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German Pages [486] Year 2012
Hans Bernhard Schmid
Wir-Intentionalitt Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft
BAND 75 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997000
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Der Autor über sein Buch: Wer verstehen will, was Sozialität ist, kann am Phänomen gemeinsamer Absichten, Empfindungen und Überzeugungen nicht vorbeigehen. Dieses Buch deckt die Denkschranken auf, die einer angemessenen Berücksichtigung dieses Phänomens in der Sozialontologie bisher im Wege gestanden haben. In einer kritischen Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen analytischen Handlungstheorie und anknüpfend an vielversprechende und bislang zu wenig beachtete Analyseansätze in der früheren Phänomenologie und Existentialphilosophie werden zentrale Elemente einer adäquaten Theorie gemeinsamer Intentionalität gesammelt. Dabei stellt sich u. a. heraus, daß unsere Blindheit gegenüber der Struktur gemeinsamer Intentionen selbst ein wesentliches Phänomen unseres gemeinsamen Daseins ist. Dieser Befund wird in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Verhaltensmodell diskutiert. Der Autor: PD Dr. Hans Bernhard Schmid, geb. 1970, lehrte Soziologische Theorie an der Universität Basel und Philosophie an der Graduate Faculty der New School for Social Research in New York. Seit 2000 ist er Oberassistent und Lehrbeauftragter für Wissenschaftstheorie an der Universität St. Gallen, seit 2005 Privatdozent für Philosophie an der Universität Basel. Publikationen: Subjekt, System, Diskurs. Edmund Husserls Begriff transzendentaler Subjektivität in sozialtheoretischen Bezügen (2000). Rationality and Commitment (Mithrsg., erscheint 2006). Aufsätze u. a. zur Phänomenologie, analytischen Handlungstheorie, Philosophie der Ökonomie, Soziologischen Theorie, Rechtsphilosophie.
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Hans Bernhard Schmid Wir-Intentionalitt
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Gnther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Band 75
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Hans Bernhard Schmid
Wir-Intentionalitt Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft
Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
Publiziert mit Untersttzung des Schweizerischen Nationalfonds zur Frderung der wissenschaftlichen Forschung und der Leonardo-Stiftung (Basel).
Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/Mnchen 2005 www.verlag-alber.de Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Satzherstellung: SatzWeise, Fhren Druck und Bindung: difo-druck, Bamberg 2005 ISBN-13: 978-3-495-48175-2 ISBN-10: 3-495-48175-3
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»Wenn viele Ich zusammen sind (…), dann entsteht aus der Mehrzahl gerade das Gegenteil von Wir, jedenfalls vom eigentlichen Wir. Aber selbst dieses zerbrochene Wir ist keine bloße Summe, sondern eine ganz bestimmte Weise eines Wir-Selbst.« Martin Heidegger
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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Die »Cartesianische Gehirnwäsche« überwinden
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37
Schwierigkeiten mit dem »Wir«-Sagen . . . . . . . . . .
41
§ 1 Gemeinschaftshandeln: Verhalten und Absicht . . . . . . § 2 Das Dilemma von Partizipation und Exklusion . . . . . . § 3 Vom Wir-Bewußtsein zur Gemeinschaft . . . . . . . . .
43 59 90
i.
ii.
Eine Kopernikanische Wende . . . . . . . . . . . . . . . 107
§ 4 Reduktionismus: eine Sackgasse . . . . . . . . . . . . . 108 § 5 Beitragsintentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 § 6 Normativität, Dissidenz und das irreduzibel Gemeinsame 161
iii.
»Cartesianische Gehirnwäsche« und Kollektive Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
§ 7 »Kollektive Intentionalität« – ohne Kollektiv . . . . . . . 186 § 8 Wer hat Angst vor dem Kollektivsubjekt? . . . . . . . . 217 § 9 Jenseits der »Cartesianischen Gehirnwäsche« . . . . . . 230
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Teil II: Rekonstruktion der Gemeinschaft
. . . . . . . . . . . 243
iv.
. . . . . . . . . . . 246
Heidegger und das Miteinandersein
§ 10 Deutungskontroversen rund ums Dasein . . . . . . . . . 257 § 11 Die Gemeinsamkeit des Daseins . . . . . . . . . . . . . 280 § 12 Eigentliches und zerbrochenes Wir . . . . . . . . . . . . 300
v.
Die Uneigentlichkeit des Homo Oeconomicus
. . . . . 309
§ 13 Individualität zwischen Emanzipation und Integration . . 314 § 14 Auf der Suche nach einem vernünftigeren Rationalitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 § 15 Rationalität-in-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . 345
vi.
»Zement der Gesellschaft« und »zerbrochenes Wir« . . 410
§ 16 Die These vom »Zement der Gesellschaft« . . . . . . . . 413 § 17 »Neidgenossenschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 § 18 »Zerbrochenes Wir« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
Schlußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Namensindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Sachwortindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476
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Vorbemerkung
Das Wort »wir« kann auf ganz verschiedene Arten und Weisen gebraucht werden. Wer »wir« sagt, bezieht sich damit unter Umständen nur auf sich selbst – im fürstlichen, königlichen oder päpstlichen pluralis maiestatis oder wahlweise auch im pluralis modestiae, dem Plural der Bescheidenheit. Wer »wir« sagt, kann damit aber auch umgekehrt nur jemand anderes (bzw. auch mehrere andere) meinen – man denke nur an den notorischen Pfleger, der zu seinem (oder seinen) Patienten sagt: »Nun legen wir uns aber schön schlafen!«, selber aber natürlich nichts dergleichen vorhat. Und schließlich bezieht sich das Wort »wir« in manchen Fällen sogar auf niemanden. Einen solchen mag man etwa vermuten, wenn die Kundenbetreuung am Telephon sagt: »Wir nehmen Ihre Reklamation sehr ernst und gehen der Sache nach!«, worauf aber gar nichts passiert – vielleicht weil es ein solches »Wir«, das sich dieser Angelegenheit annehmen könnte, gar nicht gibt? Der Normalfall des Gebrauchs von »wir« ist aber (glücklicherweise) keine dieser drei Verwendungsweisen. Wer »wir« sagt, bezieht sich im Normalfall nämlich durchaus auf jemanden, und zwar sowohl auf andere als auch auf sich selbst. Die anderen Verwendungsweisen – das niemanden meinende »wir«, der Bezug bloß auf sich selbst wie auch der Bezug bloß auf andere – verhalten sich zu diesem Normalfall parasitär. Das gleichsam ins Leere laufende »Wir«-Sagen, die etwas altertümelnde Verwendung von »wir« im pluralis maiestatis (oder im pluralis modestiae) wie auch die gängigere, in der Regel bevormundende Verwendung von »wir« zur Bezugnahme auf jemand anderes leben davon, daß man sich mit »wir« normalerweise auf sich selbst und auf mindestens jemand anderes bezieht. Besonders deutlich ist dies im ersten Fall. Wenn nämlich von vornherein klar wäre, daß »wir« in einem gegebenen Fall ins Leere läuft, könne sich der Sprecher oder die Sprecherin das »Wir«-Sagen sparen. Solch eine Wortverwendung funktioniert nur unter Vortäuschung des Normalfalls. In abgeschwächter Form – es A
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Vorbemerkung
geht hier schließlich nicht um Täuschung, sondern bloß um eine façon de parler – betrifft dies auch die anderen beiden Fälle. Im pluralis maiestatis dehnt die Sprecherin bzw. der Sprecher sich selbst gleichsam auf eine Gruppe aus und potenziert sich so, wogegen dieser Gruppenbezug im pluralis modestiae gerade umgekehrt läuft. Die Sprecherin oder der Sprecher reduziert sich im pluralis modestiae gerade umgekehrt auf ein bloßes Teilelement eines Kollektivs und versteckt sich damit gleichsam unter imaginären anderen. Auch der zweite (eigentlich bloß jemand anderen adressierende) Gebrauch von »wir« scheint ähnlich zu funktionieren. Wer »wir« in dieser Bedeutung verwendet, verschleiert seine Rolle. Im Falle eines in dieser Form gegebenen Befehls (»Nun legen wir uns aber schön schlafen!«) tarnt er seine Position im asymmetrischen Verhältnis zwischen Befehlsgeber und Befehlsempfänger, indem er sich rhetorisch selbst unter den Adressaten plaziert (zu denen er sich aber nicht ernsthaft zählt). Deshalb setzt auch diese Gebrauchsweise voraus, daß sich normalerweise auf sich selbst und andere bezieht, wer »wir« sagt. Von diesem »Normalfall« des »Wir«-Sagens gibt es wiederum verschiedene Varianten. Die vorliegende Situation verlangt, einen davon besonders hervorzuheben: den pluralis auctoris. Es ist dies jener Plural, in welchem Autorinnen und Autoren Wendungen von sich geben wie: »wir wenden uns jetzt der Frage zu …«, oder: »wie wir ja schon oben in Kapitel 1 gesehen haben …«. Hier hat der Bezug auf sich selbst und andere einen vereinnahmenden Beiklang. Den Mitgemeinten – den Leserinnen und Lesern – wird nämlich von seiten des Autors kurzerhand Zustimmung unterstellt. Dies läßt mich zögern, als Autor des vorliegenden Buches meinerseits »wir« zu sagen. Die Vereinnahmung, die ich befürchte, betrifft dabei weniger die Lesenden der Endfassung (man verzeihe mir hier den Gebrauch der dritten Person!) – diese werden sich von solch einer Konsensunterstellung in ihrem Urteil ohnehin nicht beirren lassen. Ich denke dabei eher an die anderen Mitglieder jener zahlreichen (institutionellen oder spontanen) »Wir-Gruppen«, von denen das vorliegende Buch so maßgeblich mitgeprägt ist. Statt kurzerhand »wir« zu sagen möchte ich deshalb hier manche der Bezüge offenlegen, in denen ich als Autor dieses Buches stehe – und zwar im Sinne eines Dankes für geleistete Mitarbeit. Zunächst möchte ich die regelmäßigen und intensiven »Werkstattgespräche« im kleinen Kreis am Fachbereich Philosophie der Kulturwissenschaftlichen Abteilung der Universität St. Gallen erwähnen. Sie haben zum Vorliegenden unschätzbar beigetra12
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Vorbemerkung
gen. Für die Lichter, die sie mir bei diesen und anderen Gelegenheiten gesteckt haben, ihr Engagement für dieses Projekt und ihr sorgfältiges und kritisches Mit- und Vordenken schulde ich Dieter Thomä und Katrin Meyer ganz besonderen Dank. Unerläßlich für das Zustandekommen dieses Forschungsvorhabens waren auch die Anregungen von – und die Zusammenarbeit mit – Fabienne Peter. Besonders wichtig waren für mich auch die im Umfeld der regelmäßig stattfindenden conferences on collective intentionality entstandenen Forschungskontakte. Raimo Tuomela hat – sowohl in seiner ertragreichen Forschungsarbeit wie auch als Initiator dieser Konferenzen – weit mehr für das Studium dieser Themen getan als irgend jemand sonst. Ihm bin ich für seine stete Diskussionsbereitschaft und für seine ausführlichen Kommentare zu einer Vorfassung dieser Arbeit sehr zu Dank verpflichtet. Brigitte Hilmer, Richard Raatzsch und David Schweikard haben diese Arbeit ebenfalls in einer Vorfassung gründlich und ausführlich kommentiert; die Spuren ihrer Interventionen sind im Vorliegenden allgegenwärtig. Georg Meggle, Emil Angehrn, Dieter Thomä und Angelika Krebs haben diese Arbeit der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel zur Annahme als Habilitationsschrift empfohlen und dabei manchen Wink gegeben, der mir bei der Ausarbeitung der Endfassung hilfreich war; für Ihre Gutachten möchte ich ihnen allen sehr danken. Dank schulde ich schließlich auch einigen institutionellen Akteuren: der Universität St. Gallen für die nahezu idealen Arbeitsbedingungen, die mir in den vergangenen Jahren dort gewährt wurden; dem Schweizerischen Nationalfonds, der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft der Universität Basel, der Max Geldner-Stiftung und der Janggen-Pöhn-Stiftung für die großzügige Finanzierung eines zweijährigen Lehr- und Forschungsaufenthaltes an der Graduate Faculty der New School for Social Research in New York, der mir zu Beginn des Ganzen den Raum gegeben hat, mich in die Thematik einzuarbeiten. Zürich, den 4. 7. 2005
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Einleitung
Wer »wir« sagt, bezieht sich im Normalfall auf sich selbst und andere. 1 Dieser Bezug kann in zwei verschiedenen Grundbedeutungen geschehen: entweder in einem distributiven oder in einem kollektiven Sinn. Mit dem Satz »wir haben in einem Unterstand Schutz vor dem Regen gesucht« kann man sich auf eine zufällige und anonyme Ansammlung von Individuen auf der Straße beziehen. Gemeint ist dann, daß jede und jeder für sich – individuell – im Unterstand Schutz vor dem Regen gesucht hat. »Wir« ist dann distributiv gemeint. Eine andere Bedeutung kommt hingegen ins Spiel, wenn man sich mit demselben Satz etwa auf eine Wandergruppe bezieht, als deren Mitglied man sich sieht. Gemeint ist dann nicht, daß jedes einzelne Individuum je für sich im Unterstand Schutz vor dem Regen gesucht hat, sondern daß wir dies gemeinsam getan haben. Wenn sich also auf sich selbst und andere bezieht, wer »wir« sagt, bedarf dies der Präzisierung. Dem distributiven bzw. kollektiven Gebrauch von »wir« entsprechen zwei denkbar unterschiedliche »Gegenstände«: Mit »wir« kann sich die Sprecherin oder der Sprecher distributiv auf ein beliebiges Aggregat von Individuen (eine Ansammlung, eine Menge) beziehen, dem sie oder er sich zurechnet, oder aber kollektiv auf eine Gruppe, als deren Mitglied sie oder er sich versteht (um die Gruppe deutlicher vom bloßen Aggregat bzw. Menge von Individuen abzuheben, ist auch der Begriff Wir-Gruppe gebräuchlich) 2 . In manchen Situationen ist es nun aber gerade dieser Unterschied zwischen einem Aggregat von Individuen und einer Gruppe Dies ist übrigens auch der haltbarste (wenn nicht gar der einzig haltbare) Befund der bisherigen analytischen Diskussion; vgl. dazu Vallée, Richard: »Who Are We?« In: Canadian Journal of Philosophy 26 (1996), S. 211–230. 2 Dies obwohl es gerade nicht die Möglichkeit ist, auf die Klasse der entsprechenden Individuen mit »wir« bezugzunehmen, welche das »bloße Aggregat« bzw. die Menge von der wirklichen »Gruppe« unterscheidet – es gibt ja auch den rein distributiven Gebrauch von »wir«. 1
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Einleitung
(bzw. zwischen dem, was jede und jeder für sich tut, und dem, was »wir« als Gruppe gemeinsam tun), auf den es ankommt. Dann ist ganz besonderes Fingerspitzengefühl beim »Wir«-Sagen gefordert. Nehmen wir, um dies an einem Beispiel zu illustrieren, einmal an, Anna befindet sich allein und frei auf einer Bergwanderung. Auf einem anderen Weg geht ebenso allein Berta einher. Bertas Weg mündet in denjenigen von Anna. Man kennt sich nicht. Ohne anzuhalten nickt man sich vielleicht kurz zu und geht hintereinander weiter den Berg hoch. Vielleicht wechselt man dabei gelegentlich das eine oder andere Wort über das Wetter oder die Aussicht. Berta fühlt sich vom Aufstieg schon etwas erschöpft. Wenn sie nun über etwas Fingerspitzengefühl verfügt, wird sie die ihr unbekannte Anna nicht gleich fragen: »Wollen wir hier vielleicht eine kurze Rast einlegen?«, sondern allenfalls: »Hätten Sie vielleicht auch Lust, hier zu rasten?« (oder vielleicht: »Hätten Sie vielleicht Lust, hier mit mir zu rasten?«). Berta muß in dieser Situation das »Wir«-Sagen vermeiden. Dies obwohl sie sich vielleicht zuvor schon, in einem anderen, unverfänglichen Zusammenhang, auf sich selbst und Anna mit »wir« bezogen hat – etwa mit der Bemerkung: »Schönes Wetter haben wir heute!« Denn Anna würde sich sonst zu nahe getreten fühlen. Sie würde möglicherweise mit großem Unbehagen auf die Implikation der WirForm der Frage reagieren, daß Berta Anna und sich selbst nicht bloß als zwei Individuen auffaßt, die zufällig hintereinander einhergehen, sondern als Gruppe. Anna wird Bertas Frage, wenn sie in der WirForm gefaßt ist, deshalb in der gegebenen Situation so verstehen müssen, daß sie, Anna, in Bertas Sicht nach dem Zusammentreffen möglicherweise nicht mehr allein und frei, sondern gemeinsam mit Berta unterwegs ist, was ihrer eigenen Wahrnehmung der Situation bzw. Intuition zuwiderläuft. In dieser Situation sind die Anwendungsbedingungen von »wir« nicht erfüllt, weil im »Wir«-Sagen eine kollektive Note mitschwingt; aber es gibt hier ja keine WirGruppe, sondern nur Anna, Berta und ihre jeweiligen individuellen Wandervorhaben, welche sie zufällig haben aufeinandertreffen lassen. Auch wenn Berta sich vielleicht wünschen mag, mit Anna eine spontane Wandergruppe zu bilden und die Wanderung mit ihr gemeinsam fortzusetzen: ihr Wunsch allein, daß aus dem zufälligen Zusammentreffen, aus der bloßen faktischen Parallelität der individuellen Vorhaben mehr wird (nämlich ein gemeinsames Tun), führt noch nicht dazu, daß die Anwendungsbedingungen von »wir« in der gegebenen Situation erfüllt sind. 16
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Einleitung
Dabei ist es nicht die Tatsache, daß Anna ihrerseits nicht zu rasten beabsichtigt, welche die Wir-Form der Frage inadäquat macht. Es ist gut vorstellbar, daß Anna im fraglichen Moment ebenfalls schon etwas müde ist und eigentlich schon einige Zeit vorher (und ganz unabhängig von Berta) denselben Platz für eine Rast ins Auge gefaßt hatte. Sie würde dann auf Bertas Vorschlag vielleicht gerne eingehen. Wenn ihr am ungebundenen, individuellen Wandern liegt, kann sie dies aber nur dann tun, wenn dieser Vorschlag nicht in der Wir-Form formuliert ist. Stellt Berta die Frage trotzdem in der Wir-Form, wird Anna auf diesen Anwendungsfehler reagieren müssen, wenn sie ein Mißverständnis vermeiden will. Dabei reicht es möglicherweise nicht aus, wenn Anna einfach auf ihr eigenes Rastvorhaben verzichtet und sagt: »Nein, ich gehe lieber noch etwas weiter.« Denn Berta könnte das wiederum mißverstehen und darauf antworten »na gut, dann rasten wir halt später«, und einfach weiter hinter Anna hertrotten. Anna wird Berta schließlich über ihren Irrtum aufklären müssen; denn sie muß sich vor einer Eigenart forschen »Wir«-Sagens hüten: es kann unter Umständen seine eigenen Anwendungsbedingungen schaffen, 3 und mit dem ungebundenen Wandern ist es vorbei. Wenn Anna in dieser Situation wirklich an ihrer Ungebundenheit liegt, wird ihr schließlich nichts anderes übrig bleiben als in irgendeiner Form explizit zu werden (etwa indem sie sagt: »Entschuldigen Sie, ich würde eigentlich lieber alleine wandern«) und sich von Berta absetzen, um sichtbar werden zu lassen, daß sie nicht mit Berta gemeinsam unterwegs ist. Dabei hätte Anna ja gar nichts dagegen gehabt, ja sie hätte es vielleicht sogar vorgezogen, an der von Berta vorgeschlagenen Stelle zu rasten; und vielleicht hätte sie ursprünglich, also vor Bertas forschem »Wir«-Sagen, auch nichts dagegen gehabt, ein Stück weit neben Berta einherzugehen, weil es dabei ja nur um eine Überschneidung von zwei individuellen Wandervorhaben gegangen wäre – und nicht um ein gemeinsames Wandervorhaben. Individuell unterwegs zu sein muß ja nicht bedeuten, anderen Menschen aus dem Weg zu gehen. Nehmen wir jetzt aber einmal an, Berta hat mehr Fingerspitzengefühl. Sie sieht, daß in der gegebenen Situation die Anwendungsbedingungen von »wir« nicht erfüllt sind, und fragt deshalb ganz korrekt: »Haben Sie vielleicht auch Lust, hier eine Rast einzulegen?« Anna, die ja dieselbe Stelle schon für eine Rast vorgesehen hatte, 3
Vgl. dazu Gilbert, Margaret: On Social Facts. Princeton 1992, S. 178 ff. A
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Einleitung
geht mit den Worten »Ja, das hatte ich auch vor« auf den Vorschlag ein, ohne sich mit dieser Antwort im Geringsten auf ein gemeinsames Rasten festzulegen. Man sitzt also schweigend nebeneinander und genießt den Ausblick. Berta fühlt sich endlich erholt und fragt wiederum taktvoll nicht: »Wollen wir weitergehen?«, sondern allenfalls: »Ich fühle mich erholt genug für ein weiteres Wegstück. Wie steht es mit Ihnen?« Denn daß man zusammen gerastet hat, bedeutet ja nicht, daß man von nun an gemeinsam unterwegs ist. Anna antwortet vielleicht ganz unverbindlich: »Ja, ich werde mich jetzt auch wieder auf den Weg machen.« Wiederum geht man still hintereinander her. Und so geht es weiter: Später verpflegen sich beide an derselben Stelle, man überquert einen Paß, beobachtet auf einem Abstecher in ein Seitental eine vorüberziehende Gemsenherde, sucht Schutz vor einem plötzlich heraufgezogenen Gewitter, nächtigt in derselben Hütte, und dergleichen mehr. Man mag über die ganze Zeit hinweg kaum miteinander geredet haben; und trotzdem geschieht irgendwann im Verlaufe der Wanderung das nach menschlichem Ermessen wohl Unausweichliche. Irgendwann – vielleicht schon bald nach der ersten Rast, vielleicht aber auch erst am zweiten Tag der Wanderung – kommt der Moment, an dem Berta nicht mehr fragen kann: »Hätten Sie vielleicht Lust, hier mit mir zu rasten?« Anna würde jetzt – auch ohne daß man sich zuvor in dieser Sache verständigt hat – irritiert reagieren: »Ja sind wir denn jetzt plötzlich nicht mehr gemeinsam unterwegs?« Die Frage muß jetzt richtig lauten: »Wollen wir hier rasten?« Die Anwendungsbedingungen von »wir« sind jetzt gegeben. Ein phänomenaler Wandel hat stattgefunden. Aus dem zufälligen Aggregat von zwei hintereinander gehenden Individuen ist eine Wir-Gruppe geworden; das Wandern ist nicht mehr etwas, was Anna und Berta je individuell tun: es ist jetzt etwas Gemeinsames. Solche Vorgänge sind zwar alltäglich; aber wie alles Alltägliche sind sie für die Philosophie rätselhaft. Was ist es, was die Differenz zwischen den beiden skizzierten Zuständen ausmacht? Was unterscheidet im genannten Beispiel die Situation, in der die »Wir«-Rede inadäquat ist, von derjenigen, in der sie verlangt ist? Die individuellen Motive, die hinter dem Verhalten der Beteiligten stehen, mögen sich dabei weitestgehend unterscheiden. Berta war vielleicht unwohl auf ihrem einsamen Weg – sie schätzt deshalb Annas Gesellschaft –, wohingegen Anna selbst der Gemeinschaftlichkeit keinen intrinsischen Wert zuschreibt, sie aber immerhin um des Sicherheitsvorteils, den sie bietet, zu schätzen weiß. Die resultierende 18
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Gemeinschaftlichkeit des Tuns bleibt von dieser Divergenz der individuellen Motive unberührt, auch wenn klar ist, daß letztere für die Dauer und Stabilität des Gemeinschaftshandelns eine große Rolle spielen mögen. Die Frage nach der Struktur des Gemeinschaftshandelns ist aber schon aufgrund dieser Tatsache nicht im direkten Rekurs auf die individuellen Motive der an diesem Handeln Beteiligten zu beantworten. Die Gemeinschaftlichkeit eines Tuns und die Gründe, die die beteiligten Individuen für ihr Mittun haben mögen, stehen nicht auf demselben Blatt. Was auch immer die Motive der Beteiligten sein mögen (vielleicht braucht es hier bisweilen auch gar kein ausgeprägtes Interesse an Gemeinsamkeit, vielleicht reicht oft schon ein bloßes Hinnehmen dessen, was sich situativ ergibt): was ist es, was das Tun zu einem gemeinsamen macht? Die Absicht hinter dieser Frage ist die, das Phänomen der Gemeinschaft zu erhellen. Dabei ist freilich alles andere als klar, daß das angesichts der gegebenen Erkenntnisabsicht eine gute Frage ist. Unten wird eine ganze Reihe von Einwänden näher zu besehen sein; einer sei hier schon vorweggenommen: wieso sollte die Antwort auf die gestellte Frage überhaupt etwas mit dem Vorliegen oder Nichtvorliegen von Gemeinschaft bzw. einer Gruppe zu tun haben? Nicht ohne Grund stellt die in Sachen der Ontologie der Gemeinschaft einschlägige Literatur ihre Leitfrage kaum je in der vorliegenden Form. 4 Denn daß eine Analyse der Alltagssprache auch wirklich das Phänomen erreicht, ist keineswegs von vornherein ausgemacht. Es ist ja zumindest denkbar, daß wir am Phänomen der Gemeinsamkeit alltagssprachlich genauso »vorbeireden«, wie wir dies auch sonst so oft tun. Ohne hier einen notwendigen Zusammenhang postulieren zu wollen, scheint es mir im Sinne einer Heuristik dennoch fruchtbar, die Frage nach dem Wir zunächst so – also als Frage nach den impliziten Anwendungsbedingungen einer alltagssprachlichen Wendung bzw. einem sich darin manifestierenden impliziten Wissen – zu stellen. Denn wenn die »Alltagsintuition« sich auch nachträglich als verkehrt und irreführend herausstellen mag, bietet sie doch einen ersten Anhaltspunkt. Und wenn am Schluß herauskommen sollte, daß unsere Alltagsintuition (und nicht etwa bloß eine verzerrte Wiedergabe dieser Alltagsintuition!) in die Irre führt, dann wäre genau dies jedenfalls selbst ein erklärungsbedürftiges und analysewürdiges PhäVgl. aber Gilberts wichtige Analyse der Anwendungsbedingungen von »wir« in Gilbert 1992, S. 175 ff.
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nomen – ein Phänomen, von dem man vermuten darf, daß es nicht ganz unabhängig von der Weise unseres (alltäglichen) Miteinanderseins ist. Außerdem bedeutet der Ausgang von der Analyse des Alltags auch keinen (vorgeblichen) Theorieverzicht; vielmehr läßt sich eine ganze Fülle von existierenden Theorieansätzen auf diese Problemstellung beziehen und somit in eine wechselseitige Auseinandersetzung bringen. Darunter finden sich, wie im folgenden zu sehen sein wird, Ansätze der Klassiker der Theorie der Sozialwissenschaften und die verschiedensten Theoriebemühungen auf dem weiten Feld der Sozialtheorie, welches sich zwischen den Sozialwissenschaften und der Sozialphilosophie erstreckt. Aber auch (und vor allem!) die gegenwärtige analytische Handlungstheorie ist hier wichtig. In diesem Kontext ist die Frage nach der Struktur gemeinsamen Handelns, wie sie sich im gewählten Beispiel stellt, in den letzten fünfzehn Jahren ins Zentrum einer mittlerweile recht ausgedehnten Debatte gerückt. Anlaß zur vorliegenden Studie war der Verdacht, daß es hier trotz all dieser Ansätze noch viel zu tun gibt: Wir haben bislang noch gar keine wirklich befriedigende Antwort auf die gestellte Frage. Bei all den Theoriebemühungen, welche sich auf das Phänomen beziehen lassen und auch wirklich einzelne Züge des Phänomens erhellen mögen, bleibt dieses insgesamt doch unterbelichtet. Dies liegt daran, daß selbst die wichtigsten und elaboriertesten Theorien davor zurückschrecken, eine Blockade zu überwinden, welche die Sicht aufs Phänomen versperrt (wobei freilich nicht ausgeschlossen ist, daß das Blockiertsein unserer Sicht auf die Struktur von Gemeinschaft durch das Phänomen selbst bedingt ist). Diese Theorieblockade zeigt sich im (methodologischen oder ontologischen) Individualismus. Sie besteht in der mehr oder weniger expliziten Annahme, daß das Phänomen des gemeinsamen Seins, Empfindens und Tuns, des ganzen Miteinanderseins, letztlich vollständig als Angelegenheit der beteiligten Individuen, also ohne direkten Rekurs auf die Tatsache, daß es hier tatsächlich um eine Gruppe bzw. Gemeinschaft geht, beschrieben werden kann und muß. In den »Soziologischen Grundbegriffen« Max Webers findet diese Blockade ihren klassischen und oft zitierten Ausdruck. Weber vertritt hier die folgende Zentralthese: Das Handeln, mit dem es die »verstehende Sozialwissenschaft« zu tun hat, soll nicht als Handeln von »Kollektivpersönlichkeiten« oder »Kollektivsubjekten« betrachtet werden, sondern als Handeln von einzelnen Individuen. Kollektivitätsbegriffe wie »Gemeinschaft« oder »Grup20
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pe« haben auf der ontologischen Grundebene der Analyse nichts zu suchen; 5 hier spielen nur die Handlungen und die darin eingehenden Motive und Absichten, kurz der »subjektiv gemeinte Sinn« von Individuen eine Rolle. Und: Kollektivitätskonzepte spielen in der verstehenden Analyse nur eine Rolle, soweit sie im Gehalt der individuellen Intentionen vorkommen, soweit also die Individuen selbst von der Existenz eines Kollektivs überzeugt sind bzw. ihr Handeln an irgendeinem Modus der »Vorstellung« eines Kollektivs orientieren. Dies verleiht dem Kollektiv bei aller Reduzibilität auf individuelles Handeln dann doch noch ein gewisses Maß an kausaler Wirksamkeit und zwingt die verstehende Analyse mithin dazu, auch Kollektivitätskonzepte zu verwenden, wenn auch nur zum Zweck der Beschreibung des Gehalts individueller Intentionen bzw. des »subjektiv gemeinten Sinns«, der das eigentliche Thema der verstehenden Sozialwissenschaft darstellt. 6 Es gibt zwar eigentlich keine Kollektive – aber es wird nun einmal an ihre Existenz geglaubt, weshalb man halt trotzdem in gewisser Weise mit ihnen rechnen muß – so könnte man diese These zuspitzen. Richtig ist zwar: Max Weber versteht seinen Individualismus erstens in einem methodologischen Sinn (fällt also scheinbar keine Existenz- oder Nichtexistenzurteile, sondern beschränkt sich auf die Empfehlung einer Herangehensweise) und bezieht ihn zweitens nur auf den »verstehenden« sozialwissenschaftlichen Ansatz (Weber gesteht mithin explizit zu, die Annahme von Kollektivsubjekten oder anderen irreduziblen Kollektivitätskonzepten möge »für andere Erkenntniszwecke« förderlich und statthaft sein). Aber es ist doch gleichzeitig auch klar (und wird bei den Erben Webers auch deutlich), daß sich hinter dem methodologischen Individualismus im Grunde auch eine ontologische Festlegung verbirgt. Das legt sich nur schon aus der Sache nahe. Denn wer von der Ontologie nicht reden will, hat wohl auch in Sachen Methodologie letzt5 Vgl. dazu auch etwa Popper, Karl Raimund: The Open Society and its Enemies. Bd. 2, Princeton 1962, S. 98. 6 Die einschlägige Passage in Webers Soziologischen Grundbegriffen lautet: »Die Deutung des Handelns muß von der grundlegend wichtigen Tatsache Notiz nehmen: daß jene dem Alltagsdenken (…) angehörenden Kollektivgebilde Vorstellungen von etwas teils Seiendem, teils Geltensollenden in den Köpfen realer Menschen (…) sind, an denen sich deren Handeln orientiert, und daß sie als solche eine ganz gewaltige, oft geradezu beherrschende, kausale Bedeutung für die Art des Ablaufs des Handelns der realen Menschen haben« (Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft [1921]. Tübingen 5 1968, S. 7).
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lich nicht viel zu sagen. Und wer umgekehrt methodologische Anweisungen gibt, unterstellt damit in einem gewissen Umfang auch eine bestimmte Ontologie. Die Methodologie ist von der Ontologie keineswegs völlig unabhängig. Denn es sind ja nicht zuletzt auch die Fakten, die den Ausschlag geben bei der Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte Methodologie sinnvoll ist oder nicht. Soll, um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen, die methodologische Empfehlung, eine bestimmte Messung mit dem Metermaß vorzunehmen, überhaupt Sinn machen, muß vom entsprechenden Phänomen gelten, daß es so beschaffen ist, daß man es auf diese Weise messen kann (daß es also eine entsprechende räumliche Ausdehnung besitzt und mithin nicht von der Art nichträumlicher Phänomenene wie z. B. Schmerzen ist). 7 Ob es also methodologisch sinnvoll ist oder nicht, auf die Annahme von Kollektivsubjekten, Kollektivpersönlichkeiten oder anderer irreduzibler Kollektive zu verzichten, wie Weber empfiehlt, ist nicht ganz unabhängig von der Frage zu entscheiden, ob es solche Kollektivsubjekte, Kollektivpersönlichkeiten oder sonstige irreduzible Kollektive denn tatsächlich gibt oder nicht. 8 Oder, anders gesagt: Der plausibelste Rechtfertigungsgrund für das methodologische Setzen auf die Reduktion des Sozialen auf individuelle Intentionen ist die Wahrheit der Annahme, daß es (ganz gemäß dem Diktum Margaret Thatchers) »die Gesellschaft« nicht gibt 9 , sondern nur Individuen – also die Nichtexistenz von so etwas wie irreduziblen KolFür dieses Beispiel danke ich Richard Raatzsch. Zum Zusammenhang des methodologischen und des ontologischen Aspekts des Individualismus schreibt Greg Currie: »Methodological individualism (MI) can be stated roughly as the thesis that explanations of social phenomena should appeal only to facts about individual people. This is a directive or rule, rather than a statement of purported fact – hence methodological individualism. But whether a rule is useful depends, in part, on the facts; the fact of gravity makes the rule ›exit by the window‹ poor advice. We need to ask whether society, individuals, and their relations are such as to make MI a sensible rule to follow, where explanation is our goal« (Currie, Greg: Methodological Individualism: Philosophical Aspects. In: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences. Amsterdam 2001, S. 9755–9759, hier S. 9755). 9 Eine wichtige Rolle wird im Zusammenhang mit diesem Diktum dem Philosophen und Thatcher-Berater Anthony Quinton zugeschrieben (vgl. dazu Pettit, Philip: Groups with Minds of their Own. In: Schmitt, Frederick (Hrsg.): Socializing Metaphysics. New York 2003, S. 167–195, S. 179 f.). Ein vielzitierter Reflex findet sich bei Jon Elster: The Cement of Society. Cambridge UK 1989, S. 248: »There are no societies, only individuals who interact with each other«. Oft vergessen wird allerdings, daß Margaret Thatcher in ihrem Zitat nicht die Existenz von Kollektivgebilden überhaupt, sondern (politisch naheliegend) nur jene des speziellen Kollektivgebildes »Gesellschaft« bestritten hat. »The7 8
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lektivgebilden. Aus diesem Grund scheint es durchaus nicht abwegig (oder etwa gar »epistemologisch naiv«), dadurch Sinn aus Webers These zu machen, daß man ihm einen ontologischen Individualismus unterschiebt: die Ansicht, daß das, was im Bereich des Sozialen eigentlich real ist, bloß die Individuen, ihre Handlungen und Absichten sind. »Eigentlich«, so diese Sicht der Dinge, gibt es keine Kollektive, sondern nur Individuen und ihre Intentionen bzw. Handlungen. Kollektive gibt es dieser Ansicht nach, wie gesagt, nur in einem derivativen Sinn (zum Beispiel soweit Individuen eben glauben, daß es Kollektive gebe, und ihre Überzeugungen, Erwartungen und Handlungen an dieser vorgestellten Existenz von Kollektiven orientieren: also als Gehalt individueller Intentionen). Verschiedenen Varianten dieser Deutung will die vorliegende Studie widersprechen. Dabei geht es freilich, wie sich im Lauf der Darstellung herausstellen wird, um eine Kontroverse auf gemeinsamem Boden. Es ergibt sich nämlich ein grundsätzlicher Konsens mit Weber, und zwar in Sachen des »sinnverstehenden« Grundansatzes; die Kontroverse wird demgegenüber darum gehen, wie dieser »Sinn« (also die Absichten, Meinungen, Empfindungen – kurz: die Intentionalität –, die Gegenstand des Verstehens bilden) genauer zu bestimmen ist. Ein Symptom der individualistisch verkürzten Sicht, wie sie bei Weber exemplarisch zum Ausdruck kommt, scheint mir zu sein, daß hier die Entscheidung für ein individualistisches handlungsanalytisches setting, welches Sinn stets als »subjektiv gemeinten Sinn« versteht, mit der Inakzeptabilität einer kollektivistischen Alternative begründet wird. Diese (Schein-) Alternative zwischen der individualistischen These, daß »nur« die einzelnen Individuen handeln bzw. Absichten und Meinungen haben können, und der kollektivistischen Gegenthese, daß Kollektive die »letzten« Träger bzw. Subjekte von Handlungen, Absichten oder Meinungen sind, erwächst nur aus der ontologischen Grundprämisse, daß alle Intentionalität (alles Fühlen, Denken oder Beabsichtigen) ein Subjekt braucht. Dies mag indes zunächst wie eine harmlose und völlig unproblematische Prämisse erscheinen, denn was wäre schon eine Idee, eine Absicht, eine Gefühlsempfindung, welche niemand hat, oder eine Handlung, die niemand ausführt? Was sollte denn Intentionalität anderes sein als etwas, was sich zwischen der Trias von Subjekt, re are individual men and women, and there are families« lautet die Fortsetzung des einschlägigen Zitats im Woman’s Own Magazine (3. Oktober 1987). A
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intentionalem Modus und intentionalem Gehalt aufspannt? Wenn sich aber in der »Arbeit am Phänomen«, die gleich in Angriff zu nehmen sein wird, herausstellen sollte, daß das Phänomen gemeinsamen Handelns nicht in diese intentionalanalytische Standardontologie paßt, ist es wohl, wie ich meine, ratsamer, am Phänomen festzuhalten und die gewohnte Standardontologie zur Disposition zu stellen, als umgekehrt partout an der Standardontologie festzuhalten und vom Phänomen abzublenden. Der Weg über das Phänomen (also eine Analyse des Gemeinschaftshandelns) bedeutet aber auch einen Verzicht auf direkte Konfrontation mit der Standardontologie. Was die »Cartesianische Gehirnwäsche« (wenn es sie denn gibt) bedeutet, und was ihre Überwindung (wenn sie denn nötig und möglich sein sollte) bringt, soll sich letztlich aus dem Leistungsvergleich im Rahmen der Erklärung unkontroverser Fälle gemeinsamen Tuns bzw. gemeinschaftlichen Miteinanderseins weisen. Insofern liegt dem folgenden kein metatheoretisch ambitionierter Begriff der Phänomenologie, der Ontologie oder der »Arbeit am Phänomen« zugrunde, und ich glaube auch, daß eine vorgängige Klärung dieser Begriffe (oder auch nur ein Zugehörigkeitsbekenntnis in bezug auf die verschiedenen Lager in den entsprechenden Debatten und Kontroversen) letztlich kaum dabei behilflich wäre, das »Phänomen« deutlicher zu sehen oder sich erfolgreicher an die phänomenologische Arbeit zu machen. »Phänomenologie« kommt allerdings von einer anderen Seite her relativ direkt ins Spiel. Mir scheint nämlich, daß auf der Suche nach einer phänomenadäquaten Ontologie der Gemeinschaft ein Rückgriff auf den Diskussionszusammenhang der Phänomenologie und frühen Existenzphilosophie besonders fruchtbar sein kann. Dies aus zwei Gründen: Erstens ist sehr vieles, was heute die analytische Handlungstheorie (und z. T. auch die Entscheidungstheorie) beschäftigt, schon im Kontext der Phänomenologie und Existenzphilosophie angedacht, -gesprochen und -diskutiert worden; vieles von der heutigen Debatte – Lösungsansätze und Irrwege – findet sich hier sozusagen in der Nuß und wie in einem etwas entfernten Spiegel. Insofern gilt es hier, an einen um die Mitte des letzten Jahrhunderts abgebrochenen Theoriestrang wieder anzuknüpfen. Der Blick aus der Distanz macht dabei Zusammenhänge sichtbar, in denen sich die heutige Diskussion spiegelt. Die bloßen Analogien allein wären aber wohl noch kein zureichender Grund, sich diesem Theoriekontext zuzuwenden. Entschei24
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dend ist etwas anderes: Es finden sich hier, insbesondere im Kontext der Existenzialphilosophie, einige Ansätze, welche die aktuellen Debatten weitertreiben könnten, welche also Theorieprobleme lösen, die uns heute beschäftigen. Mir scheint, daß dies nebst Max Scheler, Jean-Paul Sartre und einigen weniger bekannten Figuren aus dem näheren und weiteren Umkreis der Husserlschen Phänomenologie (wie etwa Gerda Walther, Dietrich von Hildebrand oder Simon Frank) insbesondere beim Heidegger der kurzen Phase zwischen der Publikation von »Sein und Zeit« und den frühen dreißiger Jahre der Fall ist. Um die hier liegenden Einsichten fruchtbar zu machen, bedarf es freilich einiges interpretativen und kritischen Aufwandes. Passiv-rezeptiv wird man sich den phänomenologisch-existenzialistischen Ansätzen gegenüber nicht verhalten können. Die frühere Phänomenologie und Existenzialphilosophie ist zwar, gerade des intentionalistischen Theorie-settings wegen, unglaublich reich an weitgehend vergessenen, fruchtbaren Vorschlägen zur Grundlegung der Sozialontologie. Aber dieser Reichtum bezieht sich, wie zu sehen wird, auch auf die theoretischen Sackgassen, Holz- und Irrwege, nämlich alle möglichen atomistischen oder kollektivistischen Aporien. Insofern kann es hier nicht darum gehen, eine »Schule«, eine Epoche oder gar eine einzelne Autorin oder einen einzelnen Autor zum Heroen zu stilisieren, sondern bloß darum, einerseits für eine Ausweitung des Kreises der sozialontologischen Lektüre auf einige ziemlich starke, weniger bekannte Philosophinnen und Philosophen zu werben, und andererseits dafür, einen Großphilosophen (Martin Heidegger) in bezug auf ein bestimmtes Thema (Gemeinschaft) in einem etwas anderen Licht zu sehen, oder vielmehr: durch einen neu oder anders gesehenen Heidegger unser Miteinandersein besser zu verstehen. (Letzteres bringt hoffentlich auch für jene noch einen gewissen Ertrag, welche finden werden, daß Heidegger im Zuge dieses Unternehmens bloß aus der Froschperspektive, gar zu schief oder mit zu schwachem Licht angeleuchtet wird.) Deshalb wird hier weder interpretativ noch methodologisch reflexiv angesetzt. Am Anfang soll das Phänomen stehen – Anna und Berta, deren Beispiel als Leitfaden durch die verschiedenen Theorien gemeinsamen Intendierens und Handelns dienen wird. Mit einigen Unterbrüchen wird sich dieser Leitfaden durch den ganzen ersten Teil dieser Arbeit ziehen. Der zweite Teil knüpft daran an, aber die Auseinandersetzungen, die es im Durchgang durch verschiedene Theorien des gemeinsamen Intendierens und Handelns auf dem Weg zu A
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einem adäquaten Verständnis des Phänomens zu führen galt, und die systematischen Widerstände und Probleme, die sich dabei herauskristallisieren (die »Cartesianische Gehirnwäsche«), werden hier gleichsam von der Gegenseite her angeleuchtet. Es leitet hier die Vermutung, daß diese systematischen Verzerrungen unserer Sicht auf unser Gemeinsamsein nicht bloß zufälligen Charakter haben, sondern letztlich ihre Wurzeln tief in diesem Zusammensein selbst haben. Das mag zunächst etwas kryptisch klingen, wird sich aber zum gegebenen Zeitpunkt (d. h. nach dem in Teil 1 zurückgelegten Weg) als ebenso simple wie naheliegende Vermutung herausstellen. Die Hauptpunkte des zweiten Teils sind die folgenden. Die bei der beschriebenen Blickwendung leitende Theoriefigur eines systematischen Sichverfehlens im Selbstverhältnis wird zunächst im Rahmen einer Heidegger-Interpretation herausgearbeitet. Das umfangreiche zweite Kapitel des zweiten Teils ist dem ökonomischen Verhaltensmodell als exemplarischem Fall solcher »Uneigentlichkeit« unseres Selbstverständnisses gewidmet, gefolgt von einer sich ebenfalls in diesem Theoriekontext bewegenden Analyse zum »Zement« der Gesellschaft. Eine Frage muß freilich trotz des Bekenntnisses zum phänomenologischen »Positivismus« vorweg gestellt werden, weil sie den »Vorgriff« betrifft, in dessen Zug Gemeinschaft hier überhaupt zum Thema wird. Inwiefern eignet sich ein Beispiel wie jenes von Anna und Berta überhaupt, etwas über die Sozialontologie herauszufinden? Prima facie spricht nämlich gleich eine ganze Reihe von Gründen dagegen, zu versuchen, die Ontologie unseres Miteinanderseins im Ausgang von einem solchen Beispiel in den Blick zu nehmen. 10 Ich greife hier nur gerade die offensichtlichsten und nächstliegenden auf: a) Ein erster Grund zur Skepsis ist der folgende. Das Beispiel setzt beim Phänomen der nachträglichen »Verknüpfung« bzw. Koordination vorkonstituierter individueller Handlungspläne zu einem gemeinsamen Tun an. Vorausgesetzt ist dabei, daß es vor Auftreten des Phänomens der Gemeinsamkeit Individuen gibt, die schon selbständig handeln können und selbständig bestimmte Handlungsziele Eine Auflistung von Argumenten gegen ein solches sozialontologisches setting findet sich bei Baier, Annette C.: Doing Things With Others: The Mental Commons, in: Alanen. Lilli/Heinämaa, Sara/Wallgren, Thomas (Hrsg.): Commonality and Particularity in Ethics. London 1997, S. 15–44.
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instrumentell verfolgen. Die Frage ist, ob man den Begriff der Gemeinschaft oder Gruppe durch diese Wahl des Ausgangspunktes nicht auf unzulässige Weise verengt bzw. ob man dadurch nicht schlicht zu wenig »tief« ansetzt. Man mag dieses setting allenfalls für sozialontologische Sonderfälle wie etwa die Analyse von »voluntary associations« in manchen entwickelten Gesellschaften, für die intermediären sozialen Gruppen, die freien Assoziationen von Individuen im liberaldemokratischen Rechtsstaat plausibel halten. Aber gilt dies auch für das Miteinandersein schlechthin – wenn von einem solchen sinnvoll die Rede sein kann – bzw. von anderen Formen der Gemeinschaft? Daran kann man zweifeln. Für die Grundstruktur von Gemeinschaft (bzw. für ihre »grundsätzlicheren« und »allgemeineren« Formen) ist es ja gerade signifikant, daß wir nicht schon solche individuelle Akteure mit instrumentell verfolgten Zielen sind, wenn wir in Gemeinschaften geraten, sondern daß wir in sie hineinwachsen und in ihnen aufwachsen, daß wir zum Zeitpunkt unseres Eintritts in Gemeinschaften mithin nicht schon »fertige« Akteure sind, sondern in Gemeinschaften erst zu den Akteuren werden, von denen das gewählte Beispiel ausgeht: zu Akteuren, die ihre individuellen Ziele planmäßig verfolgen und sich im Rahmen solcher Projekte zusammenschließen können. In der soziologischen Theorie findet die Einsicht, daß Menschen »nur in der Gesellschaft sich vereinzeln« 11 können, ihren wohl prägnantesten Ausdruck in der (in verschiedenen Varianten immer wieder reformulierten) These vom Primat der Gemeinschaft gegenüber der Gesellschaft. 12 Wenn Anna und Berta zur Wandergruppe werden, so scheint dies in diesen Begriffen mithin eher ein gesellschaftliches Phänomen zu sein: Die sozialen Voraussetzungen der Ausbildung individueller Intentionalität und individuellen Handelns kommen damit nicht in den Blick; das Soziale (das gemeinsame Wandern) scheint hier sozusagen sekundär zu sein gegenüber dem Individuellen (dem individuellen Unterwegssein), geht es doch (zumindest prima vista) bloß um die nachträgliche Koordination individueller Handlungspläne. Daran zeigt sich das Schiefe des gewählten Beispiels. Es droht, mit einer wohl nicht zu Unrecht imSo die Formulierung von Marx, Karl: Ökonomische Manuskripte 1857/58. Marx-Engels Werke Bd. 42, Berlin 1983, S. 20. 12 Das hierzu stets erwähnte, aber nicht ganz ohne Grund kaum je gelesene Werk ist Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Berlin 2 1912. 11
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mer wieder monierten Blindheit zu schlagen, nämlich der Blindheit für die sozialen Vorbedingungen individueller Intentionalität. Die Ontologie des Miteinanderseins muß, so scheint es, gegenüber Beispielen wie dem hier gewählten tiefer ansetzen. Wenn sie schon beim Gemeinschaftshandeln ansetzt, so sollte sie dazu besser nicht die Entstehung von Gemeinschaftshandeln aus dem »Zusammenschluß« von selbständig handelnden Individuen, sondern die Reproduktion von Gemeinschaftspraxen im Sozialisationsprozeß wählen. b) Ein zweiter Einwand könnte etwa wie folgt lauten. Das Beispiel geht von symmetrischen sozialen Verhältnissen aus. Annas Verhältnis zu Berta entspricht grundsätzlich Bertas Verhältnis zu Anna; keine ist beispielsweise »Machthaberin« oder »Machtunterworfene«. Auch dies, so könnte man meinen, muß den Blick für die Ontologie der Gemeinschaft verstellen. 13 Denn solche symmetrische Situationen sind empirisch keinesfalls der »Standardfall«; sie treten allenfalls ausnahmsweise und nur unter sehr spezifischen Bedingungen auf, welche typischerweise mit großem institutionellem Aufwand gewährleistet werden müssen. Der Regelfall des Miteinanderseins, den man auch in sozialontologischer Perspektive nicht aus den Augen verlieren sollte, ist ein anderer: Beziehungen sind »zunächst und zumeist« so asymmetrisch wie diejenige zwischen Eltern und Kind oder diejenigen, die zwischen den Angehörigen verschiedener Altersstufen in den meisten Gesellschaften bestehen. Das gewählte Beispiel mit seiner starken Symmetrieunterstellung scheint deshalb auch in dieser Beziehung einer Art »individualistischer Illusion« Vorschub zu leisten: nämlich der Illusion, Beziehungen seien »zunächst« oder »im Grunde« solche zwischen »Gleichen«, zwischen denen sich Ungleichheit erst logisch oder genetisch sekundär etabliert. Eine solche Sicht läuft möglicherweise nicht nur am Kern der Gemeinschaft (bzw. an deren wesentlichsten Formen) vorbei; sie droht nicht zuletzt auch, mit Blindheit für das wirkliche soziale Phänomen von Symmetrie und Gleichheit und die Fülle seiner Vorbedingungen zu schlagen. Damit direkt einher geht noch ein weiterer Punkt: Annas und Bertas gemeinsames Wandern ist (auch hier: zumindest prima facie) »freiwillig«. Das Beispiel unterstellt damit etwas, was für typische Grundformen der Gemeinschaft gerade nicht (oder zumindest nicht in diesem starken Sinn) gilt. Staats-, Kulturgruppen-, Standes- und So zu Recht Baltzer, Ulrich: Gemeinschaftshandeln. Ontologische Grundlagen einer Ethik sozialen Handelns. Freiburg 1999.
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Familienzugehörigkeit haben nicht die voluntaristische Grundlage, die man »Assoziationsphänomenen« wie jenem des gemeinsamen Wanderns von Anna und Berta unterstellen mag. Selbst wenn man den hier gegen die voluntary associations stark gemachten Gemeinschaften doch noch einen Kern von »Freiwilligkeit« unterstellen mag – es gibt ja in den meisten Fällen eine exit-Option: Man könnte ja schließlich austreten, auf die Staatsbürgerschaft verzichten, sich von seiner Familie lossagen etc.: Es ist dennoch klar, daß die schwache Freiwilligkeit, die sich im Nichtaustritt manifestiert, eine ganz andere ist als jene starke Freiwilligkeit, von der hier, im gewählten Beispiel, die Rede ist. Die Orientierung am Phänomen der »Assoziation« von Individuen, wie sie in der einschlägigen Literatur (auch und gerade in der gegenwärtigen analytischen Sozialontologie!) gängig ist, scheint auch in dieser Hinsicht den Blick auf die Ontologie der Gemeinschaft unzulässig zu verengen. Nur der krasseste Ausdruck dieser Limitierung ist es, wenn in der laufenden Debatte gelegentlich sogar erwogen wird, ob man ob der fehlenden oder zumindest zweifelhaften voluntaristischen Grundlage soziale Entitäten wie Familien nicht besser gleich aus der Ontologie der Gruppe ausschließen sollte. Eine Ontologie der Gemeinschaft, die soziologisch über den empirisch und logisch sehr eingeschränkten Bereich der voluntary associations hinaus relevant sein will, sollte sich wohl vor solchen Verengungen hüten. c) Ein dritter Haupteinwand hat im weiteren Sinn mit dem vorgenannten Punkt zu tun. Er bezieht sich darauf, daß das gemeinsame Wandern von Anna und Berta eine isolierte Tätigkeit einer Kleingruppe ist. Auch dies, die Konzentration auf mehr oder weniger spontane Kleingruppen, ist typisch für die aktuelle Literatur zum Thema. Da geht es in der Wahl der Beispiele um Phänomene wie das gemeinsame Anschieben eines mit einer Panne liegengebliebenen Wagens 14, um das gemeinsame Streichen eines Hauses 15, um das arbeitsteilige Anrühren von Mayonnaise 16 und dergleichen zeitlich, sozial und sachlich eng begrenzte Aktivitäten mehr. Aber ist es Vgl. zu diesem Beispiel Tuomela, Raimo: We Will do It: An Analysis of Group-Intentions. In: Philosophy and Phenomenological Research 51 (1991), S. 249–277. 15 Dies ist eines der bevorzugten Beispiele von Bratman, Michael E.: Faces of Intention. Selected Essays on Intention and Agency. Cambridge UK 1999, z. B. S. 94. 16 Vgl. Searle, John R.: Collective Intentions and Actions. In: Cohen, Philip R./Morgan, Jerry/Pollack, Martha E. (Hrsg.): Intentions in Communication. Cambridge Mass. 1990, S. 401–415. 14
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nicht ein gravierender Fehler der nicht nur wegen solcher Beispielswahl schon so genannten »›small is beautiful‹ school« 17 , die Ontologie der Gemeinschaft von solchen mehr oder weniger spontanen Kleingruppen und transitorischen Tätigkeiten her aufzurollen, anstatt von größeren und dauerhafteren sozialen Gebilden, also von Makrophänomenen und -gruppen wie Kommunikationsgemeinschaften, gesellschaftlichen Ständen, ökonomischen Klassen oder etwa Nationen auszugehen, bzw. von dauerhafteren Kollektiven wie etwa Familien? Auch hier mag es scheinen, daß die Wahl des Beispiels letztlich gerade die Sicht auf das als exemplarisch dargestellte Phänomen selbst verstellt. Denn selbst Aktivitäten wie das gemeinsame Anschieben eines Wagens, Streichen eines Hauses oder wie das gemeinsame Wandern finden ja nicht unabhängig von größeren gesellschaftlichen Aggregaten statt; ihre soziale Einbettung bleibt so aber völlig unthematisch. Im Rahmen einer derart eingeschränkten Analyse bleiben sie deshalb möglicherweise selbst intransparent. d) Die problematische Fixierung auf transitorischen Kleingruppen kann man als Folge der Orientierung der Sozialontologie am Phänomen des gemeinsamen Handelns, also gemeinsam verfolgter Tätigkeiten sehen. Schon das macht das gewählte und die weiteren genannten Beispiele problematisch. Aber es stellen sich hier noch weitergehende Probleme: Weshalb überhaupt die Frage nach der Ontologie der Gemeinschaft am Phänomen des gemeinsamen Tuns aufrollen? Bedeutet dies nicht wiederum eine phänomenale Verengung, nämlich eine Verengung auf das Phänomen der Kooperation im Rahmen von gemeinsamen zielgerichteten Tätigkeiten? Ist die Gemeinschaft, die im gemeinsamen Handeln vorausgesetzt ist und die sich hier allenfalls zeigt, nicht eine viel zu spezifische Form von Gemeinschaft, um anhand ihrer das Phänomen der Ontologie des Miteinanderseins überhaupt aufzurollen? Manche Gemeinschaften – von der Wandergruppe von Anna und Berta bis zu ausgedehnten Zweckverbänden und Interessensgemeinschaften – sind ja in der Tat durch Gemeinschaftshandeln konstituiert. Andere Gemeinschaften mögen sich zwar bisweilen auch zu gemeinsamem Handeln finden, sind aber in ihrer ontologischen Struktur nicht (oder nicht direkt) an die Existenz eines solchen gemeinsamen Tuns oder eines gemeinsam verfolgten Ziels gebunden. Man denke hier etwa an einen FamilienverVgl. Swindler, J. K.: Constructivist Moral Realism: Intention and Invention in Social Reality. In: Southwest Philosophy Journal 14 (1997), S. 1–24, hier S. 5.
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band oder einen Freundeskreis. Es scheint, daß solche Gemeinschaften für unser Miteinandersein viel grundlegender sind als Gruppen, wie sie sich im Rahmen von Gemeinschaftshandlungen konstituieren (das zeigt sich nicht zuletzt auch daran, daß Gruppen, die sich im Rahmen eines Gemeinschaftshandelns konstituiert haben, gleichsam ziellos bzw. »im Leerlauf« weiterbestehen können – John Updikes Kurzgeschichte »Minutes of the Last Meeting« mag hier als Illustration dienen 18 ). Sollte sich die Ontologie der Gemeinschaft vernünftigerweise nicht besser an gleichsam »zwecklos« existierenden Gruppen oder Gemeinschaften orientieren statt an Wandergruppen, den Gruppen der Wagenanschieberinnen oder der Mayonnaiseanrührer? Es scheint, daß die Analyse dann nicht beim instrumentellen Handeln (bzw. der Frage nach dem Unterschied zwischen individuellem und gemeinsamem instrumentellem Handeln) einsetzen, sondern eine Form von Zugehörigkeit in den Blick nehmen müßte, die nicht so sehr mit Handlungsabsichten als mit kognitiven und affektuellen Einstellungen zu tun hat. Der Ansatz beim Gemeinschaftshandeln droht gleichsam, die Sozialontologie im ganzen auf ein output-orientiertes Konzept der Gruppe zu verengen und damit wiederum der »individualistischen Illusion« zu verfallen: So wie das Individuum oft selbst über das instrumentelle Verfolgen seiner Zwecke gedeutet Den »Minutes of the Last Meeting« ist ein recht turbulenter Sitzungsverlauf eines Komitees zu entnehmen. Auf der Tagesordnung steht das Rücktrittsbegehren des Komitee-Vorsitzenden, welches Anlaß zu einigen Diskussionen gibt. »Mr. Langbehn, one of the newer members, said before presuming to participate in this discussion he would be grateful for having explained to him the original purposes and intents of the Committee. The Chairman answered that he had never understood them and would be grateful himself.« Im weiteren Fortgang der Sitzung stellt sich heraus, daß recht verschiedene Vorstellungen davon kursieren, was Sinn und Zweck des Komitees ist: »Mr. de Muth volunteered that he had come on to the Committee in his capacity as a social science teacher because he understood at that time there had been under consideration a program to arrange a lecture series or series of happenings on the theme of betterment of resources at the public schools. Mr. Tjadel said he had come on in his capacity as a tree surgeon because of the ecology angle. Mrs. MacMillan said she had been given the impression her interest in oral contraception might be applied by the Committee to the town drinking water. The Chairman stated it was all a muddle and again offered his resignation« (Updike, John: Minutes of the Last Meeting. In: ders.: Problems and Other Stories. London 1980, S. 12–17). Der clou scheint zu sein: als Komitee ist die Gruppe zwar reichlich disfunktional, weil es kein Ziel und keinen Zweck hat; nichtsdestotrotz existiert es, ist es ein Komitee. Die Existenz der Gruppe scheint nicht tangiert zu sein von all den irrtümlichen individuellen Überzeugungen bezüglich des Ziels und Zwecks des Komitees (am Ende der Sitzung einigt man sich schließlich denn auch darauf, ein »sub-committee on goals and purposes« zu bilden).
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wird, soll nun auch die Gemeinschaft verstanden werden. Dabei ist die Zweckgemeinschaft in all ihren verschiedenen Varianten nichts als ein Spezialfall eines viel breiteren Phänomens. e) Die Wahl des Ausgangspunktes der Frage nach der Ontologie der Gemeinschaft scheint noch in einer weiteren Hinsicht so etwas wie eine individualistische Illusion zu zementieren. Dabei geht es nicht um den Ansatz beim Gemeinschaftshandeln als solchen, sondern um die besondere Art von Gemeinschaftshandlung, die dabei in den Blick genommen wird. Dieser fünfte Einwand lautet: Das gewählte Beispiel eines gemeinschaftlichen Tuns (wie die meisten Aktivitäten, anhand derer in der gegenwärtigen Debatte die Ontologie des Gemeinschaftshandelns analysiert wird) betrifft etwas, was man sowohl alleine wie auch gemeinsam tun kann – was also mithin nur kontingenterweise gemeinsam getan wird. Wenn aber schon die Ontologie des Miteinanderseins anhand des Gemeinschaftshandelns aufgeklärt werden soll, böte es sich dann nicht an, wenigstens von Tätigkeiten auszugehen, die man von vornherein nur gemeinsam tun kann? Dinge wie »eine Vereinbarung treffen« oder »einen Vertrag schließen« kann kein einzelnes Individuum; es braucht hier mindestens zwei Partner. Heiraten kann nur ein Paar, Beethovens Fünfte aufführen nur ein Orchester, Fußball spielen nur zwei Teams, eine Änderung der schweizerischen Bundesverfassung beschließen nur das Schweizer Volk. Wenn es schon um die Analyse dessen gehen soll, was individuelles Handeln und Intendieren von gemeinsamem Handeln und Intendieren unterscheidet, so scheint es prima vista viel plausibler zu sein, von solchen Beispielen a limine gemeinsamer Handlungen auszugehen anstatt von Tätigkeiten wie dem Wandern, also Tätigkeiten, denen man sowohl allein wie gemeinsam nachgehen kann. Durch diese Beispielwahl wird nämlich möglicherweise wiederum die individualistische Illusion zementiert, die Gemeinsamkeit des Tuns sei nur so etwas wie eine Zugabe zum individuellen Tun, liege also mithin in etwas, was zum individuellen Tun noch dazukommen muß (aber auch fehlen kann). Ich glaube, daß diese fünf Einwände gegen die getroffene Beispielwahl vollauf berechtigt sind. Das heißt: Das Miteinandersein ist nach meiner Überzeugung erstens durchaus nicht sekundär gegenüber der Existenz von Individuen, es setzt zweitens keine wie auch immer geartete Symmetrie im Verhältnis zwischen Individuen voraus und erschöpft sich drittens nicht in der Existenz von Kleingruppen, sondern 32
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steht auch in viel weiteren gesellschaftlichen Bezügen. Viertens hat das Miteinandersein wohl oft im Grunde weniger mit unserem Handeln als mit unseren Überzeugungen und Gefühlen zu tun, und fünftens verleiht uns unser Miteinandersein nicht nur die Möglichkeit, individuelle Handlungen auch gemeinsam auszuführen, sondern stiftet selbst die Möglichkeit bestimmter Typen von Handeln. Die Wahl des Gemeinschaftshandelns als Ausgangspunkt der Ontologie des Miteinanderseins scheint vor diesem Hintergrund der »individualistischen Illusion« Vorschub leisten zu müssen: der Illusion, daß die Gemeinschaft im Ausgang vom Handeln von Individuen aufgeklärt werden muß. Trotzdem scheint es mir richtig zu sein, von der Analyse dieses Phänomens auszugehen. Dies aus dem folgenden Grund. Wenn die »individualistische Illusion« auch eine Illusion sein mag, ist sie doch im sozialtheoretischen und sozialphilosophischen Denken der Gegenwart zugleich als solche eine dominante Realität. Diese hat viele Gesichter; eines der bekanntesten darunter (aber beileibe nicht das einzige) ist wohl das »ökonomische Verhaltensmodell«, welches sich in den Sozialwissenschaften in den letzten Dekaden – wohl erstmalig in der Geschichte der Sozialwissenschaften – tatsächlich (und nicht nur dem Anspruch nach) als so etwas wie ein allgemeines Paradigma zu etablieren vermocht hat. Es handelt sich dabei um ein Paradigma, welches unter dem Banner des methodologischen Individualismus den Ansatz der Analyse des Sozialen beim Wahlentscheid von Individuen zum allgemeinen Programm erhebt. Dieser Ansatz wirkt weit über die Grenzen der Wirtschaftswissenschaften hinaus; in einem durchaus affirmativen Sinn ist diesbezüglich derzeit vom »ökonomischen Imperialismus« die Rede. 19 Natürlich sind, zumal in der soziologischen Theorie und zumal im kontinentaleuropäischen Diskurs, nach wie vor alternative Denkansätze und Forschungsprogramme lebendig. Mir scheint aber, eine Ontologie der Gemeinschaft sollte an dieser faktischen Lage in den Sozialwissenschaften nicht einfach vorbeigehen, sondern zumindest dem Anspruch nach für die sozialwissenschaftseigene Theoriereflexion anschlußfähig bleiben. Dies zumindest soweit, als das Bemühen um Anschlußfähigkeit nicht von vornherein mit dem Postulat der Phänomengerechtigkeit konfligiert. In der Philosophie gibt es dem genannten, individualistischen sozialwissenschaftlichen Paradigma gegenüber verschiedene typische 19
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Verhaltensweisen. Zwei eher defensive Hauptrichtungen sind: erstens der Rückzug auf normative Fragestellungen (typisch dafür ist die Entwicklung, die der Kommunitarismus im vergangenen Jahrzehnt genommen hat), andererseits der Rückzug auf die rein wissenschaftstheoretische Debatte (und damit auf Fragen der Methodologie). Diese beiden Hauptbewegungen geben, wie mir scheint, einen zentralen Bereich philosophischen Fragens preis, über welchen sich nach meinem Dafürhalten das Gebiet der Sozialphilosophie und auch der »philosophy of the social sciences« eigentlich definieren sollte (und welchem daher größere philosophische Aufmerksamkeit zu wünschen wäre): das Feld der Sozialontologie. 20 Wo gegenwärtig trotz der zu beobachtenden Rückzugsbewegungen die Sozialontologie Thema ist, geschieht dies in der Regel auf eine der beiden folgenden Weisen. Einerseits gibt es Studien, die sich am ökonomischen Verhaltensmodell und dem sozialtheoretischen Individualismus kundig und kritisch abarbeiten, dabei aber sozusagen »im Banne« dieses Ansatzes bleiben bzw. sich in der Kritik im Sinne des Zurückweisens von Erklärungsansprüchen erschöpfen. Daneben gibt es gerade in der deutschsprachigen Debatte – in der Philosophie, aber auch in der soziologischen Theorie – eine reiche Vielfalt von Studien und Ansätzen, die mit großem Theorieaufwand alternative Wege für die Sozialontologie entweder neu entwickeln oder mit einigem hermeneutischem Aufwand klassische Alternativpositionen aus der Geschichte des sozialtheoretischen Denkens ziehen, dabei aber typischerweise den kritischen Anschluß an das dominierende Paradigma verlieren. Mehr oder weniger vergessene Denkrichtungen werden mit viel hermeneutischem Gespür neu interpretiert und alternative Ansätze weiterkultiviert, ohne daß sich dadurch freilich weitere Bezüge eröffneten. Die vorliegende Studie möchte beides verbinden: den kritischen Anschluß an das individualistische Paradigma der gegenwärtigen Sozialtheorie mit der hermeneutischen und theoriekonstruktiven Arbeit an Alternativansätzen. Dies bedingt aber, nicht einfach von vornherein »alternativ« beim »Wir« statt beim Individuum anzusetzen oder aber die »individualistische Illusion« mit steilen (und argumentativ zumeist wenig gesicherten) transzendentalen ArVgl. dazu auch die Einschätzung von Taylor, Charles: Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. In: Honneth, Axel (Hrsg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1992, S. 103–130.
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gumenten auf »Ermöglichungsbedingungen der Individualität« zu unterlaufen. Vielmehr gilt es, der »individualistischen Illusion«, wenn man denn von einer solchen sprechen will, entgegenzukommen, sie als Faktum also erst einmal hinzunehmen, ihr den Vorsprung, den sie in der Wissenschaftslandschaft nun einmal besitzt, auch argumentativ einzuräumen und mithin von ihr auszugehen. Von daher der Ansatz der Ontologie des Miteinanderseins beim symmetrischen Gemeinschaftshandeln präkonstituierter Individuen in einer spontanen und transitorischen Kleingruppe: dieses setting kommt dem individualistischen Verständnis des Sozialen so weit entgegen wie es nur geht. Die faktische Dominanz des Individualismus lädt die Beweislast den Vertreterinnen alternativer Sozialontologien auf: es muß letztlich innerhalb des individualistischen settings gezeigt werden können, inwiefern und wo ein Abweichen von der Standardontologie des Sozialen notwendig ist. Insofern kann das Faktum des Individualismus durchaus ein Grund dafür sein, dem Individualismus in der Anlage der Fragestellung entgegenzukommen. Und nicht nur das: Es reicht nicht, die »individualistische Illusion« mehr oder weniger widerwillig als Faktum zu akzeptieren und die Bürde auf sich zu nehmen, sie immanent zu widerlegen; soll sie wirklich überwunden werden, muß sie als ein im Rahmen der Ontologie der Gemeinschaft erklärungsbedürftiges Phänomen behandelt werden. Der sozialtheoretische Individualismus ist als Standardontologie nicht nur unseres wissenschaftlichen Selbstbildes, sondern ebenso des Alltagsbewußtseins (oder der Alltagsideologie?) nämlich so tief in unserem Denken über das Soziale verankert, daß er selbst ein wichtiges Phänomen unseres Miteinanderseins ist. Keine plausible Ontologie der Gemeinschaft kann darüber hinwegsehen, daß wir uns »zunächst und zumeist« auch in gemeinschaftlichen Zusammenhängen nicht als gemeinsames, sondern als individuelles Dasein begreifen. Durch diesen Zusammenhang ist aber immerhin garantiert, daß das Postulat der Phänomenadäquatheit mit dem Postulat des (kritischen) Anschlusses an die Sozialwissenschaften und die Sozialtheorie grundsätzlich vereinbar bleibt: Die Kritik des ontologischen Individualismus ist, mit anderen Worten, selbst schon ein Teil der Rekonstruktion der Gemeinschaft. Deshalb (und mit diesen weiteren Aussichten) zunächst der Ansatz bei der genannten, höchst individualismusverdächtigen Frage: Was unterscheidet den Fall, in dem zwei Individuen etwas je für sich tun, vom Fall, in dem sie dasselbe gemeinsam tun? Oder, um zum A
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Einleitung
Beispiel zurückzukehren: Was ist »the difference that makes a difference« zwischen Annas und Bertas Tun an dem Punkt, an dem Bertas Wir-Frage inadäquat gewesen wäre, und dem Punkt, in dem sie verlangt ist? Was ist es, was das gemeinsame Wandern zu einem gemeinsamen und Anna und Berta zu einer Wir-Gruppe macht? Der erste Teil dieser Studie besteht in einer kritischen Auseinandersetzung mit einer ganzen Reihe von Erklärungsansätzen, anhand deren sich via negationis etwas von der ontologischen Grundstruktur von Gemeinschaft zeigen soll. Dabei wird eine Reihe von Thesen entwickelt, welche je verschiedene ontologische Grundzüge unseres Miteinanderseins erfassen, sich aber in bestimmter Hinsicht alle vom individualistischen Standpunkt abstoßen. Es geht hier durchweg um die Überwindung dessen, was im folgenden etwas plakativ die »Cartesianische Gehirnwäsche« genannt wird. Wichtig ist bei diesem scheinbar rein negativen Unterfangen, die Absicht des zweiten Teils im Auge zu behalten: Aus der Kritik des ontologischen Individualismus selbst sollen sich Ansätze zur sozialtheoretischen Rekonstruktion der Gemeinschaft ziehen lassen. Zentrales Interpretament ist hier, wie schon gesagt, Heideggers Motiv der »Uneigentlichkeit«, das auch aus im »zerbrochenen Wir« des Zitats anklingt, welches ich dieser Arbeit vorangestellt habe. Das »Wir« verschwindet nämlich nicht mit der Ich-Fixiertheit unseres (alltäglichen wie auch wissenschaftlichen) Selbstverständnisses. Denn auch das »zerbrochene Wir« ist noch eine »bestimmte Weise des Wir-Selbst«, ja letztlich seine verbreitetste und wichtigste Form. Diesem (zerbrochenen) »Wir-Selbst« phänomenologisch, hermeneutisch und argumentativ nachzuspüren ist die Aufgabe der vorliegenden Analyse.
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Teil I: Die »Cartesianische Gehirnwäsche« überwinden
»It’s not just the case that I am doing something and you are doing something, but that we are doing something together.« J. R. Searle
Was unterscheidet individuelles Handeln von Gemeinschaftshandeln? Diese Frage ist nicht neu. Und es mangelt auch nicht an Antworten; die einschlägige Literatur stellt davon eine ganze Reihe, wobei sie sich zum Teil ergänzen, zum Teil aber auch widersprechen. Nur schon deshalb gilt es, diese kritisch zu sichten. Das Kriterium dafür muß die Phänomenadäquatheit sein. Ein kurzer Vorblick auf das Kommende mag die Orientierung in der Vielzahl der folgenden Auseinandersetzungen vielleicht etwas erleichtern. Die kritische Grundthese wurde schon in der Einleitung angedeutet: Was sich in der Auseinandersetzung mit den existierenden Theorieansätzen zeigen wird, ist ein sich in verschiedenen Spielarten überall durchziehendes Motiv. Auf dem Weg zu einem adäquaten Verständnis der Gemeinschaftlichkeit unseres Tuns (und damit letztlich der Ontologie der Gemeinschaft selbst) ist es ein- und dasselbe Hemm- und Hindernis, auf welches die verschiedenen Versuche von verschiedenen Seiten her immer wieder neu auflaufen. Es geht, in Anlehnung an Annette Baier gesagt, um eine Art »Cartesianische Gehirnwäsche«, um ein tiefsitzendes Vorurteil, wie es in unserem Verständnis des Mentalen zum Ausdruck kommt. »Cartesianische Gehirnwäsche« deshalb, weil dieses Vorurteil in der ego-Fixierung von Descartes’ Analyse unserer cogitationes bzw. ihrer Wirkung besonders deutlich wird. Unser Verständnis von Intentionalität ist individualistisch verkürzt, soweit wir stets mehr oder weniger stillschweigend davon ausgehen, daß alle Intentionalität letztlich »jemandes« Intentionalität ist, also ein einzelnes Subjekt haben muß. Diese Annahme bestimmt dabei nicht nur den klassischen individualistischen Ansatz in der Sozialtheorie, sondern fatalerweise gleich eine ganze Reihe seiner (deshalb nur scheinbaren!) GegenA
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Die »Cartesianische Gehirnwäsche« überwinden
spieler. Offensichtlich ist dies beim klassischen Kollektivismus, wie er in den verschiedenen Varianten der Kollektivgeist- oder Kollektivsubjektlehre zum Ausdruck kommt. Der Kollektivismus ist in Tat und Wahrheit eine bloße Spielart des Individualismus, weil er alles, was sich der Zuordnung zu einzelnen Individuen sperrt, einfach einer »Projektion eines individuellen Geistes ins Große« 1 , nämlich einem einzelnen Kollektivsubjekt zuschreibt. Nun könnte man zwar einwenden, daß trotz einiger neuerer Anleihen bei der Kollektivgeistoder Kollektivsubjektsemantik diese selbst doch für die laufende Diskussion bloß noch von theoriegeschichtlicher Relevanz sei. Aber bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß der Kollektivgeist die gegenwärtige Debatte als Schreckgespenst heimsucht und dabei eine höchst verdächtige Rolle (nämlich jene der Scheinalternative) beim Bekenntnis zum Individualismus in seinen verschiedenen Formen spielt (vgl. dazu § 8). Die »Cartesianische Gehirnwäsche« bestimmt aber nicht nur die klassischen (individualistischen oder kollektivistischen) Spielarten des Intentionalismus, sondern auch und gerade die explizit anti-intentionalistischen Positionen. Denn das individualistisch verkürzte Intentionalitätsverständnis haben gerade auch jene übernommen, die sich vom »Monologismus« der »Bewußtseinsphilosophie« (bzw., wie es auch heißt, dem »Mentalismus«) distanzieren. Dazu zählen einige Varianten des im folgenden »verhaltenstheoretisch« (oder plakativer: »behavioristisch«) genannten Ansatzes. Dieser Ansatz ist dadurch gekennzeichnet, daß er Gemeinschaftshandeln explizit nicht über die Analyse der beteiligten Intentionen (bzw. Intentionen der Beteiligten) bestimmt, sondern über das manifeste, »von außen« beobachtbare Verhalten. Ihm gemäß läßt sich deshalb rein aus der Beobachterperspektive entscheiden, ob Anna und Berta zu einem gegebenen Zeitpunkt schon gemeinsam oder immer noch je individuell unterwegs sind (§ 1). Die »Cartesianische Gehirnwäsche« betrifft nebst den verhaltenstheoretisch orientierten Analysen mindestens noch einen weiteren anti-intentionalistischen Ansatz, nämlich den Ansatz bei der Sprache, wie er in der Folge der Kritik an der sogenannten »Bewußtseinsphilosophie« zumindest im deutschen Sprachraum immer noch So (gegen Moritz Lazarus’ Begriff des »Volksgeistes« gewendet) schon Wundt, Wilhelm: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte. Erster Band: Die Sprache. Erster Theil, Leipzig 1900, S. 19.
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Die »Cartesianische Gehirnwäsche« überwinden
häufig vertreten wird. Nach diesem Ansatz müßten wir Anna und Berta so etwas wie einen zumindest impliziten »Konsens« unterstellen, um ihnen so etwas wie ein gemeinsames Tun (geschweige denn so etwas wie Gemeinschaft) zuzuschreiben. Die Frage, ob Anna und Berta zu einem gegebenen Zeitpunkt schon gemeinsam oder immer noch individuell unterwegs sind, entscheidet sich am Vorliegen oder Nichtvorliegen eines letztlich sprachlich erzielten (bzw. eines diesem gegenüber derivativen stillschweigenden) Einvernehmens – wobei dieses Einvernehmen, ob stillschweigend oder explizit, dann natürlich nicht selbst wiederum ein Gemeinschaftshandeln zur Voraussetzung haben dürfte. Zu den argumentativen Schwächen dieser anti-intentionalistischen Ansätze wird im folgenden vieles zu sagen sein. Vorweg eine pauschale Vermutung: Das intentionalismuskritische Motiv der Abwendung vom »bewußtseinsphilosophischen Monologismus« wird einfach unnötig, d. h. hinfällig, wenn die »Cartesianische Gehirnwäsche«, also das individualistisch verkürzte Intentionalitätsverständnis überwunden wird, von dem immer (d. h. auch in der Kritik des »Intentionalismus«) unhinterfragt ausgegangen wird. Die »Cartesianische Gehirnwäsche« zu überwinden bedeutet damit auch, endlich aufzuhören, im schiefen Gegensatz von »bewußtseinsphilosophischem Monologismus« und »linguistisch-pragmatistischem Intersubjektivismus« zu denken. Denn die großen intersubjektivistischen Verabschiedungsgesten verlieren mit der Revision unseres Intentionalitätsverständnisses schlicht ihren Adressaten. Es gibt keinen notwendigen Zusammenhang zwischen »Monologismus« und »Bewußtseinsphilosophie« bzw. »Mentalismus«, wie dies immer noch suggeriert wird. Das Schreckgespenst des »bewußtseinsphilosophischen Monologismus« erweist sich, nicht anders als der Kollektivgeist, vielmehr als Artefakt eines limitierten Intentionalitätsverständnisses. Was die Überwindung der »Cartesianischen Gehirnwäsche« für die Sozialontologie bedeutet, soll sich im folgenden vor allem in der Auseinandersetzung mit den intentionalistischen Ansätzen zeigen. Hier gilt die Kritik erstens der Tendenz, das Gemeinschaftliche »reflexiv-thematisch« zu fassen, also allein in der Dimension des reflexiven Selbstverhältnisses der einzelnen Handelnden zu verorten. Nach diesem Verständnis wandern Anna und Berta gemeinsam, sobald beide – jede für sich – sich als Mitglieder einer Wir-Gruppe sehen (Kap. i). Weiter gilt die Kritik den »reduktionistischen« VerA
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suchen, gemeinsame Intentionen als Aggregat von individuellen Intentionen darzustellen. Nach diesen Ansätzen gilt, vereinfacht gesagt, daß Anna und Berta gemeinsam wandern, wenn und insofern sie beide vorhaben, ihren Beitrag zum gemeinsamen Wandern zu leisten, und dies auch wechselseitig voneinander wissen (wobei hier typischerweise noch weitere Bedingungen hinzukommen, etwa die Art der wechselseitigen Bezogenheit von Vorhaben und Wissenszuständen betreffend; vgl. dazu Kap. ii). Und drittens gilt die Kritik dem in letzter Zeit prominent vertretenen (aber schon vor einigen Dekaden erstmals unternommenen) Versuch, die Irreduzibilität von gemeinsamen Intentionen zwar anzuerkennen, aber die Theorie der »kollektiven Intentionalität« gleichwohl mit den Vorgaben des methodologischen Individualismus konform zu halten – so als wäre Annas und Bertas gemeinsame Wanderabsicht nicht eine genuin (und bis in die tiefste Schicht hinein) relationale Angelegenheit, sondern als Sache der je für sich genommenen, gleichsam monadisch konzipierten Einzelsubjekte zu verstehen (Kap. iii). Über diese drei Hauptstufen der Auseinandersetzung hinweg kristallisieren sich nach der Entscheidung für einen intentionalistischen Ansatz (§ 1) folgende Grundthesen heraus: 1) Gemeinschaft ist nicht in einem reflexiv-thematischen Selbstverständnis der Beteiligten begründet; sie ist vorreflexiv und unthematisch (Kap. i, §§ 2–3). 2) Gemeinsame Intentionalität läßt sich nicht auf ein Aggregat von (evtl. durch wechselseitiges Umeinanderwissen ergänzter) individueller Intentionen reduzieren; sie ist irreduzibel (Kap. ii, §§ 4–6). 3) Das Phänomen der Wir-Intentionalität ist mit den Vorgaben des methodologischen Individualismus und des intentionalanalytischen Internalismus nicht vereinbar; es ist eine genuin relational-intersubjektive Angelegenheit (Kap. iii, §§ 7–9).
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i. Schwierigkeiten mit dem »Wir«-Sagen
Wenden wir uns zunächst dem in den Annahmen »sparsamsten« Vorschlag zur Beantwortung der Leitfrage nach dem Unterschied zwischen dem gemeinsamen und dem individuellen Wandern von Anna und Berta zu. Dieser nimmt ausschließlich auf das manifeste Verhalten der Beteiligten bezug. Nach dieser Interpretation läßt sich also der Punkt, an welchem Anna und Berta nicht mehr je individuell, sondern gemeinsam unterwegs sind, am physischen Verhalten festmachen. Ob Anna und Berta an einem gegebenen Punkt noch individuelle Wanderer sind oder schon eine Gruppe, lasse sich somit aus der Beobachterperspektive, d. h. ohne unmittelbare Bezugnahme auf das, was Anna und Berta denken, fühlen und beabsichtigen, feststellen. Diese Erklärung ist ontologisch sparsam im Sinne Ockhams. Sie kommt mit wenigen Annahmen aus – und daß das Verhalten für die anstehende Frage in der Tat wichtig ist, bestreitet ja auch niemand. Kontrovers ist vielmehr, ob das Verhalten allein schon ausreicht. Laut dem verhaltenstheoretischen Ansatz, wie man ihn vielleicht nennen kann, ist dies tatsächlich so. Man braucht ihm zufolge zur Entscheidung der gestellten Frage gar nicht erst Vermutungen darüber anzustellen, was im Bewußtsein von Anna und Berta (wenn man ein solches denn überhaupt annehmen will) vorgehen mag. Um zu entscheiden, ob Anna und Berta an einem gegebenen Punkt noch je individuell oder schon gemeinsam unterwegs sind, reicht es völlig aus, den beiden einfach zuzusehen (wobei hier – im Unterschied von Theorien, die mit dem Dritten argumentieren [vgl. unten § 2] – nicht angenommen werden muß, daß die Beteiligten wissen, daß sie beobachtet werden; man mag hier etwa an eine Beobachtung mit dem Fernrohr von der anderen Talseite aus denken). In dieser Perspektive könnte sich, um dies am Beispiel zu illustrieren, etwa folgendes Bild bieten: Die beiden Wanderinnen gehen individuell nicht immer im genau gleichen Schritt oder Tempo. Jede der beiden folgt dem Weg einmal ein klein wenig schneller, einmal vielleicht etwas langsamer. A
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Schwierigkeiten mit dem »Wir«-Sagen
Diese Verhaltensänderungen mögen in der Hauptsache bloß äußere Umstände reflektieren wie etwa die von Streckenstück zu Streckenstück etwas unterschiedliche Steigung oder Qualität des Wegs oder die sich ändernden Wetterbedingungen wie die sengende Sonne oder böigen Wind. Sie mögen in einem gewissen Umfang auch von nicht direkt beobachtbaren, aber naturkausal verhaltensrelevanten Faktoren wie der Kondition und dem Ermüdungszustand der Wanderinnen bedingt sein. Die eine ist in einem gegebenen Zeitpunkt beispielsweise schon müde und bleibt etwas zurück, während die andere ihr Tempo beibehält. Nun geschieht aber folgendes: Irgendwann im Verlauf der Wanderung scheinen diese individuellen Verhaltensänderungen der beiden Wanderinnen nicht mehr unabhängig voneinander stattzufinden. Wenn die eine etwas zurückfällt, zieht die andere nicht einfach ihr Tempo durch, sondern verlangsamt ihren Schritt etwas, bis die andere sie eingeholt hat. Oder die andere zieht mit, wenn die eine ihren Schritt etwas beschleunigt – und dies unabhängig von den genannten verhaltensrelevanten Faktoren. Das Verhalten der einen schließt jetzt an das Verhalten der anderen an; und dies zum Teil in Form parallelen Verhaltens (man geht im Gleichschritt hintereinander her), zum Teil aber auch in Form komplementären Verhaltens (die eine verlangsamt ihren Schritt etwas, die andere holt auf): Aus individuellem Verhalten ist so etwas wie Anschlußverhalten geworden, und dieses konstituiert in seinem Zusammenspiel ein Gemeinschaftsverhalten. Die beiden Individuen bilden jetzt eine Wandergruppe. Und das nicht nur für den externen Beobachter auf der anderen Talseite. Ähnlich wird nämlich vielleicht auch Berta selbst – wenn sie sich die Frage überhaupt stellt – entscheiden, ob sie sich auf sich selbst und die wortkarge Anna noch mit »sie und ich« oder schon mit »wir« beziehen muß. Ob in einem gegebenen Moment die Anwendungsbedingungen von »wir« gegeben sind, wird sie auch dem entnehmen, ob Anna ihren Schritt verlangsamt, wenn sie zurückfällt, oder sich anschließt, wenn sie etwas schneller ausschreitet. Oder, um den behavioristischen Stil durchzuhalten: Das Vorliegen von Anschlußverhalten geht mit Bertas Disposition einher, die betreffende Frage in der Wir-Form zu stellen.
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Gemeinschaftshandeln: Verhalten und Absicht
§ 1 Gemeinschaftshandeln: Verhalten und Absicht In der Geschichte des sozialtheoretischen Denkens ist es wohl der amerikanische Soziologe George Caspar Homans, dem eine auf der skizzierten Linie liegende Deutung des Gemeinschaftshandelns am ehesten entspricht. In seinem Hauptwerk »The Human Group« gibt er den Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern, die sich für die Frage interessieren, ob nun in einer gegebenen sozialen Situation vom Vorliegen einer Gruppe zu sprechen ist oder nicht (und wenn ja: wer Mitglied ist und wer nicht), die folgende forschungspraktische Empfehlung: hingehen und mittels eines Tabellierungsverfahrens physische Anwesenheit und Interaktionsdichte messen! 1 Die Gruppe reduziert Homans dadurch auf zwei ontologische Hauptbestandteile: auf das Zusammenvorkommen von Menschen einerseits und ihre Interaktion (im Sinne des von außen beobachtbaren Anschlußverhaltens) andererseits. Ein erster Einwand gegen eine solche, durch ihre Schlankheit bestechende Ontologie der Gruppe könnte lauten, daß sie forschungspragmatisch allenfalls für Kleingruppen relevant sein kann. Für Homans ist dies freilich kein eigentlicher Einwand, denn Kleingruppen sind für ihn (wie noch für weite Teile der aktuellen Diskussion) die sozialen Integrate par excellence. 2 Ein gewichtigerer zweiter Einwand bezieht sich demgegenüber darauf, daß Anwesenheit und Anschlußverhalten nicht (oder zumindest nicht per se) Mitgliedschaft konstituiert. Ein gegebenes Individuum mag nämlich durch sein Anwesendsein (und – je nach Inhalt dieses letztlich sehr voraussetzungsreichen Begriffs – in Anschlußverhalten) noch so eifrig Anschluß an eine gegebene Gruppe suchen: Dies allein konstituiert, wie die Betreffenden vielleicht schmerzlich erfahren müssen, noch keine Zugehörigkeit. Und wie zum Hohn mögen sich umgekehrt andere, eindeutig zugehörige bzw. »anerkannte« Mitglieder physisch äußerst rar machen. So ist es ja gerade für die periodischen Zusammenkünfte Vgl. Homans, George Caspar: The Human Group. New York 1950, S. 82 ff. Für Homans stellt die Kleingruppe den soziologisch bestimmenden Faktor dar – so sehr, daß er am Ende seiner theoriegeschichtlichen Analyse der menschlichen Gruppe die Demokratie als das Modell gesamtgesellschaftlicher Integration anpreist, welches seine Stärke gerade in der Orientierung an der Kleingruppe hat. In der Demokratie ordne sich eine ganze »civilization« nach dem Modell der Kleingruppe. Dies zeige sich insbesondere an den Institutionen der repräsentativen Demokratie, in welchen die Gesamtgesellschaft auf eine Gruppe reduziert werde (464 ff.).
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wissenschaftlicher Vereinigungen charakteristisch, daß die, die anwesend sind, vielfach trotz aller Bemühung »eigentlich nicht dazugehören«, während die allgemein anerkannten, wichtigsten Mitglieder – bisweilen gerade die, über welche sich die anderen als Mitglieder definieren! – durch Abwesenheit glänzen. Ja es mag jenseits solcher Fälle, die man vielleicht als pathologisch disqualifizieren mag, durchaus Formen der Gemeinschaft geben, die – in genauem Gegensatz zu Homans’ Ansatz – gerade die physische Abwesenheit und die NichtInteraktion zur Voraussetzung haben. Manche Paare berichten, nur durch das Auflösen des gemeinsamen Wohnsitzes ein Paar geblieben oder gar durch die räumliche Trennung einander wieder »nähergekommen« zu sein. Solche Beispiele mögen zwar die Ausnahme von der Regel sein und zudem rein transitorischen Charakter haben. Aber das macht sie nicht irrelevant. Eine Analyse des Miteinanderseins sollte, wenn sie sich gegenüber der sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnose (und anderen Formen gesellschaftlicher Selbstbeobachtung) nicht selbst überflüssig machen will, anderen Ansprüchen genügen als dem, schlicht und einfach die passende Ontologie zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Normalfall zu bieten. Die Kritik kann aber auch rein immanent ansetzen. Selbst wenn man den verhaltenstheoretischen Ansatz und seine Festlegung der Ontologie der Gruppe auf das Anschlußverhalten der beteiligten Individuen bzw. die soziologischen Limitierungen, die er mit sich bringt, einmal akzeptiert, drängt sich eine kritische Rückfrage auf. Im Hinblick auf das sozialontologisch ja durchaus »normale« – dem verhaltenstheoretischen Grundansatz weitestmöglich entgegenkommende – Problem von Anna und Berta formuliert, stellt sich nämlich folgendes Problem. Nehmen wir an, Berta ist etwas zurückgeblieben und Anna verlangsamt nun ihren Schritt. Berta wird Annas Verhalten nur dann als Anschlußverhalten verstehen und sich um entsprechendes Anschlußverhalten qua Beitragsverhalten zu einem Gemeinschaftshandeln bemühen (also aufzuholen versuchen), wenn sie implizit davon ausgeht, daß Annas Verhalten tatsächlich Anschlußverhalten ist. Dies aber sieht sie Annas Verhalten nicht an, es ist keine Frage des faktischen Zusammenstimmens von individuellem »Beitragsverhalten« zu einem Gemeinschaftsverhalten, sondern schon eher – das ist der Kern von Max Webers Begriff des Gemeinschaftshandelns – eine Frage des »subjektiv gemeinten Sinns«, des Motivs von Verhalten. Oder, genauer gesagt: Wenn Berta davon ausginge, daß Anna ihren Schritt nicht deshalb verlangsamt, weil sie 44
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Gemeinschaftshandeln: Verhalten und Absicht
Berta die Gelegenheit geben will, ihren Rückstand aufzuholen und zu ihr aufzuschließen, sondern beispielsweise einfach deshalb, weil Anna gerade die Puste ausgegangen ist, würde sie sich kaum um ein korrespondierendes Anschlußverhalten bemühen; sie würde entweder gar nicht versuchen, zu Anna aufzuschließen, oder dann aus anderen Gründen als dem der Gemeinsamkeit des Wanderns (sie könnte etwa Anna nach dem Weg fragen wollen o. dgl.). Eine solche Verhaltenskonstellation mag durch das Fernrohr des verhaltenstheoretischen Beobachters genau gleich aussehen wie Gemeinschaftsverhalten; aber dann hätte Berta keinen Grund, davon auszugehen, daß nun die Anwendungsbedingungen von »wir« erfüllt sind, daß also Anna und Berta gemeinsam unterwegs sind. Es läge kein Gemeinschaftshandeln vor. Anschlußverhalten ist vielleicht ein brauchbares Kriterium für Gemeinschaftshandeln; aber es konstituiert es nicht. Die Analyse der Struktur des Gemeinschaftshandelns muß tiefer greifen. Sie muß die Absichten und Überzeugungen der Beteiligten mit in Betracht ziehen. Gemeinschaftshandeln ist nicht nur eine Frage des Verhaltens, es ist auch eine Frage der Intentionalität. Hier muß eine Zwischenbemerkung eingefügt werden. Philosophisch entsprechend geschulte Personen reagieren auf die Unterscheidung von Verhalten und Intentionalität, wie sie hier getroffen worden zu sein scheint, reflexartig mit dem Hinweis auf George H. von Wrights These, daß Intentionalität nicht etwas sei, was »hinter« dem Verhalten liege oder zum Verhalten »noch hinzukommen« müsse, damit man von Handeln reden könne. 3 Damit einher geht dann die Abwehr eines Verständnisses von Intentionalität als so etwas wie einem »geistigen Akt«, der dem Verhalten vorhergeht und dieses anstößt und leitet. Einem an diese Deutung anschließenden Verständnis gemäß ist Intentionalität nämlich nicht etwa ein kausal wirksames geistiges Faktum, sondern eher so etwas wie eine Zuschreibung einer normativen Position in einem Muster sozialer Konventionen. Daß jemand eine Absicht hat, heißt demgemäß nicht, daß sie oder er in einen mentalen Zustand hat, der (unter geeigneten Bedingungen, d. h. z. B. unter Abwesenheit von Willensschwäche) ihr oder sein Verhalten entsprechend auf die Erfüllungsbedingungen dieser Absichten hinsteuert. Es heißt vielmehr, daß sich diese Person auf dies oder jenes festgelegt hat und darum dies oder jenes Verhal3
Vgl. Wright, George H. von: Erklären und Verstehen. Frankfurt a. M. 1991, S. 108. A
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ten von ihr oder ihm normativ erwartbar ist. 4 Ich glaube allerdings, daß ich mich zumindest an diesem Punkt der Analyse bezüglich der Frage nach dem ontologischen Status der Intentionalität nicht festlegen muß. Man kann die obige Aussage an dieser Stelle nämlich durchaus auch in einem konventionalistischen Sinn verstehen: Die Teilnehmenden an Gemeinschaftshandlungen müssen sich (sich selbst und sich wechselseitig) implizit bestimmte Absichten (in einem weiten Sinn des Wortes) zuschreiben, wenn sie sich (sich selbst und sich wechselseitig) als Beitragende zu einem Gemeinschaftshandeln verstehen. Implizit heißt hier: Normalerweise wird sich niemand irgend etwas dabei denken; das Geschehen läuft »routinehaft« ab. Aber wo Zweifel auftauchen, wo sich noch so leise die Frage nach dem »Warum« stellt, steht die Option bereit, auf entsprechende Absichten zu rekurrieren. Mithin spielt es hier keine Rolle, ob man Intentionalität nun als mentales, kausal wirkendes Faktum oder als normativen Status beschreibt. Zur Kritik an bestimmten Versionen beider Positionen wird unten noch viel zu sagen sein (zur Kritik an einigen Versionen der ersten Position vgl. insbes. unten Kap. iii, zur Kritik an Versionen der konventionalistischen Position vgl. unten Kap. iv). In diesem Sinn ist die obige Aussage zu verstehen, daß Gemeinschaftshandeln nicht nur eine Frage des Verhaltens, sondern auch eine Frage der Intentionalität ist. Diese Aussage ist auch eine Kritik an der wohl mit Abstand scharfsinnigsten und eindringlichsten Analyse des Gemeinschaftshandelns, derjenigen von Ulrich Baltzer. 5 Zumindest fällt von hier aus ein kritisches Licht auf einen Teilaspekt seiner Analyse. Für Baltzer ist es für die Ontologie der Gruppe nämlich erstens unnötig und zweitens abträglich, bei der Intentionalität der beteiligten Individuen anzusetzen. Unnötig deshalb, weil sich Gemeinschaftshandeln – hier trifft sich Baltzer mit dem behavioristischen Ansatz – stets durch Anschlußverhalten manifestiere. Abträglich sei der Ansatz bei der Intentionalität, weil damit die Sozialontologie auf die Analyse gemeinsamen zweckgerichteten Handelns beschränkt werde. Aus dem Blick geraten, so Baltzer, dadurch etwa das »ziellose Beisammensein im Rahmen einer Familie oder eines Freundeskreises«. Baltzer meint weiter, derartiges »zielloses« Zusammensein könne ein Ansatz, der bei der Intentionalität der Beteiligten ansetze, »nur mit unzumut4 5
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Vgl. dazu etwa Brandom 1998. Vgl. Baltzer 1999.
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Gemeinschaftshandeln: Verhalten und Absicht
baren Verkürzungen berücksichtigen« und entscheidet sich deshalb dafür, »Handeln nicht auf der Grundlage von Intentionen« zu analysieren; die Intentionen der Beteiligten »werden als sekundäres Phänomen bei der Modellierung gemeinschaftlichen Handelns ausgeklammert«. 6 Lassen wir die Frage, ob die Intentionalität der Beteiligten tatsächlich bloß ein sekundäres, nicht-konstitutives Moment des Gemeinschaftshandelns sei, noch einen Moment liegen, und ziehen wir die angebliche »Abträglichkeit« eines intentionalistischen Ansatzes vor. Das Problem welches Baltzer hier dem Ansatz bei der Intentionalität anlastet, liegt genau besehen nicht in der Intentionalität als solcher, sondern im Intentionalitätsbegriff. Intentionalität ist nicht bloß praktische Intentionalität im Sinne von Absichten und Vorhaben. Es gibt auch kognitive Intentionen wie Meinungen und Überzeugungen und affektuelle Intentionen wie Wertschätzung, Liebe oder Haß. Es mag ja sein, daß die paradigmatischen Formen von Gemeinschaft »zielloses Zusammensein« im Sinne der Zweck- und Absichtslosigkeit sind, daß man also nichts gemeinsam vorhaben muß, um gemeinsam zu sein. Aber es fällt schwer, sich ein noch so zielloses Beisammensein vorzustellen, in der man nicht nur keine gemeinsamen Vorhaben hat, sondern außerdem auch keine Überzeugungen, Werthaltungen oder Gefühle teilt. Mir scheint, daß sich die beteiligten Einzelnen unter diesen Bedingungen nicht mehr im kollektiven Sinn auf sich selbst und die anderen mit »wir« werden beziehen können. Denn ein solches Aggregat ist kein wirkliches Beisammensein, keine tatsächliche Gemeinschaft, sondern allenfalls als zufälliges »Nebeneinandervorkommen« denkbar. Was sich hier an Baltzers Vorwurf der »Abträglichkeit« eines intentionalistischen Ansatzes zeigt, ist ein Problem von relativ allBaltzer 1999, S. 23 f. »Sekundär« scheinen die Intentionen für Baltzer, wenn ich ihn richtig verstehe, letztlich deshalb zu sein, weil unsere Absichten in weitem Umfang den weiteren Kontext von Gemeinschaftshandlungen voraussetzen. Nur aufgrund der Gemeinschaftshandlung »Fußballspiel« kann ich ja überhaupt die Absicht haben, einen Freistoß zu treten (dazu mehr unten in § 5). Das heißt aber natürlich nicht, daß die entsprechende Intention das faktische Vorliegen des geeigneten Kontexts voraussetzt; ich kann mich hier durchaus täuschen: vielleicht gibt es in der betreffenden Situation gar keine Teams. Dann entspricht meine Handlung nicht meiner Absicht (mein Stoß gilt nicht als Freistoß), aber das betrifft, wie Descartes entdeckt hat, ja nicht meine Absicht selbst. Diese bleibt davon in einem gewissen Sinn unberührt. Insofern sind, anders als Baltzer stellenweise zu suggerieren scheint, solche »wir-derivativen« Intentionen durchaus unabhängig vom Kontext der Gemeinschaftshandlung individuierbar.
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gemeiner Bedeutung: das Problem einseitiger Intentionalitätsbegriffe. Dabei betrifft dieses Problem nicht nur die Limitierung auf praktische Intentionen, wie sie in Baltzers Kritik zum Ausdruck kommt. Der phänomenologischen Intentionalitätsanalyse hat man genau umgekehrt eine kognitivistische Verengung vorwerfen können: Zumindest im Umfeld von Edmund Husserl sind kognitive Einstellungen wie Überzeugungen unzweifelhaft das »Paradigma« der Intentionalität. Dies spiegelt sich auch in manchen frühen phänomenologischen Ansätzen in der Sozialontologie. Nicht zufällig ist es etwa bei Gerda Walther (auf welche noch zurückzukommen sein wird) nicht das gemeinsame Tun, von dem her sie die Ontologie der Gemeinschaft aufrollt, sondern das gemeinsame Erleben. 7 Gegen die kognitivistische Verengung der früheren phänomenologischen Bewußtseinsanalyse hat sich in diesem Theoriekontext bekanntlich (und mit durchschlagendem Erfolg) Martin Heidegger gewehrt, ja diese These stellt eines der zentralen Anliegen von Heideggers Hauptwerk »Sein und Zeit« dar. Ob der traditionellen Verengung des Intentionalitätsbegriffes und des Cartesianismus der Husserlschen Intentionalitätstheorie gibt Heidegger bekanntlich sogar den Begriff der Intentionalität preis; was er aber unter dem Begriff der »Sorge« faktisch tut, ist eine Transformation der Intentionalanalyse, in welcher die praktische Intentionalität in den analytischen Blick gerückt und in ihrer Beziehung zur kognitiven Intentionalität transparent gemacht wird. Im Kontext der angelsächsischen Debatte stehen die Dinge in dieser Hinsicht bezeichnenderweise genau umgekehrt. Die praktische Intentionalität steht – nicht zuletzt wohl der umgangssprachlichen Wortbedeutung von »to intend« wegen – in der philosophy of mind derart im Zentrum, 8 daß man hier im Gegensatz zur kontinentalen Philosophie wohl fast von einer praktizistischen Verengung der Intentionalitätstheorie reden könnte. Diese Verengung drückt sich in der aktuellen analytischen Sozialontologie etwa dadurch aus, daß hier im direkten Gegensatz zu den seltsam passiven »Erlebensgemeinschaften« aus dem phänomenologischen Theoriekontext fast ausschließlich die praktischen »Handelnsgemeinschaften« themati7 Walther, Gerda: Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hrsg. v. Edmund Husserl, Bd. 6, Halle 1923, S. 1–158. Zu den Grundzügen von Walthers Sozialontologie vgl. unten § 4. 8 Vgl. etwa Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret: Intention. Oxford 1957.
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siert werden (man denke etwa an die oben schon erwähnten Autoanschieber, Hausbemaler und Mayonnaiseanrührer). Mithin bietet sich hier das Bild einer zur Phänomenologie bzw. dem kontinentalen Diskurs genau komplementären Einseitigkeit. Aber auch in diesem Theoriekontext gibt es mit John R. Searles Theorie der Intentionalität 9 einen Ansatz, der diese Blickverengung auf praktische Intentionalität ganz konsequent vermeidet und ein intentionalanalytisches Theoriegerüst bietet, in welchem neben der praktischen Intentionalität auch die kognitive Intentionalität unterkommt (in dieser formalen Hinsicht ist Searle bei allen inhaltlichen Differenzen gleichsam der Heidegger der analytischen Philosophie der Intentionalität). Dabei genügt es aber nicht, sich bloß vor der kognitivistischen bzw. praktizistischen Verkürzung zu hüten. Intentionalität ist nämlich nicht nur eine Sache der Kognition oder der Absicht. Sie ist – Searle sieht dies so klar wie Heidegger – auch eine Sache der Gefühle und Affekte. Für eine »intentionalistische« Theorie der Gemeinschaft ist es deshalb grundwesentlich, das Phänomen der Intentionalität in seiner ganzen Breite in Betracht zu ziehen. Besonders wichtig erscheinen mir deshalb – nebst den schon erwähnten Analysen zu den kognitiven »Erlebensgemeinschaften« und jenen zu den praktischen »Handelnsgemeinschaften« – auch jene frühen, sozusagen »heterodoxen« phänomenologischen Ansätze zu sein, welche die intentionalitätstheoretische Basis der Gemeinschaft weder im Bereich der Kognition noch jenem der praktischen Intentionalität verorten, sondern im Bereich des Fühlens. Vielversprechende Ansätze zu solchen Analysen finden sich insbesondere bei Max Scheler 10 und Edith Stein 11 . Die Gemeinschaften, um die es hier geht, sind weder die orthodox-phänomenologischen »Erlebensgemeinschaften« noch die analytischen »Handelnsgemeinschaften«; es sind vielmehr »Gefühlsgemeinschaften«. Auch ihnen muß die Analyse gerecht werden. Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind. Cambridge 1983. Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie [1912]. Gesammelte Werke Bd. 7, Bern 1974; ders.: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus [1916]. Gesammelte Werke Bd. 2, Bonn 2000; ders.: Die Wissensformen und die Gesellschaft [1925]. Gesammelte Werke Bd. 8, Bern 1960. 11 Stein, Edith: Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften. Zweite Abhandlung: Individuum und Gemeinschaft. In: Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung, hrsg. v. Edmund Husserl, Bd. 5, Halle 1922, S. 116–284. 9
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Hier nur soviel als Präliminarie zum Thema »Intentionalität und Gemeinschaft«. Der Punkt, auf den es ankommt, ist der folgende: Daß nicht alle Gemeinschaften »Handelnsgemeinschaften« sind, daß es also beim Miteinandersein nicht immer darum geht, gemeinsam etwas zu tun bzw. auf etwas hinzuarbeiten, wie Baltzer zu Recht bemerkt, spricht keineswegs gegen einen intentionalistischen Ansatz der Ontologie des Miteinanderseins; es gibt ja nicht nur praktische, sondern auch kognitive und affektive Intentionalität. Allerdings muß sich ein adäquater »Intentionalismus« vor dem Rückfall in überkommene Verengungen hüten. Eine noch grundsätzlichere, oben beiseitegeschobene Frage ist indes die, ob man Intentionalität in der Ontologie der Gemeinschaft überhaupt berücksichtigen muß. Warum überhaupt intentionalistisch ansetzen? Baltzers eben diskutierter Punkt – der Hinweis auf eine thematische Verkürzung der intentionalistisch ansetzenden Sozialontologie – ist wohl ein schlechtes Argument dagegen, denn die monierte Verkürzung ist ja nicht dem Intentionalismus als solchem anzulasten, sondern seinen erwähnten traditionellen Verengungen. Aber es lassen sich durchaus Argumente denken, die direkt auf den Intentionalismus als solchen zielen: etwa dasjenige von Ockhams Rasiermesser. Sollte es möglich sein, eine Ontologie der Gemeinschaft zu entwerfen, die außer der Dimension des Verhaltens nicht auch noch die Sphäre der Absichten, Überzeugungen und Gefühle mit einbeziehen muß (wenn man diese Sphären überhaupt so klar unterscheiden kann), wäre dieser Ontologie aus Gründen der Ökonomie der Theoriebildung sicherlich der Vorzug zu geben. Der Ockhamsche Grundsatz, nicht mehr zu postulieren, als zur Erklärung des Phänomens wirklich notwendig ist, ist sicherlich ein vernünftiges Prinzip. Sparsamkeit in den Annahmen spricht, ceteris paribus, für eine Theorie. Deshalb noch einmal die Frage: Reicht es nicht aus, bei der Entscheidung der Frage, ob die Beteiligten zu einem gegebenen Zeitpunkt individuell handeln oder gemeinsam, einfach ihr Verhalten zu beobachten (ohne dabei direkt auf das Rekurs zu nehmen, was die Beteiligten denken, fühlen oder beabsichtigen)? Baltzer meint: Ja. »Beobachtung von Anschlußhandeln statt Verstehen von Intentionen« ist sozusagen sein Motto: »Es ist nicht erforderlich, die Intentionen der Beteiligten zu bemühen, vielmehr reicht die Beobachtung des Geschehens« 12 , wobei damit ex negativo schon eine (im folgen12
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den übernommene) Bestimmung von Intentionalität einhergeht: Sie ist nicht direkt beobachtbar; Intentionalität betrifft das »Gemeintsein« von manifestem Verhalten und ist insofern mit diesem nicht identisch. Daß die Frage nach dem Vorliegen oder Nichtvorliegen von Gemeinschaftshandeln, wie von Baltzer vermutet, aus der Beobachterperspektive entscheidbar ist, scheint aber angesichts des Beispiels von Anna und Berta eher fraglich. Der behavioristische Beobachter hinter dem Fernrohr auf der anderen Talseite mag beispielsweise folgende Szene protokollieren: Zunächst folgen beide Wanderinnen mit flottem Tempo und im ungefähren Gleichschritt dicht hintereinander dem Zickzack des Wanderweges; Anna geht voran. Hundert Höhenmeter weiter oben beginnt sich das Bild zu ändern. Berta wird allmählich etwas langsamer und fällt zurück. Ein größerer Abstand öffnet sich zwischen den Wanderinnen. Kurz nach der nächsten Kehre verlangsamt die vorneliegende Anna ihren Schritt plötzlich deutlich; einen Augenblick später erhöht Berta ihrerseits ihr Tempo wieder leicht, so daß sie Anna bald einholt. Anna läßt sich von Berta überholen und paßt ihr Tempo dann an dasjenige von Berta an. Beide folgen wiederum dicht hintereinander dem Weg. Folgende Interpretation dieses Beobachtungsprotokolls legt sich nahe: Anna und Berta sind gemeinsam unterwegs. Für Berta ist das Tempo offenbar etwas zu schnell; ihr geht vielleicht sogar die Puste aus. Zunächst ist es Anna entgangen, daß die hinter ihr gehende Berta zurückbleibt; sobald sie das bei der nächsten Kehre bemerkt, verlangsamt sie sofort ihren Schritt. Berta ihrerseits nimmt jetzt wahr, daß Anna auf sie wartet; sie leistet ihren Beitrag zum gemeinsamen Wandern, indem sie ihr Tempo wiederum etwas steigert. Nachdem sie Anna eingeholt hat, läßt Anna sie vorangehen, womit sie signalisiert, daß sie ihr eigenes Wandertempo jetzt nach demjenigen von Berta richten wird. Somit läge hier eine typische Szene aus dem gemeinsamen Wandern zwischen der konditionell wohl etwas stärkeren Anna und der konditionell etwas schwächeren Berta vor. Und all das erschließt sich, wie es scheint, aus dem manifesten Verhalten. Aber diese Interpretation ist keineswegs alternativlos. Vielleicht liegt der Episode, die der behavioristische Beobachter protokolliert, eine ganz andere Geschichte zugrunde: Vielleicht ist Berta gar nicht deshalb zurückgeblieben, weil ihr Annas Wandertempo nicht behagt oder ihr gar die Puste ausgegangen ist; vielleicht versucht sie vielmehr, sich nach hinten von Anna abzusetzen, weil sie lieber alleine A
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gehen und die Wanderung zum Nachdenken nutzen möchte, wobei sie sich durch Annas Nähe gestört sieht. Deshalb senkt sie ihr Tempo (sie hat erst überlegt, ob sie sich nach vorne absetzen sollte, scheut aber die Anstrengung). Anna ihrerseits orientiert ihr Verhalten vielleicht zunächst überhaupt nicht an Berta; es ist ihr völlig egal, was Berta tut. Nun geht aber Anna bei der besagten Kehre plötzlich die Puste aus, und sie wird deshalb abrupt langsamer. Berta ihrerseits bemerkt dies; sie hat zuvor ihr Tempo sowieso schon weit unter ihr ideales Wandertempo gesenkt und realisiert nun, daß dies das falsche Mittel war, um sich von Anna abzusetzen; sie erhöht deshalb ihr Tempo, um Anna zu überholen und sich nach vorne abzusetzen. Anna ihrerseits wird dessen gewahr und läßt Berta an sich vorbeiziehen; in diesem Moment aber erinnert sie die schon tief über dem Grat stehende Sonne daran, daß die Zeit doch schon bedenklich weit fortgeschritten ist und sie am Zielpunkt ihrer Wanderung noch den Nachtzug zurück in die Stadt erreichen muß. Deshalb erhöht sie nun wieder ihr Tempo und es bleibt bei der physischen Nähe zwischen den beiden Wanderinnen. Auf dieselbe Verhaltenssequenz passen mithin zwei ganz unterschiedliche Beschreibungen. Während das Handeln von Anna und Berta im ersten Fall ein Gemeinschaftshandeln ist, sind Anna und Berta im zweiten Fall individuell unterwegs und orientieren ihr Verhalten höchstens innerhalb ihres individuellen Wandervorhabens partiell am Verhalten der je anderen. Die Anwendungsbedingungen von »wir« sind im ersten Fall erfüllt, im zweiten nicht. Daran scheint sich zu zeigen: Ob diese Anwendungsbedingungen erfüllt sind oder nicht, hängt nicht bloß vom Verhalten ab, sondern auch davon, worin sich die beiden Beschreibungen unterscheiden: den Intentionen der Beteiligten. 13 Kurz gesagt: Dasselbe Verhalten kann unterschiedlich Daß es in dieser Frage nicht bloß auf das Verhalten, sondern auch auf dessen »Innenseite«, die Intentionalität, ankommt, illustriert Searle mit dem folgenden Beispiel: »Imagine that a group of people are sitting on the grass in various places in a park. Imagine that it suddenly starts to rain and they all get up and run to a common, centrally located shelter. Each person has the intention expressed by the sentence ›I am running to the shelter.‹ But for each person, we may suppose that his or her intention is entirely independent of the intentions and behavior of others. In this case there is no collective behavior; there is just a sequence of individual acts that happen to converge on a common goal. Now imagine a case where a group of people in a park converge on a common point as a piece of collective behavior. Imagine that they are part of an outdoor ballet where the choreography calls for the entire corps de ballet to converge on a common point. We can even imagine that the external bodily movements are indistinguish-
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motiviert sein. Beide Deutungen passen gleichermaßen auf das manifeste Verhalten; aber im ersten Fall sind Anna und Berta gemeinsam unterwegs, im zweiten hingegen nicht. Ob Wir-Gruppe oder nicht, man sieht’s dem Verhalten schlicht nicht an. In Verteidigung des verhaltenstheoretischen Ansatzes gegen diese Sorte von Einwänden könnte man nun folgendes vorbringen: Daß individuelles und gemeinsames Handeln gleich aussieht, mag ja zutreffen – aber höchstens in bezug auf zeitlich stark eingeschränkte Beobachtungssequenzen (und schon in diesem Rahmen klingen manche Erklärungen – im obigen Fall die erste – doch um einiges plausibler als andere). Das Problem mit dem obigen Beispiel wäre mithin nicht die behavioristische Zugangsweise zum Phänomen, sondern die Beobachtungsdauer. Wenn man länger beobachten würde, würde sich der eingeklagte Unterschied schon noch im Verhalten niederschlagen. Der behavioristische Beobachter hinter dem Fernrohr auf der anderen Talseite mag nur aufgrund der genannten Sequenz tatsächlich nicht entscheiden können, ob nun individuelles Handeln oder Gemeinschaftshandeln vorliegt. Dies heiße aber nicht, daß um die Absichten der Beteiligten wissen muß, wer die anstehende Frage entscheiden will; das Beobachten längerer Verhaltenssequenzen reicht aus. 14 Im ersten Fall (in welchem Anna und Berta gemeinsam unterwegs sind) ist zu erwarten, daß die Wanderinnen zusammenbleiben; im zweiten Fall (in dem die beiden individuell unterwegs sind) wird es Berta wohl schließlich schaffen, sich in die eine oder andere Richtung von der offenbar etwas unsensiblen Anna abzusetzen. Nehmen wir also an, Berta setzt sich im Anschluß an die geschilderte Szene tatsächlich nach vorne ab: Macht dies den Fall nun wirklich eindeutig? Oder, genauer gefragt: Beantwortet dieses Verhalten unsere Frage nach dem Vorliegen von Gemeinschaftshandeln (bei der es weniger um Eindeutigkeit oder Gewißheit geht als um die Auslegung des Sinns, den wir mit dem Begriff des gemeinsamen Tuns verbinden)? Bei näherem Hinsehen zeigt sich: Wiederum greifen die obigen Argumente. Auch für diesen Fall läßt sich nämlich ohne weiteres eine able in the two cases; the people running for shelter make the same types of bodily movements as the ballet dancers. Externally observed, the two cases are indistinguishable, but they are clearly different internally« (Searle, John R.: Collective Intentions and Actions. In: Cohen, Philip R./Morgan, Jerry/Pollack, Martha E. [Hrsg.]: Intentions in Communication. Cambridge Mass. 1990, S. 401–415, hier S. 402 f.). 14 Baltzer 1999, S. 70. A
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background story vorstellen, nach der entgegen der Vermutung eindeutig ein Fall von Gemeinschaftshandeln vorliegt. Sie könnte etwa so aussehen: Berta hatte bloß einen vorübergehenden Konditionseinbruch; nun distanziert sie Anna, um ihr zu demonstrieren, daß sie durchaus fit ist, und daß Anna tempomäßig keineswegs auf sie Rücksicht zu nehmen braucht. Und umgekehrt kann dem Zusammenbleiben von Anna und Berta entgegen der Vermutung bloß individuelles Handeln zugrunde liegen (Anna und Berta gehen weiter hintereinander her, aber unabhängig voneinander: Anna will bloß den Abendzug erreichen und Berta beschließt, sich nicht weiter von Anna abzusetzen zu versuchen und hält einfach ihr Idealtempo). Ähnliche Fälle lassen sich für alle möglichen Verlängerungen der beobachteten Verhaltenssequenz vorstellen. Mit dem Versuch, den Intentionalismus durch Verlängerung der Beobachtungssequenz abzuhängen geht es dem verhaltenstheoretischen Ansatz wie dem Fuchs in seinem chancenlosen Rennen gegen den Igel. Für jede Verlängerung der beobachteten Verhaltenssequenz, welche die Frage entscheiden soll, stehen schon mögliche »individualistische« oder »kommunitäre« Interpretationen bereit. 15 Was nun tatsächlich zutrifft, läßt sich am Verhalten schlicht nicht ablesen. Diese Kritik am verhaltenstheoretischen Ansatz wird vielleicht noch deutlicher, wenn man sich dem Problem von einer anderen Seite her nähert. Die anstehende Frage hat nämlich bisweilen eine Relevanz, die über die Entscheidung der Frage, ob die Beteiligten die Anwendungsbedingungen von »wir« als erfüllt ansehen sollen oder nicht, weit hinausgeht. Wie zur Verspottung des verhaltenstheoretischen Ansatzes gibt es soziale Praxen, die gerade darauf beruhen, daß man es dem Verhalten nicht ansieht, ob es nun Gemeinschaftshandeln oder individuelles Handeln ist. In einem gewissen Sinn gilt dies schon von Praxen wie dem Schauspiel. Was auf der Bühne oder Leinwand aussieht wie eine Verkettung von unabhängigen individuellen Handlungen – Geßler beabsichtigt, nach Küßnacht zu reisen, und geht deshalb durch die Hohle Gasse; Wilhelm Tell, der von Geßlers Vorhaben weiß, lauert ihm hier auf in der Absicht, ihn zu erschießen – ist in einer anderen Hinsicht, als Aufführung, eine Gemeinschaftshandlung (die Schauspieler führen gemeinsam diese
Ähnlich dürfte es sich auch mit der Erhöhung der Detailschärfe des Beobachtens – dem »näheren Hingucken«, welches etwa Mimik und Gestik miteinbezieht – verhalten.
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Schlüsselszene von Schillers »Tell« auf). Daß hier in Tat und Wahrheit eine Gemeinschaftshandlung und keine Verkettung von individuellen Handlungen vorliegt, ist natürlich allen Zuschauern klar, und wer ob des Realismus’ der Inszenierung etwa trotzdem darüber in Zweifel geraten war, wird dies – ganz gemäß der verhaltenstheoretischen These – leicht dem weiteren Verlauf des Geschehens entnehmen können. Plötzlich fällt der Vorhang, öffnet sich wieder, und der auferstandene »Geßler« steht friedlich neben »Tell«, gemeinsam verneigen sie sich vor dem Publikum und sammeln den Beifall ein. Was aber, wenn dieser Rahmen wegfällt, wenn derlei also außerhalb von Bühne und Leinwand stattfindet? Und zeigt nicht die Tatsache, daß normalerweise in räumlicher Hinsicht der Bühnenrand und in zeitlicher Hinsicht Heben und Senken des Vorhangs Spiel von Ernst trennt, daß diese Abgrenzung der sichtbaren Manifestation bedarf, weil sie dem Verhalten selbst nicht direkt abzulesen ist? Nun ist das Aufführen eines Schauspiels sicherlich ein besonders komplexes und deshalb heikles Beispiel einer Gemeinschaftshandlung. Wenden wir uns einem einfacheren (und praktisch vielleicht noch relevanteren) Beispiel zu. Manche Verhaltensweisen sind als individuelles Verhalten erlaubt, aber als Anschlußverhalten im Rahmen eines Gemeinschaftshandelns strengstens verboten. Hier wird der uns beschäftigende Unterschied dann besonders praxisrelevant, weil er bisweilen über Freispruch und Verurteilung entscheidet. Man darf nämlich durchaus an einem Kiosk ein Päckchen Zigaretten kaufen; aber wenn man dies tut, um den Kioskinhaber abzulenken und damit einem Komplizen die Gelegenheit zu geben, von hinten in den Kiosk einzusteigen und unbemerkt einen Griff in den Kassenschrank zu tun, wird man als Mittäter bestraft. Hier flaggt sich aus ganz naheliegenden Gründen das u. U. bloß scheinbare, rein individuelle Verhalten zweier Akteure – nennen wir sie Hans und Fritz – viel weniger deutlich als Gemeinschaftshandeln aus als im Falle des Schauspiels, und das Thema der Komplizenschaft beschäftigt deshalb die Gerichte ebenso wie die Rechtsphilosophie. 16 Der »Vorhang« fällt
Vgl. dazu die brillante Studie von Christopher Kutz: Complicity. Ethics and Law for a Collective Age. Cambridge Studies in Philosophy and Law, Cambridge 2000. Vgl. zum Phänomen der »Mittäterschaft« im Zusammenhang mit von mehreren Personen begangenen sozialen Akten schon Reinach, Adolf: Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts. In: Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung, hrsg. v. Edmund Husserl, Bd. 1/2, Halle 2 1922, S. 685–847, hier S. 713 f.
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hier – in Form eines Geständnisses der Komplizenschaft – allenfalls im Polizeiverhör, aber solche Formen der Komplizenschaft in einem Verbrechen machen ja nur Sinn, weil die Täuschung, die Tarnung als rein individuelle Handlung, gute Chancen hat, unentdeckt zu bleiben. Aus verhaltenstheoretischer Perspektive mag man hier zwar wiederum versuchen, den entscheidenden Unterschied am Verhalten festzumachen. Man könnte versuchen, die Frage, ob Hans, der die Zigaretten gekauft hat, ein Mittäter in einem gemeinsam begangenen Verbrechen ist oder ob rein zufällig sein völlig harmloses individuelles Verhalten dem anderen eine Gelegenheit zur Ausführung seines verbrecherischen, aber ebenso individuellen Verhaltens geboten hat, wiederum nicht im Rekurs auf eine entsprechende Absicht, sondern aus der Beobachterperspektive zu entscheiden. Wenn die beiden unmittelbar vor dem Diebstahl dabei zu beobachten waren, wie sie miteinander tuscheln, ist wohl anzunehmen, daß ein Gemeinschaftshandeln vorliegt und das scheinbar harmlose Zigarettenkaufen mithin ein Verbrechen war. Aber eine solche beobachtbare Verhaltenssequenz muß nicht notwendigerweise stattgefunden haben. Vielleicht sind die beiden nämlich Gewohnheitsdiebe, die ohne vorgängige Absprache gemeinsam handeln. Ohne ein Wort wechseln oder einander überhaupt noch ein Zeichen geben zu müssen hat einfach jeder sein Teil zum gemeinsamen Verbrechen getan. Darauf könnte von Seiten des verhaltenstheoretischen Ansatzes wiederum entgegnet werden, daß die Verhaltenssequenz, auf die bei der Entscheidung der Frage nach der Mitschuld von Hans rekurriert werden muß, eben in diesen vorangegangenen gemeinsamen Verbrechen liegt. Aber diese Antwort hält nicht stand: Es könnte sein, daß Hans diesmal (im Unterschied zu vorangegangenen Fällen) tatsächlich nur ein Päckchen Zigaretten hat kaufen wollen, daß er gar nicht bemerkt, geschweige denn damit gerechnet hat, daß Fritz sich wiederum von hinten an den Kiosk anschleicht u. dgl. Was darüber entscheidet, ob Hansens Verhalten nun ein Anschlußverhalten zu einem verbrecherischen Gemeinschaftshandeln ist oder bloß ein harmloses individuelles Handeln in schicksalshaften, aber nicht schuldrelevanten Verstrickungen, liegt nicht bloß in der Dimension des faktischen »Zusammenstimmens« seines Verhaltens mit demjenigen von Fritz; wie jedes Gericht es tut wird auch die Sozialontologie die Frage anhand dessen entscheiden müssen, was Hans mit seinem Verhalten beabsichtigt hat. Der entscheidende Unterschied liegt in der Intentionalität: Hat Hans den Kioskinhaber ablenken wollen oder nicht? 56
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Hatte er, in Christopher Kutz’ Worten, eine »participatory intention« oder nicht? 17 Was für die Beobachterperspektive gilt, gilt auch für die Teilnehmerperspektive. Um wiederum das Beispiel der beiden Wanderinnen zu bemühen: Berta wird ihren Schritt nicht beschleunigen, wenn sie nicht davon ausgeht, daß Anna ihren Schritt deshalb verlangsamt, weil sie auf sie warten will – und nicht etwa deshalb, weil ihr gerade die Puste ausgegangen ist. Ihre Perspektive auf Annas Verhalten ist insofern nicht die des behavioristischen Beobachters, für den die Intentionalität des Verhaltens keine Rolle spielt. Wenn sie selbst an Annas Verhalten im Sinne eines Gemeinschaftshandelns anschließt, so deutet sie Annas Verhalten als im Sinne eines Beitragsverhaltens zu einem Gemeinschaftshandeln intendiert. Wie implizit auch immer dies geschehen mag, und wie wenig »harte Evidenz« oder Gewißheit hier auch immer verfügbar ist, sie geht davon aus, daß Anna auf sie wartet (und ihr nicht einfach gerade die Puste ausgegangen ist). Dabei kann sie, wie gesagt, in ihrer Deutung natürlich immer falsch liegen; entscheidend ist, daß sie es sich schlechthin nicht ersparen kann, über die bloße Beobachtung des manifesten Verhaltens von Anna hinauszugehen; denn was sie selbst tut (nämlich individuell wandern oder an einem gemeinsamen Wandern teilnehmen), hat nicht bloß mit dem Verhalten von Anna zu tun; es hat mit dem zu tun, was Anna mit ihrem Verhalten beabsichtigt. Wenn Berta Annas Verhalten nicht als geeignet intendiert betrachtet, kann sie ihr eigenes Verhalten nicht als geeignetes Anschlußverhalten intendieren. Sie kann natürlich auch dann, wenn Sie Anna keine geeignete Intentionalität unterstellt, beabsichtigen, Anna auf den Fersen zu bleiben. Aber jemandem auf den Fersen zu bleiben ist etwas ganz anderes als mit jemandem gemeinsam unterwegs zu sein. Insofern muß der Rekurs auf das Anschlußverhalten selbst schon über die reine Verhaltensbeobachtung hinausgehen. Wenn nämlich das Vorliegen von Anschlußverhalten den Fall individuellen Handelns von jenem gemeinsamen Handelns unterscheidet, so ist ein bestimmtes Anschlußverhalten nur über die Intention der oder des Handelnden als Anschlußverhalten zu bestimmen. Der »Anschluß«, um den es hier geht, ist nicht bloß das faktische Zusammenstimmen Vgl. Kutz, Christopher: Acting together. In: Philosophy and Phenomenological Research 61 (2000b), S. 1–31. Eine detailliertere Diskussion der Struktur und Rolle von »participatory intentions« findet sich unten § 5 f.
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individuellen Verhaltens. Das Zusammenstimmen muß, wenn ein Fall von Gemeinschaftshandeln vorliegt, auch gewollt sein. Dies gilt übrigens keineswegs nur für so »harmonische« Gemeinschaftshandlungen wie das gemeinsame Wandern. Es gilt auch etwa für den Kampf. Auch die Frage, ob in einem gegebenen Fall ein Kampf vorliegt, oder ob hier ein Wesen einfach über ein anderes Wesen herfällt (oder herzufallen versucht), ist nur im Rekurs auf die Intentionalität des angegriffenen Wesens, und nicht alleine im Rekurs auf sein manifestes Verhalten zu entscheiden – die Aldebaraner aus Stanislaw Lems Kurzgeschichte können nach all ihren gescheiterten Versuchen, einen Kampf mit einem Erdbewohner zu beginnen, ein Lied davon singen. 18 Wenn sich deshalb am Gemeinschaftshandeln überhaupt etwas von der Eigenart unseres Miteinanderseins abzeichnen sollte, wenn mithin vom Handeln auf das Sein geschlossen werden könnte, dann beträfe dies jedenfalls den intentionalen Charakter unseres Miteinanderseins. Das Miteinandersein, wie das Gemeinschaftshandeln selbst, ist ein intentionales Phänomen, wobei hier das Phänomen der Intentionalität in seiner ganzen Breite in Betracht genommen werden muß: Absichten ebenso wie Meinungen und Empfindungen. Damit geht eine sozialontologische Grundentscheidung für einen intentionalistischen Ansatz einher. Unser Miteinandersein ist im Grunde nicht bloß – obschon auch – eine Sache des Verhaltens. Die Ontologie der Gemeinschaft kann sich dementsprechend nicht auf die Analyse von Verhalten beschränken. Sie muß auch das in Betracht ziehen, was die Beteiligten mit ihrem Verhalten beabsichtigen (bzw. dabei denken oder fühlen). 19 Denn der entscheidende UnterLem, Stanislaw: Invasion vom Aldebaran. In: ders.: Phantastische Erzählungen. Frankfurt a. M. 1971, S. 189–191. Nach gescheiterten Kontaktversuchen glauben sich die Aldebaraner in einen Kampf gegen einen Erdenbewohner verwickelt; dieser scheint sich der Attacken der Aldebaraner durch Ziehen einer »sinusoidalen Bahn« zu erwehren, sowie dadurch, daß er »sich mit einem unüberwindlichen Schutzdamm aus Äthylwasserstoff« umgibt – in Tat und Wahrheit sind die Aldebaraner aber an einen torkelnden Betrunkenen geraten, der sich – obwohl sein Verhalten für die Aldebaraner nicht so aussieht, weil es faktisch an ihr eigenes Angriffsverhalten anschließt – auf Kampf ebenso wenig einläßt wie zuvor auf Kommunikation. 19 Zwei Gegenargumente müssen zumindest noch erwähnt werden, die seitens des verhaltenstheoretischen Ansatzes vorgebracht werden können. Der erste Einwand macht geltend, daß so etwas wie »Beitragsintentionen« (participatory intentions) deshalb ein quasi sekundäres Phänomen sind, weil sie im Rahmen der Sozialisation erst viel später als das nackte Anschlußverhalten ins Spiel kommen. Wir lernen im Rahmen von Ge18
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Das Dilemma von Partizipation und Exklusion
schied zwischen individuellem und gemeinsamem Verhalten liegt im Bereich der Intentionen. Wer »wir« sind, läßt sich – um es mit Martin Heidegger zu sagen – nicht »von außen feststellen« 20 , es ist keine Sache der »positivistischen Beschreibung« beobachtbarer Tatsachen (mit der Heidegger selbst – leider und fälschlicherweise – die Soziologie bzw. Sozialwissenschaft identifiziert).
§ 2 Das Dilemma von Partizipation und Exklusion Wenn die vorstehenden Überlegungen zutreffen, ist dies ein Grund, sich den intentionalistischen Versuchen zur Beantwortung der anstehenden Frage zuzuwenden. Unter diesen springt zunächst einer ins Auge, welcher den Unterschied zwischen individuellem und gemeinsamem Tun zwar ebenfalls gewissermaßen als »Ansichtssache« bezeichnet, dabei aber nicht auf die Perspektive externer Beobachter, sondern gewissermaßen auf die Reflexion, die Selbstbeobachtung der Beteiligten abstellt. Aus dieser Perspektive bietet sich in der fraglichen Situation etwa folgendes Bild: Wenn Anna und Berta irgendwann im Verlaufe der Geschehnisse schließlich gemeinsam unterwegs sind, so ist dies dadurch zu erklären, daß sie zum gegebenen Zeitpunkt endlich dazu gekommen sind, sich selbst und die je andere als Mitglieder einer Wandergruppe zu sehen. Und sie schließen ihr manifestes Verhalten auf geeignete Weise aneinander an, insofern und weil sie dies tun. Der Unterschied zwischen dem ursprünglichen individuellen Wandern von Anna und Berta und dem späteren gemeinsamen Wandern ist in dieser Sicht ein doppelter. 1) Subjekt inmeinschaftshandlungen erst, unser Verhalten als Beitragsverhalten zu sehen bzw. zu intendieren. Beitragsintentionen bzw. als Beitragsverhalten intendiertes Beitragsverhalten ist, so dieser erste Einwand, faktisch-genetisch sekundär gegenüber dem nackten Anschlußverhalten. Ein zweiter, verschärfter Einwand lautet, daß dasselbe auch in logischer Hinsicht gilt. Wir können, so dieser Einwand, ein Verhalten nur im Rahmen und auf der Grundlage von Gemeinschaftshandlungen als Beitragshandeln intendieren. Den ersten Einwand kann man damit beantworten, daß die faktische Genese von Beitragsverhalten nicht notwendigerweise dessen »Wesensaufbau« (im phänomenologischen Sinn) entsprechen muß. Dem zweiten Einwand wird im folgenden mit der Annahme gemeinsamer Intentionalität begegnet. Gemeinschaftshandeln ist zwar logisch primär gegenüber der individuellen »Beitragsintention«; aber das bedeutet keineswegs, daß es seinerseits keine Intentionalität voraussetzt. 20 Vgl. Heidegger, Martin: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache [1934]. Gesamtausgabe Bd. 38, Frankfurt a. M. 1982, S. 55. A
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dividuellen Handelns sind die jeweiligen Individuen; Subjekt des Gemeinschaftshandelns hingegen ist in einem bestimmten (derivativen) Sinn die Gruppe, das »Wir-Subjekt«, das Team. 2) Dieses kollektive Handlungssubjekt existiert aber nur, weil und insofern die beteiligten Individuen der Überzeugung sind, daß die Gruppe existiert, und ihr individuelles Verhalten daran orientieren. Mithin scheint diese Sicht auf den ersten Blick in These 1) die Vorgaben des sozialtheoretischen Individualismus zu verletzen; sie reduziert das Soziale nicht auf Handlungen von einzelnen Individuen, sondern nimmt an, daß es nebst den Handlungen von Individuen auch Handlungen von Gruppen gibt. Aber dies tut diese Sicht nur, um in einem zweiten Schritt das postulierte Kollektivsubjekt begrifflich so weit zu domestizieren, um mit ihm in den sicheren Hafen des ontologischen Individualismus zurückkehren zu können: Zwar gilt, daß nicht bloß Individuen, sondern auch Gruppen handeln können – aber in ihrer Ontologie hinwiederum sind diese Kollektivsubjekte vollständig auf den »subjektiv gemeinten Sinn«, den Inhalt der Überzeugungen der beteiligten Individuen reduzierbar. Denn das Sein dieser Gruppen erschöpft sich darin, daß diese Gruppen eben im Gehalt von individuellen Überzeugungen vorkommen. Anna und Berta bilden ein »Gruppensubjekt«, insofern sie glauben, so etwas wie ein Gruppensubjekt zu bilden. Das Sein der Gruppe und der Glaube der beteiligten Individuen, eine Gruppe zu bilden, werden hier mithin miteinander identifiziert. Für die Ontologie der Gemeinschaft ist diese zweite These natürlich besonders wichtig. Diese Sicht von der ontologischen (bzw. methodologischen) Reduzierbarkeit von Gruppen und Gemeinschaften auf die Überzeugungen von Individuen kann dabei auf höchst namhafte »klassische« Referenzen aus der Geschichte der Sozialtheorie zählen. Unter den Klassikern der Soziologie meint (in Anschluß an seinen Lehrer Moritz Lazarus) etwa Georg Simmel, man brauche bei der Bestimmung dessen, was Menschen zu Gruppen eint, auf nichts anderes als ein solches »Bewußtsein von der Gruppe« zu rekurrieren. In seinem »Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?« schreibt Simmel: »Das Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden, ist hier tatsächlich die ganze zur Frage stehende Einheit« – eine Grundthese, die gegenwärtig insbesondere in Margaret Gilberts »Plural Subject Theory« Aufnahme gefunden hat. 21 Simmel präzisiert, daß dies natürlich nicht ausschlie21
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Die soziale Einheit, die Kernbedeutung sozialer Kollektive bestimmt Gilbert als das,
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ße, daß »außerdem noch« ein unbeteiligtes Subjekt – ein »beobachtender Dritter«, wie Simmel sagt – zwischen den Mitgliedern der Wir-Gruppe eine Synthese im Stile der Kantischen Konstitution der Naturdinge vollziehe, also eine »externe« Synthese, eine Bestimmung der Gruppe aus der Beobachterperspektive. 22 Aber eine solche externe Synthese »schafft« die Gruppe nicht. Jenes »Bewußtsein«, das nach Simmel die Grundstruktur des Sozialen ausmacht, ist nicht dieses synthetische Bewußtsein einer beobachtenden dritten Person (etwa eines objektivierenden Sozialwissenschaftlers, oder im Beispiel von Anna und Berta: des behavioristischen Beobachters auf der anderen Talseite). Dieses einheitskonstitutive Bewußtsein ist vielmehr die Perspektive der Teilnehmenden selbst, und wenn die Einheit des Sozialen nach Simmel überhaupt »außerdem noch« aus der Beobachterperspektive bestimmbar ist, dann nur deshalb, weil sie sich zuvor schon im Zugehörigkeitsbewußtsein der Teilnehmenden konstituiert hat: im Wir-Bewußtsein selbst. Zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive besteht so ein Fundierungsverhältnis, bei welchem der ersteren der logische Vorrang zukommt. In der Begrifflichkeit JeanPaul Sartres (der sich dann freilich letztlich doch für ein umgekehrtes Fundierungsverhältnis entscheidet; s. unten § 11) ausgedrückt: Das »Subjekt-Wir« (die aus der Teilnehmerperspektive durch ein thematisches »Wir-Bewußtsein« konstituierte soziale Einheit) fundiert das »Objekt-Wir«, das durch den »Blick des Dritten« konstituierte »Wir«. 23 Während Sartre dem Dritten die Souveränität zuschreibt, worauf die Mitglieder des Kollektivs sich mit »wir« beziehen (Gilbert fügt dem »Wir« einen Asteriks bei, um deutlich zu machen, daß mit »Wir« in diesem Fall mehr gemeint ist als ein bloßes Aggregat von Individuen, wodurch ihr Gebrauch des Ausdrucks einen Bereich des alltagssprachlichen Gebrauchs von »wir«, nämlich den rein distributiven Sinn, ausschließe). Eine der Hauptleistungen Simmels sei es, so Gilbert, daß er Gruppenzugehörigkeit als Funktion der Meinungen der Menschen betreffend ihre Situation zu behandeln gelehrt habe (»Social Groups – a Simmelian view« heißt das zentrale vierte Kapitel ihres Buches »On Social Facts« [Gilbert 1992]). Dieser intentionalistische Grundzuschnitt der Sozialontologie Simmels ist für Gilbert verbindlich: die Wirklichkeit von Gruppen liegt im Kern in einem bestimmten Bewußtseinszustand der einzelnen Gruppenmitglieder, und dieser bestimmte Bewußtseinszustand ist derjenige des »Sich-zugehörig-Fühlens« (Gilbert 1992, S. 146 f.), für den die Überzeugung von der Existenz der Gruppe wesentlich ist. 22 Simmel, Georg: Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich? In: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Berlin 6 1983, S. 21–31, hier S. 22. 23 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie [1943]. Reinbek b. H. 1991, S. 720 ff. A
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mit seinem Blick die Grenzen des Wir festzulegen, den Teilnehmenden die für sie relevanten Einheiten des Sozialen also sozusagen aufzuzwingen – »Wir«, das sind nach Sartre in der Grundbedeutung ganz einfach die, die der Dritte in seinem Blickfeld hat – vertritt Simmel den Primat des »Subjekt-Wir«, der Teilnehmer- vor der Beobachterperspektive, indem er das Soziale als »des in ihr nicht mitbegriffenen Beschauers unbedürftige Einheit« bezeichnet. Die Einheit des Sozialen ohne externe Beobachtung ist möglich, während nicht das Umgekehrte der Fall ist; »die Vereinheitlichung«, sagt Simmel in Abgrenzung seiner Analyse der Frage »Wie ist Gesellschaft möglich?« von der Kantischen Frage nach der Möglichkeit der äußeren Natur, »bedarf hier keines Faktors außerhalb ihrer Elemente, da jedes von diesen die Funktion übt, die dem Äußeren gegenüber die seelische Energie des Beschauers ausführt«. 24 Die Einheit der Gruppe ist nach Simmel durch eine Art »Selbstabgrenzung« über das Bewußtsein der teilnehmenden Individuen von der Gruppe konstituiert, während nach Sartre die Grenzen des »Wir« sozusagen »von außen« an die Teilnehmenden herangetragen und erst sekundär ins eigene Bewußtsein vom »Wir« übernommen werden. Dieser Gegensatz zwischen Simmel und Sartre ist freilich ein Gegensatz innerhalb eines gemeinsamen Grundansatzes. Denn für beide ist es ja ein thematisches Bewußtsein »von« der Gruppe bzw. der Einheit, welches das fragliche »Wir« als mögliches Subjekt von Handlungen konstituiert. Nur daß bei Simmel dieses »Wir-Bewußtsein« die Einheit der Gruppe sozusagen aus sich selbst heraus generiert, während es bei Sartre auf etwas rekurriert, was außerhalb seiner liegt und ihm zugrunde liegt. Unbestritten ist, daß die beiden Elemente, auf welche diese Theorien abheben, eine große Rolle spielen mögen. Tatsächlich mag unter den Umständen, unter denen wir »wir« sagen, eine Außenabgrenzung regelmäßig mitspielen – etwa so, wie letztlich auch Samuel Huntingtons Amerikaner ihre Antwort auf die Frage »Who are We?« offenbar nur in der Abgrenzung von den anderen zu finden vermögen. 25 Andererseits scheint die Suche nach einem »nicht-parochialen Wir«, einem »Wir«, welches sich nicht im Abstoß nach außen, sondern anhand der Gemeinsamkeit einer Praxis selbst gewinnt,
Simmel 1908/1983, S. 22. Vgl. Huntington, Samuel P.: Who Are We? The Challenges to America’s National Identity. New York 2004, S. 18 ff.
