetzung von Du Bois-Reymond vornimmt. An dessen Darstellung kritisiert er zweierlei: einerseits werde in Bezug auf die Erwähnung der ‚esprit reflechis‘ in Artikel 13 von Descartes’ Passions de l’âme kein Unterschied zwischen einem Ausdruck und einem Begriff gemacht; andererseits werde in der Diskussion von Artikel 36 desselben Werks keine Unterscheidung zwischen einer Beschreibung und einer Begriffsbestimmung getroffen.31 So wie an dieser Stelle nimmt Canguilhem im Verlauf seiner Darstellung immer wieder auf die verschiedenen Ebenen oder Schichten wissenschaftlicher Begriffe Bezug: beispielsweise die der Beschreibung und der Benennung einerseits, die des Begreifens andererseits; die Ebene der Denomination und die der Definition; die der Sache, des Worts und der Bestimmung.32 Es sind solche Differenzierungen, die ihm den Nachweis erlauben, dass nicht Descartes, sondern Willis für die Bildung des Reflexbegriffs verantwortlich ist. Denn anders als Descartes benutzt Willis das Wort, den Ausdruck ‚Reflex‘ nicht nur an einer Stelle. Er durchzieht seine Schriften vielmehr wie eine „intellektuelle Invariante“.33 Zudem bemüht sich Willis, das Wort ausdrücklich zu definieren, indem er eine Aussage anfügt, die den Sinn des Definierten fixiert. Und schließlich führt Willis im gleichen Zusammenhang auch die Sache an, in Form des Kratzreflexes.34 Was durch die Verkopplung dieser Schichten bei Willis insgesamt gegeben ist, nennt Canguilhem den Begriff als eine ‚Möglichkeit des Urteils‘: Ein Begriff in diesem Sinn umschreibt oder klassifiziert Erfahrungen, und er bietet ein Prinzip zu ihrer Interpretation an.35 Eine wissenschaftshistorische Arbeit, die sich nicht nur auf die Geschichte von Begriffen, sondern auch auf deren Schichtung einlässt, sieht sich somit komplexen Verhältnissen gegenüber: Ein bestimmtes Wort _____________ 30 31 32 33 34 35

Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs [Anm. 3], S. 174. Ebd., S. 172. Ebd., S. 86. Ebd., S. 84. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87.

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kann verwendet werden, die fragliche Sache kann beschrieben werden, aber eine Definition bleibt aus. Oder: die Sache ist bekannt, sie wird auch definiert, aber das Wort wird nicht verwendet; usw. Genau solche Verhältnisse sind es, die bei der Zuschreibung von Begriffsurheberschaften leicht zu Fehlurteilen und Missverständnissen führen. Canguilhem besteht aber auf solchen Zuschreibungen, ist doch die wissenschaftliche Wahrheit für ihn kein „Objektivitätsidol“,36 vor dem sich die persönlichen Verdienste in nichts auflösten. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu. Eben weil man sie auf Worte, auf Ausdrücke, verkürzen kann, ist es möglich, Begriffe auf unterschiedlichen „theoretischen Terrains“37 anzusiedeln. Bei Willis ist der Reflexbegriff Teil einer vitalistisch ausgerichteten Theorie der Lebenserscheinungen; bei Descartes erscheint er als Teil einer mechanistisch ausgerichteten Physiologie. Führt man sich die grundlegenden Annahmen der Descartesschen Physiologie vor Augen, wird jedoch deutlich, dass Descartes den zukunftsträchtigen Reflexbegriff schon deshalb nicht bilden konnte, weil er die zentripetale und zentrifugale Fortpflanzung von Reizen im Körper als zwei fundamental voneinander unterschiedene Prozesse ansah. Anders bei Willis, der – wie verdeutlicht – eine Theorie des Lichts und des Lebens entwickelt hat, in der der Reflexbegriff fast buchstäblich umgesetzt werden und mit einer Gesamtheit anderer Analogien in aufschlussreichem Zusammenhang treten kann. Spätestens hier wird deutlich, dass Canguilhem – um zur Ausgangsthese zurückzukommen – sich nicht als der Marshall Hall, sondern als der Charles Sherrington einer Wissenschaftsgeschichte der Begriffe verstanden wissen möchte. Der Begriff mag die kleinste Einheit epistemischer Integration sein, seine Wirkungen entfalten sich aber nicht unabhängig vom globalen Zustand eines theoretischen Terrains, auf dem er angesiedelt ist.

Schluss Die Geschichte wissenschaftlicher Begriffe ist bei Canguilhem keine wahllose. Die Auswahl, die er trifft, orientiert sich nicht an einem Durchgang durchs Alphabet, sondern am gegenwärtigen Zustand einer Kultur, einer Gesellschaft. Im Vordergrund stehen zudem nicht Fachbegriffe per se, sondern Wissenschaftsbegriffe, die „theoretisch mehrdeutig“38 sind. Diese Begriffe sind nicht das assoziative Resultat einer wiederholten Wahrnehmung von sinnlichen Mannigfaltigkeiten, aber auch nicht das Ergebnis _____________ 36 37 38

Ebd., S. 194. Ebd., S. 12. Ebd.

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einer mathematischen Setzung, die solche Mannigfaltigkeiten durch fortschreitende Synthese erzeugt. Vielmehr handelt es sich um erfahrungsleitende Schemata, Praxis-Sonden, die in ihrer Entstehung zunächst auf die externe Assimilation von Formen zurückgehen und deren entfaltete Funktion dann, als „Operatoren“,39 wie Canguilhem sagt, in nichts anderem besteht, als in der Ermöglichung der Entwicklung und des Fortschreitens von Wissen. Dieses Verständnis von ‚Begriff‘ schließt insofern an aktuelle Debatten über die Bedeutung der materiellen Kultur von Wissenschaft an, als es die Rolle der technischen Analogien und Modelle in der Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnis hervorhebt.40 Die Assimilation von biologischen, technologischen und anderen Formen oder Figuren mag in Zeiten des genetischen Codes als archaisches Verfahren erscheinen. Das hindert nicht daran, der epistemischen Wirksamkeit dieses quasi-morphologischen Hantierens in der Geschichte der Gegenwart nachzuspüren. Canguilhems Auseinandersetzung mit der Geschichte von Begriffen wie Zelle, Umwelt, Reflex und Regulation verdeutlicht, dass die begrifflichen Operatoren in der Geschichte der biomedizinischen und biologischen Wissenschaften ihre Bindung an antike Themen und Bilder oft nicht verloren haben. In seiner Entstehung ist der Reflexbegriff von einer Mythologie der Flamme, von der stoizistischen Theorie der Feuerseele, nicht zu trennen, und noch im 19. Jahrhundert schimmert durch die unterschiedlichen Theorien zum Zellplasma das Bild des Meers hindurch, dem Venus entsteigt.41 Dennoch hat Canguilhem sich gegenüber der These einer gegenseitigen Durchdringung von Wissenschaft und Literatur zurückhaltend geäußert. Wörtlich spricht er in diesem Zusammenhang, wiederum im biologischen Idiom, von der Frage der ‚wechselseitigen Einlagerung‘ (intussusception). Der Entwicklung entsprechender Ansätze steht er, wie er Ende der 70er Jahre bekennt, gleichgültig gegenüber – auch wenn ihn das in die Rolle eines „Fossils des Begrifflichen“ drängen sollte.42 Umgekehrt hat ihn diese Gleichgültigkeit nicht davon abgehalten, in seinen begriffsgenealogischen Studien immer wieder auch auf literarische Autoren Bezug zu nehmen. Neben dem immer wieder bemühten Paul Valéry zitiert Canguilhem etwa Jean de La Fontaine, Auguste de Villiers de L’Isle-Adam, Franz Kafka, Antonin Artaud, Jorge Luis Borges und viele andere. Dies geschieht auch deswegen, weil er, anders als Bachelard, im _____________ 39 40 41 42

Canguilhem, Le concept et la vie [Anm. 27], S. 360. Siehe dazu z. B. Andrew Pickering, Kybernetik und Neue Ontologien, übers. v. G. Roßler. Berlin 2007, S. 52. Canguilhem, La théorie cellulaire [Anm. 24], S. 79. Ders., Idéologie et rationalité dans l’histoire des sciences de la vie. Nouvelles études d’histoire et de philosophie des sciences. 2. korr. Aufl. Paris 1993, S. 9.

Dreifache Dezentrierung

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Blick auf die Lebenswissenschaften stärker auf die Kontinuitäten als auf die Diskontinuitäten zwischen Wissenschaft und Einbildungskraft abhebt. Letztere erscheint bei ihm nicht zunächst als Hindernis, sondern als Befähigung, als Potential. Für das Schreiben wissenschaftshistorischer Arbeiten hat das eine an Robert Musil erinnernde Konsequenz: „Der Nutzen einer wohlverstandenen Wissenschaftsgeschichte scheint uns zu sein, die Geschichte in der Wissenschaft aufzuweisen. Die Geschichte, das heißt uns zufolge den Möglichkeitssinn [le sens de la possibilité ].“43

_____________ 43

Ders., La théorie cellulaire [Anm. 24], S. 47.

Philipp Sarasin

Die Sprache des Fehlers. Foucault liest Canguilhem (und Darwin)1 In diesem kleinen Aufsatz möchte ich über einen kurzen Text von Michel Foucault sprechen, der natürlich nicht unbekannt ist: sein Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Georges Canguilhems Buch On the Normal and the Pathologic, publiziert 1978 (im Folgenden zitiert als: VC plus Seitenzahl).2 Ich möchte schlicht zu rekonstruieren versuchen, was Foucault in diesem philosophisch aufgeladenen Vorwort sagt, indem ich ihn soweit in den Rahmen seiner epistemologischen Positionen stelle, dass zumindest die Umrisse seines dezidiert anti-hermeneutischen Verständnisses dessen, was ein Begriff sei, deutlich werden soll. Das ist ein Verständnis, das sich – und das scheint mir insgesamt die Pointe zu sein – weit mehr als an alles andere an methodische Repertoires der Naturwissenschaften anlehnt. Foucault beginnt mit der Feststellung, dass jener kritisch-aufklärerische Impuls, der in Deutschland ausgehend von Kants Schrift Was ist Aufklärung bis zur kritischen Philosophie seiner Kollegen von der Frankfurter Schule sich manifestierte, in Frankreich von der kritischen Arbeit einiger Wissenschaftshistoriker, namentlich Gaston Bachelard und Canguilhem, ausgegangen sei. In beiden Fällen – im Deutschen wie im Französischen – gehe es darum, die Vernunft von ihren eigenen „Dogmatismen und Despotismen“ zu befreien. (VC 556) Foucault nennt dabei insbesondere vier Punkte, mit denen Canguilhem die Wissenschaftsgeschichte in diesem Sinne grundlegend verändert habe: Erstens, indem er das Thema der Diskontinuität eingeführt habe, weil Wissenschaftsgeschichte nicht die kontinuierliche Entfaltung einer Wahrheit zu beschreiben habe, sondern die wechselnden Formen des „die Wahrheit sagen“. Zweitens die Verände_____________ 1 2

Einige der Argumente, die ich hier nur andeuten kann, entfalte ich sehr viel ausführlicher in meinem Buch: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie. Frankfurt a.M. 2009. Michel Foucault, Vorwort von Michel Foucault [zu: Georges Canguilhem, On the Normal and the Pathological. Boston, 1978]. In: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. III: 1976–1979, hg. von Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Frankfurt a.M. 2003, S. 551–567; eine zweite, nur wenig veränderte, inhaltlich gleichlautende Fassung dieses Textes gab Foucault kurz vor seinem Tod noch einmal in Druck (Foucault, Das Leben. Die Erfahrung und die Wissenschaft. In: ebd., Bd. IV: 1980–1988. 2005, S. 943–959).

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rung durch die Methode der Rekurrenz, die ausgehend von den Diskontiuitäten in der Geschichte einer Wissenschaft diese Geschichte auch laufend nachträglich umarbeiten muss: „was lange Zeit Sackgasse war, wird eines Tages zum Ausweg; ein Versuch am Rande wird zum zentralen Problem“, etc. (VC 559) Hans-Jörg Rheinberger sagt dazu bekanntlich in Anlehnung an Jacques Derrida „Historialität“ und meint damit jene Spur der Irrtümer und Umwege, die sich nachträglich als die Wege neuer Wahrheiten erweisen.3 Drittens, so Foucault, habe Canguilhem ausgehend von der Unruhe, die der Begriff des Vitalismus als „Indikator“ auslöste, gezeigt, dass insbesondere die Wissenschaften vom Leben in einer eigentümlichen Weise nicht einfach „objektiv“ sein können, sondern ganz im Gegenteil, so Foucault, „nicht ohne eine bestimmte Wertposition auskommen, die die Erhaltung, die Regulierung, die Anpassung, die Fortpflanzung markiert“ (VC 562) – auf diesen Punkt werde ich zurückkommen. Das trifft auch für den vierten Punkt zu, den Foucault mit jener Art der Wissenschaftsgeschichte verbindet, für die Canguilhem steht: „Georges Canguilhem beharrt auf dem Umstand, dass eine Idee in dem Augenblick zu einem biologischen Begriff wird, in dem die mit einer externen Analogie verknüpften Reduktionseffekte zugunsten einer spezifischen Analyse des Lebendigen verschwinden; der Begriff des ‚Reflexes‘ bildete sich nicht dann als biologischer Begriff, als Willis auf die automatische Bewegung das Bild eines reflektierten Lichtstrahls anwandte“ – das heißt: eine metaphorische Operation zur Erhellung eines Phänomens einsetzte –, sondern „in dem Augenblick, in dem Prochaska ihn in die Analyse der sensomotorischen Funktionen und ihrer Dezentralisierung in Bezug auf das Gehirn einschreiben konnte.“ (VC 563) Der Begriff wurde also in eine experimentell abgestützte Theorie eingelassen und bezeichnet einen beschreibbaren Vorgang – er kann nun einen Lebensvorgang präzise bezeichnen. Es ist klar, dass das erkenntnistheoretische Fragen aufwirft, und Foucault setzt seine Reflexionen auch genau an diesem Punkt fort. Denn das Problem der Biologie bestehe nicht einfach nur darin, dass der Erkenntnisgegenstand – das Lebendige – speziell sei, sondern vielmehr darin, dass wir selbst diesem Gegenstand angehören, genauer noch: dass sich unser Lebendigsein gerade in der Erkenntnistätigkeit „manifestiert, vollzieht und entfaltet“. (VC 564) Man sieht: die an sich doppelte Ausgangsfrage, die Foucault mit Canguilhem herausstellt, nämlich: Wie kann man das Leben adäquat erfassen?, und wie kann man die Geschichte der Biologie erforschen? – Diese doppelte Frage stellt sich (oder stellt Foucault mit Canguil_____________ 3

Hans-Jörg Rheinberger, Historialität, Spur, Dekonstruktion. In: ders., Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg 1992, S. 47–66; vgl. dazu auch ders., Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie. Frankfurt a.M. 2006.

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hem) vor dem Hintergrund der eigentümlichen Reflexionsfigur, dass es, so Foucault, „unter den Lebenden, und zwar weil sie Lebende sind, Wesen gibt, die fähig sind, zu erkennen und die schließlich das Leben selbst erkennen können“. (VC 564) Es ist klar, dass das keine kantische Erkenntnistheorie mehr ist, in der die Vernunft nur deshalb zur Erkenntnis fähig ist, weil sie in den Erscheinungen der Dinge in der Welt ihre eigenen Hervorbringungen wiedererkennt, aber es ist ebenso wenig jene Hegelsche Vorstellung, dass der Mensch jenes Wesen sei, das am Ende der Geschichte alles Seiende qua Geist denkend erfassen könne. Ich will nur kurz daran erinnern – mit einem kleinen Abstecher in die Geschichte der eher populären Biologie in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert –, dass es eine solche Position auch nach Darwin durchaus geben kann. Der bekannte Haeckel-Schüler Wilhelm Bölsche etwa hat 1915 in seinem Kosmos-Bändchen Der Mensch der Zukunft im Stile einer auf Goethe und die romantische Naturphilosophie bezogenen, ihrer epistemologischen Struktur nach aber vollständig hegelianisierten Evolutionsbiologie, wie sie vor allem Ernst Haeckel vertreten hat,4 zum Beispiel geschrieben: „Das Aufsaugen des ganzen noch bestehenden Stammbaums durch den einen Menschen vollzieht sich aber nicht bloß so äußerlich. Es hat noch einen tieferen innerlicheren Sinn. Wir saugen die ganze übrige organische Welt auch geistig ein. Sie geht ein in unser Bewusstsein, unsere Forschung, erhält dort eine ganz neue Einheit. Indem wir ihren heutigen Inhalt hier zu uns herüberziehen, greifen wir sogar (nach jenem großen uns eigenen Prinzip der Umkehr der Naturprozesse, des Aufrollens der Vergangenheit) auf die früheren, längst vergangenen Stammbaumteile zurück. Nicht bloß, was noch neben uns lebt, lassen wir gleichsam in unser Inneres einwachsen und dort geistig neu auferstehen, sondern auch die ältesten abgetrockneten Seitenzweige der Vorwelt reihen wir wieder ein, ziehen wir auch in unsere Vergeistigung. Viel reiner, viel erhabener noch als in jenem Gewaltprozess wird hier jedes Tier in unsere Wissenschaft und Erkenntnishelle nachträglich noch einmal ‚Mensch‘ bis zum Ichthyosaurus hinab, der einst scheinbar ohne jeden Anschluss nach oben als Nebenzweig verdorrt war.“5 Mit anderen Worten, der Mensch ist nicht nur biologisch die Synthese aller bisherigen Naturprozesse und Produkte der Evolution; vielmehr ist auch dessen Naturanschauung die Verdoppelung dieser Synthese im Geist: Naturerkenntnis unterwirft die Vielfalt auch längst abgestorbener Formen des Lebendigen den Begriffen einer Biologie, in der das Leben sich selbst erkennt, weil es _____________ 4 5

Vgl. Bernhard Kleeberg, Theophysis. Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen. Köln 2005. Wilhelm Bölsche, Der Mensch der Zukunft. Stuttgart 1915, S. 62–63.

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die teleologische Spitze der Evolution ist.6 Dies ist natürlich nicht Foucaults Position, aber es ist erhellend, seine Position auch im Maß der Distanz zu dieser hegelianisierten Evolutionsbiologie zu rekonstruieren. Das muss natürlich mit seiner Distanz zu Hegel tout court beginnen. Ich will dazu nur eine wenig bekannte Stelle zitieren, die für unser Thema einschlägig ist. Im Jahr 1975 setzte er sich ‚informell‘, wie es im Vorspann des Gesprächs über die Macht heißt, in Los Angeles mit Studenten zusammen, um seine Machttheorie zu diskutieren, die bekanntlich unter anderem darauf beruht, die Ubiquität von Machtverhältnissen zu postulieren, ihre unhierarchische und ungerichtete Struktur, und ihr Basieren auf einer endlosen Serie von Gegensätzen. Dazu sagt ein Student: „Mich stört an dieser Sichtweise, dass sie dem wichtigsten Grundprinzip des Marxismus widerspricht.“ Machstrukturen seien gemäß Marx zwar wechselseitige, aber dialektische Verhältnisse. Foucault widerspricht energisch: „Den Ausdruck ‚dialektisch‘ akzeptiere ich nicht. Absolut nicht. [...] Ein wechselseitiges Verhältnis ist kein dialektisches Verhältnis.“ Und weiter: „Sehen wir uns den Ausdruck ‚Widerspruch‘ doch einmal genauer an. [...] [W]enn wir uns die Realität ansehen und eine ganze Reihe von Prozessen untersuchen, stellen wir fest, dass es dort gar keine Widersprüche gibt. Nehmen Sie den Bereich der Biologie. Dort finden wir zahlreiche antagonistische Wechselprozesse, aber das heißt nicht, dass es sich um Widersprüche handelte. Es heißt nicht, dass es auf der einen Seite des antagonistischen Prozesses einen positiven und auf der andern einen negativen Aspekt gäbe. Ich halte es für eine sehr wichtige Erkenntnis, dass Kampf und antagonistische Prozesse keinen Widerspruch im logischen Sinne darstellen, wie die dialektische Sicht behauptet. In der Natur gibt es keine Dialektik. [...]: Wie Darwin hinreichend gezeigt hat, finden sich in der Natur zahlreiche antagonistische Prozesse, die nicht dialektisch sind. In meinen Augen lässt sich diese Hegelsche Formulierung nicht halten.“7 Das ist deutlich genug, um nicht zu sagen hinreichend: Foucault kritisiert Hegel aus der Perspektive Darwins. Die Natur kennt keine Dialektik; jedes Wesen, das ums Dasein kämpft, ist in sich eine Positivität, die auf eine andere Positivität prallt, und deren Differenz einen Unterschied um Leben und Tod sein kann. Da gibt es keine Synthesen, sondern nur zufallsgesteuerte Veränderung, die zur Evolution der Organismen führt. Darum hat Foucault sich auch immer wieder sehr deutlich gegen jedes _____________ 6

7

Vgl. dazu ausführlicher Michael Hagner / Philipp Sarasin, Populärer Darwinismus in Deutschland. Wilhelm Bölsche und der ‚Geist‘. In: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte, 2008. Themenschwerpunkt Darwin, hg. v. M. Hagner u. Ph. Sarasin. Berlin u. Zürich 2008 [in Vorb.]. Foucault, Gespräch über die Macht. In: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. III: 1976–1979 [Anm. 2], 2003, S. 594–608, hier S. 601–602 [Herv. v. Verf.].

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gleichsam essentialistische Bild der Evolution gewandt: Der Evolutionsprozess ist weder notwendig noch eine Entfaltung eines schon im Ursprung angelegten Wesens der Natur oder der Organismen, sondern der nur nachträglich, das heißt genealogisch zu rekonstruierende Herkunftspfad der gegenwärtig existierenden Organismen. Er ist, mit anderen Worten, kein dialektischer Gang von Synthese zu Synthese, sondern vollständig kontingent und ziellos.8 Ich bin vor diesen Abschweifungen bei der Frage stehen geblieben, was es unter diesen historischen Umständen – das heißt im Zeitalter Darwins – bedeutet, dass sich das Leben im Medium der Biologie selbst begreift; das war die Frage, die Foucault mit dem Namen Canguilhems verknüpft. Für Foucault ist diese Selbsterkenntnis des Lebendigen nur möglich, weil er mit Canguilhem eine ganz spezifische Vorstellung vom Wesen des Begriffs hat: Der Begriff ist, so Foucault, „eine der Weisen der Information [...], die jedes Lebewesen in seiner Umwelt entnimmt und durch die es umgekehrt seine Umwelt strukturiert.“ (VC 564) Weil es nun um den Begriff geht, ist es wichtig, an diesem Punkt ein wenig ins Detail zu gehen. Ich zitiere deshalb Foucault noch etwas ausführlicher. Er fährt fort: „Dass der Mensch in einer begrifflich strukturierten Umwelt lebt, beweist nicht, dass er sich durch irgendein Vergessen vom Leben abgekehrt hätte oder dass ein historisches Drama ihn davon getrennt hätte; sondern nur, dass er auf eine bestimmte Weise lebt, dass er zu seiner Umwelt ein Verhältnis hat, das keinen festgelegten Blickwinkel aufweist, dass er auf einem unbegrenzten Territorium beweglich ist, dass er sich fortbewegen muss, um Informationen zu sammeln, dass er die Dinge gegeneinander zu bewegen hat, um sie nutzbar zu machen.“ (VC 564 f.) Sprache als solche steht daher für Foucault nicht gegen Natur, ist nicht der Index der Trennung von Natur und Kultur wie im Strukturalismus im Gefolge von Claude Lévi-Strauss: „Begriffe bilden ist eine Weise zu leben und nicht, das Leben zu töten“ – das ging wieder gegen Hegel, bei dem bekanntlich der Begriff der Mord an der Sache ist; „Begriffe bilden“ ist vielmehr, so Foucault, „eine Weise, in völliger Mobilität zu leben und nicht, das Leben zu immobilisieren; es bedeutet unter den Milliarden von Lebewesen, die ihre Umwelt formieren und sich von ihr formieren lassen“ – das ist die moderne biologische Sichtweise –, „eine Innovation, die man bewerten kann, wie man will, als winzig oder als beträchtlich: ein besonderer Typ von Information.“ (VC 565) Der Mensch also ist dank der Sprache nur ein ganz besonders flexibles, gut angepasstes Tier, nicht mehr. Damit aber stellt sich die Frage nach der ‚Wahrheit‘ dieser Begriffe in _____________ 8

Vgl. dazu Foucault, Die Situation Cuviers in der Geschichte der Biologie (Vortrag). In: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. II: 1970–1975 [Anm. 2], 2002, S. 37–82, insbes. S. 38–41.

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besonderer Weise: Sind diese Begriffe nun deswegen ‚wahr‘ oder irgendwie ‚adäquat‘, das heißt den Naturdingen angepasst, weil die menschliche Erkenntnistätigkeit, wie Canguilhem sagt – und Foucault zitiert ihn so –, als „allgemeine Methode zur direkten oder indirekten Lösung der Spannungen zwischen dem Menschen und der Umwelt“ (Canguilhem zit. in VC 564) zu verstehen sei? Sind sie gleichsam dann ‚wahr‘, wenn sie diese Spannung effektiv zu lösen helfen, oder wie soll man das verstehen? Man darf die Möglichkeit eines gewissen Begriffsrealismus bei Foucault nicht von vornherein ausschließen; Canguilhems Bemerkung jedenfalls, dass der Begriff des Reflexes erst dann zu einem wirklichen biologischen Begriff werde, wenn dieser alle seine metaphorischen Bewegungen gleichsam hinter sich lässt und eine experimentell abgestützte theoretische Erklärung eines biologischen Vorgangs bezeichnen kann, zitiert Foucault ohne Vorbehalt. Das bedeutet aber nicht, dass der Begriff des Reflexes bei Georg Prochaska schlicht „wahr“ sei, sondern dass er eine Zeitlang Teil eines „discours véridique“ war, eines „wahrheitsorientierten Diskurses“ (VC 558) – Teil von Diskursen also, deren sukzessive Geschichte bekanntlich nicht die Geschichte einer Annäherung an ‚die‘ Wahrheit darstellt, sondern eine Geschichte der Diskontinuitäten ist. Soviel ist klar. Allein, was heißt unter dieser Voraussetzung nun doch, dass der Mensch nicht nur das Lebewesen sei, dass sich durch Begriffe mit seiner Umwelt auseinandersetzen muss, wenn es überleben will, sondern genauer noch, dass man das, was Foucault „den originären Sinn eines jeden Erkenntnisaktes“ nennt, „auf der Seite des ‚Lebenden‘ selbst suchen muss“ – und nicht, wie etwa die Phänomenologie, im „Erleben“? (VC 564) Anders gefragt: Welche geheimen Bande oder Kongruenzen zwischen dem ‚Lebenden‘ – le vivant – und den Begriffen kann es geben, die die Begriffe von bloßen Metaphern unterscheidbar machen, zugleich aber auch nicht einen platten Begriffs-Realismus nahe legen würden? An diesem Punkt bringt Foucault den Informationsbegriff ins Spiel. Er schreibt: „Im Zentrum dieser Probleme“ – also des Informationsbegriffs in der Biologie – „steht das des Irrtums. Denn auf dem fundamentalsten Niveau des Lebens geben die Spiele des Codes und der Decodierung einem Zufall Raum, der, bevor er Krankheit, Mangel oder Missbildung ist, so etwas wie eine Störung im Informationssystem ist, etwas wie ein ‚Versehen‘.“ (VC 565) Er spricht also von der genetischen Mutation: „In ihr“ – das heißt in der fundamentalen Eventualität des genetischen Fehlers, wie er sagt – „ist der Grund für die singulären Mutationen zu suchen, für den ‚hereditären Irrtum‘, der bewirkt, dass das Leben mit dem Menschen zu einem Wesen geführt hat, das sich nie ganz an seinem Platz befindet [qui

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ne se trouve jamais tout à fait à sa place],9 das dazu verurteilt ist, zu ‚irren‘ und das letztlich zum ‚Irrtum‘ bestimmt ist.“ (VC 565) Das ist, wie man leicht erkennt, nebenbei eine ziemlich ironische Antwort auf Lacan und Derrida zugleich: Der Mensch ist nicht à sa place – und zwar nicht, weil ihn die Sprache oder der ‚Mangel‘ dezentrieren, sondern weil er ein Produkt von ‚Mutationen‘ ist. Wegen dem ‚hereditären Irrtum‘ hat der Mensch – wie natürlich alle anderen Organismen – kein stabiles und in irgendeinem Ursprung schon angelegtes Wesen, das in irgendeiner Reflexions- oder Erinnerungsbewegung wieder erkennbar wäre; er ist nicht mit sich selbst identisch. Das hat Foucault schon in seinem Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie betont – mit bekanntlich explizitem Bezug auf Nietzsche, unausgesprochen aber, wie man zeigen könnte, mit noch viel deutlicherem Bezug auf Darwin.10 Für das Verständnis dessen, was ein Begriff sei, hat das nun aber, wenn man hier Foucault folgen will, weitreichende Konsequenzen. Er schreibt: „Wenn man annimmt, dass der Begriff die Antwort des Lebens auf diesen Zufall ist“ – eben die Zufälligkeit der genetischen Mutationen, die zur Evolution des Menschen geführt haben –, „dann muss man darin übereinkommen, dass der Irrtum die Wurzel dessen ist, was das menschliche Denken und seine Geschichte ausmacht.“ (VC 565 f.) Der Begriff also sei die Antwort des Lebens auf den Zufall der Mutation – dieser Begriff der ‚Antwort‘ (réponse im Original) erscheint allerdings ziemlich dunkel. Denn primär würde man denken, dass dies die Antwort eines Geistes auf die Natur sei, die in ganz anderen Verhältnissen begründet würde als in der Natur selbst – in der als eigengesetzlich gedachten Kultur etwa oder in der Sprache. Das aber ist eindeutig nicht Foucaults Position.11 Dann aber muss réponse hier so etwas wie ‚Reaktion‘, ‚Ausdruck‘ oder ‚Effekt‘ bedeuten. Der Begriff wäre also der Effekt der Tatsache, dass der Mensch als Naturwesen Produkt von Mutation, von ‚Fehlern‘ ist. Die Wurzel dessen, was das menschliche Denken und seine Geschichte ausmacht, eben der Begriff, ist gemäß Foucault zwar nicht unmittelbar Produkt eines genetischen Programms – Denken erscheint nicht im Stil der Soziobiologie als irgendwie ‚programmiert‘ –; aber es erscheint irgendwie als das Resultat der Möglichkeiten der Variation jener beim Kopieren und Neukombinieren fehleranfälligen Codes, die gemäß dem damaligen Verständnis von _____________ 9 10 11

Foucault, Introduction par Michel Foucault. In: ders., Dits et Écrits. 1954–1988. Bd. III: 1976–1979, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Paris 1994, S. 429–442, hier S. 441. Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. II: 1970–1975 [Anm. 2], 2002, S. 166–190. Vgl. dazu Philipp Sarasin, War Michel Foucault ein Kulturwissenschaftler? In: Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, hg. v. Iris Därmann u. Christoph Jamme. München 2007, S. 313–330.

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Genetik das Leben selbst bestimmen.12 Er schreibt daher, zentrale Motive seines eigenen Denkens ins Spiel bringend: „Die Opposition zwischen dem Wahren und dem Falschen, die Werte, die man dem einen und dem anderen zuschreibt, die Machtwirkungen, die die verschiedenen Gesellschaften und die verschiedenen Institutionen mit dieser Unterscheidung“ – wahr und falsch – „verknüpfen, all das ist vielleicht nichts anderes als die letzte Antwort auf diese dem Leben innewohnenden Möglichkeiten des Irrtums.“ (VC 566) Diese wenigen Bemerkungen Foucaults sind insgesamt zweifellos nicht mehr als die Skizze einer radikal anti-hermeneutischen Erkenntnistheorie. Aber sie sind durchaus konsistent mit allen anderen Äußerungen Foucaults zum Problem des Begriffs und des Denkens, die bei ihm bekanntlich unter dem Titel zuerst der Episteme, dann des Diskurses verhandelt werden. Auf die ihm nach dem Erscheinen von Les mots et les choses gestellte Frage etwa, ob es zulässig sei, im Bereich des menschlichen Geistes eine Form der Analyse einzuführen, die sich auf solch gleichsam kalte Formen und Denkinstrumente stützt, antwortete er in einem Interview, dass „das eigentliche Tiefenphänomen, von dem wir geprägt sind, das vor uns da ist und uns in Zeit und Raum trägt, das System ist“. Daher trügen auch etwa „in der Biologie die Chromosomen bekanntlich in Form eines Codes, einer verschlüsselten Nachricht, sämtliche Informationen, die für die Entwicklung des jeweiligen Lebewesens erforderlich sind [...].“13 Und er ergänzt, in dem er sich für einmal in die Reihe der Strukturalisten stellt, dass seine Generation zeigen wolle, dass „unser Denken, unser Leben und selbst noch die alltäglichsten Formen unseres Daseins Teil der selben systematischen Organisation sind und daher auf denselben Kategorien beruhen wie die wissenschaftliche und technische Welt.“14 Das war ziemlich provokativ (Foucault musste damals ja auch JeanPaul Sartre ärgern), aber das ändert nichts daran: Foucault versuchte systematisch, den Begriff des Diskurses als eine Ordnungsstruktur zu denken, wie sie etwa Xavier Bichat in seiner pathologischen Anatomie entwickelte: Die Anordnung der Gewebe erscheint bei Bichat als jener Raum, in dem sich die Krankheit erst entfalten kann, aber auch entfalten muss – ebenso, wie dann bei Foucault eben auch Diskurse sich nur eingeschränkt

_____________ 12 13 14

Nebenbei: dass Foucault immer nur auf den Fehler und nicht auf die Neukombination von DNA in der sexuellen Fortpflanzung spricht, lässt sein Argument etwas eingeschränkter erscheinen, als es sein müsste. Foucault, Gespräch mit Madeleine Chapsal. In: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. I: 1954–1969 [Anm. 2], 2001, S. 664–670, hier S. 665. Ebd., S. 670.

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in historisch kontigenten Räumen der Sagbarkeit entfalten müssen.15 Oder dann auch das Denkmodell des Diskurses als eine räumlich-topologische Ordnung nach dem Vorbild der physischen Geographie, was ich hier nicht ausführen will. Jedenfalls ist die Diskursanalyse insgesamt deswegen das Gegenteil eines hermeneutischen Verfahrens, weil die diskursive Ordnung ein Muster von Regelmäßigkeiten darstellt, das man nicht verstehen, sondern allein in einer Art pattern recognition beschreiben und über seine Verknüpfungslogiken erklären kann.16 Zum Schluss möchte ich noch kurz auf einen Punkt zurückkommen, den ich am Anfang angeschnitten habe. Foucault hat, wie man sich erinnert, bemerkt, dass die Biologie und damit auch die Geschichte der Biologie nicht frei von einer „Wertposition“ – position de valeur – sein könne, „die die Erhaltung, die Regulierung, die Anpassung, die Fortpflanzung markiert“. (VC 562) Etwas schlicht gesagt: Man kann nicht Biologie treiben und dabei vergessen, dass man nicht nur selbst lebt, sondern auch leben möchte. Damit aber zeigt sich ein entscheidender Punkt: In dem Maße, wie Foucault genealogisch denkt,17 und das heißt: das je Gegenwärtige als kontingentes Produkt von vergangenen Kämpfen versteht, muss er das Handeln und Sprechen von Individuen mit einem je individuellen Interesse verknüpfen: Man handelt und spricht letztlich als ein Wesen, das leben will, man kämpft letztlich um Lebenschancen. Das scheint im genealogischem Ansatz eindeutig impliziert zu sein, und daher scheint Foucault auch zu sagen, dass die biologischen Begriffe gleichsam im Horizont der Tatsache entstehen, dass Lebewesen mit diesen Begriffen das Lebendige zu entziffern versuchen, weil sie ihre Lebenschancen erweitern wollen, vielleicht auch ihre Macht über andere Organismen (wobei er das so nicht sagt – aber es liegt nahe). Daher aber sind die Begriffe der Biologie und damit überhaupt die Begriffe, die Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt brauchen, weder beliebig noch plattes Abbild der Realität, noch Ausdruck eines Geistes, sondern sind insofern ‚wahr‘, als sie Produkte von Menschen sind, die dem Lebendigen nicht ‚objektiv‘ gegenüberstehen, sondern unumgänglich parteiisch, an einen Standpunkt gebunden sind. Wenn Foucault Canguilhem zu dieser unumgänglichen Wertposition allerdings mit den Worten zitiert: „Eher ein Anspruch als eine Methode, eher eine Moral _____________ 15 16 17

Vgl. dazu meine Überlegungen in: ‚Une analyse structurale du signifié‘. Zur Genealogie der Foucault’schen Diskursanalyse. In: Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, hg. v. Franz X. Eder. Wiesbaden 2006, S. 115–130. Vgl. dazu neuerdings Ingo Warnke (Hg.), Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin 2007. Vgl. zu dieser Explikation von Genealogie Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen. M. e. Nachw. v. Martin Saar. Frankfurt a.M. 2003, Vorlesung I, S. 23–26.

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als eine Theorie“ (Canguilhem zit. in VC 562), ist das wohl am ehesten der Index des Alters dieser Texte, in diesem Fall Canguilhems Connaissance de la vie (²1965). Denn die moralische ‚Wertposition‘, für die ‚Erhaltung des Lebens‘ zu optieren, erscheint aus heutiger Perspektive seltsam unberührt von den Problemen des regulierenden und verändernden Zugriffs auf das genetische Substrat des Lebens. Dieser Zugriff erschien zwar als Schreckgespenst in Foucaults Vorlesung Zur Verteidigung der Gesellschaft von 1975/76, wenn er davon spricht, dass sich die Möglichkeit abzeichne, dass „dem Menschen technisch und politisch die Möglichkeit gegeben ist, nicht allein das Leben zu meistern, sondern es zu vermehren, Lebendiges herzustellen und Monströses und – nicht zuletzt – unkontrollierbare und universell zerstörerische Viren zu fabrizieren.“18 Von solchen Gefahren allerdings ist im Text über Canguilhem zwei Jahre später – und auch in der Überarbeitung von 1984 – keine Rede (mehr). Es gehört daher zu den immer noch hochgradig intrigierenden Paradoxien des Foucaultschen Denkens, wie seine kritische Theorie der Bio-Macht mit seiner sehr interessierten und in jeder Hinsicht „offenen“ Haltung gegenüber der Genetik in Übereinstimmung zu bringen wäre.19

_____________ 18 19

Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–1976). Frankfurt a.M. 1999, S. 294. Vgl. dazu mein Versuch in Sarasin, Darwin und Foucault [Anm. 1].

Yvonne Wübben

Kontinuität und Kontamination. Georges Canguilhems Begriffsgeschichte des Reflexes Oft erklären wir jene Augenblicke zu besonderen im Leben, in denen physiologische Abläufe ihre Beiläufigkeit verlieren. Es sind Erfahrungen der Irritation und Machtlosigkeit, die uns auf den Erhalt elementarer, ansonsten dem Körper anvertrauter Lebensfunktionen zurückwerfen. Michel Serres hat eine solche Erfahrung in seinem Buch Die fünf Sinne eindrücklich beschrieben.1 Er schildert, wie das Atmen auf dem Boden eines brennenden Schiffes zur Unmöglichkeit wird. Beim „Abstieg in tiefe, dunkle Schächte“ des Bootes eröffnete sich ein Blick auf den physiologischen Abgrund, an dem sich das Leben vollzieht. Derartige Erfahrungen stellen Ausnahmen dar, die die Beiläufigkeit physiologischer Abläufe durch deren Bewusstmachung durchkreuzen. Serres interessiert sich für diese Ausnahmen in einem allgemeinen und existenziellen Sinn. Wenn sich Physiologen, Biologen oder Ärzte mit physiologischen Abläufen befassen, dann geht es ihnen meist um wissenschaftliche Erkenntnis. Je nach Systematik unterteilen sie Lebensvorgänge in automatische, unwillkürliche und reflexhafte. Diese Unterscheidungen sind für Gaston Bachelard Resultat eines Verwissenschaftlichungsprozesses, in dessen Zug Erkenntnis entsteht und Vorstellungen von Irrtümern gereinigt werden.2 Reflexphysiologen des 19. Jahrhunderts brachten Erkenntnisse hervor, indem sie der unmittelbaren Anschauung experimentelles Wissen gegenüberstellten und damit bis heute gültige Unterscheidungen etablierten. Die physiologische Geschichte des modernen Reflexes lässt sich etwa so erzählen: 1811 zeigte Charles Bell experimentell, dass die Erregung der vorderen Wurzel eines Rückenmarknervs eine Muskelkontraktion im Rückenbereich auslöst.3 1833 beschrieb Marshall Hall die experimentellen _____________ 1

2 3

Michel Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, übers. v. M. Bischoff. Frankfurt a.M. 1993, S. 11. Ich danke Martin Bäumle, Frauke Berndt, Robert Buch, Christiane Frey, Dagmar Pfensig und Margarete Vöhringer für zahlreiche Anmerkungen und hilfreiche Hinweise sowie Simon Werret für die Bereitstellung von Materialien zur Geschichte der Pyrotechnik. Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, übers. v. M. Bischoff. M. e. Einleitung von Wolf Lepenies. Frankfurt a.M. 1978. Charles Bell, Idea of a New Anatomy of the Brain. London 1811.

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Merkmale dessen, was er Reflexhandlung nannte und unterschied sie von automatischen Bewegungen wie dem Herzschlag.4 1844 schlug Rudolf Wagner ein Schema des Reflexbogens vor; 1853 formulierte Eduard Pflüger schließlich die über lange Zeit klassischen Gesetze des Reflexes: Einseitigkeit, Symmetrie, Ausstrahlung sowie Verallgemeinerung, und trug wesentlich zur Durchsetzung des Konzeptes bei.5 Moderne physiologische Konzepte sind, wie diese Beispiele zeigen, eng mit Experimenten bzw. experimentellen Praktiken verbunden. Ihre Begriffsgeschichte sollte diese Praktiken einbeziehen6 und damit der Bedeutung des Experimentes für die Begriffsbildung Rechnung tragen. Die Geschichte eines wissenschaftlichen Begriffs – etwa die des Reflexes – oder auch einer Praktik – etwa der des Köpfungsexperiments – reicht oftmals weit in die Frühe Neuzeit zurück. Über epistemische Brüche hinweg bilden sich dort Kontinuitäten aus, die sowohl die Begriffe als auch die mit ihnen assoziierten Praktiken betreffen können und die Frage nach dem Verhältnis von Objekt, Begriff und Praktik auch in vormodernen Wissensräumen aufwerfen. Wie sind Begriffe im 17. Jahrhundert an Praktiken gekoppelt,7 wie verhalten sie sich zur frühneuzeitlichen Wissensproduktion? Wie werden Begriff, Objekt und Praktik vor dem 19. Jahrhundert, also vor der Genese moderner Experimentalsysteme fixiert? Und mit welchem Nutzen lässt sich die Anbindung der Begriffs- an die Experimentalgeschichte in diesem Zeitraum betreiben? Georges Canguilhem ist diesen Fragen in seinem Buch Die Herausbildung des Reflexbegriffes im 17. und 18. Jahrhundert nachgegangen. Er nimmt dort den Zeitraum vom 17. bis ins 19. Jahrhundert in den Blick und bezieht jene für den Reflex konstitutiven Experimente in seine Begriffsgeschichte ein. Bereits in den 1970er Jahren sprach Wolf Lepenies dessen Arbeiten „Modellcharakter“ deswegen zu.8 Seit einigen Jahren ist im deutschsprachigen Raum eine Canguilhem-Renaissance zu beobachten, die insbesondere dessen Studien zur Technikgeschichte und zu den Le_____________ 4 5 6 7

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Marshal Hall, On the Reflex Function in the Medulla Oblongata and Medulla Sinalis. In: Philosophical Transactions of the Royal Society. London 1833, Stück 123, S. 635–665. Eduard Friedrich Wilhelm Pflüger, Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere, nebst einer neuen Lehre über die Leitungsgesetze der Reflexionen. Berlin 1853. Vgl. den Beitrag Begriffsgeschichte epistemischer Objekte von Hans-Jörg Rheinberger im vorliegenden Band sowie ders, Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie. Frankfurt a.M. 2006, S. 221–244. Grundsätzlich dazu Rheinberger, Schnittstellen. Instrumente und Objekte im experimentellen Kontext der Wissenschaften vom Leben. In: Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, hg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig. Berlin u. New York 2006, S. 1–20. Wolf Lepenies, Vergangenheit und Zukunft der Wissenschaftsgeschichte – Das Werk Gaston Bachelards. Einleitung. In: Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes [Anm. 2], S. 7–34, hier S. 32.

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benswissenschaften betrifft.9 Georges Canguilhems Reflexbuch, das 1955 erschien,10 blieb bislang eher unberücksichtigt und liegt jetzt erstmals in deutscher Übersetzung vor.11 Für Begriffshistoriker könnte dieses Buch heute noch von Interesse sein, weil es weder eine reine Wortgeschichte noch eine einfache Konzeptgeschichte vorlegt. Canguilhem verfolgt vielmehr das Ziel, die Herausbildung des Reflexbegriffes in seinen theoretischen Verankerungen zu untersuchen und damit sein Inkubationsmilieu zu beschreiben. Man wird so dazu gebracht, die begrifflichen Abstammungslinien in einer anderen Richtung [als im bloßen Nacheinanderstellen – Y.W.] zu suchen. Anstatt sie zu fragen, wer der Autor ist, dessen Theorie der unwillkürlichen Bewegung jene Theorie des Reflexes vorzeichnet, die im 19. Jahrhunderts im Umlauf war, wird man sich eher die Frage stellen, was eine Theorie der Muskelbewegung und der Nerventätigkeit in sich schließen muß, damit eine Begrifflichkeit wie die der Reflexbewegung, die die Assimilation eines biologischen Phänomens an ein optisches Phänomen abdeckt, in ihr einen Wahrheitssinn findet, d. h. zunächst einen Sinn des logischen Zusammenhalts mit einer Gesamtheit anderer Begriffe.12

Canguilhems Geschichte schreibt sich nicht von Subjekten oder Akteuren – als Entdeckern des Reflexes – her, sie vollzieht sich entlang theoretischer Rahmungen. Im Gegensatz zu anderen Begriffsgeschichten nimmt sie eine breitere Kontextualisierung vor und bezieht auch jene von den Kulturwissenschaften eingeforderten Kontexte wie die Technik- und Mediengeschichte mit ein. Das Buch scheint also nicht nur deshalb aktuell, weil es einen Beitrag zur Begriffsgeschichte in den Naturwissenschaften leistet, der die Bedeutung des Begriffs für die Wissensbildung in der experimentellen und vorexperimentellen Phase eigens gewichtet. Das Buch scheint auch deshalb aktuell, weil es Antworten auf jene heute an die Begriffsgeschichte gestellten methodischen und heuristischen Fragen liefern könnte, die Ernst Müller in seinem 2005 herausgegebenen Band Begriffsgeschichte im Umbruch? folgendermaßen systematisiert hat: Es gibt aber Hinweise dafür, daß die Kulturwissenschaften nicht nur an Begriffsgeschichte interessiert sind, sondern die von ihnen in den Blick genommenen Gegenstände und Methoden befruchtend auf die Begriffsgeschichte zurückwirken können. Anknüpfend an jüngere Arbeiten betrifft das 1. die interdisziplinäre

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Cornelius Borck / Volker Hess / Henning Schmidgen, Einleitung. In: dies. (Hg.), Maß und Eigensinn. Studien im Anschluß an Georges Canguilhem. München 2005, S. 7–41, hier S. 26–30. Canguilhem, La formation du concept de réflexe aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 1955. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes im 17. und 18. Jahrhundert. A. d. Frz. übers. u. durch e. Vorw. eingel. v. Henning Schmidgen. München 2008. Eine engl. Teilübersetzung liegt bereits vor: François Delaporte (Hg.), A Vital Rationalist. Selected Writings from Georges Canguilhem. Translated by A. Goldhammer, with an introduction by Paul Rabinow and a critical bibliography by Camille Limoges. New York 2000, S. 179–202. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes, ebd., S. 12.

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Konfiguration der begriffsgeschichtlichen Gegenstände, insbesondere die Einbeziehung der (Natur-)Wissenschaften und Künste, 2. die Verbindung von Begriffsgeschichte und historischer Semantik, 3. die Erweiterung der Begriffsgeschichte um Diskursgeschichte und die rhetorische Seite der Begriffe, insbesondere die metaphorische, und 4. das Bewußtsein der medialen Verfaßtheit von Wissensregistern.13

Der Aufsatz möchte diesen Überlegungen nachgehen und Canguilhems Ansatz zunächst in seinem historischen Kontext situieren. Damit sollen einige, für die Reflexgeschichte wichtige wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Positionsgefechte schlaglichtartig beleuchten werden (1).14 Im zweiten Abschnitt wird es um die argumentationslogischen Zusammenhänge, um Canguilhems theoriegeschichtliche Rekonstruktion und um seine konkrete Textarbeit gehen (2). Der dritte Abschnitt fragt schließlich nach den Grenzen der Reflexgeschichte als Begriffsgeschichte (3); der vierte fügt diesen Überlegungen einige zur Biologie der Begriffe an (4).

1. Verkomplizierung des Begriffs: Reflexforschung und Reflexgeschichte Dass Wissenschaftsgeschichte und historische Epistemologie auf Tendenzen reagieren, die sich innerhalb der Wissenschaften bzw. Wissenschaftstheorie des frühen 20. Jahrhunderts abzeichneten, macht bereits der Beginn von Canguilhems Buch deutlich. In der Herausbildung des Reflexbegriffes kritisiert er ein einfaches positivistisches Tatsachenverständnis und distanziert sich vom „Dogma der biologischen Realität“,15 welches Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte bestimmt habe. Forscher und Wissenschaftshistoriker, gemeint ist hier der französische Medizinhistoriker Charles Victor Daremberg, gingen „von einer definitiven Gültigkeit der experimentellen Tatsachen“ aus und übersähen dabei, was ihnen die jeweilige „Theorie [...] schulde“.16 Die Betonung der Theorie als einer wesentlichen Voraussetzung für die Herausbildung von Begriffen und Tatsachen markiert die tendenziell anti-empirische und anti-positivistische Ausrichtung der Studie und zugleich ihren epistemologischen Einsatzort. Bachelard hatte an diesem entscheidenden Punkt Historiker von Epistemologen unterschieden: „Der Wissenschaftshistoriker“, heißt es in der Bildung des _____________ 13 14 15 16

Ernst Müller, Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Einleitung. In: ders. (Hg.), Begriffsgeschichte im Umbruch? (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 2004) Hamburg 2005, S. 9–20, hier S. 10. Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung. Dresden 2007, S. 12. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. 10. Ebd., S. 75.

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wissenschaftlichen Geistes – einem Buch, das Canguilhem bereits in den 1940er Jahren rezipiert –,17 „muß die Ideen als Tatsachen nehmen. Der Epistemologe muß die Tatsachen als Ideen nehmen, indem er sie in ein Denksystem einfügt.“18 Die historische Epistemologie – etwa die Arbeiten Gaston Bachelards oder Ludwik Flecks19 – entsteht als Antwort auf einen Wissensumbruch, der sich am Beginn des 20. Jahrhunderts in den Wissenschaften vollzog.20 Er betrifft die Physik und insbesondere die Quantenmechanik. Sedimente dieses Umbruchs lassen sich gleichfalls in der Reflexforschung nachweisen. Denn bereits um 1900, also rund 50 Jahre vor dem Erscheinen von Canguilhems Studie, zeichnen sich dort zwei Tendenzen ab, die für die Historisierung des Reflexes eine zentrale Rolle gespielt haben: zum einen die Infragestellung des Reflexes als experimentelle, wissenschaftliche Tatsache sowie zweitens die Vervielfältigung des Begriffs durch seine Migration in unterschiedlichste Disziplinen. Beide Tendenzen riefen kritische Reflexionen auf den Plan. Sie setzten bei der Neubewertung der Leistung an, die ein Begriff innerhalb seines jeweiligen disziplinären Umfeldes entfalten sollte. In der experimentellen Physiologie, in der Psychologie, Hirnforschung21, Biologie22 oder Psychiatrie23 bezeichnete das Wort ‚Reflex‘ um 1900 je unterschiedliche Sachverhalte. Während Reflexe für Marshall Hall dezentrierte, periphere Phänomene waren, die an nachweisliche sensimotorische Funktionseinheiten gebunden sein mussten,24 sprach der Psychologe William James von Reflexen in einem recht allgemeinen Sinn. Er _____________ 17

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Zur frühen Anlehnung an und späteren Weiterführung von Bachelards Ansatz siehe auch Lepenies, Vorbemerkung des Herausgebers. In: Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, übers. v. M. Bischoff u. Walter Seitter. Hg. v. Wolf Lepenies. Frankfurt a.M. 1979, S. I–III. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes [Anm. 2], S. 51; vgl. dazu auch Canguilhem, Die Geschichte der Wissenschaften im epistemologischen Werk Gaston Bachelards. In: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie [Anm. 17], S. 7–21, hier S. 10. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. M. e. Einl. hg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle. Frankfurt a.M. 1980. Rheinberger, Historische Epistemologie [Anm. 14], S. 35. Theodor Meynert, Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns begründet auf dessen Bau, Leistungen und Ernährung. Wien 1884, S. 165. Hugo von Buttel-Reepen, Sind die Bienen Reflexmaschinen? Experimentelle Beiträge zur Biologie der Honigbiene. Leipzig 1900. Zum Schema des cerebralen Sprachmechanismus siehe Carl Wernicke, Lehrbuch der Gehirnkrankheiten für Aerzte und Studirende. Kassel 1881, Bd. 1, S. 203; siehe dazu auch Michael Hagner, Der Geist bei der Arbeit. Überlegungen zur Visualisierung cerebraler Prozesse. In: Anatomien medizinischen Wissens. Medizin – Macht – Moleküle, hg. v. Cornelius Borck. Frankfurt a.M. 1996, S. 259–286, hier S. 267. Hall, On the reflex function [Anm. 4], S. 652.

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nannte Bewegungen auch dann Reflexe, wenn ihr postuliertes anatomisches Korrelat zentrale Strukturen umfasste. Zudem wendete er den Begriff unabhängig von der Frage an, ob diese Strukturen anatomisch überhaupt nachweisbar und an bestimmte Funktionen zu koppeln waren.25 James kam es also weniger auf Beglaubigungen konkreter Reflexe an. Er abstrahierte von anatomischen Sachverhalten sowie physiologischen Experimenten und benutzte den Begriff zum Teil auch zur Etikettierung von Alltagsbeobachtungen. Der Zusammenhang, den Hall noch anatomischfunktionell nannte,26 spielte dabei kaum mehr eine Rolle: The closure of the eye and the lachrymation are quite involuntary, and so is the disturbance of the heart. Such involuntary responses we know as ,reflex‘ acts. The motion of the arms to break the shock of falling may also be called reflex, since it occurs too quickly to be deliberately intended. Whether it be instinctive or whether it result from the pedestrian education of childhood may be doubtful; it is, at any rate, less automatic than the previous acts, for a man might by conscious effort learn to perform it more skilfully, or even to suppress it altogether. Actions of this kind, into which instinct and volition enter upon equal terms, have been called ,semi-reflex‘. The act of running towards the train, on the other hand, has no instinctive element about it. It is purely the result of education, and is preceded by a consciousness of the purpose to be attained and a distinct mandate of the will. It is a ‚voluntary act‘.27

Der psychologische Reflexbegriff erklärte eine Reihe von Phänomenen, die man heute eher automatisch nennen würde. Er wird bei James auf komplexe Bewegungsfolgen wie das Ausstrecken des Arms appliziert. Für diese Bewegung existierte auch damals kein Reflexbogenschema, sondern lediglich ein ausgesprochen vages Bild von zentralen und peripheren Trägerstrukturen.

Abb. 1: Darstellung eines Reflexgeschehens, aus William James, Principles of Psychology (London 1890).

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Anders als die physiologisch orientierte Hirnforschung und die Assoziationspsychologie vgl. etwa William James, The Principles of Psychology. London 1890, Bd. 2, S. 197–223. Roger Smith, Inhibition. History and Meaning in the Sciences of Mind and Brain. Berkeley 1992, S. 113–142. James, The Principles of Psychology [Anm. 25], Bd. 1, S. 13.

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Aus physiologischer Perspektive betrachtet, bleibt die Anwendung des Begriffs auf das Greifen und Wegziehen also ungeschützt und rein hypothetisch, da sie weder auf einem anatomischen Nachweis noch auf einem Experiment basiert, sondern eher ein prospektives Forschungsziel als ein Ergebnis formuliert. Auf diese von vielen als spekulativ bezeichnete Begriffsanwendung reagierte der amerikanische Philosoph John Dewey in seinem Aufsatz The Reflex Arc Concept in Psychology in differenzierter Weise, indem er der Bedeutung von Begriffen in der Wissenschaft einen neuen Stellenwert zuwies. Sein Aufsatz erschien bereits 1896 im Psychological Review. William James’ Principles of Psychology bildeten den Ausgangspunkt der Überlegungen. Dewey kritisiert darin nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, die Anwendung des Begriffs auf Sachverhalte, die nicht im physiologischen Sinn als Reflexe zu bezeichnen wären. Er gesteht dem Reflexkonzept sogar eine gewisse Eignung als vereinheitlichendes Prinzip zu, das umfängliche psychologische Datenmengen bündelt und – unabhängig von anatomisch-experimentellen Nachweisen – interpretierbar macht. Dewey betrachtet das Konzept im Blick auf seine heuristische Funktion und ermisst seinen Nutzen konsequenterweise aus dem Wissenszuwachs, den es für die Disziplin erbringt: „No truth claim is made, but the function of a theory or an idea to hold together the fact“ – heißt es in James’ Vorlesungen zum Pragmatismus später.28 Deweys Kritik am psychologischen Reflexkonzept speist sich aus einer anderen, für die Epistemologie nicht unwesentlichen Beobachtung. Er bezweifelt, dass das Konzept, was es vorgibt, zu leisten vermag: nämlich ein angemessener Ersatz für tradierte philosophische Begriffe und nominale Klassifikationen zu sein: In criticising this conception [the concept of the arc reflex – Y.W.] it is not intended to make a plea for the principles of explanation and classification which the reflex arc idea has replaced; but, on the contrary, to urge that they are not sufficiently displaced, and that in the idea of the sensori-motor circuit, conceptions of the nature of sensation and of action derived from the nominally displaced psychology are still in control.29

Das Nachwirken alter Vorstellungen und Unterscheidungen im psychologischen Reflexbegriff ist bei James an jenen Stellen besonders augenfällig, an denen er die Modifizierbarkeit von Reflexen erläutert: Nerve-currents run in through sense-organs, and whilst provoking reflex acts in the lower centres, they arouse ideas in the hemispheres, which either permit the

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William James, Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking. Popular Lectures on Philosophy. London 1907, bes. S. 197–236. John Dewey, The Reflex Arc Concept in Psychology. In: The Psychological Review 3 (1896), S. 357–370, hier S. 357.

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reflexes in question, check them, or substitute others for them. All ideas being in the last resort reminiscences, the question to answer is: How can processes become organized in the hemispheres which correspond to reminiscences in the mind? 30

In James’ Hierarchie von Zentrum und Peripherie, die in die konventionelle Metapher des Gehirns als Steuerzentrale mündet und somit einen Puls der Zeit trifft, sind nach Dewey alte, philosophische Dualismen am Werk: The older dualism between sensation and idea is repeated in the current dualism of peripheral and central structures and functions; the older dualism of body and soul finds a distinct echo in the current dualism of stimulus and response.31

Deweys Kritik am Reflexbegriff betrifft somit das Nachwirken philosophischer Begrifflichkeiten, wie etwa der von Idee und Sensation. Er beschreibt damit die Wirksamkeit traditioneller, nicht empirischer oder experimenteller Begriffe in der empirisch-experimentellen Forschung. Daraus lassen sich, wie angekündigt, epistemologische Schlussfolgerungen ziehen. Zunächst die, dass Begriffe bei ihrer Migration zwischen den Disziplinen Bedeutungselemente beibehalten und in der neuen Disziplin zu Schlussfolgerungen führen können, welche zuweilen nicht mit dem Erkenntnisinteresse dieser Disziplin in Einklang stehen oder sogar ihrem erklärten Selbstverständnis bzw. ihrer Programmatik zuwiderlaufen. Ähnlichen Überlegungen ist Fleck 1935 auf dem Feld der Syphilisserologie nachgegangen.32 Und auch Canguilhem befasst sich in seiner Reflexgeschichte mit begrifflichen Vorläufern der seinerzeit aktuellen empirischen Forschung. Wenn der Reflex aus der Physiologie in die Psychologie wandert, scheint damit nicht nur ein alter Dualismus präsent gehalten zu werden. Durch den Transfer werden mechanistische Konnotate zudem mit psychologischen Vorstellungen hybridisiert. Für Physiologen des 19. Jahrhunderts ist der Reflex ein mechanisches Konzept und als solches mit experimentellen Praktiken assoziiert. Im Experiment werden Handlungen in Komponenten zerlegt, etwa in den Reiz und die Reaktion. Diese Unterscheidung eignet den begrifflichen Objekten der Psychologie, so verdeutlichen es jedenfalls James’ Beispiele, ebenfalls. Wie im Experiment werden Handlungen bei James in Ereignisabfolgen unterteilt: in das Greifen des Kindes nach einer Kerze und in das darauf folgende Zurückziehen der Hand. Beide Vorgänge werden als voneinander getrennte Handlungsmomente präsentiert, die nach dem Reiz-Reaktionsschema deutbar sind. Dem psychologischen Reflexbegriff haftet damit die Logik des Reiz-Reaktions_____________ 30 31 32

James, Principles of Psychology [Anm. 25], Bd. 1, S. 24. Dewey, The Reflex Arc Concept in Psychology [Anm. 29], S. 357 f. Fleck, Wie der heutige Syphilisbegriff entstand. In: ders., Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [Anm. 19], S. 3–30.

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schemas an. Er weist Übereinstimmungen mit dem physiologischen Reizexperiment auf. Die Objekte der Psychologie sind um 1900 vom mechanisch-experimentellen Reflexbegriff bzw. -experiment determiniert und künden von einer eher mechanischen Auffassung des Psychischen. Canguilhem wird diesen Umstand später als normativen Aspekt von Wissenschaft bezeichnen. Generelle Vorbehalte gegenüber dem Reflexkonzept erfolgen zu einem Zeitpunkt, als dessen Anwendung außerhalb des physiologischen Experimentalraums zur Verkomplizierung des Begriffs beigetragen hat. Zweifel am Reflex kommen um 1900 aber nicht nur in der Wissenschaftstheorie, sondern auch in der experimentellen Forschung auf.33 In den 1930er Jahren zeichnet sich dort eine Tendenz ab, die man die Infragestellung des Reflexes als experimenteller Tatsache nennen könnte. In seinem Buch Der Aufbau des Organismus problematisiert der Neurologe Kurt Goldstein den experimentellen Nachweis des Reflexes. Goldstein knüpft an die 1906 von Sir Charles Sherrington aufgeworfene Frage an, ob Reflexe überhaupt eindeutig durch physiologische Experimente bestätigt werden können und ob sie als elementare Phänomene des Nervensystems existieren.34 Nicht genug, dass der Reflex ein künstlich erzeugtes Phänomen ist, das man außerhalb des Experimentalraums nicht in ähnlicher Weise beobachten konnte. Die aus Experimenten bekannten Reflexabschwächungen sowie Hemmungsphänomene zeigten ferner, dass Reflexe nicht immer schematisch abliefen und damit nicht im strikten Sinn reproduzierbar waren. Experimente erzeugten eine Irritation, die die Vorstellung eines einfachen, gleich bleibenden Reflexmechanismus in Zweifel zog. Marshall Halls Reflexbegriff musste differenziert werden, weil er die im Experiment produzierten vielfältigen Daten nicht mehr zu fassen vermochte. Die doppelte Verkomplizierung des physiologischen Reflexbegriffs scheint zugleich seine Historisierung auf den Plan gerufen zu haben. Rund zehn Jahre nach Goldsteins Buch wurde die Reflexforschung für Canguilhem zu einem Anschauungsfeld, auf dem sich konjunkturelle Auf- und Abschwünge eines epistemischen Gegenstandes beobachten und über das Verhältnis von Begriff und Experiment reflektieren ließen. Canguilhem nutze dazu die Bibliothek des Straßburger physiologischen Instituts, wo er _____________ 33

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Mieczyslaw Minkowski, L’état actuel de l’étude des réflexes. Paris 1927 (zuerst dt. ersch.: Zum gegenwärtigen Stand der Lehre von den Reflexen in entwicklungsgeschichtlicher und anatomisch-physiologischer Beziehung. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 15 (1924), S. 239–259 und 16 (1925), S. 133–284. Kurt Goldstein, The Organism. A Holistic Approach to Biology derived from pathological data in Men. Boston 1963 (zuerst erschienen als Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen. Haag 1934), siehe dazu auch Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. 10.

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zahlreiche der konsultierten Materialien vorfand.35 Die Geschichte, die zu großen Teilen in dieser Bibliothek geschrieben wurde, erfüllt dabei nicht nur die Funktion eines Archivs. Ihr Bezug bildet immer auch die seinerzeit aktuelle Forschung. Das Buch wird zu einem Zeitpunkt geschrieben, als der Reflex – angestoßen durch die Kybernetik – eine erneute Konjunktur außerhalb des Labors erfuhr.36 Canguilhems Studie waren legitimatorische Reflexgeschichten vorausgegangen, die meist dazu dienten, bestimmte Forschungsansätze durch Entdeckungsmythen zu bestätigen oder andere zu verwerfen.37 Autoren identifizierten als Entdecker meist Wissenschaftler, die ähnliche theoretische Grundannahmen teilten.38 Die Suche nach Begründern des Reflexes war daher meist von aktuellen Forschungsinteressen und -logiken überlagert bzw. von der Auffassung ihrer universellen Geltung getragen. Wissenschaftler, die ein mechanistisches Verständnis des Reflexes teilten, hielten oft René Descartes für dessen Begründer,39 weil er die Sache – einen kutanen Wegziehreflex – beschrieben bzw. visualisiert40 und eine mechanische Auffassung von der Funktionsweise des Nerven- und Muskelsystems vorgelegt habe. Von diesen Begründungsmythen versuchte sich Canguilhems Reflexgeschichte zu emanzipieren. Anstatt einen vermeintlichen Entdecker zu identifizieren und eine bestehende Forschungslogik auf einen früheren Zeitpunkt zu applizieren, fahndet Canguilhem nach einem Kontext bzw. nach einer Theorie, die als Bedingung für die Herausbildung eines Begriffs gelten könne. Unter welchen theoretischen Voraussetzungen konnte sich ein bestimmter Begriff herausbilden? Und wie muss sich das Verhältnis von Theorie und Begriff darstellen, damit die Bedingungen seiner Formierung gegeben waren?

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Henning Schmidgen, Fehlformen des Wissens. Vorwort. In: Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. VII–LX, hier bes. S. XXIX ff. Franklin Fearing, Reflex Action. A Study in the History of Physiological Psychology. London 1930; Repr. Cambridge, Mass. 1970. Hebbel Edward Hoff / Peter Kellaway, The Early History of the Reflex. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 7 (1952), Summer, S. 211–249. Conrad Eckhard, Beiträge zur Geschichte der Experimentalphysiologie des Nervensystems. Geschichte der Lehre von den Reflexerscheinungen. In: Beiträge zur Anatomie und Physiologie 9 (1881), S. 29–192. Fearing, Reflex Action [Anm. 36]. René Descartes, Traité de l’Homme [1632]. Œuvres complètes, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery. Paris 1909, Bd. 11, Abb. 7, zit. nach: Canguilhem, Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. 52 f.

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2. Am Beispiel Thomas Willis: Grenzen einer theoriegeleiteten Begriffsgeschichte Bei der Suche nach Theorien, die für die Formierung des Reflexkonzeptes relevant waren, richtet Canguilhem den Blick auf vitalistische Muskel- und Nervenlehren des 17. Jahrhunderts. Er befasst sich auch mit jenen vitalistischen Autoren, die in den Reflexgeschichten des 19. Jahrhunderts als unbedeutend oder irrend vernachlässigt wurden. Mit der Einbeziehung des Vitalismus soll eine Korrektur an der um 1900 in Handbüchern verbreiteten Auffassungen geleistet und mechanistische Legenden umgeschrieben werden. Dass Canguilhem nicht bei Descartes, sondern bei einem so genannten Vitalisten, dem Oxforder Arzt Thomas Willis, ansetzt, widerspricht nicht gänzlich dem Erwartungshorizont seiner Zeit. Der Physiologe Sherrington hatte in seiner Studie The Endavour of Jean Fernel Willis bereits als Urheber des Wortes ‚Reflex‘ identifiziert.41 In physiologischen Schriften der Frühen Neuzeit, besonders des 17. Jahrhunderts sucht Canguilhem nun nach einem Begriff, der bereits wesentliche Elemente des im 19. Jahrhundert etablierten Reflexkonzeptes enthält. Dass Canguilhem überhaupt von der Begriffsbildung ausgeht und nicht vom Experiment, scheint den historischen Konstellationen Rechnung zu tragen. Anders als die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts tendiert die Physiologie des 17. Jahrhunderts in der Tat zum Konzeptionellen. Auf den Gebieten der heutigen Naturwissenschaft dachte man in der Frühen Neuzeit eher begrifflich. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern operiert Canguilhem mit einem vielschichtigen Begriff von Begriff. Für ihn setzt er sich nicht nur aus der Sache – dem Reflex – und dem Terminus zusammen, sondern besteht aus einer dreistelligen Relation, einer Trias von Sache, Wort und Konzept. Mit Konzept sind dabei theoretisch fundierte und definitorisch gültige Bestimmungen gemeint. Canguilhems Versuch, Begriffsgeschichte anhand einer solchen Trias zu beschreiben, zählt um 1950 keineswegs zum common sense. Wie das Beispiel Sherrington zeigt, war es in der Reflexgeschichte üblicher Sache und Terminus in den Blick zu nehmen und weniger verbreitet, nach theoretischen Begriffsdeterminanten zu suchen. Canguilhems Vorgehen stellt ohne Frage hohe Anforderungen an die Begriffsgeschichte, die zunächst in konkreter Auseinandersetzung mit _____________ 41

Sir Charles Scott Sherrington, The Endeavour of Jean Fernel. Cambridge 1946, S. 83: „The notion of reflex action is traceable to Descartes, but the term hardly so. The term is traced more clearly to Thomas Willis. Descartes did not consider all our acts to be ,reflex‘. A modicum of our acts he parented upon ,reason‘ and ,will‘. Our ,reflex‘ behaviour consisted, he taught, of all behauviour which we have in common with animals – animals he thought wholly reflex.“

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Texten erfolgt. Sein Vorgehen nennt er selbst „genaue Lektüre“.42 Insbesondere das Kapitel zu Thomas Willis zeigt, welche Schwierigkeiten sich aus dem theoriegeleiteten Ansatz für die Textarbeit ergeben können. In seinen Schriften formuliert Willis, so Canguilhem, ein zentrales Moment des Begriffs, nämlich die Idee der Reflexion bzw. des Umschlags.43 Diese Idee – und nicht etwa die anatomische Zuordnung der unwillkürlichen Bewegung zum Kleinhirn, die Willis ebenfalls vornimmt44 – markiert die eigentliche „Geburtsurkunde“ des Begriffs.45 Canguilhem weist bei Willis eine zentrale Begriffskomponente nach, die noch bei Marshall Hall zu finden ist und sich etwa in der Vorstellung ausdrückt, ein peripherer Reiz werde auf eine Peripherie umgelenkt.46 Ermöglicht hat die Geburt des Begriffes Willis’ Nerven- und Muskeltheorie. Canguilhem benennt hier theoretische Voraussetzungen der Begriffsbildung. Entscheidend sei Willis’ so genannter Cerebrozentrismus, d. h. die Auffassung, das Gehirn und nicht das Herz sei Ursprung und Ursache aller Bewegung. Die Wende zum Cerebrozentrismus habe Folgeprobleme aufgeworfen und Lösungen generiert, welche schließlich zur Formierung des Begriffes führten. Eine dieser Lösungen war das Modell der Kraftübertragung vom Nerv auf den Muskel.47 Canguilhem versucht seine rationale Rekonstruktion durch Textbefunde zu stützen. Die eigentliche Geburtsstunde des Reflexes finde in Willis’ 1670 publiziertem Traktat De Motu musculari und zwar an folgender von Canguilhem zitierter Stelle statt: In bezug auf den Ursprung der Bewegung oder ihren Ausgangspunkt bemerken wir, daß dasjenige, was mit einem bewußten und fröhlichen Appetit vom Gehirn ausgeht, spontan oder willkürlich genannt wird; das aber, was gewohnheitsmäßig vom Kleinhirn, wo das Gesetz der Natur regiert, aus erregt wird [...] nennt man bloß natürlich oder unwillkürlich. Bald sind diese Bewegungen [Puls und Atmung – Y.W.] direkt, wenn sie von sich aus und anfänglich von dem einen oder anderen Ursprung ausgehend erregt werden, wie z. B. jedes Mal, wenn ein Appetit sozusagen nach einer Beratung im Köperinneren diese oder jene Sache von sich aus

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Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. 11. Ebd., S. 84. Damit verbunden ist auch die Lokalisierung des Reflexes im Gehirn, vgl. Julian Jaynes, The Problem of Animate Motion in the Seventeenth Century. In: Journal of the History of Ideas 31 (1970) 2, S. 219–234, hier S. 231. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. 85. Hall, On the reflex function [Anm. 4]. Während Descartes die Kraft als muskeleigen betrachtete, kam Willis zur Auffassung, sie werde durch eine Explosion der Lebensgeister vom Nerv auf den Muskel übertragen. Weil Willis – als Konsequenz dieser Auffassung – auch den Nervengeisterrückstrom ins Zentrum annehmen musste, habe er letztlich die für den Reflexbegriff zentrale Vorstellung der Reflexion oder des Umbeugens formuliert. Vgl. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. 69.

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zu erreichen sucht und die entsprechenden Bewegungen hervorruft; oder aber, wenn man den gewöhnlichen Forderungen einer natürlichen und vitalen Funktion in Übereinstimmung mit der üblichen Art und Weise Folge leistet. Bald sind sie reflektiert, d. h. daß sie unmittelbarer von einer früheren Empfindung als einer offensichtlichen Ursache oder Gelegenheit abhängen, die sofort an ihren Ausgangspunkt zurückgegeben wird. Derart ruft ein leichtes Kitzeln der Haut das Kratzen hervor, und die Entzündung der Gegend vor dem Herzen regt zu schnellerem Puls und Atmung an.48

Für Canguilhem ist diese Stelle zentral, weil sie das Wort (motus reflexus) mit einem wesentlichen Begriffselement (Rückbeugung) und der Sache (dem optischen Phänomen des Kratzens) verbindet. Anders als bei Descartes werde im Verb ‚zurückschlagen‘ nun eine wesentliche Komponente des Reflexes greifbar, die das Umbiegen einer Bewegung meine und damit auf den im 19. Jahrhundert experimentell etablierten Reflexbegriff verweise. Wir haben es hier wirklich mit einem Begriff zu tun, denn wir finden seine Definition. Und diese Definition ist zugleich nominell und reell. Die Ausdrücke motus reflexus werden zur Bezeichnung einer gewissen Art von Bewegungen verwendet, für die uns ein vertrautes Beispiel gegeben wird: die automatische Reaktion des Kratzens. Wir haben ein Definiertes, und zugleich haben wir ein Definierendes, d. h. eine Aussage, die den Sinn des Definierten fixiert. Wir haben das Wort, das

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Thomas Willis, De Motu musculari [1644], zit. n. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm.11], S. 86. Im frz. Original: La formation du concept de réflexe [Anm. 10], heißt die entscheidende Stelle: „Concernant l’origine du mouvement ou son point de départ, nous remarquons que celui qui procède du cerveau, avec conscience de l’appétit et l’initiative, est dit spontané; celui qui, d’autre part est habituellement excité à partir du cervelet, où règne la loi de la nature, espèce qui compte le pouls et la respiration parmi bien d’autres, est dit purement naturel ou involontaire. L’un et l’autre de ces mouvements tantôt est direct, lorsque à partir de l’une et l’autre origine, il est excité par soi et initialement, comme par exemple chaque fois qu’un appétit cherche d’après quelque délibération propre et pour ainsi dire intestine, à atteindre telle ou telle chose, et provoque les mouvements correspondants, ou bien comme lorsque, conformément à la manière habituelle de la nature, les charges ordinaires d’une fonction naturelle et vitale sont remplies. Tantôt le mouvement de l’une et l’autre espèce est réfléchi, c’est-à-dire tel que dépendant immédiatement d’une sensation antécédente comme d’une cause ou d’une occasion manifeste, il est retourné instantanément vers son point de départ. C’est ainsi qu’un léger chatouillement de la peau provoque le grattage de celle-ci et que l’inflammation de la région précordiale commande un pouls et une respiration plus rapides.“ (S. 68) bzw. „Quoad motus originem seu principium annotamus quod iste qui a cerebro, appetitu conscio ac auspice procedit, spontaneus appellatur; qui autem a cerebello, ubi lex naturae praesidet, excitari solet, cujusmodi sunt pulsus, respiratio, cum multis aliis, mere naturalis seu involontatius vocatur: uterque horum vel est directus, qui ab hoc aut illo principio per se et primario cietur, uti, nimirum, quoties appetitus ex propria quadam, et ut ita dicam, intestina deliberatione hoc aut illud expetit, ac motus respectivos elicit; pariter item quando justu solennem naturae ritum functionis naturalis ac vitalis munia ordinaria perficiuntur; vel motus utriusque generis est reflexus, qui silicet a sensione praevia tanquam causa evidenti aut occasione immediatius dependens, illico retorquetur; itablanda cutis titillatio ejus fricationem ciet, et praecordiarium aestus pulsum et respirationem intensiores accersit.“ (S. 67).