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nicht von vornherein sinnlos zu sein. 26 Und vielleicht spielt empirisch beides – interne und externe »Identifikation« – meist ineinander. Aber das darf nicht davon abhalten, ja dadurch wird es besonders wichtig, das genaue Verhältnis dieser Momente eingehender zu studieren. Im Medium des Studiums der Theorien, die wie Simmel bzw. Sartre auf den einen bzw. anderen Zug des »Wir« besonders abheben, zeigt sich dabei ein Gegensatz zwischen diesen beiden Momenten – allerdings ein Gegensatz, der sich innerhalb eines gemeinsamen Theorierahmens ergibt. Deutlicher wird dies vielleicht am Beispiel. Die »Simmelsche Version« der Geschichte von Anna, Berta und dem Beobachter auf der anderen Talseite würde etwa wie folgt lauten: Anna und Berta sind zunächst individuell unterwegs. Im Verlaufe der Wanderung kommen sie aber beide dazu, sich und die je andere als Mitglieder einer Wandergruppe zu sehen; insofern und weil sie das tun, sind sie eine Wandergruppe. Wenn Berta sich im Verlaufe der Wanderung irgendwann in der Wir-Form an Anna wendet, macht sie damit deutlich, daß sie sich selbst als Mitglied eines Teams sieht; und ihr »Wir«-Sagen ist korrekt, insofern sich auch Anna – wie implizit auch immer – als Mitglied einer Wandergruppe bestehend aus ihr selbst und Berta sieht. Der behavioristische Beobachter auf der anderen Talseite spielt in dieser Geschichte allenfalls eine kleine Nebenrolle. Er mag im gegebenen Moment im Zweifel sein, ob er nun zwei individuelle Wanderinnen oder eine Wandergruppe beobachtet, und ihm Verhalten der beiden zwar Anhaltspunkte für die Entscheidung dieser Frage, aber bestimmt keine eindeutige Antwort finden. Denn wenn er schließlich seine Beobachtung als Beobachtung einer Wandergruppe protokolliert, so rekurriert er dabei auf etwas, worauf er aufgrund des beobachteten Verhaltens zwar schließen, was er aber nicht direkt beobachten kann. Die Wahrheit der protokollierten Aussage hängt von der Überzeugung von Anna und Berta ab. Bei ihnen, nicht beim Beobachter, liegt in Sachen der Zugehörigkeit und ihrer Grenzen die epistemische Autorität. 27 Vgl. dazu etwa Brandom, Robert B.: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment. Cambridge Mass. 2 1998, S. 3 ff. 27 Bei Simmels Lehrer Moritz Lazarus heißt es ganz auf dieser Linie: »Handelt es sich um Pflanzen oder Tiere, so ist es der Naturforscher, der sie nach objektiven Merkmalen in ihre Art versetzt; Menschen aber fragen wir, zu welchem Volke sie sich zählen. (…) Wir haben die vorhandenen subjektiven, von den Völkern stillschweigend (implicite) gegebenen Definitionen von sich selbst zu erläutern« (Lazarus, Moritz: Grundzüge der 26
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Ganz anders die »Sartre-Version« der Geschichte. Für Sartre werden Anna und Berta irgendwann im Verlauf ihres individuellen Wanderns plötzlich der Präsenz des Beobachters auf der anderen Talseite gewahr. Erst jetzt kommt überhaupt so etwas wie Gemeinsamkeit ins Spiel. Anna und Berta mögen nun denken: »Wir werden beobachtet!«, und dieses »wir«, welches man für ein rein distributives »wir« halten könnte, birgt für Sartre im Kern den kollektiven Sinn. Von jetzt an sind für Sartre die Anwendungsbedingungen von »wir« gegeben; Anna und Berta entwickeln über die Wahrnehmung ihres (gemeinsamen) Wahrgenommenseins durch den Dritten 28 ein »WirBewußtsein«; und durch den Blick des Dritten »verschmelzen«, wie Sartre sagt, die individuellen Intentionen zu einer gemeinsamen Intention. Die »Sartresche« Version der Geschichte hat offensichtliche Schwächen, die geklärt werden müssen, um überhaupt an die Stärken dieses Ansatzes zu gelangen. Die erste Schwäche: Der Ansatz zieht die Differenz zwischen der externen Beobachtung eines Aggregats individuellen Handelns und der externen Beobachtung gemeinsamen Handelns ein. Dies zumindest in dem Fall, in dem der Beobachter von den Beobachteten wahrgenommen wird. Denn dann – wenn die individuellen Teilnehmenden wissen, daß sie vom Dritten beobachtet werden – muß ja nach Sartres Sicht das, was der Dritte beobachtet, ein »Wir« sein, das individuelle Tun also zu einem gemeinsamen verschmelzen. Damit zielt Sartre, wie später zu sehen sein wird, zwar auf ein wirkliches Phänomen ab; als allgemeine Theorie ist das aber schlichtweg unplausibel. Man kann sich ja auch als bloßer Teil eines zufälligen Aggregats von vereinzelten Individuen beobachtet fühlen. Und es macht durchaus einen Unterschied, ob man sich nun als solcher Teil eines zufälligen Aggregats von vereinzelten Individuen oder aber als Mitglied einer Wir-Gruppe beobachtet fühlt. Durch das Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft. Herausgegeben, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Klaus Christian Köhnke. Meiner Philosophische Bibliothek Bd. 551, Hamburg 2003, S. 88). 28 Eine offene Frage ist bei Sartre, soweit ich sehe, jene nach den Bedingungen, denen der Dritte genügen muß, um als solcher zu fungieren. Hier drängen sich gewisse Restriktionen auf. Es scheint, daß er in gewisser Weise von der »gleichen Art wie die Beteiligten selbst« sein (bzw. als solcher angesehen werden) muß, also z. B. nicht ein Stein sein (bzw. von den Beteiligten für einen Stein gehalten werden) kann. Nicht überraschend wäre es, wenn bei einer näheren Analyse von Sartres Argumentation herauskäme, daß der Dritte letztlich doch »einer von uns« sein muß, was die Analyse als zirkulär erscheinen ließe.
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schiere Innesein des Beobachtetwerdens allein muß man sich noch nicht als Mitglied einer Wir-Gruppe sehen. Damit hängt eine zweite Schwäche zusammen. Sartre illustriert die Rolle des Dritten am Beispiel zweier kämpfender Individuen. Jeder der Kämpfenden intendiert sein Verhalten als individuelles Tun; er hat Intentionen der Form »ich wehre den Schlag des Gegners ab«, »ich bereite einen Gegenschlag vor« etc. Nun betritt der Dritte die Szene, die Beteiligten nehmen ihn wahr und daß er sie beide wahrnimmt, und werden sich dessen inne, daß sie ihr individuelles Verhalten ja im Rahmen einer Gemeinschaftshandlung intendieren: »Gegeneinander kämpfen« kann man (wie die oben schon erwähnten Versuche von Stanislaw Lems Aldebaranern zeigen) nicht alleine; es ist etwas, was in einem gewissen Sinn nur gemeinsam getan werden kann. Durch den Dritten verändert sich so die intentionale Struktur der Situation: Die Beteiligten werden sich, so Sartre, schamhaft dessen inne, daß ihr individuelles Tun im Rahmen einer Gemeinschaftshandlung steht: »Ich wehre den Schlag ab im Rahmen unseres Kampfes« (vgl. dazu die nähere Analyse unten § 10 f.). Ähnlich mag man nun auch das Beispiel von Anna und Berta konstruieren. Nehmen wir etwa an, Anna und Berta fühlen sich als ausgesprochene Individualistinnen (an denen sich übrigens Sartres Analyse ebenso unausgesprochen wie durchgängig orientiert); als solche legen sie größtes Gewicht darauf, daß sie selbst individuell die autonomen und ungebundenen Trägerinnen ihrer Absichten und Handlungen sind, daß es mithin ihre eigenen Absichten sind, welche sie handelnd realisieren, und daß sie ihre Autonomie nicht an irgendein Gemeinschaftssubjekt abgeben bzw. daß sie sich in ihrem Wollen und Tun durch keine gemeinschaftlichen Bindungen einengen lassen. Nach ihrem zufälligen Zusammentreffen achten sie deshalb peinlich genau darauf, einen gewissen Mindestabstand zueinander einzuhalten. Dies bringt einigen Aufwand mit sich. Anna, die zunächst vorne geht, kann nach einer Weile das erforderliche Tempo zum Halten des Abstands auf Berta nicht mehr durchhalten und wird langsamer. Berta verlangsamt zunächst auch, um Anna nicht zu nahe zu kommen; aber da sie die individuelle Absicht hat, sich auf dem Weg zu ihrem Ziel nicht aufhalten zu lassen, entscheidet sie sich schließlich dafür, Anna zu überholen, und geht zu diesem Zweck möglichst schnell. Anna bemerkt dies und verlangsamt weiter (auch ihr liegt ja sehr am Einhalten des Mindestabstandes, sie will sich von Berta deshalb möglichst schnell überholen lassen). Berta überholt und setzt sich, ihr hohes Tempo haltend, A
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stracks nach vorne ab. Nun hat sich aber Anna inzwischen erholen können und zieht deshalb im geforderten Mindestabstand nach (schließlich will auch sie individuell möglichst schnell ihr Ziel erreichen und sich beim Hinarbeiten auf dieses Ziel nicht aufhalten lassen). Berta sieht sich jetzt ihrerseits gehetzt und bekommt Konditionsprobleme, die Szene wiederholt sich mit umgekehrten Vorzeichen und so vielleicht noch einige Male mehr. Beide, Anna wie Berta, wollen bloß ihre individuellen Absichten umsetzen; und sie wollen sich nicht in ein Gemeinschaftshandeln verstricken lassen. Sie wissen dies voneinander, und wissen auch, daß beide die Regel beachten, einander zum Schutze der eigenen Individualität nicht zu nahe zu kommen. Das bringt natürlich eine ganze Menge Koordinationsaufwand mit sich: viel »soziales Handeln« im Sinne Webers, also Handeln, welches in seinem Sinn und Ablauf an der je anderen orientiert ist. Trotzdem scheint glasklar: Weder Anna noch Berta würde sich, wenn sie wieder einmal die andere überholt oder von ihr überholt wird, sich in der Wir-Form an die andere wenden. Für beide ist klar: Da ist keine Gemeinschaft, sondern bloß Individuen und ihre höchst individuellen Pläne, im Rahmen derer man sich leider in die Quere gekommen ist. Es geht ihnen beiden ja gerade darum, sich voneinander abzusetzen. Jetzt kommt aber unvermittelt der »Sartresche Moment«: Plötzlich bemerken nämlich beide, daß sie von der anderen Talseite beobachtet werden; Anna wie Berta bemerken den behavioristischen Beobachter, der sein Fernglas auf sie beide gerichtet hat, und beide bemerken, daß dies auch der je anderen aufgefallen ist. Nun mag es tatsächlich phänomenologisch plausibel scheinen, im Sinne Sartres anzunehmen, daß sich dadurch etwas an der intentionalen Struktur der Situation grundsätzlich ändert. Vorher hat sich jede der beiden nur darum bemüht, ihrem Ziel zuzustreben und sich dabei von der je anderen abzusetzen. Jetzt aber verlagert sich der Akzent in der Selbstwahrnehmung vom Sich-von-der-anderen-Absetzen im Rahmen des eigenen Handlungsplans weg; es wird plötzlich transparent, daß ja nicht bloß beide seit Stunden im gebotenen Minimalabstand hintereinander herwandern, sondern daß man dies in einem gewissen Sinn gemeinsam mit der anderen tut. Durch den »Blick des Dritten« erscheint es nun plötzlich gar nicht mehr absurd, wenn sich beim nächsten Überholdurchgang die eine in der Wir-Form mit einem Lächeln an die andere wendet und etwa sagt: »Wir scheinen uns ja nicht voneinander absetzen zu können!« oder etwas dergleichen. Ja es scheint, daß dies die in dieser Situation geforderte Form 66
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ist, und nicht etwa: »Wie es aussieht, kann ich mich offenbar partout nicht von Ihnen lösen!« Denn wenn nicht das Wandern, so ist doch das Bemühen um das Sichabsetzen etwas Gemeinsames geworden; und es scheint zumindest prima vista nicht unplausibel, das Erfülltsein der Anwendungsbedingungen des kollektiven Gebrauchs von »Wir« hier in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Blick des Dritten (bzw. des Gewahrwerdens seines Blicks durch die Beteiligten) zu bringen. Aber dies ist ein spezieller, wenn auch wichtiger Fall (zu seiner näheren Analyse vgl. unten § 12); kann man diesen nach Maßgabe Sartres verallgemeinern? Die Synthese individueller Intentionen zu einem Gemeinschaftshandeln läuft nach Sartre ganz unabhängig von Koordinationsphänomenen, wie sie im Beispiel des Kampfes oder von Handlungsaggregaten wie dem gegenseitigen VoneinanderAbstand-Halten vorliegen. Zum »Wir« werden nach Sartre auch zwei Passanten, die auf dem Bürgersteig ganz unkoordiniert hintereinander hergehen – wenn sie bloß bemerken, daß der Dritte sie gerade in seinem Blickfeld hat. In solchen Fällen scheint es aber ganz unplausibel zu sein, von so etwas wie der »Vereinigung« individueller Intentionen zu einer »gemeinsamen Intention« zu sprechen, wie Sartre dies tut. Ja es ist durchaus denkbar, daß der Blick des Dritten, je nach Umständen, nicht individuelle Intentionen zu einem Gemeinschaftshandeln verbindet, sondern ein Gemeinschaftshandeln im Gegenteil auflöst. Je nach Umständen vergemeinschaftet der Blick des Dritten nicht, sondern individualisiert die Beteiligten; Beispiele eines solchen Vorgangs kann man sich ohne weiteres vorstellen, und sie scheinen nicht weniger phänomenale Plausibilität zu haben als jene, die Sartre anführt. 29 Noch wichtiger ist aber ein weiterer Punkt. Es scheint nämlich, daß in jenen Fällen, auf welche Sartre abhebt, die synthetische Kraft, die Sartre dem Blick des Dritten zuschreibt, an Vorbedingungen gebunden ist, die in der Struktur der beobachteten Situation selbst liegen. Der Dritte kann die indiviZwei Kinder sind in ihrem Spielzimmer ganz in ein gemeinsames Tun vertieft, bei dem zunehmend das ganze Mobiliar in Mitleidenschaft gezogen wird. Plötzlich werden sie sich gewahr, daß der Vater ihnen zusieht, und sehen die Situation mit den Augen des Vaters. Das gemeinsame Tun endet abrupt, und alle Gemeinschaftlichkeit der Situation verschwindet; der schuldzuweisende väterliche Blick trifft die beiden Beteiligten individuell, er individualisiert sie: an dem, was gemeinsam getan worden ist, nehmen sie das wahr, was sie individuell verursacht haben und versuchen allenfalls, sich das gegenseitig in die Schuhe zu schieben.
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duellen Intentionen nicht wirklich zu einer gemeinsamen Intention verbinden; durch ihn kommt den Beteiligten aber unter Umständen zu Bewußtsein, daß sie gemeinsam handeln (dies wird unten in § 12 näher zu besehen sein). Nur deshalb aber können die beiden Kämpfenden aus Sartres eigenem Beispiel (oder die obigen Versionen von Anna und Berta, jene, die sich voneinander abzusetzen versuchen) sich anhand des Blicks des Dritten inne werden, gemeinsam zu handeln, weil das Kämpfen oder das wechselseitige Sich-voneinanderAbsetzen schon vor dem Auftritt des Dritten ein gemeinsames Tun ist – wenn auch nicht ein als solches transparentes. In diesem Sinn ist der Blick des Dritten keine hinreichende Bedingung für Gemeinschaftshandeln. In einer letzten Kritik am Sartreschen Ansatz läßt sich zudem sagen, daß der Blick des Dritten auch keine notwendige Bedingung für Gemeinschaftshandeln ist. Anna und Berta mögen angesichts des Dritten realisieren, daß die Anwendungsbedingungen von »Wir« nun erfüllt sind. Aber es braucht dazu den Dritten nicht notwendig. Modifizieren wir das Beispiel wieder so, daß Anna und Berta zunächst individuell einhergehen, dann aber nicht in ein intransparentes Gemeinschaftshandeln vom Typ des umständlichen VoneinanderAbstand-Haltens verfallen, sondern, vielleicht über eine Serie gemeinsamer Pausen hinweg, sich allmählich aneinander anschließen. Selbst wenn von einem Dritten weit und breit nichts zu sehen ist, wird irgendwann der Punkt kommen, an dem sich die beiden in Sachen der Gestaltung der nächsten Rast korrekterweise in der WirForm aneinander wenden müssen. In Sachen des Dritten scheint damit die Simmelsche Sicht gegen die Sartresche recht zu behalten. Die Simmelsche ontologische Reduktion der Gruppe auf ein »Bewußtsein, mit anderen eine Einheit zu bilden« bleibt zunächst allerdings reichlich unterbestimmt. Zunächst ist hier an etwas zu denken, was in der gegenwärtigen Sozialpsychologie unter dem Titel der »Self-Categorization Theory« der Gemeinschaft bzw. der sozialen Gruppe läuft. 30 Klar scheint zu sein: Das »Bewußtsein, mit den anderen eine Einheit zu bilden« besteht aus einer Überzeugung von der Existenz der Gruppe und einer Art »Selbstzuschreibung« zur Gruppe bzw. der Überzeugung, selbst ein Mitglied dieser Gruppe zu sein. Dies steht ja auch im Kern der BeVgl. Turner, John C. et al.: Rediscovering the Social Group. A Self-Categorization Theory. Oxford 1987.
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deutung von »Wir«. Wer »wir« sagt, rechnet sich selbst einer Gruppe zu, und scheint (zumindest im Fall einer kollektiven Verwendung von »wir«) deshalb tatsächlich so etwas wie ein Simmelsches »Einheitsbewußtsein aus der Teilnehmendenperspektive« zu haben. Mehr noch: Zumindest prima vista scheint es gute Gründe für die Annahme zu geben, daß diese individuelle Selbstzuschreibung zur Gruppe im Sinne des »Bewußtseins, mit den anderen eine Einheit zu bilden« weiter eine Überzeugung des Inhalts impliziert, daß auch die anderen, mit denen man eine Einheit zu bilden glaubt, ein »Bewußtsein dieser Einheit« haben. Wer in einem kollektiven Sinn »wir« sagt, rechnet sich nicht nur selbst der Gruppe zu; er geht, wie es scheint, auch davon aus, daß sich auch die mit »wir« mitgemeinten anderen sich ihrerseits der Gruppe zuschreiben (bzw. sich doch zumindest unter geeigneten Umständen auf sich und die anderen als »Wir« beziehen würden). Wenn sich Anna als Mitglied einer aus ihr und Berta bestehenden Wandergruppe fühlt, unterstellt sie damit, daß auch Berta sich als Mitglied der Gruppe versteht; denn die Einheit, die Anna zusammen mit Berta bildet, existiert erstens nicht, ohne daß auch Berta, wie implizit auch immer, das entsprechende Bewußtsein dieser Einheit hat. Und zweitens ist das »Einheitsbewußtsein« der je anderen im eigenen »Einheitsbewußtsein« schon mitgesetzt. Nur dann, so scheint der Simmelsche bzw. Gilbertsche Grundansatz zu verstehen zu sein, sind die Anwendungsbedingungen von »wir« erfüllt. Diese Voraussetzung der allseitigen und sich wechselseitig umgreifenden Selbstzuschreibung zur Gruppe könnte man die partizipative Dimension des »Wir« nennen. Diese partizipative Dimension des »Wir« hat durchaus ihre Plausibilität. Sie läßt sich zumindest ex negativo an den Fällen ablesen, in denen diese Anwendungsbedingung von »Wir« verletzt ist; Michael E. Bratman diskutiert etwa das Beispiel eines Mafioso, der zu seinem gefesselten und geknebelten Entführungsopfer sagt: »Jetzt machen wir ’mal eine schöne Reise zusammen«. 31 Klar ist: Mit dieser Verwendung von »wir« stimmt etwas nicht. Anders als in dem eingangs erwähnten Fall des Pflegers, der sich in der Wir-Form an seinen Patienten wendet, liegt der Fehler aber nicht darin, daß der Sprecher etwa sich selbst nicht mitmeint. Reisen werden hier ja tatsächlich beide. Die Anomalie liegt anderswo. Daß dieses Beispiel die Standard-AnwenBratman spricht diesbezüglich vom »Mafia sense« von »wir«; vgl. Bratman 1999, S. 100.
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dungsbedingungen von »Wir« verletzt, rührt nach Bratmans Vermutung daher, daß das »gemeinsame« Unternehmen seitens des Entführungsopfers nicht freiwillig ist. Ins »Wir« könnte demgemäß niemand gezwungen werden; die »Wir-Gruppe« wäre somit eine Form der sozialen Integration, die in einem starken Sinn auf Freiwilligkeit beruht. Dies würde, nebenbei gesagt, auch die enorme Attraktivität der »Wir«-Rede in der modernen politischen Rhetorik erklären. In einer Zeit, in der jede Form der Gemeinschaft auf voluntativer Grundlage zu stehen, also dem Kriterium zu genügen hat, in irgendeiner Form auf die Zustimmung der (als autonome Individuen vorgestellten) Einzelmenschen zu stoßen, erscheint die Wir-Gruppe als die ideale, ja vielleicht sogar als die einzig tolerable Form der sozialen Integration. 32 Selbst wenn sie ganz auf der Linie der modernen politischen Wir-Rhetorik liegen sollte, scheint mir allerdings die Bratmansche These philosophisch viel zu stark zu sein bzw. zu weit zu gehen. Es ist m. E. nicht zwingend, die genannte Selbstzuschreibungsunterstellung in einem starken voluntaristischen Sinn zu deuten. Wer »wir« sagt, unterstellt nicht ohne weiteres, daß diejenigen, die mit »wir« mitgemeint sind, freiwillig dabei sind. Margaret Gilbert hält denn Bratman auch entgegen, daß sich auch per Zwang entstandene Gruppen von Menschen auf sich mit »wir« beziehen können. 33 Selbst zwischen Entführer und Entführungsopfer hält Gilbert das Wörtchen »wir« seiner Kernbedeutung nach für anwendbar – allerdings nicht in der von Bratman skizzierten Situation, sondern nur dann, wenn das Entführungsopfer – wenn vielleicht auch unter Zwang – seine Zustimmung zu einem gemeinsamen Tun gegeben hat. 34 Trotz dieses Für ein besonders krasses Beispiel politischer Wir-Rhetorik vgl. die Vision der »WirGesellschaft« der Vorsitzenden der führenden Oppositionspartei der Bundesrepublik Deutschland; zit. in: Der Spiegel Nr. 11 vom 12. 2. 2001, S. 50. 33 Vgl. z. B. Gilbert, Margaret: Agreements, Coercion, and Obligation. In: Ethics 103 (1992–93), S. 679–706. 34 Gilberts Argumentationskette geht vom verpflichtenden Charakter erzwungener Zustimmung weiter zu einer Analyse des »plural subject«-Charakters von Verpflichtung; und »plural subjects« sind nach Gilbert in einer Kernbedeutung des Ausdrucks das, was »wir« meint (vgl. Gilbert 1992/93). In »On Social Facts« betont Gilbert – in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihrer späteren Akzentsetzung – noch vor allem den »voluntary character of plural subjects« und damit die konsensuelle Grundlage des »Wir«; späterhin wechselt der Focus zur Möglichkeit erzwungener Zustimmung (vgl. auch etwa Gilbert 2000, S. 105), bezüglich deren Gilbert eine Extremposition in der entsprechenden Debatte einnimmt. Mir scheint, daß diese Debatte am falschen Gegensatz von indi32
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Dissenses geht damit aber auch Gilbert davon aus, daß zur Wir-Gruppe nur gehört, wer dazu »seine Zustimmung gegeben« hat – unter welchen Umständen die Zustimmung auch zustandegekommen sein mag, die Beteiligten müssen »mit Willen« dabeisein. Mir scheint, daß auch Gilberts Version noch viel zu voluntaristisch ist (was bei ihr mit der unten kritisch zu beleuchtenden »Agreement-Basierung« ihrer Theorie zu tun hat; vgl. dazu § 6). Einmal ganz abgesehen von allen immanenten Konstruktionsproblemen stark voluntaristischer Ansätze, wie sie aus der Geschichte des sozialtheoretischen Denkens sattsam bekannt sind: Eine Theorie des »Wir«-Sagens sollte darauf achten, daß sie jenen besonderen Gebrauch von »wir«, der ontogenetisch in den meisten Gesellschaften wohl primär ist, nicht desavouiert: nämlich der Bezug des heranwachsenden Kindes auf sich und seine Familie! Starke Freiwilligkeitsannahmen (auch wenn sie sich bloß auf »Zustimmung unter Zwang« beziehen) sollte man hier nicht machen. Plausibler scheint deshalb eine schwächere Annahme als die Bratman/Gilbertsche zu sein: Die Annahme, daß jene, die sich auf Gruppen mit »wir« beziehen, unterstellen, daß sich die damit mitgemeinten Anderen unter geeigneten Umständen selbst zur betreffenden Gruppe zurechnen würden (gegeben die entsprechende geistigen Vermögen etc.). Schwächer ist diese Annahme als jene von Bratman und Gilbert schon deshalb, weil nicht jede Selbstzuschreibung ein »freiwilliges Mitdabeisein« unterstellt (man kann sich ja auch einem Zwangsverband selbst als Mitglied zuschreiben), aber umgekehrt jedes »freiwillige Mitdabeisein« so etwas wie eine Selbstzuschreibung impliziert (wer gar nicht weiß, daß er mit dabei ist, ist auch nicht freiwillig mit dabei). Zweitens ist diese Annahme schwächer, weil keine aktuelle Selbstzuschreibung zum Kollektiv unterstellt wird (wie sie in der »Zustimmung« zum Dabeisein bzw. auch dessen »Freiwilligkeit« impliziert ist), sondern nur ein Disponiertsein zu einer solchen Selbstzuschreibung (etwa für den Fall des Befragtwerdens unter geeigneten Bedingungen). Insofern impliziert die durch einen kollektiven Gebrauch von »wir« angezeigte Form sozialer Integration keine starke voluntative Grundlage (was sie etwa mit der Integration familiäre Bande unverträglich machen würde). Trotzdem bleibt der Kerngedanke von Autoren wie Bratman, Gilbert und anderen erhalten: Festgehalten wird damit an der schwächeren Theviduellem freiem Willen und kollektivem Zwang leidet. Zur Kritik von Gilberts »Agreement-basierter« Konzeption des Gemeinschaftshandelns im Ganzen vgl. unten § 6. A
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se, daß das »Wir« über die subjektive Perspektive der Mitgemeinten integriert ist. Und die nächstliegende Interpretation dieser Anwendungsbedingung von »wir« ist die folgende: Ob man sich auf eine Auswahl von Individuen mit »wir« beziehen kann oder nicht, hängt nicht bloß davon ab, ob man selbst sich (korrekt) als zugehörig identifiziert; es hängt auch davon ab, wie die mitgemeinten Anderen sich selbst »sehen« (»sich selbst ›sehen‹« im genannten Sinne einer unter geeigneten Bedingungen explizierbaren Selbstzurechnung gemeint). Kurz gesagt: Wer »wir« sagt, rechnet sich selbst einer Gruppe zu und unterstellt eine ähnliche Selbstzuschreibung bezüglich der anderen Mitglieder. Und das heißt: Wer »wir« sagt, teilt seine epistemische Autorität mit den mitgemeinten anderen: Es kann ihr oder ihm schlechthin nicht egal sein, wie die mitgemeinten Anderen selbst die Dinge sehen. Im »Wir«-Sagen einzelner Individuen schwingt mithin die Stimme aller mitgemeinten Anderen gleichsam im Hintergrund mit; oder, umgekehrt betrachtet: Wer »wir« sagt, leiht immer auch anderen seine Stimme. 35 Diesbezüglich wird im folgenden von der partizipativen Dimension des »Wir«-Sagens gesprochen. Dieser partizipative Zug des »Wir«-Sagens, der direkt die intentionalitätstheoretischen Grundlagen der Ontologie der Gemeinschaft berührt, kann man vielleicht mit dem Begriff »Wir-Bewußtsein« fassen. Was uns zur Wir-Gruppe macht, ist unser individuelles (und wechselseitig unterstelltes) Wir-Bewußtsein. Die Vagheit des Begriffs »Wir-Bewußtsein« ist hier gerade ein Vorteil, soll dieser doch alles mehr oder weniger freiwillige, aktuelle oder habituelle, explizite oder implizite, tatsächliche oder auch nur unter bestimmten Bedingungen mögliche oder als möglich unterstellte individuelle »Sichzurechnen« zur Gruppe (oder »Sichsehen« als Teil der Gruppe) bezeichnen. Lassen wir die nähere Diskussion dieser partizipativen Dimension des »Wir« und ihrer bewußtseinstheoretischer Implikationen an dieser Stelle noch für einen Moment liegen. Besondere Aufmerksamkeit verdient vor der näheren Erörterung des partizipativen Zuges nämlich noch ein anderes, in gewisser Weise gegenläufiges Moment. Wer »Wir« sagt, impliziert nämlich nicht nur eine partiziIn der einschlägigen Literatur wird dieser Zug bisweilen zur These zugespitzt, daß man »wir« in einem gewissen Sinn nur gemeinsam sagen kann; vgl. dazu Margaret Gilberts und Raimo Tuomelas Bemerkungen zum »chorus sense of ›we‹« (Gilbert 1992; Tuomela, Raimo: The Importance of Us. A Study of Basic Social Notions. Stanford 1995). 35
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pative Inklusionsstruktur. Sie oder er tut imgleichen damit noch etwas anderes: Wer »wir« sagt, muß irgendwo eine Grenze setzen, welche die Mitgemeinten (bzw. das Mitgemeinte) von den (oder dem) Ausgeschlossenen scheidet. 36 Auch diese Anwendungsbedingung (Margaret Gilbert spricht vom »specified range constraint«) wird am Verletzungsfall besonders deutlich: etwa am Partygast, der sich spätabends vom Gastgeber höflich mit den Worten »Wirklich schade, daß wir schon gehen müssen!« verabschiedet, auf die naheliegende Nachfrage nach den mitgemeinten Anderen dann aber höchst erstaunt und ahnungslos reagiert und keine Anstalten macht, sich in dieser Sache irgendwie festzulegen. Wer »wir« sagt, muß angeben können, wen (oder was) sie oder er mitmeint und wen oder was nicht; zumindest unterstellen wir ein entsprechendes Wissen im Fall der Standardanwendung von »wir«. 37 Man muß dabei natürlich nicht alle Mitgemeinten kennen; 38 es reicht völlig aus, sie identifizieren zu können (bzw. angeben zu können, was sie als Mitgemeinte kennzeichnet). Wir könnten sonst schwerlich von »uns Westeuropäern« sprechen. Um im obigen Bild zu bleiben: Wessen Stimme dabei mitschwingt, ist in allem »Wir«-Sagen schon spezifiziert. Das bedeutet aber: Die »Wir«-Rede hat nicht nur eine partizipative Dimension; sie hat imgleichen auch eine exklusive Seite. Wer über überhaupt keine wie auch immer abstrakte oder vielleicht auch absonderliche Kriterien verfügt, die erfüllt sein müssen, damit jemand als »Westeuropäer« gilt, der kann sich nicht auf sich selbst und andere im Sinn von »wir Westeuropäer« beziehen. Eine solche Festlegung und Grenzziehung, welcher Art sie inhaltlich auch immer sein mag, ist ein integraler, konstitutiver und als solcher mitgemeinter Bestandteil des »Wir«-Sagens – auch und besonders der politischen »Wir«-Rhetorik – und auch des Wir-Bewußtseins selbst, an welches die »Wir«-Rede appelliert. Die exklusive Seite der »Wir«-Rede ist dabei keineswegs bloß ein heimlicher Schatten oder blinder Fleck des »Wir«-Sagens (ein Eindruck, den man ob der Konzentration auf scheinbar »nichtDiesen ob der partizipativen Dimension des »wir« bisher vernachlässigten Aspekt der Grenzziehung hat jüngst Udo Tietz zum Fokus seiner Analyse gemacht (Tietz, Udo: Die Grenzen des Wir. Eine Theorie der Gemeinschaft. Frankfurt a. M. 2002). Tietz’ Analysen bleiben aber durchweg im Rahmen des linguistischen Paradigmas (siehe zur Kritik des intersubjektivistischen Ansatzes unten § 4). 37 Zum »specified range constraint« vgl. Gilbert 1992, S. 175. 38 Dies ist freilich der für Kleingruppen typische und deshalb in der vorliegenden Studie auch paradigmatische Fall. 36
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exklusive« Wir-Begriffe bzw. deren partizipative Dimension in Teilen der philosophischen Debatte vielleicht gewinnen könnte). Es scheint, daß die Tendenz zur theoretischen Unterbelichtung der exklusiven Struktur des »Wir« (die allerdings keineswegs von allen philosophischen Positionen geteilt wird) mit Vorbehalten gegenüber der Betonung partikularer Wir-Identitäten zu tun hat. Daß das »Wir«-Sagen nicht nur eine partizipative, sondern auch eine exklusive Seite hat, bedeutet indes keineswegs, daß dadurch das »Wir« nun besonders eng gezogen werden sollte. Die Tatsache, daß jedes »Wir« nicht nur eine partizipativ-inklusive, sondern auch eine exklusive Seite hat, bedeutet nicht, daß nun aus konzeptuellen Gründen die meisten Individuen außen vor bleiben müßten. Die exklusive Dimension des »Wir« verhindert nicht, sondern sie ermöglicht erst jene nicht-parochialen, umfassenden Wir-Begriffe, an denen der Gegenwartsphilosophie so gelegen ist. Denn auch wenn das »Wir« einmal als ein universales gemeint ist, also nicht als ein gegen »die anderen« gestelltes partikulares »Wir«, sind Geltungskriterien dafür unterstellt, wer »alle« sind, z. B. alle Menschen, alle Lebewesen o. dgl. Auch ein solches umfassendes »Wir« hat seinen Gehalt nur aufgrund der Geltung der entsprechenden Zugehörigkeitskriterien. Wer »wir« sagt, impliziert zugleich mit einer partizipativen Inklusionsstruktur die Geltung von Zugehörigkeitsbedingungen, von Kriterien, welche gerade uns (und nicht irgendeine andere Auswahl von Individuen) zum »Wir« machen. Diese beiden Momente – Partizipation und Exklusion – bedingen sich wechselseitig und stehen doch gleichzeitig auch in einem Spannungsverhältnis zueinander. Das zeigt sich auch daran, daß sich diese beiden Momente dazu eignen, die verschiedensten geschichtlichen und gegenwärtigen Positionen zur Ontologie der Wir-Gruppe bzw. zur Rolle des Wir-Bewußtseins in einen Zusammenhang zu stellen. Sozusagen als »zusammengehörige Gegensätze« eröffnen dabei die beiden Momente »Partizipation« und »Exklusion« nämlich ein Spektrum, in welches sich viele theoriegeschichtliche und aktuelle Positionen zur Ontologie der Wir-Gruppe einordnen lassen. Zwei elementare Grundweisen des Umgangs mit der spannungsvollen partizipativ-exklusiven Grundstruktur des »Wir« lassen sich dabei unterscheiden. Die erste Position fundiert das partizipative Moment des »Wir« in einer vorgängigen Exklusion; für sie gründet die unterstellte partizipative Selbstzuschreibung in einem vorgängigen Erfülltsein der exklusiven Zugehörigkeitsbedingungen. Die These lautet hier:Wir sehen uns 74
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selbst als »Wir«, weil (und insofern) wir alle die geltenden Zugehörigkeitsbedingungen erfüllen, also etwa alle diese oder jene Qualitäten oder Eigenschaften haben. Die Vorgängigkeit der exklusiven gegenüber der partizipativen Dimension des »Wir« heißt: Diesem Begriff des »Wir« gemäß reflektiert die partizipative Selbstzuschreibung zum »Wir« Merkmale, die in der sozialen Wirklichkeit präexistent (also gegenüber dem partizipativen Wir-Bewußtsein logisch vorgängig) sind; dies können dabei beliebige Merkmale sein, solange sie nur logisch von der Selbstzurechnung zur entsprechenden Gruppe unabhängig sind. 39 Die exklusive »Grenze des Wir« geht diesem Begriff gemäß dem partizipativen Wir-Bewußtsein voraus. Die Spannung von Partizipation und Exklusion wird hier durch hierarchisches Vorordnen der Exklusion (bzw. ein Nachstellen der Partizipation) zu lösen versucht. Gegen diese Fundierung von Zugehörigkeit bzw. Partizipation in Exklusion erhebt ein anderes Verständnis des »Wir« Einspruch. Es legt den Akzent umgekehrt auf die Partizipation und postuliert ein genau gegenläufiges Fundierungsverhältnis von partizipativer und exklusiver Dimension. Nach diesem Verständnis folgen die exklusiven Zugehörigkeitskriterien nämlich ihrerseits der partizipativen Selbstzuschreibung. »Wir«, das sind nach diesem Ansatz im Grunde einfach die, die sich selbst dem »Wir« zugehörig fühlen. Was gerade uns (und nicht irgendeine andere Auswahl von Individuen) zum »Wir« macht, ist nichts anderes als die Tatsache, daß wir uns nun einmal zusammengehörig fühlen. Mehr Exklusion – eine Fundierung in Gegebenheiten, die vom Wir-Bewußtsein unabhängig bestehen – braucht es diesem Verständnis gemäß nicht. Die subjektive Selbstzuschreibung selbst ist es ja, welche die »Grenze des Wir« markiert; die exklusive Struktur des »Wir« liegt dem partizipativen Moment also nicht zugrunde, sondern folgt ihm umgekehrt nach. Im Gegensatz zum »exklusiven« Verständnis des »Wir« kann man hier deswegen vom »partizipativen Wir-Begriff« sprechen. Die Grenzen des »Wir« folgen dem Wir-Bewußtsein, nicht umgekehrt. Das WirBewußtsein schafft die Grenzen des »Wir«, es muß diese nicht in der sozialen Wirklichkeit vorfinden. Hier muß einem Mißverständnis vorgebeugt werden. Mit den Zu denken ist hier bevorzugterweise an »objektivierbare« soziale oder kulturelle Merkmale; s. dazu auch die folgenden, für den »exklusiven« Wir-Begriff exemplarischen Positionen.
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Bezeichnungen »exklusiver« bzw. »partizipativer Wir-Begriff« ist nicht gemeint, daß das exklusive Verständnis des »Wir« die partizipatorische Dimension ignoriert oder umgekehrt der partizipative Begriff einen nicht-exklusiven Wir-Begriff hat. Gemeint ist nur, daß hier (auf der »exklusiven« Seite des Theoriespektrums) dafür gehalten wird, daß die exklusive Struktur dem partizipativen Moment zugrunde liegt, und dort (auf der »partizipativen« Seite des Theoriespektrums), daß umgekehrt das partizipatorische Moment fundamentaler ist als die exklusive Struktur des »Wir«. Dem ersten Begriff gemäß fühlen ja jene sich zum »Wir« zugehörig, die bestimmte (mehr oder weniger objektive) Eigenschaften gemeinsam haben; dem zweiten Begriff gemäß bleiben dagegen nur jene vom »Wir« ausgeschlossen, die sich dadurch selbst ausschließen, daß sie sich selbst nicht dem »Wir« zugehörig fühlen. Mithin geht es zwischen den beiden Wir-Begriffen nicht um ein Entweder-Oder zwischen Partizipation und Exklusion, sondern um die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis dieser beiden Momente. Nach dem exklusiven Wir-Begriff sind Wir-Gruppen typischerweise Schicksalssache, nämlich eine Sache unverfügbarer Vorgegebenheiten, in die Menschen kontingenterweise hineingeraten oder hineinsozialisiert worden sind. Das Wir-Bewußtsein überformt dem exklusiven Begriff nach reflexiv diese vorkonstituierten Bedingungen. Dies ist etwa der Fall, wenn beim frühen Marx aus einer Masse eine Klasse wird. Den Klassen – den nach Marx entscheidenden gesellschaftlichen Gruppen – liegt ein »objektives«, nach Marxens berühmter Formel vom Bewußtsein und den subjektiven Einstellungen der Betreffenden unabhängiges Merkmal zugrunde, nämlich das Verhältnis zu den Produktionsmitteln. 40 Aber diese vorkonstituierte, »objektive« Exklusionsstruktur konstituiert – zumindest nach dem frühen Marx – noch nicht die Klasse selbst. Klassen sind nicht bloß »große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln«, wie Lenin sie definiert. 41 Klasse, so würde nämlich zumindest der frühe Marx sagen, ist nämlich nicht Masse. Nur die letztere, nicht aber die Vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie [1859]. Berlin 1951, S. 13. Lenin zit. in: Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Georg Klaus und Manfred Buhr. Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 10 1983, S. 618.
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Klasse, besteht schon allein dadurch, daß das Kapital im Prozeß der Industrialisierung eine »Menge einander unbekannter Leute« unabhängig von deren Bewußtsein in dieselbe deprivierte Situation bringt 42 ; im Unterschied zur Masse ist die Klasse nicht rein aufgrund objektiver Faktoren, aus der Perspektive der dritten Person und ohne jedes Anknüpfen an die Akteurperspektive zu ermitteln. Selbst wenn vom unbeteiligten Standpunkt aus so etwas wie »objektive Interessen« klar feststellbar sein sollten: daß ein Aggregat von Proletariern in derselben deprivierten Situation stehen, daß mithin alle einzelnen Menschen dieses Aggregats dasselbe objektive Interesse haben, macht das Proletariat nach Marx bloß zur Masse und noch keineswegs zur gesellschaftliche Klasse im vollen dialektischen Sinn. Zur Klasse in diesem Sinn gehört nämlich mehr als bloß eine Selbigkeit von Situation (und allenfalls »objektivem« Interesse), nämlich »eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen«. 43 Diese »Gemeinsamkeit« mag ja vielleicht die genannte »Selbigkeit« voraussetzen. Die Gemeinsamkeit der Situation bestünde insofern im Grunde in einer Gleichheit der Lage. Doch was allen gleichermaßen zukommt, haben noch nicht alle gemeinsam. Das Ansichsein der Klasse, wie Marx es später nennt, ist bloß ein Mittelglied auf dem dialektischen Weg von der Masse zur »Klasse für sich«. Das »Zusammenfinden«, die »Konstitution« der Masse als Klasse für sich selbst sieht Marx unter organisatorischen Aspekten, als »Organisation«, als »Koalition«, als »Vereinigung durch die Assoziation«. 44 Über diese »Gemeinsamkeit« in Situation und Interesse definiert, beschreibt »Klasse« kein bloß objektives Verhältnis zu den Produktionsmitteln mehr, sondern etwas, was das Kollektiv auf der objektiven Grundlage über das Gegebensein dieser Grundlage hinaus (bzw. in dialektischer Auseinandersetzung zu ihr) noch bestimmt. Das Fürsichwerden der Klasse entspringt der Fähigkeit der Menschen, ihrer gemeinsamen objektiven Situation bewußt zu werden und sich zu gemeinsamem Handeln zusammenzufinden. Der Schritt von der Masse zur fürsichseienden Klasse ist insofern der Schritt von einem bloßen Aggregat zu einem intentional wirklichen »Wir«, einer Wir-Gruppe, einem Wir-Bewußtsein. Die marxistische Theorieperspektive zielt auf dieser Linie durchaus nicht mehr auf das ideologiekritisch-diagnostische 42 43 44
Marx, Karl: Die Frühschriften. Hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, S. 522. Marx 1953, S. 522; Herv. von mir. Vgl. Marx 1953, S. 535, 522, 538. A
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»Durchschauen« der objektiven Lage, für welches Marx berüchtigt ist. Die Theorie adressiert auf dieser Ebene vielmehr »eine Menge einander unbekannter Leute« im Namen der Aufhebung des atomisierten, anonym-vermassten Aneinandervorbeilebens, im Namen von deren Wir-Identität als Klasse: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Mithin geht es hier um den Appell zur Konstitution einer Wir-Gruppe innerhalb einer vorkonstituierten Exklusionsstruktur, welche im Sinne des exklusiven Wir-Begriffs der Selbstzuschreibung ermöglichend vorausliegen soll. Dasselbe Schema – Konstitution der Wir-Gruppe durch partizipative »Überformung« der in der sozialen Wirklichkeit (ganz unabhängig vom Wir-Bewußtsein) schon vorfindlichen »Grenzen des Wir« – findet sich auch in inhaltlich ganz anders gelagerten Beispielen. In der Theorie des »Clash of Civilizations« 45 werden mehr oder weniger objektive kulturelle Merkmale als Zugehörigkeitsbedingung zum »Wir« postuliert. Laut Samuel P. Huntingtons These sind die »civilizations« – die »Kulturen« – die bestimmenden Größen der kommenden Gesellschaft. 46 »Kultur« definiert Huntington dabei zunächst, auf der grundsätzlichen Ebene, über ein set von mehr oder weniger objektivierbaren Kriterien, wozu etwa Sprache und Religion gehören. Es liegt insofern nicht (oder doch nur höchst indirekt und beschränkt, nämlich vermittelt über langwierige Enkulturationsprozesse) im individuellen Belieben, zu welcher Kultur man gehört. Zugehörigkeit ist auch hier ein subjektiv letztlich unverfügbares Element. Nach Huntingtons Verständnis läuft die Integrationskraft von Kulturen aber nicht über das objektive Vorliegen kultureller Merkmale allein; erst dadurch, daß diese Merkmale als »Unterscheidungsmerkmale« bewußt erlebt entwickeln, werden die Kulturen zu den gesellschaftlich bestimmenden Größen, zu denen sie nach Huntington gegenwärtig immer mehr werden. Kulturen wirken nicht unabhängig von den subjektiven Einstellungen bzw. im Rücken der Individuen, vielmehr verdankt sich ihre Rolle der Tatsache, daß sich Individuen mit ihrer Kultur identifizieren, und dazu gehört mindestens, daß sie sich selbst ihrer Kultur zuschreiben. Aber – und das ist Ursprünglich als Aufsatz erschienen in: Foreign Affairs 1993 (summer issue), S. 22– 49. 46 Zur Übersetzung von »civilization« als »Kultur« vgl. das Kapitel »Zur Soziogenese der Begriffe Zivilisation und Kultur« in: Elias, Norbert: Der Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Basel 1939, S. 1–64. 45
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der clou dieser Konzeption – diese Selbstzuschreibung richtet sich eben nach davon im Grunde unabhängigen Gegebenheiten. 47 Der Begriff des »civilization-consciousness«, der ähnlich wie Marxens Lehre vom Unterschied zwischen Masse und Klasse genau diese partizipatorische Selbstzuschreibungs-Struktur auf exklusiver Grundlage bezeichnet, spielt in Huntingtons Argumentation eine ganz zentrale Rolle; 48 in der Buchversion seines Aufsatzes definiert Huntington die »civilizations« selbst denn konsequenterweise auch als das »umfassendste ›Wir‹«, wie es sich unter dem gegenwärtigen Globalisierungsdruck innerhalb der Grenzen der einzelnen Kulturräumen etabliert. 49 »Kulturen« bestehen als die bestimmenden Größen des Sozialen nicht schon aufgrund der relevanten Unterschiede, die im Stile von Sprachräumen die Grenzen der Kulturen festlegen; vielmehr bedarf es dazu der Identifikation mit der eigenen Kultur; dann erst (nämlich aufgrund der daraus resultierenden »Politisierung« der Kulturräume) kann es zu Huntingtons berüchtigtem »clash of civilizations« kommen, denn erst jetzt heißt es: »›us‹ versus ›them‹« 50 , wobei diese Form kollektiver Identität insofern besonders rigid und kristallin ist, als es zwischen den kulturellen Identitäten kaum Mobilität gebe: Einmal in einer Kultur sozialisiert, bleibt die entsprechende Kulturzugehörigkeit erhalten. Auf dieser Linie polemisiert Huntington dann auch mit Vehemenz gegen die These von der »universellen Zivilisation«. 51 Beim Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde, der hier als letztes Beispiel für den exklusiven Wir-Begriff angeführt werden soll, findet sich dieses Argumentationsschema in etwas abgemilderter Form; bei aller Moderation bleiben die typischen Züge allerdings sichtbar. Böckenförde argumentiert in seinen demokratietheoretischen Überlegungen, daß soziale Integration und die demokratische Vgl. dazu etwa Huntingtons Definition von »Identity« in ders. 2004, S. 21: »Identity is an individual’s or a group’s sense of self. It is a product of self-consciousness, that I or we possess distinct qualities as an entity that differentiates me from you and us from them. A new baby may have elements of an identity at birth in terms of a name, sex, parentage, and citizenship. These do not, however, become part of his or her identity until the baby becomes conscious of them and defines itself in terms of them« (meine Herv.). 48 Vgl. Huntington 1993, S. 25; 27; 48 f. 49 Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München 1996, S. 54. 50 Huntington 1993, S. 29. 51 Huntington 1993, S. 40 f. 47
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Selbstbestimmung einer Gruppe so etwas wie »kulturelle Homogenität« zur Voraussetzung habe. 52 Kulturelle Merkmale sind dabei als solche verstanden, die schon vorpolitisch bestehen. Allerdings reicht »kulturelle Homogenität« per se nicht aus. Wenn Böckenförde in seiner Analyse der gegenwärtigen Situation dennoch nicht irgendwelche kulturelle Merkmale, sondern explizit das »Wir-Bewußtsein« als entscheidendes Moment der sozialen Integration bezeichnet, so trägt dieses Integrans durchaus Züge der partizipativen Selbst- und Fremdzurechnung; aber gleichzeitig soll dieses Wir-Bewußtsein nach Böckenförde in nichts anderem als einem reflexiven Nachvollzug vorgängig bestehender »Gleichartigkeit« bestehen – einer partizipativen Überformung von unverfügbaren, vorpolitischen und unverrückbaren kulturellen »Gegebenheiten«. Die exklusive Struktur des »Wir« fundiert somit auch hier das partizipative Moment. Die damit in Anschlag gebrachten Zugehörigkeitsbedingungen will Böckenförde dabei als genau jene verstanden wissen, nach denen sich Nationen voneinander differenziert haben. Das exklusiv-partizipative »Wir« von Böckenfördes »Wir-Bewußtsein« ist die Nation. Auch und gerade in der Zeit der Globalisierung, so Böckenfördes theoriegeleiteter Befund, habe sich die politische Struktur sozialer Integration mithin an die nationalen Grenzen zu halten. Über die riesigen inhaltlichen Unterschiede zwischen Konzeptionen wie Marxens Klassenbewußtsein, Huntingtons »civilization consciousness« und Böckenfördes »Wir-Bewußtsein« hinweg spannt sich mithin ein identisches Konstruktionsprinzip. Ob nun auf der Grundlage der objektiven ökonomischen Verhältnisse eine Klasse zu ihrem »Fürsichsein« kommt oder sich aus einem Aggregat von Menschen, die alle identische kulturelle Merkmale tragen, etwas Gemeinsames – eine Nation oder ein kulturelles »Wir« – bildet: Auf der Grundlage und unter Voraussetzung von gleichen objektiven Bedingungen entsteht nach allen diesen Konzeptionen (wie auch nach weiteren Spielarten des exklusiven Wir-Begriffs) durch einen kognitiven Selbst- und Wechselbezug so etwas wie eine intentionale Gemeinschaft. Aus objektiver Gleichheit wird dadurch subjektive GemeinBöckenförde, Ernst-Wolfgang: »Die Zukunft politischer Autonomie«, in: ders.: Staat, Nation, Europa. Frankfurt a. M. 1999, S. 103–126, hier S. 110; den Begriff der »Homogenität« eigentlich überflüssig macht Böckenförde, wenn er seine konservative Analyse liberal dreht, indem er aufgrund der Homogenitätsanforderung »Einordnensbereitschaft« verlangt – aber nur so weit, wie sie in einer »Toleranzkultur« erforderlich ist.
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samkeit. Das Wir-Bewußtsein reflektiert dabei die Zugehörigkeitsbedingungen – es vermag sie nicht zu schaffen. Das Wir-Bewußtsein (bzw. dessen partizipatorische Dimension) bleibt hier somit gleichsam zweitrangig. Wir-Bewußtsein ist dem exklusiven Begriff des »Wir« gemäß zwar durchaus ein integraler Bestandteil sozialer Integration. Aber sie ruht auf einem Fundament auf, welches ihm letztlich unverfügbar bleibt. Das macht das gleichsam »Konservative« des exklusiven Wir-Begriffs aus. Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit ist dadurch letztlich eine Sache unverfügbarer Vorgegebenheiten; unsere kollektive Identität wird dadurch gleichsam an die Kette eines Schicksals gelegt. Die partizipatorische Lesart des »Wir« sieht die Dinge ganz anders. Sie dreht die exklusive Konstruktion, wie sie sich bei Marx, Huntington oder Böckenförde findet, gleichsam um. Dadurch kann sie gegenüber der exklusiven Konzeption dem subjektiven Moment, der im Wir-Bewußtsein liegenden Spontaneität eine ungleich prominentere Rolle einräumen. Daß Menschen sich als »Wir« sehen und gemeinsam handeln können, ist nach dieser Lesart keine Schicksalssache und setzt keine vorkonstituierten, unverfügbaren Bedingungen voraus. Der partizipative Begriff ist diesbezüglich offener und gleichsam optimistischer. Menschen können sich, so die These, auch über weiteste soziale Distanzen hinweg zum »Wir« finden. Denn das »Wir« braucht diesem Begriff nach gar kein objektives exklusives Fundament. Die Grenzen des »Wir« müssen nicht »je schon« festliegen; sie werden im Wir-Bewußtsein selbst entweder ganz spontan oder projektiv erst aktiv gezogen und sind insofern in Leben, Lieben und bewußtem Selbstsein disponibel. Das Wir-Bewußtsein reflektiert dem partizipativen Begriff zufolge keine vorkonstituierten Zugehörigkeitsbedingungen – es schafft sie erst. Paradigmatisch für den partizipativen Wir-Begriff sind naheliegenderweise nicht die fixen, durch objektive Merkmale abgegrenzten gesellschaftlichen Formationen wie »Klasse«, »Ethnizität« oder »Nationalität«, von denen der exklusive Wir-Begriff seinerseits typischerweise ausgeht. Es ist vielmehr das spontane Sichfinden zum gemeinsamen Sein und Tun, wie es sich situativ und ganz alltäglich ergibt – durchaus auch über bisweilen recht weite objektive soziale Distanzen hinweg. Die Exklusionsfrage – was macht gerade uns (und nicht irgendeine andere Auswahl von Individuen) zur Wir-Gruppe – wird ja in diesem partizipativen Verständnis nicht mit dem Hinweis auf irgendwelche externe, präkonstituierte Vorgaben beantwortet, sondern mit dem Hinweis A
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auf das Wir-Bewußtsein der Mitglieder selbst. Das partizipative Moment des »Wir« selbst sei es nämlich, welches das Zugehörigkeitskriterium darstelle. Statt die partizipative Struktur des »Wir« von der Exklusion her zu deuten, wird hier also genau umgekehrt die Exklusivität des »Wir« in seiner Partizipativität fundiert. Ein schönes Beispiel für diese Verhältnisregelung, findet sich etwa in Robert B. Brandoms Analyse des »saying ›we‹«, der Ausgangsfrage seines philosophischen Großunternehmens. 53 Diese führt ihn direkt hin zur Exklusionsfrage, zur Aufgabe der Festlegung der »Grenzen des Wir«. Brandom artikuliert dabei genau jene Bedenken, die sich angesichts der oben besprochenen exklusiven Verhältnisregelung sofort regen müssen. Die konstitutiv in allem »Wir«-Sagen liegende Abgrenzung, die Konzentration auf das exklusive Moment des »Wir«, könnte nach Brandoms (für die Gegenwart so typischer) Befürchtung leicht ausarten in eine »mean-spirited version of the demarcational enterprise«, nach welcher es um die Abgrenzung einer eng gezogenen kollektiven Identität aufgrund rein akzidentieller Merkmale geht. 54 Die Philosophie, so Brandom, soll sich die Aufgabe setzen, uns zu einem möglichst weiten, nicht-parochialen Selbstverständnis zu verhelfen, zu einem »Wir«, welches nicht auf »adventitious stigmata« gegründet ist, also die präkonstituierten Zugehörigkeitskriterien wie etwa die Herkunft, deren sich der exklusive Begriff bedient. Die Grenzen des Wir, meint Brandom, hierin direkt gegen den exklusiven Wir-Begriff gewandt, liegen nicht einfach fest: Sie sind durchaus disponibel. In der Bildung des grundlegenden Begriffs des »Wir«, welches wir sind, sollen wir uns Brandoms Empfehlung gemäß nach dem richten »what we are able to do, rather than where we come from or what we are made of« – das »Wir« soll diesem partizipativen Begriff nach nicht Schicksalssache sein, sondern im Bereich des spontaner Aktivität und Projektion einer gemeinsamen Identität Disponiblen liegen. Auf dieser Linie meint Brandom denn auch: »What we are is made as Die Frage nach dem »Wir« bildet den Ausgangs- und Schlußpunkt von Brandoms »Making It Explicit«. An die Stelle der egologischen Selbstanalyse des »Ich« tritt so etwas wie die nostrologische Perspektive: die Aufgabe seines philosophischen Ansatzes bestimmt Brandom als »making explicit to ourselves who we are« (Brandom, Robert B.: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment. Cambridge Mass. 2 1998, S. 3) – das »It« im Buchtitel, betrifft wesentlich ein »Wir«. Dabei geht Brandom, entgegen der mentalistischen »philosophy of mind« nach wie vor dem »linguistischen Paradigma« verbunden, von einer Analyse des Wir-Sagens aus. 54 Brandom 1998, S. 4. 53
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much as found, decided as well as discovered« – und, noch deutlicher: »The sort of thing we are depends, in part, on what we take ourselves to be«. Insofern zeigt sich bei Brandoms Beantwortung der Exklusionsfrage (was macht gerade uns zum »Wir« – und nicht irgendein anderes Aggregat von Individuen?) eine für den partizipativen WirBegriff typische Selbstbezüglichkeitsstruktur. Das »Wir« ist Einstellungssache. »Wir«, das sind zunächst in formaler Hinsicht einfach die, die sich für einen von »uns« halten. In Brandoms Worten: »We think of ourselves as the ones who say ›we‹«. Mit dem Hinweis auf diese Struktur sei, wie Brandom gleich nachschiebt, natürlich noch keinerlei inhaltliche Bestimmung dessen, was wir sind, geleistet. Aber für alles Weitere in Brandoms Analyse ist gerade diese rein formale Selbstbezüglichkeitsstruktur wesentlich – die Struktur, die sich daraus ergibt, daß hier das konstitutive exklusive Element des »Wir« im partizipativen Charakter fundiert und von diesem letztlich absorbiert wird. Die »Grenzen des Wir« sind nicht durch ein äußerliches Schicksal und unverfügbare Vorgegebenheiten gezogen; sie trennen hier einfach jene, die sich zugehörig fühlen, von jenen, die sich nicht zugehörig fühlen. Anderer Zugehörigkeitskriterien bedürfe es (idealerweise) nicht. 55 Der partizipative Begriff wirkt gegenüber dem exklusiven damit offen, dynamisch und flexibel, kurz: einfach liberaler und moderner als der konservative exklusive Begriff. Das unverfügbare Schicksal wird als Zugehörigkeitskriterium durch die spontane Selbstzurechnung abgelöst. Niemand wird ausgeschlossen als jene, die sich selbst ausschließen, weil sie sich dem Kollektiv selbst nicht zurechnen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich indes ein etwas anderes Bild. All diese freundlich-offenen, liberalen Aspekte können nämlich nicht verdecken, daß der partizipative Begriff seinerseits gravierende Konstruktionsprobleme mit sich bringt – und zudem Probleme, welche umgekehrt der exklusive Ansatz erfolgreich vermeidet. Der partizipative »Wir«-Begriff mag zwar recht haben, wenn er gegen den exEin radikaler Ausdruck findet diese Tendenz etwa bei David A. Hollinger: The Postethnic America. Beyond Mutliculturalism. New York 1995. In seinem Plädoyer für ein inklusiveres »national american ›we‹« (ebd. S. 171) tritt er gegen »descend-defined categories« ethnisch-kultureller Zugehörigkeit und für die »freedom of individual affiliation« ein (ebd. S. 165 f.). Im Vorfeld der Volkszählung in den Vereinigten Staaten des Jahres 2000 hat er sich, ganz auf dieser Linie, dafür stark gemacht, die ethnische Identität der Befragten nicht wie üblich über die Frage nach der Herkunft, sondern über die individuelle Selbstzuschreibung zu erheben.
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klusiven Begriff seinen Akzent darauf legt, daß die Grenzen des Wir nicht schon vorgängig feststehen müssen, wenn Menschen sich zu Wir-Gruppen formieren. Gemeinschaftsbildende Lebewesen sind wir nicht bloß durch unseren sozialen Ort, unsere Herkunft und durch andere kontingente, mehr oder weniger objektive Merkmale, sondern auch (und ganz besonders) durch das, was wir selbst tun, denken und fühlen, und in diesen Bereich unserer Autonomie gehört unsere Fähigkeit, uns über Merkmalsunterschiede hinweg zusammenzufinden und zu Gruppen zu verbinden. Recht hat der partizipative Wir-Begriff damit als Kritik eines Defizits seines exklusiven Widerparts. Das allein macht ihn aber als Alternativansatz noch nicht erfolgreich; es beweist nicht für seine eigene Theorie dessen, was gerade uns (und nicht irgendeine andere Auswahl von Individuen) zum »Wir« macht. Dem partizipativen Begriff fehlt nämlich, wie sich bei näherem Hinsehen gleich zeigen wird, eine überzeugende positive Theorie der »Grenzen des Wir«. Wenn nämlich diese Grenzen auch tatsächlich nicht von vornherein feststehen müssen, wie dies der exklusive Begriff meint, können wir sie andererseits genausowenig durch bloßes »Wir«-Sagen oder durch ein bloßes herbeireden oder in projektivem Wir-Bewußtsein herbeidenken, wie dies die scheinbar so freundlich-liberalen, offenen Theorien des »Wir« bisweilen darstellen. Der sozialphilosophische Idealismus, wie man ihn vielleicht nennen könnte, funktioniert als Kritik, versagt aber als Theorie. In der aus einer liberalen Perspektive sicherlich sympathischen und sachlich auch richtigen Abwehr der »mean-spirited version of the demarcational enterprise« (Brandom), welche auf unverfügbare Zugehörigkeitskriterien rekurriert, wird leicht übersehen, daß die Gruppenzugehörigkeit andererseits auch nicht einfach Sache eines individuellen »Selbstbildes« bzw. reflexiver und wechselseitiger Zurechnung ist. Wenn wir auch tatsächlich die sein mögen, die sich selbst dem »Wir« zurechnen, so tun wir das nämlich keineswegs »einfach so«, sozusagen nach unserem freien individuellen Belieben. Es liegt etwas letztlich Unverfügbares im »Wir«. Den für den partizipativen Wir-Begriff typischen Deutungen des amerikanischen »we, the people« gegenüber haben die Vertreter der »politics of identity« zu Recht genau hierauf ihren Finger gelegt. Gegen die älteren Visionäre des »melting pot« und die jüngeren Optimisten des »achieving our country« 56 kann ein Ideologieverdacht gelRorty, Richard: Achieving Our Country. Leftist Thought in Twentieth-Century America. Cambridge Mass. 1999.
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tend gemacht werden: Die Projektion der großen Solidarität ignoriert die tatsächliche Spaltung in partikulare Wir-Gruppen, der gegenüber das umspannende »Nationalbewußtsein« wie bloßer Schein bzw. eben wie ideologische Verschleierungsrhetorik wirkt. Wie man sich zu dieser speziellen Frage auch stellen mag: Jedenfalls zeigt sich an Kontroversen wie diesen ein Konstruktionsproblem des partizipativen Wir-Begriffes bzw. des sozialphilosophischen Idealismus. In der konstitutiven Begrenztheit noch des umfassendsten »Wir« liegt etwas, was sich dem partizipationsorientierten (oder –fixierten) Blick systematisch entzieht, und worauf der exklusive Wir-Begriff zu Recht großes Gewicht legt: Es liegt etwas im »Wir«, was unserem Meinen und Wünschen, unserem wir-bewußten, reflexiven und reziproken »Uns-für-Mitglieder-Halten« und der autonomen Projektion solidarischen Wir-Seins unverfügbar ist – und worauf sich unser Meinen stützt, wenn wir uns selbst für einer Gruppe zugehörig halten. Beide Seiten, die »idealistische« wie die »realistische«, scheinen insofern gegeneinander recht zu behalten. Wie man nun das Verhältnis von Partizipation und Exklusion auch immer dreht: Es gibt immer Grund, es gerade umgekehrt zu wenden. Gleichsam ein ferner Spiegel des daraus resultierenden Oszillierens, welches seitdem unser gegenwärtiges Denken über kollektive Identität über weite Strecken bestimmt, läßt sich bei jenem fast vergessenen Pionier der Sozialwissenschaften finden, aus dessen Werk Georg Simmel seine eingangs zitierte, bis in die Gegenwart hinein so folgenreiche und oft rezipierte Theorie der sozialen Einheit gezogen hat: beim Völkerpsychologen Moritz Lazarus, genauer in dessen Theorie des Volksgeistes, der im Zentrum seiner Theoriebemühungen steht. 57 Dieses historische Lehrstück in Sachen »Konstruktionsprobleme kollektiver Identität« ist so bezeichnend, daß es an dieser Stelle wenigstens in groben Zügen skizziert werden soll. 58 Zunächst mag überraschen, daß sich unZu den völkerpsychologischen Wurzeln des Simmelschen Ansatzes vgl. Köhnke, Klaus Christian: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Frankfurt a. M. 1996, insbes. S. 386 ff. Eine etwas zurückhaltendere Einschätzung von Simmels völkerpsychologischen Wurzeln findet sich bei Canto i Mila, Natalia: The Legacy of an Extinguished Discipline. On the Intellectual Relationship between Moritz Lazarus and Georg Simmel and the Influence of the Psychology of Nations on the Constitution of Sociology. In: Simmel Studies 12 (2002), S. 263–280. 58 Vgl. die eingehendere Darstellung in Schmid, Hans Bernhard: »Volksgeist« – Individuum und Kollektiv bei Moritz Lazarus. In: Dialektik – Zeitschrift für Kulturphilosophie 16 (2005b), S. 157–170. 57
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ter dem nicht ohne Grund so verfemten Titel des »Volksgeistes« überhaupt so etwas Harmloses wie eine Konzeption sozialer Einheit aus reflexiv-reziproker Zurechnung verbergen soll. In Moritz Lazarus’ Konzeption – diesem sehr eigenständigen Kapitel in der oft tatsächlich eher düsteren Geschichte des Volksgeistdenkens – ist dies durchaus der Fall. Der Volksgeist wird hier zunächst als das bestimmt, »was die Vielheit der Individuen zu einem Volk macht«. 59 Er schwebt insofern nicht über den Köpfen, sondern ist das »innere Band« zwischen den Menschen. 60 Überhaupt »ist« das Volk nicht, es wird vielmehr; es hat nach Lazarus von vornherein nicht substanzsondern prozeßhaften Charakter. 61 Und der betreffende Prozeß sei, so Lazarus weiter, eben eine Konstitution nicht aus der Beobachter-, sondern aus der individuellen Teilnehmendenperspektive. Lazarus denkt hier an das, was oben »Wir-Bewußtsein« genannt wurde: »Volk ist ein geistiges Erzeugnis der Einzelnen, welche zu ihm gehören« 62 , und zwar entsteht es durch ein reflexives Selbstverhältnis, in dem sich die Individuen selbst als Mitglieder des Volks auffassen. Lazarus entwickelt diesen Gedanken in einer programmatischen Passage seines Werks, die er für so zentral gehalten hat, daß er sie noch zwanzig Jahre später fast wörtlich wiederholt hat. Der zentrale Satz davon lautet: »Das, was ein Volk zu eben diesem macht, liegt (…) in der subjectiven Ansicht der Glieder des Volks, welche sich alle als ein Volk ansehen. Der Begriff Volk beruht auf der subjectiven Ansicht
Lazarus, Moritz/Steinthal, Heyman: Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft Bd. 1 (1860), S. 1–73, hier S. 29. 60 Lazarus 2003, S. 12. 61 Lazarus 1860, S. 27; die Insistenz auf dem prozeduralen Charakter des Volksgeistes verbindet sich bei Lazarus mit der Gegenwendung zum Ansatz bei einer »Volksseele«. Die Völkerpsychologie hat keine kollektive »Substanz« zum Gegenstand, sondern bloß ein »Tätigsein«; »wenngleich nun aber auch eine Substanz des Volksgeistes, eine substanzielle Seele desselben nicht erfordert wird, um die Gesetze seiner Tätigkeit zu begreifen, so müssen wir doch jedenfalls den Begriff des Subjects als einer bestimmten Einheit feststellen, um von ihm etwas prädiciren zu können« (Lazarus 2003, S. 11). In terminologischem Gegensatz zu Lazarus bestimmt Wilhelm Wundt den Gegenstand der Völkerpsychologie als »Volksseele«, weil diese im Unterschied zum bloßen Geist etwas Verkörpertes sei (etwa in Artefakten; vgl. Wundt, Wilhelm: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte. Erster Band: Die Sprache. Erster Theil. Leipzig 1900, S. 7). 62 Lazarus 1860, S. 36; vgl. ders. 2003, S. 89. 59
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der Glieder des Volks selbst von sich selbst«. 63 Das Volk ist also nicht etwa Sache einer irreduziblen kollektiven Substanz. Unter dem Titel des »Volksgeistes« geht es bei Lazarus um nichts anderes als um einen Prozeß individueller Selbstinterpretation der einzelnen Beteiligten. Man kann deshalb das, was Lazarus mit »Volk« meint, ohne weiteres mit dem gegenwärtig gängigen Ausdruck von Benedict Anderson benennen: Das Volk ist bei Lazarus nichts anderes als eine »imagined community«, und der Volksgeist näher besehen bloß der Prozeß dieser reflexiven »Imagination«. 64 Soweit die Konzeption, welche Simmel mit seinem sozialontologischen Ansatz beim individuellen »Einheitsbewußtsein« reformuliert hat. Entscheidend ist nun, daß Lazarus diesem Ansatz in einem ersten Schritt eine dezidiert partizipative Richtung gibt. Die Theorie dieser einheitskonstitutiven Selbstinterpretation wird nämlich zunächst in expliziter Gegenwendung zum Ansatz bei objektiven, unverfügbaren Vorgegebenheiten entwickelt. Was die Individuen zu einem Volk macht, sei eben eine Sache dieses Zugehörigkeitsbewußtseins – und nicht eine Sache der gemeinsamen Herkunft, »getheilter Geschichte« bzw. Abstammung, nicht Sache gemeinsamer Sitten, Religion und Sprache, »gleicher Art der Wohnung«, ja nicht einmal primär eine Sache territorialen Zusammenlebens 65 bzw. des »gemeinsamen Wohnsitzes« 66 . Anhand von Beispielen wird gezeigt, daß derlei (also ethnische, kulturelle, sprachliche, historische oder religiöse Homogenität) weder hinreichend noch überhaupt notwendig ist. Lazarus hat auf den Spielraum abstammungsmäßiger, religiöser und auch sprachlicher Vielfalt immer größtes Gewicht gelegt. Dies schon im Kontext seiner Grundlegung der Völkerpsychologie, besonders aber auch zwanzig Jahre später im Rahmen seiner Intervention zum sogenannten »Berliner Antisemitismusstreit«. Unter dem Titel »Was heißt national?« wiederholt er hier die früheren programmatischen Überlegungen zur Ontologie des Volksgeistes; die genannten Überlegungen zur Rolle der Vielfalt im Volksgeist erhalten hier ein ganz besonderes Gewicht. Auf diese allgemeine, eine monolithische Lazarus 1860, S. 34 f.; vgl. 2003, 88 sowie ders.: Was heißt national? Berlin 1880, insbes. S. 5–18 64 Vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 2 1991, S. 6. Zu Anderson vgl. die Bemerkungen unten in § 3. 65 Lazarus 1880, S. 7 ff. 66 Lazarus 2003, S. 87. 63
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Nationalitätskonstruktion aufbrechende Linie gehört es auch, wenn Lazarus die Möglichkeit mehrfacher Volkszugehörigkeiten der Einzelnen betont. 67 Im Hintergrund dieser Position schwingt auch die These mit, daß eine Vielfalt von Zugehörigkeit in sich wechselseitig ansonsten nicht enthaltenden Gruppen nicht nur überhaupt möglich, sondern für die menschliche Individualität geradezu wesentlich ist 68 – ein Motiv, dem später Lazarus’ Schüler Georg Simmel unter dem Titel der »Kreuzung socialer Kreise« 69 zu einer beachtlichen Karriere verholfen hat. Insofern steht Georg Simmels Theorie der sozialen Einheit – und über ihn vermittelt etwa noch Margaret Gilberts gegenwärtig so intensiv diskutierte Theorie des »plural subject« – in der direkten Erbfolge des Volksgeistdenkens; aber eines Volksgeistes, welcher schon durch das pluralistische und subjektivistische setting bei Lazarus für uns einiges von seinem Schrecken zu verlieren scheint. Der Volksgeist läuft hier nicht der Überzeugung zuwider, daß es die Individuen und ihre Intentionen sind, welche die Substanz der Gesellschaft ausmachen. Er beschränkt nicht die individuelle Autonomie, sondern hat in der subjektiven Haltung der Individuen ja gerade seine Wurzel. Und mehr noch: Dadurch, daß Lazarus das reflexiv-reziproke »Volksbewußtsein« zunächst nicht an irgendwelche Vorgegebenheiten bindet, hat dieser Begriff nichts Exklusives mehr an sich. Er hat vielmehr ein partizipatives, ja man möchte fast sagen: ein liberal-kommunitäres Flair. Der Volksgeist scheint deshalb auch niemanden auszuschließen als jene, die sich selbst ausschließen, indem sie sich selbst nicht als dem Volk zugehörig betrachten. Der Volksgeist, so könnte man Lazarus paraphrasieren, ist eine Sache der Kultivierung unseres gemeinsamen Selbstverständnisses. Deshalb steht er nie von vornherein fest, er ist nichts schicksalshaft Vorgegebenes, sondern ist im Rahmen reflexiver Neuinterpretation jederzeit wandelbar. Damit entspricht das, was Lazarus »Volksgeist« nennt, einem in der gegenwärtigen Literatur sehr verbreiteten, unten näher zu besehendem Verständnis kollektiver Identität. Nach diesem steht »kollektive Identität« für die »Fähigkeit von Individuen, sich auf der Grundlage eines reflektierten Selbstverhältnisses immer neu als
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Lazarus 1880, S. 17. Vgl. etwa Lazarus 2003, S. 50. Simmel 1983 [1908], Kap. VI, S. 305–344.
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die Gemeinschaft zu bestimmen, die man ist und die man sein will«. 70 Es erstaunt wenig, daß dieser Zug seines Ansatzes beim Versuch, Lazarus via Neuedition seiner fast ein Jahrhundert währenden Vergessenheit zu entreißen, ins Zentrum gerückt worden ist. 71 Trotz des verfemten labels wirkt der Volksgeist hier überraschend aktuell, ja anschlußfähig. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Lazarus selbst ist nämlich auf einige (im folgenden Paragraphen näher zu besehende) Konstruktionsprobleme dieses Ansatzes selbst aufmerksam geworden, und indem er sie zu beheben versuchte, geriet er, wie gleich zu sehen sein wird, unversehens in ein exklusives Fahrwasser. Lazarus fügt zu seiner Definition des Volks als »eine Menge von Menschen, welche sich für ein Volk ansehen« scharfsinnig bei, daß sie einen »logischen Fehler« enthalte. 72 Wenn Individuen sich reflexiv dem Kollektiv zurechnen, dann tun sie das, weil sie davon ausgehen, tatsächlich ein Mitglied des Kollektivs zu sein, setzen also die Zugehörigkeit geltungslogisch voraus. Das reflexive »Selbstbewußtsein des Kollektivs« (welches bei Lazarus für das reflexiv-reziproke Wir-Bewußtsein steht) kann das Kollektiv nicht aus sich selbst herausspinnen; es bleibt als individuelles Bewußtsein vom Kollektiv seinerseits ja kriterial auf dieses verwiesen. Lazarus begegnet diesem Problem, indem er die Zirkularität seines Ansatzes aufzuheben versucht. Und es ist sehr bezeichnend, auf welche Art und Weise er dies tut. Nur scheinbar habe das soziale Selbstbewußtsein sich selbst zum Gegenstand. In Tat und Wahrheit, so Lazarus, »beruht [es] auf einem bestimmten objektiven Inhalt«; es stützt sich, wie Lazarus dann fortfährt, »immer auf solche objektive Verhältnisse wie Abstammung, Sprache usw.«. 73 Zwar schiebt Lazarus an dieser Stelle eilig nach, der »springende Punkt« des Volksgeistes liege nicht in diesen objektiven Grundlagen, sondern im »subjectiven(n) freie(n) Act der Selbsterfassung als ein ganzes und als ein Volk«. Aber dieser freien Spontaneität bleibt unter diesen Bedingungen dann doch letztlich nicht viel mehr Spielraum als die einzige Möglichkeit, die schon vorbewußt und vorpolitisch bestehenden objektiven Verhältnisse refleSo die Formulierung von Tietz, Udo: Die Grenzen des Wir. Eine Theorie der Gemeinschaft. Frankfurt a. M. 2002, S. 77; vgl. dazu auch die Ausführungen ebd. S. 150; S. 207. 71 Vgl. Klaus-Christian Köhnkes Einleitung in Lazarus 2003, insbes. S. ix-xi. 72 Lazarus 1860, S. 35; ders. 2003, S. 88. 73 Lazarus 2003, S. 89 f. 70
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xiv aufzunehmen! Dadurch schlägt der ursprünglich partizipative Ansatz in eine exklusive Konzeption um. Denn Lazarus rekurriert hier ja dann doch wieder auf genau jene externen Faktoren, die er zunächst als Definientien des Volks so vehement abgelehnt hatte. Die gemeinsame Identität, zunächst als etwas Spontanes, nicht Objektivierbares bezeichnet, wird damit in einem zweiten Schritt doch noch an die Kette objektiver Gegebenheiten gelegt. Der Kollektivgeist ist letztlich tendenziell trotz allem primär eine Sache des Schicksals, der unverfügbaren objektiven Vorgegebenheiten wie der Abstammung, anstatt der mitunter auch spontanen, freien und grenzüberspannenden gemeinsamen Projekte, Praxen und Initiativen: eine Konzeption, die mithin dem eigenen Verdikt verfällt. Lazarus’ Denkweg illustriert damit bloß, was sich oben in der Sache schon angedeutet hat: Die Diskussionskonstellation von exklusivem und partizipativem Verständnis des »Wir« führt in ein Dilemma. Jede der Konzeptionen, die partizipative wie die exklusive, behält gegen die andere recht – und fällt doch, kaum hat man sich ihr zugewandt, sogleich der Kritik der anderen zum Opfer. Die Zugehörigkeitskriterien, die »Grenzen des Wir« können, so scheint es, weder gefunden noch gemacht werden (obwohl sie Züge beider Momente tragen). Sie sind weder Sache der »objektiven« Bedingungen noch der individuellen Autonomie. Heideggersch gesprochen scheinen sie weder zur Geworfenheit noch zum Entwerfend-Sein des Daseins zuzuordnen zu sein. Weder liegen sie, wie es der exklusive Begriff sieht, in der sozialen Wirklichkeit schon vor (und müssen von den Individuen nur noch ins reflexive Wir-Bewußtsein übernommen werden), noch ist das Wir-Bewußtsein souverän genug, sie gleichsam aus sich selbst heraus zu spinnen. Die Frage lautet damit: Wie kommt das Wir-Bewußtsein zu seinen Grenzen? Woran findet das Wir-Bewußtsein dann sein Maß, wenn es dieses weder vorfinden noch selbst entwickeln kann? Bevor darauf eine Antwort gegeben werden kann, bedarf es einer kritischen Rekonstruktion der Prämissen, unter denen sich das Dilemma von Partizipation und Exklusion stellt.
§ 3 Vom Wir-Bewußtsein zur Gemeinschaft Die Frage nach dem Status der »Grenzen des Wir« steht in einem weiteren Zusammenhang. Sie hat nämlich direkt mit der oft diskutierten Frage zu tun, ob soziale Zugehörigkeit bzw. soziale Identi90
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tät nun eher eine Sache des Schicksals oder eine Sache individueller Wahl sei – eine alte Kontroverse, die heute insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen Kommunitarismus und Liberalismus mitschwingt.74 Es bietet sich an, diese Diskussion als voluntative Variante der skizzierten Kontroverse um die Struktur kollektiver Identität zu sehen. Wenn die Überlegungen des letzten Paragraphen richtig sind, dann wäre damit immerhin so viel klar, daß die Alternative falsch gestellt ist. Zugehörigkeit zu Wir-Gruppen ist weder Schicksalssache noch Gegenstand individueller Wahl – obwohl sie Züge beider Alternativen trägt. Was aber macht Zugehörigkeit dann im Kern aus? Woran findet unsere Wir-Identität ihre bestimmende Grenze? Mir scheint, daß die ganzen Probleme mit der Bestimmung der exklusiven Struktur des »Wir« aus der Bestimmung des partizipativen Moments resultieren und mithin beide Ansätze, den exklusiven wie den partizipativen, gleichermaßen betreffen. Der Gegensatz zwischen dem exklusiven und dem partizipativen Begriff ist im Hinblick auf einen adäquaten Begriff der Gemeinschaft ein Scheingegensatz, in welchem sich die Diskussion verfängt. Das eigentliche Problem ist nämlich das Gemeinsame beider Ansätze: eine geteilte Prämisse. Beide Begriffe, der exklusive wie der partizipative, verstehen das WirBewußtsein als Bewußtsein von Individuen, welches sich thematisch auf die Gruppe und reflexiv auf diese Individuen selbst als ihre Mitglieder beziehen. Dahinter steht natürlich die oben genannte, von allen erwähnten Konzeptionen geteilte »Simmelsche« sozialontologische Grundthese, daß Wir-Gruppen (bzw. soziale Einheiten in Simmels Sinn) genau dann existieren, wenn Individuen sich selbst als Mitglieder der betreffenden Wir-Gruppe sehen (bzw. als Mitglieder ein Bewußtsein dieser Einheit haben). Dieser sozialontologische Ansatz bei der reflexiv-reziproken Zurechnung – dem Wir-Bewußtsein – ist tatsächlich außerordentlich weit verbreitet und erweist sich über die genannten, mehr oder weniger philosophischen Autoren und Theorierichtungen hinaus auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung als sehr einflußreich. Die einzelnen Ansätze mögen sich hier im Detail darin unterscheiden, wie sie dieses gruppenkonstituierende »Sich-Sehen« genau charakterisieren. Ob aber damit nun eine »Self-Categorization« (wie in der wichtigen sozialpsychologischen Social Identity Theory) oder beispielsweise eine Art »Imagination« Vgl. als liberaler »pro choice«-Theoretiker Tamir, Yael: The Quest for Identity. In: Studies in Philosophy and Education 15 (1996), S. 175–191.
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(wie bei Benedict Andersons schon erwähnten Imagined Communities) gemeint sein mag: Gleich bleibt sich, daß diese Ansätze WirGruppen ontologisch aus einem thematisch-reflexiven Wir-Bewußtsein der einzelnen Mitglieder ableiten. 75 In all diesen Fällen wird die Frage nach dem Kriterium für das Vorliegen einer Gruppe (bzw. auch jene nach dem Zustandekommen und der ontologischen Struktur sozialer Einheiten) letztlich mit einer Art thematisch-reflexiven Gruppenbewußtseins beantwortet. Dies mag auf den ersten Blick völlig einleuchtend, ja geradezu selbstverständlich wirken. Die Existenz der Wir-Gruppe und das reflexiv-thematische Wir-Bewußtsein der Mitglieder dicht zusammenzuziehen scheint aus einem bestimmten Blickwinkel geradezu zwingend, denn was wäre schon eine WirGruppe, welche von keinem Mitglied für real gehalten wird, der sich niemand als Mitglied zugehörig fühlt? Es gibt doch, wie in der einschlägigen Literatur gelegentlich bemerkt wird, das »Wir« schließlich nicht »an sich«, sondern nur »soweit sich bestimmte Individuen zu ihm bekennen« 76 (ein im Grunde idealistischer Ansatz, der aber, wie im letzten Paragraphen gesehen, immer noch die exklusive Option offenläßt, den impliziten kognitiven Bezug zu den Grenzen des »Wir« realistisch – also exklusiv – zu deuten). Bei näherer Untersuchung zeigen sich aber zumindest drei Konstruktionsfehler des Ansatzes beim reflexiv-thematischen Wir-Bewußtsein der Mitglieder. Der erste ist: Das reflexiv-thematische Wir»Self-conception as a group member, rather than interpersonal relationships within groups or explicit social pressure is what creates the uniformity and co-ordination of group behavior«, lautet der Kernsatz des »Social Identity Approach« bzw. der »Self-Categorization Theory« in der Sozialpsychologie (Abrams, Dominic/Hogg, Michael A.: An Introduction to the Social Identity Approach. In: dies. [Hrsg.]: Social Identity Theory. Constructive and Critical Advances. New York 1990, S. 1–9, hier S. 4). »The self-categorization analysis reconceptualizes the social group in predominantly congnitive terms (…). The group is cognitively represented within the mind of the individual member and in this sense exists as a social identification« (Hogg, Michael: Social Identity and Group Cohesiveness. In: Turner, John C. et al. [Hrsg.] 1987, S. 89–116, hier S. 101). Zur »Imagination« der Gemeinschaft vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities. London 2 1991, S. 6 (insbes. Fn. 9). Einen deutlichen Ausdruck findet die »Reflexionstheorie der Wir-Identität«, wie man sie nennen könnte, auch bei Udo Tietz: »Die Identität von partikularen Wir2 -Gruppen steht und fällt mit der Identifikation seitens der Individuen mit diesen Gruppen – wobei der Identitätsbegriff in diesem Zusammenhang für die Fähigkeit der Kollektivmitglieder steht, sich auf der Grundlage eines reflektierten Selbstverhältnisses als das Kollektiv zu identifizieren, das man ist und das man künftig sein will« (Tietz 2002, S. 77). 76 So formuliert es Jan Assmann (zit. in Tietz 2002, S. 77). 75
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Bewußtsein der Mitglieder ist keine hinreichende Bedingung für die Existenz der Wir-Gruppe. Daß sich Individuen einer Gruppe zugehörig fühlen, heißt noch nicht, daß es diese Gruppe auch tatsächlich gibt (a). Bei allem Recht der oben entwickelten subjektivistischen Grundintention verhält es sich mit den Gruppen ein Stück weit wie mit Kants Taler, der sich leider partout nicht aus seinem bloßen Begriff »herausklauben« lassen will: Die Vorstellung, selbst wenn sie allseits geteilt wird, garantiert nicht die Existenz. Die zweite Schwäche: Das reflexiv-thematische Wir-Bewußtsein der Mitglieder ist auch keine notwendige Bedingung für die Existenz der Wir-Gruppe. Es gibt tatsächliche Wir-Gruppen, denen sich niemand reflexiv-thematisch zugehörig fühlt (b). 77 Und drittens ist der Ansatz beim reflexiv-thematischen Wir-Bewußtsein zirkulär: Wenn sich nämlich jemand reflexiv-thematisch einer Gruppe zugehörig fühlt, dann tut sie oder er dies, weil sie oder er Mitglied ist – und nicht umgekehrt (dies ist das Konstruktionsproblem des Ansatzes beim reflexiv-thematischen Wir-Bewußtsein, welches oben schon anhand von Moritz Lazarus’ Ansatz kurz gestreift wurde) (c). a) Nehmen wir zur Abwechslung einmal nicht Anna und Berta, sondern eine Menge alter Freundinnen und Freunde zum Beispiel. Man stelle sich einen eingeschworenen Kreis vor. Mit dem Ende der gemeinsam verbrachten Jugend trifft man sich zwar nur noch sehr selten. Für jede und jeden Einzelnen ist dieser Freundeskreis aber immer noch sehr wichtig, ja vielleicht die entscheidende Bezugsgruppe; sie oder er identifiziert sich stark mit dieser Gemeinschaft, ihr oder sein Selbstbild ist mithin stark auf diese Gruppe ausgerichtet. Alle haben damit ein ausnehmend starkes »Teambewußtsein«, ein ganz ausgeprägtes reflexiv-thematisches Wir- oder Einheits-Bewußtsein. Und dies ganz unabhängig davon, daß die Gruppentreffen im Verlaufe der Zeit wegen Familie und Karriere zwangsläufig immer seltener geworden sind. Denn nicht immer korreliert das relative Gewicht unserer sozialen Identitäten bzw. Zugehörigkeiten direkt mit der Interaktionsdichte. Mitunter sind es ja nicht jene Kreise, in denen wir uns am häufigsten bewegen, welche für unsere soziale Identität am wichtigsten sind. Und mitunter sind es gerade solche Prozesse allmählichen Ausdünnens der Interaktion bei Aufrechterhaltung des reflexiven Zugehörigkeitsbewußtseins, welche diesen Vgl. dazu auch Schmid, Hans Bernhard: Wir-Identität: reflexiv und vorreflexiv. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53/3 (2005d), S. 365–376.
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Vorgang erklären mögen. Nehmen wir jetzt aber an, daß nach langer Zeit – vielleicht Jahren! – endlich wieder einmal eine Zusammenkunft des Freundeskreises bevorsteht. Für alle ist das natürlich ein großes und wichtiges Ereignis, und alle wissen dies voneinander. Endlich ist der Tag da; aber diesmal kommt alles anders als allseits erwartet. Irgend etwas stimmt nicht mehr. Das Gespräch will nicht recht in Gang kommen, und das gewohnte Gemeinschaftsgefühl, die emotionale »Stallwärme« stellt sich auch nicht ein. Bei allem Teambewußtsein muß man feststellen: Man ist sich irgendwie fremd geworden, man findet keinen Zugang mehr zueinander. Ja selbst die Erinnerungen an die gemeinsame Jugend scheinen sich auseinanderentwickelt zu haben. Obwohl man von demselben spricht, ist es doch, als ob sich jede und jeder an etwas anderes erinnern würde; keine und keiner kann an die Erinnerungen der anderen anknüpfen. Nicht einmal die gemeinsame Vergangenheit verbindet mehr. Bei allem reflexiv-thematischen Gruppenbewußtsein der Mitglieder hat die Gruppe selbst, wie sich jetzt schmerzlich zu zeigen scheint, in der Zeit seit dem letzten Treffen plötzlich aufgehört zu existieren. Man mag noch über eine oder zwei Perioden trotzig sein reflexives Gemeinschaftsbewußtsein aufrechterhalten; irgendwann muß man sich der unausweichlichen Tatsache stellen. Die Gemeinschaft selbst gibt es nicht mehr. Daran wird deutlich: Das reflexiv-thematische Gruppenbewußtsein der Mitglieder allein macht noch keine Gruppe, denn am »Teambewußtsein«, am »Bekenntnis zum Wir«, an der »Imagination der Gemeinschaft« oder an der Kultivierung eines sozialen reflexiven Selbstbildes hat es ja bis ganz zuletzt keineswegs gemangelt. Wir-Bewußtsein (bzw. »Bewußtsein der Einheit« im Sinne Simmels) ist schlicht keine hinreichende Bedingung für die Existenz der entsprechenden »Einheit«. Gemeinschaft kann nicht herbeiimaginiert werden. Bloße self-categorization macht noch keine gemeinsame Identität, und unsere Fähigkeit, uns auf uns selbst auf der Grundlage eines reflektierten Selbstverhältnisses als Gemeinschaft zu bestimmen, garantiert noch nicht, daß es da auch wirklich etwas gibt, worauf sie sich beziehen könnte. Das reflexive Wir-Bewußtsein garantiert kein »Wir«; es kann bisweilen ins Leere greifen. b) Diese Unzuverlässigkeit des Wir-Bewußtseins ist indes umso weniger dramatisch, als unsere Gemeinschaftlichkeit seiner auch gar nicht zu bedürfen scheint. Das Bewußtsein, eine Gruppe zu bilden, ist nämlich nicht bloß keine hinreichende, sondern auch keine notwendige Bedingung für die Existenz einer Gruppe. Kehren wir illustrati94
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onshalber zurück zum Beispiel der Wandergruppe. Ist es wirklich plausibel, zu sagen, daß aus Anna und Berta deshalb eine Wandergruppe geworden ist, weil Anna und Berta irgendwann im Verlaufe der Wanderung begonnen haben, sich selbst und die andere als Mitglieder einer Wandergruppe zu sehen? Anna hat nämlich in der seit ihrem Zusammentreffen mit Berta vergangenen Zeit vielleicht alles Mögliche gedacht und getan, ohne dabei einen einzigen Gedanken an sich selbst oder ihr Verhältnis zu Berta zu verschwenden. Ihr überhaupt ein reflexives »Selbstbild« zuzuschreiben, geschweige denn eine Veränderung dieses Selbstbildes an dem Punkt, an welchem die Anwendungsbedingungen von »wir« erstmals erfüllt waren, scheint angesichts dessen, was sie gedacht, empfunden und getan hat, denkbar inadäquat. Denn sie hat, vertieft in das unmittelbare Tun, ja in keiner Weise auf das Geschehen reflektiert. Würde man sie am Abend des zweiten Tags der Wanderung fragen, ob das, was sie in den vergangenen Tagen getan hat, ihr Selbstbild irgendwie verändert habe, würde sie sich bloß an die Stirne tippen. Sie hat in bezug auf das fragliche Tun schlicht kein »Selbstbild«, geschweige denn, daß sich dieses verändert hätte. Und wenn sie während des Wanderns doch auf sich selbst reflektiert hätte, wäre keineswegs gewiß, daß sie sich nun, nachdem sie mit Berta gemeinsam wandert, anders sieht. Vielleicht würde eine der Reflexion zugeneigtere Version von Anna auf eine entsprechende Frage etwa folgendermaßen antworten: »Ja, ich habe in der Tat seit unserem Zusammentreffen intensiv über Berta und mich selbst nachgedacht. Aber ich bin nach reiflicher Überlegung zum Schluß gekommen, daß die einzige situationsadäquate Sozialontologie jene von Margaret Thatcher ist: Hier gibt es kein Team, zu dem ich mich zugehörig fühle oder dem ich mich als Mitglied zuschreibe, sondern nur Berta und mich selbst und unser individuelles, z. T. wechselweise aufeinander bezogenes Denken, Tun und Empfinden. Und wenn wir beide in irgendeinem Sinn halt doch Gruppenmitglieder sind, dann als Familienmitglieder – und unsere Familien sind zuhause!« 78 Trotz dieses bezüglich der gegenwärtigen Situation solide individualistischen reflexiven Selbstbildes ist, wie Anna ohne weiteres zugeben wird, irgendwann der Moment gekommen, an dem Es sei noch einmal an die Fortsetzung von Thatchers berüchtigtem Diktum »there are no societies, only individuals who interact with each other« erinnert: »There are individual men and women, and there are families« (Margaret Thatcher im Interview mit Woman’s Own Magazine [Ausgabe vom 3. Oktober 1987], Herv. von mir).
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die Anwendungsbedingungen von »wir« gegeben sind, an dem also aus Annas und Bertas Tun etwas Gemeinsames geworden ist – gleichviel, ob diese Gemeinsamkeit nun als Gruppenzugehörigkeit Eingang ins reflexive Selbstbild der beteiligten Individuen findet oder nicht. Das reflexiv-thematische Wir-Bewußtsein der Mitglieder ist nicht nur im obigen Sinn fallibel; es ist, wie sich an solchen Fällen zeigt, darüber hinaus auch nicht konstitutiv für die Existenz einer Wir-Gruppe. Gruppen gibt es auch ohne das Simmelsche »Bewußtsein der Einheit« – zumindest wenn man dieses Bewußtsein als ein reflexiv-thematisches versteht. c) Und schließlich ist der Ansatz beim Team-Bewußtsein zirkulär. Anna muß sich nicht zusammen mit Berta als Team sehen, um ein Team zu sein. Und wenn Anna trotz ihrer Gedankenlosigkeit oder trotz ihres individualistischen Selbstverständnisses bzw. tiefsitzenden Thatcherismus schließlich doch noch dazu kommen sollte, sich selbst und Berta als Team zu sehen, dann tut sie dies nur, weil sie davon ausgeht, tatsächlich mit Berta gemeinsam unterwegs zu sein. Die angenommene Gemeinsamkeit des Tuns ist hier eine kriteriale Voraussetzung für ein reflexives Wir-Bewußtsein, nicht umgekehrt. Mithin kollidiert die auf das reflexiv-thematische Wir-Bewußtsein abstellende Sozialontologie mit dem Wir-Bewußtsein der Mitglieder selbst. Denn während dieses in ontologischer Perspektive für die Existenz der Gruppe aufkommen soll, richtet es sich in subjektiver Perspektive umgekehrt nach der Gruppenexistenz und setzt diese mithin voraus. Allgemein formuliert stellt sich die Sache in subjektiver Perspektive so dar: Die Existenz der Gruppe macht das reflexiv-thematische »Gruppenbewußtsein« wahr – und nicht umgekehrt. »Das Bewußtsein, mit den anderen eine Einheit zu bilden, ist (…) die ganze zur Frage stehende Einheit.« Einmal ganz abgesehen von den genannten sachlichen Schwächen, die sich ergeben, wenn man das »Bewußtsein der Einheit« wie von Simmel u. a. nahegelegt als reflexiv-thematisches Wir-Bewußtsein auslegt: Stoßend an dieser sozialontologischen Grundthese ist auch, daß sie das Gruppenbewußtsein gegen Kritik immunisiert. Denn wenn das Wir-Bewußtsein der Mitglieder die Wir-Gruppe ist, macht dies die kritische Rückfrage, ob jene, die sich für eine soziale Gruppe halten, auch tatsächlich eine soziale Gruppe sind, schon rein logisch sinnlos (wir sind ja genau dann tatsächlich eine Gemeinschaft, wenn wir uns für eine Gemeinschaft halten). Den Grund dafür hat wiederum der schon oben zu Illustrationszwecken herangezogene Moritz Lazarus klar be96
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nannt: Wenn es das reflexiv-reziproke Gemeinschaftsbewußtsein der Individuen ist, welches die Gemeinschaft ausmacht, dann kann dieses Bewußtsein »niemals irren«. 79 Wenn die einzelnen Individuen sich als Gemeinschaft betrachten, dann sind sie auch eine Gemeinschaft, weil das (prozedural verstandene) Sein dieser Gemeinschaft ja in nichts anderem als genau dieser Haltung der Individuen besteht. In der Konsequenz bedeutet dies, daß die sozial- und kulturwissenschaftliche Analyse im Rahmen dieses Ansatzes letztlich darauf verpflichtet werden muß, dieses reflexive Selbstverständnis der Individuen auszulegen. Lazarus formuliert dies (auf den nach seinem Dafürhalten besonders wichtigen Fall der Volksgemeinschaft bezogen) so: »Handelt es sich um Pflanzen oder Tiere, so ist es der Naturforscher, der sie nach objektiven Merkmalen in ihre Art versetzt; Menschen aber fragen wir, zu welchem Volke sie sich zählen. (…) Wir haben die vorhandenen subjektiven, von den Völkern stillschweigend (implicite) gegebenen Definitionen von sich selbst zu erläutern.« 80 Die epistemische Autorität der sozialwissenschaftlichen Analyse kommt hier ganz bei den betreffenden Individuen bzw. ihrem Selbstverständnis zu liegen. Bei allem anti-szientistischen, demokratisch-liberalen Charme dieser Regelung liegt darin aber auch ein gravierendes Problem. Denn zumindest begrifflich sind reflexives Gemeinschaftsbild und gelebte Gemeinschaft, wie gesehen, zwei gänzlich verschiedene Dinge, zwischen denen nicht einmal ein besonders enger Zusammenhang besteht. Die Unterscheidung zwischen »Gruppengefühl« und der Gruppe selbst macht durchaus Sinn; es ist ein schlechter Subjektivismus, von vornherein davon auszugehen, daß die gesellschaftlich relevanten »Einheiten« tatsächlich jene sind, von denen wir als gesellschaftliche Akteure ein entwickeltes »Einheitsbewußtsein« haben. Ausgeschlossen würde damit eine ideologie-kritische Perspektive, eine Gesellschaftsanalyse, die bei der Selbstdeklaration von Individuen nicht Halt macht. Vielleicht, so die Vermutung, sind »wir« ja eigentlich und tatsächlich schon längst nicht mehr jene Gruppe, von der wir immer noch ein reflexives Zugehörigkeitsbewußtsein haben – das ist ein Gedanke, der sich gerade bezüglich der nationalitätsfixierten Konzeptionen im Stile Lazarus’ oder Böckenfördes aufdrängt. In der Terminologie der soziologischen Systemtheorie formuliert: Sozialstruktur und Semantik sind 79 80
Lazarus 1860, S. 36; vgl. ders. 2003, S. 90. Lazarus 1860, S. 35; ders. 1880, S. 13; ders. 2003, S. 88. A
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nicht nur überhaupt unterscheidbar; möglicherweise haben die gravierenden Theorieprobleme, die uns im Kontext der Gewinnung eines adäquaten Verständnisses unseres gemeinsamen sozialen Seins beschäftigen, damit zu tun, daß die Semantik, mit der unsere gesellschaftlichen Selbstbeschreibung operiert, schon längst nicht mehr auf die Sozialstruktur paßt. Aber was könnte denn dieses »Wir« überhaupt sein, welches wir tatsächlich sind – und für welches wir uns doch nicht halten? Damit stehen wir wieder vor der Ausgangsfrage: Was wäre denn ein »Wir«, dem sich niemand zugehörig fühlt, oder was sollte man sich unter einer Gemeinschaft vorstellen, welcher sich niemand als Mitglied zurechnet? Bislang wurde nur die eine These des Ansatzes, um den es hier geht, kritisiert: die These, daß Gemeinschaften existieren, soweit ihre Mitglieder der Überzeugung sind, daß sie existieren. Außer Acht geblieben ist bislang die andere These: die These, daß Individuen gemeinsam handeln, wenn und insofern sie eine Gruppe bilden. Nach der gängigen Deutung liegt hier ein Fundierungsverhältnis vor. Das reflexiv-thematische Gemeinschaftsbewußtsein ist eine ontologische Voraussetzung der Existenz der Gruppe, und die Gruppe hinwiederum ist eine Voraussetzung des Gemeinschaftshandelns. Was nun das Verhältnis von reflexiv-thematischem Gemeinschaftsbewußtsein und Existenz der Gruppe anbelangt, hat sich gezeigt, daß diese These die Verhältnisse verdreht. Gruppen existieren nicht, weil ihre Mitglieder ein reflexiv-thematisches Gruppenbewußtsein haben; vielmehr können sie ein solches Gruppenbewußtsein ausbilden, weil und insofern sie Gruppenmitglieder sind. Am Beispiel der Wanderinnen: Anna und Berta müssen sich nicht eigens als Mitglieder einer Wandergruppe sehen, um zur Wandergruppe zu werden; aber wenn sie schließlich dazu kommen, sich als Mitglieder einer Wandergruppe zu sehen, dann tun sie dies (im Standardfall) deshalb, weil sie zu Mitgliedern einer Wandergruppe geworden sind. 81 Nun ist, wie geIm Ausnahmefall mögen Individuen durchaus gerade dadurch zur Gruppe werden, daß sie sich zunächst reflexiv und reziprok als Gemeinschaft sehen (ohne schon eine solche zu sein, also mithin fälschlicherweise). Beispiele dazu kann man sich leicht vorstellen: Altersheimbewohner A hält seinen neuen Zimmergenossen B fälschlicherweise für seinen alten Freund C, mit dem er früher oft zu wandern pflegte, während B aufgrund irgendeiner fixen Idee umgekehrt fest davon überzeugt ist, mit A in Sachen eines geplanten, sorgfältig geheimzuhaltenden coups unter einer Decke zu stecken. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die beiden gerade dadurch, daß sie sich fälschlicherweise für
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sehen, die Frage: Was macht die Gruppe zur Gruppe wenn nicht das reflexiv-thematische Gruppenbewußtsein der Mitglieder? Wenn nun das zweite Begründungsverhältnis der hier zu kritisierenden Position verkehrt ist, legt es sich nahe, zu sehen, ob nicht dasselbe auch von der ersten These gilt, nämlich der These, daß wir gemeinsam handeln können, insofern wir Gruppen bilden. Auch diese Verhältnisbestimmung scheint nämlich das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Wenn Anna und Berta zur Wandergruppe werden, tun sie dies nicht logisch vor dem gemeinsamen Wandern. Vielmehr sind Anna und Berta genau dann eine Wandergruppe, wenn sie gemeinsam wandern. Es ist das gemeinsame Tun, das sie zur Gruppe macht, und nicht umgekehrt die Existenz der Gruppe, die gemeinsames Tun ermöglicht. Letztlich liegt so dem reflexiv-thematischen Gruppenbewußtsein das gemeinsame Tun (bzw. Fühlen oder Denken) zugrunde. Und dieses ist durchaus nichts vom Bewußtsein der Beteiligten Unabhängiges. Individuen können sich als Mitglieder einer Gruppe sehen, weil und insofern sie gemeinsam handeln, denken oder fühlen können, und nicht umgekehrt. Das reflexiv-thematische Wir-Bewußtsein, so könnte man deshalb sagen, setzt ein vorreflexiv-unthematisches Wir-Bewußtsein voraus, eben das gemeinsame Beabsichtigen, Denken oder Fühlen. Mit dem Schritt vom reflexiv-thematischen Wir-Bewußtsein zum vorreflexiv-unthematischen Wir-Bewußtsein verliert der Gegensatz zwischen dem exklusiven und dem partizipativen Begriff des »Wir«, in dem sich die Debatte oszillierend bewegt, an Bedeutung. Ist das Bewußtsein, welches für Wir-Gruppen konstitutiv ist, vorreflexiv-unthematisches Wir-Bewußtsein, dann braucht es keine externen Rahmenbedingungen, die dem, was »Wir« sein kann, von vornherein Grenzen und Maß setzen. Die Grenzen des Wir sind in diesem Sinne tatsächlich keine Vorbedingung des Wir-Bewußtseins, sondern liegen im Wir-Bewußtsein selbst. Andererseits gilt aber umgekehrt ebenso: Das »Wir« ist im Grunde nichts als Gegenstand des Individualbewußtseins diesem Bewußtsein Verfügbares, das »Wir« kann deshalb nicht herbeigeredet oder –imaginiert werden, sondern muß in der intentionalen Aktivität der Menschen schon vorhanden und lebendig sein, bevor es reflexiv zu Bewußtsein kommen kann.
eine Gemeinschaft halten, am Ende tatsächlich noch zu so etwas wie einer Gemeinschaft werden. Aber solche Fälle verhalten sich parasitär zum Regelfall. A
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Mithin gibt der Ansatz beim vorreflexiv-unthematischen Wir-Bewußtsein sowohl dem exklusiven wie dem partizipativen Begriff in ihrer wechselseitigen Kritik Recht – ohne dabei in eine kritikimmunisierte positive Theorie zu verfallen. Vorreflexiv-unthematisches Wir-Bewußtsein muß nämlich durchaus nicht den ausgetretenen Bahnen eines kulturellen Selbstverständnisses folgen (gleichviel, ob dieses sich nun exklusiv nach externen Merkmalen oder partizipativ nach dem Selbstbild der beteiligten Individuen richtet). Sondern es etabliert sich – harmonisch, oft aber auch in konflikthafter Form – überall dort, wo Menschen miteinander zu tun haben: auch über kulturelle und andere Differenzen hinweg. Und dies bisweilen ohne daß sich die beteiligten Individuen dessen gewahr werden. Manchmal sind die reflexiven »kollektiven Identitäten«, an denen wir uns orientieren, vielleicht nicht die lebendigen Gemeinschaften, die für unser Miteinandersein tatsächlich ausschlaggebend sind. Eine Ontologie des Miteinanderseins sollte dieser Möglichkeit Rechnung tragen. Wenn Individuen kein reflexiv-thematisches Wir-Bewußtsein haben, heißt dies keineswegs, daß keine Gemeinschaft vorliegt – so wenig wie umgekehrt von der Existenz reflexiv-thematischen WirBewußtsein bei den einzelnen Mitgliedern auf die Existenz einer Gemeinschaft zu schließen ist. Diese Tatsache läuft einer in der Sozialwissenschaft und –theorie greifbaren Tendenz entgegen, WirGruppen vom reflexiv-thematischen Wir-Bewußtsein her in den Blick zu nehmen; dieser Tendenz gilt es daher entgegenzutreten. Das, was wir als Individuen reflexiv als »Wir« erfahren – Wir-Identität –, ist nicht das, was das »Wir« tatsächlich im Kern ist. Setzt man nun anstelle von »Selbstbewußtsein« »vorreflexiv-unthematisches WirBewußtsein« ein, kann man die »Wir-Form« dieser Sätze nicht nur als distributiv jedes Ich für sich betreffend, sondern auch kollektiv eine Wir-Gruppe betreffend verstehen. Nach der Entscheidung für einen intentionalistischen Ansatz (vgl. oben § 1) ist dies die zweite These zur Ontologie der Gemeinschaft. Man kann im Ansatz beim vorreflexiv-unthematischen WirBewußtsein durchaus so etwas wie eine partielle »Wiederholung im Plural« dessen sehen, was Dieter Henrich bezüglich der ersten Person Singular gezeigt hat: nämlich daß »Reflexionstheorien des Selbstbewußtseins« scheitern. Wissen von uns selbst haben wir nicht deshalb, weil wir uns selbst zum Gegenstand unseres Bewußtseins machen können; vielmehr können wir uns selbst zum Gegenstand 100
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werden, weil und insofern wir Selbstbewußtsein haben. 82 Analog gilt: Wir können uns als Gemeinschaft sehen, weil und insofern wir gemeinsam zu handeln, empfinden, fühlen etc. vermögen. In der vorreflexiv-unthematischen Gemeinsamkeit des Intendierens liegt dabei eine Struktur vor, die sehr genau dem entspricht, was Jean-Paul Sartre – hierin ganz Cartesianer – unter dem Titel »conscience (de) soi« letztlich dann doch dem Selbstverhältnis des einzelnen Individuums vorbehält: ein präreflexives, nicht-thetisches, nicht-vergegenständlichendes Bezogensein jetzt nicht auf sich selbst, sondern auf Andere im Rahmen (und auf der Grundlage) des gemeinsamen Erlebens, Handelns und Fühlens. 83 Das »Wir« des gemeinsamen Intendierens belegt Sartre mit dem Titel »Subjekt-Wir«. 84 Dieser Titel bezeichnet kein Kollektivbewußtsein »à la manière de la conscience collective des sociologues« 85 (also kein Kollektivsubjekt in Unterscheidung von den einzelnen »Ich-Subjekten« und ihrem individuellen Bewußtsein), sondern ein »Wir«, welches die Form des Erlebens, Beabsichtigens und Fühlens der Beteiligten Einzelmenschen selbst ist (in Unterscheidung zum »Wir«, wie es von unbeteiligten Dritten thematisch wahrgenommen werden kann; s. dazu unten § 11). In einer Hinsicht freilich versagt die Analogie von individuellem Selbstbewußtsein und präreflexiv-unthematischem Wir-Bewußtsein. Während man nämlich dem individuellen Selbstbewußtsein eine Art Infallibilität zuschreiben mag, macht dies bezüglich des kollektiven Falles ganz offensichtlich keinen Sinn. Was Descartes erstmals expliziert (und Sartre unter dem Titel der »conscience (de) soi« reformuliert) hat, ist die Einsicht, daß selbst die größte Selbsttäuschung nicht dazu führen kann, daß man im Selbstbewußtsein nicht mehr in Kontakt mit einem selbst steht. Selbst wenn sich Anna für jemand anderes (etwa Napoleon) hält, hält sie doch sich selbst (und Vgl. etwa Henrich, Dieter: Fichtes ursprüngliche Einsicht. In: ders./Wagner, H. (Hrsg.): Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer. Frankfurt a. M. 1966, S. 188–232. 83 »Le nous enveloppe une pluralité de subjectivités qui se reconnaissent les unes les autres comme subjectivités. Toutefois, cette reconnaissance ne fait pas l’objet d’une thèse explicite: ce qui est posé explicitement, c’est une action commune ou l’objet d’une perception commune. ›Nous‹ résistons, ›nous‹ montons à l’assault, ›nous‹ condamnons le coupable, ›nous‹ regardons tel ou tel spectacle. Ainsi, la reconnaissance des subjectivités est analogue à celle de la conscience non-thétique par elle-même« (Sartre 1943, S. 464; Herv. v. mir). 84 Sartre 1991, S. 740. 85 Sartre 1943, S. 465. 82
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nicht etwa jemanden sonst, z. B. den tatsächlichen Napoleon) für Napoleon. So stehen Individuen also selbst in dieser extremen Form des Wahns immer noch in tatsächlichem Kontakt mit sich selbst. Das individuelle Selbstbewußtsein kann nicht fehlgehen. Dafür gibt es, bei aller Strukturanalogie zwischen Selbstbewußtsein und vorreflexiv-unthematischem Wir-Bewußtsein, kein kollektives Äquivalent. Anna mag vielleicht plötzlich vorreflexiv-unthematisch davon ausgehen, mit Berta eine Gesangsgruppe zu bilden. Dieses Wir-Bewußtsein kann auf doppelte Art und Weise fehlgehen. Erstens kann sie sich über die Art und Gestalt der Gemeinschaft täuschen (Anna hält für eine Gesangsgruppe, was in Tat und Wahrheit eine Wandergruppe ist). Aber möglicherweise geht Annas Irrtum weiter als das; vielleicht gibt es gar keine entsprechende Gruppe (im Falle von Gruppen, die mehr als zwei Mitglieder umfassen, mag das Wir-Bewußtsein zudem fehlgehen, indem es sich auf eine Gruppe bezieht, welche zwar tatsächlich existiert, der das betreffende Individuum aber gar nicht zugehört; vgl. zu den verschiedenen Formen des Fehlgehenkönnens die ausführliche Diskussion unten § 7). Die Unterscheidung von reflexiv-thematischem und vorreflexiv-unthematischem Wir ist wegen dieser Fallibilität des »Wir-Bewußtseins« eine andere als die zwischen dem »Selbst« des individuellen Selbstbewußtseins und dem »Selbst« der Selbstreflexion. Wenn das vorreflexiv-unthematische Wir-Bewußtsein es uns auch ermöglicht, uns reflexiv-thematisch auf uns selbst zu beziehen, also unsere Aufmerksamkeit auf unsere Gemeinschaft zu richten und unser Handeln an dieser Vorstellung der Gemeinschaft zu orientieren, so gehen vorreflexiv-unthematisches und reflexiv-thematisches Wir-Bewußtsein keineswegs notwendigerweise miteinander einher. Es kann durchaus Wir-Gruppen geben, ohne daß die Mitglieder so etwas wie einen reflexiven Selbstbegriff als Gruppe ausbilden. Das Beispiel von Anna und Berta hat gezeigt: Ein solches reflexiv-thematisches, kollektives »self-knowledge« ist, anders als im Kontext der Sozialontologie auch etwa Margaret Gilbert 86 meint, keineswegs notwendige Voraussetzung für das Vorliegen eines »Wir«. Und umgekehrt gibt es reflexiv-thematische kollektive Selbstverständnisse, ohne daß diesen lebendiges, vorreflexiv-unthematisches Wir-Bewußtsein zugrundeläge (man denke an das Beispiel der alten Schulfreunde). Reflexiv-thematisches und vorreflexiv-unthematisches 86
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Vgl. Gilbert 1992, S. 205.
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Wir-Bewußtsein können radikal auseinanderklaffen; vielleicht täuschen wir uns in unserem reflexiven kollektiven Selbstverständnis tatsächlich gründlichst darüber, wer wir in Tat und Wahrheit sind – »Wir« im Sinne des lebendigen, vorreflexiv-unthematischen WirBewußtseins. Eine Sozialwissenschaft, die ihren Begriff der WirGruppe stark an den kollektiven Wir-Identitäten orientiert, wie sie im Erleben der Menschen selbst im Zentrum stehen und deshalb diesem Erleben direkt zu entnehmen sind, muß zwangsläufig den Riß aus den Augen verlieren, der zwischen dem expliziten »Wir« unserer reflexiven sozialen Selbstidentifikation und dem impliziten »Wir« unserer lebendigen intentionalen Praxis besteht. Ich glaube sogar, daß unser reflexiv-thematische Wir-Bewußtsein systematisch dazu tendiert, das vorreflexiv-unthematische WirBewußtsein zu verfehlen. Es gibt eine Selbstverbergungstendenz des vorreflexiv-unthematischen Wir-Bewußtseins, welche insofern einen Zeitindex trägt, als sie mit Grundzügen der neuzeitlichen und speziell der modernen Gesellschaftsentwicklung zu tun hat. Sie macht für uns die Beantwortung der Frage, wer wir sind, besonders schwierig – und die Versuchung, zu den alten starren reflexiven Wir-Identitäten Zuflucht zu nehmen, denen längst kein lebendiges intentionales Wir-Sein mehr entspricht, besonders stark. Wenn Menschen ihre Wir-Identität vor allem über ihre nationale Zugehörigkeit o. dgl. kollektive Identitäten definieren, so heißt dies keineswegs, daß das »nationale Wir« tatsächlich auch die bestimmende Wir-Gruppe ist. Nicht das, was Menschen für ihre Wir-Gruppe halten, ist in sozialontologischer wie auch in gesellschaftsanalytischer Perspektive primär relevant; sondern die Art und Weise, wie Menschen als Wir-Gruppe gemeinsam denken und handeln (auch wenn, wie schon angedeutet, kein individuelles Denken und Tun die Existenz einer bestimmten Gruppe garantiert). Das ursprüngliche »Wir« ist kein »Gegenstand« eines Bewußtseins. Dies ist, wie weiter unten (§ 10) zu sehen sein wird, exemplarisch auch an Heideggers Versuch, die Sozialität des Daseins als Volks-Dasein zu denken, zu lernen. Andererseits ist gerade in Sachen des Reflexionsbegriffs der Gemeinschaft Entscheidendes von Heidegger zu lernen. Zu den stärksten Momenten in Heideggers Analysen des Miteinanderseins gehört es, wenn er zur Frage »wer sind wir selbst« die »Fraglichkeit« erwähnt, »ob überhaupt der geläufige Begriff und die übliche Vorstellung vom Selbst (als dem in der Reflexion Erreichbaren) aus dem eigentlichen Selbst erwachsen ist und uns den eigentlichen Weg zu weisen vermag«; kurz darauf A
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deutet Heidegger Reflexionsbegriffe des Selbst denn auch explizit als Zeichen der Selbstverlorenheit. 87 Dies richtet sich kritisch gegen das zeitgenössische »Herbeireden« der Gemeinschaft – und inkriminiert so auch manche von Heideggers eigenen Positionen. Diese Reflexionsskepsis ist nicht nur sozialontologisch entscheidend, sondern auch gesellschaftsanalytisch wichtig; sie macht auch unter den heutigen veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen noch Sinn. Gemeinschaft kann weder herbeigeredet werden noch hält sie sich im bloßen Selbstbild der Beteiligten; sie ist eine Sache des vorreflexivunthematischen Miteinanderseins. Wie aber konnte es zum sozialontologischen Ansatz beim reflexiv-thematischen Wir-Bewußtsein überhaupt kommen? Ich halte diesbezüglich die aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammenden Bemerkungen zur Struktur des »Wir« für besonders instruktiv, die sich beim wenig bekannten russischen Phänomenologen Simon L. Frank finden. 88 Frank bewegt sich im zunächst selbst ganz im Fahrwasser der Simmel/Lazarusschen Konzeption sozialer Einheit (auf letzteren bezieht er sich ausdrücklich): »Die Gesellschaft als gemeinschaftliche Einheit (…) ist ein Wir. Ihre Einheit existiert, indem sie als Bewußtsein der Gemeinsamkeit, als Idee des Wir in ihren einzelnen Gliedern anwesend ist und wirkt«. 89 Aber kaum hat er dies niedergeschrieben, kommen Frank auch schon gravierende Bedenken. Ist dieser Ansatz, fragt er sogleich nach, nicht von genau jenem atomistischen Denkzwang geprägt, gegen welchen seine ganze Analyse der geistigen Grundlagen der Gesellschaft gerichtet ist? Wenn nämlich dieses »Wir« tatsächlich eine Sache des reflexiven Gemeinschaftsbewußtseins wäre, dann wäre es mithin »nichts anderes als eine subjektive Synthese, eine abgeleitete, sich nur im Bewußtsein des Individuums vollziehende Vereinigung vieler Ich« – mithin bewege sich diese Konzeption, wie Frank abschließend bemerkt, in den Bahnen des »sozialen Atomismus«, der im blinden, in der westeuropäischen Philosophie seit Descartes bestehenden Zwang bestehe, alle Geistigkeit vom Ich her zu denken und das
Heidegger, Martin: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache [1934]. Gesamtausgabe Bd. 38, Frankfurt a. M. 1982, S. 53; 55 f. 88 Frank, Simon L.: Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft. Einführung in die Sozialphilosophie. Hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Peter Ehlen, Freiburg i. Br. 2002. 89 Frank 2002, S. 131. 87
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»Wir« als abgeleitet zu behandeln. 90 Die Fixierung der Analyse des »Wir« auf das reflexiv-thematische Gemeinschaftsbewußtsein von Individuen entspringt mithin der Tendenz, das »Wir« letztlich dem Prinzip des »Ich« zu unterstellen; eine Tendenz, vor der sich ein »wirklich adäquates Verständnis des Wir« zu hüten habe. 91 Wie auch immer die Ätiologie der perspektivischen Verzerrung sein mag: Die Vermutung ist nach den in diesem Paragraphen gemachten Überlegungen jedenfalls die folgende. »Wir« sind wir ursprünglich nicht dadurch, daß wir uns als »Wir« erleben und im Rahmen einer Vorstellung vom Kollektiv ein Selbstbild als Mitglied aufbauen, sondern dadurch, daß wir gemeinsam fühlen, erleben und handeln. Und gemeinsames Fühlen, Denken und Handeln beruht nicht auf einem individuellen Entscheid für gemeinsames Fühlen, Denken und Handeln; denn dann wäre ja das Gemeinsame wiederum zuerst Gegenstand des Bewußtseins der Beteiligten, bevor es zum eigentlichen gemeinsamen Denken und Handeln käme. Nicht deshalb können wir gemeinsam Denken und Handeln, weil wir gemeinsames Denken und Handeln zum Gegenstand unseres Bewußtseins machen und ihm zustimmen können, sondern umgekehrt: Die Tatsache, daß wir gemeinsam denken und handeln können ist Voraussetzung dafür, daß wir unser gemeinsames Intendieren reflexiv zum Thema unseres individuellen Bewußtseins machen können (und unsere Zustimmung dazu geben oder verweigern können). Das bedeutet: Auf den ursprünglichen Begriff des gemeinsamen Tuns bezogen macht der Begriff der »Freiwilligkeit« bzw. der »Zustimmung« ebenso wenig Sinn wie derjenige des Zwangs. An dieser Stelle breche ich die Auseinandersetzung mit dem Problem der kollektiven Identität ab. Thema dieses Abschnitts war derjenige Erklärungsansatz der Struktur des Gemeinschaftshandelns, welcher auf ein »Sich-als-Gruppenmitglied-Sehen« rekurriert. Die Analyse des »Sich-als-Gruppenmitglied-Sehens« führte in beträchtliche Schwierigkeiten; es scheint, daß diese nur zu lösen sind, wenn man das Phänomen des gemeinsamen Intendierens (als gemeinsames Denken, Tun oder Fühlen) als Voraussetzung des reflexiv-thematiFrank 2002, S. 131 f. So klarsichtig diese Problemdiagnose ist, so knapp sind dann allerdings Franks weitere Befunde. Auf die Frage nach der »ursprünglichen Einheit« der Gemeinschaft meint Frank trocken: »Sie ist nichts anderes als das Prinzip, das grammatikalisch in dem Wort wir wiedergegeben wird« (Frank 2002, S. 135); es handle sich hier schlicht um eine »primäre Kategorie des persönlichen menschlichen und darum sozialen Seins« (ebd. S. 137).
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schen Gruppenbewußtseins behandelt. Dem reflexiv-thematischen Wir-Bewußtsein liegt ein vorreflexiv-unthematisches Wir-Bewußtsein zugrunde: gemeinsame Absichten, Überzeugungen, affektive Intentionen. Es mag scheinen, daß wir damit – nach gründlichem Auskundschaften einer Sackgasse – wieder am Ausgangspunkt der Analyse stehen. Die Frage ist ja nach wie vor: Was hat sich verändert zwischen dem Moment, in welchem Anna und Berta individuell unterwegs waren (in dem die Anwendungsbedingungen von »wir« also nicht erfüllt waren), und dem Punkt, an dem aus dem individuellen Wandern ein gemeinsames Wandern geworden ist, an dem Berta nicht mehr fragen kann: »hätten Sie vielleicht Lust, hier mit mir zu rasten?«, ohne sich ein irritiertes »ja sind wir denn jetzt plötzlich nicht mehr gemeinsam unterwegs?« von Seiten von Anna einzuhandeln?
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ii. Eine Kopernikanische Wende
Was den Unterschied zwischen individuellem und gemeinsamem Handeln ausmacht, liegt nicht in dem, was die Beteiligten über ihr Verhalten (oder ihre Absichten) denken. Die Gemeinsamkeit gemeinsamen Tuns geht der Reflexion auf die Gemeinsamkeit voraus; sie liegt im Tun selbst. Und doch genügt hier, wie oben (§ 1) gesehen, der Rekurs auf die Verhaltenskomponente des Handelns nicht. Wenn nämlich auch das Vorliegen von Anschlußverhalten den Fall individuellen Handelns von jenem gemeinsamen Handelns unterscheidet, so ist ein bestimmtes Anschlußverhalten von vornherein nur über die Intention der oder des Handelnden als Anschlußverhalten zu bestimmen. Der »Anschluß«, um den es hier geht, ist nicht bloß das faktische Zusammenstimmen individuellen Verhaltens (obschon natürlich auch das). Das Zusammenstimmen muß nämlich, wenn ein Fall von Gemeinschaftshandeln vorliegt, auch geeignet intendiert sein. Diese »Anschlußintention« kann, wie im letzten Paragraphen gesehen, nicht dem reflexiv-thematischen Gemeinschaftsbewußtsein zugeschrieben werden. Das Wir-Bewußtsein, welches den Unterschied zwischen individuellem Handeln und Gemeinschaftshandeln macht, liegt vor dem reflexiv-thematischen Gemeinschaftsbezug unmittelbar im gemeinsamen Intendieren selbst. Damit sind wir zumindest insofern einen Schritt weitergekommen, als sich die Frage nach dem Unterschied zwischen individuellem Tun und Gemeinschaftshandeln jetzt etwas anders stellt. Die Frage ist jetzt die: Was bedeutet es, etwas gemeinsam vorzuhaben? Was ist der Unterschied zwischen einem Aggregat von mehreren individuellen Absichten und gemeinsamen Intentionen? Gehen wir noch einmal zurück zur Situation, wie sie sich dem oben eingeführten Behavioristen darbietet, welcher Anna und Bertas Wandern mit dem Fernrohr von der anderen Talseite aus beobachtet. Zunächst gehen beide dicht hintereinander auf dem schmalen, sich im Zickzack die Bergflanke hochwindenden Pfad. Dann wird Berta A
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allmählich etwas langsamer; es öffnet sich ein Abstand zwischen Anna und Berta. Kurz nach der nächsten Kehre – Berta geht mittlerweile vielleicht fünfundzwanzig Meter hinter Anna – verlangsamt Anna ihren Schritt plötzlich stark. Berta behält ihrerseits das Tempo bei oder steigert es gleich nach Annas Temporeduktion ein wenig, bis sie Anna eingeholt hat. Darauf gehen beide wieder im gleichen Tempo den schmalen Pfad hoch, Berta diesmal dicht vor Anna. Diese Verhaltenskonstellation legt es, wie oben gesehen, nahe, daß das beobachtete Verhalten Anschlußverhalten ist, daß Anna und Berta gemeinsam unterwegs sind – ohne daß dies freilich dem beobachteten Verhalten eindeutig zu entnehmen wäre. Die beobachtete Verhaltenssequenz ist, wie die oben dargestellte Alternativdeutung zeigt, mit dem Vorliegen rein individuellen Verhaltens durchaus verträglich. Die Frage, die sich stellt, ist: Welche Intentionen (Absichten und Überzeugungen) unterstellt eine Beobachterin bzw. ein Beobachter, wenn er die beobachtete Verhaltenssequenz als Gemeinschaftshandeln auffaßt? Dabei muß erstens, um es noch einmal zu betonen, nicht davon ausgegangen werden, daß eine beobachtende Person überhaupt über so etwas wie ein eindeutiges Kriterium verfügt, anhand dessen sie die anstehende Frage – Gemeinschaftshandeln oder nicht? – eindeutig beantworten könnte. Es geht nur um die Frage, was wir gemeinhin unterstellen, wenn wir einen Verhaltenskomplex als Gemeinschaftshandeln deuten. Zweitens sollte man sich wohl vor übertriebenen Allgemeinheitsunterstellungen hüten. Es ist nicht von vornherein ausgemacht, daß es überhaupt etwas gibt, was alle Fälle abdeckt, was also allen möglichen »gemeinschaftlichen« Formen des Handelns gemein ist. Halten wir uns deshalb zunächst an den gegebenen Fall: Welche Intentionen unterstellt die beobachtende Person, wenn sie das beobachtete Verhalten von Anna und Berta als Gemeinschaftshandeln interpretiert? Was für Intentionen unterstellen sich die Beteiligten wechselseitig, wenn sie davon ausgehen, daß die Anwendungsbedingungen von »wir« erfüllt sind?
§ 4 Reduktionismus: eine Sackgasse Der in der einschlägigen Literatur am weitesten verbreitete (und zugleich der ontologisch sparsamste) Deutungsansatz ist derjenige, der sich auf jener allgemeinen Linie bewegt, für welchen Max Webers Begriff des Gemeinschaftshandelns exemplarisch ist. Für Weber (und 108
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jene, die auf dieser Linie argumentieren), ist der subjektive Sinn, den die Handelnden mit ihrem Verhalten verbinden, für das Vorliegen von Gemeinschaftshandeln ausschlaggebend. Dabei ist Gemeinschaftshandeln im Grundansatz (auf die Möglichkeiten zur Abgrenzung wird später noch einzugehen sein) einfach soziales Handeln, d. h. Handeln von Individuen, welches (in Form von Erwartungen und Überzeugungen) auf das Verhalten anderer bezogen ist. 1 Diese Definition des sozialen Handelns bildet denn auch den Rumpf von Webers Begriffsbestimmung des Gemeinschaftshandelns: »Von ›Gemeinschaftshandeln‹ wollen wir da sprechen, wo menschliches Handeln subjektiv sinnhaft auf das Verhalten anderer Menschen bezogen wird.« 2 »Gemeinschaftshandeln« ist mithin eine Form sozialen Handelns, wobei das specificum des Gemeinschaftshandelns darin zu liegen scheint, daß die Beteiligten sich auf das Verhalten der anderen in Form von Erwartungen beziehen. Weber fährt in seiner Begriffsbestimmung nämlich fort: »Ein ungewollter Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. soll uns nicht Gemeinschaftshandeln heißen. Wohl aber ihre etwaigen vorherigen Versuche einander auszuweichen, oder, nach einem Zusammenstoß, ihre etwaige ›Prügelei‹ oder ›Verhandlung‹ über gütlichen ›Ausgleich‹. Nicht etwa nur Gemeinschaftshandeln ist für die soziologische Kausalzurechnung wichtig. Aber es ist das primäre Objekt einer ›verstehenden‹ Soziologie. Einen wichtigen normalen – wenn auch nicht unentbehrlichen – Bestandteil des Gemeinschaftshandelns bildet insbesondere dessen sinnhafte Orientierung an den Erwartungen eines bestimmten Verhaltens anderer und den darnach für den Erfolg des eigenen Handelns (subjektiv) geschätzten Chancen. Ein äußerst verständlicher und wichtiger Erklärungsgrund des Handelns ist dabei das objektive Bestehen dieser Chancen, d. h. die größere oder geringere, in einem ›objektiven Möglichkeitsurteil‹ ausdrückbare Wahrscheinlichkeit, daß diese Erwartungen mit Recht gehegt werden. Davon bald mehr. Wir bleiben zunächst bei dem Tatbestand der subjektiv gehegten Erwartung.« (Herv. von mir)
Übertragen wir das auf den Fall von Anna und Berta und versuchen wir, damit zu arbeiten. »Gemeinschaftshandeln« im »gewöhnlichen« Sinn liegt demgemäß in der gegebenen Situation nur dann vor, wenn Anna ihren Schritt deshalb verlangsamt, weil sie erwartet, daß Berta Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft [1921]. Tübingen 5 1968, § 1. So Max Weber in den »Kategorien der verstehenden Soziologie« von 1913 (In: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Marianne Weber, Tübingen 1922, S. 403–450), S. 417.
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ihr Tempo zumindest beibehält oder aber steigert. Anna orientiert ihr Verhalten nicht nur an Bertas tatsächlichem Verhalten (was Webers Definition von »sozialem Handeln« schon genügen würde), sondern an einer »Erwartung« bezüglich Bertas Verhalten. In Webers Sinn »normal« ist es darüberhinaus, wenn Anna dabei den Erfolg ihrer Handlung kalkuliert. Dies kann man sich wohl etwa so vorstellen: »Zweckrationalerweise« wird Anna nur dann ihren Schritt verlangsamen, wenn sie die Chance, daß Berta zu ihr aufschließen wird, als genügend groß einschätzt (und sich dabei nicht täuscht). Weber unterscheidet allerdings von diesem »zweckrationalen« Normalfall einen »wertrationalen« Sonderfall, bei dem die Handelnde keine kognitive Handelnserwartung zugrundelegt, sondern »aus Pflicht« o. dgl. handelt; 3 darauf wird unten zurückzukommen sein (§ 14). Beschränken wir uns hier zunächst auf den Normalfall, also das zweckrationale Gemeinschaftshandeln: Anna verlangsamt ihren Schritt also deshalb, weil sie erwartet, daß Berta ihr Tempo zumindest beibehält oder aber steigert (womit Annas »Auf-Berta-Warten« Erfolg beschieden wäre). Eine Schwäche dieses Begriffs ist offensichtlich – und zwar eine, die zumindest indirekt aus dem methodologisch individualistischen Zuschnitt von Webers Theorie resultiert. Weber schließt das Kapitel »Gemeinschaftshandeln« in den »Kategorien der verstehenden Soziologie« mit den Worten »Stets (…) ist uns ›Gemeinschaftshandeln‹ ein (…) Sichverhalten von Einzelnen zum aktuellen oder zum vorgestellten potentiellen Sichverhalten anderer Einzelner«. 4 Damit will Weber einmal mehr das Schreckgespenst des Kollektivsubjekts verscheuchen; aber was sich daraus ergibt, ist als Begriffsbestimmung alles andere als plausibel. Denn was aus diesem Ansatz folgt, ist, daß Weber das Gemeinschaftshandeln als rein einzelsubjektives und nicht als relationales Phänomen beschreibt. Im Bemühen, den Gruppengeist zu bannen, führt Weber die Kategorie des Gemeinschaftshandelns rein über die Intentionalität eines einzelnen Handlungssubjekts ein. Nach Weber würde diesem Grundansatz gemäß auch dann eine Gemeinschaftshandlung vorliegen, wenn nun Anna ihren Schritt verlangsamt in der Erwartung, daß Berta aufholt, obwohl Berta ihre Hoffnung, den Weg gemeinsam mit Anna zu wandern, inzwischen frustriert hat fahren lassen und ihrerseits ihr Handeln sinnhaft nicht an Anna orientiert. Aber so etwas ist kein Ge3 4
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meinschaftshandeln, sondern allenfalls ein mißlungenes individuelles Beitragshandeln zu einem nicht zustandekommenden Gemeinschaftshandeln. Wie kann man diese völlig unplausible Konsequenz vermeiden? Ich glaube, es ist hier wichtig, die Differenz zwischen sozialem (also sinnhaft auf andere bezogenem) Handeln und Gemeinschaftshandeln stärker zu machen, als Weber selbst dies tut. Wenn Anna ihren Schritt etwas verlangsamt in der Erwartung, daß Berta zu ihr aufschließt, Berta aber einfach unentwegt in ihrem gemächlichen Trott verbleibt, liegt zwar seitens Annas ein soziales Handeln vor, aber beileibe keine Gemeinschaftshandlung. Ob in einer gegebenen Situation ein Fall von Gemeinschaftshandeln vorliegt oder nicht, ob unsere Wanderer an einem bestimmten Punkt noch alleine unterwegs sind oder schon gemeinsam, sieht man nicht, wenn man nur in Betracht zieht, was im Kopf der einen vorgeht. Es kommt hier mindestens noch auf das »sinnhafte Erleben« der anderen an. Das Gemeinschaftshandeln braucht, so der erste, banale Befund (der freilich nicht-triviale Konsequenzen hat: vgl. unten § 9), mindestens zwei. 5 Was Weber unter dem Titel des Gemeinschaftshandelns analysiert, ist mithin nicht die volle »intentionale Infrastruktur« des entsprechenden Verhaltenskomplexes, sondern nur die rein für sich genommene Intentionalität eines beteiligten Individuums. Verstehen wir Webers Grundansatz also zunächst nicht als Analyse von Gemeinschaftshandeln, sondern als Analyse der intentionalen Struktur der individuellen Beiträge zum Gemeinschaftshandeln, also als Beschreibung des Sinns, den Individuen mit ihrem individuellen Verhalten verbinden, wenn sie gemeinsam handeln. Man könnte dann Webers Beschränkung des Begriffs des Gemeinschaftshandelns auf das Handeln eines einzelnen Subjekts aufgeben und etwa sagen, daß Gemeinschaftshandeln dann vorliegt, wenn alle am Gemeinschaftshandeln Beteiligten die entsprechende Webersche Intentionalität haben. In der vorliegenden Versuchsanordnung würde das folgendes bedeuten: Ein Gemeinschaftshandeln liegt dann vor, wenn a) Anna ihren Schritt verlangsamt, weil sie ein bestimmtes Verhalten Es ist denn auch mehr als verständlich, daß Weber den Begriff des »Gemeinschaftshandelns« in seinen inhaltlichen Analysen stets im Sinne des Handelns von mehreren Individuen verwendet. Vgl. dazu etwa die Verwendung des Begriffs im Rahmen der Analyse der Kategorien der Klasse, des Stands und der Partei (Weber 1921/1968, S. 631 ff.).
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von Berta erwartet – etwa daß Berta ihr Tempo beibehält oder steigert; b) Berta ihrerseits ihr Tempo beibehält oder steigert in Erwartung eines bestimmten Verhaltens von seiten von Anna – sie mag etwa erwarten, daß Anna entweder stehenbleibt oder ihr verlangsamtes Tempo zumindest bis zu dem Punkt beibehält, an dem Berta Anna einholt. Dies schließt dann die oben monierten »einseitigen« Fälle aus, etwa den Fall, daß Anna zwar auf Berta wartet, Berta ihrerseits sich aber nicht um Anna schert – oder auch den, daß umgekehrt Anna sich nicht um Berta schert (sondern bloß zufällig langsamer wird). Weiter schließt dies natürlich auch den Fall aus, daß keine der beiden ihr Verhalten am Verhalten der anderen orientiert (also etwa Anna bloß zufälligerweise langsamer und Berta ebenso zufälligerweise schneller wird). In keinem dieser drei Fälle wäre gemäß dieser erweiterten Analyse von »Gemeinschaftshandeln« zu reden, und dem gegen Weber erhobenen Vorwurf wäre damit Genüge getan. Aber auch als Analyse des individuellen Beitrags zu einem Gemeinschaftshandeln ist der Webersche Erklärungsansatz inadäquat. Anna kann nämlich eine Intention der Form »ich verlangsame meinen Schritt« aufgrund ihrer Erwartung bilden, daß Berta ihr Tempo beibehält oder steigert, ohne damit einen individuellen Beitrag zu einem Gemeinschaftshandeln zu intendieren. Nehmen wir an, Anna erwartet, daß Berta ihr Tempo halten oder steigern wird, nachdem Anna selbst ihren Schritt verlangsamt haben wird; gleichzeitig ist Anna nun aber der Überzeugung, daß Berta dies unabhängig von ihrer Erwartung bezüglich Annas Verhalten tut. Anna ist beispielsweise einfach der Überzeugung, daß die gerade in den Blick kommende Paßhöhe Berta daran erinnern wird, daß sie am Ende der Wanderung die goldene Wandernadel wird entgegennehmen können – was sie, wie Anna weiß, kaum erwarten kann. Wenn nun Anna ihr Tempo verlangsamt in der Erwartung, daß Berta aufgrund ihres brennenden Interesses am Erhalt der goldenen Wandernadel ihr Tempo gleich steigern wird, dann verlangsamt sie ihr Tempo offensichtlich nicht als Beitragsverhalten zu einem Gemeinschaftshandeln; sie weiß dann ja genau, daß Berta ihrerseits nicht versuchen wird, Anna einzuholen, um die Wanderung gemeinsam fortzusetzen, sondern ihr Tempo ganz unabhängig von ihrer Erwartung bezüglich Annas Verhalten steigern wird (ganz so als wäre Anna überhaupt nicht da). Es mag wohl sein, daß Anna nun trotzdem eine Handlung mit der Weberschen intentionalen Struktur ausführt, also ihren Schritt verlangsamt in der Erwartung, daß Berta ihr Tempo steigert. 112
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Sie könnte zum Beispiel Berta nach dem Weg fragen wollen o. dgl.; das wäre dann allerdings soziales Handeln, aber kein Beitragshandeln zu einem Gemeinschaftshandeln. Im Unterschied zu Weber, der das Gemeinschaftshandeln letztlich mit dem sozialen Handeln zu identifizieren scheint, muß eine adäquate Theorie des Gemeinschaftshandelns deutlich kennzeichnen, was individuelles Beitragshandeln zu Gemeinschaftshandlungen von anderen Formen sozialen Handelns unterscheidet. Die Frage scheint also zu sein: Was muß zu Annas Erwartung eines bestimmten Verhaltens von Berta hinzukommen, damit Anna ihr Verhalten als Beitragsverhalten zu einem Gemeinschaftshandeln intendieren kann? Eine vielleicht naheliegend anmutende Antwort lautet: Was fehlt, ist hier schlicht eine entsprechende intentionale Struktur des Verhaltens von Berta. Gemeinschaftshandeln liegt nur dann vor, wenn alle Beteiligten ihr Verhalten in der genannten Weise aneinander orientieren. Nun scheint aber klar zu sein, daß Anna ihr Verhalten nicht als Beitragshandeln zu einem Gemeinschaftshandeln intendieren kann, wenn Berta zwar tatsächlich ihre Temposteigerung am Verhalten von Anna orientiert (also etwa Anna einholen will), Anna dies aber nicht weiß, sondern vermutet, daß Berta es einfach nicht erwarten kann, die goldene Wandernadel entgegenzunehmen. Wenn Anna ihr Verhalten als individuelles Beitragshandeln zu einem Gemeinschaftshandeln intendiert, tut sie dies nicht bloß aufgrund eines geeigneten Anschlußverhaltens von Berta – und es reicht auch nicht, daß Bertas Anschlußverhalten faktisch geeignet motiviert ist. Vielmehr muß Anna vom Vorliegen einer geeigneten Motivation überzeugt sein (sie muß zumindest stillschweigend von einem entsprechenden Motiviertsein von Berta ausgehen). Anna muß, mit anderen Worten, nicht nur mit Bertas faktischem Anschlußverhalten rechnen, sondern es als entsprechend »sinnhaft orientiertes« Anschlußhandeln erwarten. Zur Weberschen »Erwartung des Verhaltens der anderen« muß mindestens noch eine Überzeugung bezüglich der Erwartung der anderen treten. Damit verkompliziert sich die Lage aber beträchtlich. Das Problem ist nämlich, daß man an kein Ende kommt, wenn man erst einmal damit begonnen hat, das proprium des Gemeinschaftshandelns (bzw. das, was individuelles Beitragshandeln zu Gemeinschaftshandeln von anderen Formen des sozialen Handelns unterscheidet) im Bereich von Erwartungen und Überzeugungszuschreibungen zu suchen. Erwartet Anna das Verhalten von Berta als Anschlußhandlung, A
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muß sie jetzt nämlich zumindest implizit zusätzlich zur ersten Überzeugung noch eine Überzeugung bezüglich der Überzeugung von Berta haben: Wäre Anna nicht überzeugt, daß Berta davon überzeugt ist (oder doch im geeigneten Moment zur Überzeugung kommen wird), daß Anna aufgrund ihrer Erwartung bezüglich Bertas Verhalten ihren Schritt verlangsamt, würde sie ihr Verhalten nicht als Beitragsverhalten intendieren. Und so weiter ad infinitum. Die intentionale Struktur des Beitragshandelns zu Gemeinschaftshandlungen umfaßt also nicht bloß die Beitragsintention selbst (die Absicht, »seinen Teil« zum Gemeinschaftshandeln zu tun). Sie umfaßt auch Überzeugungen bezüglich der Überzeugungen der Beteiligten. Das ist in der entsprechenden Debatte nicht verborgen geblieben; im Kontext der frühen Phänomenologie hat so schon etwa der Husserl-Schüler Tomoo Otaka in seiner Ontologie des »sozialen Verbandes« ein diesbezügliches Ungenügen des Weberschen Ansatzes festgestellt und darauf hingewiesen, daß zur Wesensstruktur der »sozialen Beziehung« nicht nur die Weberschen »sozialen Akte« gehören, sondern auch so etwas wie ein wechselseitiges »Verstehen« dieser Akte als das, was sie sind. Und Adolf Reinach beschreibt nur das notwendige »Gewolltsein« dieser – wie Reinach sagt – »Verstehensbedürftigkeit« sozialer Akte, wenn er umgekehrt betont, daß soziale Akte nicht nur sinnhaft an anderen orientiert sind, sondern auch eine Kundgabefunktion haben (Otaka spricht diesbezüglich seinerseits von »Ausdruck«). 6 Nur ist hier wie überhaupt in der früheren Diskussion kaum zu Bewußtsein gekommen, daß der Rekurs auf Kategorien wie Verstehen und Kundgabe bzw. Ausdruck innerhalb eines rein individualistischen Ansatzes unweigerlich in eine infinite Iteration führt. 7 Reinach, Adolf: Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts. In: Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung, hrsg. v. Edmund Husserl, Bd. 1/2, Halle 2 1922, S. 685–847, insbes. S. 707 f. 7 Otaka unterscheidet in seiner weithin unterschätzten Analyse zu den Grundlagen der Sozialontologie sechs »Glieder« der sozialen Beziehung zwischen A und B. Dazu gehört ein auf B gerichteter sozialer Akt von A, dessen Ausdruck durch A und dessen Verstandenwerden durch B, und mutatis mutandis dasselbe (also Akt, Ausdruck und Verstehen seitens des Interaktionspartners) für B (Otaka, Tomoo: Grundlegung der Lehre vom sozialen Verband. Wien 1932, S. 121). Gegenüber Webers Begriffsdefinition der »sozialen Beziehung« (Weber 1921/1968, § 3) geht Otaka damit in die richtige Richtung. Denn für Weber genügt schon einfaches wechselseitig aneinander orientiertes »soziales Handeln« zum Vorliegen einer sozialen Beziehung. Otaka fügt dem die Dimension des »Ausdrucks« und jene des »Verstehens« bei. Schon in Otakas Bezeichnung von B’s Verhalten als »Antwortreaktion« (Otakas Begriff) wird allerdings klar: A muß nicht nur B’s 6
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Dies, am Beispiel ausgedrückt, aus dem folgenden Grund. Soll ihr Verhalten ein Beitragshandeln zu einem Gemeinschaftshandeln konstituieren, muß Anna nicht bloß das geeignete Verhalten als Beitragshandeln intendieren; sie muß auch der Überzeugung sein, daß Berta der Überzeugung ist, daß dieses Verhalten als Beitragshandeln intendiert ist. Und sie muß der Überzeugung sein, daß Berta der Überzeugung ist, daß Anna der Überzeugung ist, daß Berta der Überzeugung ist, daß dieses Verhalten als Beitragshandeln intendiert ist. Und so weiter ad infinitum. Die Vermutung scheint plausibel, daß diese infinite Iteration von kognitiven Intentionen in Wahrheit ein Theorieartefakt ist, welches nur deshalb ins Spiel kommt, weil wir die fragliche Situation mit untauglichen Theoriemitteln zu beschreiben versuchen. Die Frage ist nur: Inwiefern sind die Theoriemittel denn ungeeignet? Die in der gegenwärtigen Sozialtheorie zumindest im deutschen Sprachraum wohl immer noch populärste Antwort lautet: Das Problem ist, daß wir eine intentionalistische statt eine linguistisch basierte Beschreibung der Situation versucht haben. Statt bei der Intentionalität von Subjekten müsse man bei der Sprache ansetzen; nicht beim monologischen Objektbezug, sondern vielmehr bei der intersubjektiven Verständigung. Bezeichnend für diese »intersubjektivistische« Linie (auf sie wird weiter unten zurückzukommen sein) ist beispielsweise eine Passage von Charles Taylor: »Es gibt eine im postkartesischen Denken größtenteils ignorierte oder falsch dargestellte Unterscheidung: die zwischen solchen Dingen, die für dich und mich sind, einerseits und solchen, die für uns sind, andererseits. Diese Unterscheidung spielt in menschlichen Angelegenheiten eine enorm wichtige und durchdringende Rolle – auf banale wie auch schicksalhafte Weise. In einem banalen Kontext übertragen wir Dinge von einer Kategorie in die nächste, wenn wir ein gewöhnliches Gespräch über den Gartenzaun eröffnen. ›Schönes Wetter haben wir heute‹, sage ich zu meinem Nachbarn. Auch vorher war er sich des Wetters bewußt und mag es wahrgenommen haben; ich offensichtlich auch. Es war eine Sache für ihn und auch für mich. Was derjenige, der das Gespräch eröffnet, tut, ist, daraus eine Sache für uns zu machen: wir nehmen es nun gemeinsam wahr. Es ist wichtig zu sehen, daß dieses gemeinsame Wahrnehmen nicht auf eine Summe getrennten Wahrnehmens reduziert werden kann. Offensichtlich schließt es etwas mehr ein, als daß jeder Ausdruck verstehen, sondern auch verstehen, daß dieser Akt ein Verständnis seines eigenen Handelns ausdrückt etc. etc. pp. Vorausgesetzt ist also ein »Verstehen des Verstehens des Verstehens etc.«. A
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von uns das Wetter für sich allein genießt. Doch unsere atomistischen Vorurteile verleiten uns zu dem Versuch, dies eher in Begriffen der Gesamtheit monologischer Geisteszustände zu verstehen: zum Beispiel, daß ich jetzt weiß, daß du wahrnimmst, und du weißt, daß ich wahrnehme, und du weißt, daß ich weiß, daß du weißt, und so weiter.« 8
Blicken wir von hier aus zurück auf das Beispiel der beiden Wanderinnen: Tatsächlich wird das »Wir«, welches sich zwischen den beiden aufbaut, vielleicht mit so etwas wie der Bemerkung »Schönes Wetter haben wir heute« erstmals ins Spiel kommen. Dieses »Wir« macht aus den individuellen Wanderprojekten zwar noch längst kein Gemeinschaftshandeln – daß »wir« schönes Wetter haben, heißt noch nicht, daß wir gemeinsam unterwegs sind – aber es scheint sich schon hier etwas anzukündigen, was über den rein distributiven Sinn von »wir« hinausgeht: Die Schönheit des Wetters erlebt nun nicht jeder und jede für sich, sondern die Beteiligten erleben sie gemeinsam. Und von der Gemeinsamkeit des Erlebens zur Gemeinsamkeit des Tuns ist es nur ein Schritt. Liegt also das Sprechen am Grund der Gemeinsamkeit? So einsichtig das Anliegen ist, das bei Taylor zum Ausdruck kommt – nämlich das Anliegen, aus der Herleitung von Gemeinsamkeit über eine infinite Iteration von Überzeugungen auszubrechen –, so fraglich ist, ob der Weg über die Sprache der dazu geeignete ist. Gegen den »linguistischen Ansatz« sprechen m. E. verschiedene gewichtige Gründe: Zum einen ist es eine starke Prämisse, daß wir vor der Gesprächseröffnung bzw. außerhalb sprachlich vermittelter Kommunikation nur je individuell, also nicht gemeinsam erleben können. Hier scheint die intersubjektivistische Kritiklinie selbst noch dem »Kartesischen Monologismus« oder »Atomismus« aufzusitzen, den sie doch zu bekämpfen glaubt. Gerade in der Abwendung vom »Intentionalismus« zementiert nämlich die intersubjektivistische Kritik ein monologistisches Mißverständnis von Intentionalität. Aber nicht der Ansatz bei der Intentionalität (qua vorsprachliche Kognition), sondern das Verständnis dieser Intentionalität ist das Problem. Was der Intersubjektivismus ebenso wie sein monologistischer Widerpart aus den Augen verliert ist: Auch Wesen, die nicht über eine propositional Taylor, Charles: Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. In: Honneth, Axel (Hrsg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1992, S. 103–130, hier S. 112.
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ausdifferenzierte Sprache kommunizieren, können gemeinsam Erleben, denken, empfinden oder auch handeln. Auch wenn die beiden Individuen in Taylors Beispiel nicht sprachkompetent sind, können sie das Wetter gemeinsam erleben. Ein Indiz, welches in diese Richtung weist: Warum sonst würden wir Alltagsäußerungen wie jene über das Wetter so müßig finden, wenn nicht deshalb, weil wir schon vorsprachlich gemeinsam erleben, weil das Wetter schon vor aller sprachlichen Kommunikation eine Sache für uns ist oder doch sein kann? Es ist dann eben nicht notwendigerweise so, daß sich der Status des Wetters durch die Gesprächseröffnung ändert; das Wetter war schon vorsprachlich gemeinsam erlebt. Das ist nur eines von verschiedenen Problemen des intersubjektivistischen Alternativansatzes. Ein zweites betrifft seine Zirkularität. Am genannten Beispiel: Taylor leitet in der zitierten Passage das gemeinsame Wissen von einer Gemeinschaftshandlung ab, nämlich dem Akt der Verständigung – dabei war es doch gerade die Analyse von Gemeinschaftshandlungen, die uns überhaupt auf das Problem des gemeinsamen Wissens geführt hat! Mithin scheint die linguistisch-intersubjektivistische These zirkulär zu sein. Sehen wir deshalb noch einmal näher hin. Es mag aus intersubjektivistischer bzw. linguistischer Sicht scheinen, daß das Eingangsbeispiel von Anna und Berta aufgrund der intentionalistischen Betrachtungsweise völlig verkürzt in den Blick genommen worden ist. Wir haben nämlich das Wandern als nichtinstitutionelles Tun ins Auge gefaßt. Dabei bewegen sich ja auch Bergwanderungen nicht im institutionenfreien Raum, und insbesondere auch nicht außerhalb der »Metainstitution« Sprache. Das mehrmalige Anpassen des eigenen Wandertempos an dasjenige der anderen, gilt im Kontext von Bergwanderung als Signalisation der Bereitschaft, den Weg gemeinsam zu gehen (dies ist die »Kundgabefunktion« des entsprechenden sozialen Aktes); das passende Anschlußverhalten des oder der anderen Beteiligten gilt als Eingehen auf den Vorschlag. Dieses »Gelten als …« stellt eine Symbolisierungsleistung dar; nur schon dadurch (und erst recht über die Verwiesenheit von Regelanwendungen auf intersubjektive Kritik, wenn man diese für gegeben hält) kommt hier die Sprache ins Spiel. Oder aber Berta könnte auch, um etwa bestehende Zweifel darüber auszuschließen, ob man nun individuell oder gemeinsam unterwegs ist, sich einfach direkt der Institution der Sprache bedienen. Berta könnte sich vielleicht beim ersten Rast mit den folgenden Worten an Anna wenden: »Wir haben offenbar den gleichen Weg vor uns. A
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Ist es ihnen recht, wenn ich mich ihnen anschließe?« Ein »ja, machen wir uns gemeinsam auf den Weg« o. dgl. seitens von Anna macht aus den individuellen Wanderinnen eine Wir-Gruppe und aus dem Wandern eine gemeinsame Angelegenheit. Dieser oder ein ähnlicher Vorgang scheint ja auch die Kernthese von Margaret Gilberts »plural subject theory« zu sein; und auch Max Weber hat wohl seinesteils schon so etwas im Blick gehabt, wenn er im Abschnitt zum »Gemeinschaftshandeln« meint, daß die Beteiligten im Falle von Gemeinschaftshandeln ihre Erwartungen bezüglich des Verhaltens der anderen vorzugsweise aufgrund einer »Vereinbarung« bzw. der »Verständigung« bilden werden. 9 Setzt also alles Gemeinschaftshandeln sprachliche Verständigung voraus? Ein schon erwähnter Nachteil dieser Konzeption ist sicherlich, daß sie Gemeinschaftshandeln auf Wesen beschränkt, die nicht bloß Absichten und (allenfalls auch höherstufige) Überzeugungen haben, sondern sprach- oder doch zumindest symbolisierungsfähig sind; man könnte ja dann das, was intentionale, aber nicht-sprachfähige Akteure (etwa Primaten) tun, wenn sie etwas gemeinsam tun (oder doch zu tun scheinen), nicht Gemeinschaftshandeln nennen. Diesen Nachteil sollte man sicherlich nicht leichtfertig in Kauf nehmen; denn aus ihm resultiert eine von ihren kognitiven Voraussetzungen her sehr restriktive Sozialontologie. 10 »Gemeinschaft« wird dann von vornherein auf so etwas wie »Gemeinschaft von sprachfähigen Menschen« eingeschränkt. Und dies hinwiederum scheint sich phänomenal schlecht zu vertragen mit Erfahrungen, die man mit nicht-sprachfähigen Menschen oder vielleicht auch einigen höheren Tieren machen kann. Gemeinschaft gibt es nicht nur unter sprachfähigen Wesen, auch wenn die Gemeinschaft von »linguistic practicioners« in vielen Zügen natürlich eine ganz andere sein wird Von den für das Gemeinschaftshandeln konstitutiven Erwartungen sagt Weber: »Insbesondere kann sich diese Erwartung darauf subjektiv gründen: daß der Handelnde sich mit dem oder den anderen ›verständigt‹, ›Vereinbarungen‹ mit ihnen getroffen hat, deren ›Innehaltung‹, dem von ihm selbst gemeinten Sinn gemäß, er von ihnen zu gewärtigen Anlaß zu haben glaubt. Schon dies ergibt eine dem Gemeinschaftshandeln spezifische qualitative Besonderheit, weil eine sehr wesentliche Erweiterung desjenigen Umkreises von Erwartungen, an welchen der Handelnde sein eigenes Handeln zweckrational orientieren zu können glauben wird« (Weber 1922, S. 417 f.). 10 Erwähnt sei aber immerhin ein Versuch, kollektive Intentionalität als humanum anzusetzen: vgl. Tomasello, Michael/Rakoczy, Hannes: What makes human cognition unique? From individual to shared to collective intentionality. In: Mind and Language 18/2 (2003), S. 121–147. 9
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als alle anderen Formen von Gemeinschaft. Eine Sozialontologie, die etwas auf sich hält, sollte die Beschränkung auf sprachfähige Interaktionsteilnehmer nicht unbesehen in Kauf nehmen. Dieser Problemkomplex (wir werden ihn unten noch einmal streifen) braucht an dieser Stelle freilich nicht weiter zu kümmern. Denn viel gravierender ist ein anderes Problem des linguistischen, institutionalistischen bzw. intersubjektivistischen Ansatzes. Näher besehen vermag er nämlich gar nicht, das ursprüngliche Problem der infiniten Iteration von Überzeugungen aus dem Spiel zu bringen. Das Problem wird bloß verschoben. An der Notwendigkeit der Annahme einer Iteration von Überzeugungen ändert sich durch die Fokussierung auf die »kommunikative Funktion« des Beitragsverhaltens noch nichts. Ganz im Gegenteil: Berta wird nämlich Annas Verlangsamung des Schritts nur dann als einwilligende Antwort auf ihren Vorschlag per Aufholensbemühung (also als institutionelles Faktum) sehen, wenn sie davon ausgeht, daß Annas Verhalten als einwilligende Antwort gemeint ist (und nicht einfach dadurch bedingt, daß Anna gerade die Puste ausgeht). Und um Annas Verhalten so zu verstehen, muß Berta Anna eine entsprechende Überzeugung bezüglich der Struktur von Bertas eigenem Verhalten zuschreiben. Anna kann Berta aber nur dann eine Verständigungsabsicht zuschreiben, wenn sie der Überzeugung ist, daß Berta der Überzeugung ist, daß Anna Bertas Verhalten auch entsprechend auffassen wird (oder zumindest mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entsprechend auffassen wird). Und dies wiederum impliziert eine Überzeugung bezüglich einer Überzeugung bezüglich einer Überzeugung, und wir sind zurück in der infiniten Iteration von Überzeugungen. Nun mag es scheinen, daß dieses Problem mit der propositional ausdifferenzierten Sprache verschwindet. Aber das tut es keineswegs. Dasselbe gilt nämlich mutatis mutandis von Sprechverhalten wie der Äußerung der Lautfolge »ja, machen wir uns auf den Weg« (Berta muß davon ausgehen, daß Anna damit nicht einfach ihren Hund ruft, der zufällig »Ja« heißt, und wissen, daß Anna das weiß etc. etc. pp.). Soweit Sprechhandlungen kommunikativen (und nicht bloß expressiven) Charakter haben, sind sie, um es mit dem Begriff von Adolf Reinach zu sagen, vernehmungsbedürftig. 11 Das heißt: Es ist dem Vgl. Reinach, Adolf: Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts. In: Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung, hrsg. v. Edmund Husserl, Bd. 1/2, Halle 2 1922, S. 685–847, hier S. 707 f.
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Akt nicht äußerlich, ob und wie er durch den Adressaten aufgefaßt wird. Der Akt ist das, was er ist, nur dadurch, daß er als das, als was er gemeint ist, auch aufgefaßt wird oder doch zumindest unter Normalbedingungen erwartbarerweise so aufgefaßt werden wird. Wer kommuniziert, muß es zumindest für nicht a priori ausgeschlossen halten, verstanden zu werden (auch wenn sie oder er die entsprechende Chance vielleicht als sehr gering einstuft) – ansonsten kommuniziert sie oder er nicht. 12 Das aber impliziert, wie es scheint, eine Erwartung der Sprecherin oder des Sprechers bezüglich der Überzeugung des Hörers bzw. der Hörerin, welche sich wiederum auf eine Überzeugung bezüglich der Absicht der Sprecherin bzw. des Sprechers gründet etc. etc. pp. 13 Mit anderen Worten: Was am Gemeinschaftshandeln problematisch ist, ist auch an der Verständigung, Verabredung, Übereinkunft etc. problematisch. Deshalb scheint der Versuch wenig aussichtsreich, die Struktur von Gemeinschaftshandlungen im Rekurs auf Dinge wie »Übereinkunft«, »Einverständnis«, »Verabredung«, »Verständigung« oder »Konsens« aufzuklären. Dabei kann dieser Befund eigentlich nicht überraschen. Übereinkünfte, Verständigungs- bzw. Verabredungsprozesse sind nämlich selbst Gemeinschaftshandlungen, freilich solche einer besonderen Art. Ansätze, die stark auf »Übereinkunft«, »Einverständnis«, »Verabredung«, »Verständigung« etc. abstellen, versuchen mithin, die allgemeine Struktur von Gemeinschaftshandlungen im Rekurs auf Gemeinschaftshandlungen eines bestimmten, eines besonders komplexen Typs aufzuklären. Das Pferd wird mithin vom Schwanz her aufgezäumt. Plausibler ist das umgekehrte Vorgehen: im Absehen auf eine möglichst allgemeinen Analyse des Gemeinschaftshandelns bei vergleichsweise simplen Fällen anzusetzen und daraus die (offensichtlich komplexere) Struktur von Verständigung, Verabredung etc. einer Klärung zuzuführen. Gemeinschaftshandeln ist, wie oben gesehen, mehr als faktisch zusammenstimmendes Verhalten. Das individuelle Verhalten muß
Vorgreifend könnte man Reinachs Position so zusammenfassen: Kommunikation ist als Gemeinschaftshandlung irreduzibel, weil die beteiligten Individuen das, was sie tun, wenn sie kommunizieren, von vornherein nur als Beitrag zum Gemeinschaftshandeln tun können. 13 Einen (unten näher zu besehenden) Vorschlag, diese Iteration nicht ins Infinite wachsen zu lassen, präsentiert Grice, Herbert Paul: Utterer’s Meaning and Intentions. In: Philosophical Review LXXVIII (1969), S. 147–177. 12
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nicht nur objektiv in den gesamten Verhaltenskomplex hineinpassen. Es muß in einem gewissen Umfang auch als Beitragshandeln intendiert sein. Für eine solche Beitragsintention ist dabei – zumindest auf der Hauptlinie der Weberschen Begriffsbestimmung von Gemeinschaftshandeln – die Erwartung eines geeigneten Anschlußverhaltens seitens der Interaktionspartner konstitutiv. Muß nun zusätzlich dieses erwartete Anschlußverhalten seinerseits nicht nur als faktisch »passendes« Verhalten, sondern als entsprechend intendiertes Handeln – als Beitragshandeln – erwartet werden, so ergibt sich daraus eine infinite Iteration von Erwartungen. Das Bild des Gemeinschaftshandelns, wie es sich bis jetzt darstellt, ist also das folgende. Wenn die Individuen A und B gemeinsam handeln, muß mindestens gelten: 1) Das Verhalten von A und B stimmt auf geeignete Weise zusammen. 2) A und B müssen ihr Verhalten als Beitrag zu einem Gemeinschaftshandeln intendieren. 3) A und B habe ein infinit iteriertes wechselseitiges Wissen um ihre Beitragsintention. Oder, anders formuliert: Gemeinschaftshandeln = zusammenstimmendes individuelles Verhalten + individuelle Beitragsabsichten + wechselseitig iteriertes Wissen von diesen Absichten. Dabei scheint von vornherein offensichtlich, was uns im folgenden weiter beschäftigen wird: daß diese drei Charakteristika nicht voneinander unabhängig sind, also nicht als selbständige »Bausteine« in die Begriffsbestimmung des Gemeinschaftshandelns eingehen. Dies z. T. aus empirischen, z. T. aus rein begrifflichen Gründen. Das faktische Zusammenstimmen des Verhaltens wird zumindest »in the long run« empirisch wohl nur aufgrund geeigneter Beitragsintentionen zustandekommen (auch wenn sich, wie oben dargestellt, für jede Verhaltenskonstellation verschiedene intentionale background stories möglich sind). Das Zusammenstimmen von Verhalten mag einmal zufällig oder aus anderen Gründen als denen dieses Zusammenstimmens vorkommen; zuverlässig erwartbar wird es nur, wenn das geeignete Zusammenstimmen selbst in die Absichten eingeht. 1) und 2) hängen mithin faktisch zusammen. Imgleichen kommt damit, wie gesehen, die infinite Iteration von Überzeugungen ins Spiel. Wenn nach den obigen Bemerkungen auch vielleicht nicht direkt von einem wechselseitigen Voraussetzungsverhältnis zwischen 2) und 3) zu sprechen ist, so ist ein innerer Zusammenhang doch ofA
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fensichtlich: keine Beitragsintention ohne die unter 3) angesprochene kognitive Spiegelungsstruktur, keine Spiegelung ohne einen Inhalt, nämlich die individuellen Beitragsabsichten. Diese drei Bestimmungsstücke finden sich in den avanciertesten Analysen gemeinsamen Handelns in der aktuellen analytischen Diskussion wieder. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Theoriekontext die Analyse des finnischen Philosophen Raimo Tuomela, von dessen Werk manche der wichtigsten Impulse zur gegenwärtigen, immer breitere Kreise ziehenden Debatte ausgegangen sind. Eine der Zentralkategorien Tuomelas ist die we-intention. Diese hat die folgende Struktur: WI) A member Ai of a collective g we-intends to do X if and only if (i) Ai intends to do his part of X (as his part of X); (ii) Ai has a belief to the effect that the joint action opportunities for an intentional performance of X will obtain (or at least probably will obtain), especially that a right number of the full-fledged and adequately informed members of g, as required for the performance of X, will (or at least probably will) do their parts of X, which will under normal conditions result in an intentional joint performance of X by the participants; (iii) Ai believes that there is (…) a mutual belief among the participating members of g (…) to the effect that the joint action opportunities for an intentional performance of X will obtain (or at least probably will obtain); (iv) (i) in part because of (ii) and (iii). 14
Ähnlich wie bei Weber geht es hier nur um die Beschreibung der intentionalen Struktur der individuellen Beitragshandlung zu einem Gemeinschaftshandeln (letzteres besteht bei Tuomela qua shared intention letztlich in einer Interrelation von we-intentions). Die einflußreiche Analyse des Stanford-Philosophen Michael E. Bratman bewegt sich demgegenüber von vornherein auf der interrelationalen Ebene (was sich insbesondere an der Rolle zeigt, die er den »meshing subplans« zuschreibt). Die Bestimmungsstücke von shared cooperative activity sind die folgenden: 1) a) i) I intend that we J. 1 a) ii) I intend that we J in accordance with and because of meshing subplans of 1) a) i) and 1) b) i).
Tuomela, Raimo: We-Intentions (im Erscheinen); cf. ders./Miller, Kaarlo: We-Intentions. In: Philosophical Studies 53 (1988), S. 367–389).
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1) b) i) You intend that we J. 1) b) ii) You intend that we J in accordance with and because of meshing subplans of 1) a) i) and 1) b) i). 1) c) The intentions in 1) a) and in 1) b) are not coerced by the other participant. 1) d) The intentions in 1) a) and 1) b) are minimally cooperatively stable. 2) It is common knowledge between us that 1) 15
Die wichtigsten Details dieser beiden Analysen aus der aktuellen Debatte werden an späterer Stelle näher zu besehen und ausführlicher zu kritisieren sein. Hier kommt es zunächst bloß auf die Grundstruktur an, welche beiden Ansätzen gemeinsam ist: Beide Analysen deuten die intentionale »Tiefenstruktur« von Gemeinschaftshandeln grundsätzlich über eine Kombination von individueller Beitragsintention (»Ai intends to do his part of X [as his part of X]« bei Tuomela bzw. »I intend that we J« bei Bratman) und einem wechselseitigen iteriertem Wissen um diese Beitragsintention (unter den Titeln »mutual belief« bei Tuomela bzw. »common knowledge« bei Bratman). Beide Definitionselemente sind höchst problematisch, wenn man sie für sich betrachtet. Bezüglich mutual belief bzw. common knowledge fragt sich, ob eine individualistische Rekonstruktion dieser Kategorie möglich ist, oder ob diese Form des knowledge bzw. belief als irreduzibel gemeinsame kognitive Intention zu verstehen ist (im folgenden wird für eine nicht-individualistische Interpretation plädiert). Das Hauptproblem dieser Ansätze ist aber, daß sie das »Gemeinsame« der intentionalen Struktur des Gemeinschaftshandelns über die individuellen Beiträge beschreiben. Damit legen sie ein reduktionistisches Verständnis gemeinsamen Intendierens nahe, welches, wie unten (§ 5 f.) zu sehen sein wird, in einen Zirkel führt. Die herangezogenen Definitionselemente setzen das voraus, wovon sie Definitionselemente sind: das gemeinsame Intendieren. Diese Zirkularität muß nicht notwendigerweise als vitiöse Zirkularität gesehen werden; 16 wenn wir sie, wie im folgenden auch vorgeschlagen wird, nicht als vitiöse Zirkularität ansehen, dann verlangt das indes eine radikale Umstellung in unserem Verständnis der Verhältnisse. Die Zirkularität muß dann als in der Sache liegend verstanden wer-
Michael E. Bratman: Faces of Intention. Selected Essays on Intention and Agency. Cambridge Mass. 1999, S. 105. 16 Raimo Tuomela hat auf diesen Punkt inzwischen verschiedentlich hingewiesen. 15
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den. Wenn gemeinsame Intentionen nicht auf individuelle Intentionen reduzierbar sind, weil das, was Individuen intendieren, wenn sie gemeinsam intendieren, von vornherein nur auf der Grundlage dieser gemeinsamen Intention möglich ist, dann ist so etwas wie eine »Kopernikanische Wende« in unserem Verständnis des Verhältnisses von gemeinsamer Absicht und individueller Beitragsabsicht notwendig. Wenden wir uns aber zunächst dem zweiten gemeinsamen Bestimmungselement von Tuomelas und Bratmans Analyse zu, dem »mutual belief« oder »common knowledge«. Das zugrundeliegende Sachproblem ist uns schon begegnet: Es scheint, daß Anna und Berta, wenn sie ihr individuelles Verhalten bewußt als Beitragshandeln intendieren (und nicht einfach unabhängig von der je anderen sozusagen »blind« oder »ins Blaue hinein« handeln), zugleich wechselseitig voneinander wissen bzw. annehmen müssen, daß sie ihr Verhalten als Beitragsverhalten intendieren, und wissen, daß sie wechselseitig voneinander wissen, daß sie ihr Verhalten als Beitragsverhalten intendieren etc. Es bietet sich damit das folgende Bild. Zur Beabsichtigung eines bestimmten Verhaltens p gehört, wie es scheint, im Falle des Gemeinschaftshandelns auch eine Menge von Überzeugungen hinzu, und zwar die folgende: i) a) A weiß daß p i) b) B weiß daß p ii) a) A weiß daß B weiß daß p ii) b) B weiß daß A weiß daß p iii) a) A weiß daß B weiß daß A weiß daß p iii) b) B weiß daß A weiß daß B weiß daß p und so weiter ad infinitum.
Dies ist aber denkbar unplausibel. Das offensichtliche Skandalon dieser Struktur von Überzeugungen (nennen wir sie kurz »infinite Iteration«) ist, daß sie unter dem Titel »gemeinsame Überzeugung« von den einzelnen Beitragenden zu einem Gemeinschaftshandeln letztlich eine unendliche Anzahl von Überzeugungen verlangt. Wenn Anna und Berta gemeinsam wandern, müßte Anna dementsprechend beispielsweise gemäß der obenstehenden Reihe unter vielen andern Überzeugungen auch etwa jene Überzeugung haben, welche in der Fortsetzung der obigen Aufzählung die Position lxvi) a) einnimmt – also eine Überzeugung, welche fünfundfünfzig Iterationen von »weiß, daß« enthält. Solche Überzeugungen sind aber aufgrund der 124
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beschränkten Kapazität unseres Bewußtseins nicht plausibel – ganz abgesehen davon, daß aus ähnlichen Gründen, die zur infiniten Iteration führen, auch bezüglich der Infinitesimalität dieser Iteration wechselseitige Überzeugungen in Form einer infiniten Meta-Iteration bestehen müßten, etc. pp. Darauf hat Margaret Gilbert hingewiesen. 17 Genaugenommen müßte man daher Individuen, die eine Überzeugung teilen bzw. gemeinsam handeln, nicht nur eine infinite Iteration, sondern infinite Iterationen infiniter Iterationen zuschreiben. Dabei überfordert schon eine einfache infinite Iteration unser endliches empirisches Bewußtsein. »I don’t think my head is big enough to accomodate so many beliefs« bemerkt John Searle zu diesem Thema trocken, 18 und den beiden Wanderinnen wird es wohl ähnlich gehen. Es scheint klar zu sein: Wenn wir gemeinsam handeln, dann haben wir keine unendliche Menge von Überzeugungen. Ein adäquater Begriff des Gemeinschaftshandelns muß, so werden wir sagen dürfen, mit der Endlichkeit unseres Bewußtseins verträglich sein. 19 Nun sind seit der klassischen Formulierung von common Vgl. Gilbert 1992, S. 189 f. Gilbert bietet hier eine mengentheoretische Formulierung dieses Problems. 18 Searle, John R.: Mind, Language, and Society. Philosophy in the Real World. New York 1998a, hier S. 119. 19 Daß hier überhaupt ein Problem vorliegt ist aber nicht selbstverständlich (ich danke Fabian Neuhauser dafür, daß er mich auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hat). Es mag nämlich aus einer gewissen Perspektive scheinen, daß wir ganz selbstverständlich über unendliche Mengen von Überzeugungen verfügen, ohne dadurch in der Endlichkeit unseres Bewußtseins im mindesten gestört zu sein, weil für dieses Wissen, in computertechnischer Terminologie gesprochen, weder Rechenzeit noch Speicherplatz benötigt wird. Dies insbesondere im Bereich dessen, was man »implizites Wissen« nennen könnte. Ein Beispiel mag dies illustrieren. Fast jede und jeder wird auf die Bemerkung, daß 9348364 eine gerade Zahl ist, guten Gewissens angeben können, dies zu wissen (ohne zuvor je darüber einen Gedanken auf diese spezielle gerade Zahl verschwendet zu haben). Auf diese Weise schreiben wir uns, wie es scheint, ganz alltäglich eine unendliche Zahl von Überzeugungen zu. Allerdings scheint es mir in solchen Fällen plausibler, das Wissen (Meinung, Überzeugung) bloß auf die Definition bzw. die Bestimmungsregel zu beziehen, und nicht auf die (unendlichen) Anwendungsfälle zu erstrecken. Wir wissen, wie wir eine gegebene Zahl auf Gradheit oder Ungradheit bestimmen können – und weil es im gegebenen Fall so ein kurzer Weg von der Kenntnis der Regel zur Bestimmung des Falls ist, tendieren wir im Alltag dazu, uns ein »Wissen« von einer Zahl zuzuschreiben, an die wir noch nie gedacht haben. Daß aber bezüglich der potentiellen, nicht aktualisierten Anwendungsfälle gar kein Wissen im engeren Sinn vorliegt, zeigt sich an Fällen, wo dieser Weg von der Bestimmungsregel zum Resultat der Bestimmung weiter ist. Auch wer genau weiß, was eine Primzahl ist (also weiß, welchen Kriterien eine Zahl genügen muß, um als Primzahl zu gelten) wird sich noch nicht ohne 17
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knowledge bei David Lewis 20 mehrere Reformulierungen bzw. Revisionen dieser Struktur des wechselseitigen Umeinanderwissens in der einschlägigen Literatur vorgeschlagen worden; Reformulierungen, welche alle hauptsächlich darauf abzielen, diese Bedingung der Kompatibilität von common knowledge mit der Beschränktheit unseres Geistes zu erfüllen. 1) Eine erste, immer wieder eingeschlagene Argumentationslinie setzt schwergewichtig auf die Differenz von idealer Theorie und realer Praxis, um damit das Problem der infiniten Iteration gleichsam zu entschärfen. Das Argument lautet etwa wie folgt: Obwohl die Beteiligten an einem Gemeinschaftshandeln idealerweise bzw. theoretisch eine unendliche Zahl von Überzeugungen haben, müssen (und werden) sie doch in praxi, d. h. als reale Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Gemeinschaftshandlungen, kaum je Überzeugungen bilden müssen, die über die zweite oder dritte Stufe hinausgehen, um gemeinsam handeln zu können. 21 Wenn Anna auf weiteres ein Wissen davon zuschreiben, daß 9713 eine Primzahl ist (das müssen auch jene, welche die Bestimmungsregel genau kennen, erst mehr oder weniger umständlich verifizieren). Dies spricht dafür, auch in den anderen Fällen entgegen einer häufigen alltagssprachlichen Verwendung das Wissen (die Meinungen, Überzeugungen) auf die Bestimmungsregel (und nicht auf die unendliche Anzahl der Anwendungsfälle) zu beziehen. In diesem Sinn haben wir in den genannten Fällen keine unendliche Anzahl von Überzeugungen. 20 Lewis, David: Convention. A Philosophical Study. Oxford 1969; Robert Nozick beansprucht freilich die erste (spieltheoretische) Formulierung von »common knowledge« für sich; vgl. dazu Nozick, Robert: Invariances. The Structure of the Objective World. Cambridge Mass. 2001, S. 375 f. 21 Cf. z. B. Ruben, David-Hillel: The Metaphysics of the Social World. London 1985, S. 109 f. Für Ruben impliziert alles soziale Handeln zwar die Struktur »x believes that y has these beliefs and expectations; y believes that x has these beliefs and expectations; x believes that y believes that x has them; y believes that x believes that y has them; and so on«. In dieser iterativen Struktur liege zwar ein Regreß, aber dieser bilde kein praktisches Problem für soziales Handeln: »the regress is limited by the natural ability of agents to form third- or fourth-order beliefs and expectations«. Ruben macht die Limitiertheit des Geistes gerade zum Argument für eine infinit-iterative Theorie des common knowledge – man könne gemeinsames Wissen in der Theorie umso beruhigter als infinite Iteration darstellen, als man ja faktisch nicht über die dritte Stufe hinauskomme! Auf dieser Linie scheint sich gelegentlich auch Raimo Tuomela zu bewegen: »the problem is how many iterative levels of belief are conceptually, epistemically, or psychologically needed for success in various cases. (…) For instance, how many levels of belief does successful joint action require? The level question is difficult to answer in general terms. However, it can be conjectured that in certain cases at least two levels (…) relative to the base level, are needed for mutual belief, but no more« (Tuomela, Raimo: Shared
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Berta wartet, und Berta zu Anna aufschließt, reicht es z. B. völlig aus, daß Anna der Überzeugung ist, daß Berta erwartet, daß Anna auf sie wartet, und daß Berta der Überzeugung ist, daß Anna erwartet, daß Berta zu ihr aufschließt. Höherstufige Überzeugungen scheint es hier nicht zu brauchen, und niemand wird sie bilden, wenn sie oder er nicht etwa zufällig in theoretischer Hinsicht an der intentionalen Struktur der Gemeinschaftshandlung interessiert ist. Freilich steht dieses Argument auf tönernen Füßen. Die Defizienz dieser »Entdramatisierungsstrategie«, wie man sie vielleicht nennen könnte, wird besonders deutlich sichtbar, wenn wir die Situation in entscheidungstheoretischer Perspektive in den Blick nehmen (vgl. dazu auch unten § 14). Hier geht es darum, daß das Umeinanderwissen der Beteiligten qua Erwartung einen ([zweck-]rationalen) Grund für das eigene Handeln darstellt. Die an einem Gemeinschaftshandeln Beteiligten tragen aufgrund der Erwartung eines entsprechenden Anschlußverhaltens seitens der anderen Beteiligten zum Gemeinschaftshandeln bei. Anna wartet, weil und insofern sie erwartet, daß Berta aufholen wird; Berta holt auf, weil und insofern sie erwartet, daß Anna auf sie wartet. Ein adäquater Begriff des wechselseitigen Umeinanderwissens bzw. des »common knowledge« muß deshalb, wie Jane Heal in ihrem wichtigen Aufsatz zum common knowledge deutlich gemacht hat, nicht bloß der Bedingung der Endlichkeit unserer kognitiven Kapazitäten genügen; er muß zweitens auch damit verträglich sein, daß das wechselseitige Umeinanderwissen (common knowledge) zusammen mit entsprechenden Wünschen als rationaler Handlungsgrund muß taugen können. 22 Der entscheidende Punkt ist nun (im Beispiel von Anna und Berta gefaßt): Würde Anna oder Berta vom Gegenteil irgendeiner höherstufigen Iteration des Wissens um die beiderseitige Beitragsintention überzeugt sein, würde die eigene Beitragsintention sofort hinfällig (einmal abgesehen von Fällen, in denen das eigene Verhalten »überdeterminiert« ist, also unabhängig von der Erwartung des Verhaltens der anderen »zweckrational« ist). Wenn also Anna glauben würde, daß Berta nicht glaubt, daß Anna glaubt, daß Berbelief. In: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Amsterdam 2001, S. 14039–14043, hier S. 14041). Vgl. auch Fitzpatrick, Dan: Searle and Collective Intentionality. The Self-Defeating Nature of Internalism with Respect to Social Facts. In: American Journal of Economics and Sociology 62 (2003), Special Invited Issue on John Searle’s Ideas About Social Reality, S. 45–66, insbes. S. 54–57. 22 Vgl. Heal, Jane: Common Knowledge. In: The Philosophical Quarterly 28 (1978), S. 116–131. A
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ta glaubt … daß Anna in der Erwartung auf Berta wartet, daß Berta zu ihr aufholen will, hätte Anna keinen Grund, auf Berta zu warten. 2) Nun mag es scheinen, daß diesem Einwand gegen die »Entdramatisierungsstrategie« mit einer simplen Erweiterung des Ansatzes überzeugend zu begegnen ist. Folgende Revision drängt sich auf: A und B müssen nicht nur (1.) Überzeugungen der Form eines Anfangssegmentes der infiniten Iteration haben (welche aber nicht über die zweite oder vielleicht die dritte Stufe hinausgehen müssen). Sie dürfen nun zusätzlich (2.) auch keine Überzeugungen haben, welche diesen Überzeugungen widersprechen. 23 Dies schließt genau den oben diskutierten Fall aus, also etwa den Fall, in dem A einen Grund hat, zu erwarten, daß B erwartet, daß A erwartet … daß B ihren Teil zum gemeinschaftlichen Handeln nicht erbringt, und deshalb auch selbst einen rationalen Grund hat, ihren Beitrag nicht zu erbringen. Aber vermag dieser Vorschlag zu überzeugen? Heal hat ein einleuchtendes Argument gegen ihn vorgebracht. Die Problematik dieser Konzeption ist, daß ihr gemäß kognitiv limitierteren Individuen auch dort gemeinsames Wissen zugeschrieben werden muß, wo kognitiv weniger limitierte Individuen (aufgrund derselben Informationsbasis) eine durch diese Definition ausgeschlossene Überzeugung bilden würden und deshalb per definitionem kein gemeinsames Wissen hätten. 24 Dies aber ist nach Heal kontraintuitiv. Folgende fallbezogene Versuchsanordnung mag Heals Einwand illustrieren. Auf ihrer gemeinsamen Wanderung bleibt A, die eine Strecke vor B geht, stehen (um auf B zu warten). Als Akteurin weiß A natürlich, daß sie stehenbleibt. B ist A gegenüber 25 Meter im Rückstand. Da B’s Sicht auf A nicht behindert ist, weiß auch B, daß A stehenbleibt. A ist sich ihrerseits über die bestehenden Sichtverhältnisse und B’s Beobachtergabe im Klaren und ist daher der Überzeugung, daß B gesehen hat (und daher weiß), daß A stehenbleibt. Umgekehrt weiß auch B ihrerseits natürlich, daß A bei klarem Bewußtsein ist und deshalb weiß, daß sie stehenbleibt. Außerdem haben beide aufgrund der Umstände noch die entsprechenden Überzeugungen der dritten Stufe: A ist der Überzeugung, daß B weiß, daß A weiß, daß A stehengeblieben ist (mutatis mutandis gilt dasselbe für B). Nach dem gemachten Vorschlag muß den beiden »gemeinJane Heal weist diese Position H. P. Grice zu (vgl. dazu Grice, H. P.: Utterer’s Meaning and Intentions. In: Philosophical Review LXXVIII [1969], S. 147–177). 24 Vgl. Heal 1978, S. 125. 23
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sames Wissen« von Annas Stehenbleiben zugeschrieben werden. Beide haben Überzeugungen, die den ersten Stufen der infiniten Iteration entsprechen, und keine Überzeugungen, die diesen Überzeugungen zuwiderlaufen – also mithin alles, was es diesem Vorschlag gemäß an wechselseitigen Überzeugungen zum Zustandekommen von gemeinsamem Handeln bedarf. Nehmen wir nun aber, um diesen Begriff kritisch zu beleuchten (und nach Heals Vorschlag ins Zwielicht zu rücken), folgendes an. Es ist Evidenz verfügbar, von welcher die Beteiligten ob ihrer kognitiven Limitiertheit keinen Gebrauch machen, welche, wenn sie denn beachtet würde, A und B zu Überzeugungen führen müßte, welche einer oder mehreren der genannten Überzeugungen aus den ersten drei Stufen der infiniten Iteration widersprechen. Zum Beispiel könnte es sein, daß die Sonne schon relativ tief über dem Horizont steht und A im Blick zurück auf B etwas zu blenden beginnt. Trotzdem kann A die etwas zurückgefallene B klar erkennen (wenn auch vielleicht nur im Umriß). A weiß, daß B sieht, daß sie von der Sonne geblendet wird. A ist sich deshalb zunächst nicht ganz sicher, ob B weiß, daß A trotz des Gegenlichts sehen kann, daß sie schon im Blickfeld von B ist. A ist also unsicher, ob B weiß, daß A weiß, daß B weiß, daß A stehengeblieben ist. Da fällt ihr ein, daß sie B anläßlich der gemeinsamen Rast erzählt hat, daß sie aufgrund der optischen Eigenschaften ihrer Brillengläser im Gegenlicht äußerst schlecht sehen kann (was aber, wie die gegenwärtige Situation zeigt, eine Übertreibung war, denn sie kann die hinter ihr gehende B ja trotz Gegenlicht erkennen). Wenn nun A davon ausgeht, daß B intelligent genug ist, diese Information auf die gegenwärtige Situation zu beziehen, wird sie davon ausgehen (also die Überzeugung bilden) müssen, daß B der (falschen) Überzeugung ist, daß A nicht weiß, daß B weiß, daß A stehengeblieben ist. 25 Es ist dann – wenn also Anna alle diese durchaus rationalen Überlegungen anstellt – zwischen A und B dem gemachten Vorschlag gemäß nicht gemeinsames Wissen, daß A stehengeblieben ist (Anna hat ja dann eine mit der infiniten Iteration inkompatible Überzeugung dritter Stufe). Diese Konsequenz macht aber den vorgeschlagenen Begriff auch für den Fall der weniger »klugen« Versionen von A und B unplausibel. Denn wie sollte man Akteuren ein »gemeinsames Wissen« zuschreiben in In Abwandlung der Klassifikation von Thomas J. Scheff könnte man sagen, daß hier ein »falscher Dissens« der dritten Stufe vorliegt (vgl. Scheff, Thomas J.: Toward a Sociological Model of Consensus. In: American Sociological Review 32 [1967], S. 32–46).
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einer Situation, in der näheres Nachdenken die Akteure rationalerweise eigentlich dazu führen müßte, anzunehmen, daß das entsprechende Wissen gar nicht gemeinsam ist? Es scheint mithin, daß das Nichtvorliegen von Überzeugungen, die niederstufigen Überzeugungen der infiniten Iteration widersprechen, nicht zureicht. 3) Verallgemeinert man die Resultate der vorangegangenen Diskussion etwas, so zeichnet sich ein Dilemma ab. Individuen, die etwas gemeinsam wissen bzw. eine Überzeugung teilen, können aufgrund der Limitiertheit unseres Geistes weder alle Überzeugungen der infiniten Iteration haben, noch können sie sich mit einer endlichen Teilmenge dieser Überzeugungen begnügen, wenn gemeinsames Wissen zusammen mit entsprechenden Wünschen einen rationalen Handlungsgrund darstellen soll. Ein dritter Ansatz schlägt einen Ausweg aus diesem Dilemma vor. Jene Individuen, die gemeinsame Überzeugungen haben, brauchen weder die ganze unendliche Menge von Überzeugungen zu haben, noch haben sie bloß eine Teilmenge daraus. Sie brauchen bloß so etwas wie die Überzeugung zu haben, daß sie in der gegebenen Situation gerechtfertigterweise die Überzeugungen der infiniten Iteration bilden könnten. Mithin wird die infinite Iteration durch prinzipielle Iterierbarkeit ersetzt, was sich mit der Limitiertheit unseres Geistes besser verträgt. Diesen Vorschlag gibt es in der existierenden Literatur in verschiedenen Varianten, von David Lewis 26 über Jane Heal 27 bis zu Margaret Gilbert 28 . Näher betrachtet sei hier zur Vereinfachung der Diskussion nur Gilberts Ansatz (wobei die hier zu entwickelnden Argumente nach meiner Überzeugung auch die anderen beiden Ansätze treffen). Gilbert modelliert die für diesen Ansatz spezifische (und höchst problematische) Überzeugung der prinzipiell infiniten Iterierbarkeit folgendermaßen. Sie konstruiert für jede und jeden der Beteiligten einen »smooth reasoner counterpart«, ein Äquivalent der einzelnen IndiviIn seiner bahnbrechenden Studie gibt David Lewis folgende Begriffsbestimmung: »Let us say that it is common knowledge in a population P that x if and only if some state of affairs A holds such that: a) Everyone in P has reason to believe that A holds. b) A indicates to everyone in P that everyone in P has reason to believe that A holds. c) A indicates to everyone in P that x. We can call any such state of affairs A a basis for common knowledge in P that x. A provides the members of P with part of what they need to form expectations of arbitrarily high order« (Lewis 1969, S. 56). 27 Vgl. Heal 1978, S. 128 ff. 28 Gilbert 1992, S. 191 ff. 26
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duen, welches keine geistigen und zeitlichen Limiten bzw. Kapazitätsgrenzen kennt. Von diesen »smooth reasoner counterparts« gilt, daß sie im Fall von common knowledge tatsächlich eine infinite Anzahl von entsprechenden Überzeugungen haben. Dies entlastet dann die tatsächlichen Individuen von dieser kognitiven Bürde: Sie müssen jetzt bloß wissen oder doch ein implizites Verständnis davon haben, was ihre »smooth reasoner counterparts« an ihrer Stelle dächten, um selbst so etwas wie »common knowledge« für sich beanspruchen zu können. Der faktische Geist kann ruhig limitiert bleiben, solange er nur eine Ahnung davon hat, was ein unlimitierter Geist an seiner Stelle dächte. Allerdings hat auch dieser Ansatz gravierende Schwächen. Der vorzubringende Haupteinwand lautet, daß er von den beteiligten Individuen immer noch zuviel verlangt: Wir können faktisch nämlich gemeinsam handeln (und demnach eine Überzeugung teilen bzw. gemeinsam haben), lange bevor wir Idealisierungsleistungen wie die Konstruktion eines »smooth reasoner counterpart« zu erbringen vermögen oder auch nur ein »intuitives Verständnis« von einer solchen Idealisierungsleistung haben. Dieser Einwand erstreckt sich auf alle Versuche, die infinite Iteration von Überzeugungen durch irgendeine Form einer »Überzeugung von der infiniten Iterierbarkeit« zu ersetzen. (Bei Lewis steckt diese Problematik in der »Basis« des »gemeinsamen Wissens«.) 29 Wenn gemeinsame Überzeugungen weder aus einer infiniten Iteration von Überzeugungen bestehen noch in einer endlichen AnRaimo Tuomela unterscheidet den »iterative account« gemeinsamen Wissens vom »fixed-point account«. Die hier besprochenen Ansätze gehören alle in die Klasse der »iterative accounts«. Diesen Ansätzen gegenüber besteht der »fixed-point account« in der folgenden Struktur: »A and B mutually believe that p if and only if they believe that p and also believe that it is mutually believed by them that p« (Tuomela 2001, S. 14040). Dieser Ansatz ist aber erstens ganz offensichtlich zirkulär (a) und führt zweitens selbst zu einer iterativen Struktur (b). a) Das definiendum »mutual knowledge« (Tuomela gebraucht diesen Begriff, soweit ich sehe, gleichbedeutend mit dem üblicheren »common knowledge«) ist, wie aus dem Zitat zu entnehmen, Teil des definiens. Damit ist der einzige Informationsgehalt des »fixed-point account«, daß die beteiligten Individuen ein reflexives Wissen vom »mutual knowledge« eines Sachverhalts haben müssen. Und genau dies ist keine harmlose Annahme, wie es zunächst scheinen mag. Denn die Vermutung, auch dieses »reflexive Wissen« müsse wieder wechselseitig bekannt sein, liegt nahe. Man endet dann in einer »potenzierten Iteration«, wie Gilbert sie am Rande ihrer Analyse zum »common knowledge« erwähnt (vgl. Gilbert 1992, S. 191 ff.): das »common knowledge« muß seinerseits »common knowledge« sein, und so ad infinitum. Aus diesen Gründen sehe ich im »fixed-point account« letztlich keinen Ausweg aus den Aporien des »iterative account«.
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zahl der diese Iteration konstituierenden Überzeugungen, und wenn auch die Überzeugung von der Iterierbarkeit selbst nicht für die Gemeinsamkeit einer Überzeugung aufkommt: Worin besteht die Gemeinsamkeit einer Überzeugung dann? Die Frage, die sich stellt, ist: Was wissen wir voneinander (bzw. was müssen wir voneinander wissen), wenn wir gemeinsam handeln? Mir scheint, daß sich auch in dieser Frage wiederum ein historischer Rückblick lohnt; und einmal mehr führt uns dieser in den Kontext der früheren Phänomenologie. Gerade hier hat diese Problematik des wechselseitigen Umeinanderwissens einige Beachtung auf sich gezogen. 30 Herausragend unter den phänomenologischen Analysen zur Sozialontologie ist dabei in diesem Kontext sicherlich Gerda Walther, deren Analysen im gegenwärtigen Zusammenhang bislang leider noch nicht die Beachtung gefunden haben, die sie verdienen. 31 Die Analyse der Ontologie der Gemeinschaft führt Walther zurück auf die Analyse dessen, was sie »aktuelles Gemeinschaftserleben« oder »Wir-Erlebnis« nennt; Walther schlägt dazu die folgende Strukturanalyse vor. Zum »aktuellen Gemeinschaftserleben« gehört ihr zufolge: 1. 1a. 2.
2a. 3. 3a. 4.
Das originäre Erlebnis von A., das sich auf irgendeinen Gegenstand intentional richtet. Das originäre Erlebnis von B., das sich in gleicher oder ähnlicher Weise auf denselben Gegenstand bezieht, wie das originäre Erlebnis von A. Das mit ersterem originären Erlebnis von A. verbundene, gleichfalls originäre Einfühlungserlebnis von A., in dem A. dieses Erlebnis von B. erfaßt. Das gleiche auf A.s ersteres Erlebnis gerichtete Einfühlungserlebnis von B. Die Einigung von A. mit dem einfühlend erfaßten Erlebnis von B. (evtl. mit diesem selbst). Die Einigung von B. mit dem einfühlend erfaßten Erlebnis von A. (evtl. auch mit diesem selbst). Das Einfühlungserlebnis A.s, in dem er die Einigung B.s mit seinem Erlebnis (oder mit ihm selbst) erfaßt. (Dieses Erlebnis ist also teilweise in iterierter Einfühlung fundiert.)
Vgl. dazu überblicksweise Mulligan, Kevin: Eintrag »Phenomenology« in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences. Amsterdam 2001, S. 11363–11369. 31 Walther, Gerda: Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hrsg. v. Edmund Husserl, Bd. 6, Halle 1923, S. 1–158. 30
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4a.
Dasselbe Einfühlungserlebnis auf der Seite B.s. 32
Wie immer bei historischen Anschlüssen gilt es natürlich auch hier, entsprechende hermeneutische Um- und Vorsicht walten zu lassen. »Aktuelles Gemeinschaftserleben« ist durchaus nicht in jeder Hinsicht gleichbedeutend mit dem, was heute unter dem Titel des »gemeinsamen Wissens« verhandelt wird. Insbesondere die folgenden beiden Unterschiede gilt es zu beachten: – Nicht alles, was in der Philosophie unter »Wissen« firmiert, ist im phänomenologischen Sinne »originäres Erlebnis«, welches sich, wie Walther sagt, »auf einen Gegenstand richtet«. Aber alles »originäre Erleben« ist umgekehrt, so wird man sagen dürfen, (eine Form von) Wissen. Ausgeschlossen sind durch Walthers Beschränkung ihrer Analyse auf originäres Erleben alle Formen gleichsam »leeren« Wissens; die differentia specifica von originärem Erleben zu anderen Formen des Wissens ist die anschauliche Fülle, die lebendige Gegenwart des Gewußten. – Gleichzeitig ist das, was Walther als »Einfühlungserlebnis« bezeichnet, auch nicht einfach so etwas wie das »Wissen, daß der andere weiß, daß p«. Edith Stein, auf welche sich Walther in ihrer Analyse an anderer Stelle mehrfach bezieht, hat in ihrer Phänomenologie der Einfühlung diese Einfühlung ausdrücklich von anderen Formen des Wissens um fremdes Erleben unterschieden. 33 Steins Unterscheidung mag demnach auch hier, bei Walther, mitschwingen. Gegenüber der Einfühlung fehlt anderen Formen des »Wissens um fremdes Erleben« die schon genannte anschauliche Erfüllung; es ist etwa »leeres Wissen (…) aufgrund von Mitteilung«. Demgegenüber wird man die Einfühlung als »anschaulich erfülltes Wissen« vom Erleben anderer bezeichnen dürfen. Für die gegenwärtige Problematik des common knowledge spielt der Unterschied zwischen gleichsam »leerem Wissen« und »originärem Erleben« keine Rolle – zumindest dann nicht, wenn wir vom Wissensbegriff einmal absehen, und uns wie in der entsprechenden Literatur üblich bloß um die Bestimmung dessen kümmern, was denn die Gemeinsamkeit von Überzeugungen ausmacht (unabhängig von der Frage, was denn eine Überzeugung zu einem Fall von Wissen macht). 32 33
Walther 1923, S. 85. Vgl. dazu Stein, Edith: Zum Problem der Einfühlung [1917]. München 1980. A
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Übersetzen wir Walthers Analyse gemäß diesem Vorschlag, so scheint auch bei Walther das gemeinsame Wissen auf den ersten Blick in den Hauptbestandteilen nichts anderes zu sein als iteriertes Wissen (die Iterabilität von Einfühlungsakten hatte schon Edith Stein in ihrer Dissertation dargestellt) 34 . Aber Gerda Walther ist, wie schon ihrer Strukturanalyse zu entnehmen ist, etwas klar, was m. E. in der aktuellen Debatte völlig übersehen wird: daß nämlich ein individuell gleichsinniges Erleben auch dadurch nicht zum gemeinsamen Erleben wird, daß die beteiligten Individuen ein (iteriertes) Wissen um das Erleben des je anderen Individuums haben. 35 Am Beispiel illustriert: Wenn Anna ihr Wandern als individuelles Projekt sieht, wird sie die brennende Mittagssonne auf ihrem Weg nicht gemeinsam mit Berta empfinden – auch wenn sie genau weiß oder vielleicht sogar auch »in anschaulicher Gegebenheit« hat, daß auch Berta, wie sie selbst, unter der Hitze leidet, und weiter zusätzlich dazu auch weiß, daß Berta weiß, daß auch Anna unter der Hitze leidet etc. etc. pp. Kurz: Das Problem mit der infiniten Iteration ist nicht bloß, daß sich ihre Infinitesimalität nicht mit der Endlichkeit unseres Bewußtseins verträgt. Das eigentliche »Skandalon« der Theorie des common knowledge ist ein anderes. Nicht daß der Weg zur Gemeinsamkeit des Wissens via infinite Iteration zu lang ist, ist das Problem, sondern daß er von allem Anfang an in eine falsche Richtung führt: Auch eine noch so weitgehende Iteration macht aus der Kombination von individuellem Erleben und wechselseitigem Umeinanderwissen, wie Walther im Gegensatz zu den gegenwärtigen Philosophinnen und Philosophen des common knowledge wohl weiß, noch kein gemeinsames Erleben. Die entscheidende Rolle spielt deshalb bei Walther ein weiteres, ein neues Moment. A’s Anteil am gemeinsamen Wissen ist zwar zunächst, daß A weiß, daß p, und weiß, daß B weiß daß p; vor einer weiteren Iteration der »Einfühlung« kommt nun aber ein anderes Moment: A’s Einigung mit B’s Wissen, daß p (beziehungsweise A’s Einigung mit B selbst). Dieses »Einigungserlebnis« ist es dann, welches seinerseits wechselseitig noch einmal »gewußt« werden muß. Man mag sich fragen, weshalb dies nicht in eine weitere infinite Iteration – jene des Wissens von der wechselseitigen »Einigung« – führt. Das sollte aber nicht davon abhalten, zunächst dieVgl. Stein [1917] 1980, S. 18 f. Vgl. dazu die ebenso überzeugenden wie knappen Bemerkungen in Walther 1922, S. 20.
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ses neue Element, mit welchem Walther das Abgleiten in eine infinite Iteration zu verhindern sucht, näher zu betrachten. Die Einigung ist, wie Walther betont, nicht von der Art der Einfühlung; die Einigung ist kein Erkenntnisakt, der sich auf das Erleben des Anderen bzw. diesen selbst richtet. 36 Wichtig für Walthers Begriff der Einigung ist weiter, daß Einigung nicht primär »aktuell«, sondern »habituell« ist. 37 Die Einigung ist nicht ein spontaner, vollbewußter IchAkt; sondern sie ist, wie Walther sagt, eine Sache der »ichferneren« Regionen des Selbst. Die Einigung findet in einem »dunklen Innesein im Hintergrund« 38 statt. Walther ist in der Darstellung der Einigung zugegebenermaßen recht kryptisch, obwohl dieses Konzept das zentrale ihrer ganzen Ontologie des sozialen Verbandes ist. 39 Immerhin wird aber überdeutlich, daß das Moment der »habituellen Einigung« eine Relation, einen Bezug zwischen den beteiligten Subjekten meint, welcher, wie Walther betont, »durchaus nicht in einem wissenden Aufmerken oder Vorstellen« besteht. Wichtig an Walther ist mithin nicht die positive Analyse, sondern die implizite Kritik: daß sie nämlich auf ein Defizit von common knowledge-basierten Ansätzen hinweist. Was auch immer »Einigung« heißen mag: Sie erschöpft sich jedenfalls nicht in einem kognitiven Wechselbezug. Vielmehr sind die Miterlebenden (oder, im allgemeinen Falle des »common knowledge«: die Mitwisserinnen und Mitwisser) »unbestimmt im Hintergrund des Subjekts gegenwärtig«. 40 Das einzelne Individuum »ruht in ihnen und gehört zu ihnen«. Durch die Einigung bildet das Individuum mit den anderen ein »Wir«. 41 Die Beteiligten erleben jetzt tatsächlich, also in einem basalen ontologischen Sinne, nicht mehr als Individuen, sondern als Gemeinschaft. 42 Dies hat Konsequenzen für die einzelsubjektive Teilnehmendenperspektive. Das Vgl. Walther 1922, S. 34 ff. Walther 1922, S. 69. 38 Walther 1922, S. 69. Man könnte hierin vielleicht auch einen Reflex von Ferdinand Tönnies’ These vom Primat der Gemeinschaft vor der Gesellschaft sehen. 39 Der phänomenologische Gestus wird bei Walther sogar zur reinen Immunisierungsstrategie, wo Walther eine längere Passage zur Analyse der Einigung mit der Bemerkung abschließt, Definitionen würden hier ebensowenig helfen wie Bilder und Gleichnisse, weil jeder sich das Gemeinte zuletzt bloß in seinem eigenen Innern veranschaulichen könne (Walther 1922, S. 56). 40 Ein gegenwärtiges Analogon ist es, wenn John Searle einen »background sense for the other« als Bedingung für kollektive Intentionalität bezeichnet (Searle 1990, S. 414). 41 Walther 1922, S. 70. 42 Walther 1922, S. 98. 36 37
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einzelne Individuum vollzieht nämlich »gleichsam einen intentionalen Purzelbaum«: »Die Verbundenheit der Subjekte wird plötzlich zum Ausgangspunkt, und das Individuum versteht sich selbst und die Anderen von dieser Verbundenheit aus«. 43 Was sich in Walthers Analyse der Einigung abzuzeichnen scheint, ist damit eine Form von Intentionalität, die nicht auf das individuelle Erleben der beteiligten Einzelnen reduzierbar ist, sondern ein irreduzibles »Wir-Erleben« ist. Walther schwankt hier fühlbar; deshalb unterfüttert sie ihre Theorie des Wir-Erlebens auch mit dem Ansatz beim zunächst rein individuellen Gegenstandsbezug, der in einem zweiten Schritt wechselseitig eingefühlt wird. Die Einigung ist hier ja erst die dritte Stufe, und sie wird von Walther offensichtlich als einzelsubjektiver Vorgang, als individuelles »Erlebnis« gefaßt und damit, wie man aus anti-reduktionistischer Perspektive sagen könnte, gleichsam dem Husserlschen Monologismus gefügig gemacht. Weil die Einigung dann doch wieder nichts anderes als individuelles »Einigungserlebnis« ist, muß sie ihrerseits wiederum in einem wechselseitigen einfühlenden »Umeinanderwissen« verbürgt werden – wobei durchaus fraglich ist, warum hier keine infinite Iteration der wechselseitigen Einfühlung dieser Einigung vonnöten sein soll. Walthers Ansatz versucht gleichsam eine Synthese; auf der einen Seite steht die Ableitung gemeinsamen Wissens bzw. gemeinsamen Erlebens aus einer Kombination von direktem individuellem Erleben und einer Iteration einfühlenden »Erlebens des Anderen«, also ein common knowledge-approach, aus heutiger Perspektive gleichsam eine »orthodoxe« Regelung avant la lettre, welche von Walther nur erweitert, aber nicht ersetzt wird; auf der anderen Seite steht die Lehre von der Einigung, vom »intentionalen Purzelbaum« der am gemeinsamen Erleben Beteiligten, und die »Kopernikanische Wende«, die sich daraus nach ihren Worten für die Sozialwissenschaft ergeben soll. 44 Auf der einen Seite steht also der Versuch, Gemeinsamkeit aus dem Hut des Wechselbezugs der individuellen Überzeugungen zu zaubern; auf der anderen Seite hingegen die Einsicht, daß Gemeinsamkeit etwas grundsätzlich anderes ist als ein Umeinanderwissen vereinzelter Individuen. Walther versucht deshalb eine Art Mischkonzeption; sie versteckt das Neue und über den 43 44
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Walther 1922, S. 98. Walther 1922, S. 98.
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traditionellen Husserlschen intentionalanalytischen Ansatz Hinausgehende – das Motiv der Einigung – sorgsam zwischen den konventionellen kognitiven Wechselbezügen, der Einfühlung. Daß der individualistische Grundzuschnitt, wie er aus dem Ansatz bei der Einfühlung spricht, durch dieses setting letztlich auch die innovative Lehre von der Einigung dominiert, zeigt sich daran, daß sich Walther dann letztlich doch scheut, den »intentionalen Purzelbaum«, den sie im Rahmen ihrer Lehre von der Einigung inhaltlich diagnostiziert, theoretisch konsequent mit einer »Kopernikanischen Wende« des Ansatzes nachzuvollziehen. Treu in den Fußstapfen der individualistischen Intentionalitätstheorie Husserls kann sie die Einigung zwischen Subjekten nicht anders verstehen denn als zwei getrennte, individuelle »Einigungserlebnisse« in der Innerlichkeit des monadisch abgeschotteten Einzelbewußtseins, zwei getrennte Erlebnisse, welche nur über eine darauf aufgestufte Konstruktion wechselseitiger Einfühlung verklammert sind. Das »Wir-Erleben« bleibt so theoretisch im Bann des monadischen Einzelsubjekts. Eine Konzeption, die den »intentionalen Purzelbaum« der am gemeinsamen Erleben Beteiligten wirklich in Form einer »Kopernikanischen Wende« nachzuvollziehen bereit ist, müßte demgegenüber vom Versuch, das gemeinsame Erleben aus dem Hut des individuellen Erlebens zu zaubern, ablassen, und einmal den Versuch wagen, ob nicht vielleicht dem umgekehrten Ansatz nicht mehr theoretischer Erfolg beschieden sein könnte. Vielleicht ist das gemeinsame Erleben bzw. das gemeinsame Wissen gar nicht aus dem abzuleiten, was die einzelnen Individuen erleben bzw. wissen, wenn sie etwas gemeinsam erleben bzw. wissen. Vielleicht ist umgekehrt das, was Individuen erleben bzw. wissen, wenn sie etwas gemeinsam erleben bzw. wissen, nur im Ausgang von der Gemeinsamkeit dieses Erlebens bzw. Wissens zu bestimmen. Dazu wird später mehr zu sagen sein. Zunächst geht es hier bloß um die Grundidee, die sich in Walthers Motiv der Einigung anzeigt: die Idee, das gemeinsame Wissen bzw. Erleben, die gemeinsame kognitive Intentionalität, nicht aus individuellen Erlebnissen abzuleiten, welche gleichsam nachträglich durch eine Struktur wechselseitigen Voneinanderwissens verklammert werden. Im Kontext der früheren Phänomenologie ist dieses Motiv verschiedentlich angeklungen, wenn auch kaum je wirklich in die letzten Konsequenzen verfolgt worden. Die dezidiertesten diesbezüglichen Versuche stammen, so weit ich sehen kann, von Max Scheler und Martin Heidegger. An unterschiedlichen Beispielen haben beide einen nicht-reduktioA
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nistischen Begriffe des gemeinsamen Erlebens entworfen, dessen Reflexe sich dann auch bei anderen Phänomenologen wie Dietrich von Hildebrand und Jean-Paul Sartre finden. In seiner Gefühlsanalyse wendet sich Scheler gegen den einfühlungstheoretischen »offiziellen« phänomenologischen Ansatz, nach dem gemeinsames Fühlen in eigenem Fühlen plus (allenfalls »gespiegeltem«, d. h. bis in die n-te Stufe iteriertem) »eingefühltem« Fühlen der Mitfühlenden besteht. Scheler besteht vehement darauf, daß sich gemeinsames Fühlen nicht gemäß der reduktionistischen Formel »individuelles Fühlen« + »iterierte Einfühlung« aufschlüsseln läßt, sondern ein eigenständiges Phänomen mit einer irreduziblen Struktur ist. In diesem Sinn spricht Scheler vom »unmittelbaren Mitfühlen«. Es sei nicht so, daß A etwas fühlt, was B auch fühlt, wozu dann noch gegenseitiges Wissen um das Fühlen der oder des je anderen komme. Schelers Hauptargument gegen das reduktionistische Verständnis ist, daß im unmittelbaren »Mitfühlen« das Fühlen der oder des anderen ja gar nicht gegenständlich wird. 45 Der Andere ist nicht, worum es in diesem Fühlen geht, und daher entzieht sich dieses Phänomen auch dem Blick durch die intersubjektivitätstheoretisch geschliffene, auf Alterität fokussierte Brille. Mit Schelers (in der Literatur sehr verbreiteten) Beispiel gesagt: Eltern, die den Verlust eines Kindes betrauern, Trauern nicht erstens je für sich individuell um das Kind und wissen dann zweitens noch um die Trauer des Partners. Ihr Fühlen ist, im phänomenologischen Jargon ausgedrückt, nicht in zwei »Partialintentionen« gespalten, deren eine auf das verlorene Kind und deren andere auf den Partner gerichtet ist. Die Gemeinsamkeit des Fühlens entstammt nicht irgendeinem »Gegebensein« anderer Fühlender, sondern liegt diesem voraus. Eine Verallgemeinerung dieser Analyse führt Scheler zum Begriff des »Miteinandererlebens«. Von Walthers Wir-Erleben unterscheidet sich dieses schon dadurch, daß Scheler es als a limine gemeinsames Erleben verstanden haben will. Wechselseitige Überzeugungen sollen hier explizit gar keine Rolle spielen: »es wäre eine ganz falsche Konstruktion, das eigenartige Phänomen des ›Miteinandererlebens von etwas‹ etwa des A und B ›erklären‹ zu wollen daraus, daß A dieses Etwas erlebt, daß B es erlebt und daß sie außerdem beide um dieses ihr Erleben wissen
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(…).« 46 Damit weist auch dieser Ansatz in eine ganz andere Richtung als die gegenwärtige Debatte um das common knowledge. Die Grundweichenstellung besteht darin, die Gemeinsamkeit nicht in der Sphäre der individuellen kognitiven Wechselbezüge zu suchen. Ein ähnlicher Ansatz läßt sich auch bei Martin Heidegger finden. Heidegger legt im Rahmen seiner Ausführungen zum gemeinsamen Erleben großen Wert auf die Feststellung, daß dieses gemeinsame Erleben in seiner Grundstruktur keineswegs in individuellem Erleben bestehe, zu welchem dann – sozusagen sekundär – noch ein irgendwie ausdrückliches, gegenständliches Wechselverhältnis unter den Erlebenden hinzukomme. 47 Damit lehnt auch Heidegger das reduktionistische Erklärungsschema »gemeinsames Erleben = individuelles Erleben + gegenseitiges (iteriertes) Voneinanderwissen« dezidiert ab. Gemeinsames Erleben ist kein »monologischer«, ich-intentionaler Bezug zum Gegenstand, zu dem dann sozusagen als intentionale Nebenrichtung noch ein wechselseitiges Sicherfassen hinzutritt. Heideggers Beispiel für gemeinsames Erleben – das Beispiel zweier Wanderer, die gemeinsam in den Anblick eines Sonnenuntergangs vertieft, von ihm hingerissen bzw. benommen sind 48 – ist gerade daraufhin angelegt, das reduktionistische Erklärungsschema fernzuhalten bzw. das phänomenologisch Unplausible an reduktionistischen Erklärungen möglichst deutlich hervortreten zu lassen. Das Benommen- bzw. Hingerissensein der beiden Wanderer läßt keinen Raum für einen Gedanken an den anderen; das ganze Erleben ist von der Fülle des Sonnenuntergangs besetzt. Und doch vereinzelt solches »Hingerissensein« und solches »Benommensein« keineswegs; es ist à fonds gemeinsam. Die Gemeinsamkeit ist nicht akzidentiell; sie gehört zu diesem Erleben grundwesentlich hinzu. Bei Dietrich von Hildebrand findet sich eine ganze Reihe von Beispielen zum »Miteinandervollzug« von Akten, welche die Bandbreite der Intentionalitätstypen abdeckt – reichend vom rein kognitiv-intentionalen gemeinsamen Erleben einer Gefahr über affektive Intentionen wie die gemeinsame Trauer von Eltern um ein Kind bis Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus [1916]. Gesammelte Werke Bd. 2, Bonn 2000, S. 516. 47 Besonders einschlägig ist diesbezüglich Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (Vorlesung Wintersemester 1928/29). Gesamtausgabe Bd. 27, Frankfurt a. M. 1996, insbes. S. 86 ff. 48 Heidegger [1928/29]/1996, S. 86, 88. 46
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zu praktischen Intentionen, wie sie etwa im gemeinsamen Stellen einer Bitte oder Forderung impliziert sind. 49 Dabei deutet auch Hildebrands Analyse in eine nicht-reduktionistische Richtung, ist es für den »Miteinandervollzug« dieser Akte laut Hildebrand doch gerade charakteristisch, daß sich die Beteiligten dabei nicht wechselseitig zum Objekt werden. Explizit wehrt sich Hildebrand hier gegen das intersubjektivistische Vorurteil, daß jeder »Kontakt mit anderen Personen (…) die Form eines Sich-Gegenüberstehens« haben müsse. Der Terminus der »Wir-Berührung« wird denn hier auch als zweiter »Urmodus« der »›Ich-Du‹-Berührung« »diametral« entgegengesetzt – wie um der Tendenz zum Versuch, die intentionale Gemeinsamkeit dann doch wieder irgendwie in einem thematischen Wechselbezug zu fundieren, den stärkstmöglichen Riegel zu schieben. Direkt an Heideggers Überlegungen zu einer radikal nicht-reduktionistisch gedachten Gemeinsamkeit schließt auch Jean-Paul Sartre an: Sartre diskutiert diesen Begriff der Wir-Intentionalität in »L’être et le néant« am Beispiel des gemeinsamen Erlebens einer Theateraufführung. Daß der grundwesentliche Unterschied zwischen ich-intentionalem und wir-intentionalem Erleben mit keinem thematischen wechselseitigen »Sicherfassen« der Erlebenden zu tun hat, werde an diesem Beispiel besonders klar; man achte in dieser Situation ja ganz auf die Aufführung und nicht auf die anderen Zuschauer. Und tatsächlich ist es ja so, daß Gedanken an die anderen Zuschauer – von Gedanken an deren Erleben und höherstufigen Einfühlungserlebnissen ganz zu schweigen – in diesem Kontext höchstens in der Form einer Störung des Erlebens vorkommen werden, nicht aber als dessen Strukturmoment. Obwohl hier keinerlei wechselseitiges Umeinanderwissen im Sinne »intentionaler Akte« statthat, erlebt man gemeinsam. Die einzelnen Erlebenden sind im gemeinsamen Erleben, wie Sarte sagt, »nicht-thetisch (…) in ein Wir engagiert« – ein Wir, welches Sartre, wie gesehen, das »Subjekt-Wir« nennt. 50 Dem Begriff des »Subjekt-Wir« liegt insofern ein »kopernikanisch gewendeter«, ein nicht-reduktionistischer Begriff des gemeinsamen Erlebens zugrunde, welcher nicht über das thematische Erleben anderer vermittelt ist. Die These ist mithin: Gemeinsames Erleben ist irreduzibel auf individuelles Erleben. Das heißt natürlich 49 Hildebrand, Dietrich von: Metaphysik der Gemeinschaft. Untersuchungen über Wesen und Wert der Gemeinschaft. Augsburg 1930, S. 39 ff. 50 Vgl. Sartre 1943/1991, S. 721.
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nicht, daß nun eine Gruppe statt der beteiligten Individuen erleben würde. Die im folgenden zu entfaltende Grundidee, die »Kopernikanische Wende«, ist vielmehr die: Was die einzelnen beteiligten Individuen erleben, wenn sie gemeinsam erleben, ist nur im Ausgang von der Gemeinsamkeit des Erlebens zu bestimmen. Ja mehr noch: Was Individuen empfinden, denken oder vorhaben, wenn sie etwas gemeinsam empfinden, denken oder vorhaben, ist mithin das, was es ist, nur aufgrund des gemeinsamen Empfindens, Denkens oder Vorhabens. Damit wird der traditionelle, in vielen Varianten wiederholte Versuch, die intentionale Gemeinsamkeit im Ausgang vom individuellen Intendieren der Beteiligten zu bestimmen, vom Kopf auf die Füße gestellt. Kehren wir mit dieser in den Gefilden der früheren Phänomenologie gewonnenen Vermutung endlich zur gegenwärtigen Diskussion rund um das common knowledge zurück. Angesichts des angetroffenen Dilemmas – die infinite Iteration von Überzeugungen widerspricht der Endlichkeit unseres Geistes, jeder Abstrich an Infinitesimalität aber führt in begriffliche Inkonsistenzen – mag eine Irreduzibilitätsbehauptung wie ein Verzweiflungsstreich durch den gordischen Knoten wirken. Nur schon aus Gründen Ockhamscher Sparsamkeit darf derlei nicht ad hoc, zum Zwecke der Dilemmavermeidung, behauptet werden. Im Sinne eines phänomenologischen Verständnisses von Philosophie gilt es vielmehr, gleichzeitig mit der argumentativ-begrifflichen Konsistenz auch die intuitive Evidenz im Auge zu behalten. Dazu eignen sich Beispiele. In der einschlägigen, analytischen Literatur wird common knowledge in der Regel anhand von Fällen diskutiert, die zumeist Variationen von zwei verschiedenen Versuchsanordnungen darstellen. 51 Ein beliebtes Beispiel für die erste Versuchsanordnung: Eine Gruppe von x Kindern spielt im Sand. Eine bestimmte Anzahl (k) der Kinder beschmutzen sich dabei die Stirne (dasselbe Gedankenexperiment kursiert auch mit an der Stirne markierten Gefangenen, Hutträgern und untreuen Ehefrauen). Jedes Kind kann die Gesichter aller anderen Kinder sehen, aber keines hat Vgl. u. v. a.: Fagin, Ronald/Halpern, Joseph Y./Moses, Yoram/Vardi, Moshe Y.: Common knowledge revisited. In: Annals of Pure and Applied Logic 96 (1999), S. 89–105; Nozick 2001, S. 197 ff.; Nozick beansprucht für sich, als erster auf die Bedeutung des »common knowledge« für die Spieltheorie hingewiesen zu haben (cf. ebd. S. 375 f.). Unter den vielen »Reflexen« dieser Diskussion vgl. jüngst Morris, Stephen: Coordination, Communication, and Common Knowledge: A Retrospective on the Electronic Mail Game. In: Oxford Review of Economic Policy 18 (2002), S. 433–445. 51
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einen Hinweis darauf, ob es selbst Schmutz an der Stirne trägt oder nicht. Nun kommt der Vater vorbei und sagt zu den Kindern: »Mindestens einer von euch hat Schmutz an der Stirne. Ich zähle nun bis drei: Haltet auf ›drei‹ die Hand hoch, wenn ihr wißt, daß ihr selbst Schmutz an der Stirne tragt.« Nehmen wir an, die Kinder sind allesamt hinreichend intelligent, und die allseitige Intelligenz ist unter den Kindern common knowledge. Dann ist folgendes absehbar: Ist x > 2 und k > 1 wird auf »drei« kein einziges Kind die Hand hoch halten. Nehmen wir nun aber an, der Vater wiederholt den Versuch. Wiederum sagt er: »Haltet auf »drei« die Hand hoch, wenn ihr wißt, daß ihr selbst Schmutz an der Stirne tragt.« Beim k-ten Durchlauf werden zuverlässig und ohne alle weitere Information alle Kinder, die Schmutz auf der Stirne tragen, die Hand hochhalten. Die Überlegung, welche die Kinder mit beschmutzter Stirn wie durch ein Wunder dazu veranlaßt, aufzustrecken, ist dabei bei näherer Betrachtung denkbar einfach 52 – auch wenn daran gezweifelt werden darf, ob die Versuchsanordnung den experimentellen Test im Sandkasten bestehen würde. Aber hier geht es ja nicht um Kinderpsychologie, sondern um Logik. Das eigentliche Rätsel, das Mysterium der Geschichte ist das folgende: Ist nämlich k > 1, scheint der dazutretende Vater keinem der Kinder irgendeine Information zu liefern. Was er sagt, ist niemandem neu. Denn daß mindestens ein Kind Schmutz an der Stirne trägt, wissen alle Kinder ja sowieso schon: Sie sehen sich ja wechselseitig. Und doch reicht es nicht, wenn der Vater einfach hinzutritt und sagt: »Ich zähle bis drei: Haltet auf ›drei‹ die Hand hoch, wenn ihr wißt, daß ihr selbst Schmutz an der Stirne tragt.« Es braucht die vorgängige »Information«, die nichts Neues zu sagen scheint: die Feststellung »Mindestens einer von euch hat Schmutz an der Stirne.« Gehen wir von k = 2 aus. Jedes »schmutzige« Kind hat also noch ein weiteres »schmutziges« Kind im Blickfeld. Die beiden »schmutzigen« Kinder wissen nach dem ersten Durchlauf, daß das je andere »schmutzige« Kind aufgestreckt hätte, wenn es keine weitere »schmutzigen« Kinder gesehen hätte (dann hätte es aufgrund der durch den Vater erhaltenen Information, daß mindestens ein Kind schmutzig ist, und seiner Beobachtung, das von den anderen Kindern keins schmutzig ist, schließen können, daß es selbst schmutzig ist. Beide schmutzigen Kinder wissen also nach dem ersten Durchgang, daß es außer dem einen schmutzigen Kind, welches sie im Blickfeld haben, noch ein weiteres geben muß: es selbst. Bei k = 3 wissen die betreffenden drei, daß die anderen beiden beim zweiten Durchgang aufgestreckt hätten, hätten sie bloß je eine schmutzige Stirn im Gesichtsfeld gehabt, wie sie es gehabt haben müßten, wenn das Kind, welches diese Überlegung anstellt, nicht selbst zu k gehörte. Beim dritten Durchlauf werden deswegen die drei schmutzigen Kinder aufstrecken, u. s. w. für alle weiteren k.
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Die Auflösung des Mysteriums ist: Was diese »Information« vermittelt, ist kein Wissen über den betreffenden Sachverhalt. Dieser war den Beteiligten zuvor schon bekannt. Was dadurch geschieht, ist vielmehr das folgende: Etwas, was die einzelnen Beteiligten je für sich wissen, und von dem sie wissen, daß alle es wissen, wird plötzlich zu etwas, was von einer ganz anderen Art ist: etwas, was sie gemeinsam wissen. Von den phänomenologischen nicht-reduktionistischen Ansätzen her kommend würde man dieser Geschichte deshalb folgende Moral bezüglich des Verhältnisses von gemeinsamem Wissen bzw. Erleben und wechselseitigen individuellen Erwartungen bzw. Überzeugungen zuschreiben: »Gemeinsames Wissen« ermöglicht es den Beteiligten zwar, substantielle Schlüsse aus Iterationen wechselseitigen Umeinanderwissens zu ziehen (denn wenn wir gemeinsam p wissen, kann ich davon ausgehen, daß du davon ausgehst, daß ich p weiß, wenn es darauf ankommt – und so weiter bis in die n-te Stufe). Dies heißt aber gerade nicht, daß sich die Gemeinsamkeit von Wissen selbst aus einer solchen Iteration ergibt. (Der Versuch, die Gemeinsamkeit von Wissen über die Struktur infiniter Iteration von Überzeugungen zu explizieren, gleicht dem müßigen Versuch des Achilles, die vor ihm kriechende Schildkröte dadurch einzuholen, daß er den Abstand, der ihn von ihr trennt, immer wieder halbiert.) Die Gemeinsamkeit von Wissen (Erleben, Denken, Fühlen etc.) hat selbst nichts mit einem Umeinanderwissen der Beteiligten zu tun. Die zweite Versuchsanordnung, anhand derer in der gegenwärtigen Literatur die Struktur von common knowledge diskutiert wird, illustriert diesen Punkt. Gegeben ist folgendes: Eine Armee hat sich durch ein taktisches Manöver in zwei Teile gespalten; diese können die gegnerischen Truppen nur besiegen, wenn beide Teile den Gegner in einer Zangenbewegung zur selben Zeit angreifen. Wenn nur ein Truppenteil angreift, wird er absehbarerweise vernichtend geschlagen werden, was dann auch das Ende des anderen Teils bedeuten wird. Zwischen den beiden Truppenteilen ist unsicheres Terrain. Nun erhält der Kommandant des einen Truppenteils (A) vom Kommandanten des anderen Truppenteils (B) per Boten eine Nachricht »Angriff morgen früh um 6«. A weiß somit, daß B zum angegebenen Zeitpunkt einen Angriff beabsichtigt. Zugleich weiß er, daß B als rationaler Taktiker nur angreifen wird, wenn er weiß, daß A ebenfalls angreift. A weiß nun aber, daß B sich ob der gegebenen Verhältnisse nicht sicher sein kann, ob seine Nachricht auch wirklich angekomA
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men ist, und daß B deshalb ohne Gegenbescheid vernünftiger- oder auch nur rationalerweise seine Absicht nicht in die Tat umsetzen wird. Er sendet deshalb den Boten mit der Botschaft »Nachricht erhalten, bestätige: Angriff morgen früh um 6« zurück zu B. B weiß nun, daß A weiß, daß er anzugreifen beabsichtigt; gleichzeitig weiß er aber, daß A nicht wissen kann, ob B weiß, daß A weiß, daß B anzugreifen beabsichtigt, und daß A seine deklarierte Angriffsabsicht vernünftiger- bzw. rationalerweise nicht in die Tat umsetzen wird, solange er das nicht weiß. Also wird der Bote mit einer entsprechenden Nachricht zurückgesandt. Und so kann es natürlich weitergehen ad infinitum. Der Knackpunkt ist hier: Mit jedem weiteren Nachrichtenaustausch wird zwar eine weitere Stufe der Iteration des Wissens um die Angriffsabsicht erzeugt – aber wie hoch die beiden auf der Iterationsleiter wechselseitigen Umeinanderwissens auch immer klimmen mögen: Einen rationalen Grund zum Angriff stellt das auf dem Weg dieser Iteration herstellbare Wissen auf keiner noch so hohen Iterationsstufe dar. Während in der ersten Versuchsanordnung der clou darin liegt, daß aus gemeinsamem Wissen logischer- bzw. idealerweise auf iterierte Überzeugungen geschlossen werden kann (idealerweise deshalb, weil wohl kein common knowledge-Theoretiker einem »reality check« im Sandkasten große Erfolgsaussichten zumessen würde), liegt der clou im zweiten Beispiel gerade umgekehrt darin, daß eine noch so weitgehende Iteration selbst zu keiner Gemeinsamkeit führt. Betrachtet man die Beispiele aus dieser Perspektive, legen sie selbst gegenüber der traditionellen Theorie des common knowledge eine Wende im Verhältnis von Iteration und Gemeinsamkeit nahe. Eine »kopernikanische Wende« von der Art, wie Gerda Walther sie für die Sozialwissenschaften ins Auge zu fassen scheint, würde hier etwa folgendes bedeuten: Nachdem der Versuch gescheitert ist, die Gemeinsamkeit des Wissens aus der Iteration von Überzeugungen (oder aus einem Substitut für diese Iteration; cf. oben) abzuleiten, lohnt es sich vielleicht, einmal zu überprüfen, ob man nicht weiterkäme, wenn man umgekehrt davon ausgehen würde, daß die Iteration von Überzeugungen, wie sie situativ durchaus in Ansätzen vorkommen mag, sich umgekehrt aus der Gemeinsamkeit von Wissen ergibt. Wenn ich begründete Überzeugungen davon haben (bzw. bilden) kann, was du denkst, daß ich denke, daß du denkst – und daraus, wie im Sandkastenbeispiel, so substantielle Schlüsse ziehen kann wie jenen auf den Zustand meiner Stirn – dann ist dies nur deshalb mög144
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lich, weil ich dabei von dem ausgehen kann, was wir denken, was unsere Überzeugungen sind. Und nicht umgekehrt: Unsere Gedanken, unsere Überzeugungen selbst haben durchaus nicht die Form einer infiniten Iteration meiner und deiner individueller Überzeugungen. Das Gemeinsame, das »Unser« liegt der Spiegelung von Mein und Dein gewissermaßen voraus, und ergibt sich nicht aus ihr. Gemeinsames Wissen ist möglich ohne infinite Iteration von Überzeugungen; aber jede Iteration von Überzeugungen setzt gemeinsames Wissen voraus. Dies würde bedeuten, vom individualistischen Versuch, die Gemeinsamkeit des Wissens von dem abzuleiten, was die einzelnen Individuen wissen, umzuschalten auf den Versuch, das, was Individuen wissen, wenn sie etwas gemeinsam wissen, umgekehrt aus der Gemeinsamkeit des Wissens abzuleiten. Nicht-reduktionistisch wäre diese »kopernikanisch gewendete« Theorie des gemeinsamen Wissens insofern, als sie gemeinsames Wissen nicht auf ein set von Intentionen der Form »ich weiß, daß x« reduziert. Wenn wir wissen, daß x, ist dieser Zustand nach nicht-reduktionistischer Ansicht nicht äquivalent mit einem Zustand, welcher adäquat beschreibbar wäre dadurch, daß ich etwas weiß und du etwas weißt – common knowledge wäre mithin nicht adäquat beschreibbar ohne Bezugnahme auf eine Intention der Form »wir wissen, daß x« (vgl. dazu unten § 8). Dagegen müssen sich indes Bedenken regen. Der gewichtigste Einwand gegen eine nicht-reduktionistische Theorie des gemeinsamen Wissens ist der, daß nur eine reduktionistische Theorie des gemeinsamen Wissens mit den Vorgaben des methodologischen Individualismus verträglich zu sein scheint. Nach diesen ist alles Wissen auf Wissen von Individuen reduzierbar; muß eine Theorie, die eine bestimmte Klasse von Wissen als irreduzibel auf individuelles Wissen bezeichnet, nicht einer Kollektivsubjekt-Konzeption anheimfallen? Wird hier nicht zwangsläufig das einzelne Individuum vom Kollektiv als »Träger« der jeweiligen Überzeugung abgelöst? Weitere Nahrung erhält dieser Verdacht, wenn wir uns wiederum der Theoriegeschichte zuwenden. Einige der oben als glänzende Vorbilder für einen nicht-reduktionistischen Begriff des gemeinsamen Wissens dargestellten phänomenologischen Autoren geben jedenfalls zumindest auf den ersten Blick durchaus Anlaß zur Befürchtung, daß Nicht-Reduktionismus nur um den Preis des Kollektivismus zu haben ist. Max Scheler äußert gleich im Anschluß an die oben zitierte Textpassage, in welcher er die reduktionistische Analyse A
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des »Miteinandererlebens« so dezidiert ablehnt, die Ansicht, daß das »Miteinandererleben« sich nicht aus den individuellen »Erlebnisströmen« der beteiligten Individuen aufbaue, sondern einem eigenständigen Erlebnisstrom angehöre. Das Subjekt des »Miteinandererlebens« seien, so suggeriert Scheler, nicht die »(objektiven) Individuen und ihr Erleben«, sondern die »Realität der Gemeinschaft selbst«. 53 Ähnlich interpretiert Scheler auch etwa in der Schrift »Die Wissensformen und die Gesellschaft« das »Miteinanderdenken, -wollen, -lieben, -hassen« auf eine »spontane Gruppenseele« und einen in persönlichen Repräsentanten manifesten »Gruppengeist« hin. 54 Das »Wir« ist, wie Scheler es unter den »obersten Axiomen der Wissenssoziologie« behauptet, »stets früher inhaltlich gefüllt als das ›ich‹«. Schelers Nicht-Reduktionismus scheint mit einer Kollektivsubjekt-Konzeption erkauft zu sein – auch wenn er zum Thema »Gruppengeist und Gruppenseele« dann gleich hinzufügt, diese seien keine »metaphysischen Entitäten«, die dem Miteinandererleben substantiell vorhergehen, sondern etwas, was sich »im Miteinander immer neu produziert«. 55 Unter demselben Aspekt läßt sich auch Martin Heideggers oben skizzierter nicht-reduktionistischer Ansatz gemeinsamen Erlebens kritisieren; auch dieser scheint nämlich letztlich mit einer Kollektivsubjektkonzeption erkauft zu sein – wobei sich bei Heidegger der Kollektivismus-Vorwurf noch damit moralisch etwas verschärfen läßt, daß die Hinwendung zu einer Kollektivsubjekt-Konzeption mit Heideggers Nazi-Engagement einherzugehen scheint. Es ist allerdings nicht ratsam, hier zu enge Bezüge zu postulieren; Heideggers Lehrer und Vorgänger auf dem Lehrstuhl Edmund Husserl hat – was von der Forschung bislang noch zu wenig beachtet worden ist – jahrzehntelang unter Titeln wie demjenigen der »Personalitäten höherer Ordnung« eine Kollektivsubjekt-Konzeption vertreten, 56 ohne daß »Sieht man (…) vom einheitlichen Aktus des Miteinandererlebens auf die (objektiven) Individuen und ihr Erleben zurück, so schwebt gleichsam dieser Aktus (und die je und je wechselnde Struktur) des Miteinandererlebens, -hörens, -sehens, -denkens, -hoffens, -liebens und -hassens zwischen den Individuen als ein eigengesetzmäßiger Erlebnisstrom, dessen Subjekt die Realität der Gemeinschaft selbst ist«; Scheler 2000, S. 516. 54 Scheler, Max: Die Wissensformen und die Gesellschaft [1925]. Gesammelte Werke Bd. 8, Bern 1960, S. 54 f. 55 Scheler 1960, S. 52; 54. 56 Vgl. Schmid, Hans Bernhard: Subjekt, System, Diskurs. Edmund Husserls Begriff transzendentaler Subjektivität in sozialtheoretischen Bezügen. Dordrecht/Boston 2000 (Phaenomenologica Bd. 158), S. 17–27. 53
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man ihm sinnvollerweise eine Neigung zu kollektivistischen oder totalitären Politikprogrammen nachsagen könnte. Tatsache ist immerhin, daß der angeführte Textbeleg für Heideggers anti-reduktionistische Sicht der Wir-Intentionalität relativ kurze Zeit vor jenen Textdokumenten entstanden ist, in denen Heidegger seinen SubjektBegriff – das »Dasein« – vom einzelnen Individuum, welches es noch in »Sein und Zeit« 57 bezeichnete, mitunter auch auf das Kollektiv überschob (bevor er es, zumindest nach offizieller Lesart, ganz fallen ließ). Heidegger löst sich von einer Konzeption, in der »Dasein« durch »Jemeinigkeit« gekennzeichnet ist, also »je individuell meines« ist, und in der nach der Möglichkeit »eigentlichen«, d. h. authentischen Selbstseins als individuelle Seinsmöglichkeit gefragt wird, indem er die Frage nach dem »Wer« des Daseins neu in der ersten Person Plural stellt: »Wer sind wir selbst?« Die Hinwendung zum »Wir« scheint dabei mit einer Absage an den Individualismus einherzugehen: »Antwort: das Volk.« 58 Das »Volk« wird jetzt von Heidegger mithin als »Dasein« bezeichnet, dem er die Fähigkeit zu »Selbstverantwortung« und »Selbstbesinnung« zuspricht – Fähigkeiten, die nach konventioneller Lesart eigentlich den Individuen vorbehalten sind. 59 Wenn man sich die Dinge so zurechtlegt, ergibt sich hier mithin dasselbe Bild wie bei Scheler: Der Anti-Reduktionismus ist durch eine Kollektivsubjekt-Konzeption erkauft. Der Verdacht scheint nicht unplausibel, daß dies kein Zufall ist, daß Nicht-Reduktionismus in Fragen gemeinsamer Intentionalität notwendigerweise mit einer Kollektivsubjekt-Konzeption einhergehen muß. Auf diesen Problemkomplex wird unten zurückzukommen und näher einzugehen sein (§ 9). Für den Moment gilt es vor allem, auch im Angesicht von Schreckgespenstern wie Kollektivgeist und Kollektivsubjekt kühlen Kopf zu bewahren: ob des drohenden Kollektivsubjekts also nicht die Gründe zu vergessen, die für eine nicht-reduktionistische Konzeption des common knowledge sprechen, darunter vor allem das Scheitern der Ansätze, die common knowledge auf der Grundlage individueller Überzeugungen bezüglich der Überzeugungen der anderen Beteiligten zu rekonstruieren versuchen. Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1928]. Tübingen 16 1986. Heidegger, Martin: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache [1934]. Gesamtausgabe Bd. 38, Frankfurt a. M. 1982, S. 59. 59 Vgl. Thomä, Dieter: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976. Frankfurt a. M. 1990, S. 550 ff. 57 58
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§ 5 Beitragsintentionen Schließen wir hier die Diskussion der common knowledge-Problematik ab; die offene Frage lautet, ob ein nicht-reduktionistischer und zugleich nicht-kollektivistischer Begriff kognitiver (bzw. affektiver) gemeinsamer Intentionen möglich ist. Soviel scheint sicher: Das Schreckgespenst des Kollektivsubjekts sollte nicht davon abhalten, die Schwierigkeiten reduktionistischer Begriffe des common knowledge zu sehen. Die Konstruktionsprobleme beim Begriff des gemeinsamen Wissens sind aber nur das eine Problem der Rolle dieses Konzeptes im reduktionistischen Ansatz. Das andere Problem ist, daß gemeinsames Wissen – worin es auch immer näherhin bestehen mag – nicht genügt, um einfache individuelle Absichten in eine gemeinsame Absicht zu transformieren. Gemeinsames Wissen bindet jedenfalls nicht stark genug, um individuelles Intendieren zu gemeinsamem Intendieren zu verschmelzen. Denn daß es beispielsweise zwischen Anna und Berta common knowledge ist, daß beide vorhaben, den Gipfel x zu besteigen, macht aus ihrem jeweiligen individuellen Tun noch keine Gemeinschaftshandlung. (Es wäre möglich, daß sich die beiden gegenseitig über ihre Wanderroute informiert haben, ohne daß sie durch deren zufällige Koinzidenz dazu gekommen wären, den Weg gemeinsam zu gehen. Allerdings macht diese Koinzidenz den Gebrauch von »wir« – in Sätzen wie »Ach, wir haben ja den gleichen Weg!« – u. U. angemessen; »wir« mag hier rein distributiv gemeint sein, läßt in der gegebenen Situation aber leicht kollektive Untertöne mitschwingen). 60 Weil das gemeinsame Wissen die Last der Gemeinsamkeit nicht zu tragen vermag, wird eine Theorie des Gemeinschaftshandelns letztlich beim Versuch scheitern müssen, die Gemeinsamkeit mittels der Konstruktion von gemeinsamem Wissen von den unmittelbaren Absichten der Beteiligten selbst fernzuhalten. 61 Es ist nicht erst die Verklammerung von individuellen Dem könnte Anna etwa folgendermaßen entgegnen: »Ach, wir haben den gleichen Weg? Dann lasse ich Sie gerne vor, Sie sind ja bestimmt schneller unterwegs.« 61 John R. Searle zieht zur Illustration dieses Punktes das Beispiel indoktrinierter Absolventen einer Business-School heran. a) Jeder intendiert, sein Teil zum Besten der Menschheit zu tun, indem er uneingeschränkt seine individuellen Präferenzen optimiert. b) Jeder glaubt, daß alle anderen Absolventinnen ebenso ihre Individualinteressen optimieren werden und damit ihr Teil zum Besten der Menschheit tun. c) Jeder glaubt, daß es unter den Absolventen common knowledge ist, daß jeder seine Individualinteressen optimieren und dadurch das Wohl der Menschheit fördern wird. Die Si60
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Beitragsintentionen
Absichten durch common knowledge, die ein Handeln zum gemeinsamen Handeln macht. Die Gemeinsamkeit kommt gewissermaßen vor dem gemeinsamen (bzw. wechselseitigen) Wissen um die jeweiligen individuellen Absichten. Und zwar sowohl genetisch wie logisch. Weil und insofern Anna und Berta gemeinsam unterwegs sind, kann Anna iterierte Überzeugungen der genannten Art bilden, also davon ausgehen, daß Berta davon ausgeht, daß Anna ihr Verhalten auf geeignete Weise an dasjenige von Berta anschließt (und sich nicht etwa einfach nach ihrer Puste richtet) etc. etc. pp. Dies ist das Verhältnis zwischen der Gemeinschaftlichkeit der Situation und dem wechselseitigen Umeinanderwissen, und nicht das umgekehrte: Weil die Gemeinsamkeit dem wechselseitigen Voneinanderwissen vorhergeht, muß Anna nicht umgekehrt davon ausgehen, daß Berta davon ausgeht, daß Anna ihr Verhalten auf geeignete Weise an dasjenige von Berta anschließt etc. etc. pp., um ihr Handeln als Beitragshandeln zu intendieren. Die Dimension der »Intersubjektivität« oder der »Anerkennung«, die Dimension der kognitiven Wechselbezüge zwischen den beteiligten Individuen in all ihren möglichen Gestalten ist mithin sekundär gegenüber der Gemeinsamkeit. 62 Gemeinsamkeit kommt vor Intersubjektivität. Die Gemeinsamkeit der Handlungssituation ergibt sich nicht aus dem, was die Beteiligten implizit oder explizit übereinander denken – auch nicht aus irgendeinem wechselseitigen Anerkennungsbezug oder einem wechselseitigen »scorekeeping« bezüglich »commitments« und »entitlements«. 63 Aus diesem Material ist Gemeinschaft nicht zu basteln. Wenn es aber nicht der kognitive Wechselbezug zwischen den Beteiligten ist – was ist es dann, was das tuation, so Searle, entspricht damit den drei (oben in § 4 zitierten) Tuomela/Millerschen Bedingungen für gemeinsame Absichten; und doch kann man evidenterweise nicht sagen, daß die Absolventen etwas gemeinsam beabsichtigen; im Gegenteil: es ist gerade Bestandteil ihrer Ideologie, daß man nicht gemeinsam handeln sollte! (vgl. Searle, John R.: Collective Intentions and Actions. In: Cohen, Philip R./Morgan, Jerry/Pollack, Martha E. (Hrsg.): Intentions in Communication. Cambridge Mass. 1990, S. 401–415, S. 404 f.). Zur Kritik an diesem Beispiel vgl. Miller, Seumas: Social Action. A Teleological Account. Cambridge UK 2001, S. 84. 62 Dies mag auch das Scheitern des Husserlschen Versuches erklären, Gemeinsamkeit aus dem Hut iterierter kognitiver Wechselbezüge zu zaubern; vgl. dazu Husserl, Edmund: Méditations Cartesiennes. Übers. von E. Lévinas und G. Pfeiffer. Paris 1931 (dt.: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana Bd. 1, Den Haag 1950). 63 Zu diesem Ansatz vgl. Brandom, Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism. Cambridge Mass. 2000. A
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Tun von Anna und Berta im Moment t1 als individuelles, im Moment t2 aber als gemeinsames Handeln charakterisiert? Wenn das gesuchte Element im Bereich der Intentionalität liegen soll, also nicht bloß mit dem manifesten Verhalten, sondern auch damit zu tun hat, was zum fraglichen Zeitpunkt beabsichtigt, gedacht, gefühlt etc. wird (vgl. oben § 2), dabei aber weder im reflexiv-thematischen Gemeinschaftsbewußtsein der Beteiligten (vgl. § 3) noch, wie eben gesehen, in der Überzeugung bezüglich der Absicht der beteiligten anderen besteht, legt sich eine Antwort nahe: Die Gemeinsamkeit der Handlung liegt unmittelbar in der Absicht der Beteiligten selbst. Dies legt es nahe, sich der Struktur der individuellen Beitragsintentionen selbst genauer zuzuwenden. Kehren wir zu den beiden oben zitierten Ansätzen, demjenigen von Raimo Tuomela und demjenigen von Michael Bratman zurück. Beide Ansätze verklammern zwar die individuellen Beitragsabsichten durch gemeinsames Wissen (eine aus den genannten Gründen zweifelhafte Konstruktion), kommen aber gleichzeitig der Vermutung, daß die Gemeinsamkeit der Handlung nicht im wechselseitigen Wissen um die jeweilige Absicht, sondern unmittelbar in den Absichten selbst liegt, weit entgegen. Beide versuchen durchaus, die gesuchte Gemeinsamkeit schon in die zugrundeliegenden Intentionen der am Gemeinschaftshandeln Beteiligten einzulassen. Wenn Anna und Berta gemeinsam unterwegs sind, dann intendieren sie nach Tuomela ihr Weiterkommen, von welchem sie gemeinsames Wissen haben, nicht einfach individuell (so wie sie ihr Weiterkommen intendieren würden, wenn sie individuell unterwegs wären). Es ist nicht so, daß Anna die Intention hat »Ich beabsichtige, meinen Schritt zu verlangsamen« und Berta die komplementäre Intention »Ich beabsichtige, mein Tempo beizubehalten/zu steigern«, und beide Intentionen gemeinsames Wissen sind. Das Gemeinsame ist bei Tuomela dadurch schon in die zugrundeliegende Intention eingelassen, daß die zugrundeliegende Intention schon den »Partialcharakter« des individuellen Beitragshandelns deutlich macht. Statt schlicht und einfach zu beabsichtigen, ihren Schritt zu verlangsamen, beabsichtigt Anna in Tuomelas Modell, ihren Schritt als Teil des gemeinsamen Tuns zu verlangsamen (a). Bei Bratman ist die Gemeinschaftlichkeit des Unterfangens sogar noch etwas tiefer als bei Tuomela in die intentionale Struktur der Beitragshandlungen eingelassen. Bratman setzt bei der individuellen Intention »ich beabsichtige, daß wir Wandern« an (b). Mithin wird die gesuchte Gemein150
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samkeit hier direkt zum Inhalt der individuellen Intention. Gegen Bratmans Ansatz und gegen ein bestimmtes Verständnis von Tuomelas Ansatz lassen sich indes Einwände vorbringen, die in eine ähnliche Stoßrichtung gehen: in Richtung einer »Kopernikanischen Wende« vom »klassischen« Ansatz zu einem nicht-reduktionistischen Neuansatz. a) Erstes Bestimmungsstück von we-intentions ist nach Tuomela Intentionalität der Form »A intends to do his part of X (as his part of X)«. Tuomela hat in seiner ursprünglichen Formulierung die zugrundeliegende individuelle Intention ohne den Zusatz in Klammern formuliert: »A intends to do his part of X«. Versteht man diese Intention de re, würde das beispielsweise bedeuten daß Anna nur intendiert, ihr Tempo an jenes von Berta anzupassen. Die ganze Last der Transformation des sozialen Handelns in ein Gemeinschaftshandeln käme dann auf der »common knowledge«-Annahme zu liegen, deren Tragfähigkeit aus den genannten Gründen zweifelhaft ist. Mit dem Zusatz in Klammern hat Tuomela aber inzwischen restlos klar gemacht, was zuvor schon seine Position war: daß die Beitragshandelnde seiner Ansicht nach nicht einfach das zu tun beabsichtigt, was sich ganz unabhängig von ihrer Intention dann zufällig als Beitrag zum Gemeinschaftshandeln herausstellt. Sie beabsichtigt vielmehr das, was sie tut, von vornherein als ihren Beitrag zum Gemeinschaftshandeln. Diese Intention ist wohlgemerkt nicht die Absicht, die relevanten Anderen dazu zu bringen, eine entsprechende Intention zu bilden (das wäre eine andere Absicht). Es ist schlicht und einfach die Absicht, ihren individuellen Beitrag zum Gemeinschaftshandeln als ihren Beitrag zum Gemeinschaftshandeln zu erbringen. Nach Ansicht einiger Kritiker Tuomelas macht diese Fassung der Beitragsintention, der Absicht, »sein Teil beizutragen«, den Ansatz zirkulär. John Searle argumentiert diesbezüglich folgendermaßen: Wenn »A intends to do his part of X« heißen soll, daß A beabsichtigt, sein Teil zu einem kollektiven Ziel beizutragen, dann setzt Tuomelas Strukturanalyse voraus, was sie zu explizieren vorgibt. 64 Denn ein kollektives Ziel ist nur dadurch ein kollektives Ziel, daß es kollektiv bzw. gemeinsam angestrebt wird: Der Begriff des kollektiven Ziels impliziert damit schon eine gemeinsame Absicht. Tuomela begegnet diesem Zirkularitäts-Einwand folgendermaßen. Die Bildung von Beitragsintentionen setze in der Tat so etwas wie eine gemeinsame 64
Vgl. Searle 1990, S. 405. A
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Intention schon voraus. 65 Nur insofern und weil Anna (präreflexivunthematisch) davon ausgeht, daß sie mit Berta gemeinsam wandert, kann sie ihre Tempoanpassung an Berta als Beitrag zum gemeinsamen Wandern intendieren. Aber daraus resultiere, so Tuomela, kein circulus vitiosus. Was nämlich vorausgesetzt werden müsse, sei lediglich eine »pre-analytically understood joint intention«, welche von einer »joint intention« im analytischen Sinn wohl zu unterscheiden sei. 66 Was leistet die dadurch ins Spiel kommende Unterscheidung zwischen voranalytisch und analytisch verstandener »gemeinsamer Intention« wirklich? Wenn nach Tuomela die Beitragshandelnden vom Vorliegen einer gemeinsamen Handelnsabsicht in einem vor-analytischen Sinn schon ausgehen müssen, wenn sie ihre Beitragsabsicht bilden, sich aber gleichzeitig umgekehrt die eigentliche (»analytische«) gemeinsame Intention aus diesen Beitragsintentionen erst konstituieren soll, wird das Verhältnis zwischen dem, was Individuen faktisch intendieren, und der philosophischen Analyse dieser Intentionen fraglich. Was wenn nicht die präanalytische Intention soll denn Gegenstand der philosophischen Analyse sein? Mir scheint, die bessere Strategie ist die, die Tuomela an anderer Stelle selbst verfolgt: keine Angst vor Zirkularität zu haben und davon auszugehen, daß so die individuellen Beitragsintentionen so etwas wie gemeinsame Absichten tatsächlich voraussetzen. Nur insofern und weil wir (gemeinsam) zu wandern beabsichtigen, kann ich meinen Schritt als meinen Beitrag zum gemeinsamen Wandern verlangsamen. Was sich hier im Verhältnis zwischen dem, was wir gemeinsam beabsichtigen, und dem, was wir individuell als unseren individuellen Beitrag zum gemeinsamen Tun beabsichtigen, andeutet, ist dabei wiederum die schon beim Problem des common knowledge vorgeschlagene »Kopernikanische Wendung«. Was beDies heißt natürlich nicht, daß man das, was sich im Rahmen einer rein hypothetischen Gemeinschaftshandlung als das geeignete Beitragsverhalten darstellen würde, nicht auch tun kann, ohne davon auszugehen, daß ein entsprechendes Gemeinschaftshandeln tatsächlich stattfindet. Beispielsweise mag ein Bauarbeiter rechtzeitig zum vertraglich festgelegten Arbeitsbeginn auf der Baustelle antreten. Wenn er aber genau weiß, daß die anderen Bauarbeiter im Streik sind und deswegen die Gemeinschaftshandlung, innerhalb derer sein Handeln ein sinnvolles Beitragshandeln wäre, von den anderen nicht mitintendiert wird, kann er sein Verhalten auch nicht direkt als seinen Beitrag zum gemeinsamen Tun beabsichtigen, sondern allenfalls als Mahnung an alle anderen oder dgl. 66 Vgl. Tuomela, Raimo: We-Intentions Revisited. Erscheint in: Philosophical Studies 124 (2005). 65
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züglich der Überzeugungen, der kognitiven Intentionen, gilt, gilt auch bezüglich der praktischen Intentionen. Das, was wir gemeinsam vorhaben, ist nicht im Ausgang von dem zu bestimmen, was wir individuell beabsichtigen, sondern umgekehrt: Jede Bestimmung dessen, was wir als unseren individuellen Beitrag beabsichtigen, setzt das gemeinsame Vorhaben schon voraus. Ganz auf der Linie dieser Deutung machen Tuomela und Miller denn schon in ihrem für die ganze Debatte grundlegenden Aufsatz von 1988 deutlich, daß ihrer Ansicht nach Wir-Intentionen letztlich nicht auf Ich-Intentionen reduzierbar sind. 67 Die von Searle losgetretene Debatte rund um die Zirkularität von Tuomelas Ansatz läuft somit am Selbstverständnis dieser Analyse vorbei, gemäß welchem es sich hier um einen nichtreduktionistischen Ansatz handelt. Der Zirkularitäts-Einwand trifft, wie Tuomela in einem Aufsatz zum Titel »We-Intentions Revisited« noch einmal klar gemacht hat (Tuomela 2003), mithin nur ein reduktionistisches Mißverständnis seiner Analyse, gemäß welchem die in die Analyse eingehenden Elemente so etwas wie unabhängig existierende, konstitutive »Bausteine« gemeinsamer Intentionen sind. Was zwischen Tuomela und Searle kontrovers ist, ist mithin nicht die Frage der Reduzibilität gemeinsamer Intentionen, sondern eher die Rolle von Zirkeln in Analysen bzw. das oben angesprochene prekäre Verhältnis von »voranalytischer« und »analytischer« Ebene in der Philosophie gemeinsamer Intentionalität. b) Michael Bratman läßt das gemeinsame Handeln scheinbar noch unmittelbarer und radikaler als Tuomela in die individuelle Beitragsintention ein. Der Ort der Gemeinsamkeit ist hier direkt der intentionale Gehalt. Bratman zufolge wandern Anna und Berta gemeinsam, wenn sie beide die Intention »ich beabsichtige/habe vor, daß wir wandern« haben, ein geeignetes Beitragsverhalten intendieren und davon wiederum common knowledge haben. Das Gemeinschaftshandeln wird hier sozusagen direkt individuell intendiert. Allerdings ist die Annahme individueller Intentionen der Form »ich habe vor, daß wir x« in Situationen, in denen es darum geht, ob man nun (gemeinsam) x tut oder nicht, entweder unplausibel oder aber redundant. Unplausibel ist diese Annahme dann, wenn die Beteiligten (noch) nicht gemeinsam beabsichtigen, x zu tun. Redundant aber dann, wenn beide (bereits) gemeinsam beabsichtigen, x zu tun. So heißt es hier mitunter wörtlich: »We therefore need a concept of we-intention which is not reducible to mere personal I-intentions« (Tuomela/Miller 1988, S. 367).
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Kehren wir illustrationshalber zum Beispiel von Anna und Berta zurück. Wenn Anna davon ausgeht, daß die Anwendungsbedingungen von »wir« noch nicht erfüllt sind, wird sie vielleicht die Absicht haben, Berta dazu zu bringen, den Weg gemeinsam mit ihr zu gehen (also etwa die Absicht, Berta zu fragen, ob sie den Weg gemeinsam mit ihr gehen will). Sie wird nicht eine Intention der Form »ich habe vor/beabsichtige, daß wir wandern« bilden. Denn mit der Bildung der Absicht »ich intendiere daß wir x« intendiert A nicht nur ihr eigenes Verhalten, sondern gleichzeitig auch dasjenige von Berta. Sie greift gleichsam in die intentionale Autonomie von Berta ein, was – wie gleich näher zu beleuchten sein wird – nur unter bestimmten sozialen Voraussetzungen möglich ist. Und diese sozialen Vorbedingungen sind, wie ich behaupten möchte, in Situationen wie der gegebenen genau dann erfüllt, wenn auch die Anwendungsbedingungen von »wir« bereits erfüllt sind. Wenn sich dies als richtig herausstellen sollte, wären Intentionen der Form »ich intendiere/beabsichtige, daß wir x« entweder unplausibel oder redundant. Die These ist: Anna kann die Absicht »ich beabsichtige, daß wir (gemeinsam) wandern« erst dann bilden, wenn sie davon ausgeht, daß sie mit Berta gemeinsam unterwegs ist. Wenn aber Anna davon ausgeht, daß die Anwendungsbedingungen von »wir« bereits erfüllt sind, wird sie keine Intention dieser Form bilden. Einen Sinn hat die Intention »ich intendiere, daß wir (gemeinsam) wandern« nämlich nur dann, wenn Anna und Berta das in dieser Form individuell Intendierte nicht sowieso schon gemeinsam vorhaben. Die Bratmansche Intention ist in dieser Situation einfach redundant. Wenn Anna nicht davon ausgeht, mit Berta gemeinsam unterwegs zu sein, sind die Vorbedingungen der Bratmanschen Intention nicht erfüllt. Wenn Anna aber davon ausgeht, mit Berta gemeinsam unterwegs zu sein, erübrigt sich die Bildung einer solchen Intention. »Warum sollte ich mich«, würde Anna Bratman wohl entgegnen, »mit einer Intention der Form ›ich habe vor, daß wir (gemeinsam) wandern‹ tragen, wenn wir ja eh schon vorhaben, gemeinsam zu wandern?« Bratmans Ansatz bei Intentionen der Form »I intend that we J« ist in der einschlägigen Literatur ausführlich diskutiert worden. Die Bratman-Kritiker setzten dabei bei einem Argument an, welches Annette Baier lange zuvor entwickelt hatte, und welches nun in verschiedenen Modifikationen gegen Bratman reaktiviert wird. Das ursprüngliche Argument lautet: Eine Handlung vorzuhaben, impli154
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ziert, anzunehmen, die Handlung auch ausführen zu können. 68 Oder, genauer (weil negativ) formuliert: Was man nicht (implizit) tun zu können glaubt, kann man sich auch nicht vornehmen. Es liegt ein Widerspruch in der Intention »Ich habe vor, heute Abend zur Abwechslung um sechs in der ab vier Uhr nachmittags geschlossenen Mensa zu speisen«. Eine Handlung, die man für unmöglich hält, kann man sich nicht vornehmen. (Wie wohl fast jeder Raucher weiß, kann man natürlich etwas vorhaben, was absehbarerweise nicht gelingen wird; aber in diesem Fall hält man das Vorgenommene entweder trotzdem mit einer gewissen [wenn auch geringen] Wahrscheinlichkeit für möglich – oder aber man hat gar nicht das x-Tun selbst vor, sondern etwas ganz anderes: nämlich den bloßen Versuch, x zu tun.) Frederick Stoutland aktiviert diesen Punkt in der Auseinandersetzung mit Bratman, indem er aus ihm das (von Bratman in seiner Reaktion so genannte) »own agency-Argument« ableitet. Der Ausgangspunkt von Stoutlands Argument ist der folgende. Daß man nicht intendieren kann, was man nicht tun zu können glaubt, bedeutet: Man kann sich nur seine eigenen Handlungen vornehmen, denn nur die eigenen Handlungen sind es ja auch, die man ausführen kann. Zwar kann man durchaus etwas anstelle des anderen bzw. für den anderen tun, etwas einander abnehmen. Aber in all diesen Fällen nimmt man sich die eigene Handlungen vor – und nicht die Handlungen des betreffenden anderen, und es sind auch die eigenen Handlungen (und nicht diejenigen des anderen), die man ausführt. Auch kann man zwar beabsichtigen, den anderen zu einer bestimmten Handlung zu bringen – aber man kann, wenn das own agency-Argument stimmt, nicht direkt die Handlung des anderen beabsichtigen. 69 Nun macht Bratmans Ansatz bei Intentionen der Form »Ich intendiere daß wir J« aber ganz den Anschein, als wären hier die Intentionen anderer in der durch das own agency-Argument ausgeschlossenen Art und Weise ins eigene Intendieren eingelassen, indem sich hier nämlich das Subjekt der Intention vom Subjekt der intendierten Handlung unterscheidet. 70 Wenn ich gemäß Bratmans Formel »unser Handeln« vorhabe, dann habe ich offensichtlich nicht nur mein HanBaier, Annette: Act and Intent. In: Journal of Philosophy 67 (1970), S. 648–658, insbes. S. 658. 69 Stoutland, Frederick: Why are Philosophers of Action so Anti-Social? In: Alanen/ Heinämaa/Wallgren (Hrsg.) 1997, S. 45–74, insbes. S. 56. 70 Daß diese Unterscheidung aufgrund des own agency-Argumentes alles andere als unproblematisch ist, übersieht Boris Henning in seiner ansonsten sehr klarsichtigen 68
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deln, sondern imgleichen auch das Handeln anderer vor. Wenn ich intendiere, daß wir gemeinsam den Gipfel besteigen, dann habe ich nicht nur vor, selbst hochzusteigen; ich habe gewissermaßen auch dein Hochsteigen vor. Letzteres aber ist gemäß der own agency condition unmöglich, weil ich das Handeln anderer ja nicht ausführen kann. 71 Wer beabsichtigt »daß wir J« rechnet nicht bloß mit dem Handeln anderer. Das Handeln der Anderen ist nicht bloßes Datum für das eigene Handeln (wie es sich etwa in Max Webers Begriff des Gemeinschaftshandelns oder im klassischen rational choice-Ansatz darstellt), es scheint vielmehr, daß das Verhalten anderer tatsächlich intendiert ist. Stimmt das own agency-Argument, dann sind deshalb solche Intentionen unmöglich. Nach Bratman geht diese Aufnahme der Intentionen der anderen ins eigene Intendieren allerdings keineswegs so weit, daß das Handeln der anderen umstandslos zur Angelegenheit der eignen Absichten erklärt würde und die intentionale Autonomie des anderen damit ausgeschaltet würde. Was man sich vornimmt, sei nicht direkt das Handeln der anderen selbst. Man könne das »Eingelassensein« der Handlungen der anderen in die eigene Intention in einem schwächeren Sinn verstehen. Wer intendiert »daß wir J« zielt, so Bratman, nicht direkt auf das Verhalten, sondern bloß auf die Wirksamkeit der Intentionen der anderen ab. Die Intentionen der relevanten Anderen sind, so könnte man vielleicht sagen, dem Handelnden gewissermaßen ein eigenes Anliegen (»each aims at the efficacy of the intention of the other« 72 ), ohne deswegen aber direkt zur eigenen Intention zu werden. 73 Ist dies so richtig, dann sind die Analyse (Holistic Arguments for Individualism. In: Meggle, Georg [Hrsg.]: Social Facts and Collective Intentionality. Frankfurt a. M. 2002, S. 103–124). 71 Frederick Stoutland hat sein Argument in einer Rezension von Bratmans Faces of Intentions zur responsibility condition spezifiziert: »To intend to A is to commit oneself to do A so as thereby to commit oneself to take full responsibility for having done A (if and when one does). This condition can be met only if the agent who intends the action is the agent whose action fulfils it. I cannot take full responsibility for what you do – assuming you are an intentional agent – and hence for what we do. But if we are an agent, then we can take full responsibility for what we do and hence we can intend to do something together« (Stoutland, Frederick: Review of Bratman, Faces of Intention. In: Philosophy and Phenomenological Research 65 (2002), S. 238–241, hier S. 241). 72 Bratman 1999, S. 124. 73 Eine etwas grob gezogene Parallele zu dieser Debatte findet sich in der Kontroverse zwischen Seumas Miller und Raimo Tuomela. Ohne explizit auf die entsprechende Debatte bezug zu nehmen dreht Miller das own agency-Argument gegen den Begriff der
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Bratmanschen Intentionen durchaus mit der Geltung der own agency condition vereinbar. Auf einer etwas anderen Linie argumentieren Annette Baier und J. David Velleman gegen Bratmans Ansatz bei Intentionen der Form »I intend that we J«. Baier baut ihr früheres Argument in der Kontroverse mit Bratman zum »principle of the limited sovereignty of intentions« aus: »one cannot intend what one does not take oneself to control«. 74 Auf dieser Argumentationslinie ist die Bildung einer Intention der Form »ich intendiere daß wir J« zwar nicht direkt unmöglich, aber sie hat ganz bestimmte soziale Voraussetzungen: Wer Intentionen dieser Form habe, müsse implizit davon ausgehen, Kontrolle über das Verhalten der beteiligten Anderen zu haben. Wenn ich beabsichtige, daß wir das Haus streichen, gehe ich davon aus, daß ich darüber bestimmen kann, was wir tun. Intentionen der Form »ich intendiere, daß wir J« sind, mit anderen Worten, Intentionen eines Chefs. Inwiefern liegt darin nun ein Problem für Bratmans Ansatz? Erstens ist es ja so, daß Gemeinschaftshandlungen offensichtlich auch ohne hierarchische Über- bzw. Unterordnung der Beteiligten Kollektiven Intentionalität überhaupt (Miller, Seumas: Social Action. A Teleological Account. Cambridge UK 2001). Tuomela reagiert darauf, indem er sich auf die Position zurückzieht, we-intentions seien tatsächlich keine eigentlichen »action intentions« (von denen die own agency condition gelte), sondern bloß »aim intentions«. »A we-intention is not by itself a standard ›action intention‹ but an intention in a weaker sense (…). The agent intentionally aims at x and is ›aim-committed‹ to x, while his action commitment is to performing his part of x« (Tuomela, Raimo: We-Intentions Revisited. Unpubl. Manuskr., S. 6). Im weiteren Verlauf von Tuomelas Analyse vermittelt sich aber der Eindruck, mit »aim intention« sei nichts anderes als eine Intention gemeint, die das Intendieren von anderen zum Gegenstand hat (qua Intention, jemand anderen dazu zu bringen, eine bestimmte Absicht zu entwickeln). Bei Tuomela heißt dies: »an agent must intend that the others also intend to perform their parts« (Tuomela 2003, S. 31). Diese Deutung gemeinsamen Intendierens als »aim intention«, bei der das Gemeinsame letztlich auf den Gegenstand des Intendierens beschränkt ist, scheint sich allerdings schlecht damit zu vertragen, daß Tuomela im gleichen paper den Anspruch erhebt, einen »conceptually non-reductive« account gemeinsamen Intendierens zu geben (Tuomela 2003, S. 13). 74 Baier 1997, S. 25. Gegenüber der ursprünglichen own agency condition, der zufolge man nur intendieren kann, was man selbst tun zu können glaubt, stellt diese control condition, nach welcher man nur intendieren kann, was man selbst zu kontrollieren glaubt, eine wesentliche Weiterung dar. Weitere, in dieser Debatte kursierende Version von Baiers Argument sind die settle condition und die responsibility condition, nach welcher x zu intendieren bedeutet, sich die Verantwortung für x selbst zuzuschreiben bereit zu sein (vgl. Stoutland, Frederick: Review of Michael Bratman, Faces of Intention. In: Philosophy and Phenomenological Research 60 [2000], S. 61–68). A
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zustande kommen können (am Beispiel: Weder Anna noch Berta muß von sich – wie stillschweigend auch immer – annehmen, das Verhalten der anderen zu kontrollieren, wenn Anna und Berta gemeinsam unterwegs sind). Und zweitens impliziert, wie aus der obigen Strukturanalyse zu entnehmen, Bratmans Theorie der »shared intention« ein allseitiges Intendieren der Form »ich intendiere daß wir J«. Dies führt dazu, daß es in der »shared cooperative acitivity«, fände sie denn gemäß Bratmans intentionalanalytischer Vorgabe statt, schließlich »too many chiefs and too few braves« hätte, wie David Velleman bemerkt hat. Jeder der Beteiligten müßte, wenn Baiers Argument zutrifft, letztlich von sich annehmen, das Verhalten der anderen Beteiligten in der Art eines Machthabers kontrollieren zu können. 75 Dies aber macht Bratmans Ansatz unplausibel. Wenn Anna und Berta ihr Wandern schließlich als »gemeinsame kooperative Aktivität« betreiben, heißt dies keineswegs, daß die beiden von sich annehmen müssen, das Verhalten der je anderen zu bestimmen bzw. die Kontrolle über die je andere zu haben. Auch gegen dieses Argument – Bratman spricht von der »control condition« – lassen sich prima vista gute Gegenargumente vorbringen. Wenn ich etwa beabsichtige, daß wir tanzen, müsse ich mich, wie Bratman in seiner Entgegnung bemerkt, keineswegs für den Machthaber halten; es reiche die viel schwächere (implizite) Annahme, daß der andere dazu disponiert ist, sich durch meine Intention zur Formung einer komplementären Intention anregen zu lassen – bzw. daß im Anderen durch die eigene Intention eine analoge Intention »ausgelöst« werden kann. Von Baiers »control condition« bleibe, so Bratman, nur eine (viel schwächere) »influence condition«. 76 Und die »influence« reduziere sich letztlich auf eine zeit»There is nothing problematic about first-person-plural intentions in themselves. One person can decide or plan the behaviour of a group, for example, if he holds authority or control over the behaviour of people other than himself. If you will do whatever I tell you to do, then what you’ll do is up to me, and I am in a position to make decisions about it. As your boss or commanding officer or master, then, I am in a position to decide what you and I will do together, and so I am in a position to form intentions about what ›we‹ will do« (Velleman, J. David: How to Share an Intention. In: Philosophy and Phenomenological Research 57 (1997), S. 29–51, hier S. 34).Was aus dieser Sicht als ausgeschlossen erscheint, ist, daß alle Kooperationspartner aufgrund von Intentionen der Form »I intend that we J« handeln. Velleman bemerkt in einer Fußnote im zitierten Aufsatz freilich, daß er Bratmans Erwiderung auf diese Kritik für überzeugend halte (ebd. S. 33). 76 Bratman 1999, S. 116. 75
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liche Asymmetrie: Die individuelle Intention »that we J« beschreibt demgemäß auf der einen Seite eine Art »intentionale Initiative«, welche in einem Milieu der Kooperationsbereitschaft gleichsam die Initialzündung zu shared cooperative activity gibt, und auf der anderen Seite eine gleichsam »schlafende« Intention, die durch eine entsprechende Intention der »initiativen« Interaktionspartnerin geweckt werden kann. Dieses Argument mag zwar für sich genommen einleuchten: Aber unklar bleibt, weswegen denn jene, die sich von der Intention der Form »I intend that we J« zur Bildung einer Beitragsabsicht haben anregen lassen, nun ebenfalls eine Intention der Form »I intend that we J« bilden sollten; es reicht ja zum Zustandekommen der entsprechenden Aktivität prima vista völlig aus, wenn sie die Absicht bilden, ihr Teil zu tun. Wenn die intentional initiative Anna die Intention bildet »ich beabsichtige, daß wir gemeinsam wandern«, muß sich Berta nicht eigens zur Bildung derselben Intention aufraffen; es reicht völlig, wenn sie die Absicht bildet, ihr Teil zum gemeinsamen Tun (als ihr Teil) beizutragen (dazu gleich mehr). Und zweitens: ob es bei den Bratmanschen Intentionen nun um »Kontrolle« der anderen durch die oder den Intendierenden oder bloß um »Einfluß« geht: Tatsache bleibt, daß die Bildung von Intentionen der Form »ich intendiere daß wir J« sozial voraussetzungsreich ist. Die sozialen Voraussetzungen mögen sich nicht auf Herrschaftsbeziehungen beschränken. Diesbezüglich behält Bratman in seiner Entgegnung auf Baier und Velleman wohl recht. Aber auch wenn es nicht um Herrschaft, sondern »bloß« um Einfluß geht, sind Intentionen der Form »ich intendiere daß wir J« sozial voraussetzungsreich. Die Frage ist: Unter welchen Umständen gehen Handelnde davon aus, durch Intentionen, die gemeinsames Tun im intentionalen Gehalt haben, die anderen Beteiligten zum Mittun bewegen zu können? Die Aufmerksamkeit auf die sozialen Voraussetzungen von Intentionen wie der Intention »Ich intendiere, daß wir (gemeinsam) wandern« führt zurück zur oben angedeuteten Kritik: Solche Intentionen sind entweder unplausibel oder redundant. Diese Kritik ist jetzt präziser formulierbar. Wenn Anna und Berta nicht vorhaben, gemeinsam zu wandern, wird Anna ihrem eigenen Intendieren nicht genug Einfluß auf Berta zuschreiben, um die Bratmansche Intention zu bilden. Unter Standardbedingungen wird sie das Tun der ihr gemäß der Versuchsanordnung völlig unbekannten Berta nicht auf die Bratmansche Art und Weise in das eigene Intendieren aufnehmen. Anna hat unter diesen Umständen überhaupt keine Veranlassung, A
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ihren eigenen Intentionen in dieser Sache irgendeinen Einfluß auf Berta zuzuschreiben. Wenn aber umgekehrt Anna und Berta sowieso schon vorhaben, gemeinsam zu wandern, hat sie erst recht keinen Grund zur Bildung einer solchen Absicht: Dann sind Intentionen des Bratmanschen Typus, wie oben gesehen, nämlich schlicht redundant. Trotzdem gibt es m. E. zwischen Unplausibilität und Redundanz durchaus einen realen Ort für solche Intentionen. Nehmen wir an, Anna und Berta sind schon länger gemeinsam unterwegs; die Anwendungsbedingungen von »wir« sind also längst erfüllt. Das gemeinsame Wandern verläuft sehr unproblematisch; wenn eine der beiden eine Initiative ergreift (z. B. etwas schneller geht oder den Schritt etwas verlangsamt), schließt sich die andere in der Regel einfach an. Nun sind Anna und Berta schon über eine längere Strecke hinweg in einen etwas gar gemächlicheren Trott verfallen. In dieser Situation scheint es mir weder unplausibel noch redundant, wenn Anna die Intention »ich habe vor, daß wir etwas schneller gehen« faßt und daraufhin etwas schneller ausschreitet. Aber diese Intention ist ein komplexes und voraussetzungsreiches Ereignis innerhalb einer Gemeinschaftshandlung. Sie ist keineswegs der intentionale »Grundstoff«, aus dem Gemeinschaftshandeln gemacht ist. Denn diese Intention setzt so etwas wie eine »shared cooperative activity« schon voraus, welche es bloß spezifiziert; nur insofern wir gemeinsam wandern, kann ich vorhaben, daß wir dies – das gemeinsame Wandern – etwas schneller tun. Bratmansche Intentionen sind nicht die building blocks von shared cooperative activity, sondern setzen diese voraus. 77 An einem anderen Beispiel illustriert: wenn du und ich uns heute zum Mittagessen verabredet haben – wenn wir also vorhaben, unser Mittagessen zusammen einzunehmen – dann scheint es durchaus nicht notwendig zu sein, ja es schiene reichlich redundant, wenn ich nun eine Intention der Form »ich intendiere, daß wir heute zusammen mittagessen gehen« formen würde. Hingegen kann es sein, daß ich – wenn ich annehme, daß du dich in dieser Sache von mir beeinflussen läßt – eine andere, eine zusätzliche Intention der Form »ich intendiere, daß wir J« bilde. Zum Beispiel kann ich auf der Grundlage der gemeinsamen Intention, zusammen mittagessen zu gehen, unter den genannten Umständen vielleicht die Absicht bilden, daß wir unser Mittagessen im neueröffneten Restaurant um die Ecke (statt am üblichen Ort) einnehmen. Wichtig ist: diese zweite Intention – die Intention der Form »ich intendiere, daß wir J« – kann ich nur auf der Grundlage einer Intention der Form »wir intendieren x« bilden. Hätten wir nicht schon eine gemeinsame Intention »sans phrase«, könnte ich nicht eine individuelle Zusatzintention bilden, die das Gemeinsame in der von Bratman angegebenen Weise zum Inhalt hat. Ich kann nicht vorhaben, mit jemandem, den ich gar nicht kenne und
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Insofern ist Bratmans Analyse dieselbe Diagnose zu stellen wie oben der reduktionistischen Fehlinterpretation der Analyse Raimo Tuomelas. Diese Analysen sind zirkulär. Die individuellen Beitragsintentionen zu gemeinsamem Handeln setzen eine gemeinsame Intention schon voraus. Auch praktische Intentionalität impliziert mithin jenen »intentionalen Purzelbaum«, welchen Gerda Walther, wie oben gesehen, der kognitiven Intentionalität diagnostiziert. So wie das, was die an gemeinsamem Erleben Beteiligten individuell erleben, vom gemeinsamem Erleben abhängig ist, so setzt auch die praktische individuelle Beitragsintentionalität eine gemeinsame Absicht voraus. Dies legt es nahe, das Gemeinschaftshandeln über eine irreduzible gemeinsame Absicht zu bestimmen statt über die individuellen Beitragsabsichten der einzelnen Beteiligten (welche dann sekundär noch über common knowledge verbunden werden müssen). Dies umso mehr, als gar nicht a priori gewiß ist, inwiefern individuelle Beitragsabsichten überhaupt konstitutiv für gemeinsame Absichten sind – ein Problem, welches nähere Aufmerksamkeit verdient.
§ 6 Normativität, Dissidenz und das irreduzibel Gemeinsame Offensichtlich ist, daß individuelle Beitragsabsichten zu einem Gemeinschaftshandeln faktisch ganz verschiedene Formen annehmen können. Das individuelle Beitragsverhalten kann je nach Teilnehmerin oder Teilnehmer intentional eher initiativ oder eher passiv strukturiert sein. In einer Orchesterprobe mag der Dirigent eine Bratmansche Intention haben, also etwa die Intention »Ich habe vor, daß wir heute zur Abwechslung Beethovens Fünfte üben« (wobei er voraussetzt, daß die Mitglieder des Orchesters schon die gemeinsame Intention haben – oder doch im entscheidenden Moment haben werden –, eine Orchesterprobe abzuhalten); der Mann an der Triangel wird – seiner sozialen Rolle und den Einflußerwartungen gemäß, die diese mit sich bringt – wohl kaum eine solche Intention bilden. Das kollektive Ziel muß nicht seitens aller Beiträger unmittelbar und explizit in die Beitragsintention eingehen, um als kollektives Ziel zu gelten. Auch diese Struktur wird dabei dort besonders deutlich sichtbar, wo mit dem mich keinerlei gemeinsame Intentionen verbinden, heute zu Mittag zu essen – sondern allenfalls, die betreffende Person dazu zu veranlassen, heute mit mir zu Mittag zu essen. A
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sie verletzt wird – etwa in Fällen des »intentionalen Überengagements« von Mitarbeitern, welches Gegenstand vieler Anekdoten und auch mancher Witze bildet. 78 Nicht auszuschließen ist deshalb, daß in ein gegebenes Gemeinschaftshandeln so viele Typen von Beitragsintentionen eingehen, wie Individuen daran beteiligt sind. Besonders deutlich sind die hier bestehenden Unterschiede in der Weise des »intentionalen Engagements« der Beteiligten in bezug auf Intentionen des Bratmanschen Typs. Wer Intentionen der Form »ich habe vor, daß wir x tun« bildet, übernimmt ja, wie gesehen, in einem gewissen Sinn die intentionale Initiative und geht stillschweigend davon aus, daß unter dem Einfluß der eigenen Absicht das entsprechende Gemeinschaftshandeln auch tatsächlich zustande kommen wird. Aber nicht alle Teilnehmenden müssen oder können sich intentional derart initiativ verhalten, sonst gibt es in einer gegebenen Gruppe, um Velleman noch einmal zu zitieren, »too many chiefs and too few braves, too many cooks and too little broth«. 79 Intentionen des Bratmanschen Typs sind mit bestimmten Rollen im Gemeinschaftshandeln verbunden und auf die Inhaberinnen dieser Rollen beschränkt. Der Mann am Triangel wird wohl keine Bratmansche Intention, sondern beispielsweise eher eine partizipatorische Intention im Stil Tuomelas haben: Er beabsichtigt schlicht, im richtigen Moment den Triangel zu schlagen als seinen Beitrag zum gemeinsamen Orchesterspiel. Genau besehen braucht er aber nicht einmal eine solche, gegenüber der Bratmanschen Version abgespeckte Intention zu bilden: Es reicht nämlich völlig aus, wenn er sich vornimmt, im gegebenen Moment, den Triangel zu schlagen. Auch dann kann man sein Verhalten durchaus als Beitragshandeln zu einem Gemeinschaftshandeln betrachten, solange die Bedingung erfüllt ist, daß es kontrafaktisch sensitiv ist, d. h. solange die betreffende Person die individuelle Absicht, in einem bestimmten Moment den Triangel zu schlagen, nicht bilden würde, wenn das Orchester nicht Beethovens Fünfte üben würde. 80 Auch das wäre noch eine »wir-derivative« Intention. Ein Beispiel: John F. Kennedy soll anläßlich eines Besuchs in Cape Canaveral einen einfachen Arbeiter, den er beim Fegen eines Hallenbodens antraf, nach seiner Aufgabe gefragt haben. »Einen Menschen zum Mond bringen!« habe dieser stolz und selbstbewußt darauf geantwortet. 79 Velleman, J. David: How to Share an Intention. In: Philosophy and Phenomenological Research 57 (1997), S. 29–51, hier S. 34. 80 Kutz, Christopher: Acting together. In: Philosophy and Phenomenological Research 61 (2000b), S. 1–31, insbes. S. 11 f. 78
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Ja man kann, wie ich im folgenden vorschlagen möchte, sogar noch einen Schritt weitergehen. Ist es überhaupt immer notwendig, einen individuellen Beitrag zu intendieren, wenn man gemeinsam handelt? Kann etwa jemand, der sich nicht selbst in eine Diskussion einbringt, nicht gleichwohl sagen, daß wir diskutieren? Läßt, mit anderen Worten, Gemeinschaftshandeln nicht zumindest im Fall von größeren Gruppen auch so etwas wie dissidentes Teilnehmen zu? Diese Frage geht gegen den Strich der gegenwärtigen Debatte. Wenn man sich die Beispiele anschaut, anhand derer in der einschlägigen analytischen Literatur die Struktur des Gemeinschaftshandelns diskutiert wird, ist von derlei Phänomenen wenig zu sehen. Vielmehr fühlt man sich in ein Idyll glatter und reibungsloser Kooperation versetzt. John Searle lädt so seine Leserinnen und Leser zu häuslichen Szenen friedvollen gemeinsamen Musizierens und Kochens ein. 81 Draußen auf der Straße läßt derweilen Raimo Tuomela die Mitglieder Chors ihren liegengebliebenen Kleinbus anschieben. 82 Im Park sind einige von Robert Sugdens Team thinkers in ein Fußballspiel vertieft, 83 während Margaret Gilberts notorische Spaziergänger gemeinsam unter den Bäumen entlanggehen. 84 Michael Bratmann nimmt uns seinerseits mit hinaus zu den Wochenendhäuschen im Grünen, wo wir Abe und Barbara treffen, welche dabei sind, mit vereinigten Kräften eine Wasserpumpe zu aktivieren. 85 Mit all diesen willigen und fähigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, mit all der glatten und reibungslosen Kooperation ist dieses Idyll sicher eine schöne Welt; gleichzeitig mag sie uns manchmal allerdings auch ein wenig irreal vorkommen. Sogar wenn wir die Konzentration dieser Autoren auf das Phänomen der Kooperation in Kleingruppen akzeptieren, scheint nämlich etwas ganz Wesentliches zu fehlen. Wo sind all die fahr- und nachlässigen, ungeschickten, unkonzentrierten, vergeßlichen und willensschwachen Individuen geblieben, die so bezeichnend sind für Kooperation in der wirklichen Welt? Wo bleiben jene, die aus irgendeinem Grund ihren Teil beizutragen versäumen? Und wo bleiben jene un- und widerwilligen Figuren, jene aufsässigen und widerborstigen Gesellen, die nicht bloß scheitern in ihren BeiVgl. insbes. die Beispiele in Searle 1990. Vgl. Tuomela 1995, S. 137 f. 83 Vgl. Sugden, Robert: Team Preferences. In: Economics and Philosophy 16 (2000), S. 175–204. 84 Vgl. Gilbert 1996. 85 Vgl. Bratman 1999, S. 150 f. 81 82
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tragsbemühungen, sondern von vornherein gar nicht beizutragen beabsichtigen? Der Hang der genannten Autoren zur glatten Kooperation ist nicht bloß eine Sache der Wahl der Beispiele. Er ist vielmehr symptomatisch für die kategoriale Grundstruktur der gegenwärtigen Analysen gemeinsamen Intendierens und Tuns. Dieser Grundstruktur gemäß sind es nämlich die individuellen Beitragsintentionen und das individuelle Beitragstun, welche das gemeinsame Intendieren und Tun ausmachen. Das mag als Ansatzpunkt völlig natürlich erscheinen, denn was wäre schon ein gemeinsames Vorhaben – geschweige denn ein gemeinsames Tun! – ohne beitragswillige und -fähige Individuen? So stehen denn bei Tuomela die individuellen Beitragsintentionen ebenso im Zentrum wie bei Bratman, und auch Searle rekurriert in seiner Analyse, wie noch zu sehen sein wird (vgl. unten § 7 f.), auf individuelle Beitragsintentionen. Über die beträchtlichen Unterschiede zwischen diesen Konzeptionen hinweg spannt sich so ein gemeinsamer Ansatz: Was auch immer die intentionale Struktur gemeinsamen Handelns ist, jedenfalls wird es als etwas gesehen, was auf der Beitragsintentionalität fähiger und williger Beitragender beruht. Man mag deshalb hinsichtlich all dieser Ansätze von der Teilnahmetheorie gemeinsamer Intentionalität sprechen. Mag die Teilnahmetheorie gemeinsamer Intentionalität auch »natürlich« erscheinen: Selbstverständlich ist sie nicht. Sie entspricht auch nicht in jeder Hinsicht dem Alltagssprachgebrauch. Annette Baier, die vehement für einen dissidenten Gebrauch von »wir« eintritt, diskutiert dies Beispiel einer Person, die vor dem Tanzlokal auf den Treppenstufen sitzt und auf die Frage, was denn drinnen vorgeht, antwortet: »wir tanzen, aber ich mache da nicht mit«. 86 Nichts hindert dieses Individuum, bei aller Dissidenz von »unserem« Tun zu sprechen und sich damit implizit auf sich selbst als Mitglied der Gruppe, von deren Tun es sich gleichzeitig distanziert, zu beziehen. Diese These ist aber denkbar kontrovers. Diametral entgegen stehen dieser Verhältnisregelung Interpretationen des Gemeinschaftshandelns, wie sie etwa in Hector Levesques und Philip Cohens Definition gemeinsamer Ziele zum Ausdruck kommen. Levesque und Cohen erVgl. Baier, Annette C.: The Commons of the Mind. Chicago 1997b, S. 26; vgl. auch dies.: Doing Things With Others: The Mental Commons, in: Alanen. Lilli/Heinämaa, Sara/Wallgren, Thomas (Hrsg.): Commonality and Particularity in Ethics. London 1997, S. 15–44, S. 37.
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klären kategorisch: »If a team has a goal p, then each member has p as an individual goal«. 87 Differenzierter argumentiert Raimo Tuomela. Er läßt zwar die Existenz von so etwas wie »non-operative members« von Gruppen zu, also Individuen, die selbst nicht mitmachen, aber sich nach Tuomelas Theorie dennoch als Mitglieder der Gruppe betrachten dürfen. Wer selbst im Rollstuhl sitzt und deshalb keinen aktiven Beitrag zum gemeinsamen Tun liefern kann, könne durchaus an der gemeinsamen Intention, einen liegengebliebenen Bus anzuschieben, teilhaben, und somit sich als Gruppenmitglied verstehen, obwohl er sich an der Aktivität selbst nicht beteiligen kann und demnach auch nicht beabsichtigen kann, seinen Beitrag zu leisten. Allerdings müsse er dann, so Tuomela, der gemeinsamen Aktivität gegenüber eine manifeste »pro-attitude« einnehmen und dies ggf. auch zu manifestieren bereit sein, also sich etwa freuen, wenn die Sache klappt, sich ärgern, wenn es schief geht, oder die aktiven Gruppenmitglieder etwa auch durch Zurufe anfeuern. 88 Auch Tuomela meint: »For A to intend that his group perform x he has to intend to do his share of x or to contribute to the group’s performing x in some way.« 89 Tuomelas Beispiel ist dabei bezeichnend; bei allem Gewicht, welches er auf den Spielraum für Dissidenz legt, ist dieser Spielraum aufgrund der teilnahmetheoretischen Prämissen in seinem Ansatz doch so begrenzt, daß er keinen Raum für Dissidenz im prägnanten Sinn läßt. Das gehbehinderte Gruppenmitglied beabsichtigt ja nicht, nicht mitzumachen beim Anschieben des Busses; es bleibt diesem Mitglied einfach nichts anderes übrig, als beim gemeinsamen Tun außen vor zu bleiben. Dissidenten im starken Sinne des Wortes sind aber solche, die explizit beabsichtigen, ihren Beitrag nicht zu leisten, die sich dem Mittun in einem gewissen Sinn verweigern – wie etwa Baiers Tanzgruppenmitglied auf den Treppenstufen. Solche Individuen schließt Tuomela explizit von der Gruppenmitgliedschaft (hinsichtlich einer gegebenen Gemeinschaftshandlung) aus. Wenn ein solcher Dissident »wir« sage, könne er sich, so Tuomela, legitimerweise nur auf die Gruppe der Dissidenten beziehen, wenn es denn eine solche gibt. 90 Aber bezüglich dieser Gruppe ist der Dissident ja Levesque, Hector J./Cohen, Philip R.: Teamwork. In: Nous 25 (1991), S. 487–512, hier S. 499. 88 Tuomela 1991, S. 272 ff.; vgl. auch Tuomela 1995, S. 138. 89 Tuomela 1991, S. 271. 90 Tuomela 1991, S. 272. 87
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gar kein Dissident, sodaß es nach Tuomela das Phänomen eines dissidenten Gebrauchs von »wir« im prägnanten Sinn des Wortes letztlich schlicht nicht geben kann – oder genauer: Dissidentinnen und Dissidenten liegen ihm zufolge schlicht falsch, wenn sie »wir« sagen und sich damit auf eine Gruppe beziehen, welcher sie sich selbst als Dissidentinnen bzw. Dissidenten zurechnen. 91 Die Frage ist deshalb letztlich jene nach dem dissidenten Gebrauch von »wir«. Mir scheint, daß Baier gegen Tuomela und das aus Tuomelas Ansatz sprechende Verständnis letztlich recht behält. Im folgenden möchte ich die folgenden Thesen vertreten: Es gibt diesen dissidenten Gebrauch von »wir«, und es gibt ihn nicht bloß faktisch. Es gibt außerdem keinen Grund, ihn als »falsch« zu disqualifizieren (in einem gewissen Sinn ist er nicht einmal eigentlich »parasitär«). Auch hier scheint mir der Grundsatz zu gelten, daß sich die Ontologie nach dem Phänomen zu richten hat und nicht umgekehrt. Es zeigt sich dabei an diesem Phänomen ein grundwesentliches Charakteristikum des Gemeinschaftshandelns bzw. der Verzerrtheit unseres Verständnisses des Miteinanderseins, wie es aus der Teilnahmetheorie gemeinsamen Intendierens spricht. Diese Verzerrtheit stammt letztlich aus dem in der individualistischen Ontologie angelegten grundbegrifflichen Zwang, gemeinsames Intendieren auf individuelles Intendieren zurückzuführen. Diese teilnahmetheoretische Prämisse schlägt uns mit Blindheit dafür, in welchem Maß gemeinsames Intendieren mit Dissidenz verträglich ist. Der Zwang, das Gemeinsame begrifflich aus dem Individuellen aufzubauen, läßt uns übersehen, in welchem Maß Gemeinschaftshandlungen nicht Betont werden muß an dieser Stelle, daß sich diese Diagnose bezüglich Tuomelas Position nur auf ein bestimmtes Verständnis der Theorie der Dissidenz als »non-operative membership« bezieht, wie es sich mir aufgrund der Analyse in Tuomela 1995 nahezulegen scheint. Tuomela hat seine Position inzwischen mehrfach klargestellt und dabei dem Phänomen dissidenter Teilnahme eine sehr viel prominentere Rolle zugeschrieben, als es die obige Darstellung seiner Position vermuten ließe. Vgl. dazu Tuomela, Raimo/ Tuomela, Maj: Acting as a Group member. In: Protosoziologie 18 (2003), S. 7–65.; dies.: Causal and Normative Group Responsibility (unpubliziertes Manuskript). Richard Raatzsch danke ich für den Hinweis, daß sich das hier angesprochene strukturanalytische Problem nicht nur am Beispiel der Dissidenten stellt, sondern in ähnlicher Weise auch die allmähliche Aufnahme in die Gruppe betrifft. Auch hier gibt es u. U. Zugehörigkeit ohne (volles) Mittun – oder auch das Gegenteil, Mittun ohne (volle) Zugehörigkeit. Ich beschränke hier die Diskussion auf das Phänomen der Dissidenz als eindeutigstem Fall des Auseinanderklaffens von Zugehörigkeit und intentionaler Teilnahme.