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die Entsprechung des Definierenden mit dem Definierten festhält (scilicet). Diese Definition erfolgt in wenigen Worten, es ist keine entwickelte Theorie, sondern eine Zusammenfassung. [...] Durch Bezugnahme auf dieses klar gesetzte Prinzip (quoad motus originem, seu principium) ist die Abgrenzung vollständig: jede Bewegung hat ihren Ursprung, sei es im Zentrum, sei es in der Peripherie. Diese biologische Definition stützt sich, wenn man sie umwandelt, auf eine physikalische und, streng genommen, sogar auf eine geometrische. Zusammengefaßt finden wir bei Willis in bezug auf den Reflex die Sache, das Wort und den Begriff: die Sache in Form einer originellen Beobachtung, eines kutanen Reflexes des zerebro-spinalen Systems, des Kratzreflexes; das Wort, das klassisch, wenn auch – als Adjektiv ebenso wie als Substantiv – unpassend ist; den Begriff, d. h. die Möglichkeit eines Urteils in der anfänglichen Form einer Umschreibung oder einer Klassifikation und in der schließlichen Form eines Prinzips der Interpretation von Erfahrung.49

Canguilhem antizipiert die Gegenwart eines Begriffes nicht nur als Emergenz aus einem allgemeinen problemgeschichtlichen Zusammenhang, sondern versucht sie auf konkrete Textbefunde zu stützen. Seine Deutung wirft allerdings einige Fragen auf. Willis spricht an zitierter Stelle zwar von einer reflektierten Bewegung (motus reflexus). Er meint damit aber nicht die reflektierte Bewegung der Nervengeister, wie Canguilhem mit dem Wort ‚physikalisch‘ suggeriert, sondern einen bestimmten Typ von Bewegung. Die von Canguilhem zitierte Stelle wird hier im englischen Original wiedergegeben, die entsprechende Stelle der lateinischen Ausgabe wurde bereits zitiert (siehe Anm. 49): As to the original beginning of Motion, we shall take notice, that that which proceeds from the Brain, with a knowing and auspicious appetite, may be called Spontaneous or Voluntary; but that which is wont to be excited from the Cerebel where the Law of Nature presides, such as are Respiration, the Pulse, with many others, may be called merely Natural, or Involuntary; either of these is either direct, which is stirred up to it self, or primarily from this or that beginning, as often as the appetite requires this or that thing [...] or the motion of either kind is

_____________ 49

Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. 86 f.; im frz. Original: La formation du concept de réflexe [Anm. 10], heißt es: „Nous sommes vraiment ici en présence d’un concept, puisque nous en trouvons la définition. Cette définition est à la fois nominale et réelle. Les termes motus reflexus sont utilisés à l’appellation d’une certaine espèce de mouvements dont un exemplaire familier nous est donné: la réaction automatique de grattage. Ayant un défini, nous avons aussi un définissant, c’est-à-dire une proposition qui fixe le sens du défini. Nous avons le mot qui fixe l’adéquation du définissant au défini (scilicet). Cette définition se fait en peu de mots, ce n’est pas une théorie dévéloppée, c’est un abrégé. [...] Par référence à ce principe clairement posé (quaod motus originem seu principium) la division est exhaustive: tout mouvement a son origine, soit au centre, soit à la périphérie. Cette définition de biologie s’appuie en la transposant, sur une définition de physique et même à la rigueur de géométrie. En résumé, concernant le réflexe, nous trouvons chez Willis la chose, le mot et la notion. La chose, sous la forme d’une observation originale, un réflexe cutané du système cérébro-spinal, le réflexe de grattage; le mot, devenu classique quoique impropre comme adjectif et comme substantif; la notion, c’est-à-dire la possibilité d’un jugement sous la forme initiale d’un discernement ou d’une classification, sous la forme éventuelle d’un principe d’interprétation de l’expérience.“ (S. 68 f.).

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reflected, to wit, which depending on a previous sense more immediately, as an evident cause or occasion, is presently retorted, so a gentle titillation of the Skin causes a rubbing of it, and the more intense heats of the Praecordia stir up the Pulse and Respiration.50

Willis nimmt an dieser Stelle eine Klassifikation von Bewegungen vor. Er unterscheidet zwischen direkten und reflektierten Bewegungen. Der Ausdruck motus reflexus ist für die Klassifikation relevant, da er einen Typ von Bewegung bezeichnet, der von anderen aufgrund seines Ursprungs unterschieden ist. Reflektiert sind nur solche Bewegungen, denen eine Sensation vorausgeht, nur diese werden als motus reflexus bezeichnet, nicht etwa der Nervengeisterrückfluss. In den Ausdruck motus reflexus ist an dieser Stelle nicht das Zurückbiegen (etwa eines Impulses) eingeschlossen, sondern eine lineare Verkettung von Ereignis und Bewegung. Warum sich Canguilhem dafür entscheidet, motus reflexus mit Umbeugen oder Zurückbeugen der Nervengeister zu erklären, bleibt unklar. Auch der weitere Werkkontext liefert darüber wenig Auskunft. In der Schrift über die Muskelbewegung kommt motus reflexus insgesamt nur einmal vor – an der von Canguilhem hier zitierten Stelle. Der Ausdruck wird nicht so häufig verwendet, dass „eine Bestandsaufnahme langweilig wäre“.51 Das Wort motus reflexus scheint für Willis insgesamt eine eher untergeordnete Bedeutung zu haben, es steht keineswegs im Zentrum der Argumentation. Anders verhält es sich mit Worten wie reflexio oder gleichartigen Ausdrücken wie Verben mit dem Präfix ‚re‘ (reflectere, retorquere, refluere), die Willis an zahlreichen Stellen seines Werkes benutzt – auch in seiner Schrift Cerebri Anatome.52 Das Präfix ‚re‘ wird in der Tat verwandt, um die Rückwärtsbewegung der Nervengeister zu bezeichnen. Allerdings ist der Rückfluss nicht spezifisch für die in De Motu muscurlari als motus reflexus bezeichnete Bewegung. Er findet bei allen Arten von Bewegung statt und garantiert, dass Nervengeister ins Kleinhirn bzw. Gehirn zurückgelangen, ähnlich wie das Wasser im Brunnen wieder an seinen Ursprungsort fließt. Der beschriebene physiologische Sachverhalt des Rückflusses wird in die Definition von motus reflexus nicht eingeschlossen; möglicherweise auch deshalb nicht, weil die physiologische Theorie für diesen Typ Bewegung weniger Relevanz hatte als die formale Unterscheidung möglicher Ursachen. Canguilhems Deutung wird daher durch den Wortgebrauch nicht gestützt. In Willis’ Text findet sich an zitierter Stelle kein unmittelbarer Verweis auf die physiologische Bewegungstheorie und damit eigentlich _____________ 50 51 52

Willis, Five Treatises. The Second Medical and Physical Discourse. Of Musculary Motion. London 1681, S. 34. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexes [Anm. 11], S. 84. Willis, The Anatomy of the Brain and the Nerves. Hg. v. William Feindel. 2 Bde. Montreal 1965, Bd. 2, S. 137–192.

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auch kein unmittelbarer Anlass, sie als einen entscheidenden Deutungskontext für die Erklärung von motus reflexus heranzuziehen. Canguilhems Kontextualisierung scheint somit eher eine Konsequenz seines Ansatzes, das heißt der theoriegeschichtlichen Begriffsrekonstruktion, zu sein. Die damit einhergehenden Vorentscheidungen führen zur Bezugnahme von Bewegungsklassifikation und physiologischer Theorie an einer Stelle, wo dies nicht durch den Textbefund nahe gelegt wird. Canguilhem trägt einen neuen Kontext heran und kontaminiert in gewisser Hinsicht die historische Bedeutung von motus reflexus mit physiologischen Überlegungen. Mit dem physiologischen Kontext fällt auch die entscheidende Begriffskomponente des Umschlags weg. Die ursprüngliche Trias ist damit auf zwei Elemente reduziert: auf den Ausdruck motus reflexus sowie die bezeichnete Sache: das Kratzen. Das Kratzen fungiert, wie gesehen, als Exempel für reflektierte bzw. zurückgebeugte Bewegungen, insofern es auf eine Sensation folgt. Das Anschauungsbeispiel liefert ebenfalls keine Hinweise auf einen Umschlag, genauso wenig wie die weiteren Sachbeispiele, die Wasserwellen oder das Echo. Inwiefern sich diese Phänomene durch das Umschlagen erklären lassen, inwieweit sie auf einer gemeinsamen theoretischen Basis beruhen, also reflektierte Bewegungen sind, erschließt sich weder aus dem direkten Kontext der Stelle, noch aus der Bewegungsphysiologie. Die Optik, die formale Ursachenlehre oder die kulturelle Semantik könnten darüber eher Aufschlüsse liefern.53 Das Phänomen des Kratzens ist mithin von dem, was wir heute Reflex nennen, unterschieden. Ein komplexer Mechanismus wie der Reflex setzt Wissen voraus, das erst in der Physiologie des 19. Jahrhunderts produziert bzw. im Experiment hergestellt wurde. Es geht in die Beobachtung ein und kann nicht aus ihr abgeleitet werden. Der Wort ‚Kratzen‘ sollte also nicht, wie Canguilhem dies – wenngleich mit Einschränkungen – vorschlägt, mit Kratzreflex übersetzt werden.54 Der Zusammenhang von motus reflexus, Kratzen und dem spezifischen Moment des Umschlags bleibt somit eher vage. Nach Canguilhems eigenen Vorgaben ist von einer Begriffsbildung jedoch nur dann zu sprechen, wenn der Ausdruck mit der Sache und der Vorstellung fix verbunden wird. Genau dies scheint nicht gegeben. Ein propositionales Gefüge, in dem der Reflex als zentraler Begriff aufscheint, liegt damit nicht vor. Die _____________ 53

54

So ja auch bei Descartes Antwort auf den Einwand gegen die vierte Meditation von Artaux, eine Reflexbewegung ist eine solche, bei der auf eine Sensation eine Bewegung folgt. Sie wird mit der Reflexion erklärt, wie das Licht den Körper des Wolfes auf das Auge des Schafes reflektiert, vgl. Edwin Clarke / Kenneth Dewhurst, Die Funktionen des Gehirns. Lokalisationstheorien von der Antike bis zur Gegenwart. A. d. Engl. übertr. u. erw. v. Max Straschill. München 1973. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. 87.

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Formierung des Begriffs findet nicht statt, womit umgekehrt die Frage nach den theoretischen Bedingungen, die ihn ermöglicht haben sollen, hinfällig wird. Es drängt sich an dieser Stelle der Verdacht auf, Canguilhem versuche Kohärenz zu stiften und Lücken zu schließen, wo zuallererst Fragen an den Text stehen könnten. Das Problem seiner Auslegung besteht aber nicht in der anachronistischen Rückprojektion eines für ihn aktuellen Begriffes auf einen historisch früheren Zeitraum.55 Es besteht zunächst darin, einen theoretischen Zusammenhang zu stiften, der durch den Textbefund nicht gestützt wird. Dass sich der Ausdruck motus reflexus bei Willis nicht begrifflich verdichtet, hängt womöglich mit einer weiteren Besonderheit des Textes zusammen, die nun auch die Grenzen seines begriffsgeschichtlichen Ansatzes deutlich werden lässt. Möglicherweise ist Willis’ Argumentation gar nicht in dem von Canguilhem angenommenen Sinn begrifflich. Bezeichnenderweise treten an die Stelle von Begriffen bei Willis oftmals Bilder, etwa solche, die das Gehirn oder die Bewegung von Nervengeistern visualisieren.

3. Begriffsgeschichte in Bildern Schon Canguilhem betont die Bedeutung von externen Kontexten für Willis’ physiologische Theoriebildung und versucht damit einer Besonderheit frühneuzeitlicher Wissensordnungen Rechnung zu tragen, nämlich dem Umstand, dass die heute etablierten Disziplinengrenzen für sie nicht in gleichem Maß gelten. Entsprechend verweist Willis immer wieder auf Kontexte, die heute anderen Disziplinen, etwa der Physik oder Ingenieurwissenschaft, zuzuordnen wären. Er entnimmt diesen externen Kontexten Bilder, die scheinbar eine Vergleichsfunktion haben. Wie verhalten sich diese bildlichen Kontexte zu physiologischen Begriffen? Was sagen sie über diagrammatische Aspekte von Begriffen aus und wie lassen sich diese sinnvoll in eine Begriffsgeschichte einbinden? Willis nimmt an verschiedenen Stellen seiner Bewegungsphysiologie auf Wasserspiele Bezug. Wenn er von Rückflussbewegungen der Nervengeister spricht, setzt er die unsichtbaren spiritus animales offenbar mit einem _____________ 55

Dazu Stephen G. Brush, Anachronism and the History of Science. Copernicus as an Airplane Passenger. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften/Yearbook for the History of Literature, Humanities, and Sciences 8 (2004), S. 255–264.

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Wasserfluss gleich und nennt sie wellenförmig. Zudem parallelisiert er das Kleinhirn mit einem Brunnen.56 When some time past I diligently and seriously meditated on the office of the Cerebel, and revolved in my mind several things concerning it, at length, from the Analogy and frequent Ratiocination, this [...] true and genuine use of it occurred; to wit, that the Cerebel is a peculiar Fountain of animal Spirits designed for some works, and wholly distinct from the Brain. Within the Brain, Imagination, Memory, Discourse, and other more superior Acts or the animal Function are performed; besides, the animal Spirits flow also from it into the nervous stock, by which all the spontaneous motions to wit, of which we are knowing and will, are performed by which involuntary actions (such as are the beating of the Heart, easie Respiration, the Concotion of the Aliment, the protrusion of the Chyle, and many others) which are made after a constant manner unknown to us, or whether we will or no, are performed.57

Den Rekurs auf die Hydrotechnik – „the Cerebrel is a peculiar Fountain“ – deutet Canguilhem als einen Vergleich, der auf funktionalen Aspekten basiere. Wie der Brunnen hätte das Kleinhirn die Funktion Nervengeister durch die Umlaufbahnen des Körpers zu pumpen. Wenn Willis auf die Wasserspiele zu sprechen kommt, scheint er sie in der Tat mit dem Gehirn zu vergleichen. Um die Logik dieses Vergleichs angemessen verstehen zu können, ist es zunächst sinnvoll, die ihm zugrunde liegenden Denkweisen näher zu betrachten. Willis spricht davon, dass ihn seine Einbildungskraft, also sein räumliches und bildliches Vorstellungsvermögen auf die Idee gebracht habe, das Kleinhirn einen Brunnen zu nennen. As I only imagined of the use of the Cerebel after this manner, I was led to it at length by a certain thread of Rationcination, to which afterwards happened an Anatomical Inspection, which plainly confirmed me in this opinion. For in the frequent Dissection of the Heads of several sorts of Animals certain Observations did occur, which seemed to put this matter out of all doubt. For I first observed, the pairs of Nerves, which did serve to the Functions, wont to be performed by the Instinct of Nature, or the force of Passions, rather than by the beck of the will, so immediately to depend on the Cerebel, that from thence only the influence of the animal Spirits seems to be derived into their origins or beginnings. By that means the Nerves arising from the Cerebel, or receiving from it the provision of the animal Spirits, do perform only involuntary actions, shall be declared hereafter.58

Canguilhem trägt diesem Umstand dadurch Rechnung, dass er auf die Bedeutung der Imagination für Willis’ Theoriebildung hinweist: „Die Originalität von Willis manifestiert sich stärker im Vermögen der Einbil_____________ 56 57 58

Willis, Anatomy of the Brain [Anm. 52], Bd. 2, S. 111. Ebd. Ebd., S. 112.

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dungskraft, durch das er die erklärenden Vergleiche, die er benutzt, bis in ihre letzten Konsequenzen ausnutzen kann.“59 Als potentielles Erkenntnisvermögen scheint die Einbildung für Canguilhem jedoch eine andere Bedeutung zu haben. Für Canguilhem sind Imaginationen Vorstellungen innerhalb einer Theorie oder Wissenschaft, deren Inhalte sich durch die Geschichte bestätigen oder nicht bestätigen können. Konkret sind hier die aus der Hydraulik übernommenen Vorstellungen gemeint, die um 1955 in der Physiologie an Plausibilität verloren haben. Die Imaginationen werden vor diesem Hintergrund in dem Sinn als Produkte der Einbildungskraft ausgewiesen, dass sie nicht mehr zur aktuellen Wissenschaft gehören. Ähnlich wie Bachelard argumentiert Canguilhem damit normativ. Er folgt der Norm und dem Werturteil der für ihn aktuellen Wissenschaft und relativiert damit historische Wissensbestände. Für Willis dürfte die Imagination hingegen eine andere Bedeutung gehabt haben. Der Brunnen wird deshalb erwähnt, weil er dem Kleinhirn ähnlich war. Fraglich ist jedoch, worin die Ähnlichkeit bestand. Die folgende Abbildung kann darüber Aufschlüsse geben, sie ist einem auch von René Descartes konsultierten Kompendium entnommen, der Schatzkammer mechanischer Künste von Augustini Ramelli (1620). Die Ähnlichkeit zwischen dem hier dargestellten Brunnen (Abb. 2) und einem Kleinhirn (Abb. 3) dürfte vor allem ihre räumliche Struktur, d. h. ihre Architektonik betreffen. Sie besteht in der Anordnung der Elemente, der Wölbungen und Ausgänge. Die Nerven-Enden am Kleinhirn weisen jedenfalls Gemeinsamkeiten mit den Ausgängen jener Leitungssysteme von Brunnen auf. Aufgrund dieser visuellen Ähnlichkeiten mag Willis das Kleinhirn in einem ersten Schritt mit einem Brunnen gleichgesetzt und dann, in einem zweiten, als Leitungssystem verstanden haben. Die hydraulische Theorie und die Funktionsannahme scheinen der Bezugnahme jedenfalls nachgeordnet, wie die Hinzuziehung von visuellen Repräsentationen erhärtet. Erst diese Hinzuziehung, also ein diagrammatischer Kontext, lässt ein für Willis entscheidendes Argument zu Tage treten, das Canguilhems theoriegeschichtlicher Rekonstruktion entgeht. Eine Limitierung von Canguilhems Ansatz scheint also in der Ausblendung dieser diagrammatischen Kontexte und ihrer argumentationslogischen Bedeutung zu bestehen. Von Canguilhem werden Bilder sprachlich verstanden und meist aufgrund ihres vermeintlichen funktionalen

_____________ 59

Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. 83.

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Abb. 2: Darstellung eines Brunnens, aus: Augustini Ramelli, Schatzkammer mechanischer Künste (Leipzig 1620).

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Abb. 3: Darstellung des Kleinhirns, ventrale Ansicht, aus: Thomas Willis, Anatomy of the Brain and Nerves (London 1681).

Gehalts zu anderen Textpassagen in Bezug gesetzt, wie auch folgende Stelle verdeutlicht: Willis begreift die doppelte Bewegung der zentripetalen und zentrifugalen Fortpflanzung der Spiritus animales nicht nur durch das Bild des Lichts, sondern durch das Bild jeder Erscheinung, die zur Umkehrung durch Reflexion fähig ist: durch das Bild der Wellen an der Oberfläche des Wasser ebenso wie durch das des Tons und des Echos. Und das ist logisch: Weil er den Begriff eines die Spiritus in den Nerven bindenden und bewegenden Safts beibehält, fühlt Willis sich gehalten, im selben Begriff die direkte und reflektierte Bewegung der Spiritus als

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solche und die indirekte und reflektierte Bewegung der Flüssigkeit zu verbinden, in der sie gerade verkörpert sind. Aus diesem Grunde finden wir bei ihm so oft die Ausdrücke der direkten und reflektierten Wellenbewegung (undulatio directa et inversa) und viele Synonyme des Verbs reflectere, nämlich reciprocare, retorquere, refluere.60

Canguilhem interessiert sich an dieser Stelle für die Theorie sowie für das sprachliche Bild und weniger für visuelle Ähnlichkeiten. Gleichwohl haben diese Ähnlichkeiten bei Willis eine zentrale Funktion, die nicht in Canguilhems Sinn begrifflich ist. Denn es handelt sich bei dem Verweis auf den Brunnen nicht primär um einen funktionalen Vergleich, der sich in Begriffskomponenten oder theoretische Zusammenhänge auflösen ließe, sondern um einen Analogiebeweis, der auf den optischen und visuellen Ähnlichkeiten fußt. Dass Willis in Bildern denkt, dass visuelle Ähnlichkeiten und räumliche Anordnungen die Fülle der Bezugnahmen regulieren,61 gilt nicht nur für den Bereich der Wasserspiele, sondern auch für den Kontext des Licht- und Feuerspiels. Nach dem Vorbild der Explosion erläutert Willis die Kraftübertragung und die Kontraktion des Muskels, insofern Feuerwerken und Wasserspielen dieselbe Flussbewegung von einem Zentrum zur Peripherie eigen ist.62 Dass Willis’ Pyrotechnik und Hydraulik bzw. Feuerwerke und Wasserspiele wie selbstverständlich in einem Atemzug erwähnt, scheint heute eher unverständlich und kontra-intuitiv. Wir assoziieren mit diesen Wissensgebieten vollkommen unterschiedliche Theorieund Phänomenbereiche. Willis nimmt aber nicht nur wechselseitig auf Hydraulik und Pyrotechnik Bezug. Beide stellen für ihn ein offenbar gleichwertiges Anschauungsfeld dar. Wie kommt es zu der ebenbürtigen Gewichtung von Kontexten, die nach unserem heutigen Verständnis eher getrennten Wissensbereichen zuzuordnen sind? Diese Gleichstellung könnte ebenfalls auf den ikonischen Traditionen des 17. Jahrhunderts basieren und damit das Primat der visuellen Analogien weiter plausibilisieren. Die Darstellung von Feuerwerken und Wasserspielen folgt im 17. Jahrhundert einer gemeinsamen Repräsentationslo_____________ 60 61

62

Ebd., S. 84 f. Vgl. Helmar Schramm, Kunstkammer – Laboratorium – Bühne im „Theatrum Europaeum“. Zum Wandel des performativen Raums im 17. Jahrhundert. In: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, hg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig. (Theatrum Scientiarum, 1) Berlin u. New York 2003, S. 10–34. Willis, Five Treatises. The Second Medical [Anm. 50] S. 34: „Further, whilst the Soul so exerts it self, or some parts of it self, that the works then designed might be performed, an heap of animal Spirits being very where disposed in the motive parts, sometimes one, sometimes more are raised up by the Soul, which by that means being expanded with a certain force, and as it were exploded, they blow up certain bodies.“

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Abb. 4: Darstellung eines Feuerwerkes, aus: Appier Hanzelet, La Pyrotechnie [1630].

gik.63 In bildlichen Darstellungen wird kaum je eine entscheidende Differenz zwischen Feuerwerken und Wasserspielen gemacht, jedenfalls nicht, was ihre räumliche Anordnung betrifft. Folgendes Bild zeigt eine Reprä_____________ 63

Simon Werrett, Making Fire Work: Pyrotechnics and Natural Philosophy. In: Endeavour 32 (2008) 1, S. 32–37.

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sentation der Pyrotechnik, die dem Bereich der Nautik entnommen ist (Abb. 4). Es verdeutlicht nochmals, inwiefern die Pyrotechnik eine wichtige Quelle für die physiologische Argumentation gewesen sein dürfte. Die Bilder stellen die Fortleitung von Licht bzw. Feuer als Kontinuum dar, das auf einen Ursprungspunkt zurückweist. In diesem Sinn gleichen sie den Repräsentationen von Wasserspielen. Sie erzeugen eine Ähnlichkeit zwischen beiden Bereichen, die mit unserem heutigen (auch auf unmittelbarer Anschauung basierenden) Wissen von Feuerwerken nicht kompatibel scheint. Für Willis dürften visuelle Repräsentationen jedoch die einzige Quelle gewesen sein. Denn Feuerwerke stellten um 1660 ein exklusives, höfisches und kein öffentliches Ereignis dar.64 Man konnte ihnen in der Regel nicht beiwohnen und sie waren einer größeren Öffentlichkeit meist nur durch Bilder bekannt. Willis kannte Feuerwerke möglicherweise nicht aus eigener Anschauung. Die Bedeutung der Bilder für Willis’ Argumentation ergibt sich somit aus zwei historischen Besonderheiten: zum einen daraus, dass Bilder eine wichtige, zum Teil sogar die einzige Quelle der Wissensbildung waren. Andere sinnliche Informationen wie Geruch und Geräusch, auf der die Unterscheidung von Feuerwerken und Wasserspielen heute gründet, waren Willis nicht präsent. Zum anderen lässt sich die Bedeutung der Bilder aus den Denkkonventionen des 17. Jahrhunderts, aus dem räumlichen und analogischen Denken ableiten. Die Bezugnahme von Wasserspielen und Feuerwerken hätte dementsprechend mehr als eine nur veranschaulichende Funktion. Offenkundig handelt es sich bei beiden Bezugnahmen um Analogiebeweise, die einer höheren, räumlichen Ordnung folgen und der primär physiologischen übergeordnet sind.65 Die Feuerwerkshypothese, also die Annahme, die Muskelkontraktion werde durch eine Explosion ausgelöst, wäre im positiven Sinn eine Spekulation zu nennen. Sie wäre Wissen, das nicht aus der Anschauung oder Erfahrung, sondern aus Denken in Bildern gewonnen wird und das auf Imagination basiert. Aus diesem Grund scheint es sich bei dem Feuerwerkverweis auch nicht um eine Metapher oder einen Vergleich zu handeln, der sich in begriffliche Ausdrücke rückübersetzen ließe. Der Verweis kündet vielmehr von einer Denkweise, die auf räumlichem bzw. architektonischem Wissen gründet und sich vor allem in der Repräsentation zeigt. Die Repräsentation, nicht das sprachliche Bild, scheint mithin ein Wissen zu enthalten, das sich über visuelle Analogie entfaltet und in den Denkkonventionen des 17. Jahr_____________ 64 65

Kevin Salatino, Incendiary Art. The Representation of Fireworks in Early Modern Europe. Los Angeles, Calif. 1997, S. 3 sowie die Abb. 4 auf S. 42. Zur Ähnlichkeit, die sich nicht in Serien von Elementen auflösen lässt: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1974, S. 102–104.

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hundert fest verankert ist. Die visuelle Anordnung strukturiert Willis’ Begriffe somit vor, die einer Architektur, einer räumlichen Logik folgen. Canguilhem übersetzt diese Bilder allerdings in Begriffe bzw. Theorien und lässt die Denkkonventionen des 17. Jahrhunderts nicht für sich sprechen. Für ihn ermöglicht Willis’ Anlehnung an die Pyrotechnik, die Muskelbewegung nach dem Modell der Entladung bzw. Explosion zu erklären. Canguilhem deutet diese Bezugnahme als funktionalen Vergleich. Er wertet sie nicht als eigenständiges Argument, sondern als ein in Sprache aufgelöstes Bild, das sich der Begriffsbildung nicht entzieht. Willis’ Imagination interessiert Canguilhem nur insofern, als sie zur Reformulierung des Kraftübertragungsproblems führe und damit schließlich die Herausbildung des Reflexbegriffes ermögliche: Da das Nervensystem in seiner anatomischen Struktur eher als ausstrahlend denn als verzweigt aufgefaßt wird, [...] wird die Fortpflanzung der Spiritus als eine Ausstrahlung von Licht aufgefaßt. Und der Spiritus animalis selbst, dessen Essenz nicht vollständig durch eine Assimilation an irgendeine chemische Materie erklärt werden kann, muß deswegen [...] einem Lichtstrahl als ähnlich bezeichnet werden. Die Analogie wird bis zum Ende verfolgt. Die Plötzlichkeit der nervösen Entladung wird an die Übermittlung des Lichts angeglichen. [...] In dieser Physiologie sind die Nerven nicht mehr Stricke oder Kanalisationen, sondern Lunten (funis ignarius), Pulverzündschnüre.66

Auch an dieser Stelle versucht Canguilhem Begriffszusammenhänge zu ermitteln, wo zunächst Fragezeichen stehen könnten. Er stiftet Kohärenz, wo zum Teil Chaos herrscht. Genau hierin liegt eine weitere Limitierung seines begriffsgeschichtlichen Ansatzes. Zwar bezieht er Kontexte wie die Hydraulik und Technikgeschichte ein. Er ordnet sie jedoch der rationalen Begriffrekonstruktion unter. Der Ausdruck motus reflexus wird bei Willis aber nicht zu einem Begriff verdichtet. Seine Bewegungstheorie ist durch einen Rückgriff auf die Pyrotechnik, die Kanonen, das Schießpulver sowie die Wasserspiele angereichert und von visuellen Analogien geleitet, die Konturen und räumliche Strukturen von Objekten betreffen. Welche Folgerungen lassen sich aus diesen Überlegungen für die Reflexgeschichte und für die Begriffsgeschichte im Allgemeinen ziehen? Und welche Potentiale stecken in Canguilhems Ansatz? In vielerlei Hinsicht würde eine Reflexgeschichte heute andere Akzente setzen. Sie würde Visualisierungen, ästhetische Bedeutungsebenen und wissenschaftsexternes Wissen stärker in ihrer konstitutiven Bedeutung für den Begriff einbeziehen. Das gilt insbesondere für die ästhetischen Kontexte und Anschauungsbeispiele: Welchen Darstellungskonventionen folgen Repräsentationen? Was bedeutet es für den Reflex, dass pyrotech_____________ 66

Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffes [Anm. 11], S. 83 f.

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nische Bilder etwa auch Kriege darstellen? Wie lagern sich bellizistische Vorstellungen an physiologische an? Zweitens würde den eingangs erwähnten experimentellen Praktiken heute mehr Bedeutung in der Reflexgeschichte zugeschrieben werden. Willis beruft sich an mehreren Stellen auf Dekapitierungsexperimente.67 Für Willis Reflexbegriff scheinen diese Experimente zwar eine untergeordnete argumentative Bedeutung zu haben.68 Gleichwohl wäre der Frage nachzugehen, ob und wie Willis Köpfungsexperimente durchgeführt hat. Am Ende des 18. Jahrhundert scheint das Köpfen an vitalistische Bewegungskonzepte, an Vorstellungen von Peripherie und Zentrum sowie an die Automatentheorie angelagert zu sein und sich mit diesen Konzepten konstitutiv zu verbinden.69 Wie verhält sich dieser Zusammenhang bei Willis? Kündigen sich Begriffsumbrüche in der Reflexgeschichte über Praktiken an? Wie und wann koppeln sich Praktiken mit dem Reflexbegriff? Dass Canguilhem weder Praktiken noch ästhetische Kontexte noch Bilder in angemessener Weise in seine Überlegungen einbezieht, hängt nicht zuletzt mit seinem Begriff von ‚Begriff‘ zusammen.70 Er geht nicht von dem aus, was im 17. Jahrhundert als begrifflich galt, sondern versteht unter Begriff die Trias von Ausdruck, Sache und Definition. Gleichwohl scheint in seiner Begriffsgeschichte ein gewisses Potential zu liegen. Canguilhem operiert nämlich mit zwei Begriffen von ‚Begriff‘: zum einen mit einem Begriff von Begriff, der (mehr oder weniger scharf) historisch konkretisiert ist, der in einzelnen Physiologien aufscheint und aus dem Theoriekontext abgeleitet wird; zum anderen mit einem Begriff, der Zielpunkt einer historischen Transformation ist. Der Reflexbegriff ist damit sowohl Objekt der rationalen Rekonstruktion als auch Endpunkt eines geschichtlichen Prozesses. Er fungiert als Gegenstand und Strukturmoment von Geschichte und ist in diesem Sinn meta-historisch bzw. ordnende Einheit. Der übergeordnete Reflexbegriff hat die Funktion zwischen den unterschiedlichen (z. T. partialen) Begriffsausbildungen eine Kontinuität zu stiften, zwischen diachronen (kontinuierlichen) und syn_____________ 67 68

69 70

Willis, The Anatomy of the Brain [Anm. 52], Bd. 2, S. 111. Anders argumentiert er offenbar hinsichtlich der Sektionen, vgl. Kenneth Dewhurst, Thomas Willis and the Foundations of British Neurology. In: Historical Aspects of the Neurosciences. A Festschrift for Macdonald Critchley, hg. v. Frank Clifford Rose u. William F. Bynum. New York 1981, S. 327–346, hier S. 340. Vgl. dazu den Beitrag Reflex: Begriff und Experiment von Margarete Vöhringer im vorliegenden Band. Vgl. dazu: Dominik Brückner, Zum Begriffsbegriff der Begriffsgeschichte. Fragen eines Lexikologen an die Begriffsgeschichte. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften/Yearbook for the History of Literature, Humanities and Sciences 10 (2006), S. 66–100, hier S. 76 ff.

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chronen (diskontinuierlichen) Perspektiven zu vermitteln. Heute würde eine Reflexgeschichte auf die diachrone Perspektivierung verzichten und entlang epistemischer Brüche,71 die die Denktraditionen voneinander trennen, geschrieben sein. Sie würde nicht auf ein strukturbildendes telos fokussieren. Canguilhems Geschichte hat als solches telos den experimentellen Reflexbegriff des 19. Jahrhunderts. Letzterer bildet den normativen Rahmen und ist an geltendem Wissen orientiert. Auch das ist heute nicht mehr state of the art. Gleichwohl ist über kontinuierliche Perspektivierungen in der Begriffsgeschichte ebenso nachzudenken wie über den sich daraus ergebenden Aktualitätsbezug.

4. Anmerkung zur Biologie der Begriffe Canguilhem hat auf diese Fragen Antworten in den Lebenswissenschaften gefunden. Auf den ersten Blick betrachtet, ist seine Reflexgeschichte, wie gesehen, an Bachelards Theorie der Verwissenschaftlichung orientiert. Auf den zweiten Blick sind die Zusammenhänge allerdings komplexer, als die bisherigen Ausführungen vermuten ließen. Denn Canguilhem beschreibt den historischen Prozess nicht nur als Verwissenschaftlichung. Er verwendet dazu auch Begriffe aus der Biologie, wie die Worte „Geburt“, „Abstammungslinie“ und „Herausbildung“ indizieren. Diese Redewendungen könnten einerseits metaphorisch, andererseits epistemologisch zu verstehen sein.72 Möglicherweise kündigt sich hier ein epistemologisches Modell von Wissenschaft an, das Begriffen Leben zuspricht und Akteure wie Objekte in einen einheitlichen, dynamischen Emergenz- und Erkenntniszusammenhang stellt und damit die Differenz zwischen Akteuren, Objekten und Begriffen relativiert. In diesem Modell bleibt ein zentraler Aspekt von Begriffsbildung und -geschichte jedoch unberücksichtigt: nämlich der, dass Begriffe nicht emergieren, existieren oder migrieren, sondern nur deshalb in der Zeit sind, weil Menschen, denen sie bedeuten, in der Zeit sind. Das gilt für alle Begriffe, den Begriff ‚Begriff‘ eingeschlossen. Ihre Zeitlichkeit resultiert somit aus einer dreistelligen Relation. Wenn es um (für die Begriffsgeschichte oft zentralen Aspekte von) Bedeutung, Geltung oder Wissen geht, tritt neben den Text oder das propositionale Gefüge der Akteur, der dieses Gefüge aktualisiert, der Begriffe in Relationen setzt, sie verwendet oder rekonstruiert. Für die Zeitlichkeit der _____________ 71 72

Wie sie etwa Foucault in seinem Vorwort zu: ders., Archäologie des Wissens, übers. v. U. Köppen. Frankfurt a.M. 1981, S. 11–30 beschreibt; darin auch seine Kritik an Canguilhem, vgl. S. 11. Vgl. dazu Schmidgen, Fehlformen des Wissens [Anm. 35], S. XL–XLIX.

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Yvonne Wübben

Begriffe spielt eine untergeordnete Rolle, ob der Akteur Wissenschaftler oder Historiker ist. Letzterer hat auch mit solchen Begriffen zu tun, die nicht in seiner Zeit sind. Begriffe selbst haben kein Leben. Auch wissenschaftliche Begriffe nicht. Sie sind nur deshalb in der Zeit, weil wir ihre Geschichten erzählen und sie unsere Geschichten sind.73 In seinen späteren Schriften scheint Canguilhem diesem Umstand wieder Rechnung zu tragen und die lebenswissenschaftliche Rahmung von Begriff, Akteur und Objekt anders zu akzentuieren. Der Historiker wird zum Experimentator erklärt, der Begriffe hervorbringt, Irritationen hervorruft und Begriffe dadurch verändert. Im Blick auf Pierre Flourens heißt es: „Il faut déclarer que faire l’histoire des sciences c’est mettre l’esprit humain en expérience, faire une théorie experimentale de l’esprit humain.“74 Diese Experimentaltheorie benennt einen Akteur, der eine Theorie des esprit entwirft und ihn zur Erfahrung werden lässt. In diesem Sinn sind sowohl Michel Serres als auch Thomas Willis und Georges Canguilhem Akteure des Reflexes. Als Begriffsexperimentatoren bringen sie Bewegung ins Leben und das können nicht alle Begriffshistoriker von sich behaupten.

_____________ 73 74

Glenn Most, Anachronisms. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften/Yearbook for the History of Literature, Humanities and Sciences 8 (2004), S. 294–297. Georges Canguilhem, Études d’histoire et de philosophie des sciences. Paris 1968, S. 12.

Margarete Vöhringer

Reflex. Begriff und Experiment Es gehört zu den Absurditäten der Wissenschaften vom Leben, dass sich die Entdeckung menschlicher Reflexe maßgeblich entlang von Köpfungsexperimenten entwickelt hat und dass dabei zugleich die Rolle des Gehirns für die Bewegungstätigkeit des Körpers verhandelt wurde. Dementsprechend fasst Georges Canguilhem den Reflexbegriff als ein Phänomen der Verlagerung des Forschungsinteresses vom Zentrum auf die Peripherie auf, vom Gehirn auf Gefäße, Sinnesorgane, Muskeln oder Nerven: „Das Wesentliche des Reflexbegriffs ist [...] die Annahme, daß sich die von der Peripherie des Organismus ausgehende Erregung, was auch immer ihre Natur sei, nach einer Reflexion in einem Zentrum auf dieselbe Peripherie zurückwendet.“1 Zahlreiche Dezerebralisierungen von Tieren wie Fröschen und Hunden im 18. Jahrhundert scheinen dies zu belegen. Verlässt man das medizinische Labor aber und betrachtet ebensolche Enthauptungen im öffentlichen Raum und an Menschen – rund um die Einführung der Guillotine auf dem Henkersplatz beispielsweise – wird deutlich, welche Rolle die Peripherie in einer politischen Dimension für die Entwicklung der Reflexforschung spielte. Hierzu muss allerdings eine Erweiterung des Verständnisses wissenschaftlicher Begriffe erfolgen, wie sie erstmals Canguilhem am Reflex vorgenommen hat.

1. Reflexe im Experiment: Köpfen, Reizen, Blenden Nachdem der französische Theoretiker die Herausbildung des Begriffs der Reflexbewegung bei Thomas Willis verortet hat, versucht er, was noch heute eine Herausforderung für die Begriffsgeschichte darstellt: er findet den Reflex in Experimenten vor, die sich sprachlich nicht auf ihn beziehen. Wie kann ein Begriff im Experiment greifbar werden, wenn kein Ausdruck, kein Wort dazu verwendet wurde? _____________ 1

Georges Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert [1955]. A. d. Frz. übers. u. mit e. Vorw. eingel. v. Henning Schmidgen. München 2008, S. 52; zum Verhältnis von Peripherie, Reflex und Hirnforschung siehe das Projekt von Yvonne Wübben am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung: Reflex und Kognition. Zur Konfiguration der Neurosciences.

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Margarete Vöhringer

Robert Whytt, ein Arzt und Professor der Medizin aus Edinburgh, hat Mitte des 18. Jahrhunderts zwar „niemals selbst das Wort ‚Reflexbewegung‘“ zum Einsatz gebracht, dennoch „sind die Bewegungen, die er beschreibt, doch genau die, die wir heute so nennen“.2 ‚Heute‘ waren für Canguilhem die 1950er Jahre, das Jahrzehnt, in dem sein Buch zum Reflexbegriff entstanden ist, und er präzisiert diesen Begriff im Laufe des zweiten Kapitels als unwillkürliche Bewegung, bei welcher „der Transport irgendeiner Wirkung von der Peripherie zum Zentrum zu seinem Ausgangspunkt zurückgesandt oder reflektiert werden kann“.3 Canguilhem weist dies nicht aus, aber er versteht den Reflex hiernach im Grunde so, wie er sich ethymologisch aus dem Lateinischen ableitet: reflectere heißt „rückwärtsbiegen, zurückbeugen, umkehren“.4 Das zeigt, wie vorsichtig und zurückhaltend die Definition des Reflexes ist, die Canguilhem im Folgenden in den Experimenten der frühen Physiologen sucht. Danach fährt er wesentlich geschulter an medizinischen Texten fort: „Es zeichnet die Reflexbewegung aus, dass sie nicht direkt von einem Zentrum, vom zentralen Sitz eines immateriellen Vermögens ausgeht“ und darin beruht „der spezifische Unterschied zwischen dem Unwillkürlichen und dem Willkürlichen“.5 Diesen Unterschied bestätigte Whytt bei Experimenten mit Froschköpfungen. Er beobachtete, dass nach der Köpfung eines Frosches dessen Rumpf nicht sofort erstarrte, sondern weiterhin Zuckungen äußerte, dass also die Muskelbewegungskraft noch eine Weile erhalten blieb. Daraus folgerte Whytt, dass das Rückenmark mehr als nur die Funktion der Übermittlung von Impulsen hatte, die das Gehirn zentral aussendete.6 Das Rückenmark musste selbst eine Art Zentrum verkörpern und über das von Whytt so genannte ‚sentient principle‘ – das Empfindungsprinzip – verfügen. Anders als es von einem Experimentator zu erwarten wäre und ihm von einigen Mechanismus-Anhängern später unterstellt wurde, lokalisierte Whytt das ‚sentient principle‘ nicht einfach im Rückenmark statt im Gehirn, sondern verteilte es im gesamten Organismus. Als Prinzip hatte es keinen materiellen Ort, sondern war die Fähigkeit der Materie zu empfinden. Auf jeden Reiz, auf jede Einwirkung, im schlimmsten Fall auf eine Köpfung reagierte der Organismus empfindlich und geriet in Bewegung. _____________ 2 3 4 5 6

Ebd., S. 127. Ebd., S. 66. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen [1989], hg. v. Wolfgang Pfeifer u. a. (dtv, 3358) München 31997, S. 1098. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs [Anm. 1], S. 52. Robert Whytt, Observations on the Nature, Causes, and the Cure Of those Disorders which have been commonly called Nervous Hypochondriac, or Hysteric, To which are prefixed some Remarks on the Sympathy of the Nerves. London u. Edinburgh 1764, S. 30.

Reflex. Begriff und Experiment

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Damit stellte das Empfindungsprinzip auch die immaterielle, also strukturelle Voraussetzung für die Existenz von ‚sympathischen Bewegungen‘ dar, die Canguilhem schließlich als Reflexbewegungen interpretiert. Whytt selbst verwendete diesen Ausdruck zur Beschreibung der Bewegungsreaktion nicht. Canguilhem brauchte ihn, um den ungewöhnlichen Zusammenhang zu verdeutlichen, der zwischen Whytts Lokalisation des Reflexzentrums im Rückenmark und seiner metaphysischen Begründung der Zuckungen aufkam: „Das Empfinden kann nach Whytt keine Eigenschaft der Materie sein, welche Veränderung man ihr auch zugestehen mag, und folglich hängt die Sympathie – d. h. im vorliegenden Fall die Reflexbewegung – von einem nicht mechanischen Prinzip ab.“7 Anschließend sucht Canguilhem nach einer Erklärung dafür, wie ein vermeintlich mechanistisches Konzept – der Reflex – aus einem vitalistischen Denken entstehen konnte. Eine frühe Schrift Whytts aus dem Jahr 1751 mit dem Titel On the Vital and involuntary Motions of Animals klärt seine Ignoranz gegenüber dem scheinbaren Gegensatz zwischen Mechanismus und Vitalismus etwas auf. Schon im Vorwort kündigt Whytt an, sich auf das Experiment und die Beobachtung zu stützen und nicht nur seiner Einbildungskraft zu folgen: „In compiling it [o.g. Schrift – M. V.], he has been careful not to indulge his fancy, in wantonly framing hypotheses, but has rather endeavoured to proceed upon the further foundations of experiment and observation.“8 Offenbar war hier ein Praktiker am Werk, der nicht viel mit der Theorie im Sinn hatte. In vierzehn Kapiteln geht Whytt in dieser Schrift der Ausgangsfrage nach, warum Muskeln ohne und sogar gegen den bewussten Willen zusammengezogen werden und verspricht, dies mit einer für alle Phänomene gemeinsamen Ursache zu beantworten: dem empfindenden Prinzip. Anlass zu der Vermutung, dass mehr als nur mechanische Gesetze zwischen Nerven und Muskeln wirken, gab ihm die Beobachtung, dass trotz eines konstanten Reizes ein Muskel nicht ständig und regelmäßig zuckte. Ein separiertes Froschherz, mit einer Nadel gestochen, setzte die Kontraktionen nicht andauernd fort. Bei einem Muskel, der lange in Aktion war, kam mit der Zeit ein Zittern auf, obwohl der Reiz anhielt.9 Ein ebensolches Experiment Whytts, das jedoch ganz ohne die Beschädigung des Körpers auskam, griff Canguilhem als zweites Beispiel für unwillkürliche Bewegungen auf: „Ein lebhaftes Licht führt zur Verengung _____________ 7 8

9

Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs [Anm. 1], S. 132. Whytt schreibt hier über sich selbst in der dritten Person. Auf diese Stelle verweist Heinz Otto Hürzeler, Robert Whytt (1714–1766) und seine physiologischen Schriften. Diss., Zürich 1973, S. 14. Bei Whytt zu finden in: An Essay on the Vital and other Involuntary Motions of Animals. Edinburgh 1751, Vorwort, S. 1. Whytt, An Essay on the Vital, ebd., S. 18 f.

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der Pupille durch die Zusammenziehung der kreisförmigen Fasern. Das Auge passt die Traubenhaut an das Blitzen der Lichtquelle [...] an.“10 Dasselbe Experiment führte Whytt mit einer Katze unter Wasser durch, bei der die Pupillen sich trotz Lichteinwirkung nicht zusammenzogen, da ihre Empfindlichkeit durch das Wasser gemindert war. Whytt zeigte so, dass die Reaktion der Pupille nicht von der direkten Lichtwirkung auf die Iris abhing, sondern von der Empfindung der Blendung, die in der Netzhaut erregt wurde.11 Auch hier, wo die Reaktion der Pupille nicht beständig, nicht durchgehend (wie etwa beim Herzen), sondern von begrenzter Dauer und rhythmisch – also reflexhaft – war, sah er das empfindende Prinzip am Werk. Ein mechanischer Ablauf, betont Canguilhem, hätte zu einer konstanten Zusammenziehung der Pupillen führen müssen.

2. Ein Versuch und ein Begriff: ‚Whytt’s Reflex‘ Nachdem nun Canguilhem noch ein weiteres in der Medizingeschichte vernachlässigtes Experiment vorgestellt hatte, das den Reflexbegriff antizipierte, fuhr er damit fort, die Dichotomie von Mechanismus und Vitalismus aufzulösen. Whytt habe eine Gleichzeitigkeit von anatomischphysiologischem Mechanismus mit einem Empfindungsprinzip der Kontrolle und Regulation entwickelt: „Ausgehend von gut ausgeführten Untersuchungen hat Whytt verstanden, daß man den Sitz des Kommandos und der Kontrolle von Bewegungen dezentralisieren mußte, aber er hat dies getan, indem er die Anwesenheit des einzigen zentralen Prinzips, dessen Idee er aus der animistischen Tradition übernommen hatte, in gewisser Weise auf die Dimensionen des ganzen Körpers ausgeweitet hat, ohne daß ihm jemals der Gedanke gekommen wäre, es gäbe vielleicht eine Vielheit von Zentren.“12 Canguilhem begnügte sich damit, die Realisierung des Reflex-Begriffs im Experiment in Form von Versuchen sowohl am Tier als auch am Menschen, sowohl am toten als auch am lebenden Wesen vorgefunden zu haben und wendete sich von der Praxis des Physiologen wieder ab. Weitere Experimente schienen ihm nur eine quantitative, nicht aber qualitative Rolle zu spielen, was nicht zuletzt zur Folge hatte, dass er eine Versuchsanordnung am lebenden, aber kranken Menschen überging, die für Whytts Bedeutung in der Geschichte des Reflexes wohl die bekannteste war. _____________ 10 11 12

Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs [Anm. 1], S. 128. Whytt, An Essay on the Vital [Anm. 8], S. 114 f. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs [Anm. 1], S. 131 f.

Reflex. Begriff und Experiment

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In einem späteren Abschnitt derselben Schrift beobachtete Whytt an einem fünfjährigen Jungen, der im Koma lag, die Erweiterung beider Pupillen, etwas später eine Verengung derselben. Nach dem Tod des Jungen fand er unter dem Gehirnbalken eine starke Wasseransammlung vor. Die Pupillenerweiterung schrieb er der Kompression des Thalamus opticus zu, die spätere Verengung einer Druckwirkung auf die Ursprünge der Nerven der Traubenhaut.13 Einem Biographen zufolge hat Whytt damit als erster den Ablauf eines Reflexes zu schildern versucht und sogar das Schaltzentrum im Gehirn lokalisiert: „Durch klinische Beobachtung hatte er erkannt – und durch Autopsie bestätigt –, daß tatsächlich ein Hirnteil am Zustandekommen der Lichtreaktion der Pupillen [...] beteiligt war“.14 Später wird das Ergebnis dieses Experiments rückwirkend als ‚Whytt’s Reflex‘ bezeichnet, denn Whytt wies hier mehr noch als in seinen von Canguilhem zitierten Experimenten einen Aspekt des Reflexbegriffs nach, der schon nicht mehr in die Vergangenheit deutete, zu Thomas Willis’ Unterscheidung von willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen, sondern in die Zukunft: zum Reflexbogen und seiner Verknüpfung sensibler und motorischer Prozesse über ein cerebrales Schaltzentrum, der erst Anfang des 19. Jahrhunderts begrifflich gefasst werden sollte. Warum Canguilhem dieses Experiment ausließ, ob er es kannte oder nicht, darüber lässt sich nur spekulieren. Die medizinische Öffentlichkeit jedenfalls war mit Whytt und mit seinem Versuch vertraut. Geschichtsbücher der Neurophysiologie beschreiben ‚Whytt’s Reflex‘, er wird im Scientific Biography erklärt.15 Es liegt nahe, dass Canguilhem ‚Whytt’s Reflex‘ wahrgenommen hat. Womöglich ist er so auf Whytts Praxis gestoßen und hat bemerkt, dass der schottische Arzt das Reflexkonzept in seinen Versuchen vorweggenommen hatte. Wollte Canguilhem genau diesen Weg nicht offenlegen, weil er konventionell war und über einen sprachlichen Reflexbegriff zu einer Praxis geführt hätte, statt einen neuen Weg zu gehen und eine Praxis aufzuzeigen, die ihren Begriffen vorausging? Dies weist auf eine generelle Frage an die Begriffsgeschichte hin: lassen sich überhaupt Begriffe finden, die sich nicht sprachlich, sondern praktisch realisieren, wie das bei Whytt der Fall war? Vielleicht hat Canguilhem ‚Whytt’s Reflex‘ gerade deshalb nicht berücksichtigt, weil er damit hätte anachronistisch werden müssen: Er hätte den Reflexbegriff mit einer Sache verbunden, die _____________ 13 14 15

Die Bezeichnung ‚Traubenhaut‘ folgt der Übersetzung von Canguilhems Reflex-Studie durch Henning Schmidgen; die medizinisch geläufige Bezeichnung für die mittlere Augenhaut ist ‚Uvea‘. Zit. in: Hürzeler, Robert Whytt (1714–1766) [Anm. 8], S. 38; Whytt beschreibt das Experiment in: An Essay on the Vital [Anm. 8], S. 130 ff. Mary Agnes Burniston Brazier, A History of Neurophysiology in the 17th and 18th Centuries. From Concept to Experiment. New York 1984, S. 134.

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zur Zeit Whytts noch nicht entdeckt war, dem Reflexbogen. Dadurch wäre rückwirkend einem Experiment Bedeutung verliehen worden, die ihm historisch gar nicht zukam. Jenseits dieser offen bleibenden Fragen verrät ‚Whytt’s Reflex‘ Entscheidendes über das Verhältnis von Begriff und Experiment: weder realisierte sich der Reflex als Ausdruck für einen Begriff erstmals in einem Experiment, noch umgekehrt ließen Whytts Experimente den Ausdruck entstehen. Stattdessen haben sich Ausdruck und Experiment unabhängig voneinander entwickelt, in verschiedenen Disziplinen und mit einem Abstand von fast hundert Jahren. Die Verbindung von Thomas Willis explosiven Reflexbewegungen und Robert Whytts Köpfungen zu einem Begriff ist erst nachträglich sichtbar und in historischen Darstellungen verknüpfbar geworden.16

3. Reflexe im öffentlichen Raum: Guillotine Für Canguilhem war mit Whytt der Exkurs in die Praxis des ReflexBegriffs zunächst erledigt. Die folgende Zeit beschrieb er wie eine Erfolgsgeschichte des Reflexes entlang seines sprachlichen Aufkommens. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Reflexbegriff sich in die Labore und Handbücher der Medizin eingeschrieben und ihm wurde „der Status einer biologischen Tatsache verliehen [...], von der man nicht mehr weiß, ob ihre Existenz einen Begriff verwirklicht oder ob der Begriff sich in gewisser Weise von dieser Existenz ablöst“.17 Seither scheint der Reflex in einer Geschichte gefangen, die der Mediziner François Jacob 1997 als „wohlgeordnete Folge von Begriffen und Experimenten“18 bezeichnet. Dabei verweist Jacob ganz im Sinne Canguilhems auf die Notwendigkeit hin, die schon Anfang der 80er Jahre von Ian Hacking für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung eingefordert worden war: Zu einer Begriffs- bzw. Theoriegeschichte gilt es, immer auch eine Praxisgeschichte zu erzählen. Zwischen ‚Whytt’s Reflex‘ und der Entdeckung des Reflexbogens durch Marshall Hall im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts schiebt sich eine solche Praxis der Beobachtung von Reflexen, die aus dem Arbeitszimmer des Mediziners herausführt. Und _____________ 16

17 18

Neben Canguilhems Studie sind hierzu unter anderem zu nennen Franklin Fearing, Reflex Action. A Study in the History of Physiological Psychology [1930]. Cambridge, Mass. 1970 und in Frank Clifford Rose (Hg.), A Short History of Neurology. The British Contribution 1660–1910. Oxford 1999; Zu Thomas Willis siehe Yvonne Wübbens Beitrag in diesem Band. Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs [Anm. 1], S. 198. François Jacob, Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über die moderne Genforschung. A. d. Frz. v. G. Roßler. München 2000, S. 163.

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auch diese Praxis beschreibt Reflexe in ihrer allgemeinsten Definition, wie sie Canguilhem festgehalten hat – also als plötzliche, unwillentliche, dezentral steuerbare Reaktionen auf Reize –, ohne sie mit einem Ausdruck zu fassen, und sie greift dabei auf die Wissensbestände zurück, die sich seit Willis und Whytt verbreiteten. Blickt man nicht nur synchron, sondern dialogisch auf die Experimente zum Reflex werden Zusammenhänge zwischen Disparatem sichtbar, wie zwischen den Köpfungen der Frösche in physiologischen Versuchen Mitte des 18. Jahrhunderts und der Einführung der Guillotine auf dem Henkersplatz.19 Ihr Erfinder Joseph Guillotine hat 1775 in einem Aufsatz vorgeschlagen, die Verurteilten „all den Experimenten zu unterziehen, die man an Tieren macht“.20 Seine ‚große Maschine‘, wie er sie selbst nannte, war natürlich nicht die erste ihrer Art, sie setzte die Köpfungen der Experimentaltiere aber seit 1792 erstmals per Gesetz tatsächlich am Menschen in die Tat um.21 Mit dem Guillotinieren kamen dann nicht nur die Fragen von Willis und Whytt erneut auf, die sich vor allem Mediziner und Juristen stellten: Wann war der genaue Todeszeitpunkt der Hingerichteten; wie lange überlebten sie die Köpfung; welche Zeit brauchte das Bewusstsein, um den Kopf zu verlassen; was lebte noch, wenn der Kopf vom Körper abgetrennt war; welche Bedeutung hatten die Zuckungen der Gesichtsmuskeln; wo befand sich der Sitz des Lebens? Die Guillotine realisierte in ihrem mechanischen Ablauf auch das Wissen vom Reflex als instantaner, plötzlicher Reaktion des Körpers auf äußere Einwirkungen, wie sie Willis im 17. Jahrhundert beschrieben hatte. Denn die neue Todesmaschine rühmte sich vor allem damit, dass sie dem Leben ein sofortiges Ende bereiten konnte, einen Tod, der wie die plötzliche Reflexbewegung eintreten sollte, eine „plötzliche Entseelung des Körpers“,22 augenblicklich und natürlich – unwillentlich. Gerade letzteres war von besonderem Interesse für diejenigen, die diesen reflexartigen Tod herbeiführen sollten, die Scharfrichter. Der berühmteste unter ihnen, Charles-Henry Sanson, wirkte während der Revolutionsunruhen in Paris und wurde von Joseph Guillotine um seine Meinung zur neuen Hinrichtungsweise gebeten. Sanson beklagte bis dahin an den Köpfungen durch _____________ 19 20 21 22

Den Anstoß zu den folgenden Überlegungen gab die Lektüre von Joseph Vogl, Kreisläufe. In: Transfusionen. Blut-Bilder und Biopolitik in der Neuzeit, hg. v. Anja Lauper. Zürich u. Berlin 2005, S. 85–104. Daniel Arasse, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit [1987]. A. d. Frz. v. Ch. Stemmermann. Hamburg 1988, S. 12. Dorinda Outram, The Body and the French Revolution, New Haven 1989, S. 109. Christoph Meiners 1784, zit. nach Jürgen Martschukat, Ein schneller Schnitt, ein sanfter Tod!? Die Guillotine als Symbol der Aufklärung. In: Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert, hg. v. Anne Conrad, Arno Herzig u. Franklin Kopitsch. Hamburg 1998, S. 121–142, hier S. 121.

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das Schwert zweierlei: die Angstreaktionen im Publikum, die nicht selten zu Ohnmachten führten und dem Scharfrichter einen schlechten Ruf ein-

Abb. 1: Enthauptung mittels der Guillotine. Anonymer Stich. Bibliothèque nationale, Paris (18,3 x 31,2 cm).

brachten, und die Angstreaktionen der Verurteilten, die sich in Abwehrbewegungen und Zappelei äußerten. „Wie kann man der Meister eines Menschen sein, der sich nicht halten kann oder will?“, fragte er zum Schluss in seiner Notiz und brachte damit ein gesellschaftspolitisches Problem seiner Zeit auf den Punkt – wie ließ sich ein aufgeklärter Mensch regieren, der sich von seinen sozialen Fesseln befreit hatte und nicht mehr regiert werden wollte?23 Die Guillotine half Sanson mit beiden Problemen: sie versprach dem Verurteilten einen schnellen, schmerzlosen Tod und seinen Zuschauern ein weniger grausames Schauspiel. Dem Scharfrichter wiederum verhalf sie zu einem besseren gesellschaftlichen Ansehen, denn er schien nicht nur einen leichten Tod zu ermöglichen, sondern auch eine harmlose Hinrichtung, gereinigt von allen Schmerz- und Reflexkonvulsionen sowohl des gerade noch lebenden als auch des getöteten Körpers. _____________ 23

Charles-Henry Sanson zit. nach Guy Lenótre, Die Guillotine und die Scharfrichter zur Zeit der französischen Revolution [1893]. A. d. Frz. v. S. Michelet. Berlin 1996, S. 127.

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Abb. 2: Tod Ludwigs, des sechzehnten Kapetingers dieses Namens, am 21. Januar 1793. Anonymer Stich. Musée Carnavalet Paris (30,3 x 45,2 cm).

Die schnell, mechanisch und meist in einigem Abstand zu den Schaulustigen durchgeführten Hinrichtungen sind in zahlreichen Zeichnungen mit in die Höhe gehaltenen Köpfen der Guillotinierten festgehalten worden.24 Doch die Körper, die vor der Einführung der Guillotine noch in aller Sichtbarkeit geköpft und auf ihre Lebendigkeit hin geprüft wurden, waren vom Schauplatz des Strafens verschwunden. Sie fielen von dem erhöhten Podest der Guillotine einfach nach hinten weg, in einen für alle Opfer gemeinsamen „Kippkarren“.25 So sind weder Bilder der Versuchstiere noch die Körper der Guillotine-Sträflinge erhalten. Vielleicht weil sie in ihren heftigen Reaktionen zu jener Zeit kaum darstellbar waren, vielleicht aber auch weil ihre Beweglichkeit ein weiteres Argument gegen den Tod durch die Guillotine geliefert hätte. Der deutsche Anatom Samuel Thomas von Sömmering beispielsweise hat die Nervenzuckungen der Hingerichteten als Zeichen für Vitalität aufgefasst und die Guillotinierung als „Zermalmung oder Zerquetschung des Halses“, als „schreckliche[n] Schmerz“ _____________ 24 25

Abbildung 1 und 2 aus: Daniel Arasse, Die Guillotine [Anm. 20], Bildteil innen. Ein Zuschauer bei der Guillotinierung, zit. nach Lenótre, ebd., S. 99. Zur Vorrichtung der Guillotinierung siehe auch Outram, The Body [Anm. 21], S. 106–123.

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mit „entsetzliche[n] Qualen“ gescholten.26 Er berücksichtigte zwar zunächst nur die Reaktionen der abgetrennten Köpfe – Grimassen, Zähneknirschen und Augenblinzeln –, nicht die Konvulsionen der Körper. Einem Kollegen riet er, „auf Richtstätten [...] den geköpften Personen das getrennte Rückenmark am Kopfe zu reizen“ und berichtet: „dass die konvulsivischen Bewegungen schrecklich waren“.27 Im Gefolge von Sömmerings Kritik hielten nach und nach auch Whytts Experimente auf dem Schafott Einzug: die Blendung der Augen durch die Sonne, woraufhin sich die Pupillen zusammenzogen und die Reizung des Rückenmarks, die zeigte, was vom Frosch längst bekannt war: dass Bewegungen ohne das zerebrale Steuerungsorgan ausgelöst werden konnten und mithin, dass das Leben nach der Köpfung nicht nur im Gehirn, sondern für kurze Zeit im ganzen Körper erhalten blieb.28 So trug Ende des 18. Jahrhunderts neben den Reflexexperimenten auch die Guillotine dazu bei, dass sich Whytts Annahme noch einmal durchsetzte, das Gehirn sei nicht länger das einzige Zentrum der Lebenskraft und die Empfindungen würden sich im gesamten Organismus aufhalten. Der Reflex wurde vom Begriff, der seit Willis zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Bewegung im Experiment unterschied, zu einem Begriff, der zwischen Leben und Tod unterschied. Bleibt zu fragen, ob nicht die Dezentralisierung und Partikularisierung des Politischen infolge der Französischen Revolution die Aufmerksamkeit der Physiologen zunehmend weg vom Zentrum auf die Peripherie lenkte und die Beschreibung des Reflexbogens Anfang des 19. Jahrhunderts begünstigte. Daniel Arasse jedenfalls fasst diese Entwicklung mit den Worten zusammen: „Der Schrecken des sterbenden Hauptes wird um den Preis einer Abwertung des Gehirns gebannt.“29

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Samuel Thomas von Sömmering, Über den Tod durch die Guillotine. In: Klio. Eine Monatsschrift für die französische Zeitgeschichte (1795), Sept., S. 61–72, hier S. 68 f. Ebd., S. 66. Martschukat, Ein schneller Schnitt, ein sanfter Tod!? [Anm. 22], S. 134 und Ludmilla Jordanova, Medical Mediations. Mind, Body and the Guillotine. In: History Workshop (1989) 28, S. 39–52. Arasse, Die Guillotine [Anm. 20], S. 59.

(RE)KONSTRUKTIONEN DER BEGRIFFSGESCHICHTE

Winfried Thielmann

Begrifflich angeleitete Natursimulation im physikalischen Experiment von Galilei bis Hertz – Zur historischen Rekonstruktion physikalischer Grundbegriffe In diesem Beitrag gehe ich der Genese und den Auswirkungen des meines Erachtens wichtigsten Begriffes der experimentellen Physik nach. Bezeichnenderweise handelt es sich um einen Begriff, der selbst physikalischen Lehrwerken für Schule und Universität nicht einmal einen Eintrag ins Register wert ist: den Körperbegriff der Klassischen Mechanik. Ich versuche zu zeigen, dass dieser Begriff für die Entwicklung einer Physik zentral gewesen ist, die, im Gegensatz zu ihren griechischen und scholastischen Vorläufern, nicht Natur erkundet, sondern die menschlichen Handlungsmöglichkeiten an ihr. Zugleich versuche ich deutlich zu machen, dass das frühe Vergessen dieses eigentlichen Erkenntnisgegenstandes der experimentellen Physik zu der Ansicht geführt hat, dass der Zweck der Physik in der Auffindung von Naturgesetzen bestehe. Aristoteles lehrt in seiner Physica, dass jedes Naturding sich gemäß seiner Natur bewegt.1 Alle Dinge streben ihrem natürlichen Ort zu: die leichten und feurigen nach oben, die schweren und erdhaften nach unten, was auch den Grund dafür darstellt, dass man immer je schon orientiert ist.2 Der Begriff von den Dingen schließt auch deren Bewegungstendenz mit ein. Diesem aristotelischen Ansatz, an das bereits vorhandene gesellschaftliche Wissen von der Natur anzuknüpfen und dieses durch Beobachtung und Explikation zu vertiefen, bleibt auch die Scholastik treu, obwohl sie sich im Einzelnen zu Aristoteles hochkritisch verhält3 oder in ihren Abstraktions- und Formalisierungsbemühungen weit über ihn hinausgeht, z. B. Nicolaus Oresmes Theorie der Formlatituden.4 Das aristotelische _____________ 1 2 3 4

Zum Beispiel Aristoteles, Latinus VII,1 Fasc. Secundus. In: Physica, hg. v. Fernand Bossier u. Jozef Brams. Leiden u. New York 1990, VI, 8 215a25 ff. Ebd., VI., 1 208b8 ff. Siehe Johannes Buridanus, Kommentar zur Aristotelischen Physik [1509]. Nachdr. Frankfurt a.M. 1964. Cf. Marshall Clagett, Nicole Oresme and the Medieval Geometry of Qualities and Motions. Madison 1968; Anneliese Maier, An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft. Die Struktur der materiellen Substanz, das Problem der Gravitation, die Mathematik der Formlatituden. (Studien zur Naturwissenschaft der Scholastik, 3) Rom 21952.

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Winfried Thielmann

Erkenntnisinteresse, und mit ihm das scholastische, ist auf eine Erweiterung und Vertiefung begrifflichen Wissens von der Natur ausgerichtet. Das Erkenntnisinteresse lässt sich mithin als hermeneutisch charakterisieren. Der Beginn der Galileischen Discorsi mutet demgegenüber wie ein Paukenschlag an: Sagredo. [...] Nevertheless, what we were told a little while ago by that venerable workman is something commonly said and believed, despite which I hold it to be completely idle, as are many other things that come from the lips of persons of little learning, put forth, I believe, just to show they can say something concerning that which they don’t understand. Salviati. You mean, perhaps, that last remark that he offered when we were trying to comprehend the reason why they make the sustaining apparatus, supports, blocks, and other strengthening devices so much larger around that huge galley that is about to be launched than around smaller vessels. He replied that this is done in order to avoid the peril of its splitting under the weight of its own vast bulk, a trouble to which smaller boats are not subject.5

Wie dieser Ausschnitt aus Galileis Discorsi eindrucksvoll dokumentiert, geht es nun um die begriffliche Fundierung einer auf Basis von Maximen tradierten, aber kontraintuitiv gewordenen Produktionspraxis. Galilei befragt nicht Natur, sondern die konkreten Möglichkeiten gesellschaftlichen Herstellungshandelns an ihr. Er ist demzufolge nicht, wie Aristoteles, an einer Beschreibung vorliegender Naturdinge interessiert, sondern an den Gesetzmäßigkeiten, denen die handelnde Manipulation von Naturdingen gehorcht. Sein Erkenntnisinteresse ist mithin nicht mehr hermeneutischer, sondern operationaler Natur. Um ein solches Erkenntnisinteresse befriedigen zu können, ist jedoch ein massiver begrifflicher Schritt notwendig. Aristoteles und die Scholastik hatten versucht, der natürlichen Verschiedenheit der Dinge Rechnung zu tragen. Galilei betrachtet hingegen alle Dinge gleich, ohne sich um ihre wesensmäßige Verschiedenheit zu kümmern. Insbesondere macht er keinen Unterschied zwischen Naturdingen und Artefakten. Dieser – aus aristotelischer Sicht hanebüchene – Schritt wird von Galilei durch ein Gedankenexperiment motiviert: Aristoteles lehrt, dass alle Naturdinge mit der Geschwindigkeit fallen, die ihnen ihrer Natur nach zukommt. Ein großer, schwerer Stein fällt daher schneller als ein kleiner, leichter. Galilei argumentiert nun dagegen,6 dass, wenn man beide Steine miteinander verbände, der langsamer fallende kleine Stein den schneller fallenden großen bremsen müsste. Da aber das aus den beiden verbundenen Steinen bestehende Kompositum _____________ 5 6

Galileo Galilei, Two New Sciences. Including Centers of Gravity and Force of Percussion, übers., m. Einl. u. Anm. vers. v. Stillman Drake. Madison, Wisc. 1974, S. 11 f. Ebd. S. 66 ff. u. ders., Discorsi e Dimostrazioni matematiche, intorno à due nuove scienze, attenenti alla meccanica et i movimenti locali [1637]. (Le opere di Galileo Galilei, 8) Florenz 21965, S. 106 ff.

Begrifflich angeleitete Natursimulation im physikalischen Experiment

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schwerer ist als jeder der beiden einzelnen Steine, ergäbe sich die absurde Konsequenz, dass das Kompositum zugleich schneller und langsamer fallen müsste. Daher gibt es nur eine mögliche Antwort: Alle Dinge fallen gleich schnell. Aristoteles hätte dieses Gedankenexperiment nicht akzeptiert, da nach seiner Denkweise ein wesensmäßiger Unterschied zwischen den Naturdingen (den beiden Steinen) und dem Artefakt (dem Kompositum) besteht und daher über die Bewegung des Kompositums keine Aussage gemacht werden kann. Das radikal Neue an Galileis Gedankenexperiment ist nicht die – in Bezug auf die durch sie eröffneten Überprüfungsmöglichkeiten durchaus intrikate – Hypothese, dass alle Dinge gleich schnell fallen, sondern die Tatsache, dass sein Gedankenexperiment einen neuen Begriff konstituiert, nämlich den physikalischen Begriff des Körpers. Der Körperbegriff ist ein operationaler Begriff, ein Schlüsselbegriff der experimentellen Physik. Ein operationaler Begriff ist ein Begriff, mit Hilfe dessen ein Bereich der Natur für das Herstellungshandeln so funktionalisiert werden kann, dass zwischen den quantitativen Bedingungen des Herstellungshandelns und der Weise, wie sich der funktionalisierte Bereich der Natur auf dieses Herstellungshandeln hin melden kann, kein qualitativer Unterschied besteht. Dies entspricht einer zweckdeterminierten Aufhebung beziehungsweise Nivellierung der die Naturdinge betreffenden Wissensstrukturen. Die Leistung des Körperbegriffs besteht dementsprechend darin, dass er es erlaubt, etwas allein unter quantitativen Bedingungen Hergestelltes als Natur zu betrachten. Durch die Setzung des Körperbegriffs wird daher nicht nur der Anspruch erhoben, dass quantitativ hergestellte und kontrollierte Wirklichkeitsausschnitte für natürliche Abläufe repräsentativ sind, sondern auch eine Entscheidung darüber gefällt, als was Natur in das Wissen einzugehen hat: als ein System quantitativ fassbarer Abhängigkeiten. In diesem Zusammenhang ist es interessant festzuhalten, dass die neue Begriffe konstituierenden Wissensstrukturen keineswegs immer eine neue Bezeichnung erhalten: Während Galilei in seinem berühmten Gedankenexperiment den Körperbegriff der klassischen Physik entwickelt, behält er die scholastische Bezeichnung mobile bei. Die Bezeichnung corpus wurde erst von Descartes eingeführt.7 Der Körperbegriff als zentraler Begriff der experimentellen Physik, hat seinen Ursprung im menschlichen Handeln. Er ist Resultat einer Selektion der Wirklichkeit auf gesellschaftliche Zwecke – nämlich der Produktionsoptimierung – hin. Die komplexe Wissensstruktur des Körperbegriffs besteht einerseits in einer Festlegung dessen, als was Natur in das _____________ 7

Cf. Galilei, Two New Sciences [Anm. 5], S. XXXV.

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Winfried Thielmann

Wissen einzugehen hat, zum anderen ist der Körperbegriff die Grundlage für weiteres Handeln an der Natur. Die Fallrinnenexperimente, mit denen Galilei den Wert der Fallbeschleunigung ermittelte, sind nur auf seiner Basis durchzuführen: Da alle Körper gleich schnell fallen, kann für die Ermittlung der Fallbeschleunigung ein geeigneter Körper vorbereitet werden (z. B. eine Bronzekugel), der repräsentativ für alle Körper ‚fällt‘. Von hier führt ein gerader Weg zur Klassischen Mechanik Newtons. Wenn alle Körper gleich schnell fallen, lässt sich diejenige Körpereigenschaft systematisch ermitteln, die für die Größe der Gewichtskraft verantwortlich ist: die Masse. Nun kann beschleunigte Bewegung als durch Kräfte bewirkt aufgefasst werden. Mit dem Kraftbegriff als einem innerhalb einer bereits bestehenden Physik etablierten operationalen Begriff zweiter Stufe sind die Kategorien der Klassischen Mechanik etabliert. Der Erkenntnisgegenstand der experimentellen Physik, wie sie sich mit Galilei etabliert, ist, wie bereits dargetan, nicht Natur, sondern es sind die menschlichen Handlungsmöglichkeiten an ihr. Mithin fragt Galilei nicht, warum Dinge fallen, sondern wie, wozu er das ‚Fallen‘ handlungspraktisch herstellt. Natur wird im Experiment simuliert. Georg Henrik von Wright schreibt hierzu: „[...] one can make a strong case for the thesis that causation in the natural sciences (better: causation in nature) is primarily and on the whole of the manipulative type.“8 Raum und Zeit werden, wie Stillman Drake eindrucksvoll aus den Aufzeichnungen Galileis rekonstruiert hat, in diesem Zusammenhang zu eigens hergestellten Herstellungsbedingungen physikalischen Wissens: Bei der Fragestellung, welche Strecken ein Körper in gleichen Zeiten durchfällt, hat Galilei das Problem der Herstellung ‚gleicher Zeiten‘ wohl folgendermaßen gelöst: Galileo’s procedure, as I reconstruct it, was this. He tied gut frets around his grooved plane, as frets are tied on the neck of a lute, so that they are snug but can be moved as needed; to set their initial positions it sufficed to sing a march tune, release the ball on one beat, and mark its approximate positions at following beats. With the frets roughly in place, the ball made a sound on striking the plane after passing over each one; they were then adjusted until each of those sounds was judged to be exactly on a beat. It remained only to measure their distances from the point at which the resting ball touched the plane.9

Für die ‚Strecken‘ bot sich folgendes Verfahren an: Take a short ruler divided accurately into sixty equal parts as small as you can conveniently see; mark a long rod at intervals equal to the length of your ruler,

_____________ 8 9

Georg Henrik von Wright, On the Logic and Epistemology of the Causal Relation. In: Causation and Conditionals, hg. v. Ernest Sosa. Oxford 1975, S. 95–113, hier S. 110. Stillman Drake, Galileo at Work. His Scientific Biography. Chicago 1978, S. 88 ff.