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nur individuelle »Ausfälle«, sondern sogar individuell intendierte »Querschläge« zu überstehen vermögen. Annette Baier scheint der Meinung zu sein, daß ein direkter Zusammenhang zwischen der Kleingruppenfixierung der gegenwärtigen Debatte und ihrer teilnahmetheoretischen Verkürzung besteht. Ihrer Ansicht nach sind Fälle des »nichtpartizipatorischen« oder »dissidenten« Gebrauchs von »wir« nur möglich, wo die gemeinsame intentionale Aktivität beim Ausfall eines beteiligten Individuums nicht gleich zusammenbricht, was im Fall der Kooperation in größeren Gruppen (wie der von Baier als Beispiel gewählten) gegeben sei. 92 Aber es scheint, daß etwas Ähnliches durchaus auch im Falle von Kleingruppenaktivitäten, ja sogar von rein dyadischem Tun möglich ist. Für den Fall »schwacher« Dissidenz mag dies das folgende Beispiel illustrieren. Nehmen wir an, Anna und Berta zweigen von ihrem Wanderweg ab, um einem schmalen Pfad zu folgen, der über eine langgestreckte, sanft abfallende Alpweide hinunter zu einem Bergsee führt, an dessen Ufer sie rasten wollen, bevor sie den Rest des Aufstiegs in Angriff nehmen. Vom steilen Aufstieg entlastet entspinnt sich zwischen den beiden ein intensives Gespräch. Berta ist bald so vertieft in die Diskussion, daß sie alles um sich herum vergißt, während sie hinter Anna einhergeht. Plötzlich aber kommt sie zu sich und fragt, wie aus einem Traum erwacht: »Was tun wir hier eigentlich? Wohin gehen wir?« Sie hat ihr gemeinsames Vorhaben, zum See hinunterzugehen, schlichtweg vergessen. Es würde nun keineswegs künstlich scheinen, wenn Anna darauf antworten würde: »Wir machen einen kurzen Abstecher zum Bergsee, um dort eine Rast einzulegen!«, ja diese Aussage würde natürlicher scheinen als etwas im Sinne von: »Also ich mache einen Abstecher zum Bergsee um dort zu rasten, während Sie offenbar einfach bloß hinter mir hertrotten!« Es macht, wie sich in diesem Sprachgebrauch abzeichnet, guten Sinn, in diesem Fall ein genuines gemeinsames Tun zu sehen, obwohl doch ganz offensichtlich ist, daß Berta ihr Verhalten nicht als Beitragshandeln zum gemeinsamen Hingehen zum Bergsee intendiert. Trotz des Ausfalls der Beitragsintentionalität von Berta scheint Annas Gebrauch von »wir« hier gerechtfertigt zu sein. Wie ist dies möglich? Man mag versucht sein, solche Fälle an die Standardtheorie – die Teilnahmetheorie gemeinsamen Intendierens – anzupassen. Zum Beispiel könnte man versucht sein, Annas Gebrauch von »wir« 92
Vgl. Baier 1997, S. 26. A
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im Sinne von Gilbert als »initiatorisch« statt als »konstativ« zu bezeichnen; erst Annas »Wir«-Sagen wäre es demgemäß, welche das z. T. bloß halbbewußt ablaufende Verhalten der beiden Wanderinnen performativ wieder in ein genuines Gemeinschaftshandeln verwandeln würde. Aber das scheint unplausibel; denn eine externe Beobachterin der Szene wäre, wie es scheint, auch schon vor Annas Aussage legitimiert, das beobachtete Verhalten als einen Fall gemeinsamen Hingehens zum See zu bezeichnen, obwohl in dieser Situation Berta ihr Verhalten nicht als Beitrag zu diesem Gemeinschaftshandeln intendierte – sie wußte ja gar nichts mehr vom gemeinsamen Vorhaben. Ein anderes Argument für die Vereinbarkeit dieses Falles mit der Teilnahmetheorie des Gemeinschaftshandelns könnte lauten, daß Bertas Beitragsintentionalität gar nicht ausfiel. Berta intendierte über die ganze Zeit hinweg, mit Anna zum Bergsee zu gehen – bloß hatte sie diese Intention zeitweise vergessen. Ihre Beitragsintention war da – aber sozusagen unbewußt. Diese Behauptung ist nicht so seltsam, wie sie auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß nicht alle unseren Intentionen bewußt sind, ja in einem gewissen Sinn sind uns die wenigsten unserer Intentionen aktuell bewußt. 93 Insofern scheint es, daß aus der Tatsache, daß Berta nicht weiß, was sie gemeinsam mit Anna tut, nicht folgt, daß sie nicht beabsichtigte, ihren Teil zum gemeinsamen Tun beizutragen. Bei näherem Nachdenken mag es allerdings scheinen, daß dieses Argument die Möglichkeit der Unbewußtheit intentionaler Zustände überbeansprucht. Es gilt hier einen Unterschied im Auge zu behalten. Im einen Fall ist sich Berta ihrer Intention, gemeinsam mit Anna zum See zu gehen, momentan nicht bewußt, weil sie voll und ganz auf das Gespräch konzentriert ist. Im vorliegenden Fall liegen die Dinge aber anders: Berta hat ihre Absicht, mit Anna zum See zu gehen, vergessen, und ist trotz entsprechender Bemühungen nicht fähig, sie wieder in Erinnerung zu rufen. Im ersten Fall mag die Annahme der »Unbewußtheit« der entsprechenden Intention kein Problem bereiten. Eine Anwendung auf den zweiten Fall hingegen überdehnt diese Annahme. Man muß sich zwar natürlich nicht immer aller seiner Intentionen inne sein. Aber es scheint sinnvoll, davon auszugehen, daß Akteure ihre Intentionen unter entsprechen93 Vgl. dazu etwa Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind. Cambridge 1983, Kap. 1.
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der Bemühung prinzipiell ins Bewußtsein rufen können müssen. In diesem Sinn hat Berta in dem Moment schlicht aufgehört, ihr Verhalten als Beitrag zum betreffenden Gemeinschaftshandeln zu intendieren, in dem sie die gemeinsame Absicht vergaß. Trotzdem liegt, wie sich an Annas Sprachgebrauch zu zeigen scheint, zumindest im vortheoretischen Sinn ein genuiner Fall von Gemeinschaftshandeln vor. Nur daß dieser offenbar nicht den Annahmen der Teilnahmetheorie des Gemeinschaftshandelns entspricht. Ähnliche oder gar noch banalere und alltäglichere Fälle lassen sich auch in bezug auf nicht-praktische Intentionen denken. Wenn der Präsident einer Vereinigung anläßlich einer Mitgliederversammlung die Aussage »wir trauern um unser verschiedenes Ehrenmitglied x« macht, dann ist die Wahrheit dieser Aussage offensichtlich unabhängig davon, ob die anwesenden Mitglieder tatsächlich gerade so etwas wie Trauer fühlen (oder nicht doch eher z. B. so etwas wie Ärger über die schwache rhetorische Leistung ihres Präsidenten). »Unsere« Trauer ist ein intentionaler Zustand, der nicht nach Maßgabe der Teilnahmetheorie gemeinsamen Intendierens auf den intentionalen Zuständen der Beteiligten beruht. Das alles heißt natürlich nicht, daß es für das gemeinsame Intendieren nun gar keine Rolle spielen würde, was Individuen intendieren. Es mag zwar Extremfälle geben, in denen wir etwas gemeinsam wertschätzen, vorhaben oder glauben, ohne daß es auch nur ein einziges Mitglied der Wir-Gruppe wertschätzt, vorhat oder glaubt. 94 Klar ist aber, daß solche Extremfälle wie auch die oben erwähnten Fälle in einem gewissen Sinn Anomalien oder z. T. vielleicht gar pathologische Fälle darstellen, welche insofern parasitär sind, als sie in dieser Eigenschaft gerade auf die andere Geartetheit des Normalzustandes verweisen. Aber hier, wie so oft, ist es gerade die Anomalie, in deren Licht der Normalzustand seine tiefere Struktur enthüllt. Die für die Strukturanalyse gemeinsamen Intendierens entscheidende Beobachtung ist: Die genannten Fälle sind konzeptionell zwar möglich (was den Annahmen der Teilnahmetheorie des gemeinsamen Intendierens widerspricht); aber in ihnen liegen die Dinge Als Beispiel mag man sich hier eine Gruppe alter Gesinnungsfreunde vorstellen, die sich seit Jahrzehnten regelmäßig trifft, wobei im Verlaufe der Zeit ein Mitglied nach dem anderen privat (und ohne dies den anderen zu kommunizieren) von der ursprünglichen gemeinsamen Gesinnung abgewichen ist, sodaß am Ende kein einziger Gesinnungsträger übrig bleibt. Ein anders geartetes Beispiel desselben Phänomens diskutiert Robert Sugden (Sugden 2000).
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nicht, wie sie liegen sollten. Nicht im Bereich der Faktizität, sondern im Bereich der Normativität liegt mithin die Defizienz der genannten Fälle gegenüber dem Standardfall gemeinsamen Intendierens. Was sich an diesen Fällen mithin zeigt, ist ein normatives Bezogensein von individuellem und gemeinsamem Intendieren. Es geht nämlich ein normativer Bezug von den gemeinsamen Intentionen zu den individuellen Intentionen (a) und umgekehrt von den individuellen Intentionen zu den gemeinsamen Intentionen (b). Ja in gewisser Weise scheint in diesem Bezug der Ursprung sozialer Normativität überhaupt zu liegen (nähere Analysen zur Art und Genese dieser Normativität finden sich unten in § 7 und § 15). a) Jay Rosenberg hat zu Recht darauf hingewiesen, daß wir unser Selbstverständnis als Träger individueller Intentionen stets im Horizont eines »Wir«, im Horizont gemeinsamen Erlebens und Absehens gewinnen und somit in diesen gemeinsamen Intentionen stets einen, ja den entscheidenden kritischen Maßstab haben, den wir an unsere individuellen Intentionen anlegen. 95 Klar ist: Daß ich beispielsweise ein Mitglied der Partei x bin, macht es in einem gewissen Sinn (normativ) erwartbar, daß ich die entsprechenden Meinungen und Absichten auch persönlich teile. Gemeint ist damit, um es noch einmal zu sagen, nicht, daß es den abweichenden Fall nicht gibt; die Geschichte mancher Parteien ist voll von solchen Fällen. Gemeint ist bloß, daß der abweichende Fall begründungsbedürftig ist, und zwar in einer Weise, die im Falle der Konformität kein Analogon kennt. Wenn x unsere Meinung ist, ist dies für mich als Gruppenmitglied trotz guter möglicher Gegengründe sicherlich ein »Grund«, die entsprechende Überzeugung individuell mitzutragen. Das heißt freilich nicht, daß das Vorliegen einer »Gruppenmeinung« es (moralisch) in jedem Fall rechtfertigt, Meinungen zu vertreten, von denen man weiß, daß sie falsch sind. Mit »Grund« ist nur gemeint: Alles andere ist erklärungsbedürftig, während die Antwort »es ist unsere gemeinsame Überzeugung« je nach Kontext durchaus eine Antwort auf die Frage sein kann, warum Individuum A die Überzeugung x hat. Dieser normative Bezug, der das individuelle Intendieren normativ an das gemeinsame Intendieren rückbindet, widerspricht keineswegs der Möglichkeit persönlichen Abweichens oder persönlicher Dissidenz. Ganz im Gegenteil: Dieses normative Bezogensein schafft diese Rosenberg, Jay: One World and Our Knowledge of It: The Problematic of Realism in Post-Kantian Perspective. Dordrecht 1980, S. 159.
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Möglichkeit erst. Diese Möglichkeit ist gerade konstitutiv für das Rückgebundensein persönlicher Intentionen an gemeinsame Intentionen in seiner spezifischen Eigenart als normatives Rückgebundensein. b) Wer denkt, daß dieser normative Bezug stets und notwendigerweise nur in eine Richtung geht, erliegt einem konventionalistischen Mißverständnis. Umgekehrt entspricht es nämlich einem »demokratischen« Grundzug unseres Verständnisses von unserem gemeinsamen Dasein, daß sich auch unsere gemeinsamen Absichten und Meinungen nach dem zu richten haben, was wir als Individuen denken und vorhaben. Der normative Bezug zwischen individuellem und gemeinsamem Intendieren geht auch in die Gegenrichtung. Das Vorliegen gemeinsamer Intentionen bildet ebensosehr den kritischen Maßstab, den wir an unser individuelles Intendieren anlegen, wie umgekehrt die Tatsache breiter Dissidenz für uns einen normativen Grund dafür bieten kann, unser gemeinsames Intendieren kritisch zu revidieren. Die normative Erwartbarkeit einer Harmonie von Gruppenintention und Intentionalität der Beteiligten kann das top downVerhältnis ebenso betreffen wie die bottom up-Beziehung. Oder genauer: Das Faktum dieser normativen Erwartbarkeit selbst sagt noch nichts darüber aus, ob die Bedingung der Konvergenz nun eher »konventionalistisch« über eine Anpassung der Teilnehmendenintentionen an die gemeinsame Intention oder eher »demokratisch« über eine Anpassung der gemeinsamen Intention an die Ansichten und Vorhaben der Teilnehmenden erbracht wird. Wie auch immer es sich damit verhält: Das Bezogensein von individuellem und gemeinsamem Intendieren wird jedenfalls in seiner Eigenart nur sichtbar, wenn man von der reduktionistischen These eines faktischen Konstituiertseins gemeinsamer Intentionen durch individuelle Intentionen Abstand nimmt. Daß individuelles und gemeinsames Intendieren normativ aufeinander bezogen sind, wird erst sichtbar, wenn man nicht wie in der Teilnahmetheorie gemeinsamen Intendierens von vornherein den Blick dafür verstellt, in wie weitgehendem Umfang individuelles und gemeinsames Intendieren faktisch divergieren können. Das Phänomen der Dissidenz ist deshalb nicht eines, das in der Theorie des gemeinsamen Intendierens als bloßes Randphänomen vermerkt werden sollte; es zeigt sich an ihm ein wesentliches Strukturmoment gemeinsamer Intentionalität, nämlich deren Normativität (zur Art dieser Normativität vgl. die Bemerkungen unten in § 7 f.). A
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Warum in diesem Zusammenhang überhaupt von Dissidenz reden, wie es Raimo Tuomela, Annette Baier und andere tun? Was hat das handlungstheoretische Strukturmoment, um welches es in dieser Diskussion geht, überhaupt mit diesem im Grunde politischen Phänomen zu tun? Dissidenz kommt in der laufenden Debatte zunächst einfach als prägnantester Gegensatz zum fähigen und willigen Teilnehmen in den Blick. Dies ist natürlich eine Begriffsverwendung, die über den engeren Sinn von »Dissidenz« hinausgeht. Handelt es sich hier am Ende bloß um eine Äquivokation? Was hat das unter dem Titel »Dissidenz« laufende Phänomen mit dem Verhalten jener Intellektuellen zu tun, welche, z. T. geschützt durch ihre internationale Reputation, von den zentral- und osteuropäischen kommunistischen Regimes des vergangenen Jahrhunderts zu einem gewissen Grad toleriert wurden? 96 Ist der Titel »Dissidenz« überhaupt ein adäquater Titel? Mindestens zwei Züge der Dissidenz im engeren Sinn scheinen auch für jede weitere Begriffsbestimmung unerläßlich zu sein. Erstens sind Dissidenten Gruppenmitglieder, welche eine abweichende Vorstellung von dem haben, was »wir« tun oder sein sollten, also eine abweichende Vorstellung unserer gemeinsamen Haltungen, Pläne, Projekte, Handlungen und Initiativen. In diesem Sinne sind Dissidenten das, was man im Englischen dissenters nennt. 97 Aber Dissidenz ist mehr als dissent, und nicht alle dissenters sind auch Dissidenten. Dissidenz ist verschieden von jener Art von Opposition, welche tatsächlich in jedem Prozeß der Bildung gemeinsamer Absichten in Großgruppen unerläßlich zu sein scheint, und welche auch im demokratischen Prozeß der Willensbildung institutionalisiert ist. Indem sie nämlich ihre Ansichten in einem geregelten Verfahren der Entscheidungsfindung und der Kritik zur Geltung bringen, sind dissenters nämlich nichts als willige und fähige Teilnehmer im mehr oder weniger demokratischen Prozeß kollektiver Willensbildung. Dies unterscheidet sie von Dissidenten, welche sich zu einem bestimmten Grad außerhalb der akzeptierten normativen Gemeinschaftspraxen und institutionellen Rahmenbedingungen befinden. Über den bloßen Dissens hinaus ist Dissidenz dadurch stets durch Vgl. zur Dissidenz in diesem engen Sinn Tucker, Aviezer: The Essence of Dissidence. In: Graduate Faculty Philosophy Journal 22/2 (2001), S. 59–78. 97 Ein Lob der dissenters findet sich bei Sunstein, Cass R.: Why Societies Need Dissent. Cambridge Mass. 2003. 96
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das zweite, ebenso wichtige aber theoretisch oft vernachlässigte Charakteristikum der Nichtteilnahme gekennzeichnet. Dissidenten stehen nicht bloß für eine abweichende Vorstellung vom gemeinsamen Sein und Tun, sondern sie verweigern dadurch in einem gewissen Grad auch die Teilnahme an bestehenden Gemeinschaftspraxen: sie machen nicht mit. Das Zusammenspiel dieser beiden Momente des Dissenses und der Nichtteilnahme verdient nähere Betrachtung. Es scheint nämlich, daß hier zwei Fälle zu unterscheiden sind. Im ersten, paradigmatischen Fall der Dissidenz geht der Dissens der Nichtteilnahme als deren Grund voran; im zweiten Fall dagegen spielt die Nichtteilnahme eine wesentlich wichtigere Rolle als bloß die einer Konsequenz des Dissenses. Dieser zweite Fall der Dissidenz ist weit weniger prominent, aber aus der Perspektive einer Theorie des Gemeinschaftshandelns weit interessanter; denn von ihm fällt ein besonderes Licht auf die Struktur des Gemeinschaftshandelns und die Defizite der Teilnahmetheorie gemeinsamer Intentionalität. Zunächst aber der Standardfall des Verhältnisses von Dissens und Nichtteilnahme. Paradigmatische Fälle der Dissidenz sind solche wie etwa David Henry Thoreaus civil disobedience. Hier – wie auch etwa im Fall von Martin Luthers »hier stehe ich, ich kann nicht anders!« – liegt das Hauptgewicht der Dissidenz klar auf dem Dissens. Das Element der Nichtteilnahme ist hier direkt im Dissens begründet und von diesem abhängig. Wenn Thoreau das Entrichten seiner Bundessteuern verweigert, dann tut er dies bloß deshalb, weil er grundsätzlich gegen den Mexikanischen Krieg der US-Amerikanischen Bundesregierung eingestellt und nicht bereit ist, diesen mitzufinanzieren. 98 Die Nichtteilnahme ist mithin in solchen Fällen bloß ein (mehr oder weniger symbolisches) Mittel der Artikulation des Dissenses. Aber Literatur und Geschichte sind voll von einer anderen, weit weniger intellektualistischen oder prinzipiengeleiteten Art von Dissidenten. Die Nichtteilnahme ist in diesen Fällen kein bewußt gewähltes Mittel des Ausdrucks des Dissenses, kein wohlüberlegter Akt, sondern ein mehr oder weniger spontanes Tun, dem die Haltung des Dissenses erst nachfolgt. Wenn es Wilhelm Tell bei Friedrich Schiller unterläßt, den Tyrannenhut auf der Stange zu grüßen, dann tut er dies nicht, weil er prinzipiell gegen diese Praxis symbolischer
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Thoreau, David Henry: Civil Disobedience [1849]. New York 1967. A
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Submission eingestellt wäre; der Grund ist vielmehr der, daß er gerade damit beschäftigt ist, mit seinem Sohn zu sprechen (»Aus Unbedacht, nicht aus Verachtung Eurer ist’s geschehn« sagt Tell denn auch später im Verhör durch Geßler). 99 Oder, um ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte zu zitieren: Als Rosa Parks sich am 1. Dezember 1955 in einem Linienbus in Montgomery, Alabama, weigerte, ihren Sitz einem weißen Mann zu überlassen (womit sie sich den Titel der Mutter der Bürgerrechtsbewegung erwarb), war dies von ihr nicht als Protest gegen die Rassendiskriminierung gemeint. Gemäß Parks eigener Schilderung des Ereignisses war sie damals schlicht übermüdet und zerschlagen nach einem Tag harter Arbeit als Schneidergehilfin und litt unter Schmerzen. 100 In diesen und ähnlichen Fällen ist die Abweichung von einer normativen Gemeinschaftspraxis weniger ein mit Bedacht gewähltes, mehr oder weniger symbolisches Mittel des Ausdrucks des Dissenses als ein spontaner Akt. »The power of the negative is an important power, and our dissidents and awkward customers, our […] cultural subversives provide that power« schreibt Annette Baier in ihrer Kritik des Bildes glatter Kooperation, wie es in der gegenwärtigen Handlungstheorie vorherrscht.101 Im Fall der letztgenannten Art von Dissidenz fließt diese Kraft weniger aus dem Dissens als aus der Irritation, die sich aus der mehr oder weniger spontanen Abweichung von Gemeinschaftspraxen, aus dem Nichtbeitragen und Nichtteilnehmen ergibt. Gegenüber dem konformistischen Bild der Teilnahmetheorie gemeinsamen Intendierens zeigt sich hier, wie wichtig das Nichtteilnehmen sein kann – gerade auch als Ausgangspunkt einer Veränderung und Erneuerung der gemeinsamen Vorhaben, Projekte und Praxen. Die aus der Teilnahmetheorie des gemeinsamen Intendierens sprechende Tendenz, die Bedeutung von Nichtteilnahme für das Gemeinschaftshandeln zu unterschätzen, sitzt so tief, daß sie sich bis in Ansätze hinein erstreckt, die eine ganz und gar positive Haltung zum Phänomen der Dissidenz einzunehmen beanspruchen. Ein auch aufBezeichnenderweise wurde diese Schlüsselszene im Libretto zu Gioacchino Rossinis gleichnamiger Oper dahingehend verändert, daß Tell nun dem konventionelleren Bild des dissensgeleiteten Dissidenten entspricht. Hier fordert die beim Tyrannenhut aufgestellte Wache Tell nämlich bei seinem Herannahen auf, dem Hut seine Referenz zu erweisen, was Tell ausdrücklich verweigert (Akt III, Szene III). 100 Vgl. dazu Raines, Howell: My soul is rested. Movement Days in the Deep South Remembered. New York 1977, S. 40–43. 101 Baier 1997, S. 37. 99
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grund der politischen Biographie des Autors besonders signifikantes Beispiel dafür ist Karol Wojtylas Analyse der Struktur von Teilnahme im Appendix der englischen Ausgabe seines Buches »Person und Tat«. 102 Thema dieser phänomenologisch orientierten Analyse ist die Struktur gemeinsamen Handelns und ihre Beziehung zum Begriff der Person. Wojtyla bestimmt dabei das Wesen der Teilnahme als Solidarität, welche als »constant readyness to accept and to realize one’s share in the community« bestimmt wird. 103 Dabei liegt es Wojtyla aber fern, die Bedeutung von Opposition und Widerstand zu unterschätzen. Kurz vor dem Aufstand der »Solidarnosc«-Bewegung gegen das Regime in seiner Heimat Polen macht Wojtyla klar, daß Solidarität in diesem Sinn keineswegs unverträglich ist mit Opposition und Widerstand: »those who stand up in opposition do not intend thereby to cut themselves off from their community. On the contrary, they seek their own place within the community.« 104 In einem gewissen Spannungsverhältnis zu diesem Lob der Opposition und des Widerstands identifiziert Wojtyla dann aber zwei Formen von »denial of participation«, welche er demgegenüber als »inauthentic« kritisiert: der Konformismus und das Ausweichen (avoidance). 105 Seiner Ansicht nach entspringt das Ausweichen »einem Mangel an Teilnahme«, während der Konformismus »a mere semblance of participation, a superficial compliance which lacks conviction and authentic engagement« darstelle. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß durch diese schroffe Inauthentizitätserklärung von Konformismus und Ausweichen die Inklusion von Nicht-Teilnehmenden in den Begriff des gemeinsamen Handelns, die aus dem Lob der Opposition spricht, auf halbem Weg stecken bleiben muß. Die rigide Unterscheidung von »authentischem« Nichtmitmachen (im Sinne der Opposition) und »unauthentischem« Nichtmittun (oder gar bloß scheinbarem Mittun) wird der Tatsache nicht gerecht, daß die von Baier sehr zu recht beschworene »Kraft des Negativen« oft gerade auch aus den scheinbar »inauthentischen« Formen fließt. Wandel und Neuerung kommt nicht nur von jenen, die ihre Stimme erheben, sondern oft auch von jenen, die die Exit-Option wählen. Wojtyla, Karol: The Acting Person. Analecta Husserliana vol. 10, Dordrecht/Boston 1979, S. 317–358. 103 Wojtyla 1979, S. 341. 104 Wojtyla 1979, S. 343. 105 Wojtyla 1979, S. 346 ff. 102
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Unsere Achtung vor denen, die den Mut dazu aufbrachten, innerhalb der bestehenden Gemeinschaft aufzustehen und sich Gehör zu verschaffen, wird nicht vermindert, wenn wir unseren Respekt auch dem wichtigen Beitrag der Flüchtlinge, boat people und anderer scheinbar eher »vermeidenden« Formen der Nichtteilnahme zollen. Ein ähnlicher Punkt kann auch hinsichtlich der zweiten von Wojtylas »inauthentischen Haltungen« gemacht werden. Konformismus im Sinne einer »mere semblance of participation« bzw. einer »superficial compliance which lacks conviction and authentic engagement« kann nämlich unter geeigneten Umständen ein sehr effektives Mittel zur Herbeiführung von Erneuerung und Wandel sein. Die Praxis des Diensts nach Vorschrift mag dies illustrieren. »Dienst nach Vorschrift« ist tatsächlich ein Rückzug von Einsatz und »authentischem Engagement«, ein Rückzug von all jenen Aspekten des Involviertseins und der Teilnahme an Arbeitsprozessen, welche über formell Geregeltes hinausgehen, gleichzeitig aber für das effiziente und profitable Funktionieren eines Arbeitsablaufes innerhalb einer Verwaltung oder eines Unternehmens unabdingbar sind. So kann durch »Dienst nach Vorschrift« beträchtlicher Druck ausgeübt werden. Auf diese Weise kann sich eine rein konformistische Haltung – ein bloß »förmliches« Mittun ohne inneres Engagement – unter Umständen als ebenso subversiv, wenn nicht noch subversiver erweisen als irgendeine Form offener Opposition oder direkten Widerstandes (wobei ob des in der sozialwissenschaftlichen Literatur verbreiteten Lobs der Dissidenz 106 natürlich nicht vergessen werden sollte, daß der ethische Wert dieser Haltung sich bloß derivativ und ex negativo aus dem moralischen Status der Gemeinschaftspraxis ergibt, gegen welche sie sich richtet). So viel zur Dissidenz. Es scheint mithin, daß die Verwendung dieses Terminus’ in der Debatte rund um die Struktur des Gemeinschaftshandelns nicht bloß äquivok ist. In der Tat fällt nämlich vom Phänomen der Dissidenz aus ein schiefes Licht auf die Teilnahmetheorie des Gemeinschaftshandelns, welche ob ihrer Fixierung auf fähige und willige Teilnahme für Fälle weniger reibungsloser Kooperation blind bleibt – und damit auch für jenes Strukturmoment gemeinsamen Handelns, welches sich an diesen Fällen offenbart: die
Vgl. etwa Maffesoli, Michel: Dynamique de la dissidence. Cahiers Internationaux de Sociologie 64 (1978), S. 103–111.
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doppelte Normativität des Verhältnisses von individuellem Intendieren und gemeinsamem Tun. Den sich aus diesen handlungstheoretischen Verhältnissen ergebenden ethischen Bezügen wird hier nicht weiter nachgegangen. Abschließend stattdessen eine zusammenfassende Bemerkung zur Kritik des Reduktionismus in der Theorie der gemeinsamen Intentionalität, wie sie im vorliegenden Kapitel (§§ 4– 6) entfaltet worden ist. Der reduktionistische Ansatz deutet gemeinsame Intentionen (gleichviel, ob es sich nun um praktische, kognitive oder affektive Intentionen handelt) als Kombination von individuellen »Beitragsintentionen« und common knowledge dieser Beitragsintentionen. Zusammenfassend ergeben sich aus dem Gesagten zwei Hauptkritiken am reduktionistischen Ansatz. Die erste Kritik betrifft die Annahme von common knowledge, die Konstruktion von Gemeinschaftshandeln über eine Struktur wechselseitiger Überzeugungszuschreibung. Die zweite Kritik betrifft den Ansatz bei individuellen »Beitragsintentionen«: Bei näherem Hinsehen scheint es, daß sich diese Beitragsintentionen erstens nur im Ausgang von einer gemeinsamen Intention bestimmen lassen. Zweitens zeigt sich, daß der Zusammenhang von Beitragsintention und gemeinsamem Vorhaben kategorial anders strukturiert ist, als es der reduktionistische Ansatz postuliert: Daß die beiden Ebenen einander entsprechen sollen, setzt gerade voraus, daß sie dies faktisch nicht notwendigerweise tun (denn von einem Sollen zu reden macht nur dort Sinn, wo nicht schon eine begriffliche Notwendigkeit vorliegt). Die Frage nach der Struktur von Gemeinschaftshandlungen führt damit auf so etwas wie irreduzibel gemeinsame Absichten. Hier wiederholt sich im allgemeineren Rahmen der »intentionale Purzelbaum«, den Walther bezüglich des engeren Beispiels des Verhältnisses von individuellem und gemeinsamem Erleben beobachtet hat. Wie gemeinsames Wissen kein Aggregat von individuellem Wissen ist (und, wie Scheler es so überzeugend vertritt, gemeinsames Fühlen kein Aggregat individuellen Fühlens), so sind auch gemeinsame Absichten kein Aggregat individueller (ev. durch gemeinsames Wissen verklammerter) Absichten. Die Fundierungsordnung zwischen dem Individuellen und dem Gemeinsamen läuft hier genau umgekehrt. Es gibt – auch wenn dies nicht der Normalfall ist – gemeinsame Absichten ohne die entsprechenden individuellen Beitragsabsichten; aber die entsprechenden individuellen Beitragsabsichten setzen die gemeinsame Absicht geltungslogisch voraus. Die Gemeinsamkeit, die im gemeinsamen Intendieren (gleichviel, A
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ob es sich um kognitive Intentionen handelt, um affektive oder um praktische) involviert ist, verträgt weit mehr an individuellen »Ausfällen«, ja an individueller »Dissidenz«, als es möglich wäre, wenn letztlich individuelle Intentionen die letzten konstitutiven Elemente gemeinsamen Intendierens wären. In vielen Fällen werden Individuen gar nicht wissen, was sie gemeinsam glauben oder vorhaben. Beispielsweise mag es mir im Moment völlig schleierhaft sein, ob »wir Presbyterianer« nun an die Transsubstantiation glauben oder nicht; nichtsdestotrotz haben »wir Presbyterianer« wohl einen diesbezüglichen Glauben, und es kann mir sogar bewußt sein, daß dieser Glaube durchaus konstitutiv ist für das, was uns überhaupt zu Presbyterianern macht. Auf diese Weise falle ich in Sachen eines gruppenkonstitutiven Glaubens völlig aus; nichtsdestotrotz bleibe ich zumindest in einem undogmatischen Sinn »einer von uns«. Oder, um dieses Phänomen an einem weniger komplexen Beispiel zu diskutieren: Es mag mir schlicht entfallen sein, ob wir nun vorhaben, den Urlaub dieses Jahr am Mittelmeer oder in Island zu verbringen – aber hier gilt wie im vorigen Beispiel: Nichtsdestotrotz bleibt es »unser« Glaube, »unser« Urlaubsplan, obwohl hier kein korrespondierender individueller Glaube, kein korrespondierendes individuelles Vorhaben vorliegt. Individualistische Theoretiker des gemeinsamen Intendierens sind hier, als logische Folge ihres Grundansatzes, typischerweise wesentlich restriktiver, als es im Blick auf typische Fälle gemeinsamen Intendierens angemessen erscheint: »If a team has a goal p, then each member has p as an individual goal«, heißt es hier kategorisch in bezug auf Ziele, und ähnliches wird verschiedentlich von den entsprechenden Intentionen (als deren Erfüllungsbedingungen Ziele meist bestimmt werden) gesagt. Von diesem krampfhaften Bemühen, gemeinsame Intentionalität an individuelle Intentionalität zurückzubinden, wird man sich auf dem Weg hin zu einer angemessenen Ontologie des Miteinanderseins verabschieden müssen. Das muß, wie gesehen, nicht bedeuten, daß man nun gemeinsame Intentionen grundbegrifflich völlig vom individuellen Intendieren ablöst. Die genannten Beispiele sind Extrembeispiele. Im Normalfall gilt: Wenn eine Gruppe x vorhat, glaubt oder empfindet, gilt von den einzelnen Mitgliedern, daß sie x (oder ihren Teil von x) vorhaben, glauben oder empfinden. Aber diese »Standardkongruenz« ist eben, anders als der reduktionistische Ansatz dies glauben macht, keine notwendige, konstitutive oder rein begriffliche Beziehung, sondern eine normative Beziehung. Es sollte so sein, daß die 178
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einzelnen Mitglieder x (oder ihren Teil von x) vorhaben, glauben oder empfinden, wenn die Gruppe x vorhat, glaubt oder empfindet. 107 Und genauso gilt, wie oben gesehen, das Umgekehrte: Was wir kollektiv intendieren, sollte sich in einem gewissen Umfang nach dem richten, was wir je individuell intendieren. Die Normativität dieser Beziehung setzt aber gerade voraus, daß diese Beziehung keine notwendige oder begrifflich konstitutive ist. Denn solch ein Sollen setzt eine kontingente Faktizität voraus. Nur weil und insofern faktisch gemeinsames Intendieren und individuelles Intendieren divergieren können, macht es überhaupt Sinn, von einem Übereinstimmensollen zu sprechen. In einem gewissen Sinn fließt soziale Normativität, wie noch näher zu sehen sein wird, aus kollektiver Intentionalität. Es ist demgemäß im Rahmen und auf der Grundlage von gemeinsamen Intentionen, daß Individuen sich normativ, d. h. bestätigend, kritisch oder korrigierend, aufeinander beziehen. 108 Die Frage nach dem Verhältnis von intentionalem »Wir« und intentionalem »Ich«, von gemeinsamer und individueller Intention, führt damit auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Beteiligten, der Grundstruktur der IchDu-Beziehung. Hier drängt sich, wie sich im folgenden Kapitel in Auseinandersetzung v. a. mit der Theorie der kollektiven Intentionalität von John R. Searle gezeigt werden soll, eine weitere grundsätzliche Korrektur des »Cartesianischen« Intentionalitätsverständnisses auf. Die »Cartesianische Gehirnwäsche« zu überwinden bedeutet nicht nur, neben dem ego cogito auch das irreduzible nos cogitamus in den analytischen Blick zu nehmen. Es bedingt zugleich auch ein
Die reine Normativität dieser Beziehung scheint prima vista die Denkbarkeit der Möglichkeit zu implizieren, daß gemeinsames und individuelles Vorhaben einander faktisch niemals entsprachen (so wie auf 8,9152 kommen sollte, wer 2,786 und 3,2 miteinander multipliziert, selbst wenn bislang die wenigen bisherigen Versuche faktisch immer zu einem anderen Resultat geführt haben). Dies aber scheint im Falle des Verhältnisses von gemeinsamem und individuellem Vorhaben unplausibel, denn wir würden von gemeinsamen Vorhaben (und den entsprechenden individuellen Beitragsintentionen) wohl gar nicht sprechen können, wenn sie im Regelfall nicht auf geeignete Art und Weise aufeinander »paßten«. Ich glaube aber nicht, daß sich aus der Undenkbarkeit einer solchen »reiner« Normativität ein grundsätzlicher Einwand ergibt. Es reicht hier, daß ein faktisches Abweichen in jedem einzelnen Fall (each case) denkbar ist – es muß nicht angenommen werden, daß dies auch für alle Fälle (all cases) gilt. 108 In diesem Kontext wäre auch Ulrich Baltzers wunderbare Phänomenologie des Anschlußhandelns (vgl. Baltzer 1999, Kap. 3) auf eine intentionalistische Basis zu stellen. 107
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Abrücken von einem internalistischen Intentionalitätsverständnis, nach welchem Intentionalität im Grunde eine Sache der Immanenz des Einzelbewußtseins ist: Gemeinsame Intentionen passen nicht in dieses Schema. Sie sind eine genuin intersubjektiv-relationale Angelegenheit.
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iii. »Cartesianische Gehirnwäsche« und Kollektive Intentionalität
Intentionalistische Ansätze haben in der deutschsprachigen Philosophie generell immer noch einen schweren Stand. Dies spiegelt sich etwa in der Rezeptionsgeschichte John R. Searles. Als er sich nach seiner breit rezipierten »Theorie der Sprechakte« 1 scheinbar unvermittelt dem Thema »Intentionalität« 2 zuwandte, trug ihm das viel Schelte aus dem deutschen Sprachraum ein. Mit dem Übergang von der Sprachphilosophie in die philosophy of mind schien Searle nämlich in exakt jenes »alte« und überholte »Paradigma« zurückzufallen, zu dessen Überwindung seine Theorie der Sprechakte in den Augen vieler ganz wesentlich beigetragen hatte. Denn plötzlich stand im Zentrum von Searles Philosophieren nicht mehr die Analyse der Sprachpragmatik, sondern scheinbar wieder der seit langem als »monologistisch« verschriene intentionale Weltbezug des solitären Bewußtseins, den man doch mit der Hinwendung zur Sprachphilosophie (und erst recht der Hinwendung zur Sprachpragmatik) eben erst überwunden zu haben glaubte. Searles Werkentwicklung mußte daher als pure Dekadenz erscheinen. Und so wurde sie denn auch wahrgenommen. Searle schien nicht weniger als die linguistischpragmatische Doppelwende der Gegenwartsphilosophie rückgängig machen und in den Mentalismus der Bewußtseinsphilosophie zurückfallen zu wollen. Es überrascht vor diesem Hintergrund kaum, daß nach Searles Theorie der Intentionalität auch seine Analysen zum Verhältnis von Körper und Geist im deutschen Sprachraum auf weit weniger Resonanz stießen als die Theorie der Sprechakte. Man hat von intersubjektivistischer Seite sogar einen »Searle I« von Searle, John R.: Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge 1969; dt. Übers.: Sprechakte. Frankfurt a. M. 1971. 2 Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind. Cambridge 1983; dt. Übers. Intentionalität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes. Frankfurt a. M. 1987. 1
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einem »Searle II« unterscheiden wollen (in gegenüber der entsprechenden Periodisierung von Wittgensteins Werk inverser Wertung). 3 Searle selbst hingegen blieb von solchen Dekadenzdiagnosen ungerührt. Er sah keinen Bruch zwischen Speech Acts und Intentionality; die Analyse der Intentionalität liege vielmehr auf der konsequenten Linie kontinuierlichen »Tieferschürfens« und Weiterdenkens. Keineswegs Ausdruck eines regressiv-monologistischen »intentionalistic turn« 4 sei die Hinwendung zur Intentionalität, sondern Fortsetzung des Grundanliegens der Theorie der Sprechakte 5 mit den Mitteln der Analyse des (als Thema der Philosophie »wiederentdeckten« 6 ) Geistes. Immerhin wird man sagen können, daß Searle am Entstehen solcher Vorwürfe selbst nicht ganz unbeteiligt war. Dies insofern, als er in seinem Projekt zunächst eine Leerstelle entstehen ließ, die er erst zwölf Jahre nach dem Erscheinen des Buchs zur Intentionalität endlich schloß. Searles Weg von der Sprachpragmatik zur Analyse der Intentionalität übersprang die »verbindende Mitte« dieser Themen. Auf dem Weg von der Physik über die Bewußtseinsanalyse zur Semantik – die durch Searles »general theory« 7 zu gehende Wegstrecke – kommt nämlich dem Gesellschaftlichen die verbindende Funktion zu – eben dem also, was mit der direkten Hinwendung zur Intentionalität verloren zu gehen schien. »Das Gesellschaftliche« ist in Searles Sicht keineswegs Ermöglichungsbedingung von »Geistigkeit« als solcher, wie es seine intersubjektivistischen Kritiker gerne sähen; aber es ist doch als das wichtig, was den Geist zur Sprache bringt bzw. beides aneinander bindet. Dies, weil das Soziale gemäß Searles origineller Analyse einerseits sich erst in der Sprache zur institutionellen Wirklichkeit entfaltet, andererseits in seiner Grundstruktur schon tief in der Intentionalität des Bewußtseins angelegt Vgl. Apel, Karl-Otto: Is Intentionality more Basic than Linguistic Meaning? In: Ernest Lepore/Robert van Gulick (Hrsg.): John Searle And His Critics. Cambridge Mass. 1991, S. 31–55. 4 Vgl. Habermas, Jürgen: Comments on John Searle: »Meaning, Communication, and Representation«. In: Ernest Lepore/Robert van Gulick (Hrsg.) 1991, S. 17–29, hier S. 20 5 Vgl. Searle in seiner Antwort auf Habermas ebd. S. 91. 6 Searle, John R.: The Rediscovery of the Mind. Cambridge Mass. 1992 (dt. Übers. 1993). 7 Vgl. Searle, John R.: Mind, Language, and Society. Philosophy in the Real World. New York 1998a. S. 161; zum Gesamtprojekt vgl. auch ders.: Consciousness and Language. Cambridge UK 2002, S. 1–9. 3
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ist. Die Befunde, die Searle 1995 in seinem Buch Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit 8 systematisch dargestellt hat, spannt er in dem drei Jahre später erschienen Buch Mind, Language and Society gewissermaßen zwischen seine Analyse des Verhältnisses von Körper und Geist bzw. der Intentionalität 9 und seine Theorie der Sprechakte ein. Von der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit hängt ab, ob Searle dem Einwand, die Dimension der Intersubjektivität in der Hinwendung zum Thema »Intentionalität« zu überspringen, überzeugend entgegentreten kann. Searle greift in seiner Analyse auf bereits früher entwickelte Theorieinstrumentarien zurück. Schon in einem Abschnitt seiner »Theorie der Sprechakte« hat Searle die Unterscheidung zwischen »natürlichen Tatsachen« (jetzt heißen sie vorsichtiger »nackte Tatsachen« – beispielsweise Steine oder Bäume) und »institutionellen Tatsachen« (wie beispielsweise Heiratsversprechen, Verkehrszeichen oder Geldscheine) eingeführt. »Institutionelle Tatsachen« sind nicht unabhängig von »nackten« oder »natürlichen« Tatsachen: kein Geldschein ohne Papier, keine sprachliche Äußerung ohne Schallwellen, Druckerschwärze oder sonstige physische Manifestation. Aber solche »Dinge« haben – im Unterschied etwa zu Werkzeugen – ihre Funktion nicht kraft ihrer natürlichen Eigenschaften. Wer eine physikalisch und chemisch exakte Kopie eines Geldscheins herstellt, bekommt keinen zweiten Geldschein, sondern eine Fälschung. Zwischen der »nackten« Wirklichkeit – dem Gegenstand der Naturwissenschaften – und der Sphäre der institutionellen Tatsachen – der Sphäre der Geistes- und Sozialwissenschaften – scheint sich damit ein Searle, John R.: The Construction of Social Reality. New York 1995; dt. Übers. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Reinbek b. H. 1997. 9 Searles »Naturalisierung« des Bewußtseins gibt sich als souveräner Streich durch den gordischen Knoten aller bisherigen Debatten. Wolle man die Aporien von Dualismus und reduktivem Materialismus vermeiden, brauche man bloß zunächst einmal das Vokabular über Bord zu werfen, welches Materie und Bewußtsein als exklusive Sphären erscheinen lasse. Bewußtsein lasse sich sodann mühelos als »biologisches Phänomen« – als »höherstufiges Merkmal« des Hirns – erkennen, wenn man nur nicht vergesse, daß es sich von anderen »höherstufigen Merkmalen« dadurch unterscheide, daß es eine »Erste-Person-Ontologie« habe (es also zu seinem Sein gehört, daß es subjektives Erleben ist). Colin McGinn hat demgegenüber darauf hingewiesen, daß dies eher eine Formulierung des Problems ist als seine Lösung. Die eigentliche Frage ist ja: was ist es denn, das den Neuronen unseres Hirns das ontologisch subjektive »höherstufige Merkmal« des Bewußtseins verleiht? (Cf. McGinns Rezension von Mind, Language and Society in der New York Review of Books XLVI [1999], Nr. 10, S. 44–47). 8
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Hiatus aufzutun, und die Beziehung zwischen der Welt der Atome, Kraftfelder, und der biologischen Evolution einerseits, der Welt der sozialen (und insbesondere der institutionellen) Fakten andererseits wird fraglich. Searle schließt die entstandene Lücke mit drei Theorieelementen. Dazu gehört erstens die Funktionszuweisung. Naturalen Dingen kann von uns eine Funktion zugeschrieben werden, welche diese Dinge nicht kraft ihrer natürlichen Eigenschaften erfüllen: Nicht bloß Leitplanken, sondern auch schlichte durchgezogene Linien auf dem Asphalt können im Straßenverkehr die Funktion übernehmen, uns am Verlassen unserer Spur zu hindern (vgl. dazu ausführlicher unten § 10). Während wir diese Funktion der Leitplanke kraft ihrer naturalen Eigenschaften zuweisen (es ist faktisch unmöglich, die Leitplanke zu überfahren), tun wir dies im Falle der durchgezogenen Linien nicht aufgrund dieser naturalen Eigenschaften (es ist ja faktisch kein Problem, die Sicherheitslinie zu überfahren). Trotzdem können wir der Sicherheitslinie genau diese Funktion zuschreiben, nämlich die Funktion, ein Überwechseln von einer Fahrbahn auf die andere zu verhindern. Als zweiter Baustein kommt in der Lücke zwischen »nackten« und »institutionellen« Tatsachen ein ganz besonders erfolgreiches Stück aus Searles Philosophieren zu liegen: die konstitutiven Regeln, also Regeln, die nicht eine präexistente Praxis gleichsam nachträglich normieren (wie etwa die Verkehrsregeln), sondern Regeln, die eine Praxis erst konstituieren (wie etwa die Schachregeln). Zu den durch solche Regeln konstituierten Praxen gehört nun auch das Sprechhandeln; »Sprache« hat dabei freilich eine Vorzugsstellung inne vor allen anderen Institutionen. Die Grundformel, gemäß welcher Funktionszuweisung und konstitutive Regeln bei der Konstitution institutioneller Fakten zusammenwirken, heißt »X gilt als Y im Kontext C« – dieses Stück bedrucktes Papier beispielsweise (die »nackte Tatsache« X) gilt als Geldschein (die institutionelle Tatsache Y) in einem gegebenen Staat (Kontext C). Die Beziehung zwischen X und Y hat dabei symbolischen Charakter. Alle Institutionen zehren damit von einer Symbolisierungsleistung, welche von einer einzigen Institution, der Sprache, erbracht wird. Sprache ist fundamental, sie ist sozusagen die Meta-Institution; aber ihr Kern wird damit nicht in der pragmatischen Dimension der Vermittlung zwischen Sprechern verortet, sondern rein in der semantischen Dimension der Referenz (in welcher X für Y stehen kann). Und die Referenz von sprachlichen Zeichen sei schlicht »abgeleitete Intentionalität«: Die »Bedeutung« von 184
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Zeichen ist nach Searle, der hierin Grice folgt, sekundär gegenüber dem »Meinen« von Bewußtseinssubjekten. Das ist es, was die oben genannten Kritiker mit dem Vorwurf des »intentionalistic turn« bzw. des Rückfalls in die Bewußtseinsphilosophie gemeint haben: Es macht ganz den Anschein, als würde Searle im Stile eines traditionell interpretierten Edmund Husserl letztlich alles auf einem monologischen intentionalen Weltbezug isolierter, monadischer Bewußtseinssubjekte aufbauen wollen. Searles Regelung des Verhältnisses von »Intentionalität des Bewußtseins« und Sozialität hat nun aber einen geradezu subversiven clou. Dieser besteht darin, daß er eine Prämisse angreift, welche die klassische Intentionalitätstheorie ebenso wie etwa die intersubjektivistische Mentalismus- und Intentionalitäts-Kritik stillschweigend voraussetzen – eine Prämisse, die mithin das »bewußtseinsphilosophische Paradigma« ebenso bestimmt wie seine »intersubjektivistische« Kritik. Bisher ist »Intentionalität« nämlich hier wie dort immer wie selbstverständlich als »individuelle Intentionalität« verstanden worden. Es gibt aber nicht nur Intentionen der Form »ich meine …«, »ich beabsichtige …« etc. Es gibt auch Intentionen der Form »wir meinen …«, »wir beabsichtigen …«. Und diese »Wir-Intentionen« lassen sich nach Searle nicht reduzieren auf eine Kombination von individueller Intentionalität (»ich beabsichtige x«) der Mitglieder des »Wir« einerseits und infiniter Iteration des Wissens, daß auch die am »Wir« beteiligte Anderen x beabsichtigen und daß diese wissen, daß man selbst x beabsichtigen etc. etc. pp. andererseits. Searle stellt sich in dieser Hinsicht, wie gleich näher zu besehen wird, dem Reduktionismus entschlossen entgegen. Wir-Intentionen bilden eine eigenständige Form von Intentionalität. Das aber wirft ein schiefes Licht auf die intersubjektivistische Kritik an Searle. Weil nämlich Intentionalität in diesem Sinne nicht bloß eine »individuelle«, sondern auch eine »gemeinsame« Angelegenheit sein kann, scheint die Unterstellung, mit der Hinwendung zum Thema »Intentionalität« sei ein Rückfall in den Monologismus der Bewußtseinsphilosophie verbunden, zumindest auf den ersten Blick hinfällig zu werden. Fraglich ist mithin der stillschweigend unterstellte Zusammenhang von Monologismus und Intentionalismus. Wenn es »kollektive Intentionalität« – den dritten und letzten Baustein der sozialen Wirklichkeit in Searles Konzeption – gibt, ist das Element der »intersubjektiven Anerkennung« nicht erst Sache einer »rationalen Motivationskraft von
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Geltungsansprüchen« 10 o. dgl. hochsynthetischen, sprachbasierten Vorgängen, sondern einer Grundstruktur nach schon tief im vorsprachlichen Bereich angelegt. Der Vorwurf fällt mithin auf die Kritiker zurück. Es scheint nämlich, daß jene, die im Namen der »Intersubjektivität« gegen den Ansatz bei der Intentionalität des Bewußtseins opponieren, schlicht und einfach ihrem eigenen, unbesehen aus der Tradition übernommenen Intentionalitätsbegriff aufsitzen, welchen sie dann ihren Gegnern ankreiden. 11
§ 7 »Kollektive Intentionalität« – ohne Kollektiv Gemeinsames Intendieren ist gegenüber dem individuellen Intendieren ein eigenständiges Phänomen. Dieser Nicht-Reduktionismus ist die Prämisse und Grundlage von John R. Searles Theorie der kollektiven Intentionalität, wie er von seiner ersten Publikation zum Thema 12 über die systematische Exposition des Begriffs in »The Construction of Social Reality« 13 bis hin zu seinen rezentesten Publikationen 14 klar macht. Ein Beispiel, welches Searle in der Absicht, die Irreduzibilität der Wir-Intentionalität veranschaulichen, immer wieder aufgreift, ist jenes des gemeinsamen Musizierens. Wenn A und B zusammen musizieren, wäre es, so Searle, eine verzerrende Beschreibung des Vorgangs, zu sagen, daß B im Grunde einfach ein Lied singt und A im Grunde einfach Klavier spielt und diese individuellen Handlungen der beiden bloß insofern etwas miteinander zu tun haben, als beide vom Tun des je anderen wissen. Das wäre schlicht ein anderes Phänomen, jedenfalls aber kein gemeinsames Musizieren (auch wenn es sich vielleicht für einen zufällig draußen vorbeigehenden Zuhörer so anhören mag). Interessanterweise greift Searle mit dem gemeinsamen Musizieren ein Beispiel Habermas 1990, S. 28. In die Richtung einer Erweiterung der »philosophy of mind« über ihre atomistische Beschränktheit hinaus arbeitet auch etwa Margaret Gilbert; vgl. ihr Buch On Social Facts (Princeton 1992) sowie dies.: Sociality and Responsibility. New Essays in Plural Subject Theory. Lanham 2000. 12 Searle, John R.: Collective Intentions and Actions. In: Cohen, Philip R./Morgan, Jerry/Pollack, Martha E. (Hrsg.): Intentions in Communication. Cambridge Mass. 1990, S. 401–415. 13 Searle, John R.: The Construction of Social Reality. New York 1995. 14 Searle, John R.: Rationality in Action. Cambridge, Mass. 2001, insbes. Kap. 2. 10 11
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auf, welches im Kontext der Phänomenologie schon Alfred Schütz zu einer eigenen Analyse bewogen hatte. 15 Schützens Analyse ist hier besonders deshalb erwähnenswert, weil sich ihr, in spannungsvollem Gegensatz zu Searle, gleichsam ein »Nicht-Reduktionismus wider Willen« entnehmen läßt. Schütz hat zunächst nämlich keineswegs die Absicht, im Geringsten von Webers These abzurücken, daß sich Gemeinschaftshandeln auf einen Komplex wechselseitig aufeinander bezogener sozialer Handlungen von Individuen reduzieren läßt. Im Gegenteil, er nimmt zustimmend auf Weber Bezug 16 und scheint auf den ersten Blick das Moment der Gemeinsamkeit des gemeinsamen Musizierens nicht in einer irreduziblen gemeinsamen Intention, sondern in einer »wechselseitigen Beziehung des Sich-aufeinanderEinstimmens« verorten zu wollen. Das »Wir« des Gemeinschaftshandelns erscheint auf dieser Linie als Produkt reziproker »Ich-DuBeziehungen«. Nur innerhalb dieses Sich-aufeinander-Einstimmens werde »das ›Ich‹ und das ›Du‹ […] als ein ›Wir‹ in lebendiger Gegenwart erlebt«. Doch plötzlich kippen in Schützens Analyse des gemeinsamen Musizierens die Fundierungsverhältnisse. Das »Durchleben einer gemeinsamen lebendigen Gegenwart« ist, wie Schütz am Ende seines Aufsatzes sagt, nämlich nicht ein Produkt wechselseitiger Bezugnahme, sondern deren Voraussetzung. Das Wir-Erlebnis ist eine Bedingung dafür, daß wechselseitige Sicheinstimmensbemühungen überhaupt gelingen können: »Nur innerhalb dieses Erlebnisses wird das Verhalten des Anderen für den auf ihn eingestimmten Partner sinnvoll.« 17 Der Sinn des individuellen Verhaltens im Kontext von Gemeinschaftshandlungen ist auch für die Beteiligten nur im Ausgang vom Gemeinschaftshandeln zu bestimmen. Für Searle ist von vornherein klar: Der Versuch, gemeinsames Intendieren bzw. Handeln als Aggregation von aufeinander bezogenen Einzelhandlungen bzw. -absichten zu beschreiben, ist zum Scheitern verurteilt. In seinem eigenen Ansatz einer nicht-reduktionistischen Theorie der Wir-Intentionalität stützt sich Searle dabei stark auf eine Idee von Wilfrid Sellars. Sellars hat gezeigt, daß die im gemeinsamen Handeln bzw. Intendieren beteiligten individuellen Schütz, Alfred: Gemeinsam musizieren. Die Studie einer sozialen Beziehung [1951]. In: ders.: Aufsätze zur soziologischen Theorie. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2, Den Haag 1972, S. 129–150. 16 Schütz 1972, S. 147. 17 Schütz 1972, S. 149. 15
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Einzelhandlungen bzw. Intentionen – also das, was ich tue bzw. vorhabe wenn wir etwas vorhaben (mein Klavierspielen und Dein Singen anläßlich von unserem gemeinsamen Musizieren im Beispiel) – nicht als die konstitutive Grundlage der Wir-Intention verstanden werden darf. Die Wir-Intention ist keineswegs irgendwie »fundiert« in den beteiligten Einzelintentionen; hier liegt keinerlei »Emergenz« oder »Supervenienz« vor, sondern (und im Gegenteil): die individuellen Intentionen sind hier »we-derivative« 18 , d. h. abgeleitet von der gemeinsamen Intention. Ich begleite dich am Klavier und du singst, weil und insofern wir gemeinsam musizieren – und keinesfalls gilt das umgekehrte, daß wir musizieren, weil und insofern ich gerade Klavier spiele und es sich so trifft, daß du gerade den dazu passenden Part singst. Im Verhältnis zwischen den individuellen intentionalen Beiträgen und dem gemeinsamen Intendieren zeichnet sich damit schon ab, was im letzten Kapitel in Anlehnung an Gerda Walther als »Kopernikanische Wendung« bezeichnet worden ist. Das gemeinsame Intendieren ist kein Aggregat der individuellen intentionalen Beiträge; vielmehr sind die individuellen intentionalen Beiträge das, was sie sind, nur in Beziehung zum gemeinsamen Intendieren. Weder Searle noch Sellars sind die ersten, die einen solchen Nicht-Reduktionismus vertreten haben. Wie gesehen, ist er schon in der früheren phänomenologischen Diskussion engagiert diskutiert und z. T. vehement vertreten worden (vgl. dazu oben § 4). In diesem Diskussionskontext hat sich aber auch schon deutlich gezeigt, was das zentrale Problem des Nicht-Reduktionismus zu sein scheint. So überzeugend diese Ansätze in Argumentation und vor allem in der phänomenologischen Beschreibung sein mögen: Sobald es um die positive Darstellung einer nicht-reduktionistischen, einer alternativen Intentionalanalyse geht, scheinen diese Theorieansätze in die Nähe einer kollektivistischen Gruppensubjekt-Konzeption zu geraten. Searle selbst ist sich dieser ganzen Vorläuferdiskussion zwar leider nicht bewußt. Aber er hat das sachliche Problem, daß ein Nicht-Reduktionismus leicht in das Fahrwasser des Gruppensubjekts gerät, durchaus im Auge. Searle nimmt große Anstrengungen auf sich, Sellars, Wilfrid: On Reasoning About Values. In: American Philosophical Quarterly 17 (1980), S. 81–101, S. 99. Zu Sellars’ Theorie der Wir-Intentionalität vgl. auch ders: Imperatives, Intentions, and the Logic of ›Ought‹. In: Castaneda, Hector-Neri/Nakhnikian, George (Hrsg.): Morality and the Language of Conduct. Detroit 1965, S. 159–218; ders.: Essays in Philosophy and its History. Dordrecht 1974, S. 40 f.; ders.: Science and Metaphysics. Variations on Kantian Themes, Atascadero 1992, S. 215 ff.
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den Verdacht des Kollektivismus zu zerstreuen. Ebenso vehement, wie er seinen Anti-Reduktionismus vertritt, besteht er nämlich darauf, damit keineswegs in einer kollektivistischen »group mind«-Konzeption zu enden – solche Konzeptionen erscheinen Searle als »perfectly dreadful metaphysical excrescences« 19 , »at best mysterious and at worst incoherent« 20 . Searle glaubt nun, daß er mit seiner Konzeption den einzig gangbaren Weg zwischen der Skylla der Reduktion von kollektiver Intentionalität auf individuelle Intentionalität und reziprokes Umeinanderwissen einerseits und der Charybdis der kollektivistischen Stilisierung des »Wir« zum überindividuellen Makrosubjekt andererseits entdeckt habe. Searle erwähnt diese direkte Ahnschaft nicht, aber es scheint, daß der von ihm eingeschlagene Weg demjenigen entspricht, den schon Wilfrid Sellars vorgeschwebt hatte. Sellars, dem für die gegenwärtige analytische Debatte über kollektive Intentionalität eine ganz grundlegende Bedeutung zukommt, scheint an einer Stelle seines Aufsatzes On Reasoning about Value, in welchem er einen Begriff gemeinsamen Intendierens vorschlägt, die Problematik des Kollektivsubjekts zu streifen. »It must be carefully borne in mind«, sagt er hier, »that although the concept of a group intention and a group action is a perfectly legitimate one, the […] intentions we are considering are intentions had by individuals.« 21 Es sind, so Sellars und so dann im Anschluß an Sellars auch Searle, nicht Kollektive, sondern Individuen, die kollektive Intentionen bzw. Wir-Intentionen haben. Der Streich durch den gordischen Knoten der scheinbaren Alternative zwischen einem reduktionistischen Ansatz gemeinsamen Intendierens und einer Kollektivsubjektkonzeption besteht in einer (bei Sellars und Searle eher impliziten als expliziten) Unterscheidung zwischen zwei Formen von Individualismus: Abgelehnt wird der formale Individualismus: dies ist der Individualismus, dem zufolge jegliche Intentionalität letztlich von der Form »ich intendiere x« ist. Dieser Individualismus liegt dem Reduktionismus in der Theorie des gemeinsamen Intendierens zugrunde, und dieser Individualismus wird deshalb von Sellars und Searle zurückgewiesen. Andererseits enden Sellars und Searle nicht beim Kollektivsubjekt, weil sie an einer anderen Form des Individualismus bei allem Nicht-Reduktionismus unentwegt festhalten. Dieser zweite 19 20 21
Searle 1998b, S. 150. Searle 1990, S. 404; vgl. auch etwa Searle 1998a, S. 118. Sellars 1980, S. 98. A
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Individualismus besteht in der These, daß es stets und ausschließlich einzelne Individuen sind, die Intentionen haben: daß das Subjekt aller Intentionalität individuelles Einzelsubjekt (und kein Kollektivsubjekt) ist. In Unterscheidung vom formalen Individualismus kann man diesen Individualismus vielleicht den materialen (oder subjektiven) Individualismus nennen. 22 Alle Intentionalität, ob individuell oder kollektiv in der Form, so Searles methodologisch-individualistischer, anti-kollektivistischer Grundsatz, sei »im Kopf von Individuen«. Es gebe demgemäß keinen Gruppengeist, sondern nur Individuen, die aber eben nicht nur Ich-Intentionen, sondern daneben auch irreduzible Wir-Intentionen »haben«. Das individuelle Bewußtsein hat nach Searles Verhältnisregelung sozusagen ein Ich- und ein WirAbteil. Wir-Intentionen befinden sich im Kopf von Individuen, und sind weiter – gemäß der Prämisse des methodologischen Solipsismus – strukturell unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz von irgend etwas außerhalb dieses individuellen Geistes: 23 Anything we say about collective intentionality must meet the following conditions of adequacy: Constraint 1 It must be consistent with the fact that society consists of nothing but individuals. Since society consists entirely of individuals, there cannot be a group mind or group consciousness. All consciousness is in individual minds, in individual brains. Constraint 2 It must be consistent with the fact that the structure of any individual’s intentionality has to be independent of the fact of whether or not he is getting things right, whether or not he is radically mistaken about what is actually occurring. And this constraint applies as much to collective intentionality as it In der laufenden Debatte kursieren auch andere Begriffe für diese Form von Individualismus. Kay Mathiesen schlägt den Begriff »phenomenological individualism« vor, den ich aber für irreführend halte, weil die individualistische Form von Intentionen ja ebenfalls ein Moment des entsprechenden Phänomens ist (vgl. Mathiesen, Kay: Searle, Collective Intentions, and Individualism. In Meggle G. (Hrsg.): Social Facts and Collective Intentionality. Frankfurt a. M. 2002, S. 185–204). 23 Schon vor der Entwicklung seiner Theorie der kollektiven Intentionalität hat Searle viel Gewicht auf einen internalistischen Begriff des Geistes gelegt. Dabei geht es nicht nur um den methodologischen Aspekt; es ist deutlich, daß Searle seinen Internalismus durchaus ontologisch versteht: »ontologically speaking, behavior, functional role, and causal relations are irrelevant to the existence of conscious mental phenomena« (Searle, John R.: The Rediscovery of the Mind. Cambridge Mass. 1992, S. 69). 22
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does to individual intentionality. One way to put this constraint is to say that the account must be consistent with the fact that all intentionality, whether collective or individual, could be had by a brain in a vat or by a set of brains in vats. 24
Zu deutsch: Auch ein einzelnes »Hirn im Tank«, welches von einem Computer mit entsprechendem input an Sinnesdaten versorgt wird, kann nach Searle kollektive Intentionen haben. Die Existenz von Wir-Intentionen in unserem Bewußtsein verbürgt nicht die Existenz eines »Wir«, die tatsächliche Existenz anderer Subjekte, deren Intentionen mit den eigenen verflochten sind, kurz: Wir-Intentionen setzen keine Gruppe voraus. 25 Die Analyse gemeinsamen Intendierens wäre dieser (im folgenden zu bestreitenden) Ansicht zufolge mithin keineswegs schon per se Sozialontologie. Searle und Sellars scheinen zu glauben, daß man die beiden inakzeptablen Alternativen Reduktionismus und Kollektivismus nur vermeiden kann, indem man gemeinsame Intentionalität als etwas sieht, was auch ein einsames, verdrahtetes oder auch einfach in Träumen hängendes »Hirn im Tank« haben kann (unschwer ist im Gedankenkonstrukt des »Hirn im Tank« Descartes’ Gedankenexperiment mit dem genius malignus wiederzuerkennen bzw. Husserls These vom Bewußtsein als »Residuum der Weltvernichtung«). Das der Form nach kollektive Intendieren eines vereinzelten Bewußtseinssubjekts ist, diesem Begriff gemäß, kollektiv, und zwar ganz unabhängig »of the fact whether or not he is getting things right, whether or not he is radically mistaken about what is actually occurring.« Die Sicht des Mentalen, der Searle das Phänomen des gemeinsamen Intendierens einverleibt, wird seit den entsprechenden Arbeiten Jerry Fodors mit dem Titel des methodologischen Solipsismus belegt; ein anderer, dafür gebräuchlicher Begriff ist der Internalismus. 26 In Intentionality schildert Searle seinen Internalismus mit den folgenden Worten: »Even if I am a brain in a vat – that is, even if all of my perceptions and actions in the world are hallucinations, and the conditions of satisfaction of all of my exterSearle 1990, S. 406 f. In diese Richtung scheint auch Sellars zu deuten, wenn er in Science and Metaphysics betont, daß man auch dann als Mitglied einer Gemeinschaft denken kann, wenn diese Gemeinschaft gar nicht existiert (Sellars 1980, S. 225). 26 »Being in a state with specific cognitive content does not essentially involve standing in any real relation to anything external«, lautet die Definition des Internalismus nach Gabriel Segal (vgl. Segal, Gabriel M. A.: A Slim Book about Narrow Content. Cambridge Mass. 2000, S. 11). 24 25
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nally referring intentional states are, in fact, unsatisfied – nonetheless, I do have the intentional content that I have, (…) that I would have if I were not a brain in a vat and had that particular intentional content. That I have a certain set of intentional states (…) does not logically require that I be in fact in certain relations to the world around me (…).« 27 Man kann Searles Theorie der kollektiven Intentionalität m. E. von zwei Seiten her kritisieren. Die erste Seite greift Searles Annahme an, daß gemeinsam intendierende Individuen tatsächlich eine Intention der Form »wir intendieren x« im Kopf haben müssen. Diese Kritikrichtung zielt mithin auf die Gestalt, die Searle seiner formal nicht-individualistischen Theorie gibt. Die andere Kritikrichtung ist die, die hier verfolgt werden soll. Sie zielt umgekehrt auf Searles subjektiven Individualismus und setzt dabei bei der These von der strukturellen Unabhängigkeit kollektiver Intentionen von externen Vorgaben an, also bei Searles Internalismus. Ob »envatted brains« (also Hirne, die in einer computergenerierten Scheinwelt leben oder sonstwie »in Träumen hängen«) überhaupt möglich sind, ist in der philosophischen Literatur umstritten. 28 Dieser Fragekomplex kann hier aber offen bleiben. Worum es hier geht, ist nicht die klassische Skeptizismus-Problematik, sondern etwas viel Spezifischeres: die von Searle affirmativ beantwortete Frage, ob ein Hirn im Tank – wenn es denn möglich wäre – auch gemeinsame Intentionen haben könnte. Das ist eine Frage, die unabhängig ist von der Frage, ob Hirne im Tank im Sinne der skeptischen Position möglich sind. Viele Kritiker Searles’ halten seine These, daß kollektive Intentionalität mit den Vorgaben des Internalismus oder methodologischen Individualismus konsistent zu halten sei, für falsch, und sehen hierin die zentrale Schwäche von Searles’ Theorie der kollektiven Intentionalität. 29 Dabei muß nicht geleugnet werden, daß es PhänomeSearle 1983, S. 154. Die beiden wichtigsten Gegenargumente sind wohl diejenigen von Hilary Putnam und von Daniel Dennett. Putnams Argument läuft auf eine a-priori-Unmöglichkeit hinaus (vgl. Putnam, Hilary: Reason, Truth and History. Cambridge UK 1981). Dennetts Argument hingegen ist ein empirisches; es lautet, daß die Rechnerleistung, die für die Versorgung eines »envatted brain« notwendig wäre, jedes computertechnisch praktikable Maß schon nach kürzesten »Simulationssequenzen« übersteigen würde (vgl. dazu Dennett, Daniel C.: Consciousness Explained. Boston 1991). 29 Cf. Meijers, Anthonie W. M.: Speech Acts, Communication and Collective Intentionality. Beyond Searle’s individualism. Utrecht 1994; ders.: Dialogue, Understanding and Collective Intentionality. In: Meggle, Georg (Hrsg.): Social Facts and Collective Inten27 28
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ne gibt, die eine internalistische Position zu stützen scheinen. Ganz unbestritten dürfte nämlich sein, daß die Nichtexistenz einer Gruppe bzw. die Nichtexistenz anderer Gruppenmitglieder es Individuen nicht notwendigerweise verunmöglicht, zu glauben, gemeinsame Absichten, Überzeugungen oder Affekte zu haben. Man mag beispielsweise träumen oder halluzinieren, eine der Tänzerinnen in der zweiten Version von Henri Matisses »Tanz« zu sein (eine Reproduktion dieses Gemäldes ziert den Umschlag von Searles Construction of Social Reality). In einem solchen Traum mag man als Gruppenmitglied intendieren (die Intention haben, seinen individuellen Beitrag zum gemeinsamen Tanzen zu leisten), ohne daß deswegen die intendierende Gruppe existiert und ohne daß man in tatsächlichen Beziehungen zu irgendwelchen mitintendierenden Individuen steht. Weder die Mittänzerinnen noch die Gruppe existieren. In geringeren Täuschungsgraden kommen solche Ereignisse ganz alltäglich vor: Ich mache mich etwa als Chormitglied wie jeden Donnerstagabend auf den Weg zur Chorprobe (intendiere also mein Hingehen als meinen individuellen Beitrag zu unserem Zusammenkommen); rechtzeitig im Probelokal angekommen, finde ich mich allein im Raum. Da fällt mir wieder ein, daß die Chorprobe diese Woche ja ausfällt. Nur cum grano salis wird man sagen können, daß ich zwar als meinen Beitrag zum Gemeinschaftshandeln zur Probe erschienen bin, nur leider zu einem ungeeigneten Zeitpunkt. Denn eigentlich bin ich ja nicht zur Probe erschienen (obwohl ich gekommen bin, um zu proben). Ich bin zum Probelokal hingegangen so als hätten wir vor, uns zur Probe zu treffen. Solche Fälle lassen sich graduell bis zur rein imaginierten, real inexistenten Wir-Gruppe steigern. Daß solche Fälle konzeptuell möglich sind und real auch vorkommen, ist Searle natürlich klar, und er scheint in seiner Theorie tionality. Frankfurt a. M. 2002, S. 225–254; ders.: Can Collective Intentionality be Individualized? In: American Journal of Economics and Sociology 62 (2003), Special Invited Issue on John Searle’s Ideas about Social Reality, S. 167–183; Johannsson, Ingvar: Searle’s Monadological Construction of Social Reality. In: American Journal of Economics and Sociology 62/1 (2003), Special Invited Issue on John Searle’s Ideas about Social Reality, S. 233–256; Hornsby, Jennifer: Collectives and Intentionality. In: Philosophy and Phenomenological Research 57 (1997), S. 429–434; Waldenfels, Bernhard: Sozialontologie auf sozialbiologischer Basis. In: Philosophische Rundschau 45 (1996), S. 97– 112; Celano, Bruno: Collective Intentionality, Self-Referentiality, and False Beliefs: Some Issues Concerning Institutional Facts. In: Analyse und Kritik 21 (1999), S. 237–250; Turner, Stephen P.: Searle’s Social Reality. In: History and Theory 38 (1999), S. 216– 228, S. 216. A
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kollektiver Intentionalität stark auf sie abzustellen. Die Frage ist allerdings, was für einen Status diese Fälle in der Theorie kollektiver Intentionalität haben: Sollen wir sagen, daß die Intentionalität, die in solchen Fällen involviert ist, kollektive Intentionalität ist, die einfach auf eine bestimmte Weise fehlgeht – oder sollten wir nicht eher sagen, daß die Intentionalität, mit der wir es in diesen Fällen zu tun haben, von vornherein keine kollektive Intentionalität ist, obwohl wir sie subjektiv vielleicht tatsächlich nicht von kollektiver Intentionalität unterscheiden können? Searle tritt für die erste Alternative ein. Daß wir uns in unserer Wir-Intentionalität in der angegebenen Art und Weise täuschen können, bedeute: »the existence of collective intentionality does not imply the existence of collectives actually satisfying the content of that intentionality«. 30 Mit anderen Worten: Kollektive Intentionalität impliziert per se noch keine Kollektivität. Nun ist aber auch Searle klar, daß es sich bei den genannten Fällen einer sozusagen »nicht-kollektiven kollektiven Intentionalität« nicht um ein »normales« Fehlgehen von Intentionen gehen kann. Normalerweise gehen Intentionen fehl, wenn ihre Erfüllungsbedingungen nicht erreicht werden bzw. der intentionale Hintergrund zusammenbricht. Hier aber geht es um etwas anderes. Wenn ich vorhabe, zur Chorprobe zu gehen, es aber gar keinen entsprechenden Chor gibt (oder auch im moderateren Fall, in dem der Chor zwar real existiert, sich aber zum betreffenden Zeitpunkt nicht zur Probe trifft), geht meine Intentionalität auf andere Weise fehl als wenn ich beabsichtige, ein zerknülltes Stück Papier in den Papierkorb zu werfen, dabei aber versehentlich meinen Bürokollegen treffe. Das Fehlgehen besteht ja hier nicht einfach im Nichterreichen der Erfüllungsbedingungen. Wenn, um auf den Extremfall zurückzukommen, ein vereinzeltes Hirn im Tank die Intention »wir haben vor, einen Spaziergang zu unternehmen« hat, liegt das Fehlgehen dieser Intention nicht bloß darin, daß »wir« faktisch gar keinen Spaziergang unternehmen können. Ebenso liegt das Fehlgehen nicht bloß darin, daß die Hintergrundannahme, daß andere Subjekte für ein gemeinsames Tun verfügbar sind – also der »background sense for the other as a candidate for possible cooperation«, von dem Searle spricht – fehlgeht. 31 Das Fehlgehenkönnen, um das es hier geht, ist radikaler: Es betrifft weder die Voraussetzungen noch 30 31
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die Erfüllungsbedingungen, sondern direkt die Intention selbst: Ein Hirn im Tank hat in gewissem Sinn die Intention nicht, die es zu haben glaubt. Searle sieht klar, daß dieses spezifische und sehr radikale Fehlgehenkönnen der (internalistisch verstandenen) »kollektiven« Intentionen der Cartesianischen Annahme zuwiderläuft »that we cannot be mistaken about our intentions«. Während wir nach dem Cartesianischen Bild des Geistes die Intentionen, die wir zu haben glauben, nur schon deshalb auch tatsächlich haben, wenn wir glauben, sie zu haben, hat das »gemeinsam« intendierende Hirn im Tank offensichtlich nicht die Intention, die es zu haben glaubt (dazu mehr unten § 8). Dieses radikale Fehlgehenkönnen kollektiver Intentionalität zu akzeptieren sei aber, so die für seine Verhältnisse ungewohnt moderate und abwägende Einschätzung Searles, nun einmal der »price to pay« für das erfolgreiche Umschiffen der beiden inakzeptablen Alternativen »individualistischer Reduktionismus« und »Kollektivsubjektkonzeption«. 32 Dabei darf man annehmen, daß es Searle umso leichter fällt, diesen »Preis« zu bezahlen, als es für ihn eigentlich gar kein wirklicher Preis ist, weil er nämlich die Cartesianischen Infallibilitäts- und Transparenzunterstellung sowieso für falsch hält – schon im Fall individueller Intentionen. Auch individuelle Intentionen seien keineswegs absolut gewiß, denn wir können uns auch über individuelle Intentionen täuschen – aus Selbsttäuschung, einer Selbstfehldeutung oder auch aus schierer Unaufmerksamkeit unserem eigenen Bewußtsein gegenüber. 33 Warum dies also
Searle 1998b, S. 150. In Mind, Language, and Society führt die Cartesianische These von der besonderen Gewißheit unserer Bewußtseinszustände die Liste der »mistakes about consciousness« an (Searle 1998a, S. 69 ff.). Man könne, so Searle, entgegen der Cartesianischen Annahme gleich in mehrerlei Hinsicht über die Inhalte des eigenen Bewußtseins im Irrtum sein. Die erste Hinsicht ist die reine Selbsttäuschung: es kann beispielsweise sein, daß wir uns selbst nicht zugestehen, gewisse Gefühle zu haben. Die zweite Weise, über unseren eigenen Intentionen im Irrtum zu sein, ist die Fehlinterpretation: so können wir etwa ein momentanes Hingezogensein zu jemandem für Liebe halten. Die dritte Hinsicht spricht aus dem Ausbleiben der Ausführung einer vermeintlichen Absicht. Das Ausbleiben eines Verhaltens kann aus »weakness of the will« erfolgen; es kann uns aber manchmal auch deutlich machen, daß wir die Absicht, die wir zu haben glaubten, tatsächlich gar nicht hatten. Die vierte und letzte Hinsicht schließlich erwächst aus schierer Unaufmerksamkeit unserem eigenen Bewußtsein gegenüber. Wir können etwa glauben, immer noch dieselben politischen Ansichten zu haben wie früher, wenn wir in Tat und Wahrheit, ohne uns dessen innegeworden zu sein, längst eine ganz andere Position einnehmen. 32 33
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nicht gleich auch für den Fall kollektiver Intentionen zugeben? Ein wirklicher Verzicht geht damit nicht einher. Damit steht für Searle fest: Die Nichtexistenz eines entsprechenden Kollektivs ist letztlich nichts anderes als eine weitere (wenn auch etwas besondere) Weise, wie unsere (»kollektive«) Intentionalität fehlgehen kann – nichts was die Struktur unserer Intentionalität selbst betrifft. Wie viele von Searles Kritiker halte ich diese Ansicht für falsch. Es scheint, daß Searle durch seine konzeptuelle Beschränkung kollektiver Intentionalität auf den Inhalt des Individualbewußtseins (also durch seinen subjektiven Individualismus bzw. seinen Internalismus) ein ganz entscheidendes Strukturmoment kollektiver Intentionalität übersieht. Nehmen wir Searle um des Arguments willen einmal beim Wort: auch kollektive Intentionalität »could be had by a brain in a vat or by a set of brains in vats«. 34 Überprüfen wir diese Aussage am Beispiel von Anna und Berta – auch wenn wir leider zu diesem Zweck deren gemeinsame Wanderung ein reichlich makaberes Ende finden lassen müssen. Nehmen wir an, Anna und Berta sind längst gemeinsam unterwegs. Sie nähern sich inzwischen dem Höhepunkt ihrer Wanderung, einem nahen Gipfel. Nun lauert ihnen aber hinter einem Felsblock jene Figur auf, die in der einschlägigen philosophischen Literatur in der Regel für die Existenz von eingetopften Hirnen verantwortlich gemacht wird: der berüchtigte böse Wissenschaftler (das moderne Äquivalent von Descartes’ genius malignus). Folgendes passiert: Der böse Wissenschaftler anästhesiert Anna, und während Berta, laut um Hilfe rufend, dem Schauplatz des haarsträubenden Tuns so schnell enteilt wie sie nur kann, entnimmt er Annas Hirn, legt es in einen mit Nährlösung gefüllten Topf und verbindet es auf geeignete Weise mit einem Computer. So verdrahtet versorgt der Computer Annas Hirn mit dem nötigen input, sodaß Anna den Eindruck hat, einfach weiterhin gemeinsam mit Berta dem Gipfel zuzustreben (bzw. individuell dem Gipfel zuzustreben als ihren Beitrag zum gemeinsamen Wandern). Anna hat von den zwischenzeitlichen Ereignissen nichts mitgekriegt; sie wird vom Computer insbesondere mit den afferenten Reizen versorgt, die sie glauben lassen, daß Berta weiterhin neben ihr hergeht etc., ganz so, als wäre nichts geschehen. Ganz gemäß den internalistischen Vorgaben Searles hat Anna immer noch Intentionalität der Form »Wir wandern dem Gipfel zu« bzw. 34
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Searle 1990, S. 407.
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»Ich strebe dem Gipfel zu als mein Beitrag zu unserem gemeinsamen Wandern«, genau wie vor der Intervention des bösen Wissenschaftlers. Annas Intentionalität ist, wie es scheint, völlig unverändert – sowohl in Subjekt, intentionalem Modus als auch bezüglich des intentionalen Gehalts. Es ist immer noch Annas Intentionalität (und nicht z. B. die des Programmierers des Computers), sie ist immer noch im Modus der praktischen Handlungsabsicht, und sie ist, wie es scheint, immer noch auf das Ziel »gemeinsame Besteigung des Gipfels« gerichtet. Wenn wir überhaupt Searles Prämisse akzeptieren, daß kollektive Intentionalität kollektiv in der Form ist (also von der Form »wir intendieren x« statt von der individuellen Form »ich intendiere x«), scheint es prima vista tatsächlich keinen Grund zu geben, Anna in ihrem Topf Intentionalität dieser Form abzusprechen. Und gewiß wird Anna, wenn es überhaupt Sinn macht, ihr noch Intentionalität zuzuschreiben, auch immer noch Intentionalität haben, die kollektiv im Gehalt ist, die also Kollektivität oder Gemeinsamkeit im Inhalt hat (auch wenn es das entsprechende Kollektiv nicht – oder nicht mehr – wirklich gibt). Bevor man aber aufgrund dieser Tatsachen mit Searle auf einen Begriff kollektiven Intendierens einschwenkt, für den tatsächliche Kollektivität nur noch akzidentiell ist, gilt es folgendes zu beachten: Schon rein aus der Semantik der entsprechenden Begriffe folgt, daß Anna in ihrem Topf keine tatsächlich kollektive Intentionalität, keine faktisch gemeinsamen oder geteilten Absichten (shared intentions) mehr hat – trotz aller Kollektivität in Form und Inhalt! Was auch immer Anna in ihrem Topf denkt zu beabsichtigen glaubt – sie teilt die Absicht, den Gipfel zu besteigen, nicht mehr wirklich mit Berta; es ist keine real gemeinsame Absicht mehr. Es ist insofern offensichtlich (und trivialerweise wahr), daß die faktische Kollektivität bzw. Gemeinsamkeit von Intentionalität – das Geteiltsein von Intentionen – keine Angelegenheit von Form oder Inhalt der Intentionalität eines einzelnen Individuums ist. Die Frage, die sich als nicht-trivial herausstellen wird, ist allerdings: Was ist es genau, was Anna in ihrem Topf und Berta fehlt, um gemeinsame bzw. kollektive Intentionen zu haben? Obwohl dies für die Theorie der kollektiven Intentionalität gewiß keine marginale Frage ist, scheint Searle an ihr völlig desinteressiert zu sein. 35 Searle begnügt sich damit, zu identifizieren, was im Kopf der einzelnen vorgeht, wenn sie gemeinsame Absichten, Über35
Cf. zu dieser Kritik etwa Bratman 1999, S. 116; 145. A
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zeugungen und vielleicht auch Affekte haben. Die Frage nach den geeigneten interindividuellen Beziehungen bleibt bei ihm außen vor. Diese Beziehungen sind schlicht kein Thema. Immerhin scheint klar zu sein, daß sich in Searles internalistischem Theoriesetting eine ganz bestimmte Antwort auf die Frage, warum die Intentionalität von Annas »Hirn im Topf« nicht mehr tatsächlich kollektive oder gemeinsame Intentionalität ist, nahelegt. Als nämlich Anna und Berta ihre Absicht, den Gipfel zu besteigen, tatsächlich teilten (also vor der Intervention des bösen Wissenschaftlers), hatten beide – sowohl Anna als auch Berta – die (Wir-)Intention, den Gipfel zu besteigen (bzw. die Absicht, den Gipfel individuell als ihren Beitrag zum Gemeinschaftshandeln zu besteigen). Nach der Intervention des bösen Wissenschaftlers sieht die Sache nun anders aus: Jetzt (wir-)intendiert nur noch Anna den Aufstieg. Berta hat ihrerseits keine solche Intention mehr. Sie hat jetzt nämlich etwas ganz anderes vor: nämlich möglichst schnell ins Dorf im Tal zu gelangen, um Hilfe zu holen. Betrachtet man die Situation durch die Searlesche individualistische Brille, scheint die Antwort auf die Frage, was der Intentionalität, die Anna in ihrem eingetopften Hirn hat, fehlt, um gemeinsame Intentionalität genannt werden zu können, in Bertas Kopf gefunden werden kann. Soll (Wir-)Intentionalität gemeinsam bzw. kollektiv sein, reicht es nicht, wenn jemand eine Wir-Intention (bzw. eine wirderivative individuelle Intention) der geeigneten Art hat. Alle Teilnehmenden müssen, so mag es scheinen, die entsprechende Intention haben. Weil diese Bedingung nach der Intervention des bösen Wissenschaftlers nicht mehr erfüllt ist, ist die Intentionalität, die Anna in ihrem Topf hat, nicht mehr tatsächlich kollektive Intentionalität (obwohl sie in Form und Inhalt völlig unverändert ist). So naheliegend und intuitiv einleuchtend diese Antwort erscheinen mag: sie ist falsch. Nehmen wir zur Verdeutlichung des hier Fraglichen an, die Geschichte von Anna, Berta und dem bösen Wissenschaftler geht folgendermaßen weiter: Nachdem der böse Wissenschaftler mit Anna fertig ist, läßt er sie in ihrem Tank und mit ihrem Computer zurück und nimmt die Verfolgung von Berta auf. Auf halbem Weg zum Tal holt er sie ein. Er anästhesiert auch sie, legt ihr Hirn in einen Tank und verbindet auch dieses Hirn mit einem Computer. Berta vergißt alles, was passiert ist, seitdem der böse Wissenschaftler erstmals die Szene betreten hat. Und ihr Hirn wird mit dem geeigneten input versorgt, sodaß sie der Überzeugung ist, weiterhin neben Anna dem Gipfel zuzustreben und Intentionalität der Art 198
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»Wir streben dem Gipfel zu« oder »ich strebe dem Gipfel zu als mein Beitrag zu unserer gemeinsamen Wanderung« o. dgl. hat. Auch für sie ist nun alles so, als wäre der böse Wissenschaftler nie aufgetaucht. Gehen wir nun zurück zu Anna, deren Hirn weiter oben am Berg immer noch in seinen computerinduzierten Träumen hängt. Entsprechend der internalistischen Sicht, wie sie eben dargestellt worden ist, müßten wir nun sagen, daß Annas Intentionalität in dem Moment, in dem der böse Wissenschaftler weiter unten Bertas Computer angeschaltet hat (und Berta dementsprechende Intentionen gebildet hat), wieder tatsächlich gemeinsame bzw. kollektive Intentionalität geworden ist. Denn jetzt gilt wieder – wie vor der Intervention des bösen Wissenschaftlers:Sowohl Anna wie auch Berta haben Intentionalität der Form »wir streben dem Gipfel zu« bzw. »ich strebe dem Gipfel zu als mein Beitrag zu unserer gemeinsamen Gipfelbesteigung«. Aber ist dies auch richtig? Haben Anna und Berta, in ihren jeweiligen Tanks, tatsächlich eine gemeinsame bzw. geteilte Intention, den Gipfel zu besteigen? Mir scheint diese These völlig unplausibel. Daß zwei Bewußtseinssubjekte unabhängig voneinander zufällig einander entsprechende Intentionen haben macht ihre Intentionalität nicht zur gemeinsamen Sache. Wenn gemeinsame Intentionalität nicht eine Sache eines Einzelbewußtseins ist, ist sie auch nicht eine Sache dessen, was im Binnenbereich verschiedener Einzelsubjekte stattfindet. Um sich über das tatsächliche Geteiltsein bzw. den gemeinschaftlichen Charakter zu informieren, reicht es nicht, nur das in Betracht zu ziehen, was im monadischen, intentional-mentalen Binnenraum der beteiligten Einzelsubjekte geschieht. Wer nur zur Kenntnis nimmt, was Anna und Berta denken, wird nicht herausfinden, ob Anna und Bertas (Wir-)Intentionalität tatsächlich gemeinsam ist oder nicht. Wie in der kritischen Auseinandersetzung mit Searle insbesondere von Anthonie W. M. Meijers deutlich gemacht worden ist, ist die Gemeinsamkeit von Intentionalität nicht eine Angelegenheit des Binnenraums des Einzelbewußtseins, und auch nicht der verschiedenen mentalen Binnenräume der verschiedenen Bewußtseinssubjekte, sondern eine Angelegenheit der Beziehungen, der Relationen zwischen diesen »Bewußtseinssubjekten«, jedenfalls etwas »[that] transcend[s] the boundaries of […] the ›brain in a vat‹«. 36 Gemeinsames Intendieren ist in diesem Sinn kein subjektives, 36
Meijers 1994, S. 7. A
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sondern ein durch und durch relationales Phänomen. Es ist Relation. Die Frage ist dann, was für eine Art von Relation gemeinsames Intendieren näherhin ist. Was für eine Art von ›Verbindung‹ muß zwischen den isolierten »Hirnen im Tank« hergestellt werden, damit von einer eigentlichen Gemeinsamkeit ihrer Intentionalität gesprochen werden kann? Ich werde an dieser Stelle nicht versuchen, eine direkte Antwort auf diese Frage zu geben, sondern beschränke mich zunächst auf eine Auseinandersetzung mit jener Position, die ich für die diesbezüglich avancierteste in der Diskussion rund um Searles Theorie der kollektiven Intentionalität halte. Anthonie W. M. Meijers kritisiert Searles internalistischen Ansatz kollektiver Intentionalität im Namen einer ebenso nicht-reduktionistischen, aber zusätzlich auch relationalen Alternative. Eingeflochten in diese Kritik findet sich gleichzeitig eine Kritik an Searles Kognitivismus in der Theorie der kollektiven Intentionalität im Namen eines normativistischen Ansatzes. Dies sind zunächst zwei verschiedene Aspekte der Kritik. In der ersten Hinsicht geht es um die Frage, ob die Existenz kollektiver Intentionalität mit dem methodologischen Solipsismus bzw. Internalismus kompatibel ist (Searle meint, wie oben gesehen, ja; ein radikal relationaler Ansatz in der Theorie der kollektiven Intentionalität, wie er Meijers vorschwebt, beantwortet diese Frage demgegenüber negativ). In der zweiten Hinsicht geht es dagegen um die Frage, ob gemeinsame Intentionen per se so etwas wie normative Festlegungen bzw. Verpflichtungen (commitments) und Berechtigungen (entitlements) implizieren. Am Beispiel illustriert: Wenn Anna und Berta gemeinsam vorhaben, den Gipfel zu besteigen: Sind beide dann dazu normativ verpflichtet, ihren Teil zu tun, bzw. dazu berechtigt, die andere zurechtzuweisen, wenn sie ihren Teil nicht beiträgt, oder fließt aus der kollektiven Intentionalität allein noch keine Normativität? Die diesbezüglichen »extremsten« Gegenpositionen werden in der gegenwärtigen Debatte durch Margaret Gilbert einerseits und John Searle andererseits markiert. Wiederum am Beispiel illustriert: Wenn von A und B gilt, daß sie gemeinsam einen Spaziergang machen (und nicht bloß zur selben Zeit dieselbe Wegstrecke individuell entlangspazieren), dann ist es für Gilbert wesentlich die Verpflichtung der beiden, ihren Teil beizutragen (und nicht beispielsweise einfach plötzlich davonzurennen oder ein Taxi herbeizuwinken und den Anderen kommentarlos stehenzulassen), welche diese Gemeinsamkeit ausmacht. Und dieser Verpflichtung entspricht die Berechtigung des Anderen, 200
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jene Seite, die ihren Teil zum gemeinsamen Tun nicht erbringt, zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn also B während des gemeinsamen Spaziergangs plötzlich einfällt, daß sie zuhause den Wasserhahn offengelassen hat, muß sie dies gemäß dem Gilbertschen Bild des Gemeinschaftshandelns gegenüber A als Entschuldigungsgrund für ihr Ausscheren aus dem gemeinsamen Tun geltend machen, bevor sie nachhause rennt. Auf der anderen Seite gerät man nach dem Gilbertschen Bild auch nicht einfach spontan ins Gemeinschaftshandeln hinein. Für Gilbert ist ja, wie oben (§ 2) gesehen, ein Moment der »Zustimmung« zum Gemeinschaftshandeln wesentlich (auch wenn nach Gilbert diese Zustimmung nicht freiwillig erfolgt sein muß). In diesem Sinne sind commitments, entitlements und die entsprechenden obligations für Gilbert konstitutiv für gemeinsames Handeln. Es gibt ihr zufolge kein Gemeinschaftshandeln ohne diese minimale normative Infrastruktur. Die Searlesche Sicht bildet den kognitivistischen Gegenpart zu Gilberts normativistischem Bild. Auf die gegebene Situation bezogen: Für Searle ist keine wie auch immer implizite normative Übereinkunft notwendig, um gemeinsam spazierenzugehen. Man könnte sich etwa vorstellen, daß A und B ursprünglich ganz unabhängig voneinander die Gewohnheit entwickelt haben, Sonntag nachmittags eine bestimmte Strecke zu gehen. Da man einander dabei meistens begegnete, und die Gesellschaft des Anderen zu schätzen begann, ist aus dem individuellen Spazierengehen einfach nach und nach etwas ganz anderes, nämlich etwas genuin Gemeinsames geworden, freilich ohne daß hierbei irgendeine noch so implizite Verabredung ins Spiel gekommen wäre. Da ist nichts normativ Bindendes in der Gemeinsamkeit des Unternehmens. Für die Beteiligten stellt sich die Sache folgendermaßen dar: A, der etwas weiter weg wohnt, macht sich jeweils zur üblichen Zeit auf den Weg. Läuft alles normal, trifft er B vor dessen Haus, und die beiden gehen gemeinsam weiter. Wenn, wie es durchaus vorkommt, B einmal nicht bereitsteht, wartet A vielleicht einen Moment auf ihn; aber er klingelt weder an der Haustür, noch verlangt er am nächsten Sonntag, wenn er B wie gewohnt wieder trifft, von B eine Erklärung. Er geht dann halt allein statt gemeinsam spazieren. A hat einfach nicht das Gefühl, daß B ihm eine Erklärung schuldet – ebensowenig wie B sich zur Nachfrage berechtigt fühlt, wenn A einmal nicht kommt. Und wenn A oder B an einem Sonntag verhindert sind, fühlen sie sich nicht gehalten, den anderen davon in Kenntnis zu setzen. Nur schon der Gedanke, den anderen A
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anzurufen, liegt den beiden denkbar fern. Das gemeinsame Tun von A und B – wenn es denn wirklich ein gemeinsames ist – ist diesem Bild gemäß beschränkt auf kognitive Haltungen, also etwas, in dem normative Einstellungen – Verpflichtungen, Ansprüche auf Erklärungen und derlei Phänomene – schlicht keine Rolle spielen. Für Meijers’ Kritik an Searles Theorie der kollektiven Intentionalität ist bezeichnend, daß er die beiden Problembereiche – jenen rund um Searles Internalismus und jenen rund um Searles Kognitivismus – für intern verbunden hält. Nach Meijers’ Ansicht ist das kognitivistische Bild kollektiver Intentionalität (welches er für ein Zerrbild zu halten scheint) nämlich eine direkte Konsequenz von Searles Internalismus bzw. der spezifischen Searleschen individualistischen Beschränkung der Theorie der kollektiven Intentionalität. Wer von Searles Internalismus nicht reden wolle, müsse konsequenterweise auch über seinen Kognitivismus schweigen. Das bedeutet auch: Der »radikal relationale« Ansatz, der Meijers vorschwebt, muß auch ein normativistischer Ansatz sein. »Cognitive attitudes are not sufficient to explain the sharing of intentionality. Normative attitudes have to be part of the analysis.« Denn in Meijers’ Sicht, welche derjenigen Gilberts entspricht, ist es notwendigerweise der »act of agreeing« (welcher als solcher natürlich normative Konsequenzen hat), der am Ursprung kollektiver Intentionalität steht. 37 Für Meijers ist es dementsprechend die Analyse der normativen Implikationen gemeinsamen Intendierens, die uns dazu zwingt, mit der Searleschen kognitivistischen Beschränkung auch den Searleschen Internalismus aufzugeben und damit zu einem zugleich normativistischen wie relationalen Ansatz aufzubrechen. 38 Meijers’ Argument ist dabei, daß es die normativen Aspekte gemeinsamen Intendierens sind, die sich dem Searleschen, internalistisch beschränkten Blick entziehen. Ein Hirn im Topf mag immer noch glauben, in einem Einverständnis (agreement) mit jemandem zu sein bzw. zu handeln; es ist aber nicht mehr tatsächlich in einem Einverständnis. Searles Ansatz, der die Analyse kollektiver Intentionalität auf den Binnenbereich dessen beschränkt, was im isolierten Einzelbewußtsein vorgeht (und der darum den Unterschied zwischen einem »Hirn im Topf« und einem Bewußtseinssubjekt, welches in tatsächlichen Beziehungen zu Anderen steht, ignoriert), bleibt damit 37 38
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Meijers 1994, S. 89; cf. ebd. S. 104 ff.; 143. Vgl. Meijers 2003, S. 176; 167.
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blind für die Differenz zwischen dem Fall, in dem jemand tatsächlich in einem Einverständnis mit jemand anderem steht, und dem davon doch beträchtlich unterschiedenen Fall, in dem jemand bloß meint, in einem Einverständnis zu stehen. Rein im Blick auf das, was jemand denkt, also unabhängig von den Beziehungen, in denen jemand steht, läßt sich nicht sagen, ob jemand in einem tatsächlichen Einverständnis steht oder bloß meint, in einem Einverständnis zu stehen. Da aber für kollektive Intentionalität bzw. Gemeinschaftshandeln ein tatsächliches (und nicht bloß ein vermeintliches) Einverständnis erforderlich ist, kann eine internalistisch beschränkte Theorie der Eigenart kollektiver Intentionalität nicht Rechnung tragen. 39 Soweit die Argumentation von Meijers. Mir scheint sie überzeugend zu sein, soweit sie sich kritisch gegen Searles Internalismus richtet. Aber ich sehe nicht, weswegen die Differenz, auf die es ankommt – der Unterschied zwischen »x« und »meinen, daß x« – spezifisch sein sollte für die normativen Aspekte kollektiver Intentionalität. Es scheint, daß dasselbe Argument auch innerhalb eines rein kognitivistischen Bildes kollektiver Intentionalität Gültigkeit hat. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die in der Wolle gefärbten Searleaner A und B. Für sie involviert, wie oben gesehen, ihre gemeinsame sonntägliche Spazierengehensabsicht keinerlei normative Einschlüsse. Sie beabsichtigen wie üblich, gemeinsam spazieren zu gehen; aber sie legen sich weder normativ auf ihr Beitragen fest noch fühlen sie sich im Fall des Nichterscheinens oder eines sonstigen vom gemeinsamen Tun abweichenden Verhaltens des anderen im geringsten berechtigt, nach einer Erklärung dieses Verhaltens zu fragen. In diesem Fall gibt’s statt eines gemeinsamen Spaziergangs einfach einen individuellen Spaziergang. Die Intentionalität, die beim gemeinsamen Spazierengehen involviert ist, ist somit strikt auf rein kognitive Aspekte beschränkt. Aber obwohl hier keine normativen Festlegungen und Berechtigungen eine Rolle spielen, macht es immer noch einen Unterschied, ob A nur glaubt, mit B gemeinsam unterwegs zu sein (tatsächlich aber träumt, halluziniert oder aber unbemerkt vom bösen Wissenschaftler eingetopft worden ist), oder ob A tatsächlich mit B gemeinsam unterwegs ist. Das heißt, die Differenz, die Meijers gegen Searle einklagt, ist nicht spezifisch für »normativ aufgeladene« Formen gemeinsamer intentionaler Aktivität. Wenn Searle keine Rechenschaft der (allfälligen) normativen Aspekte kol39
Vgl. Meijers 2003, S. 179. A
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lektiver Intentionalität geben kann, so kann er dies ebensowenig bezüglich der rein kognitiven Aspekte. So scheint es also keineswegs notwendig zu sein, eine Verbindung zwischen den beiden Punkten zu sehen, welche Meijers gegen Searle vorbringt. Es ist nicht notwendig, eine normativistische Sicht kollektiver Intentionalität zu akzeptieren, um Sinn aus Meijers’ Ratschlag zu machen, Searles Internalismus zugunsten eines »radical relational approach« aufzugeben. 40 Was die Frage nach dem Verhältnis von kollektiver Intentionalität und sozialer Normativität anbelangt, so scheint mir sowohl die normativistische wie die kognitivistische Position falsch zu liegen. Die »Blindheiten« liegen hier je komplementär. Die Hauptschwäche der normativistischen Position ist wohl, daß sie Gemeinschaftshandeln bzw. kollektive Intentionalität aus dem Hut von so etwas wie »Verabredung« bzw. »Übereinkunft« (agreement) zu ziehen vorgeben muß – wo doch gleichzeitig klar ist, daß jede Verabredung bzw. Übereinkunft selbst eine Gemeinschaftshandlung ist, mithin also kollektive Intentionalität schon voraussetzt. 41 Jeder Akt der Zustimmung ist ein Spielzug innerhalb einer gemeinsamen intentionalen Aktivität, wohingegen aber umgekehrt nicht jede Gemeinschaftshandlung so etwas wie Zustimmung voraussetzt. (Man denke an das Beispiel des gänzlich »spontanen« Zusammenwachsens der individuellen Wandervorhaben von Anna und Berta zu einem gemeinsamen Wandervorhaben. Niemand hat hier zu irgendwas eine Zustimmung Dies zumal zweifellos eine Menge rein kognitiver Komponenten im gemeinsamen Intendieren involviert sind. Um zum Fall von Anna und Berta zurückzukehren: was für eine Art von Verbindung müßte zwischen den beiden bestehen, damit gesagt werden könnte, daß sie gemeinsam intendieren? Es scheint, daß eine Menge von Täuschung bzw. falschen Überzeugungen verträglich ist mit gemeinsamer Intentionalität. A und B müssen nicht in Beziehung mit ihrer tatsächlichen Welt stehen, um gemeinsame Intentionen zu haben. Es gibt einen Sinn, in dem man von »envatted brains« sagen kann, daß sie gemeinsame Intentionen haben: nämlich dann, wenn die Quellen des inputs an afferenten Reizen der beiden Hirne (also Annas und Bertas Computer) so verbunden sind, daß Anna glaubt, daß Berta tut, was Berta zu tun glaubt, weil Berta dies glaubt, und umgekehrt. Dies ist eine rein kausale Relation (»The Matrix« bietet eine lebendige Illustration gemeinsamen Intendierens durch geeignet verbundene »envatted brains« – und damit eine Art kollektivierte und modernisierte Version des Descartesschen genius malignus-Gedankenexperimentes). 41 Dies gilt zumindest dann, wenn agreement mehr (oder etwas anderes) sein soll als faktische Übereinstimmung. Daß dies der Fall ist, ist leicht einzusehen: daß A und B dasselbe denken und beabsichtigen, bedeutet noch nicht, daß sie dies auch gemeinsam tun. 40
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gegeben noch sich vielleicht überhaupt Gedanken darüber gemacht, ob man einem gemeinsamen Wandern, wenn es denn zur Entscheidung käme, überhaupt zustimmen würde; und trotzdem wandern die beiden irgendwann gemeinsam.) 42 Insofern gehe ich mit Searle (bzw. mit Tuomela 43 ) einig: Kollektive Intentionen implizieren per se noch keine soziale Normativität (im Sinne von normativen Festlegungen, Berechtigungen bzw. Verpflichtungen). Gleichzeitig finde ich die Searlesche Sicht der Dinge, das Bild völlig normativitätsfreien Gemeinschaftshandelns, so wie es oben anhand der Sonntagsspaziergängerinnen dargestellt wurde, ebenfalls reichlich schief. (Searle hält den Bereich des rein kollektiv intentionalen Handelns sorgfältig von Normativität frei, um diese Normativität exklusiv dem höherstufigen Verhalten der Sprachverwendung vorzubehalten. Die Ansicht, daß so etwas wie commitment erst mit der sprachlich vermittelten Interaktion ins Spiel kommt, teilt er mit seinen intersubjektivistischen Kritikern; diese Sicht wird unten in § 15 ausführlich dargestellt und kritisiert werden). Kollektiv intentionales Verhalten setzt weder soziale Normativität voraus, noch kann es umgekehrt völlig normativitätsfrei bleiben. Schon das oben skizzierte Beispiel der in der Wolle gefärbten Searleanerinnen scheint fast undenkbar zu sein ohne beispielsweise anzunehmen, daß die beiden hardcore-libertarians sind, ohne daß sich also zwischen ihnen eine normativ einklagbare Übereinkunft etabliert, daß aus dem Nichterscheinen des anderen kein Anspruch auf Erklärungen o. dgl. erwächst, also ohne ein normatives Einverständnis bezüglich des nicht-verpflichtenden Charakters des gemeinsamen Tuns. Das kann sich auch ohne explizite Verabredung so ergeben; beispielsweise mögen die beiden Ayn Rand als Lieblingsautorin schätzen und dies auch voneinander wissen, und die entsprechenden normativen Überzeugungen auch auf ihr gemeinsames Spazierengehen beziehen. Für den Standardfall ist es aber eine soziologisch gut erhärtete Tatsache, daß gemeinsame intentionale Aktivitäten, wenn sie auch inhärent nicht normativ sein mögen, im Wiederholungsfall zur »Normativierung« neigen. Von der bloßen Gewohnheit zum Brauch und weiter über die Sitte bis zur eigentEin oben schon kritisierter Nebeneffekt einer normativistischen Sicht ist zudem, daß sie Gemeinschaftshandeln auf sprach- bzw. symbolisierungsfähige Wesen beschränkt; eine Limitierung, die prima vista alles andere als plausibel ist. 43 Vgl. Tuomela, Raimo/Tuomela, Maj: Acting as a Group member. In: Protosoziologie 18 (2004), S. 7–65. 42
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lichen sozialen Norm bzw. anerkannten Moral sind es nur kleine, in beliebiger Abstufung zurückzulegende Schritte. 44 All dies liegt auf einem Kontinuum. Es ist fast unvermeidlich, daß sich den anfänglich rein kognitiven Erwartungen der Beteiligten nach und nach normative Elemente zugesellen. Es ist mithin empirisch selten, nicht aber begrifflich unmöglich, daß soziale Normativität beim gemeinsamen Tun außen vor bleibt. Jede Gemeinschaftspraxis tendiert zur Normativierung, es sei denn, dies werde durch eine implizite oder explizite Übereinkunft – also eine Art gegenläufiger Normativität – ausgeschaltet. Wenn Anna und Berta sich gegenseitig als glühende Verehrerinnen der libertären Bewegung kennen, werden sie davon ausgehen können, daß die je andere sich gegen irgendwelche Normativierungen auf sie gerichteter Erwartungen verwahren und sich auch selbst davor hüten wird. Die Vermeidung von normativen Selbstfestlegungen und wechselseitigen Ansprüchen ist dann aber normativ ausgeschlossen. Insofern spielen auch hier commitments, entitlements und obligations eine Rolle: das commitment zu NichtNormativierung des gemeinsamen intentionalen Tuns, das entsprechende entitlement der beiden Individuen, auf abweichende, einem normativierten Verständnis entspringende Verhaltensweisen (wie etwa dem Nachfragen bei Nichterscheinen) mit entrüsteter Zurückweisung zu reagieren, und die Verpflichtung, selbst auf ein solches Verhalten der anderen gegenüber zu verzichten. Wenn Searle betont, daß aus der bloßen Wiederholung kollektiv intentionaler Aktivitäten keine normative Festlegung und keine wechselseitigen Ansprüche bzw. Verpflichtungen resultieren, so mag es dafür Beispiele geben – aber diese Beispiele werden in der Regel ihrerseits wiederum auf normative Rahmenbedingungen ähnlich den im obigen Beispiel genannten zurückverwiesen bleiben. Sollen kollektive intentionale Aktivitäten dauerhaft normativitätsfrei ablaufen, muß dies selbst normativ abgesichert werden. In diesem Sinn sind dann auch diese kollektiv intentionalen Aktivitäten nicht frei von normativen Festlegungen und wechselseitigen Berechtigungen. Kollektiv intentionale Aktivitäten brauchen nicht inhärent normativ zu sein; aber alles kollektiv intentionale Tun tendiert im Wiederholungsfall zur Normativierung. Dabei handelt es sich um eine empirische Tatsache – aber eine, die wohl durchaus einen Fuß in der Vgl. dazu etwa Geiger, Theodor: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Kopenhagen 1947.
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Strukturlogik gemeinsamen Intendierens hat. Wenn wir dazu tendieren, beim gemeinsamen Tun (insbesondere bei wiederholten Fällen) die geeigneten Beitragsabsichten seitens der anderen Beteiligten normativ zu erwarten, dürfte dies mit einer prä-sozial normativen (bzw. in Tuomelas Worten: einer »instrumentally ›normative‹«) Implikation kollektiver Intentionalität zu tun haben. Für die gemeinsam intendierenden Individuen stellt die gemeinsame Intention nämlich einen Grund zur Bildung einer geeigneten individuellen Beitragsintention dar. In einem prä-sozial normativen Sinn »sollte« ich, wie oben (§ 6) gesehen, mein Teil zu dem beitragen, was wir vorhaben. In diesem Bezogensein von gemeinsamer Intention und individuellem »Beitrag« zeigt sich die komplementäre Blindheit sowohl des normativistischen wie auch des kognitivistischen Bildes gemeinsamen Intendierens. Gemeinsames Intendieren setzt weder soziale Normativität immer schon voraus (wie etwa Margaret Gilbert das zu sehen scheint), noch sind gemeinsames Intendieren und soziale Normativität einfach zwei Paar Schuhe, wie Searle dies glaubt. Der Grund der Tendenz zu sozialer Normativierung, wie sie empirisch universal zu sein scheint, ist vielmehr in der Struktur gemeinsamen Intendierens selbst schon angelegt (vgl. dazu mehr unten in § 15). 45 An dieser Stelle lohnt es vielleicht, sich die bisherigen Befunde zu vergegenwärtigen. Das Gemeinschaftshandeln ist als Leitfaden der Ontologie des Miteinanderseins gewählt worden (§ 1). Dabei haben sich folgende Grundmerkmale gezeigt: Eine adäquate Theorie des Gemeinschaftshandelns sollte erstens intentionalistisch sein; sie kann nicht in der Beschreibung des Verhaltens gründen, sondern muß auf die Intentionalität der Beteiligten zurückgreifen (§ 2). Die »Gemeinsamkeit«, um die es dabei geht, kann zweitens nicht auf individuelle Überzeugungen von der Existenz der Gemeinschaft reduziert werden; weder der »Blick des Dritten« noch das thematisch-reflexive Wir-Bewußtsein der Beteiligten kommen für die Existenz der Gruppe auf (das individuelle Wir-Bewußtsein ist weder eine hinreichende noch überhaupt eine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer Wir-Gruppe, so wie sie vorzuliegen hat, soll ein Handeln Kurz gesagt: das gemeinsame Intendieren einerseits und die aus ihm entspringende soziale Normativität andererseits sind nicht voneinander unabhängig. Die Tendenz zu sozialer Normativierung im Wiederholungsfall steckt in jedem Fall gemeinsamen Intendierens schon drin, und es fällt schwer, sich eine Welt vorzustellen, in der wiederholte gemeinsame Aktivitäten frei von Verpflichtungen und Berechtigungen blieben.
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ein Gemeinschaftshandeln sein; cf. § 3). Drittens kann Gemeinschaftshandeln allein im Rückgriff auf das individuelle Verhalten und die individuellen Intentionen bzw. Überzeugungen der Beteiligten nicht adäquat beschrieben werden. Gemeinschaftshandeln setzt gemeinsame Absichten bzw. Überzeugungen voraus. Gemeinsame Intentionalität ist irreduzibel auf individuelle Intentionalität (§§ 4– 6). Und schließlich ist gemeinsame Intentionalität nicht nur ein irreduzibles, sondern auch ein relationales Phänomen. Es läuft damit, wie noch näher zu besehen sein wird, den Vorgaben des Internalismus bzw. des methodologischen Solipsismus zuwider. Diese Charakteristika sind zwar insgesamt bloß negative Charakteristika; gesagt wird ja, was Gemeinschaftshandeln alles nicht ist, wie man es nicht adäquat versteht. Dies mag so wirken, als wäre das eigentliche – die adäquate Analyse des Gemeinschaftshandelns – unabhängig von diesen Abgrenzungen erst noch zu leisten. Aber mir scheint, daß hier die Abgrenzung nicht bloß eine kritische, sondern bereits eine konstruktive Funktion hat. Das Eingehen auf die gängigen Theorien ist hier mehr als das Bereitstellen einer Folie, von der sich dann ein »eigener Ansatz« oder dgl. umso wirkungsvoller abheben kann. Daß das Gemeinschaftshandeln sich im Lichte der gängigen Theorien so darstellt, wie es sich darstellt, ist vielmehr selbst ein relevantes Faktum unseres Miteinanderseins. Die Gemeinschaft, die wir sind, ist die Gemeinschaft der Individuen. Deshalb lohnt es sich, die sich durch die verschiedenen, vorstehend kritisierten Deutungen des Gemeinschaftshandelns durchziehende individualistische Tendenz genauer zu betrachten. Als verbindendes Moment zeigt sich: Ob nun das Entscheidende des Gemeinschaftshandelns im individuellen Verhalten oder im reflexiven Selbstverhältnis von Individuen gesehen wird, ob gemeinsames Intendieren auf individuelles Intendieren reduziert oder in den Binnenraum des Einzelbewußtseins eingeschlossen wird: Immer scheint es darum zu gehen, dem Individuellen in der Theorie des Gemeinschaftshandelns den Vorrang zu geben bzw. das Gemeinschaftshandeln vom Individuellen aus zu denken. Bevor zu besehen sein wird, inwiefern sich dahinter eine Eigenart unseres Miteinanderseins verbirgt (§ 11 f.), soll dieser Tendenz in bezug auf die rezente Debatte etwas näher nachgegangen werden. John Searle sieht die Analysen, die er im Umfeld seiner Construction of Social Reality unternommen hat, als Beiträge zu einer neuen philosophischen Disziplin: philosophy of society. Genau wie das Thema der philosophy of mind das Verhältnis von Körper und 208
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Geist sei, so sei das Thema der philosophy of society das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. 46 Eine neue Disziplin brauche es zum Ausloten dieser Frage, weil die klassische Sozialphilosophie dieses Thema nicht wirklich in den Blick genommen habe. Die Sozialphilosophie sei entweder mit normativen Fragen oder dann mit der Methodologie der Sozialwissenschaften befaßt. So richtig diese Beobachtung Searles ist, so falsch wäre es, anzunehmen, daß das »Verhältnis« von Individuum und Gesellschaft (wenn es denn überhaupt ein solches ist) eine neues oder auch nur ein bislang unterbelichtetes Thema gewesen sei; es ist und war Gegenstand mancher sozialphilosophischen Analyse spätestens seit der Zeit, als es zur allgemeineren Praxis wurde, einzelne Menschen als »Individuen« zu beschreiben. Im Anschluß an methodologische Vorarbeiten aus der Zeit um das Ende des neunzehnten Jahrhunderts scheint sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dabei ein ganz bestimmtes Verständnis dieses Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft weitgehend durchgesetzt zu haben: der (methodologische) Individualismus. Die meisten Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler wie auch die meisten Sozialphilosophinnen und Sozialphilosophen scheinen in der einen oder anderen Variante dafürzuhalten, daß Erklärungen sozialer Phänomene letztlich auf individuelle Handlungen zurückzuführen sind, welche ihrerseits aus den Wünschen und Meinungen der betreffenden Individuen zu erklären sind. Gemäß dieser »orthodoxen« Sicht ist das Soziale nichts anderes als ein Aggregat von Individuen, welche (nach dem gegenwärtig geläufigsten Bild; vgl. unten § 13) über ihre Handlungsalternativen gemäß dem Erwartungsnutzen entscheiden. So scheint das Soziale letztlich auf die individuelle Intentionalität der beteiligten Individuen reduzierbar zu sein. Wie es aussieht, brauchen wir auf keine Kollektivitätskonzepte wie »Gruppe« oder »Gemeinschaft« zurückzugreifen, um zu analysieren, was es bedeutet, daß Individuen etwa ihren individuellen Erwartungsnutzen optimieren. Konzepte, die sich nicht bloß auf Individuelles beziehen, kommen in orthodoxen Erklärungen sozialer Phänomene nur ins Spiel, sofern sie zur Beschreibung entweder von Gehalten individueller Intentionen oder dann zur BeVgl. Searle, John R.: Replies to Critics of the Construction of Social Reality. In: History of the Human Sciences 10 (1997b), S. 103–110, S. 103; vgl. auch ders.: Social Ontology and the Philosophy of Society. In: Analyse und Kritik 20 (1998b), S. 143–158, S. 143.
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schreibung von nichtintendierten Konsequenzen individueller Handlungen dienen. Im zweiten Fall dienen solche Konzepte rein der Bequemlichkeit; sie sind schlicht shorthand für die Konstellation individueller Handlungen, welche die entsprechenden nicht-intendierten Konsequenzen zeitigen (z. B. »Markt«). Nur im ersten Fall scheint der Bezug auf etwas »Kollektives« wirklich wesentlich unverzichtbar zu sein; aber diese Unverzichtbarkeit von Kollektivitätskonzepten bedeutet auch hier nicht etwa, daß die Analyse die Existenz der damit beschriebenen Kollektive affirmieren muß. Kollektivitätskonzepte braucht es hier nämlich nur zur Beschreibung dessen, was die einzelnen Akteure subjektiv für tatsächlich existent halten. Max Weber faßt diese »schwache« Nicht-Eliminierbarkeit von Kollektivitätskonzepten, die darauf für die »verstehende Sozialwissenschaft« resultiert, in die folgenden Worte: »Die Deutung des Handelns muß von der grundlegend wichtigen Tatsache Notiz nehmen, daß jene dem Alltagsdenken oder dem juristischen (oder anderem Fach-) Denken angehörigen Kollektivgebilde Vorstellungen von etwas teils Seiendem, teils Geltensollendem in den Köpfen realer Menschen (der Richter und Beamten nicht nur, sondern auch des ›Publikums‹) sind, an denen sich deren Handeln orientiert und daß sie als solche eine ganz gewaltige, oft geradezu beherrschende, kausale Bedeutung für die Art des Ablaufs des Handelns der realen Menschen haben. Vor allem als Vorstellungen von etwas Gelten- (oder auch: Nicht-Gelten-) Sollendem. (…) Während für die eigene Terminologie der Soziologie (…) es möglich, wennschon äußerst pedantisch und weitläufig, wäre, diese von der üblichen Sprache nun einmal (…) gebrauchten Begriffe ganz zu eliminieren und durch ganz neu gebildete Worte zu ersetzen, wäre wenigstens für diesen wichtigen Sachverhalt natürlich selbst dies ausgeschlossen.« 47 Zwar gesteht Weber in der unmittelbar darauf folgenden Passage »holistischen«, d. h. vom sozialen Ganzen ausgehenden Beschreibungen bei aller Ironie, mit der er diese Ansätze schildert, letztlich doch großzügig erstens so etwas wie eine (allerdings gefährliche) Veranschaulichungsfunktion und zweitens eine heuristische Funktion zu. Im ganzen ist aber doch klar: Für Weber kann auf eine Bezugnahme auf so etwas wie »Gemeinschaft« und »Gruppe« nur deshalb letztlich nicht ganz verzichtet werden, weil die sozialen Akteuren nun einmal glauben, daß es so etwas wie Kollektive wirklich gebe. So – als bloße »Vorstellungen« 47
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Weber 1921/1968, S. 7; Herv. von mir.
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von Individuen, im Gehalt von individuellen Intentionen – entfalten Kollektive tatsächlich eine kausale Wirksamkeit und werden damit zur beschreibungsmäßig unüberspringbaren Instanz – obwohl es sie eigentlich gar nicht gibt. 48 Zumindest was die vordergründig bloß methodologische, hintergründig aber zwangsläufig auch ontologische Nichtexistenterklärung anbelangt, läuft die »orthodoxe« Sozialwissenschaft in der Folge Joseph Alois Schumpeters 49, Max Webers u. v. a. ganz auf dieser individualistischen bzw. atomistischen Linie. Für sie sind individuelle Handlungen (und keine Kollektive) der Gegenstand der Sozialwissenschaften. In scharfem Gegensatz zu dieser individualistischen Perspektive steht die »heterodoxe« Sicht des Verhältnisses des Individuellen und des Sozialen. Heterodoxe Sozialphilosophinnen und Sozialphilosophen glauben in der Regel, daß das Handeln von Individuen auf die eine oder andere Weise viel tiefer vom Sozialen geprägt ist, als die orthodoxe Sicht dies vertritt. 50 Für sie spielt in der einen oder anderen Weise Sozialität immer schon mit, wenn Individuen »Präferenzen« oder sonst irgendwelche komplexere Formen von Überzeugungen und Wünsche bilden. Das Soziale ist ihnen zufolge viel tiefer in den »kognitiven Apparat« der Individuen eingelassen. Auf den ersten Blick würde man nun wohl annehmen, daß diese heterodoxe Sicht Unterstützung von einer wichtigen rezenten Bewegung in der analytischen philosophy of mind erhält. Die Analysen von Autoren wie Raimo Tuomela, Margaret Gilbert und Michael Bratman – nicht zu vergessen John R. Searles eigene Beiträge – haben unser Verständnis Diese ontologische Lesart der Weberschen Position scheint zu ignorieren, daß Webers Individualismus nur methodologischen Charakter hat. Aber näher besehen sind, wie schon oben gesehen, Methodologie und Ontologie gar nicht sinnvoll zu trennen. Die methodologische Anweisung der Reduktion des Sozialen auf das Individuelle ist nämlich erwartbarerweise genau dann (und nur dann) sinnvoll, wenn es tatsächlich keine Kollektive gibt. 49 Vgl. zu Schumpeters Gebrauch des labels »methodologischer Individualismus« Schumpeter, Joseph Alois: Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie. Berlin 1908. Es scheint, daß dies Webers Quelle ist (dies suggeriert zumindest Hennis, Wilhelm: Max Webers Fragestellung. Tübingen 1987, S. 212). 50 Die gegenwärtig populärste heterodoxe Linie in der Sozialontologie ist der Kommunitarismus – wobei es kein Zufall sein dürfte, daß sich der Kommunitarismus in der vergangenen Dekade vom ursprünglichen, stark sozialontologischen Diskussionsfeld zurückgezogen hat und sich zunehmend ausschließlich auf die normativ-praktische Fragestellungen beschränkt. Vgl. zum frühen, auch sozialontologisch ausgerichteten Kommunitarismus Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice. Cambridge UK 1982. 48
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von Intentionalität und Handlung substantiell über das traditionelle Bild rein individueller Intentionalität hinaus erweitert. Wir sind es gewohnt, Intentionalität als individuelle Intentionalität vereinzelter Akteure zu verstehen; dank der genannten Autoren ist mittlerweile aber ein bislang eher vernachlässigtes Phänomen direkt ins Zentrum des Interesses gerückt: das Phänomen gemeinsamer Absichten und Überzeugungen bzw. gemeinsamen Handelns. Es darf mittlerweile als ausgemacht gelten, daß die Sozialität unseres Handelns nicht (wie etwa Weber sich dies unter dem Titel des oben diskutierten »sozialen Handelns« vorstellt) bloß darin liegt, daß wir als Akteure uns gelegentlich wechselseitig zum Gegenstand unserer Absichten und Erwartungen machen. Der »Sinn«, um welchen es in der Weberschen Sozialwissenschaft geht, ist, wie Weber kategorisch erklärt, stets »subjektiv gemeinter Sinn«. Aber anders als Weber dies suggeriert, kann »Sinn« mehr meinen als bloß entweder den in irgendeinem Sinn »subjektiv gemeinten« Sinn oder dann irgendeinen »objektiv richtigen« bzw. »metaphysisch wahren« Sinn. 51 Sinn kann nämlich auch gemeinsam geteilter Sinn sein, und dies ist ein für die Sozialwissenschaften durchaus wichtiges Phänomen. Intentionalität und Handeln der einzelnen Individuen sind nicht bloß insofern »sozial«, als diese Individuen Überzeugungen haben, die andere Akteure zum Gegenstand haben, und Absichten, die Erwartungen bezüglich anderer Akteure implizieren. Sie haben vor allem auch gemeinsame Überzeugungen und gemeinsame Absichten. Dies alles scheint Wasser auf die Mühle der heterodoxen Position zu sein. Bei näherer Betrachtung jedoch stellt sich heraus, daß die Vertreter einer heterodoxen philosophy of society nicht zu viele Hoffnungen auf Unterstützung aus der Reihe der Vertreter der analytischen Philosophie der collective intentionality setzen sollten. Denn die genannten Hauptpersonen dieser Debatte scheinen keineswegs der Ansicht zu sein, daß ihr neuartiger approach zum Phänomen der Intentionalität und des Handelns ein irgendwie »unorthodoxes« Licht auf die Grundstruktur des Verhältnisses von Individuellem und Sozialem wirft. Ganz im Gegenteil: Im großen und ganzen wird der »orthodoxe« individualistische Ansatz in der philosophy of society nicht nur nicht angetastet, sondern sogar explizit Vgl. Weber 1921/1968, § 1: »›Sinn‹ ist hier [in der verstehenden Soziologie, H. B. S.] der […] von den […] Handelnden subjektiv gemeinte Sinn. Nicht etwa irgendein objektiv ›richtiger‹ oder ein metaphysisch ergründeter ›wahrer‹ Sinn.« 51
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unterstützt. Bei allen Vertreterinnen und Vertretern finden sich dazu mehr oder weniger deutliche Aussagen bzw. Bekenntnisse. Raimo Tuomela – um bei dem Hauptinitiator der gegenwärtigen Debatte rund um die kollektive Intentionalität anzufangen – scheint Gruppen an einigen Stellen seines Werks sozusagen als ontologische NichtEntitäten zu behandeln. So findet sich bei ihm, bei allem Nicht-Reduktionismus, mitunter die folgende Aussage: »It is not necessary to regard groups as entities in an ontological sense, for ›groupness‹ is in the last analysis attributed to individuals«. 52 Die Grundstruktur dessen, was Tuomela we-intention nennt (s. oben § 5), setzt nach dieser Lesart per se die Existenz eines Kollektivs bzw. einer Wir-Gruppe noch nicht voraus. Um Wir-Intentionen zu bilden müssen andere Akteure nicht notwendigerweise existieren – geschweige denn so etwas wie eine tatsächliche Wir-Gruppe. 53 Es sind nach Tuomela einzelne Individuen, die Wir-Intentionen haben – und soweit in ihrer Wir-Intentionalität Überzeugungen involviert sind, welche die Existenz anderer Akteure voraussetzen, können sie sich, so Tuomela, darin eben täuschen (auch wenn das, wie Tuomela betont, keineswegs der Normalfall ist). Tuomela geht auf Gedankenexperimente wie dasjenige vom envatted brain, soweit ich sehe, nicht ausführlich ein; aber sein systematischer (und über die vergangenen Dekaden beharrlich vorangetriebener) Ansatz macht doch deutlich, daß er dem »Hirn im Topf« – wenn ein solches denn möglich wäre – ohne weiteres WirIntentionalität zusprechen würde, also grundsätzlich mit dem Internalismus konform geht. 54 Daß Tuomela im Rahmen seiner Analyse Tuomela 1995, S. 199. Vgl. auch ebd. S. 370, wo Tuomela die Gruppe auf »dispositional features of the group members« zu reduzieren scheint. 53 Cf. Tuomela, Raimo: We Will Do It: An Analysis of Group-Intentions. In: Philosophy and Phenomenological Research 51 (1991), S. 249–277, S. 254. Cf. auch Hindriks, Frank: Social Ontology, Collective Intentionality, and Ockhamian Scepticism. In: Meggle, Georg (Hrsg.): Social Facts and Collective Intentionality. Frankfurt a. M. 2002b, S. 125–149. 54 Mit dem Gesagten scheint sich schlecht zu vertragen, daß Tuomela für seinen Ansatz das Prädikat »interrelationalistic« beansprucht. Relational ist Tuomelas Ansatz allerdings nicht auf der Stufe der Wir-Intentionalität, sondern allenfalls auf der Stufe der shared intentions, welche von Tuomela von der Wir-Intentionalität unterschieden werden. Shared intentions implizieren eine Interrelation von wir-intendierenden Individuen. Bezüglich der Einschätzung von Tuomelas Ansatz entscheidend dürfte die Frage nach dem Verhältnis von (genuin sozialen) shared intentions und (letztlich ja rein individuellen) we-intentions sein. Tuomela wird in der Regel so verstanden, daß er dieses Verhältnis als Fundierungsordnung charakterisiert, bei welcher der individuellen WirIntentionalität der Vorrang zukommt, obwohl Tuomela viele Hinweise gibt, die in die 52
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überhaupt noch Kollektivitätskonzepte verwendet (und damit so redet, als ob Kollektive wirklich existierten), hat, wie er an einer Stelle bemerkt, letztlich bloß linguistische Gründe. 55 Ein für die heterodoxe Sozialontologie letztlich ähnlich ernüchterndes Bild bietet sich auch bei den anderen Hauptpersonen. Auch Margaret Gilbert – um sie hier als zweite unter den Hauptprotagonistinnen und -protagonisten der Theorie der kollektiven Intentionalität zu nennen – wird die Erwartungen heterodoxer Sozialontologinnen und Sozialontologen wohl weitgehend enttäuschen. Zunächst mag zwar vieles bei Gilbert durchaus heterodox klingen: Sie behauptet wiederholt, »beyond individualism« zu gehen (und betont auch, dabei gehe es nicht nur um die Methodologie, sondern auch um ein »understanding of what there is«, also um eine sozialontologische Festlegung). 56 Auch grenzt sie sich immer wieder deutlich von dem ab, was sie »Weberian singularism« nennt. 57 Und das label, welches sie seit ihrem Buch On Social Facts ihren Theoriebemühungen gegeben hat und unter dem sie ihre Theoriebemühungen gegenwärtig vermarktet, heißt plural subject theory – ein label, welches schon als solches einen starken holistischen Einschlag hat. Dies alles aber reicht nicht wirklich bis in die Grundlagen ihres Theorieansatzes. Gilbert basiert nämlich schon in On Social Facts ihre Analyse auf einem Begriff des Individuums, dessen Analyse, wie Gilbert betont, keine Kollektivitätskonzepte voraussetzt. 58 Was ein Individuum ist, sei ganz unabhängig von aller Sozialität zu bestimmen – schon dies gleicht verdächtig der klassischen These dessen, was in der Sozialontologie mittlerweile »Atomismus« genannt zu werden pflegt. 59 Und Gegenrichtung weisen – eine Sicht, der ich aus den oben in Kap. ii genannten Gründen den Vorzug geben würde. 55 »For linguistic reasons, we shall speak as if groups really existed« (Tuomela 1995, S. 10). An dieser Stelle muß betont werden, daß es gegenüber der hier in den Vordergrund gestellten Tendenz eine Gegentendenz im Werke Tuomelas gibt, gemäß welcher die Irreduzibilität gemeinsamer Intentionen in den Vordergrund rückt. Es handelt sich bei den erwähnten Zitaten um die deutlichsten Belege für eine individualistische Sozialontologie bei Tuomela; unbestritten ist, daß sich hier auch einige Ansätze für die holistische Gegenposition finden lassen. 56 Vgl. etwa Gilbert, Margaret: Sociality and Responsibility. New Essays in Plural Subject Theory. Lanham 2000, S. 3. 57 Vgl. etwa Gilbert 1992, S. 418–425. 58 Gilbert 1992, S. 435 f. 59 Vgl. zur Trennung der beiden Gegensätze »Individualismus vs. Kollektivismus« und »Atomismus vs. Holismus« Pettit, Philip: The Common Mind. An Essay in Psychology, Society, and Politics. New York 2 1996, Kap. 3 und 4.
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letztlich bleibt denn auch ihre ganze plural subject-Theorie im Banne des individualistischen Denkzwanges, das Gemeinsame irgendwie auf eine Kombination von Individuen zu reduzieren. Zentral ist für Gilbert das, was sie »joint commitment« nennt, durch welches nach ihrem Dafürhalten jene »plural subjects« zustande kommen, welche letztlich die Sozialität ausmachen. Immer wieder betont sie zwar, daß solche »joint commitments« methodologisch und ontologisch nicht bloß als ein Aggregat individueller commitments zu betrachten seien. In einem Enzyklopädie-Artikel ihren eigenen Ansatz in der dritten Person kommentierend schreibt Gilbert sogar einmal: »Gilbert’s account is a nonindividualistic, or holistic, account, at least insofar as a joint commitment in her sense is not simply a conjunction of personal commitments«. 60 Gilbert betont, daß die vielen individuellen »conditional commitments« in der Bildung des plural subjects sozusagen verwandelt werden. Dieses Emergenzphänomen, in welchem sich, wie Gilbert in fast schon Durkheimschem Duktus sagt, ein »command center« 61 jenseits der Köpfe der Individuen bildet, kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Substrat dieses Vorgangs rein individuell bestimmt wird. Es sind »conditional personal commitments« – und nichts als das – was in diesen Prozeß eingeht. So stark Gilbert das Kollektive dann auch machen mag, die Fundierungsordung ihrer Theorie geht ganz klar vom fundierenden Präsozial-Individuellen zum emergenten Sozialen und folgt damit dem klassisch-»orthodoxen«, individualistischen Strickmuster. Diese atomistische Fundierungslogik spricht auch deutlich aus der Rousseauschen Metapher, welche Gilbert für die Genese des plural subject verwendet: ein pooling of wills. Präkonstituierte individuelle Eigenwillen sind es, die im plural subject zusammenkommen und durch das Zusammenkommen eine Transformation in etwas Überindividuelles erfahren. Aber was auch immer diese Transformation genau bedeuten und beinhalten mag, die Basis sind und bleiben die beteiligten individuellen »Beigaben«. 62 So fallen denn auch bei Gilbert, trotz allem Anti-Individualismus, Kollektive aus der fundamentalen Stufe der Ontologie des Sozialen letztlich völlig heraus. Kollektive gibt es Gilbert, Margaret: Joint Action. In: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences. Amsterdam 2001, S. 7987–7992, hier S. 7992. 61 Gilbert 2000, S. 5 62 Gilbert, Margaret: Acting together. In Meggle G. (Hrsg.): Social Facts and Collective Intentionality. Frankfurt a. M. 2002, S. 53–71. 60
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»eigentlich« nicht, sondern nur Zustände von Individuen – oder, in der moderateren Formulierung von Gilbert: »collectives are nothing over and above some special set of states of the individual human beings«. 63 Sogar noch eindeutiger ist dieser Befund bei den beiden verbleibenden Hauptvertretern, nämlich bei Michael E. Bratman und bei John R. Searle. Michael Bratman nennt seinen eigenen Ansatz »reductive in spirit«, weil er der Meinung ist, daß shared intentionality analysierbar sei »in terms of attitudes and actions of the individuals involved« (wobei er allerdings immerhin die Fraglichkeit erwähnt, ob common knowledge, welches einen integralen Bestandteil seines Begriffs der shared intentionality bildet, überhaupt individualistisch rekonstruierbar sei; mithin läßt er hier ein Türchen zu einer holistischeren Sicht offen). 64 Und Searle schließlich bekennt sich, wie oben schon dargestellt, ganz ausdrücklich nicht bloß zum methodologischen Individualismus (als der These, daß das Soziale »aus nichts als Individuen« bestehe), sondern zusätzlich noch zum methodologischen Solipsismus (aus dem u. a. resultiert, daß kein Faktum bezüglich der Intentionalität von Individuen garantiert, daß andere Akteure – geschweige denn eine Wir-Gruppe – existieren). Searle legt großen Wert auf den ontologischen Primat dessen, was im Kopf der einzelnen Individuen vorgeht, vor der Existenz von Gruppen. So sagt er einmal mit aller wünschbaren Deutlichkeit: »ontologically speaking, collective intentionality gives rise to the collective, and not the other way around«. 65 Im Überblick über diese Positionen ergibt sich so in sozialontologischer Hinsicht das Bild durchgängiger Orthodoxie. Durch die ganze Debatte hindurch wird, wie es scheint, so etwas wie tatsächliche Gemeinschaft als ontologisch »weich« oder »irreal«, als sekundär oder derivativ gegenüber der Intentionalität der beteiligten Individuen bezeichnet. Wo so etwas wie die tatsächliche Existenz einer Gruppe überhaupt in den Blick rückt, wird sie als mehr oder weniger kontingentes Nebenprodukt der Intentionalität von Individuen bezeichnet. Diese Intentionalität mag dabei eine spezielle Wir-Form haben; aber das »Wir«, um welches es dabei geht, ist sozusagen ein individuelles, kein gemeinsames Wir; nötigenfalls kann ein Indivi63 64 65
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Gilbert 1989, S. 428. Bratman 1999, S. 108. Searle 1997a, S. 449.
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duum auch allein Wir-Intendieren. So relevant die (Wieder-)Entdekkung gemeinsamer Intentionalität als Thema der philosophischen Analyse ist, so eklatant ist, daß in diesen Ansätzen jede Spur tatsächlicher Gemeinschaft aus der fundamentalen Ebene des Begriffs gemeinsamen Intendierens eliminiert wird. Aus einer heterodoxen Perspektive wirkt diese Debatte wie ein Versuch, kollektive Intentionalität in den Blick zu nehmen, und sich dabei gleichzeitig zu weigern, genuine Kollektivität zur Kenntnis zu nehmen. Kollektive Intentionalität ohne genuine Kollektivität: diesbezüglich wirken die genannten philosophischen Analysen bisweilen wie die InhaltsstoffDeklaration eines garantiert kakaofreien Schokokuchens. Wo »Weness«, Kollektivität, Gemeinschaft zum Thema wird, wird gleich betont, daß es »a feature of individuals« sei (und damit also eigentlich gar kein tatsächliches Wir, kein reales Kollektiv, keine wirkliche Gemeinschaft gemeint sei). Annette Baier findet einen drastischen Ausdruck für die Unzufriedenheit, welche heterodoxe Sozialontologinnen und Sozialontologen angesichts dieses durchgängigen »individualistic bias« in dieser Debatte empfinden mögen, wenn sie sagt, die gegenwärtigen Theorien der »kollektiven Intentionalität« bewiesen bloß, wie gründlich die Cartesianische Gehirnwäsche bei uns nachwirke. »Has Descartes so brainwashed us«, fragt sie, »that we cannot conceive of not taking the first person singular to be the place to start?« 66
§ 8 Wer hat Angst vor dem Kollektivsubjekt? So wichtig die Rolle Descartes’ beim individualistischen setting der Diskussion der kollektiven Intentionalität sein mag: Noch wichtiger ist zunächst eine andere Figur, die in dieser Debatte zwar ganz am Rande steht, aber mit frappanter Persistenz in fast allen Diskussionsbeiträgen immer wieder auftaucht – und zumeist an jener Stelle, auf welche dann ein Bekenntnis zum Individualismus folgt. Es ist eine wenig greifbare aber gerade deshalb umso einflußreichere Figur: das Gespenst des Kollektivsubjekts oder Gruppengeistes. Daß es auftaucht – und daß es, wie es in den genannten Theorien dann auch Vgl. Baier, Annette C.: »Doing Things With Others: The Mental Commons«, in Commonality and Particularity in Ethics, L. Alanen, S. Heinämaa, T. Wallgren (Hrsg.): London 1997, S. 15–44, hier S. 18.
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geschieht, abgewehrt werden muß – ist eigentlich naheliegend. Eine ebenso unschuldige wie nachvollziehbare Überlegung – ein Gedanke, der sozusagen aus dem Begriff der kollektiven bzw. gemeinsamen Intentionalität selbst springt – läßt es auf die Bühne treten. Intentionalität scheint nämlich jemanden vorauszusetzen, der sie »hat«. Keine Absicht oder Überzeugung, keine affektive Intention ohne jemanden, dessen Absicht, Überzeugung oder affektive Intention sie ist. Intentionalität kommt zusammen mit dem guten alten Subjekt. Wenn jetzt aber behauptet wird, daß es so etwas wie kollektive Intentionalität gibt, und daß kollektive Intentionalität etwas anderes ist als individuelle Intentionalität, scheint sich die Folgerung aufzudrängen, daß kollektive Intentionen solche sind, die Kollektive, und nicht Individuen »haben«. Diese Annahme hinwiederum muß problematisch erscheinen. Denn damit scheint man Kollektiven so etwas wie ein Bewußtsein (einen »Gruppengeist«) zuschreiben zu müssen, etwas Geistiges, was gewissermaßen über den Häuptern der beteiligten Individuen schwebt. Nach den Erfahrungen, die wir in der Geschichte der Sozialtheorie mit Kategorien wie dem »Volksgeist« 67 , dem »Klassenbewußtsein« oder der »conscience collective« gemacht haben, scheint diese Annahme (trotz gelegentlicher neuerer Anleihen bei der Kollektivgeistsemantik 68 ) nicht sehr attraktiv. Es ist eine breit akzeptierte Annahme, daß es so etwas wie Intentionalität jenseits des Individualbewußtseins nicht gibt. Auch wenn es umstritten ist, ob (und in welchem Sinn) Kollektive handeln können, scheint es doch offensichtlich, daß Kollektive nicht als »Subjekte« von Intentionen in jenem regulären Sinn bezeichnet werden können, in welchem Individuen »Träger« von Intentionalität sind. Sogar wo der Begriff des Kollektivsubjekts nicht-mentalistisch gefaßt wird, scheint er nicht auf Akzeptanz zu stoßen, weil er mit kollektivistischen 69 (bzw. sogar totalitären 70 ) Begriffen des Sozialen assoziiert wird. Wenn das KolVgl. dazu Schmid, Hans Bernhard: »Volksgeist«. Individuum und Kollektiv bei Moritz Lazarus. In: Dialektik – Zeitschrift für Kulturphilosophie 16/1 (2005b), S. 157–170. 68 Vgl. dazu Schmid, Hans Bernhard: Personhood and the Structure of Commitment. In: Heikki Ikäheimo et al. (Hrsg.): Personhood. Workshop Papers of the Conference on Dimensions of Personhood. Jyväskylä University Philosophy Series 68, Jyväskylä 2004, S. 99–112. 69 Vgl. Durkheims Konzept des Kollektivsubjekts in Durkheim, Emile: Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a. M. 1961. 70 Vgl. Hartshorne, Charles: Elements of Truth in the Group-Mind Concept. In: Social Research 9 (1942), S. 248–265. 67
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lektiv nämlich selbst Subjekt von Intentionalität wäre, so scheint es, würden die an diesem Kollektiv beteiligten Individuen, also die Mitglieder, vom Ruder ihrer Intentionalität verdrängt und zu seinen bloßen Organen, zu reinen Instrumenten degradiert. Und dies scheint unseren elementarsten Begriffen der intentionalen Autonomie von Individuen zu widersprechen.71 Deswegen mag es auf den ersten Blick als völlig verständlich erscheinen, daß es sich alle Theoretiker der kollektiven Intentionalität zur Aufgabe setzen, zu zeigen, daß (und wie) so etwas wie kollektive Intentionalität ohne die Annahme eines group mind oder Kollektivsubjekts gedacht werden kann. Ein allgemein geteilter Programmpunkt in der Theorie der kollektiven Intentionalität lautet damit, den group mind bzw. das Kollektivsubjekt zu exorzieren. Dabei kann man im Blick auf die verschiedenen Ansätze der Theoretikerinnen und Theoretiker der kollektiven Intentionalität zunächst zwei verschiedene Strategien unterscheiden. Die beiden Strategien unterscheiden sich dadurch, daß die erste – sie bietet wohl eher das Bild psychotherapeutischer Behandlung als das eines wirklichen Exorzismus – im Unterschied zur zweiten das Kollektivsubjekt nicht rundweg negiert, sondern es domestiziert und auf eine solide individualistische Basis stellt. Diese Strategie wird von Margaret Gilbert und Raimo Tuomela gewählt. Tuomela bezeichnet die Gruppe als eigenen, legal und moralisch verantwortlichen intentionalen Akteur und fügt dem bei: »[This analysis] does not quite postulate groupminds (in analogy with the individual case) to account for intentionality, but it does implicitly postulate a kind of modern counterpart of group-minds […]«. 72 Aber diese modernisierte Version des Kollektivsubjekts stellt sich dann im weiteren Fortgang als nicht mehr als die (Wir-)Intentionalität der beteiligten Individuen heraus. In diesem Sinne wird hier das Kollektivsubjekt mit dem methodologischen Solipsismus verträglich gemacht (Wir-Intentionalität ist ja nach Tuomelas Begriffsbestimmung, wie oben gesehen, mit der Nichtexistenz anderer Individuen durchaus verträglich). Tuomela nimmt denn auch gerne den (ontologischen) Individualismus gegen die Annahme von »spooky holistic entities« in Anspruch. 73 Margaret Gilbert wirkt Vgl. Pettit, Philip: Individualism versus Collectivism: Philosophical Aspects. In: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences. Amsterdam 2001, S. 7310–7316. 72 Tuomela 1995, S. 231. 73 Tuomela 1995, S. ix; vgl. ebd. S. 5, 353; 367. 71
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schon durch ihr label »Plural Subject« kollektivitätssubjektfreundlich. Unter diesem Titel schreibt sie Kollektiven nicht nur die Fähigkeit zum handeln, sondern sogar psychologische Eigenschaften zu. 74 Allerdings wird man auch in ihrer Theorie das Kollektivsubjekt so domestiziert finden, daß es keine individualistische Ontologie mehr stören kann. Gilbert beeilt sich, zu sagen, daß die Annahme eines »plural subject« im ontologischen Sinn keinen »social spirit« oder »group mind« impliziere. 75 Das »plural subject« steht, wie oben gesehen, auf solide individualistischer Basis. Individuen müssen letztlich ihre Bereitschaft zum Mitmachen deklariert haben, damit das plural subject überhaupt entsteht, und die ontologische Basis der plural subject theory ist ein fast schon atomistisches Konzept des Individuums, welches mit seinen präkonstituierten Intentionen dem plural subject zugrunde liegt. 76 Dieser »weicheren«, eher psychotherapeutischen als exorzistischen Strategie des Umgangs mit dem Kollektivsubjekt gegenüber zielt die zweite, härtere Strategie darauf ab, das Kollektivsubjekt (als verabscheuungswürdige Ausgeburt des Kollektivismus) direkt und kompromißlos aus der Theorie kollektiver Intentionalität zu verbannen. Dies ist die Strategie, welche John Searle und Michael Bratman einschlagen. Auf dieser Linie wird das Gespenst des Kollektivsubjekts entweder durch die These exorziert, daß kollektive Intentionalität wie alle Intentionalität Intentionalität des individuellen Bewußtseins sei (Searle), oder dann durch die These, daß alle Intentionalität, welche Individuen »haben«, wenn sie etwas gemeinsam intendieren, eine Form individueller Intentionalität sei (Bratman). Wie bei TuoVgl. Gilbert 1989, S. 15. Vgl. Gilbert 2000, S. 3. 76 Noch radikaler verfährt Frederick J. Schmitt. Einesteils ist er strikter Anti-Individualist: für ihn scheitern alle individualistischen Theorien des Gemeinschaftshandelns. Sein »Supraindividualism« bedeutet: Kollektives Handeln setzt ein Kollektivsubjekt voraus. Es gelte: »An action is a joint action only if (1) there is an agent C who performs j from C’s intention of performing j; and (2) C is not an individual« (Schmitt, Frederick J.: Joint Action: From Individualism to Supraindividualism. In: ders. (Hrsg.): Socializing Metaphysics. Oxford 2003, S. 129–165). Andererseits beeilt sich Schmitt dann sogleich, zu betonen, daß es in der wirklichen Welt dementsprechend eben gar keine »joint actions« gebe. Es sei bloß so, daß viele Leute so täten, als gäbe es »joint actions«. Hier kulminiert die Tendenz des »Umschlagens« eines Anti-Individualismus in einen radikalen Individualismus, und die Frage bleibt am Schluß die schon an Max Weber gerichtete: wenn der Individualismus wahr ist: weshalb glauben dann so viele Menschen, daß es so etwas wie Gemeinschaften gebe? 74 75
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mela und Gilbert wird dabei auch hier, bei Searle und bei Bratman, angesichts des Gespenstes des Kollektivsubjekts ein Bekenntnis zum Individualismus abgelegt. Vergegenwärtigt man sich diese Konstellation bzw. die Rolle, die das Gespenst des Kollektivsubjekts hier spielt, aus etwas Distanz, drängt sich der Eindruck auf, daß die Theorie der kollektiven Intentionalität in einer Art Dilemma steckt – oder genauer: daß alle diese Positionen in einem veritablen double-bind befangen sind. Dies zumindest dann, wenn man einen relativ allgemeinen Begriff von Individualismus (im Sinne der Betonung der Rolle des Individuums) zugrunde legt. Auf der einen Seite ist es ja das erklärte Ziel all dieser verschiedenen Theorieansätze, mit der traditionellen individualistischen Limitierung der Philosophie der Intentionalität bzw. Handlungstheorie zu brechen; es geht ja als zentrales Anliegen darum, über die traditionelle Beschränkung der philosophy of mind auf rein individuelle Intentionen hinauszukommen. In dieser Hinsicht gilt es also, sich vom Individualismus abzustoßen. Auf der anderen Seite – und genau antagonistisch dazu – erscheint der Individualismus dann wieder als das einzig wirksame Mittel gegen das Gespenst des Kollektivsubjekts, welches sich am Horizont abzuzeichnen scheint, sobald man sich von der traditionell individualitätsfixierten Intentionalitätstheorie etwas löst und gemeinsame Intentionen ernsthaft zum Analysegegenstand macht. In einem gewissen Sinn stößt sich die Theorie der kollektiven Intentionalität einerseits vom Individualismus ab und nimmt doch auch gleich wieder zu ihm Zuflucht. So scheint die Theorie der kollektiven Intentionalität in ihrem doublebind zu oszillieren zwischen dem Abstoß von der individualistischen Heterodoxie im Aufbruch zur Analyse gemeinsamen Intendierens und dem schnellen Rückzug in den vermeintlich sicheren Hafen des Individualismus angesichts des Schreckgespenstes des Kollektivsubjekts. Wie wird in der Theorie der kollektiven Intentionalität mit dieser Spannung umgegangen? Ich werde mich in den folgenden Bemerkungen auf jene beiden Positionen beschränken, welche die »harte« Strategie gegen das Kollektivsubjekt wählen. Um Baiers oben zitierte Bemerkung bezüglich der »cartesianischen Gehirnwäsche« aufzunehmen, sei hier mit einer Bemerkung zu Descartes eingesetzt. Es geht hierbei nicht um den historischen Descartes, sondern um den Descartes als »Paradigma« einer bestimmten Sicht des Mentalen. Daß diese Sicht sozusagen »untersozialisiert« ist, überrascht nicht, wenn man sich die Konstellation der A
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meditationes vergegenwärtigt. Descartes reflektiert in »einsamer Zurückgezogenheit« von der Gesellschaft auf sein eigenes Bewußtsein. Das Mentale kommt daher ausschließlich in der Form ego cogito vor seinen Blick – und nicht, wie es schon Charles Horton Cooley gerne gesehen hätte, 77 auch in der Form nos cogitamus. In dieser Hinsicht ist Descartes’ Individualismus sozusagen eine Folge der »Versuchsanordnung«, der einsamen Reflexion vor dem Kaminfeuer. Descartes Bild des Mentalen ist in diesem Sinn individualistisch, weil es das Mentale auf Intentionen der Form »ich denke …«, »ich zweifle …« etc. beschränkt. Descartes hat die Philosophie des Geistes damit sozusagen auf die egologische Perspektive festgelegt, deren Grenzen in Husserls Intersubjektivitätstheorie so klar zum Ausdruck kommen – und die nostrologische Dimension (um es in Anlehnung an José Ortega y Gasset zu sagen) 78 außer acht gelassen. Mit dem oben eingeführten Ausdruck kann man diese Version des Descartesschen Individualismus den formalen Individualismus nennen. 79 Descartes Bild des Geistes ist aber noch in einem zweiten, davon unterschiedenen Sinne individualistisch, nämlich darin, daß er das individuelle Bewußtsein als einsamen Ort von Repräsentationen darstellt. Descartes ist die bis heute verbindliche Referenz für die These von der strukturellen Unabhängigkeit geistiger Zustände von der gegenüber dem Individualbewußtsein »externen« Welt. Ob eine Überzeugung einen Sachverhalt repräsentiert oder nicht – ob sie »wahr« ist oder nicht – sieht man der Überzeugung selbst als Überzeugung nicht an. Sogar ein genius malignus, welcher die Macht hat, all meine Meinungen über die Außenwelt falsch sein zu lassen (oder sein oben schon eingeführtes modernes Äquivalent, der »böse Wissenschaftler«, welcher mein Hirn in einen Topf gesteckt hat und es mit Illusionen versorgt), könnte dadurch dieser Sicht gemäß die geringste strukturelle Änderung meiner Intentionalität herbeiführen. In der gegenwärtigen Debatte lautet die entsprechende »individualistische« Formel: »Being in a state with specific cognitive content does not 77 Cooley, Charles Horton: Social Organization/Human Nature and the Social Order [1902/05]. With an Introduction by Robert Cooley Angell, Glencoe, Ill., 1956, S. 6. 78 Vgl. Ortega y Gasset, José: Der Mensch und die Leute. Übers. von Ulrich Weber, Stuttgart 1957, S. 150 ff. 79 Kay Mathiesen schlägt den Begriff »phenomenological individualism« vor (in Absetzung vom »ontological individualism«); vgl. Mathiesen, Kay: Searle, Collective Intentions, and Individualism. In Meggle G. (Hrsg.): Social Facts and Collective Intentionality. Frankfurt a. M. 2002, S. 185–204.
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essentially involve standing in any real relation to anything external«. 80 Diese Sicht läuft in der Regel entweder unter dem label »Individualism« oder unter dem Titel »Internalism«, aber da »Internalism« in der Regel mit einer nicht-kartesischen Sicht des Verhältnisses von Körper und Geist einhergeht, ziehe ich es hier vor, das label »Individualismus« zu verwenden. Zudem muß dieses Label hier zur Unterscheidung vom formalen Individualismus spezifiziert werden. Im Gegensatz zum formalen Individualismus geht es im materialen bzw. – wie ich ihn im folgenden aus naheliegenden Gründen lieber nennen möchte – subjektiven Individualismus nicht um die Limitierung der thematischen Intentionalität auf die Singular-Form. Vielmehr limitiert der subjektive Individualismus die thematische Intentionalität auf solche, die durch ein einzelnes Subjekt »gehabt« werden kann: Ihm gemäß ist alle Intentionalität unabhängig von ihrer Form Intentionalität einzelner Subjekte. Alle Intentionalität braucht einen (und nur einen) Träger. Dabei dürfte es kein Zufall sein, daß Descartes gleich beide Versionen des Individualismus vertreten hat. Dies legt zumindest folgende Überlegung nahe. Das zentrale Anliegen von Descartes’ Theorieunternehmen ist – zumindest soweit es philosophiegeschichtlich wirksam geworden ist – die Suche nach Gewißheit, die Suche nach Meinungen, welche infallibel sind und sich dadurch als Fundament eines standfesten tower of knowledge (um es mit einem John L. Austin zugeschriebenen Bild zu sagen) eignen. Bekanntlich glaubt Descartes, dieses unerschütterliche Fundament in den Meinungen, die sich auf die eigenen Bewußtseinszustände beziehen, gefunden zu haben. Reflexives Wissen von den eigenen Bewußtseinszuständen kann Descartes aber nur deshalb als infallibel betrachten, weil er diese Bewußtseinszustände als strukturell unabhängig von ihrer Beziehung auf Bewußtseinsexternes versteht. 81 Der subjektive Individualismus Vgl. Segal, Gabriel M. A.: A Slim Book about Narrow Content. Cambridge Mass. 2000. 81 Wenn eine falsche Überzeugung etwa gar keine Überzeugung wäre, wäre auch die (reflexive) Überzeugung, eine Überzeugung zu haben, nicht unabhängig davon, ob es bei dem betreffenden mental states um eine Überzeugung handelt oder nicht. Die Unabhängigkeit der Wahrheit reflexiver Urteile (etwa der Form »Ich glaube, daß die Türe offensteht«) von der Wahrheit der Meinung, welche es reflektiert (also von der Frage, ob nun die Türe tatsächlich offensteht oder nicht) ist eine Voraussetzung dafür, den reflexiven Urteilen eine besondere »Gewißheit« zuzuschreiben. Denn nur dann ist es möglich, davon auszugehen, daß reflexive Urteile nicht von der Fallibilität nichtreflexiver (also sich auf Bewußtseinsexternes beziehender) Urteile affiziert werden. 80
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scheint in diesem Sinn eine Voraussetzung dafür zu sein, die Wahrheit von Urteilen wie »ich glaube, daß die Türe offensteht« als unabhängig davon behandeln zu können, ob nun die Türe wirklich offensteht oder nicht. Die Meinung »ich glaube, daß die Türe offensteht«, ist – zumindest in der Cartesianischen Sicht – allein schon dadurch wahr, daß ich diese Meinung eben habe – was nur möglich ist, weil ihre Wahrheit unabhängig vom Offenstehen der Tür ist. Nun trifft zwar etwas Ähnliches auch auf Meinungen zu, die mit dem formalen Individualismus nicht konform gehen. Die Wahrheit des Urteils »Wir glauben, daß die Türe offensteht« ist unabhängig davon, ob die Türe offensteht oder nicht (denn auch wenn sie nicht offenstünde, könnten wir ja glauben, daß sie offensteht). Aber daraus folgt nicht, daß die entsprechende Meinung schon dadurch wahr ist, daß ich sie habe. Sie wird allenfalls dadurch wahr, daß wir sie haben. In der Perspektive der Selbstreflexion kommt dadurch eine wichtige Unterscheidung zwischen Intentionen der Form »ich denke/beabsichtige/ fühle x« und Intentionen der Form »wir denken/beabsichtigen/fühlen x« ins Spiel. Es macht guten Sinn zu fragen, ob die Tür tatsächlich geschlossen ist oder ob ich bloß glaube, daß sie geschlossen ist. Es macht auch guten Sinn zu fragen, ob die Tür tatsächlich geschlossen ist oder ob wir bloß glauben, daß sie geschlossen ist. Der individuelle und der kollektive Fall sind hier parallel. Hinsichtlich des Reflexionsurteils ergibt sich aber ein wichtiger Unterschied. Die Frage »glauben wir tatsächlich, daß die Tür geschlossen ist, oder glaube ich bloß, daß wir dies glauben« macht ohne weiteres Sinn. Denn es kann ja sein, daß ich mich bezüglich unserer Meinungen täusche. Der individuelle Fall liegt hier anders. Die Frage »glaube ich tatsächlich, daß die Tür geschlossen ist, oder glaube ich bloß, daß ich dies glaube« ist nach Cartesianischer Sicht hingegen sinnlos. Es gibt bezüglich der eigenen Meinungen gar keinen Ansatzpunkt für den Zweifel, denn schon zu glauben, etwas zu glauben, bedeutet, es auch tatsächlich zu glauben. Man muß diese Cartesianische Sicht nicht vollständig übernehmen, um hier eine Asymmetrie zwischen den Fällen zu erkennen. IchÜberzeugungen bezüglich Wir-Intentionen sind so offensichtlich fallibel, daß sie für ein foundationalist enterprise vom Stile Descartes’ von vornherein nicht in Frage kommen können. 82 Im Sinne des founDagegen könnte man vielleicht einwenden, daß die Parallelfälle nicht die Ich-Überzeugung bezüglich einer Wir-Meinung einerseits und die Ich-Überzeugung bezüglich einer Ich-Meinung andererseits sind. Zu vergleichen gelte es vielmehr die individuelle
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dationalism gehören Descartes’ beide Individualismen deshalb zusammen. Nun gehört aber Descartes foundationalism gewiß nicht zu den Elementen, denen man einen Einfluß auf die Analytiker der kollektiven Intentionalität zuschreiben kann. 83 Nach unerschütterlichem Baugrund für Wissensturmbauten sucht hier niemand. Wenn Descartes’ zwei Individualismen in dieser Debatte eine Rolle spielen, dann keineswegs im Rahmen des Projekts absoluter Geltungsbegründung. Damit aber verlieren die beiden Individualismen den internen Zusammenhang, in welchen sie Descartes’ Unternehmen bringt. Jetzt wird eine subjektiv individualistische Position ohne formalen Individualismus möglich – und umgekehrt. Und genau das ist es, was in der gegenwärtigen Debatte tatsächlich geschieht. Wie die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigen auch Bratman und Searle dem Individualismus gegenüber das erwähnte ambivalente, oszillierende Verhalten. Einesteils stoßen sie sich vom Individualismus ab, soweit es ihnen darum geht, ein Phänomen in den Blick zu nehmen, welches nicht in den Bezugsrahmen des orthodoxen intentionalanalytischen Ansatzes paßt. Gleichzeitig nehmen die beiden wieder zum Individualismus Zuflucht, wenn sie sich mit
Selbstreflexion und die kollektive Selbstreflexion (also unsere Überzeugungen bezüglich unserer Meinungen/Absichten etc.). Mir scheint aber auch diesbezüglich eine Asymmetrie (im Sinne einer radikaleren Fallibilität des kollektiven Falls) offensichtlich zu sein. Vergleichen wir die Fragen a) »wollen wir tatsächlich x oder glauben wir bloß, daß wir x wollen« b) »will ich tatsächlich x oder glaube ich bloß, daß ich x will«: folgen wir Searles Vorschlag, macht b) durchaus Sinn, und zwar im Fall von Selbsttäuschung, Fehlinterpretation, Willensschwäche sowie Unaufmerksamkeit auf unser Bewußtsein (vgl. oben). Alle diese Fälle sind mutatis mutandis auch bezüglich b) möglich. Hinzu kommt aber noch mindestens die Fälle wechselseitiger Täuschung, Unaufmerksamkeit und Fehlinterpretation. Nehmen wir eine Gruppe alter Freundinnen und Freunde, die sich regelmäßig treffen, um zusammen ein paar Bier zu trinken. Ursprünglich tranken alle Individuen gerne Bier, sodaß sich daraus unproblematisch so etwas wie eine kollektive Präferenz für Bier ergab. Über die Jahre hinweg ist es nun aber so weit gekommen, daß alle Beteiligten je für sich ihre Präferenz für Bier verloren haben. Die Beteiligten haben das aber unter sich nie thematisiert. Sozusagen als »vermeintliche Krypto-Dissidenten« können wir als die Beteiligten immer noch sagen: »wir mögen Bier!«, aber in einem bestimmten Sinn kann man doch auch sagen, daß wir tatsächlich gar kein Bier mögen, sondern bloß glauben, Bier zu mögen. 83 Searle, der bisweilen dem Cartesianischen »epistemologischen« Paradigma in der Philosophie zugerechnet wird, sagt explizit, daß er »not a part of the Cartesian tradition of trying to overcome skepticism and provide a secure foundation for knowledge« sei (vgl. Searle, John R.: Meaning, Mind and Reality. In: Revue internationale de philosophie 55 [2001b], S. 173–179, S. 173). A
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dem Schreckgespenst des group mind konfrontiert sehen. In dieser ganzen Ambivalenz dem Individualismus gegenüber erweist sich nun die Unterscheidung zweier separater »Individualismen« als wichtig. Denn diese Unterscheidung eröffnet einen Ausweg aus dem double bind: Man kann sich nun vom einen Individualismus abstoßen, und hält sich dadurch die Option offen, den anderen Individualismus als Mittel zum Exorzieren des group mind weiterhin in Anspruch zu nehmen. Der double-bind verschwindet, denn der »verabschiedete« Individualismus ist ja nicht identisch mit dem in Anspruch genommenen. Dies ist, was Bratman und Searle tun. Interessanterweise sind sich die beiden aber dabei nicht darüber einig, welche Form des Individualismus es (gegen die traditionelle Verengung) zurückzuweisen und welche es (gegen den group mind) in Anspruch zu nehmen gilt! Searle verabschiedet, wie gesehen, den formalen Individualismus und nimmt gegen das Kollektivsubjekt zum subjektiven Individualismus Zuflucht. Bratman hingegen entscheidet sich für die komplementäre Option: Er verabschiedet den subjektiven Individualismus und nimmt gegen das Kollektivsubjekt den formalen Individualismus in Anspruch. Die Stärke von Michael E. Bratmans Theorie der »shared intentionality« liegt darin, daß Bratman – im Unterschied zu Searle – gemeinsames Intendieren weder als eine Angelegenheit eines Kollektivgeistes noch sozusagen als interne Angelegenheit vereinzelter Bewußtseinssubjekte behandelt, sondern als Angelegenheit der Beziehung verschiedener Handlungsintentionen. Bratman identifiziert gemeinsames Intendieren richtig als intersubjektiv-relationales Phänomen. Umgekehrt ist es aber bezeichnend, daß Bratman sich aus der Cartesianischen Subjektfixiertheit nur löst, um angesichts der drohenden Gefahr des group mind in den ebenso Cartesianischen Reduktionismus zurückzufallen. Die Positionen von Searle und Bratman sind komplementär. Searles Theorie der kollektiven Intentionalität ist nicht-reduktionistisch, dabei aber gleichzeitig subjektiv individualistisch; Bratmans Theorie bietet einen genuin intersubjektiv-relationalen Ansatz, der aber gleichzeitig, wie oben gesehen, dem reduktionistischen Schnittmuster folgt. Die Annahme eines Kollektivgeistes scheint Bratman ebenso absurd wie allen anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der entsprechenden Debatte, und er betont, daß das Phänomen des gemeinsamen Intendierens keine »fusion« individueller Akteure zu 226
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einem »superagent« impliziere; 84 aber im Unterschied zu Searle (und über diesen hinausgehend) hält Bratman es keineswegs für zwingend, gemeinsames Intendieren als rein interne Angelegenheit des individuellen Geistes zu bezeichnen. »Shared intention (…) is not an attitude in any mind«, weder Angelegenheit eines Kollektivgeistes noch eine solche des einzelnen Individualbewußtseins. 85 Stattdessen reaktiviert Bratman für die Theorie der gemeinsamen Intentionalität das von der Metaphysik des Subjekts Ausgeschlossene: die Relation. Gemeinsame Intentionalität – Bratman diskutiert sie anhand der Kooperation von zwei Handelnden – »is not an attitude in the mind of some fused agent, for there is no such mind; and it is not an attitude in the mind or minds of either or both participants. Rather, it is a state of affairs that consists primarily in attitudes (none of which are themselves the shared intention) of the participants and interrelations between those attitudes.« 86 Bratman hat, wie es zunächst aussieht, keine Schwierigkeit damit, dem Sog der Cartesianischen Tendenz zur Subjektivierung des Mentalen zu entgehen. Vom Subjekt aus ist gemeinsame Intentionalität nicht zu verstehen; denn sie ist auf kein Subjekt zu beziehen, sondern ein »interlocking web of appropriate intentions of the individuals«. 87 Nicht das Subjekt, sondern die Relation bietet mithin den Schlüssel zum Phänomen der Wir-Intentionalität; wer die Beziehungen zwischen intendierenden Individuen nicht in Betracht zieht oder die Beziehungen zwischen intendierenden Individuen auch nur als sekundär gegenüber der Intentionalität der Individuen behandelt – so wie Searle es mit seinem Bekenntnis zum methodologischen Individualismus und methodologischen Solipsismus tut – bekommt das Phänomen der gemeinsamen Intentionalität gar nicht zu Gesicht. Was Searles Ansatz, wie Bratman richtig sieht, fehlt, ist eine Theorie der Beziehung der an gemeinsamer Intentionalität beteiligten individuellen Intentionen. 88 Indem Bratman gemeinsame Intentionalität vom Phänomen der Beziehung aus denkt – also einen intersubjektiv-relationalen Ansatz präsentiert – erscheint gemeinsame Intentionalität bei Bratman von vornherein als Angelegenheit einer Gruppe – ganz ähnlich wie Bratman 1999, S. 111; siehe auch ebd. S. 122 f. Bratman, Michael E.: Shared Intention. In: ders.: Faces of Intention. Selected Essays on Intention and Agency. Cambridge Mass. 1999, S. 109–129, hier S. 122. 86 Bratman 1999, S. 122 f.; Herv. von mir. 87 Bratman 1999, S. 9. 88 Bratman, Michael E.: I Intend that We J. In: ders. 1999, S. 142–164, hier S. 145, Fn. 6. 84 85
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Margaret Gilbert in ihrem Plural Subject-Ansatz 89 und ganz im Gegensatz zu Searle, der das Phänomen der gemeinsamen Intentionalität à tout prix so zurüstet, daß es als ganz und gar individuelle Angelegenheit und damit als unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz einer Gruppe erscheint. Searle ist in mancher Hinsicht zwar ein denkbar dezidierter Anti-Cartesianer. 90 Dennoch hält er in bezug auf die kollektive Intentionalität durchweg an einem Cartesianischen Motiv fest: dem subjektiven Individualismus im Sinne der strukturellen Unabhängigkeit unserer Intentionalität von allem, was unser individuelles Bewußtsein transzendiert. Searle bleibt Cartesianer genug, das Vorliegen eines mentalen Ereignisses der Form »wir glauben …«, »wir beabsichtigen …«, »wir fühlen …« im individuellen Bewußtsein für ausreichend für das Vorliegen von gemeinsamer Intentionalität zu halten – anstatt den viel plausibleren Schluß zu ziehen, daß vereinzelte Hirne im Tank zwar glauben mögen, gemeinsame Intentionen zu haben, ohne allerdings dabei tatsächlich gemeinsame Kognitionen und Absichten zu haben. Was im isolierten Hirn im Tank so aussehen mag wie der individuelle Anteil einer gemeinsamen Intention, ist in Wahrheit gar keiner. 91 Denn gemeinsame Intentionen haben Individuen nur in Beziehungen. Diesbezüglich ist Bratmans Position derjenigen von Searle überlegen. Bratman löst sich aus der Cartesianischen Subjektfixiertheit, indem er den subjektiven Individualismus zurückweist. Gemeinsame Intentionalität ist seiner Konzeption gemäß von vornherein eine Angelegenheit der Beziehung individueller Intentionen. Allerdings fällt Bratman dann aber bei der näheren Charakterisierung der beteiligten individuellen Intentionen seinerseits in den Cartesianischen Denkrahmen zurück; angesichts der Gefahr des group mind hält auch Vgl. dazu Gilbert 1989, 2000. Der Cartesianische Dualismus von res cogitans und res extensa ist die Position, gegen die Searles philosophy of mind (als deren Zentralfrage Searle das Verhältnis von Gehirn und Bewußtsein bezeichnet) gerichtet ist (vgl. dazu Searle, John R.: Minds, Brains, and Science. Cambridge Mass. 1984). 91 Vgl. zu dieser und nahe verwandten Kritiken an Searle aus der umfangreichen Debatte etwa Hornsby, Jennifer: Collectives and Intentionality. In: Philosophy and Phenomenological Research 58 (1997), S. 429–434; Waldenfels, Bernhard: Sozialontologie auf sozialbiologischer Basis. In: Philosophische Rundschau 45 (1996), S. 97–112; Celano, Bruno: Collective Intentionality, Self-Referentiality, and False Beliefs: Some Issues Concerning Institutional Facts. In: Analyse und Kritik 21 (1999), S. 237–250, insbes. S. 239 ff.; Turner, Stephen P.: Searle’s Social Reality. In: History and Theory 38 (1999), S. 216–228, S. 216 (Fn. 20). 89 90
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Bratman es für nötig, zum Individualismus Zuflucht zu nehmen, und bemüht gegen das Schreckgespenst des Kollektivsubjekts den Geist des Individualismus. Dabei ist Bratman zwar einleuchtenderweise der Meinung, daß für das gemeinsame Denken bzw. Handeln das in der gegenwärtigen individualistischen Sozialtheorie so dominante Motiv der Emergenz sozialer Ordnung aus rein individuellem Handeln per »unsichtbarer Hand«, nicht ausreicht, bzw. daß Phänomene gemeinsamen Intendierens nicht mit diesem Schema erklärt werden können. Daß die individuellen »Beiträge« sich bloß faktisch, sozusagen »hinter dem Rücken« der beteiligten Individuen, zu etwas Kollektivem fügen, reicht nicht aus; die Gemeinsamkeit muß schon in den individuellen »Beitragsintentionen« irgendwie enthalten sein. Die entscheidende Frage ist: Wie kommt sie dort unter? Für den Fall der praktischen Intentionalität formuliert: »How will the conception of the joint action get into the intentions of the individuals?« 92 Searle beantwortet seinerseits, wie gesehen, diese eigentliche Gretchenfrage der Theorie gemeinsamen Intendierens, indem er auf ein irreduzibles »Wir intendieren …« im individuellen Bewußtsein rekurriert. Bratman dagegen versucht, die Sozialität der am gemeinschaftlichen Intendieren beteiligten individuellen »Beitragsintentionen« in den propositionalen Gehalt von Intentionen der Form »Ich intendiere …« einzulassen. Diese haben nach Bratman, wie oben gesehen, die Form »I intend that we J« – sie sind also formal individuell und bloß im Gehalt gemeinsam. 93 Bratman vertritt damit zwar eine intersubjekiv-relationale Theorie der Wir-Intentionalität, indem er gegen Searle die Bedeutung intersubjektiver Relationen betont. In dieser Hinsicht vertritt Bratman, mit anderen Worten, eine nicht-internalistische Theorie des gemeinsamen Intendierens und weist den subjektiven Individualismus bzw. den methodologischen Solipsismus zurück. Gemeinsame Intentionen haben Individuen nicht für sich, unabhängig davon, ob es andere mit-intendierende Subjekte gibt oder nicht. Gleichzeitig reduziert Bratman angesichts der drohenden Gefahr des Kollektivsubjekts aber gemeinsame Intentionalität auf Ich-Intentionalität, indem er die Gemeinsamkeit der Intentionalität gleichsam im propositionalen Gehalt von Ich-Intentionen einlagert und damit der »Ich-Form« unterstellt; Bratmans Analyse ist in die-
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Bratman 1999, S. 115. Vgl. Bratman 1999, S. 142 ff. A
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sem Sinn, wie Bratman selbst sagt, »reductive in spirit« 94 – in einem individualistischen Geist gehalten, welcher den Gruppengeist fernhalten sollte. 95 Es bietet sich damit bei Bratman, in genauem Gegensatz zu Searle, das erwähnte, zugleich intersubjektiv-relationale und reduktionistische Bild. Die Situation ist, kurz gesagt, dilemmatisch. Searle wie Bratman liegt ebensosehr daran, die traditionelle individualistische Limitierung unserer Handlungstheorie zu überwinden wie andererseits das Schreckgespenst des group mind durch ein Bekenntnis zum Individualismus zu bannen. Beide gehen dadurch die Aufgabe der Überwindung der »Cartesianischen Gehirnwäsche« letztlich nur halbherzig an. Aber durch die Komplementarität beider Positionen zeichnet sich in dieser Theoriekonstellation nicht bloß der traditionelle Individualismus ab, sondern auch der Umriß seiner Überwindung: ein individualistisch unverkürzter Begriff der intentionalen Gemeinsamkeit.
§ 9 Jenseits der »Cartesianischen Gehirnwäsche« Schon eine geeignete Kombination der bereits vorliegenden Theorieelemente hilft hier weiter. Die Stärken und Schwächen von Searles und Bratmans Theorien des gemeinsamen Intendierens sind ja, wie gesehen, komplementär. Bratman betont zu Recht, daß das gemeinBratman 1999, S. 108. Eine weitere Form eines individualistischen Vorurteils hat Annette Baier sowohl Searle wie auch Bratman vorgeworfen: die Orientierung der Analyse gemeinsamen Handelns am Beispiel von Handlungen, die prinzipiell auch jemand alleine tun könnte (notorisch in der Debatte sind das Anrühren von Mayonnaise und das Anstreichen eines Hauses; vgl. Baier 1997b, S. 26 f.). Baier empfiehlt demgegenüber den Ansatz bei Handlungen, die man von vornherein nur gemeinsam tun könne: ein Duett singen, heiraten etc. Diesbezüglich argumentiert Bratman, die Konzentration auf Beispiele, die nicht »cooperatively loaded« bzw., wie Bratman sagt, »neutral with respect to shared intention« sind, diene dazu, die Zirkularität, in welche die Analyse sich sonst verstricken würde, zu vermeiden. Nachdem schon Kutz diese »Zirkelvermeidungsstrategie« kritisch beleuchtet hat, rückt Stoutland sie in seiner Rezension von Faces of Intention vollends in ein schiefes Licht. Die Restriktion auf Handlungen, die auch einer allein tun kann, »builds individualism into the very method, for it requires that social activity be understood in terms of the actions and attitudes of individuals – indeed, that all actions be analyzed in terms of action types a single individual could perform« (Stoutland 2002; vgl. auch Kutz, Christopher: Complicity. Ethics and Law for a Collective Age. Cambridge UK 2000b, S. 86 f.).
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same Intendieren den Bannbereich des Einzelsubjekts überschreitet. Gemeinsames Intendieren reicht strukturell über die Grenzen des Individualbewußtseins hinaus. Das cogitamus ist kein Hort privilegierter Gewißheit; es ist der Verfügungsmacht des genius malignus (beziehungsweise seiner modernen Version, des Hirnchirurgen und Bioinformatikers) nicht entzogen. Als geistige Wesen, die zu gemeinsamem Intendieren in der Lage sind, haben wir Intentionen, die strukturell über das hinausgehen, wessen wir uns je für uns selbst rein reflexiv vergewissern können. Zu Recht weist daher Bratman im Rahmen seiner Theorie gemeinsamen Intendierens den subjektiven Individualismus, den Internalismus, den methodologischen Solipsismus zurück. Andererseits nimmt auch er gegen den drohenden group mind wieder zum Individualismus Zuflucht: zum formalen Individualismus, den er in seine Konzeption des gemeinsamen Intendierens dadurch inkorporiert, daß er das gemeinsame Intendieren auf Interrelationen von individuellen Intentionen der Form »ich intendiere, daß wir J« reduziert. Diesem formalen Individualismus gegenüber behält nun hinwiederum Searle Recht, der darauf besteht, daß Intentionen der Form »wir intendieren x« eine irreduzible Form von Intentionalität darstellen. Umgekehrt glaubt Searle, den drohenden group mind bzw. Kollektivsubjekt (für Searle, wie erwähnt, beides »perfectly dreadful metaphysical excrescences« 96 , »at best mysterious and at worst incoherent« 97 ) nur dadurch abwehren zu können, daß er zum subjektiven Individualismus Zuflucht nimmt. Im Blick auf die Konstellation der Positionen von Bratman und Searle zeigt sich: ein adäquater Begriff gemeinsamen Intendierens muß nicht entweder intersubjektiv-relational oder nicht-reduktionistisch sein. Gemeinsames Intendieren ist, anders als Searle glaubt, keine Angelegenheit vereinzelter Subjekte. Es ist ein intersubjektivrelationales Phänomen. Und andererseits besteht gemeinsames Intendieren, anders als Bratman glaubt, nicht in einer Interrelation von individueller Intentionalität. In der obigen ausführlichen Kritik von Bratmans Ansatz (§ 6) hat sich gezeigt, daß die individuellen Intentionen, die Bratman seiner Analyse zugrundelegt, die gesuchte gemeinsame Intention schon voraussetzt. Das gemeinsame Intendieren ist irreduzibel gemeinsam. Eine adäquate Theorie des gemeinsamen Intendierens muß sich insofern nicht bloß entweder vom for96 97
Searle 1998b, S. 150. Searle 1990, S. 404; vgl. auch etwa Searle 1998a, S. 118. A
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malen Individualismus oder vom subjektiven Individualismus abstoßen. Sie muß den Individualismus sowohl in seiner formalen als auch in seiner subjektiven Ausprägung hinter sich lassen. Kommen wir mit diesem Befund zurück auf Annette Baier, die im Individualismus der analytischen Theorie der kollektiven Intentionalität eine »Cartesianische Gehirnwäsche« am Werk sieht. Ihre Vermutung ist dabei, daß die Fixierung der Theorie der Intentionalität auf das Individuum mit der Struktur unserer Sprache zu tun habe. 98 Dies dürfte aber ebensowenig der unmittelbare Grund für den von Baier zu Recht festgestellten »individualistic bias« sein wie etwa Descartes’ foundationalism. Ein anderer, viel näherliegender und bislang weitgehend unanalysierter Faktor spielt hier eine ganz entscheidende Rolle: das Gespenst des Kollektivsubjekts oder group mind. Der individualistische Zuschnitt der analytischen Theorie der kollektiven Intentionalität, soll ja – je nach Strategie – das Gespenst des group mind entweder direkt exorzieren oder doch zumindest domestizieren. Erst von diesem Motiv her wird der individualistische Zuschnitt der analytischen Theorie der kollektiven Intentionalität verständlich. Und wenn nun das Scheitern der individualistischen Theorie gemeinsamen Intendierens in allen ihren Varianten diagnostiziert wird, muß die Frage gestellt werden: läuft ein Begriff gemeinsamen Intendierens, der beim Abstoß vom Individualismus nicht wenigstens eine Form von Individualismus als Mittel gegen den group mind mitnimmt, also ein nicht-reduktionistischer und intersubjektiv-relationaler Begriff des gemeinsamen Intendierens, nicht direkt dem Kollektivsubjekt in die Arme? Wie sonst wenn nicht mittels eines individualistischen Theoriezuschnitts soll denn das Kollektivsubjekt ferngehalten werden? Dem Kollektivismus-Verdacht mag das, was sich im Obenstehenden als Neuansatz abzeichnet, einige Nahrung geboten haben. Immerhin wird gemeinsame Intentionalität von individueller Intentionalität unterschieden, das Element der Gemeinsamkeit nicht im Gegenstandsbereich der Intentionalität, sondern in ihrer Form verBaier, Annette C.: Doing Things With Others: The Mental Commons, in: Alanen, Lilli/Heinämaa, Sara/Wallgren, Thomas (Hrsg.): Commonality and Particularity in Ethics. London 1997, S. 15–44, S. 18: »Has Descartes so brainwashed us that we cannot conceive of not taking the first person singular to be the place to start? Does the fact that in most languages the plural is the ›marked‹ form of nouns (›persons‹ adds an ›s‹ to the unmarked singular, ›person‹) license us to treat all plurals as derivative of more basic singulars?«
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ortet, und diese Form als etwas bezeichnet, was sich nicht auf das beschränkt, was einzelne Individuen »im Kopf« haben. Wenn es demgemäß nicht die einzelnen Individuen sind, die gemeinsame Intentionen haben, wer soll es dann sein, der gemeinsame Intentionen hat – wenn nicht das Kollektiv selbst, also die Wir-Gruppe? Die These, die im folgenden vertreten wird, lautet: statt sich vom Kollektivsubjekt in eine individualistische Konzeption drängen zu lassen, gilt es, den Individualismus konsequent zu verabschieden; dann löst sich nämlich auch das Gespenst des Kollektivsubjekts auf. Denn es ist selbst bloß eine individualistische Fiktion einer nicht-individualistischen Position. Es ist eine mit den limitierten begrifflichen Mitteln des Individualismus gezeichnete Karikatur einer nicht-individualistischen Position; oder, noch drastischer ausgedrückt: Nur Individualisten werden überhaupt auf die Idee kommen, daß die Alternative zum Individualismus eine Kollektivgeistkonzeption ist. Beides, der Individualismus und das Kollektivsubjekt, gehört zusammen. Das Gespenst des Kollektivsubjekts, welches die analytische Theorie der kollektiven Intentionalität zurück in den vermeintlich sicheren Hafen des Individualismus treibt, entspringt selbst einer ebenso tiefsitzenden wie problematischen Vorstellung, einem Vorurteil, welches den vielleicht nachhaltigsten Effekt der »Cartesianischen Gehirnwäsche« darstellt. Es ist dies die Vorstellung, daß Intentionen etwas sind, was jemand hat, was jemandem als Autor oder Träger zuzuordnen ist. Es ist, mit anderen Worten, die vielleicht zunächst ganz unschuldig anmutende Annahme, daß Intentionalität stets Sache eines Subjektes ist. Was gemeinsames Intendieren ist, wird demgegenüber erst sichtbar, wenn man dem Cartesianischen Denkzwang, Intentionalität auf ein Subjekt zu beziehen, widersteht – dem Denkzwang der Zuordnung an ein Subjekt, welches dann nur entweder individuell oder kollektiv sein kann, und welches deshalb kollektiv sein muß, wenn es nicht individuell ist. Wenn gemeinsames Intendieren ein intersubjektiv-relationales Phänomen ist, sind gemeinsame Intentionen eben nicht von der Art, die ein oder mehrere einzelne, kollektive oder individuelle Subjekte haben – sie sind vielmehr etwas, worin Individuen sich teilen. Dieses »Sich-Teilen«, diese Gemeinschaft, ist ein ursprüngliches Phänomen; es läßt sich nicht auf ein »Haben« reduzieren – auf kein Individuelles, und schon gar nicht auf ein höherstufiges, kollektives »Haben«, welches dann einen group mind voraussetzen würde. Der Denkzwang, alle A
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Intentionalität auf ein Subjekt zu beziehen, ist der hartnäckigste Effekt der »Cartesianischen Gehirnwäsche«, der Subjektversessenheit unseres Denkens. Und er ist der Kern des Individualismus, den es auf dem Weg zu einer adäquaten Theorie des gemeinsamen Intendierens zurückzulassen gilt. Recht besehen ist also die Alternative zwischen Individualismus und Kollektivsubjekt – die Alternative, angesichts derer sich die Theoretiker des gemeinsamen Intendierens für den Individualismus entscheiden – eine bloße Scheinalternative. Sie stellt sich nämlich überhaupt nur auf der Grundlage des individualistisch-Cartesianischen Ausgangs vom subjektiven »Ich-Bewußtsein«. Nur wo der Grundsatz akzeptiert wird, daß partout alle Intentionalität subjektiviert werden, d. h. einem »Träger« zugeordnet werden muß, kann überhaupt die (von außen gesehen freilich absurde) Idee sprießen, das, was sich der Zuordnung zu einzelnen Individualsubjekten sperrt – die Gemeinsamkeit unserer Intentionalität – einfach einem höherstufigen, kollektiven Subjekt als Träger zuzuordnen. Das »Schreckgespenst« Kollektivsubjekt ist mithin eine individualistische Illusion. (Bezeichnend ist es denn auch, daß es unter den bedeutenderen Philosophen mit Edmund Husserl ein überzeugter Cartesianer war, der einer Kollektivsubjektkonzeption des Sozialen am nächsten kam.) 99 Martin Heidegger – der freilich zeitweise selbst eine kollektivistische Daseinskonzeption vertreten hat (vgl. unten § 10) – hat diese gemeinsame Wurzel von Individualismus und kollektivistischer Makrosubjekt-Konzeption mit aller wünschbaren Deutlichkeit herausgestellt. Der Ansatz beim Kollektivsubjekt, in dem »das weltlose ›ich‹ sich scheinbar aufgegeben und hingegeben hat an ein anderes, das ›größer‹ ist als es und dem es stückweise oder gliedweise zugewiesen ist«, weicht eben nur scheinbar von der Fixierung auf das IchBewußtsein ab, ist dabei aber in Wahrheit eine seiner »gefährlichsten Gestalten«. 100 Das Kollektivsubjekt ist nämlich schlicht und einfach die auf die kollektive Ebene gehobene Form des Individualsubjekts. Es entspringt dem zweifelhaften Versuch, das, was man im Ausgang vom Subjekt nicht denken kann – Sozialität – selbst noch in das begriffliche Korsett der Subjektsemantik zu zwingen. Auf dem Weg zu einem adäquaten Verständnis gemeinsamen Intendierens gilt es mithin, die »Cartesianische Gehirnwäsche« zu 99 100
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Vgl. Schmid 2000, S. 17–27. Heidegger [1938]/1989, S. 321.
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überwinden. Und dies bedingt, angesichts des Phänomens gemeinsamen Intendierens die immer auf das Subjekt zielende und auf das Subjekt hinzwingende »Wer«-Frage nicht zu stellen. Gemeinsame Intentionen sind ja nicht Intentionen, die irgend jemand hat – keine Individuen und kein Kollektivsubjekt. Angesichts des relationalen Charakters wird deutlich, daß die »Wer«-Frage in bezug auf gemeinsame Intentionen schlicht keinen Sinn macht. 101 Mit dem Cartesianischen Zwang, Intentionalität einem Subjekt zuzuordnen, verschwindet dann auch das Gespenst des group mind. Der Weg wird frei für einen Begriff gemeinsamen Intendierens, welcher den individualistischen Bezugsrahmen dezidiert hinter sich läßt: für einen nicht-reduktionistischen und intersubjektiv-relationalen Begriff. Ist das Gespenst des group mind als eine Cartesianische Illusion durchschaut, zeigt sich auch ein Ausweg aus dem Grunddilemma der Theorie der kollektiven Intentionalität. Mit dem Fokus auf das Phänomen des gemeinsamen Intendierens wird einerseits versucht, aus dem zu individualistischen Denkrahmen, der unser Verständnis von Intentionalität (und in weiterer Hinsicht unseren Begriff des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft) geprägt hat, auszubrechen. In dieser Hinsicht hat die Theorie der kollektiven Intentionalität von vornherein eine anti-individualistische Stoßrichtung. Gleichzeitig scheut man sich, diese Richtung konsequent einzuschlagen. Denn in ihrer Verlängerung erscheint, als gespenstisches Gegenbild zum individualistischen Ansatz beim Einzelsubjekt, der group mind. Hier wechselt darum die Perspektive. Allen Theoretikerinnen und Theoretikern der kollektiven Intentionalität erscheint der Individualismus als das einzig wirksame Mittel gegen den group mind. Das Verhältnis der Theorie der kollektiven Intentionalität zum Individualismus ist daher durch einen eigentlichen double bind geprägt. Man stößt sich vom Individualismus ab und sucht zugleich seinen Schutz gegen den Kollektivismus. Wenn nun aber das Gespenst des group mind, welches man so fürchtet, sich selbst als Fiktion entlarvt, nämlich als eine Art individualistisches Zerrbild der anti-individualistischen Position, gibt es – zumal angesichts der Dies zumindest insofern, als die Wer-Frage auf ein Subjekt abzielt. Eine gleichwertige, freilich schwieriger zu bewerkstelligende Alternative zum Verzicht auf das Stellen der Wer-Frage wäre natürlich die Herausbildung eines neuen Verständnisses des »Wer«, gemäß welchem dieses »Wer« nach keinem einheitlichen Subjekt (sondern nach Relationen, Verhältnissen) fragt.
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argumentativen Schwächen der individualistischen Theorie der kollektiven Intentionalität – keinen Grund, sich beim Abstoß vom Individualismus vom Gespenst des group mind aufhalten zu lassen. Entgegen dem »individualistischen Anti-Individualismus« der analytischen Theorie der kollektiven Intentionalität ist das gemeinsame Intendieren ein Phänomen, welches sich in seinem vorreflexiv-unthematischen, nichtreduzierbaren und intersubjektiv-relationalen Charakter dem individualistischen Ansatz entzieht. Dies hat Konsequenzen für den Grundansatz der philosophy of society bzw. der Sozialontologie. Die analytische Theorie der kollektiven Intentionalität bemüht sich, wie oben gesehen, um Kompatibilität mit dem »orthodoxen«, dem individualistischen Ansatz in der philosophy of society. Und die Furcht vor dem Kollektivsubjekt spielt hierbei eine entscheidende Rolle. In Gegenwendung zu ihm betonen die Theoretikerinnen und Theoretiker die ontologische Nachrangigkeit von Kollektivität gegenüber dem Individuellen – sei es in der Form einer ontologischen Nichtexistenterklärung von Kollektiven wie bei Raimo Tuomela, dem Gilbertschen Atomismus, Bratmans Reduktionismus oder Searles methodologischem Solipsismus. Die analytische Theorie der kollektiven Intentionalität geht mit der orthodoxen, individualistischen Sicht der Dinge in der philosophy of society einig: Die Existenz von so etwas wie kollektiver Intentionalität, so wird behauptet, ändert nichts daran, daß es in einem ontologischen Sinn »im Grunde« keine Gemeinschaft oder Gesellschaft, sondern eben nur Individuen gibt. Das credo der individualistischen Orthodoxie, das in der Formulierung von Jon Elster lautet: »there is no such thing as society, only individuals who interact with each other«, würden wohl auch die genannten Theoretiker der kollektiven Intentionalität unterschreiben. Aus der Perspektive eines nicht-reduktionistischen und intersubjektiv-relationalen Begriffs des gemeinsamen Intendierens bietet sich demgegenüber ein ganz anderes Bild. Die individualistische These, daß es Gesellschaft im ontologisch »harten« Sinn nicht gibt, sondern nur Individuen und ihre Interaktionen, erscheint nicht als falsch, sondern vielmehr als sinnlos. Denn die meisten Formen der wechselseitigen Beziehungen zwischen Individuen beruhen auf gemeinsamer Intentionalität. 102 Und gemeinsame Intentionalität ist 102 S. dazu unten Kap. 8–10. Auf gemeinsamem Intendieren beruht nicht nur kooperativ-konsensuelles »Gemeinschaftshandeln«, sondern auch die überwiegende Mehr-
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qua relationales Phänomen, was wenn nicht Gesellschaft, so doch Gemeinschaft in einem ontologischen Sinn ist. Es eröffnet sich damit eine Perspektive auf eine nicht-individualistische Sozialontologie, oder genauer: die Analyse gemeinsamen Intendierens selbst wird zur Sozialontologie. Nur aufgrund des individualistisch halbierten Begriffs gemeinsamen Intendierens stellt sich den Theoretikerinnen und Theoretikern der kollektiven Intentionalität nämlich die sozialontologische Folgefrage nach dem Verhältnis der kollektiven Intentionalität (verstanden als individuelle Angelegenheit) und der Existenz von Kollektiven. Mir scheint, daß dies eine Scheinfrage ist, die als Frage bzw. Problem schlicht und einfach verschwindet, wenn gemeinsames Intendieren als vorreflexivunthematisches, nicht-reduzierbares und intersubjektiv-relationales Phänomen durchschaut ist. Nur weil in der analytischen Theorie der kollektiven Intentionalität aus Angst vor dem Kollektivsubjekt tatsächliche Kollektivität aus dem Begriff gemeinsamen Intendierens ausgetrieben wurde, wird das Verhältnis von kollektiver Intentionalität und Existenz von Kollektiven überhaupt zum Problem. Die Frage nach dem Verhältnis von kollektiver Intentionalität und der Existenz von Kollektiven setzt nämlich voraus, daß gemeinsames Intendieren von der Existenz von Gruppen unterschieden werden kann. »Ontologically speaking, collective intentionality gives rise to the collective and not the other way around«, sagt Searle. Aber damit deutet er eine falsche Alternative zur individualistischen Fundierung der Existenz von Kollektiven in der Intentionalität von Individuen an. Die Frage, was hier worin fundiert sei, stellt sich nur aufgrund der falschen Prämisse, daß gemeinsames Intendieren und die tatsächliche Existenz von Gruppen zwei verschiedene Dinge seien. Diese Prämisse erweist sich aus der Perspektive eines vorreflexiv-unthematischen, nicht-reduktionistischen und intersubjektiv-relationalen Begriffs gemeinsamen Intendierens als völlig haltlos. Gemeinsames Intendieren ist keine Sache von einzelnen Individuen, zu der dann die Existenz von Kollektiven – wie akzidentiell auch immer – sekundär noch hinzukäme (oder auch nicht). Die »Gemeinsamkeit« des geheit der Erscheinungsformen konflikthaften Handelns – soweit dieses nämlich auf einer koordinativen bzw. gar kooperativen Grundlage aufruht, wie das für alle Formen »geregelten« Konfliktes (typisch: der »Kampf nach Regeln«) der Fall ist. Als Beispiel eines »sozialen Handelns«, welches nicht auf kollektiver Intentionalität beruht, fällt John Searle nur der Fall eines Wegelagerers ein (cf. Searle 1995, S. 97). A
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meinsamen Intendierens ist, anders als Raimo Tuomela denkt, kein bloßes »feature of individuals«, welches von tatsächlicher Gemeinsamkeit bzw. Gemeinschaft in einem ontologischen Sinn zu unterscheiden wäre (und wäre es auch nur in dem Sinne, daß das Gemeinschaftliche auf dem Individuellen »superveniert«). Gemeinsames Intendieren ist tatsächliche Gemeinsamkeit. Und tatsächliche Gemeinsamkeit ist die Art von Bezogensein von Menschen, wie sie für gemeinsames Intendieren konstitutiv ist. Dafür verliert die analytische Theorie der kollektiven Intentionalität durch ihre individualistische Halbierung der Gemeinsamkeit des Intendierens den Blick. Korrigiert man diese theoretische Verkürzung, so eröffnet sich damit auch eine Perspektive darauf, daß die von der Diskussion rund um die kollektive Intentionalität zunächst enttäuschten Hoffnungen der heterodoxen philosophers of society schließlich noch erfüllt werden könnten. In sozialontologischer Hinsicht führt ein vorreflexivunthematischer, nicht-reduktionistischer und intersubjektiv-relationaler Begriff des gemeinsamen Intendierens nämlich ganz im Gegensatz zur analytischen Theorie der kollektiven Intentionalität hin zu einer heterodoxen Position in der Sozialontologie. Gemeinsames Intendieren ist eine Form von Intentionalität, die Individuen nur als genuin soziale Wesen haben. Das gemeinsame Empfinden, Denken und Handeln von Individuen ist insofern nicht etwa ontologisch-fundierungslogisch vorgängig gegenüber ihrer faktischen Gemeinsamkeit, wie es der Individualismus sieht, noch ist umgekehrt die Gemeinsamkeit eine ontologisch-fundierungslogische Vorbedingung gemeinsamen Intendierens, wie es der mit individualistischen Mitteln als Strohmann bzw. Schreckgespenst zum Zweck anschließender Schmähung aufgebauten und entsprechend behandelten Kollektivsubjektkonzeption entspräche. Ein vorreflexiv-unthematischer, nicht-reduktionistischer und intersubjektiv-relationaler Begriff gemeinsamer Intentionalität führt zu einem holistischen Ansatz in der philosophy of society. Das, was Individuen »im Kopf« haben, wenn sie gemeinsam intendieren, ist weder die fundierungslogische Basis einer »emergenten« oder »supervenienten« Gemeinschaft, noch ist umgekehrt die Gemeinschaft die fundierende Basis für das, was Individuen »im Kopf« haben, wenn sie gemeinsam intendieren. In theoriegeschichtlicher Perspektive ist insofern weder Max Weber noch Emile Durkheim 103 die Option, sondern am ehesten ein Holismus 103
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vom Zuschnitt John Deweys. Denn vom Verhältnis zwischen dem, was Individuen »im Kopf« haben, wenn sie gemeinsam intendieren, und der Existenz von Gemeinschaft gilt, was Dewey vom Verhältnis von Individuum und Gesellschaft überhaupt sagt: Sie verhalten sich nicht zueinander wie Atom und Molekül oder wie Baum und Wald, sondern eher wie Buchstaben und Alphabet. 104 Wie das Alphabet nicht (und sei es auch nur als »emergente« oder »superveniente« Entität) von den Buchstaben abgelöst existiert – kein Alphabet ohne Buchstaben –, das Buchstaben-Sein andererseits aber auch nicht unabhängig vom Alphabet ist – keine Buchstaben ohne Alphabet –, so ist das, was Individuen empfinden, denken oder tun, wenn sie gemeinsam intendieren, ebensowenig von ihrer tatsächlichen Gemeinsamkeit abzulösen wie umgekehrt Gemeinschaft ohne gemeinsames Empfinden, Denken oder Fühlen bestehen kann. Die Theorie des gemeinsamen Intendierens greift damit ein altes metaphysikkritisches Motiv auf. Während in der Aristotelischen Metaphysik Relation logisch nachrangig ist gegenüber der später als Subjekt Karriere machenden Substanz (hypokeimenon), ist das Verhältnis von Relation und Relata im Falle des gemeinsamen Intendierens ein gänzlich anderes. 105 Es ist nicht so, daß das, was hier in Beziehung steht – das, was die einzelnen Individuen denken, fühlen oder vorhaben, wenn sie gemeinsam denken, fühlen oder handeln – logisch unabhängig wäre von der Beziehung selbst, also der Gemeinsamkeit dieses Denkens, Fühlens oder Handelns. In gewisser Weise ist das Verhältnis von Relation und Relata hier eines der wechselseitigen Fundierung. Kein gemeinsames Intendieren ohne daß einzelne Individuen intendieren – aber die betreffende Intentionalität der einzelnen Individuen ist das, was sie ist, nur in der Bezogenheit selbst. Damit zurück zur Ausgangsfrage der ganzen Untersuchung: Was ist der Unterschied zwischen individuellem und gemeinsamem Handeln? Woran entscheidet sich im Ausgangsbeispiel, ob Anna und gensten Winkel unseres Fühlens hinein. Die soziale Faktizität bezeichnet Durkheim dabei als extern gegenüber dem Individualbewußtsein. Näherhin stellt er sich das Verhältnis zwischen sozialer Faktizität und Individualbewußtsein so vor, daß die soziale Faktizität zwingende Kraft gegenüber dem Individualbewußtsein hat: wir können nicht anders, als so oder so fühlen. In dieser Hinsicht spricht Durkheim dann von sozialer Faktizität als Kollektivbewußtsein (vgl. Durkheim 1898/1961). 104 Vgl. Dewey, John: The public and its problems [1927]. New York 10 1999, S. 184 ff. 105 Meijers, Anthonie W. M.: Speech Acts, Communication and Collective Intentionality. Beyond Searle’s individualism. Utrecht 1994, insbes. S. 122 ff. A
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Berta in einem gegebenen Moment immer noch individuell oder schon gemeinsam unterwegs sind? Was ist vorgegangen zwischen dem Moment, in welchem Berta korrekterweise nicht fragen konnte: »wollen wir hier rasten?«, und dem Moment, in welchem es inadäquat wäre, wenn sie Anna fragen würde: »wollen Sie hier mit mir rasten?« Das bisher dazu Gesagte ist negativ, nämlich Kritik der gängigen Theorien des Gemeinschaftshandelns. Die Kernpunkte waren die folgenden: 1) Wenn aus Annas und Bertas individuellem Wandern ein gemeinsames Wandern wird, geht dies damit einher, daß die beiden ihr individuelles Verhalten auf geeignete Weise aneinander anschließen. Aber die Theorie des Gemeinschaftshandelns kann sich nicht auf die Analyse von Anschlußverhalten beschränken. Denn wenn Anna und Berta ihr Verhalten aneinander anschließen, tun sie dies (im Standardfall), weil und insofern sie gemeinsam unterwegs sind – und nicht umgekehrt. Sie sind nicht gemeinsam unterwegs, weil und insofern sie ihr Verhalten auf geeignete Weise aneinander anschließen. Das gesuchte Moment liegt nicht im Verhalten der Beteiligten, sondern im Bereich der Absichten. 2) Ähnlich wie im Falle des äußerlich Manifesten, des Anschlußverhaltens, liegen die Dinge auch bezüglich des »Innersten«, des »Selbstverständnisses« der Beteiligten. Es mag sein, ja es ist sehr wahrscheinlich, daß beide im Verlaufe ihrer Wanderung dazu kommen, sich selbst und die andere als Mitglieder eines Teams zu sehen. Aber das ist, wie gesehen, weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für Gemeinschaftshandeln. 3) Die individuelle Beitragsabsicht zu einem Gemeinschaftshandeln setzt eine gemeinsame Absicht voraus; gemeinsame Absichten sind nicht umgekehrt auf individuelle Beitragsabsichten reduzierbar. Wenn Anna und Berta gemeinsam unterwegs sind, so haben beide entsprechende Beitragsintentionen (Anna intendiert ihr individuelles Wandern als ihren Beitrag zum gemeinsamen Wandern; wenn Berta zurückgefallen ist, wartet sie etc. – und dasselbe gilt mutatis mutandis für Berta). Aber diese Beitragsintentionen sind wir-derivativ: wenn die Beteiligten ihre individuelle Beitragsabsicht bilden, leiten sie diese (implizit) aus einer gemeinsamen Absicht ab. Mit anderen Worten: die Gemeinsamkeit der handlungsleitenden Absicht ist irreduzibel. 4) Die gesuchte Gemeinsamkeit ist auch nicht bloß eine der Form der Intentionalität; ob eine Intention gemeinsam ist oder nicht, erschließt sich nicht im Blick auf die internalistisch verstandenen mental states der beteiligten Individuen, sondern ist 240
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eine Frage der Beziehung. Gemeinsame Intentionalität – ich würde diesem Begriff letztlich den Vorzug geben gegenüber dem gebräuchlicheren Ausdruck »kollektive Intentionalität«, weil die Gemeinschaft gerade keine »Zusammenlegung« (con-lectio) von Individuen ist – fügt sich nicht in den individualistischen Bezugsrahmen; sie setzt tatsächliche Gemeinschaft voraus.
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Teil II: Rekonstruktion der Gemeinschaft
»The public mind must emerge somewhat from its subconscious condition and know and guide its own processes.« Charles Horton Cooley
Gemeinschaft ist Intentionalität, lautet der Befund des ersten Teils. Dieser mentalistische Grundansatz der Sozialontologie klingt sattsam bekannt. In der Geschichte der Sozialontologie tritt er fast durchweg zusammen mit einem idealistischen und individualistischen Intentionalitätsverständnis auf. Diese Verbindung zwischen Mentalismus (oder Intentionalismus) und Monologismus ist aber, wie oben dargestellt, kontingent; auf dem Weg zu einer adäquaten Sozialontologie muß mit dem Monologismus nicht zugleich das »mentalistische Paradigma« aufgegeben werden. »The society is mental«, schreibt Charles Horton Cooley kurz und bündig. 1 Freilich bedarf es hier auch gegenüber Cooleys Konzeption eines grundlegenden Wandels unseres Verständnisses von »mind« bzw. Bewußtsein. Der individualistische Rahmen unseres gewohnten Verständnisses wird gleich in drei Hinsichten gesprengt. Der »Wir-Aspekt« des Bewußtseins, welches Gemeinschaft ist, ist zugleich vorreflexiv-unthematisch (vgl. oben Kap. i), irreduzibel (Kap. ii) und intersubjektiv-relational (Kap. iii). Als Resultat einer Analyse, die sich als Beitrag zur Sozialontologie ausflaggt, scheint dies vielleicht unbefriedigend. Bei diesen Bestimmungsstücken handelt es sich nämlich durchweg um negative Befunde, um bloße Abgrenzungen von der individualistischen Sicht, welche als solche, wie man annehmen könnte, noch keine eigene Theorie der Gemeinschaft bieten. Die individualistische Sicht mag zunächst tatsächlich bloß als zu Cooley, Charles Horton: Social Organization/Human Nature and the Social Order [1902/05]. With an Introduction by Robert Cooley Angell, Glencoe, Ill., 1956, S. 86.
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überwindende Verzerrung der wissenschaftlichen Sicht unseres Miteinanderseins erscheinen. Der folgende zweite Teil soll zeigen, daß die Kritik der »Cartesianischen Gehirnwäsche« mehr leistet: sie ist selbst schon ein Stück Rekonstruktion der Gemeinschaft. Das »fehlgehende« individualistische Intentionalitätsverständnis ist nämlich kein beliebiger wissenschaftlicher Mißgriff, der zwar kritisiert werden muß, dann aber ohne weiteres erledigt ist und für einen theoretischen Neuansatz keine Rolle mehr spielt. Die »Cartesianische Gehirnwäsche« ist mehr als eine bloße systematische Verzerrung unseres (philosophischen) Selbstverständnisses. Sie ist selbst ein wesentliches Phänomen unseres tatsächlichen Miteinanderseins. Es gehört nämlich zu der besonderen Weise, in der wir »Wir« sind, gerade hinzu, daß wir uns selbst individualistisch mißverstehen. Dem Ausleuchten dieser Struktur, welche die Sozialontologie und -theorie in die Form der Individualismus-Kritik zwingt, gilt der zweite Teil der vorliegenden Studie. In Anlehnung an das Heidegger-Zitat, das dieser Studie vorangestellt ist, läßt sich das Verhältnis von Individualismus-Kritik und Rekonstruktion der Gemeinschaft noch etwas verdeutlichen. Die Aufgabe des ersten Teils war es, zu zeigen, daß (und inwiefern) das »Wir« eigentlich tatsächlich etwas anderes ist als ein bloßes Aggregat von Individuen oder »Ichen«. Aufgabe des zweiten Teils ist es hingegen, zu zeigen, daß das »zerbrochene Wir« (welches wir sind, insofern und weil wir uns individualistisch mißverstehen) selbst noch eine Form des Wir-Seins ist. Zentrales Interpretationsinstrument für das Verhältnis zwischen der im ersten Teil herausgearbeiteten vorreflexiven, irreduziblen und relationalen intentionalen Gemeinschaft einerseits und dem Individualismus unseres theoretischen und teilweise auch alltäglichen Selbstverständnisses ist dabei das Heideggersche Motiv der Uneigentlichkeit (Kap. iv). Vorläufig ausgedrückt lautet die Grundthese: Das gemeinsame Dasein, das wir sind, tendiert dazu, sich selbst als Sache vereinzelter Individuen zu sehen – und läuft dadurch in seinem Selbstverhältnis an seinem eigenen Sein vorbei. Der ontologische Individualismus der orthodoxen Sozialtheorie und die »Cartesianische Gehirnwäsche« liegen mithin in der Verlängerung einer im Dasein selbst angelegten Selbstverbergungstendenz. Kapitel v. überprüft diesen Befund an dem in Sozialwissenschaft und Sozialtheorie gegenwärtig wohl wichtigsten Theorieansatz. Hier wird die These vertreten, daß selbst die kühlste Rationalität der homo oeconomicus–Theorie im Grunde eine vor244
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reflexive, irreduzible und relationale Gemeinsamkeit voraussetzt. In Kapitel vi. wird das Projekt der Rekonstruktion der Gemeinschaft dann noch ein Stück weiter in den engeren Bereich der social theory verlängert: in einer Auseinandersetzung mit einer prominenten These zur (in sich schon sehr voraussetzungsreichen) Frage nach dem »Zement« der Gesellschaft. Eine grundsätzliche Frage vorweg: Kommt mit dem Gebrauch der Unterscheidung von »Eigentlichkeit« und »Uneigentlichkeit« ein normatives Element ins Spiel, welches über die Orientierung der Analyse am Kriterium der »Phänomengerechtigkeit«, die für den ersten Teil dieser Studie bestimmend war, hinausweist? Im Projekt der »Rekonstruktion der Gemeinschaft« in der »Überwindung« des Individualismus bzw. der »Uneigentlichkeit« schwingt zumindest eine existenzielle Note mit. Darin sehe ich kein Problem, sofern sich die sozialontologische Analyse dadurch nicht von der Orientierung am Kriterium der Phänomengerechtigkeit abbringen läßt. Das »Wertengagement«, das sich im Prozeß der Diagnose der »Uneigentlichkeit« unserer Individualität in die Analyse einflechten mag, wäre dann jedenfalls eines im Sinne des Zitats, das diesem zweiten Teil als Motto vorangestellt ist: ein Eintreten für ein Dasein, welches sich in seiner Gemeinschaftlichkeit transparent ist und welches deshalb seine gemeinsamen Belange auch bewußt zu regeln vermag.
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iv. Heidegger und das Miteinandersein
Es legt sich keineswegs von selbst nahe, sich in Fragen der Ontologie der Gemeinschaft ausgerechnet Martin Heidegger zuzuwenden – schon gar nicht dann, wenn es um eine »Rekonstruktion der Gemeinschaft« in Gegenwendung zum ontologischen Individualismus gehen soll. Von der Zeit der ersten breiteren Rezeption von Heideggers Denken in der Sozialphilosophie und in den Sozialwissenschaften bis in die Zeit vor dem jüngsten backlash in der sozialtheoretischen, -philosophischen und -wissenschaftlichen Heidegger-Rezeption hat eine klare Meinung die Szene beherrscht. Von der Sozialität des Menschen hat Heidegger nur eine höchst verzerrte, von tiefgreifenden Abneigungen (»das Man«) und mißglückten Anschlußversuchen (»das Dasein des Volkes«) geprägte Vorstellung; Heidegger sei, mit anderen Worten, sozialwissenschaftlich und -philosophisch völlig ungenießbar. Es ist denn auch bezeichnend, daß sich die Rezeption Heideggers in den Sozialwissenschaften – sieht man einmal vom Heidegger-Marxismus und den von der philosophischen Anthropologie beeinflußten sozialwissenschaftlichen Ansätzen ab – bis in die jüngste Zeit hinein vorwiegend in einem Negativ-Spektrum bewegt hat: im Spektrum zwischen der auffälligen Nichtbeachtung Heideggers in der phänomenologischen Soziologie 1 , direkter schroffer AbDie Heidegger-Rezeption von Alfred Schütz, der Gründungsfigur der Phänomenologischen Soziologie, beschränkt sich im früheren Werk auf einige sehr beiläufige terminologische Anleihen, bei denen sich Schütz dann mithin sogar noch die Mühe nimmt, eigens hervorzuheben, daß damit der Heideggersche Bezugsrahmen nicht übernommen werde (vgl. Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie [1932]. Frankfurt a. M. 1974, S. 77, 98 f., 192). Auch nach Schützens »pragmatischer Wende« in der weiteren Werkentwicklung ändert sich – anders als man angesichts von Heideggers eigener Nähe zu manchen Motiven des Pragmatismus vielleicht denken könnte – an dieser Haltung grundsätzlich nichts. Dies auch wenn Schütz nun einmal in Anlehnung an Heidegger »das Wissen um den Tod und die Furcht vor dem Tod« als die »grundlegende Sorge« bezeichnet, die den Menschen bei seiner pragmatisch-alltäglichen »Meisterung der Welt« anleitet (vgl. Schütz, Alfred:
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lehnung 2 und allenfalls beiläufiger Erwähnung bzw. oberflächlichen Anleihen in anderen Theoriekontexten. 3 Die reservierte Haltung der Sozialwissenschaften (wie auch der Sozialtheorie und Sozialphilosophie) zu Heidegger – sie beruht übrigens durchaus auf Gegenseitigkeit 4 – hat durchaus gewichtige inhaltliche Gründe. Die Analyse des Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze Bd. 1, Den Haag 1971, S. 262). 2 Ein frühes Beispiel hierfür bietet König, René: Kritik der historisch-existentialistischen Soziologie [1937]. Schriften, Bd. 3, Opladen 1998. Schon mit der Leitfrage nach dem Sinn von Sein gehe Heidegger, so König, in die Irre: dadurch gerate nämlich das soziale Sein des Sinns aus dem Blick. Heideggers Denken und eine an ihm orientierte Sozialwissenschaft drohe »in eine unendliche Reflexion« zu versinken und rette sich dann in ein völlig willkürliches Wertengagement, statt an der Wirklichkeit Halt zu finden (König 1998, S. 160). In jüngerer Zeit hat sozialwissenschaftlicherseits insbesondere Pierre Bourdieu Heidegger wiederholt scharf kritisiert. Für Bourdieu ist Heidegger Inbegriff des hegemonialen philosophischen Diskurses, gegen dessen Verblendetheiten Bourdieu seine eigene sozialwissenschaftliche Orientierung setzt (vgl. Bourdieu, Pierre: Die politische Ontologie Martin Heideggers. Frankfurt a. M. 1988; ders.: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a. M. 2001, S. 37 ff.). 3 Da es sich bei Heidegger nun einmal unbestrittenerweise um einen der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts handelt, glauben manche sozialwissenschaftliche Theorien, ihrer eigenen philosophischen Ambition eine gelegentliche (zumeist kritischablehnende) Erwähnung Heideggers schuldig zu sein – und diene diese nur dazu, die eigene theoretische Augenhöhe unter Beweis zu stellen (vgl. etwa Luhmann, Niklas: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. Wien 1996, S. 36; 49). Weiter geht allerdings Anthony Giddens: er bezeichnet die Heideggersche Daseinsanalyse als nicht weniger denn seine eigene »philosophische Grundlage« (vgl. Giddens, Anthony: A Contemporary Critique of Historical Materialism. London 1981, S. 3). Giddens’ Bezug auf Heideggers Analyse der Zeitlichkeit des Daseins (Giddens 1981, S. 32 ff.) bleibt allerdings ebenso oberflächlich wie die wiederholten Verweise auf das Sein zum Tode (»As Heidegger says, Dasein is a being who not only lives and dies, but is aware of the horizon of its own mortality«; Giddens, Anthony: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge UK 1991, S. 49). 4 Während sich nämlich Husserl – mit zweifelhaftem Erfolg – stets um die Grundlegung einer phänomenologischen Regionalontologie des Sozialen bemühte, sorgt sich Heidegger weniger um den Einbezug der Einzelwissenschaften (und speziell der Sozialwissenschaften) als um deren Abwehr. Von der Soziologie grenzt sich Heidegger mit zunehmender Deutlichkeit ab. In den »Anmerkungen zu Karl Jaspers« von 1919/21 lobt Heidegger gelegentlich noch Max Weber – freilich nur dessen selbstkritisch-limitierenden Methodenbewußtseins wegen (Heidegger, Martin: Wegmarken. Frankfurt a. M. 2 1978, S. 40). Zu Max Schelers Wissenssoziologie verhält sich Heidegger zuweilen fast affirmativ (Heidegger, Martin: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (Sommersemester 1928). Gesamtausgabe Bd. 26, Frankfurt a. M. 1978, S. 62 ff.; ders.: Einleitung in die Philosophie [1928/29]. Gesamtausgabe Bd. 27, Frankfurt a. M. 1996, S. 226), und die Lektüre Georg Simmels scheint sogar einen gewissen Einfluß auf die Entwicklung der Daseinsanalyse gehabt zu haben (Großheim, Michael: Von A
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Daseins in Heideggers Hauptwerk »Sein und Zeit« von 1927 scheint nämlich ein eklatantes Sozialitätsdefizit aufzuweisen. 5 Zwar räumt Heidegger hier der Sozialität des Daseins im Rahmen seiner Analyse der Alltäglichkeit durchaus breiten Raum ein; aber Sozialität scheint hier dezidiert der »Uneigentlichkeit« des Daseins zugewiesen zu werden, also der Existenzweise, in der das Dasein gleichsam an seinem eigenen Sein vorbeilebt. Dem »eigentlichen« Dasein scheint dann umgekehrt alle Sozialität fremd zu bleiben; das Sein des Daseins ist, so scheint es, »eigentlich« nicht sozial. Und auch Heideggers spätere Bemerkungen zum Dasein des Volkes sind wenig dazu angetan, den sozialwissenschaftlichen Bedenken Heidegger gegenüber die Spitze zu nehmen, scheint Heidegger hier doch einfach die Figur des Daseins zu kollektivieren, also vom Individuum auf die Gemeinschaft überzuschieben. 6 Diese Züge sind, wie ich meine, nicht wegzudiskutieren. Folgt man aber den oben in § 4 gelegten Spuren, welche Heidegger für eine Theorie der vorreflexiv-unthematischen Gemeinschaft bzw. eine nicht-reduktionistische und intersubjektiv-relationale Theorie des gemeinsamen Intendierens so wichtig machen, gerät ein Begriff des Miteinanderseins in den Blick, welcher den Monologismus des einsamen Besorgens ebenso vermeidet wie den (gleich noch näher zu betrachtenden) Konventionalismus des »Man« oder den KollektivisGeorg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz. Bonn 1991). Ironischerweise geht Heidegger zur Soziologie gerade im Moment einer thematischen Annäherung auf Distanz: im Zuge seiner Überlegungen zur sozialen Form des (in Sein und Zeit fast durchweg als »vereinzelt« vorgestellten) »eigentlichen Daseins« (vgl. dazu unten). Die Soziologie habe zur Frage nach dem Wesen der Gemeinschaft nichts beizutragen; dies deshalb, weil sie das Soziale (das Volk) stets nur von außen »feststelle«, statt es von innen – als »Wir« – zu verstehen (vgl. Heidegger [1934]/1982 [GA 38], S. 54 f.). Später bringt Heidegger diese pauschalisierende Abwehr der Soziologie auf die Linie seiner Technik-Kritik. 1959 bezeichnet Heidegger die Soziologie als Moment der technischen Welt (Heidegger 2 1978 [= GA 9], S. 421), was er in den Zollikoner Seminaren nur ausformuliert, wenn er sie zu den Wissenschaften zählt, die den Menschen »ferngesteuert manipulieren« (Heidegger 1987, S. 198). Heidegger reduziert die Sozialwissenschaften letztlich auf Sozialtechnologie. Dabei ist es schwer nachvollziehbar, wie er von der Affinität der »verstehenden« bzw. »hermeneutischen« Soziologie zu seinem eigenen Denkunternehmen so vollständig hat abblenden können. 5 Als jüngeres Beispiel einer Kritik dieses Defizits vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1981, S. 71. 6 Vgl. zu dieser Sicht etwa Thomä 1991, S. 335.
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mus des »Volkes«. Vom (bei Heidegger letztlich wohl unterbelichteten, aber phasenweise doch entschlossen angedachten) Miteinandersein aus fällt ein Licht auf die Daseinsanalyse im ganzen (und damit – außerhalb der engeren Ziele einer Heidegger-Interpretation – ein Licht auf die Rolle des gemeinsamen Intendierens). Wenden wir uns zunächst der Rolle der Sozialität in »Sein und Zeit« etwas näher zu. Heidegger setzt bei der Analyse des »alltäglichen Daseins« an. Dieses »alltägliche Dasein« erscheint in »Sein und Zeit« insgesamt unter dem eigenwilligen Titel des »Verfallens«. Das Verfallen spielt dabei in der Daseinsanalyse eine durchaus zwiespältige Rolle. Einerseits beschreibt es die Konkretion des Daseins, sein alltägliches Engagement in Arbeit und Kommunikation. Anders als der Name suggerieren mag, soll das Verfallen in diesem Sinn keine bloße »Dekadenzform« von Subjektivität darstellen, sondern eine positive, existenziale Struktur. 7 In der kritischen Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Edmund Husserl war es ja gerade der Haupteinwand Heideggers, daß eine vollentwickelte Subjektivitätstheorie vom »konkreten Menschen« ausgehen muß, daß sie diesen nicht bloß als kontingentes Produkt eines »dekadenten« Selbstmißverständnisses entweltlichter, transzendentaler Subjektivität behandeln darf, wie man dies gemäß einer verbreiteten Ansicht Husserls Theorie des Verhältnisses von »transzendentaler« und »natürlicher Einstellung« vorwerfen kann. 8 Mit seinem dezidierten Ansatz beim alltäglichen »Inder-Welt-Sein« legt Heidegger demgegenüber großes Gewicht darauf, daß die subjektive Selbstbeziehung logisch nicht vor dem Weltkontakt steht. Eindrücklich weist der erste Abschnitt von »Sein und Zeit« an Hand der Analyse der »Arbeit am Zeug« nach, daß Selbst- und Weltbeziehung unauflöslich ineinander verflochten sind. Im »umsichtigen Besorgen« ist die »subjektive« Seite der Handlungspläne von der handfesten Realität – dem Besorgten – nicht zu trennen. Damit tritt Heidegger in seiner Reformulierung von Intentionalität deren Cartesianischer (bzw. internalistischen) Verengung entgegen, unter der in dieser Sicht auch Husserls Bewußtseinsanalyse litt. Unter dem Titel des »In-der-Welt-Seins« darf Intentionalität Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 16 1986 (im folgenden zit. als SuZ), § 38. 8 Vgl. dazu nur Heideggers Anmerkungen zu Husserls Encyclopaedia-Britannica-Artikel (abgedruckt in Husserl, Edmund: Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925. Hrsg. von Walter Biemel, Dordrecht 1995 [Husserliana Bd. IX], S. 274 f.). 7
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nach Heidegger nicht als »Ausgreifen« des Inneren auf eine »Außenwelt« verstanden werden. 9 Die Frage nach der Eigenart des »Erkennens« wird mißverstanden, wenn man sie als Frage danach versteht, ob strukturell von einer »Außenwelt« unabhängige mental states sich tatsächlich auf die Außenwelt beziehen oder nicht. Für Heidegger ist dies keine wirkliche Frage, denn sie stellt sich nur, wenn man von einer falschen Leitunterscheidung aus operiert. Welt und Bewußtsein dürfen nicht als getrennte Entitäten in den Blick genommen werden. Vielmehr gilt es, vom Zusammenhang von Welt und Bewußtsein auszugehen. 10 Und dieser Zusammenhang ist – dies ist der »pragmatistische« Grundzug bei Heidegger – keine Sache theoretischer, sondern zunächst eine Sache praktischer Intentionalität; Heidegger spricht diesbezüglich vom Besorgen. Soweit der »positive« oder »strukturelle« Begriff des Verfallens, wie er sich aus Heideggers Husserl-Kritik herleiten läßt. Aber Heidegger ist nicht nur Kritiker Husserls, er ist auch sein Schüler. Und als solcher will er Husserls Vorbehalte gegen das Alltagsdasein doch auch nicht ganz aufgeben. Heidegger wirft Husserls Motiv der phänomenologischen Reduktion, der Abwendung von der »natürlichen« Alltagssicht der Welt, nicht über Bord, er reformuliert es. 11 Und in diesem Zusammenhang schreibt Heidegger dem Verfallen eine ganz andere Rolle zu als auf der Husserl-kritischen Linie. Husserl hat von der »Verschossenheit« und »Weltverlorenheit« der alltäglichen bzw. »natürlichen Einstellung« gesprochen. In dieser Verschossenheit, so Husserl, vergißt das Ich, was es eigentlich ist: nicht ein innerweltlicher bloßer Jemand, sondern das singuläre, weltentwerfende Ich. Das »Subjekt für die Welt« tendiert paradoxerweise dazu, sich selbst »Im Sichrichten auf … und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon ›draußen‹ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt. Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren Sphäre, sondern auch in diesem ›Draußen-sein‹ beim Gegenstand ist das Dasein im rechtverstandenen Sinne ›drinnen‹, d. h. es selbst ist es als In-der-Welt-sein, das erkennt« (SuZ, S. 62). 10 Daran knüpfen auf ihre Weise Richard Rorty, Charles Taylor und Hubert L. Dreyfus an; vgl. dazu Guignon, Charles B.: Heidegger, der amerikanische Pragmatismus und die Analytische Philosophie: Heidegger – gegen die Erkenntnistheorie ins Feld geführt. In: Thomä, Dieter (Hrsg.): Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2003, S. 458–468. 11 Vgl. Thomä, Dieter: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976. Frankfurt a. M. 1990, S. 129 ff. 9
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vom innerweltlich Seienden her mißzuverstehen, und in der Überwindung dieser Tendenz liegt die (vom späteren Husserl durchaus auch als existenzieller Vollzug dargestellte) Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie. Über die großen Differenzen der Konzeptionen hinweg übernimmt Heidegger diesen Zug. In einer frühen Vorlesung spricht Heidegger, ganz im Sinne von Husserls »Weltverlorenheit« des Subjekts, vom »Sichmitnehmenlassen von den Bedeutsamkeiten der Welt«, welches zwar (positiv) das Da-Sein des »faktischen Lebens« ausmache, aber durch welches sich dieses faktische Leben eben auch »ständig aus dem Weg« gehe. 12 Die HeideggerRezeption hat dazu tendiert, diesen zweiten, »negativen« Aspekt des Verfallens bei Heidegger ob des ersten, Husserl-kritischen Zugs etwas zu vernachlässigen. Dabei ist er bei Heidegger omnipräsent. Das drückt sich schon durch die Fülle der Bezeichnungen aus, die der frühere Heidegger für diese »Selbstverfehlungsstruktur« findet, darunter auch eigenwillige Titel wie etwa »Abriegelung«, »Neigung«, »Diesigkeit« und – vor allem – »Ruinanz«. Späterhin geht dieses durchaus »Husserlsche« Motiv in das daseinsanalytische »Verfallen« ein. Dabei geht es allerdings, anders als bei Husserl, nicht um eine »katabasis« vom reinen, außerweltlichen Ich zum verkörperten, innerweltlichen und vergemeinschafteten »empirischen Ich«; was Heidegger von Husserl übernimmt, ist nur die These, daß Subjektivität (wenn man denn an diesem Begriff festhalten will) in ihrem alltäglichen Selbstverhältnis sozusagen an sich selbst vorbeilebt, indem das Subjekt sich vom innerweltlichen Seienden her versteht. Und weil dieses »negative« Moment des Verfallens (nebst dem positiven) bei Heidegger immer mit schwingt, und das Verfallen das alltägliche Dasein kennzeichnet, liegt bei Heidegger nebst der positiv dargestellten »Konkretion« auch immer ein Schleier von Uneigentlichkeit über dem Begriff des »alltäglichen Daseins«. Das alltägliche Dasein ist das Dasein in seiner vollen Konkretion – aber gleichzeitig eben auch das Dasein, das sich fundamental »mißversteht«, das sich in seinem Selbstverhältnis verfehlt und an seinem eigenen Sein vorbeilebt – Dasein, welches nicht das »ist«, was es »eigentlich ist«. Während der erste »positive« Zug des Verfallens in der Analyse des Besorgens im Zentrum steht, kommt diese zweite Tendenz in Heideggers AnaHeidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (Wintersemester 1921/22). Gesamtausgabe Bd. 61, Frankfurt a. M. 1994, S. 106 ff.
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lyse des »Man« zum Ausdruck, welche den zweiten thematischen Schwerpunkt der Daseinsanalyse im ersten Abschnitt von »Sein und Zeit« bildet. Die Grundthese ist hier in erster Annäherung gesagt die folgende: Wenn wir uns an sozialen Normen orientieren, also uns in irgendwelchen Bereichen bewegen, die durch formelle oder informelle Konventionen geregelt sind (wenn wir uns z. B. in der Öffentlichkeit bewegen), sind wir nach Heidegger »uneigentlich«. Was »man« tut, tue nämlich nicht eigentlich ich, sondern ein bloßer Jemand. Denn in diesen Bereichen handle ich nicht auf spezifisch meine Möglichkeiten hin, sondern bin ein bloßer »Jemand«, ein bloßes »Man-Selbst«, das sich in seinem Selbstverhältnis gar nicht eigentlich zu sich selbst, sondern eben zu einem bloßen »Jemand« verhält. Indem wir uns alltäglich in einem durch gesellschaftliche Normen und Konventionen gestifteten intersubjektiven Vertretungszusammenhang bewegen, in Rollenmustern, die sogar noch für das konstitutiv sind, was als »unkonventionell« gilt, verfehlen wir uns selbst. 13 Auf der einen Linie geht es Heidegger unter dem Titel »Verfallen« also um eine positive existenziale Struktur, auf der anderen um die Klärung einer Art »Selbstverfehlungsneigung« des Daseins. 14 Diese Zweideutigkeit des Begriffs des Verfallens spiegelt sich, wie gesehen, in einem Zwiespalt innerhalb von Heideggers Analyse der Alltäglichkeit. Heidegger stellt uns das alltägliche Dasein in zwei Bildern vor Augen. Das eine Bild ist jenes des Handwerkers in seiner Werkstatt, das andere das des Individuums in der Öffentlichkeit, etwa eines Benutzers der öffentlichen Infrastruktur bzw. eines Teilnehmers an einer Abendgesellschaft. Das erste Bild – das des »umsichtigen Besorgers« – steht für das instrumentelle Handeln 15 bzw. den Bereich der Produktion. Das zweite – das des Man-Selbst – steht für Vgl. als rezenten Versuch zur »alltagsweltlich« orientierten Reformulierung der Uneigentlichkeit des Man etwa Olafson, Frederick A.: Heidegger and the Ground of Ethics. A Study of »Mitsein«. Cambridge Mass. 1998, S. 38. 14 Als typische Beobachtung dieser beiden Tendenzen im Begriff des Verfallens in Anschluß an Hubert L. Dreyfus Taylor Carmans Unterscheidung eines »structural« und eines »motivational« Aspektes (Carman, Taylor: Must We Be Inauthentic? In: Wrathall, Mark/Malpas, Jeff [Hrsg.]: Heidegger, Authenticity, and Modernity. Essays in Honor of Hubert L. Dreyfus, vol. 1, Cambridge Mass. 2000, S. 13–28, insbes. S. 14). Zwischen diesen beiden Rollen oder Funktionen des Begriffs muß man per se keinen Widerspruch sehen, vielleicht handelt es sich auch um eine bloße Zweideutigkeit. Dies wäre im Rückgriff auf das Verhältnis von Heidegger und Husserl genauer zu klären. Hier geht es aber um etwas anderes. 15 Vgl. dazu Okrent, Mark: Heidegger’s Pragmatism. Ithaca 1988, S. 39 ff. 13
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den Bereich des normregulierten Handelns, der Öffentlichkeit, der Kommunikation. Bezieht man diese beiden Bilder nun auf den Zwiespalt im Begriff des Verfallens, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Heidegger hier eine Art Arbeitsteilung vorschwebt. Die »Arbeit am Zeug« übernimmt in »Sein und Zeit« den Part des positiv-strukturellen Verfallensbegriffes. Am »Man« dagegen bleibt die undankbare Aufgabe hängen, die »Uneigentlichkeit« des Verfallens zu verkörpern, also im Kontrast zur »Eigentlichkeit« des Daseins zu stehen. 16 Für das Verfallen qua »Arbeit am Zeug« ist dieser Kontrast hingegen nicht wichtig, und so darf das »verschwiegene Hantieren« in »Abwehr der Öffentlichkeit« im ersten Abschnitt von »Sein und Zeit« sozusagen als alltägliche Voranzeige des »eigentlichen Selbstseins« dienen, wie es dann im zweiten Abschnitt entwickelt wird. 17 Eine Begleiterscheinung bzw. Nebenfolge dieser Verhältnisregelung ist nun – um endlich auf das Thema der Sozialität zurückzukommen – der Skandal, den die Rezeption von »Sein und Zeit« seit ihrer ersten Phase immer wieder moniert hat: das Sozialitätsdefizit des eigentlichen Daseins. Denn der Zwiespalt im alltäglichen Dasein trennt das gewissermaßen »eigentlichere« einsame, solitäre Arbeiten am Zeug vom »uneigentlichen« sozialen Sein im Man. Zwar steht, wie man gleich zugeben muß, auch die Arbeit am Zeug in sozialen Bezügen. Aber die Sozialität, die Heidegger dem einsamen Handwerker zugesteht, ist, wie sich beim Studium der entsprechenden Textpassagen zeigt, doch eine recht eigenartige Sozialität. Die Anderen begegnen in der einsamen Werkstätte nur als Lieferanten und Kunden, also stets vermittelt durch das Zeug, auf der Grundlage und im Rahmen des instrumentellen Handelns. Das Besorgen ist mithin auch Besorgen, das, wie Webers »soziales Handeln«, an anderen orientiert ist: Besorgen »für jemanden«, wenn etwa ein Werkstück an die Bedürfnisse eines Kunden angepaßt wird. Aber es ist nie gemeinsames Besorgen – bezeichnenderweise finden wir in »Sein und Zeit« Explizit sagt Heidegger dies so nirgends, und stellenweise bemüht sich Heidegger sogar darum, Besorgen und Man als »gleichuneigentlich«, als Verfallen an die Welt (Besorgen) und die Anderen (Man) zu behandeln (vgl. etwa SuZ, S. 184). In der durchgeführten Analyse wird dann aber doch klar, daß in Sachen »Uneigentlichkeit« der schwarze Peter einseitig beim Man liegt, dem letztlich sogar das Verfallen an die Welt angelastet wird (in diese Richtung weist etwa SuZ, S. 175: »Die Verfallenheit an die ›Welt‹ meint das Aufgehen im Miteinandersein«; »Dieses Aufgehen bei … hat meist den Charakter des Verlorenseins in die Öffentlichkeit des Man«). 17 Vgl. Thomä 1990, S. 316 ff. 16
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den Heideggerschen Handwerker allein in der Werkstatt, ohne Meister und Gesellen. Noch ein anderer Einwand gegen die alte These vom Sozialitätsdefizit der Daseinsanalyse muß an dieser Stelle erwähnt werden. Zwischen der Analyse des umsichtigen Besorgens und der Analyse des Man findet sich im ersten Abschnitt von »Sein und Zeit« nämlich auch eine Analyse des Mitseins (in der zwischen einer sozusagen eigentlichen und einer uneigentlichen Version des Mitseins unterschieden wird). Aber bei näherem Hinsehen vermag auch diese Analyse die genannten Bedenken nicht zu beruhigen, und dies gleich aus zwei Gründen. Zum einen findet das eigentliche Mitsein in der Analyse des eigentlichen Selbstseins im zweiten Abschnitt von »Sein und Zeit« (außer auf der berüchtigten Seite 384, auf die noch zurückzukommen sein wird) kaum Niederschlag; zum anderen geht es beim Mitsein qua »Fürsorge« um einen ausdrücklichen interpersonalen Wechselbezug, von dem aus sich kein Weg zu einem »eigentlichen« Umgang mit sozialen Normen abzeichnet. Unter dem Titel »Mitsein« geht es in »Sein und Zeit«, soziologisch ausgedrückt, eindeutig um Interaktion, nicht um Gesellschaft – oder, in den Begriffen der vorliegenden Studie gesagt: Heidegger bleibt im Bannkreis der Intersubjektivität, der Analyse der intentionalen Wechselbezüge, und stößt hier nicht zu einer Analyse des Gemeinsamseins des Daseins vor. Das eigentlich Soziale scheint dadurch tatsächlich ganz der Uneigentlichkeit des »Man« preisgegeben zu sein. Zu dieser alten Kritik an der sozialtheoretischen Ungenießbarkeit von »Sein und Zeit« ist in der jüngeren Vergangenheit nun aber so etwas wie ein backlash zu beobachten. 18 Im Rahmen neuer Interpretationen wird Heideggers Daseinsanalyse jetzt mitunter gar als die beste philosophische Beschreibung der menschlichen Sozialität gefeiert. 19 Und gerade das alltägliche Dasein steht im Zentrum der Bemühungen um eine neue Beurteilung der sozialphilosophischen, -theoretischen bzw. -wissenschaftlichen Relevanz der Daseinsanalyse. Zunächst ein kurzer Vorblick auf die vielleicht wichtigste dieser Bemühungen. Eine der spannendsten Debatten des Verhältnisses Vgl. dazu nebst der im folgenden genannten Literatur die Beiträge in Weiß, Johannes (Hrsg.): Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalyse Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft. Konstanz 2001. 19 Vgl. Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul: Can there be a Science of Existential Structure and Social Meaning? In: Calhoun, Craig et al. (Hrsg.): Bourdieu: Critical Perspectives. Cambridge Mass. 1993, S. 35–44, insbes. S. 38. 18
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von instrumentellem (»Besorgen«) und normorientiertem Handeln (»Man«) und dem Motiv der Eigentlichkeit des Daseins findet im Umfeld des amerikanischen Philosophen Hubert L. Dreyfus statt. In dieser Debatte lassen sich zwei Phasen unterscheiden. Angestoßen von einem Aufsatz von John Haugeland von 1982 20 , der seinerseits Robert B. Brandoms Aufsatz »Heidegger’s Categories in ›Being and Time‹« inspiriert hat 21 , gipfelt die erste Phase in Hubert Dreyfus’ Kommentar zum ersten Abschnitt von »Sein und Zeit«. 22 Die Stoßrichtung dieser Phase war ein radikales Setzen auf den »strukturellen«, »positiven« Begriff des Verfallens, kombiniert mit einer kritischen Neuzuweisung dieses Begriffs an das Man. Eine Zentralthese dieser Diskussionsphase ist nämlich, daß auch das umsichtige Besorgen als normorientiertes Handeln beschrieben werden muß, daß mithin im alltäglichen Dasein gar kein Zwiespalt der geschilderten Art besteht. Gleichzeitig mit der Betonung des »strukturellen« Moments des Verfallens wird dieses auf das »Man« übertragen. Mithin erscheint hier das »Man« in diesen Interpretationen zunächst gar nicht im Kontrast zur Eigentlichkeit des Daseins, sondern vielmehr einfach als Inbegriff seiner vollen Konkretion. Wird in dieser ersten Phase der Debatte der Problematik des »negativen« Verfallensbegriffs bzw. der Unterscheidung zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit wenig Beachtung geschenkt, ändert sich dies in der zweiten Phase. Für diese Phase, welche in der Festschrift für Hubert Dreyfus aus dem Jahr 2000 kulminiert, 23 ist charakteristisch, daß man sich von der Fixierung auf den ersten Abschnitt von »Sein und Zeit« löst und zum zweiten Abschnitt übergeht: die Diskussion dreht sich jetzt um die Frage, was »Eigentlichkeit« ist. Indes scheint mir, daß diese zweite Runde vom schiefen Verständnis des alltäglichen Daseins in der ersten Runde belastet ist – ein Grund, sich vor dem Hintergrund der Eigentlichkeitsproblematik noch einmal der Alltäglichkeit des Daseins und der zuvor aus dem Blick verlorenen Uneigentlichkeit des »Man« zuzuwenden. Im folgenden wird deshalb in einem ersten Schritt Heideggers Haugeland, John: Heidegger on Being a Person. In: Nous XVI (1982), S. 15–26. Brandom, Robert B.: Heidegger’s Categories in ›Being and Time‹. In: Dreyfus, Hubert L./Hall, Harrison (Hrsg.): Heidegger: A Critical Reader. Oxford 1992, S. 45–64. 22 Dreyfus, Hubert L.: Being-in-the-World. A Commentary on Heidegger’s Being and Time, Division 1. Cambridge Mass. 1991. 23 Wrathall, Mark/Malpas, Jeff (Hrsg.): Heidegger, Authenticity, and Modernity. Essays in Honor of Hubert L. Dreyfus vol. 1, Cambridge Mass. 2000. 20 21
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zwiespältige Konzeption des alltäglichen Daseins, der Unterschied zwischen instrumentellem und normorientiertem Handeln verteidigt (§ 10). In einem zweiten Schritt werden Heideggers eigene, wenig glückliche Versuche beleuchtet, das Sozialitätsdefizit der Daseinsanalyse sozusagen nachträglich durch eine Ontologie des Volkes zu kompensieren. Im Rückgriff auf die im Vorangegangenen schon erwähnten Ansätze zu einer Theorie des irreduzibel gemeinsamen Intendierens bei Heidegger wird drittens eine Alternative sowohl zum Konventionalismus des »Man« wie auch zum Kollektivismus des »Volkes« vertreten: die These nämlich, daß das umsichtige Besorgen keineswegs eine monologische Struktur haben muß, auch wenn es nicht die Gestalt einer durch soziale Normen konstituierten Praxis hat, wie sich dies die konventionalistische Interpretation vorstellt. Insbesondere in Heideggers Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« zeichnet sich nämlich der Begriff eines Daseins bzw. Inder-Welt-Seins ab, dessen Gemeinschaftlichkeit noch vor aller ausdrücklichen Fremderfahrung und Orientierung an sozialen Normen liegt. Im gemeinsamen Dasein sind nicht nur Welt- und Selbstbezug, sondern auch ein nicht-thematischer, vorreflexiver Wechselbezug untrennbar miteinander verbunden. Die darin implizierte nicht-reduzierbare und relationale Gemeinsamkeit steht freilich in Konflikt mit den starken individualistischen Prämissen von Heideggers Daseinsanalyse. Hier gilt es, einmal mehr, mit Heidegger gegen Heidegger zu denken (§ 11). In einem letzten Schritt soll schließlich versucht werden, den ins Auge gefaßten Gewinn dieses längeren Heidegger-Kapitels zu realisieren, nämlich die oben vertretene These einzulösen, daß der oben diagnostizierte sozialtheoretische Individualismus einer eigenen Tendenz des Daseins zur Selbstmißdeutung als rein »individuelles Dasein« entspringt. Hierfür ist eine nicht-individualistische Rekonstruktion von Heideggers Unterscheidung zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit wesentlich. Die These ist: die Gesellschaft der »uneigentlichen«, individuellen, normorientierten Alltagssubjekte – das »Man selbst« – steht, anders als »Sein und Zeit« suggeriert, nicht im Kontrast zu einer monologisch gedachten Eigentlichkeit, sondern im Kontrast zu einem vorreflexivunthematischen, nicht-reduziblen und relationalen gemeinsamen Dasein (§ 12).
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Deutungskontroversen rund ums Dasein
§ 10 Deutungskontroversen rund ums Dasein Gehen wir zunächst zurück zum genannten backlash in der Heidegger-Deutung. Das Bild sozialer Uneigentlichkeit und solitärer Eigentlichkeit, an welchem die Heidegger-Kritik seit ihren ersten Anfängen festgehalten hat, haben Autoren wie John Haugeland, Robert Brandom und Hubert Dreyfus in den achtziger Jahren im Grund erschüttert. Ihre gemeinsame Grundthese lautet in Heideggerschen Begriffen: umsichtiges Besorgen ist vom Man gar nicht im Sinn der geschilderten Arbeitsteilung abgetrennt, sondern vielmehr nur im Man möglich. Diese Interpretation kann sich auch auf Heidegger selbst stützen, weil sich durchaus Zitate finden lassen, die in diese Richtung weisen. 24 Die genannten Interpreten geben diesen Zitaten eine radikale Deutung, die Heidegger in die Nähe des amerikanischen Pragmatismus, Wilfrid Sellars’, des späten Wittgenstein und Peter Winchs rücken. Das Zeug umsichtigen Besorgens sei nämlich keineswegs im monologisch-instrumentellen Handeln konstituiert, sondern durch – wie Dreyfus sagt – »social background practices« 25 oder, wie Haugeland in anderer Nuancierung sagt, ein »common institutional framework« der »customs and practices of a community« 26 , also Gemeinschaftspraxen, anhand deren wir – als Kinder, Lehrlinge oder Neulinge im betreffenden Gebiet – ja auch lernen, wie man »richtig« mit Zeug umgeht. Der instrumentelle Umgang des einzelnen Menschen mit Werkzeugen ist normativ auf die Praxis einer Gemeinschaft bezogen – »sozial« also nicht bloß im sozusagen äußerlichen Sinne, in dem der Handwerker Material von anderen bezieht oder für andere oder den »Durchschnitt« produziert, sondern »sozial« im Sinne einer angeblich sinnkonstitutiven kriterialen Verwiesenheit von instrumentellem Handeln auf gemeinschaftliche Nur das deutlichste von Heideggers dahingehenden Zitaten sei hier angeführt: »Es ist nicht so, daß je ein Dasein unberührt und unverführt durch diese Ausgelegtheit (durch das »Man« im »Gerede«, H. B. S.) vor das freie Land einer ›Welt‹ an sich gestellt würde, um nur zu schauen, was ihm begegnet. Die Herrschaft der öffentlichen Ausgelegtheit hat sogar schon (…) entschieden (…) über die Grundart, in der sich das Dasein von der Welt angehen läßt. Das Man (…) bestimmt, was und wie man ›sieht‹« (SuZ, S. 169 f.). Vgl. etwa auch Heidegger, Martin: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes. Gesamtausgabe Bd. 20, Frankfurt a. M. 1979, S. 26; Weitere Belege bei Carman, Taylor: On Being Social. A Reply to Olafson. In: Inquiry 37 (1994), S. 203–223, S. 219. 25 Vgl. Dreyfus 1992, S. 149. 26 Haugeland, John: Dasein’s Disclosedness. In: Dreyfus, Hubert L./Hall, Harrison (Hrsg.): Heidegger: A Critical Reader. Oxford 1992, S. 27–44., S. 38; vgl. auch ebd. S. 32. 24
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Normen. Mithin gilt von der »Werkstatt«, daß sie nicht in Entgegensetzung zur Sphäre der Öffentlichkeit gedacht werden dürfe, wie es die traditionelle Heidegger-Interpretation gesehen hat; denn sie setzt diese Öffentlichkeit voraus. Auf den Punkt gebracht lautet die These, die Dreyfus et al. Heidegger zuschreiben: ohne Man kein Zeug. Für diese These wird dabei nicht nur interpretative Angemessenheit, sondern imgleichen auch argumentative Richtigkeit in Anspruch genommen. Die Argumentation der Vertreter dieser Interpretationslinie setzt dabei bei Heideggers zentraler Einsicht an, daß nie zunächst ein Ding gegeben ist, dem sekundär ein Zweck zugeschrieben wird, sondern daß die »Zweckstruktur« sozusagen ein Moment des Dinges selbst ist. Ein Hammer ist im Kontext des Hämmerns erschlossen, in den Verweisungen auf Nagel, Bretter, Hüttenbauen, Wohnen etc. Dinge »sind« das, wofür sie genommen werden; sie sind »no facts over and above how things are taken to be«. 27 Was die genannten Heidegger-Interpreten dem nun beifügen, ist, daß dieses ding- bzw. zeugkonstitutive »taking« (dieses praktische »etwas als etwas«-Nehmen) durchaus keine sozusagen private Angelegenheit des Einzelnen ist, wie man bei Heidegger bisweilen den Eindruck hat, wenn er den Handwerker in seiner Werkstatt schildert. Der Hammer wird nicht durch die aktuelle, allenfalls habitualisierte Absicht, einen Nagel einzuschlagen, zum Hammer, und der Nagel ebensowenig durch die Absicht, ein Brett zu befestigen, zum Nagel. Was bei John Searle assignment of function heißt (vgl. oben § 7), wird hier als durch soziale Praxen, nicht durch (individuelle) Absichten konstituiert dargestellt. Hämmer, Nägel, Bretter, Bohrer, Schraubenzieher, Schrauben, Leim sind, wie Haugeland sagt, »bound together in a (large) nexus of intertwined roles, insituted by the norms of carpentry practices; and that’s what makes them what they are«. 28 Und weil sie gemeinschaftlichen Normen folgen, sind »takings (…) public performances which accord to social practices«. 29 Die »Rolle« und »Funktion« des Zeuges sei daher durch die Normen einer Gemeinschaft bestimmt. Am weitesten geht diesbezüglich Hubert Dreyfus: »The very functioning of equipment is dependent upon social norms«; 30 »Something actually plays a role if, according to the customs and 27 28 29 30
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Brandom 1992, S. 44. Haugeland 1982, S. 17. Brandom 1992, S. 48 f. Dreyfus 1991, S. 154.
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practices of a community, it is taken to play that role«. 31 Die teleologische Struktur des Zuhandenen, seine »Bewandtnis«, Funktion, sein »Um-zu« ist also nicht durch die monologische Erfolgsorientierung bestimmt, in der das einzelne Individuum auf die Welt einwirkt, sondern durch die Gemeinschaft im Medium ihrer Normen bzw. normativen Gemeinschaftspraxen. Unverkennbar steht hinter dieser Interpretationslinie eine konventionalistische Deutung der Lehre des späten Wittgenstein von der »Übereinstimmung in der Lebensform« 32 , auf welche wir in all unserem kognitiven Fungieren sinnkonstitutiv verwiesen seien. Aufgrund dieses Hauptmotives werde ich diese Deutung im folgenden die »konventionalistische Heidegger-Interpretation« nennen. Die konventionalistische Heidegger-Interpretation schließt den eingangs festgestellten Zwiespalt im alltäglichen Dasein, den Riß zwischen der uneigentlichen Öffentlichkeit und dem eigentlichen einsamen Besorgen des Daseins gründlichst – und sie vereindeutigt damit das Verfallen. Aus ihrer Perspektive erscheint ja auch das instrumentelle Handeln letztlich als normorientiertes Handeln. Das wirft ein schiefes Licht auf die traditionelle Interpretation des »Besorgens« als alltägliche Voranzeige einer a-sozialen Eigentlichkeit. Es hülfe uns mithin nichts, uns vor der Uneigentlichkeit der Öffentlichkeit in unsere einsamen Schwarzwälder Werkstätten zu flüchten, was cum grano salis Heideggers Empfehlung für das alltägliche Dasein ist – denn dort erwarten uns die öffentlichen Normen schon, in Gestalt der Zuhandenheitsstruktur unserer Werkzeuge. Heideggers Diagnose, daß wir irgendwie an uns vorbeileben, wenn wir normorientiert handeln, erscheint von daher schlichtweg als gegenstandslos, wären wir außerhalb der Konventionen der Gemeinschaft doch gar kein Dasein im Sinne des Heideggerschen besorgenden In-der-Welt-Seins. Damit wird aber der Sitz der Eigentlichkeit im konkreten Dasein fraglich. Gemäß einem der wenigen konventionalistischen Versuche der ersten Diskussionsrunde, Heideggers Motiv der Eigentlichkeit doch noch irgendeinen Sinn abzugewinnen, kann es deshalb unter dem Titel der Eigentlichkeit nicht um ein Selbstverhältnis außerhalb der öffentlichen Rollenzuweisungen gehen, sondern höchstens um so etwas wie Rollenkonsistenz. (Auf die Reformulierungsversuche in Haugeland 1992, S. 32. Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M. 1971, § 241.
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der zweiten Diskussionsrunde werde ich noch eingehen.) Nach Haugeland ist Eigentlichkeit bloß so etwas wie Entscheidungskraft im Falle von Rollenkonflikten: Eigentlichkeit bedeutet, sich im Fall eines Rollenkonfliktes nicht einfach »gehen zu lassen«, also einfach dem Nächstliegenden und am wenigsten Widerständigen zu folgen, wenn etwa unsere Rollen als Berufs- und Familienmenschen einmal konfligieren. 33 Aber diese Deutung der Eigentlichkeit wirft nur ein umso grelleres Licht auf die Limitiertheit der konventionalistischen Deutung der Daseinsanalyse zurück. Dem Motiv der Eigentlichkeit wird nämlich hier insofern der Zahn gezogen, als Eigentlichkeit nur ein kritisches Verhältnis zwischen Rollen, nicht aber eine Instanz der Kritik der Rollenhaftigkeit unseres Lebens selbst sein kann, wie es doch Heideggers Absicht zu sein scheint. Etwas ist schief mit der konventionalistischen Vereindeutigung des alltäglichen Daseins. Wird das »negative« Man, wie es hier geschieht, einfach umstandslos zur positiven apriorischen Ermöglichungsbedingung des Daseins überhaupt erhoben, geht auch etwas verloren. Im Absehen auf eine Verteidigung von Heideggers Motiv der Uneigentlichkeit normorientierten Handelns möchte ich im folgenden Heideggers zwiespältige Konzeption des alltäglichen Daseins erst einmal gegen die konventionalistische Vereindeutigung stark zu machen versuchen. Dabei bediene ich mich mitunter auch einiger Einsichten eines Lieblingsgegners von Hubert L. Dreyfus, John R. Searles – dies allerdings, ohne dessen anti-phänomenologische Metaphysik zu übernehmen, 34 und ohne in diesem Zusammenhang direkt auf die publizierte Kontroverse zwischen Dreyfus und Searle einzugehen. (In dieser Kontroverse spielt die Daseinsanalyse zwar insofern eine Rolle, als Heidegger von Dreyfus immer wieder zum Zeugen gerufen wird; vgl. dazu die Bemerkungen unten § 11.) 35 Was hier Vgl. Haugeland 1982, S. 23 f.: »Invariably, a case of Dasein plays many roles. What is proper for it on any occasion will be a function of what roles these are (…). All these competing proprieties must somehow be juggled; and there are basically two ways to do that. One, of course, is just to ›slide‹, to take at each moment the path of least resistance. (…) This is to remain dispersed in the worldly. The opposite possibility is to confront the conflicts, and resolve them: that is, to make up one’s mind.« 34 Vgl. dazu Searle, John R.: The Limits of Phenomenology. In: Wrathall, Mark/Malpas, Jeff (Hrsg.): Heidegger, Coping, and Cognitive Science. Essays in Honor of Hubert L. Dreyfus vol. 2, Cambridge Mass. 2000, S. 71–92. Eine im Internet publizierte Vorfassung dieses Aufsatzes trug den aussagekräftigen Titel »Why I’m not Doing Phenomenology«. 35 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung außer der schon genannten Titel u. a.: Dreyfus, 33
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von Searle ins Spiel gebracht werden soll, ist etwas anderes, nämlich die Unterscheidung zweier Arten von »Zeug«: Zeug, welches aufgrund seiner Eigenart sozusagen nahtlos in die konventionalistische Theorie des Besorgens paßt, und davon zu unterscheidendes Zeug, dessen Eigenart sich diesem Raster nicht zu fügen scheint, und welches deshalb in der konventionalistischen Deutung unterbelichtet bleibt. 36 Es gibt durchaus Zuhandenes, dessen Funktion und Gebrauch nur durch soziale Normen konstituiert ist – aber dies gilt, anders als die Konventionalisten meinen, nicht von allem Zeug. Es gibt einen Unterschied zwischen »Zeug« wie Geldscheinen, Verkehrssignalen und Weihwasser auf der einen, und »Zeug« von der Art von Hämmern, Brücken oder Heilmittel auf der anderen Seite. Der Unterschied bezieht sich dabei auf das Verhältnis der jeweiligen sozialen Gebrauchsnormen zur Funktion dieser Dinge. Man kann man sich diesen Unterschied mit einem Gedankenexperiment klar machen. In bezug auf die erste Gruppe (Geldscheine, Verkehrssignale, Weihwasser etc.) gilt in weitestem Umfang tatsächlich, was Haugeland fälschlicherweise vom Zeug generell sagt: Zuhandenes dieser Art »actually plays a role if, according to the customs and practices of a community, it is taken to play that role« 37 – was sich daran zeigt, daß es sinnlos ist zu fragen: ist dieses bedruckte Stück Papier hier tatsächlich ein Zahlungsmittel oder gilt es in unserer Gemeinschaft nur als solches? Ein Stück Papier, das nach bestimmten komplizierten sozialen Normen von der Notenbank ausgegeben worden ist, ist einfach ein Geldschein – wer auch nur im Ansatz versteht, was Geld ist, der wird es sinnlos finden zu fragen, ob die sozialen Normen diesem Stück Papier die Funktion als Zahlungsmittel nur zuschreiben, oder ob dieses Stück Papier diese Funktion tatsächlich hat. Denn was tatsächlich ein Geldschein ist (was mithin einen echten Geldschein von einem gefälschten unterscheidet), wird durch die Funktionszuschreibung nach bestimmten Normen schon vollständig bestimmt, ist also Hubert L.: Heidegger’s Critique of the Husserl/Searle Account of Intentionality. In: Social Research 60 (1993), S. 17–38. Searle, John R.: Neither Phenomenological Description Nor Rational Reconstruction: Reply to Dreyfus. In: Revue Internationale de Philosophie 55 (2001c), S. 277–284. Dreyfus, Hubert L.: Phenomenological Description Versus Rational Reconstruction. In: Revue Internationale de Philosophie 55 (2001), S. 181–196. Dreyfus, Hubert L.: The Primacy of Phenomenology over Logical Analysis. Publiziert im Internet 2002. 36 Vgl. Searle, John R.: The Construction of Social Reality. New York 1995, S. 20 ff. 37 Haugeland 1992, S. 32. A
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gerade nicht eine Angelegenheit der natürlichen Eigenschaften (auch eine perfekte Fälschung bleibt eine Fälschung). Die Regeln der Herstellung von (und des Umgangs mit) Geldscheinen konstituieren die Funktion von Geldscheinen ähnlich radikal wie die Verkehrsregeln die Funktion von Verkehrsschildern oder die Regeln einer bestimmten religiösen Praxis die Funktion von Weihwasser. Zeug, das auf diese Weise ganz durch soziale Normen konstituiert ist, ist nach der Begriffsbestimmung von Searle institutionelles Faktum. Aber nicht alles Zeug gehört zu den institutionellen Fakten. Ausgerechnet jenes »Zeug«, welches in der ganzen Debatte paradigmatisch ist, paßt nicht in diese Ontologie: die »Werkzeuge«, an denen sich schon Heidegger in seiner Analyse des Zeug orientiert, unterscheiden sich von institutionellen Fakten in einer wesentlichen Hinsicht. Anders als in bezug auf Zahlungsmittel macht es z. B. in bezug auf Heilmittel nämlich durchaus Sinn, ja es zeugt von besonderer Besonnenheit zu fragen: »Ist dieses Präparat x tatsächlich ein Heilmittel oder gilt es gemäß den Normen unserer Heilkunde nur als solches?« Denn es könnte ja durchaus sein, ja es ist eine durchaus gängige Erfahrung, daß unsere Normen diesem Präparat x eine Funktion zuschreiben, die es tatsächlich gar nicht erfüllt: es könnte sich, ohne daß wir dies wissen, um eine unwirksame, ja sogar schädliche Substanz handeln, obwohl sie gemäß den Regeln und Gebräuchen der Volksmedizin oder auch gemäß den vorgeschriebenen Prozeduren der Arzneimittelbehörde als Arzneimittel zugelassen ist. Bezüglich Zeug von der Sorte von Haarwuchsmitteln etc. ist eine Haltung möglich, ja bisweilen nötig, welche in bezug auf Zeug von der Sorte von Geldscheinen oder Weihwasser schlicht keinen Sinn macht. Im Unterschied zu institutionellen Fakten wird die Funktion von Werkzeugen dieses zweiten Typs nämlich zumindest nicht ausschließlich von sozialen Normen bestimmt. Diesen Unterschied verdeckt die konventionalistische Interpretation systematisch und zwingt damit die Sphäre der Werkzeuge in den ontologischen Rahmen der institutionellen Fakten: Haugeland sagt expressis verbis, daß auch eine tatsächlich ineffektive Substanz innerhalb einer Gemeinschaft als Heilmittel umweltlich zuhanden sein könne, solange ihr nur therapeutischer Wert zugeschrieben werde. 38 Die konventionalistische Deutung gleitet so in einen idealistischen Sozialkonstruktivismus ab. Dies ist ein sachlich-argumentati38
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ves Problem: die ontologische Differenz zwischen zwei Arten von »Zeug« wird verwischt. Dies ist aber, wie ich meine, gleichzeitig auch ein interpretatives Problem. Heidegger paßt nicht in dieses Interpretationsschema. Denn das über einen idealistischen Bezugsrahmen hinausgehende Moment, welches in Heideggers Theorie des umweltlichen Besorgens steckt, wird damit (unnötigerweise) preisgegeben. 39 Gleichviel, ob man diesbezüglich von »Realismus« reden will oder nicht: der clou der Heideggerschen Daseinsanalyse, der Theorie der Erschlossenheit von Welt im umsichtigen Besorgen ist ja jedenfalls gerade der, daß hier zwischen (objektiver) Realität und (subjektiver) Auslegung, zwischen Sache und Sicht, Wissen und Welt, nicht sinnvoll unterschieden werden kann. Umsichtiges Besorgen ist unmittelbarer Weltkontakt. Insofern erscheint es mir auch inkonsistent, in konventionalistischer Manier in bezug auf fremde Gruppen, etwa andere Kulturen, davon zu sprechen, daß ihnen Werkzeuge »zuhanden« sind, die tatsächlich unwirksam sind (etwa im Sinne unwirksamer Medikamente, welche freilich, wie schon betont, im Hinblick auf andere Zwecke durchaus funktional sein können). Eine solche Rede faßt umsichtiges Besorgen nämlich nicht als tatsächliche Erschlossenheit von Welt im Heideggerschen Sinne, sondern allenfalls als Praxis im Rahmen eines kulturrelativen Weltbildes. Am konventionalistischen Mißverständnis mitschuldig ist sicherlich auch die Tatsache, daß der Unterschied von institutionellen Fakten und Werkzeugen in »Sein und Zeit« keine zureichende Klärung erfährt, selbst wenn Heidegger im Paragraphen zu »Verweisung und Zeichen« einer Analyse dieses Unterschiedes thematisch ziemlich nahe kommt. Hier zieht er nämlich nicht nur Zeichen, die kraft Konvention auf das Bezeichnete verweisen (etwa Hinweisschilder) in Betracht, sondern auch Zeichen, die uns, unheideggersch formuliert, kraft ihres naturkausalen Konnexes zum Bezeichneten zuhanden sind – oder, in Heideggers Worten: Zeug, dessen Zeichencharakter in einem »noch ursprünglicheren Sinn« als im Fall der »Herstellung« eines Zeichens im »Zum-Zeichen-nehmen eines schon Zuhandenen« zustande kommt (Heideggers Beispiel ist hier der Südwind, der im Ein Stück weit in die Gegenrichtung geht demgegenüber Hubert Dreyfus in seiner Interpretation der Heideggerschen Theorie der Vorhandenheit als »robust realism« – was freilich auch bei Dreyfus grundsätzlich nichts am »Alltagsidealismus« seiner konventionalistischen Interpretation des »Zunächst und Zumeist« ändert (vgl. Dreyfus, Hubert L.: Coping with Things-in-themselves: A Practice-Based Phenomenological Argument for Realism. In: Inquiry 42 [1999], S. 49–78).
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landwirtschaftlichen Kontext als Zeichen für Regen »zuhanden« ist). 40 Wie bei Hinweisschildern oder Zahlungsmitteln gilt im Falle von institutionellen Fakten überhaupt, daß ihre Zuhandenheit durch Gemeinschaftsnormen konstituiert ist. Die Zuhandenheit von Geld, Weihwasser, Schachfiguren etc. beruht allein auf der Praxis normativer »Übereinstimmung in der Lebensform«. Hier gilt tatsächlich: »what counts as proper and successful use (…) is a function of what the community itself endorses as such«. 41 Dies zeigt sich an den Erfolgsbedingungen. Eine Zahlung, ein Akt der Segnung, ein Zug mit der Schachfigur ist normalerweise erfolgreich, insofern der Akt konform mit den Regeln, die diese Praxis erst begründen, verläuft (Ausnahme: man unterläuft die Spielregeln unbemerkt, indem man etwa unbemerkt eine falsche Banknote einsetzt oder einen illegalen Zug mit einer Schachfigur vornimmt). Im Falle von Werkzeuggebrauch gilt normalerweise das genau Umgekehrte: hier konstituieren die sozialen Normen nicht den Handlungserfolg, sondern der Handlungserfolg die sozialen Normen (die Ausnahme hier: letztere beruhen auf Irrtümern). Was ein Heilmittel ist, richtet sich nämlich danach, was ein Leiden effektiv zu lindern vermag; was ein geeigneter Hammer ist, richtet sich danach, was zum Einschlagen (nicht: Krummschlagen) von Nägeln taugt. Und beim Brückenbau bemüht man sich nur deshalb und insofern um Übereinstimmung mit den für diesen Bereich geltenden Normen, weil sie die besten Garanten dafür sind, daß das Bauwerk nicht einstürzt. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß umgekehrt die »naturalen« Eigenschaften von institutionellen Fakten wie Schachfiguren oder Banknoten überhaupt keine Rolle spielen würden. Klar ist: nicht jedes Ding ist dafür geeignet. Um ein Beispiel zu nennen (welches ich der Diskussion mit Lester Embree verdanke): Schildkröten eignen sich nicht als Bauern im Gartenschach (weil sie nämlich dazu tendieren, unbemerkt wegzulaufen). Oder, um dem noch ein Beispiel aus der Gedankenwelt von Douglas Adams beizufügen: gleichschenklige Gummidreiecke mit einer Kantenlänge von drei Kilometern eignen sich für Wesen unseres Formats nicht als Kleingeld. In diesem Sinne müssen die Träger der »symbolischen« Funktion institutioneller Fakten durchaus gewissen naturalen EigVgl. dazu SuZ, S. 80. Eine hier nicht ins Auge gefaßte systematische Rekonstruktion des Unterschiedes zwischen institutionellen Fakten und Werkzeug könnte an diese Unterscheidung zwanglos anschließen. 41 Carman 1994, S. 211. 40
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nungskriterien genügen. Diese sind aber im Unterschied zu »Zeug« des anderen Typs, wie das geschilderte Gedankenexperiment deutlich macht, bloß notwendige, nicht aber schon hinreichende Bedingungen. Im Falle des Werkzeuggebrauchs kommt also eine Unterscheidung ins Spiel, die bezüglich institutioneller Fakten schlicht keinen Sinn macht: die Unterscheidung von Konformität mit sozialen Normen und instrumentellem Erfolg. Wenn Heidegger die Arbeit am Zeug von der Normbezogenheit des Man deutlich abhebt und im Rahmen seiner zwiespältigen Konzeption des alltäglichen Daseins als »eigentlicher« auszeichnet, so scheint er damit zu implizieren, daß beim umsichtigen Besorgen primär der instrumentelle Erfolg zählt und die Normkonformität demgegenüber zumindest sekundär ist. Dies rechtfertigt auch Heideggers Unterscheidung zwischen »Besorgen« und »Man«, den Zwiespalt im alltäglichen Dasein, den die konventionalistische Interpretation partout zugunsten des »Man« eliminieren will. Die Konventionalisten sind für diesen Unterschied von instrumentellem Erfolg und Normkonformität durchaus nicht völlig blind. Aber wo er zum Thema gemacht wird, da nur, um das Kriterium »instrumenteller Erfolg« dem Kriterium »soziale Richtigkeit« (im Sinne der Normkonformität) unterzuordnen. Bezeichnenderweise bilden Haugeland wie auch Brandom diesen Unterschied auf die Differenz zwischen tierischem und menschlichem Werkzeuggebrauch ab. Auch etwa Primaten können durchaus Werkzeuge gebrauchen. Wenn ein Schimpanse einen Stock dazu verwendet, an Nahrung zu kommen, so könne diese Praxis, wie Haugeland betont, durchaus »erfolgreich« oder »erfolglos« verlaufen. Das (menschliche) umsichtige Besorgen unterscheide sich von dieser Form des Werkzeuggebrauches aber grundwesentlich: das Kriterium für den menschlichen Werkzeuggebrauch sei nämlich nicht schlicht »erfolgreich« oder »erfolglos«, sondern »richtig« oder »falsch« – gemessen an sozialen Normen. 42 Diese soziale Normativität des menschlichen Werkzeuggebrauchs scheint für die Konventionalisten nicht nur das irgendwie »höhere«, sondern letztlich sogar das einzig ausschlaggebende Kriterium für umsichtiges Besorgen zu sein. Ein Hammer ist zum Nägeleinschlagen und nicht zum Farbtopföffnen da, obwohl man ihn zu letzterem durchaus auch erfolgreich gebrauchen kann, wie Dreyfus in einem 42
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Beispiel sagt 43 – man gebraucht einen Hammer mithin »falsch«, wenn man mit ihm einen Farbtopf öffnet. Für die »Richtigkeit« einer Handlung ist insofern eine »scale of propriety or impropriety« 44 konstitutiv, die in sozialen Normen verkörpert ist. Für die Konventionalisten scheint nun die Funktion von Zeug letztlich allein in dieser Normorientierung zu bestehen: »For eating equipment to work, how one eats (…) must be already determined« sagt so Dreyfus. 45 Die konventionalistische Interpretation ordnet damit die Erfolgsorientierung radikal der Normorientierung unter, ja sie eliminiert zumindest für den Fall des menschlichen Besorgens die Erfolgsorientierung als kriterial eigenständigen »Handlungstyp«. Instrumenteller Erfolg ist allenfalls eine Sache für Affen. Für Menschen gilt nur die Normkonformität. Gegen diese Interpretation, die eine direkte Folge der konventionalistischen Absorption der Sphäre des umsichtigen Besorgens durch das »Man« ist, läßt sich einiges einwenden. Wie oben geschehen läßt sich zum einen die These vertreten, daß Praxen – auch menschliche Praxen – normkonform, aber instrumentell erfolglos sein können, und daß diese Praxen den Heideggerschen Titel »umsichtiges Besorgen« nicht verdienen, weil sie sozusagen nicht realitätshaltig sind. In Verteidigung der Heideggerschen Verhältnisregelung, der Trennung von umsichtigem Besorgen und Man, läßt sich der konventionalistische Ansatz nun auch noch mit der komplementären These ins Zwielicht ziehen: mit der These, daß Praxen, die zwar nicht normkonform, aber instrumentell erfolgreich sind, den Titel des umsichtigen Besorgens durchaus verdienen. Dies ist die direkte Gegenthese zur konventionalistischen Interpretation. Ein Beispiel soll dies illustrieren. Nehmen wir an, ein Häftling in seiner Zelle führt Kalender, indem er mit seinem Eßbesteck Linien in den Verputz ritzt; dieses Bestecks bedient er sich außerdem auch bei seiner täglichen, äußerst umsichtigen Arbeit an der Verankerung der Gitterstäbe seines Zellenfensters, wobei ihm vielleicht der Toiletteneimer als Schemel dient. Leintuch und Wolldecke hat er dafür vorgesehen, beim Ausbruch als Strick zu dienen, seine Pritsche als Verankerung etc. Man kann nun natürlich mit den Konventionalisten sagen, daß der Häftling all dieses Zeug – Besteck, Toiletteneimer, Dreyfus, Hubert L.: Interpreting Heidegger on Das Man. In: Inquiry 38 (1995), S. 423–430, S. 425. 44 Carman 1994, S. 219. 45 Dreyfus 1992, S. 154. 43
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Bettwäsche etc. – »falsch« braucht (bzw. zu brauchen beabsichtigt). Aber diese Inblicknahme der Situation ist parteiisch. Sie folgt nämlich ausschließlich der Perspektive jener community, deren Normen das Gefängnis zum Gefängnis machen und der Zelleneinrichtung ihre »eigentliche« Funktion zuweisen. Sie folgt der Perspektive der Gefängnisleitung, des Wachpersonals, welches den neueingelieferten Menschen ihre Rolle als Häftlinge vermittelt, der Gefängnisinsassen, die sich in diese Rolle samt all ihren Limitierungen schicken, und der am Funktionieren der Gefängnisse interessierten Öffentlichkeit. Für die Konventionalisten scheint dies die einzige Perspektive zu sein, die zählt. Wenn Heidegger demgegenüber auf der eigenen theoretischen Dignität der instrumentellen Erfolgsorientiertheit gegenüber dem Aspekt der Normkonformität besteht, schafft er dadurch Raum für eine andere Perspektive, nämlich die des sozial möglicherweise völlig isolierten, aber findigen Häftlings in unserem Beispiel. Der Häftling, der seinen Ausbruch vorbereitet, steht in seiner Zelle in einem weitgehend idiosynkratischen, aus der Perspektive der Gesellschaft zwar unsichtbaren, aber deswegen keineswegs »vormenschlichen« oder irgendwie geltungsmäßig zweitrangigen Bewandtnisganzen: in einer Umwelt »umwillen« seiner Befreiung. Soweit er dabei nicht etwa bloß phantasiert, sondern »realistisch« erfolgsorientiert vorgeht – ihm also in seinen mehr oder weniger idiosynkratischen Praxen tatsächlich »Welt« erschlossen ist – würde ich meinen, daß entgegen der konventionalistischen Interpretation diesem Tun der Titel »umsichtiges Besorgen« nicht zu versagen ist, obwohl von »Übereinstimmung in der Lebensform« hier natürlich nichts zu finden ist (es geht hier ja schließlich auch eher um einen Ausstieg aus der Lebensform). Akte der Werkzeugverwendung können erfolgreich sein, obwohl sie nicht sozial »richtig« sind. Und umgekehrt können eben Praktiken der Werkzeugverwendung im Extremfall sozial »richtig« sein, obwohl sie nicht erfolgreich sind. Ich glaube, daß man im ersten Fall von »umsichtigem Besorgen« sprechen kann, im zweiten Fall aber nicht. Und ich glaube, daß Heidegger nebst vielen anderen, weniger anschlußfähigen Motiven auch dies im Auge hatte, als er sich zu einer zwiespältigen Konzeption des alltäglichen Daseins entschloß, also zwischen instrumentellem und normorientiertem Handeln differenzierte. Dies spricht m. E. am deutlichsten aus einem Charakteristikum des Man, welches zwangsläufig in der konventionalistischen Interpretation unbeachtet bleiben muß, weil es ihr direkt zuwiderläuft: das Man, sagt Heidegger, hat immer recht, gerade weil A
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die öffentliche Ausgelegtheit der Welt ein »Nichteingehen ›auf die Sache‹« ist. 46 Legt man die konventionalistische Interpretation zu Grunde, macht dieses Charakteristikum der »Sachferne« eigentlich gar keinen Sinn: die Alternative, sich »nach den Sachen zu richten« (und sich dabei auch einmal in Distanz zu den gemeinschaftlichen Normen zu bewegen), scheint es für die Konventionalisten nicht zu geben, weil für sie ja jeder nennenswerte (d. h. nicht »bloß« tierische) »Sachbezug« durch die öffentliche Ausgelegtheit im »Man« erst möglich wird. Die Insistenz auf der Eigenständigkeit normregulierten und erfolgsorientierten Handelns innerhalb der Praktiken des alltäglichen Daseins bietet demgegenüber die Möglichkeit, in der These von der Sachferne des Man einen Sinn zu sehen 47 – und damit dem Tun nicht nur von findigen Ausbrecherinnen und Ausbrechern und all der tausenden und abertausenden von Handwerkerinnen und Handwerkern, die weltweit Schraubenzieher zum Öffnen von Farbtöpfen verwenden, gerecht zu werden. Nach dieser »negativen«, gegen die konventionalistische Nivellierung gerichtete Verteidigung der Heideggerschen grundsätzlichen Differenzierung von Erfolgs- und Normorientierung soll nun ein genauerer Blick darauf geworfen werden, in welcher Weise beide »Kriteriensets« (instrumenteller Erfolg und Normkonformität) beim Werkzeuggebrauch zusammenspielen. Es ist ja nicht so, daß man sich immer und grundsätzlich im Stil unseres Ausbrechers aus dem Normzusammenhang einer Gruppe entfernen muß, um instrumentell erfolgreich zu handeln. Und die radikal skeptische These, daß die normativen Praxen einer Gemeinschaft im Ganzen »erfolglos« sein könnten, ist wahrscheinlich nicht einmal konsistent zu vertreten. Ganz im Gegenteil: hat man vor, sich beispielsweise ins Schreinern zu stürzen, wird man gut daran tun, sich erst einmal einfach an die sozial geltenden Normen fürs Schreinern zu halten – erst einmal zu lernen, wie man »richtig« hämmert, leimt etc. Selbst im diesem »Normalfall«, im Fall von Praxen, die »erfolgreich« sind, wenn sie mit den entsprechenden sozialen Normen konvergieren, ist allerdings fraglich, ob »umsichtiges Besorgen« bloß als normorientiertes Handeln richtig beschrieben ist. Denn die Kundigkeit des umsichtiSuZ, S. 127. Dies ohne umgekehrt die instrumentalistische These vertreten zu müssen, daß es für alle Praxen eine »Sache« gibt, die in ihr jenseits von sozialen Normen erschlossen sein könnte: es gibt ja auch institutionelle Fakten und dazugehörige »konstitutive Normen«.
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gen Besorgens besteht gerade darin, daß man sich nicht eigentlich an den Regeln orientiert, anhand derer man eine Praxis vielleicht einmal gelernt hat, sondern einfach weiß, wie’s geht. Dazu gehört so etwas wie die aristotelische »Phronesis« (welche ihrerseits, wie Theodore Kisiel herausgestellt hat, eines der bestimmenden Momente des Heideggerschen Begriffs der Eigentlichkeit ausmacht). 48 Es geht dabei nicht nur um Regelanwendung bzw. um ein intuitives Wissen darum, wie man ein Werkzeug gemäß sozialen Normen »richtig« gebraucht, sondern auch um ein Wissen darum, wie und wann es auf einen »richtigen« Werkzeuggebrauch überhaupt ankommt – und wann es ein schlechter, sachfremder Konventionalismus wäre, sich um solche Normen zu scheren. Es mag nämlich ein »falscher« Gebrauch eines Hammers sein, wenn man ihn zum Öffnen eines Farbtopfs braucht, wie Hubert L. Dreyfus dies betont; aber da sich Maurerhämmer mit ihrem spitzen Ende ganz hervorragend zu diesem Zweck eignen, wird kein kundiger Handwerker erst umständlich nach einem sozial akzeptablen Öffnungsinstrument suchen, wenn ein Maurerhammer gerade in Reichweite ist. Denn Konventionalität in diesen Belangen würde schlicht Sachferne bedeuten. Außerhalb von Lehrgängen und Leistungsschauen – »eigentlich« – kommt es auf derlei nicht an. In der zweiten Runde der Debatte der konventionalistischen Heidegger-Interpreten rund um Hubert Dreyfus, welche unter dem Zeichen der Eigentlichkeit steht, wird dieser Punkt aufgegriffen, ja er rückt ins Zentrum der Diskussion. Wo jetzt die früher so vehement betonte konstitutive Funktion der sozialen Normen für Erschlossenheit nicht direkt abgelehnt wird, 49 wird immerhin versucht, Dasein unter dem Titel seiner Eigentlichkeit in ein kritisches Verhältnis zur Sphäre sozialer Normen zu bringen. 50 Die originellste Interpretation liefert diesbezüglich wohl John Haugeland. Eigentlichkeit sieht er jetzt nicht mehr wie früher (s. o.) als bloße Entscheidungskraft im Vgl. dazu Kisiel, Theodore: The Genesis of Heidegger’s »Being and Time«. Berkeley 1993. 49 Dies tut Havas, Randall: The Significance of Authenticity. In: Wrathall/Malpas (Hrsg.) 2000, vol. 1, S. 29–42, hier S. 30. 50 Den zögerlichsten Vorstoß in diese Richtung unternimmt Taylor Carman, der am a priori der »anonymous social normativity governing intelligibility at large« festhält, dem Dasein in spannungsvollem Verhältnis zu diesem Grundansatz dann aber dennoch die Möglichkeit einer eigentlichen »Widerständigkeit« gegen diese Bedingungen der Möglichkeit seines Weltverhältnisses offenhalten will (vgl. Carman 2000, S. 20). 48
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Falle eines Rollenkonfliktes, sondern als zumindest momentane Möglichkeit der Distanz zum Zusammenhang sozialer Normativität. 51 Dies geht bei Haugeland wie bei anderen noch ohne eine gewisse Relativierung des früher so vehement betonten »A priori des Man« – ohne daß man diese Fundamentalthese der konventionalistischen Interpretation wirklich fallenlassen möchte. Haugeland findet folgenden, an Thomas S. Kuhns Wissenschaftstheorie orientierten Ausweg aus diesem Dilemma: Eigentlichkeit erscheint bei ihm jetzt als so etwas wie eine Sensitivität für die »Anomalien«, die das Handeln nach den sozialen Normen des Man erzeugen kann. Zwar sei Erschlossenheit ebenso durch die sozialen Normen des Man vermittelt, wie in der Wissenschaft Realität immer nur mit Experimenten erfahren wird, in deren Anlage die zu überprüfende Theorie schon drinsteckt. 52 So wie es keine theorieunabhängigen Daten gibt, so gibt es auch keine »Welt« ohne welterschließende Öffentlichkeit, ohne »Man«. Aber wie nach Kuhn Normalwissenschaft auch so etwas wie Anomalien erzeugt, gibt es für Haugeland auch im alltäglichen Dasein, trotz A priori der öffentlichen Ausgelegtheit, Hinweise für das Versagen der sozialen Praktiken und Standards. »Uneigentlichkeit« bedeutet dann, sich auch dann noch an den geltenden sozialen Normen zu orientieren, wenn schon Hinweise für deren Versagen vorliegen. Die Eigentlichkeit, die Heideggersche »Wiederholung« im »Vorlaufen zum Tode« deutet Haugeland demgegenüber in Analogie zum Kuhnschen Paradigmenwechsel: als Bereitschaft, ein soziales Deutungsganzes inklusive zugehöriges Selbstverhältnis sozusagen »zurückzunehmen« bzw. zu suspendieren und auf die Situation im Ganzen noch einmal zurückzukommen. 53 So eindrücklich Haugelands Interpretation der Motive des zweiten Abschnitts von »Sein und Zeit« ist, so schief ist das Licht, welches von hier aus auf die konventionalistische Interpretation des ersten Teils zurückfällt. Denn damit eine soziale Praxis überhaupt so etwas wie »Anomalien« erzeugen kann, bzw. damit diese überhaupt als solche wahrgenommen werden können, müssen die Kriterien der normativen Richtigkeit und des instrumentellen Erfolges schon unterscheidbar (und damit irgendeine Form von Realitätskontakt jenseits sozialer Normen möglich) Haugeland, John: Truth and Finitude. In: Wrathall/Malpas (Hrsg.) 2000, vol. 1, S. 43–77. 52 Haugeland 2000, S. 73. 53 Haugeland 2000, S. 73. 51
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sein: 54 der Erfolg einer Praxis ist gegenüber den sozialen Normen, welche diese Praxis regeln, extern. Daß diese »extra-normative« Form der Erschlossenheit dem Dasein in seiner Eigentlichkeit, im Vorlaufen in den Tod, plötzlich zufällt, scheint mir unplausibel zu sein. Viel näher läge die oben vertretene (und bei Heidegger nach der gängigen Ansicht auch so implizierte) These, daß schon das alltägliche Dasein sich in der Spannung von Normkonformität und Erfolgsorientierung, von Man und Besorgen hält. Man endet dann wieder bei Heideggers Zwiespalt des alltäglichen Daseins. Angeregt von Haugeland hat auch Hubert Dreyfus eine Interpretation der Eigentlichkeit von Dasein geliefert, und m. E. bringt sie ihn (wie auch Haugeland) in Konflikt mit seiner vorherigen Interpretation des alltäglichen Daseins. 55 In Anschluß an Theodore Kisiel meint Dreyfus nun, daß der zweite Abschnitt von »Sein und Zeit« eine Perspektive auf praktische Kompetenz eröffnet, welche die kritische Distanz des Experten zu den sozialen Normen seines Bereiches hält. Wer’s kann, braucht sich nicht mehr an Normen zu orientieren. Daß er dies bisher zu wenig gesehen habe, lastet Dreyfus seiner früheren Fixierung auf den ersten Abschnitt von »Sein und Zeit« an; wie schon bei Haugeland scheint mir aber, daß hier nicht ein Außerachtlassen des zweiten Abschnitts, sondern das konventionalistische Mißverständnis des ersten Abschnitts das eigentliche Problem ist. Denn wenn es auch wahr ist, daß wir in die Handhabung von Zeug anhand sozialer Normen eingeführt werden, deren wir als Experten dann nicht mehr bedürfen, heißt dies nicht, daß wir als alltagsweltliche Laien bzw. Anfänger in einer Praxis zunächst rein normorientiert handeln (so als wären Werkzeuge bzw. »Zeug« wie Hämmer und Heilmittel soziale Fakten von der Art von Verkehrszeichen oder sprachlichen Ausdrücken) und uns erst als Experten klar wird, wo es wirklich auf Normkonformität ankommt und wo es jenseits der Normen noch um den Erfolg bezüglich einer »Sache« geht. Schon das alltagsweltliche Wissen, was ein Hammer und was eine Schachfigur ist, setzt nämlich von allem Anfang an ein intuitives Verständnis des Unterschiedes zwischen diesen beiden Arten von »Zeug« voraus. Vgl. dazu auch die Bemerkungen von Haugeland 2000, S. 76. Dreyfus, Hubert L.: Could anything be more intelligible than everyday intelligibility? Reinterpreting division I of Being and Time in the light of division II. In: Faulconer, James E./Wrathall, Mark A. (Hrsg.): Appropriating Heidegger. Cambridge Mass. 2000, S. 155–174.