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and you can quickly measure with great accuracy any distance not longer than the rod, to those units.10

Während Galileis Physik noch eine Ingenieursphysik ist, die handlungspraktisch hergestellte Zeit- und Ortsräume an die Wirklichkeit heranträgt, verliert die Physik bei Newton völlig ihre handlungspraktische Komponente. Denn die quantitativ hergestellten Bedingungen, unter denen ‚Körper‘ stellvertretend für Naturdinge manipuliert werden können, also ‚Raum‘ und ‚Zeit‘, werden von ihm als der Natur selbst zugehörig aufgefasst: Tempus absolutum, verum, & mathematicum, in se & natura sua sine relatione ad externum quodvis, æquabiliter fluit, alioque nomine dicitur duratio: [...] (Absolute, wahre und mathematische Zeit fließt – wobei sie in sich und aufgrund ihrer Natur ohne Beziehung zu einem Äußeren ist – gleichmäßig; sie wird auch als Dauer bezeichnet: [...]).11 Spatium absolutum, natura sua sine relatione ad externum quodvis, semper manet similare & immobile: [...] (Absoluter Raum, aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendeinem Äußeren, bleibt immer gleich und unbeweglich: [...]).12

Hiermit wird dasjenige, was der Mensch selbst handlungspraktisch an die Wirklichkeit heranträgt, zu einer der Natur inhärenten Struktur erklärt, die vom Menschen in der Wirklichkeit sozusagen ‚aufgefunden‘ wird. Von diesem Versuch einer Hermeneutisierung operationalen Vorgehens hat sich die Physik nie wieder erholt. Die durch Newton ins Leben gerufene Tradition der Hermeneutisierung operationalen Vorgehens ist für die begrifflichen Krisen und Probleme der Physik mitverantwortlich. So lässt sich zum Beispiel die Frage, ob Licht Wellen- oder Teilchencharakter habe, innerhalb der Physik weder sinnvoll stellen noch beantworten. ‚Welle‘ und ‚Teilchen‘ sind operationale Begriffe zweiter Stufe, die für das quantitativ angeleitete Herstellungshandeln je sinnvolle Bereiche erschließen: die Interferenz von Lichtstrahlen lässt sich mit dem Wellenbegriff operationalisieren, der photoelektrische Effekt mit dem Teilchenbegriff. Das Verdienst beider Begriffe erschöpft sich jedoch in der Sicherung der entsprechenden Handlungsbereiche; operationalen Begriffen kommt keine erklärende Qualität zu. Die Frage, was denn nun Licht sei, wäre zum Beispiel so zu stellen: Welche Struktur der Wirklichkeit erlaubt es, die operationalen Begriffe ‚Welle‘ und ‚Teilchen‘ bezüglich des Lichtphänomens zur Bewährung zu bringen? Hierbei handelt es sich aber um eine hermeneutische Fragestellung, die innerhalb der Physik keinen Platz hat. _____________ 10 11 12

Ebd., S. 86. Isaac Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica [31726], hg. v. Alexandre Koyré u. I. Bernhard Cohen. Cambridge, Mass. 1972, S. 46 [Übers. v. Verf.]. Ebd.

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Winfried Thielmann

Die newtonschen Fiktionen von absolutem Raum und absoluter Zeit werden erst durch die Relativitätstheorie überwunden, wofür allerdings ein hoher Preis bezahlt werden muss: Die spezielle Relativitätstheorie Einsteins13 führt mit dem Begriff des Inertialsystems einen Unterschiede zwischen physikalischen Systemen nivellierenden operationalen Begriff dritter Stufe ein, dessen handlungspraktische (experimentelle) Realisierbarkeit fragwürdig bleiben muss. Von Newton an hat die Physik ihren eigentlichen Erkenntnisgegenstand, nämlich die systematische Erfassung spezifischer menschlicher Handlungs- und damit Produktionsmöglichkeiten an der Natur, verloren. Die Regularitäten, denen das menschliche Herstellungshandeln an der Natur unterliegt, werden somit zu Naturgesetzen, zu ‚Bildern von den Dingen der sinnlichen Welt‘ (Hertz)14 verabsolutiert. Disziplingeschichtlich geht dies mit großen Abstraktionsschüben, wie z. B. der Analytischen Mechanik von Joseph Lagrange15 oder der Operationalisierung neuer Gegenstandsbereiche, einher: Was der Körperbegriff in der Klassischen Mechanik leistet, leisten der Gasbegriff in der Kinetischen Gastheorie und der Begriff des Wellenpakets in der Quantenmechanik. Erst bei der Aneignung des Mikrobereichs, also der Quantenmechanik, kommt es zu einer ernsthaften begrifflichen Krise, indem der Mensch, der nach wie vor Natur herzustellen meint, bei der Natursimulation seinen eigenen Anteil nicht mehr herausrechnen kann und die Beobachtung als Teil des Herstellungsprozesses systematisch miteinbeziehen muss. Es ist nur konsequent, dass der an der Wirklichkeit handelnde Mensch auch im Rahmen der Philosophie, also z. B. der erkenntnistheoretischen Fundierung der Newtonschen Physik in Kants Kritik der reinen Vernunft,16 nicht mehr erscheint, sondern Zeit und Raum als ‚Formen der Anschauung‘ und Kausalität als ‚reiner Verstandesbegriff‘ gefasst werden. Von hier führt eine gerade Linie zur der von Heinrich Rickert vertretenen Auffassung naturwissenschaftlicher Begriffsbildung als reiner Mannigfaltigkeitsreduktion.17 Auch das Verhältnis der empiristisch ausgerichteten Wissen_____________ 13 14 15 16 17

Albert Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper. In: Annalen der Physik 4. Folge, (1905) 17, S. 891–921. Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt. Einl. u. m. Anm. vers. v. Josef Kuczera (Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, 263) Leipzig 1984. Joseph Louis Lagrange, Mécanique Analytique [1788]. Œuvres de Lagrange, Bd. 11, hg. v. J.-A. Serret u. G. Darboux. Paris 41988. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der 1. und 2. Orig.-Ausg. hg. v. Raymund Schmidt. Hamburg 1990. Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einführung in die historischen Wissenschaften. Tübingen 51929.

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schaftstheorie (z. B. Carnap 1926, Popper 1935, Hempel 1952)18 zu den Naturwissenschaften ist in dem Sinne affirmativ, dass ihr Zweck im Auffinden von Naturgesetzen gesehen wird.19 Es dominieren daher in der Regel induktionslogische Fragestellungen. Während die Wissenschaftstheorie sich mit dem Problem befasst, dass physikalische Sätze Allaussagen darstellen, die nur durch endlich viele Experimente verifiziert sind, bleibt es ihr im Wesentlichen verborgen, dass die experimentalphysikalischen Handlungen des Planens, Apparatureinrichtens, Abwartens und Bewertens bereits eine Verlässlichkeit der Wirklichkeit voraussetzen, ohne die die Generierung dieses von der Wissenschaftstheorie dann induktionslogisch problematisierten Wissens nicht möglich wäre. Es ist daher nicht verwunderlich, dass innerhalb der Physik die Methodenreflexion schließlich auf den Punkt degeneriert, auf dem Eugene P. Wigner in seinem vielbeachteten Aufsatz über die Rolle der Mathematik in den Naturwissenschaften schreiben kann: „The miracle of the appropriateness of the language of mathematics for the formulation of the laws of physics is a wonderful gift which we neither understand nor deserve.“20 Auch die Renaissance dieses Aufsatzes zu Beginn der neunziger Jahre21 ereignet sich völlig ohne jedes Bewusstsein, dass das ‚miracle‘ wohl eher darin bestehen könnte, dass die Ignoranz gegenüber den eigenen methodischen Voraussetzungen zu einem solchen erhoben wird, ohne dass diese Bankrotterklärung eine wissenschaftliche Krise auslöst.

_____________ 18 19 20 21

Rudolf Carnap, Physikalische Begriffsbildung [1926]. Nachdr. Karlsruhe 1966; Karl Raimund Popper, The Logic of Scientific Discovery [1935]. London 91977; Carl Gustav Hempel, Fundamentals of Concept Formation in Empirical Science. Chicago 1952. Vgl. Peter Janich, Wissenschaftstheorie zur Bestätigung der Naturwissenschaften? In: Vernünftiges Denken. Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. Jürgen Mittelstraß u. Manfred Riedel. Berlin 1978. Eugene P. Wigner, The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences [1960]. Repr. in: Mathematics and Science, hg. v. Ronald E. Mickens. Singapore 1990, S. 91–306, hier S. 306. Siehe Ronald E. Mickens (Hg.), Mathematics and Science. Singapore 1990.

Andreas Bartels

Die Konstruktion semantischer Kontinuität in der wissenschaftlichen Begriffsbildung 1. Das Ende der konstanten Begriffe Der Begriff des ‚Begriffs‘ ist in der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie seit der Abkehr von den ‚Dogmen des Empirismus‘1 mit großer Skepsis betrachtet worden. So unverfänglich die Annahme der Existenz von Begriffen in unserem alltäglichen Sprachgebrauch auch sein mag, so offenbart sie doch aus philosophischer Perspektive eine ganze Reihe von schwerwiegenden Problemen. Ein erstes Problem betrifft die Annahme einer objektiven Aufteilung menschlichen Wissens in analytische und synthetische Anteile. Analytisches Wissen über die Welt beruht nach herkömmlichem Verständnis unabhängig von der Beschaffenheit der Welt allein auf dem korrekten Verständnis von Begriffen. Es ist in den jeweiligen Begriffen selbst enthalten und kann durch Begriffsanalyse aus ihnen entnommen werden. Der Begriff ‚Hund‘ impliziert nun einmal den Begriff ‚Lebewesen‘, daher drückt der Satz ‚Hunde sind Lebewesen‘ eine analytische Wahrheit aus. Nach Willard van Orman Quine können wir nun aber grundsätzlich für alle Wahrheiten den Status der ‚analytischen‘ Wahrheit reklamieren. Wenn wir ‚Begriffsinhalte‘ abstecken, so Quine, entscheiden wir uns dafür, bestimmte Sätze als ‚begriffsdefinierend‘ und damit analytisch anzusehen und andere nicht. ‚Hunde sind Lebewesen‘ betrachten wir in der Regel als begriffsdefinierend für den Begriff ‚Hund‘ und damit als analytisch, während dies für den Satz ‚Der Besitz von Hunden ist steuerpflichtig‘ nicht gilt. Entscheidend ist aber, dass es sich dabei lediglich um eine Entscheidung darüber handelt, wie wir den Ausdruck ‚Hund‘ zweckmäßiger Weise verwenden sollten, nicht um die Anerkennung einer objektiven Tatsache. Der Aufteilung des Wissens in analytische und synthetische Anteile entspricht eben, so Quine, keiner Tatsache in der Welt. Daraus folgt, dass Begriffe bei einschneidenden Änderungen in unserem Wissen über die Welt nicht unverändert bleiben können. In Fällen, in denen wir zur Einsicht kommen, dass vormalige Wahrheiten, die wir als begriffsdefinierend betrachtet haben, in Wirklichkeit kontingent (oder _____________ 1

Willard van Orman Quine, Two Dogmas of Empiricism. In: The Philosophical Review 60 (1951), S. 20–43 u. ders., Word and Object. Cambridge, Mass. 1960.

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Andreas Bartels

möglicherweise gar keine Wahrheiten) sind, werden sich auch die Begriffe ändern, die wir auf solche Wahrheiten gestützt haben. Quines Auffassung des pragmatischen Status der Analytizität hat also zur Folge, dass der Wandel des Wissens unmittelbar auch mit einem Wandel der Begriffe verbunden ist. Quine war der Auffassung, dass sich aus der Aufgabe des herkömmlichen Analytizitäts-Begriffs noch schwerwiegendere Konsequenzen ergeben. Da mit dem Begriff der Analytizität auch der Begriff der Bedeutungsgleichheit sich verflüchtigt, kann auch nicht mehr an der Idee eines Bedeutungskerns festgehalten werden, der bei Übersetzungen eines Ausdrucks unverändert bestehen bleibt.2 Ein solcher übersetzungsinvarianter Bedeutungskern aber macht nach herkömmlicher Auffassung die Identität des mit sprachlichen Ausdrücken verknüpften Begriffes aus. Damit steht nicht mehr nur die Konstanz der Begriffe im Wandel unseres Wissens in Frage, sondern ganz grundsätzlich ihre Existenz als (abstrakte) Gegenstände. Aus der Lage, in die uns Quines Kritik des Bedeutungsbegriffs geführt hat, können verschiedene Wege herausführen. Ein erster Weg ist es ‚Begriffe‘ als nicht-explizierbar aus der philosophischen Diskussion zu verbannen. In diese Richtung gehen eine Reihe von wissenschaftstheoretischen Stellungnahmen, z. B. Ian Hacking,3 die ‚Begriff‘ und ‚Bedeutung‘ eine psychologische Relevanz zubilligen, jedem Versuch der philosophischen Theoriebildung zu (wissenschaftlichen) Begriffen aber ablehnend gegenüberstehen. Eine entgegengesetzte Richtung versucht, Quines Befund der Nicht-Existenz von ‚Bedeutungen‘ zu revidieren, sei es dass Bedeutungen mit neuronalen Strukturen der Sprecher oder mit objektiven Strukturen der Natur (natürliche Arten), an die sprachliche Ausdrücke ‚ankoppeln‘, identifiziert werden (letzteres z. B. bei Hilary Putnam4 1979). Ich möchte für einen dritten Weg plädieren, der mir insofern als ‚natürlich‘ erscheint, als er durch Quines Pragmatisierung der Analytizität bereits vorgezeichnet ist. Begriffsinhalte werden danach durch ‚quasianalytische‘ Festlegungen begriffsdefinierender Merkmale abgesteckt. Diese Auffassung findet sich in Putnams Konstrukt des ‚Stereotyps‘ wieder: Stereotype sind Ersatz-Bedeutungen – sie sind weder unrevidierbar (wie dies für analytische Begriffsmerkmale im eigentlichen Sinn galt), noch legen sie die _____________ 2 3 4

Quine, Word and Object [Anm. 1]. Ian Hacking, Representing and Intervening. Introduction Topics in the Philosophy of Natural Science. Cambridge u.a. 1983; dt.: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. Stuttgart 1983, Kap. 6. Hilary Putnam, Die Bedeutung von ‚Bedeutung‘, hg. u. übers. v. Wolfgang Spohn. Frankfurt a.M. 1979.

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Extension eines sprachlichen Ausdrucks fest (wie es für Rudolf Carnaps ‚Intensionen‘ kennzeichnend war).5

2. Begriffswandel und Inkommensurabilität Jede Darstellung des Wandels von Begriffen hängt wesentlich davon ab, welchen Begriff der Identität von Begriffen man besitzt. Zweifellos kann man nicht beschreiben, wie Begriffe sich verändern bzw. durch neue Begriffe ersetzt werden, wenn man nicht weiß, wodurch ein Begriff konstituiert wird. Wenn wir also davon ausgehen, dass, wie in Abschnitt 1 erläutert, Begriffsinhalte durch quasianalytische Festlegungen begriffsdefinierender Merkmale abgesteckt werden, so sollte sich diese Konzeption der Identität von Begriffen auch in Theorien des Begriffswandels niederschlagen. Nun kann man in der neueren analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie kaum von ausgearbeiteten Theorien des Begriffswandels sprechen. Aber es gibt doch einige grundsätzliche Überlegungen zum Begriffswandel, die sämtlich als Reaktionen auf die von Thomas S. Kuhn und Paul K. Feyerabend vertretene Inkommensurabilitätsthese zu verstehen sind.6 Was also behauptet diese These? Sie behauptet zunächst, dass es für gewisse Ausdrücke, die in einer wissenschaftlichen Theorie vorkommen, keine ‚echten‘ bedeutungserhaltenden Übersetzungen in eine andere Theorie geben kann. Was ‚nominell‘ wie derselbe Begriff aussieht, so etwa der Begriff der ‚Masse‘, stellt sich als grundverschieden heraus, wenn er als Begriff der Newtonschen Mechanik bzw. als Begriff der speziellrelativistischen Mechanik auftritt. Auf den ersten Blick scheint die These damit keine besonders beunruhigende Aussage zu treffen, vor allem, wenn man sich bereits mit dem Ende der konstanten Begriffe abgefunden hat. Verschiedene Theorien enthalten eben verschiedene Begriffe, und man kann nicht erwarten, dass eine historisch spätere und systematisch überlegene Theorie sich ein und derselben Begriffe bedient. Nach den Überlegungen in Abschnitt 1 gehen wir davon aus, dass sich die Identität von Begriffen nicht auf echte analytische Beziehungen stützen kann, sondern auf empirische Tatsachen, die als so zentral und grundlegend gelten können, dass sie eine begriffsdefinierende Funktion erhalten. Gerade dann, wenn eine neue Theorie auftritt, die vermeintliche Erkenntnisse früherer Theorien durch neue ersetzt, _____________ 5 6

Vgl. ebd. Vgl. z. B. Thomas Samuel Kuhn, Commensurability, Comparability, Communicability. In: PSA 1982. Proceedings of the 1982 Biennial Meeting of the Philosophy of Science Association, hg. v. Peter D. Asquith u. Thomas Nickles. East Lansing 1982, Bd. 2, S. 669–688.

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müssen damit zwangsläufig auch Begriffe mit neuen definierenden Merkmalen erzeugt werden. Die Inkommensurabilitätsthese scheint so gesehen nur zu unterstreichen, dass wissenschaftliche Begriffe an der Dynamik von Theorien teilhaben. Aber die Inkommensurabilitätsthese enthält eine zweite Aussage, die wesentlich problematischer erscheint, und die, träfe sie zu, wissenschaftlichen Fortschritt zur Chimäre machte. Kuhn hatte explizit gerade für die besonders interessanten Fälle der zentralen Begriffe einander ablösender Theorien ausgeschlossen, dass es zwischen ihnen eine graduelle Ähnlichkeit der Bedeutung geben könne. So könnte man sich vorstellen, dass ein Begriff einer neuen Theorie lediglich den Anwendungsbereich eines Vorgängerbegriffes einer älteren Theorie erweitert, indem auf ein relativ peripheres einschränkendes Begriffsmerkmal verzichtet wird. Kuhns These bezieht sich aber gerade auf solche Fälle, in denen in gar keiner Weise von Bedeutungsvergleichen gesprochen werden könne; wären Bedeutungsvergleiche möglich, könnte der Begriff der neuen Theorie jedenfalls im Vokabular der älteren Theorie ausgedrückt werden (und deshalb könnte der Anhänger der älteren Theorie über diesen Begriff verfügen, ohne das neue Vokabular zwangsläufig adoptieren zu müssen). Genau dies ist aber in den einschlägigen Beispielen wie dem Begriffspaar ‚relativistische Masse/Newtonsche Masse‘ laut Kuhn unmöglich. Es herrscht in solchen Fällen im Wortsinn radikale Bedeutungsverschiedenheit, weil die jeweiligen Begriffe in grundsätzlich verschiedenen Theoriestrukturen verwurzelt und eben nicht im Rahmen der jeweils anderen Theorie ausgedrückt werden können. Mit dieser radikalen Bedeutungsverschiedenheit entfällt auch jede Grundlage für die Annahme gemeinsamer Bezugsgegenstände der Begriffe. Die Überzeugung, nach der z. B. die speziellrelativistische Mechanik unser Wissen über Bewegungsvorgänge physikalischer Körper verbessere, wäre damit ebenso unbegründet wie die Annahme, die Theorie des Zellstoffwechsels habe unser Wissen über das Planetensystem verbessert. Die im Laufe der Zeit entwickelten wissenschaftstheoretischen Antworten auf die Inkommensurabilitätsthese haben in der Regel versucht, diesen zweiten problematischen Teil der These zu entkräften. Sie versuchen, Kriterien semantischer Kontinuität zu etablieren, denen zufolge sich bedeutungsverschiedene Begriffe als soweit bedeutungsähnlich erweisen können, dass darauf die Annahme identischer oder ähnlicher (z. B. sich in relevanter Weise schneidender) Referenzklassen gestützt werden kann. Schon an dieser Stelle sei angemerkt, dass Bedeutungsähnlichkeit sich als stumpfe Waffe gegen die Inkommensurabilitätsthese erweisen wird – schließlich hatte Kuhn immer wieder darauf hingewiesen, dass inkommensurable Begriffe radikal bedeutungsverschieden sind und daher Bedeutungsvergleiche ausschließen.

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Aber lässt sich Kuhns These der radikalen Bedeutungsverschiedenheit überhaupt über ihren intuitiven Gehalt hinaus präzisieren, und wenn ja, trifft sie zu? Eine verblüffend einfache, aber präzise Version der Inkommensurabilitätsthese hat bereits Philipp Frank in seinen Foundations of Physics von 1938 formuliert. Der Übergang von der Newtonschen Mechanik zur relativistischen Mechanik führt, so Frank, zu Bedeutungsverschiebungen für solche Begriffe wie ‚Masse‘, ‚Zeitabstand‘ oder ‚Länge‘. Diese Bedeutungsverschiebungen seien von einer Art, die eine mögliche Übersetzung zwischen den entsprechenden Begriffen in der jeweils anderen Theorie ausschließe. Angenommen, man definiere etwa den Zeitabstand von einer Stunde in der klassischen Mechanik als ‚die Zeit, während derer der große Zeiger meiner Taschenuhr einen Winkelabstand von 360 Grad durchlaufen hat‘. Es gibt eine unendliche Zahl äquivalenter Definitionen, die man aufgrund gewisser Gesetze der Newtonschen Mechanik für ebenso adäquat betrachten würde; dies sind Gesetze, die z. B. das Verhalten von Federn oder Pendeln regieren. Eine Uhr, die mit der Geschwindigkeit v gegen eine Standarduhr bewegt ist, würde aufgrund der Newtonschen Mechanik denselben Zweck erfüllen, nicht aber so aus Sicht der Speziellen Relativitätstheorie: The operations by which the time distance between two events was defined did not mention the speed of the clock relative to any system of reference. For according to Newton’s physics, this speed is without influence upon the march of the clock. If Einstein’s principles are true, this operational definition of the time distance between two events becomes ambiguous.7

Franks Gedankengang ist in Kürze folgender: Die spezielle Relativitätstheorie ist logisch unvereinbar mit der Newtonschen Mechanik, d. h. sie enthält Aussagen, die den ihnen korrespondierenden Aussagen der Newtonschen Mechanik widersprechen. Da solche Aussagen, wie jene über die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Uhrengangs vom Bewegungszustand der Uhr, begriffsdefinierende Funktion für den Begriff des ‚Zeitabstands‘ besitzen, liegen dem speziellrelativistischen und dem Newtonschen Begriff des Zeitabstands einander widersprechende begriffsdefinierende Aussagen zugrunde, d. h. Bedingungen, unter denen der eine Begriff anwendbar ist, sind gerade solche, unter denen die Anwendung des anderen Begriffs ausgeschlossen ist. So sind die physikalischen Gesetze, die die Rolle empirischer Anwendungsbedingungen des Newtonschen Begriffs des Zeitabstandes spielen, vom Standpunkt der speziellen Relativitätstheorie ungültig. Hier macht sich die in Abschnitt 1 erläuterte Abhängigkeit der Bedeutung eines wissenschaftlichen Begriffs von den durch eine The_____________ 7

Philipp Frank, Foundations of Physics. (International encyclopedia of unified science, 1,7) Chicago 1938, S. 456.

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orie implizierten empirischen Hypothesen in besonders drastischer Weise bemerkbar. Diese Überlegung ist zwingend, unabhängig davon, ob man Franks operationalistische Bedeutungstheorie akzeptiert oder nicht. Gleichgültig ob der Satz über die Unabhängigkeit vom Bewegungszustand streng als Teil einer operationalen Definition des Newtonschen Begriffs ‚Zeitabstand‘ verstanden wird, er stellt jedenfalls eine notwendig zu erfüllende Anwendungsbedingung für den Begriff dar – ist sie nicht erfüllt, wird der Begriff unanwendbar. Man kann natürlich die Definition von ‚Zeitabstand‘ an die durch die spezielle Relativitätstheorie vorausgesetzten Bedingungen anpassen. Dies führt dann aber unvermeidlich zu einer Verschiebung der Referenzklasse des Begriffs: Objekte, die den Begriff des Newtonschen Zeitabstands erfüllen, können ja nicht zugleich den Begriff des relativistischen Zeitabstands erfüllen. Dass die Verschiebung der Referenzklasse eine unvermeidliche Konsequenz begrifflicher Inkommensurabilität ist, kann allgemeiner wie folgt ausgedrückt werden: Wenn eine Theorie T1 einer Theorie T2 widerspricht (dies ist in allen interessanten Fällen der Theorieablösung der Fall), und diese relative Inkonsistenz der Theorien sich in den Anwendungsbedingungen für ein Paar korrespondierender Begriffe t1 und t2 in T1 und T2 ausdrückt (ein solches Begriffspaar bilden in Franks Beispiel der Newtonsche und der relativistische ‚Zeitabstand‘), dann müssen die Referenzklassen von t1 und t2 disjunkt sein. Anderenfalls würden die Wahrheitsbedingungen der Sätze von T2, die t2 enthalten, die Erfüllbarkeit der Wahrheitsbedingungen einiger Sätze von T1 ausschließen, die t1 enthalten. Allein aus der Bedeutung von t2 in T2 würde sich ergeben, dass einige Sätze von T1, die t1 enthalten, notwendig falsch sind, wenn man von der Wahrheit von T2 ausgeht. Als Ergebnis unserer Überlegungen ergibt sich also, dass in typischen Fällen von Inkommensurabilität (zueinander inkonsistente Theorien, deren Inkonsistenz relevant für die Anwendungsbedingungen zweier korrespondierender Begriffe ist) radikale Bedeutungsverschiedenheit auftritt, die sich in der Disjunktheit der Referenzklassen der Begriffe manifestiert. Kuhns Inkommensurabilitätsthese ist also präzisierbar und sie trifft, wenigstens im Sinne der Existenz von Paaren radikal bedeutungsverschiedener Begriffe in zueinander inkonsistenten Theorien zu.

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3. Kann Inkommensurabilität vermieden werden? Aufgrund der Argumentation in Abschnitt 2 können wir nicht erwarten, dass sich die radikale Bedeutungsverschiedenheit als Konsequenz des Auftretens inkommensurabler Begriffe irgendwie vermeiden lässt. Dennoch wird es aufschlussreich sein, eine der praktizierten Strategien, die genau dieses Ziel verfolgen, näher zu untersuchen. Der semantic-invariants approach von Peter Achinstein8 steht hier stellvertretend für verwandte Versuche, die unerwünschte Konsequenz des Inkommensurabilitäts-Phänomens abzuwenden; an diesem Ansatz lässt sich demonstrieren, wie ‚konventionelle Behandlungsmethoden‘ für die ‚Krankheit‘ der Inkommensurabilität zwangsläufig versagen müssen. Nach Achinstein ist die Bedeutung eines wissenschaftlichen Begriffs durch ein Bündel von semantischen Merkmalen gegeben – dies können explizite Definitionen sein, bestimmte Eigenschaften, die für Exemplare des Begriffs gefordert werden, bloße Begleiterscheinungen des Auftretens solcher Exemplare oder auch die Rolle, die der entsprechende Begriff in Gesetzen der ihn enthaltenden Theorie spielt. Achinstein unterscheidet nun spezifische und nicht-spezifische semantische Merkmale. So ist z. B. ‚(Bahn-)Drehimplus‘ ein nicht-spezifisches semantisches Merkmal des Begriffs ‚Elektron‘ in der Elektronentheorie von Niels Bohr, weil dieses Merkmal nicht theorieabhängig ist; von Drehimpuls ist in demselben Sinn auch in anderen physikalischen Theorien, z. B. in der klassischen Mechanik die Rede, und wir verstehen daher, was es heißen soll, dass Elektronen über einen Drehimpuls verfügen, ohne die besondere Struktur der Elektronentheorie von Bohr dabei berücksichtigen zu müssen. Aus diesem Grund sind es die nicht-spezifischen semantischen Merkmale, auf die in Fällen des Wechsels von einer Theorie zu einer anderen für Zwecke des Bedeutungsvergleichs zurückgegriffen werden kann. Wenn zwei Begriffe, von denen der eine der älteren, der andere der neuen Theorie zugehört, ein gemeinsames nicht-spezifisches Merkmal besitzen, so sind sie in Hinsicht auf dieses Merkmal bedeutungsähnlich. Sofern Begriffe gemeinsame nicht-spezifische semantische Merkmale (‚semantische Invarianten‘) besitzen, entgehen sie also, so könnte man mit Achinstein schließen, der radikalen Bedeutungsverschiedenheit. Sehen wir uns aber Kandidaten für Inkommensurabilität näher an, so wird schnell klar, dass man semantische Invarianten zwar durchaus finden kann, allerdings nur solche von sehr allgemeiner Art. So trifft es für die Newtonsche wie _____________ 8

Peter Achinstein, On the Meaning of Scientific Terms. In: The Journal of Philosophy 61 (1964), S. 497–509 sowie ders., Concepts of Science. A Philosophical Analysis. Baltimore, Md. 1968.

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für die speziellrelativistische ‚Masse‘ zu, dass sie ein monadisches Prädikat verkörpern. Aber dieser Umstand ist überhaupt nicht geeignet, die in Abschnitt 2 am Beispiel des Begriffs ‚Zeitabstand‘ durchgespielten Überlegungen an irgendeiner Stelle aufzuhalten. Die relative Inkonsistenz der Theorien, denen inkommensurable Begriffe angehören, macht sich eben gerade an den spezifischen, theorieabhängigen Merkmalen der Begriffe bemerkbar und löst die referentielle Disjunktheit der Begriffe aus. Beim Begriff der ‚Masse‘ ist ein solches spezifisches semantisches Merkmal, das nicht invariant ist, die Geschwindigkeitsabhängigkeit bzw. –unabhängigkeit. Dass Masse auch in der Relativitätstheorie ein monadisches Prädikat bleibt, ist dagegen ein relativ peripherer Sachverhalt. Semantische Invarianten, die sich auf die Rolle eines Begriffs in Gesetzen beziehen, in unserem Beispiel etwa ‚Impuls = Masse mal Geschwindigkeit‘, sind zwar nicht peripher, aber sie erweisen sich bei näherem Hinsehen als bloße Oberflächenphänomene. Die formale Invarianz der Gleichung täuscht darüber hinweg, dass die in der Gleichung auftretenden Größen selbst in den beiden Theorien sehr unterschiedliche Bedeutung annehmen; der Ausdruck ‚Geschwindigkeit‘ etwa ist auf räumliche und zeitliche Abstände zurückführbar, und wir haben schon gesehen, dass diese Begriffe geradezu paradigmatische Beispiele für Inkommensurabilität sind. Zusammengefasst sind semantische Invarianten entweder peripher und daher kein wirksames Mittel gegen Inkommensurabilität, oder aber sie erweisen sich als nur scheinbar invariant. Ganz anders, nämlich mithilfe eines Modells der historischen Entwicklung von Begriffen, versucht Nancy Nersessians meaning-by-analogy approach9 semantische Kontinuität auch für die durch Inkommensurabilität bedrohten Fälle von Theorieablösung zu demonstrieren. Mit dem in diesem Aufsatz vertretenen chains-of-meaning-Ansatz teilt Nersessians Modell die Auffassung, dass wissenschaftliche Begriffsbildung als ein konstruktiver Prozess zu betrachten ist, der durch die besonderen Problemsituationen geprägt ist, vor denen der Wissenschaftler steht. Selbst wenn der neue Begriff nicht explizit konstruktiv gewonnen wurde, so wird doch in der Regel seine genaue Bedeutung retrospektiv durch Rekonstruktion und Reidentifikation einschlägiger Vorgängerbegriffe innerhalb des neuen theoretischen Rahmens geklärt. Ein Paradebeispiel findet Nersessian in der Entwicklung der klassischen Elektrodynamik bis hin zu Einsteins _____________ 9

Nancy J. Nersessian, Faraday to Einstein. Constructing Meaning in Scientific Theories. Dordrecht u. a. 1984; Ders., Reasoning from Imagery and Analogy in Scientific Concept Formation. In: PSA 1988. Proceedings of the 1988 Biennial Meeting of the Philosophy of Science Association, hg. v. Arthur Fine u. Jarrett Leplin. East Lansing 1988, Bd. 1, S. 41–47.

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spezieller Relativitätstheorie. Die begrifflichen Übergänge sind hier, so Nersessian, durch sukzessive Abstraktion auf Basis eines schon vorliegenden theoretischen Rahmens gekennzeichnet. Maxwell ging bei der Konstruktion elektrodynamischer Begriffe vom Modell einer mit den Mitteln der klassischen Kontinuumsmechanik beschriebenen Materie aus. Die begrifflichen Mittel zur Beschreibung des elektromagnetischen Feldes werden dann mittels einer strukturalen Analogie zu kontinuumsmechanischen Begriffen (z. B. Druck) gebildet, d. h. der elektromagnetische Repräsentant von ‚Druck‘ wird dadurch charakterisiert, dass er hinsichtlich des elektromagnetischen Fluidums eine analoge mathematische Rolle spielt wie der kontinuumsmechanische Vorgängerbegriff in Bezug auf das kontinuumsmechanische Fluidum. Maxwell hat diesen Abstraktionsprozess, bei dem der neue Begriff durch Abstraktion von der konkreten physischen Instantiirung des Vorgängerbegriffs entsteht, method of physical analogy genannt. Diese Abstraktionsmethode, die darauf hinausläuft, die Menge der spezifischen semantischen Merkmale eines Begriffs auf eine Untermenge zu reduzieren, ist jedoch ganz ungeeignet, als Basis eines Bedeutungsvergleichs zwischen Begriffen zu dienen, die radikal verschiedenen theoretischen Strukturen entstammen. In diesen Fällen – die exemplarisch in Abschnitt 4 vorgeführt werden – wird beim Übergang zu einem neuen Begriff keines der spezifischen semantischen Merkmale des älteren Begriffs erhalten; es bleibt einfach kein Merkmal erhalten, das die Last eines Bedeutungsvergleichs tragen könnte. Nersessians Ansatz passt daher ausschließlich zu Fällen, in denen Begriffe auf neue Anwendungsfälle mittels strukturaler Analogien ausgedehnt werden. Hier konserviert die Theorieentwicklung wesentliche Teile der mathematischen Struktur einer Theorie – und daher existieren in den jeweiligen Theorien struktural analoge Begriffe, die sich lediglich darin unterscheiden, dass einige der für den älteren Begriff spezifischen Merkmale zu kontingenten, unspezifischen Merkmalen des neuen Begriffs werden. Maxwells Abstraktion von kontinuumsmechanischen Begriffen fällt in diese Kategorie, nicht aber z. B. der wichtige Übergang von der Newtonschen zur speziellrelativistischen Mechanik oder von der klassischen phänomenologischen Thermodynamik zur relativistischen Thermodynamik. Bei solchen Übergängen findet eine radikale Reorganisation des gesamten Systems der spezifischen semantischen Merkmale statt, die ‚keinen Stein auf dem anderen lässt‘ und sicher nicht als ‚Abstraktion‘ im Sinne von Nersessian zu verstehen ist.

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4. Chains of Meaning: Bedeutungsvergleich trotz Inkommensurabilität10 Im Folgenden werde ich für ein Konzept des Bedeutungsvergleichs plädieren, das anders als Achinsteins und Nersessians Ansätze ganz auf die Annahme gemeinsamer spezifischer semantischer Merkmale verzichtet. Wie schon gesehen, besitzen inkommensurable Begriffe ja in der Regel keine gemeinsamen spezifischen semantischen Merkmale. Worauf kann sich aber unter diesen Umständen ein Bedeutungsvergleich stützen? Die Grundidee ist, dass es trotz der radikalen Bedeutungsfremdheit zweier Begriffe möglich ist, zwischen ihren Bedeutungen Grenzbeziehungen zu definieren. Die Newtonsche ‚Masse‘ besitzt keines der spezifischen semantischen Merkmale der relativistischen ‚Masse‘, aber dennoch kann sie – unter besonderen Bedingungen – in guter Näherung die Rolle der relativistischen Masse spielen; der Grund dafür ist, dass sich Körper, denen man eine relativistische Masse zuschreibt, näherungsweise so verhalten, wie es zu erwarten wäre, wenn man sie als Instanzen des Newtonschen Massebegriffs behandeln würde. Grenzbeziehungen zwischen Bedeutungen sind es also, die Bedeutungsvergleiche zwischen inkommensurablen Begriffen ermöglichen. Dies wirft seinerseits die Frage auf, wie denn die ‚Bedeutung‘ von Begriffen so beschrieben werden kann, dass empirische Grenzbeziehungen für die Bezugsgegenstände der Begriffe ihren Ausdruck in Grenzbeziehungen zwischen den Bedeutungen der Begriffe selbst finden können. Eine sehr allgemeine formale Kennzeichnung von ‚Bedeutungen‘ kann im Rahmen einer modelltheoretischen Darstellung von Theorien erreicht werden. Danach ist die Bedeutung eines Begriffswortes, wie z. B. ‚Masse‘, durch eine Interpretationsfunktion gegeben, die auf der Menge der Modelle der Theorie, der das Begriffswort entstammt (z. B. der Newtonschen Gravitationstheorie), operiert und die jedem Modell eine reellwertige mathematische Funktion zuordnet. Diese Darstellung ist insofern adäquat, als wenigstens in der klassischen Physik Begriffe durch reellwertige Funktionen ausgedrückt werden, die den Bezugsgegenständen eines Begriffs, in unserem Fall ‚Masse‘, eine bestimmte reelle Zahl (ihre Masse) relativ zu einer gewählten Einheit zuordnen. Bei den Bezugsgegenständen des Begriffs ‚Masse‘ kann es sich dabei z. B. um die Planeten unseres Sonnensystems handeln, wobei das Sonnensystem ein Modell der klassischen Newtonschen Mechanik bildet. _____________ 10

Vgl. Andreas Bartels, Bedeutung und Begriffsgeschichte. Die Erzeugung wissenschaftlichen Verstehens. Paderborn u. a. 1994; ders., Chains of Meaning. A Model for Concept Formation in Contemporary Physics Theories. In: Synthese 105 (1996), S. 347–379.

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Empirische Grenzbeziehungen für die Bezugsgegenstände zweier Begriffe P1 und P2 können sich nun in den entsprechenden Bedeutungen niederschlagen, indem Grenzbeziehungen zwischen den Funktionen P1 und P2 auftreten, die diese Begriffe in bestimmten Modellen ihrer Ursprungstheorien T1 und T2 vertreten. Dies setzt voraus, dass es für jedes Modell M1 von T1 ein entsprechendes Modell M2 von T2 gibt, so, dass jedenfalls auf einer Unterstruktur M2* von M2 der Begriff P2 in Gestalt der ihn repräsentierenden Funktion P2 numerisch in ähnlicher Weise operiert wie der Begriff P1 mittels der Funktion P1 auf M1 (die Unterstruktur ist die Einschränkung der Struktur von M2 auf eine Teilmenge seiner Grundmenge). Die Bezugsgegenstände von P1, die den Grundbereich von M1 bilden, finden sich dabei (gegebenenfalls ‚neubeschrieben‘ mit den Mitteln von T2) im Grundbereich der Unterstruktur M2* wieder. Wenn eine solche Grenzbeziehung zwischen den Bedeutungen zweier Begriffe P1 und P2 vorliegt, so möchte ich von einer semantischen Einbettung des Begriffs P1 in den Begriff P2 sprechen. Handelt es sich dabei um zueinander inkommensurable Begriffe, ist aufgrund der Relation der semantischen Einbettung ungeachtet des Fehlens gemeinsamer spezifischer semantischer Merkmale ein Bedeutungsvergleich zwischen den Begriffen möglich. Mit dem Konzept der semantischen Einbettung soll die folgende Intuition expliziert werden: Ein neuerer Begriff reproduziert eine bestimmte Menge von Anwendungsfällen eines älteren Begriffs (wobei diese Anwendungsfälle neu beschrieben werden), ermöglicht aber darüber hinaus auch die korrekte Beschreibung neuer Anwendungsfälle, über die der ältere Begriff keine zutreffenden Aussagen ermöglicht hat. Obgleich die Begriffe auf unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen aufbauen (‚inkommensurabel‘ sind), können sie aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Relation der semantischen Einbettung als ko-referentiell betrachtet werden; dem eingebetteten Begriff entspricht eine eingeschränkte Perspektive auf die Bezugsobjekte (wobei diese Einschränkung gerade den älteren Anwendungsfällen entspricht), dem einbettenden Begriff entspricht eine vollständigere Perspektive, die sich durch Beseitigung der Einschränkung ergibt.

5. Ein Beispiel für inkommensurable, aber ko-referentielle Begriffe: Schwarzschild-Masse und Newtons Gravitationsmasse Karl Schwarzschild hatte 1916, nur wenige Monate nach Einsteins endgültiger Formulierung seiner Feldgleichungen der Gravitation, eine erste Lösung der Feldgleichungen gefunden, die das äußere Gravitationsfeld einer kugelförmigen Materie-Verteilung, also z. B. das Gravitationsfeld der

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Sonne beschreibt.11 Die raumzeitliche Metrik dieser Lösung, aus der errechnet werden kann, welche raumzeitlichen Wege Körper beschreiben, die nur der Gravitationskraft unterworfen sind (also z. B. die Planeten im Schwerefeld der Sonne), nimmt folgende mathematische Form an: ds2 = (1-C/r) dt2 – (1-C/r)-1 dr2 – r2 dƨ2 – r2 sin2ƨ dƖ2 Der Ausdruck ‚C‘ stellt dabei zunächst eine uninterpretierte Integrationskonstante dieser Lösung dar.12 Wenn man nun versucht, die Bedeutung von ‚C‘ zu bestimmen, so stößt man auf folgende Tatsachen, die auf den ersten Blick kaum miteinander vereinbar scheinen: 1. Der Ausdruck ‚C‘ stellt nach Lehrbuch-Auffassung ein Maß für die Masse des Zentralkörpers (der ‚Quelle‘) des beschriebenen Gravitationsfeldes dar. 2. Die Lösung beschreibt auch den Außenraum von schwarzen Löchern, bei denen sich keine Materie im Zentrum befindet. Von einem ‚Zentralkörper‘ kann hier nicht die Rede sein. 3. Einsteins Gravitationstheorie verwendet Begriffe aus der Geometrie (wie ‚Krümmung‘ oder ‚Metrik‘). Der Ausdruck ‚Masse‘, der Newtons Mechanik und Gravitationstheorie entstammt, wirkt demgegenüber wie ein Fremdkörper. Tatsache (1) scheint schwer verständlich zu sein, wenn, wie (3) nahe legt, ‚C‘ und ‚Masse‘ (als Terminus von Newtons Gravitationstheorie) ganz verschiedenen begrifflichen Sphären angehören. Zudem stehen Einsteins und Newtons Theorien der Gravitation im Widerspruch zueinander. Ein Bedeutungsvergleich der Ausdrücke sollte ausgeschlossen sein, entweder weil sie von vornherein zur Bezeichnung ganz verschiedener Gegenstände verwendet werden, oder weil sie inkommensurabel sind (also aufgrund der relativen Inkonsistenz der Theorien nicht zugleich korrekterweise auf dieselben Gegenstände anwendbar sind). Auch mit (2) steht (1) offenbar nicht im Einklang, denn wie kann es sein, dass ‚C‘ die Masse des Zentralkörpers bezeichnet, gleichwohl aber auch in Fällen, in denen eine solche Masse nicht vorhanden ist, eine Bedeutung besitzt? _____________ 11

12

Karl Schwarzschild, Über das Gravitationsfeld eines Massenpunktes nach der Einsteinschen Theorie. In: Berliner Berichte (1916), Jan., S. 189–196; ders., Über das Gravitationsfeld einer Kugel aus inkompressibler Flüssigkeit nach der Einsteinschen Theorie. In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. PhysikalischMathematische Klasse (1916), S. 424–434. Schwarzschild selbst bemerkte dazu, dass ‚C‘ von der Masse im Zentrum des durch die Lösung beschriebenen Feldes abhängt, Schwarzschild, Über das Gravitationsfeld eines Massenpunktes [Anm. 11], S. 194.

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In dieser unübersichtlichen Situation helfen uns die folgenden Bemerkungen von Robert Wald zur Interpretation der Integrationskonstanten ‚C‘ weiter: We may interpret the constant C by comparing the behaviour of a test body in the weak field regime (rȺf) with the behaviour of a test body in the Newtonian theory of gravity [...] for large r, the behaviour of the test body in the Schwarzschild solution with parameter C agrees with the behaviour of a test body in a Newtonian gravitational field of mass M = -C/2. Thus, we interpret –C/2 as the total mass of the Schwarzschild field [...].13

Walds Aussage zur Interpretation von ‚C‘ macht offensichtlich von einer Grenzbeziehung zwischen ‚C‘ und Newtons Gravitationsmasse Gebrauch. Unter speziellen Bedingungen, nämlich für große Abstände (rȺf) vom Zentrum eines Zentralkörpers (weak field limit), kann die Lösung für das Schwarzschild-Gravitationsfeld näherungsweise durch eine lineare Theorie ersetzt werden, in der Newtons Gravitationsmasse ‚M‘ auftritt; um die Ersetzbarkeit zu gewährleisten, muss der Ausdruck ‚C‘ mit dem Ausdruck ‚2GM‘ der linearen Theorie identifiziert werden.14 Dies bedeutet, dass sich ein Testkörper im Schwerefeld eines Zentralköpers für große Abstände vom Zentrum nach Einsteins Theorie näherungsweise so verhält, wie er sich verhalten würde, wenn er korrekt mithilfe von Newtons Gravitationsmasse M beschrieben würde. Daher kann – für den betrachteten Fall – der Ausdruck C/2G als Repräsentant von Newtons Gravitationsmasse aufgefasst werden. Dies alles bedeutet natürlich nicht, dass der ‚Schwarzschild-Masse‘ genannte Ausdruck C/2G mit Newtons Gravitationsmasse identisch ist. Die spezifischen semantischen Merkmale des Begriffs Schwarzschild-Masse sind radikal verschieden von jenen, die Newtons Gravitationsmasse zukommen: Nach der allgemeinen Relativitätstheorie wechselwirken Feld und Gravitationsquellen, deshalb bezieht sich der Begriff SchwarzschildMasse nicht nur auf die Quellen, sondern auf das gesamte Gravitationsfeld. Weil sich der Begriff auf Felder beziehen kann, bleibt er auch anwendbar, wenn, wie bei schwarzen Löchern, kein Zentralkörper, sondern nur ein Feld vorhanden ist. Trotz dieser radikalen Bedeutungsverschiedenheit, die sich in den spezifischen semantischen Merkmalen widerspiegelt, kann Newtons Gravitationsmasse in den Begriff der SchwarzschildMasse semantisch eingebettet werden. Der Grund dafür besteht in der oben ausgeführten Grenzbeziehung zwischen den Begriffen. In der in Abschnitt 4 eingeführten Terminologie kann diese Grenzbeziehung folgendermaßen ausgedrückt werden: _____________ 13 14

Robert Wald, General Relativity. Chicago 1984, S. 124. Hans C. Ohanian, Gravitation and Spacetime. New York u.a. 1976, S. 87 ff.

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Newtons Gravitationsmasse kann für die Schwarzschild-Masse in einer bestimmten numerischen Approximation eingesetzt werden, weil die repräsentierenden mathematischen Funktionen in ihrem numerischen Verhalten für eine Substruktur der Schwarzschild-Lösung ähnlich sind. Genauer: Für ein Modell m1 von Newtons Gravitationstheorie, das Modell des Gravitationsfeldes um einen Zentralkörper, gibt es eine Unterstruktur m2* eines Modells m2 der Gravitationstheorie Einsteins (nämlich eine Unterstruktur der Schwarzschild-Lösung), das aus m2 durch Einschränkung auf massive Zentralkörper entsteht, so dass Newtons MasseFunktion M für die Schwarzschild-Masse-Funktion in einer bestimmten Näherung (weak field limit) eingesetzt werden kann. Aufgrund der Tatsache, dass zwischen ihnen eine Relation der semantischen Einbettung besteht, können die beiden Begriffe als ko-referentiell aufgefasst werden; sie besitzen verschiedene Bedeutungen, aber ihre Referenzmenge ist identisch. Die Schwarzschild-Masse bezieht sich ebenso wie Newtons Gravitationsmasse – ungeachtet der Tatsache, dass Newtons Bedeutungsintentionen selbstverständlich andere waren – auf die gesamte Masse-Energie des Schwarzschild-Feldes, aber Newtons Gravitationsmasse erzielt eine näherungsweise korrekte Beschreibung des Referenzgegenstandes nur im speziellen Fall des weak field limit. Newtons nicht-geometrischer Begriff eines Sachverhalts der physikalischen Geometrie konnte in seinem intendierten Anwendungsbereich so erfolgreich sein, weil dieser Anwendungsbereich die Bedingungen des weak field limit erfüllt. Wenn wir Newtons Gravitationsmasse und die Schwarzschild-Masse als ko-referentiell betrachten, so treffen wir damit keineswegs eine künstliche Festlegung. Schließlich hatte Newton den Massebegriff zur Erklärung des Verhaltens jenes Systems verwendet, für das heute das Beschreibungsmittel der Schwarzschild-Lösung verwendet wird. Was Newton zu erklären suchte, ist – nach heutigem Wissen – tatsächlich ein Schwarzschild-Feld. Seine Begriffe ‚koppelten‘ daher an die natürlichen Eigenschaften des Schwarzschild-Feldes an, ohne dass er diese Eigenschaften bereits als Eigenschaften des Schwarzschild-Feldes beschreiben konnte. Der Bedeutungsvergleich qua semantische Einbettung ist aus der Sicht der gegenwärtig akzeptierten Theorie rekonstruiert, und einer historisch getreuen Darstellung der ‚intendierten‘ Bedeutung des älteren Begriffs geradezu entgegengesetzt. Er ist aber insofern adäquat, als er sich daran orientiert, wodurch Begriffe der Sache nach, auf die sie sich beziehen, vergleichbar sind. Jetzt können wir auch erklären, wie Bedeutungsvergleiche trotz Inkommensurabilität möglich sind. Der Grund dafür ist, dass das Phänomen der Inkommensurabilität gerade solche Aspekte der Bedeutung von Begriffen betrifft (ihre spezifischen semantischen Merkmale), die nicht für

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Zwecke des Bedeutungsvergleichs qua semantische Einbettung ausgenutzt werden können.

6. Wie Bedeutungen konstruiert werden können: Das Beispiel der Temperatur in der relativistischen Thermodynamik Das Beispiel des relativistischen Temperaturbegriffs,15 das wegen seiner Komplexität hier nur in den Grundzügen dargestellt werden kann, zeigt, dass Begriffe nicht nur retrospektiv qua semantischer Einbettung identifiziert werden können, sondern der Gedanke der semantischen Einbettung auch konstruktiv zur Erzeugung neuer Begriffe genutzt werden kann. Die Relation der semantischen Einbettung ragt hier gewissermaßen ins noch Unbestimmte, indem sie Bedingungen an die noch zu bildende begriffliche Struktur stellt. Anders als der Ansatz von Nersessian suggeriert, geht es bei der Konstruktion neuer Begriffe nicht immer darum, eine Teilmenge der spezifischen semantischen Merkmale des älteren Begriffs zu erhalten. Im Fall der relativistischen Temperatur sind es sehr allgemeine nichtspezifische semantische Merkmale des klassischen phänomenologischen Temperaturbegriffs, die festgehalten werden; die Forderung, gerade diese Merkmale zu erhalten, bestimmt dann ihrerseits, in welcher Weise die spezifischen semantischen Merkmale des älteren Begriffs für den zu konstruierenden Begriff abgeändert werden müssen. Es sind zwei allgemeine Merkmale, die von Gernot Neugebauer 1980 für den zu konstruierenden relativistischen Temperaturbegriff gefordert werden: (a) Die formale Gestalt der Tensorgleichung, die den neuen, relativistischen 2. Hauptsatz der Thermodynamik in formaler Analogie zur klassischen Gleichung ausdrücken soll: Si = - ƨk Tki (die Ausdrücke S, ƨ und T stehen für die Entropie, die Temperatur und die Energie des Systems). Diese Form der Gleichung garantiert, dass eine Projektion in ein mitbewegtes (relativ zum beschriebenen physikalischen System ruhendes) Bezugssystem zum klassischen 2. Hauptsatz der Thermodynamik führt. (b) Auch hinsichtlich des relativistischen Entropiebegriffes (mit dem Temperaturbegriff muss ja simultan das gesamte Begriffssystem der Thermodynamik neu konstruiert werden) soll gelten, dass ein System im Gleichgewicht keine Entropie produziert. Mithilfe dieser (semantischen) Forderungen soll nun die konkrete Gestalt des noch unbestimmten Tensorschemas ƨi bestimmt werden – und damit die spezifischen semantischen Merkmale, die für den neuen relativistischen Temperaturbegriff gelten werden. Das Konstruktionsverfahren _____________ 15

Vgl. Gernot Neugebauer, Relativistische Thermodynamik. Berlin 1980.

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Andreas Bartels

besteht darin, dass eine semantische Einbettungsrelation zwischen dem klassischen Temperaturbegriff T und dem noch unbestimmten Schema gefordert wird. Der Inhalt dieser Einbettungsrelation ergibt sich aus dem Sinn einer relativistischen Verallgemeinerung: Kehrt man durch Einschränkung des relativistischen Schemas auf seine räumlichen Komponenten für ein mitbewegtes (inertiales) Bezugssystem zur klassischen Situation zurück, so muss sich wieder der klassische Ausdruck der Temperatur T ergeben. Es zeigt sich, dass dieses Konstruktionsverfahren sogar eine eindeutige Lösung besitzt; es kann nur erfüllt werden, wenn für die Komponenten des relativistischen Temperatur-Tensors ƨ gilt: ƨk = uk/T.16 Hat man einmal diesen Ausdruck für die relativistische Temperatur erhalten, so können die spezifischen semantischen Merkmale des durch diesen Ausdruck repräsentierten Begriffs einfach abgeleitet werden: Es ergibt sich zum Beispiel, dass die Temperatur T’ für ein bewegtes Bezugssystem von der Temperatur T für ein (relativ) ruhendes Bezugssystem mittels der folgenden Transformation verbunden ist: T’ = T (1-v2/c2)-1/2, v die Geschwindigkeit des Systems im relativ bewegten Bezugssystem, c die Lichtgeschwindigkeit. Eine weitere – geradezu paradox wirkende – Besonderheit des neuen Begriffs ist es, dass der Grundsatz ‚Wärme fließt stets vom wärmeren zum kälteren Körper‘ für bewegte Systeme im Allgemeinen nicht mehr erfüllt ist. Es gehen also wichtige definierende Begriffsmerkmale der klassischen Temperatur verloren.

7. Fazit: Wie sich alte und neue Begriffe wechselseitig erhellen Unser Ausgangspunkt war die seit den 1960er Jahren aufkommende Einsicht, dass auch Begriffe am wissenschaftlichen Wandel teilhaben; mit den Theorien ändern sich auch die für die Begriffe als definierend betrachteten Merkmale. Wissenschaftliche Umbrüche, die das wissenschaftliche Wissen nicht nur erweitern, sondern neue, gegenüber den alten Theorien unverträgliche Theorienstrukturen mit sich bringen, erzeugen die radikalste Form des Begriffswandels, nämlich Paare inkommensurabler Begriffe, die grundsätzlich nicht durch dieselben Gegenstände erfüllbar sind. Der Bedeutungsskeptizismus hat hier seine stärkste Form angenommen: Begriffe besitzen keine Identität, sie sind historisch flüchtige Entitäten, die mit Ankunft neuer Theorien so tiefgreifend umgebaut werden, dass selbst die Möglichkeit des Vergleiches mit ihren Vorgängern verloren geht. _____________ 16

Ausführlichere Darstellungen dieser Herleitung durch Neugebauer finden sich in: Bartels, Bedeutung und Begriffsgeschichte [Anm. 10], S. 290 ff. sowie ders., Chains of Meaning [Anm. 10], S. 371 f.

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Dieser Bedeutungsskeptizismus kann nicht widerlegt, er kann nur aufgelöst werden, indem seinem Anliegen Rechnung getragen wird. Denn die Berechtigung der Überlegungen, die ihn begründen, ist nicht zu bestreiten. Was dem Bedeutungsskeptizismus konzediert werden muss, ist die Tatsache, dass Begriffe sich mit ihren Theorien wandeln, sowie die Tatsache der Existenz inkommensurabler Begriffe. Allerdings bringen diese Tatsachen nur eine herkömmliche Bedeutungstheorie in Misskredit, die Bedeutungen auf ‚analytische‘, begriffsdefinierende Merkmale stützt. Für eine solche Bedeutungstheorie gibt es keine Aussichten mehr, die Identität von Bedeutungen und einen haltbaren Sinn von ‚Bedeutungsvergleich‘ zu gewährleisten. Der chains-of-meaning-Ansatz, der hier skizziert wurde, macht stattdessen die Begriffsdynamik selbst zum Angelpunkt der Identität von Begriffen. Die Identität eines wissenschaftlichen Begriffes ist – entgegen herkömmlicher Bedeutungstheorien – eben nicht durch alle semantischen Merkmale bestimmt, die er aufgrund der Theorie besitzt, der er angehört. Wir wissen nicht alles, was wir über die Bedeutung von Newtons Gravitationsmasse wissen können, wenn wir nur die semantischen Merkmale dieses Begriffs in Newtons Gravitationstheorie in Rechnung stellen. Denn die Referenz des Begriffs wird nicht durch diese semantischen Merkmale festgelegt, sondern durch die Referenz seines Nachfolgerbegriffs in der gegenwärtig akzeptierten Gravitationstheorie, in den der Begriff semantisch eingebettet ist. Mit anderen Worten: Infolge der Fortschreibung der Geschichte des Begriffs wird auch die referentielle Bedeutung des Begriffs umgeschrieben. Auch unser Wissen über die Bezugsgegenstände des Begriffs hat sich aufgrund der Theorieentwicklung erweitert. Ebenso wie die Bedeutung eines Begriffs sukzessive durch seine Nachfolger geklärt (bzw. modifiziert) wird, wird umgekehrt auch die Bedeutung neuer Begriffe teilweise durch ihre Vorgänger bestimmt. Das Beispiel ‚relativistische Temperatur‘ hat gezeigt, wie neue Begriffe konstruktiv mittels der Forderung erzeugt werden können, zu einem Vorgängerbegriff in der Relation der semantischen Einbettung zu stehen; welche semantischen Merkmale durch diese Forderung erzeugt werden, hängt von der Theorienstruktur ab, in die eingebettet wird, sowie von weiteren Forderungen an den zu konstruierenden neuen Begriff. Die Antwort auf die Frage, ob und in welchem Sinne überhaupt von relativistischer Temperatur gesprochen werden kann, hängt von dem konstruktiven Verfahren ab, das die Verknüpfung mit der klassischen Temperatur herstellt. Dies alles zeigt, dass die Dynamik von Begriffen die Rede von Begriffen als wohlbestimmte Entitäten nicht notwendig ad absurdum führt. Begriffe existieren, aber ihre Identität verdanken sie dem Licht, das durch ihre historischen Nachbarn auf sie geworfen wird.

Carsten Dutt

Funktionen der Begriffsgeschichte Hans Ulrich Gumbrecht zum 60. Geburtstag

Im Horizont eines verstärkten Interesses an den begrifflichen Werkzeugen der Naturwissenschaften sehen die Herausgeber des vorliegenden Bandes die Begriffshistorie vor die „Aufgabe einer Reorganisation ihrer Kategorien und Methoden“ gestellt.1 Aus Mangel an naturwissenschaftlicher und naturwissenschaftshistorischer Kompetenz kann ich programmatische Vorschläge zu einer solchen Reorganisation nicht unterbreiten. Ich werde also im folgenden nicht etwa Neues in puncto ‚Kategorien und Methoden‘ der Begriffshistorie empfehlen; vielmehr will ich an Altes erinnern, theoretisch-methodologisch Erinnerungswürdiges, wie mir scheint, vergegenwärtigen, indem ich einige Funktionen begriffshistorischer Arbeit erörtere, wie sie sich in der Philosophie einerseits, in der Geschichtswissenschaft andererseits bewährt und neben einer Vielzahl von Einzelstudien2 als lexikalische Standardwerke das von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel herausgegebene Historische Wörterbuch der Philosophie und das von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck edierte historische Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland Geschichtliche Grundbegriffe hervorgebracht hat.3 _____________ 1

2 3

Ernst Müller / Falko Schmieder, Ankündigungstext des Workshops Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften – die historische Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Zentrum für Literaturund Kulturforschung, Berlin, 9./10. Februar 2007; siehe http://www.zfl.gwz-berlin.de /veranstaltungen/veranstaltungen//_/224/?cHash=8ffe6d9a. Man vergleiche hierfür vor allem die inzwischen über 50 Jahrgänge des von Erich Rothacker begründeten Archivs für Begriffsgeschichte sowie die von Reinhart Koselleck und Karlheinz Stierle herausgegebene Schriftenreihe Sprache und Geschichte. Anders als die Geschichtlichen Grundbegriffe ist das Historische Wörterbuch der Philosophie freilich kein exklusiv begriffsgeschichtliches Werk. Neben historisch verfahrenden Großartikeln zu Zentralbegriffen der Philosophie, die jeweils von ihren antiken oder mittelalterlichen oder neuzeitlichen Ursprüngen bis in gegenwärtige Verwendungszusammenhänge verfolgt werden, enthält es eine Vielzahl terminologisch unterrichtender Artikel zu Wörtern, deren Bedeutung in der Philosophie und den für die Philosophie relevanten Wissenschaften kontextspezifisch oder kontextindifferent feststeht. Joachim Ritter hat dies in seinem Vorwort zum ersten Band des Werkes wie folgt begründet: „Die begriffsgeschichtliche Orientierung mußte da maßgebend werden, wo es darum geht, einen Begriff in seiner Geschichte und aus dieser zu verstehen oder ihn in seiner gegenwärtigen Funktion in Beziehung zu seiner Geschichte zu bringen. Doch forderten ebenso diejenigen Begriffe ihre ihnen angemessene Darstellung, für deren Funktion die Herauslösung aus der Geschichte konstitutiv ist. Daher wäre es ein Mißverständnis, wenn dieses Wörterbuch als ‚begriffsgeschichtliches Wör-

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Carsten Dutt

Inwiefern mein Rückblick auf bewährte Funktionen der Begriffsgeschichte auf dem gesuchten Weg ins Neuland einer ‚interdisziplinären Begriffsgeschichte‘ von Nutzen sein kann, wage ich nicht zu antizipieren. Es wäre freilich schön, wenn ich nicht sowohl zur Konturierung dessen beitragen würde, was nach dem Ende der „dominanten geisteswissenschaftlichen Fixierung der Begriffsgeschichte“4 anders werden muß, als vielmehr dessen, was auch nach dem Ende dieser Fixierung aus guten Gründen gleich bleiben sollte – kategorial und methodisch. _____________

4

terbuch‘ auftreten wollte; es würde in dieser Bestimmung seiner Aufgabe nicht gerecht und wäre zugleich methodisch und inhaltlich überfordert. Deshalb wird es unter den Titel ‹Historisches Wörterbuch der Philosophie› gestellt, der anzeigt, daß es die Philosophie und ihre Begriffe im Horizont der Geschichte und ihrer geschichtlichen Herkunft zum Gegenstand hat und dort die historische Darstellung wählt, wo diese für das Verständnis eines Begriffes notwendig oder wünschenswert ist“ (Joachim Ritter, Vorwort. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Basel u. a. 1971, Bd. 1, S. VII). – Für die gegenwärtig einsetzende wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Aufarbeitung der Begriffsgeschichte dürfte übrigens ein Vergleich der zahlreichen lemmaidentischen Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie einerseits, in den Geschichtlichen Grundbegriffen andererseits von Nutzen sein. Man denke an Artikel wie ‚Entwicklung‘, ‚Fortschritt‘, ‚Geschichte‘, ‚Revolution‘, Staat‘, ‚Vertrag‘, ‚Toleranz‘ und ‚Zivilisation‘. Im Horizont welcher begriffstheoretischen und welcher begriffsgeschichtstheoretischen Prämissen, so wäre vergleichend zu fragen, greifen jene lemmaidentischen Artikel wie auf ihre Gegenstände – die Begriffe – zu? Anhand welcher Quellentexte werden sie ihrer mit Hilfe welcher Heuristiken und welcher Untersuchungsverfahren habhaft? Wie vermitteln sie dabei Wortgebrauchsforschung und Begriffsanalyse? Inwiefern berücksichtigen sie Neben-, Gegen-, Ober- und Unterbegriffe, also die Relationen der konzeptuellen Netzwerke, deren Bestandteile Begriffe je und je sind? Inwiefern und mit welchen Charakterisierungsgewinnen werden auch die sprachpragmatischen Zusammenhänge der in diachroner Aufschichtung untersuchten Begriffsbildungen und -umbildungen berücksichtigt? Inwiefern werden fremdsprachige Äquivalente herangezogen und inwiefern Übersetzungsprozesse reflektiert, die Begriffe unter Bewahrung oder Verlust ihrer Selbigkeit durchliefen? Nach welchen Kriterien bestimmen und im Rekurs auf welche Faktoren erklären die Artikel des Historischen Wörterbuchs einerseits, der Geschichtlichen Grundbegriffe andererseits die Bildung, den Wandel oder die Konstanz der von ihnen untersuchten Begriffe? Welche spezifisch begriffshistorischen Neuerkenntnisse und welche lexikographischen Innovationen hat Reinhart Kosellecks programmatische Transgression einer auf geistes- und theoriegeschichtliche Belange beschränkten Begriffshistoriographie durch die Zuordnung von Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte erbracht? In welchem Umfang haben Kosellecksche Anregungen, etwa die berühmte ‚Sattelzeit‘-Hypothese oder die Typisierung spezifisch neuzeitlicher Pragmatiken von Begriffen – siehe hierzu den zweiten Teil des vorliegenden Aufsatzes –, auch in die neueren Bände des Historischen Wörterbuchs der Philosophie Eingang gefunden und dort die Darstellung der Geschichte z. B. kulturphilosophischer Begriffe methodisch verändert? Das Projekt einer Geschichte der Begriffsgeschichte ernsthaft zu verfolgen, hieße: diesen und weiteren Fragen geordnet nachzugehen. Man würde insoweit übrigens nicht selbstgenügsamer Gelehrsamkeit huldigen, vielmehr der Orientierung gegenwärtiger und zukünftiger Begriffshistorikerinnen und -historiker dienen, die ja doch ein starkes Interesse daran haben dürften, sich in verlässlicher und übersichtlicher Weise jener Elemente zu versichern, in denen die Geschichte ihrer Disziplin als Geschichte wissenschaftlichen Fortschritts gelten kann. Müller / Schmieder, Ankündigungstext [Anm. 1].

Funktionen der Begriffsgeschichte

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I. Ich nenne zunächst – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – vier Funktionen philosophischer Begriffsgeschichte: 1. 2. 3. 4.

Die Auflösung des Scheins von Begriffskonstanz. Die Rekonstruktion theoretischer Begriffsnetze. Die Erklärung von Begriffswandel. Die Unterstützung systematischen Philosophierens durch ein historisches Reflexionsmedium der Begriffsklärung.

Hierzu einige Erläuterungen: Wenn sich Philosophen – nennen wir sie nicht Schleiermacher oder Dilthey, Gadamer oder Ricœur, sondern schlicht A und B –, wenn sich die Philosophen A und B des Wortes ‚Verstehen‘ bedienen und eine Reihe von Aussagen über das Verstehen machen – in der Regel eine ziemlich lange, Aufsatz- oder gar Buchlänge erreichende Reihe von Aussagen –, so werden sie trotz der sich durchhaltenden Identität des Wortes, trotz der Konstanz des Begriffsnamens schwerlich ein und denselben Verstehensbegriff artikulieren. Ihre Verstehensbegriffe werden mehr oder minder stark voneinander abweichen. So jedenfalls ist in Orientierung an der für begriffsgeschichtliche Untersuchungsgänge grundlegenden Unterscheidung von Wort und Begriff zu vermuten, – einer Unterscheidung, die vielfach Eingang in die ausdrückliche methodische Normierung begriffshistorischer Quellenkritik und Textanalyse gefunden hat und wohl am bündigsten von Quentin Skinner formuliert worden ist: „the persistence of [...] expressions tells us nothing reliable at all about the persistence of the [...] concepts“.5 Inwiefern die Verstehensbegriffe von A und B übereinstimmen und inwiefern sie voneinander abweichen, ermittelt der begriffsgeschichtlich ansetzende Philosophiehistoriker, indem er darauf achtet, wie einerseits A und andererseits B das Wort ‚Verstehen‘ (als Subjektausdruck und als Prädikat, als Explicandum und als Explicans) verwenden. Denn wie anders als wortgebrauchsanalytisch sollte er den fraglichen Begriff bei A einerseits, bei B andererseits dingfest machen können? Das ist nun gewiss keine falsche, allerdings auch keine zureichende Beschreibung der begriffsanalytischen Methode begriffshistorisch verfahrender Philosophiegeschichtsschreibung. Denn es wäre eine grobe Verkürzung, zu behaupten, dass der Verstehensbegriff von A und der Verstehensbegriff von B in nichts anderem als in der jeweiligen Verwendungs_____________ 5

Quentin Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas. In: History and Theory. Studies in the Philosophy of History 8 (1969), S. 39.

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weise des sprachlichen Ausdrucks ‚Verstehen‘ durch A bzw. B bestehen. Höchstens könnte man sagen, dass ihre Verstehensbegriffe auch darin bestehen. Für die jeweils artikulierten Verstehensbegriffe ist nämlich nicht nur entscheidend, was A bzw. B unter Verwendung des Wortes ‚Verstehen‘ über das Verstehen aussagen, es ist nicht minder belangvoll, was A bzw. B über Erkennen, Erklären und Interpretieren, über Bedeutung und Sinn, Referenz und Wahrheit, Rationalität und Geschichte, Missverstehen und Nichtverstehen, Horizontabhebung, Horizontverschmelzung und anderes mehr aussagen. So nämlich ergänzen, präzisieren und erweitern sie ihre Aussagen über das Verstehen. Begriffstheoretisch gewendet heißt das: Philosophische Begriffe – und nicht anders die theoretischen Begriffe der Geistes- und der Naturwissenschaften – sind je und je Elemente von Begriffsfeldern. Sie sind Knotenpunkte in Netzen von Begriffen, die als Ober- oder Unter-, Gegensatz- oder Korrelativbegriffe aufeinander bezogen sind. Und diese komplexen, durch eine Vielzahl verschiedenartiger Relationen verknüpften Begriffsnetze6 sind ihrerseits Funktionen jener komplexen Aussagensysteme – jener Theorien –, die es zu rekonstruieren gilt, wenn die mit ihnen vollzogenen Begriffsbildungen oder Begriffsumbildungen erfasst und angemessen beschrieben werden sollen. „Begriffe“, so hat es der als Theoretiker der Begriffshistorie zu Unrecht in Vergessenheit geratene Nicolai Hartmann einmal gesagt, „sind überhaupt keine selbständigen Gebilde“: „Der Begriff, als einzelner für sich genommen, ist immer arm an Bestimmtheit. Selbst die Definition, die seinen Gehalt explizieren soll, hilft hier nur wenig zurecht. Eine kurze Formel, selbst wenn sie nicht bloß Nominaldefinition ist, kann die fehlende Mannigfaltigkeit greifbarer Bestimmtheit nicht ersetzen. Die wirklich erschöpfende Begriffsbestimmung liegt einzig im weiteren Inhaltszusammenhang. Sie ist nirgends zu gewinnen als am Ganzen der [...] Gedankenarbeit, in der der Begriff geprägt ist. Der Begriff hat eben seine Bestimmtheit außer sich.“7 Gute Begriffsgeschichtsschreibung weiß das und versteht sich daher als eine Form des Zugriffs auf Theoriegeschichte. Sie setzt ein beim theoretischen Detail: dem Begriff, zum Beispiel beim Begriff des Verstehens, um dieses Detail gut hermeneutisch aus dem Ganzen der Theorie des Verstehens zu rekonstruieren, der es – von ihr bestimmt und sie zugleich mitbestimmend – angehört. _____________ 6

7

Zum formalwissenschaftlichen Begriff der Komplexität vgl. Niklas Luhmann, (Art.) Komplexität. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel u. a. 1976, Bd. 4., Sp. 939–941 [HWPh]. Komplexität bemisst sich nach der „Zahl und Verschiedenartigkeit der Relationen, die nach der Struktur des Systems zwischen Elementen möglich sind“ (Sp. 940). Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. Berlin ²1949, S. 502 f.

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Liefert aber die Perlenschnur der in der soeben skizzierten Weise umsichtig, nämlich theorierekonstruktiv durchgeführten Analysen der Verstehensbegriffe der Philosophen A, B, C und D – nennen wir sie Schleiermacher, Dilthey, Gadamer und Ricœur – schon eine Begriffsgeschichte? Was sie immerhin liefert, liegt auf der Hand: Sie liefert Differenzbefunde, die in chronologischer Aufschichtung begrifflichen Wandel sichtbar machen, wobei Begriffshistorikerinnen und Begriffshistoriker immer wieder neu vor der Alternative stehen dürften, die Stationen des Wandels von A zu B zu C zu D usw. entweder als Umbildungen an einem Begriff zu beschreiben – der dann zumindest als methodisches Subjekt einer Begriffsgeschichte unterstellt wird – oder aber als Bildungen jeweils neuer Begriffe, die alle mit dem einen Begriffsnamen ‚Verstehen‘ (bzw. seinen fremdsprachigen Äquivalenten) belegt worden sind und überdies in theoriegeschichtlich wohlbestimmten Relationen zueinander stehen.8 Wie immer man sich im Einzelfall entscheidet, für die „Vorstellung, es gebe die Geschichte eines verschiedene Gestalten durchlaufenden Begriffs“, oder aber – an strengen Identitätskriterien für Begriffe orientiert – für ein Geschichtsmodell des Nach- und Nebeneinander von „‚distinct concepts‘, die sich alle mit ein und demselben sprachlichen Ausdruck verbanden bzw. verbinden“,9 wichtig ist, dass die Differenzen zwischen den jeweils begriffsbildenden Aussagensystemen so präzise und übersichtlich wie möglich herausgearbeitet werden; und entscheidend für die Anwendbarkeit einer anspruchsvollen Rede von Begriffsgeschichte ist, dass die herausgearbeiteten Unterschiede nicht nur konstatiert sondern auch erklärt werden. Warum, aus welchen Gründen ändert sich bei welchen Autoren was am Verstehensbegriff? Oder anders formuliert, den Wandel der Begriffe als ihren Wechsel interpretierend: Aus welchen Gründen bildet B im Horizont des Verstehensbegriffs von A einen anderen Verstehensbegriff? Gute Begriffsgeschichten geben darauf Antwort. Sie sind – in der Philosophie wie in anderen Disziplinen auch – erklärungsdichte Geschichten. Gute Begriffsgeschichten sagen uns beispielsweise nicht nur, dass Dilthey anders als vor ihm Schleiermacher ‚Verstehen‘ als Grundbegriff geisteswissenschaftlicher Erkenntnis zum Gegenbegriff von ‚Erklären‘ als Grundbegriff der induktiven Logik der Naturwissenschaften stilisierte.10 _____________ 8 9 10

Zur Diskussion dieses Problems vgl. Winfried Schröder, Was heißt „Geschichte eines philosophischen Begriffs?“. In: Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. v. Gunter Scholtz. (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jg. 2000) Hamburg 2000, S. 159–172. Ebd., S. 169. „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. [...] Dies bedingt eine sehr große Verschiedenheit der Methoden, vermittels derer wir Seelenleben, Historie und Gesellschaft studieren, von denen, durch welche die Naturerkenntnis herbeigeführt“ wird. So Wilhelm Dilthey in seinen: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie [1894]. In: ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Hälfte 1. Abhandlungen

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Gute Begriffsgeschichten erklären uns auch, wie es dazu kam. Sie machen uns die wissenschaftsgeschichtlichen, die im weiteren Sinne geistesgeschichtlichen und die spezifisch philosophiegeschichtlichen Bedingungen der Diltheyschen begriffs(um)bildenden Entscheidung klar. Karl-Otto Apel etwa hat das in dem einschlägigen Artikel ‚Verstehen‘ des Historischen Wörterbuchs der Philosophie auf zitierenswert vorbildliche Weise getan: „Die terminologische Zuspitzung des Begriffs im 19. Jh. wird verständlich unter zwei Voraussetzungen: 1) Einmal mußte der von Droysen und Dilthey fixierte Begriff des inneren Verstehens menschlich-geschichtlicher Wirklichkeit seinem Gehalt nach erfahren sein in der Ausbildung philologischhistorischer Wissenschaften und einer zugehörigen Kunstlehre der Interpretation (Hermeneutik) sowie in einer philosophisch-theologischen Tradition, welche mit dem Begriff des Verstehens das Pathos der tiefsten überhaupt möglichen Erkenntnis verband (von Eckhart bis Hegel bzw. Luther bis Ranke). 2) Zum Zweiten mußte der hochspekulative (christlichplatonische) Leitgedanke der mathematischen interpretatio naturae (als ‚Lesen im Buch der Natur‘ bzw. ‚Nachdenken der weltschaffenden Gedanken Gottes als ‚alter deus‘), der von Cusanus über Leonardo, Cardanus, Kepler, Galilei bis Leibniz die Grundlegung der exakten Wissenschaften und der Technik inspiriert hatte, jene Säkularisierung durchgemacht haben, die das rationale Verstehen des Menschen (gemäß mathematischen Anschauungsformen und Verstandesbegriffen) nur mehr auf eine äußere, vom Verstand selbst konstituierte Erscheinungswelt bezog (Kant) oder – wenn ein apriorisches Vorverständnis der Struktur der Erscheinungswelt durch den Menschen geleugnet wurde – das nur mehr prognostisch relevante ‚Erklären‘ der äußeren Sinnesdaten aufgrund induktiv gewonnener Gesetzeshypothesen an die Stelle eines rationalen Verstehens der Naturkausalität treten ließ (Positivismus). Als Antwort auf die so vorgestellte Erkenntnissituation konnte Dilthey, in Anknüpfung an Vico, für die Geisteswissenschaften in Anspruch nehmen, dass hier nicht nur die formale Struktur einer vom Verstand synthetisch konstituierten Erscheinungswelt, sondern der Ausdruck des realen Lebens selbst in einer vom ganzen Menschen geschaffenen, geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit verstanden werden könne.“11 Soweit Apels Erklärung für Diltheys wissenschaftstheoretische Vereinseitigung des Verstehensbegriffs. Hat man diese Erklärung verstanden, so dürfte man die wichtigsten der Gründe verstanden haben, die Dilthey seinerzeit für die Entgegensetzung von Erklären und Verstehen hatte. Ob freilich die Gründe Diltheys gute Gründe waren, Gründe, die sich teilen lassen, ist eine andere Frage, die hier nicht zu dis_____________ 11

zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, hg. v. Georg Misch u. Karlfried Gründer. (Gesammelte Schriften, 5) Stuttgart u. Göttingen ²1957, S. 144. Karl-Otto Apel, (Art.) Verstehen. In: HWPh [Anm. 6], 2001, Bd. 11, Sp. 918 f.

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kutieren ist,12 die uns aber exemplarisch zu der für unser Thema wichtigen Frage führt, wozu die begriffshistorische Aufarbeitung der Philosophiegeschichte für Philosophen denn eigentlich gut sei. Inwiefern nützt sie ihnen? Darauf gibt es zwei Antworten. Eine historisch-antiquarische Antwort, die eigentlich gar keine Antwort, sondern das Abblocken der Frage ist, lautet: Es ist gut, wenn man historisch gebildet, also auch begriffshistorisch gebildet ist. Man sollte einfach wissen, wie es gewesen ist – ehedem: mit den Autos, den Kutschen, den Kriegen, den Theorien und den Begriffen. Basta. Eine andere, nicht nur für Historiker, sondern für Philosophen interessante Antwort hat Joachim Ritter im Vorwort zum ersten Band des von ihm begründeten Historischen Wörterbuchs der Philosophie gegeben. Ritters Antwort lautet, „daß die Zuwendung zur Geschichte der Philosophie nicht mehr nur als antiquarische Forschung verstanden wird, sondern positiv zur erinnernden Vergegenwärtigung geworden ist, in der antike und spätantike Philosophie, Patristik und Scholastik ebenso wie die Erneuerungsbewegung der Philosophie in Humanismus und Aufklärung seit dem 16. und 17. Jahrhundert und auch die spekulativen Theorien des Idealismus nach Kant in ihren Begriffen und Theorien eine noch nie erreichte Präsenz gewonnen haben als das, wovon und worin die Philosophie in ihren gegenwärtigen Aufgaben sprachlich und begrifflich lebt. Die Scheidewand zwischen System und Philosophiehistorie ist durchlässig geworden. Was diese erarbeitet, geht in die Bewegung des philosophischen Gedankens als ein ihm in seiner Gegenwart Zugehöriges ein.“13 Ritter versteht die Rekonstruktions- und Erklärungsleistungen der Begriffshistoriographie also als Reflexionsmedium systematischen Philosophierens. Im Beispielfall heißt das: Wer sich heute anschickt als Philosoph verstehenstheoretisch zu arbeiten, wer sich also anschickt, einen tragfähigen Begriff des Verstehens auszuarbeiten, der der komplexen Wirklichkeit der kognitiven Leistungen, die wir meinen, wenn wir von Verstehen sprechen, angemessen ist, tut gut daran, Apels zuverlässigen Artikel im Ritterschen Wörterbuch zur Kenntnis zu nehmen und sich so Orientierung darüber zu verschaffen, welche Fassungen des Verstehensbegriffs in welcher wie zu erklärenden Abfolge in der Philosophie erarbeitet, ergänzt, umgebaut und – zu Recht oder Unrecht – außer Geltung gesetzt worden sind. Ich finde _____________ 12

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Zur Kritik der dichotomischen Begriffsbildung Diltheys vgl. Günther Patzig, Erklären und Verstehen. Bemerkungen zum Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften. In: Neue Rundschau 84 (1973), S. 392–413, und Hermann Lübbe, Die Einheit von Natur- und Kulturgeschichte. Zur Korrektur eines deutschen wissenschaftstheoretischen Vorurteils. In: ders., Philosophie in Geschichten. Über intellektuelle Affirmationen und Negationen in Deutschland. München 2006, S. 169–185. Ritter, Vorwort. In: HWPh [Anm. 3], S. VI.

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diesen Gedanken unmittelbar überzeugend und werde daher nicht weiter für ihn argumentieren. Nur eine Ergänzung sei angebracht, da Ritters Rede von der Gegenwartszugehörigkeit des begriffsgeschichtlich Rekonstruierten auf unbefriedigende Weise vage bleibt. Soll die von Ritter reklamierte Zugehörigkeit keine unkritisch traditionalistische sein, so kann das Element, in dem sie sich herstellt und für jede Gegenwart erneuert, nur das eines Dialogs gleichberechtigter Partner sein. Exemplarisch heißt das: Ich stelle meinen Begriff, mein Verständnis von Verstehen auf den Prüfstand der begriffshistoriographisch übersichtlich gemachten vergangenen und gleichwohl potentiell gegenwärtigen Fassungen des Begriffs – und umgekehrt. Wo sie in dieser Weise dialogisch und sachorientiert rezipiert wird, leistet die philosophiehistorische Begriffsgeschichtsschreibung einen produktiven Beitrag zur philosophischen Arbeit der Begriffsklärung selbst. Ob sich Analoges für das Verhältnis von aktueller naturwissenschaftlicher Forschung und der begriffsgeschichtlichen Aufarbeitung der Vergangenheit dieser Forschung sagen lässt?

II. Ein ebenso dezidierter wie theoretisch-methodologisch hoch reflektierter Gegenwartsbezug liegt bekanntlich auch der sozialhistorisch ausgerichteten Begriffsgeschichte Koselleckscher Prägung zugrunde.14 Ich erinnere hier nur an den heuristischen Vorgriff der Lexikonarbeit der Geschichtlichen Grundbegriffe, an Reinhart Kosellecks „Vermutung, daß sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer topoi vollzogen, daß alte Worte neue Sinngehalte gewonnen haben, die mit Annäherung an unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr bedürftig sind. Der heuristische Vorgriff führt sozusagen eine ‚Sattelzeit‘ ein, in der sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt.“15 Diese Sattelzeit – den _____________ 14

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Dass Reinhart Koselleck der theoretische Schrittmacher und der eigentliche Architekt des von ihm, Otto Brunner und Werner Conze herausgegebenen Großwerkes Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland (8 Bde., Stuttgart 1972–1997) war, ist wiederholt gewürdigt worden. Vgl. etwa Christof Dipper, Die „Geschichtlichen Grundbegriffe“. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten. In: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 282–308. – Zur theoretischen Begründung der Lexikonarbeit durch Reinhart Koselleck vgl. die Einleitung im ersten Band der Geschichtlichen Grundbegriffe, Stuttgart 1972, S. XIII–XXIII, sowie Koselleck, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 81–99. Einen wissenschaftsgeschichtlich gesättigten Rückblick auf die Herkunft seiner Beschäftigung mit begriffshistorischen Fragen bietet Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. In: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 18–205. Koselleck, Einleitung [Anm. 14], S. XV.

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sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Überschritt zur Moderne – begriffsgeschichtlich, im Spiegel historischer Semantik, auszumessen, war das eigentliche Erkenntnisziel der Geschichtlichen Grundbegriffe, für die Koselleck – soweit ich sehe als einziger unter den großen Begriffshistorikern der letzten Jahrzehnte – einen Kriterienkatalog modernitätskonstitutiven Wandels begrifflich kondensierter Bedeutungseinheiten bereitgestellt hat. Man erinnert sich: ‚Demokratisierung‘, ‚Verzeitlichung‘, ‚Ideologisierbarkeit‘ und ‚Politisierung‘ der (geschichtlich überkommenen oder neu geprägten) Begriffe.16 „Begriffsgeschichte“, so hat es Reinhart Koselleck in späteren Jahren gesagt, „ist eine historiographische Leistung: Es handelt sich um die Historie der Begriffsbildungen, -verwendungen und -veränderungen.“17 Diese Kennzeichnung ist hinreichend allgemein, um sowohl für die Arbeit des Historischen Wörterbuchs der Philosophie als auch für die der Geschichtlichen Grundbegriffe zu gelten. Hier und dort geht es freilich um Begriffe unterschiedlicher Art. Zum einen, wir haben es gesehen, um in komplexen Aussagensystemen gebildete Begriffe der Philosophie, die theoretischer Erkenntnis dienen;18 in dem von Koselleck inaugurierten Forschungspro_____________ 16

17 18

Vgl. ebd. S. XVI–XIX. Zusammenfassend heißt es (S. XVIII f.) zum methodischen Status dieses Kriterienkatalogs und seiner Verwiesenheit auf das diachronische Prinzip historischer Empirie: „Alle genannten Kriterien, die Demokratisierung, die Verzeitlichung, die Ideologisierbarkeit und die Politisierung bleiben unter sich aufeinander verwiesen. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit behalten sie heuristischen Charakter, um den Gebrauch neuzeitlicher Terminologie gegen deren vorrevolutionäre Zusammenhänge abgrenzbar zu machen. Aus dem heuristischen Vorgriff folgt nun keineswegs, daß ihn die Geschichte jedes Begriffs bestätigen müßte. Vielmehr gibt es zahlreiche Konstanten, die sich über die Schwelle von etwa 1770 hinweg durchhalten. Um die Ausdrücke in ihrer Andersartigkeit – oder Gleichartigkeit – während der Zeit vor rund 1770 zu erkennen, bedarf es deshalb des Rückgriffs in die Vorvergangenheit, die wieder ihre eigene Geschichte hat. Diese mag von Wort zu Wort verschieden sein und wird deshalb in zeitlich unterschiedlicher Tiefe zurückverfolgt. Die Entstehung der Neuzeit in ihrer begrifflichen Erfassung ist nur nachvollziehbar, wenn auch und gerade die früheren Sinngehalte der untersuchten Worte oder wenn die Herausforderung zu Neubildungen mit in den Blick gerückt werden.“ Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979, S. 107–128, hier S. 115. Schon früh hat freilich Hermann Lübbe darauf hingewiesen, dass die Philosophie in ihrer neuzeitlichen Geschichte nicht immer als reine Theorie, sondern auch als ideenpolitische Praxis betrieben worden ist: „Unter die Zuständigkeit der Philosophie, sofern sie begriffsgeschichtliche Theorie ihrer eigenen Geschichte betreibt, fallen [...] auch solche Begriffe, durch die die Philosophie mit der Praxis des Lebens, mit den politischen und ideologischgeistigen Kämpfen der Zeit vermittelt ist. Die Philosophie ist nicht immer und überall jene reine Theorie, die keinem anderen als dem esoterischen Interesse an ihrer eigenen Richtigkeit dient. Der Wille, der die Praxis des Philosophierens trägt, ist nicht regelmäßig auf das Ziel, Einsichten zu gewinnen, beschränkt. Nicht selten ist er ein praktischer Wille, der die Philosophie dienstleistungshalber betreibt und das Interesse an der Theorie zur Funktion des Interesses an ihren vermeintlichen oder erhofften praktischen Konsequenzen macht.“ (Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Freiburg u.

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gramm hingegen geht es um den Begriffshaushalt der von Interessenkämpfen und Parteiungen, politischen und sozialen Revolutionen, technischer Dauerinnovation, dem Entstehen der Weltgesellschaft und historisch beispiellosen Beschleunigungserfahrungen geprägten Menschenwelt der Moderne; insbesondere geht es – der Titel des Lexikons hebt es hervor – um Grundbegriffe wie ‚Staat‘, ‚Geschichte‘, ‚Freiheit‘, ‚Demokratie‘, in denen sich jeweils mehrere Bedeutungsschichten und mit diesen Bedeutungsschichten Ereigniszusammenhänge und Erfahrungsstrukturen von langer Dauer sedimentiert haben und die durch das Doppelkriterium ihrer Unersetzbarkeit und Strittigkeit ausgezeichnet sind.19 Kosellecks Grundbegriffe sind Begriffe, ohne deren Orientierungsund Verständigungspotential seit dem späten 18. Jahrhundert keine politische Handlungseinheit und keine Sprachgemeinschaft mehr auskommt und die zugleich mehr oder minder heftig umstritten sind, indem verschiedene Sprechergruppen, bei denen es sich um sozioökonomisch oder anderweitig, z. B. ideologisch oder religiös integrierte Kollektive handeln mag, konkurrierende Besetzungen oder, wie Koselleck auch sagt, „Deutungsmonopole“ durchzusetzen bestrebt sind.20 Der moderne Grundbegriff ‚Staat‘ etwa – so eines der Standardbeispiele Kosellecks – wird in synchroner und diachroner Begriffsbesetzungskonkurrenz als Nationaloder Rechtsstaat, als Fürsten- oder Führerstaat, als Nachtwächter- oder Sozialstaat interpretiert und just so semantisch umkämpft.21 Als Historie der Heraufkunft der Moderne, der durch Aufklärung, Französische und _____________

19 20 21

München 1965, S. 17 f.) Entsprechend ändert sich die Funktion philosophiehistorischer Begriffsgeschichte: „Sie zeigt jetzt, wie gewisse Begriffe, jedenfalls in gewissen Situationen, weniger die Theoriefähigkeit der Vernunft als die Bereitschaft des Willens steigern, sich ideenpolitisch zu engagieren. Sie läßt erkennen, daß gewisse Begriffe weniger durch ihre wirklichkeitsaufschließende Kraft als durch die Provokation zur ideenpolitischen Frontenbildung, die von ihnen ausgeht, philosophie- und geistesgeschichtlich bedeutsam geworden sind.“ (S. 22). Vgl. Koselleck, Stichwort: Begriffsgeschichte. In: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a.M. 2006, S. 99-102, hier S. 99. Ebd. Vgl. Koselleck, Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte. In: ders., Begriffsgeschichten [Anm. 19], S. 66: „‚Staat‘ wurde zu einem unaustauschbaren Begriff, ohne den die soziale und politische Wirklichkeit nicht mehr wahrgenommen und gedeutet werden konnte. Und gerade deshalb wurde er zunehmend umstritten; denn alle aus den ehemaligen Ständen hervorgegangenen Parteien wollten ihren je eigenen Staat errichten, ihre je eigenen Programme einlösen. Deshalb fächert sich der vormals plurale Staatsbegriff neu auf, ohne deshalb seinen inzwischen gewonnenen institutionellen Ausschließlichkeitsanspruch aufzugeben. Er wird zum monarchistischen Staat, zum Sozialstaat, zum christlichen Staat, zum Rechtsstaat, zum Nationalstaat, zum Wohlfahrtsstaat, zum Volksstaat, zum Bundesstaat und was sonst noch denkbar war und ist. Die geschichtlich vielfältigen und empirisch hart umkämpften Wortkombinationen zehren allesamt von der semantischen Konstante des Staates ‚überhaupt‘.“

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Industrielle Revolution und beider Folgelasten geprägten Welt, ist die Begriffshistorie Koselleckscher Prägung zentral Historie der konfliktgeborenen und ihrerseits konfliktträchtigen Auslegungen geschichtlicher Grundbegriffe. Dazu gehört methodisch, dass die Begriffsgeschichte des Überschritts zur modernen Welt nicht nur historische Semantik, sondern zugleich historische Pragmatik der von ihr untersuchten Konzepte war und ist. Sie ermittelt nicht nur vergangene Bedeutungen bzw. in diachroner Aufschichtung ihrer Befunde Genese, Verbreitung, Ablösung oder Überformung vergangener Begriffe, sondern auch deren geschichtlich sich wandelnden pragmatischen Status, ihren Handlungssinn in konkreten Begriffsverwendungszusammenhängen: vom Parteiprogramm über die Parlamentsrede und das Flugblatt bis hin zum zeitdiagnostischen Essay und zum kulturkritisch ambitionierten Roman.22 Man vergegenwärtige sich in diesem Zusammenhang die lange Liste der Begriffsfunktionscharakteristiken, für die Koselleck einprägsame Etiketten gefunden hat: Aktionsbegriff, Bewegungsbegriff, Erfahrungsregistraturbegriff, Erfahrungsstiftungsbegriff, Erwartungsbegriff, Feindbegriff, Identifikationsbegriff, Kampfbegriff, Kompensationsbegriff, Vorgriff, Zielbegriff und weitere mehr.23 Es kann hier nicht darum gehen, das Spektrum: den neuzeitgeschichtlich realisierten Möglichkeitsspielraum der Pragmatik von Begriffen bzw. Begriffsverwendungen illustrierend auszubuchstabieren und seine Vermessung über das von Koselleck in vielen Einzeldurchführungen Geleistete hinaus zu systematisieren. Ich möchte an das von Koselleck bereitgestellte Kategoriengerüst einer historischen Pragmatik politisch-sozialer Begriffe an dieser Stelle nur deshalb erinnern, weil mir eine Methodisierung der Reflexion auf die pragmatische Dimension, den Verwendungssinn von Begriffen auch für die von Ernst Müller und Falko Schmieder ins Auge gefasste Erweiterung der Begriffsgeschichte wichtig zu sein scheint. Wenn naturwissenschaftliche Konzepte die Sphäre ihres Ursprungs verlassen, wenn sie aus Kontexten naturwissenschaftlicher Forschung und Lehre in andere Diskursregionen abwandern, wenn sie etwa von Künstlern oder Schriftstellern in ästhetischen oder poetologischen Diskursen _____________ 22

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Es versteht sich, dass die Rekonstruktion der pragmatischen Dimension von Begriffen aufs engste mit der Rekonstruktion der pragmatischen Dimension der Texte zusammenhängt, in denen die Begriffe Verwendung finden. Wichtige methodische Hinweise hierzu hat Hans Ulrich Gumbrecht gegeben. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Historische Textpragmatik als Grundlagenwissenschaft der Geschichtsschreibung. In: Lendemains 6 (1977), S. 125–135. Vgl. die Begriffs- und Sachregister der Bände Vergangene Zukunft [Anm. 17] und Begriffsgeschichten [Anm. 19].

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eingesetzt werden,24 vollends aber wenn sie in politische Verwendungskontexte gerückt und politischen Zwecken dienstbar gemacht werden, so dürfte sich eben nicht nur die Semantik, sondern auch und vor allem die Pragmatik der Konzepte, die – transponiert – zu Metaphern geworden sein mögen, einschneidend ändern. Die gegenwärtig angestrebte kulturwissenschaftliche Reorganisation der Kategorien und Methoden der Begriffsgeschichte sollte dem Rechnung tragen und das Projekt einer historischen Pragmatik der Begriffe auf ihre Agenda setzen.

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Erich Kleinschmidt liefert hierfür im vorliegenden Band mit Novalis’ genietheoretischer Adaption des physikalischen Intensitätsbegriffs ein instruktives Beispiel.

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Begriffsgeschichte des Mediums oder Mediengeschichte von Begriffen? Methodologische Überlegungen Doch es gibt keine Geschichte der Naturwissenschaft, die beanspruchen würde, gleichzeitig eine Geschichte der Kultur zu sein. Yehuda Elkana (1981)1

1. Mediengeschichtliche Perspektiven zwischen Physik und Grammatik Von heute aus betrachtet stellt sich die Mediengeschichte nicht nur als eine lange, weit hinter die aktuelle Verwendungsweise des Begriffs ‚Medium‘ zurückgehende Geschichte dar, sondern zugleich auch als eine Geschichte ohne diesen Begriff: Denn auch wenn das Wort ‚Medium‘ nicht „oder nur am Rande“ auftaucht, „muß die Begriffsgeschichte von ‚Medium‘, anders als die meisten Begriffsgeschichten, ihre Vorgeschichte (die Geschichte der Medien) miteinbeziehen; denn die heute vorherrschende ‚starke‘ Bedeutungsvariante von ‚Medium‘ ist Ausdruck einer anderen Sichtweise auf Mediengeschichte. Letztere ist Bestandteil des Begriffsfeldes ‚Medium‘ geworden“.2 Doch auch wenn eine solche Perspektive Aspekte gegenwärtiger Bestimmung von Medialität in Bereichen der Vergangenheit entdecken lässt, wo von diesem Begriff noch keine Rede war,3 so ist es doch ergiebig zunächst die Spur der tatsächlichen Begriffsverwendung aufzunehmen, um jene Stellen zu markieren, an denen sich die Reflexion aufs Medium als Medium aufnötigte.4 _____________ 1 2

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Yehuda Elkana, Anthropologie der Erkenntnis. Ein programmatischer Versuch [1981]. In: ders., Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, übers. v. R. Achlama. Frankfurt a.M. 1986, S. 11–122, hier S. 16. Jochen Schulte-Sasse, (Art.) Medien/medial. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck u. a. Stuttgart u. Weimar 2002, Bd. 4, S. 1–38, hier S. 3. Vgl. auch die vorbildliche Studie von Stefan Hoffmann, Geschichte des Medienbegriffs. (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jg. 2002) Hamburg 2002. Vgl. Stefan Andriopoulos, Archive – Felder – Medientheorien. In: Die Adresse des Mediums, hg. v. S. Andriopoulos, Gabriele Schabacher u. Eckhard Schumacher. (Mediologie, 2) Köln 2001, S. 209–211, hier S. 209. Fragt man also einerseits nach den Gründen, die die Übernahme des Lehnwortes Medium aus dem Lateinischen in verschiedene europäische Volkssprachen geboten sein ließ, dann schließt dies gerade den breiter angelegten Ansatz eines Rückgangs in die „Archive der Medialität“ nicht aus, der noch dort nach „impliziten Medientheorien“ (Ebd.). Ausschau

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Erik Porath

So ist im 17. Jahrhundert beim Übergang vom Lateinischen5 zu den modernen europäischen Sprachen das Lehnwort ‚Medium‘ in verschiedene Nationalsprachen eingegangen, insbesondere als terminus technicus unterschiedlicher Fachsprachen: Johann Heinrich Zedlers Universallexikon aller Wissenschaften und Künste (1732–1754) nennt neben dem mathematischen medium arithmeticum, dem meteorologischen medium climatis, dem astronomischen medium coelum, dem juristischen medium concludendi und medium responsum das der physikalischen Dioptrik zugehörende medium refractionis und das der Grammatik entstammende medium verbum. Dass ‚Medium‘ im deutschen Sprachschatz als Wort zunächst sowohl in einer naturwissenschaftlichen wie auch in einer grammatischen Verwendung auftaucht, bevor es dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch ein verbreitetes Verständnis von ‚Medium‘ als ‚vermittelndes Element‘ und, allgemeiner, als ‚Mittel‘ oder ‚Werkzeug‘ überlagert wird, lässt sich für einige Überlegungen zur heutigen Begriffsverwendungen fruchtbar machen.6 Erinnert man nämlich die frühe naturwissenschaftliche Bedeutung von ‚Medium‘ (eben auch im Sinne von Element)7 als Träger physikalischer oder chemischer Vorgänge, dann findet sich hier ein zentraler Anhaltspunkt für eine ‚Materialität der Medien‘ und damit eine spezifische, vor allem experimentelle Umgangsweise mit Stoff, mit Materie, ihren Eigenschaften und Effekten in den Naturwissenschaften. Von der anderen Seite, von der Grammatik her – im Altgriechischen bezeichnet Medium eine reflexive Zwischenform zwischen Aktiv und Passiv – lässt sich auf eine logische Komplikation schließen, in der sich das ‚Medium‘ einer dualistischen Unterscheidung entzieht und eine dritte Position einführt. Dieses Dritte, das Mediale, kann seinerseits entweder als Zwischenraum, -bereich, _____________ 5

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hält, wo von Medien explizit keine Rede ist oder wo das Wort, der Begriff bzw. ein funktionales Äquivalent nicht vorzukommen scheinen. „Das Wort Medium gab es schon bei den alten Römern. Das aus dem Neutrum des Adjektivs medius gebildete Substantiv bezeichnete: 1. Mitte in jedwedem Sinn; 2. Öffentlichkeit, Gemeinwohl; 3. Öffentlicher Weg, offene Straße, volles Leben, gewöhnlicher Sprachgebrauch. Also Erscheinungsraum überhaupt (folglich de medio fieri = beseitigt werden, verschwinden).“ (Walter Seitter, Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen. Weimar 2002, S. 25; vgl. Der kleine Stowasser. Lat.-dt. Schulwörterbuch, begr. v. Josef M. Stowasser, bearb. v. Michael Petschenig. Wien 1956, S. 311 f.). Ab dem „18. Jahrhundert wird auch die Sprache – wieder – als Medium bezeichnet: und von der Sprache aus die Kunst, die wiederum verschiedene Medien einsetzt.“ (Seitter, Physik der Medien, ebd., S. 31) Die Romantik (trotz Drang ins Geistige, in die Reflexion oder ins Gefühl) weise „dem ‚Medium‘ eher die Seite der materiellen Ermöglichung und Trägerschaft zu“. (Ebd., S. 32). Leo Spitzer weist auf den Zusammenhang von Element, Atmosphäre und Klima, sodann auf die Übergänge hin zu Äther und Fluidum (Newton) und den feinstofflichen Medien (Descartes’ matière subtile) hin (Leo Spitzer, Milieu and Ambiance. Zuerst in: Philosophy and Phenomenological Research 3 (1942), S. 169–218; zit. nach: ders., Essays in Historical Semantics [1948]. New York 21968, S. 179–316, hier S. 179 u. 201 ff.).

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-zone aufgefasst werden (und sich deshalb als ein striktes Dazwischen eigener Geltung jenseits sowohl des einen als auch des anderen Pols der Unterscheidung positionieren) oder als eine inklusive Indifferenz, die die Unterscheidung umgreift und damit beides zugleich ist. Es gilt demnach, exklusive und inklusive Aspekte der Medialität gleichermaßen zu beachten: Medien können vereinigende und ausschließende, verbindende und selektive, eröffnende und abschottende, anschließende und unterbrechende, schützende und filternde, verstärkende und abschwächende Charakteristika haben – und zuweilen entgegengesetzte gleichermaßen.8 Verlegt man sich nun bei der Bestimmung des Medienbegriffs nur auf jeweils einen der möglichen Aspekte als wesentlich (z. B. Materialität oder logische Form oder Funktionszusammenhang), dann kommt es zu jenen Vereinseitigungen in der Bestimmung von Medialität, die sich auch in divergierenden Grundtendenzen gegenwärtiger Medienwissenschaft spiegeln: zum einen in einer ‚harten‘ Version des Medienbegriffs, die der Materialität den Vorrang (sogar vor der Funktion) einräumt und die tendenziell dezentrierend, technizistisch, funktionalistisch, antihumanistisch, systemtheoretisch argumentiert; zum anderen in einer ‚weichen‘ Version, die das Medium eher als Instrument und Werkzeug auffasst und in den Dienst menschlicher Zwecke (der Kommunikation, der Organisation, der Reflexion, der Lebensbewältigung) stellt. Gegen diese letztere anthropozentrische Verengung des Medienbegriffs wäre also der Rekurs auf die naturwissenschaftliche Begrifflichkeit des Mediums nötig; gegen die Verabsolutierung der materialistisch-seinsgeschichtlichen Dezentrierung der Rekurs auf die Vergesellschaftung der Medien als Medienverbundsystem, das bei aller systemisch-technologischen Verfasstheit den Bezug zu den mit jenen Systemen und Technologien Vergesellschafteten, also zu den Mediennutzern nicht los wird, die eine der Quellen für unkalkulierbare Ereignisse darstellen.

2. Über das Fehlen einer Mediengeschichte der Naturwissenschaften Die gegenwärtige geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Erweiterung, gar Entgrenzung des Medienbegriffs gegenüber dem traditionellen medienwissenschaftlichen Verständnis birgt Gefahren und Chancen in sich. Während traditionelle Medienwissenschaft sich von der empirischen Sozialwissenschaft (im Sinne der Medienwirkungsforschung und der Soziologie und _____________ 8

Die Rede von der ‚Zäsur der Medien‘ kann als eine dekonstruktive Intervention aufgefasst werden, die die einseitige Bestimmung von ‚Medium‘ zurückweist (vgl. Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt a.M. 2002).

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Ökonomie der institutionalisierten Massenmedien) und der stark berufspraktisch ausgerichteten Journalistik her versteht und somit die Kommunikationsfunktion als Hauptkriterium der Medialität bestimmt, führt die kulturwissenschaftliche Erweiterung zwar auf Grundsatzfragen der Medialität zurück, man könnte auch sagen: zurück zu philosophischen Fragestellungen, verliert darüber aber leicht die naturwissenschaftliche Relevanz der Medialität aus den Augen. Dies liegt unter anderem daran, dass auch in der kulturwissenschaftlichen Erweiterung oft die Orientierung an Kommunikationsphänomenen als Ausgangs- und Zielpunkt vorherrschend bleibt. Beiden Ansätzen, dem kulturwissenschaftlich wie dem traditionell medienwissenschaftlich geprägten, fehlt in der Regel der Fokus auf Naturwissenschaft und deren Geschichte – und kommen Naturwissenschaften einmal vor, so bleiben sie eine Besonderheit und Ausnahme, die die Regel eher bestätigt als umzuschreiben in der Lage ist. Eine umfassende Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften fehlt demnach ebenso wie eine medienwissenschaftliche Darstellung der Wissenschaftsgeschichte.9 Was es immerhin gibt, sind begriffsgeschichtliche und medienwissenschaftliche Studien zu einzelnen Phänomenen und Begriffen, so etwa zum Experiment-Begriff10 oder zum Äther als Medium,11 kurz gesagt: Es gibt „Elemente einer Geschichte der Wissenschaften“ (Michel Serres), die auch Begriffsgeschichtliches12 und Medienwissenschaftliches13 bieten. _____________ 9

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In dem von ihm herausgegebenen Thesaurus der exakten Wissenschaften formuliert Michel Serres Grundsätze einer Darstellung von Grundbegriffen der Naturwissenschaften (Astrophysik, Biochemie, Chemie, Genetik, Geowissenschaften, Physik) einschließlich der Informatik und Mathematik, die auch medienwissenschaftliche Reflexionen enthalten (vgl. Michel Serres / Nayla Farouki (Hg.), Thesaurus der exakten Wissenschaften [Paris 1997]. Frankfurt a.M. 2001, S. IX–XXXIX). Vgl. den Beitrag von Gunhild Berg in diesem Band. Vgl. Albert Kümmel-Schnur / Jens Schröter (Hg.), Äther. Ein Medium der Moderne. (Medienumbrüche, 19) Bielefeld 2008. Der Beitrag von Catherine Goldstein, Das eine ist das andere: Eine Geschichte des Kreises. In: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, hg. v. M. Serres [1989]. Übers. v. H. Brühmann. Frankfurt a.M. 1998, S. 229–267, wird angekündigt unter dem Motto: „Eine Idee oder mehrere hinter ein und demselben mathematischen Begriff?“ (S. 7). Isabelle Stengers’ Beitrag, Die doppelsinnige Affinität: Der Newtonsche Traum von der Chemie im achtzehnten Jahrhundert. In: ebd., S. 527–567, stellt sich die wissenschaftstheoretische Frage: „Wie kann ein Begriff ‚obsolet‘ werden, wenn er ein Jahrhundert lang die Sprache, die Operationen und die Beweisführungen einer Wissenschaft geprägt hat?“ (S. 527). Pierre Lévy fasst in seinem Beitrag (Die Erfindung des Computers. In: Elemente einer Geschichte, ebd., S. 905–944) seine historiographische Darstellung selbst als eine medienwissenschaftliche auf, indem er eine dynamische Netzwerk-Metaphorik aufgreift: „Die Geschichte der Informatik läßt sich (wie vielleicht jede andere Geschichte auch) als unbestimmte Verteilung schöpferischer Momente und Orte betrachten, als eine Art löchriges, zerrissenes, unregelmäßiges Meta-Netz, in dem jeder Knoten, das heißt jeder Akteur, die Topologie seines eigenen Netzes seinen eigenen Zielen entsprechend bestimmt und alles,

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Von einer Mediengeschichte der Naturwissenschaften im eigentlichen Sinne kann also bisher nicht gesprochen werden, nur von mediengeschichtlichen Perspektiven auf die Geschichte der Naturwissenschaften. Auf der einen Seite sind in den gängigen medienwissenschaftlichen Darstellungen zu Geschichte und Systematik der Medien und des Medienbegriffs die Naturwissenschaften kein integraler Bestandteil, entsprechende Kapitel fehlen regelmäßig in der Systematik.14 Auf der anderen Seite spielt die medienwissenschaftliche Perspektive keine Rolle in der traditionellen Wissenschaftsgeschichtsschreibung und findet sich eher als indirekter Reflex in den neueren science studies, die sich mit den Praktiken im Labor und der materiellen Kultur von Experimentalsystemen beschäftigen.15 Neben der Untersuchung der tatsächlichen wissenschaftlichen Praktiken (science in the lab) sind hier vor allem die vermittelnden Funktionen der sozialen Einbettung der Wissenschaft medienwissenschaftlich relevant: ihre Einbettung in gesamtgesellschaftliche und allgemein kulturelle Prozesse, die die Transformation und den Transfer des Wissens zwischen verschiedenen Sphären der Wissensproduktion und der Wissensnutzung ermöglichen und sichern. Und es ist die Eigendynamik der technischtechnologischen Ebene der Geräte und Apparate, die sich nicht auf das reduzieren lässt, was sich auf der Ebene der Theorien oder der der Praktiken abspielt. Denn weder die reflexive Durchdringung des wissenschaftlichen Geschehens bzw. der prospektive Entwurf eines sozial-symbolischtheoretischen Rahmens noch das effektive praktische Wissen des wissenschaftlichen Handelns sind hinreichend, um Entwicklung und Reichweite der technischen Mittel, die im Forschungsprozess zum Einsatz kommen, zu begründen. Diese verdanken sich in ihrer Entstehung und ihrem Funktionieren oft ganz anderen thematischen Kontexten und folgen einer anderen Logik des Bauens und Bastelns, als sie für den spezifischen Forschungskontext erforderlich sind, in dem sie dann eingesetzt werden.16 _____________

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15 16

was von den benachbarten Knoten zu ihm gelangt, nach seiner Weise deutet. Jeder lebendige Knoten dieses Geflechts reinterpretiert die Vergangenheit, die ihm von anderen überliefert wird, als müßte sie geradewegs auf die eigenen Entscheidungen zulaufen, und entwirft eine Zukunft, in der sich seine Optionen geradlinig fortsetzen. Doch diese Zukunft liegt, ebenso wie das Bild der Vergangenheit, wieder in der Hand der nachfolgenden Knoten, und so ad infinitum.“ (S. 943). So beispielsweise in den als Überblick und Einführung auftretenden Bänden: Werner Faulstich (Hg.), Grundwissen Medien. München 31998; Christa Karpenstein-Eßbach, Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. Paderborn u. a. 2004; Detlev Schöttker (Hg.), Von der Stimme zum Internet. Texte aus der Geschichte der Medienanalyse. Göttingen 1999. Vgl. etwa Timothy Lenoir (Hg.), Inscribing Science. Scientific Texts and the Materiality of Communication. Stanford, Calif. 1998; Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001. Vgl. Peter Galison, Image and Logic. A Material Culture of Microphysics. Chicago u. a. 1997.

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Dabei ist die Relevanz von Instrumenten, Geräten und Apparaten für Wissenschaften unabweisbar: ohne Mikroskope keine Mikrobiologie, ohne Fernrohre keine moderne Astronomie und Astrophysik. Der Einsatz der Radio-Carbon-Methode für Datierungsfragen in der Archäologie und in der Kunstgeschichte ist eine ebenso epochemachende Zäsur wie der Einsatz von Ultraschallmessung in der Schwangerschaftsvorsorge und von Röntgengeräten in der medizinischen Diagnostik (und wiederum in der Kunstgeschichte). Mit der Einführung des Computers in viele Bereiche der Forschung ist die Verarbeitung großer Datenmengen erweitert worden; der Einsatz neuer bildgebender Verfahren (PET, fMRT) in der Hirnforschung hat zum neurowissenschaftlichen Boom seit den 1990er Jahren, insbesondere zur Emotionsforschung beigetragen – diese Liste ließe sich leicht verlängern. Auch wenn also in der neueren Wissenschaftsforschung fast nie explizit von Medien die Rede ist, lässt sich doch vieles, was und vor allem wie es dort verhandelt wird, als medienwissenschaftlich relevante Perspektive auffassen bzw. durch begriffliche Übersetzung als solche kenntlich machen: Die apparative Ebene des Wissenschaftsprozesses lässt sich dann als eine von Wahrnehmungsmedien reformulieren, die diskursive Ebene als eine von Kommunikationsmedien, die institutionelle als eine von Organisationsmedien. Explizite Bezugnahmen auf grundlegende mediale Kategorien jedoch finden sich in jenen Studien, die sich den Aufzeichnungsverfahren der Wissenschaften zuwenden.17

3. Die Materialität der Medien Die Konjunktur des medienwissenschaftlichen Nachdenkens verdankt sich ebenso sehr dem generellen cultural turn wie auch den technikgeschichtlich bedingten Umbrüchen unserer kommunikativen (Lebens-)Verhältnisse und den damit einhergehenden Umwälzungen in der Produktion, Distribution und Nutzung des gesellschaftlich verfügbaren Wissens. Wenn jedoch die Thematisierung grundlegender Kategorien der Medialität auf kulturwissenschaftliche Figuren wie den Boten zurückgreift,18 dann zeigt sich hierin ein gewisser Anthropomorphismus, mindestens jedoch Soziomorphismus, insofern die Materialität der Medien zugunsten ihrer Pragmatik und Performanz zurückgedrängt wird. Dabei ist doch die Materiali_____________ 17 18

Vgl. z. B. Rheinberger, Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg 1992; Lenoir, Science and Sensibility. Physiologische Ästhetik und die Normalisierung von Geschmack. 1860–1895. In: Die Adresse des Mediums [Anm. 3], S. 212–235. Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a.M. 2008.

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tät eine Dimension der so genannten Eigendynamik der Medien, ein neuralgischer Punkt ihrer Widerständigkeit gegenüber der Verfügbarkeit durch andere – seien diese nun Menschen, Nutzer, Machtkonstellationen oder selbst wiederum Medien. Die Geschichte der Technologien erfährt durch den Gesichtspunkt der Materialität eine ‚Erdung‘, die Historiker und Theoretiker darauf verpflichtet, auch die konkreten Realisierungen in Stoffen, Werkzeugen, Maschinen, Apparaten und Institutionen als eigene Dimension zu berücksichtigen, ohne die die Praktiken keinen wirklichen Gegenstand, keine greifbaren Mittel, keine dauerhaften Resultate, keine gesellschaftliche Relevanz hätten. Auch wenn es richtig bleibt, dass der Status und die Rolle dessen, was Materialität in einer Kultur jeweils bedeutet, immer auch von Sprache, gesellschaftlicher Praxis und von sonstigen sozial-kulturellen Rahmenvorgaben der vergesellschafteten Individuen abhängt, so lässt sich doch der Aspekt der Materialität nicht vollständig auf eine konstruktivistische Zuschreibung reduzieren. Der Begriff der Materialität wird also hier so verstanden, dass er zwar jenen Platzhalter bildet, der auf die Stofflichkeit des Mediums, dessen konkrete Realisierung verweist. Dabei geht es jedoch nicht allein um diese handfeste Greifbarkeit, sondern um jene Relationalität, die sich nicht auf ihre Relata reduzieren lässt, obwohl sie sich durch deren Tatsächlichkeit konstituiert; um jene Bedingungen, die nicht schon dem Bedingten inhärent sind; um jene Voraussetzungen, die jeder konstruktivistischen Setzung entzogen sind, obwohl diese von ihnen zehrt. Es ist erstaunlich, wie wenig die Naturwissenschaften bzw. die ihnen gewidmete Wissenschaftsgeschichte sogar in den ‚material-medial‘ interessierten Analysen von Kommunikation vorkommen – erstaunlich deshalb, weil sich unter dem Titel Materialität der Kommunikation19 „einmal ein Programm [verbarg], welches die reduktive Festlegung auf Mediensysteme und deren soziale Funktionen vermeiden und die ‚Kreativität‘, das heißt die suggestiven bedeutungsvollen Leistungen einer provokanten bis anarchischen Vielfalt material-medialer (d. i. auch technologischer) Dimensionen in Künsten und eben Medien einklagen wollte.“20 Dass gerade dort, wo es um die ‚Natur‘ der Medien geht, die der Medialität ‚zugrundeliegende‘ Natur verloren zu gehen scheint, sagt zunächst etwas über das Verständnis von Natur aus, das hier im Spiel ist: ‚Natur‘ der Medien meint in metaphorischer Weise deren ‚Wesen‘ und damit das Durchgängige, Cha_____________ 19 20

Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht / Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Die Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M. 1988. Pfeiffer, Anarchie der Wissenschaftsgeschichte oder Logik der Theoriendynamik? Von der Materialität der Kommunikation zur Medienanthropologie. In: Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen, hg. v. Josef Fürnkäs u. a. (Medienumbrüche, 13) Bielefeld 2005, S. 27–45, hier S. 38 f.

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rakteristische, Typische, Abstrahierbare, Allgemeine, also ein Bestimmbares, das als Form, Struktur oder Funktion beschreibbar ist – und nicht das Konkrete, Individuelle, Einmalige, Vorübergehende, Sich-Entziehende, also ein Unbestimmtes, das keiner Gesetz- oder Regelmäßigkeit unterliegt. Wenn nun die Frage nach der Medialität der Medien die Form- und Strukturierbarkeit ebenso wie ihre Funktionalität von der Materialität abzutrennen droht, dann fällt ihre generelle Erforschung hinter Einsichten zurück, die an Einzelmedien je schon deutlich hervorgetreten waren: nämlich die Untrennbarkeit der immerhin unterscheidbaren Aspekte von Medien. Es gilt also gegen die Tendenz zur Aufspaltung, die mit der Suche nach dem Allgemeinen von Medien und Medialität einhergeht, den relationalen Charakter aller Unterscheidungen in Erinnerung zu behalten und methodisch einzubringen.

4. Ansätze zu einer Relationierung von Wissenschaftsgeschichte und Medienwissenschaft zwischen Anthropologie und Physik 4.1 Yehuda Elkanas Anthropologie der Erkenntnis Die Wissenschaft wird selten als eine Summe der menschlichen Kultur (ähnlich wie Kunst oder Religion) betrachtet, weil man sie als etwas anderes, Einzigartiges, Abgetrenntes betrachtet.21

In einem programmatischen Aufsatz aus dem Jahre 1981 skizziert Yehuda Elkana seine Anthropologie der Erkenntnis als Gegenentwurf zu traditionellen Ansätzen, eine Geschichte der Wissenschaften und ihrer Rolle in der Kultur zu beschreiben. Für Elkana erweisen sich Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie je auf ihre Weise als beschränkte Perspektiven. So verstehe sich die Philosophie der Wissenschaften oft als Wissenschaftstheorie mit dem Anspruch auf „Rechtfertigung oder Widerlegung wissenschaftlicher Ergebnisse; kritische Untersuchung der Methodologie; Suche nach der Wahrheit, wobei Gewissheit verlangt wurde; Suche nach Absolutem und Universalem; Ausschaltung des ‚nur‘ Psychologischen oder ‚nur‘ Soziologischen. Vernunft in der Wissenschaftsphilosophie war epistemische Vernunft.“22 Die Wissenschaftsgeschichte hingegen bleibe gegenstandsmäßig auf die „Geschichte der abendländischen Naturwissenschaft“ beschränkt und trete methodologisch oft als „marxistische Analyse von Ideen im Gefolge von sozioökonomischen Bedürfnissen“ auf oder präsentiere eine „Geschichte losge_____________ 21 22

Elkana, Anthropologie der Erkenntnis [Anm. 1], S. 16. Ebd., S. 11.

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löster Ideen“, wobei „Ideen nur aus Ideen erwüchsen und [...] eine einmal gefasste Idee von einem ‚externen‘ Faktor wie der Gesellschaft mit ihrer politischen Ideologie und ihren technischen Bedürfnissen aufgenommen oder fallengelassen, gebraucht oder missbraucht werden könne.“23 Und wissenssoziologische Ansätze würden oft einer externalistischen Betrachtungsweise anhängen, die die Institution Wissenschaft im Sinne der Container-Metapher behandele: „Die Wissenschaftssoziologie versuchte, die Wissenschaft als eine Tätigkeit zu untersuchen, und setzte dabei häufig voraus, daß die wissenschaftliche Gemeinschaft sie durchaus objektiv studieren könne [...], ohne ein tieferes Verständnis davon zu besitzen, was die Wissenschaftler eigentlich tun [...], als wären die wissenschaftlichen Einrichtungen und deren Aufbau unabhängig von ihrem Inhalt.“24 Angesichts solcher Verkürzungen und Beschränkungen entwickelt Elkana eine anthropologische Perspektive, die die unterschiedlichen Wissenschaftskulturen mit ethnologischem Blick untersucht und nichts an dem System der Aufteilung von Wissensgebieten, wie es die westliche Kultur hervorgebracht hat, für fraglos gültig und kanonisch hält. Nach der anthropologischen Bedeutung von Wissenschaft zu fragen, heißt nicht nur, nach der Wissenschaft in der Kultur zu fragen, sondern die Kultur als Wissenschaft zu betrachten, so wie man die Kultur als Religion oder als Kunst betrachten kann. Elkanas Ansatz zielt darauf, eine prinzipielle Perspektive gegenüber der Kultur einzunehmen, um die unterschiedlichen Ausprägungen von Kulturen, an denen sich die Analyse konkretisieren muss, zu erfassen. Dabei ruft seine ‚Anthropologie der Erkenntnis‘ eine kulturgeschichtliche Kategorie auf, nämlich die des Theaters, um auf der ‚Bühne‘ die verschiedenen ‚Figuren‘ der Erkenntnis auftreten zu lassen, die daran beteiligt sind, das Wissen für eine Gesellschaft und in einer Kultur hervorzubringen, in Frage zu stellen und umzuschreiben: „Dazu ist die Einsicht erforderlich, daß alles Wissen den Regeln des epischen und dramatischen Theaters folgt.“25 Indem also dieser Ansatz der Wissenschaftsgeschichte die Wissenschaften in der Geschichte als kulturelle Systeme auffasst, die gegenüber anderen kulturellen Bedeutungssystemen wie Religion, Kunst oder common sense keinen Sonderstatus genießen, verlegt er sich auf die (kultur-)anthropologische Perspektive einer allgemeinen und ‚vergleichenden Wissenschaft‘, einer Wissenschaft des Wissens und damit einer Wissenschaft nicht nur wissenschaftlichen Wissens, sondern ebenso anderer Felder des Wissens in der Kultur. Dabei weist Elkana die universalistischen _____________ 23 24 25

Ebd. Ebd. Ebd., S. 13.

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Grundannahmen der (philosophischen) Anthropologie ebenso zurück wie die prinzipialistischen einer (kulturunabhängigen und geschichtsinvarianten) kognitiven Psychologie. Das eigentliche Medium zur Konstitution einer einheitlichen Betrachtungsweise – die eine rationale Analyse26 der Wissenschaften in ihrer historischen und systematischen Unterschiedlichkeit durchzuführen gestattet – wird also in einer Institution der ästhetischen Performanz gesehen, nämlich im Theater. Damit aber tritt deutlich hervor, dass hinter einer solchen Anthropologie ein mediales Dispositiv steht, welches der Konturierung des Unterfangens dient. Allerdings interessiert Elkana sich nur für den generellen Unterschied zwischen den beiden Medienformaten des dramatischen und des epischen Theaters: Während die antike Tragödie sich um die „Unentrinnbarkeit des Schicksals“ drehe, zeige das brechtsche epische Theater die Kontingenz in allem Geschehen – mit Benjamins Worten: „Es kann so kommen, aber es kann auch ganz anders kommen.“27 Für seinen eigenen Ansatz destilliert Elkana also „die einzig historisch sinnvolle Frage“ heraus: „Warum ist es so gekommen, wo es doch auch hätte anders kommen können?“28 Damit aber kann die Geschichte der Wissenschaften nicht als eine notwendige Abfolge dargestellt werden: „Dieser Auffassung zufolge hätte sich die Wissenschaft anders entwickeln können. Andere Entdecker hätten andere Naturgesetze entdecken können. Es liegt nicht Zwangsläufiges in der Einzigartigkeit der westlichen Wissenschaft.“29 Ein solcher Abschied von einer absoluten Perspektive in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung bezieht sich ausdrücklich nicht nur auf den Einbruch der Kontingenz auf der Gegenstandsseite, nämlich im Bereich der Wissenschaftsgeschichte selber, sondern ebenso auf dem Gebiet der Methodologie: Elkana betont die notwendige Unvollständigkeit und Selektivität der Perspektiven, die die Historiker der Wissenschaften wählen. Demnach gibt es auch keine Perspektive aller Perspektiven, denn diese wäre selbst wiederum nur eine besondere Behandlungsart historischer Ereignisse und Zusammenhänge, die in dem unabschließbaren Unterfangen endet, alles berücksichtigen zu wollen, dies jedoch nie zum Ende bringen zu können. Dementsprechend kann man sich zwar der „Vermehrung der Dimensio_____________ 26

27 28 29

Elkana geht es um „eine rationale Theorie für das Verstehen von Kulturen durch Vermehrung der Dimensionen“, nämlich „die Vervielfachung von Blickpunkten“ auf die Gegenstände der Analyse: Kultur als Wissenschaft betrachtet, als Religion, als Kunst etc. (Ebd., S. 17). Walter Benjamin, Was ist das epische Theater? (I). Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, Bd. 2.2, S. 525. Elkana, Anthropologie der Erkenntnis [Anm. 1], S. 121. Ebd.

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nen“30 in der Analyse der Geschichte der Wissenschaften verschreiben, muss jedoch nicht dem Glauben an Vollständigkeit verfallen. Was bedeutet es nun für eine ‚Anthropologie der Erkenntnis‘, wenn andere mediale Dispositive als Modelle der Wissenschaftsgeschichtsschreibung ins Spiel kommen? Kann sie dann noch Anthropologie bleiben? Und in welchem Sinne? Denn wenn man den Theaterapparat als ganzen in den Blick nimmt (und nicht nur die verschiedenen Schauspielformen), also eine medienwissenschaftliche Perspektive vertritt, die dem Menschen keinen privilegierten Platz – weder als Akteur auf der Bühne noch als Maschinist hinter den Kulissen oder als Zuschauer im Saal – einräumt, dann wird es klar, dass zur Materialität des Theaters nichtmenschliche Faktoren gehören. Daraus folgt weiterhin, dass die Rede von Anthropologie nicht als erkenntnistheoretische Grundlage, sondern nur als eine thematische Fokussierung – neben vielen möglichen anderen – fungieren kann, bei der man auf die Konsequenzen medialer Dispositive für Begriff und Selbstverständnis des Menschen und seiner Lebenswelt zu sprechen kommt. Ganz im Sinne einer Kantischen Argumentationslogik vom Aufbau philosophischen Wissens bildet die Beantwortung der Frage: „Was ist der Mensch?“ eher den Schlussstein und nicht die Grundlage kritischen Philosophierens. Und zur Beantwortung der Frage: „Was kann ich wissen?“ gehört heute auch eine Erörterung der medialen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Wissenschaft.31 Als prinzipielle Konsequenzen für die Begriffsgeschichtsschreibung folgt daraus nicht nur die Kenntlichmachung jeglicher – mehr oder weniger willkürlichen – thematischen Einengung, sondern auch die methodologische Folgerung, keine grundsätzliche Trennung zwischen kulturellen und naturwissenschaftlichen Bereichen vollziehen zu können – ohne deshalb nun immer alles zugleich thematisieren zu müssen. 4.2 Régis Debrays Mediologie Eine Berücksichtigung der technischen und der sozialen Dimension hat sich Régis Debray auf die Fahnen geschrieben: „‚Mediologie‘ nenne ich also jene Disziplin, die sich mit den höheren sozialen Funktionen und deren Beziehung zu den technischen Strukturen der Übertragung beschäf_____________ 30 31

Ebd., S. 17. Vgl. hierzu Erik Porath, Gedächtnis des Unerinnerbaren. Philosophische und medientheoretische Untersuchungen zur Freudschen Psychoanalyse. Bielefeld 2005, S. 30–34; Hartmut Böhme, Das Unsichtbare. Mediengeschichtliche Annäherungen an ein Problem neuzeitlicher Wissenschaft. In: Performativität und Medialität, hg. v. Sybille Krämer. München 2004, S. 215–245, hier S. 222.

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tigt.“32 In methodischer Hinsicht unterscheidet er drei Ebenen, auf denen das Mediale konkret untersucht werden könne und müsse, wenn man nicht in reduktiver Weise vorgehen wolle: „Als ‚mediologische Methode‘ bezeichne ich die von Fall zu Fall vorzunehmende Erstellung von möglichst verifizierbaren Korrelationen zwischen den symbolischen Aktivitäten einer Gruppe von Menschen (Religion, Ideologie, Literatur, Kunst etc.), deren Organisationsformen und deren Modi, Spuren zu erfassen, zu archivieren und zirkulieren zu lassen.“33 Diese Ebenen stehen in einem wechselseitig irreduziblen, einander bedingenden, aber nicht-deterministischen Verhältnis zueinander.34 Freilich: „Das Mittel zur Beförderung einer Botschaft – eine notwendige Durchgangsstelle – liefert ein wesentliches, aber beschränktes Element für die Analyse.“35 Autogene und heterogene Momente stehen also in einem Spannungsverhältnis zueinander, so wie die Eigendynamik einer Ebene zur Eigendynamik der je anderen. Konsequenterweise warnt Debray vor der Hypostasierung und Verdinglichung einzelner Aspekte der Medialität36 und hebt stattdessen den dynamischen und relationalen Charakter des medialen Geschehens hervor: „Die Objekte und Werke zählen nämlich weniger als die Operationen. Hüten wir uns vor der substanzialistischen Falle, indem wir das Medium als Dispositiv in die Mediation als Disposition integrieren. [...] Hier findet eine Umkehrung der Hierarchien statt: Der Text als ideale Einheit ist weniger relevant als das Buch als Objekt, und das Objekt ist seinerseits weniger relevant als seine Metamorphosen. Der Bereich, der uns interessiert, ist das Dazwischen, das Dazwischengeschobene, denn wir beschäftigen uns mit den Intervallen, den Vermittlern und Interfaces der Übertragung.“37 Statt also die Relata dadurch zu privilegieren, dass man sie als unabhängig _____________ 32 33 34

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Régis Debray, Für eine Mediologie [1994]. In: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hg. v. Claus Pias u. a. Stuttgart 1999, S. 67–75, hier S. 67. Ebd. „Ich gehe von der Arbeitshypothese aus, daß diese letzte Ebene einen entscheidenden Einfluß auf die beiden ersten Ebenen ausübt. Die symbolischen Produktionen einer Gesellschaft zum Zeitpunkt t lassen sich nicht unabhängig von den zu diesem Zeitpunkt in Gebrauch stehenden Technologien zur Speicherung erklären. Das heißt, die Dynamik des Denkens läßt sich nicht von der physischen Beschaffenheit der Spuren trennen.“ (Ebd.). Ebd. Antireduktionistisch betrachtet ist das Trägermedium zwar „die notwendige, aber allein nicht ausreichende Voraussetzung für eine mediologische Revolution“: „Die Maschinerie enthält [...] nur die eine Hälfte des Programms, das Milieu bestimmt den Rest, und die Kausalität ist eine zirkuläre.“ (Ebd., S. 69). Anders gesagt: Weder die Materialität noch die Sozialität noch die Operativität des Medialen selbst bekommen einen absoluten Vorrang zugesprochen: „Ein Medium wächst nur in dem Milieu, in dem Nachfrage danach herrscht – oder auch nicht.“ (Ebd.). Ebd., S. 67.

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von der Relation auffasst und ihnen eine jenseits aller Relationierung eigenständige Existenz, gar stabile Identität zumisst, geht die Mediologie nach Debray immer schon von der aktiven Relation des Miteinander-inBeziehung-Setzens aus, von den „Interaktionen zwischen Technik und Kultur“,38 von einem Zwischensein, ohne das die Relata nicht das wären, was sie sind. Mediologie ist demnach eine kontextualistische und vergleichende Medienwissenschaft ohne Anspruch auf Exklusivität des Gegenstandsfeldes oder der Methoden.39 In mediologischer Hinsicht kommt die zeitliche Dimension nicht nur als synchrone Mediendynamik, sondern als mediale Historizität ins Spiel. Deshalb kann es nicht um eine Konzentration auf „die im Trend liegende Massenmediologie“ gehen, sondern „die zeitgenössischen Medien lassen sich nur auf lange Sicht, in der Tiefe der Zeit entziffern.“40 Die Mediologie folgt also einem Komplexitätsgebot in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht, insofern sie nicht „das Medium im Singular“ untersucht, würde es sich dabei doch um eine „sehr mystifizierende und vereinfachende Weise“ der Analyse von Medialität handeln: „Einigen wir uns darauf, mit ‚Medium‘ im eigentlichen Sinne das System Dispositiv – Träger – Prozeß zu bezeichnen“.41 Darüber hinaus verpflichtet sie sich methodisch zu einer Medienspezifik, die neben der Operativität des medialen Prozesses auch die Materialität der Technik ebenso wie die soziale Einbettung zu berücksichtigen hat.42 Damit sind zugleich die Hürden für die Begriffsgeschichtsschreibung enorm angehoben, und der Begriffshistoriker der Medialität sieht sich in einer ähnlich unbequemen und schwierigen Lage wie der Mediologe. Sein Gegenstand ist hochgradig komplex und kontextuell und fordert ein gera_____________ 38 39

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Ebd., S. 67 f. „Die Medien konstituieren in unseren Augen kein autonomes, konsistentes Feld, das einer spezifischen Disziplin angehört, nicht nur weil sie in ihrer Überdeterminiertheit eine Vielzahl von Determinanten vereinen – wirtschaftliche, technische, politische, kulturelle, ideologische usw. –, was auf jeden Prozeß der Übertragung zutrifft, sondern weil sie nicht mehr als eine besondere, aufgeblasene, aber von einer globalen, permanenten prinzipiellen Frage abgeleitete Variation darstellen.“ (Ebd., S. 68). Ebd., und weiter: „Um sich als Mediologe und nicht als Kommunikationssoziologe mit dem Fernsehen zu beschäftigen, muß man die Perspektive unserer Vorväter einnehmen und es im Gegenlicht der byzantinischen Ikone, des Tafelbildes, der Fotografie und des Kinos untersuchen. Der Augenblick wird durch den Prozeß verständlich, so wie der Teil durch das Ganze verständlich wird.“ Ebd., S. 68 f. „Der Prozeß des Schreibens, ohne Angabe des Trägers oder des Netzes, vermag nicht die Natur eines Mediums auf konkrete Weise zu spezifizieren. Das Schriftzeichen auf einem Computerbildschirm ist in unseren Augen ein anderes Medium als dasselbe Zeichen auf einem Träger aus Papier: Es ist von der Graphosphäre in die Videosphäre übergegangen.“ (Ebd., S. 69).

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dezu unvermeidliches, weil strukturell notwendiges Dilettantentum. Medien sind immer schon in Bereichen mehrerer traditioneller wissenschaftlicher Disziplinen zugleich anzusiedeln, ohne dass die interdisziplinären Zusammenhangseffekte bisher genügend systematisch erforscht wären. Ein wesentliches Kennzeichen des Medialen, nämlich Vermittlung, wird so zur Maxime medienwissenschaftlichen Vorgehens: „Im Begriff Mediologie bezeichnet der Wortteil medio weder Medien noch Medium, sondern meint Mediationen (Vermittlungen), also die dynamische Gesamtheit der Prozeduren und Körper, die zwischen eine Produktion von Zeichen und eine Produktion von Ereignissen geschaltet sind. Dieses Dazwischen ähnelt dem, was Bruno Latour ‚Hybride‘ nennt, also Mediationen, die sowohl technischer als auch sozialer und kultureller Natur sind.“43 Im Zeichen einer solchen Vermittlung als medienwissenschaftliches (auch kulturwissenschaftliches) Vorgehen muss die etablierte Trennung der Aufgaben bzw. die selektive Aufgabenverteilung an unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen44 in Frage gestellt werden, ohne die Kompetenzen einzelner Disziplinen zu verabschieden oder zu ignorieren – ganz im Gegenteil. Stattdessen gilt es, die Zusammenhänge zwischen den Disziplinen und Wissensfeldern, die intern nicht reflektiert werden, selbst thematisch werden zu lassen: „Indem der Mediologe nicht sucht, was dahinter ist, sondern was dazwischen passiert, sieht er sich gezwungen, seinen Hocker zwischen drei Lehnstühlen aufzustellen: zwischen dem des Historikers der Technik, des Semiologen und des Soziologen – eine unbequeme, aber unumgängliche Position.“45 Eine interdisziplinäre Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte, die sich ebenso als integrale Naturwissenschafts- und Kulturgeschichte46 versteht, operiert also nicht in einem unbestimmten Jenseits der Disziplinen, sondern bestimmt sich gerade in der Spannung disziplinärer Perspektiven. Das medienwissenschaftliche Wissen bildet somit selbst keine absolute Metaposition außerhalb allen disziplinären Wissens, sondern eine zusätzliche Perspektive, die sich mit Grundfragen der Vermittlung in komplexen Konstellationen befasst. Ihre strukturelle, funktionale und dynamisch_____________ 43 44

45 46

Ebd., S. 72. „Das Zeichengebäude besteht aus drei Ebenen: aus der physischen (oder technischen), der semantischen und der politischen. [...] Die erste Ebene wurde der ‚Geschichte der Wissenschaften und Technik‘ zugeteilt, die zweite den ‚Kulturwissenschaften‘, die dritte den ‚Gesellschaftswissenschaften‘.“ (Ebd.). Ebd., S. 73. Dass Wissenschaftsgeschichte als eine integrierte Natur- und Kulturwissenschaftshistoriographie betrieben wird, ist bislang eher die Ausnahme als die Regel. Vgl. beispielsweise: Ohad Parnes / Ulrike Vedder / Stefan Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt a.M. 2008; Sigrid Weigel, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006.

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prozessuale Komplexität ergibt sich aus situativ und materiell bestimmten, kontextspezifischen Zusammenhängen, in denen sich historische, technische, soziale und semiotische, pragmatische und semantische, kognitive und affektive Dimensionen überlagern. 4.3 Walter Seitters Physik der Medien Im Spannungsfeld zwischen ‚philosophischer Anthropologie‘ und einer ebenso ‚philosophischen Kosmologie‘ siedelt Walter Seitter seine Physik der Medien an.47 Dabei greift er – im Anschluss an ältere Überlegungen Martin Heideggers, Hannah Arendts und vor allem Helmuth Plessners, Arnold Gehlens und Eric Voegelins – Régis Debrays Mediologie auf, um „einen gewissen ‚Materialismus‘ konsequent [zu] erproben“.48 Dies geschieht, indem die „Physik der Medien“ zunächst eine „deskriptive Physik“ sein will, d. h. ausgehend von Einzelmedien „eine physikalische Beschreibung des Objektes“ liefern und erst daran anschließend zur Begriffsklärung und theoretischen Verallgemeinerung übergehen will.49 Wenn er auch methodisch die Phänomenologie der Medien als Ausgangspunkt wählt, so zielt Seitter doch „mit der Physik der Medien auf die Materialität der Medien“.50 Hierbei ist allerdings ein Verständnis von Physik zugrunde zu legen, das an antike Auffassungen anknüpft: „Im Zentrum der Erkenntnisabsicht dieses Buches und daher auch seiner Methodik steht Philosophische Physik, die ich so definiere wie Aristoteles Physik definiert: Betrachtung und Bestimmung (Unterscheidung) von sinnlichen (wahrnehmbaren) Wesenheiten – die Aristoteles selber auch auf künstliche Dinge sowie auf Vorgänge ausweitet.“51 _____________ 47

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Seitters weitergehende systematische Absichten sind die Entwicklung der Medienwissenschaft „in Richtung der differentiellen Anthropologie (Medienanthropologie, Kulturanthropologie, Anthropologie des Politischen [...])“ und „in die Richtung einer Philosophischen Kosmologie – als Erweiterung der Philosophischen Physik“ (im Anschluss an das aristotelische Verständnis von physis). (Seitter, Physik der Medien [Anm. 5], S. 15). Ebd., S. 13. Ebd., S. 9. Zwei Einschränkungen seines Unternehmens kündigt Seitter an: Er behandelt keine Medien, deren Entwicklung sich erst seit dem 19. Jahrhundert vollzieht (nicht zuletzt, weil in neueren medienwissenschaftlichen Ansätzen diese im Mittelpunkt stehen, dafür gerade die Materialität der älteren, unspektakulären, alltäglichen Medien vernachlässigt worden ist); und er behandelt keine „Medien, die im Aggregatzustand von ‚Institutionen‘ auftreten und von der Religion über die Politik bis zu Kunst und Wissenschaft reichen“ (weil er das an anderen Orten schon gemacht hat). Stattdessen vollzieht er ein „einseitige[s] Insistieren auf ‚alten‘ und ‚elementaren‘ Medien“. (Ebd., S. 14). Ebd., S. 13. Ebd., S. 15.

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Wie Debray, so zielt auch Seitter auf eine Dezentrierung des medienwissenschaftlichen Ansatzes, indem weder der deskriptiven Perspektive (also dem Beobachter) noch dem Gegenstandspol (den Medien als Dingen oder Apparaten) noch der sozialen Sphäre (den Institutionen und Kommunikationen) eine privilegierte Position zugebilligt wird. Vielmehr geht es um ein In-Beziehung-Setzen52: „Da Medien immer etwas Äußeres sind, das jemandem – diese Instanz nenne ich den Medienherren oder Mediennutzer – etwas vermittelt, wird diesem Äußeren, wenn ihm überhaupt eine eigene Seinsweise zukommt, eine äußerliche Seinsweise zukommen.“53 Damit ist der Medien-Begriff allerdings immer schon relational und, wenn man so will, differentiell, weil Äußerlichkeit eine Entgegensetzung impliziert: Medien sind – mit George Spencer-Brown und Niklas Luhmann – immer Einheit des Unterschiedenen, eine Zwei-Seiten-Form. Medien können also per definitionem nicht absolut sein: Als Relationalität sind sie immer schon auf die Unterscheidung verwiesen, deren Einheit sie selbst sind.54 Seitters eigener Ansatz zur Klärung des Medienbegriffs nimmt zum einen die Bestimmung der Medien durch den „Leistungs- oder Funktionsbegriff“55 der Vermittlung bei Fritz Heider auf; zum anderen sieht er „die „grundlegende Medienfunktionalität“ darin, dass sie der „Ermöglichung von Erscheinung“ dienen.56 Einerseits sind sie also in aristotelischer Tradition Wahrnehmungsmedien (Luft oder Fernrohre), aber auch – in gegenläufiger Richtung – Steuerungsmedien (z. B. Fahrzeuge). Andererseits erbringen Medien Präsentierungsleistungen. In dieser zweiten Hinsicht können sie demgemäß als Existenzmedien bzw. Aufenthaltsmedien aufgefasst werden, die Zonen der Erscheinung, z. B. den „Erscheinungsraum“ _____________ 52

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Seitter macht keinen prinzipiellen Unterschied zwischen wissenschaftlichen, poietischen (nicht-, außer- oder vorwissenschaftlichen) und philosophischen Texten. Stattdessen befleißigt er sich der „Tychanalyse“: der „Konfrontation heterogener Aussagen, Herstellung weiter Aussagen-Kollegialität“. (Ebd., S. 16). „Meine tychanalytische Methode besteht darin, die heterogenen Physiken zu simultanisieren und zu kollegialisieren. Um dazu beizutragen, daß die Physik wieder so diskussiv [sic!] wird, wie sie das in der heidnischen Antike war, und daß sie sich auch von der unhaltbaren Illusion einer menschenlosen, techniklosen, kunstlosen Physik löst.“ (Ebd., S. 157). Vgl. hierzu auch: Physiken (Körpergeschichten, Wissenschaftspolitiken, Neue Physiken), hg. v. Frank Böckelmann, Dietmar Kamper u. Walter Seitter. (Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft, 23) Bodenheim 1998. Seitter, Physik der Medien [Anm. 5], S. 21. Löst sich die begriffliche Bestimmung von Medien vollkommen ab von dem, woraus Medien hervorgehen (konkrete Prozesse) und an dem sie sich vollziehen (Materialität) – werden Medien also absolut gesetzt –, dann kann es sich nicht mehr um Medien handeln, sondern um Unmöglichkeiten, die zwar bezeichnet, behauptet, geglaubt werden können, jedoch nur schwer oder gar nicht diskursiv, argumentativ und intersubjektiv zur Geltung gebracht werden können. Seitter, Physik der Medien [Anm. 5], S. 48. Ebd., S. 26.

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des Handelns, bilden.57 Medien fungieren demnach als Vermittlungsinstanzen (zu anderen, zur Umgebung, zur Welt) und bilden Präsentationsorte, an denen sich etwas zeigt bzw. ereignet. Im Rahmen einer solchen Bestimmung des Medienbegriffs können die institutionellen Aspekte der Medialität ebenso berücksichtigt werden wie einzelne „Menschmedien“58: „Medien sind Mittel und Techniken der bloßen Präsentierung, nicht der Produktion. Dabei verstehe ich unter Produktion die Umarbeitung der materiellen Außenwelt, die wiederum im Dienst der körperlichen Selbsterhaltung und Fortpflanzung steht. Zur Durchführung dieser Produktion müssen zwar auch Präsentierungsleistungen erbracht werden, die man entweder direkt als Medien bezeichnen kann oder für die Medieneinsätze bewerkstelligt werden müssen: Wahrnehmungen, Kundgebungen.“59 Um jedoch dem Medienbegriff eine gewisse Spezifizierung zu geben und nicht alles Mögliche zum Medium zu erklären, präzisiert Seitter, es handele sich bei Medien um Präsenzerzeugungs- und -umformungsapparate. Zur Präsentierung von etwas würden sie von bestimmbaren Voraussetzungen, von anderen Präsenzen ausgehen, um diese zu ‚transpräsentieren‘, zu verwandeln und umzuformen. Alles, was präsent ist, ist also immer Effekt von Vermittlungen: Von nichts kommt nichts.60 Seitter diagnostiziert insgesamt eine transdisziplinäre Erfolgs- und Verlustgeschichte des Medienbegriffs: Der Preis für seine gegenwärtige Ausbreitung ist seine kontextbezogene Spezifizierung, die dann wiederum als Ausgangspunkt für eine Verallgemeinerung fungiert – das einseitig zugespitzte Medienverständnis, das in lokalen Kontexten angemessen ist, wird zum Modell aller anderen Phänomene von Medialität erklärt. Die Berücksichtigung der Materialität der Medien zwingt allerdings dazu, die tatsächlichen Realisierungen der Medialität durch Beschreibung genau zu erfassen und kontextspezifisch zu analysieren. So hätten sich kulturwissenschaftlich geprägte Medientheorien oft zu schnell der Abstraktion hingegeben: „Die Vernachlässigung dieses [konkreten, physikalisch beschreibbaren] Mediums [etwa Geld, Geschäft, System Wirtschaft] bei den Medientheoretikern scheint anzuzeigen, daß sich diese von geisteswissenschaftlichen oder ‚kulturalistischen‘ Vorurteilen nur schwer lösen können.“61 Gleichzeitig _____________ 57 58 59 60 61

Mit Hannah Arendt kann man handlungstheoretisch von einer „Anthropologie des Erscheinens“ sprechen. (Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 21981, S. 193 ff.; zit. bei Seitter, Physik der Medien [Anm. 5], S. 434). Dieser Begriff von Werner Faulstich (Grundwissen Medien [Anm. 14]) findet sich bei Hoffmann (Geschichte des Medienbegriffs [Anm. 2]) und bei Seitter (Physik der Medien [Anm. 5]) zitiert. Seitter, Physik der Medien [Anm. 5], S. 432 f. Seitter setzt sich damit von einem Schöpfungsmodell ab, das voraussetzungslos anfängt, von nichts ausgeht (creatio ex nihilo). Ebd., S. 14.

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zeuge die ubiquitäre Präsenz des Medienbegriffs seit dem 19. Jahrhundert von einer durchgreifenden Erfolgsgeschichte selbst im Bereich der Physik, denn „die Elemente sind schon lange ausgeschieden und auch die Atome scheinen nur noch zusammen mit medialen oder quasimedialen Begriffen wie ‚Spannung‘, ‚Feld‘ oder ‚Information‘ (ko)existieren zu können. Die übrigen Wissenschaften aber werden offensichtlich von medienbezogenen Parolen oder Titeln wie linguistic turn, Kulturwissenschaften, iconic turn dominiert.“62 Als gleichermaßen unzureichend ist jedoch auch die gänzliche Verweigerung von Begriffsdefinitionen anzusehen: Auch wenn vom „Medien-Werden“63 statt von definitiven Bestimmungen des medialen Seins gesprochen wird, so kann ein solcher Verzicht auf explizite Begriffsklärung doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass begriffliche Bestimmungen, allerdings entsprechend unreflektiert, immer schon am Werke sind.