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Wem nicht von vornherein intuitiv klar ist, daß im Schachspiel instrumenteller Erfolg nur durch regelkonforme Züge zu erzielen ist, sondern glaubt, letztlich komme es doch eigentlich bloß darauf an, daß irgendwie der gegnerische König fällt, der ist wohl auch durch eine detaillierte Vermittlung der einzelnen Schachregeln nicht zum kompetenten Spieler zu bilden. Und wer umgekehrt nicht schon begriffen hat, daß das, was beim Hämmern als »richtig« gilt, sich nach dem Erfolg beim Nageleinschlagen richtet (und nicht umgekehrt), wird gar nicht erst dazu zu bewegen sein, aus krummgeschlagenen Nägeln zu lernen. Insofern ist das, was die Konventionalisten als Unterschied zwischen der alltäglichen und der eigentlichen Erschlossenheit von Welt bezeichnen, schon für das alltägliche Dasein selbst konstitutiv. Heidegger scheint insofern Recht zu behalten gegenüber dem konventionalistischen Versuch zur »Vereindeutigung« des alltäglichen Daseins. Der alltägliche kundige, findige und umsichtige Werkzeuggebrauch steht in einem Spannungsverhältnis zur Welt der sozialen Normen. Nicht bloß werkzeuggebrauchende Tiere orientieren sich am instrumentellen Erfolg; in einem Spannungsverhältnis zum Kriterium der sozialen Richtigkeit gilt dies für allen Werkzeuggebrauch. Handeln, das sich bloß an sozialen Normen orientiert, droht im Bereich des Werkzeuggebrauchs den spezifisch umsichtig besorgenden Kontakt zur Sache zu verlieren. Dennoch scheint mir die alte Kritik der Heidegger-Interpretation, die bei den Konventionalisten ja nur eine radikale Ausprägung erfährt, ein wirkliches Problem zu treffen. Heideggers Analyse des alltäglichen Daseins einfach nur zu verteidigen reicht nicht. Es stimmt etwas nicht mit dem zwiespältigen Bild des alltäglichen Daseins, mit dem Bild des einsamen Besorgens in seinem Spannungsverhältnis zur Gemeinschaft der Normbefolger. Die Kritik ist m. E. berechtigt, daß auch das »eigentlichere« Alltagsdasein in seiner Werkstatt schon sozial ist, und zwar nicht erst in einer durch das Zeug vermittelten Ich-Du-Begegnung, aus der sich keine Sozialität, sondern nur so etwas wie doppelte Kontingenz ergibt (s. dazu unten § 14). Nur daß die Konventionalisten bei einer falschen Art von Sozialität, nämlich bei einer sozusagen hinter dem Rücken des umsichtigen Besorgers über richtig und falsch befindenden Gemeinschaft ansetzen. Diese Gemeinschaft ist, wie Heidegger völlig zu Recht bemerkt, nicht »an der Sache dran«, ja drängt das Dasein von der Sache ab. Die Frage ist: wie sonst wenn nicht über die Sozialität der Normen und Standards seines Tuns 272
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könnte das besorgende Dasein tatsächlich in originärer Gemeinschaft (und nicht bloß in sekundärer, zeugvermittelter Vergesellschaftung) stehen? Hier kommen nun die schon oben in Teil I dieser Arbeit herausgestellten Ansätze zu einem vorreflexiv-unthematischen, nichtreduziblen und relationalen Begriff des Miteinanderseins ins Spiel. Das Problem scheint mir zu sein, daß sowohl Heideggers Analyse des umweltlichen Besorgens als auch – ex negativo – der Konventionalismus derselben Denkgewohnheit aufsitzen: der Vorstellung, daß instrumentelle Erfolgsorientierung, wenn sie nicht auf der normativen Grundlage einer institutionalisierten Gemeinschaftspraxis stünde, eine grundsätzlich einsame, monologische Angelegenheit des einzelnen Individuums wäre. Diese These spricht aus Heideggers Bild des einsamen Handwerkers (welcher bezeichnenderweise weder Meister noch Gesellen hat) ebenso wie umgekehrt auch etwa aus Jürgen Habermas’ Polemik gegen den Monologismus der instrumentellen Vernunft in der »Theorie des kommunikativen Handelns«. Intersubjektivisten und Konventionalisten teilen eine Prämisse. Beide glauben, daß dem Monologismus nur abzuhelfen ist, indem die instrumentell handelnden Einzelnen in die Normativität einer Kommunikationsgemeinschaft verstrickt werden. Vor dem Hintergrund einer intentionalistischen Theorie des Gemeinschaftshandelns, wie sie sich in den vorangegangenen Kapiteln abzeichnet, ist diesem mehr oder weniger krampfhaften Versuch, alles Handeln mit den Netzen des Diskurses einzufangen oder ihm ein Sozialapriori unterzuschieben, mit mehr Lockerheit zu begegnen. Jenseits der »Cartesianischen Gehirnwäsche« wird nämlich sichtbar, daß instrumentelles Handeln nicht per se individuell-monologisches Handeln ist. Es gibt eben auch gemeinsames instrumentelles Handeln. Bei Heidegger sind zumal in den Vorlesungen aus dem Umfeld von »Sein und Zeit« durchaus Spuren einer solchen Gemeinschaft zu finden, welche freilich letztlich vom Individualismus des jemeinigen Daseins einerseits, vom Kollektivismus seines Volksbegriffs andererseits immer wieder verwischt werden. Diesen Spuren, auf die schon im Vorangegangenen immer wieder verwiesen worden ist, soll nun im Zusammenhang ein Stück weit gefolgt werden, um den Ertrag danach in die Fragestellung nach dem Verhältnis von Sozialität und Uneigentlichkeit einzubringen. Daß im Zwiespalt der Daseinsanalyse, zwischen dem Monologismus des Besorgens bzw. der Eigentlichkeit und dem Konventionalismus des Man, der »Wir-Aspekt« des Daseins, das Moment des A
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Gemeinsamseins zu kurz komme, wurde in der Rezeption von »Sein und Zeit« immer wieder kritisch vermerkt. Lucien Goldmann hat so im »Man« eine Schwundform des »Wir« gesehen. 56 Hier wie andernorts in der Heidegger-Kritik deutet sich an, daß das »Wir« eigentlich an einer Stelle zu stehen hätte, die in der Konzeption von »Sein und Zeit« leer bleibt: an der Stelle des »eigentlichen Miteinanderseins«. Für Gerhard Lehmann steht schon 1932 fest: dem Dasein, so wie es in »Sein und Zeit« vorgestellt wird, fehlt es schlicht an »Wir-Bewußtsein«. 57 Heideggers Beschränkung (und Abwertung) der Sozialität des Menschen auf das »Man«, das konventionell-normorientierte Handeln, sei dabei typisch für die »Sehweise eines hochmütigen Intellekts«, welcher die konventionellen sozialen Strukturen des Alltagslebens nicht mehr ernst nehmen könne, ohne sich ihrer aber wirklich entledigen zu vermögen. 58 Denn zur uneigentlichen Sozialität des »Man« sei das solitäre eigentliche Selbstsein keine Alternative; der »Bann des Man« sei nur durch den Durchbruch zu einem »prononcierten Wirbewußtsein« zu brechen; 59 das Wir-Bewußtsein hebt das Dasein aus dem Konventionalismus der Alltäglichkeit heraus, ohne imgleichen seine Kollektivität aufzulösen. Dem in dieser Kritik skizzierten Weg ist denn auch Heidegger selbst ein Stückweit gefolgt. Scheinbar ganz auf der Linie dieser Überlegungen stellt auch Heidegger selbst die Frage nach dem »Wer« des Daseins in den frühen dreißiger Jahren plötzlich nicht mehr als Frage nach dem quasi atomistischen individuellen Selbstsein (wie dies in »Sein und Zeit« noch der Fall war), sondern in der ersten Person Plural. »Wer sind wir selbst?« heißt jetzt die daseinsanalytische Leitfrage. 60 Nach der Fixierung auf das individuelle Selbstsein rückt damit die Gemeinschaft in den Blick. Wie schon gesehen verwendet Heidegger den Begriff der Intentionalität nicht – er ist für ihn unlöslich mit einem Cartesianischen Verständnis von Subjektivität ver»Von der Gemeinschaft und dem Wir bleib nur das Man übrig« meint Lucien Goldmann, von Kant herkommend auf die Konzeption von »Sein und Zeit« blickend (Goldmann, Lucien: Mensch, Gemeinschaft und Welt in der Philosophie Immanuel Kants. Studien zur Geschichte der Dialektik. Zürich/New York 1945, S. 247). 57 Lehmann, Gerhard: Das Subjekt der Alltäglichkeit. Soziologisches in Heideggers Fundamentalontologie. In: Archiv für angewandte Soziologie 5 (1932), S. 15–39, insbes. S. 33 f. 58 Lehmann 1932, S. 32. 59 Lehmann 1932, S. 34. 60 Vgl. Heidegger, Martin: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache [1934]. Gesamtausgabe Bd. 38, Frankfurt a. M. 1982, S. 50 ff. 56
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bunden. Wenn man aber, anders als Heidegger, »Intentionalität« als Wort nicht seinem cartesianischen Mißverständnis opfern will, kann man Heideggers Grundansatz des Miteinanderseins durchaus als »intentionalistisch« bezeichnen: Heidegger beschreibt das gemeinsame Dasein nämlich als etwas, was sich nicht »von außen feststellen« läßt, sondern nur aus der Perspektive der ersten Person Plural zugänglich ist. Das Miteinandersein ist nicht eine Sache des objektiven Verhaltens; es ist eine Sache des Denkens, Vorhabens, Fühlens; für Heidegger allerdings noch mehr eine Sache des Sichaussprechens: »denn wir sind solche, die sich aussprechen, sie sich im wir«. 61 Was das »Wir« ausmacht, liegt zwar – wenn man die internalistischen Konnotationen, um derentwillen Heidegger den Begriff vermeidet, sorgfältig fernhält – im Wir-Bewußtsein der Mitglieder. Allerdings oszillieren Heideggers Überlegungen zur näheren Bestimmtheit dieses »Wir« bzw. Wir-Bewußtseins zwischen drei Positionen. Die vordergründige Alternative ist jene zwischen dem berüchtigten Verständnis des »Wir« als Kollektivsubjekt bzw. einem Verständnis des Wir-Bewußtseins als Kollektivbewußtsein (so wie es Gerhard Lehmann vorgeschwebt zu haben scheint) einerseits (i) und einer eher »individualistischen«, exklusiven Konzeption des »Wir« als etwas, was auf individueller Selbstzuschreibung von Individuen aufgrund unverfügbarer Vorgaben des »Geschicks« gründet andererseits (ii). Jenseits dieser beiden inakzeptablen Alternativen finden sich bei Heidegger aber auch Spuren eines andern, eines vorreflexiv-unthematischen, nicht-reduziblen und relationalen Verständnisses des Miteinanderseins (§ 11). i) Daß Heidegger mit der Zuwendung zum gemeinsamen Dasein direkt dem Kollektivsubjekt in die Arme gelaufen ist, ist eine gängige Interpretation. Und sie findet bei Heidegger durchaus interpretativen Halt. Heidegger schließt die Frage nach dem »Wir« folgendermaßen: »Antwort: das Volk«. 62 Und ob der näheren Charakterisierung des Volkes kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Schritt von der Erste-Person-Singular-Form der Frage nach dem »Wer« des Daseins zur Erste-Person-Plural-Form mit der Entwicklung von einer individualistischen zu einer kollektivistischen Konzeption gleichbedeutend ist – statt die in »Sein und Zeit« vernachlässigte Frage nach dem Status des Miteinanderseins anzugehen, 61 62
Vgl. Heidegger [1934]/1982 (GA 38), S. 55. Heidegger [1934]/1982 (GA 38), S. 59. A
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scheint Heidegger das Problem, das durch die Fixierung auf Individualität und »Jemeinigkeit« des Daseins erwächst, gleichsam dadurch zu lösen, daß er den monologischen Selbstbezug des Individualsubjekts einfach durch den totalitären Selbstbezug der völkischen Horde ersetzt. 63 Daß sich hinter dem Heideggerschen Volksbegriff eine Art »Kollektivsubjekt« 64 , eine simple Kollektivierung des individuellen Daseins aus »Sein und Zeit« verbirgt, scheint sich auch daran zu zeigen, daß Heidegger jetzt bisweilen nicht mehr das individuelle Einzelsubjekt, sondern das Volk im Ganzen als »Dasein« bezeichnet, welchem er näherhin Fähigkeiten wie jene zu »Selbstverantwortung« und »Selbstbesinnung« zuspricht – Fähigkeiten, die eigentlich solche von Individuen sind. 65 Das Dasein, so scheint es (und so sehen es auch viele Kritiker 66 ), wird unter Beibehaltung des Primats monologischer Selbstbezüglichkeit einfach auf die kollektive, auf die völkische Ebene gehoben. An die individuelle »Jemeinigkeit« des Daseins tritt sozusagen eine kollektive, strukturell äquivalente »Jeunsrigkeit« des Volkes. Insofern scheint die Analyse des »Wir« im Rahmen einer simplen Kollektivierung der Daseinsanalyse zu stehen, die auch dadurch nicht gerade an sozialtheoretischer Attraktivität gewinnt, daß sie zumindest biographisch in den Kontext von Heideggers Nazi-Engagement gehört. 67 Sieht man indes genauer hin, bietet sich in Heideggers Analysen zum »Wir« bzw. in seiner Ontologie des Volkes ein weitaus komplexeres Bild, als es die gängige Deutung glauben macht, welche hier Vgl. Ebeling, Hans: Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein. Zur Analytik von Freiheit und Tod. Freiburg i. Br. 1979, S. 110. 64 Vgl. Sternberger, Dolf: Die großen Worte des Rektors Heidegger. Eine philosophische Untersuchung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 3. 1984. 65 Vgl. Heidegger, Martin: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. In: ders.: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/34. Frankfurt a. M. 1983, S. 9–19, S. 10; für weitere Belegstellen s. Thomä, Dieter: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976. Frankfurt a. M. 1990, S. 550. 66 Vgl. etwa Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1988, S. 185 f. 67 Vor einem interpretativen Kurzschluß zwischen Volksdaseinsdenkens (qua Kollektivierung des Daseins als solcher) und Heideggers Nazi-Engagement sei an dieser Stelle aber noch einmal gewarnt; so hat ja, wie oben bereits erwähnt, etwa Heideggers Lehrer (und Vorgänger auf dem Lehrstuhl) Edmund Husserl (wie viele andere Autoren) unter Titeln wie demjenigen der »Personalitäten höherer Ordnung« eine KollektivsubjektKonzeption vertreten, ohne daß man ihm deswegen eine Neigung zu totalitären Politikprogrammen nachsagen wollen wird. 63
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nur ein Umschalten von Individualismus zu Kollektivismus zu sehen vermag. Nicht zuletzt ist in der einschlägigen Forschung in der jüngeren Zeit verschiedentlich darauf hingewiesen worden, daß sich Heidegger von einem solchen Verständnis des »Daseins des Volkes« als »überhöhende Selbstheit einer Volksgemeinschaft« verschiedentlich in aller wünschbaren Ausdrücklichkeit distanziert hat. 68 Das Dasein des Volkes dürfe nicht als »Mensch im großen« verstanden werden, sagt Heidegger so 1934, 69 und 1938/39 bezeichnet Heidegger gar jene als »arme Tröpfe«, welche die »komischen Forderungen« vertreten, »das Einzelsubjekt (in ›Sein und Zeit‹) müßte jetzt durch das Volkssubjekt ersetzt werden«. 70 Individualismus und Kollektivismus, Individual- und Kollektivsubjekt haben, wie Heidegger klar sieht, dieselbe Wurzel. In den kurz davor entstandenen »Beiträgen zur Philosophie« identifiziert Heidegger, wie oben schon zitiert, das Kollektivsubjekt-Denken bzw. das kollektivistische Wir-Denken scharfsinnig als Folge der normalerweise im individualistischen Kleid daherkommenden Ich-Fixiertheit der modernen Bewußtseinsphilosophie. Als »gefährlichste Gestalten« des Ich-Bewußtseins bezeichnet Heidegger hier jene, »in denen das weltlose ›ich‹ sich scheinbar aufgegeben und hingegeben hat an ein anderes, das ›größer‹ ist als es und dem es stückweise oder gliedweise zugewiesen ist«. 71 Der Ansatz bei einem Kollektivsubjekt liegt sozusagen nur in der Verlängerung des Ansatzes beim Individual-Ich. 72 Auf diese Kritiklinie gehört es auch, wenn Heidegger in der ebenfalls aus diesen Jahren stammenden »Besinnung« einmal aus einem denkbar unklaren Hitler-Zitat eine kollektiv-utilitaristische Ethik herausliest und diese kritisch befragt. Ausdrücklich anti-kollektivistisch besteht Heidegger hier unter zeitgeschichtlichen Bedingungen, in denen »jedermann der Philosophiegelehrten sich befleißigt, aus der ›Gemeinschaft‹ heraus und für ›das Volk‹ zu denken«, auf der Jemeinigkeit des Daseins. 73 Die Vgl. Kisiel, Theodore: Der sozio-logische Komplex der Geschichtlichkeit des Daseins: Volk, Gemeinschaft, Generation. In: Weiß (Hrsg.) 2001, S. 85–104, hier S. 99. 69 Heidegger 1934/1982, S. 68. 70 Heidegger, Martin: Besinnung. Gesamtausgabe Bd. 66, Frankfurt a. M. 1997, S. 144. 71 Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt a. M. 1989, S. 321. 72 Eine Bestätigung dieser Interpretationsthese könnte man in den liberalen Wurzeln des modernen Nationalismus sehen: die Fixierung auf die Autonomie des Individuums führt dazu, daß man sich das Gemeinwesen letztendlich nur noch in Form eines autonomen Individuums, eines Kollektivsubjekts vorstellen konnte. 73 Heidegger 1997, S. 329. 68
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Jemeinigkeit des Daseins soll mithin nicht in einem »jeunsrigen« Kollektivdasein aufgelöst werden. Freilich manövriert sich Heidegger dadurch in ein Dilemma: das Bestehen auf der Jemeinigkeit des Daseins scheint den Weg zurück in die atomistische Konzeption von »Sein und Zeit« zu weisen, aus welcher Heidegger ursprünglich mit seiner Frage nach dem »Wir« und der Ontologie des Volkes ja nicht ganz ohne Grund hatte ausbrechen wollen. Die Frage, die sich stellt, ist: kann das »Wir« des Miteinanderseins in seiner Eigentlichkeit gefaßt werden, ohne es zur kollektiven Volksidentität bzw. zum kollektiven Supersubjekt geraten zu lassen? ii) Bei der Analyse dieser Frage lohnt es sich, noch etwas näher hinzusehen und das Vehikel zu beobachten, auf dem Heidegger im Ausgang vom atomistische Individualdasein in die Nähe des Kollektivsubjekts eines Volksdaseins gerät. Hier zeigt sich, daß Heidegger auf dieser Linie das schon von Lehmann eingeklagte »Wirbewußtsein« individualistisch als reflexiv-thematisches Wir-Bewußtsein denkt. Das »Wir« ist bei Heidegger nämlich dadurch ein »Volk«, daß Einzelne ihre Volksmitgliedschaft reflexiv explizit machen und willentlich nachvollziehen. Und das hinwiederum ist eine durchaus »monologische« Angelegenheit der vereinzelten Individuen. So heißt es bei Heidegger: »Wir sind eigentlich Wir nur in der Entscheidung, und zwar jeder vereinzelt«, nämlich soweit die Einzelnen nicht einfach »hineingeraten und sich mitreißen lassen«, sondern »mit Willen mitstehen«, »ein ›Ja‹ sagen«. 74 Das gemeinsame Selbst, das das Volk ist, ist also keineswegs von der Art des durkheimschen Kollektivbewußtseins, welches durch Ansteckung in der Masse oder ähnliches die intentionale Autonomie der einzelnen Individuen durchbricht und die Einzelnen Gefühle und Gedanken haben läßt, welche nicht die ihrigen sind. 75 Es ist auf dieser Linie von Heideggers Analyse aber auch nicht von der Art eines vorreflexiv-unthematischen Miteinanderseins. Das Selbstsein des Volkes konzipiert Heidegger im Gegenteil als etwas, was aus dem höchst individuellen Selbstsein der Einzelnen entspringt, und was den Charakter eines reflexiv-thematischen Gemeinschaftsbezugs hat; der »Wille« der Einzelnen wird durch das gemeinsame Selbstsein nicht ausgeschaltet; er ist im Volk vorausgesetzt, insofern er es ist, der aus dem unverfügbar-vorausliegenden Geschick ein »eigentliches Wir« macht. Das 74 75
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Heidegger 1934/1982, S. 59 f. Vgl. dazu Durkheim 1898/1961.
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Volk verdankt sich einem allseitigen individuellen »Einfügen in die Zugehörigkeit zum Volk« qua bewußtem Nachvollzug dessen, was das unverfügbare »Geschick« bereithalten mag: »Wir sind da! Wir sind bereit! Es geschehe!« 76 Besieht man Heideggers Volksbegriff näher, wird man in ihm die exklusive Variante des thematisch-reflexiven Wir-Begriffs am Werke beobachten können. 77 »Das Volk« beantwortet Heideggers Frage nach dem »Wir« mit dem Hinweis auf ein unverfügbares, vor aller subjektiven Haltung liegendes (und auch nicht aus individuellen »Einzelschicksalen« zusammengesetztes) 78 kollektives Geschick, welches die als in ihrer Entscheidung vereinzelt dastehend gedachten Menschen haltungsmäßig (entschlossen »vorlaufend«) sozusagen »nur« nachzuvollziehen haben. Dies ist, allerdings noch unter »aktivistischeren« Vorzeichen, auch das Verständnis des eigentlichen Miteinanderseins, welches sich auf der berühmt-berüchtigten Seite 384 von »Sein und Zeit« andeutet. Die »Wahrheit des Seyns« gibt so die »Schwingungsweite« eines gemeinsamen Selbst vor. 79 Alles, was schließlich noch aktiv zu tun bleibt, ist, beim Mitschwingen diese Vorgabe aufmerksam, reflexivthematisch nachzuvollziehen – eine Sache, die sich Heidegger freilich nicht als Sache eines Kollektivgeistes, sondern als höchst individuelle Angelegenheit vorstellt. Damit endet Heidegger aber letztlich bei einer reflexiv individualistischen Konzeption, die sich in die exklusive und die partizipative Komponente aufspaltet, welche Heidegger nach dem Muster des exklusiven Wir-Begriff ins Verhältnis setzt: das partizipative Moment der individuellen Selbstzuschreibung (»›Ja‹ sagen«, »mitstehen« etc.) gründet in einem aller Aktivität vorausliegenden, unverfügbaren, exklusiven Moment (»Geschick«, »Wahrheit des Seyns«). Dabei müssen die oben diagnostizierten Probleme des reflexivthematischen Ansatzes in der Ontologie der Gemeinschaft im Allgemeinen – bzw. der exklusiven Version dieses Ansatzes im Besonderen – hier nicht wiederholt werden. Hier mag der Hinweis darauf genügen, daß sich schon im performativen Akt von Heideggers Ausführungen zur Frage »Wer sind wir selbst?« eine Lücke auftut zwischen dem reflexiv-thematischen Wir-Begriff und der tatsächlichen 76 77 78 79
Heidegger 1934/1982, S. 57. Vgl. zu diesem Wir-Begriff und seiner Problematik oben § 3. Vgl. SuZ, S. 384. Heidegger 1938/1989, S. 321. A
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sozialen Realität – hier klafft ein Abgrund, der bezeichnenderweise in der Theorie der Genese des »Wir« aus der vereinzelten Entscheidung gegenüber einem unverfügbaren Schicksal nicht vorkommt bzw. systematisch verdeckt ist. Das »Wir«, zu dem Heidegger sein eigenes, einsam-vereinzeltes und hochengagiertes »Ja« sagte, das »Wir«, bei dem er »mit Willen mitstand«, war – wenn man seinen späteren Aussagen Glauben schenkt – nicht das »Wir«, wie er sich es vorstellte. 80 Die Lücke, in welche dieser Ansatz fällt, ist die zwischen tatsächlicher Gemeinschaft und reflexiv-thematischem Gemeinschaftsbewußtsein.
§ 11 Die Gemeinsamkeit des Daseins Heideggers eigenes Ergehen ist insofern dazu angetan, einmal mehr Vorsicht gegenüber dem reflexiv-thematischen Wir-Bewußtsein (im Sinne der Orientierung des Wir-Begriffs am thematisch-reflexiven »Wir«-Sagen bzw. dem Ansatz beim entschlossenen »Zugehörigkeitswillen« von Individuen) zu lehren. Was eine Gemeinschaft ist und wer ihr zugehört, hat bisweilen wenig mit dem zu tun, was Individuen explizit für ihre Gemeinschaft halten, zu welcher kollektiven Identität sie sich »zurechnen« und wozu Individuen wie auch immer »entschlossen« sind (vgl. oben §§ 2 f.). Die entsprechende Skepsis gegenüber solchen Ansätzen ist aber bezeichnenderweise nicht nur an, sondern gleichzeitig auch von Heidegger zu lernen – wenn man den Spuren des unthematisch-vorreflexiven, irreduziblen und relationalen Miteinanderseins bei Heidegger folgt. Zu den in sozialtheoretischer Hinsicht stärksten Momenten von Heideggers Denken gehört die oben schon zitierte Passage, in der Heidegger sich gegen die Ansicht wendet, das »Wir-Selbst« verdanke sich einem reflexiv-thematischen Bewußtsein der Mitglieder. Hier zeigen sich Ansätze zur Überwindung einer Oszillation zwischen atomistischem Individualismus und Kollektivismus, Ansätze zu einem unthematisch-vorreflexiven Begriff des gemeinsamen IntenDabei mag es gute Gründe zur Skepsis gegenüber Heideggers eigenen späteren Aussagen geben. Jedenfalls suggerieren diese, Heidegger habe den Nationalsozialismus sozusagen als praktische Version vorsokratischen Seinsdenkens gesehen. Vgl. zu diesem Problembereich Thomä, Dieter: Heidegger und der Nationalsozialismus. In der Dunkelkammer der Seinsgeschichte, in: ders. (Hrsg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2003, S. 141–162.
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dierens. Heidegger betont im Kontext seiner Analysen zur Frage »wer sind wir selbst« ganz explizit, daß das (individuelle wie auch das soziale) »Selbst« nicht aus einem wie auch immer ausdrücklichentschlossenen reflexiv-thematischen Bezug zu gewinnen ist. In seiner Logik-Vorlesung erwähnt Heidegger so die »Fraglichkeit (…) ob überhaupt der geläufige Begriff und die übliche Vorstellung vom Selbst (als dem in der Reflexion Erreichbaren) aus dem eigentlichen Selbst erwachsen ist und uns den eigentlichen Weg zu weisen vermag«, 81 und anschließend deutet Heidegger solche Reflexionsbegriffe des Selbst als Zeichen der Selbstverlorenheit. 82 Das heißt: wer wir »eigentlich« sind, läßt sich aus der Reflexion nicht entnehmen. Je mehr wir uns explizit reflexiv auf eine gemeinsame Identität »besinnen«, desto weniger sind wir tatsächlich gemeinsam. Und alle Appelle an die Einzelnen zur Stärkung einer Wir-Identität laufen an der Ebene des eigentlichen Wirseins vorbei – man mag hier ebenso an Heideggers eigene Volkspropaganda denken wie an die sogar in der Sozialtheorie anzutreffenden Appelle, eine »globale Wir-Identität« aufzubauen. 83 Heideggers Reflexionsskepsis erinnert daran, daß derlei an unserem gemeinsamen Dasein möglicherweise vorbeiläuft, daß unser gemeinsames »Wirsein« weder aus unserem reflexiven Selbstbegriff stammt noch überhaupt als eine uns thematisch werdende Wir-Identität zu begreifen ist; es liegt auf einer anderen, auf einer vorreflexiv-unthematischen Ebene. Insofern reicht es nicht, zur Behebung des Sozialitätsdefizits der Daseinsanalyse von der individuellen Ich-Identität des vereinzelten Daseins zur kollektiven Wir-Identität des Volkes (oder wahlweise auch der Menschheit) überzugehen. Die für Heidegger entscheidende Differenz in der Bestimmung des Selbstseins des Daseins liegt nicht in der Unterscheidung zwischen dem individuellen »Ich« und dem kollektiven »Wir«, sondern zwischen einem reflexiven und einem vorreflexiven Ansatz des »Selbst« des Daseins. Wie in der »Logik«-Vorlesung betont Heidegger auch in den »Beiträgen zur Philosophie«, daß das »Selbst« nicht als »Gegenstand« eines identifizierenden, vorstellenden Selbstbezugs verstanden werden dürfe. 84 An dieser verfehlten Herleitung des Selbstseins Heidegger 1934/1982, S. 53. Heidegger 1934/1982, S. 55 f. 83 Vgl. als typisches Beispiel dazu Elias, Norbert: Wandlungen der Wir-Ich-Balance (1987). In: ders.: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a. M. 1987, S. 207–315. 84 Heidegger 1989, S. 319. 81 82
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aus dem thematisch-reflexiven »Sichrichten« auf sich selbst ändere, so Heidegger, auch der Schritt vom Ich zum Wir nichts; durch die Reflexionsbasiertheit der Begriffe kann das zeitgenössische Bemühen, »aus der ›Gemeinschaft‹ heraus und für ›das Volk‹ zu denken« 85 , für Heidegger nur Zeichen der tatsächlichen zeitgenössischen »Selbstverlorenheit« des Miteinanderseins sein. Je ausdrücklicher nämlich der reflexive Selbstbegriff des »Volkes«, desto ferner rückt das was »wir eigentlich sind« – das gemeinsame Dasein. Insofern betont Heidegger, daß mit der Formulierung der »Wer«-Frage in der ersten Person Plural das »Wir« keineswegs einen Vorrang erhalte. 86 Das gemeinsame »Selbst«, um welches es in der Frage »Wer sind wir selbst« eigentlich geht, liege vor der Unterscheidung der Personalpronomina. Die Diskussion um die Frage, ob das Dasein nun individuelles Ich oder gemeinsames Wir sei, geht durch die gemeinsame Unterstellung eines reflexiven Selbstbegriffs an der Frage nach der Selbstheit des Daseins völlig vorbei. »Die Selbstheit ist ursprünglicher als jedes Ich und Du und Wir.« 87 Insofern zeigt sich, daß sich in Heideggers Ontologie des Volkes zwei Linien kreuzen. Auf der einen Linie ist das Volk Kollektivsubjekt, also das nach dem oben (§ 8 f.) analysierten Schema per reflexivthematischem Wir-Bewußtsein ins Kollektive gewandte vereinzelte Individualbewußtsein. Auf der anderen Linie soll »Volk« für etwas ganz anderes stehen: keine von vereinzelten Individuen gedachte oder gewollte Einheit, kein Produkt eines reflexiven Selbstbegriffs, sondern ein unthematisch-vorreflexives »gemeinsames Selbstsein« (»unser Selbstsein ist das Volk« 88 ). Aber worin besteht nun dieses vorreflexive gemeinsame Selbstsein des Daseins, welches das Dasein nicht von vornherein in atomarer Vereinzelung auf dem Weg ins entschlußhaft-gewollte Kollektivsubjekt, sondern in seinem ursprünglichen gemeinsamen Dasein beschreiben soll? Was unterscheidet diesen Volksbegriff von dem reflexiv »aus der Gemeinschaft für das Volk gedachten«, den Heidegger so vehement abwehrt? In den »BeiHeidegger 1997, S. 329. Heidegger 1934/1982, S. 50; dies steht Interpretationsbemühungen wie derjenigen von Roberto Esposito entgegen. Esposito sieht die Leistung von Heideggers Gemeinschaftsdenkens sachwidrigerweise darin liegen, daß hier im Ausgang vom »Wir« statt vom »Ich« gedacht würde (Esposito, Roberto: Die ursprüngliche Gemeinschaft. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997), S. 551–558, insbes. S. 554). 87 Heidegger [1938]/1989, S. 320. 88 Heidegger [1934]/1982, S. 57. 85 86
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trägen zur Philosophie« scheint Heidegger diesbezüglich in einiger Verlegenheit zu sein – stellenweise erklärt er das Volk in bewährter Manier schlicht und einfach zum Arkanum, in welches eben nur die Meister des Seynsdenkens Einblick hätten. 89 Andererseits bringt Heidegger an dieser Stelle den Begriff des »Eigen-tums« ins Spiel. 90 Vom Eigentum wird dann freilich nicht viel mehr gesagt, als daß es das vorreflexive gemeinsame Selbstsein sein soll und als solches das ist, was dem Dasein ein ausdrückliches gemeinsames Selbstverhältnis erst ermöglicht. Aber wie soll man sich dieses reflexionsermöglichende, aber vorreflexive gemeinsame Selbstsein näherhin vorstellen? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, ist es wichtig, sich die Spannung vor Augen zu führen, die zwischen Heideggers atomistisch-kollektivistischer Ontologie des Volkes (qua exklusiver, thematisch-reflexiver Wir-Konzeption) einerseits und seiner Reflexionsskepsis bezüglich des gemeinsamen Selbst andererseits besteht. Im Rahmen der atomistisch-kollektivistischen Volks-Ontologie ist ein »›Ja‹ sagen«, ein »mit Willen mitstehen«, ein »Sicheinfügen« der vereinzelt-entschiedenen Einzelnen verlangt, wenn wir als Volk »eigentlich wir« sein sollen: »Wir sind da! Wir sind bereit! Es geschehe!« Zu einem solchen Kollektiv bringt seine Reflexionsskepsis in einen denkbar scharfen Gegensatz. Kein Gedanke ist hier, im Ansatz bei der reflexiv-thematischen kollektiven Identität, daran, daß das, was wir als einzelne Volksangehörige als unser Schicksal »ahnen«, wozu wir »Ja« sagen und »mit Willen mitstehen«, wo wir uns – als »Führende« oder als »Eingeschmolzene« 91 – einfügen, am Ende umso weniger das ist, was wir eigentlich sind, je entschlossener wir uns bemühen, dem Geschick eine gemeinsame Identität als Volk abzuhorchen! Kein Gedanke daran, daß das Bemühen um die Bestimmung eines gemeinsamen Selbstseins, all das lautstarke »Ja-Sagen«, entschlossene »Führen«, stramme »mitstehen« und willige »Sicheinfügen« der einzelnen Mitglieder dem »Volk« gegenüber als Weisen eines thematisch-reflexiven Gemeinschaftsbezug seitens einzelner Mitglieder am Ende nur ein Zeichen davon sein könnte, daß uns das »Die Besinnung auf das Volkhafte ist ein wesentlicher Durchgang. So wenig wir dies verkennen dürfen, so sehr gilt es zu wissen, daß ein höchster Rang des Seyns errungen sein muß, wenn ein ›völkisches Prinzip‹ als Maßgebend für das geschichtliche Da-sein gemeistert ins Spiel gebracht werden soll« (Heidegger 1989, S. 42). 90 Heidegger [1938]/1989, S. 320. 91 Heidegger 1997, S. 28. 89
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Miteinandersein – das vorreflexive – völlig entglitten ist. Bei allem Bemühen um einen reflexiven Begriff des »Wir« bzw. gemeinsamen Selbst ist und bleibt hier das Miteinandersein verloren. Es gibt bei Heidegger aber deutliche Spuren eines Begriffs des »Wir« bzw. des Miteinanderseins, welcher sich einerseits nicht auf ein Kollektivsubjekt bezieht, das die Einzelnen vom Ruder ihrer Intentionalität verdrängt und auf die untergeordnete Charge ausführender Organe verweist, welcher aber andererseits die mit »Wir« bezeichnete Gemeinschaft auch nicht einfach zum Gegenstand verkrampfter reflexiver Identifikation einzelner Individuen macht. Hier kommen die oben schon angedeuteten Überlegungen Heideggers zu einem irreduziblen und relationalen gemeinsamen Dasein ins Spiel. In der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« von 1928/29 92 stößt Heidegger weit in Richtung eines solchen Begriffes des Miteinanderseins vor – ohne dann freilich die notwendigen Revisionen in der eigenen Daseinsanalyse und Handlungstheorie ziehen zu wollen. Ähnlich wie in »Sein und Zeit« dient auch in der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« die Bestimmung der »Wahrheit des Seins« als Leitfaden. Und wie in Heideggers Hauptwerk führt der Leitfaden zur Bestimmung der Wahrheit des Seins zunächst zur Frage nach dem Sein des Daseins. Dies aber nun von einer anderen Seite her. In »Sein und Zeit« wird das Dasein schon in der Einführung der allerersten Grundbegriffe auf ein individualistisches Existenzverständnis hin zugerüstet: das Dasein, so heißt es dort, ist dadurch vom nichtdaseinsmäßigen Seienden unterschieden, daß es ein bestimmtes Selbstverhältnis unterhält, dessen Analyse in der These von der Jemeinigkeit des Daseins kulminiert. In der »Einleitung in die Philosophie« wird nun zwar von derselben Leitdifferenz zwischen Seiendem von der Seinsart des Daseins und nichtdaseinsmäßigem Seiendem ausgegangen. Aber sie wird ganz anders gezogen. Nicht ein Selbstverhältnis, sondern ein Wechselverhältnis zeichne Dasein gegenüber nichtdaseinsmäßigem Seiendem aus. Nichtdaseinsmäßiges Seiendes kommt neben anderem nichtdaseinsmäßigem Seiendem vor – Dasein und Dasein dagegen sind miteinander. 93 Was Dasein im Grunde ausmacht (und vom nichtdaseinsmäßigen Seiendem unterscheidet), erscheint hier als das Miteinandersein in seiner DifHeidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie [1928/29]. Gesamtausgabe Bd. 27, Frankfurt a. M. 1996. 93 Heidegger [1928/29]/1996, S. 85. 92
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ferenz zum bloßen »Nebeneinandervorkommen«. Durch die nähere Bestimmung, die dieses Miteinandersein im Fortgang der Darstellung erfährt, wird die »Gemeinschaft« 94 , bzw. das der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft vorausliegende »Miteinander« 95 , das »Wir« 96 zum fundamentalen Existenzial des Daseins – und erst gegen Ende der Analyse, nachdem dieser Begriff des Miteinanderseins schon entwickelt worden ist, kommt Heidegger dann noch – gleichsam beiläufig – auf die Struktur der »Selbstoffenbarkeit« des Einzeldaseins zu sprechen, welche in »Sein und Zeit« die ganze Darstellung dominiert. 97 Das »Wir«, um das es in der »Einleitung in die Philosophie« geht, ist dabei nicht von der späteren Art des »Volksdaseins«; es ist nichts von der Art der Wir-Identität, die der einsamen Entschlossenheit »Ja«-sagender Einzelner entspringt. Die Art der Gemeinsamkeit, um die es hier geht, ist ungleich tiefer in die Struktur der Intentionalität eingelassen bzw., in Heideggers Terminologie gesagt, tiefer in der »Sorge«, im »In-der-Welt-Sein« angelegt. Was Heidegger hier vom Miteinandersein sagt, hat dabei aber nichts mit einem intersubjektivistischen »Sozialapriori« zu tun. Gemeint ist nicht, daß das »In-der-Welt-Sein« des Daseins »immer schon« Mitsein sei. Heidegger meint hier nicht, daß Intentionalität nur in einer Kommunikationsgemeinschaft möglich ist (wie es der Konventionalismus sieht, und wie es Heidegger in »Sein und Zeit« auch zu vertreten scheint, wenn er – in undurchsichtigem Verhältnis zum atomistischen Grundansatz – der »Öffentlichkeit« bzw. dem »Man« bisweilen die Rolle eines a priori der Welterfahrung zuschreibt). Die konventionalistische Interpretation (s. oben § 10) wird durch die Analyse des »Miteinander« in der »Einleitung in die Philosophie« nicht gestützt; Heidegger wehrt hier nämlich ganz ausdrücklich die Vorstellung ab, daß das Miteinander, die Gemeinschaft, »alleiniges Prinzip« der Erschlossenheit von Welt sei. 98 Bei der intentionalen Gemeinsamkeit, die Heidegger hier im Blick hat, geht es nicht um ein a priori der Welterschließung durch normative Gemeinschaftspraxen, wie es die konventionalistische Interpretation Heideggers Theorie des »Man« entnimmt. Die Gemeinschaft, um die es geht, 94 95 96 97 98
Heidegger [1928/29]/1996, S. 145. Heidegger [1928/29]/1996, S. 141. Heidegger [1928/29]/1996, S. 97. Heidegger [1928/29]/1996, S. 134. Heidegger [1928/29]/1996, S. 146. A
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ist nicht von der Art des »Man«, welches die Intentionalität des einzelnen Daseins »immer schon« bestimmt. Sie ist aber umgekehrt auch nicht von der Art der thematisch-reflexiv erlebten Volksgemeinschaft in ihrer Eigentlichkeit atomistisch vereinzelter Individuen. Sie besteht, ganz einfach, im gemeinsamen Erleben. Heideggers Beispiel macht denkbar deutlich, daß das »Wir« hier weder etwas mit Normorientierung noch mit irgendeiner Form von schicksalsgewahrer Entschlossenheit o. dgl. zu tun hat. Es ist, wie oben schon dargestellt, das Beispiel zweier Wanderer, die in den Anblick eines Sonnenuntergangs vertieft, von ihm hingerissen bzw. benommen sind. Dieses gemeinsame Erleben ist eine Form von Sozialität, die in »Sein und Zeit« so nicht vorkommt; sie hat nämlich auch nichts mit Fürsorge zu tun, als welche Heidegger die intentionale Struktur des Miteinanderseins beschreibt. Wenn man gemeinsam erlebt, steht man in keinem wie auch immer ausdrücklichen Verhältnis, in keinem kognitiven Wechselbezug zum Anderen. 99 Der Andere ist im gemeinsamen Erleben genauso wenig thematisch wie die Wir-Gemeinschaft selbst. Was Heidegger hier anzielt, ist eine prä-reflexive und unthematische, aber auch irreduzible Wir-Gemeinschaft. Es ist eine Form von Gemeinsamsein, in der das »Wir« weder auf der Gegenstands- noch auf der Subjektseite der intentionalen Beziehung steht, sondern vielmehr eine Form dieser Beziehung selbst ist. Man kann dem gemeinsamen Dasein, wie es im gemeinsamen Erleben liegt, vielleicht dennoch eine Form von »sozialem Selbstbewußtsein« zusprechen. Aber dann hat es jedenfalls nicht die Form einer thematisch-reflexiven Selbstvergegenständlichung der Gruppe, sondern die Form eines vorreflexiv-unthematischen Wechselverhältnisses unter den Gruppenmitgliedern, eines »präintentionalen« Sinns für den Anderen, wie ihn John R. Searle im Rahmen seiner Analyse kollektiver Intentionalität postuliert. 100 Es ist Jean-Paul Sartre, der dieses präreflexiv-unthematische und irreduzible »Wir« als begriffliche Möglichkeit der Heideggerschen Mitseinsanalyse deutlicher gesehen und klarer herausgearbeitet hat als irgendein anderer Heidegger-Interpret. Sartre besteht zwar seinerseits bekanntlich vehement darauf, daß Sozialität im Grunde in einem ausdrücklichen intentionalen Wechselbezug, in einem Modus des intersubjektiven Sicherfassens begründet ist (dem 99 100
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Vgl. Heidegger [1928/29]/1996, S. 86 ff. Vgl. Searle 1990, S. 414.
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berühmten Kampf der Blicke; s. dazu oben § 2). Gleichzeitig hat er das sich bei Heidegger umrißhaft abzeichnende präintentional-unthematische, irreduzible »Wir« als stärkste Gegenposition zum individualistischen Grundansatz wahrgenommen und als solche dargestellt. Diesbezüglich ist Sartre zugleich Heideggers scharfsinnigster Interpret und vehementester Gegner. Sartres eigenes Beispiel für die gemeinsame Erschlossenheit von Welt ohne ausdrücklichen Intersubjektbezug ist dasjenige des gemeinsamen Erlebens einer Theateraufführung. Man erlebt gemeinsam, ohne einander zu erleben. Dasein ist in diesen Fällen, wie Sartre sagt, »nicht-thetisch […] in ein Wir engagiert«. 101 Der Bezug zwischen Dasein und Dasein verläuft sozusagen »lateral«. Dieses Miteinandersein ist nicht bloß »Mitsein« im Heideggerschen Sinne des wie auch immer fürsorglichen, thematisch gerichteten Bezogenseins auf anderes Dasein. Es geht hier um ein Gemeinsamsein, welches über dieses bloße, bei aller »Wesentlichkeit« doch immer auch sekundäre »Mit-Dasein« hinausgeht. Sartre wählt hierfür den Begriff des »Subjekt-Wir« und bringt damit ein Motiv auf den Punkt, daß sich nicht nur beim frühen Heidegger, sondern etwa gleichzeitig auch in der fast völlig vergessenen »Metaphysik der Gemeinschaft« des Phänomenologen Dietrich von Hildebrand findet. Dazu im Sinne einer Arabeske eine kurze Bemerkung. Auch hier, bei Hildebrand, steht im Zentrum der Gedanke, daß sich Gemeinschaft nicht aus einem »Sich-Gegenüberstehen« ergibt, nicht aus einem expliziten intersubjektiven Wechselbezug irgendeiner Art, sondern aus einem sozusagen »lateralen« Aufeinanderbezogensein innerhalb eines gemeinsamen intentionalen Bewußthabens (vgl. dazu die Bemerkungen oben in § 4). Entscheidend für die Ontologie der Gemeinschaft ist für von Hildebrand jene zu wenig beachtete Form des Kontakts, »in der die beiden Personen sich berühren, ohne sich gegenseitig Objekt zu sein, ja sogar, ohne einander zu ›sehen‹«. Hildebrand nennt dies »die im gemeinsamen Vollziehen von Akten und Stellungsnahmen gegebene Wir-Berührung«, und er illustriert sie mit einigen phänomenologisch sehr sensibel gewählten Beispielen des intentionalen »Miteinandervollzugs« von Akten, reichend von der »Einfärbung des Erlebens«, welche die unthematische Präsenz der Anderen bei Gefahr mit sich bringt, über die gemeinsame Trauer von Eltern um ein Kind, die auch bei Scheler vorkommt, 101 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie [1943]. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 721.
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bis zum gemeinsamen Tun, etwa dem gemeinsamen Stellen einer Forderung. 102 Dieser Zug von Hildebrands Analyse gehört auf eine von der bisherigen Literatur zur phänomenologischen Sozialontologie völlig vernachlässigte Linie, die bis jetzt gleichsam im Schatten der (vergeblichen) Versuche standen, einen Begriff des »Wir« über eine Analyse des thematischen Fremdbezugs, des »Zwischen« von aufeinander bezogenen Individuen zu gewinnen. 103 Sartres »Subjekt-Wir« scheint das geeignete label für diese Gegentendenz. Das nicht-thetische Engagement in einem gemeinsamen intentionalen Projekt, über welches es Sartre bestimmt, führt dabei direkt ins Zentrum der Subjektivitätstheorie – derjenigen Sartres wie der Subjektivitätstheorie überhaupt. Sieht man nämlich einmal davon ab, daß das cartesianische Infallibilitätskriterium hier nicht erfüllt ist (man kann sich auf eine Weise darüber täuschen, ein gemeinsames Erlebnis zu haben, die zumindest dann und insofern kein Äquivalent im Falle individuellen Erlebens hat, als hier gilt, daß ein Erlebnis zu haben glauben schon bedeutet, tatsächlich ein Erlebnis zu haben; s. dazu oben § 8), liegt damit im Verhältnis zwischen Dasein und Dasein eine Struktur vor, die sehr genau dem entspricht, was Sartre unter dem Titel »conscience (de) soi« letztlich doch dem Selbstverhältnis des einzelnen Individuums vorbehält: ein präreflexives, nicht-thetisches, nicht-vergegenständlichendes Bezogensein jetzt nicht auf sich selbst, sondern auf Andere im Rahmen (und auf der Grundlage) des gemeinsamen Erlebens. Das »Wir« dieses gemeinsamen Erlebens belegt Sartre mit dem Titel »Subjekt-Wir«. 104 Dieser Titel muß im Gegensatz zum »Objekt-Wir« verstanden werden; er bezeichnet, wie oben gesehen, kein Kollektivbewußtsein »à la manière de la conscience collective des sociologues« 105 , d. h. kein Kollektivsubjekt in Unterscheidung von den einzelnen »Ich-Subjekten« und ihrem individuellen Bewußtsein, sondern ein »Wir«, welches die Vgl. Hildebrand 1930, insbes. S. 39–45. Vgl. zu diesen Analysen des »Wir« v. a. Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme. München 1928; Binswanger, Ludwig: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Zürich 1942. Diesen (und weiteren) Versuchen, das »Intentionalitätsschema« über eine Radikalisierung des intentionalen »Zwischen« auf eine Theorie der Gemeinschaft hin zu öffnen folgt Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin/New York 1964. Bezeichnenderweise ist aber darin von der im Untertitel angekündigten Sozialontologie nichts zu finden! 104 Sartre 1991, S. 740. 105 Sartre 1943, S. 465. 102 103
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Form des Erlebens der Beteiligten Einzelmenschen selbst ist (in Unterscheidung zum »Wir«, wie es von unbeteiligten Dritten thematisch wahrgenommen werden kann; vgl. oben § 2). In diesem »Subjekt-Wir« liegt das gesuchte präreflexiv-unthematische gemeinsame Dasein. Dieses Miteinandersein ist präreflexiv-unthematisch, weil es nicht aus einem kognitiven reflexiven Selbstbezug stammt; es ist begrifflich irreduzibel, weil es nicht nach dem reduktionistischen Schema (vgl. oben § 5 f.) aus einer Kombination von monologischem »Sachbezug« und wechselseitigem iteriertem »Voneinanderwissen« o. dgl. analysierbar ist. Und es ist drittens relational, weil sich schon Heideggers Grundansatz der Daseinsanalyse einem internalistischen, »subjektiv individualistischen« bzw. methodologisch solipsistischen Verständnis sperrt. Es verbietet sich von selbst, die gemeinsame Intentionalität dieses Daseins im Stile Searles als formal irreduzible, aber strukturell monologische »Wir-Intentionalität« im Kopf der einzelnen Individuen zu verstehen. Denn der Ansatz beim »In-derWelt-Sein« soll ja gerade das »epistemologische« Verständnis der Intentionalität fernhalten, das Verständnis von Intentionalität, nach welchem Intentionalität eine Sache strukturell vom »Realen« unabhängiger »Repräsentationen« im Bewußtsein ist, 106 wie es nach einer verbreiteten (aber nicht unkontroversen) Lesart Edmund Husserl vertreten hat. Demgegenüber setzt Heidegger bei der »Konkretion« des Daseins an, beim »In-der-Welt-Sein« (vgl. oben § 10). Dieser allgemeine Zug des Daseins, den die amerikanische Heidegger-Rezeption stets besonders betont hat 107 und welchen u. a. Hubert L. DreyVgl. dazu insbes. SuZ, S. 60 f. Im Rahmen seines stark an Heidegger orientierten Projekts »overcoming epistemology« bringt Charles Taylor den Zusammenhang von Heideggers Hinwendung zur »praktischen Intentionalität« (im Sinne des konkreten Alltagshandelns) und seinem anti-cartesianischen bzw. nicht-internalistischen Bild des »Besorgens« klar zum Ausdruck: »We can draw a neat line between my picture of an object and that object, but not between my dealing with the object and that object. It may make sense to ask us to focus on what we believe about something, say a football, even in the absence of that thing; but when it comes to playing football, the corresponding suggestion would be absurd. The actions involved in the game can’t be done without the object; they include the object. Take it away and we have something quite different – people miming a game on the stage, perhaps. The notion that our understanding of the world is grounded in our dealings with it is equivalent to the thesis that this understanding is not ultimately based on representations at all, in the sense of depictions that are separately identifiable from what they are of. Heidegger’s reflections take us entirely outside the epistemological 106 107
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fus auch ausdrücklich gegen John Searles Theorie der Intentionalität stark gemacht hat, schwingt in Heideggers Überlegungen zum gemeinsamen Dasein immer mit. Die Gemeinsamkeit dieses Daseins ist keine Sache der »Form« von Intentionalität im »Binnenraum« eines strukturell von der Wirklichkeit unabhängigen Bewußtseins; sie muß von vornherein relational verstanden werden: als tatsächliches gemeinsames Dasein (und nicht etwa als individuelle »Idee« oder »Repräsentation« dieses Miteinanderseins oder überhaupt als etwas, was losgelöst von tatsächlicher Gemeinsamkeit »im Kopf von Einzelnen« zu finden ist). 108 So deutlich die Konturen eines Ansatzes bei einem präreflexivunthematischen, irreduziblen und relationalen gemeinsamen Dasein insbesondere in der »Einleitung in die Philosophie« wahrnehmbar sind und so stark dieser Ansatz des Miteinanderseins in sachlicher Hinsicht auch ist: man wird diesen Ansatz bei Heidegger hier ebensowenig wie anderswo wirklich konsequent durchgeführt finden – von Sartre ganz zu schweigen, denn Sartre entwickelt seine Interpretation des Heideggerschen »Subjekt-Wir« nur, um diesem dann umso entschiedener mit einem zutiefst individualistischen und auf kognitiven Wechselbezügen basierten Gegenmodell entgegenzutreten (vgl. dazu oben § 2 sowie die unten in § 12 folgenden Ausführungen). Heideggers Analysen in der »Einleitung in die Philosophie« führen ihn zwar zu einem radikal gemeinschaftsorientierten Begriff der Erschlossenheit von Welt bzw. des »In-der-Welt-Seins«, dieses Nachfolgebegriffs der »Intentionalität« – die Analyse kulminiert in einem Wahrheitsbegriff, für den die Analyse der »Partnerschaft« von Menschen die Grundlage bildet. Wahrheit erscheint als dasjenige, worin »Dasein mit Dasein sich teilt«. 109 Daß Heidegger mit diesem Ansatz beim gemeinsamen In-der-Welt-Sein aber in letzter Konsequenz gar nicht Ernst zu machen bereit ist, spricht mit aller wünschbaren Deutlichkeit schon aus der Wahl seiner Beispiele, etwa seiner beiden oben vorgestellten Sonnenuntergangsbetrachter. Heidegger schildert die Gemeinschaft, um die es hier geht, als Angelegenheit einer seltsam passiven Gruppe. Es ist eine bloß hinschauende »Erlebnisgemeinconstrual« (Taylor, Charles: Overcoming Epistemology. In: ders.: Philosophical Arguments. Cambridge Mass. 1995, S. 3–28, hier S. 8 f.). 108 Zur Kritik des internalistischen (bzw. methodologsich solipsistischen) Verständnisses gemeinsamen Intendierens vgl. die Argumentation gegen Searles Theorie der kollektiven Intentionalität oben in § 7. 109 Heidegger [1928/29]/1996, S. 107.
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schaft«, um die es hier geht, nicht etwa eine zupackend-aktive, praktische »Besorgensgemeinschaft«. Und konsequenterweise wird denn auch das, »wobei« Dasein im Erleben gemeinsam ist – der »Gegenstand« dieses Erlebens (in diesem Fall die untergehende Sonne) – von Heidegger als Vorhandenes, nicht als Zuhandenes bestimmt, als »Gegenstand bloßen Hinschauens«, nicht als Instrument des praktischen Umgangs. Gemäß der Unterscheidung von »Sein und Zeit« ist aber in »epistemologischer« (bzw. eben: »post-epistemologischer«) Hinsicht die praktische Intentionalität, wie sie das Besorgen kennzeichnet, ursprünglicher als die kognitive Intentionalität des bloßen Erlebens, an der sich die traditionelle Erkenntnistheorie orientiert hat. Das Besorgen kommt logisch und genetisch vor dem »reinen Erkennen«. Das bloße Erleben ist, wie Heidegger am berühmten Beispiel des zerbrochenen Hammers darstellt, im Grunde nicht mehr als ein »defizienter Modus« des praktischen Fungierens. Und in »ontologischer« Hinsicht – daß Ontologie und Epistemologie (wenn man denn von dieser noch reden will) bzw. Objekt und Subjekt nicht zu trennen sind, ist gerade ein clou der Heideggerschen philosophy of mind (s. oben § 9) – gilt dementsprechend, daß die Seinsart des »Zeug« fundamentaler ist als die Seinsart der »bloßen Dinge«. Die untergehende Sonne, die in Heideggers Beispiel das ist, wobei das Dasein gemeinsam ist, hat zwar, wie Heidegger in »Sein und Zeit« darlegt, durchaus auch ihre »umsichtige Entdecktheit« (nicht nur Artefakte, auch natürliche Fakten können ja »zuhanden« sein, also »Zeugcharakter« annehmen bzw. eine entsprechende Verweisungsfunktion tragen). 110 Aber beim gemeinsamen Erleben des Sonnenuntergangs geht es – die »Benommenheit« und das »Hingerissensein« der Beteiligten weist darauf hin – offensichtlich nicht um eine Weise gemeinsamen Besorgens, gemeinsamen praktischen »Seins-bei« der Welt. Gemeinsames Intendieren hält Heidegger, wie an diesem Beispiel ersichtlich, von der Grundstruktur der Intentionalität – dem Besorgen – fern und weist es den abkünftigen Modi zu. In der »Einleitung in die Philosophie« nimmt Heidegger zwar mitunter auch veritables »Zeug« – etwa ein Stück Kreide – zum Beispiel für die intentionale Daseinsgemeinschaft, deren Seinsweise er zunächst am Beispiel der Sonnenuntergangsbetrachter entwickelt hat. Aber ganz explizit wehrt er hier den eigentlich naheliegenden Gedanken ab, daß das partnerschaftliche »Sichteilen«, in dem das Artefakt – hier die Kreide – »uns« erschlos110
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sen ist, in seinem praktischen Gebrauch liege. 111 Ein gemeinsames umsichtiges Besorgen, eine gemeinsame Erschlossenheit des bewandtnishaften Zeug-Zusammenhangs, etwa ein gemeinsames Fungieren in der Werkstatt, die im ersten Abschnitt von »Sein und Zeit« eher als Ort einsamen Tuns erscheint, will Heidegger partout nicht annehmen. »Gemeinschaft« in der Erschlossenheit des »Selben« haben wir nach Heidegger nicht etwa im Rahmen von Gemeinschaftshandlungen, an welchen sich die obige Darstellung orientiert hat, sondern nur, wenn wir das Zeug, wie Heidegger explizit sagt, »seinlassen« – Heidegger schiebt allerdings nach, daß dieses Seinlassen der Dinge keineswegs im Stile der »Vorhandenheit« defizient gegenüber dem Gebrauchen sei; es liege vielmehr »noch vor aller Interessiertheit«. 112 Aber sogar wenn man Heidegger diese Versicherung abnimmt, bleibt es beim Befund, daß diese Form »intentionaler Gemeinschaft« bei Heidegger im paradigmatischen Fall keine Rolle spielen darf. Sie kommt »vorher« oder »nachher«, ist aber jedenfalls nicht dabei, wenn das Dasein in seiner Werkstatt auf paradigmatische Weise »in der Welt ist«. Obwohl sich in der »Einleitung in die Philosophie« eine argumentativ attraktive Alternative abzeichnet, bleibt es deshalb letztlich bei der Verhältnisregelung von »Sein und Zeit«. Dies läßt einen etwas schalen Nachgeschmack zurück. Denn indem Heidegger die »Partnerschaft« des Daseins vom praktischen Weltbezug fernhält, bleibt es auf dieser doch sehr fundamentalen Ebene der menschlichen Intentionalität in Heideggers Denken bei einer relativ monologischen Struktur. Die Sphäre des umsichtigen Besorgens bleibt so nämlich für das einsame Dasein reserviert. Das Paradigma des umsichtigen Besorgens, der »Arbeit am Zeug« ist bei Heidegger ja (zumindest scheinbar, nämlich wenn man das umsichtige Besorgen für eine von der öffentlichen Ausgelegtheit der Welt im »Man« separierbare Struktur hält) der einsame Handwerker, der sich, ohne daß Meister und Gesellen in den Blick rückten, im Kontext seiner Werkstatt bewegt: das »einsame Hantieren« unter »Abwehr der Öffentlichkeit«. 113 Zwar steht das umsichtige Besorgen, wie erwähnt, auch in intersubjektiven Bezügen, aber die »anderen«, die hier begegnen, tun dies ausschließlich im Medium und auf der Basis des zeughaften Bewandtniszusammenhangs, nämlich paradigmatisch 111 112 113
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Heidegger [1928/29]/1996, S. 108. Heidegger [1928/29]/1996, S. 102. Vgl. Thomä 1990, S. 316 ff.
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als Lieferanten und Kunden, die im Zeugzusammenhang gleichsam »mit erschlossen« sind. Die ontologische Grundschicht der Welt, die bewandtnishafte »Umwelt«, und ineins damit die »epistemologische« (bzw. »post-epistemologische«) Grundverfassung des Daseins, das praktische Besorgen, haben insofern in »Sein und Zeit« eine monologische Struktur, die sie auch nach den weitreichenden Überlegungen zur fundamentalen Gemeinsamkeit des Daseins als präreflexiv-unthematisches, irreduzibles und relationales »Wir« in der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« behalten. Unverändert gilt: das Zeug ist auf spezifisch »mein« individuelles Besorgen zugeschnitten – und nicht etwa auf so etwas wie »unser« gemeinsames Tun. Immer noch scheint zu gelten, was Heidegger in den »Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes« einmal andeutet: »eigentlich« ist Dasein nur im Umgang mit Zeug, das individuell auf es selbst zugeschnitten ist. Die Alternative dazu ist Zeug, welches auf »jedermanns« Gebrauch (auf den Durchschnitt der Konsumenten o. dgl.) ausgerichtet ist – und wer nach derlei in seiner Seinsart gleichsam »öffentlich herumliegendem« Zeug greift, wandelt sich dadurch vom eigentlichen Selbst unversehens zum bloßen Jedermann, d. h. tritt alsbald zu sich selbst in das uneigentliche Verhältnis des ManSelbst. 114 Heidegger hat hier eine Chance zur Behebung der konzeptionellen Schwierigkeiten von »Sein und Zeit«, welche ihn später auf die Schiene der im Ganzen eher unglückliche »Ontologie des Volkes« gebracht haben, verpaßt. Eine praktische, umwelthafte Ausformulierung von den so wegweisenden Gedanken zum gemeinsamen Dasein in der »Einleitung in die Philosophie« böte nämlich einen überzeugenden Ausweg aus dem Dilemma der Analyse des alltäglichen Daseins, dem Zwiespalt von Eigentlichkeit und Sozialität, wie sie sie sich im Verhältnis der Analyse des »umsichtigen Besorgens« und des »Man« abzeichnet; einen Ausweg zudem, welcher zwischen der Skylla eines konventionalistischen Sozialapriori im Stile der amerikanischen Heidegger-Interpreten und der Charybdis von Heideggers eigener Volksontologie hindurchführt. Auf dieser Linie gilt: 114 Heidegger spricht so in den »Prolegomena« von Zeug, welches »in seiner eigentümlichen Anwesenheit nicht auf einen einzelnen, auf ein bestimmtes Dasein als solches zugeschnitten ist, sondern […] jeder in derselben Weise wie der Andere gebraucht«, welches also »›man‹ im gleichen Sinne verfügbar hat«, oder welches »für ›einen‹ schon da ist« (Heidegger, Martin: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes. Gesamtausgabe Bd. 20, Frankfurt a. M. 1979, S. 270).
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Zeug ist nicht bloß entweder im Rahmen meiner monologischen Handlungspläne erschlossen oder dann im Rahmen der nivellierenden Normativität des »Man«. Die »gemeinsame Erschlossenheit« von Welt beschränkt sich nicht auf die Gemeinschaft im reinen, passiven Erleben. Es gibt auch ein gemeinsames umsichtiges Besorgen und eine entsprechende Erschlossenheit von Welt. Diese Erschlossenheit ist weder rein individuell bzw. ein bloßes (ev. durch »gemeinsames Wissen« zusammengehaltenes) Aggregat individuellen »In-der-Welt-Seins« noch einfach »jedermannshafte«, gleichsam »konventionelle« Erschlossenheit. Um hier ein Beispiel zu bemühen: wenn wir zu zweit gemeinsam ein langes Sofa vom Umzugswagen in die neue Wohnung im ersten Obergeschoß befördern wollen, sind mir die Winkel und Geländer des engen Treppenhauses weder im Lichte meines oder deines je individuellen umsichtigen Besorgens erschlossen noch im Lichte von jedermanns durchschnittlichem individuellen Besorgen. Es gibt auch so etwas wie gemeinsames Besorgen mit einer entsprechenden Erschlossenheit der Umwelt. Das Zusammengehen von Welt- und Selbstbezug, welches für Heideggers Analyse der »strukturellen« Version des Verfallens so wichtig ist, beschränkt sich nicht auf das Zusammengehen von zeughafter Umwelt und individuellem Handlungsplan. Wenn wir in einem gemeinsamen Besorgen stehen, trifft diese Konkretion auch auf unser Miteinandersein, unser gemeinsames Dasein zu. »Welt« ist im Lichte unseres Vorhabens erschlossen. Und unser gemeinsames Besorgen ist weder einfach eine durch wechselseitiges Umeinanderwissen zusammengehaltene Kombination von meinem und deinem individuellen Besorgen noch eine »Wir-Intention« im individuellen Bewußtsein. Gemeinsame Erschlossenheit und gemeinsames Besorgen ist eine irreduzible und relationale Struktur. Dies hat Konsequenzen für den Heideggerschen Daseinsbegriff. Im Zentrum steht hier die Möglichkeit. Dasein ist im Grunde Bezogensein auf Möglichkeiten. In »Sein und Zeit« stellt sich Heidegger dabei diese »Möglichkeiten«, zu denen das Dasein sich auf die eine oder andere Weise verhält, stets stillschweigend als individuelle Möglichkeiten vor. Diese konzeptionelle Denkschranke gilt es auf dem Weg zu einem adäquaten Verständnis des Miteinanderseins zu überwinden. Denn hier, im gemeinsamen Besorgen, geht es nicht entweder um meine und deine individuellen Möglichkeiten oder dann um »jedermanns« oder eines beliebigen »Jemandes« individuelle Möglichkeiten: dieses Alternativenset ist offensichtlich unvoll294
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ständig. Worum es hier geht, sind unsere gemeinsamen Möglichkeiten. Dasein verhält sich nie bloß zu individuellen Möglichkeiten. Es verhält sich stets auch auf die eine oder andere Art und Weise zu irreduzibel gemeinsamen Möglichkeiten, zu Möglichkeiten, die es nicht als individuelles Dasein, sondern bloß als Miteinandersein hat. Und erst von diesem gemeinsamen Möglichkeitshorizont unseres Entwurfes her (und unter der Voraussetzung gelingender Abstimmung zwischen uns) bekommt im Rahmen des Miteinanderseins das Sinn und Kontur, was ich und du je individuell zum gemeinsamen Tun beitragen. Auf diese Weise muß die Frage nach dem »Wir« bzw. nach dem gemeinsamen Dasein – mit Heidegger ebenso wie gegen Heidegger – als Frage nach der Struktur eines vorreflexiven, irreduziblen und relationalen gemeinsamen In-der-Welt-Seins, gemeinsamer »Intentionalität« gestellt werden. Mit Heidegger, denn Heideggers Überlegungen zum gemeinsamen Dasein, insbesondere in der »Einleitung in die Philosophie«, weisen den Weg in diese Richtung; aber auch gegen Heidegger: denn Heidegger selbst hält das gemeinsame Dasein sorgfältig von der intentionalen Grundstruktur des In-der-WeltSeins fern. In letzter Hinsicht bleibt es somit bei der oben kritisch beleuchteten Asymmetrie bzw. bei der suspekten Arbeitsteilung in Heideggers Analyse des alltäglichen Daseins: hier das »positiv-strukturelle« Verfallen, die Sphäre der Arbeit, des instrumentellen Handelns, des »verschwiegenen Hantierens« in »Abwehr der Öffentlichkeit«, welches gerade durch die monologische Struktur, die Heidegger ihm gibt, als eine Art Vordeutung auf das Eigentlichseinkönnen des Daseins verweist. Dort das »uneigentliche« Verfallen, die Sphäre der Sozialität, der Öffentlichkeit und Kommunikation, das Sein im Man, welches ganz der Uneigentlichkeit anheimfällt. Das gemeinsame Dasein, wie es sich in der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« umrißhaft abzeichnet, ohne aber wirklich als solches expliziert zu werden, böte dieser scheinbaren Alternative gegenüber die Möglichkeit, das In-der-Welt-Sein des Daseins als »eigentlich« zu denken, ohne dafür den Preis seiner Sozialität zu bezahlen. Auch als Besorgendes kann Dasein gemeinsam sein. Heidegger macht in der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« bloß einen Schritt vor einer solchen Verhältnisregelung halt; und man wird den Verdacht nicht los, daß dabei die »Cartesianische Gehirnwäsche« mitgewirkt hat: die Vorstellung, daß Intentionalität, wie auch immer umformuliert, letztlich eine Angelegenheit der Einzelnen sein muß, A
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und daß alle Gemeinsamkeit demgegenüber nachrangig ist bzw. das einzelne Dasein von seinem »Sachbezug« nur abbringt. Bei allem Anti-Cartesianismus scheint auch Heidegger zu glauben, daß die ontologisch fundamentalsten Charakteristika des Daseins ausschließlich in seiner (allenfalls »mithaft« erweiterten) Individualität liegen, jedenfalls aber nicht in seinem Gemeinsamsein. Trotz dieser manifesten Abwehrhaltung Heideggers und trotz seiner eigenen Abneigungen hat Jean-Paul Sartre das Potential, welches in Heideggers Theorieanlage verborgen liegt, deutlich erkannt und mit dem »Subjekt-Wir« auf den Begriff gebracht: ein nicht vergegenständlichendes intersubjektives Wechselverhältnis, welches strukturell der einzelsubjektiven »conscience (de) soi« näher kommt, als es Sartre (oder überhaupt einer individualistischen Konzeption) lieb sein kann. Allerdings macht Sartre Heidegger nur so stark, um ihn dann, wie er meint, umso deutlicher widerlegen zu können. Für Sartre fußt das unthematische Wir-Bewußtsein nämlich in einer thematischen Wir-Erfahrung und das vorreflexive Wir-Sein in einer reflexiven, wenn auch intersubjektiv vermittelten Wir-Identität: dies ist wesentlicher Gehalt der Sartreschen Theorie der Fundierung des Subjekt-Wir im Objekt-Wir und der Rolle des Dritten bei der Synthese individueller Intentionen zu einer gemeinsamen Intention (vgl. oben § 2). Sartre ist dazu entschlossen, gegen den Ansatz beim Subjekt-Wir, den er bei Heidegger angelegt sieht, und den präintentionalen, lateralen Intersubjektbezug darauf zu bestehen, daß Sozialität in einem ausdrücklichen intersubjektiven Wechselbezug (d. h. der direkten und thematischen Fremderfahrung von Individuen) fundiert ist. Sartres Theorie des pour autrui ist vielleicht sogar der konsequenteste der vielen (m. E. fruchtlosen) individualistischen Versuche, eine Sozialontologie aus einzelsubjektiver Fremderfahrung abzuleiten, d. h. im expliziten Wechselverhältnis von Ich und Du, im Minenfeld zwischen der Egozentrik des Subjekts und der Alterität des Anderen zu begründen. 115 Da er es auf eine derartige Konzeption 115 Ein von der Transzendentalen Phänomenologie Husserls bis zur Dialogik reichendes reiches Spektrum solcher (vom Autor eigenartigerweise als »Sozialontologien« ausgeflaggter) Theorien präsentiert Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin/New York 1964. Das Eigenartige des Untertitels besteht darin, daß sich fast alle der besprochenen Ansätze ja gerade dadurch auszeichnen, daß sie die Intersubjektbeziehungen nicht sozialontologisch in den Blick nehmen. Darin kann man auch die von Theunissen klar diagnostizierte Schwäche dieser Ansätze begründet sehen. Das Alteritätsdenken ist ein Scheingegensatz zur Egozentrik, wie sie
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abgesehen hat, versucht Sartre in seiner Kritik Heideggers, die Erfahrung des gemeinsamen Besorgens, das Subjekt-Wir, in jeder Hinsicht zu relativieren. »Gemeinsames Besorgen« bedeutet so nach Sartre entweder eine Instrumentalisierung des oder der anderen (in arbeitsteiligen Herstellungsprozessen werden in diesem Sinne die beteiligten Individuen und ihre Beziehungen zum Mittel zum Zweck), oder aber das »subjektwir-hafte« Gemeinschaftshandeln ist eine bloße transitorische Phase, in der sich Individuen gemeinsam arrangieren, um dann aber letztlich ihren je individuellen Zielen zu folgen. Das Subjekt-Wir, so könnte man Sartres Sicht zuspitzen, instrumentalisiert entweder die beteiligten Individuen, oder aber es wird umgekehrt von diesen instrumentalisiert – in beiden Fällen ist das Gemeinsame sekundär gegenüber dem Individuellen. Bei Heidegger ist der zweite Fall der für das alltägliche Mitsein paradigmatische: man »richtet sich nach einander«, dies aber letztlich nur insofern, als es dabei darum geht, einander kontrolliert auszuweichen, um beim Verfolgen individueller Ziele aneinander vorbeizukommen. 116 Das gemeinsame Dasein erscheint hier als bloßes Mittel der Koordination im Rahmen rein individueller Handlungspläne. Auch bei Sartre spielt dieser Typus des Mitseins die Hauptrolle in der Gegenargumentation. Sartres Beispiel ist jenes von Passanten, die gemeinsam die Passagen einer Metrostation benutzen. Für solches Gemeinschaftshandeln ist es, wie Sartre sagt, konstitutiv, daß ich »meine persönlichen Ziele jenseits der gegenwärtig kollektiv verfolgten Ziele ansiedle«. 117 Tatsächlich sieht ja niemand das koordinierte Gehen in einer Pendlergruppe als Selbstzweck; es ist bloß eine sozusagen gemeinschaftliche Phase in einem durchweg an individuellen Zielen orientierten Handlungsplan. Man benutzt die Metro gemeinsam, aber jede und jeder geht letztlich individuell ihrer oder seiner eigenen Wege. Sartres These ist nun, daß selbst innerhalb der transitorischen gemeinschaftlichen Phase eines solchen Handlungsablaufes das Subjekt-Wir bloß den Status eines kontingenten, individualpsychologischen Faktums habe, und keineswegs etwa auf eine zugrundeliegende ontologische Struktur einer »realen Vereinigung« der Einzelsubjekte Theunissen etwa der Husserlschen Phänomenologie unterstellt. Der Weg aus der Sackgasse der Egologie führt nicht über den (mit dieser Aufgabe überforderten) Anderen, sondern über eine Ontologie der Gemeinschaft. 116 Vgl. etwa Heidegger [1925]/1979, S. 331. 117 Sartre 1943/1991, S. 740. A
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verweise. Das Subjekt-Wir ist also nach Sartre letztlich bloß ein »Gefühlszustand«, der nicht einmal notwendig ist für das Zustandekommen von Koordination, also sozusagen ein kontingentes Überbauphänomen darstellt. Sartres Argument für diese Einschätzung: es möge in Situationen wie derjenigen der Metrobenutzerinnen und -benutzer zwar die einzelne Metrobenutzerin das Gefühl einer gemeinsamen Tätigkeit haben – dies müsse aber keineswegs auf alle Passanten zutreffen. Es sei ja nicht notwendig, daß auch die anderen Metrobenutzer ihrerseits »uns« als »Wir« wahrnehmen, daß also der eigenen Erfahrung der Wir-Subjektivität, wie Sartre sagt, »eine korrelative Erfahrung bei den anderen« entspreche. Wie wichtig diese Zuweisung des Subjekt-Wir zum rein psychologisch-Erlebnishaften und der damit einhergehende Ausschluß des Subjekt-Wir aus dem Bereich des sozialontologisch Relevanten für Sartre ist, kann man daran ablesen, daß er diese (De-)Klassifikation des Subjekt-Wir im Kapitel zu Heideggers Mitsein nicht weniger als achtmal wiederholt. 118 Es handelt sich hierbei fast um so etwas wie ein Leitmotiv der Darstellung. Und vordergründig leuchtet Sartres Argument ja auch ein: man kann die Metro auch einfach im Lichte der individuellen Handlungspläne benutzen und die anderen Metrobenutzer ihrerseits als individuelle Metrobenutzer wahrnehmen, mit denen man in keinem gemeinsamen Besorgen oder Gemeinschaftshandeln steht, sondern mit denen man sich koordiniert, indem jeder einzelne sich so verhält, wie man es tut, d. h. orientiert an den situativ geltenden, formellen oder informellen Normen. Von einem vorreflexiven, irreduziblen und relationalen gemeinsamen Dasein ist dann, wie es scheint, nichts zu sehen. Das ist zwar richtig, beweist aber nichts gegen die ontologische Relevanz des Miteinanderseins. Es zeichnet sich damit nämlich nicht das »bloß Psychologische« des Subjekt-Wir, sondern vielmehr eine Unterscheidung zweier möglicher Sichtweisen »koordinierten Daseins« ab, welche als solche für die Ontologie unseres gemeinsamen Daseins gerade bezeichnend ist. Man kann Koordinationssituationen entweder als Situationen gemeinsamen Besorgens erleben, d. h. als Situationen, in denen es darauf ankommt, was »wir« (kollektiv, nicht distributiv verstanden) tun. Oder aber diese Situationen erscheinen als solche, in denen »man« seinen individuellen Zielen folgt, sich aber dabei im Rahmen der geltenden Normen bewegt. Das erste 118
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Vgl. Sartre 1943/1991, S. 722; 738; 740; 741; 744–747.
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Selbstverhältnis des Daseins ist jenes des vorreflexiven, irreduziblen und relationalen Subjekt-Wir. Das zweite ist jenes des »ManSelbst«, das dem individualistischen Selbstverständnis der Handelnden entgegenkommt und die ganze fundamentale Gemeinsamkeit der Situation in das Gelten von Normen und Konventionen verlegt. Die erste der beiden Möglichkeiten des Daseins in Koordinationssituationen, die Perspektive des Miteinanderseins, scheint mir allerdings von ungleich höherer sozialontologischer Relevanz zu sein, als Sartre dies sieht. Daß es sich beim zweiten Typ, der Sichtweise des normorientierten, individuellen Man-Selbst, um die im Alltag gängige Einstellung handelt (und allenfalls Einzelne solche Situationen als Situationen des Gemeinschaftshandelns bewußt wahrnehmen), bedeutet m. E. keineswegs, daß es sich dabei um ein bloß psychologisches und kontingentes Phänomen ohne sozialontologische Relevanz handelt. Hier wird wiederum die Unterscheidung zwischen der thematisch-reflexiven Wir-Identität und der vorreflexiv-unthematischen Wir-Intentionalität des gemeinsamen Besorgens wichtig. Unmittelbar evident ist Sartres Argumentation nur in Bezug auf eine reflexiv-thematische Transformation des ursprünglichen SubjektWir: die wenigsten Passanten überkommt in der Metro ein vollbewußtes Gemeinschaftsgefühl, die wenigsten würden sich selbst und die anderen in dieser Situation ernstlich als gemeinsames Dasein sehen. Im Gegenteil: nirgendwo erleben sich Menschen wohl als vereinzelter als im anonymen, von allgemeinen Verhaltensnormen geregelten öffentlichen Raum. Aber von Heideggers Reflexionsskepsis ebenso wie an Heideggers Überlegungen zum Volks-Wir ist zu lernen: was das Dasein selbst ist, läßt sich nicht seiner reflexiven Selbstidentifikation entnehmen. Ebensowenig wie tatsächliche Gemeinschaft aus einem entschlossenen »Wir«-Sagen vereinzelten Daseins sprechen muß, bedeutet das Phänomen des »Man« qua »Masse, in der jeder ›ich, ich‹ sagt« , 119 daß das Dasein hinter diesem individualisierenden Selbstverhältnis in Tat und Wahrheit nicht eine ganz andere Struktur hat. Oder, anders gesagt: daß das Dasein auf die »Wer-Frage« zunächst und zumeist mit »ich, ich« antwortet, sich also selbst als individuelles Dasein versteht, bedeutet keineswegs, daß es in einem fundamentalontologischen Sinn auch tatsächlich »bloß« individuelles Dasein ist. Das »Selbst« des Daseins läßt sich nicht aus seinem reflexiven Selbstbegriff bestimmen. Manchmal ist 119
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»man« gerade nicht das, als was man sich selbst begreift. Die Tatsache, daß sich das Dasein als individuell begreift, widerspricht nicht der These, daß es ein Subjekt-Wir ist – ein »Wir« freilich in einem besonderen, defizienten, gleichsam »gebrochenen« Sinne: ein »Wir« im Sinne des »Man«.
§ 12 Eigentliches und zerbrochenes Wir Das »Man« bedeutet nach Heidegger einerseits eine »Vermassung«, ein Verlust an individueller Eigenheit des Daseins, aber andererseits und zugleich auch so etwas wie eine »Zerbröckelung«, und damit ein Verlust wirklicher und transparenter Gemeinsamkeit des Daseins. 120 Daß sich Dasein als »Ich«, als individuell begreift, ist gerade typisch für die Uneigentlichkeit des »Man«. Damit eröffnet sich indirekt eine Perspektive auf eine andere Eigentlichkeit als jene, welche in »Sein und Zeit« im Vordergrund steht. In dieser Hinsicht besteht die »Uneigentlichkeit« des Man im genauen Gegensatz zur »offiziellen« Verhältnisregelung von »Sein und Zeit« nämlich nicht darin, daß das »Man-Selbst« an seiner individuellen Eigenheit vorbeilebt, sondern eher darin, daß es mit seinem ganzen »ich, ich«-Sagen, mit seiner ganzen Individualität an seiner eigentlichen Gemeinsamkeit vorbeilebt. An einer Stelle seiner »Logik«-Vorlesung liefert Heidegger dazu ein Stichwort, welches diese Sicht bündig auf den Punkt bringt. Hier nennt Heidegger das »Man« ein »zerbrochenes Wir«. 121 Hier setzt er das »Man« nicht im Kontrast zu einer Eigentlichkeit, die Sache des vereinzelten Daseins wäre, wie dies in der Konzeption von »Sein und Zeit« suggeriert ist, sondern in Kontrast zu einer Eigentlichkeit, die Sache des Miteinanderseins ist. Insofern spricht die von Sartre als Argument angeführte Tatsache, daß der »Subjekt-Wir«-Charakter des Daseins nicht notwendigerweise mit reflexiv-thematischer Explizitheit transparent ist, keineswegs dagegen, daß das Subjekt-Wir bzw. das gemeinsame Dasein eine sozialontologische Grundstruktur beschreibt. Dies kann in einer direkten Konfrontation mit Sartres eigenem Ansatz weiter verdeutlicht werden. Sartres These ist ja, wie oben (§ 2) gesehen, daß die psychologische Erfahrung des Subjekt-Wir auf einer anderen Erfah120 121
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rung aufruht: jener des Objekt-Wir. Diese letztere Erfahrung hat nun von vornherein reflexiv-thematischen Charakter, wobei der reflexivthematische Selbstbezug durch eine thematische, objektivierende Fremderfahrung vermittelt ist. Die Erfahrung des Objekt-Wir besteht darin, daß ich mich gemeinsam mit den (späteren) anderen Mitgliedern meiner Wir-Gruppe als durch einen nicht-zugehörigen Dritten wahrgenommen erfahre. Diese Erfahrung des Dritten – zunächst im Sinne des genitivus objectivus, davon abhängig dann aber auch im Sinne des genitivus subiectivus – ist es nach Sartre, welche »Gemeinschaft« überhaupt erst konstituiert: Ich erfahre den Dritten als mich zusammen mit anderen erfahrend. Und dadurch werden die anderen und ich zum »Wir«. Der »Blick des Dritten« ist es, was uns überhaupt erst »aneinander bindet«. 122 Damit kombiniert Sartre den Grundansatz bei der »Intersubjektivität«, beim kognitiven Wechselbezug der Ich-Du-Beziehung, mit einem über die Erfahrung des Dritten vermittelten, reflexiv-thematischen Begriff des Wir. Auf der grundsätzlichen Ebene besteht Sozialität nach diesem Verständnis in einem individuellen kognitiven Wechselverhältnis von Ich und Du, welches Sartre bekanntlich als »Kampf« ums Transzendierend-Sein und gegen das Objektiviertwerden schildert. Das heißt: wir sind als »jemeinige« Träger von zunächst rein individuellen Intentionen und Meinungen miteinander konfrontiert und »kämpfen« miteinander um unsere je individuellen Möglichkeiten. Von »Gemeinschaft« liegt nach Sartre dementsprechend nichts in dieser ursprünglichen faceto-face-Situation. Das Element der Gemeinschaft komme erst ins Spiel, wenn ich nun sehe, daß ein Dritter uns beim Kämpfen zuschaut: ich erfahre nun »uns«, das »Wir«, über eine Identifikation mit dem »Sie«, welches der Dritte beobachtet. Das »Wir« ist dementsprechend zunächst Gegenstand der Beobachtung des Dritten und Resultat der synthetisierenden Kraft seines Blicks, eben Objekt-Wir, und erst dann, über die Identifikation mit diesem Objekt-Wir, wird es zur »Erfahrung« des Subjekt-Wir. Indem der Blick des Dritten mich und den anderen zu einem reflexiv-thematischen Wir vereinigt, synthetisiert er auch erst meine individuellen Intentionen, mein individuelles »Besorgen« und die individuellen Intentionen, das individuelle »Besorgen« des anderen zu einer gemeinsamen Intention, einem gemeinsamen Besorgen. Aus meiner individuellen Absicht, den An-
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Vgl. etwa Sartre 1943/1991, S. 723 ff.; 728. A
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deren zu schlagen, und seiner individuellen Absicht, meinen Angriff abzuwehren, wird nach Sartre durch die synthetische Kraft des Blicks des Dritten unsere gemeinsame Absicht gegeneinander zu kämpfen. 123 Von daher wird auch Sartres These verständlich, daß das Subjekt-Wir keineswegs eine sozialontologische Basalstruktur beschreibe. Das Moment an vorreflexiv-unthematischer, irreduzibler und relationaler intentionaler Gemeinsamkeit, welches Sartre mit dem Terminus Subjekt-Wir belegt, verdankt sich dieser Theorie gemäß ganz dem über den Dritten vermittelten thematisch-reflexiven WirBezug von Einzelindividuen, ist also kein ursprüngliches Phänomen bzw. keine ontologische Grundtatsache. Daß man sich durch den Blick des Dritten der Gemeinsamkeit einer Handlungssituation reflexiv-thematisch inne wird, ist sicherlich eine durchaus reale Erfahrung (vgl. dazu die Analyse und Kritik oben § 2). Aber zum einen ist das genaue Gegenteil eine ebenso reale Erfahrung: Kinder, ganz in die harmonische Gemeinschaftshandlung eines verbotenen Spiels, ganz ins gemeinsame Erleben und Tun vertieft, mögen sich im Medium des Blicks des hereintretenden Dritten unvermittelt wieder als Träger ihrer eigenen Intentionalität und Verantwortung erfahren. Hier verbindet die Erfahrung des Blicks des Dritten nicht zum »Wir«, wie es Sartre als allgemeinen Fall proklamiert, sondern er sprengt vielmehr gerade das präreflexiv-unthematische Wir-Sein des gemeinsamen Tuns, das Subjekt-Wir, individualisierend auf. Die Beteiligten treten über den Blick des Dritten in ein Selbstverhältnis, in dem sie sich als individuell begreifen. Der Blick des Dritten kann verbinden, er kann aber genauso auch individualisieren. Vor allem aber zeitigt Sartres Ableitung aller intentionalen Gemeinsamkeit aus dem Blick des Dritten höchst unplausible Konsequenzen. Da sich nach Sartre alles »Wir-Sein«, jegliche Gemeinschaft letztlich dem Blick des Dritten verdankt, muß Sartre dessen synthetische Energie so hoch veranschlagen, daß er ihm die Fähigkeit zuschreibt, ein Individuum zwischen beliebigen »fremden Existenzen [zu] verkleben«. 124 »Wir« sind nach Sartre schlicht und einfach die, die der Dritte gerade im Blick hat; das bin vielleicht mein Gegner und ich, vielleicht aber auch der Mensch, der zufällig gerade vor mir auf der Straße geht, und ich, oder auch irgendeine andere, völlig beliebige Auswahl aus der Menschheit, wenn der Dritte sie nur irgend123 124
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Sartre 1943/1991, S. 728 f. Sartre 1943/1991, S. 730.
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wie vor seinen Blick bekommt. Das scheint bei Sartre beispielsweise auch der Nachrichtensprecher im Fernsehen und ich sein zu können, soweit ich eben nur sehen kann, daß der Dritte »uns« sieht. Nun gibt es aber zwischen diesen Beispielen Nuancen, und das letzte der Beispiele durchstößt wohl die Grenze zur Absurdität, denn hier ist es wohl abwegig, von so etwas wie einer »Vereinigung« meiner eigenen individuellen Intention und der individuellen Intention des zufällig gerade sich im Blickfeld des Dritten befindlichen Anderen zu sprechen. Was im Falle der Kämpfenden einleuchten mag – daß Individuen durch die Erfahrung des Dritten der Gemeinsamkeit ihrer Situation inne werden –, scheint im Falle von Menschen, die jenseits ihrer Präsenz im Blickfeld gar nichts gemeinsam haben, in eine Absurdität einzumünden. Die Fähigkeit des Blicks des Dritten, Menschen zu einem Selbstverständnis als »Wir« zu verhelfen, ist offensichtlich an Bedingungen gebunden, die über die bloße Präsenz in seinem Blickfeld hinausgehen. Eine naheliegende Vermutung ist hierzu: zu einem Durchbruch zu einem reflexiv-thematischen Selbstverständnis als »Wir« kann uns der Blick des Dritten höchstens dann verhelfen, wenn in der betreffenden Situation eine Gemeinsamkeit schon vorreflexiv und unthematisch vorlag, ohne aber Eingang in unser ausdrückliches Selbstverständnis als Handelnde zu finden. Der Blick des Dritten, so könnte man auch sagen, mag allenfalls eine präreflexiv-unthematische Gemeinsamkeit enthüllen und reflexiv-thematisch explizit werden lassen; er mag diese Gemeinsamkeit aber, anders als Sartre zu meinen scheint, keineswegs zu konstituieren. Wenn man am Motiv des Blicks des Dritten festhalten will, liegt seine Rolle nicht in der Synthese individueller Intentionen, sondern allenfalls im Durchbrechen eines Selbstverhältnisses, in dem unser reflexiv-thematisches Selbstverständnis an der präreflexiv-unthematischen Gemeinsamkeit unserer Handlungssituation vorbeiläuft. Das scheint mir ein entscheidender Punkt zu sein, welcher ein neues Licht auf Heideggers »Man« wirft. Normalerweise bewegen wir uns in sozialen Kontexten im Rahmen eines Selbstverständnisses, in dem wir uns zu uns selbst als Individuen verhalten, die an der Leitlinie sozialer Normen individuellen Zielen folgen. Unsere Aufmerksamkeit gilt im Alltag der Normkonformität und Nichtkonformität unserer individuellen Handlungen (Heidegger spricht diesbezüglich von »Abständigkeit«); wir halten uns beim Gehen unserer eigenen Wege an die Verkehrsregeln oder auch nicht, gehen »konA
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ventionell« oder »strategisch« mit diesen Regeln um und ärgern uns auch einmal, wenn sie uns im Lichte unserer eigenen Pläne und Vorlieben als »unsinnig« bzw. hinderlich erscheinen. Was in diesem »abständigen« Verhältnis individueller Man-Selbste hingegen stets verdeckt bleibt, ist die Gemeinsamkeit der zugrundeliegenden Handlungssituation. Es braucht einen Bruch in diesem Selbstverhältnis, damit wir uns gewahr werden, daß diese Normen, die wir sonst nur als »Restriktionen« oder »Leitlinien« unseres individuellen Handelns sehen, in Tat und Wahrheit so etwas wie die Instrumente sind, welche unserem gemeinsamen Dasein zur Verfügung stehen. Worum es bei diesem Bruch geht, ist der Unterschied zwischen dem normorientierten Handeln des Man-Selbst und dem Besorgen des Miteinanderseins. Ich meine deshalb, daß Heideggers »Uneigentlichkeit« des Man im Kontrast nicht zu einem quasi Kierkegaardschen Begriff der individuellen Selbstwahl verstanden werden sollte, sondern im Kontrast zu einem gemeinsamen Besorgen, einem expliziten und als solches transparenten gemeinsamen Dasein. Diese Interpretation hätte weitreichende Konsequenzen für den Daseinsbegriff. Heidegger beschreibt »Uneigentlichkeit« bekanntlich als eine Weise, in der es dem Dasein um sich selbst gehen kann: als Nicht-Ergreifen, Vor-sich-selbst-Verdecken seiner Möglichkeiten durch das Dasein selbst. Nun suggeriert Heidegger aber, daß das »Uneigentliche« des alltäglichen Daseins darin besteht, daß wir als Einzelne nicht auf unsere eigenen, individuellen Möglichkeiten hin leben (deren eigenste der eigene Tod ist), sondern »irgendjemandes« Leben führen. So zutreffend diese Beschreibung für bestimmte Handlungssituationen sein mag, so untauglich scheint sie mir zur Beschreibung des Sozialen am Dasein im Ganzen zu sein. Wie soll sich denn ein individuelles Dasein überhaupt »eigentlich« zu den formellen und informellen Regeln im öffentlichen Raum verhalten? Als individuelles Dasein kann es diese Regeln nur einhalten oder brechen, kommt aber nie aus der Situation grundsätzlicher Normbezogenheit seines Handelns heraus. Andere Möglichkeiten hat es als individuelles Dasein nicht; denn was auch immer dieses Dasein in der Öffentlichkeit tut – ob es sich konventionell verhält oder die Konventionen einfach zu ignorieren versucht – ist sinnkonstitutiv in Relation auf diese Normen bestimmt, sei es als Einhalten, Brechen oder Ignorieren dieser Normen. In Koordinationssituationen hat eben alles, was Individuen tun, nicht bloß eine individuelle, sondern auch eine soziale Bedeutung. Die Sozialität der Situation bedeutet, daß 304
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das, was Individuen tun, seinen Sinn wesentlich durch den sozialen Hintergrund erhält, ja daß individuelle Handlungen erst vor diesem sozialen Hintergrund überhaupt individuierbar sind. 125 Wird deshalb Dasein als fundamental individuell und jemeinig verstanden, so muß das Phänomen der Sozialität zwangsläufig in Konflikt geraten mit dem Selbstverhältnis des Daseins und seiner Festlegung auf seine eigenen, individuellen Möglichkeiten. Was in dieser individualistischen Konzeption aber übersehen wird, ist, daß Dasein sehr viele Möglichkeiten hat, die es nicht als jemeiniges Individuum, sondern nur als Miteinandersein hat. Daß Handlungen in sozialen Situationen nicht bloß in ihrem Verhältnis zu Möglichkeiten von Einzelnen beschreibbar sind, heißt nicht, daß in diesen Situationen gar kein eigentliches Ergreifen der Möglichkeiten des Daseins denkbar ist. Im Gegenteil: das Selbstbild, in dem »man« sich in sozialen Situationen als Einzelnen begreift, bedeutet gerade die Installation eines Selbstverhältnisses von Dasein, in dem diese gemeinsamen Möglichkeiten verdeckt bleiben. Das »Man« ist nicht ein Aggregat von Individuen mit einem uneigentlichen Selbstverhältnis, sondern, wie Heidegger sagt, ein »zerbrochenes Wir«, eine »Masse, in der jeder ›ich, ich‹ sagt«; 126 mit dem Vorrang des individuellen Ich-Bewußtsein geht zugleich eine »Zerbröckelung« und »Vermassung« einher. 127 Wenn ich x tue, weil man x tut, trete ich in ein Selbstverhältnis, in welchem mir unter dem individuierenden Zwang des Man verborgen bleibt, daß diese scheinbar anonyme Norm des »man tut« eigentlich ein Instrument ist, mit dem wir als gemeinsames Dasein unsere Welt einrichten. »Eigentlich« tue ich x (z. B. mich im Verkehr auf der rechten Straßenseite halten) nicht, weil »man« x tut; sondern ich tue x, weil wir damit y (ein reibungsloses Aneinandervorbeikommen) besorgen. X hat seinen Sinn nicht darin, daß es gleichförmig mit jedermanns Handeln geschieht, sondern darin, daß es ein individueller Beitrag zu einem gemeinsamen Besorgen von y ist. Und was »wir« in Koordinationssituationen (bzw. Situationen sozialen Handelns) tun, ist in seinem Sinn radikal durch die Interdependenz von meinem Beitragshandeln und dem Beitragshandeln der beteiligten anderen bestimmt. Gemeinsames Besorgen – Gemeinschaftshandeln – läßt sich insofern als Beziehungsdreieck darstellen: 128 Unser je individuelles Beitrags125 126 127 128
Vgl. dazu Baltzer 1999, Kap. 3. Heidegger [1934]/1982, S. 43. Heidegger [1938]/1989, S. 321. Vgl. dazu Baltzer 1999, S. 164 ff. A
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handeln erwächst einer gemeinsamen Intention – wobei die Gemeinschaft hier als Form von Intentionalität, nicht als das thematisch Intendierte zu verstehen ist; 129 z. B.: ich glaube, daß der mir auf dem Bürgersteig entgegenkommende Fußgänger und ich uns zu kreuzen beabsichtigen (gemeinsame Absicht), deshalb halte ich mich rechts auf dem Gehsteig (individuelle Beitragshandlung), aber dieser sinnkonstitutive Bezug kommt nur unter der Bedingung zustande, daß sich das eigene Beitragshandeln und dasjenige der beteiligten Anderen zu einem entsprechenden Gemeinschaftshandeln fügen. Dieser doppelte, präintentionale Bezug – die deduktive Beziehung von gemeinsamer Absicht und individuellem Beitragshandeln einerseits, das Interdependenzverhältnis zwischen den individuellen Beitragshandlungen andererseits – macht das Gemeinschaftshandeln zu einer äußerst fragilen Angelegenheit. Man kann sich natürlich über das Vorliegen einer gemeinsamen Absicht täuschen (vgl. dazu oben § 7) – vielleicht geht der entgegenkommende Fußgänger gar nicht davon aus, daß wir aneinander vorbeikommen wollen, sondern davon, daß es unsere gemeinsame Absicht sei, bei der Gelegenheit unseres Zusammentreffens ein Gespräch zu beginnen (z. B. weil wir uns, wie er glaubt, von früher kennen). Im Rahmen dieser »gemeinsamen Absicht« wird er als individuelles Beitragshandeln auf mich zugehen – und mein Ausweichen vielleicht als Gesprächsvermeidung auffassen, während ich im Rahmen der mein Handeln leitenden »gemeinsamen« Absicht (»aneinander vorbeikommen«) vielleicht schlicht einen jener Fälle vorliegen sehe, in denen ein Gemeinschaftshandeln nicht wegen divergierender Vorstellungen der gemeinsamen Absicht, sondern wegen mangelnder Koordination der individuellen Beitragshandlungen nicht zustande kommt – etwa wenn man sich auf dem Bürgersteig spiegelsymmetrisch auszuweichen versucht. Aus dieser doppelten Fragilität von Gemeinschaftshandeln werden soziale Normen in ihrer ontologischen Grundstruktur verständlich. Soziale Normen stabilisieren Gemeinschaftshandlungen, indem sie individuelles Beitragshandeln standardisieren. Als solche sind sie Instrumente des 129 Die thematische Beschränkung auf das Besorgen ist hinsichtlich des Gemeinschaftsbegriffes gefährlich. Daß instrumentelles Handeln nicht per se monologisch sein muß, sondern durchaus Gemeinschaftshandeln sein kann, heißt natürlich nicht, daß umgekehrt alles Gemeinschaftshandeln instrumentelles Handeln ist. Der paradigmatische Fall der Gemeinschaftlichkeit ist vielmehr das schlichte Zusammensein, in dessen Rahmen »wir« oft so wenig zweckorientiert handeln, daß man dieses Handeln wohl nicht einmal als Selbstzweck bezeichnen kann.
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gemeinsamen Daseins. Aber ihr »konventionalistisches Mißverständnis« liegt in ihrer ontologischen Struktur schon angelegt. Genau durch diese standardisierende Funktion verdecken Normen nämlich den Beitragscharakter individuellen Handelns: individuelles Handeln erscheint dann im Selbstverständnis der Handelnden nicht mehr als Beitragshandeln zu einem Gemeinschaftstun, sondern schlicht als standardisiertes (oder zumindest auf einen normativen Standard bezogenes) individuelles Handeln. Die »gemeinsame Absicht« bzw. das zugrundeliegende gemeinsame Dasein wird sozusagen durch den normativen Standard verdeckt, aus sozialem Beitragshandeln wird individuelles normorientiertes Handeln. Klar ist, daß dabei der gesellschaftliche Normwandel – namentlich die Entwicklung von partikularen hin zu universalen Normen – eine entscheidende Rolle spielt. Erst in »modernen« Verhältnissen setzen sich, unter dem Einfluß der Individualitäts- und Subjektsemantik, universale Normen durch – Normen, die für jedermann gelten, von jedermann dasselbe Beitragshandeln verlangen und insofern im Selbst- und Wechselverhältnis der normorientiert Handelnden jenes individuelle »JemandSein« installieren, welches Heidegger als »Man-Selbst« bezeichnet und welches in der modernen Sozialontologie (sowohl im Ansatz beim individuellen Präferenzoptimieren als auch im Ansatz beim Konsens unter Individuen) für die Substanz der Gesellschaft gehalten wird (vgl. dazu unten §§ 13 ff., 16 ff.). Wenn »Eigentlichkeit« das Durchbrechen dieser individualisierenden Tendenz universaler Normen impliziert, muß Eigentlichkeit keinen Rückzug des Einzelnen aus der Sphäre der Sozialität bedeuten. Ganz im Gegenteil: das Durchbrechen eines Selbstverhältnisses, in dem ich mich als Einzelnen erfahre, und der gemeinschaftliche Aufbau eines Verhältnisses zu den Möglichkeiten, bezüglich derer wir uns festlegen, wenn wir Normen als gültig betrachten. Die eigentliche Version des individuellen Man-Selbst ist damit nicht die Vereinzelung, sondern die Perspektive des gemeinsamen Daseins. Als Individuum muß das Dasein sich in den normativen gesellschaftlichen Zusammenhängen zwangsläufig immer wieder normorientiert-abständig verhalten – dadurch gerät es aber in Gefahr, sich von den Möglichkeiten abzuschotten, die es nur als das gemeinsame Dasein hat, welches es ist. Ein Dasein, welches sich bloß als individuell versteht, kann die öffentlichen Normen einhalten oder gegen sie verstoßen. Aber nur als gemeinsames hat das Dasein auch die Chance, diese Normen zu ändern, sie so einzurichten, wie es »uns« entA
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spricht, und damit in ein eigentliches Verhältnis zu jenen Möglichkeiten zu treten, die Dasein eben nur als Miteinandersein hat. »Eigentlichkeit« bedeutet insofern das Selbstverhältnis eines Daseins, dem Normen nicht bloß als anonym-universale, vorgegebene Restriktionen individuellen Handelns erscheinen, sondern als Instrumente gemeinsamen Daseins begreiflich und beurteilbar – und dementsprechend veränderbar – sind. Diese Rekonstruktion bzw. Reinterpretation der existenzialphilosophischen Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit leistet für die Ontologie des Miteinanderseins Wesentliches. In ihrem Licht eröffnet sich nicht nur eine Perspektive auf ein vorreflexives, irreduzibles und relationales Miteinandersein; auch der in der »Cartesianischen Gehirnwäsche« kulminierende sozialontologische Individualismus selbst erscheint in ihrem Licht als Ausdruck der vorreflexiven, irreduziblen und relationalen Gemeinsamkeit unseres Daseins. Klar ist aber, daß eine solche Interpretation sich nur so lange auf Heidegger stützen kann, als sie sich gleichzeitig auch gegen Heidegger wendet. Heidegger erscheint insofern weder als sozialontologisch ungenießbar (wie es die Interpretation lange Zeit dargestellt hat) noch als der vorbildliche Sozialontologe, als welcher er in jüngerer Zeit bisweilen dargestellt wird. Überhaupt ist Heidegger nicht vor allem deshalb von sozialontologischem Interesse, weil er irgendeine besondere Position zur Sozialität des Daseins konsistent vertreten hätte. Im Gegenteil: an Heidegger ist gerade interessant, daß er mehr gute und mehr schlechte Ideen zum Sein des Sozialen gehabt zu haben scheint als irgendein anderer der »größeren« Philosophen des vergangenen Jahrhunderts. Deshalb (und weil sich unter den vielen verschiedenen Ansätzen auch wegweisende Theorieansätze zum gemeinsamen Dasein finden) bildet die Diskussion rund um Heidegger einen wichtigen, vielleicht gar einen unersetzlichen Ort der Suche nach der ontologischen Grundstruktur unserer Sozialität. Freilich kann sich die Diskussion nicht auf dieses Feld beschränken. Der »Testfall« der philosophisch-kritischen Auseinandersetzung um das Sein des Sozialen ist nämlich gegenwärtig ein ganz anderer. Keine Sozialontologie mit kritischem Anspruch kann heute wortlos am »ökonomischen Verhaltensmodell« vorbeigehen, welches nicht nur in der sozialwissenschaftlichen Deutung der Sozialität unseres Daseins immer noch eine bestimmende Rolle spielt, sondern gleichzeitig wie wenige wissenschaftliche Ansätze auch auf unser alltägliches Selbstverständnis einwirkt. 308
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v. Die Uneigentlichkeit des Homo Oeconomicus
»Economics is the premier social science«, ist in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel »Economic Imperialism« zu lesen. 1 Bezeichnender noch als der Titel »Economic Imperialism« selbst ist, wie er verstanden sein will: »Imperialism« ist hier – anders als man vielleicht meinen könnte – keineswegs als Kritik an Übergriffen des ökonomischen Erklärungsansatzes auf ökonomiefremde Felder sozialwissenschaftlicher Forschung gemeint. Ganz im Gegenteil: daß der ökonomische Erklärungsansatz nicht nur auf Marktverhalten u. dgl., sondern auch auf andere Sphären wie Politik, Religion, Intimbeziehungen etc. und letztlich auf die soziale Wirklichkeit im Ganzen bezogen wird, wird ganz ausdrücklich begrüßt. Der Vorrang der Ökonomie vor den anderen Sozialwissenschaften zeige sich daran, daß diese Disziplin unter allen Sozialwissenschaften bei weitem am meisten Einfluß auf Politik und Gesellschaft habe – ganz zu schweigen von einem freilich nicht ganz unwesentlichen »market test«, nämlich der Studienfachentscheidung von Studierenden, wo die Ökonomie ebenfalls besser abschneide als die anderen Sozialwissenschaften. Für diese allseitige bevorzugte Wertschätzung der Ökonomie gebe es dabei durchaus tiefere Gründe. Nebst der »Strenge« des ökonomischen Erklärungsansatzes sei es vor allem seine allgemeine Anwendbarkeit, welche die Ökonomie unter den Sozialwissenschaften auszeichnet. 2 Ökonomie wird nicht mehr über einen für sie spezifischen Gegenstandsbereich, sondern über eine ökonomische Her1 Lazear, Edward P.: Economic Imperialism. In: Quarterly Journal of Economics 115 (2000), S. 99–146, hier S. 99. Vgl. zum »Ökonomischen Imperialismus« auch Kirchgässner, Gebhard: Homo Oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Tübingen 2 2000, insbes. S. 153–156. 2 Edward P. Lazear fährt denn auch fort: »In large part, the success of economics derives from its rigor and relevance as well as from its generality. The economic toolbox can be used to address a large variety of problems drawn from a wide range of topics.«
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angehensweise (economic approach) definiert, welcher als anderen approaches überlegen bezeichnet wird. 3 Die Diagnose »ökonomischer Imperialismus« bezieht sich auf eine Erscheinung, die in der (freilich eher kurzen) Geschichte der Sozialwissenschaften wohl einmalig ist. Mit dem homo oeconomicus – dem »ökonomischen Erklärungsansatz« bzw. dem »ökonomischen Verhaltensmodell« – hat sich hier erstmals so etwas wie ein allgemeines Paradigma etabliert. Im Zentrum dieses Ansatzes steht – und seine Grundlage bildet – ein spezifischer Begriff der Handlungsrationalität. Nach dem »ökonomischen Verhaltensmodell« ist der Gegenstand der Sozialwissenschaften allgemein »menschliches Handeln als rationale Auswahl aus Alternativen«. 4 Das Moment der »Auswahl« oder »choice« impliziert dabei im Normalfall einen (methodologisch oder ontologisch) individualistischen Grundansatz. Es sind Individuen, die hier wählen, und sie wählen selbständig nach Maßgabe ihrer eigenen Präferenzen, wobei diese Präferenzen im klassischen Fall als mehr oder minder egoistisch verstanden werden. Die Rationalität dieser Auswahl meint in diesem Kontext, daß sich Individuen unter den gegebenen Handlungsalternativen für jene entscheiden, die im Sinne ihrer Präferenzen den größten Erwartungsnutzen bringt. Menschen sind individuelle Präferenzoptimierer: dies besagt das »Rationalitätsprinzip«, 5 welches dem »ökonomischen Verhaltensmodell« zugrunde liegt und welches hier eine ähnliche Rolle spielt wie das Kausalprinzip in den Naturwissenschaften. Das »ökonomische Verhaltensmodell« ist in der Sozialwissenschaft weit verbreitet und fest verankert – gleichzeitig ist es aber auch Gegenstand heftiger Kritik. Viele der Kritiken am ökonomiVgl. dazu beispielshaft Becker, Gary S.: The Economic Approach to Human Behavior. In: Elster, Jon (Hrsg.): Rational Choice. Oxford 1986, S. 108–122: »I believe that what most distinguishes economics as a discipline from other disciplines in the social sciences is not its subject matter but its approach. Indeed, many kinds of behavior fall within the subject matter of several disciplines: for example, fertility behavior is considered part of sociology, anthropology, economics, history, and perhaps even politics. I contend that the economic approach is uniquely powerful because it can integrate a wide range of human behavior« (ebd. S. 109); weiter unten heißt es dann: »I have come to the position that the economic approach is a comprehensive one that is applicable to all human behavior« (ebd. S. 112). 4 Kirchgässner, Gebhard: Homo Oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Tübingen 2 2000, S. 12. 5 Kirchgässner 2000, S. 18 f. 3
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schen Verhaltensmodell beziehen sich auf die eine oder andere Weise auf dessen Individualismus bzw. Atomismus, auf den Ansatz bei den einzelnen Menschen als selbständige bzw. vereinzelte Handlungszentren. Dabei tut die Kritik gut daran, die weiteren geistesgeschichtlichen Bezüge nicht aus den Augen zu verlieren, in denen dieser Individualismus steht. In ihm kommt nämlich das zum vorläufigen Abschluß, was in der aufklärerischen Individualitäts- und Subjektsemantik von vornherein angelegt war, und was in einer bestimmten Hinsicht als so etwas wie eine »Entsozialisierung der Selbstbeschreibung« erscheint. 6 Menschen als Individuen zu bezeichnen bedeutet ja gerade, sie unabhängig von ihrem sozialen Ort referabel zu machen. »Individuen« bzw. »Subjekte« sind Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Stand; wer jemanden als »Individuum« bzw. »Subjekt« bezeichnet, bezieht sich deshalb auf den betreffenden einzelnen Menschen, ohne sein soziales Umfeld mitzubeschreiben. Die aufklärerische Individualitäts- und Subjektsemantik, so könnte man sagen, hat die einzelnen Menschen begrifflich aus den Banden der ständischen Gesellschaft gelöst, aus einer Gesellschaft, in der es gerade die soziale Zugehörigkeit war, über die der einzelne Mensch für sich selbst und andere definiert war. Diese Leistung ist die emanzipatorische Seite der Individualitätssemantik, die das ökonomische Modell direkt aufnimmt, wenn es bei der individuellen Eigenständigkeit des »Wahlentscheides« ansetzt, also die Menschen als Subjekte ihrer eigenen Entscheidungen nach Maßgabe ihrer eigenen Präferenzen und Überzeugungen behandelt. Klar ist, daß diese emanzipatorische Dimension der Individualitätssemantik sowohl eine normative wie eine ontologische Dimension hat. Wenn einzelne Menschen gesellschaftsunabhängig referabel gemacht werden, geht mit der These, daß einzelne Menschen in einer Hinsicht auch unabhängig von ihrem sozialen Ort existieren, selbstverständlich die These einher, daß ihnen als »bloßen Individuen«, d. h. unabhängig von ihrem Stand, auch Wert und Würde zukommt. Insofern ist die Unterscheidung zwischen ontologischem und normativem Individualismus genetisch sozusagen eine nachträgliche Unterscheidung. Vgl. dazu Luhmann, Niklas: Instead of a Preface. In: ders.: Social Systems. Translated by John Bednarz Jr. with Dirk Baecker, Stanford 1995b, S. xxxvii-xliv, hier S. xli; ders.: Wie ist soziale Ordnung möglich? In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 2, Frankfurt a. M. 1993a, S. 195–285, hier S. 195 f.
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Freilich ist diese emanzipatorische Dimension der aufklärerischen Individualitätssemantik nur die eine Seite der begrifflichen Medaille. Historisch kam »Individualität« nämlich durchaus nicht als Atomismus der Vereinzeltheit daher (wie man ihn dem ökonomischen Verhaltensmodell diagnostizieren kann), sondern zusammen mit (und im Lichte von) einer Perspektive auf eine »Gesellschaft der Individuen«. Mit der Semantik der Individualität und Subjektivität ging es nicht primär darum, Sozialität sozusagen aus der Beschreibung der Menschen auszutreiben und einem gesellschaftsunabhängigen »Eigensein« des Individuums gerecht zu werden, sondern vielmehr um einen neuen Typus sozialer Ordnung, ein neues Verständnis der menschlichen Sozialität. Indem die Individualitätssemantik den Menschen als Einzelnen erschloß und damit begrifflich aus den ständischen Kollektiven löste, eröffnete sie nämlich faktisch (und ihrem Anspruch nach) zugleich eine Perspektive auf ein neuartiges gesellschaftliches Ganzes. Dieses liegt schon im Begriff des Individuums (beziehungsweise des Subjekts) angelegt. »Individuum«, »Ich« sind nämlich schlechthin alle. »Individualität« bedeutet insofern nicht bloß eine semantische Emanzipation vom Sozialen. »Individualität« hat, ganz im Gegenteil, neben der emanzipatorischen auch eine integrative Seite: mit der semantischen Vereinzelung des Menschen geht seine semantische Integration in eine Form von Sozialität einher, die alle umfaßt, die also nicht partikularistisch, sondern universalistisch ist. Individualität verklammert begrifflich Einzelheit und Allgemeinheit; 7 dem Begriff ist – wie unausgegoren auch immer – die Vision einer Gesellschaft inhärent, in der jede und jeder partizipieren kann: eine allinklusive Gesellschaft. 8 Das individuelle »Ich«, das individuelle Subjekt, hat, wie Helmuth Plessner sagt, nicht nur eine vereinzelnde (bzw. emanzipatorische) »Rückzugsdimension«, 9 sondern auch eine integrative Seite: eine umfassende »Wir-Form«. 10 In der Individualitätssemantik gehören begriffVgl. Henrich, Dieter: Fichtes ursprüngliche Einsicht. In: ders./Wagner, H. (Hrsg.): Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer. Frankfurt a. M. 1966, S. 188–232. 8 Vgl. dazu Luhmann, Niklas: Die Weltgesellschaft. In: ders.: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Soziologische Aufklärung Bd. 2, Opladen 1975, S. 51–71. 9 Plessner, Helmuth: Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaften. In: ders.: Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 1976, S. 124–137, hier S. 130. 10 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Eine Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin 1975, S. 303. 7
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liche Emanzipation der einzelnen Menschen und ihre begriffliche Reintegration in ein allgemeines Ganzes untrennbar zusammen. Emanzipation von Sozialität und soziale Integration, Einzelheit und Allgemeinheit zusammenzudenken ist freilich ein sehr ambitioniertes semantisches Projekt; was es hier unter dem Begriff des Subjekts bzw. des Individuums zusammenzubringen galt, sind ja in bestimmter Hinsicht direkte Gegensätze. Die Theorie der Individualität und Subjektivität der Menschen bedurfte daher einer starken begrifflichen Klammer, welche den Zusammenhalt der beiden Momente »Einzelheit« und »Allgemeinheit« (bzw. Emanzipation und Integration) garantierte. Als das diesen Zusammenhang stiftende Moment – sozusagen als das den Einzelnen qua Allgemeines Gemeinsame – erscheint in der aufklärerischen Perspektive die Vernunft. Mit der Individualitätssemantik tritt »Vernunft« als soziales Ordnungsprinzip an die Stelle von »Herrschaft«. Die Idee ist die folgende. Die begriffliche Emanzipation der Einzelnen setzt sie frei für ein vernunftbestimmtes Selbst- und Fremdverständnis. Kein äußerer Zwang (etwa durch die ständischen Konventionen bzw. Sitten), sondern die eigene Einsicht leitet diesem Verständnis nach Individuen in ihrem Tun an. Insofern übernehmen die begrifflich emanzipierten Einzelnen das Ruder. Das bedeutet aber nicht, daß nun die Gesellschaft auseinanderfällt. Denn weil (und insoweit) diese eigene Einsicht eben vernünftig ist, und Vernunft ihrerseits das den vielen Einzelnen Gemeinsame darstellt, konvergieren alle Individuen unweigerlich in ihrer je ureigenen Einsicht. Nicht obwohl, sondern weil jede und jeder Einzelne tut, was sie oder er für richtig hält, entsteht aus den vielen Einzelnen das umfassende Allgemeine: die »Gesellschaft der Individuen«. Der aufklärerische Vernunftbegriff verklammert, ja identifiziert so den individuellen »Eigensinn« mit dem allumspannenden Gemeinsinn. 11 So verstanden widerspricht der Individualismus der begrifflichen Emanzipation nicht dem Universalismus gesellschaftlicher Integration, sondern beides, Einzelheit wie Allgemeinheit, gehört zusammen.
Vgl. etwa Condorcet, Marie Jean Nicolas Antoine de Caritat: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes [1794]. Frankfurt a. M. 1976, S. 211: »Ist nicht das falsch verstandene Interesse die häufigste Ursache von Handlungen, die dem allgemeinen Wohl entgegenstehen? Rührt nicht die Gewalt der Leidenschaften oft von Gewohnheiten her, denen man sich nur aus falscher Berechnung (…) überläßt (…)?«
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§ 13 Individualität zwischen Emanzipation und Integration Vieles in der Geschichte der Sozialtheorie seit der Aufklärung läßt sich darauf beziehen, daß es so nicht geht. Die aufklärerische begriffliche Verklammerung von Emanzipation und Integration, von Einzelheit und Allgemeinheit blieb bekanntlich ein uneingelöstes Versprechen. Die Schwachstelle in der Konstruktion des »Individuums« ist die Vernunft. Sie ist mit ihrer Klammerfunktion schlichtweg überfordert. Statt aus vernünftiger Einsicht im Allgemeinen zu konvergieren und damit das Versprechen der Individualitätssemantik wahr zu machen, haben die individuellen Einzelnen bekanntlich das Eigene als Maßstab des Handelns entdeckt: das Eigeninteresse, die individuellen Präferenzen. Und diese konvergieren keineswegs in einem umfassenden Gemeinsinn. Statt Konsens und Integration resultiert aus der semantischen Ausstattung der Menschen mit Individualität deshalb faktisch Divergenz. Das aufklärerische Doppelprojekt »semantische Emanzipation und Reintegration« bleibt mithin auf halbem Weg stecken. Die freigesetzten Einzelnen wollen nicht »zur Vernunft kommen«, sich nicht zum umfassenden Allgemeinen finden. Im Nachhinein mag es wenig überraschen: Eigensinn und Gemeinsinn sind zwei paar Schuhe. Die Gegenaufklärung hat denn auch schon früh mit Häme verfolgt, was passiert, wenn man sich, beflügelt von der aufklärerischen Individualitätssemantik, an dem orientiert, »was der eigen Witz erdenket«. Keine Konvergenz und allgemeine Harmonie der Vernünftigen nämlich, sondern: »Der eine wählet dies, der andre das, die törichte Vernunft ist ihr Kompaß.« 12 Das verlangt zumindest begriffliche Anpassungen. Entscheidend ist hier das Umschalten von »Vernunft« auf »Rationalität« in der Sozialtheorie. In normativer Hinsicht bedeutet dies, sich affirmativ zu dieser »Torheit der Vernunft« zu stellen, und gewissermaßen gegen das Allgemeine die Partei des Einzelnen zu ergreifen. Schließlich haben die starken universalistischen Implikationen der aufklärerischen Vernunftsemantik durchaus auch den Charakter einer anti-individualistischen Konsenszumutung. 13 Die Einzelheit des Individuums ist mehr als das bloße »Teil-eines-AllgemeinenAus dem Libretto von Johann Sebastian Bachs Kantate »Ach Gott, vom Himmel sieh darein« (BWV 2), welches hier über den zugrundeliegenden Luther-Text hinausgeht. 13 Vgl. zu dieser Einschätzung etwa Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984a, S. 21. 12
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Sein«. Individuen sind nicht Exemplare universaler Vernunft. Individualität bedeutet Besonderheit. Das Umschalten von »Vernunft« auf »Rationalität«, wie es sich in der Entwicklung des »ökonomischen Verhaltensmodells« verfolgen läßt, erscheint aus dieser Perspektive als weiterer emanzipatorischer Schritt, als Entlastung der individuellen Eigenheit von der aufklärerischen Allgemeinheitszumutung. Der Abschied von der vernunfttheoretischen Absicherung der aufklärerischen Individualitätssemantik (zugunsten einer Radikalisierung der emanzipatorischen Seite) fällt dabei umso leichter, als sich im Zuge dieses Vorgangs ein neuer Begriff sozialer Ordnung anbietet. Der Begriff sozialer Ordnung verlagert sich jetzt nämlich von der Konvergenz individueller Orientierung über den Bereich des individuell Intendierten hinaus und etabliert sich sozusagen »im Rücken« der Individuen: Ordnung emergiert ganz ohne Konvergenz der individuellen Intentionen durch das Wirken der »unsichtbaren Hand« gleichsam als unintendierte Nebenfolge beim individuellen Optimieren der eigenen Präferenzen. Das Gemeinwohl muß, so die sich jetzt artikulierende Ansicht, nicht angestrebt werden, um sich zu realisieren. Man kann deshalb von den Allgemeinheitszumutungen der aufklärerischen Individualitätssemantik beruhigt Abschied nehmen, weil man weiß, daß man sich damit keineswegs die Perspektive auf gesellschaftliche Integration verbaut. Nur denkt man das Soziale nicht mehr als Konvergenz der individuellen Perspektiven, sondern als, um es mit Friedrich August von Hayek zu sagen, »spontane Ordnung«, welche gleichsam »hinter dem Rücken« der einzelnen Handelnden entsteht. In groben Zügen ergibt sich damit bezüglich der historischen Hintergründe des ökonomischen Verhaltensmodells das folgende Bild. In seinem Individualismus beerbt und radikalisiert das ökonomische Verhaltensmodell die emanzipatorische Dimension der aufklärerischen Individualitätssemantik. Das Umschalten von »Vernunft« auf »Rationalität« zeigt aber gleichzeitig, daß dabei auf die integrative Seite der Individualitätssemantik keineswegs ganz verzichtet wird. Bei aller Verschärfung der begrifflichen Emanzipation geht es im ökonomischen Verhaltensmodell schließlich nicht bloß um Individualpsychologie (obschon mithin auch um das), sondern vor allem um Sozialwissenschaft, also darum, das Gesellschaftliche zu denken. Der Integrationsaspekt der Individualitätssemantik wird nicht ersatzlos fallengelassen, sondern neu konzipiert, nämlich auf der Grundlage der Rationalität der einzelnen Menschen, nicht ihrer A
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Vernunft. Das ursprüngliche aufklärerische Versprechen der Individualitätssemantik, nämlich die begriffliche Emanzipation der Einzelnen mit einer Form der sozialen Integration zusammenzubringen, wird dem eigenen Anspruch nach eingelöst in der These, daß dem individuellen Eigensinn kein Gemeinsinn zugemutet werden muß, sondern daß soziale Ordnung hinter dem Rücken des individuellen Eigensinns emergiert. 14 Das Gemeinwohl wird gleichsam »wider Willen« realisiert. Die Einzelnen brauchen dabei nicht vernünftig zu sein; es reicht völlig aus, wenn sie rational sind. Um Adam Smiths Bild zu bemühen: Die Versorgung der Allgemeinheit mit Brot ist auch ohne Gemeinsinn des Bäckers sichergestellt. Daß der Bäcker sein Budget optimieren will, reicht als Triebfeder völlig aus. Das aufklärerische Projekt einer Neukonzeption sozialer Integration über begriffliche Emanzipation der Einzelnen wird vom ökonomischen Verhaltensmodell somit nicht aufgegeben, sondern bloß »vernunftfrei« reformuliert. Trotz des durchschlagenden Erfolgs des auf dem Rationalitätsprinzip basierenden ökonomischen Verhaltensmodells hat aber auch dieser Versuch der Einlösung des Versprechens der Individualitätssemantik mit einigen Problemen zu kämpfen. Dies hat sich in den entsprechenden Debatten deutlich gezeigt. In gewisser Hinsicht, so könnte man sagen, wiederholt sich nämlich das Konstruktionsproblem des aufklärerischen Vernunftbegriffes auf der Ebene der Rationalitätstheorie. Zwar wird den Einzelnen unter dem Titel der Rationalität etwas weniger an Allgemeinheit zugemutet als unter dem Titel der Vernunft. Die Annahme, daß allseitiges Optimieren der Eigeninteressen das Gemeinwohl fördere, ist aber ebenso naiv und begrifflich überspannt wie die aufklärerische Version derselben Geschichte, die Mär von der Konvergenz von Einzelheit und Allgemeinheit in der Vernunft. Es ist nämlich, wie nicht lange verborgen bleiben konnte, keineswegs zwangsläufig so, daß das allseitige individuelle Optimieren des Erwartungsnutzens zu einem für alle optimalen Resultat führt. Unter bestimmten Bedingungen erweist sich die rationalitätstheoretisch formulierte Harmonie zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl als ebenso brüchig wie zuvor schon die vernunfttheoretische Klammer um Einzelheit und AllgemeinPrägnant mit Mandeville gesagt: als Förderer von Wach- und Schließgesellschaften nutzt auch der »größte Schuft« noch dem Gemeinwohl (cf. Mandeville, Bernard: Die Bienenfabel, oder: Private Laster, öffentliche Vorteile [1705–1732]. Frankfurt a. M. 1980).
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heit. Wie falsch die These ist, zeigt sich daran, daß am Ende die »rationalen« Individuen paradoxerweise gerade deshalb ihre wohlverstandenen individuellen Interessen nicht optimieren, weil sie ihr Handeln bloß an der Optimierung ihrer individuellen Interessen orientieren. Etwas technischer ausgedrückt: Manchmal führt das allseitige vorbehaltslose Verfolgen der individuellen Eigeninteressen zu einem Pareto-inferioren Resultat. Es gibt dann mindestens einen alternativen Ausgang der Entscheidungssituation, der mindestens einen Teilnehmer hinsichtlich seines Nutzens besser stellen würde, ohne daß dadurch irgendein anderer Teilnehmer schlechter gestellt würde als im Falle des faktisch erzielten Resultats. Ja es gibt sogar Handlungskonstellationen, in denen Rationalität im Sinne des allseitigen individuellen Optimierens des Erwartungsnutzens (gegeben die Erwartung einer rationalen Entscheidung der anderen Beteiligten) zu einem Resultat führt, welches allen Beteiligten einen geringeren Nutzen bringt als mindestens ein alternatives mögliches Resultat. Was im ersten Moment paradox klingen mag – daß Rationalität gewissermaßen irrational ist, d. h. das Maximieren des individuellen Nutzens (im Sinne der Wahl einer dominanten Strategie) in gewissen Situationen nicht den individuellen Nutzen maximiert –, hat in der Diskussion des »ökonomischen Verhaltensmodells« und zumal in seiner philosophischen Kritik unter dem Titel des »Gefangenendilemmas« breite Beachtung gefunden. Solche Situationen werden in der Regel anhand der Entscheidung zwischen zwei Alternativen – »Kooperation« und »Nichtkooperation« genannt – illustriert. Gefangenendilemmaartige Situationen sind solche, in denen individuell jener Ausgang der anstehenden Entscheidungssituation den höchsten Nutzen bringt, in dem die anderen Beteiligten kooperieren, man selbst hingegen nicht kooperiert. Individuell den zweitgrößten Nutzen bringt allseitiges Kooperieren. Das nächstbeste Resultat ist beiderseitiges Nichtkooperieren, und das individuell am schlechtesten bewertete Resultat ist eigenes Kooperieren bei Nichtkooperieren der Anderen (»the sucker’s payoff«). Die anderen Teilnehmer ordnen die möglichen Ausgänge der anstehenden Entscheidungssituation nach derselben Präferenzordnung (auch für sie bringt Kooperation der anderen bei eigenem Nichtkooperieren den höchsten Nutzen etc.) – und alle Teilnehmer kennen die Bewertungen aller Teilnehmer; die »payoff-matrix«, die die möglichen Ausgänge mit der jeweiligen individuellen Bewertung auflistet (im Standardfall in Form einer KreuzA
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tabelle), ist common knowledge. 15 In solchen Situationen ist Nichtkooperieren, spieltheoretisch ausgedrückt, die stark dominante Strategie, d. h. Nichtkooperieren ist (im Sinne von rational choice) »rational«, denn ganz unabhängig davon, ob man nun seitens der relevanten Interaktionspartner eine Entscheidung für Kooperation oder für Nichtkooperation erwartet stellt Nichtkooperation die oder den Betreffenden besser als Kooperation. Sind beide Teilnehmenden rational (was sie nach dem ökonomischen Verhaltensmodell ja per definitionem sind), resultiert deswegen zwangsläufig und erwartbarerweise beiderseitiges Nichtkooperieren. Dies ist aber in bestimmter Hinsicht ein durchaus »irrationales« Resultat (im Sinne eines vortheoretischen Rationalitätsbegriffs): nämlich insofern als beiderseitiges Kooperieren beide Teilnehmenden ja besser stellen würde als beiderseitiges Nichtkooperieren. Der Name »Gefangenendilemma« rührt von folgender Illustration der in Frage stehenden Entscheidungssituation her: Zwei von der Polizei separat vernommene und im Hauptanklagepunkt ohne Geständnis der gemeinsamen Tat nicht überführbare Verbrecher, A und B, werden von der Staatsanwaltschaft je individuell vor die folgende Alternative gestellt: schweigen beide, können beide nur wegen ganz geringfügiger Vergehen bestraft werden. Gesteht der eine, während der andere schweigt, kommt derjenige, der gesteht, als »Kronzeuge« straffrei davon, der andere hingegen hat dann seiner Renitenz wegen eine ganz besonders drakonische Strafe zu gewärtigen. Gestehen beide, werden beide mit dem regulären Strafmaß bedacht, welches größer ist als die Strafe für das geringfügige Vergehen, aber kleiner als die drakonische Strafe bei einseitigem Leugnen. Die payoff-Matrix dieser Entscheidungssituation sieht also beiDie »Urversion« des Gefangenendilemmas (ein Faksimile des Memos, welches der Autor im Mai 1950 für die RAND-Corporation verfaßt hat) findet sich in Tucker, Albert W.: On Jargon: The Prisoner’s Dilemma, A Two Person Dilemma. In: UAMP Journal 1980/1, S. 101. Vgl. auch Flood, Merrill M.: Some Experimental Games. In: Management Science 5 (1958), S. 5–26. Howard Raiffa hat das Gefangenendilemma offenbar gleichzeitig und unabhängig von den Mitarbeitern der RAND-Corporation entdeckt: vgl. dazu Raiffa, Howard: Game Theory at the University of Michigan 1948– 1952. In: Weintraub, E. Roy (Hrsg.): Toward a History of Game Theory. Durham 1992, S. 165–175. Für eine frühe Diskussion des Gefangenendilemmas vgl. auch Luce, R. Duncan/Raiffa, Howard: Games and Decisions. Introduction and Critical Survey. New York 1957, S. 95 ff. Ein erster kurzer Rückblick auf die bisherige Debatte rund um das Gefangenendilemma findet sich in Runciman, W. Gary/Sen, Amartya K.: Games, Justice, and the General Will. In: Mind 74 (1965), S. 554–562. 15
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spielsweise folgendermaßen aus (die Zeilen stehen für die beiden Entscheidungsalternativen von A, die Spalten für jene von B; die Ziffern in den einzelnen Zellen quantifizieren den Nutzen, den A (vor dem Schrägstrich) und B (rechts) aus den vier möglichen Resultaten dieser Entscheidungssituation ziehen (im gegebenen Beispiel ein Schaden, z. B. im Gefängnis zu verbringende Lebensjahre). »Kooperieren« steht für »schweigen«, »nicht kooperieren« steht für »gestehen«: kooperieren
nicht kooperieren
kooperieren
–2/–2
–10/0
nicht kooperieren
0/–10
–8/–8
Weshalb ist dieses Gefangenendilemma so wichtig? Weshalb hat es in der Theorie-Diskussion rund um das ökonomische Verhaltensmodell so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen? Empirisch treten solche Entscheidungssituationen (Entscheidungssituationen, in denen Nichtkooperation die dominante Strategie ist, welche aber zu einem Pareto-inferioren Resultat führt) im Bereich der öffentlichen Güter auf. 16 »Öffentlich« sind Güter, soweit jene nicht von ihrer Konsumption ausgeschlossen werden können, welche nicht zu ihrer Produktion beitragen. 17 Wichtig ist das Gefangenendilemma aber auch in rein theoretischer Hinsicht. An ihm zeigt sich, wie gesehen: individuelle Handlungen können bei entsprechender Anreizstruktur so zusammenhängen, daß »rationales Handeln« im Sinne der Wahl einer strikt dominanten Strategie zu einem Resultat führt, welches den individuellen Nutzen nicht optimiert: Hinsichtlich der aufklärerischen Erbschaft des ökonomischen Verhaltensmodells stellt diese Tatsache eine ganz entscheidende Herausforderung dar, die die zentrale Stellung rechtfertigt, welche sie in der Diskussion innerhalb der ökonomischen Theorie bzw. der Entscheidungstheorie erhält. Denn an solchen Situationen scheint sich mithin zu zeigen, daß das ökonomische Verhaltensmodell am gleichen Problem krankt wie die aufSiehe zum Begriff der öffentlichen Güter und der mit diesem Begriff angezeigten Problemkonstellation Olson, Mancur: The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups. Cambridge 1965. 17 Am Beispiel verdeutlicht: auch Gewaltverbrecher profitieren von der öffentlichen Sicherheit; man kann auch sport utility vehicle-Fahrer nicht vom Genuß der reinen Luft ausschließen. 16
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klärerische Vernunfttheorie. Es kann das Versprechen der Individualitätssemantik nicht wirklich einlösen. Entgegen seinem Anspruch vermag es die Besonderheit bzw. Einzelheit von Individuen, den individuellen Eigensinn, nicht mit der Möglichkeit sozialer Ordnung qua Realisierung von so etwas wie Gemeinwohl und Gemeinsinn zusammenzudenken. Wenn die Einzelnen konsequent »rational« handeln, resultiert keineswegs eine optimale Allokation der Ressourcen, eine »spontane Ordnung«: vielmehr werden die geringsten Ansätze zur Realisierung des Gemeinwohls sofort von grassierendem Trittbrettfahrertum unterspült. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als am Problem der öffentlichen Güter: die Verklammerung von Einzelheit und Allgemeinheit, von Eigeninteresse und Gemeinwohl über die »unsichtbare Hand« ist ein kaum weniger prekäres, begrifflich überdehntes Konstrukt als der alte aufklärerische Versuch mit der Vernunftsemantik. Diesem Vorwurf kann zunächst einiges entgegengehalten werden; zunächst, daß das ökonomische Verhaltensmodell mit seinen rationalitätstheoretischen Grundlagen ja nur beschreibt, was als »Trittbrettfahrertum« in der sozialen Wirklichkeit ja auch tatsächlich vorkommt. Daß in manchen Entscheidungssituationen Pareto-inferiore Resultate erzielt werden, ist ja zunächst kein theoretisches Problem, sondern einfach eine empirische Tatsache; und das ökonomische Verhaltensmodell will ja keine ideale Harmonie zwischen Individualität und Allgemeinheit entwerfen, sondern bloß die soziale Wirklichkeit beschreiben. Dem kann allerdings entgegengehalten werden, daß sich empirische Individuen in der Regel kooperativer zeigen, als es das ökonomische Verhaltensmodell mit der theorieeigenen Rationalitätsnorm ihnen nahelegt. Auf diesen Einwand kann seitens des ökonomischen Verhaltensmodells entgegnet werden, daß über die Theorie der »Evolution der Kooperation« innerhalb des ökonomischen Ansatzes gezeigt werden kann, daß nicht immer NichtKooperation die im Sinne der individuellen Nutzenoptimierung rationale Strategie ist. 18 Auch in gefangenendilemmaartigen Situationen kann Kooperation »rational« im Sinne des individuellen Erwartungsnutzenoptimierens sein – nämlich dann, wenn damit zu rechnen ist, daß man mit denselben Interaktionspartnern ähnliche oder identische Entscheidungssituationen auch in der Zukunft zu be18 Vgl. dazu Axelrod, Robert: The Evolution of Cooperation. New York 1984. Die Grundgedanken finden sich schon in Luce/Raiffa 1957, S. 97–102.
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wältigen haben wird. Kooperation kann nun doch wieder rational genannt werden. Dies allerdings nur eingeschränkt, nämlich nur unter der Bedingung, daß nicht bekannt ist, wann die entsprechende wiederholte Entscheidungssituation das letzte Mal gemeinsam bewältigt werden muß. Wenn dies nämlich von vornherein bekannt wäre, würde (im Falle von zwei Interaktionspartner) per backwards induction schon das erste Mal Nichtkooperation die rationale Entscheidung sein. Dieses backwards induction-Problem illustriert besonders prominent das sogenannte »centipede game«. 19 Gegeben sind zwei Spieler und ein Stapel mit hundert Münzen. Die Spielregeln sind die folgenden. Spieler A hat zwei Möglichkeiten: er kann entweder zwei oder drei Münzen ziehen. Zieht er drei Münzen, ist das Spiel schon zu Ende, und die übrigen Münzen bleiben auf der Bank. Zieht er hingegen zwei Münzen, ist B dran, der seinerseits die Möglichkeit hat, das Spiel durch das Ziehen von drei Münzen abzubrechen, oder aber durch das Ziehen von zwei Münzen wiederum A zum Zug kommen zu lassen. Möglich wäre unter diesen Rahmenbedingungen eine Aufteilung des Stapels unter A und B zu gleichen Teilen, also 50/50 – eine Lösung, die man nicht leichthin als »irrational« qualifizieren sollte. Aber genau das ist sie im Sinne des ökonomischen Verhaltensmodells, und zwar aufgrund der backwards induction. Als homo oeconomicus wäre A nämlich schlechthin irrational, würde er beim vorletzten Spielgang, also beim Stand 48/48, nicht drei Münzen statt zweien ziehen (einfach weil ihn der Endstand 51/48 gegenüber dem sonst resultierenden Endstand 50/50 besser stellt). Da sich B dies nun aber denken kann (die »Rationalität« der Beteiligten ist common knowledge), ist es für ihn im Sinne des individuellen Eigeninteresses natürlich rational, A zuvorzukommen und beim Stand 48/46 drei statt zwei zu ziehen (weil ihn der dann realisierte Endstand 48/49 gegenüber dem sonst zu erwartenden Endstand 51/48 besser stellt). Für A hinwiederum bedeutet diese Tatsache, daß er dem »rationalerweise« seinerseits zuvorkommen wird, indem er schon beim Stand
Eine Diskussion des centipede game findet sich u. a. in: Pettit, Philip/Sugden, Robert: The backward induction paradox. In: Journal of Philosophy 86 (1989), S. 169–182; Hollis, Martin: Penny pinching and backward induction. In: Journal of Philosophy 88 (1991), S. 473–488; Hollis, Martin/Sugden, Robert: Rationality in Action. In: Mind 102 (1993), S. 1–35, S. 20 ff.; Hollis, Martin: Trust Within Reason. Cambridge 1998, S. 54–60.
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46/46 drei statt zwei zieht (der dann resultierende Entstand 49/46 stellt ihn gegenüber dem sonst zu erwartenden Endstand 48/49 besser). Dies hat wiederum Konsequenzen für B etc. etc. pp., bis sich zuletzt zeigt: »rationalerweise« wird A schon beim allerersten Zug drei statt zwei ziehen (weil ihn das Ergebnis 3/0 gegenüber dem sonst zu erwartenden Ergebnis 2/3 besser stellt). Trotz »Evolution of Cooperation« und trotz der empirischen Realität von Trittbrettfahrerverhalten: An diesem Beispiel zeigt sich gleichsam die theoretische Schattenseite des Umschaltens von »Vernunft« auf »Rationalität«. Es mag vielleicht einen vortheoretischen Sinn des Wortes »rational« geben, welcher Nichtkooperation in einem einfachen Spieldurchgang von der Art des Gefangenendilemmas abdeckt (nicht zuletzt sickert das ökonomische Verhaltensmodell ja über die verschiedensten Kanäle auch in unser Alltagsverständnis ein). Aber hier, im centipede-game, wird man nicht umhinkönnen das Wort »rational« als Bezeichnung für die nichtkooperative Strategie in Anführungszeichen zu schreiben. Wer in solchen Situationen »rational« im Sinne des ökonomischen Verhaltensmodells handelt, ist offensichtlich alles andere als rational in einem vortheoretischen Sinne. Er ist, um hier Amartya Sens Ausdruck zu bemühen, ein hoffnungsloser »Rational Fool«. 20 Und nicht nur in normativ-begrifflicher Hinsicht erscheint die These von der Rationalität von Nichtkooperation problematisch. Die jüngere experimentelle Ökonomie hat immer wieder gezeigt, daß selbst in einmaligen gefangenendilemma-artigen Entscheidungssituationen, die näherhin durch vollständige Anonymität und durch hohe finanzielle Anreize gekennzeichnet sind, typischerweise in ca. 40 Prozent der Spieldurchgänge beiderseitige Kooperation resultiert. 21 Auch dies schlägt der »orthodoxen« These ins Gesicht, daß Nichtkooperation als die »rationale« Strategie das Gefangenendilemma in normativer und deskriptiver Hinsicht »löst«, wie dies Howard Raiffa als einer der Entdecker und ersten Experimentatoren mit dem Gefangenendilemma behauptet hat. 22 Die Debatte rund um das Gefangenendilemma zeigt: der homo Sen, Amartya K.: Rational Fools. In: Philosophy and Public Affairs 6 (1977), S. 317– 344. 21 Vgl. dazu Kagel, John K./Roth, Alvin E. (Hrsg.): The Handbook of Experimental Economics. Princeton 1995, S. 26 ff. 22 Vgl. Raiffa 1992, S. 172. 20
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Hans Bernhard Schmid
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Auf der Suche nach einem vernünftigeren Rationalitätsbegriff
oeconomicus, das von den vernunfttheoretischen Allgemeinheitsund Gemeinsinnzumutungen gründlich emanzipierte und unter dem Titel der »Rationalität« zwar mit einigen formalen kognitiven Kompetenzen ausgestattete, ansonsten aber ganz für seinen individuellen Eigensinn freigesetzte Individuum hat ein massives theoretisches Integrationsproblem. Das Versprechen der Individualitätssemantik, Emanzipation mit Integration zusammenzubringen, ist, so scheint es, durch den Ansatz bei der Rationalität im Sinne des individuellen Präferenzoptimierens ebenso wenig einzulösen wie durch die aufklärerische Vernunftsemantik. Spontaneität und unsichtbare Hand garantieren nicht die Transformation von individuellem Eigensinn in Gemeinwohl. Die unsichtbare Hand ist mit der Verklammerung von Einzelheit und Allgemeinheit nicht weniger überfordert als die aufklärerische Vernunft.
§ 14 Auf der Suche nach einem vernünftigeren Rationalitätsbegriff Dabei scheint das Problem in einer rationalitätstheoretischen Verkürzung zu liegen. Etwas in uns sperrt sich dagegen, Kooperation in gefangenendilemmaartigen Entscheidungssituationen (wie sie ja auch empirisch bei aller Neigung zum Trittbrettfahrertum durchaus vorkommt) schlechthin »irrational« zu nennen, wie man dies im Ausgang vom »ökonomischen Verhaltensmodell« eigentlich müßte. Und auch empirisch scheint es so zu sein: vermögen wirkliche Menschen das Anspruchsniveau der aufklärerischen Vernunftsemantik auch nicht zu halten, sind sie doch andererseits auch weit weniger »rationally foolish«, als es das ökonomische Verhaltensmodell theoretisch dekretiert. Was die Kooperativität anbelangt, bewegt man sich im Resultat irgendwo zwischen der eigeninteressierten Rationalität und der universalistischen Vernunft, irgendwo zwischen der kühlen und individualistischen, auf bloßes Präferenzoptimieren ausgerichteten rationality und der Allgemeinheitsversessenen reason. Dies hat in der einschlägigen Literatur immer wieder Anlaß zur Suche nach einer Erweiterung der handlungstheoretischen Grundlagen über das Modell individuellen Präferenzoptimierens hinaus gegeben. Bezeichnenderweise greift man dabei oft implizit oder explizit auf die Vernunftsemantik der Aufklärung zurück, indem jetzt im Begriff der Motivation von Handeln das Moment der Allgemeinheit gegenüber A
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demjenigen der individuellen Eigenheit wieder gestärkt wird. 23 Dabei geht es darum, dem engen Rationalitätsbegriff, wie er qua »Rationalitätsprinzip« dem ökonomischen Verhaltensmodell zugrunde liegt, einen erweiterten Rationalitätsbegriff entgegenzustellen; einen Rationalitätsbegriff, der es vermeidet, das Anstreben des Pareto-optimalen Spielausgangs in gefangenendilemmaartigen Situationen als schlechthin »irrational« zu disqualifizieren. Aus den vielen in diese Richtung gehenden Versuchen sei an dieser Stelle bloß ein Beispiel aus dem deutschen Sprachraum zitiert. Julian Nida-Rümelins Strukturanalyse von Kooperation bietet folgendes Bild: »Eine Person P kooperiert (mit anderen beteiligten Personen) durch ihre Entscheidung für eine Handlung h gdw. (i) h von P im Hinblick auf erwartete Handlungen beteiligter Personen vollzogen wird; (ii) die erwarteten Handlungen zusammen mit der eigenen Handlung eine Handlungsstruktur s ergeben, die P bezüglich der eigenen und der vermuteten Bewertungen der anderen Beteiligten als wünschenswert erscheint; (iii) P durch die Entscheidung für eine andere Handlung ihre eigene Bewertung optimieren könnte, d. h. h optimiert nicht die individuelle Bewertung von P – unabhängig davon, ob sich die Erwartungen von P bezüglich der Handlungen der anderen Beteiligten bewahrheiten oder nicht; (iv) P vermutet, daß (III) analog für die anderen Beteiligten gilt, d. h. die von P erwarteten (kooperativen) Handlungen der anderen optimieren die individuellen Bewertungen dieser Personen nicht; (v) P davon überzeugt ist, daß die Handlungsstruktur s’, die aus den Handlungen gebildet wird, die jeweils individuell die Bewertungen optimieren, für alle Beteiligten weniger wünschenswert ist als s.« 24
Individuen, die kooperieren, sind nach Nida-Rümelin nicht schlechthin irrational, sondern vielmehr strukturell rational. 25 Im Sinne der strukturellen Rationalität erscheint dann die »Rationalität sans phrase«, die ökonomische Standardrationalität, in bestimmten Situationen ihrerseits als irrational – wie es ja auch unserer vortheoretischen Eine Alternative dazu ist der Ansatz beim verhaltenstheoretischen Altruismus, wie er gegenwärtig sehr prominent im Kontext der Theorie der »strong reciprocity« vertreten wird. Vgl. zur Kritik dieses Ansatzes Schmid, Hans Bernhard: »Nostrism« – Social Identities in Experimental Games. Erscheint in: Analyse & Kritik 27 (2005c), Heft 1 (Symposium on Ernst Fehr: The Nature of Human Altruism). 24 Nida-Rümelin, Julian: Demokratie als Kooperation. Frankfurt a. M. 1999, S. 151. 25 Vgl. dazu ausführlicher Nida-Rümelin, Julian: Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft. Stuttgart 2001. 23
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Auf der Suche nach einem vernünftigeren Rationalitätsbegriff
Intuition entspricht, wenn wir die »ökonomische« Sicht des centipede game als rationalitätstheoretisches Skandalon empfinden. NidaRümelins »erweiterter« Rationalitätsbegriff, wie all die übrigen Versuche, an denen sich Nida-Rümelin orientiert, sind nämlich auf genau jene Situationen zugeschnitten, in denen das individuelle Optimieren von Erwartungsnutzen mit dem wohlverstandenen individuellen Eigeninteresse kollidiert, also den individuellen Erwartungsnutzen gerade nicht optimiert. Für mit »struktureller Rationalität« ausgestattete Agenten sind – im Unterschied zu den rein individuellen Erwartungsnutzenoptimierern – zumindest prima vista gefangenendilemmaartige Situationen kein Problem. Zwar optimieren auch sie, aber nicht direkt den individuellen Erwartungsnutzen, sondern vielmehr den Nutzen einer kooperativen Handlungsstruktur – und gerade (bzw. nur) deshalb dann letztlich doch die individuellen Eigeninteressen. Nicht bloß die eigenen Entscheidungsalternativen werden evaluiert, sondern – unter dem etwas unglücklichen Titel der »Struktur« – die möglichen Kombinationen des eigenen Handelns und des Handelns der anderen Beteiligten. Wer eine Handlungssituation unter dem Gesichtspunkt bzw. im Lichte der strukturellen Rationalität betrachtet, bezieht sein eigenes Handeln nicht »berechnend« auf das erwartete Verhalten des anderen, sondern bezieht beides gleichermaßen in den Entscheidungsprozeß mit ein. Nicht die Konsequenzen einer individuellen Strategienwahl, sondern die Konsequenzen der möglichen Kombinationen von Strategieentscheidungen werden optimiert. Im Lichte dieses sozusagen »vernünftigeren« Rationalitätsbegriffes kann nun rationaliter kooperiert werden. Das Skandalon des »ökonomischen« Rationalitätsbegriffes, Nichtkooperation in einfachen gefangenendilemmaartigen Entscheidungssituationen umstandslos als »rational« zu qualifizieren, ist beseitigt. Mit der Erweiterung um ein solches Moment – gleichviel, ob man es »strukturelle Rationalität« nennt oder nicht – scheint die Theorie der Handlungsrationalität das Versprechen der Individualitätssemantik nun endlich einzulösen. Theorien wie jene der strukturellen Rationalität – andere in diese Richtung gehende Beispiele wären etwa David Gauthiers Theorie der »constrained maximization« 26 bzw. vielleicht auch John Rawls’ Motiv der von bloßer rationality unterschiedenen reason 27 – reichern dabei das ökonomische Hand26 27
Vgl. Gauthier, David: Morals by Agreement. Oxford 1986. Rawls, John: Political Liberalism. New York 1996, S. 48 f. A
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lungsmodell gleichsam mit einer guten Prise aufklärerischer Vernunftsemantik an. Im Zentrum des referierten »strukturellen« Rationalitätsbegriffes steht ein quasi-Kantisches Motiv: die Idee, daß Menschen nicht nur individuell optimieren können, sondern auch im Lichte dessen handeln, was für alle Beteiligten das Beste ist (mit Kants Vernunfttheorie mag dieses Motiv denkbar wenig zu tun haben; aber es wird in der entsprechenden Debatte nun einmal mit ihm in Verbindung gebracht). 28 Nun stehen aber »Kantianer« in der einschlägigen Literatur im etwas zweifelhaften Ansehen, »unconditional cooperators« zu sein. 29 Zweifelhaft ist dieses Ansehen aus dem folgenden Grund: Kantianer, wie sie in der entsprechenden Debatte verstanden werden, optimieren nicht ihren Erwartungsnutzen, sondern das Resultat wenn nicht einer »gedachten allgemeinen Befolgung einer Maxime« (also die Handlungskonsequenzen, die resultieren würden, wenn alle entsprechend handeln würden), so doch das Resultat einer antizipierten allgemeinen Handlungsstruktur, zu der sich das eigene kooperative Handeln und das mögliche kooperative Handeln der anderen fügen. Was dabei für solche »Kantianer« irrelevant zu sein scheint (bzw. wofür »Kantianer« blind sind), ist, ob dieses mögliche kooperative Handeln der Anderen auch tatsächlich Wirklichkeit wird oder nicht – ob also die anderen dann auch wirklich mitmachen oder ob sie beispielsweise lieber mit der Kooperationswilligkeit der »Kantianer« trittbrettfahren. In der entsprechenden Debatte stehen »Kantianer« deshalb nicht ohne Grund als jene völlig blinden Gutmenschen da, die auch dann noch kollektiv (bzw. strukturell) optimieren, wenn andere schon längst auf ein strategisches Ausnutzen ihrer Kooperationsbereitschaft umgeschaltet haben und nur individuell optimieren. »Kantianer« optimieren deshalb, so ihr Ruf, permanent an der Wirklichkeit vorbei. Sie haben zwar durchaus Realfolgen im Blick, aber doch nur solche, die im hypothetischen Fall einer allgemeinen Befolgung einer Praxis bzw. im Fall der RealisieIntersubjektivisten mögen sich dabei daran stoßen, daß der Übergang vom individuellen Eigeninteresse zum Allgemeininteresse bei Nida-Rümelin nach einer ähnlich monologischen Angelegenheit klingt wie Kants Universalisierungsverfahren: es gehen ja gemäß der oben zitierten Strukturanalyse die relevanten »Bewertungen der Anderen« nur als »vermutete Bewertungen der Anderen« in das strukturell-rationale Handlungskalkül ein. Ob des »subjektphilosophischen« Vertrauens, daß der vernünftige Einzelne sozusagen für alle denken könne, scheint Nida-Rümelin das Element der Verständigung hier für überflüssig zu halten (vgl. aber Nida-Rümelin 2001, S. 100 ff.). 29 Elster, Jon: Rationality, Morality, and Collective Action. In: Ethics 96 (1985), S. 136– 155 28
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rung einer »Handlungsstruktur« eintreten würden – was aber aus Gründen der weniger vernünftigen Rationalität der anderen Beteiligten nicht geschehen wird. Das Problem ist: das Verallgemeinerungskalkül bzw. das Ausgehen von »Handlungsstrukturen« hat dann rein kontrafaktischen Charakter, denn es gilt kategorisch: was auch immer die anderen tun, tue deinen Beitrag zu derjenigen Handlungsstruktur, die zum für alle besten Resultat führen würde, wenn sie allgemein gewählt würde. Solch eine Form von »struktureller Rationalität« würde sich dadurch auszeichnen, daß sie, obwohl zunächst über zu erwartende Handlungsfolgen begründet, letztlich einen nicht-konsequentialistischen Zuschnitt hat. Optimiert wird nicht das tatsächliche Resultat einer Handlung oder eines Aggregats von Handlungen. Optimiert wird vielmehr ein mögliches Resultat, nämlich der Handlungseffekt einer allgemeinen Befolgung einer Norm bzw. eines allgemeinen Beitragens zu einer mehrere Akteure übergreifenden »Handlungsstruktur«. So etwas brächte den Versuch einer vernunfttheoretischen Aufrüstung des Begriffs der Handlungsrationalität in eine Schieflage. Einerseits scheint der nackte »ökonomische« Rationalitätsbegriff zur Rettung vor seiner eigenen »foolishness« tatsächlich einer Erweiterung bzw. eines Widerparts zu bedürfen: ihm fehlt etwas von dem, was in der Vernunftsemantik der Aufklärung noch enthalten war. Gleichzeitig kommt mit diesem Element der Orientierung an so etwas wie einer »Handlungsstruktur« bzw. »Allgemeinheit« aber ein Unbehagen ins Spiel. Der kühlen »ökonomischen« Handlungsrationalität gegenüber wirkt noch die moderateste Beigabe an »Vernunft« wie die Zumutung idealistischer Realitätsblindheit. Die Ambivalenz, in welche die Theorie der Handlungsrationalität dadurch gerät, läßt sich m. E. nirgends besser studieren als im Werk von Max Weber. Weber geht zwar nicht vom »ökonomischen« Rationalitätsbegriff im modernen Sinn des individuellen Präferenzoptimierens aus. Er hat aber unter dem Titel der »Zweckrationalität« eine direkte Vorstufe des gegenwärtigen »ökonomischen« Rationalitätsbegriffs im Auge. Zweckrationalität besteht in der Wahl der geeigneten Mittel zur Verwirklichung von gegebenen Zwecken, also in einem Moment, welches auch im modernen »ökonomischen« Rationalitätsbegriff steckt, auch wenn hier von beliebigen »Zwecken« auf »Präferenzen« – also Zwecken einer besondern Art – umgestellt wird. 30 Typisch für 30
»Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen A
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die theoretische und wirklichkeitswissenschaftliche Klarsicht Webers ist es aber, daß nach Weber nicht alle Handlungsrationalität von der Art der Zweckrationalität ist. Es gibt noch mindestens eine andere Form der Rationalität: Weber nennt sie die Wertrationalität. Wertrational handelt nach Weber, »wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer ›Sache‹ gleichviel welcher Art ihm zu gebieten scheinen.« 31 Damit kommt mit der »alternativen« Handlungsrationalität auch hier das »Kantische« Moment der Folgeblindheit ins Spiel. Ähnlich wie viel später Amartya Sen unter dem Titel der »committed action« den Handlungsbegriff mit nicht-konsequentialistischen Konnotationen gegen den impliziten handlungstheoretischen Konsequentialismus des ökonomischen Verhaltensmodells stark macht 32 , schlägt Weber hier eine handlungstheoretische Kategorie vor, nach welcher Handeln nicht nur im Sinne des Optimierens von Handlungskonsequenzen rational sein kann, sondern auch im Sinne der »Übereinstimmung« mit einem Gebot oder, so wird man sagen können, im Sinne des »Hineinpassens« des eigenen Handelns in eine kollektive Handlungsstruktur (unabhängig davon, ob diese Handlungsstruktur dann auch tatsächlich zustande kommt oder nicht). So berechtigt aber das Anliegen sein mag, über die rationalitätstheoretische Beschränktheit des ökonomischen Verhaltensmodells hinauszugehen, so heikel sind doch all diese Versuche. Bei Max Weorientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt« (Weber 5 1968 [1921], S. 13). Im Unterschied zum Verständnis von Handlungsrationalität als Präferenzoptimieren sagt der Begriff der Zweckrationalität nichts über die Art der Zwecke aus. Im ökonomischen Verhaltensmodell wird der Bereich möglicher Zwecke auf die »Realisierung von Wünschen« verengt (wobei diese Wünsche immer noch rein »egoistischer« oder auch »altruistischer Natur sein können. Entscheidend ist nur, daß sie eigene Wünsche des Akteurs sein müssen). 31 Weber 5 1968 [1921], S. 12 f. Weber fährt fort: »Stets ist (im Sinne unserer Terminologie) wertrationales Handeln ein Handeln nach ›Geboten‹ oder gemäß ›Forderungen‹, die der Handelnde an sich gestellt glaubt. Nur soweit menschliches Handeln sich an solchen Forderungen orientiert, – was stets nur in einem sehr verschieden großen, meist ziemlich bescheidenen, Bruchteil der Fall ist, – wollen wir von Wertrationalität reden.« 32 Vgl. Sen 1977 sowie Peter, Fabienne/Schmid, Hans Bernhard: Symposium on Rationality and Commitment: Introduction. In: Economics and Philosophy 21 (2005), S. 1–5; Peter, Fabienne/Schmid, Hans Bernhard (Hrsg.): Rationality and Commitment. Oxford, Oxford University Press (erscheint 2006).