5. Medium und Geschichte: historische und systematische Konturen eines Begriffs Ohne unter ‚Begriff des Mediums‘ einen möglichst allgemeinen, zumindest der Tendenz nach absoluten Begriff zu fassen oder aber eine bloße Minimaldefinition der Medien im Allgemeinen oder wenigstens desjenigen Mediums, von dem konkret die Rede ist, zu liefern, gilt es, die Reden von ‚Medium‘ und ‚Medien‘ in ihrer historischen Vielfalt genauer daraufhin zu untersuchen, was im jeweiligen Falle damit gemeint ist und wie sich der spezifische Gebrauch dieser Worte, der entsprechenden Begriffe, gar Termini eines disziplinären Diskurses verstehen lässt.64 Damit wird deren Bedeutung selbst medialisiert, insofern ihre Bestimmung vom Gebrauch in konkreten historisch-diskursiven Situationen abhängt und somit immer schon verwiesen ist auf (nicht nur theoriegeschichtliche, sondern auch pragmatische und technikgeschichtliche) Kontexte. Die Bedingung der Möglichkeit zum Verstehen der Worte, Begriffe, Termini liegt also nicht nur in der Sprache als Medium ihrer Artikulation, sondern auch in den _____________ 62 63 64

Ebd., S. 32. Lorenz Engell / Joseph Vogl, Vorwort. In: Kursbuch Medienkultur [Anm. 32], S. 9–11, hier S. 10. Damit ist hier ausdrücklich nicht der methodologische Vorschlag verbunden, die Begriffsklärung ausschließlich zurückzubinden an konkrete Fassungen historisch bestimmter Medien(-konstellationen), denn dies könnte allzuschnell in die Sackgassen von unverbunden nebeneinanderstehenden Singularitäten führen, von denen eigentlich nicht mehr gesagt werden könnte, wie deren genealogische Zusammenhänge deutlich zu machen wären. Beispielhaft und äußerst lesenswert ist die begriffsgeschichtliche Studie Hoffmanns (Geschichte des Medienbegriffs [Anm. 2]) und Seitters kurze Begriffsgenealogie des Medienbegriffs (Physik der Medien [Anm. 5]).

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sonstigen diskursiven und außerdiskursiven Bedingungen, von denen Michel Foucault in der Archäologie des Wissens behauptet, dass ihre jeweilige spezifische Gemengelage bestimmte historisch mögliche Wortgebräuche, Begriffsbestimmungen und terminologische Zuspitzungen umgrenzt, selbst jedoch nicht außerhalb der Historie und der Historizität, sondern quasi auf derselben Ebene anzusiedeln sei: als ein historisches Apriori.65 Da die Sache der Medien und des Medialen nicht auf diejenigen Kontexte beschränkt werden kann, wo von ihnen explizit die Rede ist, bedarf es doch einer gewissen allgemeinen, vom heutigen Kenntnisstand ausgehenden Bestimmung ihrer Funktionalität, um dann das historische Vorkommen der Worte und Begriffe daraufhin beurteilen zu können, ob es sich wirklich um das handelt, wonach man gesucht hat. Umgekehrt lässt sich nur so, nämlich mit Hilfe eines Suchkriteriums, auch dort nach funktionalen Äquivalenten suchen, wo Wort und Begriff des Mediums nicht vorkommen. Andererseits ist nicht von vornherein auszuschließen, dass sich mit der historischen Recherche Einsichten in solche Begriffe und Funktionen von Medien erschließen, die sich vom gegenwärtigen Wortund Begriffsgebrauch deutlich unterscheiden, jedoch als eine wirkliche Bereicherung des Bedeutungsspektrums genommen werden können. Wenn unter Medium also zunächst nichts anderes gefasst wird, als dass es sich um etwas handelt, das Vermittlung ermöglicht, dass diese Vermittlung bestimmbare Effekte zeitigt, und dass diese Effekte auf Formierung von Differenz beruhen66, dann handelt es sich um eine weite Fassung des Medienbegriffs, der für Metaphorisierungen aller Arten offen ist. Will man allerdings der bloßen Metaphorisierung des Mediums im Allgemeinen, aber auch historischer Medien(-konstellationen) entgehen,67 so sind die konkreten Medientechnologien und -dispositive selbst zur Darstellung zu bringen und zu analysieren. Damit ist die Zwei-SeitenForm68 der Medien angesprochen, nämlich ein mehr oder weniger technisch-apparatives System zu sein und zugleich ein wesentliches Modul einer sozial-symbolischen Praxis zu bilden: zwei unlösbar aufeinander bezogene Aspekte medialer Phänomene, die zwar analytisch unterschieden, aber nicht strikt getrennt behandelt werden können.69 Während der apparativ-technische Aspekt dazu tendiert, wie ein disponibles Element _____________ 65 66 67

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Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens [1969]. Aus d. Frz. v. U. Köppen. Frankfurt a.M. 1973. Hiermit knüpfe ich an Fritz Heider, Niklas Luhmann sowie Debray und Seitter an. Vgl. hierzu Klaus Krügers Versuch, Medialität als ‚Bild – Schleier – Palimpsest‘ auszulegen (Klaus Krüger, Bild – Schleier – Palimpsest. Der Begriff des Mediums zwischen Materialität und Metaphorik. In: Begriffsgeschichte im Umbruch?, hg. v. Ernst Müller. (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jg. 2004) Hamburg 2005, S. 81–112). So Luhmann im Anschluss an George Spencer-Brown. Diesen Doppelaspekt betont die o.g. Mediologie von Debray.

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losgelöst von je konkreten Umständen und Inhalten behandelbar zu sein, dadurch jedoch seine spezifische Funktionsweise als selbständigen Aspekt in den Vordergrund der Betrachtung rückt, neigt die Thematisierung der sozialen Dimension dazu, die in sie eingebundenen technischen Medienapparate zu marginalisieren und für gänzlich instrumentalisierbar zu halten, mithin die Wirkung(sweise) von Medien als bloße Mittel oder Werkzeuge zu unterschätzen (dagegen mit Marshall McLuhan gesprochen: „First we shape our tools, then our tools shape us“).70 Schließlich: Nach der generellen Kritik an ‚werkimmanenten‘, rein formalen oder inhaltsorientierten Interpretationsansätzen zeichnet sich nun ebenso deutlich ab, dass die Ausschaltung der Inhaltsebene aus den Medienanalysen sich der Chance begibt, einen wesentlichen Aspekt bei der Formierung der tatsächlichen Operationalität der Medien zu erforschen. Deshalb kann eine medienwissenschaftliche Vorgehensweise auch und gerade in der Begriffsgeschichte keinen der genannten Aspekte von vornherein ausschließen: Die Relevanz oder Irrelevanz der zu beachtenden medienanalytischen Aspekte muss sich letztlich in der Durchführung am Material erweisen, in der produktiven Durchdringung des historischen Gegenstands.

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Ähnliches gilt natürlich für Begriffe: „Begriffe, die sich bei der Ordnung der Dinge als nützlich erwiesen haben, erlangen über uns leicht eine solche Autorität, daß wir ihres irdischen Ursprungs vergessen und sie als unabänderliche Gegebenheiten hinnehmen. [...] Es ist deshalb durchaus keine müßige Spielerei, wenn wir darin geübt werden, die längst geläufigen Begriffe zu analysieren und zu zeigen, von welchen Umständen ihre Berechtigung und Brauchbarkeit abhängt.“ (Albert Einstein, Ernst Mach. In: Physikalische Zeitschrift 17 (1916), S. 102).

VOR UND GEGEN DEN BEGRIFF

Otniel E. Dror

Die Emotion in der Maschine Der Leser wird einige belanglos anmutende Widersprüche bemerken, die zu glätten ihm nicht leicht fallen mag. Er wird sich aber daran erinnern, dass die menschliche Maschine eine [solche] Vitalität besitzt, dass sie ihre Bewegungen den verschiedenen Systemzuständen entsprechend zu modifizieren vermag und damit vermutlich eine Reihe verschiedener Wirkungen aus gleichen Ursachen erzeugt. William Beaumont, Experiments and Observations, 18331 Der vorliegenden Abhandlung [...] mangelt es an Schlüssigkeit. Das ist der Schwierigkeit geschuldet, geeignete Vorbereitungen treffen zu können, von denen ausgehend sich arbeiten ließe. Dieses Problem ergibt sich wesentlich daraus, dass verschiedene Tiere sehr große Stimmungsunterschiede zeigten. Joseph Barcroft, Some Effects of Emotion, 19302

In diesem Aufsatz untersuche ich die Geschichte eines zählebigen Begriffs von Emotion – Emotion als etwas, das sowohl die grundlegende Metapher als auch das Grundmodell vom Körper als Maschine herausgefordert hat. Emotion war jene Dimension des Selbst, die die Versuche, einen mechanistischen (vielleicht auch digitalen/elektronischen) Körperbegriff zu formulieren, in Frage stellte und bisweilen auch zunichte machte. Dieser oftmals unterbelichtete Emotionsbegriff überlebte angesichts einer Reihe von erfolgreichen Modellen mechanistischer Auffassung auch von Emotionen. Anders gesagt: Im Zuge des mechanistischen Begreifens von Körper und Emotionen verstand man Emotion als jene Dimension der Körpermaschine, welche diese Maschine der mechanistischen Sichtweise entzog. Emotion war damit und dauerhaft ein ‚vitales‘ oder ‚mystisches‘ Element einer mechanistischen Auffassung vom Körper. Die Konzipierung von Emotion als einer Herausforderung der mechanistischen Weltanschauung hat eine lange Geschichte. Das 17. Jahrhundert hindurch forderten Unregelmäßigkeiten bei der Beobachtung und Beschreibung von Naturphänomenen das mechanistische Modell von Natur und Kosmos heraus. Georg Ernst Stahl, der im 17. Jahrhundert lebende Arzt, Chemiker und Schöpfer der Phlogistontheorie, hatte iatrochemische wie auch mechanistische Erklärungen durch seine Beobach_____________ 1 2

William Beaumont, Experiments and Observations on the Gastric Juice, and the Physiology of Digestion. Plattsburgh 1833, S. 6. Joseph Barcroft, Some Effects of Emotion on the Volume of the Spleen. In: Journal of Physiology 67 (1930), S. 375–382, hier S. 375. Siehe auch Joseph Barcroft / R. H. E. Elliott, Some Observations on the Denervated Spleen. In: Journal of Physiology 87 (1936), S. 189–197, S. 192–193.

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tung in Frage gezogen, „dass die Größe seiner eigenen Blutgefäße variiert, diese sich abhängig von Emotionszuständen erweitern oder verengen“. Stahls antimechanistische Prinzipien, die aus seinem radikalen Protestantismus erwuchsen, waren, wie Johanna Geyer-Kordesch bemerkt hat, „den Befürwortern der ‚neuen‘ Philosophie von Descartes und der Physik Newtons“ ein großes Ärgernis, waren diese doch „fest entschlossen, ‚Gesetze‘ zu entdecken, und Mensch wie Kosmos für berechenbar zu erklären“.3 Diese antimechanistischen Äußerungen Stahls bereiteten dem Deutschen Vitalismus den Boden. Während des 18. Jahrhunderts machten die „Mechanismen“ der „Enlightened Automata“, so Simon Schaffer, buchstäblich und im übertragenen Sinne die Welt frei von Regelwidrigkeiten und erklärten „statt unsichtbarer und kapriziöser Agenzien nunmehr reguläre Operationen berechenbarer Konstrukte zu Quellen der Kraft“. Wie Adam Smith im 18. Jahrhundert formulierte, konnte „‚ein jeder Naturgegenstand [...], dessen Operationen nicht völlig regelhaft waren‘, und von denen man deshalb ‚annahm, sie würden von einer bestimmten unsichtbaren wie hinterlistigen Kraft kontrolliert‘, ‚den gemeinsten und kleinmütigsten Aberglauben‘ erzeugen“.4 Es war die Emotion, welches diese Arten von Erscheinungen begrifflich erfasste und sich einverleibte – Arten von Momentanereignissen, die die Grundvorstellung vom Körper (und von der Natur im Ganzen) als einer berechenbaren Maschine in Frage stellten. Abweichungen der Körper vom Ideal des Maschinenmodells verstand man im Sinne einer aufdringlichen, die ordnungsgemäße Funktion der Maschine störenden Emotion. In der modernen Gestalt der Emotion erwachten jene Erscheinungen zu neuem Leben, die man zuvor unter Berufung auf eine nunmehr verschwundene Physiologie vitalistischen oder nichtmateriellen Kräften zugeschrieben und von daher erklärt hatte. Im Unterschied zu anderen Kräften und Konzepten, die das Maschinenmodell infrage stellten, war die Emotion selbst ein Element der Maschine. Es verkörperte und modellierte Abweichungen innerhalb einer mechanistischen Welt, jedoch ohne Rekurs auf obsolete (vitalistische) Physiologien oder paraphysische Kräfte (wie etwa ‚Seele‘ oder ‚Geist‘). Die Emotion stellte nicht die grundlegenden und vorherrschenden Wissen_____________ 3

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Siehe Johanna Geyer-Kordesch, Georg Ernst Stahl’s radical Pietist medicine and its influence on the German Enlightenment. In: The Medical Enlightenment of the Eighteenth Century, hg. v. Andrew Cunningham u. Roger French. Cambridge u. New York 1990, S. 67–87, hier S. 76–78. Simon Schaffer, Enlightened Automata. In: The Sciences in Enlightened Europe, hg. v. William Clark, Jan Golinski u. Simon Schaffer. Chicago 1999, S. 126–165, hier S. 133.

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schaftsparadigmen in Frage, sondern erwies sich als beständige Herausforderung, denn es dekonstruierte das Maschinenmodell von innen her. Dieses Maschinenmodell des Körpers war erstens unerlässlich für die Wissenschaft der Arbeit – d. h. für das Grundmodell vom Körper als einer Arbeitsmaschine; zweitens für das wissenschaftliche Studium des Körpers als eines Gegenstands der Lebenswissenschaften – als ein Objekt des Wissens; drittens für den Körper als einer performativen Maschine (im Sinne einer Theorie des Theatralischen) sowie viertens für ein Modell vom Körper als einer gesunden oder kranken Maschine – d. h. als normal oder pathologisch. Die Versuche, einen mechanistischen Körperbegriff zu formulieren, standen aber ununterbrochen unter dem Verdacht der ‚Emotion‘. Die Konzeptualisierung von Emotion als dem Nicht-Mechanistischen manifestierte sich – abhängig von Kontexten und Inhalten – in vielfacher Weise. Es fand seinen Ausdruck in negativer wie positiver Hinsicht. In negativer Hinsicht wurde es erkennbar, als Wissenschaftler des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts den Versuch unternahmen, den Körper zu mechanisieren und mit Tiermaschinen zu arbeiten (oft erfolglos, der ‚Emotion‘ wegen). Es fand seine Darstellung in positiver Hinsicht, als Kritiker nach einem Element des Selbst suchten, das nicht als Maschinelles konzipiert werden konnte – und diese ‚Fünfte Kolonne‘ der Maschine in der Emotion fanden. Im Folgenden werde ich mich auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert konzentrieren, auf eine Zeit, in welcher die Emotion vermeintlich bereits mechanistisch begriffen und dem Modell vom Körper als Maschine eingegliedert worden war. Mir geht es hauptsächlich darum, die antimechanistische Konzeptualisierung von Emotion durch Stichproben aus einer breiten Palette von Schauplätzen dazustellen, um die Umfänglichkeit dieser Konzeptualisierung als eine Störung oder sogar Zerschlagung von Metapher und Modell der Körpermaschine aufzuzeigen. Wenn wir in einem physiologischen oder medizinischen Text lesen, ein Tier oder ein Mensch habe während einer wissenschaftlichen Beobachtung oder der Untersuchung seines Körpers eine ‚Emotion‘ gezeigt, so sollten wir hierbei nicht eine Beschreibung dessen erwarten, was wir normalerweise als Emotion wahrnehmen, nämlich verschiedene Arten der Kommunikation durch Verhalten, Gestik und Sprache. Vielmehr bedeutet diese Bemerkung, dass eine unerwartete Störung innerhalb des Labors oder der Klinik aufgetreten ist. Diese plötzliche Störung wird nunmehr als ‚Emotion‘ identifiziert. Emotion ist diesem Schema zufolge nicht deshalb ein Störfaktor, weil es mit dem Verstand in Widerspruch stünde. Es ist dies deshalb, weil es als jenes Ereignis definiert und mit ihm identifiziert

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worden war, das die Produktion verlässlichen Wissens unterbrochen und die Basismetapher und das grundlegende Bild vom Körper als einer Maschine destabilisiert hatte. Narrative über das plötzliche Auftreten von Emotionen nehmen verschiedene Formen an und zeigen eine Vielzahl verschiedener Mechanismen. Emotionen erscheinen in der zitternden Hand nervöser Physiologen, die unter wissenschaftlicher Beobachtung versuchen, Gesten fehlerfrei auszuführen – und dabei scheitern; in den überaktiven Eingeweiden des verängstigten Soldaten (dem früher als ‚Kriegsruhr‘ bekannten Phänomen); beim Chirurgen, der unmittelbar vor einer Operation einen Durchfall erleidet und den verzerrten Stoffwechselwerten jener Personen, die bei öffentlichen Auftritten unter Lampenfieber leiden.5 Emotion störte die Mechanismen, die für den Gedankenfluss des Geistes verantwortlich waren – wie Charles Darwin erklärte; unterbrach die Produktion von Wissen im Labor, indem es sich unerwartet während des Protokollvorgangs zeigte – wie der italienische Physiologe Angelo Mosso entdeckte; verwirrte durch seine Bedeutungsvielfalt den Richter bei der Durchführung von Vernehmungen – wie der österreichische Kriminologe Hans Gross beobachtete; vermengte das Normale mit dem Pathologischen – wie Morton Price erörterte und vereitelte den Konsens, indem es sporadisch und unberechenbar in verschiedenen Labors oder bei verschiedenen Tieren auftrat – wie Walter C. Alvarez berichtete.6 Richard Turner Dana erläutert in The Human Machine in Industry, dass der „Vergleich des Menschen mit einer Maschine [...] in verschiedenen Hinsichten sehr anregend, in anderen jedoch, zweier eigenartiger Unterschiede wegen, nicht ganz stimmig [ist]. Eine Maschine hat keine Emotionen und sie kann nicht ermüden, während die Menschen unter diesen Aspekten gesehen in außergewöhnlicher Weise Schwächen zeigen.“7 Oder wie Edward Gordon Craig in einer Kritik des Schauspielerkörpers in The _____________ 5

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Diese Berichte finden sich bei: Angelo Mosso, Fear, übers. v. E. Lough u. Friedrich Kiesow. London u. New York 51896, S. 253, 222; William Osler, The Principles and Practice of Medicine [1898]. New York 31900, S. 506; und Horry Mathew Jones, A Simple Device for Measuring Rate of Metabolism. In: Archives of Internal Medicine 27 (1921), S. 48–60, hier S. 55. Charles Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animals. London 1872; A. Mosso, Fear Anm. 5], S. 11 f.; Hans Gross, Criminalpsychologie. Graz 1898, S. 87–94 (Unterkap. 2: Erregungen), engl.: Criminal Psychology. A manual for judges, practitioners, and students. Boston 1911, S. 52; ders., ‚Reports of Societies‘ – ‚Boston Society for Medical Improvement‘. In: Boston Medical and Surgical Journal 120 (31. January 1889), S. 109–114; and Walter Alvarez to Walter Bradford Cannon, 24. August 1915. In: folder 1514, box 110, Walter Bradford Cannon Papers [H MS c40]. Rare Books and Special Collections, Harvad Medical Library in the Francis A. Countway Library of Medicine, Boston, Mass (Hereafter Walter Bradford Cannon [WBC]). Richard Turner Dana, The Human Machine in Industry. New York 1927.

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Actor and the Ubermarionette erörtert, sind die „bewegungen des schauspielers, der ausdruck seines gesichts und der klang seiner stimme [...] den strömen seiner emotion unterworfen [...]. [Die emotionen] bemächtigen sich seiner glieder und lenken sie nach ihrem willen [...] Die emotion bricht die stimme des schauspielers.“8 Otto Folin vom Department of Biological Chemistry der Harvard Medical School präsentiert eine ähnliche Emotionskonzeption. Um die Abweichungen zwischen seinen eigenen Messungen des Blutzuckers und denen zu erläutern, die „so gut wie alle [...] übrigen Forscher“ vorgenommen hatten, erklärte er, es sei „offenkundig, dass diese anderen Forscher eine Größe eingeführt haben, die hyperglykämische Werte begünstigt, eine Größe, die bei uns zufälligerweise fehlt. Wir sind der Meinung, dass es sich bei dieser zusätzlichen Größe um nichts anderes handelt, als den Emotionszustand der untersuchten Personen.“9 John B. Watson, der berühmte Behaviorist, machte in besonderem Maße auf die Tätigkeitsaspekte der inneren Organe aufmerksam wie auch auf die Störungen, die – von der Körper-als-Maschine-Perspektive aus gesehen – bei den Organen durch Emotionen entstehen. Während er über das reibungslose Funktionieren des ‚Organsystems‘(Viscera) spricht, stellt er die rhetorische Frage: „Was verstimmt sie [die Viscera]?“. „Schwer zu sagen“, fährt er fort, „es ist das störanfälligste System, das man sich vorstellen kann [...]. Eine einzige schlechte Nachricht kann den Verdauungsvorgang unterbrechen, das nächtliche Heulen einer Eule von einem Baum her in der Nähe Ihres Fensters vermag für eine gewisse Zeit Ihr Atmen ins Stocken zu bringen – Ihnen die Leichenblässe ins Gesicht zu treiben – und kann möglicherweise für Stunden in Ihrer ganzen inneren Maschine Veränderungen hervorrufen.“10 Emotionen erschienen auch in Gestalt kleiner, skizzenartiger Darstellungen von Störungen aus dem Leben der Eingeweide von Experten: Der „Chirurg, der jedes Mal vor einer wichtigen Operation wässrigen Durchfall hatte“, wie William Osler berichtete,11 oder der Arzt, „[welcher] nach _____________ 8

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Edward Gordon Craig, The Actor and the Ubermarionette [1907]. In: Craig on Theatre, hg. v. J. Michael Walton. London 1983, S. 82–87, hier S. 84, dt.: Der schauspieler und die übermarionette. In: ders., Über die kunst des theaters, übertr. u. hg. v. Elisabeth Weber u. Dietrich Kreidt. Berlin 1969, S. 51–73, hier S. 52. Otto Folin / Hilding Berglund, Some New Observations and Interpretations with Reference to Transportation, Retention, and Excretion of Carbohydrates. In: Journal of Biological Chemistry 51 (1922), S. 213–273, hier S. 262. Eine ähnliche Meinung findet sich bei Walter Bradford Cannon, Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear, and Rage. An Account of Recent Researches into the Function of Emotional Excitement. New York u. London ²1929, S. 73. John B. Watson, The Heart or the Intellect? In: Harper’s Monthly Magazine 156 (1928), Februar, S. 345–352, hier S. 345. Osler, The Principles and Practice of Medicine [Anm. 5], S. 506.

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einer Autopsie [...] dermaßen von der Angst gepackt worden war, sich infiziert zu haben, dass ihm das den Appetit verschlug.“12 Diese Beschreibungen stellten Emotionen als Versagen ‚disziplinierter‘ Körper dar, als verlässliche, standardisierte, kontrollierte und berechenbare Maschinen zu funktionieren. In klinischen Zusammenhängen verwischte das Eindringen der Emotion die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen. William Carpenter, der berühmte britische Physiologe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatte bereits im Jahre 1851 auf die ‚geläufige‘ Tatsache hingewiesen, dass die „Funktion des Herzens in sonderbarer Weise [...] durch Emotionsregungen beeinflusst wird. [...] Die geringfügige Unruhe, vom Eintreten medizinischen Personals bewirkt, führt bei vielen Patienten zu einer derartigen Beschleunigung des Pulses, dass man höchst besorgt sein müsste, wäre die wirkliche Ursache nicht bekannt.“13 Allgemeiner gesehen unterschieden Mediziner zwischen zwei möglichen Körperzuständen: einem emotionalen – den sie mit Verwirrung, Täuschung und Fehldiagnosen identifizierten; und dem anderen, emotionsfreien – den sie mit wahrem und verlässlichem Wissen in Zusammenhang brachten. Pathologische Befunde, die unter Einfluss von Emotionsregungen zustande gekommen waren, wie Glukosurie, erhöhter Blutdruck, atrophische oder hypertrophische Gastritis sowie erhöhter Stoffwechsel wurden von Ärzten als „flüchtige Emotion“ [„transient emotion“] oder „emotionale Begleiterscheinungen“ [„emotional concommitan(s)“] definiert. Das waren Pseudopathologien, die sich mit dem Auftreten einer Emotion einstellten und mit ihr wieder vergingen.14 Während der Emotionserregung näherte sich der Körper dem Pathologischen – ‚in Wirklichkeit‘ war er jedoch normal.15 _____________ 12 13 14

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A. Mosso, Fear [Anm. 5], S. 251. William Benjamin Carpenter, Elements of Physiology, including Physiological Anatomy. Philadelphia ²1851, S. 326. Henry Ashbourne Treadgold, Blood Pressure in the Healthy Young Male Adult. In: The Lancet (8. April 1933), S. 733–740, hier S. 739; ‚Peptic Ulcer‘ & ‚Ulcerative Colitis‘. Abschriften von Vorträgen von Harold G. Wolff. In: folder 5, box 14, n.d., Harold G. Wolff Papers, Medical Center Archives of New York – Presbyterian/Weill Cornell, New York [im Folg. HGW]; Oskar Diethelm an Ellsworth Moody, 25. Juni 1941, In: folder 2, box 4, ebd.; und Henry M. Feinblatt, Hyperglycemia – Based upon a Study of 2000 Blood Chemical Analyses. In: Journal of Laboratory and Clinical Medicine 8 (1923), S. 500–505, hier S. 505 f. Anon., ‚Effects of Emotional Excitement‘ (Editorial). In: Journal of the American Medical Association 105 (1935), S. 123. Die Herausgeber bezogen sich auf einen Artikel von Don Peter Morris. Der Aufsatz von Morris zeigte, dass der Emotionsgehalt der Begegnung mit dem Arzt für die auffälligen körperlichen Änderungen bei den Patienten und deren Familien verantwortlich war. Siehe Don Peter Morris, The Effects of Emotional Excitement on Pulse, Blood Pressure, and Blood Sugar of Normal Human Beings. In: Yale Journal of Bio-

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Walter B. Cannon von der Harvard Universität schrieb einem Briefpartner folgendes: Ein neuerlicher Fall des Raynaud-Syndroms wurde am M.G.H. operiert [...] Einige Tage nach der Operation visitierte der Arzt zusammen mit einer Gruppe Studenten die Patientin. Zu seinem Leidwesen waren ihre Finger blau wie immer. Am nächsten Tag schaute er allein nach ihr und die Finger waren wieder rosa. Einer meiner früheren Mitarbeiter war dabei und deutete die anormale Bläue als Resultat der Aufregung durch die Medizinstudenten.16

Oder wie Walter C. Alvarez von der Mayo Klinik erläuterte: Ein Mann wurde hier von einem exzellenten Mediziner untersucht, der keinen Zucker [im Urin] feststellte. In dem Krankenhaus, in das er zur OP verlegt wurde, fand man dann Zucker. Der Arzt [hier] zweifelte an diesem Befund und suchte, nachdem der Patient wieder genesen war, vergebens mehrere Male nach Zucker. Der Mann wurde dann einer Lebensversicherung wegen untersucht. Diese Nervenbelastung brachte den Zucker wieder zum Vorschein und er wurde abgelehnt.17

Im umgekehrten Fall, wenn auch weit weniger häufig, bestimmte man im Zustand der Emotionserregung erzielte Normalbefunde als pseudonormal – so z. B. im Falle von verlängerten PR-Intervallen beim EKG. Analog ihren pseudopathologischen Gegenparts, die sich mit der Emotion einstellten, verschwanden mit der Emotion die verlängerten pathologischen PR-Intervalle.18 Das emotional erregte Individuum verbarg seine Pathologien unter dem Mantel eines normalen und gesunden Körpers. Ein emotionalisierter Körper erschien somit als eine Störung bei der ordnungsgemäßen Abgrenzung und Unterscheidung des Normalen vom Pathologischen oder als eine Abweichung von dieser Unterscheidung. Die Aufdringlichkeit von Emotionen erstreckte sich auch auf Felder jenseits der Klinik oder der Begegnung zwischen Arzt und Patient. So gab es zyklische Abweichungen der körperlichen Verfassung, die dem Ablauf

_____________

16 17 18

logy and Medicine 7 (1935), S. 401–420. Für eine gründliche Untersuchung von klinischer Medizin und Emotionen siehe Otniel E. Dror, Deceiving Bodies. Metaphor, Knowledge, and Nerves. In: Die ‚Nervosität der Juden‘ und andere Leiden an der Zivilisation. Konstruktionen des Kollektiven und Konzepte individueller Krankheit im psychiatrischen Diskurs um 1900. Tagungsbeiträge, Bonn vom 11. bis 12. Okt. 2001, hg. v. Celine Kaiser u. Marie-Luise Wünsche. München u. a. 2003, S. 57–74. Cannon an John C. Whitehorn, 29. Mai 1933. In: folder 99, box 13, John C. Whitehorn Papers, Acc. 73–40, American Psychiatric Association [APA] Archives. Alvarez an Cannon, 24. August 1915 [Anm. 6]. Howard G. Bruenn, The Mechanism of Impaired Auriculoventricular Conduction in Acute Rheumatic Fever. In: American Heart Journal 13 (1937), S. 413–425, hier S. 420 f.; und George Draper / Howard G. Bruenn / C. Wesley Dupertuis, Changes in the Electrocardiogram as Criteria of Individual Constitution Derived from its Physiological Panel, zit. in: George Draper an Allen Gregg, 5. Juni 1937. In: Rockefeller Foundation Archives, Record Group 1.1. Projects, Series 200 A, box 77, folder 932, Columbia University – Constitutional Desease, 1937–1941, Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow, New York.

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von Werktagen und Wochenende folgten – und zwar unabhängig von der unmittelbaren Untersuchung oder dem lokalen emotionalen Milieu der Klinik oder des Labors. Die wiederkehrende „emotionale Verstimmung“ an den Wochenenden ließ die während der „Routine“ der Arbeitswoche niedrigen Blutdruckwerte nach oben schnellen, bemerkte eine Ärztin in Bezug auf den schwankenden Blutdruck ihres Patienten. „Jetzt verstehen wir“, schlussfolgerte ein anderer Arzt, „dass die am Montag erfolgten [Blutdruck-Schätzungen] nicht immer mit jenen vergleichbar sind, die man am Freitag macht.“19 Zuweilen gingen diese Beobachtungen auch in eine reflexive Richtung, wenn Forscher ihren eigenen Körper im alltäglichen Handlungsverlauf beobachteten. Das kapriziöse Verhalten der Körpertemperatur regulierenden Prozesse, so berichteten Helen Goodell u. a., folgte den kapriziösen Ereignissen des individuellen Emotionslebens dieser Personen.20 Das Verständnis von Emotion als demjenigen, welches die Abweichungen des Körpers von seinem maschinenartigen Verhalten im Labor erklärte, übertrug sich auch auf die physiologische Literatur, die den Körper als Produktions- und Arbeitsmaschine untersuchte. In diesem, letzteren Zusammenhang begriff man Emotion als etwas, das den Körper als Produktionsmaschine störte, zu Abweichung sowohl vom Modell des maschinenartigen Körpers führte, als auch von dem des Körpers als eines „menschlichen Motors“.21 Ein anschauliches Beispiel für dieses Verständnis von Emotionen bieten die Untersuchungen von Ugolino Mosso zur Ermüdung der Muskeltätigkeit (Ugolino ist der Bruder des berühmten italienischen Physiologen Angelo Mosso). In seiner im Jahre 1908 veröffentlichten Studie Über den Einfluss der Emotion auf die Muskelkraft hatte Ugolino Mosso beobachtet, wie die Produktivität seines Körpers unter dem Eindruck einer (überraschenden) Emotion von seiner üblichen Leistung abwich.22 Er hatte soeben, während eines Experiments zur Ermü_____________ 19

20

21 22

Selma C. Mueller, Hourly Studies of Blood Pressure in Cases of Hypertension and of Normal Subjects. In: Proceedings of the Staff Meetings of the Mayo Clinic 4, Nr. 21 (22. Mai 1929), S. 163; und George E. Brown, Determinations of Blood Pressure Carried Out Thee Times Daily by the Patient over a Period of Three and a Half Years in a Case of Essential Hypertension. In: ebd., S. 163–165, hier S. 165. Helen Goodell / David T. Graham / Harold G. Wolff, Changes in Body Heat Regulation Associated with Varying Life Situations and Emotional States. In: Life Stress and Bodily Disease. Proceedings of the Association, December 2 und 3, 1949, New York, N.Y., hg. v. H. G. Wolff u. a. Baltimore 1950. Siehe auch Dror, Creating the Emotional Body. Confusion, Possibilities, and Knowledge. In: An Emotional History of the United States, hg. v. Peter N. Stearns u. Jan Lewis. New York 1998, S. 173–194. Über den ‚Human Motor‘, siehe Anson Rabinbach, The Human Motor: Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity. New York 1990. Ugolino Mosso, Influence des émotions sur la force des muscles. In: Archives Italiennes de Biologie 50 (1908), S. 292 ff.

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dung der Muskeltätigkeit, aufregende Neuigkeiten erhalten und bemerkte, dass das plötzliche Auftreten einer Emotion seine Körpermaschine von ihrer üblichen und berechenbaren Ermüdungskurve ablenkte. Die Emotion übte ihre Wirkung auf Mossos Körper nicht dadurch aus, dass sie dessen Arbeitsmotivation beeinflusste, sondern indem es die materielle Konfiguration und die Energieniveaus der Körpermaschine änderte. Emotion war etwas, dass für die Fehler und Bruchstellen der Idealvorstellung systematisch verwalteter Körper-als-Maschinen stand und diese erklärte.23 Das experimentelle Interesse am störenden Eingriff der Emotion, die Beschäftigung mit täuschenden Effekten durch Emotionen in der Klinik – Täuschungen, welche die Unterscheidungen zwischen Normalem und Pathologischem verwischte – und das Versagen des Körpers, unter dem Einfluss von Emotionen als verlässliche Maschine zu fungieren – all dies fügte sich zusammen mit zeitgenössischer Literatur über die Gebräuche des Körpers für die Aufdeckung von Täuschung. Wie John Larson in seinem 1932 erschienen Buch Lying and its Detection erklärte, bildeten Angst und Wut, die nahezu ausschließlichen Faktoren für Blutdruckänderungen, „vermutlich die Hauptelemente des Täuschungszusammenhangs“ – „Es scheint unwahrscheinlich, den normalen Blutdruck eines Verdächtigen jemals mit Sicherheit zu bestimmen, ehe das Geständnis vorliegt.“24 Ein echtes Geständnis enthüllte nicht nur die Wahrheit – die soziale Wahrheit –, sondern auch die biologischen Wahrheit des Körpers – seinen ‚wirklich normalen Blutdruck‘. Denn ein geständiger Körper erfuhr keine Emotionen mehr, die dann zu falschen Messwerten führten (d. h. zu einem täuschend hohen Blutdruck). Eine frühe Erläuterung der pathologischen und täuschenden Auswirkungen von Emotion auf den Körper findet sich in Angelo Mossos Untersuchungen aus dem 19. Jahrhundert. Mosso bemerkt, dass der „wunderbar vollkommene Mechanismus“ der Pupille „zu funktionieren aufhört, sobald das Tier oder der Mensch gewalttätigen Emotionen ausgesetzt wird. Wenn sich die Gefäße durch Furcht, Kampf oder irgendeine andere Anspannung zusammenziehen, kommt es sofort zu einer Erweiterung der Pupille und das Bild verliert an Klarheit.“ Diesen „Sehfehler“ hatte Mosso studiert: Um das Ausmaß des unter dem Eindruck von Emotionen auftretenden Sehfehlers einschätzen zu können, habe ich gemeinsam mit Dr. Falchi folgendes Experiment durchgeführt. Wir nahmen einige kleine Schriftproben der Snellschen Ta-

_____________ 23 24

Siehe Dror, Counting the Affects. Discoursing in Numbers. In: Social Research 68 (2001), Summer, S. 357–378. John Augustus Larson, Lying and its Detection. A Study of Deception and Deception Tests. Chicago 1932, S. 199.

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feln und bestimmten dann die größte Entfernung, aus der diese von einer bestimmte Person leicht lesbar waren. Unter einem Vorwand beschimpften wir dann die Person und machten ihr Vorwürfe, um eine plötzliche und starke Emotionsregung in ihr hervorzurufen. Als wir danach dieselbe Person baten, das Geschriebene zu lesen, war ihr das aus der gleichen Entfernung nicht mehr möglich. Sie musste sich statt dessen der Tafel nähern, oftmals mehrere Schritte, um so gut wie vorher sehen zu können.25

Jahrzehnte später wurde genau das gleiche Experiment im Zusammenhang eines Lügennachweises wiederholt: Ich kann behaupten, die Tatsache entdeckt zu haben, dass zu lügen schlecht für die Augen ist. [...] Wenn ein Patient all die kleinen Buchstaben am unteren Rand der Sehschärfentafel lesen kann und einige von ihnen entweder absichtlich oder unachtsam falsch benennt, dann wird das Retinoskop einen Refraktionsfehler anzeigen. In vielen Fällen wurden Patienten aufgefordert, unkorrekte Altersangaben zu machen oder sich vorzustellen, sie seien ein Jahr älter [...] Jedes Mal, wenn sie dies taten, indizierte das Retinoskop einen Refraktionsfehler, [...] [und] es kommt zur Kurzsichtigkeit.26

Emotionen untergruben auch den wirklichen, den veröffentlichten Text. Sie fanden sich dort an verschiedenen, unvorhersehbaren Stellen. Während andere informative Textbestandteile – ‚Materialien und Methoden‘, ‚Ergebnisse‘, ‚Diskussion‘ – formgerecht und an kenntlich gemachten Stellen der Publikation erschienen, fanden sich Bezugnahmen auf Emotionen als Störungen in verschiedensten Abschnitten der Schrift und störten die systematische Struktur der veröffentlichten Beobachtungen.27 Diese grundlegende und umfassende Vorstellung von Emotion war eng verknüpft mit einem breiten und vielfältigen Spektrum an Praktiken zur Identifikation von Emotionen. Diese Praktiken offenbarten die Verbegrifflichung von Emotion als jenem Element des Körpers, das unerklärliche (d. h. antimechanistische) Erscheinungen als eine erklärbare, normalisierende ‚Emotion‘ erklärte. Eines der Grundmuster zur Identifikation einer Emotion mag diesen Punkt illustrieren. Oft wurde Emotion durch Ausschließung identifiziert. Forscher untersuchten und beseitigten alle vernünftigerweise zugänglichen und feststellbaren Quellen einer beobachteten unvermuteten biologischen Erscheinung. Wenn man keine solche Quelle fand, hatte man Emotionen ‚beobachtet‘ – das war die praktische Logik dieser Art von Beobachtungen. Man verfuhr so insbesondere während des 20. Jahrhunderts. Denn _____________ 25 26 27

A. Mosso, Fear [Anm. 5], S. 174 f. Kopie eines mit der Hand beschriebenen Papierstücks, vermutlich aus einem Magazin: Better Eyesight 14 (1930) 10, Spring, S. 12–14, folder 1019–3, box 46, Department of Defense Polygraph Institute. Beispiele hierfür finden sich in verschiedenen Textstellen, die in diesem Beitrag erwähnt werden.

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im 19. Jahrhundert war es immer noch möglich, vitalistische Kräfte oder auch ‚Lebenskräfte‘ zu identifizieren, und zwar bei Anwendung der gleichen Logik: Also nachdem man hinsichtlich eines beobachteten Phänomens alle physikalisch möglichen Kräfte ausgeschlossen hatte, blieben einem nur noch para-meta-physische Kräfte. Im 20. Jahrhundert wurden vitalistische und para-physikalische Kräfte an den Rand gedrängt und die Forscher begannen, nach Ausschluss aller möglichen substanziell-materialen Ursachen für das Auftreten unerwarteter physiologischer Erscheinungen, ‚Emotionen‘ zu beobachten. Diese Emotionskonzeption erklärt auch die scheinbar merkwürdige Verortung von Wiederholung. Die szientifisch-objektivistische Vollmacht zur Wiederholung des Experiments war verbunden mit der empirischen Beobachtung, dass bloße Repetition mit der Zeit Replikation hervorbrachte. Wiederholung war damit eine Praxis zur Erzeugung von Replikation, statt der Verifikation zu dienen. Diese Logik der Wiederholung, die zugleich auch eine Technik zur Beseitigung von Emotionen beinhaltete, war der Grund dafür, dass mit der bloßen Wiederholung eines Experiments oder einer klinischen Messung allmählich eine Replikation möglich war. Hans Jacob Schou erklärte das Mitte der 1930er Jahre folgendermaßen: Es ist bekannt, dass die ersten, an einem Patienten zu diagnostischen Zwecken vorgenommenen Stoffwechseluntersuchungen fast immer zu hohe Werte ergeben. Wird der Patient [jedoch] täglich untersucht, wie das bei sorgfältiger Untersuchung die Regel ist, werden die Werte fallen, bis ein bestimmtes, fixiertes Niveau erreicht ist. Erst hier ist man beim wirklichen Grundstoffwechsel angelangt. Die Ursache dieses Abfalls ist die Emotion [...]. Nur dann, wenn [der Patient] sich an diese Verfahren gewöhnt hat, wird die Ängstlichkeit verschwinden und die Messung korrekt sein.28

Tatsächlich kann – worauf einige Forscher ausdrücklich hingewiesen haben – der Physiologe nur dann folgern, die ‚Emotion‘ beseitigt zu haben, wenn ein Tier fortlaufend der gleichen Laborbehandlung ausgesetzt wird und dabei die gleichen Werte erzielt werden. Auch lässt sich in entgegengesetzter Richtung schließen.29

_____________ 28 29

Hans Jacob Schou, Some Investigations into the Physiology of Emotions. (Acta Psychiatrica et Neurologica, Suppl., 14) Copenhagen u. London 1937, S. 32. Siehe auch z. B. Treadgold, Blood Pressure in the Healthy Young Male Adult [Anm. 14], S. 735. Arthur B. Clawson, Normal Rectal Temperatures of Sheep. In: American Journal of Physiology 85 (1928), S. 251–270, hier S. 262–269; José Joaquin Izquierdo / W. B. Cannon, Studies of the Conditions of Activity in Endocrine Glands: XXIII. Emotional Polycythemia in Relation to Sympathetic and Medulliadrenal Action of the Spleen. In: ebd. 84 (1928), S. 545– 562, hier S. 550.

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Fazit Der hier von mir vorgestellte Emotionsbegriff war seinen Erfindern und Vertretern selber unsichtbar. Er erscheint nur im Nachhinein, aus unserer eigenen Analyse einer Mannigfaltigkeit verschiedener Berichte über sich aufdrängende, oftmals unerwartete und unvorhersehbare ‚Emotionen‘ im Kontext des Labors oder der Klinik. Emotion erfasste Abweichungen des Körpers vom Maschinenmodell Zusammenhang einer Wissenschaft und Kultur, die den Körper, das Labor und sogar das Leben nach Maßgabe der (berechenbaren) Maschine vorstellte und modellierte. Als William James von „Erscheinungen“ schrieb, „über die zufällig berichtet wird, die sich aber aufgrund ihres flüchtigen Charakters einer bedachtsamen Kontrolle entziehen“, so bezog er sich dabei auf „Geistererscheinungen“, „Häuser, in denen es spukt“ und andere ähnliche Phänomene. Da Beobachtungen von in Labors und Kliniken auftretenden unerklärlichen physiologischen Phänomenen klarerweise weder „Geistererscheinungen“ oder Gespenster noch die Materialisierung vitalistischer Kräfte betrafen, wurden sie von den Forschern als „Emotionen“ konzeptualisiert.30

_____________ 30

William James, What Psychical Research Has Accomplished [1892]. In: ders., Essays in Psychical Research. Cambridge, Mass. 1986, S. 89–106, hier S. 90.

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Oszillation und Reversibilität. Neue Begrifflichkeiten in der Krebsforschung? Vom Querdenken innerhalb von Begriffstraditionen Pro domo Erwin Schrödinger beginnt sein im Dezember 1944 erschienenes Buch Was ist Leben? Der physikalische Aspekt der lebenden Zelle mit folgenden Worten: „Bei einem Mann der Wissenschaft darf man ein unmittelbares, durchdringendes und vollständiges Wissen in einem begrenzten Stoffgebiet voraussetzen. Darum erwartet man von ihm gewöhnlich, dass er von einem Thema, das er nicht beherrscht, die Finger lässt.“1 Obwohl ich ein großer Bewunderer Erwin Schrödingers bin, möchte ich dieser manierlichen Zurückhaltung hier nicht folgen, denn nichts wäre bedauernswerter, als wenn sich die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen abkapseln, hermetisch verschließen und für Außenstehende in ihrer Terminologie und Methodologie undurchschaubar würden. Dies führt unweigerlich zu der schon oft zitierten Problematik der ‚Zwei Kulturen‘, dem kommunikativen Graben zwischen „scientists“ und „literary intellectuals“2 und schiebt jedem Versuch, interdisziplinär zu interagieren, schon im Vorfeld einen Riegel vor. Bekanntermaßen hat sich Schrödinger als Physiker ja selbst auch nicht an diesen Grundsatz gehalten, denn er hatte in seinem oben erwähnten Buch philosophisch sehr hintergründig die Frage nach dem Leben gestellt und somit ganze Generationen von Molekularbiologen in ihrer Suche nach dem Wesen der Vererbung bis hin zur Entdeckung und Aufklärung der DNA-Struktur inspiriert und beeinflusst. Daher möchte auch ich, natürlich mit weitaus weniger anspruchsvollem Ziel, an dieser Stelle den Versuch unternehmen, das Wesen von Begrifflichkeiten aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers in ihrem wissenschaftshistorischen Kontext zu beschreiben. Als konkrete Beispiele sollen die Begriffe ‚Oszillation‘ und ‚Reversibilität‘ herangezogen werden, deren Implikationen es für die gegenwärtige biomedizinische Grundlagenforschung im Folgenden zu erörtern gilt. _____________ 1 2

Erwin Schrödinger, Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. A. d. Engl. München u. Zürich 2003, S. 31. Charles Percy Snow, The Two Cultures. London u. New York 1993.

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Der hier vorliegende Text ist nicht, wie dies von meiner Seite her gewohnt und im Laboralltag durchaus üblich ist, an ein naturwissenschaftliches Peer-Review Journal adressiert; meine Überlegungen zielen vielmehr auf eine Leserschaft ab, die an einem Dialog zwischen Kultur- und Naturwissenschaften und einer philosophischen Durchdringung der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis interessiert ist. In meinem Beitrag möchte ich vor allem die Frage diskutieren, wie es mit Begriffstraditionen innerhalb meiner eigenen Disziplin aussieht und wie Querdenken mit entliehenen bzw. erweiterten Begriffen zu neuen Auffassungen führen kann. Denn nur wenn neue Begrifflichkeiten als Denkwerkzeuge zugelassen und nicht von Anfang an durch den gerade vorherrschenden Diskurs eingeschränkt werden, kann das Wissen in neue Richtungen erweitert werden.

Problematik Die Tatsache, dass sich die gegenwärtigen biologischen und biomedizinischen Forschungsansätze mit Themen wie der Entstehung des Lebens, der Seneszenz, der Morphogenese sowie den Ursachen von Tumorerkrankungen beschäftigen, macht eine kritische Sichtung der dort verwendeten Begrifflichkeiten notwendig. Mit anderen Worten, es stellt sich die Frage, mit welchen Begriffen die gewaltigen Umschwünge der Gentechnologie, der Molekularbiologie sowie der Krebsforschung beschrieben und erkenntnistheoretisch reflektiert werden. Die moderne biologische Grundlagenforschung bewegt sich, wie dies Kristian Köchy treffend formuliert, zwischen zwei Extremen. Auf der einen Seite tritt in dem Anspruch einer „Physik des Organischen“ die vollkommene Unterordnung der Biologie unter die Leitdisziplin der Physik hervor; andererseits führt die Übertragung biologischer Theoriensysteme auf den physikalischen Bereich zu einer „Organisierung der Physik“.3 Nimmt man Ersteres als Ausgangspunkt einer wissenschaftstheoretischen Betrachtung, so muss man feststellen, dass trotz der Tatsache, dass die Physik die am weitesten entwickelte naturwissenschaftliche Disziplin ist, ihre Begriffe ausschließlich an unbelebter Materie orientiert sind. Dies mag für die bisherigen Leistungen und Erfolge der Physik durchaus hilfreich gewesen sein, erweist sich aber bei dem Versuch, das Leben selbst darzustellen und zu beschreiben, als unzulänglich. Wird hingegen eine Organisierung der Physik vorgenommen, so muss man auf moderne Begriff_____________ 3

Kristian Köchy, Zwischen der „Physik des Organischen“ und der „Organisierung der Physik“. Überlegungen zu Gegenstand und Methode der Biologie. In: Journal of General Philosophy of Science 30 (1999), S. 56–85.

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lichkeiten wie Selbstorganisation, Synergetik, Hyperzyklus, deterministisches Chaos oder Autopoiesis zurückgreifen, die in jüngster Zeit im wesentlichen von Physikern bzw. Physikochemikern wie Ilya Prigogine,4 Hermann Haken,5 Manfred Eigen,6 Otto E. Rössler,7 aber auch von den Neurophysiologen Humberto Maturana und Francesco Varela8 als neue, holistisch geprägte Denk- und Versuchskonzepte in die Physik aber auch in die biologische Grundlagenforschung eingeführt wurden.9 Ein Transfer von Begrifflichkeiten oder Denkwerkzeugen setzt aber auch eine gewisse Akzeptanz voraus, die – wie wir seit Ludwik Fleck wissen – weitgehend vom jeweiligen Denkkollektiv einer Disziplin und dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs (‚Denkstil‘) bestimmt wird.10 Das heißt, es muss eine kritische Masse an Naturwissenschaftlern vorhanden sein, welche – um das Phänomen Leben zu verstehen – von einem deterministisch und linear geprägten Weltbild abrücken, um konzeptionell neue Wege zu beschreiten.11 Dies fällt oft sehr schwer, da die reduktionistisch orientierten Naturwissenschaften bisher eine beeindruckende Erfolgsgeschichte besonders im Bereich des technisch Machbaren aufweisen, andererseits aber in der Beschreibung von Lebensprozessen gescheitert sind. Auch müssen übertragene Begrifflichkeiten in ihrem neuen Umfeld experimentell überprüfbar sein und in ihrer rationalen Argumentationsführung zur Begründung weiterer wissenschaftlicher Fakten genutzt und, was bei weitem wichtiger ist, verbreitet werden. Mehr noch, der Transfer neuer Begrifflichkeiten in eine Nachbardisziplin erfordert unter Umständen sogar ein komplett neues Laborinstrumentarium, damit bestimmte Parameter, die bisher in der wissenschaftlichen Arbeit ignoriert bzw. nicht _____________ 4 5 6 7 8 9 10

11

Ilya Prigogine / Isabelle Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens. München u. a. 1981. Hermann Haken / Maria Haken-Krell, Entstehung von biologischer Information und Ordnung. (Dimensionen der modernen Biologie, 3) Darmstadt, 1989. Manfred Eigen, The Hypercycle. A Principle of Natural Self-Organization. In: Naturwissenschaften 58 (1971), S. 465–523. Joachim Peinke / Jürgen Parisi / Otto E. Rössler, Encounter with Chaos. Self-Organized Hierarchical Complexity in Semiconductor Experiments. Berlin u. New York 1992. Humberto Maturana / Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des Erkennens. A. d. Span. v. K. Ludewig. Bern, München u. Wien 1987. Hier siehe Fritjof Capra, Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt. A. d. Engl. v. M. Schmidt. Bern, München u. Wien 1996. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M. 1980 sowie ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, m. e. Einl. hg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle. Frankfurt a.M. 1983. Fulvio Mazzocchi, Complexity in Biology. Exceeding the Limits of Reductionism and Determinism Using Complexity Theory. In: EMBO Reports 9 (2008), S. 10–14.

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beachtet wurden, messtechnisch erfasst und analysiert werden können. Als Beispiel sei hier das Humane Genomprojekt und die damit verbundene (naive) Erwartung genannt, dass man mittels einfacher methodologischer Reduktion, nämlich durch die schon fast im industriellen Maßstab durchgeführte komplette Sequenzierung des 3 x 109 Basenpaare umfassenden menschlichen Genoms, das ‚Buch des Lebens‘ lesen und verstehen könne.12 Die Begrifflichkeiten, die in der ‚postgenomischen‘ Ära gewissermaßen zwangsläufig eingeführt werden mussten, stammten aus dem Bereich der Systemtheorie bzw. aus den Sozialwissenschaften; der leitende Grundgedanke war der des Netzwerks.13 Zellen als die Träger der Erbsubstanz DNA sind in der Tat Netzwerke, die „small world“ Charakter haben.14 Hierin stehen die Proteine in physikalischer Wechselwirkung und sind zu Modulen organisiert.15 Durch Etablierung hochentwickelter Apparaturen, wie der Massenspektroskope16 (Stichwort: „Proteomik“),17 und Methoden, die im Hochdurchsatzverfahren verschiedenste Parameter bestimmen, ist es heute prinzipiell möglich, die Gesamtheit aller in einer Zelle zu einem definierten Zeitpunkt vorhandenen Proteine zu analysieren, deren Interaktionen zu erfassen und diese systembiologisch im Computer zu simulieren.18 So war es nicht die Kenntnis einer statisch-linearen Abfolge von mehr als drei Milliarden Basenpaaren, die wenigstens ansatzweise das Lesen im ‚Buch des Lebens‘ ermöglichte, sondern vielmehr die Akzeptanz einer Begrifflichkeit oder eines Denkmodells, nämlich dass eine Zelle ein dynamisches Netzwerk darstellt, deren Proteom zusammen mit einem

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Ludger Honnefelder / Peter Propping (Hg.), Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen? Köln 2001. Michael Gleich, Web of Life. Die Kunst vernetzt zu leben. Hamburg 2002. Mark Buchanan, Small Worlds. Das Universum ist zu klein für Zufälle. Spannende Einblicke in die Komplexitätstheorie. A. d. Engl. v. C. Freitag. Frankfurt a.M. u. New York 2002. Albert-László Barabási / Zoltan N. Oltvai, Network Biology: Understanding the Cell’s Functional Organization. In: Nature Reviews Genetics 5 (2004), S. 101–113; J. A. Papin / Tony Hunter / Bernhard O. Palsson / Shankar Subramaniam, Reconstruction of Cellular Signalling Networks and Analysis of their Properties. In: Nature Reviews Molecular Cell Biology 6 (2005), S. 99-111; E. Almaas, Biological Impacts and Context of Network Theory. In: Journal of Experimental Biology 210 (2007), S. 1548–1558. Ruedi Aebersold / Matthias Mann, Mass Spectrometry-Based Proteomics. In: Nature 422 (2003), S. 198–207. Eine sehr allgemeinverständliche Übersicht zur Proteomik finden Sie unter: http://www. roche.com/pages/facetten/22/proteomics_d.pdf. Leo McHugh / Jonathan W. Arthur, Computational Methods for Protein Identification from Mass Spectrometry Data. In: PLoS Computational Biology 2 (2008), S. 1–12.

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metabolischen Netzwerk („Metabolom“)19 ein noch wesentlich komplexeres Geflecht, nämlich das „Physiom“20 ausbildet. Der wissenschaftshistorische Erfolg des immer noch aktuellen Werkes von Schrödinger erschöpft sich demzufolge nicht nur in seinem Einfluss auf nachfolgende Wissenschaftler. So war die Lektüre seines Buches für den britischen Nobelpreisträger Francis Crick Anlass genug, der ‚reinen‘ Physik den Rücken zu kehren und sich der Aufklärung der physikalischchemischen Struktur der genetischen Information zu verschreiben, sondern es liefert zudem ein frühes Beispiel dafür, wie physikalische Begrifflichkeiten nachhaltig auf die lebende Zelle übertragen wurden und diese fortan als ‚offene‘ Systeme charakterisieren. Somit sind lebende Systeme von den ‚geschlossenen‘ Systemen der klassischen Thermodynamik grundsätzlich zu unterscheiden. Wie aber werden nun herkömmliche oder gar neu geschaffene Begriffe ins eigene Arbeitsgebiet bzw. in Nachbardisziplinen transportiert? Was sind die Hürden und welche Voraussetzungen müssen dafür geschaffen werden? In der Frage, wie wissenschaftliche Gemeinschaften funktionieren, wie Wissen erarbeitet und verbreitet wird, ist die Metapher des ‚wissenschaftlichen Feldes‘ von Pierre Bourdieu sehr hilfreich. „Jedes Feld, auch das wissenschaftliche, ist ein Kräftefeld und ein Feld der Kämpfe um die Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes.“21 Das wissenschaftliche Feld wird implementiert durch „wissenschaftliches Kapital“, was synonym steht für Reputation, Ehre, Prestige, Glaubwürdigkeit, aber auch für Macht.22 Etwas vorsichtiger ausgedrückt bedeutet dies, dass wissenschaftliche Bestätigung und Anerkennung in erster Linie durch die Art der Rezeption durch eigene Fachkollegen sowie die sich daran anschließende Häufigkeit der Zitationen einer Publikation erfolgt. Wie oft eine bestimmte Forschungsarbeit zitiert wird, ist heute durch den sog. ‚impact factor‘ definiert, der Auskunft darüber gibt, wie sich – szientometrisch messbar – ein bestimmtes Resultat in der wissenschaftlichen Gemeinschaft verbreitet und entsprechend von anderen Arbeitsgruppen gewürdigt wird.23 Impact_____________ 19 20 21 22 23

Ein Metabolom steht für den Begriff der Gesamtheit der Stoffwechselvorgänge in einer Zelle. Ein Physiom steht für die Gesamtheit eines Organismus. Pierre Bourdieu, Vom Gebrauch der Wissenschaft, Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz 1998. Gerhard Fröhlich, Entstehung und Funktionen wissenschaftlicher Gesellschaften. In: Medizin – Bibliothek – Information 5 (2005) 3, S. 22–33. Fröhlich, Evaluation wissenschaftlicher Leistungen. In: ebd., 3 (2003) 2, S. 29–32.

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Faktoren sind sogar ein (u. a. aufgrund des ‚Matthäus-Effekts‘24 nicht unumstrittenes) Kriterium für die Evaluation von Forschungsgebieten, für Personalentscheidungen sowie für die Förderung bestimmter Forschungsprojekte.25 Im Umkehrschluss bedeutet dies aber, und das wäre hier als Hürde anzusehen, dass ‚Risikoprojekte‘, also Projekte, die sich jenseits des etablierten Forschungsdiskurses bewegen, nicht oder nur in unzulänglichen Ausmaßen gefördert werden und somit unter Umständen gar nicht durchgeführt werden können. „Wissenschaftlich risikoreiche Projekte“, so heißt es in einer Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), „sind dadurch charakterisiert, dass ihre Erfolgswahrscheinlichkeit – jenseits der jeder Forschung immanenten Ergebnisoffenheit – z. B. aufgrund des Standes der Vorarbeiten nur schwer einzuschätzen ist. Gerade interdisziplinäre Forschungsvorhaben, die neuartige Forschungsgebiete betreten, sind schwer kalkulierbar, können aber andererseits ein großes Erkenntnispotenzial versprechen.“26 Es herrscht eindeutig Handlungsbedarf. Dies hat ganz offensichtlich auch die DFG erkannt, denn vom Hauptausschuss wurden 2008 mit der Einführung von Reinhart-KoselleckProjekten die Mittel für besonders innovative und risikoreiche Forschungsansätze bereitgestellt. Aus wissenschaftspolitischen Gründen würde ich für meinen Fachbereich für eine stetige und enge Kooperation mit geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen plädieren, da meines Erachtens die Errichtung einer zeitgemäßen Wissenschaftstheorie und Begriffsgeschichte unerlässlich ist. „Empirisch gesehen enthält die sedimentierte Wissenschaft von heute Bestandteile der Philosophie von gestern. [...] Es geht also, kurz gesagt um die Möglichkeit oder sogar Notwendigkeit einer eigenständigen, den Fachwissenschaften vorgelagerten und für die Fachwissenschaften verbindliche Wissenschaftslehre.“27 Die unterschiedliche akademische Sozialisation der geisteswissenschaftlichen Fachkollegen hinsichtlich ihrer Forschungsweisen und -ansätze, ihrer Denk-, Rede- und Schreibkultur sowie ihrer Sachkenntnis, Texte hermeneutisch zu analysieren, wäre für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften sehr hilfreich. Zum einen könnten sich die Naturwissenschaftler in ihren Reflexio_____________ 24 25 26 27

Der ‚Matthäus-Effekt‘: positive Rückkopplung bei Zitationen. Der Begriff wurde von Robert K. Merton eingeführt, siehe Robert K. Merton, The Matthew Effect in Science. In: Science 159 (1968), S. 56–63. Werner Kutzelnigg, Kann man wissenschaftliche Leistung messen? Über die Aussagekraft von Publikationslisten und Zitierhäufigkeiten. In: Forschung und Lehre 8 (2001), S. 322 ff. Stellungnahme zur Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Perspektiven der Forschung und ihrer Förderung XII (2007–2011). Siehe: http://www.wissenschaftsrat.de/ texte/8476-08.pdf. Klaus Fischer, Braucht die Wissenschaft eine Theorie? In: Journal for General Philosophy of Science 96 (1995), S. 226–257.

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nen von externen Denkmethoden leiten lassen – metaphorisch ausgedrückt, die Brille wechseln –, um eine andere Sicht auf die eigenen Dinge zu bekommen, zum anderen könnte der Naturwissenschaftler dem Geisteswissenschaftler helfen, aktuelle Probleme der Wissenschaft aufzugreifen und im begrifflich richtigen Kontext zu erfassen und zu analysieren. Auf diese Weise ließen sich ähnliche Peinlichkeiten wie die ‚Sokal-Affäre‘ in den Geisteswissenschaften künftig vermeiden.28 Die Überwindung der ‚Last der Tradition‘ sowie das ‚Gewicht der Erziehung‘ einzelner Forscher wird auch von Fleck in seiner Erkenntnisphysiologie als außerordentlich bedeutsam angesehen, um wissenschaftlichen Fortschritt zu verstehen und zu gewährleisten.29 Ebenso bedeutsam ist es, dass Geisteswissenschaftler dank ihrer ausgeprägten Sprachkompetenz die durch naturwissenschaftliche Journale vorgegebene, teilweise rudimentär anmutende (englische) Sprache der Naturwissenschaftler insofern ‚reformieren‘, indem sie gemäß dem Kleist’schen Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden diese dazu ermuntern, ohne verlagstechnische Restriktionen, ihre wissenschaftliche Tätigkeit in essayistischer Manier aufzugreifen, um sie in einer elaborierten, eigenen Sprache tiefer zu hinterfragen.30 Ähnliche Mangelhaftigkeiten in der naturwissenschaftlichen Kommunikation und Ausdrucksweise sehen auch Ferdinand und Carsten Hucho in ihrem Beitrag zum Thema Sprache der Wissenschaftler – Wissenschaftssprache. Hier heißt es: „Wir lesen bei Chomsky, dass die Sprache als ein Spiegel des Geistes anzusehen ist. Nähme man dies gar zu wörtlich, stünde es schlecht um den Geist des Naturwissenschaftlers [...].“31 Dem ist weiter nichts hinzuzufügen, außer dass hier aus meiner Sicht, wenn schon ein solches Defizit bei Naturwissenschaftlern diagnostiziert und thematisiert wird, in der Tat ein erheblicher Handlungsbedarf besteht. Denn wie man über seinen Fachbereich nachdenkt, ist auch ein Indiz dafür, wie man in seinem Fachbereich denkt und urteilt.

_____________ 28 29 30 31

Alan D. Sokal / Jean Bricmont, Eleganter Unsinn, Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen, übers. v. J. Schwab u. D. Zimmer. München 1999. Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg 2007. Siehe auch John Brockman, Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft. A. d. Amerikan. v. S. Vogel. München 1996. Carsten Hucho / Ferdinand Hucho, Bad English, unsere weltmännische Sprachprothese. In: GEGENWORTE. Hefte für den Disput über Wissen, Themenschwerpunkt: Sprache der Wissenschaftler – Wissenschaftssprache, (2001) 7, Frühjahr, S. 18–20.

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Beispiele von Begrifflichkeiten. Oszillation und Reversibilität in der Krebsforschung Um meinen Beitrag etwas näher zu konkretisieren, möchte ich mich nun den Begriffen der Oszillation und Reversibilität zuwenden, die mich bereits seit längerer Zeit in meinem eigenen Bereich besonders interessieren und die als Denkmodelle in unserer künftigen Arbeit weiter untersucht werden sollen. Angeregt, diese Art von Forschung zu betreiben, wurde ich durch einen Künstler, der sich mit sog. ‚Evolutionärer Malerei‘ beschäftigt. Evolutionäre oder Selbstorganisierende Malerei ist eine Kunstrichtung, die zur Gestaltbildung die physikalischen Eigenschaften unterschiedlicher Farb- und Lösungsmittel ausnutzt, welche innerhalb eines zeitlichen Verlaufs spontane, zellähnliche Muster bilden, die dann als künstlerische Motive verwendet werden.32 Da sich mein zusätzliches Engagement auch darauf richtet, der Wissenschaft die Kunst und der Kunst die Wissenschaft näher zu bringen,33 habe ich die Labore meiner Abteilung Virale Transformationsmechanismen am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg für Künstler geöffnet. Hintergrund dieser Idee war, dass die Kluft zwischen den ‚Zwei Kulturen‘ auch als eine Schnittstelle produktiver Denk- und Visualisierungsweisen genutzt werden kann, um die Metaphorik und Kreativität des Künstlers mit der Forschungspraxis des Wissenschaftlers zu paaren.34 Für meine eigenen Forschungen waren die künstlerischen Visualisierungen diverser Formen der Selbstorganisation der Materie, ihrer inhärenten Ordnungsmuster und Zeitstrukturen von besonderer Bedeutung. Denn in der Tat, sucht man nach Kerngedanken in der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, die gleichermaßen auch in anderen Wissenschaftsbereichen wie Geisteswissenschaften, der Politik sowie der Wirtschaft zu Hause ist, so stößt man u. a. auf den Begriff der Oszillation. Etymologisch leitet sich das Wort aus dem Lateinischen ab und bedeutet soviel wie ‚Schwingung‘. Allgemein steht der Begriff der Oszillation für einen sich regelmäßig und gleichförmig wiederholenden Vorgang. Oszilla_____________ 32

33

34

Uwe Reichert, Bilder die sich selber malen – Gestaltbildung in nicht-linearen Systemen. In: Spektrum der Wissenschaft (1996), Sept., S. 115 f.; Volkhart Stürzbecher, Bilder, die sich selber malen. In: Spektrum der Wissenschaft (2001), April, S. 78–116; ders., Morphogenesis, Cosmic-Vision Production. http://www.stuerzbecher.de. Frank Rösl, Wissenschaft und Kunst: eine interdisziplinäre Annäherung. In: Technisierung des Lebendigen? Zum Verhältnis von Wissenschaft, Ethik und Kunst im Zeitalter der biotechnologischen Revolution, hg. v. Katrin Platzer. (Medizin – Ethik – Recht) Göttingen 2008 (im Druck). Siehe auch: FTE Info. Magazin für europäische Forschung, Themenschwerpunkt: Kunst & Wissenschaft, 2004.

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tion impliziert und antizipiert demnach die Existenz periodischer bzw. zyklischer Prozesse, die sich innerhalb einer gewissen Zeitachse ereignen. Oszillationsvorgänge sind nicht nur durch ihre Frequenz, sondern auch durch ihre Amplitude und Dauer definiert. Abzugrenzen ist hier der Begriff der Fluktuation, der auf eine eher unregelmäßige und zufällige Veränderung bzw. Schwingung abzielt. Oszillationen im weitesten Sinne – und dies sollte man nicht vergessen – sind auch in einem erkenntnistheoretischen Kontext bedeutungsvoll, wie Alfred North Whitehead in seinem Buch Wissenschaft und Moderne Welt zeigt: „Betrachten wir als Beispiel für die Auswirkungen der abstrakten mathematischen Entwicklung auf die Wissenschaft jener Zeit den Gedanken der Periodizität. [...] Ohne die periodische Wiederkehr wäre Erkenntnis unmöglich, da wir nichts auf unsere früheren Erfahrungen beziehen könnten.“35 Auch in der begriffsgeschichtlich orientierten Wissenschaftssoziologie Ludwik Flecks spielt der Begriff der Oszillation eine wichtige Rolle: „Diese Wissenschaft, die verschiedene Denkstile vergleicht und den Kreislauf der Gedanken innerhalb der verschiedenen Denkstile untersucht, stellt fest, daß das Erkennen drei grundsätzliche Etappen durchläuft: Eine Entdeckung erscheint zuerst als ein schwaches Widerstandsaviso, daß die sich im schöpferischen Chaos der Gedanken abwechselnden Denkoszillationen hemmt. Aus diesem Aviso entsteht auf dem Weg des sozialen, stilisierenden Kreisens der Gedanken ein beweisbarer, d. h. ein Gedanke, der sich im Stilsystem unterbringen lässt. Die weitere Entwicklung verändert ihn in einen – im Rahmen des Stils – selbstverständlichen Gedanken, in eine spezifische, unmittelbar erkennbare Gestalt, in einen ,Gegenstand‘, demgegenüber sich die Mitglieder des Kollektivs wie gegenüber einer außerhalb existierenden, von ihnen unabhängigen Tatsache verhalten müssen. So sieht die Evolution dessen aus, was wir ‚wirklich‘ nennen.“36 Alles Erkennen ist prinzipiell ein oszillierender Vorgang, nicht nur im neurophysiologischen Sinne, sondern ein stetiges periodisches Schwingen zwischen Theorie und Praxis, zwischen Experiment und Interpretation der Daten, zwischen eigener Forschung und Akzeptanz in der ‚scientific community‘. Oszillation ist ebenfalls gekoppelt an den Grundgedanken der Reversibilität, da periodische Vorgänge wiederkehren und sich demnach wiederholen. Schwingungen, auf die dies zutrifft, sind in der Physik oder Astronomie oft zu finden, und dort kann man auch Gesetzmäßigkeiten anführen, die mathematisch gesichert sind und deren Wiederkehr und _____________ 35 36

Alfred North Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt. A. d. Engl. Frankfurt a.M. 1988, S. 45. Fleck, Erfahrung und Tatsache [Anm. 10], S. 75 f.; vgl. auch S. 160 f.

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Rhythmik man erklären kann. Die Schwingung des Quarzkristalls in einer Quarzuhr oder der Begriff des oszillierenden Universums und dem damit verbundenen Postulat einer Expansion und späteren Kontraktion innerhalb eines definierten Raum-Zeit-Kontinuums seien hierbei als bekannte Beispiele genannt. Andererseits braucht man gar nicht so weit zu gehen, um Oszillationen zu beschreiben, denn diese lassen sich auch in der Chemie, und dort im bereits erwähnten Kontext der Selbstorganisation der Materie, visualisieren. Man denke hierbei nur an die Belousov-Zhabotinsky-Reaktion37 als klassisches Exempel für einen homogenen chemischen Oszillator. Der Begriff Oszillation hat inzwischen selbst in der Biologie seinen Platz gefunden, wie dies durch zahlreiche Publikationen zur Tag-Nacht-Rhythmik (der sog. Chronobiologie), zur Erregungsleitung des Herzens sowie zur Nerventätigkeit im Gehirn dokumentiert ist.38 Wie steht es aber mit der Krebsforschung? Kann man auch hier Oszillationen im weiteren Sinne nachweisen und gibt es demzufolge auch eine Reversibilität von Tumorerkrankungen? Wie ist es um die Akzeptanz solche Begrifflichkeiten im eigenen Arbeitsumfeld bestellt? Krebs wurde bis vor etwa 20 Jahren konzeptionell immer als eine molekularbiologische Einbahnstraße begriffen. Hierbei stand der Verlust genetischer Information in Form sog. Tumorsuppressorgene im konzeptionellen Vordergrund,39 ein Befund, der besonders mittels gentherapeutischer Ansätze kompensiert werden sollte. Erst durch das Verständnis sog. epigenetischer Phänomene40 wurde deutlich, dass viele Gene, welche während einer Mehr-Stufen-Karzinogenese41 eine Zelle nicht mehr unter Kontrolle halten, ‚epigenetisch‘ abgeschaltet werden.42 Mit anderen Worten, genetische Information geht bei der Tumorigenese nicht irreversibel ver_____________ 37 38 39 40 41

42

Oszillierende chemische Farbreaktion die kreisförmige Muster in einer Petri-Schale ausbilden. Siehe auch: Irving R. Epstein / Kenneth Kustin / Patrick De Kepper / Miklós Orbán, Oszillierende chemische Reaktionen. In: Spektrum der Wissenschaft (1983), Mai, S. 98–107. Zur Übersicht siehe Alberto Gandolfi, Von Menschen und Ameisen. Denken in komplexen Zusammenhängen. Zürich 2001. Robert A. Weinberg, How Cancer Arises. In: Scientific American 275 (1996), S. 62–70. Epigenetik ist, vereinfacht ausgedrückt, eine übergeordnete enzymatische Maschinerie, bei der die Zelle nicht die Primärsequenz der DNA verändert, denn dies würde Mutationen hervorrufen, sondern nur einzelne Nukleotide und daran bindende Proteine modifiziert. Krebs ist kein Prozess, der nur mit einer Veränderung einer Zelle einhergeht, sondern es müssen mehrere zellschädigende Ereignisse eintreten, damit eine Zelle nicht mehr kontrolliert im Gewebeverband wächst, sondern zum Tumor entartet. Deshalb spricht man von einer ‚Mehr-Stufen-Karzinogenese‘. Siehe auch: L. M. F. Merlo / J. W. Pepper / B. J. Reid / C. C. Maley, Cancer as an Evolutionary and Ecological Process. In: Nature Reviews 6 (2006), S. 924–935. Manel Esteller, Epigenetics in Cancer. In: New England Journal of Medicine 358 (2008), S. 1148–1159.

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loren, sondern kann potentiell reaktiviert werden. Zwischenzeitlich sind bereits mehrere Substanzklassen bekannt, welche epigenetische Abschaltungsvorgänge umkehren und somit neue Therapieansätze in der Krebsbekämpfung ermöglichen.43 Nun konnten wir aber jüngst belegen,44 dass es offensichtlich innerhalb einer Population von Tumorzellen auch Zustände gibt, in denen einzelne Zellen keine malignen Eigenschaften mehr aufweisen, und dies ohne das oben genannte Substanzen zum Einsatz kamen. Solche Zellen konnten wir isolieren und darlegen, dass diese entweder altern (was bei Tumorzellen üblicherweise nicht vorkommt, da sie immortal sind) bzw. in Versuchstieren, im Gegensatz zur parentalen, d. h. ursprünglichen Zellpopulation, keine Tumore mehr hervorrufen. Kultiviert man aber solche Zellen wieder für längere Zeit im Labor, dann kommt es abermals zur malignen Reversion, da der Zustand der ‚Normalität‘ offensichtlich nicht stabil ist. Zellen mit solchen ‚oszillierenden‘ Eigenschaften konnten mittels einer komplizierten experimentellen Strategie nachgewiesen werden.45 Die Quintessenz unserer Untersuchung war nun, dass wir belegen konnten, dass Zellen, die vielschichtige, hochadaptive und dynamische Netzwerke darstellen, offensichtlich auch einen oszillierenden Charakter haben. Dieses Ergebnis ist nicht nur konzeptionell hinsichtlich der Reversibilität von Krebs von großem Interesse, sondern es gäbe möglicherweise auch Hinweise auf einen Zweig der biomedizinischen Grundlagenforschung, der bisher noch immer recht unzulänglich untersucht und demzufolge auch nur rudimentär dokumentiert ist, nämlich dem sehr seltenen Phänomen der ‚Spontanremission‘ bestimmter Tumorentitäten.46 Obwohl wir über den kausalen Prozess solcher ‚Oszillationen‘ noch wenig wissen, zeigen sich Parallelen zu experimentellen Ansätzen, die bereits in anderen Modellsystemen gemacht wurden. Denn will man einen Zusammenhang zwischen Genen und der phänotypischen Erscheinung eines Organismus herstellen, bedient man sich seit längerem der sog. ‚knock-out-Technik‘,47 bei der gezielt bestimmte Gene in Mäusen inaktiviert werden und anschließend überprüft wird, wo sich defizitäre Eigenschaften im ‚Aussehen‘ (= Phänotyp) zeigen. Viele solcher Mutationen _____________ 43 44 45 46 47

Yuji Oki / Jean P. Issa, Review: Recent Clinical Trials in Epigenetic Therapy. In: Reviews on Recent Clinical Trials 1 (2006), S. 169–182. Anastasia Bachmann / Rainer Zawatzky / Frank Rösl, Genetic Redundancy of Human Cervical Carcinoma Cells: Identification of Cells with „Normal“ Properties. In: International Journal of Cancer (2007) 120, S. 2119–2126. Vgl. zu näheren Einzelheiten: http://www.dkfz.de/de/f030/index.html. Vikrant Sibartie / John Moriarty / John Crowe, Spontaneous Regression of Hepatocellular Carcinoma. In: American Journal of Gastroenterology 103 (2008), S. 1050–1051. Xinjiang Wu / Pier Paolo Pandolfi, Mouse Models for Multistep Tumorigenesis. In: Trends Cellular Biology 11 (2001), S. 2–9.