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ber kommt auch dies exemplarisch zum Ausdruck. Weber »adelt« gewisse Formen nichtkonsequentialistischer Handlungsorientierung zwar mit dem Titel der (Wert-)Rationalität. Gleichzeitig unternimmt er aber fast alles, um diese Form der Rationalität von den theoretisch prominenteren Teilen seines eigenen Theoriegebäudes fernzuhalten. Mit der gleichsam nobilitierenden Einschätzung wertrationalen Handelns als eigenständiger Typus rationalen Handelns auf der Inhaltsebene von Webers Entwurf der »verstehenden Sozialwissenschaft« steht nämlich die Tatsache in denkbar hartem Kontrast, daß Weber die Zweckrationalität auf der methodologischen (a) und der metatheoretischen Ebene (b) gegenüber der Wertrationalität privilegiert und die Wertrationalität schließlich sogar ethisch disqualifiziert (c). Ursache dafür sind dabei, wie ich glaube, die schon angesprochenen Vorbehalte gegenüber der »Blindheit« einer Vernunft, die sich nicht direkt an den Konsequenzen individueller Handlungen orientiert. a) »Wertrationalität« wird von Weber in den »soziologischen Grundbegriffen« zwar als wichtige, selbständige wirklichkeitswissenschaftliche Kategorie eingeführt. Gleichzeitig wird aber überdeutlich, daß Webers »verstehende Sozialwissenschaft« mit der empirischen Tatsache zweckrationalen Handelns methodisch wesentlich mehr anfangen kann als mit den Fällen wertrationalen Handelns. Diese Asymmetrie – eine eigentliche rationalitätstheoretische Parteinahme! – spricht schon aus Webers methodischer Zentralkategorie, dem Begriff des »deutenden Verstehens«. »Rational verständlich«, so Weber, sind der verstehenden Sozialwissenschaft erstens logische Schlüsse und zweitens zweckrationales Handeln (im Sinne der Mittelwahl zu gegebenen Zwecken). 33 Die Rationalität der Wertrationalität ist vom Standpunkt der verstehenden Sozialwissenschaft aus gegenüber der Rationalität der Zweckrationalität sozusagen zweitrangig; als im eigentlichen Sinn (oder zumindest im »Höchstmaß«) rational verständlich gilt ihr nämlich nur zweckrationales Handeln. 34 Daß die Wertrationalität hier methodisch außen vor bleibt, äußert sich – deutlicher noch als in den rationalitätstheoretischen ImplikaVgl. dazu etwa Weber 1922, S. 504. So sagt Weber von gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen sozialen Handlungen: »Verständlich und eindeutig sind sie im Höchstmaß soweit, als rein zweckrationale Motive dem typisch beobachteten Ablauf zugrunde gelegt wurden« (Weber 1968 [1921], S. 9).
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tionen von Webers Verstehensbegriff – in der Theorie des »Idealtypus«, also des zentralen methodischen Instrumentariums der Weberschen verstehenden Sozialwissenschaft. Diese ist ja »typenbildende Sozialwissenschaft«; es werden »Idealtypen« eines Phänomens gebildet, welche in einem zweiten Schritt an die empirische Wirklichkeit herangetragen werden. Idealtypen entstehen dabei durch »einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandener Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde«. 35 Wenn dieses Gedankengebilde dazu dienen soll, den empirischen Forschungsprozeß zu strukturieren, so bedeutet dies zwar nicht, daß jene Züge der sozialen Wirklichkeit, die nicht in die begriffliche Konstruktion des Idealtypus eingegangen sind, gänzlich im Dunkeln bleiben müssen. Aber: sie werden im empirischen Forschungsprozeß eben nur als »Abweichungen vom Idealtypus« thematisch und bleiben dadurch gewissermaßen im Schatten jener Charakteristika, die im Idealtypus selbst gesteigert worden sind. Signifikanterweise ist nun aber der eine entscheidende »Gesichtspunkt«, durch dessen »Steigerung« der Idealtypus zustande kommt, jener der Zweckrationalität. Der Idealtypus »stellt dar, wie ein bestimmt geartetes, menschliches Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, und wenn es ferner ganz eindeutig nur an einem Zweck (…) orientiert wäre.« 36 Weil damit die Wertrationalität nicht in die Idealtypenbildung eingeht, privilegiert die verstehende Sozialwissenschaft Webers auf der methodologischen Ebene die Zweckrationalität gegenüber der Wertrationalität: sie nimmt sozusagen in der Bildung ihres Forschungsinstrumentariums schon den Standpunkt der Zweckrationalität ein und wird auf das Phänomen der Wertrationalität nur als »Kontrastphänomen« (als »Abweichung« vom Idealtypus) aufmerksam. Den Standpunkt der Zweckrationalität einzunehmen bedeutet damit, wie Weber mithin durchaus auch selbst sieht, den Sinn für die spezifische Form von Rationalität zu verlieren, welche die Wertrationalität ausmacht: »Vom Standpunkt der ZweckrationaWeber, Max: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher Erkenntnis [1904]. In: ders.: Soziologie, universalgeschichtliche Analysen, Politik. Hrsg. v. J. Winckelmann, Stuttgart 1973, S. 186–263, hier S. 235. 36 Weber 5 1968 [1921], S. 3 f. 35
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lität aus aber ist Wertrationalität immer (…) irrational.« 37 Webers Verstehensbegriff und die Lehre vom Idealtypus zeigt: die Webersche Sozialwissenschaft stellt sich selbst methodisch ganz auf diesen »Standpunkt der Zweckrationalität«. Damit erscheint die Wertrationalität aber höchstens noch als Rationalität in Anführungszeichen: eigentlich ist sie irrational. b) Diese Asymmetrie zwischen den auf der Inhaltsebene zunächst gleichgestellten Rationalitätstypen, diese Privilegierung der Zweckrationalität vor der Wertrationalität, wie sie sich auf der methodologischen Ebene abzeichnet, setzt sich auf der metatheoretischen bzw. wissenschaftstheoretischen Ebene fort – ja sie verschärft sich hier weiter. Dies zeigt sich am vielleicht berühmtesten Stück Weberscher Wissenschaftstheorie: an seiner These von der »Wertfreiheit der Wissenschaft«. Denn diese kann als direkte Konsequenz von Webers methodischem Ansatz bei der Zweckrationalität gesehen werden. Wenn nämlich »Rationalität« eigentlich Zweckrationalität ist – also eine Frage der Wahl von Mitteln zu vorgegebenen Zwecken –, Wissenschaft im Allgemeinen und »verstehende Sozialwissenschaft« im Besonderen aber selbst »rational« zu sein hat, dann muß sich der Anspruch der »verstehenden Sozialwissenschaft« darauf beschränken, »Mittelwissen« bereitzustellen und »technische Kritik« zu sein. Daß Wissenschaft zur Frage der Zwecke nichts zu sagen hat, daß sie bei der Wahl dessen, was man anstreben soll, nicht helfen kann, sondern nur auf die geeigneten Mittel zu gegebenen Zwecken (bzw. auf die zu erwartenden Folgen einer bestimmten Entscheidung) hinweisen kann, 38 ist mithin eine Konsequenz der Festlegung der Rationalität der wissenschaftlichen Praxis auf Zweckrationalität. c) Die Disqualifikation der Wertrationalität zieht sich noch auf einer weiteren Ebene durch. In ethischer Hinsicht unterscheidet Weber – in der Rede »Politik als Beruf« 39 – zwei Weisen der Handlungsorientierung: Gesinnungsethiker achten nicht auf die Folgen ihres Handelns; nicht Zweck/Mittel-Kalkulationen bestimmen ihr Denken, sondern die Übereinstimmung des eigenen Handelns mit kategorischen Handlungsvorgaben (»der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim«). Demgegenüber ist verantwortungsethisches Weber 1968 [1921], S. 13. Vgl. Weber 1973 [1904], S. 190: »Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will.« 39 Weber, Max: Politik als Beruf [1919]. München 2 1926. 37 38
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Handeln an den Handlungsfolgen orientiert. Max Weber disqualifiziert in seiner Rede »Politik als Beruf« die Gesinnungsethik für den besonderen Bereich des politischen Handelns vehement. Nun kann man aber im gesinnungsethischen Handeln (bzw. dessen Nicht-Konsequentialismus) unschwer die Wertrationalität, in der Zweck-Mittel-Orientiertheit der Verantwortungsethik die Zweckrationalität wiedererkennen. Das heißt: was Weber auf der inhaltlichen Ebene noch mit dem Titel der »Rationalität« adelt – ein Verhalten, dessen Rationalität (qua Überlegtheit) nicht so sehr in einer Strukturierung anhand der (für Weber schließlich allein ausschlaggebenden 40 ) Kategorien von Zweck und Mittel besteht als in einer Inbeziehungssetzung von »Gebot«, »Pflicht«, »Handlungsstruktur« einerseits und eigenem Beitrag andererseits – tritt zunächst auf methodologischer und wissenschaftstheoretischer Ebene in den Hintergrund, um schließlich auf der ethischen Ebene nur zum Zweck direkter Disqualifikation aus der theoretischen Nichtbeachtung geholt zu werden. So sehr die Disqualifikation der Wertrationalität auf methodologischer und metatheoretischer Ebene Webers Ansatz der verstehenden Sozialwissenschaft ins Zwielicht ziehen mag, so stark und überzeugend ist doch andererseits seine Kritik am Anti-Konsequentialismus in ethischer bzw. normativer Hinsicht. Dem Vorwurf der Gesinnungsethik (bzw. seines rationalitätstheoretischen Äquivalents) müssen alle Versuche begegnen können, zu einem gegenüber dem Rationalitätsprinzip des ökonomischen Verhaltensmodells »vernünftigeren« Rationalitätsbegriff vorzustoßen. Auf Amartya Sens schon erwähnten Vorschlag der Integration von »committed action« bezogen: es wäre höchst problematisch, wenn die aktkonsequentialistischen »rational fools« des orthodoxen ökonomischen Verhaltensmodells schließlich durch interessen- und folgenblinde »sentimental fools« 41 abgelöst würden. Eine Grundintention, die es gegen das ökonomische Verhaltensmodell sicherlich zu bewahren gilt, ist sicher diejenige, die von Sen 42 Bei Weber heißt es kategorisch: »Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ›Zweck‹ und ›Mittel‹« (Weber 1973 [1904], S. 187). 41 Vgl. Khalil, Elias L.: Sentimental Fools. A Critique of Amartya Sen’s Notion of Commitment. In: Journal of Economic Behavior and Organization 40/4 (1999), S. 373–386. 42 Zum speziellen Aspekt der Rationalität von »committed action« vgl. Sen, Amartya K.: Why Exactly is Commitment Important for Rationality? In: Economics and Philosophy 21/1 (2005), S. 5–14. 40
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über Gauthier bis zu Nida-Rümelin aus allen theoretischen Bemühungen um eine Neufassung von Handlungsrationalität spricht: die Wahl der Handlungsalternative »Kooperation« ist in gefangenendilemmaartigen Situationen (auch in solchen mit einmaligem »Spieldurchgang« oder absehbarem Ende der »Spielwiederholung«) nicht einfach »irrational« zu nennen. Andererseits ist von Weber zu lernen: auch das kategorische Befolgen der Kooperationsmaxime (also das alleinige Achten auf das Zusammenstimmen der eigenen Entscheidung mit einem allgemeinen »Gebot« bzw. einer »Handlungsstruktur« unter Vernachlässigung der realen Handlungskonsequenzen) ist nicht wirklich rational. Ein unconditional cooperator mag zwar, wie gesehen, durchaus Handlungsfolgen optimieren – aber er optimiert nicht die faktischen, sondern hypothetische Handlungsfolgen: nämlich die Folgen, die eintreten, wenn alle relevanten Anderen sich kooperativ verhalten (er optimiert also mithin, Kantisch ausgedrückt, die Folgen einer allgemeinen Praxis). Dies tut er auch dann noch, wenn andere faktisch nicht kooperieren bzw. sogar seine eigene unbedingte Kooperativität so in ihr Handlungskalkül einbeziehen, daß sich der optimale Effekt, der bei Realisierung der angestrebten Handlungsstruktur eingetreten wäre, faktisch in sein Gegenteil verkehrt. Wer aber auf diese Weise kontrafaktisch nur das Resultat von kooperativen Handlungsstrukturen (bzw. allgemein befolgten Maximen) optimiert, handelt gesinnungsethisch im Sinne Max Webers: sie oder er optimiert nicht wirklich Handlungsfolgen, sie oder er bleibt für die wirklichen Konsequenzen blind. Und dies ist – zumindest unter bestimmten Bedingungen – irrational; nämlich dann, wenn die Handlungsstruktur, die durch die Kombination von »gesinnungsethischem« Handeln (im Sinne des Handelns in Übereinstimmung mit der hypothetisch besten Handlungsstruktur) einerseits und des strategischen Ausnutzens der Kooperationsbereitschaft seitens relevanter anderer andererseits faktisch zustande kommt, sozial schlechtere Konsequenzen zeitigt als die alternative, strukturell irrationale »Handlungsstruktur«, die bei allseitigem individuellem Präferenzoptimieren zustande gekommen wäre. Muß man deshalb die Bestimmung der Rationalität kooperativen Handelns über kategorisches Befolgen der Kooperationsmaxime für unzureichend halten, so heißt das: ebenso relevant wie die Bewertung der unter Bedingung allseitiger Kooperation möglichen Handlungsstruktur ist auch die Frage, ob diese »optimale« Handlungsstruktur auch tatsächlich zustande kommt oder nicht, ob also die relevanten Anderen wirklich A
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kooperieren oder nicht. 43 Es reicht nicht, individuell optimale Handlungsstrukturen anzustreben; die Rationalität von Kooperation ist unter solchen Bedingungen eine Frage des kollektiven Handelns. 44 Nun wäre es aber sicherlich ein gründliches Mißverständnis, Nida-Rümelins Begriff der strukturellen Rationalität (bzw. dem ihm zugrundeliegenden Argumentationsmuster) vorzuwerfen, hier werde nach Kantischem Strickmuster einmal mehr Einzelheit und Allgemeinheit in einem einsam Maximen universalisierenden, im Sinne der Gesinnungsethik kontrafaktisch an den realen Handlungsfolgen vorbei optimierenden Subjekt vermittelt. Denn in Nida-Rümelins Begriff der strukturellen Rationalität hat der Kooperationsimperativ durchaus keinen kategorischen, sondern bloß einen hypothetischen Status. Er steht nämlich, wie der oben zitierten Definition zu entnehmen ist, unter der Bedingung von »Erwartungen von P bezüglich der Handlungen der anderen Beteiligten«. Diese Erwartungen stellen in den oben angeführten Definitionspunkten i, ii und iv einen durchaus integralen Bestandteil von Nida-Rümelins strukturellem Rationalitätsbegriff dar. »Gesinnungsethisch« wäre dieser Rationalitätsbegriff nur, wenn es sich dabei um normative (kontrafaktisch stabilisierte, für die Faktizität insensitive) Erwartungen handeln würde – Erwartungen also, auf denen man auch dann noch besteht, wenn sie aller Wahrscheinlichkeit nach enttäuscht werden. Aber Nida-Rümelin sagt klipp und klar, daß hier rein kognitive Erwartungen gemeint sind: »Erwartung ist im Sinne einer hinreichenden subjektiven Wahrscheinlichkeit gemeint.« 45 Das Modell strukturell rationalen »The categorical imperative itself may be badly served by people acting unilaterally on it«, meint Jon Elster (Elster, Jon: Sour Grapes. Studies in the Subversion of Rationality. Cambridge/Paris 1983, S. 39). Aber wenn das Kooperieren der Anderen zur Bedingung gemacht würde, wäre der kategorische Imperativ eben kein kategorischer Imperativ mehr! 44 Dies zumindest dann, wenn man »collective action« im Sinne Jon Elsters definiert als »the choice by all or most individuals of the course of action that, when chosen by all or most individuals, leads to the collectively best outcome« (Elster 1985, S. 137; Herv. von mir). Unter normativen Gesichtspunkten nimmt Donald Regan diesen Aspekt in seinem »principle of cooperative utlilitarianism« auf: »What each agent ought to do is to cooperate with whoever else is co-operating in the production of the best consequences possible given the behavior of non-co-operators« (Regan, Donald: Utilitarianism and Cooperation. Clarendon 1980, S. 124; Herv. von mir). Das mag nach einer vernünftigen Empfehlung klingen; aber was ist, wenn die Akteure ihre Kooperationsbereitschaft wechselseitig voneinander abhängig machen? 45 Nida-Rümelin 1999, S. 151. 43
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Handelns bettet seine »kantische« Kernidee damit ein in eine kognitive Wahrscheinlichkeitsabschätzung und versieht das aufklärerische Vernunftmoment dadurch gleichsam mit Augen für die realen Handlungsfolgen. Keine blinde »Wertrationalität« ist gefragt. »Rational« im Sinne der strukturellen Rationalität ist ein Handeln nämlich nur, wenn eine »hinreichende subjektive Wahrscheinlichkeit« strukturell rationalen Handelns auch seitens der relevanten Kooperationspartner besteht – und die Optimierung der kooperativen Handlungsstruktur also keinen kontrafaktischen Charakter hat, sondern mithin mit den Konsequenzen einer Handlungsstruktur gleichzeitig auch die realen Handlungsfolgen optimiert. Dies heißt freilich, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Dadurch ist dieser Ansatz zwar gefeit gegen den alten Vorwurf des weltfremd-abgehobenen Allgemeinheitsdenkens bzw. des rationalitätstheoretischen Äquivalents der Gesinnungsethik. Aber genau dadurch stellt sich diesem Kooperationsbegriff ein weit grundsätzlicheres Problem: nämlich dasjenige der Koordination. Eine auf eine kooperative Struktur bezogene Handlung ist nämlich unter bestimmten (oben charakterisierten) Umständen nur dann wirklich »rational« zu nennen, wenn Kooperation auch seitens des oder der relevanten Anderen mit »hinreichender subjektiver Wahrscheinlichkeit« erwartbar ist. In jenen Fällen, in denen »gesinnungsethisches«, kategorisches Kooperieren zu negativen Folgen führt, kann es durchaus sein, daß das Resultat des Optimierens individueller Bewertungen durchaus auch unter strukturellen Gesichtspunkten (d. h. als Handlungsstruktur) rationaler ist. Nida-Rümelin feit seine Theorie gegen den Vorwurf, dem rationalitätstheoretischen Äquivalent der Gesinnungsethik zu verfallen, indem er dem oder der Handelnden von vornherein kognitive »Erwartungen« bezüglich des Handelns der anderen Beteiligten zuschreibt: deren Handeln soll Nida-Rümelin zufolge mit angebbarer oder doch zumindest hinreichender subjektiver Wahrscheinlichkeit prognostizierbar sein. Näher besehen ist aber die Einführung des Elements kognitiver Erwartungen in den Begriff der strukturellen Rationalität alles andere als harmlos. Daß Nida-Rümelin den Handelnden »Erwartungen« bezüglich des Handelns der beteiligten andern zuschreibt, würde nämlich bedingen, daß strukturelle Rationalität eine einseitige Angelegenheit ist. Die eigene Entscheidung über Kooperation oder Nichtkooperation ist nur dann in einer Erwartung bezüglich der Entscheidung der relevanten Anderen zu begründen, wenn nicht erwartet werden muß, A
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daß deren Entscheidung umgekehrt von ihrer Erwartung bezüglich der eigenen Entscheidung abhängt. Nur dann kann man schon wissen (oder doch zumindest begründet vermuten), wie die anderen entscheiden werden, bevor man sich selbst festlegt. Daß hinreichend verläßliche Erwartungen bezüglich des Handelns Anderer ins eigene Handlungskalkül eingehen und der eigenen Entscheidung zugrundegelegt werden können müssen, ist nur dann eine unproblematische Bedingung, wenn von den relevanten Anderen bekannt ist, daß sie entweder strikte »Kantianer«, dumpfe Gewohnheitstiere oder eingefleischte homines oeconomici sind, jedenfalls aber nicht ebenfalls »strukturell rational«. Denn in den vorgenannten Fällen ist es tatsächlich nicht schwierig, hinreichend griffeste Erwartungen bezüglich des Handelns dieser »relevanten Anderen« mit »hinreichender subjektiver Wahrscheinlichkeit« zu bilden. Man weiß, was derlei Interaktionspartnerinnen und -partner tun werden: Kantianer kooperieren immer (unabhängig davon, was sie selbst von den anderen erwarten), homines oeconomici kooperieren nie (auch sie ganz unabhängig davon, was sie selbst von den relevanten Anderen erwarten), und Gewohnheitstiere folgen – ebenso unabhängig von ihrer Erwartung bezüglich der anderen – dem einmal gewählten Handlungsmuster. Aber das Modell der »strukturellen Rationalität« muß mehr wollen, als Empfehlungen im Umgang mit voraussehbar irrationalen anderen zu geben; es geht um mehr als darum, ein allfälliges »Sicheinfügen« in ein aus ganz anderen Gründen als der (strukturellen) Rationalität der Beteiligten bestehendes Kooperationsangebot zu empfehlen. Eine vernünftige Theorie der Rationalität sollte auch Licht auf den Umgang unter rationalen Akteuren zu werfen vermögen (und nicht bloß rationale Akteure im Umgang mit irrationalen Akteuren beraten). Was aber, wenn es nun zwei »strukturell rationale« Handlungsstrukturoptimierer (deren strukturelle Rationalität zwischen ihnen common knowledge ist) miteinander zu tun bekommen? Dann wird die Bildung von »hinreichend subjektiv wahrscheinlichen« Erwartungen schwierig, ja ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn man nämlich annimmt, daß die relevanten Anderen auch ihrerseits »strukturell rational« sind – also auch ihrerseits den Entscheid über die anstehenden Handlungsalternative gemäß der Vorgabe der Theorie der strukturellen Rationalität in einer Erwartung bezüglich des Handelns der aus ihrer Perspektive relevanten Anderen begründen können müssen, also strategisch rational sind 336
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und ihre Umwelt nicht einfach als konstant hinnehmen 46 bzw. nicht einfach dumpf einer Gewohnheit oder blind einer Überzeugung folgen – liegt die Struktur wechselseitig dependenter Erwartungen vor. Am Beispiel der Kooperation zwischen zwei Akteuren verdeutlicht: Die Entscheidung von A hängt von A’s Erwartung bezüglich der Entscheidung von B ab, der seinerseits seine Wahl rationalerweise von seiner Erwartung bezüglich des Handelns von A abhängig machen muß. Und diese Interdependenz von Erwartung und Entscheidung ist ein Sachverhalt, der seinerseits den Beteiligten bekannt ist und als solcher wiederum in die Erwartungsbildung eingeht. Was man deshalb im Club der »strukturellen Rationalisten« antrifft, sind Erwartungen, die sich auf Erwartungen von Erwartungen von Erwartungen etc. etc. pp. stützen – interdependente »reciprocal expectations« 47 von Individuen, die aneinander keinen Halt zur Bildung der subjektiven Wahrscheinlichkeitsabschätzung, deren sie zur Bildung eines rationalen Entscheids bedürften, finden können. Um sich von der Skylla eines »gesinnungsethischen« Handlungsmodells fernzuhalten, wählen die Theorie struktureller Rationalität und verwandte Theorieansätze einen Kurs, welcher ihr Schiffchen begrifflich direkt in einen grundlosen Strudel des »Erwartens des Erwartens des Erwartens …« lotst. Das strukturell rationale Subjekt verliert sich scheinbar entweder – mit all seiner Kooperationsbereitschaft – in einer hypothetisch-kontrafaktischen Welt der kooperativen Handlungsstrukturen, geschlagen mit Blindheit gegenüber den realen Konsequenzen seiner Kooperationswilligkeit, oder es versinkt – mit seinem ganzen Rationalitätsanspruch – in der Unergründlichkeit wechselseitiger Interdependenz von Erwartungen. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist die folgende: Wie ist Handeln möglich, wenn dazu die eigene Entscheidung in der Erwartung bezüglich des Handelns des anderen begründet ist, für den umgekehrt dasselbe gilt? Wie ist, mit anderen Worten, Koordination möglich? In der sozialtheoretischen Debatte hat dieses Problem bislang kaum je Jon Elster unterscheidet so zwischen strategischer und parametrischer Rationalität: »The parametrically rational actor treats his environment as constant, whereas the strategically rational actor takes account of the fact that the environment is made up of other actors, and that he is part of their environment, and that they know this, etc.« (Elster, Jon: Ulysses and the Sirens. Studies in Rationality and Irrationality. Cambridge UK 1979, S. 19). 47 Vgl. dazu Schelling, Thomas: The Strategy of Conflict. Cambridge Mass. 15 1995, S. 95; 124. 46
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die zentrale Aufmerksamkeit erhalten, die es verdient. Die in der letzten Dekade angebrochene Debatte greift meist auf Thomas C. Schellings 48 und David K. Lewis’ 49 grundlegende Studien zurück. Unerwähnt bleibt dabei, daß in der soziologischen Systemtheorie das Phänomen der Koordination schon einmal im Zentrum der Theoriebildung gestanden hatte (s. dazu unten). Im Ganzen wird man aber trotz dieser Arbeiten davon sprechen können, daß das Phänomen der Koordination bislang theoretisch eher unterbelichtet geblieben ist. 50 Dies zumindest, wenn man die Aufmerksamkeit, die die Theorie der Koordination bislang erhalten hat, mit jener vergleicht, die der Kooperation zuteil geworden ist. Das anscheinende Mißverhältnis hat wohl damit zu tun, daß das Koordinationsproblem im Unterschied zum Kooperationsproblem in den meisten Fällen kein reales Problem ist – zumindest nicht in Situationen, in denen es »drauf an kommt« –, weil nämlich salience, Normen und Konventionen reale Koordinationsprobleme in aller Regel zuverlässig entproblematisieren. Sozialtheoretisches Denken, welches einen empirischen Problembezug unterhalten will, wird dem Trittbrettfahrertum zwangsläufig mehr Gewicht beimessen als der empirisch meist reibungslos ablaufenden Koordination in Situationen koinzidierender Interessen. Natürlich gibt es in der sozialen Wirklichkeit Koordinationsprobleme. Beispielsweise kommen wir uns im Alltag als Fußgänger manchmal in die Quere, weil wir uns auf dem Bürgersteig spiegelsymmetrisch auszuweichen versuchen. Wir wollen möglichst reibungslos aneinander vorbeikommen, und es ist uns egal, ob wir uns nun rechts oder links kreuzen – solange bloß ein reibungsloses Aneinandervorbeikommen garantiert ist. Oder wenn unsere Verbindung während eines Telephongesprächs getrennt wird, gelingt es uns manchmal für längere Zeit nicht, wieder miteinander in Kontakt zu geraten, weil beide immer im gleichen Moment entweder versuchen, einander anzurufen bzw. auf den Anruf des Anderen zu warten (zumindest war dies vor der »call waiting«-Funktion der Fall). Oder aber wir erleben im Alltag Situationen wie diese: wir haben uns für heute Abend auf ein Bier verabredet, dabei fällt beiden erst auf dem Weg Vgl. Schelling 1969. Vgl. Lewis, David: Convention. A Philosophical Study. Oxford 1969. 50 Vgl. dazu und zum folgenden auch Schmid, Hans Bernhard: Rationalizing Coordination. Towards a More Robust Conception of Collective Intentionality. Erscheint in: White, Mark D. (Hrsg.): Economics and the Philosophy of Mind. London 2006. 48 49
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ein, daß wir ja gar nicht vereinbart haben, in welcher unserer beiden bevorzugten Bars wir uns denn treffen wollen (auch für diesen Fall liegt freilich inzwischen mit dem Handy eine weit verbreitete technische Lösung vor). In manchen Fällen passiert etwas Ähnliches auch im direkten Gespräch: Man trifft sich, beide fragen gleichzeitig »wie geht’s?«, beide verstummen und wollen der andern den Vortritt lassen, beide realisieren gleichzeitig, daß die andere ihr den Vortritt läßt, beide sagen synchron »Du zuerst …«, »nach Dir«, »mir geht’s gut« u. dgl. Solche Situationen – die Reihe ließe sich wohl fast beliebig verlängern 51 – haben, wie alle sog. »reinen Koordinationssituationen«, vor allem ein Charakteristikum: es kommt uns in solchen Situationen nicht so sehr darauf an, welche der gegebenen Handlungsalternativen (links oder rechts gehen, anrufen oder abwarten, Bar A oder Bar B, reden oder zuhören) wir wählen, als vielmehr darauf, daß unsere Wahl mit derjenigen des oder der relevanten Anderen zusammenstimmt. Und wir können in all diesen Situationen vermuten, daß dies auch von der oder den anderen gilt. Spieltheoretisch ausgedrückt: es gibt in solchen Entscheidungssituationen mindestens zwei für beide etwa gleich gute Gleichgewichte 52 und kein für beide deutlich bestes Gleichgewicht. 53 Welches der Gleichgewichte schließlich realisiert wird, spielt für uns (als Teilnehmer) keine Rolle – solange nur ein Gleichgewicht resultiert, also Koordination zustande kommt. Das bedeutet: im Unterschied zu den gefangenendilemmaartigen Situationen, auf welche sich die rationalitätstheoretische DeVgl. dazu Lewis 1969, S. 5 ff. Ein Gleichgewicht (bzw. Nash-Gleichgewicht) ist im spieltheoretischen Sinn eine Situation, in der kein Spieler gegeben die Wahl des Anderen von der von ihm getroffenen Wahl abweichen würde. Eine Einführung in die Spieltheorie, welche insbesondere die Theorie der Koordination ins Zentrum rückt, ist Bicchieri, Cristina: Rationality and Coordination. Cambridge 1993. 53 Auf das Fußgänger-Beispiel bezogen sähe die anstehende Entscheidungssituation in etwa wie folgt aus: 51 52
nach links ausweichen nach rechts ausweichen nach links ausweichen
1/1
–1/–1
nach rechts ausweichen
–1/–1
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D. h. die Spieler sind indifferent bezüglich der Spielausgangsmöglichkeiten links/links und rechts/rechts. A
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batte in der Sozialtheorie in den letzten Dekaden fast ausschließlich bezogen hat, gibt es hier keine dominante Strategie. Im Gefangenendilemma ist Nicht-Kooperieren im Sinne der unmittelbaren individuellen Nutzenoptimierung rational unabhängig davon, ob man nun erwartet, daß der andere kooperiert oder seinerseits nicht kooperiert. Insofern ist der Ausgang von einer nur am eigenen Nutzen orientierte Rationalität – John Rawls spricht von einer »mutually disinterested rationality« 54 und fängt damit einen Grundzug des rationalitätstheoretischen Ansatzes des ökonomischen Verhaltensmodells ein 55 – in solchen Situationen unproblematisch. Zwischen »rationality« und »mutual disinterestedness« tut sich dagegen sogleich eine tiefe Kluft auf, wenn man reine Koordinationssituationen in Betracht zieht. Was hier rational ist, läßt sich nämlich nicht unabhängig von der eigenen Erwartung bezüglich der Entscheidung des oder der relevanten Anderen bestimmen. Für diesen gilt aber, wie bekannt ist, umgekehrt dasselbe: es resultiert ein unendlicher Zirkel von interdependenten Erwartungen. Die Suche nach einem vernünftigeren Rationalitätsbegriff führt so vom Kooperationsproblem auf das Koordinationsproblem. Und hier ist es nicht das Phänomen des Trittbrettfahrertums, sondern das Phänomen der Interdependenz der Erwartungen, welches die zentrale theoretische Herausforderung darstellt. Wie ist rationales Handeln in Koordinationssituationen, in Situationen interdependenter Erwartungen möglich? Offensichtlich ist, daß es faktisch möglich ist. Auf dem Bürgersteig mögen wir uns zwar manchmal in die Quere kommen, weil Koordination mißlingt. Aber meistens ist Koordination praktisch gar kein Problem. In den meisten Fällen reicht es, den gegebenen Konventionen zu folgen. Wir begrüßen uns, indem wir uns die rechte Hand reichen (obwohl ein Handschlag auch dann zustandekäme, wenn sich beide die Linke reichten). Konventionen bestimmen darüber, welches von mehreren ähnlich guten Koordinationsgleichgewichten realisiert wird. Aber wie funktioniert das? Hier kommt das ins Spiel, was seit Thomas C. Schelling focal point bzw. bei David Lewis salience genannt wird. Nehmen wir an, zwei Spielteilnehmer werden prämiert, wenn sie unRawls, John: A Theory of Justice. Cambridge 1971, S. 144. Vgl. etwa Kirchgässner 2000, S. 18. Vgl. als weitere Reflexion auf diesen Grundzug auch die »mutually unconcerned« Handlungssubjekte bei Gauthier, David: Morals by Agreement. Oxford 1986, S. 87 ff.
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abhängig voneinander unter elf Objekten dasselbe auswählen. Dieses Spiel hat elf »eigentliche Koordinationsgleichgewichte«; Koordination scheint somit hoch unwahrscheinlich zu sein, wenn man rein die payoff-Matrix in Betracht zieht. 56 Der clou der Theorie der salience ist nun aber, payoff-irrelevante Information mit einzubeziehen. Wenn nun nämlich unter diesen ansonsten völlig identischen Objekten zehn rot sind und nur eines blau, werden beide Teilnehmer zuverlässig das blaue Objekt wählen. Im reinen Blick auf den Erwartungsnutzen unterscheiden sich diese Koordinationsgleichgewichte bzw. die entsprechenden Strategien nicht; und trotzdem gibt es in dieser Situation im Sinne des vortheoretischen Begriffes eine einzige »rationale Wahl«; was sie zur »rationalen Wahl« macht ist nicht ihr Nutzen (in welchem sich ja die elf Koordinationsgleichgewichte nicht unterscheiden), sondern eben die salience des gewählten Objekts: also eine Information, die nicht der payoff-Matrix, sondern dem Kontext der Entscheidungssituation entstammt. Salience ermöglicht Koordination angesichts von denkbar verschiedenen Klassen von Entscheidungsalternativen. Werden Testpersonen beispielsweise vor die Aufgabe gestellt, getrennt voneinander und ohne Gelegenheit zu vorgängiger Kommunikation den Namen eines Berges zu nennen, wobei common knowledge ist, daß eine Prämie auf allseitiges Nennen desselben Berges steht, wird unter Standardbedingungen die Nennung des Mount Everest die besten Aussichten auf Realisierung des Koordinationsgewinnes bieten. »Mount Everest« ist in einem reinen Koordinationsspiel der focal point in der Menge der Alternativen, der Klasse aller Berge; er ist die salient Lösung. Denn das salient feature von Bergen ist nun einmal die Höhe. 57 Freilich ist salience radikal situationsabhängig: sie ist nicht unabhängig von einer konkreten Entscheidungssituation zu bestimmen. Die Höhe ist nur unter Standardbedingungen das salient feature von Bergen, d. h. nur solange sich in der gegebenen Situation nichts anderes »aufdrängt«; es dürfte beispielsweise unter den angegebenen Versuchsbedingungen rational sein, statt des Mount Everest die Zugspitze zu wählen, wenn dieses Spiel im Rahmen einer Bergwan»Eigentlich« (»proper«) ist ein Koordinationsgleichgewicht, wenn es im spieltheoretischen Darstellungsschema das einzige Gleichgewicht in einer Zeile bzw. Kolonne der payoff-Matrix ist, d. h. wenn ein Spieler mit einer bestimmten Strategieentscheidung nicht mehrere Gleichgewichte anzielen kann. 57 Vgl. Mehta, J./Starmer, C./Sugden, R.: Focal points in pure coordination games: an experimental investigation. In: Theory and Decision 36 (1984), S. 163–185. 56
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derung auf die Zugspitze veranstaltet wird, oder »Matterhorn«, wenn das Spiel in einem Raum stattfindet, in welchem als einzige Dekoration und für beide gut sichtbar eine Abbildung des Matterhorns hängt. Das heißt: in Koordinationssituationen geht situativ verfügbare Information, die keinen direkten Effekt auf die Erwartungsnutzenstruktur der Spielsituation hat, in das rationale Entscheidungskalkül mit ein. Salience, so scheint es, ist faktisch das, was den oben angetroffenen unendlichen Regreß interdependenter Erwartungen in Koordinationssituationen unterbricht und dadurch eine rationale Wahl unter den unter reinen Nutzengesichtspunkten gleichwertigen Alternativen ermöglicht. Dieselbe Funktion der Schaffung einer salient Strategie übernehmen – wie es in der sozialtheoretischen Debatte Talcott Parsons ausführlich analysiert hat (s. unten) – soziale Normen (wobei hier zunächst einmal an nicht-sanktionierte Normen zu denken ist). Als Fußgänger mögen wir uns manchmal in die Quere kommen, weil wir uns auf dem Bürgersteig spiegelsymmetrisch auszuweichen versuchen – als Teilnehmer am motorisierten Straßenverkehr hingegen haben wir zwar ein strukturell ganz ähnliches Koordinationsprobleme zu bewältigen; auch hier kommt es uns grundsätzlich nämlich weniger darauf an, ob wir nun linksrum oder rechtsrum aneinander vorbeikommen, solange wir bloß nicht kollidieren. Da hier aber ein Mißlingen der Koordination ungleich schwererwiegende Folgen hätte als im Fußgängerverkehr, entproblematisieren wir diese Situationen mittels der Rechtsfahrkonvention. Weil die Rechtsfahrregel gilt, können wir als Teilnehmer am motorisierten Verkehr zuverlässig, d. h. »mit hinreichender subjektiver Wahrscheinlichkeit« erwarten, daß uns das auf einer engen, nicht spurgetrennten Straße entgegenkommende Fahrzeug nach rechts ausweichen wird – und haben darin dann auch einen haltbaren rationalen Grund, uns auch unsererseits rechts zu halten. Und dies obwohl wir ebenso gut aneinander vorbeikämen, wenn beide nach links ausweichen würden, obwohl also die Geltung der Konvention grundsätzlich nichts daran ändert, daß es hier weniger darauf ankommt, wie man sich koordiniert, als darauf, daß Koordination gelingt. Nun könnte man vielleicht sagen, daß die ganze Problemstellung nur in bezug auf reichlich akommunikative Handlungssubjekte überhaupt in der angegebenen Gestalt erscheint. Aber dieser Vorwurf greift daneben. Bei näherem Hinsehen rückt nämlich auch Kommunikation in diese Funktion der Unterbrechung unendlicher Erwartungszirkel. Um ein 342
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Beispiel aus Rousseaus Discours sur l’inégalité abzuwandeln 58 : die Mitglieder einer Kleingruppe, in der stets und ausnahmslos alle Nahrungsmittel gerecht geteilt werden, haben zwei Überlebensstrategien zur Verfügung: sie können gemeinsam einen Hirsch erlegen (was nur gelingt, wenn alle an der Jagd teilnehmen), oder sie können je individuell auf Hasenjagd gehen (was nur dann genug Nahrung einbringt, wenn sich auch wirklich alle individuell auf die Hasenjagd machen). Offensichtlicherweise ist dieses Koordinationsproblem durch Kommunikation leicht zu lösen. Es ist für die Mitglieder nach einer Verständigung über die gemeinsame Wahl zwischen den beiden Alternativen offensichtlicherweise rational, individuell jene Handlungsalternative zu wählen, auf die man sich verständigt hat (und irrational, trotz Verständigung auf die Hirschjagd dann doch dem Impuls nachzugeben, einem Hasen nachzujagen). Kommunikation mag zwar nebst der Tatsache, daß sie die Überzeugungen der Adressaten zu modifizieren vermag, über Versprechungen, Drohungen etc. durchaus payoff-wirksam sein. In den angegebenen Situationen tut sie aber vor allem eins: sie beliefert die Beteiligten mit salience, sie schafft focal points. Wenn wir uns auf heute abend auf ein Bier verabredet haben, und mir erst auf dem Weg in die Innenstadt einfällt, daß wir gar nicht festgelegt haben, in welcher unserer beiden Lieblingsbars wir uns denn treffen wollen, erledigt ein Anruf das Problem. Zuvor war keine der beiden Bars salient. Jetzt ist es die eine – ihr salient feature ist es, daß wir uns auf sie geeinigt haben (obwohl niemand von uns vom reinen Erwartungsnutzen her diese Bar gegenüber der anderen vorzieht). Nicht nur Kommunikation, sondern auch Gewohnheiten bzw. Tradition übernehmen diese Funktion der Unterbrechung des Erwartungszirkels in Koordinationssituationen durch Schaffung von focal points bzw. salience. Wenn man mit denselben Interaktionspartnern ein Koordinationsproblem einmal erfolgreich durchlaufen hat, schafft dies offensichtlich einen rationalen Grund dafür, beim nächsten Durchlauf dieselbe Handlungsstrategie zu wählen. 59 Wenn zwei Freunde verabredet haben, sich am Abend in Bar A In einer anderen Form ist dieses Beispiel in die spieltheoretische Literatur unter dem Titel stag hunt eingegangen. Die Auszahlungsstruktur ist dort aber so, daß einseitiges Hasenjagen dem Betreffenden den höheren Nutzen bringt; die Annahme gerechter Verteilung der erlegten Beute fällt also weg. 59 »We may tend to repeat the action that succeeded before if we have no strong reason to do otherwise. Whether or not any of us really has this tendency, we may somewhat 58
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zu treffen, ist diese Tatsache für beide Freunde ein rationaler Grund, sich am vereinbarten Zeitpunkt in Bar A einzufinden (obwohl beiden Bar B ebenso lieb ist wie Bar A, und beide dies voneinander wissen). Und wenn sich in Kontinentaleuropa zwei Wagen auf einer nicht spurgetrennten Straße entgegenkommen, ist es – sofern keine suizidalen Präferenzen im Spiel sind – angesichts der Rechtsfahrkonvention für beide beteiligten Fahrer rational, dem anderen gegen den rechten Straßenrand auszuweichen (obwohl beiderseitiges Linksausweichen ebenfalls kollisionsverhindernd wirken würde). Wenn einem wirklich an Koordination liegt (man den Freund also wirklich treffen bzw. eine Kollision tatsächlich vermeiden möchte), wäre es schlichtweg irrational, Bar B aufzusuchen bzw. nach links auszuweichen. Koordination anhand von salience (ob diese nun durch spontanen Einbezug situativ verfügbarer Information, durch Konventionen, Kommunikation, Gewohnheit oder Tradition zustande kommt) ist ein derart basales Phänomen sozialen Handelns, daß wir, wie ich meine, keine Theorie der Handlungsrationalität akzeptieren sollten, welche nicht in der Lage ist, zu erklären, was die Beachtung von salience rational macht. Dies aber fällt der Rationalitätstheorie, die dem ökonomischen Verhaltensmodell zugrunde liegt, überraschend schwer. Man verfügt zwar seit Schelling und Lewis über die einschlägigen Konzepte. Aber die Frage, was salience bzw. focal points zum rationalen Handlungsgrund macht, hat überraschend wenig Aufmerksamkeit erhalten. Es scheint, daß erst in der vergangenen Dekade ein Bewußtsein dafür entstanden ist, daß hier ein fundamentales Theoriekonstruktionsproblem vorliegt. Im folgenden soll erstens etwas Licht auf dieses Problem geworfen werden; zweitens wird die These vertreten, daß es aus den individualistischen Prämissen des ökonomischen Verhaltensmodells erwächst. Drittens soll gezeigt werden, daß es sich letztlich nur im Rekurs auf so etwas wie das oben in Teil I dieser Arbeit unter dem Titel des vorreflexiv-irreduziblen Miteinanderseins Entwickelte wirklich überzeugend lösen läßt.
expect each other to have it, or expect each other to expect each other to have it, and so on« (Lewis 1969, S. 36 f.).
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Rationalität-in-Beziehungen
§ 15 Rationalität-in-Beziehungen Das Problem, das sich hier stellt, ist ein clash im Verhältnis zwischen common sense und Theorie. Das, was für das theoretisch unbebrillte Auge offensichtlicherweise rational ist – nämlich die Wahl der »salient« Strategie – scheint plötzlich alle Rationalität zu verlieren, wenn man die Situation durch die Brille des ökonomischen Verhaltensmodells betrachtet. Dies zeigt die folgende Überlegung. Vergegenwärtigen wir uns eine reine Koordinationssituation einmal aus der Perspektive eines eingefleischten homo oeconomicus. Für diesen ändert das Vorliegen von salience überhaupt nichts am infiniten Regreß interdependenter Erwartungen, weil das, was für ihn zählt, rein der Erwartungsnutzen ist. Daß unter zwei Handlungsalternativen die eine irgendwie »offensichtlich« ist – sei es deshalb, weil man sich mit seinen Interaktionspartnern auf diese Lösung geeinigt hat, sei es deshalb, weil man durch Wahl dieser Strategie mit denselben Interaktionspartnern schon früher Koordination erreicht hat, sei salience durch irgendeine andere Art und Weise zustande gekommen – ändert im Handlungsfolgekalkül des homo oeconomicus nicht das Geringste daran, daß es keine faktisch rationale Entscheidung gibt – beide Handlungsalternativen sind zunächst nämlich bloß hypothetisch rational, nämlich in Abhängigkeit von der Erwartung bezüglich der Entscheidung des anderen. Und da die Entscheidung des anderen unter der Standardbedingung des common knowledge beiderseitiger Rationalität als in der Erwartung des anderen bezüglich der eigenen Entscheidung begründet erwartet wird, bleibt es bei diesem rein hypothetischen Charakter der Rationalität der Wahl der salient Strategie. Selbst explizite kommunikative Festlegungen ändern daran nichts. Sie sind für den homo oeconomicus (anders als glaubhafte Drohungen bzw. Versprechungen) per se nämlich nicht mehr als cheap talk; die einzige Information, die für ihn zählt (und von der er annehmen muß, daß sie auch für den anderen zählt) ist jene, die in der spieltheoretischen Darstellung der Situation der payoff-Matrix zu entnehmen ist. Und diesbezüglich unterscheidet sich ein Treffen in Bar B auch nach dem kommunikativen »salient-Machen« von Bar A nicht vom payoff beiderseitigen Aufsuchens von Bar A. Oder, am anderen Beispiel illustriert: läßt man die Rolle der Polizei einmal außer acht, ändert auch die Rechtsfahrregel nichts daran, daß man ebensogut aneinander vorbeikommt, wenn beide Beteiligten nach
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links ausweichen (daß letztlich sogar die Sanktionierung der Normen daran nichts ändert, wird sich weiter unten zeigen). Nun ist es aber eine starke vortheoretische Intuition, die man nicht leichthin verabschieden sollte, daß es faktisch rational ist, sich in Koordinationssituationen an salience zu orientieren. An dieser Intuition sollten wir festhalten, wenn uns daran gelegen ist, die Theorie der Handlungsrationalität nicht ganz von der sozialen Wirklichkeit abzuschnüren. Was immer man unter dem Begriff »rational« sonst noch verstehen mag, eines scheint doch ganz unfraglich festzustehen: es ist rational, sich im Straßenverkehr an die Rechtsfahrregel zu halten, wenn man annimmt, daß die Verkehrsregeln, minimale Rationalität und die Abwesenheit irgendwelcher suizidaler Präferenzen seitens der Beteiligten common knowledge sind – und zwar auch dann, wenn die Verkehrspolizei einmal gerade nicht hinschaut, also keine Sanktionierung der Rechtsfahrkonvention droht. Allgemein gesagt: salience ist ein rationaler Handlungsgrund. Allerdings scheint es, daß diese starke »natürliche« Intuition nicht durch den Rationalitätsbegriff des ökonomischen Verhaltensmodells gedeckt ist. Denn die Entscheidung über die Alternativen »links« und »rechts« läßt sich nämlich zumindest prima vista nicht direkt über den erwarteten Nutzen begründen; beide Alternativen sind ja hypothetisch rational, und wer abschätzen will, wie sich der Interaktionspartner entscheiden wird, wird sofort in den infiniten Regreß interdependenter Erwartungen gezogen. Wer etwas für die soziale Realität so Grundsätzliches wie die Koordination anhand von salience verstehen möchte, muß –so scheint es – über den engen »ökonomischen« Rahmen der reinen payoffs hinausblicken. Gegen diese Diagnose gibt es seitens des orthodoxen Modells freilich Einwände. In der entsprechenden Debatte immer noch aktuell und ein wichtiger Bezugspunkt ist ein mittlerweile schon etwas älterer Aufsatz zum Thema »Coordination«. 60 David Gauthier, sein Autor, vertritt hier die Ansicht, daß die Frage, warum es in Koordinationssituationen rational ist, salience zu beachten, durchaus grundsätzlich innerhalb jener Rationalitätstheorie zu beantworten ist, welche dem ökonomischen Verhaltensmodell zugrunde liegt. Gauthiers Argument beruht indes auf einer Überlegung, die etwas über die herkömmliche spieltheoretische Perspektive hinausgeht – diese Perspektive erweitert, ohne aber ihren Rahmen zu verlassen. Gemäß der tra60
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Gauthier, David: Coordination. In. Dialogue 14 (1975), S. 195–221.
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ditionellen Sicht werden nämlich die Strategiealternativen, welche den einzelnen Beteiligten zur Verfügung stehen, aus der Perspektive des Theoretikers benannt bzw. bestimmt. In der herkömmlichen spieltheoretischen Notation kommt das dadurch zum Ausdruck, daß diese Alternativen einfach mit »a«, »b«, »c« usw. angeschrieben werden. Im Gegensatz zur klassischen Spieltheorie, welche ganz die Beschreibungsperspektive des Theoretikers einnimmt, ist es nach Gauthier für das Verständnis von Koordination entscheidend, wie die Teilnehmenden selbst ihre Handlungsalternativen sehen, d. h. unter welcher Beschreibung sie ihnen selbst erscheinen. Was der Spieltheoretiker mit »a« bzw. »b« anschreibt, mag dem einen Spieler beispielsweise unter der Beschreibung »links« bzw. »rechts« erscheinen, dem anderen unter dem label »Westen« bzw. »Osten«. 61 Dieses labeling ändert zwar nichts am payoff. Aber es ist für individuelle Nutzenmaximierer doch nicht irrelevant. Gauthiers Argument für die »Rationalität« von salience ist nämlich, daß durch salience eine Art neues »framing«, ein »labeling«, eine Transformation der Beschreibung bzw. eine Neukonzeption der Entscheidungsalternativen durch die Akteure selbst stattfindet. Nehmen wir das Beispiel der beiden Autofahrer bzw. der beiden Barbesucher. Die ursprüngliche Entscheidungssituation (ohne salience) mag etwa folgendermaßen aussehen: Alternative A Alternative B Alternative A
1/1
0/0
Alternative B
0/0
1/1
In dieser ursprünglichen Entscheidungssituation unterscheiden sich die beiden Koordinationsgleichgewichte A/A und B/B nicht; es gibt keine reine (stark oder schwach) dominante Strategie hier. Was ist »rational« zu tun? Möglich (bzw. von der Spieltheorie empfohlen) wäre, daß die beteiligten Akteure gemäß dem »principle of insufficient reason« (welches besagt, daß Strategien, welche sich hinsichtlich ihres Erwartungsnutzens nicht unterscheiden, mit gleicher Wahrscheinlichkeit gewählt werden) auf eine gemischte Strategien ausweichen, nämlich beide Alternativen mit einer 50 %-Wahrscheinlichkeit wählen. Alle vier möglichen Spielausgänge (A/A, A/B, B/A, Vgl. dazu Robert Sugdens »labeling theory« in ders.: A Theory of Focal Points. In: The Economic Journal 105 (1995), S. 533–550.
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B/B) sind dementsprechend gleich wahrscheinlich (p = 0.25). Nehmen wir nun aber an, Handlungsalternative A ist salient. Es besteht beispielsweise unter den Teilnehmern die Gewohnheit, Tradition, Konvention bzw. explizite Verabredung, A zu wählen. Oder man hat A zuvor verabredet. Oder es gibt eine soziale Konvention, A zu wählen. Nach Gauthiers These verändert sich dadurch die Entscheidungssituation der Beteiligten ganz grundsätzlich, und zwar obwohl sich am Nutzen der vier möglichen Spielausgänge selbst nichts ändert. Eine Veränderung komme dadurch zustande, daß sich die Entscheidungsalternativen aufgrund von salience auf neue Art und Weise darstellen. Jetzt seien nämlich nicht mehr »Alternative A« und »Alternative B« die Strategien, zwischen denen sich die Teilnehmer zu entscheiden haben, sondern die Alternativen »salience beachten« (also Alternative A wählen) und »salience ignorieren« (also zufällig zwischen den beiden Handlungsalternativen A und B wählen). Wenn beide Teilnehmer salience beachten, kommt Koordination zustande. Wenn einer von beiden Teilnehmern oder beide Teilnehmer salience nicht beachten und beide Strategien zufällig und mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.5 wählen, besteht eine 50 %-Chance, daß Koordination zustande kommt. Das heißt: durch dieses re-labeling ändert sich auch der Erwartungsnutzen der einzelnen Spielausgänge. Die payoff-Matrix sieht jetzt, nach dem Auftreten von salience, nämlich folgendermaßen aus: salience beachten salience ignorieren salience beachten
1/1
0.5/0.5
salience ignorieren
0.5/0.5
0.5/0.5
Das lästige Charakteristikum von reinen Koordinationssituationen, daß mehrere gleich gute Gleichgewichte vorliegen, verschwindet (scheinbar) durch diese Transformation: unter Bedingungen des Vorliegens einer »salient« Alternative gibt es nur noch ein bestes Gleichgewicht: beiderseitiges Beachten von salience (das zweite Gleichgewicht – beiderseitiges »salience ignorieren« – ist für beide Beteiligten schlechter; die Strategie »salience beachten« ist beiderseits schwach dominant). Somit scheint offensichtlich: es ist unter Bedingungen dieser veränderten Sichtweise der anstehenden Entscheidungssituation im orthodoxen Sinne des individuellen Präferenzoptimierens offensichtlich »rational«, salience zu beachten. 348
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»Salience beachten« optimiert den Erwartungsnutzen. Das orthodoxe Rationalitätsmodell hätte damit die gestellte Aufgabe mit Hilfe der Gauthierschen Transformation bestanden; entgegen dem ersten Anschein wäre es damit in der Lage, der natürlichen Intention gerecht zu werden, welche besagt, daß es in Koordinationssituationen rational ist, salience zu beachten. Gegen diesen Lösungsvorschlag sprechen freilich gewichtige Gründe. Eine ziemlich offensichtliche Schwäche von Gauthiers Lösungsvorschlag ist der einschlägigen Literatur denn auch nicht lange verborgen geblieben. 62 Diese Schwäche besteht darin, daß Gauthier die Reduktion von zwei gleich guten Gleichgewichten auf ein bestes Gleichgewicht sich erschlichen hat, indem er in der durch salience transformierten Version des Koordinationsspiels eine weitere Entscheidungsalternative einfach unterschlägt – allerdings eine, die auf den ersten Blick eher absurd anmuten mag. Die Teilnehmer haben nämlich in der gegebenen Koordinationssituation nicht nur die Option, salience zu beachten, also A zu wählen, oder salience zu ignorieren, also zufällig zwischen A und B zu wählen. Es gibt noch eine weitere Option. Sie können auch die non-salient Strategie (im gegebenen Beispiel die Option B qua non-salient Strategie – also unter der Beschreibung »non-salient«) wählen. 63 Mit anderen Worten: das Auftreten von salience macht (im Falle von zwei Alternativen) in einem gewissen derivativen Sinne auch die zunächst nicht-salient Strategie salient (man könnte diesbezüglich von »Sekundär-salience« sprechen; im Falle von mehr als zwei Alternativen wird die Gruppe der »übrigen« Strategien »sekundär salient«: die Meta-Option »zufällige Auswahl aus allen übrigen Strategien« hat zum möglichen Resultat ein Gleichgewicht, welches besser ist als beiderseitige zufällige Auswahl aus allen Strategien 64 ). Vgl. Goyal, Saanjev/Janssen, Maarten Chr.: Can we rationally learn to coordinate? In: Theory and Decision 40 (1996), S. 29–40. Gilbert, Margaret: Rationality and Salience. in: dies.: Living Together. Rationality, Sociality, and Obligation. Lanham 1996, s. 23–37; zuerst ist der von Goyal/Janssen bzw. Gilbert erwähnte Punkt C. Provis aufgefallen (Provis, C.: Gauthier on Coordination. In: Dialogue 16 [1977], S. 507–509). 63 C. Provis meint dazu: »This is obscured because Gauthier introduces his suggested alternatives as being choosing the salient option and ignoring salience. That phraseology diverts attention from the fact that one way of not ignoring salience on an option is by performing the non-salient option qua non-salient option« (Provis 1977, S. 509). 64 Daraus bastelt Seumas Miller ein Argument für die Rationalität wenn auch nicht direkt der Entscheidung für die salient Strategie, so doch für die Rationalität der Entscheidung für die Regel, salience zu beachten. Es geht folgendermaßen: beiderseitiges 62
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Aber handelt es sich bei diesem Einwand nicht bloß um eine theoretische Haarspalterei, eine sophistische Spitzfindigkeit? Daß man in einer Koordinationssituation das Vorliegen von salience vielleicht einmal übersehen mag, erscheint ja noch plausibel. Aber warum sollte in praxi überhaupt jemand angesichts des klaren und ersichtlichen Vorliegens von salience ausgerechnet die non-salient strategy wählen? Was für einen Grund gibt es, diese Option überhaupt in Betracht zu ziehen, wo doch das Vorliegen von salience das anstehende Problem zu lösen scheint? Daß ich eine getroffene Verabredung vergesse, mag ja durchaus vorkommen; aber warum sollte ich auf die Idee kommen, Bar B zu besuchen, wenn wir uns doch am Telephon soeben auf Bar A geeinigt haben und ich unser Treffen ja durchaus nicht platzen lassen will? Warum sollte jemand nach links ausweichen, wenn minimale Rationalität der Beteiligten, die Rechtsfahrregel und die Abwesenheit suizidaler Präferenzen common knowledge sind? So berechtigt diese Fragen sind, so wenig erledigen sie das anstehende Problem. Die (scheinbare) Absurdität bzw. Irrelevanz dieser Möglichkeit spricht als solche noch nicht dagegen, daß sie im Rahmen einer theoretischen Rekonstruktion von Koordination in Betracht zu ziehen ist. Denn sie ist selbst ein erklärungsbedürftiges Phänomen: weswegen kommt hier eine Strategie, die, wie gleich zu sehen sein wird, zu einem Pareto-optimalen Gleichgewicht führt, in praxi nicht in Betracht? Mit der Konstruktion eines Beispiels läßt sich die Absurdität der anstehenden Frage außerdem etwas mildern. Nehmen wir an, die Personen X und Y sind Studierende der Öko»salience beachten« bringt zwar im Falle von je zwei Entscheidungsalternativen (»links«/»rechts«, »kooperieren«/»nichtkooperieren« o. dgl.) denselben Erwartungsnutzen wie die beiderseitige Wahl der non-salient Strategie. Wenn aber aus einem Strategienset > 2 nur eine Strategie salient ist, bedeutet die Wahl der non-salient Strategie das zufällige Auswählen zwischen allen übrigen Strategien. Dadurch entsteht zwar wieder ein Spiel mit zwei Gleichgewichten, aber das eine Gleichgewicht – beiderseitiges salience Beachten – bringt den höheren Erwartungsnutzen. Weil also die Regel »salience beachten« den weiteren Anwendungsbereich hat als die Regel das nicht-saliente tun, ist sie nach Miller rational. Dagegen kann freilich eingewandt werden: Daß in der Entscheidung zwischen zwei Regeln die eine Regel breiter anwendbar ist als die andere, macht sie per se, auf die konkrete Entscheidungssituation bezogen, nicht rationaler. Generalität stiftet hier höchstens selbst wieder eine Form von salience – meta-salience sozusagen. Damit wird das Ausgangsproblem der Entscheidung zwischen konkreten Handlungsoptionen nicht gelöst, sondern bloß auf die Ebene der Entscheidung zwischen Regeln verschoben (Miller, Seumas: Co-ordination, Salience, and Rationality. In: The Southern Journal of Philosophy 29/3 [1991], S. 359–371, insbes. S. 366).
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nomie. Im Rahmen einer Seminarveranstaltung zur Spieltheorie finden sie sich als Probanden mit einer Koordinationssituation konfrontiert: sie haben, unabhängig voneinander, gleichzeitig und für einander unsichtbar, auf einer Schalttafel unter den Optionen »A« und »B« zu wählen, und werden beide prämiert, wenn sie eines der beiden Koordinationsgewichte realisieren, wenn also entweder »A/A« oder »B/B« resultiert. Gleichzeitig ist, für beide sichtbar, ein rotes blinkendes »A« an die Wand projiziert. Es mag nun scheinen, daß damit für beide »A« die eindeutig rationale Wahl darstellt, weil A in dieser Situation salient ist. Nun ist es aber so, daß sich X und Y von früher her aus der gemeinsamen Gymnasialzeit kennen. X und Y waren damals beide ziemlich eigensinnige, ja rebellische Jugendliche. Als solche und auf der Grundlage der beiderseitigen Aversion gegen alles Konventionelle bildeten sie eine Zeitlang zusammen einen Club. Der Name des Clubs war »The Non-Salience Choosers«. Das Programm dieses Clubs bestand, wie schon der Name sagt, vorwiegend darin, daß die Mitglieder unter sich Koordinationsprobleme nach Möglichkeit dadurch lösten, daß sie genau jene Handlungsalternative, die zunächst salient erscheint, nicht wählten, sondern im Falle von zwei Alternativen die non-salient Strategie wählten – also sich begrüßten, indem sie sich die linke Hand gaben, sich auf dem Fahrradweg kreuzten, indem beide nach links auswichen, und sich abends stets in der Bar B trafen, wenn man verabredet hatte, sich in Bar A zu treffen und umgekehrt. All dies war damals, in der gemeinsamen Gymnasialzeit, unter den Clubmitgliedern eine gut eingespielte und unhinterfragte Praxis, bis sich die Wege der Beteiligten nach dem Schulabschluß trennten. Und nun sitzen sich die beiden ehemaligen Clubkollegen einige Jahre später in dem besagten Experiment erstmals wieder gegenüber; man hat sich seit der gemeinsamen Schulzeit nie mehr gesehen. Vor diesem Hintergrund mag es für X und Y in der gegebenen Situation plötzlich durchaus als rational erscheinen, nicht das saliente A, sondern B zu wählen. Aber es ist andererseits lange her, daß sich der Club der »Non-salience-Wähler« aufgelöst hat, und X und Y sind sich nicht sicher, ob der je andere sich nicht inzwischen zum stinknormalen »salience-Beachter« gewandelt hat. 65 Das Gedankenexperiment des Clubs der »Non-Salience Choosers« führt auch zu einem Gegenargument gegen Aki Lehtinen. Lehtinen vertritt die These, daß salience ein rationaler Handlungsgrund im Sinne des orthodoxen Rationalitätsmodells ist (sodaß wir keine wie auch immer geartete »Aufrüstung« der orthodoxen Rationalitätssemantik
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Alles, was dieses Beispiel an dieser Stelle (es wird unten anhand des motorisierten Straßenverkehrs auf den Channel Islands auf lebensnähere Beispiele für dieses Problem zurückzukommen sein) illustrieren soll, ist: jene Handlungsalternative, die David Gauthier in seiner Theorie der Rationalität von Koordination außen vor läßt, ist eine Alternative, von der es zumindest nicht von vornherein und unter allen Umständen völlig absurd ist, anzunehmen, daß sie eine Rolle spielen kann. Diese dritte, von Gauthier ignorierte Handlungsalternative führt zu einem weiteren Gleichgewicht, welches für beide beteiligten genauso gut ist wie beiderseitiges Beachten von salience. Die payoffMatrix stellt sich folgendermaßen dar:
bräuchten, um zu verstehen, weswegen es für die Beteiligten rational ist, sich zur verabredeten Zeit in Bar A (und nicht in Bar B) einzufinden. Lehtinens Argument geht in der Hauptlinie wie folgt. Es ist nicht gewiß, daß ein Interaktionspartner die Handlungsoption »das Nicht-›Saliente‹ tun« überhaupt erwägt. Wenn er sie aber erwägt, ist klar, daß er auch die Option »salience beachten« erwägt. »This is because the option of ›choosing the non-salient‹ can come to the mind of a person only after she has already thought about ›choosing the salient‹, whereas the converse does not hold, i. e. a person can think about choosing the salient without thinking about choosing the non-salient« (Lehtinen, Aki: Salience and Coordination. Can rational players use salience as a coordinating device? Unpubl. Manuskr.). Wenn aber die Interaktionspartnerin die Option »das Nicht-›Saliente‹ tun« mit der Chance p gar nicht in Betracht zieht und p>0 ist, scheint der Erwartungsnutzen der Strategie »salience beachten« größer zu sein als der Erwartungsnutzen der Strategie »das Nicht-›Saliente‹ tun«, weil nämlich in dem Fall, in dem die Interaktionspartnerin die Option »das Nicht-›Saliente‹ tun« gar nicht erwägt, der Erwartungsnutzen der Strategie »salience beachten« größer ist als der Erwartungsnutzen der Strategie »das Nicht-›Saliente‹ tun«, und dieser »Vorteil« durch den Faktor p in die Gesamtnutzenkalkulation eingeht. Dazu ist, wie ich meine, folgendes zu sagen. Nicht zu bestreiten wird wohl sein, daß das Konzept des non-salient tatsächlich im Konzept der salience fundiert ist. Aber daraus kann nicht geschlossen werden, daß die Wahl der salient Strategie per se wahrscheinlicher ist als die Wahl der non-salient Strategie. Zwar braucht es unter Normalbedingungen tatsächlich einen »extra Dreh«, um in Koordinationssituationen überhaupt auf die Idee zu kommen, die non-salient Strategie einzuschlagen. Aber das ist eben eine Frage der Bedingungen. Im Klub der salience-Nichtbeachter kommt es den Beteiligten ganz natürlich vor, daß es die salience von Strategie A rational macht, Strategie B zu wählen. Und in diesem Klub ist es dann wohl auch rational, so zu handeln, wenn man sich abends treffen oder im Straßenverkehr unfallfrei aneinander vorbeikommen will.
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salience beachten
salience ignorieren
das Nicht»Saliente« tun
salience beachten
1/1
0.5/0.5
0/0
salience ignoriere
0.5/0.5
0.5/0.5
0.5/0.5
das Nicht»Saliente« tun
0/0
0.5/0.5
1/1
Die dritte Handlungsoption (das Nicht-»Saliente« tun) fügt dadurch, daß sie beiden Beteiligten offen steht, zu den vier schon genannten fünf weitere mögliche Spielausgänge hinzu. Wenn einer von beiden das Nicht-»Saliente« tut, der andere aber salience beachtet, kommt Koordination nicht zustande. Wenn einer entweder salience beachtet oder die nicht-»saliente« Handlungsoption wählt, der andere aber salience ignoriert, besteht je eine 50 %-Chance, daß Koordination gelingt. Wenn aber beide das Nicht-»Saliente« tun, kommt Koordination zustande. David Gauthiers These, daß salience im Rahmen des orthodoxen Rationalitätsmodells einen rationalen Handlungsgrund darstellt, scheitert daran, daß es zwar im Sinne des individuellen Erwartungsnutzenoptimierens rational ist, die Strategie »salience beachten« der Strategie »salience ignorieren« vorzuziehen. Zwischen den Alternativen »salience beachten« und »das Nicht-›Saliente‹ tun« ist ein homo oeconomicus hingegen völlig indifferent. Gauthiers Transformations-Argument leistet also nicht, was es zu leisten vorgibt: es transformiert nicht ein Spiel mit zwei gleich guten Gleichgewichten in ein Spiel mit einem besten Gleichgewicht. Es fügt bloß den beiden Strategien eine dritte, offensichtlich unterlegene bei. Die eingangs gestellte Frage bleibt daher weiterhin offen: weshalb ist salience ein rationaler Handlungsgrund, beziehungsweise: vermag die Rationalitätstheorie des ökonomischen Verhaltensmodells dem Kriterium zu genügen, unserer starken Alltagsintuition zu entsprechen, daß salience ein rationaler Handlungsgrund ist – oder desavouiert hier das ökonomische Verhaltensmodell unsere Alltagsintention? Margaret Gilbert vertritt Gauthier gegenüber die These, daß
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salience kein rationaler Handlungsgrund ist. 66 Ihr Argument ist, daß salience, wie wir eben gesehen haben, den Zirkel der Interdependenz der Erwartungen nicht zu durchbrechen vermag. Salience allein bietet dem Handlungsfolgekalkül keinen Halt. Denn »salience beachten« ist nur dann rational, wenn man Grund zur Annahme hat, daß auch der andere dieselbe Option wählen wird, was in den unendlichen Zirkel von Entscheidung und Erwartung zurück führt. »In the context at issue, reason-replication is an indefinite and useless process.« 67 Die Beachtung von salience ist deshalb nach Gilbert letztlich zwar ein empirisch zuverlässig erwartbarer, aber nichtsdestotrotz letztlich irrationaler Vorgang. Gilbert beruft sich in ihrer radikalen Deutung auf David Humes bekannte These, daß wir faktisch aber nicht rationalerweise aus Wiederholungen Erwartungen ableiten, wie auch auf Ludwig Wittgensteins Ansicht, daß wir, wenn wir Regeln folgen, dies gleichsam »blind« und »grundlos« tun. Für Gilbert ergibt sich aus alledem folgendes Bild: »If we insist that the salient combination is what should be chosen, it seems that we may well be involved in the projection of an unreasoned compulsion on to reason. If this makes it easier for each of us to choose the salient, then perhaps it is just as well, as a matter of practice, if not of theory.« 68 Gilbert leitet mithin aus der Tatsache, daß Entscheidungen in Situationen interdependenter Erwartungen nicht in unabhängigen bzw. »externen« Erwartungen begründet werden können, ab, daß es überhaupt keinen rationalen Grund für das Anstreben eines salient Gleichgewichtes gibt – umso besser sei es freilich, daß wir das im praktischen Handeln zu vergessen scheinen. Mit dieser provokativen These, die gleichsam einen Keil zwischen Alltagspraxis und rationale Reflexion bzw. konzeptuelle Rekonstruktion von Koordination treibt, bewegt sich Gilbert übrigens auf den Spuren von Thomas C. Schelling, einer der »Gründerfiguren« dieser ganzen Debatte. Auch Schelling (dessen Leistung freilich eher in der Beschreibung von Koordinationsphänomenen besteht als in ihrer abschließenden Analyse) deutet nämlich selbst eine letztlich irrationalistische Position in der Theorie der Koordination an. So schreibt er über reine Koordinationsspiele: »Most situations – perhaps every situation for people who are practiced at this kind of game – provide some clue for coor66 67 68
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Vgl. dazu Gilbert 1990; 1996. Gilbert 1990, S. 4. Gilbert 1996, S. 36.
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dinating behavior, some focal point for each person’s expectation of what the other expects him to expect to be expected to do. Finding the key, or rather finding a key – any key that is mutually recognized as the key becomes the key – may depend on imagination more than on logic; it may depend on analogy, precedent, accidental arrangement, symmetry, aesthetic or geometric configuration, casuistic reasoning, and who the parties are and what they know about each other.« 69 Irrationalistische Positionen, welche das Beachten von salience bzw. das Anzielen von focal points in reinen Koordinationssituationen nicht im eigentlichen Sinn des Worts als rational bezeichnen, sehen sich sofort mit zwei Fragen bzw. Einwänden konfrontiert. Die erste Frage ist: weswegen wird empirisch in reinen Koordinationssituationen so zuverlässig die salient Strategie gewählt (wenn es eine solche gibt), wenn es nicht rational ist, diese salient Strategie zu wählen? Und die zweite Frage ist: woher kommt (und weswegen hält sich) die starke vortheoretische Intuition, daß so etwas wie Rechtsfahren rational ist, wenn sie doch so grundverkehrt ist? Die erste Frage wird – wie gesehen – mit »blindem« Verhalten bzw. a-rationaler Gewohnheit (Gilbert), mit »analogy, precedent« o. dgl. (Schelling) beantwortet, oder in anderen irrationalistischen Theorien der Koordination mit so etwas wie a-rationalen Impulsen. 70 Diese Antwort vermag freilich nicht zu überzeugen. Manchmal kommt Koordination nämlich nicht durch Gewohnheiten, Orientierung an Präzedenzfällen und »blindes« bzw. impulsives Verhalten zustande, sondern im Gegenteil gerade dadurch, daß wir unsere Gewohnheiten brechen bzw. unseren blinden Impulsen widerstehen. Nehmen wir der Abwechslung halber einmal ein reales (Gegen-)Beispiel. Ein Großteil der vielen Touristen, die die Insel Jersey (die größte der Channel Islands) besucht, kommt von Kontinentaleuropa. Dies mag auch damit zu tun haben, daß Jersey nur ca. vierzehn Kilometer Schelling 1969, S. 57; Herv. z. T. von mir. Vgl. dazu Thalos, Mariam: Degrees of Freedom: Towards a Systems Analysis of Decision. In: Journal of Political Philosophy 7 (1999), S. 453–477, S. 463: »I am moved in the first instance to choose a prominent point not because I have reason to believe you will choose it, or a reason to believe you will think I will choose it, or anything of the kind. (…) I choose in the first instance simply because the point of reference (i. e. the salient, H. B. S.) exerts a certain pressure directly on my will, which I can but do not elect to resist«. Für Thalos liegt das ganze Problem der Theorie der Koordination in einem »Kantian« Zuschnitt der orthodoxen Entscheidungstheorie, die diese Form der »rationalen Heteronomie«, das direkte Bestimmtwerden per »Impuls«, ausschließt. 69 70
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vor der französischen Küste liegt. Es gibt zwar öffentliche Transportmittel auf der Insel; aber um die schönsten und abgelegensten Strände und Aussichtspunkte der Insel zu erreichen, bevorzugen viele der Touristen private Verkehrsmittel. Sie mieten dazu entweder einen Wagen bei einer der zahlreichen ansässigen car rental companies, oder aber sie bringen ihren eigenen Personenwagen per Autofähre vom Kontinent mit auf die Insel, nicht selten für nicht mehr als einen Tagesausflug. Die meisten Straßen auf Jersey sind relativ schmal, nach südenglischem Muster auf beiden Seiten von Hecken begrenzt und ohne Spurtrennung. Aus den dichten Hecken ragen manchmal einzelne Zweige auf die Fahrbahn; um den Wagen vor Kratzspuren zu schützen, fahren die meisten Fahrer deshalb auf der Mitte der Fahrbahn, und bewegen sich nur zur Seite, um dem gelegentlichen Gegenverkehr Platz zu machen. Wegen der »very special relationship« der States of Jersey zur Englischen Krone gilt nun aber auf der Insel der Linksverkehr. Die zahlreichen kontinentaleuropäischen Touristen, die auf der Insel einen Wagen lenken, müssen sich deshalb umstellen. Dies fällt ihnen dem Augenschein nach zu schließen überraschend leicht. Klar scheint: das beobachtbare und sicher erwartbare koordinierte Verhalten dieser kontinentaleuropäischen Wagenlenkerinnen und Wagenlenker ist weder über Präzedenzfällen, Gewohnheiten oder Impulse zu erklären. Denn diesen Fahrerinnen und Fahrern gelingt Koordination nicht wegen, sondern trotz ihrer Gewohnheiten und Impulsen. Sie koordinieren sich nicht, indem sie Gewohnheiten oder Impulsen folgen, sondern indem sie diese unterdrücken. Dieses Verhalten scheint mit der irrationalistischen Position kaum zu erklären zu sein; zumindest reicht hier der Hinweis auf Gewohnheiten, Impulse u. dgl. nicht hin. Diese kontinentaleuropäischen Fahrerinnen und Fahrer handeln nicht »blind«; im Moment, in dem sie des entgegenkommenden Verkehrs ansichtig werden, sind ihnen die beiden Handlungsalternativen »nach rechts ausweichen« (die »gewohnte«, impulsgestützte Strategie) und »nach links ausweichen« (die Strategie, die man sich für die Inselexkursion vorgenommen hat) äußerst bewußt. Offensichtlich ist hier Koordination nicht über »blindes Regelfolgen«, »Gewohnheit«, »Impuls« u. dgl. zu erklären. Und überhaupt scheint es schwierig, sich dieses Verhalten motivational zu erklären, wenn man, wie die Vertreterinnen der irrationalistischen Position dies tun, nicht darauf rekurrieren will, daß die Beteiligten es als rational empfinden, sich an die Linksfahrregel zu halten, wenn das Gelten dieser Regel und die Absenz suizidaler 356
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Präferenzen common knowledge sind. Denn wie könnte diese Meinung so universal verbreitet sein, wenn sie falsch wäre, wenn also das Beachten von salience in Koordinationssituationen nicht tatsächlich rational wäre? Dies mag dazu motivieren, noch einmal zu versuchen, anhand des gegebenen Beispiels das Beachten von salience als rationales Verhalten zu deuten. Man mag auch hier zunächst versucht sein, bloß auf so etwas wie parametrische Rationalität zu setzen – Rationalität im Sinne der Überlegung: »da ich im Geltungsbereich der Linksfahrregel bin und die hiesigen Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer aufgrund der Linksfahrkonvention bekanntlich mit großer statistischer Wahrscheinlichkeit nach links ausweichen, ist es auch für mich im Interesse der Kollisionsvermeidung (also im schlichten Sinn des Eigennutzens) rational, mich links zu halten«. Aber das reicht zur Erklärung nicht hin, wie sich an folgendem auf Jersey völlig alltäglichem Ereignis zeigt: Kontinentaleuropäische Wagenlenkerinnen weichen nicht nur dem entgegenkommenden einheimischen Verkehr zuverlässig nach links aus. Sondern auch dann, wenn die beiden einander entgegenkommenden Fahrer aus Kontinentaleuropa kommen und für einander am Nummernschild und an der Position des Fahrersitzes im Wagen erkennbar sind, wird zuverlässig die Linksfahrregel beachtet. Mir scheint es nicht unplausibel, anzunehmen, daß diese Fahrerinnen und Fahrer genau wissen, daß die entgegenkommende Person nicht einfach »automatisch« links fährt, sondern ebenfalls eine sehr bewußte Entscheidung über die anstehenden Alternativen »der kontinentalen Gewohnheit folgen« (also nach rechts ausweichen) oder »der lokalen Norm folgen« (also nach links ausweichen) fällen. Diese Fahrer können dann nicht einfach im Sinn der parametrischen Rationalität mit einem bestimmten Verhalten des anderen »rechnen«, sondern die anstehende Entscheidungssituation ist ihnen als eine transparent, in der die Erwartungen interdependent sind; wenn sie, wie sie das ganz alltäglich tun, sich für das Einhalten der Linksfahrkonvention entscheiden, und wenn man diese Entscheidung eine rationale Entscheidung nennen will, dann ist er jedenfalls rational nicht in einem parametrischen, sondern eher in einem strategischen (also durchaus mit der Rationalität bzw. überhaupt der Entscheidungsfreiheit der Interaktionspartner rechnenden) Sinn. Natürlich ist das gewählte Beispiel ein »außeralltägliches«. So etwas ist nicht der Normalfall koordinierten Verhaltens. Aber das A
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heißt nicht, daß dieses Beispiel für die Struktur alltäglicher Koordination irrelevant ist. Zwar mag es richtig sein, daß wir als sozial Handelnde Standard-Koordinationssituationen im Normalfall faktisch »blind« bewältigen, also gar keine »rationale Wahl« im Sinne einer tatsächlich und aktuell überlegten, bewußten Wahl treffen. Wenn wir uns als Fahrradfahrer auf dem Radweg kreuzen, indem sich beide rechts halten, tun wir das nicht überlegt; es ist vielmehr so, als würde die Konvention direkt unser Verhalten festlegen. Aber aus dieser Tatsache zu schließen, daß es tatsächlich keinen rationalen Grund für uns als Handelnde gibt, uns an die (für das gegenwärtige Gedankenexperiment als nichtsanktioniert vorgestellte) Rechtsfahrregel zu halten, scheint mir falsch zu sein. Vielmehr muß die »Blindheit« bzw. »Routiniertheit« unserer Alltagspraxis selbst aus unserer Hintergrundüberzeugung verstanden werden, daß es hinreichend gute Gründe für unser »blindes« Rechtsfahren bzw. unser »unüberlegtes« Aufsuchen von Bar A aus dem obigen Beispiel gibt. Daß wir faktisch »blind« handeln, also die entsprechende Entscheidungssituation gar nicht gemäß den Theorievorgaben konzeptualisieren, spricht gerade nicht dafür, daß wir hier auf Rationalität bzw. rationale Gründe nicht angewiesen sind bzw. gut darauf verzichten und in der Theorie der Koordination auf reine Impulse o. dgl. umstellen können. Vielmehr ist es so, daß wir diesen Routinen in der stillschweigenden Überzeugung folgen, daß es dafür gute (bzw. rationale) Gründe gibt – und noch einmal: wer wollte ernstlich bestreiten, daß es rational ist, sich als Teilnehmer am kontinentaleuropäischen Straßenverkehr rechts zu halten, wenn man selbst keine suizidalen Präferenzen hat und auch keine solchen beim Gegenüber vermutet? Mithin reicht es nicht, das rationalitätstheoretische Problem hier im Hinweis auf eine ja meist problemlos funktionierende »blinde Alltagspraxis« für obsolet zu erklären. Dies zeigt sich insbesondere daran, daß wir davon ausgehen können, daß im Falle des Ausfallens von blinden Verhaltensautomatismen etc. das rationale Überlegen in die Lücke springen kann und wird. Somit scheint die Analyse in einem Dilemma zu enden. Einerseits scheint es richtig, an der vortheoretischen Intuition festzuhalten, nach der es in reinen Koordinationssituationen rational ist, salience zu beachten (zumindest aber scheint es kaum erklärbar, weshalb denn faktisch salience zuverlässig beachtet wird, wenn dieses Verhalten nicht rational ist). Andererseits aber scheint das Argument nicht von der Hand zu weisen zu sein, welches darauf hinweist, daß die 358
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Wahl der salient Strategie in reinen Koordinationssituationen nur hypothetisch rational ist – was auch von allen anderen Strategien gilt. Es zeichnet sich ein Konflikt zwischen einer starken und in unserer Alltagspraxis fest verankerten vortheoretischen Intuition und unseren Theoriemitteln ab. Denn die Intuition, daß das Beachten von salience rational ist, scheint durch unser theoretisches Rationalitätsverständnis nicht gedeckt zu sein. Alles, was zugunsten der Rationalität von salience gesagt wird, versinkt sofort im infiniten Regreß der Interdependenz der Erwartungen. In dieser Situation mag es ratsam erscheinen, genauer zu besehen, wie dieses Problem in anderen Diskussionskontexten verhandelt worden ist. Unter den »großen« sozialtheoretischen Entwürfen sind es einzig Talcott Parsons und in seinem Gefolge Niklas Luhmann, die diesem Phänomen der Handlungskoordination bzw. der Interdependenz von Erwartungen den theoretischen Rang eingeräumt haben, den es verdient. Beide, Parsons wie Luhmann, leiten ihren theoretischen Zentralbegriff, den Begriff des sozialen Systems, aus diesem Phänomen ab und weisen der Interdependenz der Erwartungen dadurch sozusagen den Status des sozialen »Urphänomens« zu. An Situationen wie der geschilderten zeigt sich nach Parsons wie nach Luhmann, was Sozialität im Kern ausmacht. Daß Sozialtheorie in den Augen dieser Autoren Systemtheorie sein muß, begründen beide Autoren dabei wesentlich damit, daß es nur eine Systemtheorie sein kann, die der Struktur interdependenter Erwartungen theoretisch gerecht zu werden mag. Ob die von Parsons und Luhmann gegebene Analyse dann diesem Anspruch auch gerecht zu werden vermag, ist dementsprechend eine Frage, die keinen Randbereich der Systemtheorie, sondern ihren eigentlichen Kern betrifft. Und sie ist es, welche uns hier beschäftigt; wobei »theoretisches Gerechtwerden« heißt: zeigen können, wie Entscheidungen unter Bedingung interdependenter Erwartungen zustande kommen. Wenden wir uns deshalb in einem kurzen Exkurs der systemtheoretischen Beantwortungsstrategie zu. Die frühesten Aufsätze des amerikanischen Soziologen Talcott Parsons sind zumindest in einer Hinsicht äußerst aktuell – vielleicht aktueller noch als manche seiner späteren, breiter rezipierten Arbeiten. Denn Parsons setzt sich hier, im Frühwerk, ebenso intensiv wie kritisch mit dem auseinander, was gegenwärtig unter dem Titel des »ökonomischen Verhaltensmodells« in verwandelter Form wieder Teile der sozialwissenschaftlichen Szene bestimmt. »Ökonomischer A
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Imperialismus«, »Atomismus«: das sind Begriffe, die beim frühen Parsons nicht weniger zentral sind als in der gegenwärtigen sozialtheoretischen Debatte. 71 Der Abstoß von der atomistischen »Crusoe economics« ist auch noch in Parsons’ erstem Hauptwerk The Structure of Social Action wichtig. 72 Wie in den frühen Aufsätzen wendet sich Parsons zugleich gegen die Begründung von sozialer Ordnung in individuellen Eigeninteressen, und zwar sowohl gegen die These von der Konvergenz der individuellen Präferenzen per »unsichtbarer Hand« wie auch gegen die vertragstheoretische Gegen- bzw. Komplementärposition, daß erst die Konstitution einer Zentralgewalt bzw. gesellschaftliche Ordnung unter individuellen Präferenzoptimierern ermöglicht. 73 In Parsons’ von Weber übernommener Terminologie von Zweck und Mittel ausgedrückt: soziale Ordnung ist nicht zu begreifen, wenn man von individuellen Zielen ausgeht, die entweder direkt per unsichtbarer Hand oder dann per (letztlich wiederum in Individualinteressen legitimierten) sanktionierender Zentralgewalt sozusagen nachträglich zu einem Gemeinsamen verbunden werden. Soziale Ordnung adäquat zu verstehen verlangt nach Parsons vielmehr, die atomistische Prämisse, daß Handlungsziele stets eine individuelle Angelegenheit sind, fallenzulassen. Soll soziale Ordnung möglich sein muß vielmehr gelten »that men’s ends should not be separate, and either forcibly restrained or miraculously compatible, but in fact, in a given society, held in common.« 74 Für seinen eigenen frühen handlungstheoretischen Ansatz in der Theorie der gesellschaftlichen Ordnung wie für dessen spätere systemtheoretische Transformation bzw. Reformulierung ist dabei der Ansatz bei der Interdependenz der Erwartung grundlegend, ja in gewisser Weise ist die Interdependenz der Erwartungen zugleich der Grund für die Kritik am ökonomischen Ansatz und definiens des Sozialen (und damit natürlich auch das, worüber die Sozialwissenschaften in ihrer Eigenart zu bestimmen sind bzw. worin sie ihre Einheit haben). Diese für soziale Situationen charakteristische InterdepenVgl. dazu etwa die frühen Aufsätze »Some Reflections on ›The Nature and Significance of Economics‹« [1934] und »Sociological Elements in Economic Thought« [1935] in: Parsons, Talcott: The Early Essays. Hrsg. von Charles Camic, Chicago/London 1991, S. 153–229. 72 Parsons, Talcott: The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with special Reference to a Group of Recent European Writers [1937]. Glencoe Ill. 1949, S. 767. 73 Vgl. Parsons [1935]/1991, S. 191. 74 Parsons [1934]/1991, S. 158; Herv. von mir. 71
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denz der Erwartungen ist bei Parsons ein über die ganze Werkentwicklung hinweg wichtiges Motiv. In einer späteren, aber besonders klaren Formulierung stellt Parsons sie folgendermaßen dar: »In interaction ego and alter are each objects of orientation for the other. The basic differences from orientation to nonsocial objects are two. First, since the outcome of ego’s action (e. g. success in the attainment of a goal) is contingent on alter’s reaction to what ego does, ego becomes oriented not only to alter’s probable overt behavior but also to what ego interprets to be alter’s expectations relative to ego’s behavior, since ego expects that alter’s expectations will influence alter’s behavior. Second, in an integrated system, this orientation to the expectations of the other is reciprocal or complementary.« 75
Jegliche menschliche Interaktion impliziert, wie es auch heißt, ein »element of double contingency«. 76 »Doppelte Kontingenz« – »Kontingenz« ist hier nicht im modalen Sinne des »Auch-anders-seinKönnens«, sondern im Sinne von engl. »to be contingent on« gemeint – heißt: egos Entscheidung zwischen gegebenen Handlungsalternativen ist abhängig von seiner Erwartung bezüglich alters Entscheidung, welche ihrerseits auf alters Erwartung bezüglich egos Entscheidung beruht. 77 Und: diese Interdependenz von Handlung und Erwartung, so darf man wohl hinzufügen, ist nicht nur beiderseitig, sondern auch beiderseits bekannt. Wie aber wird in dieser Situation Koordination möglich? Parsons’ Äquivalent für die spätere Diskussion rund um salience und focal points im Anschluß an Thomas C. Schelling und David Lewis, sein Streich durch den gordischen Knoten der Interdependenz der Erwartungen bzw. seine Lösung des Koordinationsproblems ist: Was soziales Handeln (und damit letztlich gesellschaftliche Ordnung) in dieser Situation der Interdependenz von Erwartungen ermöglicht, ist eine gemeinsame normative Parsons, Talcott/Shils, Edward A.: Categories of the Orientation and Organization of Action. In: dies. (Hrsg.): Toward a General Theory of Action. Cambridge Mass. 1959, S. 53–109, hier S. 105. 76 Parsons, Talcott: The Social System. Glencoe Ill. 1951, S. 10. 77 »The expectations of ego are oriented both to the range of alternatives for alter’s actions (…) and to alter’s selection, which is intentionally contingent on what ego himself does, within the range of alternatives. The obverse is true for alter« (Parsons, Talcott/Shils, Edward: Some Fundamental Categories of the Theory of Action: A General Statement. In: dies. [Hrsg.]: Toward a General Theory of Action. Cambridge Mass. 1959, S. 3–29, hier S. 15). Vgl. zum Motiv der »double contingency« bei Parsons auch ders.: Artikel »Social Interaction«, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 7, New York 1968, S. 429–441. 75
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Ordnung; 78 es sind Symbolsysteme, Konventionen, Normen, Werte, kurz: Kultur. Kultur sichert nämlich erstens Bedeutungsidentität (welche in der spieltheoretischen Fassung des Problems schon vorausgesetzt ist). Zweitens (und vor allem) ermöglicht eine gemeinsame normative Ordnung dem individuellen Eigeninteresse in der Situation der doppelten Kontingenz eine »rationale Wahl«. Und dies folgendermaßen: »Generally, in so far as the normative standards in terms of which ego and alter are interacting are shared and clear, favorable reactions on the part of alter will tend to be stimulated by ego’s action conforming with the standards in question, and the unfavorable, by his deviating from them (and vice versa of course). The result of this circumstance is the tendency for the conformitydeviation dimension and the favorable-unfavorable or the gratification-deprivation dimension to coincide. In other words the basic condition on which an interaction system can be stabilized is for the interests of the agents to be bound to conformity with a shared system of value-orientation standards.« 79
Kulturelle Normen und Konventionen entproblematisieren die Situation doppelter Kontingenz, indem sie dem »rationalen Handeln« im Sinne des individuellen Eigeninteresses eine bestimmte Handlungsoption vorgeben. Eine der möglichen Optionen erhält sozusagen das label bzw. Prädikat »rollenkonform«, die anderen Optionen erscheinen als »deviant«. Allerdings liegt es, wie Parsons klar sieht, nicht einfach per se im Eigeninteresse der Beteiligten, mit den bestehenden Konventionen konform zu gehen. Vielmehr müssen die Unterscheidungen von Konformität und Devianz einerseits und von Nutzen und Kosten andererseits zur Deckung gebracht werden. Was Parsons zu diesem Zweck hier neu ins Spiel bringt ist das Moment der Sanktion (»favorable/unfavorable reactions«). Durch die Sanktionierung abweichenden Verhaltens (hier als durch die Beteiligten selbst durchgeführt vorgestellt) werden, so Parsons, Normkonformität und Eigeninteresse zur Koinzidenz gebracht. Am obigen Fahrzeuglenker-Beispiel wird man sich dies etwa so verdeutlichen können: wenn einer der Fahrzeuglenker nach links ausweicht, also »The most important single condition of the integration of an interaction system is a shared basis of normative order. Because it must operate to control the disruptive potentialities (for the system of reference) of the autonomy of units (…) such a basis of order must be normative. It must guide action by establishing some distinctions between desirable and undesirable lines of action which can serve to stabilize interaction« (Parsons 1968, S. 439). 79 Parsons 1951, S. 37 f. 78
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gegen die Rechtsfahr-Norm verstößt, und dadurch mit dem korrekt Fahrenden kollidiert, wird ihn dieser sanktionieren. Die Entscheidungssituation ändert sich dadurch beispielsweise wie folgt: rechts fahren links fahren rechts fahren
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–1/–2
links fahren
–2/–1
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Angenommen ist: zum Kollisionsschaden (–1) kommt beim Normverletzer noch ein zusätzlicher erwarteter Schaden durch die Sanktionierung (durch den Interaktionspartner) hinzu. Beidseitiges Normverletzen bleibt hingegen ungeahndet. Zwar hat dieses Spiel immer noch zwei Gleichgewichte, aber »rechts fahren« wird jetzt zur schwach dominanten Strategie. 80 Zusätzlich kann nun aber auch angenommen werden, daß die Rechtsfahrnorm nicht nur informell besteht, sondern rechtlich kodifiziert ist 81 und Abweichungen dementsprechend durch eine unabhängige Instanz (den Staat) sanktioniert wird. Nehmen wir also an, die beiden Fahrer wissen um die (freilich geringe) Chance, von der Polizei beobachtet und für einen Normverstoß gebüßt zu werden, auch wenn dieser Normverstoß beidseitig geschieht (und Koordination also zustande kommt): rechts fahren links fahren rechts fahren
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Auch hier ist »rechts fahren« schwach dominant. Aus einem Spiel mit zwei gleich guten Gleichgewichten wird jetzt aber zusätzlich ein Spiel mit einem Pareto-optimalen und einem Pareto-inferioren Gleichgewicht. Tatsächlich würde man hier vermuten, daß Parsons’ These von der Koinzidenz von Normkonformität und Eigeninteresse 80 Dies insofern, als die summierten payoffs von »rechts fahren« für beide Teilnehmer höher sind (–1) als jene der Strategie »links fahren« (–2). 81 Im Schweizerischen Straßenverkehrsgesetz heißt es so lapidar: »Der Fahrzeugführer muss rechts fahren. Er kann auf gewölbten oder sonst schwer zu befahrenden Strassen und in Linkskurven von dieser Regel abweichen, wenn die Strecke übersichtlich ist und weder der Gegenverkehr noch nachfolgende Fahrzeugen behindert werden« (Art. 34 Abs. 1 SVG).
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(also Rationalität) zutrifft; nicht nur, weil das Gleichgewicht »rechts«/»rechts« besser ist als das Gleichgewicht »links«/»links«, sondern auch aus schierer Risikoaversion: im Fall einer Kollision ist es sinnvoll, nicht selbst derjenige gewesen zu sein, der von der Rechtsfahrkonvention abgewichen ist (sonst kommt zum Schaden nämlich noch die Schuld hinzu). Aber selbst wenn man von diesem letzteren Punkt einmal absieht: Nichts scheint offensichtlicher, als daß es im eigenen Interesse liegt (und insofern im simpelsten orthodoxen Sinn rational ist), in einem Spiel mit einem einzigen optimalen Gleichgewicht die entsprechende Strategie zu wählen. Dies besagt auch David Gauthiers bekanntes »Principle of Coordination«: »In a situation with one and only one outcome which is (…) a best equilibrium, if each person takes every person to be rational and to share a common conception of the situation, it is rational for each person to perform that action which has the best equilibrium as one of its possible outcomes.« 82 Es gibt, soweit ich sehe, wenig Grund, daran zu zweifeln, daß dies faktisch so ist, und die folgenden Überlegungen wollen dies auch nicht in Zweifel ziehen. Die Frage ist nicht die, ob das »Principle of Coordination« gilt, sondern vielmehr: warum? In welchem Sinn des Wortes »rational« ist das »principle of coordination« tatsächlich ein rationales Prinzip? In der entsprechenden Diskussion gibt es nämlich Zweifel daran, daß das Rationalitätsmodell des individuellen Präferenzoptimierens, das Modell einer rein individualistisch verstandenen Handlungsrationalität, hier zureicht. Ein prominentes Beispiel dafür sind John Harsanyi und Robert Selten. Harsanyi und Selten reformulieren in ihrer monumentalen General Theory of Equilibrium Selection in Games das principle of coordination unter einem anderen Titel, jenem der »payoff dominance«. 83 Dabei machen sie im Postskriptum ihres Buches deutlich, daß sie in diesem Prinzip der Handlungsrationalität (wie das principle of coordination besagt es im Grunde, daß Akteure bei Nichtvorliegen von Gegengründen unter mehreren Gleichgewichten jeweils das bessere anzielen) ein nicht aus der individuellen Rationalität ableitbares Prinzip der Handlungsrationalität sehen, mithin also eine Form von Rationalität, welche nicht auf das indiviGauthier 1975, S. 201. Vgl. Harsanyi, John C./Selten, Robert: A General Theory of Equilibrium Selection in Games. Cambridge Mass. 1988, S. 80–82.
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duelle Präferenzenoptimieren reduzibel ist, sondern einen irreduzibel kollektiven Charakter habe. In Koordinationssituationen reicht, so der Schluß von Harsanyi und Selten, die individuelle Rationalität nicht zu; es brauche auch eine irreduzible »collective rationality«. 84 Aber warum sollte individuelle Rationalität hier nicht zureichen? Warum sollte hier eine kollektive Note ins Spiel kommen? Klar ist doch: im Unterschied zu den weiter oben diskutierten Beispielen ist nun (im Falle der sanktionierten Konvention) der Erwartungsnutzen der konventionellen Strategie höher als jener der anderen Strategie. Indes ist klar: »Rational« ist die Wahl der entsprechenden Strategie nur dann, wenn man davon ausgeht, daß der Interaktionspartner ebenfalls mit einer »hinreichenden subjektiven Wahrscheinlichkeit« die konventionelle Strategie wählt. Mithin gilt: rein durch den Unterschied im payoff der Gleichgewichte und durch die schwache Dominanz der »konformen« Strategie 85 ändert sich nichts Harsanyi und Selten schreiben: »Our theory uses two independent, and ostensibly very different, criteria of rationality. One of them, risk dominance, is based on individual rationality: it es an extension of Bayesian rationality from one-person decisions to n-person games involving strategic interaction among n players, each of them guided by Bayesian rationality (…). In contrast, payoff dominance is based on collective rationality: it is based on the assumption that in the absence of special reasons to the contrary, rational players will choose an equilibrium point yielding all of them higher payoffs, rather than one yielding them lower payoffs. That is to say, it is based on the assumption that rational individuals will cooperate in persuing their common interest if the conditions permit them to do so« (Harsanyi/Selten 1988, S. 365). Siehe dazu auch etwa Robert Sugdens Diskussion des »prisoner’s coordination problem« in ders.: Thinking as a Team: Towards an Explanation of Nonselfish Behavior. In: Social Philosophy and Policy 10 (1993a), S. 69–89. 85 Das anstehende Problem läßt sich auch ohne diese »schwache Dominanz« formulieren. Dies veranschaulicht die folgende Entscheidungssituation: 84
Strategie A Strategie B Strategie A
1/1
0/1
Strategie B
1/0
0/0
In diesem Beispiel ist der Erwartungsnutzen beider Strategien für beide Beteiligten exakt gleich. Vom Standpunkt der orthodoxen Spieltheorie aus gesehen ist hier nur folgendes zu sagen: alle vier möglichen Ausgänge sind rein-strategische Koordinationsgleichgewichte; es gibt weder eine stark dominante noch eine schwach dominante Strategie; es gibt auch für gemischte Strategien kein alleiniges Gleichgewicht. Das heißt: keine der Strategien ist »rationaler« als die andere; alle vier möglichen Spielausgänge sind deshalb gleich wahrscheinlich. Aber dies scheint nur zu zeigen, mit welcher Blindheit das spieltheoretische InstrumenA
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an der grundsätzlichen Struktur der Interdependenz der Erwartungen. Auch in dieser Situation gilt, trotz aller Sanktionierung von Devianz: rechts fahren ist faktisch die rationale Entscheidung – vorausgesetzt, man kann davon ausgehen, daß der andere dieselbe Entscheidung trifft; dieselbe »hypothetische Rationalität« hat aber auch die Entscheidung »links fahren«. Aus der hypothetischen Rationalität der beiden Handlungsoptionen läßt sich aber die faktische Rationalität der Entscheidung für »rechts fahren«, wie sie unserem intuitiven Rationalitätsbegriff entspricht, wiederum nicht ableiten. Dies aber bringt den Rationalitätsbegriff, der dem ökonomischen Verhaltensmodell zugrunde liegt, in scharfen Konflikt mit unserem vortheoretischen Rationalitätsverständnis, für welches klar ist: wo keine suizidalen Präferenzen zu vermuten sind, und die Rechtsfahrregel allgemein bekannt ist, ist Rechtsfahren die rationale Strategie – Punktum. Bauen wir zur Illustration der anstehenden Problematik das Beispiel aus dem motorisierten Straßenverkehr etwas aus. Nehmen wir an, die Polizei wird zu einer Unfallstelle gerufen. Auf einer engen, nicht spurgetrennten Straße hat sich eine Frontalkollision ereignet. Da beide Wagen auf der unübersichtlichen und kurvigen Strecke sehr langsam fuhren, ist glücklicherweise niemand verletzt. Allerdings ist an den beteiligten Fahrzeugen einiger Sachschaden entstanden. Schon auf den ersten Blick scheint klar, wer den Unfall verursacht hat: einer der Wagen ist offenbar auf die Fahrbahnseite des korrekt entgegenkommenden anderen Wagens geraten. Die Polizei befragt nun den fehlbaren Fahrer. Hat er die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren? War er unaufmerksam oder abgelenkt? Hat die Technik versagt? Der Fahrer verneint alle diese Fragen. Auch hat er, wie er sagt, den korrekt entgegenkommenden Wagen früh genug gesehen. Die Verkehrsregeln sind ihm bekannt, und er hatte, wie er der Polizei gegenüber betont, keine suizidalen Präferenzen noch irgendeinen Grund, solche beim entgegenkommenden Fahrer zu vermuten. Aber warum ist er dann auf der falschen Fahrbahnseite gefahren? »Alles, was ich wollte, war: unfallfrei am entgegenkommenden Fahrzeug vorbeikommen«, sagt er ruhig. »Aber ich konnte einfach nicht sehen, warum ich zu diesem Zweck auf meiner eigenen Fahrbahnseite bleitarium schlägt. Es ist offensichtlich, daß hier im Sinne eines vortheoretischen Rationalitätsbegriffes Strategie A die rationale Entscheidung ist – was offenbar über das spieltheoretische Rationalitätsmodell hinausweist!
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ben (und nicht auf der anderen Fahrbahnseite fahren) sollte«. Die Fahrerin des entgegenkommenden Fahrzeugs hat sich inzwischen hinzugesellt; sie hat dem Wortwechsel zwischen dem anderen Fahrer und der Polizei zugehört und all diese Erklärungen vernommen. Nach dem letzten Satz verliert sie verständlicherweise die Fassung, und eine verächtliche Bemerkung bezüglich des Verstandes unseres Fahrers entgleitet ihr. Dies hinwiederum führt zu einer bemerkenswerten Veränderung in der Haltung des schuldigen Fahrers. Plötzlich verliert er seine Ruhe: »Ich weiß, daß ich im Sinne des Gesetzes schuldig bin, und ich akzeptiere jede mir auferlegte Strafe«, sagt er. »Aber ich verbitte mir alle Anschuldigungen, die sich auf die Rationalität meines Vorgehens beziehen. Ich habe mich nämlich zwar deviant, aber keineswegs irrational verhalten. Zwar weiß ich jetzt, im Nachhinein und in der Rückschau, daß ich besser auf meiner Fahrbahnseite hätte bleiben sollen; im Nachhinein ist man immer klüger. Aber das heißt nicht, daß ›rechts‹ auch in der Situation, in der ich diese Entscheidung fällen mußte, die rationale Wahl gewesen wäre. Als ich den entgegenkommenden Fahrer sah, mußte ich eine Entscheidung über die verfügbaren Handlungsalternativen wählen. Und selbst hardcore-Konventionalisten werden zugeben müssen: wenn es das geeignete Mittel ist, eine Kollision zu verhindern, wäre es – trotz aller Illegalität – schlechthin irrational, nicht links zu fahren. Hätte die entgegenkommende Fahrerin entschieden, nach links auszuweichen, wäre es auch für mich faktisch rational gewesen, nach links auszuweichen. Also mußte ich mir, um herauszufinden, welche der beiden Optionen nun die ›rationale Wahl‹ ist, überlegen, wie sie ihrerseits wohl rationalerweise entscheiden wird. Da dämmerte mir, daß er – seine Rationalität einmal vorausgesetzt – wohl die gleichen Gedanken haben mußte, darunter auch den Gedanken, daß ich solche Überlegungen anstelle, und so weiter. Und so wurde mir klar: wie tief sein und mein individuelles rationales Handlungskalkül auch graben würde: welche Entscheidung in der gegebenen Situation die rationale Entscheidung ist, bleibt immer hypothetisch. Was für mich rational war, hing von meiner Erwartung dessen ab, was für den anderen rational sein würde, und umgekehrt. So wußte ich zwar, daß beiderseitiges Rechtsfahren rational gewesen wäre – aber doch nur, wenn es beiderseitig erfolgt wäre; aber unter dieser Bedingung der Beiderseitigkeit hätte dies auch – trotz Verkehrsregelverletzung – vom beiderseitigen Linksfahren gegolten! So versank die Rationalität meines Handlungsfolgekalküls in einem unendlichen Zirkel von ›Wenn’s‹, und als wir schließlich den Punkt erreichten, wo der entgegenkommende Fahrer und ich unsere definitive Entscheidung über unsere Ausweichstrategien wählen mußten, war mir klar, daß es ganz unmöglich ist, aus zwei hypothetisch rationalen Handlungsstrategien eine faktisch rationale abzuleiten. Da ich zu diesem Zeitpunkt gerade dachte, daß der andere vielleicht A
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denkt, daß ich denke, daß er denkt, daß ich links fahren werde, und deshalb vielleicht ebenfalls ›links‹ wählt, entschied ich mich dafür, links zu fahren – obwohl ich gleichzeitig wußte, daß, wie es sich dann ja auch als tatsächlich wahr herausstellte, der andere möglicherweise in diesem Moment seine Entscheidung aufgrund einer ganz anderen Überzeugung fällte. Zwar gebe ich zu, daß mich meine Entscheidung jetzt zum Schuldigen macht im Sinne des Straßenverkehrsgesetzes. Aber niemand kann sagen, daß die Entscheidung des anderen Fahrers für Normkonformität rational und meine Entscheidung für Devianz irrational war: schließlich braucht es zu einer solchen Kollision immer zwei – und wenn man jetzt im Nachhinein denken möchte, daß es für mich faktisch rational gewesen wäre, rechts zu fahren, sollte man nicht vergessen, daß man auch sagen könnte, daß es für den anderen rational gewesen wäre, seinerseits links zu fahren!«
Klar ist: es ist etwas gründlich schief mir dieser Argumentation. Statt unseren Fahrer (nennen wir ihn F) »rational« zu nennen, wie er es für sich beansprucht, würden wir wohl eher sagen, daß er den Verstand verloren hat. Sein Verhalten ist irrational. Und wir sollten von jeder halbwegs plausiblen Theorie der Handlungsrationalität wohl erwarten können, daß sie zu erklären vermag, warum »rechts«, anders als F behauptet, tatsächlich die rationale Wahl ist (beziehungsweise, im vorliegenden Fall: gewesen wäre). Was immer nämlich man unter »rational«, »Rationalität« verstehen mag: klar scheint zu sein, daß der Begriff auf die Entscheidung von F (bzw. auf die ihr unterliegende Überlegung) nicht anwendbar ist. Die Frage ist: kann man im Rahmen des »orthodoxen« Modells der Handlungsrationalität etwas gegen die Argumentationslinie von F vorbringen? Liegt also der Fehler von F im Bereich der Optimierung seines Erwartungsnutzens – oder verläßt hier unser intuitives Rationalitätsverständnis die Grenzen des »orthodoxen« Rationalitätsbegriffes? Die vorherrschende Meinung ist, daß das principle of coordination durchaus im Sinne der orthodoxen Rationalitätstheorie zu verstehen sei. Aus den dahingehenden Stimmen – es gibt in der entsprechenden Debatte noch einige mehr 86 – seien hier die vielleicht Vgl. z. B. Colman, Andrew M./Bacharach, Michael: Payoff Dominance and the Stakkelberg Heruistic. In: Theory and Decision 43 (1997), S. 1–19. Colman und Bacharach begründen die Intuition der Rationalität des »Principle of Coordination«, indem sie den anstehenden Entscheidungsvorgang als Sequenz von zeitlich getrennten und für die Interaktionspartner einsehbare Partialentscheidungen analysieren. Mir scheint, dieser Ansatz ist typisch für eine in dieser Debatte recht allgemeine Tendenz: nämlich die Tendenz, das Phänomen der Ontologie bzw. Theorie anzupassen anstatt die Ontologie bzw. Theorie der Phänomenologie! Und das Phänomen ist nun einmal: es wird eine Entschei-
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plausibelsten herausgegriffen. Margaret Gilbert vertritt zwar, wie gesehen, die Ansicht, daß salience per se noch kein rationaler Handlungsgrund ist. Auch in Sachen des principle of coordination äußert sie sich stellenweise eher skeptisch und bringt ihr (oben kritisiertes) Modell der »joint acceptance« ins Spiel. 87 Hingegen sieht sie, in einem spannungsvollen Verhältnis dazu, plötzlich keine solchen Vereinbarkeitsprobleme mehr zwischen der Nutzenoptimierer-Rationalität und dem principle of coordination, wo die Nutzendifferenz zwischen den in Frage stehenden Gleichgewichten nur groß genug ist. Sieht man von dieser Bedingung einmal ab, würde Gilberts Argument dafür, daß das principle of coordination im Sinne des orthodoxen Rationalitätsmodells rational ist, sich wohl etwa wie folgt auf den Fall des Fahrers F beziehen lassen (Gilbert selbst diskutiert die anstehende Problemlage anhand von anders gelagerten Beispielen; wie gesagt ist insbesondere der Unterschied im payoff der beiden Gleichgewichte bei ihr weit größer als im Autofahrer-Beispiel). Zunächst würde sie F durchaus Recht geben, wenn er darauf hinweist, daß er seine Entscheidung nicht in einer Erwartung bezüglich des Handelns des anderen begründen kann, weil für diesen umgekehrt dasselbe gilt. In der gegebenen Handlungssituation gibt es, wie Gilbert meint, keine »justified external expectations« bezüglich der Entscheidung des entgegenkommenden Fahrers. Gilberts Punkt ist nun aber, daß aus dieser Interdependenz der Erwartungen keineswegs folge, daß »rechts« nicht die »rationale Wahl« im Sinne des individuellen Präferenzoptimierens sei, wie F dies behauptet. Gilbert meint, F hätte, wäre er rational im Sinne des ökonomischen Verhaltensmodells gewesen, etwa folgendermaßen überlegen müssen (das folgende ist ein an das gegebene Beispiel angepaßtes Zitat, aus dem ich zudem eine Passage gestrichen habe, die ich besonders unplausibel finde): Insofar as F neither has nor can come by any justified external expectations about the oncoming person G, he might as well do his part in correctly getting by each other (i. e., »right«/»right«). Thus it appears that, ceteris paribus, F should do his part in »right«/»right«, and that this is the rational thing to do. Now, ex hypothesi, F and G also have common knowledge of one another’s dung getroffen, und nicht eine Sequenz von einzelnen Entscheidungen, und schon gar nicht solche, die für die Interaktionspartner einsehbar sind! 87 Vgl. Gilbert, Margaret: Rationality, Coordination, and Convention. In: Synthese 84 (1990), S. 1–21. A
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rationality. It is hard to see how this can lead to the rejection of »right« for F. If doing one’s part in »right«/»right« is indeed rational for both players, given no external expectations about the other, and ceteris paribus, then F’s knowledge that G is rational can only reinforce his reasons for doing his part in »right«/»right«: G will, if rational, do his part and F’s absolute best payoff will be reached if he follows suit. 88
Die alles entscheidende Frage ist aber gerade die: wie kann von der Tatsache, daß unter den beiden Gleichgewichten (»rechts«/»rechts« und »links«/»links«) »rechts«/»rechts« für beide Beteiligten den besten outcome garantiert – eine Tatsache, die ja auch F nicht bestreitet –, abgeleitet werden, daß »rechts« sowohl für F wie für den entgegenkommenden Fahrer die rationale individuelle Entscheidung ist? Denn darauf (und nicht auf die Optimalität von »rechts«/»rechts«) bezieht sich ja F’s Überlegung. F könnte nun nämlich gegen Gilbert einwenden, daß er sich sehr wohl bewußt gewesen sei, daß »rechts«/ »rechts« der Pareto-optimale sowie für ihn selbst als auch für G individuell bestmögliche Spielausgang gewesen sei; aber daraus habe er eben gerade nicht »rechts« als die individuell rationale Wahl ableiten können, denn die Rationalität der individuellen Entscheidung dafür, den individuellen Beitrag zum Zustandekommen des optimalen Gleichgewichts zu leisten, sei immer noch abhängig davon, ob der andere seinerseits seinen Beitrag leistet oder nicht. Seinen eigenen Beitrag zum Zustandekommen des optimalen Gleichgewichts zu leisten ist rational dann und nur dann, wenn man auch erwarten kann, daß der andere ebenfalls seinen Beitrag leistet – dies führt dann wiederum in den infiniten Regreß. Gilbert umgeht also die entscheidende Frage, anstatt sie zu beantworten. Sie scheint anzunehmen, daß wir uns in solchen Situationen zwar gewahr werden, daß ob der Unmöglichkeit, begründete externe Erwartungen über die Entscheidung der relevanten Anderen zu bilden, hier rationales Handeln im unmittelbaren Sinn der Optimierung des Erwartungsnutzens unmöglich ist. Das bedeute aber keineswegs, daß die Rationalität des Erwartungsnutzensoptimierens hier an ihr Ende komme. Sobald wir uns nämlich der Tatsache der Interdependenz der Erwartungen inne würden, so suggeriert Gilbert, werde auch dem individuellen Nutzenoptimierer klar: da es hier kein eigentliches Kalkulieren des Nutzens auf der Grundlage externer 88 Gilbert, Margaret: Living Together: Rationality, Sociality, and Obligation. Lanham 1996, S. 151.
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Erwartungen gebe, sei es wenn nicht unmittelbar »rational« im direkten, unmittelbaren, eigentlichen Sinn des Wortes, so doch immerhin rationaler, sein Teil zum Zustandekommen des optimalen Gleichgewichts zu tun. Da »Rationalität« im engsten und eigentlichsten Sinn hier sowieso nicht möglich ist, können wir, so scheint Gilbert zu denken, »genausogut« das für beide bestmögliche Resultat anstreben (F »might as well do his part«, sagt Gilbert). Was an dieser Argumentation nicht einleuchtet, ist, daß hier »rechts« nicht als »rational« im direkten, unmittelbaren Wortsinne, sondern bloß als sozusagen »sekundär« oder substituthaft rational erscheint, als rational in Anführungszeichen sozusagen, d. h. als rationalitätsähnlichste Option in einer grundsätzlich rationalitätsaversen Entscheidungssituation. Dies läuft aber dem vortheoretischen Empfinden zuwider, nach welchem in der anstehenden Entscheidungssituation »rechts« nicht bloß etwas ist, was wir aus Mangel an eigentlicher Rationalität »genausogut tun können« (»might as well do«); es ist in der gegebenen Situation schlicht und einfach und ohne Einschränkung die rationale Entscheidung. Die entscheidende Frage bleibt also unbeantwortet: weshalb ist es in Koordinationssituationen mit einem besten Gleichgewicht im direkten und eigentlichen Sinn rational, diejenige Strategie zu wählen, die dieses beste Gleichgewicht zum möglichen Resultat hat? Was macht das »principle of coordination« zum rationalen Handlungsprinzip? Und: läßt sich dazu aus der Perspektive des orthodoxen Modells der Handlungsrationalität überhaupt etwas sagen? In seinem oben schon verschiedentlich zitierten Aufsatz von 1975 schlägt Gauthier einen anderen Weg ein, sein »principle of coordination« in die orthodoxe Rationalitätstheorie zu integrieren (oder es doch zumindest an diese Rationalitätstheorie anzuschließen). Seiner Ansicht nach hätte der Fahrer F, anstelle seiner obenstehenden Überlegungen, rationalerweise etwa folgendes in Betracht ziehen müssen (wiederum handelt es sich hier um ein an das Beispiel angepaßtes Zitat; auch Gauthier diskutiert das anstehende Problem anhand anders gelagerter Beispiele): If I choose »right«, I choose the outcome which is optimal, because it’s free of costs for both of us; if I choose »left«, I choose the outcome which costs both of us 0,1; hence as a rational maximizer I choose »right«, and so do you. 89
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Gauthiers knappes und prägnantes Argument beruht auf einer hypothetischen Identifikation der individuellen Entscheidung bezüglich der anstehenden Handlungsalternativen mit einer kollektiven Wahl des der entsprechenden Handlungsalternative zugehörigen Gleichgewichts (wer »links« wählt, wählt »links«/»links«, »rechts« bedeutet »rechts«/»rechts«). Gauthier sagt denn auch: »Each of us may treat the decision as if his decision were a common decision.« 90 Das Argument mag in die richtige Richtung zielen; aber so, wie Gauthier es präsentiert, führt es weniger zu einer Lösung als zu einer Wegdefinition des Problems, die freilich an den Realitäten vorbeigeht. Die Zweifel an der Vereinbarkeit des »principle of coordination« mit der orthodoxen Theorie der Handlungsrationalität rühren ja gerade daher, daß wir diesem Modell gemäß faktisch individuell entscheiden. F und G müssen individuelle Entscheidungen treffen; nur deshalb kommt es überhaupt zum Zirkel der interdependenten Erwartungen. Unser Fahrer F könnte deshalb Gauthier entgegnen, sein Argument gehe ausgerechnet an jenem Punkt vorbei, der das Problem überhaupt habe virulent werden lassen: daß hier eben keine gemeinsame Entscheidung, sondern zwei individuelle Entscheidungen getroffen werden mußten und der Konnex zwischen individueller Strategiewahl und zugehörigem Gleichgewicht eben kein faktischer, sondern bloß ein hypothetischer (ein gedankliches Konstrukt der Einzelnen) sei. Individuell die Situation so zu behandeln, »as if it were a common decision« (so wie das Einhalten anderer möglicher Maximen wie »tue das, was das beste ist, wenn es von beiden gewählt wird«, »folge einfach den Gewohnheiten«, »denke nicht zuviel und folge einfach den antrainierten Impulsen« etc.) ist rational offensichtlich nur, wenn zu erwarten steht, daß sich die relevanten Anderen gleichsinnig verhalten werden. Daß es sich hierbei faktisch um die rationale individuelle Entscheidung handelt, folgt daraus also gerade nicht. 91 Gauthier 1975, S. 204. Mutatis mutandis läßt sich derselbe Einwand auch gegen Maarten C. W. Janssens Versuch vorbringen, focal points bzw. das principle of coordination in die rational choice-Theorie zu integrieren. Janssen nennt das principle of coordination dabei das »principle of individual teammember rationality«, welches ontologisch aber in keiner Weise über den Individualismus hinausweist (vgl. Janssen, Maarten C. W.: Rationalizing Focal Points. In: Theory and Decision 50 [2001], S. 119–148; ders.: Towards a Justification of the Principle of Coordination. Tinbergen Institute Discussion Paper 017/1, 2000, vor allem aber: ders.: On the Principle of Coordination. In: Economics and Philosophy 17 [2001b], S. 221–234). Im Kern von Janssens Ansatz steht die Idee, daß Akteure in Koordinationssituationen Pläne entwickeln. »An individual plan specifies for each player a
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Wiederum scheint es also, daß alles, was zur Begründung der Rationalität des principle of coordination im Rahmen des Modells individueller Nutzenmaximierung gesagt werden kann, unmittelbar im infiniten Regreß interdependenter Erwartungen verschwindet. Die Alternative lautet: entweder am rationalitätstheoretischen Modell individuellen Erwartungsnutzenoptimierens festhalten und unsere Alltagsintuition aufgeben, daß das principle of coordination tatsächlich ein rationales Handlungsprinzip ist (was etwa bedeuten würde, der obigen Argumentation des Fahrers F Recht zu geben), oder aber an unserer vortheoretischen Intention bezüglich der Rationalität des principle of coordination festhalten und zugeben, daß mit der orthodoxen Theorie der Handlungsrationalität etwas im Argen liegt. Kommen wir an dieser Stelle noch einmal auf die soziologische set of pure strategies and a set of conjectures about the opponent’s play« (Janssen 2001b, S. 224). Wenn es nun einen optimalen Plan gebe, dann sei es ohne weiteres rational, als individueller Spieler seinen Part des optimalen Plans auszuführen. Was ist dann aber mit dem Einwand, den Menschen wie unser obiger Autofahrer vorbringen würden? Unser Autofahrer würde ja wohl etwas im Sinne des Folgenden sagen: »Ich weiß wohl, daß beiderseitiges Rechtsfahren der ›beste Plan‹ gewesen wäre, aber ich konnte nicht sehen, weshalb ich dem besten Plan folgen sollte, und nicht dem zweitbesten.« Janssen stellt sich folgenden Dialog zwischen dem schuldigen Fahrer (er heißt bei Janssen Soren) und der unschuldigen entgegenkommenden Fahrerin (sie heißt bei Janssen Olga) vor: »Olga may start the discussion by saying (somewhat angrily): ›OK, Soren, I understand you want to get the best pay-off for yourself and don’t care too much about the pay-off I get, and I also understand that there are many choices we could make so that there is no a priori reason we should coordinate our choices, but I don’t understand why you sacrifice both my pay-off and your own for … I don’t know what.‹« Janssen meint, daß dieser Punkt so stark ist, daß unserem Fahrer Soren nichts zu entgegnen bleibt außer einer Entschuldigung für sein irrationales Verhalten: »Soren, somewhat taken aback, may reply by saying: ›I’m awfully sorry, I was thinking too much about other considerations and failed to see that it is actually also in my own interest to act differently from what I had planned for both of us‹« (Janssen 2001b, S. 227). Aber das ist natürlich keineswegs, was unser Fahrer sagen würde. Er würde Olga vielmehr etwas dergleichen entgegnen: »Es ist mir vollkommen klar, daß es für uns beide am Besten gewesen wäre, wenn beide dem besten Plan gefolgt wären. Aber dem besten Plan zu folgen war in der gegebenen Entscheidungssituation nur rational gegeben die Erwartung, daß auch du dem besten Plan folgst. Dasselbe galt aber mutatis mutandis auch vom zweitbesten Plan. Insofern ist es nicht korrekt, wenn du sagst, ich hätte deinen und meinen Nutzen reduziert, indem ich links gefahren bin. Denn genausogut könnte ich jetzt sagen, daß du deinen und meinen Nutzen geopfert hast, indem du rechts gefahren bist!« Klar ist: niemand wird in der gegebenen Situation so denken. Aber die Frage ist ja: was läßt sich unserem Fahrer entgegnen? Es scheint, daß hier die »individual teammember rationality« nicht weiterführt. A
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Systemtheorie zurück. Deren Hauptvertreter Talcott Parsons und Niklas Luhmann haben ja, wie gesehen, die Interdependenz der Erwartungen unter dem Titel der »Doppelten Kontingenz« ins Zentrum ihrer Theoriebildung gerückt. 92 Und es verbindet sich, wie oben dargestellt, mit diesem Ansatz ein vehementer Abstoß vom ökonomischen Verhaltensmodell bzw. vom rational choice-Ansatz. Beide – Parsons explizit, Luhmann eher implizit (Luhmann nennt das ökonomische Verhaltensmodell kaum je eigens als Adressaten seiner Kritik) – sind der Meinung, daß sich am Problem der Interdependenz der Erwartungen in Koordinationssituationen zeige, daß der sozialtheoretische Ansatz bei der Handlungsrationalität, wie er dem ökonomischen Ansatz implizit ist, mit dieser Grundform der Sozialität grundbegrifflich nicht zurecht kommt. In ihrer Abkehr vom ökonomischen Verhaltensmodell versuchen sich diese beiden Autoren dann allerdings nicht an einer adäquateren Formulierung der Handlungsrationalität, an einer Rekonstruktion der Rationalität von Koordination aus der Akteurperspektive. Es geht bezüglich des Theorieapparates hier nämlich nicht etwa um »Reparatur«, sondern um einen radikalen Modellwechsel. Das Motiv der Interdependenz der Erwartungen bzw. der »doppelten Kontingenz« spielt im Zusammenhang mit der Abkehr von der Handlungs- und der Hinwendung zur Systemtheorie eine ganz entscheidende Rolle. An der Struktur der »doppelten Kontingenz« zeigt sich nämlich nach Parsons’ wie nach Luhmanns Ansicht, daß der intentionalitäts- bzw. handlungstheoretische Ansatz der Sozialtheorie im Ganzen scheitert. Mithin wird hier das Umschalten von der Rekonstruktion des Sozialen aus der Akteurperspektive auf eine distanziert-objektivierende Analyse systemischer »Bestandsvoraussetzungen«, wie sie den systemtheoretischen Ansatz Parsons’ und Luhmanns kennzeichnet, über dieses Motiv der Interdependenz der Erwartungen eingeführt. Insofern ist die Frage nach der Struktur von Koordination ganz zentral für die Auseinandersetzung mit der soziologischen Systemtheorie. Die Frage, ob Sozialtheorie als Systemtheorie betrieben werden soll oder nicht, scheint sich mithin wesentlich auch anhand des Problems der Interdependenz der Erwartungen entscheiden zu lassen. Daraus, daß das individualistische Verständnis von Handlungsrationalität an der Aufgabe der Erklärung des Handelns unter BeVgl. dazu Vanderstraeten, Raf: Parsons, Luhmann and the Theorem of Double Contingency. In: Journal of Classical Sociology 2 (2002), S. 77–92.
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dingungen der doppelten Kontingenz scheitert, folgt für Parsons in rationalitätstheoretischer Hinsicht, daß Rationalität nicht eine Eigenschaft von isoliert genommenen Einzelhandlungen (»unit acts«), sondern von Handlungen im System begriffen werden müsse. 93 Mit dem Argument, daß angesichts der doppelten Kontingenz Interaktion nur aufgrund von geteilten generalisierten Symbolsystemen, Normen, Konventionen, kulturellen Standards möglich ist, schert Parsons aus seinem früheren Projekt der Rekonstruktion sozialen Handelns aus der Perspektive rationaler Akteure 94 aus und schwenkt ein in das neue systemtheoretische Projekt der Erhebung und Klassifikation von funktionalen »Bestandsvoraussetzungen« sozialen Handelns. Im Rahmen dieses Projektes wird letztlich nicht nur darauf verzichtet, im Stile des methodologischen Individualismus das soziale System aus den individuellen Motivationen der Handelnden abzuleiten. Es wird im Gegenteil gesagt, daß die Emergenz des sozialen Systems aus der Situation der doppelten Kontingenz, die »mutuality of socially structured relationship patterns«, ihrerseits konstitutiv seien für das Motivationssystem der beteiligten einzelnen Individuen. 95 Mit dem Argument, daß Handlung in Situationen doppelter Kontingenz nur im »System«, also u. a. unter der funktionalen Bestandsvoraussetzung sozialer Normen möglich ist, verpflichtet Parsons die Sozialtheorie auf eine distanziert-analytische Rekonstruktion der systemischen Zusammenhänge der Bestandsvoraussetzungen sozialen Handelns. Damit ist das Theorieproblem aber keineswegs gelöst. Wie gesehen reicht das Vorliegen sozialer Normen, Konventionen u. symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien nämlich zur ErkläParsons 1937/1949, S. 740. Hier schon deutet sich an, was James Coleman an der weiteren Werkentwicklung Parsons’ kritisiert: »Parsons abandoned his attempt to found social theory in a theory of rational action; he reverted to classification schemes that were no less sterile in his hands than in the hands of those he criticized« (Coleman, James S.: Social Institutions and Social Theory. In: Hamilton [Hrsg.] 1992, Bd. 2, S. 43–51, hier S. 49; Zu Colemans eigenem, sich im Rahmen des orthodoxen ökonomischen Verhaltensmodells haltendem Umgang mit dem Problem der doppelten Kontingenz vgl. Coleman, James S.: Foundations of Social Theory. Cambridge Mass. 1990, S. 901 ff.). 94 1934 hatte Parsons noch großes Gewicht auf den »verstehenden« Ansatz in den Sozialwissenschaften, die Rekonstruktion sozialen Handelns aus der Akteurperspektive gelegt: s. Parsons 1934/1991, S. 160. 95 Vgl. etwa Parsons, Talcott: The Prospects of Sociological Theory. In: ders.: Essays in Sociological Theory. Revised Edition, Glencoe Ill. 1954, S. 348–369, S. 359. 93
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rung des Zustandekommens der Koordination nicht aus. Auch wenn Normen, gemeinsam geteilte Werte etc. vorliegen und ihr Vorliegen allgemein bekannt ist, bleibt, anders als Parsons glaubt, immer noch die Frage unbeantwortet, wie die Akteure diese Normen, Konventionen etc. zum rationalen Grund ihres Handelns machen können. Konventionen schaffen salience, und die Sanktionierung von Konventionen (wenn nicht schon salience selbst) transformiert oft reine Koordinationssituationen in solche mit einem besten Gleichgewicht. Aber die Frage ist ja jetzt: weswegen ist es rational, das eine beste Gleichgewicht anzustreben, also die »konventionelle« Strategie zu wählen? Parsons argumentiert an dieser Stelle letztlich nicht mit einem individuellen Nutzenkalkül. An dieser Stelle kommt bei ihm vielmehr das psychoanalytische Motiv der Internalisierung ins Spiel. Die Frage nach dem Grund für die Konventionalität von Handlungsorientierung wird letztlich nicht im Rekurs auf rationalisierungsfähige Handlungsgründe, sondern im Rekurs auf Ursachen empirischer Handlungsmotivation beantwortet; über diesen Umweg wird dann letztlich Koordination garantiert. Die kulturellen Symbole übernehmen nämlich der Parsonsschen Sicht zufolge sozusagen die »Kontrolle« über die Handlungsorientierung der Beteiligten, »the system being so geared into the action system of both ego and alter that the external symbols bring forth the same or a complementary pattern of orientation in both of them. Such a system of normative orientation is logically the most elementary form of culture.« 96 Diese »internalization of culture patterns«, so Parsons weiter, schafft zugleich erst die »Persönlichkeit« als Teilsystem des sozialen Systems, und legt diese imgleichen auf Konventionalität fest. 97 Aus der Frage, wie Individuen sich koordinieren, wird damit letztlich die umgekehrte Frage, wie Koordination Individuen generiert (Individuen als Zurechnungspunkte von Handlungen verstanden). Mit dieser Umkehr in der Theorieperspektive geht indes jene argumentativ schwer nachvollziehbare »Übersozialisierung« des Handlungsbegriffes einher, die in den »Konventionalismus« mündet, welcher Parsons schon früh angekreidet worden ist. Alles Handeln erscheint letztlich in systemtheoretischer Perspektive als in diesem Sinn »normreguliertes« Handeln, wobei die »Norm« den konstitutionslogischen Vorrang vor dem Handeln hat. 96 97
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Parsons/Shils 1959, S. 16; Herv. von mir. Vgl. Parsons/Shils 1959, S. 22.
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Diese grundbegriffliche Tieferlegung von Kultur, Norm bzw. Konvention ist zwar gleichsam ein Streich durch den gordischen Knoten der Frage nach der Handlungskoordination, hat aber gleichzeitig zur Folge, daß Devianzphänomene, Konflikt und Innovation schon grundbegrifflich ausgeschlossen bzw. sekundarisiert zu werden scheinen, was zumal im Vergleich mit dem »ökonomischen Verhaltensmodell« ins Auge sticht. 98 Vor allem aber wandelt sich dadurch die Rolle des Motivs der »doppelten Kontingenz«. Zunächst als Problem rationaler Handlungsorientierung in Situationen interdependenter Erwartungen kritisch gegen das ökonomische Verhaltensmodell stark gemacht, wird es unter der Hand zur apriorischen Bedingung der Möglichkeit von Handlung und Interesse selbst erklärt. Diese (problematische) Linie setzt Niklas Luhmann in seiner Behandlung des Themas entschlossen fort. Das dritte Kapitel seines Hauptwerks »Soziale Systeme« – es steht unter dem Titel »doppelte Kontingenz« – beginnt zwar mit einer durchaus kritischen Auseinandersetzung mit Parsons. An Parsons’ Umgang mit dem Thema scheint sich Luhmann aber vor allem deswegen zu stoßen, weil dieser den systemtheoretischen Kopfstand nicht entschlossen genug praktiziere: Parsons führe, so Luhmann, das Konzept der Kultur (der gemeinsamen Normen und Werte) als Kompensation des Problems der doppelten Kontingenz ein statt die doppelte Kontingenz konsequent unter den Ermöglichungsbedingungen von Kultur und damit Kommunikation zu situieren. Luhmann scheint der Ansicht zu sein, daß das »übersozialisierte« Moment von Parsons’ Theorie mit dieser Halbherzigkeit zu tun hat – und daß demnach die übersteigerten Konvergenzerwartungen Parsons’ mit dem konsequenten Umstellen auf systemtheoretische Grundlagen verschwinden. Als (wie Luhmann andernorts für sich beansprucht) »radikal individualistische Theorie« 99 soll die auf der Grundlage der Theorie der Autopoiesis erneuerte Systemtheorie die Individuen nämlich theoretisch von den klassischen gesellschaftstheoretischen Konsenszumutungen, wie sie in Parsons’ Internalisierungsthese zum Ausdruck kommen, befreien. Gesellschaftstheorie soll nicht darauf setzen, daß »Sinn«, Zur »oversocialized conception of man«, die mit Parsons’ Ansatz bei der doppelten Kontingenz einhergeht, vgl. Wrong, Dennis H.: The Oversocialized Conception of Man in Modern Sociology. In: Hamilton, Peter (Hrsg.): Talcott Parsons: Critical Assessments. Bd. 2, London 1992, S. 211–224, insbes. S. 216. 99 Luhmann, Niklas: Die Soziologie und der Mensch. Soziologische Aufklärung Bd. 6, Opladen 1995a, S. 165. 98
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als systemrelative Kategorie verstanden, letztlich intersystemisch konvergiert. Die Systemtheorie luhmannscher Prägung will die Erfahrung der Kontingenz der systemrelativen Perspektiven nicht durch eine Konstruktion intersubjektiver Einheit (etwa in Form einer intersubjektiv geteilten »Kultur«) kompensieren; es gilt vielmehr, Kontingenz theoretisch auszuhalten. 100 Die Tatsache, daß ego und alter in der Situation der doppelten Kontingenz aneinander keinen Halt zur Bildung von Erwartungen finden können, daß also jeder Versuch der Begründung der eigenen Entscheidung in einer Erwartung bezüglich des anderen sofort im infiniten Regreß der Interdependenz der Erwartungen versinkt, bedeutet für Luhmann gerade nicht, daß hier ein intersubjektiv verbindendes und verbindliches Moment eingezogen werden müßte, damit soziale Ordnung möglich wird. Daß Individuen füreinander »black boxes« bilden, das »Dunkel wechselseitiger Intransparenz« ist nichts, was verschwinden muß, sondern vielmehr konstitutive Bedingung der Bildung des sozialen Systems. Der clou der luhmannschen Reformulierung von Parsons’ Theorie der doppelten Kontingenz ist, daß Luhmann auf das Moment von »Gemeinsamkeit«, welches Parsons zur Bedingung der Möglichkeit des sozialen Handelns erklärt hatte, gerade verzichtet. Wie Parsons bezeichnet er die Situation der doppelten Kontingenz sozusagen als die soziale »Ursituation«. Aber anders als Parsons meint er nicht, daß es der gemeinsam geteilten normativen Standards der Kultur bedürfe, damit unter Bedingungen der doppelten Kontingenz soziale Ordnung möglich wird. Das Soziale muß nicht als Gemeinsames im Individuellen verankert werden, um den individuellen Erwartungen dadurch Halt zu geben. Die Individuen sind und bleiben füreinander undurchsichtig. Aber: was jetzt auch immer in der Situation der doppelten Kontingenz geschehe, führe sofort zur Emergenz des sozialen Systems, da es nicht mehr auf ego und alter reduzierbar, sondern einer emergenten, einer eigenen Systemebene zuzuordnen sei. 101 100 Dabei bringt Luhmann in seiner Diskussion der »double contingency« Parsons’ ganz explizit auch die modaltheoretische Bedeutung des Wortes »Kontingenz« mit ins Spiel. »Contingency means that being depends on selection which, in turn, implies the possibility of not being and the being of other possibilities. A fact is contingent when seen as selection from other possibilities which remain in some sense possibilities despite a selection« (Luhmann, Niklas: Generalized Media and the Problem of Contingency. In: Loubser, Jan J. et al. [Hrsg.]: Explorations in General Theory in Social Science. Essays in Honor of Talcott Parsons. New York 1976, S. 507–532, hier S. 509). 101 Die diesbezüglich entscheidende Passage aus »Soziale Systeme« lautet: »Die schwar-
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Luhmanns Theorie der doppelten Kontingenz verzichtet insofern darauf, den in doppelter Kontingenz Stehenden einen Halt zur Bildung von Erwartungen bezüglich des Verhaltens des Anderen zu geben. Seine These ist vielmehr, daß es genau diese Intransparenz ist, welche das Soziale emergieren läßt, ohne daß die Intransparenz dadurch aufgehoben würde. Dies steht im Kern der berüchtigten systemtheoretischen These, daß Kommunikation (die Elemente des sozialen Systems) nicht auf Bewußtsein (die Elemente der beteiligten psychischen Systeme) reduzierbar ist. 102 »Ein soziales System baut nicht darauf auf und ist auch nicht darauf angewiesen, daß diejenigen Systeme, die in doppelter Kontingenz stehen, sich wechselseitig durchschauen und prognostizieren können. Das soziale System ist gerade deshalb System, weil es keine basale Zustandsgewißheit und keine darauf aufbauenden Verhaltensvorhersagen gibt.« 103 Darin, daß diese Theorie der doppelten Kontingenz und die darauf aufbauende Theorie des sozialen Systems vom starken Konventionalismus der Parsonsschen Theorie entlastet, kann sicherlich eine zen Kästen erzeugen sozusagen Weißheit, wenn sie aufeinandertreffen, jedenfalls ausreichende Transparenz für den Verkehr miteinander. Sie erzeugen durch ihr bloßes Unterstellen Realitätsgewißheit, weil dies Unterstellen zu einem Unterstellen des Unterstellens beim alter Ego führt. Die Assimilierung von Sinnmaterialien an diese Ordnungsebene setzt (…) zwei sich wechselseitig beobachtende selbstreferentielle Systeme voraus. Für die wenigen Hinsichten, auf die es in deren Verkehr ankommt, mag ihre Informationsverarbeitungskapazität ausreichen. Sie bleiben getrennt, sie verschmelzen nicht, sie verstehen einander nicht besser als zuvor; sie konzentrieren sich auf das, was sie am anderen als System-in-einer-Umwelt, als Input und Output beobachten können, und lernen jeweils selbstreferentiell in ihrer je eigenen Beobachterperspektive. Das, was sie beobachten, können sie durch eigenes Handeln zu beeinflussen versuchen, und am feedback können sie wiederum lernen. Auf diese Weise kann eine emergente Ordnung zustandekommen, die bedingt ist durch die Komplexität der sie ermöglichenden Systeme, die aber nicht davon abhängt, daß diese Komplexität auch berechnet, auch kontrolliert werden kann. Wir nennen diese emergente Ordnung soziales System« (Luhmann 1984, S. 156 f.). 102 Eine beliebte Einführung in die Systemtheorie Luhmanns illustriert die kategoriale Differenz von Denken und Kommunikation am Beispiel abschweifender ärztlicher Gedanken bei der Patientenvisite. Luhmann selbst scheint dieses Schema aber selbst nicht ganz konsequent durchziehen zu wollen. Wo es um das Verhältnis von Schülergedanken und Lehrerkommunikation geht, setzt Luhmann dann doch nicht auf die »Interpenetrationsformel Differenz«, die er andernorts proklamiert (Luhmann 1984, S. 315), sondern hofft auf eine »Kongruenz (…) psychischer und sozialer Ereignisse« (ders.: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Soziologische Aufklärung Bd. 4, Opladen 1987, S. 179), was sich allerdings schlecht mit der systemtheoretischen kategorialen Zurüstung des Sozialen verträgt. 103 Luhmann 1984, S. 157. A
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Leistung des Luhmannschen Ansatzes gesehen werden. Das »übersozialisierte Menschenbild« (das man Parsons vorwerfen kann, weil bei ihm letztlich alles Handeln als konventionelles Handeln erscheint) wird man bei Luhmann nicht finden. Der clou, der für Luhmann im Motiv der doppelten Kontingenz liegt, ist nicht der Parsonssche. Nicht daß Normen und gemeinsame Werte gegeben sein müssen, um ego und alter füreinander transparent und berechenbar zu machen, ist Luhmanns Punkt, sondern vielmehr, daß ego und alter füreinander intransparent und unberechenbar bleiben müssen, soll Kommunikation zustande kommen: ego und alter müssen sich gegenseitig Freiheit konzedieren. Luhmann leitet aus dieser »Freiheitskonzession« die Begriffe der Personalität, der Intelligenz, des Gedächtnisses und des Lernens ab. 104 Wichtig ist für Luhmann das Problem der doppelten Kontingenz als Problem, und nicht wie bei Parsons im Hinblick auf eine (von Parsons nur scheinbar gefundene) Lösung. Wenn nun allerdings Parsons’ Lösung (die These von der Kongruenz von Konformität und Eigeninteresse) nicht zu überzeugen vermag (weil nämlich, wie oben gesehen, die Entscheidung für »Konformität« in Koordinationssituationen bloß hypothetisch, nicht faktisch rational im Sinne des individuellen Eigeninteresses genannt werden kann 105 ), so scheint davon auch die Formulierung des Problems betroffen zu sein, welche hinwiederum auch für Luhmann wegweisend ist. Indem Luhmann das von Parsons als kompensationsbedürftiges Problem bezeichnete Phänomen als das soziale »Urphänomen« akzeptiert, verliert er den Blick für ein anderes »soziales Urphänomen«, welches in einem Spannungsverhältnis zur These Vgl. Luhmann 1984, S. 158 ff. Richtig an Parsons’ Theorie mag sein, daß Koordination ohne soziale Normen nicht gelingen könnte. Daraus folgt aber nicht, daß das reine Vorliegen von gemeinsam geteilten Normen es für uns als Handelnde schon (im Sinne des ökonomischen Rationalitätsbegriffes) rational macht, uns konform zu verhalten, daß also, wie Parsons postuliert, Normkonformität und Optimieren der Eigeninteresse koinzidieren. Aus der Perspektive der Handelnden ändert sich durch das bloße Vorliegen bzw. Internalisierthaben sozialer Normen nämlich, wie sich bei näherem Hinsehen zeigt, noch nichts daran, daß die Rationalität der möglichen Entscheidungsalternativen von der eigenen Erwartung bezüglich der Entscheidung des anderen abhängt, für den umgekehrt dasselbe gilt. Das Vorliegen von sozialen Normen legt zwar eindeutig fest, welche der Handlungsalternativen Konformität und welche Devianz bedeuten; aber die Koinzidenz dieser Unterscheidung zwischen »rational« und »irrational« (im Sinne des individuellen Eigeninteresses), wie Parsons sie behauptet, folgt daraus nicht. Es kann in Situationen doppelter Kontingenz durchaus rational sein, sich deviant zu verhalten – nämlich dann, wenn man Grund zur Erwartung hat, daß sich auch der andere deviant verhalten wird. 104 105
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von der doppelten Kontingenz steht: nämlich das Phänomen, daß man sich faktisch in Koordinationssituationen mit einem für alle Beteiligten optimalen Gleichgewicht durchaus darauf verlassen kann, daß die Teilnehmer die entsprechende Strategie wählen. Das principle of coordination erklärt eben vieles – dazu gehört u. a. die Frage, wie Koordination anhand von Konventionen möglich ist. Und deswegen sollte man es theoretisch nicht preisgeben. Eine Grundlagentheorie des Sozialen sollte dieses Phänomen erhellen können. Bei Luhmanns Insistenz darauf, daß ob der doppelten Kontingenz die Beteiligten sich letztlich nur als »frei« und unberechenbar begreifen können, gerät es aber völlig aus dem Blick. Mit dem Hinweis darauf, daß (um noch einmal das Beispiel des Straßenverkehrs zu bemühen) auch »Linksfahren« eine kommunikative Bedeutung und dementsprechende Folgen für die Selektivität des sozialen Systems hätte, ist noch nicht geklärt, weshalb sich Akteure im Verkehr unter Standardbedingungen rationalerweise rechts halten. Und dafür hinwiederum dürfte die Akteurperspektive nicht irrelevant sein. Denn hier spielt eine entscheidende Rolle, was Akteure für rational halten. In seinem sozusagen anti-konventionalistischen Affekt treibt Luhmann der soziologischen Systemtheorie nicht nur die Parsonssche Übersozialisiertheit aus. Mit dem Bad schüttet er gleich auch das Kind aus. An das Parsonssche Motiv, daß alles Handeln gemeinsam geteilte Normen voraussetzt, bindet Luhmann auch das Motiv der Gemeinsamkeit als solcher und verbannt beides aus der Theorie. Luhmann insistiert auf der radikalen Systemrelativität aller Perspektiven; was traditionellerweise »Intersubjektivität« genannt wird, ist für Luhmann bloß ein höherstufiges eigenes Subjekt. 106 Dadurch verliert Luhmann den Anschluß an die Frage, weshalb denn die einzelnen sich in der Situation der doppelten Kontingenz befindlichen Systeme anhand von salience koordinieren, weshalb für sie salience ein Handlungsgrund ist. Denn dies ist eine Frage, die nur aus der Akteurperspektive überhaupt zu stellen ist. Die naheliegende Antwort auf die Frage lautet: weil es für die individuellen Akteure rational ist, sich anhand von Konventionen zu koordinieren. Aber dies führt, wie gesehen, zur Anschlußfrage: was ist unter Rationalität zu verstehen, wenn man auf der vortheoretischen Intuition bestehen will, daß das »principle of coordination« ein rationales Handlungsprinzip ist? In der Entwicklung vom handlungstheoretischen Parsons zur 106
Vgl. dazu Schmid 2000, Kap. 4. A
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späteren Systemtheorie und weiter zu Luhmanns Theorie der autopoietischen Systeme gerät diese Frage, und mit ihr die Bedeutung des principle of coordination, immer weiter aus dem Blick. Es gilt daher, hinter die systemtheoretische Neuformulierung der Sozialtheorie (bei Parsons, vor allem aber auch bei Luhmann) zurückzugehen auf die frühe handlungstheoretische Grundintention, die der Parsonsschen Theoriebildung ursprünglich zu Grunde lag: was Koordination möglich macht, hat mit einer Gemeinsamkeit zu tun, die sich dem individualistischen Bezugsrahmen der gegenwärtigen Sozialtheorie entzieht; es wird deshalb nur im Abstoß vom »ökonomischen Verhaltensmodell« sichtbar. Parsons scheint letztlich dafür gehalten zu haben, daß eine Rekonstruktion dieser Form von Gemeinsamkeit über den Ansatz bei der Akteurperspektive hinausweist und auf eine distanzierte systemtheoretische Perspektivik der Erhebung von Bestandsvoraussetzungen verpflichtet. Vielleicht ist Parsons damit aber selbst ein Opfer des »Atomismus« geworden, den er dem »ökonomischen Verhaltensmodell« ankreidet: es scheint nämlich, daß er die Akteurperspektive schlicht für zu monologisch gehalten hat, um der Struktur menschlicher Gemeinsamkeit gerecht zu werden, und daß er sich aus diesem Grund vom handlungstheoretischen Ansatz später entfernt hat. Insofern kann auch in der Bewegung von der Handlungs- zur Systemtheorie ein Effekt der »Cartesianischen Gehirnwäsche« gesehen werden. Vor dem Hintergrund eines weniger monologischen Verständnisses von Intentionalität wäre es demgegenüber wohl der Mühe wert, zu schauen, ob man in dieser Sache nicht weiter käme, ohne dabei einfach von »Handlungstheorie« auf »Systemtheorie« umzustellen. Vielleicht ist nicht der handlungstheoretische Ansatz als solcher das Problem, sondern das monologistische bzw. atomistische Mißverständnis der konzeptionellen Grundlagen der Handlungstheorie. Hier läßt sich dann wieder entschlossen an den frühen, vor-systemtheoretischen Parsons anschließen, an seine kritisch gegen das »ökonomische Verhaltensmodell« (sowohl in seiner utilitaristischen wie in seiner vertragstheoretischen Ausprägung) formulierte Einsicht »that men’s ends should not be separate, and either forcibly restrained or miraculously compatible, but in fact, in a given society, held in common.« 107
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Parsons 1934/1991, S. 158; Herv. von mir.