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sind letal, einige zeigen die erwarteten Eigenschaften, der Rest ist ohne Phänotyp. Was bedeutet aber Letzeres? Im Grunde zeigt dies eine wesentliche Eigenschaft zellulärer Netzwerke auf, die unter gewissen Umständen Mängel durch Robustheit48 und Redundanzen49 kompensieren. Ähnlich könnte es sich auch mit unserem Zellsystem verhalten, dass nämlich Tumorzellen, die zur ‚Normalität‘ zurückoszillieren, in ihrem Phänotyp durch redundante Mechanismen revertiert werden. Das Verständnis, wie solche Prozesse molekularbiologisch ablaufen, kann neue Einsichten in die Krebsentstehung und Prävention bringen.

Ausblick Sind nun die Begriffe Oszillation und Reversibilität konsistent mit gängigen Krebstheorien und Konzepten? Ist man deshalb ein ‚Quer-Denker‘, weil man gängigen Lehrmeinungen nicht uneingeschränkt folgt? Wie bereits angedeutet, werden Forschungstätigkeiten als wissenschaftliche Arbeit erst wahrgenommen, wenn die Ergebnisse in die Diskurse der wissenschaftlichen Gesellschaft Eingang gefunden haben. In unserem Fall war es nicht leicht, wie man sich denken kann, denn unsere Befunde wurden zunächst von sehr vielen Journalen als zu spekulativ und unvollkommen abgelehnt, weil lediglich an einem Zellmodell gezeigt. Dies ist innerhalb des Selbstkontrollprozesses der Wissenschaft mittels ‚PeerReview‘50 völlig legitim, zeigt aber auch, dass es unter Umständen schwierig sein kann, neue Ergebnisse mit notwendiger Akzeptanz in einem zeitlich noch aktuellen Rahmen zu publizieren, da für jede Wiedereinsendung eines Manuskripts oft Wochen, ja Monate vergehen können. Damit sich Begrifflichkeiten und alternative Denkkonzepte durchsetzen können, ist vor allem eine gewisse Offenheit, die neue Sichtweisen und Interpretationen zulässt, innerhalb der einzelnen Fachrichtungen erforderlich. Die bereitwillige Aufnahme neuer Begriffe erlaubt somit dem Denken, die Richtung zu wechseln. Aus diesem Grunde haben mich immer schon Konzepte interessiert, die abseits gängiger Diskurse liegen. Vor allem dann, wenn darin Vorstellungen und Begrifflichkeiten, die vor Jah_____________ 48 49

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Naama Barkai / Ben-Zion Shilo, Variability and Robustness in Biomolecular Systems. In: Molecular Cell 28 (2007), S. 755–760. David C. Krakauer / J. B. Plotkin, Redundancy, Antiredundancy, and the Robustness of Genomes. In: Proceedings National Academy of Sciences USA 99 (2002), S. 1405–1409; siehe auch die populärwissenschaftlich sehr schön geschriebene Arbeit von Sandra Mitchell, Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. A. d. Engl. v. S. Vogel. Frankfurt a.M. 2008. Peter A. Lawrence, The Politics of Publication. In: Nature 422 (2003), S. 259–261.

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ren publiziert wurden,51 wieder aufgenommen werden, in einem neuen Kontext erscheinen oder mit aktuellen Auseinandersetzungen verknüpft werden. Dies geschieht häufig in Fachartikeln, die nicht die notwendige ‚Kraft‘ besessen haben, um in einem ‚wissenschaftlichen Feld‘ zu bestehen. Besonders anregend wirkt auch, wenn Wissenschaftskollegen die Courage aufbringen, durch Querdenken die gewohnten ‚Denkpfade‘ zu verlassen, auch in dem Bewusstsein, dass dies ihrer Reputation möglicherweise nicht dienlich ist, denn Neuerungen können nicht ohne Brüche mit den bestehenden und oftmals populären Sichtweisen vonstattengehen.52

_____________ 51 52

Roland Sedivy / Robert M. Mader, Fractals, Chaos, and Cancer: Do They Coincide? In: Cancer Investigation 15 (1997) 6, S. 601–607; Donald S. Coffey, Self-Organization, Complexity and Chaos: the New Biology for Medicine. In: Nature Medicine 8 (1998), S. 882–885. Vgl. Bourdieu, Vom Gebrauch der Wissenschaft [Anm. 21], S. 31.

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Monods Tagtraum. Begriff und Gestalt Die codebesessenen 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts feiern die junge Wissenschaft der Molekulargenetik als zeichen- und sprachtheoretisches Ereignis.1 Fasziniert stehen Nicht-Biologen und Biologen vor den Strukturhomologien des ‚genetischen Codes‘ und der menschlichen Sprache, wie Ferdinand de Saussure sie analysierte: Arbitrarität, doppelte Gliederung, Wort-, ja Satzstruktur, Operatoren und Satzzeichen, Redundanz. Der Linguist Roman Jakobson denkt das schließlich evolutionär und ontologisch: Wir sprechen, wie wir sprechen, weil der genetische Code so gebaut ist. Die Arbeiten der beiden französischen Nobelpreisträger François Jacob und Jacques Monod operieren in einem anderen Feld. Es wird nicht von Codes aufgespannt, sondern von Maschinen, nicht von Zeichenprozessen, sondern von Funktionen, nicht von Nukleinsäuresequenzen, sondern von Sequenzen von Aminosäuren. Schließlich aber zählen in diesem Feld gar nicht die Sequenzen selbst, sondern deren dreidimensionale Anordnung im Raum. Jacob/Monods ‚Operon-Modell‘ etwa hängt an der Entdeckung einer besonderen Klasse von Proteinen, den so genannten ‚allosterischen Enzymen‘. Das sind Makromoleküle, deren Faltung im Raum je nach Umgebung zwei verschiedene Zustände annehmen kann. Die allosterischen Enzyme sind steuernde Einheiten, die, etwa im Verlauf der Ontogenese eines Organismus, bestimmte Gene ‚aus- und einschalten‘. Damit erreicht die Biologie ein neues Niveau regulativer Vorgänge. Auf ihm operiert das biologische Wissen mit Rudimenten von Schaltalgebra und Maschinenmodellen. _____________ 1

Kulturwissenschaftlicher Terminus ab quo wäre vielleicht jene große Fernsehdiskussion im Feburar 1968, die zwei Molekularbiologen, François Jacob und Philippe L’Héritier, mit dem Linguisten Roman Jakobson und dem strukturalen Anthropologen Claude LéviStrauss zusammenführte (Vivre et parler. Une discussion révolutionnaire entre François Jacob, Roman Jakobson, Claude Lévi-Strauss, Philippe L’Héritier, émission télévisée de M. Tréguer et G. Chouchan. In: Les Lettres Françaises, Februar 1968 (dt.: leicht gekürzt in: Roman Jakobson, Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982. Frankfurt a.M. 1988). Terminus ad quem das Kapitel über La metaphysique du code in Jean Baudrillard, L’échange symbolique et la mort. Paris 1976 (dt.: Die Metaphysik des Codes. In: ders., Der symbolische Tausch und der Tod. München 1982).

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Soweit der Nobelpreis. Ende der 60er Jahre beginnen die beiden Wissenschaftler allgemeine Konsequenzen aus ihren biologischen Entdeckungen zu ziehen. Jacob schreibt 1970 eine Geschichte der Biologie, verdichtet in eine histoire de l’hérédité. Michel Foucaults Rezension wird ihr den Titel eines grand livre d’histoire verleihen.2 Monod veröffentlicht im gleichen Jahr einen Essai sur la philosophie naturelle de la biologie moderne, bekannt als Le hasard et la nécessité, „Zufall und Notwendigkeit“. Während Jacobs Geschichte bis heute eher ein Geheimtipp blieb, wird Monods Naturphilosophie fast ohne Verzögerung zum wohl bekanntesten Werk eines französischen Biologen des 20. Jahrhunderts. Es ist der Versuch, das gesamte positive Wissen der modernen Biologie seiner Zeit in einem systematisch geschlossenen Entwurf zu denken. Sein Ansatz ist erstens radikal ungeschichtlich. Er hat zweitens, in Rekursionen von atemberaubender Tiefe, seine eigene Epistemologie in sich eingeschrieben. Nach ihr liegt der Wissenschaft und ihrer Reflexion, sowohl jeder einzelnen wie der Reflexionskraft als solcher, ein unsprachlicher Akt zugrunde. Wissen beginnt mit einer Simulation. Weil er „von der Sprache maskiert ist, die ihm fast unmittelbar folgt“, nur darum scheint der simulierende Gedanke mit der Sprache „verschmolzen“.3 Über das ursprüngliche Vermögen der Simulation und seine zerebralen Instanzen ist das Wissen in die Evolution eingebunden. Es ist, vom Australanthropus bis zum Molekularbiologen, das Wissen eines simulierenden, antizipierenden, projektierenden Tiers. „Ich denke, alle Wissenschaftler sind sich irgendwann einmal dessen bewußt geworden, daß ihre Reflexion in einer tiefen Schicht kein sprachlicher Akt ist: sie ist ein Gedankenexperiment, simuliert mit Hilfe von Formen, Kräften, Interaktionen. Sie lassen sich nur mit Mühe zu einem ‚Bild‘ im visuellen Sinn des Begriffs zusammensetzen.“ – „Tous les hommes de science ont dû, je pense, prendre conscience de ce que leur réflexion, au niveau profond, n’est pas verbale : c’est une expérience imaginaire, simulée à l’aide de formes, de forces, d’interactions qui ne composent qu’à peine une ,image‘ au sens visuel du terme.“ Bis, eines schönen Tages, das sprachlose Fundament des Wissens zurückschlägt. _____________ 2

3

Das schon darum, weil Jacobs Buch in vielem der Epistemologie von Michel Foucaults Les mots et les choses von 1966 folgt. Über François Jacob als Foucault-Leser vgl. auch Foucault, Prisons et asiles dans le mécanisme du pouvoir (entretien avec M. d’Eramo, mars 1974). In: ders., Dits et écrits, hg. v. Daniel Defert u. a. Paris 1994, Bd. 2, S. 521–525, hier S. 524. Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. A. d. Frz. übers. v. F. Griese. München 1971, S. 190.

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Wenn, kraft konzentrierter Aufmerksamkeit auf das Gedankenexperiment, das Feld des Bewußtseins nichts anderes mehr enthält, habe ich mich dabei überrascht, mich mit einem Eiweißmolekül zu identifizieren. – Je me suis moi-même surpris, n’ayant à force d’attention centrée sur l’expérience imaginaire plus rien d’ autre dans le champ de la conscience, à m’identifier à une molécule de protéine.4

Monods halluzinative Identifikation mit einem Protein ist Symptom einer Epistemologie jenseits sprachlicher Begriffe: Symptom des Ausfalls sämtlicher begrifflicher Sicherungen. Zugleich rührt sie damit an die Fundamentalfrage aller Begriffsgeschichte: Sind es die Begriffe, die das Wissen vorantreiben? Oder herrscht zwischen Sprache und Dingen, Begriffen und Anordnungen ein Krieg, der in der friedlichen Diachronie von Begriffsgeschichten nicht mehr formulierbar ist?

1. Begriffe. Gedankenexperimente Das weit verstreute Wissen von Tieren Pflanzen Pilzen Protisten Bakterien folgt so wenig einem Begriff wie irgendein Wörterbuch der Welt Männer und Frauen als Begriffe führen wird. Nur wo es als Wissenschaft auftritt, die seit Lamarcks Zeiten Bio-logie heißt, steht das Wissen unter dem Zwang seinen Gegenstand im Singular und begrifflich abzugrenzen: Le Vivant, das Lebende, Lebendige oder gar Leben.5 Es bestimmt seinen Begriff traditionell über Differenzen, zwischen phýsis und téchne, Belebtem und Unbelebtem, Stein und Pflanze und Tier, Kristall und Zelle, und operiert neuzeitlich mit einem eigenen Typ von Gedankenexperiment: dem Experiment einer Befremdung. Kant findet ein Sechseck, gezeichnet im Sand „eines unbewohnt scheinenden Landes“, statt gebaut im vertrauten Raum des Bienenstocks; der Archidiakon William Paley findet, in Gedanken über die nordenglischen Heide wandernd, zwischen Gras und Steinen ein fremdes Ding: eine Uhr; unsere Gegenwart lässt eine Biologin am gleichen Ort abertausende winziger Uhren finden, jede den Zeitrhythmus

_____________ 4 5

Monod, Le hasard et la nécessité. Essai sur la philosophie naturelle de la biologie moderne. Paris 1970, S. 195; dt.: ders., Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 190. – Die hier, wie überhaupt, nicht immer zuverlässige Übersetzung von Friedrich Griese ist leicht verändert. Vgl. Georg Toepfer, Der Begriff des Lebens. In: Philosophie der Biologie. Eine Einführung, hg. Ulrich Krohs u. Georg Toepfer. Frankfurt a.M. 2004, S. 157–174 und Marianne Schark, Lebewesen als ontologische Kategorie. In: ebd., S. 175–192. – Neuerdings usurpiert die Wissenschaft im Plural den Singular, als die industrie- und diskurspolitisch so genannten „Lebenswissenschaften“.

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eines Lebewesens steuernd.6 Monods Naturphilosophie beginnt auf Mars und Venus.7 Seit Ende der 60er Jahre fragt eine eigene Wissenschaft, die „Exobiology“, nach extraterrestrischem Leben, um erste Begriffe vom Ursprung des Lebens auf unserem Planeten hier zu gewinnen.8 Aber auch die Insassen eines Raumschiffs vom Mars, das den Wald Fontainebleau anfliegt, könnten vor die Frage gestellt werden, die Felsen des Chaos d’Apremont und die Häuser von Barbizon, die Lebewesen und die technischen Dinge, Belebtes und Unbelebtes zu unterscheiden.9 Monod durchdenkt das Experiment auf dem Stand der Dinge als Turing-Test. Bekanntlich beantwortete Alan Turing 1950 die Frage: „Können Maschinen denken?“ explizit nicht begrifflich, etwa durch „Definitionen der Begriffe ‚Maschine‘ und ‚denken‘“.10 Er schlug die Anordnung eines Spiels vor. Durch Fragen und Antworten über einen Fernschreiber soll ein Proband C entscheiden, welcher der beiden anderen Probanden A und B im Zimmer nebenan eine Frau und welcher ein Mann ist. Könnte auch eine Maschine den Part des Mannes übernehmen, täuschen und tricksen und sich für eine Frau ausgeben? In Monods Abwandlung des Tests steht die Maschine selbst, „eine Rechenmaschine, programmiert von der Mars-NASA“, an der Position des Dritten. Sie soll jetzt entscheiden, was phýsis oder téchne, belebt oder unbelebt ist. Zwar sucht, wo Turings Computer täuscht, Monods Compu_____________ 6

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8 9 10

Vgl. Immanuel Kant, Kritik der teleologischen Urteilskraft. Der Kritik der Urteilskraft zweiter Teil. In: ders., Kritik der Urteilskraft, hg. v. Karl Vorländer. Hamburg 1974, S. 220–361. William Paley, Natural Theology [1802]. In: The Works of William Paley, D.D., Archdeacon of Carlisle. Edinburgh 1828, S. 435–555. Marc W. Kirschner / John C. Gerhart, The Plausibility of Life. New Haven, Conn. u. London 2005; dt.: Die Lösung von Darwins Dilemma. Wie die Evolution komplexes Leben schafft. Reinbek 2007. Lukrez hatte im ersten Jahrhundert vor Christus seine Naturphilosophie De rerum natura mit der Anrufung der Venus begonnen. Eine Naturphilosophie vom Ende des zweiten nachchristlichen Jahrtausends beginnt mit der Frage, ob sich auf dem fernen Planeten dieses Namens überhaupt eine Natur, ob sich eine Technik entwickelte? Dass sich das weitere Gedankenexperiment im 20. Jahrhundert dann ganz auf den Mars und seine Bewohner verlagert, kennzeichnet seine historische Lage. Venus als schaumgeborene Aphrodite in ihrem Unterschied zur technischen Herkunft einer Marmorstatue der Aphrodite aus der Werkstatt, etwa des Phidias, eröffnet bei Monod erst wieder das Nachdenken über téchne und „autonome Morphogenesen“ oder Ontogenesen. Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 105. Cyril Andrew Ponnamperuma (Hg.), Exobiology. (North-Holland Research Monographs, Frontiers of Biology, 23) Amsterdam 1972. Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 14. Alan Mathison Turing, Computing machinery and Intelligence. In: Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy 49 (1950) 236, S. 433–460; dt.: Rechenmaschinen und Intelligenz. In: ders., Intelligence Service. Schriften, hg. v. Bernhard Dotzler u. Friedrich A. Kittler. Berlin 1987, S. 147–182, hier S. 149.

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ter eine Wahrheit. Doch beide Fälle laufen auf eine Dis-Simulation zu,11 in der sich eins für das andere ausgibt: Frau für Mann, Mann für Maschine, Technik für Natur. Eine Anordnung der Täuschung entscheidet über den Begriff des Lebendigen. Der Programmierer vom Mars schreibt also ein Programm, das eine Reihe von Kriterien durchtestet. Es testet Unterschiede der Struktur: regulär, irregulär; oder Unterschiede der Genese: heteronom, autonom. Einige der getesteten Objekte scheinen eine „Funktion“ zu haben, sind „mit einem Plan ausgestattet, den sie in ihrer Struktur darstellen und durch ihre Leistungen ausführen“: sie scheinen auf ein Ziel hin projektiert oder teleonomisch.12 Manche der Objekte beziehen die Informationen über ihre Struktur von einem anderen, ihnen genau gleichen Wesen, dessen Struktur sie mehr oder weniger invariant reproduzieren. Am Ende der Testreihe allerdings bleibt dem Programmierer kein einziges Kriterium, das eindeutig die Lebewesen „vom Rest des Universums“ unterscheiden würde. Denn die meisten Kriterien gelten auch für Kristalle oder erlauben es nur schwer, eine Differenz zwischen Augen und Photoapparaten zu machen. Allein eine Konstellation von drei „Eigenschaften“ scheint einen tragfähigen Begriff vom Lebendigen abzugeben13: reproduktive Invarianz, Teleonomie und autonome Morphogenese. Monod spricht sie auch als „drei Begriffe“, trois notions, an.14 Nicht alle drei sind nach dem Maßstab naturwissenschaftlicher Begriffsbildung gleich gut quantifizierbar. Die reproduktive Invarianz scheint messbar: in unités d’information, die an die nächste Generation „übertragen werden“, transmise.15 Die Menge der Information ist in der Sphäre der Kristalle klein, bei den Lebewesen ungeheuer groß. Doch schon der Begriff der Teleonomie ist quantitativ prekär. Seine junge Geschichte (die Monod nicht einmal andeutet)16 setzt auf das Stichwort der späteren Kyber_____________ 11 12 13 14 15

16

Über den Begriff der Dissimulation in der Vierheit von Affirmation, Negation, Simulation, Dissimulation, vgl. Friedrich A. Kittler, Fiktion und Simulation. In: Philosophien der neuen Technologie, hg. v. Ars electronica Linz. Berlin 1989, S. 57–79. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 17 [Hervorhebungen – P. B.]. Vgl. Toepfer, Der Begriff des Lebens [Anm. 5], S. 164 f. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 25; frz.: Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 33. Als fiele die generationelle Ordnung direkt mit der informationstechnischen Anordnung von Sender, Kanal, Empfänger zusammen. Vgl. die historische Genese der Begriffe Genotyp und Phänotyp bei Wilhelm Johannsen 1911 aus dem Unterschied einer transmission conception of heredity und einer genotype conception of heredity (vgl. Jan Sapp, Beyond the Gene. Cytoplasmatic Inheritance and the Struggle for Authority in Genetics. New York 1987, S. 36–42 sowie Ohad Parnes / Ulrike Vedder / Stefan Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt a.M. 2008, S. 215 f.). Vgl. etwa Toepfer, Teleologie. In: Philosophie der Biologie [Anm. 5], S. 36–52.

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netiker Norbert Wiener und Julian Bigelow ein, die 1943 von „zielstrebigen Maschinen“ sprechen: Maschinen alias Flakgeschütze, die darum ihr bewegliches Ziel treffen, weil sie die Bahn dieses Ziels ein wenig im Voraus, antizipierend, simulieren. 1958 prägt der Biologe Collin S. Pittendrigh dafür den Begriff Teleonomie und wendet ihn auf „zielgerichtete Systeme“ überhaupt an. Er setzt ihn gegen den Begriff der Teleologie ab, der von Aristoteles über Kant bis zu Hans Drieschs vitalistischer Entelechie das Wissen der Biologie heimsucht. 1961 nimmt Ernst Mayr den Begriff auf, um Vorgänge oder Verhaltensformen, zu beschreiben, die „auf Grundlage eines Programms, eines Informationscodes, ablaufen“.17 Den Begriff des Programms selbst wird Mayr später, informationstheoretisch elementar und exakt, aus der „Existenz eines Schlußpunktes“ definieren, also einer definierten Abbruch-Bedingung. Das kann, beim Wachstum etwa, eine bestimmte Struktur sein, es kann eine physiologische Funktion, eine Position im Raum oder ein „‚abschließender‘ (‚consummatory‘) Verhaltensakt“ sein.18 Für Monod ist der Begriff der Teleonomie der entscheidende Einsatz einer Naturphilosophie der modernen Biologie. Zwar bindet er ihn zunächst direkt an die Evolution zurück: an „Erhaltung und Vermehrung der Art“19 als Ziel aller Ziele, in jenem Tagtraum der Evolution, in dem, so Jacob, „eine Bakterie, ein Farn, eine Amöbe“ von keinem anderen Schicksal träumen als „zwei Bakterien, zwei Amöben, mehrere Farne zu werden“.20 (So jedenfalls stellt es sich die déformation professionelle des Molekulargenetikers im Schlaf ihrer wissenschaftlichen Vernunft vor.) Messen lässt sich, auf einer „teleonomischen Skala“, dann der Umweg dieses Schicksals, der bei der Maus viel kleiner ist als beim Menschen mit seinen dreitausend Jahren Liebeslyrik.21 Eigentlich aber zielt Monods Teleonomie nicht auf erste und letzte Ziele, sondern auf einen bestimmten Begriff vom Organismus. Organismen sind Funktionsuniversen, „kohärente und integrierte Funktionseinheiten“, und die Lebewesen molekulare, chemi_____________ 17 18 19 20

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Zit. bei Ernst Mayr, Teleologisch und teleonomisch. Eine neue Analyse [engl. 1974]. In: ders., Eine neue Philosophie der Biologie. München u. Zürich 1991, S. 51–86, hier S. 61. Vgl. ebd. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 22. François Jacob, La logique du vivant. Une histoire de l’hérédité. Paris 1970; dt.: Die Logik des Lebenden. Von der Urzeugung zum genetischen Code, übers. v. J. u. K. Scherrer. Frankfurt a.M 1972, S. 12 (Seitenidentische Neuaufl. m. e. Nachw. v. Hans-Jörg Rheinberger. Frankfurt a.M 2002). Bei Monod reduziert sich der Traum auf den einer Zelle: „das Projekt [...] zwei Zellen zu werden“ (Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 29). Mayr wendet sich gegen diesen Gebrauch des Begriffs Teleonomie bei Monod (vgl. Mayr, Teleologisch und teleonomisch [Anm. 17], S. 64 f.). Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 24.

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sche, kybernetische Maschinen.22 In ihrem Zentrum tickt kein Code, sondern ein „teleonomischer Apparat“.23 Monods Begriff der Teleonomie artikuliert eine historische Position. Am pointiertesten und polemisch formuliert sie seit Ende der 60er Jahre der amerikanische Molekularbiologe Carl Woese (er schreibt die Polemik auf verschiedenen Ebenen bis heute fort).24 Zwei Jahrzehnte lang sei die Molekularbiologie des Gens und des Codes, von transscription und templating das Leitmodell der Biologie gewesen. „But the ethos it generated is now effectively spent.“25 Das Dispositiv des Codes sei zum Hindernis geworden, zur „conceputal malaise“ der Molekularbiologie, die in diesem Dispositiv befangen die wichtigsten Fragen nicht einmal formuliert habe, geschweige denn beantwortet. Die ‚Evolution des genetischen Codes‘ etwa, die Woese und andere beschäftigt, lasse sich aus dem Code selbst überhaupt nicht erforschen. Nur in der Übersetzung, translation, von Nuklein- in Aminosäuren und ihrem komplizierten Apparat aus Transfer-RNA, Erkennung von Aminosäuren, Ribosomen, nur aus dem design dieses „basalen Mechanismus“ und seiner Evolution ließen sich, so Woese, auch Fragen nach der Evolution des Codes beantworten.26 Monods „teleonomischer Apparat“ steht auf dieser wissenshistorischen Zeitschwelle. Um 1970 entstehen eine Vielzahl neuer Biologien, wie Lynn Margulis’ Serielle Endsymbiontentheorie (1970), Conrad H. Waddingtons Epigenetik (1968), Humberto R. Maturanas Biology of cognition (1970) oder René Thoms biologisch-mathematische Theorie der Morphogenese (1967), um nur einige zu nennen.

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24 25 26

Vgl. ebd., etwa S. 61, 105 u. 82. Vgl. dazu auch die historisch sehr unspezifischen Ausführungen von Henri Atlan, DNS – Programm oder Daten? Oder: Genetik ist nicht in den Genen. In: Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte, hg. v. Sigrid Weigel. Berlin 2002, S. 203–222. Vgl. stellvertretend: Carl R. Woese, Translation: In retrospect and prospect. In: RNA 7 (2001) 8, S. 1055–1067. Woese, Evolution of the Genetic Code. In: Die Naturwissenschaften 60 (1973) 10, S. 447–459, hier S. 447. Woese selbst entwirft Anfang der 70er die t-RNA als Maschinenteil oder ratchet mechanism, der aktiv über zwei Konformationen im Raum arbeitet. Historisch am eindeutigsten ist bei Woese seit den 1960er Jahren die exzessive Referenz auf tape reading machines als Mechanismus der Translation.

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2. Gestalt Erkennen Alle Teleonomie der molekularen Maschinen hat, so Monod in Anführungszeichen, ein „,letztes Geheimnis‘“27: eine lineare Folge von Aminosäuren, codiert in einer Folge von Nukleinsäuretripletts, tut nichts. Die bloße Sequenz eines Proteins ist inaktiv. Erst wenn sich die Sequenz faltet, se plie sur elle-même, sich auf sich selbst zurückbiegt, in Faltblättern, Spiralen, Aus- und Einstülpungen, Dellen, Sesseln, Wannen und vielfältigen Konfigurationen im Raum tritt das Protein in seinen aktiven Zustand. Es beginnt zu ‚funktionieren‘. Falten Zwar formieren sich auch die Ketten der Nukleinsäuren im Raum. Aber zur wahrscheinlichsten und einfachsten, stabilsten und dümmsten aller denkbaren Raumstrukturen28: einer doppelten, symmetrischen Helix. Die Aminosäurensequenz dagegen eines jeden Proteins faltet sich zu einer nur diesem Protein eigenen, komplizierten Raumstruktur. Zunächst hätte man, so Monod, angenommen, ein Makromolekül könne unendlich viele verschiedene Konfigurationen im Raum annehmen. Aber es habe sich gezeigt, dass es nur eine einzige so genannte „Konformation“ annehme und manchmal zwei.29 Chromatographie, röntgenkristallographische Beugungsbilder,30 deren computergestützte Auswertung und schließlich Übersetzung in räumliche Modelle aus Draht und Kugeln (das sind: Bausätze aus Kinderzimmern) generieren seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ein weit verzweigtes Wissen von der Raumgestalt biologischer Makromoleküle.31 Ketten aus Aminosäuren existieren seitdem in vier Dimensionen. Die erste Dimension ist die schlichte Sequenz der zwanzig möglichen Aminosäuren: Gly – Ile – _____________ 27 28 29 30 31

Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 114. Vgl. ebd., S. 134, wie überhaupt das ganze Kapitel VI. Vgl. ebd., S. 115 f. Vgl. einführend etwa Lubert Stryer, Biochemistry. New York 31988; dt.: Biochemie, übers. v. B. Pfeiffer u. a. [5.] völlig neubearb. Aufl., korr. Nachdr., Heidelberg, Berlin u. New York 1991, hier S. 61–64. Ein Glanzstück der Jacobschen Geschichte der Biologie behandelt ein Stück der Genese dieses Wissens (vgl. Jacob, Die Logik des Lebenden [Anm. 20], S. 272–278). Zu Modellen vgl. Soraya de Chadarevian, Sequences, Conformation, Information: Biochemists and Molecular Biologists in the 1950s. In: Journal of the History of Biology 29 (1996), S. 361–386. Christoph Meinel, Molecules and Croquet Balls. In: Models. The Third Dimension of Science, hg. v. Soraya de Chadarevian u. Nick Hopwood. Stanford, Calif. 2004, S. 242–275.

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Val – Glu – usw. (seit den 80er Jahren mit zwanzig Majuskeln der sechsundzwanzig Großbuchstaben des englischen Alphabets geschrieben: G – I – V – E – usw.): die eindimensionale Serie als Band einer Turingmaschine.32 Die zweite Dimension entsteht, wenn sich entweder zwei Sequenzen im Raum zu einer ‚Faltblatt‘-Struktur verbinden oder eine einzige Sequenz sich in sich selbst zur Helix aufrollt.33 Die dritte Dimension ist eine frei im Raum angeordnete, nur durch mechanische Freiheiten der gegeneinander starren, drehbaren oder sich verdrängenden Moleküle eingeschränkte Struktur im Raum (deren Teilstücke mitunter auch Helices sein können). Die vierte Stufe besteht aus der Kombination mehrerer gleicher, ineinander geschachtelter Proteine, sogenannter ‚Protomere‘, die ein zusammenhängendes Gebilde ergeben, ein Oligomer oder ‚globuläres Protein‘. Ihm gilt Monods ganzes Denken: als Biologe und als Naturphilosoph. Sekundäre, tertiäre, quaternäre Raumstrukturen haben eine chemische Basis: ‚non-kovalente Bindungen‘.34 Schwache oder non-kovalente Bindungen, also Wasserstoffbrücken, elektrostatische oder van-der-Waals-Bindungen, sind über das ganze Molekül verteilt,35 je zahlreicher desto stabiler das räumliche Gebilde. Von den kovalenten Bindungen unterscheiden sich die non-kovalenten vor allem dadurch, ohne Katalysator und bei geringer Temperatur abzulaufen, schnell zu sein und reversibel.36 Die Raumstruktur der Proteine und ihre chemische Basis verdichten sich bei Monod zu einem Begriff: dem „Begriff des stereospezifischen, non-kovalenten Komplexes“, la notion de complexe stéréospécifique non-convalent.37 Dieser Begriff im Begriff der Teleonomie und deren „letztes Geheimnis“ trägt Monods Naturphilosophie von ihren elementaren Anfängen bis in die feinsten Verzweigungen ihrer Epistemologie. Was aber heißt es, den stereospezifischen Komplex eines Makromoleküls als Begriff anzusprechen? _____________ 32 33 34

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Die Großbuchstaben außer den Buchstaben B U J O X Z. – Zum Turing-Band vgl. auch Atlan, DNS – Programm oder Daten? [Anm. 23], S. 207 f. ơ-Helix oder Ƣ-Faltblatt, nach der Reihenfolge, in der Linus Pauling und Robert B. Corey 1951 die beiden Raum-Strukturen der Proteine entdeckten. „Kovalente Bindungen“ entstehen, wenn zwei Atome eine oder mehrere gemeinsame Elektronenbahnen haben. (Die mögliche Anzahl der Bindungen ist durch die seit Mendelejew System gewordene „Valenz“ der Atome festgelegt.) Um sie herzustellen oder zu lösen, ist ein hoher Energieaufwand vonnöten. Das Rückgrat der eindimensionalen Kette, die „Peptidbindung“, ist eine kovalente Bindung. Oder, bei der Ƣ-Faltblatt-Struktur, über zwei Moleküle. Die non-kovalenten Bindungen finden zwischen Kohlenstoff-, Stickstoff- oder Wasserstoffatomen des Makromoleküls statt. Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 73. Ebd., S. 75; frz.: Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 81.

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Erkennen und Schalten Erst das dreidimensionale, im Raum stabilisierte und „gespannte Protein“38 spannt überhaupt molekulare Funktionalität auf. Sie basiert auf zwei Prinzipien: Erkennen und Schalten. Von dort her schreiben sich Begriffe in Monods naturphilosophischem System. Die Funktionalität biologischer Makromoleküle wird vor allem von einer bestimmten Klasse von Proteinen bestimmt: den Enzymen. Ihre Funktion steht tief in der Geschichte eines technischen Begriffs: der ‚Katalyse‘.39 Im Unterschied zu technischen Katalysatoren jedoch, die viele verschiedene Reaktionen gleichzeitig beschleunigen, haben Enzyme eine besondere „Auswahlfähigkeit“, élécticité.40 Sie wirken in hohem Maße spezifisch: ein Enzym reagiert mit genau einem molekularen Komplex, seinem sogenannten Substrat. Das ist die Substanz, deren Reaktion durch das Enzym beschleunigt oder überhaupt erst in Gang gesetzt wird.41 Manche Enzyme unterscheiden sogar geometrisch isomere Substrate, Moleküle also, die nur durch ihre spiegelverkehrten Lagen im Raum unterschieden sind.42 Die spezifische Funktion der Enzyme ist an ihre Raumgestalt gebunden. Diese Gestalt ist das Medium von discrimination und Spezifität: komplementäre Flächen im Molekül des Enzyms, des Substrats oder einer Substanz im Milieu berühren sich gegenseitig.43 Auf räumlicher Nähe und einer Art Abtasten räumlicher Strukturen nach dem Prinzip Schlüsselund-Schloß beruht die Funktion der Enzyme.44 Monod spricht von „une

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Die eindimensionale Sequenz – so Monod in ungewollt reichistischen Begriffen – ist entspannt und labil, das dreidimensionale gespannt und stabil (vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 91). Vgl. in diesem Band den Beitrag von Benjamin Steininger. Monods geniale und kurze Einführung: Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 63–76. Vgl. am Standardbeispiel von Fumarase und Apfel- bzw. Maleinsäure: ebd., S. 65 f. Vgl. ebd., S. 66. Ebd., S. 73. Lily Kay skizziert eine kurze Geschichte der Komplementarität räumlicher Strukturen im Denken der Biologie von Emil Fischers Schlüssel-Schloß-Hypothese in der Immunologie über Karl Landsteiners Stereokomplementarität der 20er Jahre bis zu Paulings Entdeckung der gefalteten Polypeptidketten in den 30er Jahren. Sie entwickelt daraus ein Dispositiv der Spezifität, dessen Übersetzung in die Modelle der Informationstheorie den informationellen turn der Molekularbiologie allererst in Gang gesetzt habe (vgl. Lily E. Kay, Who wrote the book of life? A History of the Genetic Code. Stanford, Calif. 2000; dt.: Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code? Frankfurt a.M. 2005, S. 70–73 und 78–84; und S. 439, Anm. 11). Bei Kay mündet die Geschichte in das Wissen der 50er Jahre über die Komplementarität der beiden Nukleinsäuren-Stränge, nicht in die Theorie der Enzyme der 60er.

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propriété discriminative (sinon ‚cognitive‘) microscopique“.45 Funktion der Enzyme sei es, „Moleküle (eingeschlossen andere Proteine) an ihrer Form ‚wiederzuerkennen‘“, ‚reconnaître‘ mit und ohne Anführungszeichen.46 Ohne Anführungszeichen ist von einer „kognitiven Funktion der Proteine“ die Rede oder schlicht von: „kognitiven Proteinen“.47 In Erkennen und Wiedererkennen, englisch recognition, denkt Monods Naturphilosophie die Funktion molekularer Raumstrukturen. Die Fähigkeit des Erkennens und Unterscheidens kommt besonders denjenigen Enzymen zu, die eine Basis von Jacob/Monods OperonModell sind. Sie unterscheiden außer ihrem Substrat über einen anderen, räumlich getrennten Teil ihrer Struktur auch noch eine zweite Substanz. Befindet sie sich im Medium oder Milieu etwa einer E-coli-Bakterie, so hört das Enzym der Bakterie auf, mit seinem Substrat zu interagieren. Ohne die zweite Substanz im Medium setzt es seine Interaktion fort. Über zwei verschiedene Orte ihrer räumlichen Struktur unterscheidet das Enzym zwei verschiedene, chemisch nicht verwandte Substanzen. Obendrein vermag es selbst zwei verschiedene Raumstrukturen oder stereochemische Zustände anzunehmen: es ist ‚allo-sterisch‘. Im einen Zustand wirkt das Enzym auf sein Substrat, im anderen nicht. Jacob/Monod sprechen die allosterischen Enzyme mit einem technischen Begriff als „molekulare Relais“ an.48 Über zwei Zustände, on und off, steuern sie durch Inhibition oder Induktion energieaufwändige Prozesse, wie die Transkription und Translation eines Gens. Kleine Kräfte steuern große Kräfte, in einer Anordnung, die zwischen dem Substrat und der Substanz im Medium keine chemische Affinität kennt: die durch das Enzym hergestellte Verbindung beider ist arbiträr. Der „Begriff der Arbitrarität“, la notion de gratuité,49 ist, so Monod, die Grundbedingung aller „mikroskopischen Kybernetik“ in den makromolekularen Maschinen. Erst diese chemische Loslösung erzeugt eine Freiheit, auf der die Evolution réseaus cybernétiques

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Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 62; frz.: Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 68. Ebd. – Den Sprachgebrauch vom Erkennen pflegt die Biologie bis heute ungebrochen. Stellvertretend: „Die Kenntnis der molekularen Feinstruktur hat uns Einblick verschafft, wie Proteine andere Moleküle erkennen und binden, wie sie als Enzyme funktionieren, wie sie sich falten und wie ihre Evolution verlief. [...] Wir werden im gesamten Buch immer wieder die dreidimensionalen Strukturen von Proteinen und anderen Biomolekülen betrachten und den Bau dieser Moleküle in Beziehung zu ihrer Funktion setzen.“ Stryer, Biochemie [Anm. 30], S. 64. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 115 (vgl. auch S. 81 und öfter). Ebd., S. 88; frz.: Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 94, sowie dt.: S. 87 u. frz.: S. 93. Ebd., S. 97; frz.: Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 103.

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eine Freiheit, auf der die Evolution réseaus cybernétiques von hoher Komplexität entwickeln kann.50 Mit den allosterischen Enzymen führen Jacob/Monod das Dispositiv des Schaltens in die Molekulargenetik ein. Im Operon-Modell von 1961 schalten Enzyme, die von bestimmten Genen hergestellt werden, bestimmte andere Gene ein und aus und differenzieren so aus der allen Zellen gemeinsamen Sequenz von Nukleinsäuren die spezialisierten Zellen des Organismus. Jacob/Monods Arbeiten zur Gen-Regulation übertragen Schaltpläne, das ist: die Diagrammatik der Elektrotechnik, auf schaltende Gene. Tastend suchen sie selbst nach dem epistemologischen Status dieser Übertragung. „Such model circuits are, of course, entirely imaginary, but the actual elements of these circuits, namely, regulator genes, repressors, operators, are not imaginary; they are the elements which operate in bacteria.“51 Das kognitive Protein. Ein Dämon Sind aber die beiden Grundfunktionen der Monodschen Naturphilosophie: Erkennen und Schalten, als Begriffe zu begreifen? Ihre Verallgemeinerung jedenfalls tritt so wenig begrifflich auf wie die Unterscheidung von belebt und unbelebt. Denn sie läuft, im größten denkbaren Maßstab, ein weiteres Mal als Anordnung eines Gedankenexperiments.52 Das vielleicht fundamentalste Gedankenexperiment des 19. Jahrhunderts – denn es betrifft seine thermodynamischen Grundlagen – erfindet ein Wesen, das einzig auf seine kognitive Funktion beschränkt wäre. Das Wesen operiert auf molekularer Ebene, mit ‚Molekeln‘. Es sitzt in einem absolut geschlossenen Behälter gleichmäßiger Temperatur. Da im Dispositiv von Maxwells kinetischer Gastheorie Temperatur nichts anderes ist als die Geschwindigkeit der Gasmoleküle, tummeln sich in dem Behälter gleich verteilt schnelle und langsame Moleküle. Die einzige Tätigkeit des _____________ 50

51 52

Ebd., S. 82. – Schon 1968 entsteht mit direktem Bezug auf Jacob/Monods molekulare Relais der erste, systematische und computersimulierte Versuch, die Stabilität und epigenetische Entwicklung von randomly constructed genetic nets zu untersuchen, modeling the gene as a binary device, able only to be on or off. Die Computerprogramme des jungen, kalifornischen Studenten Stuart A. Kauffman gelangen sofort zu internationaler Berühmtheit (vgl. Stuart A. Kauffmann, Metabolic Stability and Epigenesis in Randomly Constructed Genetic Nets. In: Journal of Theoretical Biology 22 (1969), S. 437–467). Jacob / Monod, Genetic Repression, Allosteric Inhibition and Cellular Differentiation. In: Cytodifferentiation and macromolecular synthesis, hg. v. Michael Locke. New York u. London 1963, S. 30–64, hier S. 54. Monod spricht es explizit als ein solches an, vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 76; frz.: Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 82.

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Wesens sei nun, so Maxwells Theorie der Wärme, die schnellen von den langsamen Molekülen zu trennen. Eine Wand in der Mitte des Behälters mit einer ‚kleinen Öffnung‘, die das Wesen öffnen oder schließen kann, AUF und ZU, ON und OFF, um etwa die schnellen Moleküle durchzulassen und die langsamen aufzuhalten, würde schon ausreichen, die schnellen auf der einen, die langsamen auf der anderen des Behälters zu massieren.53 Maxwells Dämon hätte damit gegen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gesteuert. Denn der besagt, dass die Entropie in einem geschlossenen System ohne Energiezufuhr von außen unaufhaltsam steigt. Der Dämon dagegen steigert den Unterschied von kalt und warm, das ist: den Ordnungsgrad des Systems und zwar „ohne Verausgabung von Arbeit“, ohne Energiezufuhr von außen. Seine einzige Tätigkeit bestünde in Erkennen, discrimination, AUF und ZU. Monod (und auch Jacob) identifiziert nun in Gedanken für einen Moment Maxwells Dämon mit den kognitiven Proteinen und ihrer im Raum gefalteten Struktur. Zwar sehen die physikalisch gebildeten Molekularbiologen sofort, dass nach Leo Szillards und Léon Brillouins Kritik an Maxwells Dämon „die Information bezahlt werden muß“.54 Erkennen ist gleich Messen und jede Messung verbraucht Energie, sei es nur die des Lichts. Doch offenbart das Auftauchen von Maxwells Dämon im Diskurs Jacob/Monods, dass hier der Begriff der Information nicht über den Code eingeführt wird, sondern über den der Thermodynamik entlehnten Grundbegriff der Shannonschen Nachrichtentheorie: Entropie und Negentropie.55 Das geschieht genau an dem Punkt, wo erstens statt einer Sequenz von diskreten Buchstaben oder Nuklein- und Aminosäuren die Raumgestalt der Proteine ins Spiel kommt,56 wo zweitens anstelle der Übertragung im Shannonschen Dispositiv von Sender, Kanal, Empfänger ein Prozess des Erkennens und Unterscheidens steht.57 Am Grund der Grundbegriffe von Monods Naturphilosophie, ja am Grund ihrer höchsten Verallgemeinerung, bewegen sich nicht Begriffe, _____________ 53 54 55

56 57

Leo Szillard erweitert das Setting technisch auf einen ‚Hebel‘. Jacob, Die Logik des Lebenden [Anm. 20], S. 268. Zu Shannons Adaption des thermodynamischen Entropie-Begriffs vgl. Claude Elwood Shannon, Eine mathematische Theorie der Kommunikation [1948]. In: ders., Ein – Aus. Ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie, hg. v. Friedrich A. Kittler u. a. Berlin 2000, S. 7–100, hier S. 26, Anm. 11. Genauer gesagt, der „Ordnungsgrad eines Systems“ (Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 77), die „information structurale“ (Monod, Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 81). Freilich lässt sich auch das Maß der Unterscheidung, Auflösung oder resolution nach Shannon als Beziehung zweier Codesysteme oder keyboards mit verschieden reichen Zeichensätzen berechnen (vgl. etwa Georges Theodule Guilbaud, La cybernétique. (Que sais-je?, 638) Paris 1954; engl.: What is Cybernetics? New York 1959).

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sondern Gestalten. Sie bewegen am Ende den Begriff des Erkennens selbst. Die „stereospezifische Erkennungseigenschaft der Proteine“58 ist der Dreh- und Angelpunkt philosophischer Begriffsbildung oder auch „spontaner Philosophie des Wissenschaftlers“ nach Jacques Monod.59 Denn auf der Erkennungseigenschaft beruht die Regulation und Funktion des Organismus bis hin zum Stoffwechsel. Auf ihr und der Fähigkeit mancher Proteine, zwei Zustände anzunehmen, beruht schließlich die ganze Entwicklung des Organismus, das ist: die funktionelle Differenzierung der Zellen.60 Die Morphogenesen des absoluten Signifikats Über die Entwicklung der Raumgestalt selbst der Proteine, über ihre „spontane und autonome Morphogenese“,61 ist allerdings um 1970 im Einzelnen wenig bekannt. Die Morphogenese der Proteine ist ein weißer Fleck und gerade darum diskursiv wirksam. In der begrifflichen Trias von invarianter Reproduktion, Teleonomie und autonomer Morphogenese hat letztere eine Sonderstellung. Invarianz und Teleonomie seien, so Monod, „Eigenschaften“ des Lebewesens, die autonome Morphogenese dagegen sei ein „Mechanismus“. Die Morphogenese der Proteingestalt realisiert Invarianz und Teleonomie allererst, „ruft sie hervor“, rends compte.62 Sie ist zugleich das „mikroskopische Abbild und die Ursache, la source, der autonomen epigenetischen Entwicklung des Organismus selbst“.63 Die Morphogenese der Raumgestalt der Proteine spielt direkt am Übergang von der ersten Dimension zur dritten, genauer: sie ist dieser Übergang. Monod formuliert ihn in verschiedenen Begriffen. Informationstheore_____________ 58 59

60 61 62 63

Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 105, 113. – „[...] propriétés de reconnaissance steréospécifique, par formation spontanée de complexes non-convalents“ (Monod, Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 119). Vgl. Louis Althussers Kritik von Monods Antrittsvorlesung am Collège de France (Louis Althusser, Philosophie et philosophie spontanée des savants [1967]. Paris 1974; dt.: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler. A. d. Frz. übers. u. m. e. Nachw. v. Frieder Otto Wolf. (Schriften, 4) Berlin 1985. Vgl. Jacob / Monod, Genetic Repression [Anm. 51], S. 31. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 105. „Que ce mécanisme en définitive rende compte des deux proprietés n’implique pas cependant qu’elles doivent être confondues.“ (Monod, Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 33; dt.: Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 25). Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 119. „[...] à la fois l’image microscopique et la source.“ (Monod, Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 125). Monods Gebrauch des Begriffs „epigenetisch“ ist auf ontogenetische Entwicklungsprozesse im Allgemeinen beschränkt.

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tisch beschrieben hat eine lineare Sequenz von 100 Aminosäuren aus 20 möglichen den einfach zu rechnenden Informationsgehalt von, nach Shannons logarithmischem Gesetz, log2 20100 = 432 bits. Die räumliche Struktur ist schwieriger zu rechnen. Monods Schätzung beläuft sich auf 1000 bis 2000 bits. Das heißt: in der räumlichen Struktur ist mehr Information enthalten als in der Sequenz.64 Dieser Widerspruch, le paradoxe de ‚l’enrichissement‘ épigénétique, wird schon in den 60er Jahren zur Einfallspforte von, in Monods Sprachgebrauch, „wissenschaftlichen Vitalismen“. Sie orten hier ein surplus, das unbelebte, physikalische Systeme von la matière vivante unterscheidet.65 Den Übergang von der ersten in die dritte Dimension beschreibt Monod, unterschiedslos technische und kulturelle Begriffe mischend, auch als Filterung,66 als Ausdruck oder schließlich Interpretation.67 Die Raumstruktur des Proteins gebe der „mehrdeutigen Botschaft“ der eindimensionalen Sequenz „eine eindeutige Interpretation“.68 Interpretation aber generiert Sinn. Und der Sinn der eindimensionalen Sequenz ist nichts anderes als die dreidimensionale Welt der Proteine, die Gesamtheit also von Erkennen, Unterscheiden, Steuern, Schalten, kurz: die Teleonomie des Organismus als solche. Das äußerste Signifikat dieses Sinns erhebt sich aus der eindimensionalen Sequenz selbst und dem Diskurs über ihre Struktur. Sequenzananalysen – von den 40er Jahren69 über die sequenzierungsfreudigen 80er Jahre70 bis zum human genome project der Jahrtausendwende – gehen, wenn sie endlos Folgen von Aminosäuren scannen und archivieren, allein beschreibend vor. Wäre es aber möglich, so Monod, auch „das Gesetz der Zusammenstellung auszusprechen, dem sie gehorchen“?71 Könnte man ein Gesetz finden, diese Folgen auch zu generieren? Am Horizont taucht ein Versprechen auf: die Vision, das „Geheimnis des Lebens zu durchbrechen“ und „seine ultima ratio zu enthüllen“, le secret _____________ 64 65 66 67 68 69 70 71

Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 118. Etwa der biotonischen Gesetze Walter Maurice Elsassers. Vgl. auch Kap. 2: Vitalismen und Animismen. In Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3]. Erst bestimmte „Ausgangsbedingungen“ (wässrige Phase, Temperatur, Ionenzusammensetzung) filtern aus den vielen theoretisch möglichen die eine ganz bestimmte dreidimensionale Struktur. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 120. Ebd., S. 119. „[...] une interprétation univoque d’un message [...] équivoque.“ (Monod, Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 125). Vgl. Chadarevian, Sequences, Conformation, Information [Anm. 31]. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Nachwort zur Wiederauflage von: François Jacob, Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung. Frankfurt a.M. 2002, S. 345–354, hier S. 352. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 120. „[...] énoncer la lois d’assemblage à laquelle elles obéissent.“ (Monod, Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 126).

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percé, l’ultima ratio découverte.72 Die Fata Morgana eines absoluten Signifikats allen biologischen Wissens ist erschienen. In Wirklichkeit zeigt die erste vollständige Sequenzanalyse eines Proteins, Frederick Sangers Beschreibung des Insulins von 1955,73 etwas anderes. Die Abfolge der Aminosäuren ist absolut zufällig. Monod sieht darin eine Folge „natürlicher Zahlen“ (statt einer Folge von Buchstaben, geschrieben etwa von Émile Borels Affen vor der Schreibmaschine).74 Die Zahlenfolge hinter dem Komma der Zahl pi etwa gehorcht keinem Gesetz als eben dem der transzendenten reelen Zahl pi. Aus 199 dieser Zahlen läßt sich durch keine kryptographische Vorhersage oder Markov-Analyse der Welt die nächste Zahl vorhersagen.75 Kein Muster, keine Wiederholung, keine Symmetrie scheint in dieser „vom Zufall geschriebenen“76 Sequenz entdeckbar. Und trotzdem ist die ganze Folge eindeutig bestimmt. Eine eindeutige Folge charakterisiert das Makromolekül eines bestimmten Proteins und kehrt in jedem Exemplar dieses Moleküls wieder.77 Die Botschaft der eindimensionalen Sequenz ist „vom Zufall geschrieben. Trotzdem ist sie mit einem Sinn befrachtet. Er offenbart sich in den auswählenden, funktionalen, unmittelbar teleonomischen Wechselwirkungen der globulären Struktur, einer Übersetzung der linearen Reihenfolge in die dritte Dimension.“78 In der ersten Dimension herrscht der Zufall, der in der dritten Dimension zu Funktion und Teleonomie, Erkennen und Schalten wird. Beide Dimensionen übersetzen sich einzig und allein durch die Morpho- und Ontogenese des im Raum gefalteten Proteins ineinander. Sie sind die absolute Bedeutung, das absolute Signifikat der Biologie. „Ursprung und Abstammung, l’origine et la filiation, der gesamten Biosphäre spiegeln sich in _____________ 72 73 74 75

76 77 78

Ebd. Vgl. etwa Chadarevian, Sequences, Conformation, Information [Anm. 31], S. 363–370. Vgl. etwa Guilbaud in seiner Einführung in die Kybernetik und Informationstheorie (vgl. Guilbaud, What is Cybernetics? [Anm. 57], S. 70). Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 121. Jedenfalls bei „direct analysis of the sequence“ (Monod, On symmetry and function in biological systems. In: Symmetry and Function of Biological Systems at the Macromolecular Level, hg. v. Arne Engström u. Bror Strandberg. (Nobel Symposium, 11) Stockholm 1969, S. 15–27, hier S. 18). Monod, Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S.128; dt.: Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 22 („vom Zufall diktiert“). Erst die reproduktive Invarianz, die machinerie de l’invariance aus Replikation, Transkription, Translation der zufälligen Folge „fängt den Zufall ein“, konserviert und reproduziert ihn. Erst damit komme überhaupt die Möglichkeit der Evolution ins Spiel. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 122. – „Message, qui par tous les critères possibles, semble avoir été écrit au hasard. Message cependant chargé d’un sens qui se révèle dans les interactions discriminatives, fonctionnelles, directement téléonomiques, de la structure globulaire, traduction à trois dimensions de la séquence linéaire.“ (Monod, Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 128).

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der Ontogenese eines funktionalen Proteins; und der letzte Grund, la source ultime, des Projekts, das die Lebewesen darstellen, verfolgen und vollenden, enthüllt sich in dieser Botschaft.“ Ihr Text in seiner absoluten Zufälligkeit bleibt unentzifferbar und spricht von nichts anderem als vom Zufall selbst seiner Entstehung. „Aber gerade darin besteht für uns der tiefste Sinn dieser Botschaft, die uns aus der Tiefe der Zeiten erreicht.“79 Die Botschaft ist der Zufall des Signifikanten selbst.

3. L’identification. Epistemologie ohne Begriffe Die Dialektik des absoluten Signifikats im absoluten Signifikanten und ihre ontologische Aufladung in einer biologisch, politisch, wissenshistorisch programmatisch anti-dialektischen Naturphilosophie wird schließlich als Szene wiederkehren: in einer tagträumerischen Halluzination identifiziert sich der Molekularbiologe mit einem Eiweißmolekül. Merkwürdig ist diese Szene schon darum, weil ja im Wissen des Molekularbiologen der Molekularbiologe selbst durchaus nichts anderes ist als eine schwierige Struktur von Eiweißmolekülen: er existiert als eine solche. Und würde eine Philosophie, die Enzyme, wenn auch nur in Gedanken, mit Maxwells Dämon identifiziert, vielleicht nahelegen, dass der Biologe, der sich mit einem Protein identifiziert, zu Maxwells Dämon höchstpersönlich wird? Womit also identifiziert sich der Biologe? Und was heißt hier Identifikation? Diesseits aller imaginären Relationen dürfte feststehen, dass sich der Biologe nicht mit einem Eiweißmolekül identifiziert, sondern mit einem bestimmten Wissen von Eiweißmolekülen und ihrer räumlichen Gestalt. Dieses Wissen formiert sich als Problem der Anschaulichkeit. Es durchläuft, wie Chadarevian zeigt, drei Stufen von Anschaulichkeit und NichtAnschaulichkeit. Die Röntgenkristallographie liefert zweidimensionale Photographien, auf denen ein Muster verschieden dunkler Lichtpunkte zu sehen ist, so genannte ‚Beugungsbilder‘. Sie werden auf Computern ausgewertet, im Cambridge der 50er Jahre etwa auf Maurice V. Wilkes EDSAC.80 Aus den Daten werden schließlich, handwerklich und feinmechanisch, _____________ 79 80

Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 123. Der Electronic Delay Storage Automatic Calculator, EDSAC, der Universität von Cambridge ist der erste Computer, der den Ablauf von Programmen über Bildschirmröhren und Debugging-Programme anschaulich macht (vgl. Martin Campbell-Kelly, Programming the EDSAC. Early programming activity at the University of Cambridge. In: Annals of the History of Computing 2 (1980) 1, S. 7–36). Und die Programme der Kristallographen werden aufgrund ihrer hohen Komplexität dazu verwendet, den Computer selbst durchzutesten (vgl. Chadarevian, Sequences, Conformation, Information [Anm. 31], S. 374.)

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sichtbare Modelle räumlicher Moleküle aus Stäben, Drähten, Kugeln hergestellt. Chadarevian berichtet, wie sehr sich, etwa im britischen Fernsehen, „die Molekularbiologen selbst mit diesen Objekten identifizierten oder von der Öffentlichkeit damit identifiziert wurden“.81 Monods tagträumerische Identifikation mit dem dreidimensionalen Strukturding Protein ist weniger bescheiden. Denn sie hat erstens ein berühmtes Vorbild. Sie ist zweitens Quelle oder Produkt einer ganzen Epistemologie. Und sie macht drittens eine Wette auf die wissenschaftliche Realität als solche. Der Vater aller ‚Strukturchemie‘ und darum chemischen Drahtmodelle,82 August Kekulé, fuhr, so erzählt er 1890 der zu seinen Ehren versammelten Festgemeinde auf dem großen Berliner ‚Benzolfest‘, eines späten Abends ‚outside‘ auf dem Dach eines Doppeldeckerbusses durch London, von einem Freund, dem Chemiker Hugo Müller, kommend, mit dem er lange Gespräche über „unsere liebe Chemie“ geführt hatte. Auf der Heimfahrt, im schaukelnden Bus: „Ich versank in Träumereien. Da gaukelten vor meinen Augen die Atome. Ich hatte sie immer in Bewegung gesehen [...]. Heute sah ich, wie vielfach zwei kleinere sich zu Pärchen zusammenfügten; wie größere zwei kleine umfaßten, noch größere drei und selbst vier der kleinen festhielten, und wie sich alles in wirbelndem Reigen drehte.“, usw. Die vorsprachliche Simulation durchläuft ohne Verzögerung einige Verwandlungen, nicht in Begriffe, aber aufs Papier. „Der Ruf ‚Clapham Road‘ erweckte mich aus meinen Träumereien, aber ich verbrachte einen Theil der Nacht, um wenigstens Skizzen jener Traumgebilde zu Papier zu bringen. So entstand die Strukturtheorie.“83 Auch die Theorie vom Benzolring ist, so ihr Erfinder, einer solchen, berühmt gewordenen Träumerei geschuldet. Sie findet im eleganten, aber dunklen „Junggesellenzimmer“ im belgischen Gent statt. Kekulé schreibt an seinem Lehrbuch, „aber es ging nicht recht; mein Geist war bei anderen Dingen. Ich drehte den Stuhl nach dem Kamin und versank in Halbschlaf.“ Wie auf dem Deck des Busses so gaukeln jetzt auch vor dem cartesischen Kamin die Atome herum, „schlangenartig sich windend und drehend“, und formieren sich schließlich zu jenem berühmten Bild: „Eine der Schlangen _____________ 81

82 83

Chadarevian, Modelle und die Entstehung der Molekularbiologie. In: Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, hg. v. Claudia Blümle u. Armin Schäfer. Zürich u. Berlin 2007, S. 173–179, hier S. 176. (Erw. Fass. von: Models and the Making of Molecular Biology. In: Models. The Third Dimension of Science, 2004 [Anm. 31]). Vgl. Meinel, Molecules and Croquet Balls [Anm. 31], S. 258–266. August Kekulé, Rede gehalten bei der ihm zu Ehren veranstalteten Feier der Deutschen Chemischen Gesellschaft im großen Saal des Rathauses der Stadt Berlin am 1. März 1890 (‚Benzolfest‘). In: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 23 (1890), S. 1302 f. (auch auf: www.sgipt.org/wisms/geswis/cehm/kek1890.htm, S. 3 f.).

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erfasste den eigenen Schwanz und höhnisch wirbelte das Gebilde vor meinen Augen. Wie durch einen Blitzstrahl erwachte ich; auch diesmal verbrachte ich den Rest der Nacht, um die Consequenzen der Hypothese auszuarbeiten.“84 – Kekulé selbst deutet, vor allen Deutungsversuchen der Psychoanalyse,85 seine Träumereien kulturhistorisch. Er habe nach dem Willen seines Vaters zunächst Architektur studieren müssen. Von daher schon sei ihm „ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Anschaulichkeit“ geblieben.86 Monods Halluzination und die folgende Selbstanalyse sind anders gebaut. Die ärmliche Randbedingung ist ein nicht weiter benanntes Gedankenexperiment, das „mithilfe von Formen, Kräften, Wechselwirkungen simuliert“ wird und „kaum so etwas wie ein ‚Bild‘ im visuellen Sinn des Begriffs“ ergibt. Nicht architektonische Konstruktionen, sondern dynamische Verhältnisse sind also der allgemeine Inhalt des Experiments: schwache Bindungen, van-der-Waals-Kräfte, Wasserstoffbrücken und hydrophobe Wechselwirkungen, also jenes biochemische Universum, in dem die Morphogenese der molekularen Raumgestalt stattfindet. Am Ende steht eine dreidimensionale Form, aber kein Bild. Morphogenese ist nicht Bildwerdung.87 Die Fortsetzung der Selbstanalyse fällt bei Monod etwas anders aus als bei Kekulé. Wo Kekulé zu zeichnen beginnt, philosophiert Monod über Bilder und Symbole selbst. „Ich glaube nämlich nicht, daß man die nichtvisuellen Bilder, mit denen die Simulation arbeitet, als Symbole ansehen sollte, sondern vielmehr als die – wenn ich so sagen darf – subjektive und abstrakte ‚Realität‘, die dem imaginären Experiment direkt zur Verfügung steht.“88 Statt sich darum aber für Zeichen und ihre Theorie zu interessieren,89 springt Monod direkt zurück ins positive Wissen der modernen Biologie. 1968 berichteten zwei Forscher des Californian Institut of Technology, _____________ 84 85 86

87 88 89

Ebd., S. 4. Vgl. etwa die Deutung von Alexander Mitscherlich, Kekulés Traum. Psychologische Betrachtung einer chemischen Legende [1965]. In: Psyche (1972), S. 649–655; und die anti-mitscherlich’sche Deutung Rudolf Sponsels, Erlangen (www.sgipt.org/th_schul/pa/kek/pak_kek0.htm). Architektur heißt, so Kekulé: „Descriptivgeometrie, Perspective, Schattenlehre, Steinschnitt und andere schöne Dinge“. Christoph Meinel analysiert diese Kulturgeschichte – aus sicher guten Gründen ohne Bezug auf Kekulés Traum – auf ein allgemeines Aufblühen des „Konstruktiven“ in Architektur, Technik, Kunst und Fröbels Kindergärten und Baukästen hin, aus denen viele Bauhaus-Architekten kamen (vgl. Meinel, Molecules and Croquet Balls [Anm. 31]). Monods Epistemologie morphogenetischer Prozesse würde psychologisch also eher auf das zulaufen, was Freud im Begriff der „Probehandlung“ zusammenfasste. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 190. Im ganzen Unterschied zu Jacob, Le modèle lingustique en biologie. In: Critique 30 (1974) 322, mars, S. 197–205).

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Jerre Levy-Agresti und Roger Wolcott Sperry, der nationalen Wissenschaftsakademie Amerikas über eine Experimentalserie an lobotomierten Patienten, Patienten also, bei denen die rechte von der linken Gehirnhälfte getrennt wurde.90 Bekannt ist, dass die Sprachzentren des menschlichen Gehirns in der linken Gehirnhälfte liegen. Levy-Agresti und Sperry stellen nun Experimente an, in denen die lobotomierten Versuchspersonen (immerhin als human patients angesprochen) „drei-dimensionale Formen entweder in der rechten oder in der linken Hand halten“ und diese Formen „ihren nicht entfalteten Formen, unfolded shapes, zuordnen sollen“. Die nicht entfalteten Formen wurden als „expanded patterns auf Karten gezeichnet und visuell präsentiert“. Die Aufzeichnung von Erfolg und Misserfolg der Zuordnung, je nachdem, ob das dreidimensionale Objekt in der linken oder der rechten Hand liegt, ergibt, dass die rechte Gehirnhälfte (linke Hand) bei dieser Zuordnung wesentlich erfolgreicher ist als die linke (rechte Hand). „Die Daten besagen, daß die stumme, kleinere Gehirnhälfte auf Gestaltwahrnehmung (englisch: gestalt perecption), spezialisiert ist; sie ist vor allem eine Synthese-Instanz für die Behandlung des InformationsInputs“, sie ist a synthesist.91 Die, so Monods Referat, „aphasische“ Hemisphäre scheint der „dominanten“ weit überlegen. Sie ist plus rapide dans la discrimination.92 Eine Epistemologie, die nicht die Bildung von Begriffen, sondern Simulation an den Anfang allen Wissens stellt, ist im „‚tiefsten‘ Teil der subjektiven Simulation“ ganz auf das Erkennen und Wiedererkennen dreidimensionaler Objekte orientiert. Und diese Epistemologie hat ein Fundament in den Strukturen des Nervensystems. Monod entwickelt sie nicht nur aus den zwei Hälften des Gehirns. Seine Exkurse in die evolutionäre Neurobiologie (die hier nur mit einem Strich angedeutet werden können) skizzieren eine Stufenfolge „kognitiver Funktionen“ durchs Tierreich, vom Tintenfisch bis zum Menschen, aus dem Problem der optischen Gestaltwahrnehmung. Seit Haldan Keffer Hartline in den 1930er Jahren Techniken erfand, an einer einzigen, isolierten Ganglienzelle eines herausgeschnittenen Froschauges elektrische Entladungen in Abhängigkeit von _____________ 90 91

92

Trotz aller ‚Ethik der Erkenntnis‘, stehen an der Wurzel der Monodschen Epistemologie also die grausamsten Experimente, die die an Grausamkeiten nicht sparsame Geschichte der Psychiatrie wohl je erdacht hat. Jerre Levy-Agresti / Roger Wolcott Sperry, Differential Perceptual Capacities in Major and Minor Hemispheres. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 61 (1968) 3, Nov., S. 1151 [Übers. – P.B.]. – „Die Entdeckungen“, so Levy-Agresti und Sperry, „legen nahe, daß ein möglicher Grund für die zerebrale Lateralisation die basale Unvereinbarkeit sprachlicher Funktionen und synthetischer Wahrnehmungsfunktionen ist.“ (Ebd.). Monod, Le hasard et la nécessité [Anm. 4]; S. 196; dt.: Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 191.

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Lichtreizen auf der Retina zu messen, wird die Neurobiologie des Sehens optischer Formen eine Wissenschaft des Schaltens. Hartline entdeckt, dass die Retinazellen in Feldern organisiert sind, receptive fields, die auf eine bestimmte Ganglionzelle geschaltet sind; nur wenn das Feld als Ganzes erregt wird, feuert die Ganglionzelle.93 Horace B. Barlow wird in den 50er Jahren dann beginnen, die genaue Struktur dieser Felder zu erforschen. Sie haben selbst bestimmte Formen, sind oval oder als Spalt angeordnet.94 David H. Hubel und Torsten N. Wiesel, Monods hauptsächliche Referenz, testen verschiedenste geometrische Formen eines Lichtkegels auf der Retina durch und stellen fest, dass eine genaue geometrische Beziehung „in shape, size, orientation“ von Stimulus und Retinafeld besteht.95 Viele Ganglionzellen sprechen nur auf eine einzige, morphologisch definierbare Gestalt und ihre Lage an, einen rechts geneigten Balken etwa, eine spitze Ecke, einen vertikalen Kontrastübergang. Sehen ist, wenn sich zwei Strukturen gegenseitig erkennen: auf der einen Seite eine geschaltete Struktur, ein bestimmtes räumliches Muster von Retinazellen, auf der anderen Seite ein Muster von Lichtreflexen. Optisches Erkennen ist Wiedererkennen. Ohne Umschweife macht Monod daraus Philosophiegeschichte. Nichts anderes nämlich zeige die moderne Neurobiologie als die nominalistischen Fundamente aller Kognition. Die „‚Begriffe‘ der elementaren Geometrie“, les ‚notions‘ de la géométrie élémentaire,96 sind, so wie sie bei Hartline, Barlow, Hubel/Wiesel erscheinen, nicht Eigenschaften eines Objekts, sondern nervös geschaltete Muster. Monod schließt kurz und schnell: die „eingeborenen Ideen“ Descartes, die kantischen Kategorien, cadres, des Verstandes werden von der Neurobiologie offenbar nur bestätigt. Erkennen im Allgemeinen beginnt damit, dass vorgeformte Strukturen sich gegenseitig erkennen. Kurzum: Überall, wo Monod Begriffe des Denkens denkt, Begriffe des Wissens weiß, landet er bei Formen, patterns, Gestalten, deren Genese und Funktion.97 Doch lässt sich diese Geschichte nur schwer aus einer _____________ 93 94 95 96 97

Vgl. Haldan Keffer Hartline, The Response of Single Optic Nerve Fibres of the Vertebrate Eye to Illumination of the Retina. In: The American Journal of Physiology (1938) 121, S. 400–415. Vgl. Horace Basil Barlow, Summation and Inhibition in the Frog’s Retina. In: Journal of Physiology (1953) 119, S. 69–88. David H. Hubel / Torsten N. Wiesel, Receptive Fields of Single Neurones in the cat’s Striate Cortex. In: Journal of Physiology (1959) 148, S. 574–591, S. 587. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 186; frz.: Le hasard et la nécessité [Anm. 4], S. 192. Das gilt schließlich auch für Monods anthropologische Exkurse am Leitfaden von André Leroi-Gourhans, La geste et la parole. 2 Bde. Paris 1964/65; dt.: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt a.M. 1984; vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit [Anm. 3], S. 161–164. Ausgangspunkt Leori-Gourhans ist eine detaillierte Mor-

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Geschichte von Begriffen denken. Denn sie sind der Heraufkunft eben jenes Objekts geschuldet, mit dem Jacob/Monod selbst alles Wissen von den Lebewesen umstürzten: den im Raum formierten, dreidimensionalen Makromolekülen, den globulären Eiweißmolekülen in ihrer topologischen Struktur und „kognitiven Funktion“. Monods Epistemologie von Simulation, Projekt, Gedankenexperiment handelt von nichts anderem als dem Erkennen und Wiedererkennen aufgefalteter, drei-dimensionaler Formen: der Genitiv sowohl im subjektiven als auch objektiven Sinne. In diesem Flirren eines Genitivs liegen alle Fragen nach dem Begriff in Monods Naturphilosophie der modernen Biologie beschlossen. Wo es halluzinativ wird, steht schließlich die wissenschaftliche Realität als solche auf dem Spiel. Denn die „subjektive und abstrakte ‚Wirklichkeit‘, die dem imaginären Experiment direkt zur Verfügung steht“, läuft nicht über das Nervensystem. Sie läuft über ein Subjekt. Der modernen Kognitionsforschung entgeht dieses Subjekt und seine Realität, selbst dort, wo sie nach der „Semantik in visuellen Modellen“ fragt. Denn diese Realität ist ihr von vornherein kognitiv. „Als körperliche Lebewesen in einer räumlichen Umwelt erleben wir Raum und Bewegung auf einer grundlegenden vorbegrifflichen Ebene unseres Daseins.“98 Auch wenn Humberto R. Maturana seit seiner Biology of Cognition von 1970 biologische als geschlossene Systeme denkt und „in den Operationen des Nervensystems die Ununterscheidbarkeit von Wahrnehmung und Halluzination“,99 entgeht ihm die Frage nach der Realität seines eigenen Wissens. Denn er stellt überhaupt nur Fragen nach der Kognition. Jacques Lacans Psychoanalyse dagegen, lange bevor sie räumliche Objekte in Anamorphosen und optischen Tricks erscheinen und verschwinden lässt, entwickelt die Genese des Realitätsprinzips und seines, letztlich, wissenschaftlichen Subjekts aus dem Schicksal seiner Objekte im Raum. Die Realität entsteht aus einer bestimmten Beziehung zum Raum. Sie ist es, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Denn die Beziehung zum _____________

98 99

phologie von zu Werkzeugen behauenen Steinen. Der entscheidende Sprung von der vertikalen zur tangentialen Schlagrichtung bei der Bearbeitung der Steine geht nach LeroiGourhan mit der Existenz der „Form“ des künftigen Gegenstands „im Geiste des Bearbeiters“ einher. Jens Gulden, Semantik in visuellen Modellen. Räumliche Regularitäten und körperliche Erfahrungsmuster als Bedeutungsträger visueller Modelle. In: Visuelle Modelle, hg. von Ingeborg Reichle, Steffen Siegel u. Achim Spelten. München 2008, S. 285–300, hier S. 294. Humberto R. Maturana, Introduction. In: H. R. Maturana / Francisco J. Varela, Autopoiesis and Cognition. The Realization of the Living, with a preface to ,Autopoiesis‘ by Sir Stafford Beer. Dordrecht, Boston u. London, S. XVI. – Schon McCulloch und Pitts fragen 1943 nach der Realität der Halluzination, wenn das Nervensystem ein geschlossener Schaltkreis ist (Warren S. McCulloch / Walter H. Pitts, A logical calculus of the ideas immanent in nervous activity. In: Bulletin of Mathematical Biophysics 5 (1943), S. 115–133).

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Raum ist beim menschlichen Subjekt identifikatorisch. Wo etwa Hans Bühlers Schimpansen vor dem Spiegel auf ihr Bild „echomimisch“ reagieren, mimetisch oder nachahmend, da findet sich das menschliche Subjekt sofort in einer räumlichen Identifikation befangen,100 der „globalen Angleichung einer Struktur gegenüber“.101 Gerade aus dem von Freud entdeckten „Prozeß der Identifizierung“, so eine frühe Freudlektüre Lacans, bilde sich die Realität des Subjekts als psychische Tatsache und Prinzip.102 Auf ihm basiert, wie es ein früher Versuch über die Epistemologie der Psychoanalyse unter dem Titel Au-delà du ‚Principe de realité‘ entwickelt, die wissenschaftliche Realität. Sie ist kein kognitiver Prozess. Denn die Realität der Objekte entsteht aus einer „bestimmten affektiven Tiefe“, die, so Lacan 1938, nur metaphorisch zu beschreiben ist: als Dichte des Gegenstands, als Perspektive und Gefühl der Entfernung des Gegenstands, die allesamt in eine Art Achtung vor dem Objekt münden.103 Es ist also die Stabilisierung und Morphogenese eines räumlichen Objekts überhaupt, an denen sich das Subjekt artikuliert und schließlich die Differenz von Halluzination und Realität.104 Aber die Dimension der Realität – la fonction du réel (Pierre Janet) – ist prekär. „Erwiesen wird jene Dimension in den Schwankungen der Realität, die den Wahn befruchten: wenn das Objekt mit dem Ich zu verschmelzen und zugleich in ein Phantasma zu zergehen strebt, wenn es zerlegt erscheint gemäß einem jener Gefühle, die das Gespenst der Unwirklichkeit bilden [...].“105 Am Ende setzen hier nicht nur die familialen Komplexe der Pathologie an, sondern eine Pathologie des Wissens. Monods Tagtraum stellt die einfache begriffstheoretische Frage: Ist er von abwesenden Begriffen induziert oder von einem anwesenden Ding? Denn auf der einen Seite tritt das als solches angesprochene „letzte Geheimnis“ der Monodschen Naturphilosophie, die globulären Proteine in ihrer Raumgestalt, auch begrifflich auf, als Begriff des „stereospezifischen, non-kovalenten Komplexes“. Er wandert in langen Ketten begrifflicher Verschiebungen _____________ 100 Jacques Lacan, La Famille. In: Encyclopédie française, hg. v. Anatole P. A. de Monzie. Bd. 8: La vie mentale, hg. v. Henri Wallon. Paris 1938, 40.3–40.16 und 42.1–42.8.; dt.: Die Familie (übers. v. F. A. Kittler). Schriften III, hg. v. Norbert Haas. 3., korr. Aufl. Weinheim u. Berlin 1994, Bd. 3, S. 39–100, hier S. 58. 101 Lacan, Jenseits des ‚Realitätsprinzips‘ (übers. v. F. Kaltenbeck). In: Schriften III [Anm. 100], S. 15–37, hier S. 33. 102 Ebd. 103 Lacan, Die Familie [Anm. 100], S. 67. 104 Der „Begriff einer Autonomie der Formen“ wäre, so Lacan, Freuds assoziationistischem Atomismus verschlossen geblieben. (Ebd., S. 69). 105 Ebd., S. 67 f.

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zwischen Technik, Biologie, Philosophie, Physik hin und her. Auf der anderen Seite reißt das dreidimensionale Strukturding des Proteins alle Begriffe an sich und zuletzt den Begriff des Begriffs selbst. Darum kehrt es als Halluzination wieder. Denn dieses Ding als dreidimensionale Struktur existiert nicht im Begriff, sondern in röntgenkristallographischen Photos, Computerprogrammen, Drahtmodellen und experimentellen Anordnungen. Als solches springt es auf andere Kontexte über und wird in seiner selbst kristallinen Morphologie zum Kristallisationskern eines Gedankenexperiments. Als Ding läuft das globuläre Protein durch Monods System, um die rekursive Geschlossenheit einer Naturphilosophie des 20. Jahrhunderts zu erzeugen: von Neurologie, Anthropologie, Epistemologie, im Bannkreis einer Biologie, die auf Erkennen und Wiedererkennen makromolekularer Strukturen im Raum operiert. Und als Ding wird es mit dem Subjekt des Wissens schließlich durchbrennen wie der Stallknecht mit der Gutsherrin.

MATERIALITÄT UND PRAXEN

Gunhild Berg

Die Geschichte der Begriffe als Geschichte des Wissens. Methodische Überlegungen zum ‚practical turn‘ in der Historischen Semantik Eine „neue[n] Kunst, die Geschichte der Wissenschaften zu schreiben“, forderte Georges Canguilhem, die „keine Sammlung von Biographien mehr sein [darf], auch kein Tableau von Doktrinen in der Art einer Naturgeschichte.“1 Es dürfe der Wissenschaftsgeschichte nicht mehr darum gehen, „die Varianten in den aufeinanderfolgenden Ausgaben eines Traktats aufzuzählen“; sie müsse wie Gaston Bachelards Epistemologie, „den schwierigen und widersprüchlichen, ständig erneuerten und berichtigten Aufbau des Wissens sichtbar – und zugleich einsehbar – zu machen [...]“ suchen.2 Aufgabe der Wissenschaftsgeschichte sei es, „eine Genealogie der Begriffe [zu] rekonstruieren.“3 Angesichts des oft heraufbeschworenen ‚Endes‘, das die Begriffsgeschichte nach Abschluss der großen Wörterbuchprojekte vermeintlich gefunden habe,4 stellt sich der Totgesagten die Frage nach zukunftsträchtigen Gegenständen und Methoden in besonderem Maße.5 Der vorliegende Beitrag geht deshalb methodischen Fragen nach, wie eine Geschichte der Begriffe für eine Geschichte des Wissens produktiv werden kann. Für _____________ 1

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Georges Canguilhem, Die Geschichte der Wissenschaften im epistemologischen Werk Gaston Bachelards. In: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, übers. von M. Bischoff u. W. Seitter, hg. v. Wolf Lepenies. Frankfurt a.M. 1979, S. 7–21, hier S. 17. Ebd., S. 11. Ebd., S. 17. – Als ‚historische Epistemologie‘, die eine Geschichte der Bedingungen untersucht, die bestimmte Arten des Wissens ermöglichen, kehrt dies programmatisch wieder bei Lorraine Daston, Die Biographie der Athene oder Eine Geschichte der Rationalität. In: dies., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. A. d. Engl. v. G. Herrgott, Ch. Krüger u. S. Scharnowski. Frankfurt a.M. 2001, S. 7–27, hier S. 12. Vgl. u. a. Hans Ulrich Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. Paderborn 2006, S. 8 u. 31 ff. Vgl. Carsten Dutt, Vorwort. In: Herausforderungen der Begriffsgeschichte, hg. v. C. Dutt. Heidelberg 2003, S. VII–XII, hier S. VII und Ernst Müller, Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: Begriffsgeschichte im Umbruch?, hg. v. E. Müller. (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jg. 2004) Hamburg 2005, S. 9–20, hier S. 10. – Im Rahmen dieses Beitrags kann die begriffsgeschichtliche Forschung nicht in extenso aufgearbeitet werden.

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die Untersuchung einer Begriffsgeschichte der (Natur-)Wissenschaften sowie der semantischen Übertragungen zwischen Disziplinen und Wissensfeldern bieten sich Verfahren aus dem bestehenden methodischen Inventar von Wissenschaftsgeschichte einerseits und Begriffsgeschichte andererseits sowie aus deren transdisziplinären Überschneidungen an, die insbesondere die Kulturwissenschaften ausloten.6 Die interdisziplinäre Erweiterung der Begriffsgeschichte durch diskursanalytische Methodik und kulturwissenschaftliche Ambitionen führt zu der Frage, inwiefern eine solche geöffnete Begriffsgeschichte noch Begriffs- und nicht Kulturgeschichte sei, inwieweit also die Begriffsgeschichte in der Kulturwissenschaft aufginge. Eine Modernisierung der Begriffsgeschichte durch die Kulturwissenschaft bedeutete nicht, jene durch diese zu ersetzen. Denn kulturwissenschaftliche Arbeiten, auch wenn sie sich um titelgebende Begriffe ranken, sind keine begriffsgeschichtlichen Untersuchungen, sondern vielmehr auf einem referenziellen Niveau angesiedelt, auf dem, um Michel Foucault zu zitieren, „die Beschreibungsformel zugleich Enthüllungsgeste ist“.7 Dieser Zugriff auf das historische Material mittels eines Signifikats erfolgt oft genug ohne die Aufarbeitung der historischen Signifikanten, vielleicht weil philologische Historisierung des Begriffs seine kulturhistorische Verweiskraft schwächte. Denn erst die Herauslösung des Begrifflichen aus seinen kulturell befangenen Bedeutungsbeladenheiten, die Beobachtung seiner Instrumentalisierung und das Aufzeigen seiner diskursiven Deformierung verleiht dieser kulturanalytischen Geste einen diskurskritisch deiktischen Wert. Kulturwissenschaftliche Arbeit kann ihrem dekonstruierenden Anspruch nach primär keine begriffsgeschichtliche sein. Aber Begriffs- kann Diskursgeschichte sein, wenn sie semantische Tie fenschichten von Begriffen als diskursiv etablierte Bedeutungsweisen und Strukturelemente von enoncés untersucht.8 Der Beitrag plädiert dafür, die Geschichte von Begriffen als historische Prozesse zu betrachten, in denen Begriffe nicht allgemein gültig definiert, sondern vielmehr durch diskursive Formierungen und Verschiebungen ausgebildet, geprägt, geformt, aufgeladen, verworfen, mit verschiedenen Funktionen und Zielsetzungen verwandelt und verwendet, nicht nur für das Denken, sondern auch für _____________ 6 7

8

Vgl. programmatisch Müller, Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte [Anm. 5], S. 11 ff. Im Originalzusammenhang beschreibt Foucault mit dieser Formulierung die Konstituierung der modernen wissenschaftlichen anatomisch-klinischen Methode, vgl. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. A. d. Frz. v. Walter Seitter. München 1973, S. 207. Vorausweisend hierzu Dietrich Busse, Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart 1987. Vgl. wieder ders., Begriffsgeschichte als Diskursgeschichte? Zu theoretischen Grundlagen und Methodenfragen einer historisch-semantischen Epistemologie. In: Herausforderungen der Begriffsgeschichte [Anm. 5], S. 17–38, hier S. 23 u. 26.

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das Handeln prägend werden. Begriffs- wird hier als Dispositivgeschichte entwickelt, welche nicht in erster Linie historische Formationsregeln von Diskursen untersucht, die sie (nachträglich) auf einen Begriff bringt, sondern welche die historische diskursive Formierung des Begriffs analysiert. Skizziert wird dies im Folgendem am Beispiel des naturwissenschaftlichen ‚Experiment‘-Begriffs.9

Zur Begriffsgeschichte des naturwissenschaftlichen ‚Experiments‘ Der Siegeszug des neuzeitlichen Experiments stützt sich gegenüber der Tradierung deduktiver Wissenssysteme auf Evidenz und Authentizität der Erfahrung.10 Experimentell gewonnene Erkenntnis wird zum Signum der neuzeitlichen Naturwissenschaften; mithin das Experiment zum Perspektiv, das die szientifisch-technische Weltsicht der Moderne bestimmt. Der ihm zugesprochenen Überzeugungsgewalt können sich die anderen neu entstehenden naturwissenschaftlichen Disziplinen, aber auch die nichtnaturwissenschaftlichen Fächer bald kaum mehr entziehen.11 Aufgrund der Experimentalisierung der Forschung in naturgegebenen wie gesellschaftlichen Bereichen bilden sich neue Disziplinen aus, so etwa Experimental-Naturlehre, -Seelenlehre und Pädagogik in der Aufklärung.12 Im Positivismus des 19. Jahrhunderts erreicht diese Tendenz der Empirisierung und Mathematisierung der neuzeitlichen Wissenschaften ihren vorläufigen Höhepunkt. In der philosophiegeschichtlichen Akzentuierung gilt die Differenzierung von imitatorischen und nicht-imitatorischen Experimenten als der entscheidende Schritt von der aristotelischen Naturauffassung hin zu den

_____________ 9

10 11

12

Im Rahmen dieser methodischen Skizze bleiben nicht-, vor- oder außernaturwissenschaftliche Experiment-Begriffe außen vor, nicht zuletzt deshalb, um darauf hinzuweisen, dass der vermeintlich stabile Begriff des naturwissenschaftlichen Experimentierens wissenschaftshistorisch divergent, aber noch nicht aufgearbeitet ist. Vgl. Steven Shapin, Die wissenschaftliche Revolution [1996]. A. d. Amerik. v. M. Bischoff. Frankfurt a.M. 1998, S. 87. Vgl. zu diesem Ausbreitungsprozess der ‚Experimental‘-Wissenschaften Gunhild Berg, Zur Konjunktur des Begriffs ‚Experiment‘ in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. In: Wissenschaftsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts als Begriffsgeschichte, hg. v. Michael Eggers u. Matthias Rothe. Bielefeld (erscheint vorauss.) 2009. Zur Entwicklung von Psychologie und Pädagogik aus dem ‚Geist‘ der Experimentalwissenschaften am Beispiel des Versuchs am Menschen vgl. Nicoals Pethes, Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007.

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modernen, experimentierenden Naturwissenschaften.13 Konsens ist, dass sich mit Francis Bacon das Experiment als Instrument regelgeleiteter, zielgerichteter Erfahrung im 17. Jahrhundert durchsetzt. Präferiert werde fortan die kontrollierte Versuchsanordnung, das experimentum, die sich von der naturabhängigen observatio löst und damit über die Grenzen des in der Natur Beobachtbaren hinaus nach Wissenserweiterung drängt. In dieser Auffassung zentral ist der Stellenwert der ‚Erfahrung‘ (experientia) für die neuzeitliche Wissenschaft, auf die der Begriff ‚Experiment‘ wortgeschichtlich wie semantisch verweist.14 Doch die von Friedrich Steinle an exponierter Stelle geäußerte Kritik an der älteren Forschung differenziert diesen Erfahrungs- im ExperimentBegriff. Die entscheidende Neuerung im Experimentierverständnis habe nicht in den intervenierenden Verfahren bestanden, die auch vorher schon verwendet worden seien, sondern in einer Neugewichtung der Erfahrung, im neuen Stellenwert der einzelnen, an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit individuell erarbeiteten Erfahrung und ihrer systematischen Betrachtung als Wissensquelle. „Wesentlich war nicht die Unterscheidung zwischen eingreifenden und nicht-eingreifenden Verfahren, sondern der einzelnen Erfahrung, unabhängig davon, wie sie zustande kam (und dafür steht das lat. experimentum), und der allgemeinen Erfahrung, der experientia.“15 Das Defizit des Experiments bestehe demzufolge darin, dass es singuläre und noch nicht allgemein zugängliche und damit allgemein anerkannte Erfahrung sei.16 Als Ziel des Experiments gilt der Erfahrungsgewinn, der im Unterschied zur singulären und akzidentiellen Beobachtung gerichtet, wiederholungsfähig und verallgemeinerbar ist. Indem die Reproduktionsfähigkeit des Experiments reklamiert wird, verlagert sich der Akzent seiner Begriffsbestimmung von dessen Ergebnis und Zweck auf die Bedeutung des Akteurs als desjenigen, der die Erfahrung sammelt. Die philosophische Deutungshoheit in der Begriffsgeschichte von ‚Experiment‘, die bislang wissenschaftstheoretisch eher an der idealen Zielstellung denn an den tatsächlichen Bedingungen und Resultaten von Experimenten als natur_____________ 13 14

15 16

Zu dieser Unterscheidung vgl. Rainer Enskat, Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht. Göttingen 2005, S. 329 ff. So auch schon Gerhard Frey, (Art.) Experiment. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter. Basel 1972, 2. Bd., Sp. 868–870, hier Sp. 868. Ausführlich diskutiert den historischen Erfahrungsbegriff Wolfgang Müller-Funk, Erfahrung und Experiment. Studien zur Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin 1995, S. 22 ff. Vgl. Friedrich Steinle, (Art.) Experiment. In: Enzyklopädie der Neuzeit, hg. v. Friedrich Jaeger. Stuttgart u. Weimar 2006, 3. Bd., Sp. 722–728, hier Sp. 723 f. Vgl. ebd. – Für den englischen Experiment-Begriff erarbeitet die Bedeutung der Erfahrung detailliert Peter Robert Dear, Discipline and experience. The mathematical way in the scientific revolution. Chicago u. London 1995.

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wissenschaftlicher Praxis interessiert war, sucht der new experimentalism zu entthronen, der Fragen nach der praktischen Experimentierarbeit aufwirft.17 Der practical turn in der Erforschung der Wissenschaftsgeschichte erwies sich insbesondere für die Bestimmung historischer Experimentierverständnisse als fruchtbar, da nun der aktive Anteil am Versuchsablauf nicht nur des Experimentators, sondern auch von technischen Apparaturen, Instrumenten, Laboratorien und Räumen ins Auge gefasst wurde.18 Für die Geschichtsschreibung von ‚Experiment‘ bedeutet dies einen entweder theoriegeleiteten oder einen (von der Begrifflichkeit wegführenden) praxisgeleiteten Zugang, mit anderen Worten eine entweder wissenschaftsphilosophische Untersuchung des Experiments oder die Untersuchung des historischen Experimentierens einzeln und im Kollektiv arbeitender Wissenschaftler. Die jüngere, an der historischen Experimentierpraxis orientierte Forschungsrichtung akzentuiert eine soziale Seite des Wissens, durch die Experimentieren zum von einzelnen Wissenschaftlern oder Forschergruppen praktizierten wie akzeptierten Verfahren wird. Doch in diesen Betrachtungen bleibt die Ausbildung und Ausbreitung des Begriffsverständnisses von ‚Experiment‘ als allgemein anerkanntem Verfahren unberücksichtigt, mithin die wissenssoziologische, genauer: wissensdiskursive Dimension der Geschichte des Begriffs. Die wissenssoziologisch relevanten Normen der Experimentalmethode, die im 18. und 19. Jahrhundert aufgestellt werden, reichen über den Begriff hinaus, werden aber bislang in der Erforschung der Begriffs- und Wissensgeschichte wenig beachtet. Etablierungs- und Stabilisierungfaktoren des Wissens treten zu Tage, wenn seine (sozial-)historischen Praktiken beachtet werden, denn sie begründen seine allgemeine, gesellschaftlich fundierte Anerkennung. So ist neben der diskursiv-horizontalen Ausbreitung des Experiment-Begriffs im 18. und 19. Jahrhundert, die diverse neue Experimentalwissenschaften begründet, auch eine sozial vertikale Ausbreitung experimentellen Wissens vor allem in der Aufklärung zu beobachten. Nicht allein der Experimentator bemächtigt sich der Welterkenntnis; Reproduzierbarkeit via Vorführung und Nachahmung multipliziert die Rezipienten des experimentell gewonnenen und bestätigbaren Wissens, verbreitet mithin Wissen und die Verfahren, es zu erlangen. _____________ 17 18

Vgl. den Forschungsbericht von Klaus Hentschel, Historiographische Anmerkungen zum Verhältnis von Experiment, Instrumentation und Theorie. In: Instrument – Experiment. Historische Studien, hg. v. Christoph Meinel. Berlin u. Diepholz 2000, S. 13–51. Wegweisend für die deutsche Wissenschaftsgeschichte sind hier die Arbeiten Hans-Jörg Rheinbergers. Er versteht Experimentalsysteme als Generatoren von Überraschungen, vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Representation(s). In: Studies in the History and Philosophy of Science 25 (1994), S. 647–654. Den aktiven Handlungsanteil des Experimentators fasst er als ‚Basteln‘, vgl. ders., Experiment. Präzision und Bastelei. In: Instrument – Experiment [Anm. 17], S. 52–60.

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Das Experiment besticht als Instrument der Generierung und Distribution von Wissen durch den Augenschein, der – unabhängig von seiner erkenntnistheoretischen Problematik – sowohl Überzeugungskraft als auch Unterhaltungswert bietet, dem sich das Publikum kaum entziehen kann.19 Die Experimentalvorführung durch Experten wie das selbstständige Experimentieren von Laien nach naturwissenschaftlichem Vorbild bedienen als gesellige Ereignisse eine Vielzahl sozialhistorischer Bedürfnisse, die für eine Geschichte des Wissens ebenso relevant sind wie die Fragen nach Entdeckungen, Erfindungen und konkreter Laborarbeit: Neugierde und Wissensdrang des Publikums, das das später in dieser Hinsicht ausgereifte Bildungsbürgertum verkörpert, seine Bestrebungen nach sozialer Distinktion gegenüber ‚dummem‘ Pöbel, ‚pedantischen‘ Gelehrten und ‚unnützem‘ Adel.20 Dass experimentalwissenschaftliche mit sozialen Argumenten konvergieren, äußert sich in den Forderungen bürgerlicher Protagonisten nach der obligaten gesellschaftlichen Nützlichkeit auch von Vergnügungen.21 Die Resonanz des Publikums ist ein aktiver Bestandteil der allgemeinen Anerkennung der Experimentalmethode, die sich nicht nur wissenschaftsintern, sondern auch -extern durchsetzt. Die Konvergenzen von Wissenschafts- und Kulturgeschichte schlagen sich im Ideal des bürgerlichen ‚Gebildeten‘ nieder, in den Wünschen des Bürgertums nach (wenigstens peripherer) Teilhabe am Wissensdiskurs, in der Umwertung des gelehrten Pedanten zum Experten, der Wissenschaft öffentlich repräsentiert, in der Auf- und Höherbewertung sozialmoralischer Tugenden für den Wissenschaftler, im Bemühen um wissenschaftlich-technische (Selbst-)Repräsentation (Examina, Gesellschaften, Akademien, Preisfragen) und in der Bereitwilligkeit zu finanziellen Investitionen in Instrumente, im Eigenengagement für den Fortschritt der Wissenschaften (Dilettantenarbeit), im Statuszugewinn des experimentierenden gegenüber dem Lehnstuhl-Wissenschaftler und in der Beförderung sozialer Aufstiegschancen (technische Berufe mit Beamtenstatus). Nicht zuletzt bedingt der Paradigmenwechsel infolge des frühneuzeitlichen Empirismus einen Umbau der traditionellen akademischen Hierarchien, Fakultätsstrukturen und Curricula.22 Die (potenzielle) Öffentlichkeit des Experimentierens, seine _____________ 19 20

21 22

Am Beispiel reisender Experimentatoren des 18. Jahrhunderts vgl. Oliver Hochadel, Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung. Göttingen 2003. Die „Verbürgerlichung“ und Elitisierung der „Gebildeten“ beschreibt Rudolf Vierhaus, Kultur und Gesellschaft im achtzehnten Jahrhundert. In: Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche, hg. v. Bernhard Fabian u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Nendeln 1978, S. 71–86, hier S. 81. Zum Interessenskonglomerat in der ‚bürgerlichen‘ Gesellschaft vgl. ebd., S. 84. Vgl. dazu und zur sozialen Systemstelle des frühneuzeitlichen Gelehrten grundlegend Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion

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Inszenierung als soziales und mediales Ereignis (Anschlag- oder Handzettel, Vorführung gegen Entgelt, journalistische Kommentare) befördert die Ausbreitung und allgemeine Anerkennung der Experimentalmethode.23 Aber die Distribution von Wissen, dessen man sich experimentell versichern kann, ist limitiert und nicht egalitär. Exemplarisch zeigt Peter Heering die Verschiedenartigkeit der Experimentierstile vor und nach 1800 in ihrer politischen Funktion auf, die die soziale Teilhabe am Wissen, das durch Experimentieren gewonnen werden kann, beschränken. Die entwickelten Instrumente, deren Messgenauigkeit durch ihre apparative Empfindlichkeit gewährleistet wird, verbieten zusehends eine öffentliche Vorführung und Diskussion der Versuche. Das Publikum würde darin nicht nur zum materiellen, sondern auch zum potenziell ideellen Störfaktor.24 Dieses Beispiel der Instrumentation deckt epistemische Bedingungen auf, die erkenntnispraktisch kurzfristig und wissenssoziologisch langfristig relevant werden. Apparative Vorgaben gehören genauso wie andere autoritäre Mechanismen, politische Restriktionen und pädagogische Zuteilungen zu Regulationsmechanismen der diskursiven Etablierung von Wissen. Die Erforschung der Geschichte des Wissens unterschätzt nicht selten die Möglichkeitsbedingungen und Mechanismen der gesellschaftlichen Rezeption und Akzeptanz des Wissens.25 Untersuchungen der Wissenspopularisierung beschäftigen sich mit einigen dieser sozialhistorischen Aspekte,26 doch selten mit dem Experimentieren als Instrument der Verbreitung einer wissenssoziologischen wie epistemischen Zugangsbedingung zum Wissensdiskurs und seiner Funktion für die gesellschaftliche Anerkennung und Konsolidierung der Naturwissenschaften. Die Geschichte des Wissens ist von der Geschichte (natur-)wissenschaftlicher Begriffe mitbestimmt, welche von einer definitorischen Aura des Naturgesetzlichen, Unwandelbaren und Unstrittigen profitieren, die die positivistischen Naturwissenschaften errichten konnten. Lorraine Daston moniert zu Recht das noch gegenwärtig weit verbreitete ahistorische Experimen_____________ 23 24

25 26

von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.–18. Jahrhundert). Frankfurt a.M. 1991. Vgl. Hochadel, Öffentliche Wissenschaft [Anm. 19]. Vgl. Peter Heering, Das Konzept des Experimentierstils zur Beschreibung historischer Experimentalpraxis. In: Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis, hg. v. Boůena Choâuj u. Jan C. Joerden. Frankfurt a.M. 2007, S. 361–385, hier S. 377. Für den britischen Raum dazu aber vorbildlich: Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England. Chicago u. London 1994. Vgl. u. a. Lothar Gall / Andreas Schulz (Hg.), Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2003. – Aus dem monierten Defizit leitet ein entsprechendes Forschungsmodell für ‚Popularisierung‘ ab: Carsten Kretschmann, Einleitung. Wissenspopularisierung – ein altes, neues Forschungsfeld. In: Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, hg. v. C. Kretschmann. Berlin 2003, S. 7–21.

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tierverständnis, das annimmt, dass seit dem 17. Jahrhundert die Schlüsselmerkmale des Experiments ein für alle Mal festgelegt seien, und deren Weiterentwicklung gänzlich vernachlässige.27 Der geradezu naive Glaube aber, den Daston hinterfragt wissen will, ist der Glaube eben daran, dass die Naturwissenschaften (mithilfe der Mathematik) Tatsachen produzieren könnten, denen bedingungslos der Rang von unveränderlichen Naturgesetzen zukomme.28 Eine Bedingung für solchen Glauben aber ist die erfolgreiche Etablierung eines naturwissenschaftlichen Experiment-Begriffs, der, indem er von seinen wissenssoziologischen Kontexten losgelöst wird, mit unzweifelhafter Wissenschaftlichkeit konnotiert ist.

Social and practical turn in der Begriffsgeschichte Reinhart Koselleck resümierte, dass die Zusammenführung von Begriffsund Sozialgeschichte sich gegen die abstrakte Ideengeschichtsschreibung als Selbstzweck und gegen eine unkritisch geschriebene politische Ereignisgeschichte richtete.29 Sozial- und politikgeschichtliche Argumente sollten die theoretische Isolation der definitorischen Begriffsbildung aufbrechen, um deren Funktion im gesellschaftlichen Kontext zu prüfen. Koselleck wies wiederholt auf temporäre Bedeutungsverschiebungen hin und insbesondere auf die Ideologisierung und Politisierung von Begriffen, die im historischen Prozess wirksam werden.30 Er stellte die Bedeutung von Begriffen in ihrer Rolle im Sozialen und als Agenten in der Geschichte heraus. Die Konzentration von ‚Erfahrung‘ und ‚Erwartung‘ im Begriff zielte bei Koselleck auf Modelle der Verheißung und Zukunftsgestaltung. Er beschrieb die Funktionalisierung von Begriffen mit der positiven oder negativen ideologischen Aufladung bestimmter Bedeutungen, die der Verteidigung oder gemeinsamen Frontstellung und der zukünftigen Realisation von Ideen oder Programmen dient. Bedeutungsveränderungen von Begriffen lassen sich nicht allein auf explizite definitorische Setzungen in Programmschriften und Theorien zurückführen. Vielmehr muss die Begriffsverwendung als Interventionsund Standardisierungshandeln in der „Deutungsarbeit“, wie sie Ralf Ko_____________ 27 28 29 30

Daston, Die Biographie der Athene [Anm. 3], S. 12. Vgl. ebd., bes. S. 15 f. Vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beiträgen v. Ulrike Spree u. Willibald Steinmetz sowie e. Nachw. v. Carsten Dutt. Frankfurt a.M. 2006, S. 11. Vgl. u. a. Koselleck, Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte. In: Herausforderungen der Begriffsgeschichte [Anm. 5], S. 3–16.

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nersmann fordert, ernst genommen werden.31 Die Geschichte der Begriffe unterliegt einem expliziten und impliziten Aushandlungsprozess, der auch nicht-tradierte semantische Varianten und Komponenten umgreift. Begriffe verweisen auf Strukturen, auf „Wissensnetze ad infinitum“, deren Knotenpunkte nicht starr, sondern variabel sind, gelöst und neu geschlungen werden können.32 Für Ludwik Fleck drückt sich das dezidiert „soziale Gepräge des wissenschaftlichen Betriebes“ in „Schlagworte[n]“ und „Kampfrufe[n]“ aus, die eine erkenntnispraktische und sozial konstitutive Wirkung entfalten.33 Nicht nur sind „im einzelnen Worte“ der Naturwissenschaften, über die Fleck schreibt, bereits „verwickelte Theorien gegeben“, wissenschaftliche Begriffe zeichnen sich darüber hinaus durch die „magische Kraft des Schlagworts“ aus, die „bis in die Tiefe spezialistischer Forschung“ hineinreiche. An die Stelle der logischen Prüfung trete beim Empfänger die nur emotional basierte Zustimmung oder Ablehnung gegenüber dem Begriff und seinen Verwendern. Im Unterschied zu einer vor allem aktiven Rolle von Begriffen im historischen Prozess, um die sich Anhänger oder Gegner gezielt scharen, betont Fleck bereits die passive Rolle von Begriffen in der Sozialisierung und Kollektivierung des Denkens, die auch ohne einen gezielten Akt der Parteienbildung polarisieren. Er mahnt die „soziologische Bedingtheit allen Erkennens“ an.34 Seine Theorie des Denkstils beschreibt die Grenzen des Denkbaren im naturwissenschaftlichen Experimentieren. Dessen Ergebnis in der Form der „wissenschaftlichen Tatsache“ erfüllt aus kollektiven Denkzwängen heraus oft genau diejenige Erwartung, die an den Versuch gerichtet wurde.35 Nicht nur die aktive, sondern auch die unreflektierte passive Weltaneignung und Denkstruktur ist über Begriffe und ihre Bedeutungsaufladung bestimmt. Die „wissenschaftliche Tatsache“ ist eine „denkstilgemäße Begriffsrelation“.36 Damit rückt Fleck zugleich von einer ideen- oder sozialgeschichtlichen Bewertung von Begriffen in der Geschichte ab und öffnet die Geschichte des Wissens für die Begriffsgeschichte. _____________ 31 32 33 34 35 36

Ralf Konersmann, Wörter und Sachen. Zur Deutungsarbeit der Historischen Semantik. In: Begriffsgeschichte im Umbruch? [Anm. 5], S. 30. Zum Bild der „Wissensnetze“ vgl. Busse, Architekturen des Wissens. Zum Verhältnis von Semantik und Epistemologie. In: Begriffsgeschichte im Umbruch? [Anm. 5], S. 50 f. Vgl. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935]. Mit e. Einl. hg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle. Frankfurt a.M. 1980, S. 59. Vgl. ebd., S. 58 f. Vgl. ebd., S. 130 f. – In einem wissenssoziologischen Sinne würden in der naturwissenschaftlichen Praxis des Experimentierens Kosellecks ‚Erfahrungsregistraturbegriffe‘ gewissermaßen zu ‚Erfahrungsstiftungsbegriffen‘ werden. Vgl. ebd., S. 110.

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Die Definition des Begriffs muss von seiner Verwendung im historischen Kontext unterschieden werden, betont Georg Bollenbeck.37 Dieser Vorschlag einer Verwendungsgeschichte, die die Begriffsgeschichte differenzieren soll, bedeutete in der Terminologie von John L. Austins Sprechakttheorie, den propositionalen Gehalt vom jeweiligen illokutiven Akt der Begriffsverwendung, der vom Sprecher intendierten Funktion in der Kommunikationssituation, zu trennen. Versteht man die Verwendung von Begriffen als kommunikatives Handeln, gerät deren soziale Reichweite in den Blick, die über die definitorische Normativität der Lexika hinausreicht. Die sozial wie soziologisch relevanten Effekte der Begriffe verfolgen zu können, erfordert die Abkehr von Höhenkammautoren38 sowie die Verbreiterung des Untersuchungsmaterials bis hin auf Gebrauchs- und Alltagstexte.39 Diese Erweiterung des Materials dient nicht dazu, eine einlinige Diffusion von Bedeutungen anzunehmen und semantische Verwässerungen und Trivialisierungen zu diskriminieren.40 Vielmehr geht es darum, Begriffe nicht nur als in einer Sprachgemeinschaft bindende SollVorgaben aufzufassen, sondern die Abweichungen, Wechselwirkungen und Seiteneffekte im sinnstiftenden Sprachgebrauch mitzuerfassen. Insbesondere Konnotate bestimmen den perlokutiven Akt der Begriffsverwendung, die (nicht zwangsläufig mit der Sprecherintention korrelierende) Verstehensleistung des Begriffs durch den Sprachempfänger. Trotz der vielfach divergenten Verwendungen und Verständnisse, die erfasst werden müssen, um Begriffe als historisch veränderlich und vieldeutig zu begreifen, verspricht die je synchrone Untersuchung des kleinsten gemeinsamen semantischen Nenners eines Begriffs, wie sie Angelika Linke als begriffsgeschichtliche Methode einer ‚Sozialstilistik‘ vorschlägt, Aufschluss über mentalitätsgeschichtliche Dispositionen.41 In einer Geschichte des Wissens verweisen diese Dispositionen auf die wissenssoziologische Dimension von Begriffen. Eine konsequente Historisierung und Kontextualisierung,42 die die diskursive wie nicht-diskursive Textur des Sozialen mitberücksichtigt, kann die _____________ 37 38 39

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Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M. 1994, S. 16 f. Dies fordert Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen [Anm. 4], S. 39 u. 79. Exemplarisch bei Angelika Linke, Begriffsgeschichte – Diskursgeschichte – Sprachgebrauchsgeschichte. In: Herausforderung der Begriffsgeschichte, [Anm. 5], S. 39–49, hier S. 45 f. Zum Untersuchungsmaterial der pragmatischen Linguistik vgl. auch Martin Wengeler, Tiefensemantik – Argumentationsmuster – soziales Wissen: Erweiterung oder Abkehr von begriffsgeschichtlicher Forschung? In: Begriffsgeschichte im Umbruch? [Anm. 5], S. 131–146. Hinsichtlich der Wissensspopularisierung ebenso Kretschmann, Wissenspolarisierung [Anm. 26]. Vgl. Linke, Begriffsgeschichte – Diskursgeschichte – Sprachgebrauchsgeschichte [Anm. 39]. Vgl. Konersmann, Wörter und Sachen [Anm. 31], S. 27 f.

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wissenschaftsinterne Engführung der Bedeutung des Begriffs via Definition aufbrechen. Für eine Begriffsgeschichte des Wissens würden sich daher folgende Analysedimensionen anbieten: (1) der wissenschaftsinterne wie -externe Aushandlungsprozess (natur-)wissenschaftlicher Begriffe einschließlich nicht tradierter semantischer Komponenten, (2) die diskursiven Schnittstellen, Parallelen und Übertragungen samt den damit einhergehenden Veränderungen und Vermehrungen in den Bedeutungs- und Verwendungsvarianten des Begriffs und den kulturellen und sozialen Resonanzen, Konnotationen und Wechselwirkungen sowie (3) die Funktionalität der Begriffe für das nicht-diskursive Soziale43 bzw. die konstitutive Wirksamkeit der Begriffe für Praktiken innerhalb und außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses.

Experimentelle Begriffsgeschichte? Noch immer ist unzureichend geklärt, was unter ‚Experiment‘ zu begreifen sei. Trotz des Forschungsaufschwungs zum Thema ‚Experiment‘ ist der Untersuchungsgegenstand, über den so rege diskutiert wird, aufgrund breit gestreuter neuer Begriffsbildungen schon kaum mehr zu fassen.44 Auch über die Geschichte des Experiment-Begriffs liegt noch keine nichtphilosophiehistorische Untersuchung vor.45 So eröffnet etwa Michael Schmidt einen ersten Ausblick auf die tatsächliche Breite der Bedeutungen des Experimentierhandelns um 1800, das vom mechanischen Alltagswissen (auch über die Tricks der Gauner und Diebe) bis zu Gedankenexperimenten reichte.46 Das Untersuchungsobjekt ‚Experiment‘ floriert als Thema in (Natur-) Wissenschaft, Literatur und Kunst; als Form oder Methode (v. a. des Essays), aber auch als Methode, Wissenschaftsgeschichte einschließlich des Experimentierens zu erforschen. _____________ 43 44 45

46

Zur Bezeichnung dieses nicht-diskursiven Sozialen als ‚Institution‘ durch Foucault vgl. Das Spiel des Foucault [Anm. 59 u. 60]. Dies kritisiert auch Hentschel, Historiographische Anmerkungen zum Verhältnis von Experiment [Anm. 17], S. 19. Neben wissenschaftstheoretischen Arbeiten etwa von Hugo Dingler (Das Experiment. Sein Wesen und seine Geschichte. München 1928) liegt bislang nur eine Wortgeschichte zu ‚Experiment‘ vor, vgl. Jörg Armin Kranzhoff, Experiment. Eine historische und vergleichende Wortuntersuchung. Phil. Diss. Bonn 1965. Vgl. Michael Schmidt, Zwischen Dilettantismus und Trivialisierung. Experiment, Experimentmetapher und Experimentalwissenschaft im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Experiment und Experimentieren im 18. Jahrhundert, hg. v. Marie-Theres Federhofer. (Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte, 5) Heidelberg 2005, S. 63–87, hier S. 68 f.

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Eine Variante als ‚experimentell‘ verstandener Wissenschaftsgeschichtsschreibung stellen ältere Versuche dar, Instrumentarien oder Methoden der experimentell arbeitenden Naturwissenschaften auf die Erforschung der Wissenschaftsgeschichte zu übertragen, wie das metaphorische Verwenden des Experiment-Begriffs für Formulierungen über die Potenz der Wissenschaftsgeschichte als „epistemologisches Labor“ (Eduard Jan Dijksterhuis), „experimentelle Theorie des menschlichen Geistes“ (Marie Jean Pierre Flourens) oder „geistiges Mikroskop“ (Pierre Laffitte) suggerieren.47 Eine solches Laboratoriums-Modell lehnt Canguilhem für die Wissenschaftsgeschichte ab und setzt ihm das „Modell einer Schule oder eines Tribunals“ entgegen, das eine Institution oder einen Ort böte, „an dem man Urteile über die Vergangenheit des Wissens oder über das Wissen der Vergangenheit fällt“.48 Nach dem practical turn in der Wissenschaftsgeschichte arbeitet die ‚experimentelle Wissenschaftsgeschichte‘ an der materiellen Imitation historischer Experimente der Naturwissenschaften. Ähnlich wie etwa die Experimentelle Archäologie reproduziert sie historische Materialien, Apparate, Herstellungsverfahren, Versuchsaufbauten u. Ä.49 Den jüngsten Vorschlag für eine experimentelle Methode, die Begriffsgeschichte von „Experiment/Versuch/Essay“ zu schreiben, entwickelt Birgit Griesecke als „kulturgeschichtliche Methode à la Wittgenstein“.50 Sie votiert gegen eine philosophisch abstrakte Begriffsgeschichte, die das ‚wahre‘ Wesen der Begriffe erfassen wolle, und plädiert für ein quasi experimentelles Verfahren, das Wittgensteins Methode der Sprachkritik, sein Verfahren der ‚übersichtlichen Darstellung‘ und ‚grammatischen Betrachtung‘ begriffsanalytisch anwendet. Damit könnten sprachliche Nuancen, Verwendungsweisen und Wortkonstruktionen gesucht werden, um anhand von ‚grammatischen‘ Strukturparallelen (des Denkens) zwischen verschiedenartigen Bereichen, wie etwa zwischen Experiment und _____________ 47 48 49

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Alle Zitatnachweise bei Canguilhem, vgl. Canguilhem, Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte [1966]. In: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie [Anm. 1], S. 22–37, hier S. 24 f. Vgl. ebd., S. 25 f. Mit dieser Kritik brüskiert Canguilhem die vorgebliche Wertneutralität positivistischer Geschichtswissenschaft. Vgl. Falk Rieß, Erkenntnis durch Wiederholung – eine Methode zur Geschichtsschreibung des Experiments. In: Experimental Essays – Versuche zum Experiment, hg. v. Michael Heidelberger u. Friedrich Steinle. Baden-Baden 1998, S. 157–172. Programmatisch dazu auch: Heinz Otto Sibum, Experimentelle Wissenschaftsgeschichte. In: Instrument – Experiment [Anm. 17], S. 61–73. Birgit Griesecke, Am Beispiel „Versuch“. Warum Wittgensteins Philosophie die Kulturgeschichte der Wissenschaften herausfordern kann. In: „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, hg. v. Bernhard J. Dotzler u. Sigrid Weigel. München 2005, S. 267–291, bes. S. 272 u. 291.

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Essay, erkenntnisträchtige Vergleiche anzustellen.51 Bereits Dietrich Busse verweist auf Wittgenstein, markiert aber auch die Diskrepanz von dessen „grundlagenphilosophischem“ Ansatz zu einem Methodengerüst, wie es Foucaults Diskursanalyse birgt.52 Diesen notwendigen Zwischenschritt, in dem die methodische Idee als Instrumentarium operationalisierbar gemacht würde, übergeht Griesecke.53 Offenbar verwechselt sie die explorative Potenzialität des naturwissenschaftlichen Experiments mit der sprachphilosophischen Konstruktion der Bedeutungsbreite eines Begriffs, aber auch mit der begriffshistorischen Arbeit. Denn das materialiter gebundene Experiment erkundet reale Zusammenhänge; das ‚Sprachspiel‘ im Wittgensteinschen Sinne hingegen potenzielle, gewissermaßen fiktive Bedeutungen, deren tatsächliche Zusammenhänge mit dem Wort zu prüfen gerade die Aufgabe einer historischen Analyse von Begriffen ist – insofern Griesecke, wie es ihr Aufsatztitel ankündigt, die ‚Kulturgeschichte der Wissenschaften‘ herausfordern will. Durch die Erweiterung des sprachlichen Horizonts im historischen Horizont kann Begriffsgeschichte dazu dienen, das als ‚natürlich‘ erachtete gegenwärtige Selbstverständnis der Begriffe grundlegend zu irritieren, indem sie die sprachlich manifeste Bedeutungsbreite als bedingtes Element historischer Diskurse, die Begriffe formen, aufladen und funktionalisieren, einsehbar macht. Mit Grieseckes Vorschlag aber würde Begriffsgeschichte nicht zum ‚Experiment‘, sondern zur erkundenden und Bedeutungen erprobenden Begriffsarbeit, die nicht historische Philologie, wohl aber ‚experimentelle‘ Philosophie zu heißen wäre.54 Begriffsgeschichte könnte allenfalls insofern ‚experimentell‘ sein, als sie die diskursiven Bedingungen von Bedeutungen eruiert, die die Voraussetzungen für die Verwendbarkeit von Begriffen sind. Zu fragen wäre, wie beim experimentellen Setting, nach den Determinanten, nach diskurshis_____________ 51

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Griesecke verweist auf Rheinbergers Modell der „Experimentalsysteme“, vgl. ebd., S. 46. Rheinberger wiederum beschreibt die Arbeit eines Experimentalsystems in Anlehnung an Wittgensteins „Sprachspiel“ als „Schreibspiel“ oder „Spurenlegespiel“, vgl. Rheinberger, Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg 1992, S. 23. Vgl. Busse, Begriffsgeschichte als Diskursgeschichte? [Anm. 8], S. 37, Anm. 14. Obwohl Griesecke einen Beitrag zum Gedankenexperiment vorgelegt hat; vgl. Birgit Griesecke / Werner Kogge, Was ist eigentlich ein Gedankenexperiment? Mach, Wittgenstein und der neue Experimentalismus. In: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, hg. v. Marcus Krause u. Nicolas Pethes. Würzburg 2005, S. 41–72. Von Griesecke intendiert als „Denken und Schreiben, das selbst experimentell wird“, vgl. Griesecke, Am Beispiel „Versuch“ [Anm. 50], S. 288. Ironischerweise liegt dann die Parallele zur experimental philosophy nahe, die im 17. Jahrhundert die Experimentalmethode neu ‚erfand‘. Diese Parallele, über die nachzudenken viel versprechend wäre, übersieht Griesecke nicht zuletzt deshalb, weil sie die Begriffe ‚Versuch‘, ‚Experiment‘ und ‚Essay‘ wortgeschichtlich nicht präzisiert.

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torischen Formationsregeln, die Bedeutungen aktivieren oder verhindern können. Zu fragen wäre aber auch nach der aktiven Stellung des Begriffs im Diskurs, im übertragenen Sinne nach dem Eigenleben des Versuchsobjekts ‚Begriff‘. So wirkt der Begriff ‚Experiment‘ als historische Definition, aber auch als diskursive Formationsregel, als Denk- und Erkenntnisweise sowie als wissenschaftliche, literarische und künstlerische Praktik. In der wissenschaftlichen Praxis ist „Handlungswissen“ immer zugleich auch kognitives Wissen,55 das begrifflich aufgearbeitet werden kann. Die Beobachtung der theoretischen wie praktischen Konstitution von Wissen legt einen practical turn auch in der Begriffs- als Wissensgeschichte nahe.

Begriffsgeschichte als Dispositiv-Analyse Die Normativität von Begriffen des Wissens übt einen Denkzwang aus, dessen Definitionsmacht über das Denken hinausreicht. Der von Fleck für die Naturwissenschaftsgeschichte aufgeworfene Denkzwang schließt die Einübung des Denkstils beim (wissenschaftlichen) Nachwuchs mit ein.56 Zum Denkstil des ‚Experiments‘ gehören daher auch Handlungsrespektive Experimentierstile,57 die mit Foucaults Dispositiv-Modell miteinander verbunden betrachtet werden können. Denn historische Laborarbeit ist wie die theoretische Definitionsarbeit Teil eines Verständigungsund Standardisierungsprozesses über Wissensbegriffe. Durch die diskursive wie nicht-diskursive, experimentelle Arbeit werden wissenschaftliche Begriffe wie wissenschaftliche Tatsachen geschaffen.58 Foucaults Dispositiv-Modell umgreift sowohl das diskursive als auch das nicht-diskursive Soziale, institutionelle Praktiken und Handlungsweisen, alles, „was in einer Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert, ohne dass es eine Aussage ist“.59 Dieses „gesamte nicht diskursive Soziale“, das _____________ 55 56 57 58

59

Vgl. Heering, Das Konzept des Experimentierstils [Anm. 24], S. 364. Vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [Anm. 33], S. 136 f. Den Begriff ‚Experimentierstil‘ prägt Heering, Das Konzept des Experimentierstils [Anm. 24]. In ähnlichen, aber gegenläufigen Verfahrenswegen beschreiben dies Fleck und Heisenberg. Fleck betont die experimentelle Arbeit an der Tatsache, die letztlich mit einem Begriff benannt wird; Heisenberg die experimentelle Arbeit am Begriff, der der Erfassung von Wirklichkeit dient; vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [Anm. 33], S. 123 f.; Werner Heisenberg, Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes [1941]. In: ders., Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. Zehn Vorträge. Stuttgart 122005, S. 89–108, hier S. 107 f. Das Spiel des Michel Foucault. Gespräch mit D. Colas, A. Grosrichard, G. Le Gaufey, J. Livi, G. Miller, J. Miller, J.-A. Miller, C. Millot, G. Wajeman. In: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. 3: 1976–1979. A. d. Frz. v. M. Bischoff, H.-D. Gondek, H.

Die Geschichte der Begriffe als Geschichte des Wissens

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Foucault als „Institution“ bezeichnet, ist „jedes mehr oder weniger erzwungene, erworbene Verhalten“.60 Deshalb kann eine Anleihe an Foucaults Dispositiv-Modell ins Blickfeld rücken, wie Normen für konkretes Handeln, Denkstrukturen, Erkenntnispraxis über Nachwuchsrekrutierung und -ausbildung, die Standardisierung des Denkens und der theoretischen wie praktisch relevanten Erkenntnisverfahren über Modifikation und Ausschluss funktionieren. „Dispositiv“ ist für Foucault „eine entschieden heterogene Gesamtheit“, das „Netz“ von „Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes“.61 Dieses Modell gewährt Zugriff gerade auf die Geschichte des Wissens, da Foucault im Dispositiv Wissen und Strategien seiner Erhaltung miteinander verbunden sieht. Das Dispositiv sei an die Grenzen des Wissens gebunden, die daraus hervorgehen, es gleichwohl aber auch bedingen. Es stütze bestimmte Typen von Wissen und werde von diesen gestützt.62 Diese Relation ist nicht tautologisch, sondern historisch funktional, insofern an der (zeitweiligen) Balance in diesem Kraftakt verschiedenartige Elemente beteiligt sind. Das Dispositiv- erweitert das Episteme-Modell der diskursiven Formationen um nicht-diskursive Kräfteverhältnisse, die sich infolge einer (oft nicht explizierten) strategischen Zielsetzung konstituieren.63 Begriffe sind nicht nur mittels ihrer definitorischen Explikationen und lexikographisch manifesten Deskriptionen, sondern auch über Denkimplikationen und von ihnen ausgeübte Denk- und Handlungszwänge, die Foucault im Dispositiv-Modell zu fassen sucht, wirksam. Begriffe normieren im definitorischen Sinne ihre Verwendung und formulieren explizite wie implizite Anforderungen an ihre Verwender. Sie sind insofern Konzepte, als sie Bedeutungsmuster bilden, die Urteile vorstrukturieren. Sie können nicht nur das Denken, sondern auch den Wissensgewinn, die Wahrnehmung und die Bewertung von Daten explizit oder implizit präskribieren. Sie disziplinieren den Erkenntnisprozess und darin die Beobachtung, Protokollierung, Auswertung und Interpretation der Resultate, die Repräsentation, Archivierung, Kommunikation und Beurteilung von Wissen. Der Begriff ist nicht auf einen Satz reduzierbar, sondern um die _____________ 60 61 62 63

Kocyba u. J. Schröder, hg. v. Daniel Defert. Frankfurt a.M. 2003, S. 391–429, hier S. 396. Für diesen Hinweis danke ich Matthias Rothe. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 392. Vgl. ebd., S. 393 f. Vgl. ebd.

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handlungs-, beobachtungs- und erkenntnisanleitenden Kriterien zu erweitern, die nicht allein im diskursiven Selbstverständigungsprozess der neuzeitlichen Wissenschaften für den Gewinn und den Umgang mit Wissen aufgestellt werden. Begriffe der Wissensgeschichte sind, wie das Beispiel ‚Experiment‘ zeigt, nicht auf die definitorische Dimension von Begriffen als gedanklichen Operatoren eingrenzbar, sondern bergen Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsnormen. Das definitorische Spannungsfeld des Experiment-Begriffs reicht von der wissenschaftstheoretischen Reflexion bis hin zur Wissenschaftspraxis. Daran beteiligt sind vielfältige präskriptive Textsorten wie Experimentieranleitungen in akademischen Lehrbüchern, populären Sachtexten und Experimentierkästen, Anweisungen zur experimentellen Arbeit und Forschung durch Dilettanten (z. B. Preisaufgaben), didaktische Überlegungen zur akademischen Experimentalausbildung und Experimentierpraktika oder Appelle aus Fachzeitschriften, experimentell gewonnene, einer Deutung oft gar nicht zuführbare Daten zu sammeln und mitzuteilen. Diese verschiedenartigen Formate bergen normative Kriterien dafür, was unter ‚Experiment‘ verstanden werden soll, indem (technische, soziale, moralische, intellektuelle, physische) Bedingungen und Erfordernisse für das Experimentieren, Zielsetzungen, funktionale Reichweiten, Anfälligkeiten, Fehleranalysen, Verbesserungspotenzial, Ergebnisbetrachtungen usw. von Experimenten thematisiert, diskutiert und damit konkretisiert werden. Mit Begriffsverwendungen werden gesellschaftliche Ansprüche formuliert, aber auch sozialreferenzielle Kriterien für die Akteure transportiert. Wissensbegriffe statuieren wissenssoziologisch relevante Normen. Sie definieren sowohl das Handeln des jeweiligen Wissenschaftlers als auch sein akademisches und soziales Selbstverständnis. Sie können als Dispositive Denken, Blick, Aktion, Moral und Habitus des Wissenschaftlers bestimmen und zugleich (selbst-)identifikatorische Maßstäbe setzen. Die Summe begrifflicher Verhandlungen und Deutungen bildet konkrete, ‚Wissenschaftlichkeit‘ formierende Kriterien aus. In den Begriffen formulieren sich gesellschaftliche Erwartungen an den Wissenschaftler respektive die Erwartungen an seine Fähigkeiten als eines Experten zur Wissensgenerierung und Wissensbeurteilung. Eine Begriffsgeschichte, die die Geschichte des Wissens schreiben wollte, gewänne durch die Berücksichtigung der sozialhistorischen, wissenssoziologischen, erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen und -praktischen, kurz: diskurshistorischen Dimension kulturwissenschaftliche Perspektivik. Eine derart verstandene Begriffsgeschichte könnte die Normativität von wissenschaftshistorischen Begriffen in ihren epistemischen Bedeutungen aufzeigen und hinterfragen.

Die Geschichte der Begriffe als Geschichte des Wissens

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Dass Signifikate auch ohne den jeweils fokussierten Signifkanten auftreten, ist Gegenstandsbereich der diskursanalytischen Dispositiv-Forschung, die normative Wissensordnungen, deren Wirkungen auf Interaktionen, Praktiken und Subjektifikationen rekonstruiert.64 Wie synchrone semantische, epistemische oder praktische Bedeutungen, sprachliche Übertragungen, Metaphernbildung, Bedeutungstransformationen u. Ä., die nicht unter einem gemeinsamen Begriff figurieren, in eine solche Untersuchung einbezogen werden könnten, ist ein methodisches Problem auch der klassischen Begriffsgeschichte. Lösungen dafür bieten u. a. Synonym- und Metaphern-, Topoi- und Argumentations- oder Diskursanalyse.65 Vorgeschlagen wird hier ein Schritt, um den die Begriffsgeschichte die Dispositiv-Analyse ergänzen kann, nämlich die Untersuchung der wissenssoziologischen Geschichte (natur-)wissenschaftlicher Begriffe als Dispositive, d. h. nicht allein der wissenschaftstheoretischen Dimension, sondern auch der wissen(schaft)spraktischen im Sinne einer Erkenntnis- und Handlungsanleitung. Die Fragen nach einem wissenschaftsphilosophisch relevanten Extrakt der Begriffsveränderung im Interesse einer überzeitlich gültigen Erkenntnistheorie sollen um Fragen nach einer Verwendungsgeschichte der Begriffe, nach ihren Bedingungen und Funktionen in der Geschichte des Wissens erweitert werden.

_____________ 64

65

Vgl. Andrea D. Bührmann / Werner Schneider, Mehr als nur diskursive Praxis? Konzeptionelle Grundlagen und methodische Aspekte der Dispositivanalyse. In: Historical Social Research = Historische Sozialforschung 33 (2008) 1, S. 108–141; und Reiner Keller, Diskurse und Dispositive analysieren. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse als Beitrag zu einer wissensanalytischen Profilierung der Diskursforschung. In: ebd., S. 73–107. Vgl. zu Einwänden gegen und Auswegen mithilfe der Argumentationsanalyse Wengeler, Tiefensemantik – Argumentationsmuster – soziales Wissen [Anm. 39], bes. S. 141; vgl. auch das diskursanalytische Modell der von der Oberfläche des Worts losgelösten „diskurssemantischen Grundfigur“ von Busse, Begriffsgeschichte als Diskursgeschichte? [Anm. 8], S. 28 ff.

Olaf Breidbach

Begriff und Praxis am Beispiel der Elektrizitätslehre um 1800 Wissen ist nur vordergründig einfach auf den Begriff zu bringen. Natürlich sind wir, die in einer Tradition stehen, die Wissenssysteme als Relationsgefüge begrifflicher Bestimmungen versteht, hier sehr schnell zu überzeugen.1 Das, was wir noch nicht kennen, ist ja das, was zu dem jetzigen Aussagengefüge der Wissenschaften dazuzugeben ist.2 Es ist also etwas, das in den uns schon verfügbaren Begriffen zu umschreiben ist. Selbst dann, wenn ich die vorhandenen Ordnungsmuster einer Wissenschaft revolutioniere und so das Definitionsgefüge dieser Wissenschaft in Frage stelle, muss ich doch das, was in dieser vormaligen Wissenschaft umschrieben ist, in das neue Gefüge einfassen. Die Ideen, die sich hieraus entwickeln, bestimmen Sprachsysteme als Referenzsysteme, in denen in der Deutung auf einen Gegenstand verschiedene Attributionen verschoben werden können, die damit aber nicht die Ausrichtung der Beschreibung auf ein festes ‚Dieses dort‘ der Außenwelt in Frage stellen.3 Damit wäre zum einen – ganz im Sinne der innerwissenschaftlichen Argumentation – die Objektivität, d. h. die Abbildung eines Begriffes in das Referenzsystem der Außenwelt, zum Korrektiv begrifflicher Bestimmung geworden.4 Erkenntnis wäre demnach nichts anderes als ein Prozess, in dem sich das Beschreibungsgefüge der Wissenschaft mehr und mehr an dem ausrichtet, was uns vor Augen liegt. Neues kommt dann dadurch in die Welt, dass sich unsere Perspektiven weiten, dass sich Geräte konstruieren lassen, mit denen mehr und Neues zu sehen ist.5 Natürlich ist auch das, was dann neu zu sehen ist, zunächst nur das nunmehr neu zu fassende Alte. Sukzessive werden dann aber im Gefüge der vormaligen Bestim_____________ 1 2 3 4 5

Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983. Vgl. Andreas Bartels / Manfred Stöckler (Hg.), Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch. Paderborn 2007. Olaf Breidbach, Deutungen. Zur philosophischen Dimension der internen Repräsentation. Weilerswist 2001. Lorraine Daston / Peter Galison, Objektivität. Frankfurt a.M. 2007. Vgl. Breidbach, Schattenbilder. Zur elektronenmikroskopischen Photographie in den Biowissenschaften. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 28 (2005) 2, S. 160–171.

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Olaf Breidbach

mungen Nischen begrifflicher Bestimmbarkeit entdeckt, deren Füllung dann das Wissen voranbringt. Umgekehrt wäre in einer rein sprachlichen Bestimmung des uns Verfügbaren die neue Erkenntnis dadurch zu gewinnen, dass sich das begriffliche Bestimmungsgefüge neu ausrichtet, indem der, der die Sprache nutzt, neue Anleihen trifft, demnach Bestimmungen aus einem Anschauungsbereich in einen anderen transferiert und so die Kriterien durchmischt, die eine sich bestimmter Perspektiven sichere Erfahrung aufgebaut hatte. Damit werden etwaige Monopole begrifflicher Bestimmung von Wissen gebrochen. Nur setzen sich in diesem Vorgehen dann neue Monopole gegen die alten. Konsequent gerät dann auch dem solche Sprachflusssysteme beschreibenden Foucault seine Analyse des Wissens zu einer Analyse der Monopole von Wissenszuordnungen und Wissensinterpretation.6 Beide Alternativen stehen aber letztlich in einem Erbe, das uns aus dem Barock überkommen ist. Beide verweisen auf ein Wissen, das sich einst im Absoluten versichert wähnte, dann in der Säkularisierung seines Wissen-Könnens die alten Strukturen zu halten suchte, um das Absolute, das mit Gott und seinem Schöpfungsplan verloren war, entweder bei den Dingen oder in uns selbst zu finden.7 Die Wissenschaftsgeschichte kann anders vorgehen. Sie kann in Fallstudien, in denen sie einen Fortschritt der Disziplinen oder der in einem bestimmten Interesse ausgerichteten Gruppen kommunizierender Wissender verfolgt, zeigen, wie Wissen verhandelt und Fragen gestellt werden.8 Schon sehr bald gerät sie dann an den Punkt, feststellen zu müssen, dass Wissenschaften und auch Wissen eben nicht nur begrifflich bestimmt sind, sondern immer auch praktiziert werden. Naturwissen ist ein Wissen, das aus Beobachtungen erwächst, indem Dinge in den Blick genommen, Objekte, die diese Dinge umstellen, verschoben werden; die Dinge selbst damit neu perspektiviert und in neuer Weise beschrieben werden können. Dabei führen das Material und die an diesem inserierenden Praktiken die Wissenschaft in eigene, nicht durch die Wissenschaft bestimmte Traditionen. Solche Traditionen sind dann auch nicht einfach ideengeschichtlich einzuholen. Konzept und Praxis liegen nicht einfach nebeneinander, sie sind vielmehr in Teilräumen überlagert und miteinander in vielfältiger und ggf. auch iterativer Weise verzahnt. Dabei kann die Praxis dem Konzept auch vorlaufen. Solch eine Fallstudie, die dann ggf. Anlass zu weitergreifenden Überlegungen bieten kann, möchte ich im Weiteren vorstellen und _____________ 6 7 8

Vgl. Philipp Sarasin, Michel Foucault zur Einführung. Hamburg 2005. Thomas Leinkauf, Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680). Berlin 1993. Bruno Latour / Steve Woolgar (Hg.), Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Princeton, N.J. 1986.

Begriff und Praxis am Beispiel der Elektrizitätslehre um 1800

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dabei über etwas unterrichten, das zu der Zeit, in der es in den Blick kam, eben nicht in ein vorgeformtes Gefüge begrifflicher Bestimmungen passte. Beschrieben wird dabei eine Situation, in der ein Wissenschaftler einen Erfahrungszusammenhang in expliziter Weise behandelt, einen Prozess vollzieht und diesen auch klar und nachvollziehbar beschreibt, ohne doch benennen zu können, was er dabei eigentlich macht: Beschrieben wird also eine Praxis. Diese besteht vor einer begrifflichen Bestimmung der in ihr behandelten Objekte. Sie besteht sogar, bevor sie selbst klar beschrieben wird. Sie vermittelt sich zunächst dadurch, dass sie imitiert wird, dadurch dass Handlungsabläufe einfach nachvollzogen werden, ohne dass sie in ihren Details überhaupt begriffen sind. D. h. wir beschreiben eine Phase, in der ein Wissenschaftler mit etwas umgeht, ohne dass er sich völlig klarmacht, was er da wie tut. Das Resultat seiner Manipulation ist zunächst ein Effekt. Erst in zweiter Hinsicht interessiert, was da unternommen wurde, um diesen Effekt zu erhalten.9 D. h. also, dass Wissenschaft eben doch anders funktioniert, als es eine rein sprachbestimmte Wissenschaftstheorie vielleicht formulieren würde.10 Dabei ist die Grundidee alles andere als originell. Schließlich ist die Frage der strukturellen Dispositionen, in denen sich Wissen eingrenzt, die Epistemologie des Labors, in der ein Gegenstand als laborfähig bestimmt und Welt als das der Wissenschaft Verfügbare, als das im Labor Verhandelbare eingegrenzt ist, mittlerweile common sense der Wissenschaftsgeschichte.11 Wohl zu überdenken ist aber die Radikalität eines Vorgehens, das nun nicht etwa eine Idee oder Konzeptgeschichte neben eine Experimentalgeschichte setzt,12 sondern das soweit geht zu formulieren, dass die Geschichte auch der außerwissenschaftlichen Praktiken Leitfunktionen einnehmen kann für eine Wissenschaft, die dann in der Reflexion der Praxis nicht nur einfach ihren Gegenstandsbereich ausbeutet, sondern die mit ihrer Praxis ihren Gegenstandsbereich konstituiert.13 Sicher ist dies eine extreme Formulie_____________ 9

10

11 12 13

Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001; H.-J. Rheinberger / Michael Hagner (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950. Berlin 1993. Vgl. M. Hagner / H.-J. Rheinberger / Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Objekte, Differenzen und Konjunkturen. Experimentalsysteme im historischen Kontext. Berlin 1994; Wolfgang König, Künstler und Strichezieher. Konstruktions- und Technikkulturen im deutschen, britischen, amerikanischen und französischen Maschinenbau zwischen 1850 und 1930. Frankfurt a.M. 1999. Vgl. etwa: Rheinberger / Wahrig-Schmidt / Hagner (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin 1995; Ursula Klein (Hg.), Tools and Modes of Representation in the Laboratory Sciences. Dordrecht u. Boston 2001. Ian Hacking, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. Stuttgart 1996. Vgl. Klein, Experiments, Models, Paper Tools. Cultures of Organic Chemistry in the Nineteenth Century. Stanford, Calif. 2003.

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rung, die der Realität der Forschungsgeschichte in Vielem Unrecht tut, die aber zumindest in bestimmten Extremsituationen in dieser Radikalität gedacht werden sollte, um dann zu bestimmen, wie Neues auf die Idee gebracht wird, nämlich schlicht, indem man es tut. Das Fallbeispiel hier behandelt eine Diskussion in einem engen Bereich einer experimentellen Disziplin. Diese Disziplin, die experimentelle Physik, die sich mit Magnetismus und Elektrizität befasste, konnte sich um 1800 nicht einfach über einen gut definierten Gegenstandsbereich von anderen Bereichen der Naturforschung abgrenzen. Sie beschrieb Elektrizität vielmehr als Resultat bestimmter Praktiken. Elektrizität sei das, was entsteht, wenn ich Glas an Katzenfell reibe, es ist das, was eine Elektrisiermaschine ableiten lässt. Dies, was da produziert wird, lässt sich auf Flaschen ziehen und zumindest über einen kurzen Zeitraum auf diesen Flaschen halten. Was dann aus diesen Flaschen wieder abzuziehen ist, entspricht in seinem Effekt dem, was passiert, wenn ich eine Voltaische Säule in der gleichen Weise in eine entsprechende Elektrizität weiterverarbeitende Apparatur einspanne. Und auch, wenn es mir gelingt, einen Blitz vom Himmel zu holen und seine Energie in eine Leydener Flasche zu füllen, genau dann habe ich ebenfalls einen Effekt, den ich in der gleichen Weise wie das, was aus der Elektrisiermaschine herauskommt, zu beschreiben vermag. Soweit die Aussagen der Physik um 1800, die nun zum Ansatzpunkt einer in einem Detail nachbohrenden Analyse genommen werden sollen. Um 1800 formulierte denn auch Professor Johann Carl Fischer (1760– 1833), der in Jena Physik lehrte, in seinem 1798 erschienenen Lexikon dieses Faches: Elektricität heißt derjenige Zustand eines Körpers, worin er leichte Körper anfänglich anzieht, nachher wieder zurückstößt, wenn sie ihm hinlänglich genähert werden, mit einigen ihm nahe gebrachten Körpern, z. B. mit dem Knöchel oder der Spitze des Fingers einen stechenden und knisternden Funken gibt, einen gewissen süßlichen Geruch, der nach Urinphosphat riecht, um sich her verbreitet, gewissen andern Körper ebenfalls die Eigenschaft mittheilet, eben diese Wirkungen hervorzubringen und dergleichen bald anzuführende Erscheinungen mehr. Oftmahls versteht man auch unter dem Worte Elektricität nicht allein diesen beschriebenen Zustand des Körpers, sondern die Ursache selbst, welche diese Wirkung hervorbringt. In dieser Bedeutung soll aber hier die Elektricität nicht genommen werden.14

Elektrizität war für Fischer eben schlicht das, was aus einer Elektrisiermaschine herauskam. Allerdings ergab sich damit sofort das Problem, inwieweit denn die endliche Liste von möglichen Attributionen zureicht, um _____________ 14

Johann Carl Fischer, Physikalisches Wörterbuch oder Erklärung der vornehmsten zur Physik gehörigen Begriffe. Erster Theil: Von A bis Elektr. Göttingen 1798, S. 861 f.

Begriff und Praxis am Beispiel der Elektrizitätslehre um 1800

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nun gleichartig Erscheinendes, was eben nicht aus der Elektrisiermaschine herauskommt, ebenfalls als Elektrizität kennzeichnen zu können. Zumal im Unterschied zu den Elektrisiermaschinen, in denen Elektrizität nur über einen kurzen Zeitraum zu speichern ist, und nach Berührung des Konduktors eben abgeleitet wird, wohingegen eine Voltaische Batterie die Abgabe von ‚Elektrizität‘ über einen längeren Zeitraum ermöglichte. Wobei aber auch hier die Vorstellung herrschte, dass Elektrizität nur beim Schließen und Öffnen der galvanischen Kette entstand, also auch in der Batterie Elektrizität nicht als kontinuierliche Reaktion, sondern als jeweils punktuell zu markierendes Geschehen zu beschreiben war. Dies war noch Ende des 18. Jahrhunderts völlig unklar. Schließlich war offen, ob die Elektrizität erst durch das Schließen der galvanischen Kette entstand und nach deren Öffnen verschwand. Erst Johann Wilhelm Ritters Beweis von 1798, „dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprocess in dem Thierreich begleite“, schaffte hier Klarheit.15 Dabei sind es aber verschiedene Situationen und verschiedene Materialien, in bzw. mit denen Elektrizität erzeugt wurde. Inwieweit ist dann aber das, was hier produziert wird, gleichartig? Schließlich sind die Entstehungsbedingungen dieses in seinen Effekten vergleichbaren Resultates der Funktion der Elektrisiermaschine und der elektrischen Säule denkbar verschieden.16 Es ist also gar nicht klar, dass das, was durch Reibung in der Elektrisiermaschine erzeugt wird, nicht nur in seinen Eigenschaften, sondern auch in seiner Substanz dem entspricht, was in der Spannungsreihe einer Batterie entsteht.17 Demnach verbietet sich denn auch eine Theorie, die bestimmt, was Elektrizität letztendlich ist. Darzustellen ist zunächst nur ein Katalog von Eigenschaften, der es erlaubt, die verschiedenen ‚Elektrizitäten‘ überhaupt einander zuzuordnen. Dieser Katalog ist auszuweiten, zu präzisieren und so im Vergleich weiterzuentwickeln. Unterschiedliche Entstehungsbedingungen und eventuell resultierende Verschiebungen in den Eigenschaftsspektren sind zu registrieren, Messszenarien sind zu entwickeln, die den Vergleich zusehends sicherer machen. Dann auch wird es möglich, den in eine Leydener Flasche geleiteten Blitz anhand der nun aus der Flasche abzuleitenden Reaktionen als Elektrizität zu identifizieren. Entsprechend kann mit einem derartigen Katalog dann auch damit umgegangen werden, dass es verschiedene Typen von Elektrisiermaschinen gibt, da der Merkmalskatalog _____________ 15 16 17

Johann Wilhelm Ritter, Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprocess in dem Thierreich begleite. Nebst neuen Versuchen und Bemerkungen über den Galvanismus. Weimar 1798. Heiko Weber / Jan Frercks, Replication of Replicability. Schmidt’s Electrical Machine. In: Bulletin of the Scientific Instrument Society 89 (2006), S. 3–10. Vgl. John L. Heilbron, Electricity in the 17th and 18th Centuries. A Study of Early Modern Physics. Berkeley, Los Angeles u. London 1979.

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elektrischer Eigenschaften eine Zuordnung der verschiedenen qua Maschine produzierten Energien erlaubt. Allerdings hat solch ein Katalog auch seine Schwäche, in der bloßen Reihung von Eigenschaften sind Bezüge zwischen verschiedenen Eigenschaften und damit Bewertungen der Bedeutung des einen oder anderen Merkmals nur schwer möglich. Entsprechend ist zu versuchen, möglichst viele Eigenschaften zu entdecken und einmal erfasste Besonderheiten möglichst im Blick zu halten. Das bedeutet nun umgekehrt für die Konstruktion einer Elektrisiermaschine, dass nicht sicher ist, welche Details der Konstruktion welchen Effekt hervorbringen. Offensichtlich sind Reibekörper und Reibekissen die wesentlichen Elemente der Konstruktion. Wie aber sind sie aufzubauen, welche Bestandteile ihrer Konstruktion muss ich festhalten.18 Wie sind ferner Details des Apparates, wie Schutzvorrichtungen, die die Scheibe abschirmen, zu bewerten. Die Unsicherheiten in solch einer Bewertung haben den Effekt, dass einmal bewährte Konstruktionen nur bedingt variiert werden. So lässt sich gerade an den in unseren Augen unwichtigen Details erkennen, dass die bloß beschreibende Darstellung der Elektrizität zur Folge hatte, einmal bewährte Praktiken und Konstruktionen weiterzugeben, auch in den und vielleicht sogar gerade in den Momenten, die in ihrem Effekt auf die Produktion der Elektrizität unverstanden geblieben waren. So lässt sich dann in einer vergleichenden Beschreibung der Entwicklung der Elektrisiermaschinen im 18. Jahrhundert feststellen, dass in der Konstruktion der Scheibenelektrisiermaschine gerade an den uns als Dekor erscheinenden Details festgehalten wird.19 Derart kommt es gegen Ende des 18. Jahrhundert zu dem Phänomen, dass der Reibekörper komplett ausgetauscht wird, so dass als Material der vormalig so gehüteten gläsernen Reibeplatte Pappe, lackiertes Holz, gummiertes Leder oder Leinenstoff verwandt werden, dabei aber die Details der Konstruktion, wie etwa die Abschirmung der Reibeplatte, kaum verändert werden. Die Geschichte der Elektrizitätslehre ist also nicht einfach die Geschichte eines Konzepts, sie ist zugleich auch die Geschichte einer Apparatur. Dabei zeigt sich, dass die Geschichte der Apparatur der Geschichte des Konzeptes vorläuft. Es tradiert sich eine Struktur, die sich in der Praxis bewährt hat. Den Physikern ist dabei nicht klar, was bestimmte Eigenheiten der Struktur für ihr Verständnis bedeuten, sie werden zunächst als praxisgeläuterte Momente der Konstruktion der Apparatur tradiert. Gleich dem Katalog der Bestimmungen, den der Physiker in seinem Lehrwissen tradiert, gibt es einen Katalog struktureller Eigenheiten, der, ebenfalls tradiert, in dieser Tradition in bestimmten Teilbereichen _____________ 18 19

Heiko Weber, Die Elektrisiermaschinen im 18. Jahrhundert. Berlin 2008. H. Weber / Breidbach, Geschichte der Elektrisiermaschine. In: Zeitschrift für Technikgeschichte (2009) [eingereicht].

Begriff und Praxis am Beispiel der Elektrizitätslehre um 1800

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variiert und weiterentwickelt wird. Das Resultat ist die Geschichte einer Konstruktion. Diese ist wiederum verbunden mit einer Praxis, die diese Struktur nutzt. Nun wäre durchaus zu spekulieren, dass solch eine Praxis eben nichts anderes ist als die Adaptation der Theorie an die verfügbaren Strukturen. Praxis wäre demnach ein Tun, das konzeptionell geleitet ist und nunmehr versucht die Ideen der Konzeption innerhalb des material verfügbaren Rahmens von Apparaturen, Objekten und Beobachtungsmöglichkeiten umzusetzen. Dabei – das sei allerdings schon hier angemerkt – kann die Geschichte der Elektrizitätslehre des 18. Jahrhunderts aber zumindest eine leichte Re-Akzentuierung solch einer Problemstellung ermöglichen. Die Konstruktion des Gerätes, der Elektrisiermaschine, und deren Tradierung zeigte, dass die Konstruktion unabhängig von einem etwaigen Konzept dessen, was Elektrizität ist, weitergegeben wurde. Die Struktur hat ihre eigene Geschichte, die ihrerseits wieder auf die Ebene der Konzepte rückwirkt, die zunächst aber die Rahmenbedingungen für eine bestimmte Praxis setzt. Diese, das zeigen etwa die Studien von Oliver Hochadel, war dann auch keine im engeren Sinne wissenschaftliche Praxis,20 d. h. eine Praxis, die direkt und unmittelbar auf eine theoretische Diskussion rückbezogen wurde. Die Elektrisiermaschine ist schließlich nicht primär ein wissenschaftliches Instrument. Die Elektrisiermaschine ist zunächst Teil eines höfischen Unterhaltungsinstrumentariums, zugleich Prestigeobjekt und instrumentierte Wunderkammer.21 Sie zeigt Phänomene auf, über die zunächst zu staunen ist, die zugleich Analogien ermöglichen und zeigen, dass in einem Zeitalter der Wissenschaft eben nicht nur Zeus in der Lage ist, Blitze zu schleudern, wenn auch die Dimensionen der elektrischen Unterhaltungen noch leicht andere waren. Der Performer, d. h. derjenige, der die Phänomene erzeugen kann, neue Effekte sucht und bekannte Effekte bestmöglich zu präsentieren weiß, ist dann natürlich auch für den Wissenschaftler interessant, der die Phänomene, die mit der Elektrisiermaschine zu erreichen sind, zu beschreiben und zu analysieren sucht.22 Der Performer ist der Mann der Praxis, die er vielleicht sehr viel besser beherrscht als der nur ab und an die Maschine nutzende Physiker. Er ist somit derjenige, der die Beobachtungsmöglichkeiten zu optimieren ver_____________ 20 21

22

Oliver Hochadel, Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung. Göttingen 2003. H. Weber, Carl Augusts Elektrisiermaschine und die Erforschung der Elektrizität. In: Ereignis Weimar. Anna Amalia, Carl August und das Entstehen der Klassik 1757–1807. Katalog zur Ausstellung im Schlossmuseum Weimar, hg. v. d. Klassikstiftung Weimar und dem Sonderforschungsbereich 482 Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800 der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Leipzig 2007, S. 269. Iwan Rhys Morus, Frankenstein’s Children. Electricity, Exhibition and Experiment in Early Ninetheenth Century London. Princeton, N.J. 1998.

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Olaf Breidbach

mag. Er ist derjenige, der Randbedingungen zu kontrollieren weiß. Kurz, seine Praxis wird für den Wissenschaftler und seine Konzepte leitend. Nun ist die Elektrizitätslehre nur eine Marginalie im Gesamtprozess der Wissenschaft. Das, was diese Lehre aber so interessant macht, ist die Tatsache, dass hiermit erstmals ein Phänomen analysiert und in seinen Effekten beobachtet werden konnte, das an sich, in seiner eigentlichen Substanz, den Sinnen des beobachtenden Menschen verschlossen schien. Die späteren Selbstexperimente von Alexander von Humboldt und Johann Wilhelm Ritter sind Indizien dafür, wie sehr schon in ihrer Zeit diese Situation irritierte.23 Wir wissen heute um elektrische Fische und das Ortungsvermögen, das schon Haien ermöglicht, die Muskelzuckungen ihrer Beute zu detektieren, und so selbst eine im Sand vergrabene Flunder zu orten. Um 1800 war die Situation, dass hier ein anscheinend zudem universelles Phänomen den menschlichen Sinnen verborgen war, ein Schock. Die Versuche Ritters, der nun in einer Art Umkehrschluss den Effekt der Elektrizität auf alle Sinne zu registrieren suchte, und der dabei nur knapp einer Selbstverstümmelung entging, sind in ihrer schockierenden Direktheit hierfür ebenso ein Indiz wie das Unterfangen von Humboldt, der mangels einer anderen Registriermethode seinen Körper selbst als Messsonde für Elektrizität und ihre Effekte benutzte. Doch stehen diese Versuche am Ende einer Entwicklung, in der sich zusehends zeigte, dass Elektrizität nicht nur ein Phänomen der Anorganik, sondern auch einen Reaktionskontext darstellte, der in organischen Prozessen eine Rolle zu spielen schien. Immerhin waren zuckende Froschmuskeln lange Zeit das feinste Messgerät für schwache Spannungsdifferenzen.24 Noch Ende des 19. Jahrhunderts – und darüber hinaus – nutzten Elektrophysiologen Handrücken und Zunge, um die Empfindlichkeit ihrer Reizelektroden einzustellen.25 Der Mensch hat zwar kein eigenes Sinnesorgan für Elektrizität, aber – und das hatte schon Ritter aufgewiesen – alle Sinne sind für Elektrizität empfänglich. Vorab gab es das Problem, ob Elektrizität als ein Phänomen, das etwas mit Ladung zu tun zu haben schien, eigentlich einen Stoff, vielleicht ein Fluidum, darstellte. Nun war aber seit dem 16. Jahrhundert bekannt, dass Ladung ein Phänomen ist, das einen Magneten auszeichnet.26 Magneten sind aber nicht elektrisch, _____________ 23 24 25 26

Gerhard Wiesenfeldt, Eigenrezeption und Fremdrezeption. Die galvanischen Selbstexperimente Johann Wilhelm Ritters (1776–1810). In: Jahrbuch für europäische Wissenschaftskultur 1 (2005), S. 207–232. Marcello Pera, The Ambiguous Frog. The Galvani-Volta Controversy on Animal Electricity. Princeton, N. J. 1992. Vgl. Breidbach, Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1997. Albert Kloss, Geschichte des Magnetismus. Berlin 1994.

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sie schlagen keine Funken und versetzen bei Berührung keinen Schlag. Magnetismus, als eine an bestimmte Stoffe gebundene Eigenschaft, die etwa auch von einem Magnetstein auf ein Stück Eisen zu übertragen war, war andererseits ein Phänomen, das ebenso wie Elektrizität zu einer Polarisierung führte. Jeder Magnet hatte zwei Pole, die sich voneinander abstießen. Ein magnetisiertes Eisen war entsprechend dem dieses polarisierenden Magneten geladen. Es richtete sich entsprechend nach dem Magneten aus. Gleichartige Pole, das ließ sich zeigen, stießen sich ab, ungleichartige zogen sich an. Wie auch in der Elektrizität konnte man insoweit zwischen einem +Pol und einem –Pol unterscheiden. Waren demnach Magnetismus und Elektrizität Spielarten einer generellen Polarisierung bestimmter Prozesse?27 War demnach Elektrizität ggf. eine Art von Magnetismus? Die Handlungspraktiken im Umgang mit diesen Phänomenen wiesen bestimmte Überschneidungen auf. In beiden Bereichen ließ sich eine Polarität und damit eine bestimmte in dieser Polarität gefangene Dynamik beobachten. Eine feingliedrigere Untersuchung der Polarisierung des Magneten und der Polarisierung im Bereich der Elektrizität wies allerdings Unterschiede auf.28 In einer makroskopischen Dimension, auf der Ebene einer groben Handlungspraxis, waren Magnetismus und Elektrizität strikt unterschieden. Auf der einen Seite ließ es die Elektrizität zu, Blitze zu erzeugen und Wärme und elektrische Erregung zu übertragen, auf der anderen Seite stand der Magnet und dessen Eigenschaft, sich auf der Erde nach Norden auszurichten. Die dem Magneten innewohnende Dynamik zeigte sich erst, wenn zwei gleichartige Pole zweier Magneten zusammengebracht werden sollten. War demnach die Vielfalt der makroskopischen Differenzen nur jeweils eine Spielart einer universellen Polarität? Die Schwierigkeit solcher Problemansätze bestand darin, sie so zu formulieren, dass sie in einer Beobachtungspraxis umgesetzt und danach neue Beschreibungen erarbeitet werden konnten, die in den Katalog des Wissens um die Elektrizität einzubinden waren. Die gängige Praxis, vergleichbare Phänomene zunächst zu analogisieren und im eingehenden Vergleich dann weitergehende Gemeinsamkeiten oder fundamentale Differenzen aufzuweisen, steht hier schon zu Beginn eines entsprechenden Zuordnungsversuchs vor dem Problem, dass die gängigen Umgangspraktiken mit Magnetismus und Elektrizität nicht einfach ineinander zu ver_____________ 27

28

Franz Ulrich Theodor Aepinus, Akademische Rede von der Aehnlichkeit der elektrischen und magnetischen Kraft. In: Hamburgisches Magazin, oder gesammlete Schriften zum Unterricht und Vergnügen, aus der Naturforschung und den angenehmen Wissenschaften überhaupt (1759) 1, S. 227–272. Aepinus, Sermo academicus de similitudine vis electricae atque magneticae etc. St. Petersburg 1758.

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mitteln waren. Erst im Rahmen des Konzeptes der Polarität und der sich in ihr konstituierenden neuen Beobachtungsformen war solch eine Zuordnung sinnvoll möglich.29 War demnach die sich neu konstituierende Handlungs- und Beobachtungspraxis der Elektrizitätslehre von einer Theorie bestimmt? In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert lässt sich beobachten, wie sich die Diskussion um die Frage einer etwaigen Abgrenzung der Phänomene, die über eine Elektrisiermaschine und die durch sie erreichte Polung von Gegenständen erzeugt wurden, von dem Phänomen des Magnetismus her entwickelt. Diese Diskussion ist zunächst an die Untersuchung eines speziellen Objektes gebunden, an dem sich Ladungsverteilungs- und Polarisierungsphänomene eingehender beobachten ließen. Es handelte sich hierbei allerdings nicht um einen Teilbereich der Elektrisiermaschine oder eine spezielle Apparatur zur Ladungsanreicherung, es handelte sich vielmehr um ein einfaches Mineral, das zu Beginn des 18. Jahrhunderts insbesondere in Holland populär war. In der Analyse dieses Minerals schien nunmehr darstellbar zu sein, was Elektrizität ist. Das Mineral, an dem ab Mitte des 18. Jahrhunderts solche Untersuchungen gemacht wurden, war der Turmalin, seinerzeit auch als „Pfeiffentrekker“30 bekannt. Niederländische Kolonialherren brachten das Mineral aus dem ostindischen Bereich mit nach Europa. Sie nutzten es als ein Gerät zur Pfeifenreinigung: Ein erhitzter Turmalin entwickelte Anziehungskräfte. Er erschien polarisiert, und diese Eigenschaft nutzten die Kolonialherren zunächst und vor allem zum Pfeifenreinigen; erlaubte es dieses Mineral im geladenen Zustand doch, die feinen Rußpartikel aus dem Pfeifenkopf zu entfernen. Der Turmalin ist ein Mineral, das bei Erwärmung elektrostatisch wirkt. Dabei ist es polarisiert. Es zeigt zugleich Eigenschaften eines Leiters und eines Magneten, dabei ist die Flussrichtung in diesem Leiter abhängig vom Temperaturgradienten über dem Kristall. Diese Flussrichtung kann nun dadurch bestimmt werden, dass kleine Kügelchen bekannter Ladung benutzt werden, um die Polarisierung des Turmalins an einer bestimmten Stelle auszuweisen. Wird der Turmalin dann verschoben, so ist mittels dieser Methode eine Art von Ladungsprofil des Kristalls zu erarbeiten, das

_____________ 29 30

Aepinus, Mémoire concernant quelques nouvelles experiences électriques remarquables. In: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de Berlin 12 (1758), S. 105–121. Hierzu Näheres in: Wiesenfeldt / Breidbach, „Könnte nicht also auch die Erdkugel ein großer Turmalin sein?“. Ein Kristall, Lichtenberg und die Polaritätsdiskussion vor 1800. In: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte (2008) [im Druck].

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zeigt, wie sich nach der Erwärmung seine Polarität aufbaut oder ändert.31 Zu registrieren ist hierzu allein, ob der Kristall an einer bestimmten Stelle zu einem bestimmten Moment seiner Erwärmung anziehend oder abstoßend wirkt. Zu interpretieren ist damit ein Phänomen, das sich nur sehr bedingt in den vorab aufgespannten Horizont der Bestimmung von Elektrizität einpasst. Hier zeigt sich, dass der Turmalin unter Erwärmung seine Polung verändert. Er wird in seiner Wirkung magnetisch, verbleibt aber nicht statisch in einer aufgewiesenen Polarisierung, sondern lagert in Abhängigkeit von der Zufuhr von Wärme seine Polarität um. Zunächst ist an dem Turmalin damit zu studieren, was Polarität ist, und wie sie sich aufbaut. Um eine Polarität aufzubauen, ist dem Kristall etwas zuzufügen – Wärme. Dann baut sich ein Ladungsgefüge auf, das nach Abkühlen des Turmalins verschwindet. Es scheint, dass hier etwas aufgenommen und dann im Kristall verteilt wird. Das Ladungsprofil, das sich über die Zeit verändert, macht deutlich, dass sich hier in der Tat Ladung räumlich verschiebt. Polarität scheint also an etwas gebunden, das sich im Turmalin bewegt oder bewegen lässt.32 Polarität scheint insoweit als Resultat einer bestimmten Zugabe oder Abgabe eines Stoffes interpretierbar zu sein. Magnetismus als Resultat des Aufbaus solcher durch Zugaben initiierten Polarität wäre demnach an das Einbringen bestimmter Stofflichkeit gebunden. Zu fragen wäre dann, ob – und wenn ja – inwieweit sich die Stofflichkeit des Magnetismus und die der elektrischen Phänomene, die ja ebenfalls Ladung zeigen, entsprechen. Ohne nun zu entscheiden, ob und inwieweit sich hier gegebenenfalls Fluida oder anderweitige Substanzen für den Aufbau von Polaritäten erfassen lassen, wird zunächst eine Messpraxis etabliert, und es werden Erfahrungswerte im Umgang mit solchen Messungen gewonnen.33 Konzeptionell ist danach mit beschreibenden Zuordnungen zu arbeiten, in denen dann analoge Phänomene aufeinander bezogen werden, und dies mit der Maßgabe zu verbinden, den Katalog ihrer jeweiligen Reaktionsbestimmungen so zu erweitern. Damit können dann Zuordnungen von Teilphänomenen zueinander bestätigt oder falsifiziert werden. So formulierte _____________ 31

32 33

Torbern Bergmann, Abhandlung von des Tourmalins elektrischen Eigenschaften. In: Der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften neue Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik auf das Jahr 1766. A. d. Schwed. übers. v. Abraham Gotthelf Kästner, Leipzig, 28 (1768), S. 58–69. Benjamin Wilson, Experiments on the Tourmalin. In: Philosophical Transactions 51 (1759), S. 308–339. Johann Carl Wilcke, Fortsetzung der Geschichte des Tourmalins. In: Der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften neue Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik auf das Jahr 1769. A. d. Schwed. übers. v. Abraham Gotthelf Kästner, Hamburg u. Leipzig, 31 (1771), S. 105–128.

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Georg Christoph Lichtenberg in seiner Antrittsvorlesung vor der Göttinger Akademie der Wissenschaften schlicht: „Könnte nicht also auch die Erdkugel ein großer Turmalin sein?“34 Das damit formulierte Konzept zielt auf die Zuordnung verschiedener Erklärungsansätze, die in einer Handlungspraxis einander zugeordnet werden. Begrifflich zueinander gestellt, sind dann in einem zweiten Schritt Verfahren zu entwickeln, die die vorhandenen Praktiken spezifizieren und so eine eingehende Qualifizierung der zugeordneten Analoga erlauben. Zu zeigen ist dabei, dass das Konzept der Polarität, das an dem Turmalin zu explizieren ist, zunächst nur eine Beschreibung einer Handlungspraxis nachstellt. Hierzu wird ein einfaches Elektroskop konstruiert, indem ein an einem Seidenfaden hängendes Korkkügelchen – der Seidenfaden isoliert – an einer Leydener Flasche oder einem vorher aufgeladenen Reibestab mit positiver Elektrizität versetzt wird.35 Der Ausschlag dieser Korkkugel erlaubt es nun, zum einen aus der Ausschlagrichtung – hin zu einem Pol oder weg von ihm – die Polarisierung eines Objektes darzustellen und anhand der relativen Amplitude der induzierten Schwingung auch eine Aussage über die relative Größenordnung der jeweiligen Ladung zu gewinnen. So wird nun der erwärmte und dabei seine Polarität ändernde Turmalin mit einer solcherart aufgeladenen Kugel abgetastet. Deren Ausschlag qualifiziert demnach eine lokale Ladungsintensität des Turmalins und wird, wenn die Kugel in einem bestimmten Bereich nicht mehr abgestoßen, sondern angezogen wird, als lokale Umschichtung der Polarität interpretiert. Dabei ist in der diesbezüglichen Literatur vor 1800 offen, ob diese Polaritätsumschichtung eine stoffliche Grundlage hat.36 Diskutiert wird, dass hier anscheinend ein Fluidum durch Erwärmung umverteilt wird. Unklar ist aber, ob es sich hierbei um eine einfache oder eine zusammengesetzte Substanz und überhaupt um eine der Naturforschung greifbare Struktur handelt, ob es um einen chemischen Stoff oder ein Wirkprinzip geht, das hier in seinen elektrischen Phänomenen studiert wird. Deutlich wird im Laufe dieser Darlegungen allein, dass beim Turmalin – im Gegensatz zum Magneten – durch bestimmte Behandlungsprozeduren nicht nur der Aufbau von Polarität, sondern auch eine Verlagerung solcher Polarität erreicht wird. Zu fragen ist daher, ob sich im Turmalin demnach ein übergeordnetes Polaritätsprinzip fassen lässt, das eben auch erklärt, wie Magnetismus zustande kommt, oder ob eine prinzipielle Differenz zwischen Elektrizität und _____________ 34 35 36

Georg Christoph Lichtenberg, Über eine neue Methode, die Natur und die Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen („Lichtenbergsche Figuren“), hg. in neuer dt. Übers. v. Herbert Pupke. Leipzig 1956, S. 44. Wilson, Experiments on the Tourmaline [Anm. 32], S. 318 f. Johann Christian Polykarp Erxleben, Anfangsgründe der Naturlehre. 6. Aufl. mit Verbesserungen u. Zusätzen v. Georg Christoph Lichtenberg. Göttingen 1794, S. 552–555.

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Magnetismus anzunehmen ist, welche die beiden Phänomene separiert und voneinander abgrenzt. Für den Göttinger Physiker Lichtenberg,37 das zeigen seine Ausführungen vor der Göttinger Akademie der Wissenschaften, war mit dem Turmalin ein Naturobjekt greifbar, an dem das Problem der Polarität als solches beobachtbar wurde. Magnetismus und Elektrizität sind demnach nur mehr Spielarten grundsätzlicher Ladungsverteilungsphänomene. Damit bleibt allerdings aber weiterhin offen, was Elektrizität ist. Begrifflich arbeitet Lichtenberg mit Analogien,38 er bezieht Phänomene, die er mit den gleichen Begriffen beschreiben kann, aufeinander und arbeitet dann im Vergleich der verschiedenen aufeinander bezogenen Phänomene Gemeinsamkeiten und Differenzen heraus. Damit lässt sich dann überprüfen, inwieweit eine solche Analogie als Zuordnungsverfahren Sinn macht, oder anders formuliert, ob und inwieweit solch eine Analogie in der Tat Vergleichbares in Bezug zueinander setzt. Hinsichtlich der Wirkung von Elektrizität sind dabei aber die Beschreibungsmuster begrenzt, es ist zum einen der Katalog der Phänomene, den Johann Carl Fischer benennt, es sind zum anderen die Polarität und die Beobachtungen zur Ladungsverteilung, die hier Muster zur Analyse der Elektrizität geben, ohne dabei doch diese selbst als solche darzustellen. Alle diese Merkmale benennen Eigenschaften, in denen die Wirkung der Elektrizität dargestellt ist. Entsprechend kann dann eine Liste solcher Eigenschaften auch genutzt werden, um Rückschlüsse über die etwaige stoffliche Qualität der Elektrizität zu gewinnen und somit eine Hypothese zu formulieren, was Elektrizität ist. Der Physiker Fischer war – wie benannt – um 1800 hierzu eher zurückhaltend. Ritter beschreibt den tierischen Galvanismus als einen beständigen Prozess, der alle Lebensprozesse begleitet.39 Damit setzt er ihn als ein spezifisches Phänomen zunächst von der Elektrizität ab, mit der dieser aber doch in irgendeiner Weise verwandt ist. Dies zeigt, wie offen eine begriffliche und damit konzeptionelle Fassung dessen, was Elektrizität darstellt, um 1800 ist. Allerdings ist mit Elektrizität umzugehen. Selbst Schausteller nutzen ihre Effekte. Im Umgang mit ihr sind denn auch solche Eigenschaften zu bemessen. Mit Elektrizität lässt sich manipulieren, ohne dass man weiß, was Elektrizität ist. Solche Manipulationen nutzte vor 1800 dann auch der Physiker, indem er die derart von ihm genutzten Praktiken beschrieb und die dort übernommenen Manipulationen weiterentwickelte. Dies tat etwa _____________ 37 38 39

Vgl. Lichtenberg, Über eine neue Methode [Anm. 34]. Wiesenfeldt / Breidbach, „Könnte nicht also auch die Erdkugel ein großer Turmalin sein?“ [Anm. 30]. Ritter, Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprocess in dem Thierreich begleite [Anm. 15].

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der Naturforscher und Theologe Joseph Weber (1753–1810) in Landshut,40 der uns insbesondere durch sein Journal bekannt ist, in dem er nicht zuletzt auch die Arbeiten von Johann Wilhelm Ritter publizierte.41 Nach einem ersten Unterricht am Benediktinerkloster in Donauwörth gelangte Weber an das Jesuitenkolleg in Augsburg, studierte dann Theologie in Dillingen, wo er 1776 zum Priester geweiht wurde. Vorab jedoch hatte er eine Anstellung als Haushofmeister inne und begann dort mit der Konstruktion elektrischer Apparaturen. Bekannt im Rahmen der seinerzeitigen Naturforschung wurde er durch ein Gerät, das die Elektrizität der Luft zu registrieren vermochte, seinen sogenannten Luftelektrophor.42 Er wurde Mitglied verschiedener lokaler Akademien, arbeitete als Lehrer und gelangte schließlich als Professor für Mathematik und Physik nach Ingolstadt, ging bei der Verlagerung der dortigen Universität mit nach Landshut und wurde hier unter anderem auch Rektor der Hochschule. Webers Lebensgang entsprach so der Bilderbuchkarriere eines provinziellen Klerikalen, nüchtern und keineswegs weltfremd durchläuft er die ihm offenstehende Karriereleiter. Und dieser Mann brachte nun in seinem Umgang mit Apparaturen der Elektrizitätsforschung seine Elektrizitätslehre auf die Praxis. Sein Wissenschaftskonzept war theologisch bestimmt.43 Damit aber wurde nicht etwa Naturerfahrung für ihn aus dem Bereich der Wissenschaft ausgegrenzt. Seine theologische Konsequenz war – und hierin entspricht er etwa François Fénelon und damit einer gängigen Strömung des Katholizismus des 18. Jahrhundert44 –, dass er sich seiner Erfahrungen sicher sein konnte. Es war Gottes Welt, auf die er blickte und kein satanisches Trugwerk. Gottes Schöpfung war selbst eine Offenbarung, Natur war so für Weber etwas, das er sinnlich erfahren konnte. Eine Wissenschaft konnte nun aber nicht einfach beim Ausweis des Augenfälligen stehen bleiben. Als Wissenschaft musste so auch die Physik über die sinnliche Natur hinaus insoweit die in ihr effektive absolute Natur erfahren. Die absolute Natur war als die ‚allreale‘ Seite des Seins zu erfahren. Dieses allreale Sein war für Weber „ein sich in Zeit und Raum äusserndes (urbewegendes) Sein, also dynamische Kraft“.45 Die absolute Natur ist damit _____________ 40 41 42 43 44 45

Vgl. H. Weber, Experimentalprogramme der frühen Naturwissenschaften. Johann Wilhelm Ritter (1776–1810) und Joseph Weber (1753–1831). Berlin 2008. H. Weber, J. W. Ritter und J. Webers Zeitschrift Der Galvanismus. In: Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena – Weimar, hg. v. O. Breidbach u. Paul Ziche. Weimar 2001, S. 216–247. Joseph Weber, Der Luftelektrophor in seiner Vervollständigung und Zurückführung seiner Erscheinungen auf bestimmte Gesetze. München 1831. H. Weber, Experimentalprogramme der frühen Naturwissenschaften [Anm. 40]. Robert Spaemann, Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon. Stuttgart 1963. J. Weber, Die Physik als Wissenschaft in Sätzen. Dillingen 1819, S. 4.

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eine dynamische Natur, und wird also auch als solche sinnhaft. Dabei ist – so Weber – die Kraft der Natur ein durch sich selbst bestehendes Sein. So hätten wir die Naturdinge in ihrer dynamischen Dreieinheit darzustellen (die ihnen schon mit Blick auf die Grunddimension des trinitarisch erfahrenen Göttlichen zukommt). In dieser dynamischen Dreieinheit ist dann die Grundbewegung der Natur darzustellen. Die Polarität der elektrischen Naturen, die sich in einer Reaktion aufzulösen vermag, dann aber wieder Ladung aufbaut und sich so in einen dreistufig darstellbaren Prozess überführt, bietet damit ein Modell solch absoluter Naturdynamik. Diese will Weber in ihren Bewegungen darstellen. Er spricht davon, „eine Synthese von expansiver und contractiver Thäthigkeit“46 darzustellen. Die Grundinhalte dieses Programms sind bei Weber theologisch – damit denkt er anders als ein Physiker in Paris oder Jena. Allerdings, er kann sein Denken mit deren Grundvorstellungen verkoppeln: So ist für Weber der magnetische Prozess nichts anderes als „der Wechsel der Differenzirung der Linienindifferenz und die Rückkehr der Differenzen zur Indifferenz“.47 Die Anklänge an das Vokabular, das auch ein Naturphilosoph wie Schelling um 1800 nutzte, sind offensichtlich.48 Die hinter dieser Aussage liegende Idee, dass sich in der Natur das Absolute erschließt, ist aber nichts anderes als die klassische Idee des Augustinus, der ein platonisches Weltverständnis voraussetzt, zum anderen aber die Natur als natürliche Offenbarung neben die durch die Heilige Schrift und die Lehrtradition gesicherte Offenbarung Gottes stellt. Inwieweit ist damit nun aber im Denken Webers ein Ansatz zu finden, Elektrizität als solche zu beschreiben? Klar ist, dass sie als dynamisches Prinzip für einen Naturforscher, der in solcher Dynamik das „allreale“ Sein suchte, besonders interessant war.49 Nur blieb diese Elektrizität in ihrer Dynamik der direkten und unmittelbaren Anschauung verschlossen. Sie ist nicht einfach vor Augen zu führen und in ihren Qualitäten zu beschreiben. Schließlich haben wir für die Elektrizität kein Sensorium. Möglich ist eine Beschreibung also nur in der Darstellung ihrer Effekte auf das, was uns augenfällig ist. Damit ist auch klar, wie ich dann in der Elektrophysik auf einen Begriff komme, den ich noch gar nicht habe: mit Praxis.50 Für Weber zeigt sich Elektrizität in der Fläche, es ist die Kraft, die in die Indifferenz führt. Es ist eine Kraft, die ausströmt, deren Teile sich _____________ 46 47 48 49 50

Ebd., S. 5. Ebd., S. 13. Vgl. Breidbach, Schelling und die Erfahrungswissenschaft. In: Sudhoffs Archiv 88 (2004) 2, S. 153–174. J. Weber, Die Physik als Wissenschaft [Anm. 45], S. 27. Hierzu ist in Zusammenarbeit mit Heiko Weber eine ausführliche Fallstudie in Vorbereitung.

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voneinander absetzen, und die genau darin dann auch in sich polarisiert ist. Als solche Indifferenz ist sie aber immer in sich polarisiert. Das wird deutlich, wenn ich sie einer anderen, eben anders gepolten Fläche entgegensetze. Wenn ich sie zu einer anderen indifferenten Fläche führe, wird sie gegenüber dieser organisiert und so polarisiert. So wird durch die Entgegensetzung zweier Indifferenzen im Entgegenstehen Polarität, d. h. Differenz entstehen. Und dies demonstriert er nun an seinen sogenannten Doppelelektrophoren.51 Zu beschreiben ist nun ein Ritual, bei dem in einem komplizierten Prozess, in dem Weber Flächenelektroden, die mit Elektrizität geladen sind, nicht leitenden Flächen aufsetzt, diese wieder abnimmt, dann den Nichtleiter einem Leiter gegenüber exponiert, der noch nicht geladen ist, und darauf die sich so wechselseitig in unterschiedlicher Weise induzierenden Ladungsträger neu kombiniert. Der elektrische Körper ist nach Joseph Weber Resultat einer qua Reibung übertragenen Elektrisierung. Diese kann direkt durch Abhaspeln der Elektrizität etwa von einem Reibekörper oder indirekt – durch Auftragen der Ladung eines die abgehaspelte Elektrizität sammelnden Körpers – gewonnen sein. Dass ein Körper elektrisiert ist, zeigt sich nach Weber durch verschiedene Tests. Nun ist die Frage, was passiert bei solcher Reibung? Ist dies dann ein Effekt, der alle Reibungsphänomene begleitet? Generiert also auch der Wind, wenn er über die Sträucher streicht, Elektrizität? Weber sieht in solchen Luftbewegungen die Ursache der atmosphärischen elektrischen Erscheinungen. Dabei wird in solchen Prozessen für Weber denn auch in der Tat etwas explizit abgerieben: Für ihn besitzen alle Körper von Natur aus einen gewissen Bestandteil der Materie, welcher den Grund für die elektrischen Erscheinungen darstellt. Diesen kann ich von einem auf einen anderen Körper übertragen. Bei Elektrizität handelt es sich also um etwas Stoffliches. So kann ich Elektrizität denn auch nach Weber nicht durch den luftleeren Raum transportieren.52 Wie teilt sich nun aber Elektrizität mit? Hierzu formuliert Weber in seiner Antwort keine Theorien, er beschreibt Versuche, lässt Korkbällchen tanzen oder Siegellack und Glasstangen an Kork oder gegeneinander stoßen. Dabei zeigt sich ihm, dass Elektrizität über die Ferne wirkt, die Körper sich nicht berühren müssen, um – bei elektrischer Polung – einander abzustoßen oder anzuziehen. _____________ 51 52

J. Weber, Vollständige Lehre von den Gesetzen der Elektricität, und von der Anwendung derselben. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen aus der Naturlehre. Landshut 1791, Tafel II, Fig. 22. Vgl. hierzu und zum Folgenden: H. Weber, Experimentalprogramme der frühen Naturwissenschaften [Anm. 40].

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Was wissen wir nun mit Weber? Elektrizität wird mitgeteilt, wenn ein elektrischer mit einem nicht-elektrischen Körper zusammenkommt – dabei müssen sie sich einander nur annähern, sie müssen sich nicht berühren. Gilt dies nun in gleicher Weise für alle Körper? Weber beschreibt wieder eine Reihe beobachteter Verhaltensmuster, in denen Nichtleiter und Leiter sich unterscheiden. Was passiert nun in diesen verschiedenen Körpern? In all diesen Körpern wird Elektrizität verteilt, wirkt aber auf Distanz und schichtet im jeweils anderen Körper etwas um, ohne ihn direkt zu berühren. Es kommt also nicht zu einem Stoffaustausch der elektrischen Materie, sondern zu einer wechselseitigen Umlagerung, die intensitäts- und entfernungsabhängig ist. Wollen wir mehr? Zwar kann ich in einer Maschine Elektrizität erzeugen, indem ich sie aus einem Körper – so Weber – abhasple und in einen anderen gebe. So beschreibt er eben die Wirkung der Elektrisiermaschine. Dort wirkt die Elektrizität dann in der beschriebenen Weise auf ihre durch diese Maschine neu gefundene Umgebung. Dabei verteilt sich diese Elektrizität, die mittels der Elektrisiermaschine von einem Körper abgenommen und auf einen anderen verteilt wird, in einer bestimmten Weise. Weber zeigt, dass die an einen anderen Körper übertragene elektrische Materie an der Oberfläche dieses Körpers bleibt und sich hier verteilt. Das hat für ihn eine Konsequenz. Dabei ist für ihn bedeutsam, dass Elektrizität nicht im unmittelbaren Kontakt, sondern über eine gewisse Entfernung mitgeteilt wird.53 Für eine experimentelle Beobachtung solcher Fernwirkung sollte nun aber ein möglichst großer Effekt beobachtet werden. Damit ist die Intensität der Elektrizität, die hier in ihrer Wirkung zu betrachten wäre, möglichst hochzuhalten. Will ich derart Fernwirkungen von Elektrizität aufeinander studieren, sollten deshalb nach Weber möglichst große Flächen elektrisch geladener Körper miteinander in Kontakt gebracht werden. Auf entsprechend großen Flächen lasse sich – auf Grund der Verteilung der Elektrizität – eben mehr an Elektrizität ansammeln und entsprechend deutlich sind dann die zu untersuchenden Effekte darzustellen. Noch deutlicher werden die Effekte, wenn es gelingt, die Elektrizität auf einem solchen großflächigen Körper über einen längeren Zeitraum zu speichern. Da nun aber ein Elektrizität leitender Körper Elektrizität an seine Umgebung abgeben kann, ist nach Weber Elektrizität über einen längeren Zeitraum nur dann zu speichern, wenn solche möglichen Kontakte eines Leiters mittels eines aufgesetzten Nichtleiters verhindert werden.54 Dabei zeigt Weber auf, dass es möglich ist, in der rechten Kombi_____________ 53 54

J. Weber, Vollständige Lehre von den Gesetzen der Elektricität [Anm. 51], S. 13. Ebd., S. 9.

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nation von Leiter und Nichtleiter, die Induktionswirkung der verschiedenen leitenden und nicht-leitenden Körper aufeinander zu nutzen. Elektrizitätstransfer über zwei nicht anliegende Körper funktioniert über die Polarisation des einen durch den anderen, Elektrizität tragenden Körper. Wenn nun Leiter und Nicht-Leiter in der rechten Weise kombiniert sind, so Weber, können sich die Effekte dieser beiden sogar verstärken.55 Das sucht Weber im Experiment56 zu zeigen: Hierzu wird die Elektrizität über mehrere, immer wieder in neuer Weise aneinander geführte Platten immer wieder neu umgelagert. Dabei wird eine Folge von Polarisierungen ausgewiesen, in der ein Maximum an Induktionswirkung entfaltet werden soll. So wird dann die Elektrizität in der Umlagerung – nach Weber – anwachsen. Auf den Begriff ist er hier nicht gekommen. Er blieb bei der Rezeptur, die hier nur angedeutet ist. Er beschreibt Wirkungen im direkten Umfeld elektrisch geladener Körper mit dem Vokabular von Isaac Newton und Charles Augustin Coulomb. So spricht er explizit von Fernwirkungen. Was er dann darstellt, ist in diesem Vokabular aber nicht mehr abzubilden. So nutzt er dann die Schellingschen Begriffe von Differenz und Indifferenz und beschreibt damit, wie Elektrizität auch nicht anliegende Körper induziert. Joseph Weber benennt die Verteilung der Elektrizität auf Oberflächen, weiß darum, dass hier nicht einfach Stoffe ausgetauscht, sondern Wirkungen von Stoffen aufeinander zur Geltung kommen.57 Er beschreibt damit Kraftwirkungen, die ohne ein Zwischenmedium von einem auf den anderen Körper wirken. Diese direkten Umkopplungen im Nahfeld zweier Körper und deren somit darzustellende wechselseitige Induktion sind für ihn begrifflich nicht einzuholen. Wohl aber kann er beschreiben, wie zu hantieren ist, um solch einen Effekt zu erreichen. Bei näherer Hinsicht präsentiert er so nichts anderes als die Grundaussage der von Faraday gut 40 Jahre nach ihm praktizierten Theorie des elektrischen Feldes.58 Nur, Weber benennt weder das Feld noch beschreibt er Induktionsketten in einem abstrakten, nicht an die konkrete Experimentalsituation gebundenen physikalischen Raum. Er hat seine Theorie der wechselseitigen Induktion anliegender, aber sich nicht berührender Körper noch nicht auf den Begriff und damit auch nicht auf eine Formel gebracht. Wohl aber vermit_____________ 55 56 57

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Vgl. Breidbach, Schelling und die Erfahrungswissenschaften [Anm. 48]. J. Weber, Vollständige Lehre von den Gesetzen der Elektricität [Anm. 51], S. 201. J. Weber, Joseph Webers Abhandlung von dem Luftelektrophor: Mit neuen Erfahrungen, neuen Instrumenten und mit einem Unterrichte von Zubereitung der brennbaren Luft, und verschiedener Versuche mit derselben. Sammt drey Kupfertafeln. Neueste mit der Beschreibung der elektrischen Lampe verm. Aufl. Augsburg 1779, S. 19–23; ders., Der Luftelektrophor in seiner Vervollständigung [Anm. 42], S. 25. Friedrich Steinle, Explorative Experimente. Ampère, Faraday und die Ursprünge der Elektrodynamik. Stuttgart 2005.

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telt er eine manipulative Praxis. Er zeigt in ihr am Exempel auf, wie sich das Feld verstärkt, wie es sich im Raum und in der Zeit verhält. Er umschreibt diese Feldtheorie nicht, er praktiziert sie. Diese Praxis brach mit ihm ab; und so ist er eben nicht der Begründer der Feldtheorie, obwohl er das Feld in praxi dachte. Vielleicht sollte ich die Konsequenz dieser anekdotischen Darstellung, die aufzeigt, dass sich Konzept, Praxis und Struktur nicht in eine lineare Folge setzen lassen, nun auch meinerseits von der konkreten Situation lösen. Gezeigt werden konnte ein Nebeneinander von Praxis, Struktur und Konzept, das sich nicht linear miteinander verzahnt. Wobei die Praxis der Theorie in einzelnen Schritten vorläuft, andererseits die Theorie die Inblicknahme eines schon praktizierten Umgangs mit der Natur leitet. Nichts oder kaum etwas gesagt wurde dabei zu der Verzahnung struktureller und praktischer Dispositive mit Bereichen, die außerhalb der Wissenschaften im Bereich des common sense oder bestimmter Wahrnehmungskulturen stehen. Nichts gesagt wurde über Anleihen von manipulativen Praktiken und deren Abstufung, die ja im Rahmen der physikalischen Darstellung schon von einer Vielfalt von konkreten Handlungsformen abstrahieren, die die manipulative Praxis bestimmen. Die hier beschriebene Praxis ist demnach nicht der Katalog der Handgriffe, sondern es ist das tradierte Schema eines praktischen Vollzuges, in den dann eine Fülle von manipulativen Praktiken eingebettet ist. Insoweit beleuchten die vorab skizzierten historischen Anekdoten jeweils nur Aspekte einer umfassend zu kennzeichnenden Verfügung von konzeptionellen, praktischen und strukturellen Dispositiva. Nur stehen diese Geschichten in einem Zusammenhang, der abschließend, zumindest thetisch, zu benennen ist. Die Idee eines bloß sprachlich geleiteten Wissens verkennt die Praxis einer Kultur, die sich ja nicht im Sprachraum, in Erzählungen erschöpft, sondern sich selbst inszeniert und darin ins Leben setzt. Es sind diese Momente des ‚Explizit Machens‘, diese Praxis eines sich dann sprachlich beschreibenden Geschöpfes, die dieses Wissen aus dem Strom sprachlicher Bestimmungen herausführen. Es sind dies die Tätigkeiten, die nicht artikuliert sind, und so zunächst sprachlich unbestimmt verbleiben, aber dennoch in einer Kultur – und sei es nur jeweils lokal – vermittelt, übernommen und angeeignet werden.59 Es sind dies nicht nur die beschriebenen innerwissenschaftlichen Praxen, sondern auch die Art und Weise, mit Holz umzugehen, die ein Lehrling bei einem Tischler lernt, die Handgriffe, in denen ein Arbeiter in einem Maschinenwerk zu erfassen hat, wie eine Feile zu halten und zu führen ist. _____________ 59

Bruno Latour, Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society. Cambridge, Mass. 1987.

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Dabei sind dies Praktiken, die sich in sich selbst konstituieren, deren Rahmen vermittelt ist, die sich als Praxis selbst aber erst in ihrer Einübung etablieren. Das gilt auch für die Wissenschaften. Das kennzeichnet die Laborkultur, und bei einer etwaig fehlenden Kontinuierung solch einer Praxis landete dann auch der Elektrizitätsverdoppler von Weber auf der Halde des Vergessenen. Solche Handlungsvollzüge waren der Kultur verloren, die die Praxis nur da hält, wo sie sich sukzessive vermittelt. Geschieht dies, ist die Praxis dann aber oft einen oder mehrere Schritte weiter als ihre begriffliche Bestimmung. So erschöpfen sie sich nicht einfach in ihrer sprachlichen Notation. Sie laufen dieser vielmehr immer wieder vor. Dabei gibt das, was explizit ist, für die Praxis eine Basis, auf der diese sich dann in sich selbst weiterführen kann. Es wäre nun zu diskutieren, ob und wie solche Praxen auf den Begriff gebracht wurden und werden, was dies bedeutet, und wo eine Geschichte der Naturwissenschaften dann eben nicht begrifflich ist. Wichtig ist hierbei nicht dieser Gedanke an sich, der ausgehend von Ludwik Fleck, Gaston Bachelard und etwa Thomas S. Kuhn ja eingehend diskutiert ist, die etwa solch eine Vermittlung in Blick auf die jeweils momentane Wissenschaftspraxis ausschließen. Wohl aber zu diskutieren ist die asynchrone Perspektive, in der sich solches Tun dann eben doch vermittelt, aber dabei nicht unbedingt in Gänze begrifflich abbildet. Hier ist ein Spiel zu rekonstruieren, dessen vielleicht regelfreie Interaktion dennoch grundsätzliche Momente der Wissensentwicklung und ihrer sprachlichen Repräsentation dingfest machen kann. Vielleicht – dies als These vorweg – ist ein wesentliches Moment des Fortgehens dieser Wissenschaften eben einzig das, dass sie sich bewusst machen, was sie vorab bloß getan haben. Das bedeutet nun nicht unbedingt, dass solch ein Tun dann immer auch in Gänze reflektiert ist, da in der Tat die auf den Begriff gekommene Praxis zerzaust und zerstückelt sein kam. Nur tut dies eben nicht der Idee, sondern höchstens der – als solche aber gar nicht reflektierten – Praxis einen Abbruch. Nur bedeutet Fortgehen eben nicht immer auch Fortschritt, sondern einzig Bewegung, und diese kann ja eben in mehrere Richtungen laufen.

Zu den Autoren Andreas Bartels Prof. Dr., Studium der Mathematik, Physik und Philosophie, Promotion in Philosophie 1984 in Giessen mit einer Dissertation zur Kausalität in der allgemeinen Relativitätstheorie, 1992 Habilitation zur Bedeutungstheorie physikalischer Begriffe, 1997 Professor für Wissenschaftstheorie und Philosophie der Technik an der Universität Paderborn, seit 2000 Professor für Wissenschaftsphilosophie und Naturphilosophie an der Universität Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie, Theorie der Repräsentation, Kognitionsphilosophie. Monographien: Bedeutung und Begriffsgeschichte. Die Erzeugung wissenschaftlichen Verstehens (Paderborn 1994); Grundprobleme der modernen Naturphilosophie (Paderborn u. a. 1996); Strukturale Repräsentation (Paderborn 2005); Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch (Hg. mit Manfred Stöckler, Paderborn 2007).

Gunhild Berg (geb. 1974) Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Promotion 2005 an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Research Fellow am Department of German der University of Wisconsin-Madison, USA (2005/06), seit 2007 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, Arbeitsschwerpunkte zur Literatur- und Wissenschaftsgeschichte sowie zur Mediengeschichte der Wissenschaften. Publikation u. a.: Erzählte Menschenkenntnis. Moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätaufklärung (Tübingen 2006).

Peter Berz PD. Dr., Studium der Philosophie und Germanistik in Wien, Freiburg und Hamburg. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt ,Interdisziplinäre Begriffsgeschichte‘ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Wissens- und Kulturgeschichte der Morphogenese und nicht-, vor-, nach- und antidarwinistischer Biologien. Publikationen u. a.: 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts (München 2001); FAKtisch. Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag (Hg. mit Annette Bitsch u. Bernhard Siegert, München 2003).

Olaf Breidbach Prof. Dr. mult., Lehrstuhls für Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Jena, Sprecher des Sonderforschungsbereichs 482 „Ereignis Weimar – Jena“. Publikationen u. a.: Hg. v. Theory in Biosciences der Zeitschrift für Europäische Wissenschaftskultur; Naturphilosophie nach Schelling (Mithg., Stuttgart-Bad Cannstatt 2005); Bilder des Wissens (München 2005); Goethes Metamorphosenlehre (München 2006); Vi-

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Zu den Autoren

sions of Nature. The Art and Science of Ernst Haeckel (München u. London 2006); Neue Wissensordnungen. Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht (Frankfurt a.M. 2008).

Otniel E. Dror Dr. med., Ph D (in Geschichte), ist der [Joel-Wilbush-] Leiter der Sektion für Geschichte der Medizin an der Medizinischen Fakultät der Hebräischen Universität in Jerusalem. Zur Zeit bereitet er sein Buchmanuskript Blush, Adrenaline, Excitement: Modernity and the Study of Emotions, 1860–1940 zur Publikation bei University of Chicago Press vor. Sein neues Buchprojekt trägt den Arbeitstitel A Cultural History of Adrenaline, 1900–2000. Frühere Publikationen sind erschienen in: Isis, Configurations, Science in Context und Social Research.

Carsten Dutt (geb. 1965) Dr. phil., Akademischer Rat am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Publikation u. a. Herausforderungen der Begriffsgeschichte (Hg., Heidelberg 2003).

Erich Kleinschmidt Prof. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit kulturgeschichtlichem Schwerpunkt an der Universität zu Köln, geb. 1946. Forschungsschwerpunkte: Frühe Neuzeit; 18. Jahrhundert; Klassische Moderne; Exilliteratur; Literatur- und Kulturtheorie; Ästhetik und Poetik; Sprachphilosophie. Letzte Buchveröffentlichungen: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert (Göttingen 2004); Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment (Hg. mit Torsten Hahn u. Nicolas Pethes, Würzburg 2004); Sammeln und Lesen. Die Kölner H. C. Artmann-Sammlung Knupfer. Lektüren (Hg. mit Wolfgang Schmitz, Köln 2006); in Vorbereitung: Die Lesbarkeit der Romantik (2009).

Ernst Müller PD Dr., Philosoph, Zentrum für Literatur- und Kulturforschung und HumboldtUniversität zu Berlin, Leitung des Projektes: Vorbereitung eines Historischen Wörterbuchs interdisziplinärer Begriffe. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Theorie der Begriffsgeschichte, Religions- und Säkularisierungstheorien. Publikationen: verschiedene begriffsgeschichtliche Artikel in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck u. a. (Stuttgart u. Weimar 2000–2005); Begriffsgeschichte im Umbruch? (Hg., Hamburg 2004) Figur, figürlich – Begriffsgeschichtliches bei Johann Heinrich Lambert. In: Figuren des Wissens. Trajekte 8 (2007) 16.

Ohad Parnes Studium der Biologie, Geschichte und Philosophie. Promotion am Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und an der Universität von Tel-Aviv (2000). Derzeit Abteilungsleiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in

Zu den Autoren

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Berlin und Koordinator des Projekts „Generationen in der Erbengesellschaft – ein Deutungsmuster soziokulturellen Wandels“. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Biomedizin; Immunologie und Genetik. Publikationen u. a.: Generationswechsel. Ein Problem zwischen Literatur und Mikroskopie. In: fülle der combination, hg. v. Bernhard J. Dotzler u. Sigrid Weigel (München 2005); Vererbung und Fälschung erworbener Eigenschaften. In: Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, hg. v. Anne-Kathrin Reulecke (Frankfurt a.M. 2006); Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie (Mithg., München 2005); Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte (Mitvf., Frankfurt a.M. 2008).

Erik Porath Dr. phil., Philosoph und Medienwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Gedächtnistheorie, Psychoanalyse, Theorie und Geschichte des Ausdrucks, Hirnforschung und Literatur. Publikationen u. a.: Zwischen Lebenden und Toten, Erinnern und Vergessen, Assoziation und Zerstreuung: Das Subjekt und sein Name. In: Namen. Benennung, Verehrung, Wirkung (1850–1930), hg. v. S. Sasse, F. Thun u. S. Zanetti (Berlin 2008); Begriffsgeschichte jenseits der Begriffe – Zur kulturwissenschaftlichen Wende als Herausforderung der Begriffsgeschichte. In: Weimarer Beiträge 3/2007; Gedächtnis des Unerinnerbaren. Philosophische und medientheoretische Untersuchungen zur Freudschen Psychoanalyse (Bielefeld 2005); Kontaktabzug. Medien im Prozeß der Bildung (Mithg., Berlin u.Wien 2001).

Hans-Jörg Rheinberger Studium der Philosophie und Biologie, Habilitation im Fach Molekularbiologie. Forschung und Lehre mit den Schwerpunkten Geschichte der Molekularbiologie und Geschichte und Epistemologie des Experiments. Seit 1997 Direktor am Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Publikationen u. a.: Experimentalsysteme und epistemische Dinge (Göttingen 2001); Epistemologie des Konkreten (Frankfurt a.M. 2006); Heredity Produced: At the Crossroads of Biology, Politics, and Culture, 1500–1870 (mit Staffan Müller-Wille, Cambridge, Mass. u. London 2007); Historische Epistemologie zur Einführung (Hamburg 2007)

Frank Rösl Prof. Dr. rer. nat., Molekularbiologe, Leiter der Abteilung Virale Transformationsmechanismen am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg und stellvertretender Sprecher des Forschungsschwerpunktes „Infektionen und Krebs“. Neben seiner beruflichen Tätigkeit engagiert er sich um den wissenschaftlichen Nachwuchs sowie im interdisziplinären Dialog zwischen Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und Kunst, u. a. als Fachreferent am jährlichen Forum Wissenschaft & Kunst der Schering-Stiftung (Berlin) und an den Tagungen Visual Cultures in Art and Science – Rethinking Representational Practices in Contemporary Art and Modern Life Sciences der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

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Zu den Autoren

Philipp Sarasin (geb. 1956) Ordinarius für Neuere Geschichte an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich und Gründungsmitglied des Zentrums „Geschichte des Wissens“ der Universität und der ETH Zürich. Arbeitsgebiete: Geschichte des Wissens, die Theorie der Geschichtswissenschaft, Körper- und Sexualitätsgeschichte, Stadtgeschichte. Publikationen u. a.: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie (erscheint Frankfurt a.M. 2009); Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870–1920 (Mithg., Frankfurt a.M. 2006); Michel Foucault zur Einführung (Hamburg 2005); „Anthrax“. Bioterror als Phantasma (Frankfurt a.M. 2004, amerikanische Ausg. Cambridge, Mass. u. London 2006); Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse (Frankfurt a.M. 2003); Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914 (Frankfurt a.M. 2001).

Henning Schmidgen Studium der Psychologie und Philosophie/Linguistik in Berlin und Paris, z. Zt. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Zahlreiche Aufsätze zur Geschichte der experimentellen Psychologie und Physiologie, u. a. in Isis, Journal of the History of Biology, Configurations; daneben Übersetzungen von Schriften Georges Canguilhems, u. a.: Gesundheit – eine Frage der Philosophie (Berlin 2004), Wissenschaft, Technik, Leben (Berlin 2006); Buchpublikationen u. a.: Lebendige Zeit: Wissenskulturen im Werden (Hg., Berlin 2005).

Falko Schmieder Dr. phil., Kulturwissenschaftler; im WS und SS 2007/08 Vertretung der Professur im Fach Kommunikationsgeschichte/Medienkulturen an der FU Berlin; seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, Arbeitsschwerpunkt: Vorbereitung eines Historischen Wörterbuchs interdisziplinärer Begriffe. Publikationen u. a.: Aufsätze zur Begriffsgeschichte; Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie (Berlin 2004).

Benjamin Steininger Kultur- und Medienwissenschaftler, Ausstellungsmacher. Studium der Kulturwissenschaft und Philosophie in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Beschleunigung, der Baumaterialien und der Kraftstoffe, Industrietheorie. Seit 2007 Doktorand am Initiativkolleg „Naturwissenschaften im historischen Kontext“ der Universität Wien mit einem Forschungsprojekt zum Katalysator als Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts. Publikation u. a.: Raum-Maschine Reichsautobahn. Zur Dynamik eines bekannt/unbekannten Bauwerks (Berlin 2005).

Christian Strub (geb. 1960) 1989 Promotion, 1990–1993 Wissenschaftlicher Angestellter Universität Freiburg, 1993–1999 Assistent Universität Hildesheim, 2000 Habilitation ebd., seit 2007 apl. Prof. Seit 1995 Redakteur der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie. 2002/03 Leo-Baeck-Institute London. 2003–2006 DFG-Projekt zu Charles S. Peirce. Seit 2007

Zu den Autoren

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Gymnasialreferendar. Spezialgebiete: Normentheorie, Metaphorologie, Editionen. Buchpublikationen: Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie (Freiburg 1991); Sanktionen des Selbst. Zur normativen Praxis sozialer Gruppen (Freiburg 2005); Vom freien Umgang mit Gepflogenheiten. Eine Perspektive auf die praktische Philosophie nach Wittgenstein (Paderborn 2005).

Dieter Teichert Apl. Professor für Philosophie an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Person, Philosophie des Geistes, Hermeneutik und Ästhetik. Publikationen: Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis – Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Gadamers (Stuttgart 1991); Immanuel Kant: „Kritik der Urteilskraft“. Ein einführender Kommentar (Paderborn 1992); Personen und Identitäten (Berlin u. New York 1999); Einführung in die Philosophie des Geistes (Darmstadt 2006) sowie zahlreiche Aufsätze und Handbuchartikel

Winfried Thielmann Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-Universität München und vertritt gegenwärtig die Professur für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der TU Chemnitz. Arbeitsschwerpunkte: Linguistik des Deutschen, Didaktik des Deutschen als Fremdund Zweitsprache, wissenschaftliche Begriffsbildung und Wissenschaftssprachkomparatistik. Publikationen u. a.: Fachsprache der Physik als begriffliches Instrumentarium. Frankfurt a.M. 1999.

Yvonne Wübben Doppelt promovierte Literaturwissenschaftlerin und Medizinerin, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: literarische Geschichte der Schizophrenie (1880–1914) sowie Mitarbeit am Projekt „Reflex und Kognition“. Zahlreiche Aufsätze im Schnittfeld von Medizin und Literatur, Buchpublikationen: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777) (Tübingen 2007).

Margarete Vöhringer Kunstwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literaturund Kulturforschung Berlin im Projekt „Reflex und Kognition“, Habilitationprojekt: Das Auge im Labor. Zur Kunst- und Wissenschaftsgeschichte eines Organs. Publikationen u. a.: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion (Göttingen 2007).

Personenregister Achinstein, Peter 229, 232, Adelung, Johann Christoph 16 Aepenius, Apinus Franz Ulrich Theodor 353 d’Alembert, Jean Le Rond 149 Althusser, Louis 314 Alvarez, Walter Clement 278, 281 Andriopoulos, Stefan 253 Anhalt, Elmar 23 Apel, Karl-Otto 246 f. Arasse, Daniel 209, 211 f. Arendt, Hannah 267, 269 Aristoteles 97, 106 f., 119, 143, 215 ff., 267, 306 Artaud, Antonin 162, Ashby, Ross 154 Atlan, Henri 307, 309, Austin, John Langshaw 336 Avenarius, Richard 81 Bachelard, Gaston XII, XIX, 8, 144, 150, 152 f., 157 f., 162, 165, 175 f., 178 f., 193, 201, 327, 364 Bacon, Françis 330 Barcroft, Joseph 275 Bar-Hillel, Yehosua 133 Barlow, Horace Basil 321 Bartels, Andreas XIV, XVI, XX, 232, 238, 345 Baudrillard, Jean 264, 301 Bayliss, William 157 Beaumont, William 275 Beer, August 21 Bell, Charles 175 Belousov, Boris P. 296 Benjamin, Walter 139, 269, 262 Benzer, Seymour 3 Berg, Gunhild XVI, 256, 329 Berglund, Hilding 279 Bergson, Henri 158 f. Berkeley, George 124 Bernard, Claude 31, 38, 79 Bernstein, Jeremy 55 Berz, Peter XVIII, XX

Berzelius, Jöns Jacob 40, 55 ff. 59–63, 65–67, 69 Bethe, Hans 55 Bexte, Peter 76 f. Bichat, Xavier 172 Bigelow, Julian 306 Blumenberg, Hans XI f., XIV, XXIII, 71, 74, 93, 97, 99–102, 103, 105–108, 110, 112, 131, 140, 149 Bodenstein, Max 58 Böhme, Hartmut 263 Bohr, Niels 114, 229 Bollenbeck, Georg 336 Bölsche, Wilhelm 167 f. Borck, Cornelius XII, 85 ff., 177 Borel, Émile 316 Borges, Jorge Luis 162 Borsche, Tilman 126 Bosch, Carl 60 Bosch, Franz 46 Bourdieu, Pierre 291, 299 Bracegirdle, Brian John 208 Brahms, Johannes 97 Brandt, Christina XIV, 129, 138 Brazier, Mary Agnes Burniston 207 Brecht, Bertolt 262 Bredig, Georg 64 Breidbach, Olaf XIX, 345, 350, 352, 354, 357, 359 f. Bricmont, Jean 293 Brillouin, Lèon 313 Brockman, John XII, 293 Brown, George E. 282 Brückner Dominik 200 Bruenn, Howard G. 281 Brunner, Otto 241, 248 Buchanan, Mark 290 Buchner, Eduard 63 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 13 Bühler, Hans 322 f. Bühlmann, Rudolf 85 Busse, Dietrich 328, 335, 339, 343

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Personenregister

Campbell-Kelly, Martin 317 Canguilhem, Georges XII, XIV, XVII f., XX, 8, 146, 149–162, 165–167, 169 f., 174–179, 182–193, 196, 199–209, 327, 338, 368 Cannon, Walter Bradford 278 f., 281, 285 Capra, Fritjof 289 Capurro, Rafael 142 f. Cardanus, Hieronymus 246, 337 Carnap, Rudolf 132 f., 221, 225 Carpenter, William Benjamin 280 Carrier, Martin 108 Carus, Carl Gustav 80 Cassirer, Ernst XV, 112–115, 121 Chadarevian, Soraya de 308, 315–318 Chomsky, Noam 293 Clarke, Edwin 190 Clawson, Arthur B. 285 Comenius, Johann Amos 134 Condillac, Étienne Bonnot de 120 Conze, Werner 241, 248 Corey, Robert B. 309 Couffignal, Louis 145 Coulomb, Charles Augustin 362 Craig, Edward Gorden 278 Crary, Jonathan 76, 79 f., 83 Crick, Francis 291 Cusanus, d. i. Nikolaus von Kues 67, 246 Dana, Richard Turner 278 Daremberg, Charles Victor 178 Därmann, Iris 75, 171 Darwin, Charles 2, 106, 165, 167 ff., 171, 278, 304 Daston, Lorraine 327, 333, 334 f. Dear, Peter Robert 330 Debray, Régis 263 ff., 267 f., 271 Dechambre, Amédée 149, Delaporte, François 177 Delbrück, Max 143 Derrida, Jacques 166, 171 Descartes, René 77 f., 80, 121, 126, 155, 157, 159, 160 f., 184–187, 190, 193, 217, 254, 276, 321 Dewey, John 181 f. Dewhurst, Kenneth 190, 200 Diderot, Denis 149 Diethelm, Oskar 280 Dijksterhuis, Eduard Jan 338 Dilthey, Wilhelm 243, 245 ff. Diner, Dan 92 Dingler, Hugo 337 Dipper, Christof 248 Döbereiner, Johann Wolfgang 56, 67, 69

Drake, Stillman 218 Draper, George 281 Driesch, Hans 70, 306 Drieschner, Michael 138 Dror, Otniel XVII, 281 ff. Droysen, Johann Gustav 246 Du Bois-Reymond, Emil Heinrich 153, 159 f. Duchesneau, François 27 Duhem, Pierre Maurice Marie 112 f. Dupertuis, C. Wesley 281 Dutt, Carsten XV, 111, 327 Eberle, Johann N. 37 Eckhart, gen. Meister E. 246, Ehrenberg, Christian Gottfried 42 Eigen, Manfred 289 Einstein, Albert 220, 227, 230, 233–236, 272 Elkana, Yehuda 3, 253, 260 ff. Elliott, R. H. E. 275 Elsasser, Walter Maurice 315 Engel, Lorenz 270 Erxleben, Johann Christian Polykarp 356 Evans, Alfred S. 33 Exner, Sigmund 156 Faraday, Michael 362 Farouki, Nayla 256 Faulstich, Werner 257, 269 Fearing, Franklin 184, 208 Fechner, Gustav 78 f. Fénelon, François de Salignac de la Mothe 358 Fermat, Pierre 22 Feyerabend, Paul 225 Fichant, Michel XIII Fischer, Emil 71, 310 Fischer, Johann Carl 348, 357 Flechsig, Paul 84 Fleck, Ludwik XII–XIV, XVI, 179, 182, 289, 293, 295, 333, 335, 340, 364 Florkin, Marcel 31, 34 Flourens, Marie Jean Pierre 202, 338 Fodor, Andor 65, 102 Folin, Otto 279 Folin, Sven 154 Ford, Brian John 28 Foucault, Michel XV–XVII, 17 f., 140, 146, 151, 155, 165–174, 198, 201, 271, 302, 328, 337, 339 ff., 346, 368 Frank, Lawrence K. 89 Frank, Philipp 227 Frege, Gottlob 101, 103 Frercks, Jan 349

Personenregister Freud, Sigmund 7 f., 84 ff., 87–90, 93, 106, 319, 323 Frey, Gerhard 175, 330 Fröbel, Friedrich Wilhelm August 319 Gabriel, Gottfried 241 Gadamer, Hans-Georg 111 Galilei, Galileo 243, 245 Galison, Peter 89, 257, 345 Galen, Galenus 156 Gandolfi, Alberto 296 Gehlen, Arnold 267 Georges, Karl Ernst 19, 143 Gerson, Jacob 37 Geyer-Kordesch, Johanna 276 Gleich, Michael 209 Gmelin, Leopold 38 Goethe, Johann Wolfgang von 69, 78, 167 Goldstein, Catherine 256 Goldstein, Kurt 156, 183 Goodell, Helen 282 Goodman, Nelson 98 Graeser, Andreas 113 Graham, David T. 282 Gregg, Allen 281 Grew, Nehemiah 27 Griesecke, Birgit 338 f. Griesinger, Wilhelm 156 Gross, Hans 278 Gründer, Karlfried XXI f., 241 Gryphius, Andreas 108 Guerike, Otto von 16 Guilbaud, Georges Theodule 313, 316 Guillotine, Joseph Ignace 209 Gulden, Jens 322 Gumbrecht, Hans Ulrich 111, 131, 133 f., 241, 251, 327, 336 Hacking, Ian 208, 244, 347 Haeckel, Ernst 92, 167 Hagemeyer, Friedrich-Wilhelm 140 Hagner, Michael 84, 168, 179, 347 Haken, Hermann 289 Haken-Krell, Maria 289 Hall, Marshall 156, 159, 161, 175 f., 179 f., 183, 186, 208 Haller, Albrecht von 33 Hanson, Norwood 149 Harris, Henry 28 Hartley, Ralph V. L. 132 Hartline, Haldan Keffer 329 f. Hartmann, Eduard von 24 Hartmann, Nicolai 244

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Haverkamp, Anselm 14, 89 Heering, Peter 333, 340 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 125 f., 136, 146, 167 ff., 246 Heidegger, Martin 74 f., 142 f., 267 Heider, Fritz 268, 271 Heilbron, John Lewis 349 Heisenberg, Werner 114, 340 Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand 85 Hempel, Carl Gustav 221 Hentschel, Klaus 331, 337 Herder, Johann Gottfried 122 f., 126, 128 Héritier, Philippe L’ 301 Hertz, Heinrich 215, 220 Hess, Volker XII, 177 Hick, Ulrike 80 Hildebrand, Helmut 83 Hobbes, Thomas 126 Hochadel, Oliver 332 f. 351 Hoff, Hebbel Edward 184 Hoffmann, Christoph 84 Hoffmann, Ernst 67 Hoffmann, Stefan 253, 269, 270 Hogarth, William 13 f. Holdermann, Karl 66 Holleman, Arnold F. 66 Holmes, Frederic Lawerence 31, 38 Homer 117, 127 Honnefelder, Ludger 290 Hooke, Robert 27 Horn, Angelica 78 Horn, Christoph 124 Hubel, David H. 321 Hucho, Carsten 293 Hucho, Ferdinand 293 Hughes, Arthur Frederick William 27, 50 Hughes, Thomas P. 60 Humboldt, Alexander von 352 Hürzeler, Heinz Otto 205, 207 Izquierdo, José Joaquin 285 Jacob, François 1, 4 ff., 137, 208, 301 f., 306, 308, 311 f., 313 ff., 319, 322 Jacobson, Roman 89 James, William 179–182, 286 Janet, Pierre 323 Janich, Peter 129, 132 ff., 139, 221 Janssen, Jules 79 Jaynes, Julian 186 Jean Paul 13, 23 Jeitteles, Andreas 159 Johannsen, Wilhelm 2, 305

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Personenregister

Jonas, Hans 92 Jones, Horry Mathew 278 Jost, Wilhelm 58 Judson, Horace Freeland 137 Jung, Carl Gustav 90, 158 Kafka, Franz 162 Kant, Immanuel 14–17, 104, 134, 165, 220, 246 f., 303 f., 306, 369 Kapp, Ernst 86 f. Karpenstein-Eßbach, Christa 257 Kary, Michael 133 Kauffmann, Stuart A. 312 Kay, Lily E. 129, 137, 140 f., 310 Kayser, Charles 156 Kekulé, August 318 f. Kellaway, Peter 184 Keller, Evelyn Fox 129, 137, 139 Keller, Reiner 343 Kepler, Johannes 76 ff., 80, 108 f., 113, 246 Kilcher, Andreas B. 24 Kirchhoff, Constantin 56 Kittler, Friedrich A. 75, 132, 304 f., 313, 365 Kleinschmidt, Erich XVIII, 19, 23, 252 Kleist, Heinrich von 293 Knietsch, Rudolf 59 Knobloch, Clemens XIV Knorr-Cetina, Karin XVII Koch, Robert 33 Köchy, Kristian 288 Kogge, Werner 339 Konersmann, Ralf 117, 131, 335 f. Kopernikus, Nikolaus 106–110 Koschorke, Albrecht 23 Koselleck, Reinhart XV, 111, 141, 145, 149, 241 f., 248–251, 292, 334 f. Krämer, Hans Joachim 107 Krämer, Sybille 258, 263 Kranzhoff, Jörg Armin 337 Kremer, Richard L. 32, 35 Kretschmann, Carsten 333, 336 Krieck, Ernst 70 Krug, Wilhelm Traugott 20 Krug, Hans-Jürgen 68 Krüger, Klaus 271 Kuhn, Thomas Samuel XIV, XX, 225 ff., 364 Kümmel-Schnur, Albert 256 Küppers, Bernd-Olaf 133 Küppers, Günter 69 La Fontaine, Jean de 162 Lacan, Jacques Marie Èmile 154, 171, 322 f. Laffitte, Pierre 338

Lagrange, Jacques 165 Lagrange, Joseph Louis 220 Lamarck, Jean Baptiste Antoine Pierre de Monet 303 Lambert, Johann Heinrich 16–24, 91, 366 Landsteiner, Karl 310 Lange, Friedrich Albert 83 Laplanche, Jean 88 Larson, John Augustus 283 Latour, Bruno XII, 266, 346, 363 Leibniz, Gottfried Wilhelm 17 ff., 21, 118 f., 121, 125, 246 Lenoir, Timothy 257 f. Lenótre, Guy 210 f. Leonardo da Vinci 246 Lepenies, Wolf 149, 175 f., 179, 327 Leroi-Gourhan, André 87, 321 f. Lessing, Gotthold Ephraim 74 Lévi-Strauss, Claude 169, 301 Lèvy, Pierre 256 Levy-Agresti, Jerre 320 Lichtenberg, Georg Christoph 13 f., 354, 356 f. Liebig, Justus von 57 Liebmann, Otto 80 f. Liebscher, Heinz 141 Liesegang, Franz Paul 89 Linke, Angelika 336 Lippmann, Edmund Oskar von 67 Littré, Maximilien Paul Émile 149 Locke, John 18, 120 Locke, Michael 312 Lovejoy, Arthur Oncken XXI, 118 f. Lübbe, Hermann 247, 249 Lucas, Keith 157 Ludwig, Carl 64 Luhmann, Niklas 244, 268, 271 Lukrez, lat. Titus Lucretius Carus 304 Luther, Martin 246 Macherey, Pierre 151 Macrobius, Ambrosius Theodosius 109 Mahler, Gustav 97 f. Mahner, Martin 133 Malpighi, Marcello 27 Margulis, Lynn 307 Mariotte, Edme 76 ff. Markov, Andrej A. 316 Martschukat, Jürgen 209, 212 Marx, Karl 168 Maturana, Humberto R. 289, 307, 322 Maxwell, James Clerk 231, 312 f., 317 Mayer, Julius Robert 56, 66 ff.

Personenregister Mayr, Ernst 306 Mazzocchi, Fulvio 289 McCulloch, Warren Sturgis 85, 154, 322 McIrvine, Edward C. 136 McLuhan, Marshall 87, 272 Meier, Helmut Günter 111 Meinel, Christoph 67, 79, 308, 318 f., 331 Meiners, Christoph 209 Mende, Erich 36 Mendelejew, Dmitrij I. 309 Merton, Robert K. 292 Metzger, Hélène 149 Metzger, Wolfgang 79 Meynert, Theodor H. 84 f., 179 Mickens, Ronald E. 221 Minkowski, Mieczyslaw 183 Mitchell, Sandra 298 Mitscherlich, Alexander 8, 319 Mitscherlich, Eilhard 40, 44, 56, 62 f. Mittasch, Alwin 55 ff., 60, 62, 64–70 Mittelstraß, Jürgen 103, 221 Monod, Jacques XX, 5 f., 137, 301–324 Moody, Ellsworth 280 Morris, Charles William 132, 145 Morris, Don Peter 280 Morus, Iwan Rhys 351 Mosso, Angelo 278, 280, 282 ff. Mosso, Ugolino 282 Most, Glenn 202 Mueller, Selma C. 282 Müller, Ernst XI, 111, 177 f., 241 f., 251, 271, 327 f., Müller, Hugo 318 Müller, Johannes 30 f., 34, 37 f., 41, 43 f., 80, 82, 156, 159 f. Müller-Funk, Wolfgang 330 Müller-Tamm, Jutta 77 f., 81 f., 89, 93 Münsterberg, Hugo 93 Musil, Robert 163 Nersessian, Nancy J. XIV, 102, 230 ff., 237 Neugebauer, Gernot 237 f. Neumann, Johann von 136 Neuser, Wolfgang XVII Newton, Isaac 78, 218 ff., 227, 233 f., 235 f., 239, 254, 256, 276, 362 Niedersen, Uwe 67 Nietzsche, Friedrich 67, 87, 127 f., 171 Novalis (eigentl. Georg Philipp Friedrich Frhr. von Hardenberg) 22 ff., 252 Oparin, Aleksandr I. 55 Oresme, Nicolaus 215

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Orwell, Georges 134 Osietzki, Maria 67 Osler, William 278 f. Ostwald, Wilhelm 53 ff., 58 ff., 63 f., 66, 70 Ott, Sascha 129, 132, 136, 139, 142 Outram, Dorinda 209, 211 Paley, William, D. D. 303 f. Palmer, William 149 Pardee, Arthur 6 Parnes, Ohad XXI, 43, 266, 305 Pasteur, Louis 33 Patzig, Günther 247 Pauling, Linus 309 f. Pawlow, Iwan P. 154 f. Pêcheux, Michel XIII Peirce, Charles S. 121 f., 368 Pethes, Nicolas 329, 339, 366 Pfeiffer, Karl Ludwig 87, 259 Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm 159, 176 Phidias 304 Picker, Henry 70 Pickering, Andrew 162 Pickering, Frederik P. 107 Pittendrigh, Collin Stephenson 306 Pitts, Walter H. 322 Plateau, Joseph Antoine Ferdinand 78 Platon 119, 127, 143 Plessner, Helmuth 267 Pohlmann, Ludwig 67 Ponnamperuma, Cyril Andrew 304 Pontalis, Jean-Bertrand 88 Popper, Karl Raimund 221 Porath, Erik XIII, XVI, XXI, 263 Price, Morton 278 Prigogine, Ilya 289 Prochaska, Georg 159 f., 166, 170 Proklos Diadochos 118 Propping, Peter 290 Prout, William 38 Purkinje, Jan Evangelista 78 Putnam, Hilary 224 Quastler, Henry 137 Quine, Willard van Orman 223 f. Rainbach, Anson 282 Ramelli, Augustini, de Masanzana 193 f. Ramus, Petrus 125 Ranke, Leopold von Ranke 246 Remak, Robert 48 Renneberg, Monika 78 f.

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Personenregister

Rheinberger, Hans-Jörg XII, XVIII f., 1, 5, 129, 136 ff., 166, 176, 178 f., 257 f., 293, 306, 315, 331, 339, 347 Rickert, Heinrich 220 Ricœur, Paul 243, 245 Ritter, Joachim XV, XXII, 111, 130 f., 149, 241 f., 247 f. Ritter, Johann Wilhelm 349, 352, 357 f. Ropohl, Günter 133, 135, 139 Rorschach, Hermann 89 Rose, Frank Clifford 200, 208 Rösl, Frank XIII, 294, 297 Rössler, Otto E. 289 Ruchatz, Jens 89 Russell, Bertrand 101 Salatino, Kevin 198 Sanger, Frederick J. 316 Sanson, Charles-Henry 209 f. Sapp, Jan 305 Sarasin, Philipp XVII, XX, 146, 168, 171, 174, 346 Sartre, Jean-Paul 171 Sass, Hans Martin 77, 79 Saussure, Ferdinand de 89, 301 Schaffer, Simon 276 Schäffner, Anton 63, 65 Schark, Marianne 303 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 36, 359, 362 Schiewer, Gesine Leonore 23 Schleiden, Matthias 46–49 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 243, 245 Schlote, Karl-Heinz XIV Schmidgen, Henning XII, XVII, XX, 152, 154, 177, 184, 201, 207 Schmidt, Michael 337 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 345 Schmieder, Falko 73, 80, 88, 241 f., 254 Schmieder, Karl Christoph 74 Schnelle, Helmut 130 Scholtz, Gunter XXII, 111 Schopenhauer, Arthur 79 Schöttker, Detlev 257 Schou, Hans Jacob 285 Schramm, Helmar 196 Schröder, Winfried 103, 245 Schrödinger, Erwin 136, 287, 291 Schröter, Jens 256 Schulte-Sasse, Jochen 253 Schwab, Georg-Maria 54 f., 58, 60, 63, 69 Schwann, Theodor XXI, 27–52

Schwarzschild, Karl 233–236 Sechenov, Iwan M. 83 Seitter, Walter 254, 267, 271 Serres, Michael 175, 202, 256 Shannon, Claude Elwood 132–138, 140, 313, 315 Shapin, Steven 329, 333 Sherrington, Charles Scott, Sir 85, 161, 183, 185 Sibum, Heinz Otto 338 Skinner, Quentin 243 Smith, Adam 276 Smith, Roger 180 Snow, Charles Percy, Sir V, 287 Sokal, Alan D. 293 Sommer, Manfred 83 Sömmering, Samuel Thomas von 211 f. Sontag, Susan 106 Soula, Louis-Camille 157 Spencer-Brown, George 268, 271 Sperry, Roger Wolcott 320 Spitzer, Leo 254 Sponsel, Rudolf 319 Stahl, Georg Ernst 275 f. Stegmann, Ulrich E. 129, 137 Steininger, Benjamin XVI, 310 Steinle, Friedrich 330, 338, 362 Stengers, Isabelle 8, 136, 256, 289 Stichweh, Rudolf 332 Stierle, Karlheinz 241 Stockhammer, Robert 87, 91 Straus, Erwin 156 Strub, Christian XXI, 117 Stryer, Lubert 308, 311 Suárez Diaz, Edna Maria 129 Sulzer, Johann Georg 20 Sustar, Predrag 129 Szillard, Leo 313 Taureck, Bernhard H. F. 127 Teich, Mikuláš 37 Teichert, Dieter XV, XX, XXIII Theis, Erich 61, 66 Thénard, Louis Jacques 56 Theweleit, Klaus 70 Thielmann, Winfried XVI, XX Tholen, Georg Christoph 255 Thom, René 307 Tiedemann, Friedrich 38 Toepfer, Georg 303, 305 Torres y Quevedo, Leonardo 154 Treadgold, Henry Ashbourne 280, 285

Personenregister Tribus, Myron 136 Turing, Alan Mathison 304, 309 Valéry, Paul 162 Varela, Francesco J. 289, 322 Vedder, Ulrike 266, 305 Vico, Giovanni Battista 122, 246 Vierhaus, Rudolf 332 Villiers de L’Isle-Adam, Auguste de 162 Virchow, Rudolf Ludwig Karl 48 Voegelin, Eric 267 Vogl, Joseph 209, 270 Vöhringer, Margarete XVIII, XXI, 175, 200 Volta, Allesandro 348 f., 352 Völz, Horst 141 Vries, Hugo de 2 Waals, Johannes Diderik van der 309, 319 Waddington, Conrad Hal 307 Wagner, Rudolf 149, 176 Wald, Robert 235 Walden, Paul 62 ff., 71 Waldeyer, Wilhelm 85 Wallon, Henri 154 f., 323 Walter, Grey 154 f. Warner, Alfred XIV Watermann, Rembert 30 f., 42 Watson, John B. 279 Weaver, Warren 132, 138 Weber, Ernst Heinrich 159 Weber, Heiko 349 ff., 358 ff. Weber, Joseph 358–362, 364

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Weigel, Sigrid V, XII f., XXIII, 88, 136, 145, 266 Weismann, August 2 Weizsäcker, Carl Friedrich von 142 f. Weizsäcker, Viktor von 156 Wengeler, Martin 336, 343 Wernicke, Carl 179 Whitehead, Alfred North 295 Whitehorn, John C. 281 Whytt, Robert 204–209, 212 Wiberg, Egon 66 Wieland, Christian Martin 134 Wiener, Norbert 92, 133, 136, 140, 154 f., 306 Wiesel, Torsten N. 321 Wigner, Eugene P. 221 Wilke, Maurice V. 317 Willer, Stefan 143, 266, 305 Willis, Thomas 155 ff., 160f., 166, 185–203, 207-212 Wittgenstein, Ludwig 101, 338 f. Woese, Carl R. 307 Woker, Gertrud 54 Wolff, Christian 19 Wolff, Harold George 280, 282 Woltereck, Richard 68 Wright, Georg Henrik von 218 Wübben, Yvonne XVIII, XX, 203, 208 Wundt, Wilhelm 55, 70, 83 f., 86 Zedler, Johann Heinrich 254 Zhabotinsky, Anatol M. 296 Zilsel, Edgar XI