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Nach diesem Besuch in der systemtheoretischen Sackgasse sei noch einmal das Grundmotiv der Suche nach einem vernünftigeren Rationalitätsbegriff vergegenwärtigt, das Motiv, welches zur doppelten Kontingenz und damit zur Systemtheorie geführt hat. Das Problem ist: wessen Handlungsrationalität sich auf das Rationalitätsprinzip des ökonomischen Verhaltensmodells beschränkt, ist in bestimmten Situationen ein »rational fool«. Amartya Sen, von dem dieses Stichwort stammt, hat diese rationale »foolishness« auf die mangelnde Kooperationsbereitschaft von reinen homines oeconomici bezogen. Am Ende seines einschlägigen Aufsatzes deutet Sen an, in welche Richtung ein gegenüber dem »definitional egoism« des ökonomischen Verhaltensmodells adäquateres Verständnis von Handlungsrationalität zu gehen hätte: was dem ökonomischen Verhaltensmodell fehlt, ist ein Verständnis der Rolle von Gruppen im menschlichen Handeln. 108 Das Problem liegt im tiefsitzenden Individualismus des ökonomischen Verhaltensmodells. Homines oeconomici sind ausschließlich durch ihren individuellen Erwartungsnutzen motiviert (gleichviel, wie dieser näherhin inhaltlich bestimmt ist: rein egoistisch oder mit sympathetischer Anteilnahme am Nutzen von anderen). Im Blick durch die Brille des ökonomischen Verhaltensmodells erscheint alles, was als Handlungsziel oder Nutzen relevant ist, als Handlungsziel oder Nutzen der beteiligten Individuen. Diese starke individualistische Voraussetzung, die dem ökonomischen Verhaltensmodell zugrunde liegt, bringt John Rawls (der diese Voraussetzung teilt) prägnant zum Ausdruck – und zwar ausdrücklich in Gegenwendung gegen eine hedonistische Verkürzung der Erwartungsnutzentheorie: »The self is prior to the ends which are affirmed by it«. 109 Worauf es immer Handelnde (und gemeint sind: individuelle Handelnde) in ihrem Handeln abgesehen haben mögen: dieses Handlungsverständnis rüstet das Handeln von vornherein so zu, daß das in Frage stehende Absehen auf ein individuelles Handlungsziel geht. Diese starke Prämisse, daß das (als individuell verstandene) Selbst apriorischen Charakter hat gegenüber aller Handlungsorientierung, ist in letzter Zeit verschiedentlich kritisiert worden. In kritischem Anschluß an Sen macht etwa Elizabeth Anderson die Frage der Identität des oder der Handelnden gegen das »Individualitätsapriori« des ökonomischen Verhaltensmodells stark. Ihr 108 109
Vgl. Sen 1977, S. 344. Rawls 1971, S. 560. A
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Punkt ist: die Rationalität einer Handlung ist abhängig von einer vorgängigen Festlegung der Identität des Handelnden. Dies besagt ihr »Priority of Identity to Rational Principle«: »what principle of choice it is rational to act on depends on a prior determination of personal identity, of who one is. The validity of the principle of expected utility (maximizing the satisfaction of one’s personal preferences) is conditional on regarding oneself as an isolated individual, not a member of any collective agency.« 110 Die apriorische Festlegung der Identität des Handelnden auf isolierte Individualität, wie sie aus der »mutually disinterested rationality« 111 des ökonomischen Verhaltensmodells spricht, ist es aber, welche zur »foolishness« der homines oeconomici führt. Was dabei außer Acht bleibt, ist die Tatsache, daß sich Menschen mitunter nicht als isolierte Individuen, sondern als Gruppenmitglieder sehen. Auf das Kooperationsproblem bezogen: was eine Entscheidung für Kooperation rational macht, ist, daß sie für uns bessere Konsequenzen zeitigt als das individuelle Präferenzoptimieren, welches für uns inferior ist. Aus der Perspektive von Akteuren, die sich sowohl als isolierte Individuen wie auch als Gruppenmitglieder verstehen können, stellt sich die Entscheidungssituation des Gefangenendilemmas wie folgt dar:
ich kooperiere
du kooperierst
du kooperierst nicht
besser für uns
am schlechtesten für mich, am besten für dich
ich kooperiere am besten für mich, nicht am schlechtesten für dich
schlechter für uns
Hier wird sichtbar: wie wir in dieser Situation entscheiden werden, hängt wesentlich davon ab, ob wir die Situation als eine begreifen, in der es auf die Konsequenzen unseres Handelns für mich und für dich ankommt – oder als eine, in der es auf die Konsequenzen unseres Handelns für uns ankommt. Die Frage ist mithin, wie wir als Entscheidende unsere Identität festlegen. Treten wir als Gruppenmit110 Anderson, Elizabeth: Unstrapping the Straitjacket of ›Preference‹ : A Comment on Amartya Sen’s Contributions to Philosophy and Economics. In: Economics and Philosophy 17 (2001), S. 21–38, hier S. 30. Vgl. dazu Schmid, Hans Bernhard: Beyond SelfGoal Choice. Amartya Sen’s Analysis of the Structure of Commitment and the Role of Shared Desires. In: Economics and Philosophy 21/1 (2005a), S. 51–63. 111 Rawls 1971, S. 410.
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glieder an diese Entscheidungssituation heran, ist unmittelbar sichtbar, daß »kooperieren« die rationale Entscheidung ist: die Alternative stellt sich hier ja zwischen den Alternativen »besser für uns« und »schlechter für uns«. Treten wir als isolierte Individuen an diese Entscheidungssituation heran, erscheint »Nichtkooperation« als die rationale Wahl. Allerdings scheint es, daß ein struktureller Unterschied zwischen der Rationalität der beiden identitätsrelativen Entscheidungen besteht. Während nämlich Nichtkooperation vom individuellen Standpunkt aus rational ist in unmittelbarer Beziehung zu den Handlungskonsequenzen (welche unabhängig von der Entscheidung des anderen optimiert werden), führt das eigene Kooperieren noch nicht unmittelbar, sondern bloß gegeben die entsprechende Entscheidung des anderen zum »für uns« besseren Resultat. Die Rationalität der Entscheidung für Kooperation liegt insofern nicht in der unmittelbaren Beziehung von Entscheidung und Handlungskonsequenzen. Sie liegt vielmehr im Verhältnis von »gemeinsamem Handeln« und »eigenem Beitrag«. Die Entscheidung für »Kooperation« ist, mit anderen Worten, vom Standpunkt eines Gruppenmitglieds aus nicht unmittelbar deshalb rational, weil sie die Handlungskonsequenzen optimiert; sie ist nicht rational im Sinne von Ursache (Entscheidung) und Wirkung (Handlungskonsequenzen); sie ist rational im Sinne von Teil (eigenem Beitrag) und Ganzem (gemeinsamem Handeln). 112 Von hier aus ist ein weiteres, oben angeführtes »heterodoxes« Motiv einzubeziehen. Von diesem erweiterten Rationalitätsbegriff wird nämlich ein Moment jenes Anti-Konsequentialismus eingefangen, welches schon Max Weber zum Kern seines Begriffes der (gegenüber der dominanten »Zweckrationalität« letztlich aber sekundären) »Wertrationalität« gemacht hat. Gleichzeitig vermeidet dieser Begriff der Handlungsrationalität die Zumutung, daß es für Kooperateure in gefangenendilemma-artigen Situationen einfach egal sei, was die Handlungskonsequenzen sind (etwa im Sinne eines gesinnungsethisch verstandenen Kantianismus). Wenn es diesem erweiterten Rationalitätsverständnis gemäß rational sein kann, auch in einmaligen (one shot) Gefangenendilemmata zu kooperieren, dann durchaus nicht im Sinne einer Handlungsorientierung, welche ob 112 Susan Hurley unterscheidet diesbezüglich die »causal consequences« einer Entscheidung von den »constitutive consequences« – »constitutive« im Sinne der Konstitution eines kollektiven Akteurs (vgl. Hurley, Susan: Natural Reasons. Personality and Polity. New York/Oxford 1989, S. 145 ff.).
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des (vermeintlichen) Pflichtcharakters einer Handlung deren Konsequenzen völlig vernachlässigt. Wer als Gruppenmitglied handelt, optimiert durchaus Handlungskonsequenzen: aber nicht die Konsequenzen der individuellen Beitragshandlung (diese sind konditional von den anderen Beiträgen abhängig), sondern die Konsequenzen einer gemeinschaftlichen Handlung. Insofern nimmt dieses erweiterte Rationalitätsverständnis die Intention auf, die Begriffen wie »Wertrationalität« bei Max Weber oder »committed action« bei Amartya Sen zugrunde liegt: die Einsicht, daß nicht alles Handeln als Optimieren von Handlungskonsequenzen zu begreifen ist. Dies aber ohne die ebenso plausible Grundintention fallenzulassen, die bei Weber letztlich zur Marginalisierung der Wertrationalität führt: die Einsicht, daß die Handlungskonsequenzen nie außer Acht gelassen werden können, wo die Frage der Rationalität einer Entscheidung sich stellt. Denn beim Einpassen der eigenen »Beitragshandlung« in das gemeinsame Handeln geht es ja letztlich durchaus um das Optimieren der Handlungskonsequenzen, wenn auch nicht vom individuellen, sondern vom gemeinsamen Standpunkt aus: es geht letztlich ja um das »für uns« Beste. In gefangenendilemma-artigen Situationen kooperieren homines oeconomici nicht, wenn es sich um einen einmaligen »Spieldurchgang« handelt bzw. das Ende einer Serie von Spieldurchgängen absehbar ist. Das macht homines oeconomici nach Sens These zu »rational fools«. Mir scheint allerdings, daß die Limitiertheit des orthodoxen Rationalitätsprinzip noch sehr viel deutlicher zu Tage tritt, wenn man nicht die Kooperations- sondern die Koordinationsfähigkeit der homines oeconomici näher untersucht. Hier ist das Problem nicht bloß, daß homines oeconomici im Namen eines sehr kurzsichtig angepeilten Eigeninteresses nicht zum Gemeinschaftshandeln zusammenfinden und dadurch Kooperationsgewinne nicht zu realisieren vermögen. Das Problem ist, wie Robert Sugden 113 deutlich gemacht hat, wesentlich radikaler. Homines oeconomici können, soweit sich eben ihre Rationalität auf die individualistisch verstandene Rationalität des »ökonomischen Verhaltensmodells« beschränkt, das principle of coordination nicht als rationales Handlungsprinzip über113 Vgl. Sugden, Robert: Thinking as a Team: Towards an Explanation of Nonselfish Behavior. In: Social Philosophy and Policy 10 (1993a), S. 69–89; ders.: Rational Coordination. In: Farina, F./Hahn, F./Vanucci S. (Hrsg.): Ethics, Rationality and Economic Behavior. Oxford 1996, S. 244–262.
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nehmen, obwohl es in absoluter Harmonie mit dem individuellen Eigeninteresse steht, also kein noch so kurzfristiges Interesse an Abweichung besteht. Und doch scheint im Sinne unseres vortheoretischen Begriffes gerade im Blick auf das individuelle Eigeninteresse der Beteiligten nichts offensichtlicher, als daß es in Koordinationssituationen rational ist, das für beide optimale Gleichgewicht anzustreben, wenn es ein solches Gleichgewicht gibt. Was salience zu einem rationalen Handlungsgrund macht (bzw. was es in Koordinationssituationen rational macht, das für alle optimale Gleichgewicht anzustreben), ist schlechthin nicht zu sehen, wenn man die Beteiligten als isolierte individuelle Präferenzoptimierer begreift. Denn die Rationalität des Beachtens von salience bzw. des Anstrebens des für alle optimalen Gleichgewichts in Koordinationssituationen liegt nicht im Verhältnis von individuellen Präferenzen und Handlungskonsequenzen. Sie liegt vielmehr im Verhältnis von individuellem Beitrag und gemeinsamem Handeln. Die Rationalität des team thinking, um hier Robert Sugdens label zu verwenden, hat damit sozusagen zwei Stufen. Ihre konsequentialistische Seite besteht im gemeinsamem Anstreben des vom Standpunkt des Teams aus Besten; das individuelle »Einpassen« des eigenen Beitrags ins gemeinsame Handeln hat demgegenüber nicht-konsequentialistischen Charakter. Würden die Beteiligten ihre Entscheidung für das Einpassen des eigenen Handelns in das optimale Gemeinschaftshandeln nämlich mit dem Erwartungsnutzen ihrer Entscheidung zu begründen versuchen, würden sie sofort in den infiniten Regreß der Interdependenz von Erwartungen geraten: das Einpassen des eigenen Handelns in das optimale Gemeinschaftshandeln wird ja nur dann die optimalen Handlungskonsequenzen zeitigen, wenn die anderen relevanten Beteiligten den entsprechenden Wahlentscheid treffen. In dieser Hinsicht muß team thinking in der individualistischen Perspektive, die das Individuum unabhängig von seinen sozialen Bezügen in den Blick nimmt, tatsächlich als »blindes« Verhalten erscheinen. Die mit diesem Ansatz verbundenen sozialontologischen Probleme kommen bei Robert Sugden klar zum Ausdruck. Einerseits meint Sugden, den Regreß der Interdependenz von Erwartungen lasse sich am besten vermeiden, wenn man »Mitgliedschaft« verstehe »in something like the old sense in which arms and legs are members of the body«. 114 Aber ein solches Verständnis von team membership 114
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läuft wohl unseren basalen Annahmen intentionaler Autonomie entgegen. Bezeichnend ist denn auch, daß Sugden mitunter auf ein ganz anderes Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zurückgreift. »A team exists to the extent that its members take themselves to be members of it«, heißt es an anderer Stelle. 115 Der starken Lesart der »Sozialität« der Rationalität des »Principle of Coordination« steht eine schwache Lesart gegenüber. Maarten C. W. Janssen beispielsweise setzt gegenüber Sugdens Theorie des team thinking bzw. dem damit einhergehenden Begriff der »collective rationality« auf das, was er die »individual team member rationality« nennt. 116 Dahinter verbirgt sich eine rein individualistische Vorstellung: »Where there is enough information and knowledge about each other, players can consider themselves as a team and think individually what is best for the team and its members«. 117 Und ähnlich läuft auch Michael Bacharachs Theorie des Team reasoning über so etwas wie eine »group identification«: »in certain circumstances, individuals tend to identify themselves with a group; and a group identification leads them to team-reason«. 118 Diese Beschreibungen des »Teamcharakters« von Kooperation bleiben ganz im Bann des Individuums. Es ist der individuelle Akt der Selbstzurechnung, der das Team schafft (oder doch wenigstens die Ermöglichungsbedingung des team thinking). Dies freilich ist, wie oben gesehen, in sozialontologischer Sicht letztlich eine unhaltbare Position. Teams existieren nicht deshalb, weil Individuen glauben, ein Team zu bilden (vgl. oben § 3); und das bloße Bewußtsein dessen, was das für alle Beste wäre, liefert per se noch kein rationales Motiv, auch den eigenen Beitrag dazu zu leisten (nämlich dann, wenn es – gegeben ein entsprechendes Handeln seitens der anderen – besser wäre, eine andere Strategie zu wählen). Damit oszilliert die Theorie der Rationalität des principle of coordination zwischen einer kollektivistischen Lesart der Sozialität von Menschen (nach welchem Einzelmenschen im sozialen Verband Sugden, Robert: Team Preferences. In: Economics and Philosophy 16 (2000), S. 175– 204, hier S. 192. 116 Vgl. etwa Janssen, Maarten C. W.: Rationalizing Focal Points. In: Theory and Decision 50 (2001), S. 119–148. 117 Janssen, Maarten C. W.: Towards a Justification of the Principle of Coordination. Tinbergen Institute Discussion Papers Nr. 00–017/1, 2000 (http://www.tinbergen.nl), S. 13. 118 Bacharach, Michael: Interactive Team-Reasoning: A Contribution to the Theory of Co-operation. In: Research in Economics 58 (1998), S. 117–147, hier S. 132. 115
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nichts als »Organe« des Kollektivkörpers sind) und einer individualistischen Lesart (nach welcher Gemeinschaften nur dann und nur insofern existieren, als Einzelne sich als ihre Mitglieder verstehen). Der eine Deutungsversuch aber scheitert daran, daß Individuen mehr als Organe sind, der andere hingegen daran, daß Teams nicht konstitutive Produkte eines reflexiv-thematischen Wir-Bewußtseins (einer subjektiven »Identifikation« mit dem Team) sind. Die Theorie des gemeinsamen Intendierens bietet einen Ausweg aus diesem Dilemma: eine holistische Alternative sowohl zu einer kollektivistischen wie zu einer atomistischen Sicht der Dinge. Mit diesen Theorieelementen zeichnet sich eine Richtung ab, in welcher eine Antwort auf die Leitfrage nach der Rationalität von Koordination gefunden werden könnte. Um noch einmal das obige Beispiel der Autofahrer aufzugreifen: warum ist es faktisch rational, der Rechtsfahrregel zu folgen – wenn aus der Perspektive des individuellen Erwartungsnutzens doch nur zu sagen ist, daß hier die Begründung der eigenen Entscheidung in einer Erwartung bezüglich der Entscheidung des Anderen in einen unendlichen Regreß führt? Was ist der rationalitätstheoretische Fehler des »ökonomischen Verhaltensmodells« bzw. des oben zitierten Fahrers (F), der darauf insistiert, daß »linksfahren« zwar Devianz bedeutet und als solche geahndet werden muß, aber keineswegs »irrational« im Sinne der Optimierung des eigenen Erwartungsnutzens sei? Der Fehler des Fahrers F besteht darin, daß er seine »rationale Wahl« im Rahmen einer Situationskonzeption zu treffen versucht, gemäß der es auf den je individuellen Erwartungsnutzen beider Beteiligten ankommt: also auf die Konsequenzen von F und Es individueller Entscheidung. Dieser tiefsitzende Individualismus macht F in der gegebenen Situation in der Tat zum rationalen Idioten; er vermag nicht zu sehen, daß es in der gegebenen Situation nicht auf die Konsequenzen individueller Handlungen ankommt, sondern auf das, was F und E gemeinsam tun. »Rationalität« in einem sozusagen »nichtidiotischen« Sinne – rationality beyond foolishness – ist in der gegebenen Koordinationssituation nur Menschen möglich, welche miteinander sind, einem »gemeinsamen Dasein«, also Menschen, deren Rationalität sich nicht bloß auf das Optimieren des individuellen Erwartungsnutzens beschränkt, sondern auch die Dimension des »Zusammenstimmens« individueller Beitragsentscheidungen zu einer gemeinschaftlichen Wahl abdeckt. Rational können in solchen Situationen mithin nur Menschen sein, deren Selbst, anders als Rawls es A
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postuliert, nicht vorrangig gegenüber dem, was sie sich vornehmen, als individuelles Selbst bestimmt ist. Das orthodoxe Verständnis von Rationalität und Handeln, wie es im ökonomischen Verhaltensmodell zum Ausdruck kommt, ist blind für den einfachen Sachverhalt, daß es vieles gibt, was man nicht allein, sondern gemeinsam vorhat – und manchmal auch bloß gemeinsam vorhaben kann. Dazu gehören so basale Vorgänge wie das Sich-Koordinieren anhand von Konventionen: rational ist dieses nur für Wesen, welche gemeinsam da sind, die miteinander sind (und nicht bloß je für sich). So viel Gemeinschaft muß sein – und gelte es in einer gegebenen Gesellschaft auch nur, im Verkehr kollisionsfrei aneinander vorbeizukommen. Dieses Miteinandersein liegt noch vor allem »Bekenntnis« zur Gemeinschaft, vor aller bewußten Orientierung am Gemeinsamen. Deshalb ist es auch so leicht, dieses elementare Miteinandersein theoretisch zu übersehen – wie es im ökonomischen Verhaltensmodell geschieht. Dadurch läuft aber das Daseinsverständnis des ökonomischen Verhaltensmodells am Sein unseres Daseins vorbei; das ist es, was die Uneigentlichkeit des homo oeconomicus ausmacht. Wir mißverstehen uns, wenn wir uns in Koordinationssituationen als individuelle Präferenzoptimierer verstehen, also als einzelne Menschen, die an der Leitlinie von geltenden Konventionen ihren individuellen Zielen folgen. Soweit wir dies koordiniert tun, sind wir nämlich stets miteinander, ein vorreflexiv-irreduzibles gemeinsames Dasein. Wie unsere Alltagsontologie überspringt auch die implizite Ontologie des ökonomischen Verhaltensmodells diese elementare Gemeinsamkeit. Damit zurück zur Frage nach der Rationalität des principle of coordination. Wenn wir gegenüber Fahrer F darauf bestehen, daß »rechtsfahren« tatsächlich die rationale Wahl gewesen wäre, dann greifen wir damit auf einen Rationalitätsbegriff zurück, der so etwas wie ein basales Miteinandersein in der Wahrnehmung und Entscheidung, so etwas wie gemeinsames Intendieren voraussetzt. Wäre F in einem nicht-verkürzten Sinn rational gewesen, hätte er sich die anstehende Entscheidungssituation etwa folgendermaßen klarmachen müssen: »Sollte der entgegenkommende Fahrer in seinen Reflexen und Gewohnheiten unsicher sein und einen rationalen Entscheid über die Handlungsalternativen »rechts« bzw. »links« fällen, wird er davon ausgehen, daß wir die gemeinsame Absicht haben, uns kollisionsfrei und möglichst umstandslos zu kreuzen. Uns gemäß den bestehenden Verkehrsregeln rechts zu kreuzen ist aber für uns besser. 390
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Rationalerweise beabsichtigen wir deshalb, uns rechts zu kreuzen. Dies macht es für mich rational, mich im Sinne meiner Beitragshandlung zum gemeinsamen Vorhaben rechts zu halten«. Was Fahrer F demgegenüber zum rationalen Idioten macht, ist die Limitierung seines Verständnisses von Handlungsintentionalität auf individuelle Intentionalität. An Robert Sugdens Theorie des team thinking zeigt sich der Beitrag, den die Theorie des gemeinsamen Intendierens zu einem Verständnis der Handlungsrationalität beitragen kann – einem Verständnis, welches über die rational foolishness des ökonomischen Verhaltensmodells hinausgeht. Das Phänomen des gemeinsamen Intendierens weist den Weg zwischen der Skylla eines kollektivistischen Verständnisses des team thinking und der Charybdis einer individualistischen Reduktion des team thinking auf eine reflexiv-thematische Selbstzurechnung zum Team. Zur Skylla macht die erste Alternative, daß sie mit unserer Vorstellung intentionaler Autonomie unverträglich ist. Die zweite Alternative hingegen wird dadurch zur Charybdis, daß sie das Problem, welches die Theorie des team thinking lösen soll, nur um eine Reflexionsstufe verschiebt. Wenn wir nur dadurch gemeinsame Intentionen hätten, daß wir uns selbst dem Team als Mitglied zurechnen – wenn, in Elizabeth Andersons Worten, die Teammitgliedschaft eine Frage einer determination of one’s identity wäre – würde sich der infinite Regreß, den die Theorie des team thinking vermeiden soll, nur wiederholen. Die Frage wäre dann nämlich: wann ist es für mich rational, mich als Mitglied eines Teams zu sehen? Und die Antwort wäre: offensichtlich dann, wenn sich die relevanten Anderen ebenfalls als Mitglieder des Teams sehen. Jede determination of one’s identity führte damit zurück in den Zirkel interdependenter Erwartungen. Searles These von der Irreduzibilität kollektiver Intentionalität wird in diesem Zusammenhang wichtig. Diese Irreduzibilität ist der Grund dafür, daß team thinking in Koordinationssituationen nicht bloß hypothetisch, sondern faktisch rational ist. Wir wählen nicht zwischen den Alternativen, eine gegebene Entscheidungssituation als Teammitglied oder als atomisiertes Individuum zu sehen. Es ist nicht so, als wären die Sicht des atomisierten Individuums und jene des Teammitgliedes zwei verschiedene Brillen, über deren Wahl wir wiederum einen rationalen Entscheid – »ich-intentional« – zu treffen hätten. Wir nehmen eine Situation einfach entweder als Teammitglied oder als atomisiertes Individuum wahr. Die intentionale Ichbzw. Wir-Struktur ist hier keine Frage eines willkürlichen Zugriffs, A
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sondern zunächst der Gegebenheit. Freilich verhalten wir uns dabei nicht völlig passiv. In Gefangenendilemma-artigen Situationen müssen wir uns ja tatsächlich entscheiden, ob wir »rational« im Sinne unserer gemeinsamen Absichten oder »rational« im Sinne unseres individuellen Erwartungsnutzens handeln sollen. Aber das bedeutet nicht, daß wir in solchen Situationen zu entscheiden bzw. zu »wählen« haben, ob wir die anstehende Entscheidungssituation als eine sehen, die uns als Mitträger gemeinsamer Intentionen betrifft, oder als eine, in der es auf unsere individuellen Absichten ankommt. Nur insofern und weil uns solche Situationen schon als gemeinschaftliches Wesen erschlossen sind, tritt dieser Konflikt überhaupt auf. Wir werden nicht primär zum Teammitglied, indem wir der Versuchung zum Trittbrettfahren widerstehen, und wir werden nicht zum Individuum, indem wir ihr nachgeben. Nur weil bzw. insofern wir tatsächlich schon Teammitglied sind, können wir überhaupt in den entsprechenden Konflikt geraten. Ein Wesen, das gemäß den Vorgaben des »ökonomischen Verhaltensmodells« nur individuelle Intentionen hätte, könnte überhaupt nicht in diesen Konflikt geraten. Wenn wir uns also in der gegebenen Situation für das Teamhandeln entscheiden, wählen wir nicht unsere Identität, sondern wir entsprechen einfach dem, was wir selbst vorreflexiv-unthematisch schon sind. Nur weil und insofern Menschen Koordinationssituationen unmittelbar, d. h. ohne vorgängigen »Entscheid« über die eigene Identität, als solche erleben, in denen das, worauf es ankommt, uns gemeinsam angeht und uns gemeinsam gegeben ist, kann salience und das principle of coordination Koordinationsprobleme zu lösen helfen. Nur im elementaren Miteinandersein bewältigen wir anhand von Konventionen etc. jene Alltagssituationen, in denen uns Koordination ganz unproblematisch gelingt. Und gemeinsames Dasein sind wir durch eine gemeinsame Erschlossenheit unserer Umwelt: gemeinsame Intentionalität. Gemeinsame Intentionalität ist, Heideggersch ausgedrückt, ein irreduzibler Modus der »Erschlossenheit von Welt«, ein Modus, in welchem Dasein nicht im Verhältnis zu seinen individuellen Möglichkeiten bestimmt ist, sondern im Verhältnis zu den Möglichkeiten, die Dasein nur als Miteinandersein bzw. als gemeinsames Dasein hat (s. dazu oben § 12). Im Lichte des oben skizzierten Begriffs kann man sagen: team thinking ist keine Frage der reflexiv-thematischen Identität des oder der Handelnden, sondern eine Frage der Intentionalität. Es geht hier nicht darum, als 392
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was man sich selbst versteht, um einen reflexiven Selbstbezug des oder der Handelnden. Was in Frage steht, ist vielmehr das intentionale »Licht«, in dem uns derartige Entscheidungssituationen, heideggerisierend gesagt, erschlossen sind: ob sie uns als vereinzelte Individuen oder als Gruppenmitglieder, als individuelles oder als gemeinsames Dasein »angehen«. Das »Selbst«, welches wählt, steht also weder vorgängig schon fest – noch können wir es frei bestimmen. Searles starke These von der Irreduzibilität kollektiver Intentionalität trägt insofern wesentlich bei zum Verständnis der Rationalität von Koordination und damit der Handlungsrationalität überhaupt. Umso überraschender mag es scheinen, daß Searle in seiner 2001 in Buchform veröffentlichten Theorie der Handlungsrationalität kaum Gebrauch von diesem Theoriestück macht. Ich vermute, daß hier vor allem zwei Gründe mitspielen. Den ersten Grund könnte man vielleicht das »Kantische Vorurteil« nennen (welches freilich mit Kant ebensowenig zu tun hat wie die »Cartesianische Gehirnwäsche« mit Descartes). Dieser Sicht zufolge sind gemeinsame Intentionen einfach zu parochial, um eine überzeugende Alternative zur Egozentrik des orthodoxen ökonomischen Verhaltensmodells zu bilden. Für sie ist die Theorie des gemeinsamen Handelns nichts als eine erweiterte Form der Eigeninteressenfixiertheit des homo oeconomicus: an die Stelle des individuellen Eigeninteresses tritt das partikulare »Teaminteresse«, an die Stelle der individuellen Präferenzen die »Team preferences«. »Verpflichtung«, »commitment« ist dieser Sich zufolge mehr als das, was team players einander schulden. »Commitment« wird hier nicht als Verpflichtung auf gemeinsame Anliegen, Bedürfnisse, Wünsche verstanden, sondern über streng »wunschunabhängige Handlungsgründe« eingeführt. Mir scheint demgegenüber, daß ein solcher Alternativansatz zum orthodoxen Modell der Handlungsrationalität, recht besehen, nur an Überzeugungskraft gewinnen kann, wenn er die Theorie des gemeinsamen Intendierens inkorporiert (a). Der zweite Grund dafür, daß Searle in seinem rationalitätstheoretischen Ansatz der kollektiven Intentionalität keinen (oder nur einen ganz marginalen) Platz einräumt, hat mit der oben (§ 9) schon dargestellten internalistischen bzw. methodologisch solipsistischen Beschränkung seines Begriffs der kollektiven Intentionalität zu tun, welche es auf dem Weg zu einem adäquaten Verständnis der Rationalität von Koordination zu überwinden gilt (b). A
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a) Das »klassische Modell« der Rationalität, wie Searle es nennt, bezeichnet alles Handeln als in einem bestimmten Sinn selbstisch oder egoistisch motiviert. Angenommen wird, daß selbst Akteure, die altruistisch handeln, dies um eines versteckten Eigennutzens willen tun: sei es, daß sie sich am Wohlergehen der anderen erfreuen, sei es, daß es ihnen um ihre Reputation als Wohltäter zu tun ist. Ausgeschlossen scheint dabei »starker Altruismus« zu sein, also altruistisches Handeln, welches nicht die Wünsche des Handelnden optimiert. Wie viele andere Kritiker des »klassischen Modells« vertritt auch Searle die Ansicht, daß rationales nicht-selbstisches Handeln möglich ist. Ein zentrales Anliegen des Buchs Rationality in Action ist es, gegen das »klassische Modell« die Möglichkeit und die Struktur der Rationalität »stark altruistischen« Handelns aufzuweisen und auszuleuchten. Zur Erledigung dieser Aufgabe führt Searle eine Reihe massiver konzeptueller und theoretischer Werkzeuge ins Feld. Knapp zusammengefaßt läuft sein Argument etwa wie folgt: Die »selfishness« des klassischen Modells beruht auf der Annahme, daß nur die Wünsche (desires) der oder des Handelnden Handlungsgründe sein können. Was auch immer eine Akteurin bzw. ein Akteur tut: er oder sie muß diesem Modell gemäß einen Wunsch haben, welcher, gegeben seine oder ihre Meinungen, durch seine oder ihre Wahl aus einem Set möglicher Handlungsalternativen optimiert wird. 119 Searle konfrontiert diese Annahme direkt mit der Gegenthese, daß es wunschunabhängige Handlungsgründe (desire-independent reasons for action) gibt. »Nicht-selbstisches« Handeln ist nicht in Wünschen begründet, sondern in commitments. 120 Und commitments sind – nach Searle – eine Angelegenheit der Sprache (ebensosehr wie umgekehrt die Sprache ihrerseits durch commitments bestimmt ist). »Sprechen« und »commitments eingehen« (entweder auf »eigentliche« Weise, wie im Normalfall der Alltagskommunikation, oder »parasitär«, wie im Falle der Lüge oder des Theaterspiels) sind dasselbe. Eine einfache Aussage zu machen, bedeutet schon, ein commitment einzugehen: sich auf die Wahrheit dieser Aussage festzulegen. Und dies wiederum setze das Einnehmen einer »universel119 Vgl. zur Grundstruktur des »classical model« die knappe Zusammenfassung von Elster, Jon: The Nature and Scope of Rational-Choice Explanation. In: Martin, Michael/ McIntyre, Lee C. (Hrsg.): Readings in the Philosophy of Social Science. Cambridge Mass. 1994, S. 311 – 322. 120 Vgl. Searle 2001, S. 167.
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len« oder zumindest »nicht-selbstischen« Haltung zum Behaupteten voraus. Im Sprechen selbst sei, so Searle eine Art »semantical categorical imperative« impliziert: »When you make an assertion of the form a is F, rationality requires that you be able to will that everyone in a similar situation should assert that a is F.« 121 Aus diesem Kantianischen »rationality constraint« baut Searle dann die gesuchte Brükke, die vom Eigeninteresse zum »starken Altruismus« führt. Wenn ich sage, daß ich Schmerzen habe, und wenn ich dies als Grund für dich betrachte, mir zu helfen, sieht das zwar zunächst wie der Ausdruck reinen Eigeninteresses aus. Aber gemäß dem »semantischen Kategorischen Imperativ« impliziert dieser Ausdruck eine allgemeine normative Festlegung: »For all x and for all y, if x is in pain and x needs help because x is in pain, y has a reason to help x.« Und das deckt auch den Fall ab, in dem umgekehrt du Schmerzen hast, und ich derjenige bin, der zur Hilfe zu eilen hat. 122 Mit der Äußerung »ich habe Schmerzen« kreiere ich damit in der gegebenen Situation einen Grund für mich, unter entsprechenden Umständen (mutatis mutandis) dir zu helfen: dieser Grund ist wunschunabhängig, denn er stellt einen Grund für mein Handeln dar ganz unabhängig davon, ob ich jenseits meiner normativen Festlegung auf die Wahrheit der genannten allgemeinen Aussage noch einen Wunsch habe, dir zu helfen, wenn du Schmerzen hast. So mag es scheinen daß durch den »semantischen Kategorischen Imperativ«, der in die Struktur der Sprache eingelassen ist, die Handlungsrationalität von Sprechern den Bereich des »egoistischen« Handelns, wie es die klassische Theorie der Handlungsrationalität im Auge hat, transzendiert. Diese Theorie über den Ursprung von sozialer Normativität scheint mir freilich zweifelhaft zu sein. Selbst wenn man Searle bezüglich des »semantischen Kategorischen Imperativs« recht gibt (was angesichts der Tatsache, daß er diesen seinerseits wieder auf bestimmte Wünsche reduziert, nämlich »secondary desires« wie den Wunsch, in seinem Verhalten konsistent zu sein, nicht ganz leicht fällt) 123 : unplausibel ist auch hier die Beschränkung von sozialer Normativität (im Sinne normativer Festlegung und des Handelns aufgrund von wunschunabhängigen Handlungsgründen) auf sprachfähige Subjekte. »In order to create desire-independent reasons«, so 121 122 123
Searle 2001, S. 159. Searle 2001, S. 162. Vgl. dazu Schmid 2005a. A
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Searle in der Konsequenz seines Ansatzes, »an agent has to have a language«. 124 Die Geschichte, die Searle uns erzählt, suggeriert, daß grundsätzlich egozentrische intentionale Akteure, sobald sie sich zur Kommunikation der propositional ausdifferenzierten Sprache bedienen, sich sozusagen wider Willen in den logischen Universalismus ihres Kommunikationsmittels verwickeln. In dieser Geschichte erscheint der »semantische Kategorische Imperativ« wie ein deus ex machina plötzlich auf der Szene und verwandelt gleichsam magisch die intentionalistische Eigeninteressensfixiertheit der Akteure in einen linguistisch unterfütterten Altruismus. Schon durch die reine sprachliche Äußerung seiner Wünsche und Überzeugungen legt sich der intentionale Egozentriker gleichsam wider Willen auf allgemeine Regeln fest, sodaß Sprache als Kommunikationsmittel unseren Egoisten gleichsam zurückbindet und mit der Kraft der Logik zum Altruismus zwingt. b) Daß Searle die Brücke, die vom Eigeninteresse zum Altruismus führt, als rein sprachliche bezeichnet, daß Searle mithin dem traditionellen Bild anhängt, nach welchem Intentionalität mit Eigeninteressensfixiertheit einhergeht und bloß sprachfähige Subjekte Altruisten sein können, scheint mir immerhin umso erstaunlicher, als nach Searle ja sprachliche Bedeutung von Intentionalität abgeleitet ist. 125 Warum nicht schon intentionalen Subjekten die Möglichkeit des Handelns aufgrund von nicht-egoistischen Motiven zugestehen? Warum nicht so etwas wie normative Festlegung schon im vorsprachlichen Bereich verorten? Searles Weigerung hat wohl nebenbei auch mit dem nicht über alle Zweifel erhabenen Gebrauch zu tun, den er im Zusammenhang seiner Kritik am classical model von der Unterscheidung von Mensch und Tier macht. Searle stellt die Sache so dar: das classical model der rein instrumentellen und eigeninteressierten Rationalität stellt die menschliche Rationalität als verfeinerte Form der tierischen Rationalität dar. 126 Sich vom classical model abstoßend macht Searle deshalb naheliegenderweise das proprium der Menschen im Kontrast zu den dem Tierreich zugeschriebenen kognitiven Kompetenzen stark und setzt dabei insbesondere auf Sprachlichkeit. Denn der Symbolgebrauch ist es, der Menschen klarer als andere Merkmale von den Tieren unterscheidet. Deswegen 124 125 126
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Searle 2001, S. 165. Vgl. etwa Searle 1998a, S. 90 ff.; 140 ff. Vgl. Searle 2001, S. 1 ff.
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ist es nur konsequent, wenn Searle das, was er am classical model kritisiert, an die Sprache bindet. Aber diese Strategie ist zu defensiv und führt auch zu einer Überbeanspruchung der in der Philosophiegeschichte sowieso schon arg strapazierten Unterscheidung von Mensch und Tier. Schon die Wünsche oder »Präferenzen«, die man einigen höheren Tieren zuzusprechen versucht sein mag, entsprechen nicht jenen der individuellen Präferenzoptimierer des classical model (zumindest soweit diese Tiere eben kollektive Intentionalität haben 127 bzw. nicht nur zusammen vorkommen, sondern miteinander sind). Und wenn wir vorsprachlich nur aufgrund unserer individuellen Wünsche handeln könnten, wäre nicht einzusehen, wie wir je zu den committed Sprachverwendern würden, die wir sind. Searles »semantischer kategorischer Imperativ« ist motivational zu schwach. Er bedarf der Stützung und findet diese, wie ich meine, in der vorsprachlichen kollektiven Intentionalität. Mir scheint, daß das Motiv der kollektiven Intentionalität hier etwas zu sehen erlaubt, was der subjektphilosophische Monologismus ebenso wie seine intersubjektivistische Kritik übersieht, und was auch Searle ob der Beschränkung seiner Theorie der kollektiven Intentionalität (s. o. § 7) nicht in den Blick bekommt: gemeinsame Intentionalität ist die Quelle sozialer Normativität. Schon elementare Formen des Gemeinschaftshandelns lassen sich nämlich nicht als Konstellationen individuell präferenzoptimierender Handlungsentscheidungen beschreiben, bzw. genauer: das »klassische Modell« der Handlungsrationalität, welches rationales Handeln als individuelles Präferenzoptimieren beschreibt, kann nicht erklären, weswegen es für die beteiligten Individuen rational ist, ihren individuellen Beitrag zu einem Gemeinschaftshandeln zu leisten. Rational ist solches Beitragshandeln bloß im »wir-derivativen« Sinn: als mein Beitrag bzw. mein Teilvorhaben zu unserem Vorhaben. Aufgrund einer Beitragsintention zu handeln bedeutet in diesem Sinn aber schon, non-selfish zu handeln (obwohl das Resultat durchaus die individuellen Wünsche des oder der Handelnden optimiert). Um zum obigen Beispiel zurückzukehren: wenn es unsere Absicht ist, uns kollisionsfrei und möglichst umstandslos zu kreuzen, habe ich den natürlichsten aller Gründe, mich auf der rechten Straßenseite zu halten. Dieser Handlungsgrund ist wunschunabhängig – Was Tomasello im Rahmen seines Versuchs, kollektive Intentionalität als humanum zu postulieren, bestreitet (vgl. Tomasello 2004).
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aber bloß in einem bestimmten Sinn. Denn das Leisten meines individuellen Beitrags wird im Standardfall nicht intrinsisch motiviert sein (also in meinem individuellen Wunsch, meinen Beitrag zu leisten), denn im Standardfall sehe ich mein Beitragen nicht als Selbstzweck, sondern als etwas, was nur in Abhängigkeit des Handelns anderer Beteiligter Sinn macht. Mein Wunsch ist es, möglichst kollisionsfrei und unumständlich am anderen vorbeizukommen. Aber dieser Wunsch ist, wie gesehen, keine rationale Basis für die Entscheidung für »rechts«. Was auch immer meine rationale Entscheidung für »rechts« begründet: es kann jedenfalls nicht mein Wunsch sein, kollisionsfrei und unumständlich am anderen vorbeizukommen (obwohl ich diesen Wunsch natürlich habe). Denn wenn ich versuchen würde, meine Entscheidung über die anstehenden Handlungsalternativen in diesem Wunsch zu begründen, würde ich in einen infiniten Regreß geraten, den Zirkel interdependenter Erwartungen. Allgemein gesagt: mein Handeln in Übereinstimmung mit dem principle of coordination ist nicht in meinem individuellen Wunsch motiviert, meinen individuellen payoff zu maximieren. Noch ist es motiviert in einem derivativen individuellen Wunsch, etwa einem Wunsch der Form »Ich wünsche, daß wir x tun«. Mein Wunsch, daß wir x tun (z. B. beide »rechts« wählen, uns ordnungsgemäß rechts kreuzen) mag eine wichtige Vorbedingung kollektiven Handelns sein, denn in Fällen, in denen ich – anders als im Straßenverkehrsbeispiel – frei bin, das Spiel zu spielen oder nicht zu spielen, mag ein solcher Wunsch der einzige Grund sein, ein Beitragsverhalten überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ulrich Baltzer hat diesen Aspekt, die individuelle Präferenz für eine Art »Abgestimmtheit« des Verhaltens, in seiner Analyse des Gemeinschaftshandelns in den Vordergrund gerückt. 128 Auf den Bereich der Emotionen bezogen (und im engeren Diskussionskontext der Entscheidungstheorie) hat Robert Sugden kürzlich auf diese Weise die Kategorie der Sympathie reformuliert: nicht als Übernahme des Nutzens des anderen in den eigenen Nutzen, und auch nicht als reine Empathie, sondern als so etwas wie eine Präferenz für ein »alignment of feelings«, also ein emotionales Gleichschwingen mit den Mitmenschen. 129 Es besteht kein Vgl. Baltzer 1999, Kap. 3. Vgl. Sugden, Robert: Beyond Sympathy and Empathy. Adam Smith’s Concept of Fellow-Feeling. In: Economics and Philosophy 18 (2002), S. 63–87. 128 129
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Zweifel, daß diese individuelle Präferenz für eine Art Abgestimmtheit mit den Mitmenschen ein wichtiges Phänomen darstellt. Aber den ontologischen »Kern« unseres Miteinanderseins stellt dies nicht dar. Solche Präferenzen sind weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für Koordination. In Koordinationssituationen ist ein solcher Wunsch nach Übereinstimmung, wie gesehen, kein rationaler Grund für mein Beitragsverhalten, denn als solcher würde dieser Wunsch nur aufgrund meiner Überzeugung funktionieren können, daß der andere sich ebenfalls für das Beitragsverhalten entscheidet, und genau das führt ja in den unendlichen Regreß. 130 So scheint es in der Tat, daß mein Beitragshandeln in keinem meiner Wünsche motiviert ist. Aber aus welchem Grund (wenn nicht aufgrund unserer individuellen Wünsche bzw. Präferenzen) leisten wir denn faktisch unsere Beiträge zu einem Gemeinschaftshandeln? Die naheliegende Option ist, das Motiv für das Beitragshandeln zu einem Gemeinschaftshandeln im Lager des historischen Widerparts des classical model der Handlungsrationalität zu suchen, im Lager nicht utilitaristisch, sondern deontologisch inspirierter, nicht zweckrational, sondern wertrational basierter Theorien der Handlungsrationalität. Aber da wird man nach dem oben (§ 14) Gesagten genausowenig fündig werden. Genausowenig wie individuelles Beitragshandeln in einem individuellen Wunsch motiviert ist, muß es notwendigerweise in einer Verpflichtung bzw. normativen Festlegung begründet sein: man denke bloß an den oben dargelegten Fall der Sonntagsspaziergänger (§ 9). Entgegen dem normativistischen Bild, wie es beispielsweise Margaret Gilbert vertritt, ist gemeinsames Intendieren nicht essentiell normativ. In vielen gemeinsamen Aktivitäten sind die Einzelnen zwar tatsächlich zum Leisten ihres Anteils verpflichtet oder haben sich die Einzelnen auf das Leisten ihres Beitrags normativ festgelegt (etwa im Rahmen einer Vereinbarung). Aber dies muß nicht so sein, um von einem gemeinsamen Intendieren zu sprechen. Ver130 Am Beispiel von Anna und Berta verdeutlicht: Berta mag den Wunsch verspüren, gemeinsam mit Anna zu wandern. Aber in der Situation, wo ein gemeinsames Wandern nur dann zustande kommt, wenn beide sich für ein Beitragshandeln entscheiden (indem sich z. B. Berta etwas auf die Socken machen und Anna gleichzeitig ihren Schritt etwas verlangsamen müßte, wenn man zusammenbleiben will), führt von Bertas individuellem Wusch, gemeinsam mit Anna zu gehen, kein Weg zu einer rationalen Entscheidung für die Handlungsoption »Beschleunigung des Schritts«. Denn dazu müßte zu diesem Wunsch die Erwartung treten, daß Anna ihren Schritt etwas verlangsamen wird, was in den infiniten Regreß interdependenter Erwartungen führt.
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gegenwärtigen wir uns noch einmal das obige Beispiel der beiden gewohnheitsmäßigen Sonntagsspaziergänger. Der sonntägliche Spaziergang ist ein genuin gemeinschaftliches Handeln, ohne daß die Beteiligten damit eine Verpflichtung bzw. normative Festlegung auf das Leisten ihres Anteils übernehmen. Beide fühlen sich frei, auch einmal nicht zum gewohnten Zeitpunkt am gewohnten Ort zu erscheinen. Und wenn der andere nicht erscheint, hat keiner von Beiden das Gefühl, daß er ihm eine Erklärung schuldig ist. Wesentlich ist im gegenwärtigen Zusammenhang: die gemeinschaftliche Absicht, den gewohnten Sonntagsspaziergang zu unternehmen, ist für die Beteiligten auch dann ein rationaler Grund, ihren individuellen Beitrag zu leisten, wenn keine Verpflichtungen bzw. normativen Festlegungen mit dem gemeinsamen Tun verbunden sind. In diesem Sinne scheint Beitragshandeln also weder Handeln aus »internen« Handlungsgründen bzw. Wünschen (desires) zu sein noch Handeln aus wunschunabhängigen Handlungsgründen (commitments und obligations). Die intentionale Struktur des Beitragshandelns paßt nicht in das Schema dieser Unterscheidung. Welcher Art sind dann aber die Gründe für Beitragshandeln? Mir scheint, des Rätsels Lösung besteht im Fallenlassen der individualistischen Prämisse, daß Wünsche (desires) stets jemandes Wünsche sein müssen, also intern in einem individuellen »motivational set«. Was fallengelassen werden muß, ist die Annahme, daß mehrere Individuen zwar die gleichen Wünsche haben können, aber nicht gemeinsame Wünsche. Wenn wir nämlich gemeinsam einen Spaziergang unternehmen, dann nicht, weil ich wünsche, daß wir einen Spaziergang unternehmen und weil du wünschst, daß wir einen Spaziergang unternehmen (und wir dies voneinander wissen). Sondern: weil wir wünschen, einen Spaziergang zu unternehmen. Der ausschlaggebende Wunsch ist weder meiner noch deiner, sondern eben unser gemeinsamer Wunsch. Weil Beitragshandeln in solchen shared desires 131 begründet ist, geht Beitragshandeln nicht konform mit dem classical model der Handlungsrationalität, denn es ist damit ein Handeln, welches nicht in etwas begründet ist, was dem individuellen »motivational set« intern ist). Und obwohl es in diesem Sinn unab131 Zur Rolle von gemeinsamen Wünschen und ihrem Verhältnis zu gemeinsamen Zielen vgl. Schmid, Hans Bernhard: Beyond Self-Goal Choice. Amartya Sen’s Analysis of the Structure of Commitment and the Role of Shared Desires. In: Economics and Philosophy 21/1 (2005a), S. 51–63.
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hängig von den individuellen Wünschen ist, setzt solches Handeln keine Sprache voraus. In diesem Sinn sind Handlungen, die nicht in den (individuellen) Wünschen der oder des Handelnden motiviert sind bzw. deren motivationale Struktur über das individuelle »motivational set« hinausgeht, keineswegs für linguistic practicioners reserviert, wie Searle dies suggeriert. Ein auf diese Weise »nichtegoistisches« Handeln ist allen Wesen eigen, welche gemeinsame Absichten bilden (bzw. allgemeiner gemeinsame Intentionen haben) können. Auf diese Weise sperrt sich das Phänomen gemeinsamen Handelns dem »classical model« der Handlungsrationalität. Die Frage ist dann: was für Gründe hat Searle dafür, daß er nicht (bzw. nicht stärker) auf seine Theorie der kollektiven Intentionalität zurückgreift, wenn er das classical model kritisiert? Warum basiert er seine Theorie normativer Festlegung (commitment) in der Struktur der Sprache, statt hinter die Sprache auf das gemeinsame Intendieren zurückzugehen? Warum situiert Searle nicht-eigeninteressiertes Verhalten bloß auf den linguistischen, den höheren Ebenen seines philosophischen Gebäudes, wenn es doch so naheliegend ist, anzunehmen, daß solches Verhalten schon auf den tieferen Stufen eine tragende Rolle spielt? Ich vermute, daß hier mindestens zwei Motive mitspielen – eines hat mit dem zu tun, was Searle von »nichteigeninteressiertem« Verhalten erwartet (a), das andere dagegen mit der oben (§ 9) schon dargestellten internalistischen Limitierung von Searles Begriff der »kollektiven Intentionalität« (b). a) Der »semantische kategorische Imperativ« ist natürlich ebenso universalistisch wie der Kantische »kategorische Imperativ«. Dem Rekurs auf ein »interest all rational beings share in avoiding contradictions of the will« 132 gegenüber wirkt eine Ableitung der Struktur normativer Festlegung (commitment) aus der intentionalen Beteiligung an einem gemeinsamen Tun hoffnungslos parochial. Wer sich an einem gemeinschaftlichen Tun beteiligt, mag ja tatsächlich in einem gewissen Sinn nicht-eigeninteressiert handeln – aber eigentlich dehnt sie oder er ihr Eigeninteresse doch einfach auf die Gruppe aus. An die Stelle des individuellen Egoismus’ tritt doch bloß so etwas wie ein »Gruppenegoismus«, ganz wie Sartre dies den Liebenden diagnostiziert hat. Es macht ganz den Anschein, daß mit dem Umschal132 Vgl. zu einer »Kantischen« Sicht auf gemeinsame Intentionalität überhaupt Swindler, J. K.: Social Intentions – Aggregate, Collective, and General. In: Philosophy of the Social Sciences 26 (1996), S. 61–76 (hier S. 71).
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ten von individuellem Handeln zum Gemeinschaftshandeln nur das Subjekt »kollektiviert« wird, an der grundsätzlichen Perspektive aber nichts geändert wird. Es scheint vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, daß Searle in seiner Kritik des »classical model« nicht auf kollektive Intentionalität zurückgreift, sondern auf so etwas wie den »semantischen kategorischen Imperativ«. Denn wenn »nicht-eigeninteressiertes Verhalten« Instanz einer grundsätzlichen Kritik des klassischen Modells sein soll, muß es mehr sein als so etwas wie Handeln aus Loyalität zu einer partikularen Wir-Gruppe. Der eigentliche Kontrast zum Egoismus des klassischen Modells ist nicht ein »Kollektivegoismus« der partikularen Gruppe, sondern etwas, was jede (individuelle oder kollektive) Selbstzentrierung überschreitet: eine schlechthin universalistische Haltung, wie sie der »semantische kategorische Imperativ« zum Ausdruck bringt. Der eigentliche Gegensatz ist nicht der zwischen Individualismus und (partikularistischer oder universalistischer) Gemeinschaftsorientierung, sondern derjenige zwischen (individuellem oder kollektivem) Egoismus und Universalismus, zwischen (individuellem oder kollektivem) Interesse und schlechthin interessenunabhängiger Pflicht. Verständlich ist diese Entgegensetzung insbesondere auch deswegen, weil partikulare Gruppenloyalitäten oft genug auch tatsächlich gegen universalistische Gesichtspunkte ausgespielt werden – »Right or wrong, my country!« Daß das Gruppeninteresse, der Gruppenstandpunkt oft tatsächlich in einen Gegensatz zu einer universalistischen Perspektive bzw. zur Pflicht tritt, heißt allerdings nicht, daß es tatsächlich prinzipiell keinen Weg von »unserem« Standpunk zu einem schlechthin universalistischen Standpunkt gibt. Das Gemeinschaftliche läßt sich im Gegensatz von Universalismus und Partikularismus nicht umstandslos und in globo dem letzteren zuschlagen. Das Gemeinsame sperrt sich der Unterscheidung von Einzelheit und Allgemeinheit. Oder vielmehr: das in dieser Unterscheidung Unterschiedene existiert nur als die äußersten Eckpunkte, als die Extreme im Spektrum der Gemeinsamkeit. Erst die Blindheit für das Phänomen der Gemeinsamkeit läßt Einzelheit und Allgemeinheit, Partikularismus und Universalismus in einen scheinbar unversöhnlichen Gegensatz treten. Nur wenn sich der Rekurs auf das Gemeinsame notwendigerweise nicht mit der Orientierung am schlechthin Allgemeinen vertragen würde, bräuchten wir ein Instrumentarium wie den »semantischen kategorischen Imperativ«, der uns direkt vom individuellen Eigeninteresse zum 402
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Platonischen, gleichsam interesselosen und unparteiischen »enjoyment of general welfare« 133 bringt. Wie Wilfrid Sellars und rezenterweise Robert Brandom gezeigt haben, kann man den Kantischen, strikt universalistischen Standpunkt aber selbst als eine Form der »Wir-Attitüde« bzw. der Gruppenloyalität verstehen. Eine universalistische Haltung steht nicht im Gegensatz zur Perspektive, die wir als »eine (oder einer) von uns« haben. Allgemeinheitsversessenheit wie individueller Egoismus sind selbst sozusagen nur Randphänomene des Miteinanderseins. Dementsprechend muß auch die Struktur von so etwas wie einer universalistischen normativen Festlegung (commitment) nicht im Gegensatz zur Beteiligung an einem Gemeinschaftshandeln gesehen werden; universalistische »commitments« haben durchaus mit der Teilnahme an einem »Wir« zu tun – nämlich mit der Teilnahme am weitesten, am wenigsten parochialen »Wir«. 134 b) Noch schwerer wiegt wohl ein anderer Grund für Searles Weigerung, kollektiv intentionales Verhalten als die elementare Form nicht-eigeninteressierten Verhaltens zu präsentieren. Wie oben gesehen ist es nach Searle charakteristisch für nicht-eigeninteressiertes Verhalten, daß es in wunschunabhängigen Handlungsgründen motiviert ist. Searle kritisiert das classical model insbesondere deswegen, weil dieses davon ausgehe, daß die Handlungsgründe in den Wünschen des oder der Handelnden bestehen müßten. Und eine Fassung dieser Wunschabhängigkeit der Handlungsgründe ist die These von Bernard Williams, welche Searle an dieser Stelle zitiert: die These, daß die Handlungsgründe ein Teil des motivational set des oder der Handelnden sein müssen. 135 Wenn Searle nun dazu eine frontale Gegenposition bezieht, dann heißt dies auch, daß er Handlungsgründe proklamiert, welche ganz unabhängig davon sind, was für Wünsche oder Bedürfnisse der oder die Handelnde hat. In diesem Sinn müssen die Gründe für das Handeln, welche Searle gegen das classical model stark macht, eben von der Art sein, welche Williams ausschließt: nämlich »externe« Handlungsgründe. Dies aber schließt gemeinsame Absichten von der Klasse möglicher Kandidaten für die Cf. Sellars 1974, S. 40 f. Cf. Sellars 1965; 1974, S. 40 ff.; 1980; 1992, S. 222; Brandom 1994, S. 643 ff. 135 Vgl. dazu Williams, Bernard: Internal and External Reasons. In: Harrison, Ross (Hrsg.): Rational Action. Studies in Philosophy and Social Science. Cambridge UK 1979, S. 17–28. 133 134
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Rolle von solchen »nicht-klassischen« Gründen von vornherein aus. Denn wenn es, wie oben gesehen, auch so ist, daß das eigene Beitragsverhalten nicht in den individuellen Wünschen des Akteurs motiviert ist, heißt dies nicht, daß solches Verhalten wirklich wunschunabhängig ist. Denn es ist durchaus in Wünschen begründet, wenn auch in unseren Wünschen. Die entscheidende Frage ist nun: ist unser Wunsch intern hinsichtlich meines motivational set oder nicht? Wenn die Antwort lautet, daß »unser Wunsch« intern ist, scheint man Searle recht geben zu müssen, wenn er seine Theorie nicht-eigeninteressierten Verhaltens nicht in der Theorie der gemeinsamen Intentionalität fundiert. Wenn er aber umgekehrt extern wäre, dann wäre aus der Perspektive der einzelnen Handelnden der gemeinsame Wunsch nicht ihr Wunsch, was zur Frage führt: wessen Wunsch dann? Wenn gemeinsame Wünsche nicht zum motivational set der Einzelnen gehören – sind sie dann Wünsche eines Kollektivsubjekts? Wie gesehen, wendet sich Searle gegen den group mind, indem er die gemeinsame Intentionalität in den Theorierahmen des methodologischen Solipsismus einpaßt (vgl. oben § 8). Ein gemeinsamer Wunsch hätte, Searle gemäß, zwar die irreduzible Form »wir wünschen x«, wäre aber als solcher »im Kopf der Einzelnen«. Der Unterschied zwischen im klassischen Sinn eigeninteressiertem Handeln und so etwas wie Teamhandeln wäre bloß, daß die oder der Einzelne im ersten Fall aufgrund eines Wunsches der Form »ich wünsche x« handelt, im zweiten Fall aber aufgrund eines Wunschs der Form »wir wünschen x«, wobei dieser zweite Wunsch, obwohl irreduzibel kollektiv in seiner Form, nicht weniger intern wäre als die rein individuelle Version. Nach der obigen Kritik dieser Sicht legt sich aber ein anderes Verständnis nahe. Gemeinsame Wünsche sind nicht von der Form von Wünschen, welche durch einzelne Individuen »gehabt« werden, noch setzen sie umgekehrt ein Kollektivsubjekt voraus. Sie sind, mit anderen Worten, weder intern bezüglich eines individuellen motivational set, noch sind sie eigentlich extern. Handeln aufgrund von gemeinsamen Wünschen ist weder eigeninteressiertes Handeln noch ist es umgekehrt Handeln aufgrund von wunschunabhängigen Handlungsgründen. Ein gemeinsamer Wunsch transzendiert die Grenzen des individuellen motivational set; er ist nicht wirklich mein Wunsch, aber er ist auch nicht extern gegenüber dem, was ich wünsche. Solche Wünsche durchkreuzen mithin die Unterscheidung zwischen dem, was intern, und dem, was extern ist. Wer sein Teil zu einem gemeinsamen Tun beiträgt, handelt weder eigeninteressiert 404
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noch »stark altruistisch«. Nicht eigeninteressiert handelt sie oder er deshalb, weil ihr oder sein Handeln nicht in ihren oder seinen Wünschen begründet ist. Nicht »stark altruistisch« handelt sie oder er, weil dieses Handeln auch nicht wunschunabhängig ist. Mit einem Ausdruck von José Ortega y Gasset gesagt handelt sie oder er vielmehr nostristisch. 136 Dieses Handeln ist per se sozusagen weder Handeln aus Neigung noch Handeln aus Pflicht, weder egozentrisch noch an universalen Prinzipien orientiert; vielmehr erweisen sich diese beiden Fälle als Grenzfälle einer nostristischen Handlungsorientierung. 137 So scheint es, daß das Theorieinstrumentarium, welches Searle braucht, um das classical model der Handlungsrationalität zu kritisieren, nicht dazu geeignet ist, den Sinn zu erfassen, in dem etwa das »Principle of Coordination« ein rationales Handlungsprinzip ist. Und dies wegen Searles tiefsitzenden internalistischen Vorurteilen, nämlich der Ansicht, daß alle Intentionalität – ob individuell oder gemeinsam – im Bewußtsein der Einzelnen ist. Aufgrund dieses Vorurteils hält Searle dafür, die einzige Alternative zum klassischen egozentrischen Rationalitätsmodell sei ein starker Universalismus, indem das Tun nicht von Wünschen, sondern unpersönlichen logical constraints bestimmt ist. Handlungsrationalität ist aber nicht entweder eine Frage der persönlichen Wünsche oder eine Frage allgemeiner Prinzipien, die ganz unabhängig von Wünschen sind. Oft ist Handlungsrationalität vielmehr eine Sache der interpersonalen Beziehungen, in welche die eigenen Intentionen verwoben sind: eine Sache des Miteinanderseins. Um zu sehen, was es für den Autofahrer im obigen Vgl. Ortega y Gasset, José: Der Mensch und die Leute. Übers. von Ulrich Weber, Stuttgart 1957, S. 150 ff. 137 Zum Nostrismus und seinem Verhältnis zu Egoismus, Altruismus und Universalismus vgl. Schmid, Hans Bernhard: »Nostrism« – Social Identities in Experimental Games. Erscheint in: Analyse & Kritik 27 (2005c), Heft 1. Im Rahmen seiner »revised view of economic behavior« kommt John B. Davis zu einem anderen Schluß. Für Davis ist »we-intentional behavior« so etwas wie »proper altruistic« und »principled behavior«. Im Gegensatz zu dieser Sicht beziehe ich das, was hier als »principled behavior« bezeichnet wird, auf gemeinsame Intentionalität zurück, statt umgekehrt gemeinsame Intentionalität auf Pflichthandeln zu beziehen. Ganz auf der Linie von Wilfrid Sellars’ Kantianismus glaube ich, daß Pflichthandeln gemeinsame Intentionalität voraussetzt, wohingegen nicht alles wir-intentionale Handeln eigentliches Pflichthandeln ist (Davis, John B.: Collective Intentionality and Individual Behavior. In: Fullbrook, Edward [Hrsg.]: Intersubjectivity in Economics: Agents and Structures. London/New York 2002, S. 11–27, insbes. S. 19 ff.). 136
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Beispiel rational macht, sich auf der Fahrbahn rechts zu halten, genügt es nicht, seine individuellen Wünsche und Meinungen in Betracht zu ziehen. Aber ebensowenig bringt uns hier so etwas wie der »semantische kategorische Imperativ« weiter. Rationalität ist hier nicht eine Frage dessen, was im Individualbewußtsein des Fahrers abläuft, sondern eine Frage der intersubjektiven Beziehungen, in denen die Beteiligten fühlen, denken und handeln: eine Sache des Miteinanderseins. Kommen wir damit zum Schluß dieses umfangreichen Kapitels. Der Gegensatz zwischen Einzelheit und Allgemeinheit, Vernunft und Rationalität, Zweck- und Wertrationalität, Neigung und Pflicht, Egoismus und Altruismus (bzw. Eigeninteresse und commitment) hat die sozialtheoretische Debatte bestimmt. Von der Ontologie des Miteinanderseins her fällt ein verändertes Licht auf diese Gegensätze. Statt innerhalb dieser Unterscheidungen zu operieren und auf der einen oder anderen Seite Position zu beziehen gilt es in rationalitätstheoretischer Hinsicht, diese Gegensätze auf das hin zu durchschauen und von dem her zu verstehen, was ihnen ermöglichend zugrunde liegt: unser ontologisch basales Miteinandersein. Die aufklärerische Individualitätssemantik, die unter dem Titel der Vernunft Allgemeinheit unmittelbar mit Einzelheit verklammerte, erscheint vor diesem Hintergrund als ebenso prekär wie das gegenwärtige »ökonomische Verhaltensmodell«, welches die Individuen unter dem Titel »Rationalität« semantisch von der aufklärerischen Allgemeinheitszumutung befreit, dabei aber bei allen individuellen Präferenzen doch meint, eine Art versöhnenden Gemeinsinn in der (unsichtbaren) Hinterhand behalten zu können. Beide – aufklärerische Individualitätssemantik wie ökonomisches Verhaltensmodell – wollen eine radikale begriffliche Emanzipation des Einzelmenschen mit einer Perspektive auf allgemeine gesellschaftliche Integration zusammendenken, beide geraten dabei in Theorieprobleme, die davon herzurühren scheinen, daß in der Aufspaltung zwischen individuellem Eigensinn und universalem Gemeinwohl die intermediäre Ebene des Gemeinsamen theoretisch zu kurz gekommen ist. Die Sozialtheorie sollte weder versuchen, die einzelnen Menschen vom Allgemeinen her zu denken, wie dies der aufklärerischen Individualitätssemantik entspricht, noch umgekehrt das Allgemeine vom Einzelnen her. Menschen handeln zumeist weder als bloße Exemplare aus der umfassenden Allgemeinheit, noch als atomisierte Einzelmenschen. Unser Dasein bewegt sich meist, wenn auch nicht immer, 406
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in Zwischengraden der Gemeinsamkeit. Und Einzelheit bzw. Allgemeinheit, individuelles Eigeninteresse bzw. Pflicht, Rationalität bzw. Vernunft sind nur als die Eckpunkte, die Extreme im Spektrum des Miteinanderseins zu verstehen. Nur weil uns Entscheidungssituationen nicht als atomisierte, egoistische oder allgemeinheitsversessene Individuen erschlossen sind, sondern im Lichte unseres konkreten Miteinanderseins, können wir als einzelne Individuen koordiniert handeln. Phänomene wie die Rolle von salience in Koordinationssituationen weisen auf diese irreduzible Gemeinsamkeit der Gegebenheit der Situation, die in der spieltheoretischen Notation verschleiert wird, hin. Nur weil salience etwas für uns, etwas originär Gemeinsames ist, kann es dann für mich und für dich individuell zum rationalen Handlungsgrund werden. Der Blick auf das, was in einer Situation Entscheidungsrelevant ist, ist sozusagen kein individueller Blick, sondern ein Blick des vorreflexiven, irreduziblen und relationalen Miteinanderseins. Weswegen aber dem Phänomen der Koordination in sozialtheoretischer Hinsicht überhaupt ein solches Gewicht beimessen? Koordination – und nicht Kooperation! – ist das soziale Elementarphänomen schlechthin. Denn auch Konflikt – soweit es sich wirklich um Konflikt und nicht bloß um einseitige, vom Angegriffenen unbemerkte Aggression handelt – setzt Koordination voraus. Insbesondere trifft dies auf alle »höherstufigen« Formen des Konflikts zu und insbesondere auf die Konkurrenz und den Tausch, welche im ökonomischen Gesellschaftsmodell eine so zentrale Rolle spielen. Die Debatte um das ökonomische Verhaltensmodell hat sich bislang viel zu sehr auf das Kooperationsproblem konzentriert und das Phänomen der Koordination bis auf die genannten Theorieansätze weitgehend vernachlässigt. Dabei zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß der Individualismus des ökonomischen Verhaltensmodells hier an eine Grenze stößt. Koordination läßt sich im Ausgang von rational eigeninteressiert handelnden Individuen nicht begreifen. Der Ansatz bei den autonomen »Aktzentren«, wie er für das ökonomische Verhaltensmodell in Erbfolge der aufklärerischen Individualitätssemantik bezeichnend ist, der Ansatz beim eigenständigen Entscheiden vereinzelter, kategorial voneinander abgetrennter Individuen, läuft hier gleichsam ins Leere. Und mit ihm eine Rationalitätstheorie, die Rationalität als individuelles Erwartungsnutzenoptimieren versteht. Wenn diese Form des Individualismus an der Aufgabe der Analyse des sozialen Elementarphänomens der Koordination scheitert, A
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dann heißt das nicht, daß das Einzelindividuum nun zugunsten von so etwas wie einem kollektiven Makrosubjekt aufgegeben werden muß. Das Kollektivsubjekt ist eine bloße Scheinalternative zum individuellen Einzelsubjekt; nach der Überwindung der »Cartesianischen Gehirnwäsche« (s. oben § 9) sollte man sich durch das Schreckgespenst des Gruppengeistes nicht mehr zum Verbleiben in einem individualistischen Bezugsrahmen zwingen lassen. Das Kollektivsubjekt ist selbst eine individualistische Fiktion. Die Theorie der Koordination läuft, wenn sie sich aus dem individualistischen Bezugsrahmen löst, nicht dem Kollektivismus in die Arme; sie führt zurück zum Begriff eines vorreflexiv-unthematischen, irreduziblen und relationalen Miteinandersein. Für homines oeconomici ist weder salience noch das principle of coordination ein rationaler Handlungsgrund bzw. ein rationales Prinzip. Und doch ist klar: salience und das principle of coordination sind rationale Handlungsgründe bzw. –prinzipien. Wenn man an dieser starken vortheoretischen Intuition festhalten (und mithin nicht an der sozialen Wirklichkeit vorbeitheoretisieren) will, ist die Frage: was fehlt dem homo oeconomicus? Inwiefern muß über das ökonomische Verhaltensmodell hinausgegangen werden, um die Grundstruktur von Koordination zu verstehen? Die Theorie der salience und des principle of coordination führt auf den Begriff von etwas, was man heideggerisierend gemeinsame Erschlossenheit von Welt nennen könnte; im Falle der salience geht es dabei um die »Gegebenheit« des Kontextes von Entscheidungssituationen, im Falle des principle of coordination hingegen um die »Gegebenheit« dieser Entscheidungssituation selbst. Als salient wirkt der Kontext von Entscheidungssituationen nur, weil wir als an der Entscheidungssituation Beteiligte das entsprechende salient feature gemeinsam erfahren. Salience wirkt nicht als salience für dich und mich individuell, sondern als salience für uns gemeinsam. Und dasselbe gilt mutatis mutandis für die Nutzenstruktur der Entscheidungssituation bezüglich des principle of coordination. Wenn Koordination anhand von salience bzw. anhand des principle of coordination rational ist, dann ist sie das nicht für homines oeconomici, sondern für ein irreduzibles Miteinandersein. Weshalb hält sich der sozialtheoretische Individualismus so hartnäckig, wenn er doch schon an den elementarsten Phänomenen des Sozialen scheitert? Ich denke, daß dies kein Zufall ist. Der Individualismus des ökonomischen Verhaltensmodells ist keine bloße theoretische Verzerrung unseres Seins, sondern hat mit der Verfaßt408
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Rationalität-in-Beziehungen
heit unseres alltäglichen Daseins selbst zu tun. Bezüglich der Kluft, die die Analyse der Koordination aufdeckt, stehen Theorie – ökonomisches Verhaltensmodell – und alltägliches Selbstverständnis auf derselben Seite. Beide »Selbstbilder« zusammen stehen in einem erklärungsbedürftigen Gegensatz zu dem, was wir tatsächlich sind. Was wir tatsächlich sind, wenn wir uns anhand von Konventionen, Gewohnheiten bzw. anderen Formen von salience koordinieren, ist ein vorreflexives und irreduzibles Miteinandersein. In der Theorie wie in unserem alltäglichen Selbstverständnis dagegen erscheinen wir als vereinzelte Individuen bzw. »Aktzentren«, die reziproke Überzeugungen und Überzeugungszuschreibungen bilden, die »miteinander rechnen« und die in einem Umfeld sanktionierter Normen leben, zu denen man sich individuell deviant oder konform verhalten kann. Aber nur, weil wir tatsächlich etwas anderes sind als das, wofür wir uns halten, nur weil wir nicht individuelles Dasein, sondern irreduzibel miteinander sind, ist Koordination anhand von Normen überhaupt möglich. Von individualistischen Verkürzungen befreit, scheint das existenzialphilosophische Motiv der Uneigentlichkeit geeignet, dieses Fehlgehen unseres Selbstbezuges zu beschreiben. Die Uneigentlichkeit des homo oeconomicus besteht darin, daß wir an unserem Sein gleichsam vorbeigreifen, wenn wir uns in Sozialwissenschaft (und vermehrt auch im Alltag) nach Maßgabe des ökonomischen Verhaltensmodells verstehen. Wir begreifen, soweit wir uns in diesem Selbstverständnis bewegen, die »Optionen« bzw. Handlungsalternativen, die sich uns bieten, und deren Evaluation gemäß dem ökonomischen Verhaltensmodell für unser Sein so zentral ist (rational choice), immer nur als individuelle Optionen, als individuelle Möglichkeiten. Soziale Normen und Konventionen kommen dabei in der Regel bloß als Restriktionen ins Spiel. Dabei sind wir doch schon in den elementarsten Koordinationssituationen eigentlich etwas ganz anderes als die individuellen Alternativenevaluiererinnen des ökonomischen Verhaltensmodells: ein vorreflexives, irreduzibles Miteinandersein. Das Dasein, das sich und andere nach Maßgabe des ökonomischen Verhaltensmodells versteht, verdeckt in seinem Selbst- und Fremdbezug seine Möglichkeiten vor sich selbst: nämlich jene Möglichkeiten, die es nicht als individuelles Dasein, sondern nur als vorreflexiv-irreduzibles Miteinandersein hat. Das macht seine Uneigentlichkeit aus.
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Einer prominenten Einschätzung gemäß hat der Diskurs der Moderne »unter immer wieder neuen Titeln ein einziges Thema«, nämlich »das Erlahmen der sozialen Bindungskräfte, Privatisierung und Entzweiung, kurz: jene Deformationen einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion hervorrufen«. 1 Es überrascht von daher wenig, daß – wie sich an den verschiedenen Zerfallsdiagnosen zeigt 2 – die Frage »Was hält die Gesellschaft zusammen?« die unbestrittene Leitfrage der sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnose ist. 3 Die Zentrierung auf das Phänomen »sozialer Zusammenhalt« geschieht im Medium der Erosionsdiagnose, und dieser wird oft ein Appell zu mehr Gemeinsinn beiseitegestellt. Die Tendenz zu immer steilerer, bisweilen alarmistischer Normativierung in Sachen »gesellschaftlicher Zusammenhalt« ist etwa an der Entwicklung abzulesen, die der sog. »Kommunitarismus« in der letzten Dekade durchgemacht hat. Mir scheint, daß solchen Tendenzen mit Skepsis begegnet werden sollte. Der Verlust gesellschaftlichen »Zusammenhalts« wird möglicherweise bloß umso heftiger beklagt, je weniger unser Miteinandersein in seiner Eigenart überhaupt begriffen wird. Möglicherweise sind die alarmierenden Diagnosen und Appelle weniger als ein Indiz auf ein Verschwinden unseres Miteinanderseins zu lesen, denn als Indiz einer in den Systemen gesellschaftlicher SelbstbeobHabermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1988, S. 166. 2 Vgl. für den speziellen Fall Nordamerikas etwa Putnam, Robert D.: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. New York, 2000. 3 Vgl. auf den Fall der Bundesrepublik bezogen etwa Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Frankfurt a. M. 1997; ders. (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt a. M. 1997; allgemeine theoretische Perspektiven zu dieser Problematik finden sich etwa in Herfried Münkler et al. (Hrsg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. 4 Bde, Berlin 2002 ff. 1
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achtung und -beschreibung zunehmenden Blindheit für die Eigenart unseres Miteinanderseins. Der beklagte Zerfall wäre dann nicht eigentlich eine Sache unseres Miteinanderseins, sondern zunächst ein Problem gesellschaftlicher Selbstbeschreibung – als solches aber indirekt dann doch wieder ein Problem unseres Miteinanderseins. Schon die Tatsache, daß Sozialität in diesen Diagnosen qua Zusammenhalt in den Blick genommen wird, zeigt, daß dabei das Phänomen unseres vorreflexiv-unthematischen Miteinanderseins theoretisch übersprungen wird. Und wegen der Blindheit für das elementare, vorreflexive Miteinandersein, entzieht sich unsere Sozialität dann auch dem reflektierenden Zugriff; schließlich kann so etwas wie Sozialität bisweilen nur noch in der schrillen Form von apokalyptischen Untergangsdiagnosen und scharfen Appellen thematisch präsent gehalten werden. Demgegenüber führt wohl eine Ontologie des Miteinanderseins, welche die Tendenz unseres Daseins zu einem individualisierenden Selbstverhältnis durchbricht und zum vorreflexiven und irreduziblen Miteinandersein vorstößt, zu einer entspannteren Sicht unserer Sozialität. Soweit unser Dasein nicht bloß ein je individuelles, sondern auch ein irreduzibel Gemeinsames ist, erweisen sich viele Formen von Divergenz und Konflikt nicht als Formen des Verschwindens von Sozialität, als Auseinanderdriften oder als Erosion, sondern als integrale Modi unseres Miteinanderseins. Aus der Perspektive der vorliegenden Ontologie des Miteinanderseins fällt ein verändertes Licht auf den »Zement der Gesellschaft« bzw. das Phänomen »gesellschaftlichen Zusammenhalts«. Die »klassische« Sicht ist, daß es die individuelle Rationalität ist, durch welche die Gesellschaft zusammenhält – eine Theorie, deren Konstruktionsprobleme, wie oben gesehen, auf ein vorreflexiv-irreduzibles Miteinandersein verweisen. Eine andere Meinung zum Thema »Zement der Gesellschaft« kann sich auf John Locke berufen. Für Locke taugt nämlich die eigeninteressierte Rationalität nicht als »bond of society« bzw. vinculum societatis. Für ihn ist es das Vertrauen, welches die Gesellschaft zusammenhält. 4 Diese These ist, wie die Schwemme an Literatur zum Thema zeigt, in der jüngeren und jüngsten sozialtheoretischen und -philosophischen Debatte intensiv diskutiert worden, wobei es insbesondere um die Frage geht, wie Rationalität und Vertrauen sich zueinander verhalten. Der britische Philosoph Martin Hollis hat dazu kurz vor seinem Tod ein Buch ver4
Vgl. Locke, John: Essays on the Laws of Nature [1663]. Oxford 1954, S. 213. A
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öffentlicht, welches überzeugend nachweist, daß der orthodoxe Rationalitätsbegriff das Phänomen des Vertrauens nicht abdeckt und daß hier ein Moment des Gemeinschaftshandelns (Hollis spricht von teamwork) ins Spiel kommt, welches den orthodoxen individualistischen Theorierahmen sprengt. 5 Auch hier führt die Spur letztlich zur Ontologie eines vorreflexiven und irreduziblen Miteinanderseins – zumindest dann, wenn man Hollis’ Wink folgt, der schließlich in jene Überlegungen führt, welche oben in Teil 1 dieser Arbeit angestellt wurden. An dieser Stelle soll dies, nachdem hier schon so überzeugende Vorarbeit geleistet worden ist, nicht nachgezeichnet werden. In der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist eine andere Version des »Zements der Gesellschaft« in der Sozialtheorie wie in der Zeitdiagnose populär geworden. Dieser Sicht zufolge – prominent vertreten wird sie von Jon Elster – ist der eigentliche »Zement der Gesellschaft« weder eine »wechselseitig desinteressierte Rationalität« noch das Vertrauen, noch mögliche andere Kandidaten wie die eine oder andere Version der Sympathie 6 oder etwa die Liebe. Der »Zement der Gesellschaft« ist ein ganz anderer: es ist letztlich der Neid, welcher die Gesellschaft am auseinanderfallen hindert. 7 Rationalität – zumindest die Theorie rationaler Koordination – und Vertrauen mögen ja in die Richtung einer Ontologie des Miteinanderseins weisen. Aber wie paßt der Neid in dieses Bild eines vorreflexiv-irreduziblen Miteinanderseins? Das Thema »Neid« ist nicht bloß durch seine Prominenz in der gegenwärtigen Sozialtheorie sozusagen vorgegeben. Der Neid ist kein kontingentes bzw. beliebiges Beispiel nebst anderen möglichen Analysekandidaten. Vielmehr zeigt sich am Neid die oben in Kapitel IV thematisierte Struktur – die Tendenz des Daseins, sich individualisierend auf sich selbst zu beziehen und damit in seiner Gemeinschaftlichkeit zu verfehlen – mit ganz besonderer Deutlichkeit. Was sich hier zeigt, ist, daß die individualistische Beschreibung des Neides in der gegenwärtigen Sozialtheorie kein kontingenter Mißgriff ist; sie entspricht nämlich, wie im folgenden zu zeigen ist, einer eigenen Tendenz des Neidphänomens zur Verdeckung seiner geHollis, Martin: Trust Within Reason. Cambridge 1998, S. 126–142; Sugden, Robert: Beyond Sympathy and Empathy. Adam Smith’s Concept of FellowFeeling. In: Economics and Philosophy 18 (2002), S. 63–87. 7 Vgl. Elster, Jon: The Cement of Society. A Study of Social Order. Cambridge UK 1989. 5 6
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meinschaftlichen Grundlagen. Insofern zeigt sich am Neid exemplarisch, was der Komposition dieser Arbeit als Annahme zugrunde liegt: die Kritik des Individualismus ist selbst schon Teil der Rekonstruktion der Gemeinschaft.
§ 16 Die These vom »Zement der Gesellschaft« Bei der ganzen Fixierung der Sozialtheorie der letzten Dekaden auf die individuelle »rationale Wahl« und ihre immanenten Theorieprobleme haben die Affekte, Gefühle und Emotionen nicht allzu viel Beachtung gefunden. Und doch ist es klar: Sozialität ist zumeist weniger eine Angelegenheit rationaler Berechnung und zweckgerichteten Handelns als vielmehr eine Sache der Gefühle. Fast noch bezeichnender als die generelle Tendenz zum Übersehen des Emotionalen sind die Ausnahmen von der Regel, nämlich die Form, in der das Emotionale in der gegenwärtigen Sozialtheorie zum Thema wird, wenn ihm dann doch einmal etwas Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es geht dann nämlich meist nicht um die eigentlich naheliegenden Gefühle und Affekte wie Liebe oder Haß, Sympathie oder Antipathie, die Aversion gegen das Alleinsein oder der emotionale Drang zum Miteinandersein. Unter allen Gefühlen ist es ausgerechnet der Neid, dem in der Sozialtheorie bislang mit großem Abstand am meisten Aufmerksamkeit gegolten hat. Mitursächlich dafür dürfte sein, daß sich das Phänomen »Neid« in einer Hinsicht ganz besonders gut ins Bild einfügt, welches sich die im Banne des »ökonomischen Verhaltensmodells« stehende Hauptströmung der gegenwärtigen Sozialtheorie vom Gesellschaftlichen im Ganzen macht. Der Neid ist – zumindest scheint dies so – ein individueller mental state, eine höchst private Gefühlsepisode, welche bloß insofern »sozial« ist, als sie sich thematisch auf einen anderen und eines seiner Güter richtet. Der Neid entspricht dadurch der methodologisch individualistischen Pauschalthese, daß es individuelle, subjektive Intentionen sind, auf die jede Erklärung von sozialen Phänomenen in letzter Instanz Rekurs nehmen muß. So geläufig diese Position ist: Wenn man den Blick aber einmal von der (als Standardverhalten unterstellten) kühlen Zweckrationalität, dem modellhaften Marktverhalten löst und auf gefühlsmotiviertes Handeln richtet, verliert sie ihre Selbstverständlichkeit. 8 8
Selbst Jon Elsters Analyse der Affekte geht vom Phänomen der »Irrationalität« der A
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In seiner ganzen »Irrationalität« hat das Gefühlsleben nicht ohne Grund auch schon als Beleg für kollektivistische Deutungen des Sozialen gedient. Das Phänomen, daß wir in der Masse von Emotionen wie dem Enthusiasmus »fortgerissen« werden können (und nachher Schwierigkeiten haben, dieses Gefühl wirklich als das »unsrige« zu erkennen, weil es eigentlich nicht aus uns, sondern über uns gekommen ist), diente so Emile Durkheim als Illustration dafür, daß das Soziale nicht aus der Intentionalität autonomer Individuen erklärt werden kann, sondern eine Realität sui generis hat, welche umgekehrt mit »zwingender Kraft« gegenüber unserer Intentionalität, unserem individuellen Fühlen und Handeln ausgestattet ist, also in bestimmten Situationen in unserer Intentionalität sozusagen »das Ruder übernimmt«. 9 Ähnlich wenig individualistisch dürfte es, je nach Sicht, beim »Verschmelzen« der Einzelnen in der Liebe oder dem kollektiven Haß zu- und hergehen. Die Popularität des Neides in der gegenwärtigen Sozialtheorie könnte demgegenüber unter anderem auch daher rühren, daß der Neid in dieser Hinsicht völlig unverdächtig ist, daß sich hier eine solche kollektivistische (oder auch nur nicht-individualistische) Deutung von selbst auszuschließen schient. Neid ist Sache der Einzelnen, die auch Einzelne bleiben. Auch wenn in einer Gruppe alle Neid empfinden, neiden wir doch nicht gemeinsam, sondern jede und jeder empfindet je für sich ihren oder seinen eigenen Neid. Der Neid ist nämlich etwas so Privates (und so wenig Kollektives), daß wir unseren Neid kaum je öffentlich eingestehen werden. Helmut Schoeck hat diesem Aspekt in seiner im angelsächsischen Raum enorm einflußreichen, ja maßgeblichen Analyse des Neides große Aufmerksamkeit gewidmet. 10 Das Gefühl des Neides mag zwar auch »über uns kommen«, wie Durkheim sich dies vorstellt, dies aber bloß aus der Tiefe unserer eigenen Seele und von unserem »schlechteren Selbst«, kaum von den anderen her (oder sonst einer außerhalb unserer selbst liegenden Quelle). Der Neid ist, wie Schoeck darlegt, eine durchaus »einsame« Angelegenheit, die uns als Einzelne betrifft bzw. uns in unserem Umgang mit unserem Gefühle aus; vgl. Elster, Jon: Strong Feelings. Emotion, Addiction, and Human Behavior. Cambridge Mass. 1999. 9 Durkheim, Emile: Die Regeln der soziologischen Methode [1898]. Frankfurt a. M. 1961. 10 Es existieren mehrere Fassungen von Schoecks Analyse. Zitiert wird im folgenden aus Schoeck, Helmut: Der Neid und die Gesellschaft. Freiburg 1966. Nach Schoeck gilt die These von der »Privatheit« des Neidgefühls interkulturell.
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Gefühlsleben isoliert. Mag der Neid auch irrational zu sein scheinen, entspricht er doch dem klassisch-emanzipatorischen, sozialtheoretischen Bild der individuellen Selbständigkeit, der Zurechenbarkeit auf ein individuelles entscheidendes Subjekt. Anders als Durkheims Massengefühle stellt der Neid damit unsere intentionale Autonomie nicht in Frage. Daß uns der Neid, wie Schoeck sagt, gleichsam als »einsame« Einzelne betrifft, schließt freilich keineswegs aus, daß der Neid eine »öffentliche« Funktion übernimmt, daß er also in gewisser Weise eine Verbindung unter den Neidern schafft. Gonzalo Fernández de la Mora, neben Schoeck der zweite große »Klassiker« der Philosophie des Neides, hat dieses zweite Moment ins Zentrum seiner Analyse gerückt. Die Neiderinnen und Neider verbinden sich gegen die Beneideten – aber, und das ist das Entscheidende: die Quelle dieser Verbindung bleibt in den vielen einzelnen Seelen verborgen und bleibt eine Sache dieser Einzelseelen, denn das Motiv der Einigung, der Neid, kann nicht offengelegt werden. Was hier verbindet, ist nichts Gemeinsames. »Neidbasierte« Gemeinschaften bedürfen deshalb vorgeschobener Gründe, etwa: wir neiden nicht, es geht uns bloß um Gerechtigkeit. Fernández de la Mora spricht bezüglich dieser notwendigen »Heimlichkeit« vom »Hermetismus des Neides«. 11 Dies entspricht genau dem Punkt, welchen Schoeck mit dem Titel der »Einsamkeit des Neiders« belegt. 12 Und es ist jenes Charakteristikum des Neidphänomens, welches dieses in gewisser Weise höchst »affin« macht zur gegenwärtigen »atomistischen« Sozialtheorie. Die »Privatheit« des Gefühls schließt also eine »sozialitätskonstitutive« Rolle des Neides nicht aus, ganz im Gegenteil. Der Neid stiftet, wie es scheint, Sozialität von der Form, wie sie sich die individualistische Sozialtheorie als »Paradigma« unseres Miteinanderseins vorstellt: Sozialität ohne Gemeinsamkeit, Sozialität, die letztlich eine Sache der Einzelnen und ihrer individuellen und individuell bleibenden Motive ist, und dabei zugleich die Einzelnen in die Bande einer sich letztlich zur Individualität antagonistisch verhaltenden Kollektivität legt. Letzteres erklärt sich wie folgt. Neid ist in dieser Perspektive zwar im psychologischen Ursprung ein höchst individuelles Phänomen, aber er wirkt im sozialen Effekt gleichzeitig sozusagen anti-individualistisch: er verbindet die vielen Gleichartigen gegen Fernández de la Mora, Gonzalo: Der gleichmacherische Neid. Übers. von Peter Matthes, München 1987, S. 113; 116 f. 12 Schoeck 1966, S. 17. 11
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die wenigen hervorragenden Einzelnen und setzt dadurch das Kollektiv gegen die Einzelnen durch. Schon Petrarca hat beobachtet, daß sich der Neid bevorzugterweise auf das einzelne, selbstbewußte und begabte Individuum richtet, auf den Überflieger, der den »gemeinsamen Käfig aller« zu verlassen mag. 13 Die neidenden Vielen zielen auf die Wenigen, die das allgemeine Maß übertreffen, und ziehen sie im Falle des »starken Neides« (siehe dazu unten) auch tätig auf dieses allgemeine Maß herunter. Das Sichfinden der Vielen im uneingestanden neidbasierten Bündnis gegen die Einzelnen ist für manche Autorinnen und Autoren entweder die Essenz der modernen Gesellschaft (Ayn Rand sieht so in »neidbasierten« Institutionen, die den selbstbewußten Einzelnen auf das Gemeinmaß zurückstutzen, das entscheidende Charakteristikum der Gegenwart) 14 oder gar die Essenz von Sozialität schlechthin. Ein prominenter Vertreter dieser letzteren Position, Sigmund Freud, vertritt die These, daß prinzipiell jeder Form von Gemeinschaft der Neid zugrunde liegt, in aller Ausdrücklichkeit. 15 Aber selbst diese radikalsten Theorien betrachten den Neid nicht als etwas »Gemeinschaftsfähiges«, nicht als etwas, was die vielen Einzelnen teilen, was ihnen gemeinsam ist. Ayn Rands Neider finden sich nicht in ihrem Neid, sondern in (Rands Ansicht nach) vorgeschobenen Motiven wie eben etwa dem Kampf für »gerechtere Verhältnisse«. Strukturell analog aber in der Bedeutung noch um einiges prominenter ist die Rolle, die der Neid bei Sigmund Freud spielt. In der »Man scheint, mehr als Andre, Die zu neiden / Die, durch eignen Flügels Kraft gehoben, / Aus dem gemeinen Käfig Aller scheiden« (Petrarca zit. in Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Grundlagen der Moral [1840]. Werke in fünf Bänden, Hrsg. v. L. Lütkehaus. Bd. III, Zürich 1987, S. 556). 14 Vgl. Rand, Ayn: The Age of Envy. In: The Objectivist, Juli 1971, S. 1–12. 15 Unmittelbar auf »Herdentrieb« und »Massegefühl«, letztlich aber auf Solidarbeziehungen überhaupt bezogen sagt Freud: »Ein solches bildet sich zuerst in der mehrzähligen Kinderstube aus dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern, und zwar als Reaktion auf den anfänglichen Neid, mit dem das ältere Kind das jüngere aufnimmt. Das ältere Kind möchte gewiß das nachkommende eifersüchtig verdrängen, von den Eltern fernhalten und aller Anrechte berauben, aber angesichts der Tatsache, daß auch dieses Kind – wie alle späteren – in gleicher Weise von den Eltern geliebt wird, und infolge der Unmöglichkeit, seine feindselige Einstellung ohne eigenen Schaden festzuhalten, wird es zur Identifizierung mit den anderen Kindern gezwungen, und es bildet sich in der Kinderschar ein Massen- oder Gemeinschaftsgefühl, welches dann in der Schule seine weitere Entwicklung erfährt« (Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: ders.: Fragen der Gesellschaft/Ursprünge der Religion. Sigmud Freud Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt a. M. 1982, S. 61–134, hier S. 111 f.). 13
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psychoanalytischen Sicht erscheint der Neid naheliegenderweise als in seiner Grundstruktur rein individualpsychologischer Vorgang, der ganz im Gegensatz zu Durkheims Enthusiasmus (bzw. auch im Gegensatz zur medial vermittelten »Erregungsgemeinschaft«, in der Peter Sloterdijk den »starken Grund, zusammen zu sein« verortet) 16 in den verborgenen, ja verdrängten Tiefenschichten der Seele der beteiligen Einzelnen liegt. Gleichzeitig ist der Neid nach Freud konstitutiv für schlechthin jede Form von Gemeinschaft. So etwas wie Solidarität, eine Bindung an peers (ursprünglich: Geschwisterliebe), werde nur durch Neid möglich. Dies allerdings nur im Medium von Sublimierung und Rationalisierung. Über eine eigentliche Inversion eines feindlichen Gefühls (welches sich Freud als eine Art Futterneid vorstellt) in Solidarität begründet der Neid die Gemeinschaft. Wir brauchen hier diese Sicht nicht im Detail zu analysieren, um das zugrundeliegende Schema zu erkennen. Dieses ist auch hier: Der Neid qua »Zement der Gesellschaft« ist letztlich keine gemeinsame, sondern eine einsame, private, ureigenste und ungeteilte Angelegenheit des einzelnen Subjekts – gleichsam des »atomistischen Individuums« –, aber gleichzeitig und gerade als solche von eminenter sozialer Bedeutung. Das »Wir« der Neidenden ist ein distributives, kein kollektives »Wir«. Jede und jeder bleibt mit ihrem oder seinem Neid allein. Die Gemeinschaft der Neidenden ist in letzter Hinsicht keine irreduzible Gemeinschaft, sondern bloß ein Aggregat individueller, voneinander abgeschotteter und sich voneinander abschottender Neidender. Das ist mit der obigen Behauptung gemeint, der Neid passe als Phänomen scheinbar gut in den individualistischen Theorierahmen der gegenwärtigen »orthodoxen« Sozialtheorie, in das Bild, nach welchem das Soziale etwas ist, was als (intendierte oder nichtintendierte) Folge aus dem erwächst, was einzelne Individuen in ihrer isolierten cartesianischen Bewußtseinsimmanenz intendieren. Bei der Diagnose einer solchen »Affinität« zwischen gegenwärtiger Sozialtheorie und dem Phänomen des Neides sollte man aber nicht übergehen, was einer solchen Deutung entgegensteht. In einer anderen Hinsicht nämlich scheint sich der Neid ganz und gar nicht in den orthodoxen sozialtheoretischen Bezugsrahmen fügen zu wollen. Für die gegenwärtige Sozialtheorie ist ja, wie oben gesehen, nebst dem Sloterdijk, Peter: Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes. Frankfurt a. M. 1998.
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methodologischen Individualismus das Rationalitätsprinzip wesentlich. Hier aber stellt sich – zumindest auf den ersten Blick – das Phänomen »Neid« quer. Es paßt, so scheint es, überhaupt nicht zum modellhaften Standardverhalten individuell eigeninteressierter Rationalität. »A rational individual«, meint John Rawls kurz und bündig, »is not subject to envy.« 17 Wer neidet, ist nämlich nicht einfach aufs Optimieren seines Budgets aus, wie er dies gemäß dem Postulat der oben schon erwähnten »wechselseitig desinteressierten Rationalität« 18 , welche nur auf den je individuell eigenen Nutzen schielt, eigentlich tun sollte. Wer neidet, den interessiert nicht bloß, was sie oder er selbst hat. Das eigene Interesse geht über den eigenen Warenkorb, die eigene Güterausstattung hinaus. Neid impliziert schon im moderaten Fall (weak envy in Robert Nozicks Terminologie) Mißgunst, und Mißgunst verläßt den Bereich des Eigeninteresses: was der Neider selbst will, aber nicht bekommen kann, soll nämlich auch der andere nicht haben, der es besitzt oder erlangen könnte. 19 Wer demgegenüber sogar »stark« neidet (strong envy), geht so weit, eigene Nachteile in Kauf zu nehmen, wenn dadurch nur der Beneidete etwas verliert oder nicht zu erlangen vermag, was dem Neider selbst fehlt. 20 Der »stark Neidende« nimmt eigene Verluste in Kauf. Insofern ist der Neid, wie es scheint, quasi exemplarisch für die Irrationalität von Gefühlen. Zunächst läßt sich dieser Widerspruch zwischen dem Rationalitätsprinzip und dem Neidphänomen allerdings leicht abmildern oder gar ganz auflösen. John Rawls, Jon Elster und viele andere individualistische Sozialtheoretiker zeigen nämlich, wie den Neidenden im Verhältnis zum anderen, um das es ihnen vordergründig geht, hintergründig doch eigentlich einzig und allein an ihnen selbst liegt. Neid ist letztlich – entgegen dem ersten Anschein – eben doch rational im Sinne der Optimierung der individuellen Eigeninteressen. Rawls’ Bemerkungen in den Paragraphen 81 und 82 seiner Theory of Justice stellen einen konsequenten Versuch dar, das »Beziehungsphänomen« Neid vom individuellen Selbstverhältnis her zu thematisieren und theoretisch in den Griff zu kriegen. Der Grundgedanke ist der folgende. Nur scheinbar verliert die oder der Neidende seinen 17 18 19 20
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Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge 1971, S. 530. Rawls 1971, S. 144. Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974, S. 139–145. Dies entspricht Robert Nozicks Definition von »strong envy« (a. a. O.).
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eigenen »Güterkorb« aus den Augen, wenn ihr oder ihm so sehr daran liegt, daß die beneidete Person etwas verliert, daß sie oder er bereit ist, selbst etwas dafür aufzugeben. Nur scheinbar geht es ihr oder ihm dabei nicht um den eigenen Gewinn, sondern bloß um den Verlust der beneideten Person. Worum es den einzelnen Neidenden eigentlich gehe, sei nämlich ein ganz besonderes, ein relationales Gut: ihr »self-esteem«, der unter der Ungleichheit zwischen der oder dem Neidenden und der oder dem Beneideten leide. In Jon Elsters Worten: »When we attempt to take stock of ourselves, the first impulse is to look at others.« 21 Der Neid paßt entgegen dem ersten Anschein also durchaus ins Bild der rationalen Verfolgung des individuellen Eigeninteresses, zumindest insofern es eben Güter gibt, deren Wert sich nur in Relation zur Güterausstattung anderer bestimmen läßt (oder deren Wert doch im Wesentlichen durch diese Relation mitbestimmt ist). »Positionsgüter« ist der in der Sozialtheorie und speziell der ökonomischen Theorie dafür geläufige Ausdruck, 22 und in der Soziologie wird in diesem allgemeinen Zusammenhang (über den Bereich materieller Güter hinausgehend) gern von »relativem Status« bzw. »relativer Deprivation« gesprochen. 23 Vor diesem Hintergrund ist die Popularität des Neides in der gegenwärtigen Sozialtheorie nicht ganz überraschend, auch wenn das die eigentliche sozialtheoretische Nobilitierung des Phänomens »Neid« vielleicht noch nicht ganz erklärt. Auf der Grundlage der schon erwähnten bahnbrechenden Studie zum Thema von Schoeck von 1966 24 weist Jon Elster dem Neid nicht weniger als die gesellschaftskonstitutive Rolle zu: jene des »Cement of Society«. 25 Der Neid sei es, welcher die Gesellschaft zusammenhält; denn er (und die ihm korrespondierenden »Neidvermeidungsstrategien« potentieller Neidopfer) führe zu einem funktionierenden gesellschaftlichen Ausgleich und wirke dadurch den Tendenzen zum Auseinanderdriften der Gesellschaft entgegen. So spannt Elster höchst eindrücklich den Themenbogen, auf den das Programm des methodologischen IndiviElster, Jon: The Cement of Society. A Study of Social Order. Cambridge UK 1989, S. 252. 22 Vgl. dazu Hirsch, Fred: Social Limits to Growth. London 1978. 23 Vgl. dazu Merton, Robert K.: Social Theory and Social Structure. Glencoe Ill. 1957. 24 Es verdient der Erwähnung, daß diese Studie den (selten explizit genannten) Hintergrund für die ganze neuere analytische Auseinandersetzung mit dem Thema »Neid« bildet. 25 Elster 1989, S. 252 ff. 21
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dualismus die Sozialtheorie verpflichtet: die Ableitung des »sozialen Bandes« aus letztlich rein einzelsubjektiven, privaten Seelenlagen. Daß die Wahl der entscheidenden Seelenlage ausgerechnet auf den Neid fällt, mag auf den ersten Blick erstaunen, weil der Neid – im Gegensatz etwa zur Liebe oder zur Freundschaft – nicht einmal eine irgendwie »gemeinschaftlich gesinnte« private Seelenlage ist (oder vielmehr: zu sein scheint!), sondern zumindest auf den ersten Blick ein durchaus »asozialer«, ja antisozialer Affekt. Aber letztlich zeigt sich darin nur eine Konsequenz des individualistischen Reduktionismus: das Soziale soll ja auf etwas anderes, nämlich das rein Individuelle, reduziert werden. Schoeck hat die in dieser Deutung liegende Spannung klar formuliert. Der Neid impliziere eine »Antinomie«. Das neidische »Sichvergleichen« von Individuen sieht Schoeck als die im Effekt »sozialste« aller menschlichen Regungen – und zugleich vermutet er in der »Einsamkeit des Neiders«, welcher weder seinen Affekt öffentlich bzw. gegenüber den »Neidgenossen« eingestehen kann noch überhaupt mit dem Beneideten irgendeine Form von Beziehung und Bindung eingehen will, einen »Rest bockbeiniger, stolzer Individualität«; diese – und keineswegs die Gemeinschaft – bilde den »Kern unseres Menschseins«. 26 Mir scheint, daß diese atomistischen Theorien des Neides zu kurz greifen, indem sie die zutiefst gemeinschaftliche Struktur des Neides, die ich im folgenden darlegen möchte, verkennen. Ich werde in einem ersten Schritt zu zeigen Versuchen, daß die Analyse des Neides nicht bloß auf eine »atomistische« intentionale Psychologie zurückgreifen darf. Der Neid qua »privates«, innerseelisches Erlebnis hat nämlich soziale Voraussetzungen: die Analyse seiner »intentionalen Struktur« muß, so lautet mein zentrales Argument, auf ein vorreflexives, irreduzibles Miteinandersein Rekurs nehmen, welches den individualistischen Rahmen des sozialtheoretischen Standardmodells sprengt. Der Neid hat eine gemeinschaftliche »Tiefenstruktur« – aber als Phänomen manifest wird er doch, wie es von den zitierten Autoren ganz richtig gesehen wird, als höchst privates Erlebnis, dem per se nichts »Gemeinschaftliches« anhaftet. Diese Spannung zwischen den gemeinschaftlichen Ermöglichungsbedingungen des Neides bzw. seinen sozialontologischen Grundlagen einerseits und seiner Manifestation als privates, außer- oder anti26
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gemeinschaftliches, »einsames« Erlebnis (Schoecks »Einsamkeit des Neiders« bzw. de la Moras »Hermetismus des Neides«) werde ich in einem zweiten Schritt darlegen. Wie kommt es, so lautet die Frage, daß wir uns im Neid – sofern wir ihn nicht einfach zu »kommunikablen« und sozial akzeptableren Motiven rationalisieren und so gleichsam »salonfähig« machen – so radikal auf unser gleichsam »atomistisches« individuelles Selbst zurückgeworfen sehen, wenn wir gemäß der leitenden These »Neid« doch nur haben können, wenn und insofern wir irreduzibel miteinander sind? Meine Antwort auf diese Frage bedient sich einer modifizierten Form eines Arguments, welches aus Martin Heideggers Analyse der Befindlichkeit (bzw. Stimmungen, Gefühle und Affekte) in »Sein und Zeit« stammt. Der Neid, so meine These, ist ein auf eine seltsam radikale Art und Weise »fehlgehendes« Gefühl: uneigentliche Befindlichkeit. Dies insofern, als wir im Neid auf unser eigenes Dasein auf eine Weise bezogen sind, welche dazu führt, daß wir dieses Dasein verfehlen. Wir täuschen uns im Neid. Dabei betrifft diese Täuschung weder den Gegenstand unseres Gefühls (die oder den Beneideten bzw. das, worum wir die Betreffenden beneiden), noch die Qualität bzw. den »intentionalen Modus« unseres Gefühls (wie es etwa geschehen kann, wenn wir uns einreden, uns über etwas zu freuen, was uns in Tat und Wahrheit mißfällt). Worüber wir uns im Neid täuschen ist etwas anderes. Es liegt in der Selbstbezüglichkeit des Gefühls. Wir täuschen uns als Neidende im Sinn, in dem es tatsächlich wir sind, die diesen Affekt haben. Im Neid stehen wir nicht im Kontakt mit jenem »Selbst«, das wir sind, wenn wir neiden. Es liegt hier Fehlgehen in der subjektiven Selbstbeziehung vor, wie Heidegger es unter dem Titel der »Uneigentlichkeit« analysiert hat. Mit diesem Befund werde ich an den Anfang zurückkehren: zum individualistischen Neidverständnis in der gegenwärtigen Sozialtheorie. Indem diese die gemeinschaftliche »Tiefenstruktur« des Neides übersieht, folgt die atomistische Sozialtheorie der eigenen Tendenz des Neides zum individualisierenden Selbstmißverständnis der Neidenden.
§ 17 »Neidgenossenschaft« Daß Neid nicht nur eine Sache des vereinzelten Selbst ist, ist natürlich auch den individualistischsten Sozialtheoretikern nicht verborA
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gen geblieben. Ein solitäres Subjekt kennt keinen Neid. Denn zum Neid braucht es, wie auch Helmut Schoeck bemerkt hat, mindestens zwei. In der Sicht dieses Klassikers der Theorie des Neides ist das dann aber auch schon alles, was zu den sozialen Voraussetzungen des Neides zu sagen ist. 27 Hier wie später überhaupt in der angelsächsischen Debatte erscheint der Neid einfach als eine Angelegenheit von einzelnen unencumbered selves, welche aus Interesse an so etwas wie ihrem »Status« um sich blicken und die Güterausstattung der anderen Individuen, deren sie da ansichtig werden, mit der eigenen vergleichen. Daß die Dinge ganz so simpel nicht liegen, zeigt allerdings schon ein erster flüchtiger Blick auf das Phänomen. Wenn dies so wäre, dann wäre eigentlich zu erwarten, daß der Neid auf die größten der gesellschaftlich wahrnehmbaren Differenzen am heftigsten reagiert. Dem ist aber nicht so. Wir können die großartige Aussicht, die eine unserer Bekannten von ihrer Villa aus genießt, ganz neidlos bewundern – und am selben Tag unsere Arbeitskollegin aufs Heftigste um die simple Sicht auf den Vorgarten beneiden, die sie von ihrem Fensterplatz im gemeinsamen Büro aus genießt. Der Neid ist nicht das, wofür ihn Rawls zu halten scheint (und was ihn ggf. auch als »gerechtfertigt« erscheinen ließe) 28 : er ist kein Indikator für das Ausmaß der bestehenden (oder auch nur der subjektiv wahrgenommenen) binnengesellschaftlichen Differenzen, kein Indikator der gesellschaftlichen Ungleichverteilung. 29 Erklärungsbedürftig bleibt, warum dies so ist. Warum bleiben wir bestimmten riesigen Ausstattungsunterschieden gegenüber so frappant gleichgültig, während wir auf andere minimale Ungleichheiten heftig mit Neid reagieren? Eine Klärung dieser Frage muß sowohl in Betracht ziehen, wen wir beneiden (also die möglichen Neidopfer), als auch in den Grundzügen zu sagen vermögen, worum wir jene beneiden, die wir beneiden (also eine Antwort auf die Frage nach den Neidgütern bieten). Es scheint nämlich schon im Hinblick auf die Neidopfer, daß die individualistische Theorie zu kurz greift. Wir vergleichen uns nicht mit beliebigen »Die mit dem Wort Neid bezeichnete Erscheinung ist eine anthropologische Grundkategorie. Es ist ein seelischer Vorgang, der notwendig eine gesellschaftliche Voraussetzung hat: zwei oder mehr Individuen« (Schoeck 1966, S. 16). 28 Vgl. Rawls 1971, §§ 81 ff. 29 Nur wenn dem so wäre, wäre aus dem Zustand der »envy-freeness« ein Kriterium für gerechte Verteilung abzuleiten, wie dies in der ökonomischen Theorie in der Folge Hal Varians geschieht (vgl. z. B. Varian, Hal R.: Equity, Envy, and Efficiency. In: Journal of Economic Theory 9 [1974], S. 63–91). 27
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anderen, die wir in unserem Umfeld wahrnehmen. »Zwei Individuen« allein machen, anders als Schoeck sich dies vorstellt, noch keinen Neid. Es bedarf weiterer sozialer Voraussetzungen; Faktoren, die es wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher machen, ja die es überhaupt erst ermöglichen, daß sich unser Neid auf eine gegebene Person in unserem Umfeld richtet. Welches sind diese Voraussetzungen? Die Suche nach ihnen hat schon das Nachdenken über den Neid bei den griechischen Philosophen 30 bestimmt. »Der Bettler beneidet den Bettler, der Sänger den Sänger« schreibt Hesiod; 31 und Platon zählt, Hesiod zitierend, im Lysias den Neid zu jenen Affekten, welche eine »Ähnlichkeit« (homoiotes) zwischen Neidenden und Beneideten voraussetzen. Auch Aristoteles, der im zweiten Buch seiner Rhetorik die erste ausführliche und systematische Analyse der Affekte vorgelegt hat, nennt Ähnlichkeit eine Ermöglichungsbedingung des Neides: »Neid empfinden werden solche, denen gewisse andere ähnlich sind (…). Ähnlich-sein definiere ich als Ähnlichkeit hinsichtlich Herkunft, Verwandtschaft, Lebensalter, Verhalten, Ruf, Besitz.« 32 Aristoteles qualifiziert diese Formen des Ähnlichseins weiter als Sichnahestehen: Niemand, so fährt Aristoteles fort, beneidet ja jene, die »vor zehntausend Jahren lebten, oder die noch leben werden«, so wenig wie jene, die weit entfernt wohnen – etwa »bei den Säulen des Herkules«, wie Aristoteles sagt. »Neid empfindet man denen gegenüber, denen man der Zeit, dem Ort, dem Lebensalter und dem Ruf nach nahe steht.« 33 In der modernen Sozialtheorie finden sich diese These beispielsweise in der Theorie der Referenzgruppe wieder. Die Referenzgruppe ist ein Kreis von Personen, innerhalb dessen ein gegebenes Individuum seinen relativen Status bzw. seine relative Deprivation bestimmt. 34 Das subjektive Erleben dieses relativen Status wird dabei methodisch als abhängige Variable, die Referenzgruppe als unabhängige Variable behandelt, d. h. es wird in der entsprechenden Forschung davon ausgegangen, daß es sozusagen von außen feststellbare, objektive soziale Faktoren gibt, welche in einer Vgl. Milobenski, Ernst: Der Neid in der griechischen Philosophie. Wiesbaden 1964. Werke und Tage, 25 – Hesiod hat hier freilich weniger Neid im Sinne unserer modernen Begriffsbestimmung im Auge als so etwas wie »Kompetitivität«. 32 Aristoteles, Rhetorik (1387b). 33 Im Englischen ist dies im Ausdruck invidious proximity geläufig. Allerdings ist die Wortverwandtschaft von »invidious« und »envy« dem Alltagsbewußtsein wohl nicht mehr transparent. 34 Vgl. Merton 1957. 30 31
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gegebenen Menge von Individuen Referenzgruppen konstituieren. Es handelt sich dabei um jene Faktoren, welche Aristoteles aufgezählt hat: beispielsweise Alter (man vergleicht sich mit den Gleichaltrigen) oder Bildung (man vergleicht sich innerhalb der Gruppe der Collegeabsolventen). Solche unabhängigen Variablen wären gemäß der Theorie der Referenzgruppe im Idealfall zu einer Liste zusammenzustellen, anhand derer um jedes Individuum herum sozusagen im Blick von außen der Kreis jener Individuen zu bestimmen wäre, denen gegenüber das Individuum seinen Status bestimmt (und also potentiell Neidbeziehungen unterhält) – ohne sich weiter um die subjektive Perspektive des Individuums kümmern zu müssen, weil von dieser ja angenommen wird, daß sie den objektiven Kriterien folgt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, daß dieses Vorgehen methodisch in die Irre führt. Man kann nämlich im Gedankenexperiment ohne weiteres Fälle konstruieren, in denen Neidbeziehungen sich durchaus einfühlbarerweise nicht nach diesen oder ähnlichen objektiven Vergleichsgesichtspunkten (Alter, Bildung, räumliche Distanz etc.) richten. Nehmen wir an, Neider A kennt Person B und Person C; alle drei sind beruflich in ein- und derselben Branche und in einer vergleichbaren Funktion tätig. B und C haben nun aber kürzlich eine Lohnerhöhung erhalten haben, die sie in bezug auf ihr Salär wesentlich besser stellt als A. Nun ist Person B hinsichtlich Herkunft, Bildung, Lebensalter etc. A sehr nahe und arbeitet zudem an demselben Ort; C dagegen ist in all diesen Hinsichten von A sehr verschieden und arbeitet an einem anderen, weit entfernten Ort. Ausgehend von der aristotelischen Neidtheorie würde man vermuten, daß sich A’s Neid primär auf B richtet. Aber das ist keineswegs zwangsläufig so. Es sind Umstände denkbar, unter denen es wahrscheinlich (und subjektiv verständlich) ist, wenn sich trotz aller räumlichen, bildungsund altersmäßigen Nähe A’s Neid primär auf C statt auf B richtet. Geradezu erwartbar ist dies, wenn z. B. B in einer anderen Firma arbeitet als A, C aber trotz anderem Arbeitsort demselben Unternehmen angehört. A wird sich in dieser Situation eher mit C als mit B vergleichen. Andererseits wird sich selbst dann A’s Neid auch auf B richten, wenn wiederum andere Gegebenheiten erfüllt sind: nämlich beispielsweise dann, wenn A und B, nicht aber C, demselben old boys network angehören. Der Neid ist offensichtlich, wie auch Schoeck bemerkt, eine Frage der »sozialen Distanz«. Aber was ist und woran bemißt sich diese soziale Distanz? Eine naheliegende Antwort lautet: sie bemißt sich an so etwas wie »Kontaktdichte« (was ja ebenfalls ein 424
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objektives bzw. objektivierbares Kriterium wäre). Aber ist es tatsächlich so, daß man eher jene zu beneiden tendiert, mit denen man auf die eine oder andere Weise mehr »zu tun hat«? Ist dies ein Kriterium, welches die anderen Kriterien auf der Liste der objektiven Vergleichsgesichtspunkte erklärt bzw. dominiert? Auch hierzu lassen sich, wie ich meine, ganz ohne weiteres Gegenbeispiele konstruieren. Nehmen wir an, Neider A ist Diplomat und steht in dieser Eigenschaft in direkten, täglichen und langwierigen Verhandlungen mit B, der diplomatischer Vertreter eines anderen Landes ist. A hat also häufig mit B zu tun, aber diese Interaktion ist strategischer Natur: A folgt in seinem Umgang mit B dem Ziel, einen für sein Land günstigen Verhandlungsabschluß zu erzielen. Unter diesen Umständen ist es durchaus denkbar, daß A völlig unempfindlich auf die Information reagiert, daß B ein substantiell höheres Einkommen als er selbst erzielt, hingegen mit heftigem Neid registriert, daß dieselbe Einkommensdifferenz zu einem bloß entfernt bekannten, auf einem anderen Kontinent stationierten anderen diplomatischen Vertreter des eigenen Landes besteht. Genau umgekehrt wird allerdings A’s »Neidneigung« ausschlagen, wenn sich A weniger als Vertreter seines Landes sieht denn als Mitglied der Gruppe der »Verhandlungsteilnehmer zur Ausarbeitung des völkerrechtlichen Vertrags X«. Dies mag als Indiz dafür dienen, daß die sozialen Voraussetzungen des Neides nicht im Sinne einer Liste von Vergleichsgesichtspunkten im Stile Aristoteles’ objektivierbar sind. Denn wen man beneidet, hängt scheinbar weniger davon ab, wer einem in einem objektiven Sinn ähnlich ist, als davon, zu welcher Wir-Gruppe man gehört. 35 Neid, das neidische »Sichvergleichen«, ist nicht eine Frage der Ähnlichkeit nach objektivierbaren Vergleichsgesichtspunkten; es ist eine Frage der Gemeinschaft. Es läßt sich nicht »von außen feststellen«, sondern ist eine Sache des intentionalen Miteinanderseins. Die sozialen Vorbedingungen des Neides sind nicht Gleichheit oder Ähnlichkeit (homoiotes) hinsichtlich irgendwelcher objektiver, Die Psychologen M. P. East und F. N. Watts bemerken im Artikel »Jealousy and Envy« des »Handbook of Cognition and Emotion« (Hrsg. von Tim Dalgleish et al., Chichester 1999, S. 381 ff.), ganz im Sinne Hesiods: »an athlete is not envious of a concert pianist«, was für den Alltag eines Athleten ja wohl zutrifft – und doch bedarf es nicht mehr als einer Klassenzusammenkunft (also der Aktualisierung einer »professionstranszendenten« Referenzgruppe), und ein Gefühl des Neides des erfolglosen Athleten gegenüber dem gefeierten Konzertpianisten ist ohne weiteres möglich, ja sogar einigermaßen verläßlich erwartbar!
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von außen feststellbarer Eigenschaften, sondern Gemeinsamkeit (koinonia), das Miteinandersein – also etwas, was mit dem subjektiven Erleben der Handelnden zu tun hat (s. oben § 2). Die grundsätzliche Vermutung, welche der folgenden Analyse zugrundeliegt, lautet, daß die soziale Voraussetzung des Neides ein vorreflexives und irreduzibles Miteinandersein von Neidenden und Beneideten ist. Die obigen Beispiele legen die folgende Interpretation nahe. Einen von denen – ein Mitglied einer Gruppe, der man selbst nicht zugehört – kann man hassen oder bewundern, man wird sie oder ihn aber nicht beneiden. Beneiden kann man nur eine oder einen von uns. Die Analyse des Neidphänomens verweist damit auf die Ontologie des Miteinanderseins. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß das neidkonstitutive Vergleichen keine Gruppengrenzen überschreiten könnte. Aber die Entstehung von Neidbeziehungen über Gruppengrenzen hinweg ist nur insofern möglich, als Gruppengrenzen selbst sich überlagern können (wie im obigen Beispiel der Diplomaten, deren gemeinsames Dasein an einem bestimmten Punkt vielleicht nicht mehr nur dasjenige der eigenen Nation, sondern eben dasjenige der multinationalen Gruppe der Verhandlungsführenden ist). Aber auch in solchen Fällen gilt: insofern man jemanden beneidet, ist sie oder er eine oder eine von uns. Mit einem oder einer von denen vergleicht man sich nicht in neidrelevanter Weise, mögen sie einem selbst nach objektivierbaren Gesichtspunkten auch noch so ähnlich sein. 36 Denn einer oder eine von denen zählt einfach nicht für die eigene Selbsteinschätzung. Damit kann aus der Feststellung von Ausstattungsunterschieden auch kein Neid erwachsen. Das aber bedeutet, daß wir zur Beschreibung des Neidphänomens eine reichere Sozialontologie brauchen als die, mit der die gängige individualistische Sozialtheorie arbeitet. Der Neid ist ein Phänomen unseres Miteinanderseins und keine Angelegenheit von unencumbered selves, die sich von einem Interesse an Positionsgütern dazu treiben lassen, um sich zu blicken und die beliebigen anderen, die sie da gerade zu sehen bekommen, auf (oder unter) das eigene Niveau herabzudrücken, so daß aus den vielen vereinzelten Dies heißt nicht, daß objektive Unterschiede für das Miteinandersein überhaupt keine Rolle spielen. Dies spricht schon aus dem oben genannten specified range constraint des »Wir«-Sagens. Wer sich auf sich selbst und andere mit »wir« bezieht, muß wissen, wen sie oder er damit meint. Und dieses Wissen verweist im Normalfall auf Bedingungen, unter denen die Mitgemeinten und die Ausgeschlossenen für jedermann, also nach objektiven Gesichtspunkten, unterscheidbar sind.
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»Ichen« per Gleichmacherei so etwas wie »Zusammenhalt«, so etwas wie eine Gesellschaft entsteht. Ohne irreduzibles Miteinandersein kein Neid. Wenn wir uns auf uns selbst nur als »ich« und auf den anderen nur als »du«, »sie« oder »er« beziehen könnten, wenn wir also nicht auch genuin gemeinsam wären, könnten wir einander nämlich hassen oder bewundern, aber nicht beneiden. Der Neid hat eine Wir-Struktur, er setzt Gemeinschaft voraus (und ist mithin nicht umgekehrt die Quelle aller sozialen Gruppen bzw. Solidarbeziehungen, wie etwa Freud dies vermutet hat 37 – und wie das um einige Register verschoben auch noch in der These vom »Zement der Gesellschaft« nachschwingt). Dieser Befund zum Verhältnis der Ontologie des Miteinanderseins zum »Zement der Gesellschaft« läßt sich noch vertiefen, wenn wir jetzt von der Frage, wen wir beneiden, zur Frage übergehen, worum wir uns beneiden. Auch dieses »Worum« ist ja konstitutiv für den Neid: man beneidet jemanden (oder mehrere) um etwas. Zu den Neidenden und den Neidopfern gehören auch die Neidgüter. Ausgehend von der individualistischen Sicht des Neides in der gegenwärtigen Sozialtheorie lautet die Frage hier: Ist es wirklich bloß von unseren individuellen Präferenzen abhängig, woran sich unser Neid entzündet? Ist es mit anderen Worten individuelle Sache meiner intentionalen Autonomie, meiner individuellen Werthaltung, meiner ureigensten Präferenzen, worum ich andere beneide? Ist die Tatsache, daß ich etwas wertschätze, Voraussetzung genug, jemand anderen (einen von uns) darum zu beneiden? Dies wäre der Fall, wenn der Neid im Kern einfach eine Reaktion darauf wäre, daß der andere etwas hat, was ich will, wie Elster dies behauptet. 38 Es wäre der Fall, wenn – in der etwas komplexeren Version von Gonzalo Fernández de la Mora – das bloße Gefälle zwischen dem eigenen, aktuell empfundenen »Glück« und dem Glück, das man empfinden würde, wenn Zu Freuds These von der Herkunft der Geschwisterliebe aus dem Futterneid vgl. oben. Konkurrentinnen um die Gunst eines Idols finden sich, so Freuds Beispiel aus dem Kontext der zitierten Passage, zu »Fanclubs« zusammen, obwohl sie sich gegenseitig die Augen auskratzen könnten. Ich glaube, daß auch Freud hier übersieht, daß sich Geschwister zwar gegenseitig der Nahrung berauben wollen bzw. hassen, nicht aber beneiden könnten, wenn sie nicht schon zuvor Mitglieder einer Wir-Gruppe wären. Insofern muß die Analyse sozialer Gemeinschaft tiefer greifen, als Freud dies sieht. Futterneid, wie der Neid überhaupt, setzt sozialontologisch mehr voraus als die bloße Konkurrenz um knappe Ressourcen. 38 Vgl. Elster 1999, S. 105. 37
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man in des anderen Schuhe stünde, kombiniert mit dem Gefühl der Unfähigkeit, diesem Gefälle durch Verbesserung der eigenen Situation abzuhelfen, Ursache des Neides wäre. 39 Aber auch im Hinblick auf die Neidgüter greift der individualistische Erklärungsansatz, wie sich leicht zeigen läßt, schlicht zu kurz. Daß wir jemand anderes Güterausstattung unserer eigenen vorziehen würden und daß wir uns für unfähig halten, der bestehenden Differenz zwischen der eigenen und der fremden Güterausstattung durch Verbesserung der eigenen Situation abzuhelfen, bedeutet nämlich noch lange nicht, daß wir nun mit Neid reagieren müssen. Ein Gedankenexperiment mag auch hier das Zukurzgreifen atomistischer Beschreibungen verdeutlichen. Gehen wir von der folgenden Versuchsanordnung aus. A’s Selbstschätzung gründet sich vor allem auf zwei Faktoren, nämlich seine sportliche Leistungsfähigkeit und sein Einkommen. Beides ist ihm gleich wichtig, und in beiden Bereichen sieht er keine Möglichkeit, sich selbst durch vermehrtes Training bzw. durch Erwirken einer Lohnerhöhung o. dgl. zu verbessern. Nun bewegt er sich in zwei WirGruppen, welche beide für sein Leben – sein Dasein – gleichermaßen bedeutsam sind: die Firma, in der er arbeitet (und als deren Angestellter er sein Einkommen erzielt), und der Sportclub, in dem er seine ganze Freizeit verbringt (und in dem er sich fit hält). Außer A ist niemand Mitglied beider Gruppen; die beiden »sozialen Kreise«, A’s Arbeitskollegen und A’s Sportclubkollegen, sind mit Ausnahme von A überschneidungsfrei. A kennt aber durch beiläufige Beobachtungen von den einzelnen Angehörigen beider Personenkreise sowohl ihr Einkommen wie auch ihre sportliche Leistungsfähigkeit. Nun bekommt es A plötzlich in beiden Wir-Gruppen mit je einem neuen Mitglied (Firmenkollege B und Sportsfreund C) zu tun, welche ihm beide in beiden Bereichen über den Kopf zu wachsen drohen. Beide sind sowohl sportlich leistungsfähiger als auch einkommensstärker. A reagiert mit heftigem »starkem« Neid, d. h. A ist bereit, einige Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen, um diesem ärgerlichen Zustand des Übertrumpftwerdens abzuhelfen. Mit etwas Aufwand und Einsatz könnte A sowohl B als auch C daran hindern, ihn zu überflügeln. (Den Firmenkollegen B könnte A beispielsweise mit Arbeit überschütten, damit dieser seine sportliche Leistungsfähigkeit nicht weiter steigern kann bzw. an Sportlichkeit einbüßt; mit etwas firmeninternem Intrigieren könnte er zusätzlich dafür sorgen, daß die 39
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anstehende Lohnerhöhung von B kassiert wird. Über seine indirekten Beziehungen zur Firma von C könnte A ein gleiches auch bezüglich seines Sportsfreunds bewerkstelligen, also C’s Einkommenserhöhung verhindern. Auf C’s sportliche Leistungsfähigkeit könnte A schließlich mit einigem Einsatz an Mitteln dadurch Einfluß nehmen, daß er ihm clubintern Trainingsmöglichkeiten entzieht.) Es stehen A also vier mögliche »Neidakte« zur Auswahl: er kann B’s Einkommen, B’s sportliche Leistungsfähigkeit, C’s Einkommen oder C’s sportliche Leistungsfähigkeit reduzieren. Aber alle diese Neidakte sind gleichermaßen kostenintensiv – auch wenn es im vorliegenden Fall nur um »Beziehungskapital« geht. Nehmen wir nun weiter an, A’s Mittel reichen nur für zwei dieser vier möglichen »Neidakte«. Will er seine Möglichkeiten ausschöpfen, bleiben ihm damit vier Optionen: er kann 1. auf B’s Einkommen und sportliche Leistungsfähigkeit Einfluß nehmen oder 2. auf C’s Einkommen und sportliche Leistungsfähigkeit, oder 3. auf B’s Einkommen und C’s sportliche Leistungsfähigkeit, oder 4. auf B’s sportliche Leistungsfähigkeit und C’s Einkommen. Was wird er tun? Gehen wir von der Standardtheorie aus, ist zu dieser Frage nicht viel zu sagen. A wäre ja gerne sowohl sportlicher als auch einkommensstärker, sieht keine Möglichkeit, sich selbst diesbezüglich zu verbessern, und beide, B wie C, sind sowohl sportlicher als auch einkommensstärker. Aus dieser Perspektive ist nicht zu sagen, weshalb A den einen oder anderen in dieser oder jener Hinsicht mehr beneiden sollte. Dennoch ist m. E. aus der Perspektive des gesunden Menschenverstandes klar und sicher voraussagbar, wie A entscheiden wird: er wird Variante drei wählen, also den Firmenkollegen daran hindert, ein höheres Einkommen zu erzielen, und dafür sorgt, daß der Sportsfreund ihn sportlich nicht überflügelt. Denn wenn A auch »Einkommen« und »sportliche Leistungsfähigkeit« im Ganzen seines Lebens durchaus gleichermaßen wichtig und insofern qua individuelle Präferenzen völlig gleichrangig sind, sind ihm die beiden Dinge nicht auch als Mitglied der beiden Wir-Gruppen gleich wichtig. Im Sportclub »zählt« die sportliche Leistung, unter Firmenkollegen hingegen »kommt’s aufs Einkommen an«. Nach den Gründen für seine Entscheidung für Variante drei gefragt, würde Neider A wohl antworten, daß ihm die Sportlichkeit von B und das Einkommen von C im Gegensatz zum Einkommen von B und zur Sportlichkeit von C »egal« seien, daß er einfach viel leichter damit fertig wird, einen sportlicheren Firmenkollegen und einem besserverdienenden Sportclubkollegen zu haben als umgekehrt, oder auch einfach, daß A
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ihm schließlich wenig daran liege, der Sportlichste in der Firma und der Bestverdienende im Sportclub zu sein, weil es in der Firma das Einkommen, im Sportclub hingegen die physische Leistungsfähigkeit ist, welche in der Gemeinschaft »zählt«. Das aber heißt, etwas näher besehen: Wollen wir Neid erklären, reicht es nicht, bei vereinzelten Individuen anzusetzen, die geleitet von individuellen Präferenzen ihre Güterausstattung miteinander vergleichen; beantworteten wir die Frage, worum wir uns beneiden, bloß mit dem Verweis auf individuelle Präferenzen, müßten wir alle vier »Neidoptionen« des genannten Gedankenexperimentes als gleichmöglich betrachten. Daß demgegenüber nur eine dieser Option tatsächlich in Betracht kommt, heißt, daß der Verweis auf individuelle Präferenzen und die Situation des Vergleichs zwischen Individuen hier nicht zureicht. Ob ich Neid empfinde, und worum ich eine oder einen anderen beneide, hat weniger damit zu tun, was für Präferenzen ich habe (und was für eine Güterausstattung und was für individuelle Präferenzen der andere hat), oder welches »Glück« ich gemäß meiner individuellen Präferenzhaltung empfinden würde, wenn ich in den Schuhen des anderen stünde. Es hat vielmehr damit zu tun, worum es bei uns, dem gemeinsamen Dasein, welches wir sind, geht, welche Präferenzen wir haben, was wir gemeinsam wertschätzen. Mein Neid sagt insofern auch in bezug auf die Neidgüter weniger über mich als einzelnes Individuum (und allenfalls über das Opfer meines Neides) aus als über uns. Der Neid erweist sich auch im Hinblick auf die Neidgüter als ein Phänomen des Miteinanderseins. Für dieses Phänomen hat freilich auch die bisherige, orthodoxe Sozialtheorie eine Erklärung parat. Sie reduziert dieses Phänomen selbst wiederum auf eine individuelle Präferenz, nämlich ein individuelles Interesse an so etwas wie Status. Daß wir Wesen sind, die im Kreis von Menschen, in dem wir uns bewegen, gerne etwas gelten, könne, so wird gesagt, im Erklärungsrahmen von methodologischem Individualismus und rational choice gut gedeutet werden. So legt etwa der Ökonom Robert Frank großes Gewicht auf die Tatsache, daß nicht bloß der absolute individuelle Warenkorb, sondern der relative Status im Sozialen eine große Rolle spielt. 40 Viele soziale Phänomene erklären sich nach Frank aus der Bedeutung von Referenzgruppen. Andererseits analysiert Frank die als so wichtig erkannte GruppenFrank, Robert H.: Choosing the Right Pond. Human Behavior and the Quest for Status. New York/Oxford 1985.
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zugehörigkeit selbst wieder im Rahmen eines im Grunde individualistischen sozialontologischen Theorieansatzes; er setzt beim (vermeintlichen) Phänomen an, daß Gruppenzugehörigkeit (zumindest in vielen Bereichen der westlichen Gesellschaften) weitgehend das Resultat individueller Wahl sei, daß wir in der Auswahl unserer Freunde etc. in der Bestimmung unserer Referenzgruppe mithin frei seien. Diese Grundthese drückt auch der Titel von Franks einschlägigem Buch mit aller wünschbaren Deutlichkeit aus: Choosing the Right Pond. Wem es nicht wohl ist als kleiner Fisch im großen Teich, wählt sich eben einen kleineren, in dem er dann weiter oben auf der Größenskala zu liegen kommt. Den »Statuswert« unserer Fitneß – um auf das obige Beispiel zurückzukommen – können wir nicht nur durch eifriges Training (und entsprechendes Aufrücken in der Statushierarchie unseres Sportclubs) erhöhen, sondern auch dadurch, daß wir einem »weniger fitten« Sportclub beitreten, einem Club, in dem uns unsere gegebene Fitneß deshalb automatisch eine höhere Statusposition im formellen oder informellen ranking einträgt. In Club B mögen wir nämlich mit derselben Kondition als topfit gelten, welche uns in Club A als eher schlaff disqualifiziert. Franks Analyse schreibt so Präferenzen »Cäsarschen« Typs – »lieber der Erste im gallischen Dorf als der Zweite in Rom!«, »lieber ein großer Fisch im kleinen Teich als ein kleiner Fisch im großen Teich« – in weitem Umfang tatsächliche praktische Relevanz für unsere Entscheidungen zu. 41 Mir scheint allerdings, daß dieses Bild des »choosing the right pond« schief ist (bzw. auf ungeklärten, ja systematisch verdeckten Voraussetzungen beruht) und näherhin an einer individualistischen Fehlinterpretation dessen leidet, was »Status« ausmacht. Mag man auch zugestehen, daß es möglich (und vielleicht sogar nicht selten) ist, individuelle Präferenzen jenes Typs zu haben, wie sie sich in Cäsars Diktum aussprechen, impliziert dies doch keineswegs, daß man seine Referenzgruppe auch tatsächlich wählen kann, daß man solche Präferenzen mithin in einem Handlungsfolgekalkül tatsächlich optimieren kann. Gruppenzugehörigkeit ist nämlich, wie ich meine, 41 Dabei beantwortet Frank auch die Frage, weshalb denn nicht alle außer den Inhabern der Topposition in der »höheren Liga« der niedrigeren »Liga« beizutreten versuchen. Im Falle von entlöhnten Mitgliedschaften stelle sich in Hochstatusgruppen ein Umverteilungsmechanismus ein, welcher dazu führe, daß ein niedriger Status in Hochstatusgruppen absolut betrachtet attraktiver ist als die erreichbare, bezüglich des relativen Status höhere Position in der niedrigeren Statusgruppe (Frank 1985).
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nicht unmittelbar im Rahmen eines individuellen Handlungskalküls bzw. individueller Präferenzoptimierung disponibel. Man kann sich, wie ich meine, nicht ohne weiteres »für« oder »gegen« ein Miteinandersein entscheiden, auch wenn man sich natürlich jederzeit leicht für oder gegen Handlungen entscheiden kann, die für Existenz oder Nichtexistenz eines gemeinsamen Daseins bzw. der eigenen Zugehörigkeit bestimmend sind. So kann man vielen Vereinen ohne Vorliegen weiterer Bedingungen beitreten oder aus ihnen austreten, man kann in einer Firma eine Stelle antreten oder kündigen, heiraten oder sich scheiden lassen. Und es ist durchaus erwartbar, daß individuelle Entscheidungen dieser oder ähnlicher Art nicht ohne Folgen dafür bleiben, wen wir als unsere Referenzgruppe begreifen, der gegenüber wir unseren Status bestimmen. Solche individuellen »enter«- oder »exit«-Entscheide haben Konsequenzen bezüglich der Existenz oder Nichtexistenz eines gemeinsamen Daseins. Andererseits konstituieren Akte wie diese noch keineswegs per se das entsprechende Dasein bzw. die Zugehörigkeit zur entsprechenden statusrelevanten Wir-Gruppe. Der Akt des Austritts aus einer Vereinigung besiegelt das juristische Ende der Mitgliedschaft; aber die entsprechende Gemeinschaftlichkeit des eigenen Daseins in Fühlen, Denken und Empfinden steht auf einem ganz anderen Blatt. Sie mag vielleicht noch lange über das Ende der formellen Mitgliedschaft andauern (die betreffende Gruppe bleibt für einen »innerlich« weiterhin der entscheidende Maßstab) – oder diese Gemeinschaftlichkeit war vielleicht auch schon lange vor dem formellen Austritt vorbei (die entsprechende Gruppe hat ihre Bedeutung als Referenzgruppe allmählich verloren oder war in dieser Eigenschaft vielleicht überhaupt nie relevant). Es ist ein soziologisch durchaus gängiges Phänomen, daß sich die formelle Gruppe (die Menge der »offiziell Zugehörigen«) und die statusrelevante Wir-Gruppe (die Menge jener, »die zählen«) nicht decken. Eine Fülle von Alltagsphänomenen belegt dies. Ein neueingetretenes Mitglied mag lange neidfrei und unbeneidet bleiben, weil es irgendwie trotz formeller Zugehörigkeit doch »eigentlich nicht wirklich zählt«, wohingegen formell längst ausgeschiedene oder auch ausgetretene Mitglieder intern noch lange von höchster Statusrelevanz bleiben und auch selbst noch auf gruppeninterne Verhältnisse mit Neid reagieren können. Nehmen wir zur Illustration dieser Problematik das von Plutarch überlieferte Cäsarsche Diktum vom Gallischen Dorf (»Lieber der Erste hier als der Zweite in Rom!«) zum Beispiel. Wäre Cäsar in Rom unvermittelt auf Platz zwei gerutscht 432
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und daraufhin – nach dem Motto »choosing the right pond« – ins gallische Dorf gezogen, wäre er möglicherweise dort gar nicht der »Erste« geworden, sondern lebenslang »jener Fremde« geblieben, der, wie reich, intelligent, kräftig und charakterstark er auch immer sein mag, doch nicht wirklich »zählt« in der dörflichen Statushierarchie, und den man deshalb allenfalls bewundern oder auch hassen, nicht aber beneiden wird – ebenso wie umgekehrt für Cäsars eigene Selbstschätzung möglicherweise trotz Wegzug weiterhin die römische Statushierarchie verbindlich geblieben wäre, und nicht die dörfliche Statushierarchie, in welcher er als Fremder (einer von »denen«) trotz physischer Anwesenheit ja nicht wirklich »zählt«. Wir-Gruppen sind in diesem Sinn nicht unmittelbarer Gegenstand einer individuellen Wahl. Freilich spielen in diesen Belangen kulturelle Unterschiede eine große Rolle. In einem »konservativeren« kulturellen Umfeld (geschlossenere Gesellschaften, z. B. dörfliche Gemeinschaften) mag der Weg vom formellen »Beitritt« bis zur tatsächlichen, statusrelevanten Gruppenmitgliedschaft viel länger sein als in einem diesbezüglich eher offenen Umfeld (z. B. die suburbanen Verhältnisse Nordamerikas), wie es Robert Frank vorzuschweben scheint. Das heißt aber nicht, daß die geäußerte Kritik am Modell des »choosing the right pond« auf solche »offenere« Gesellschaften nicht zutrifft. Denn auch dort, wo (wie in den meisten zivilgesellschaftlichen intermediären Institutionen westlicher Gesellschaften) das individuelle Dazugehörenwollen die entscheidende Voraussetzung und Bedingung des tatsächlichen Mitgliedseins ist, ist dieses Dazugehörenwollen bzw. auch seine Deklaration mit der tatsächlichen Zugehörigkeit im Sinne des Miteinanderseins nicht identisch. 42 Nicht ohne Grund ist – von der soziologischen Klassik bis hin zum Kommunitarismus – unter dem Titel der Unterscheidung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« immer wieder die These vertreten worden, daß in dem Maße, in dem soziale Zugehörigkeit auf eine individuelle voluntative Grundlage gestellt wird, die entsprechenden Aggregate von Menschen ihren Charakter als Gemeinschaften (und damit ihre Relevanz für die Formung des Selbst) zu verlieren tendieren, und die RessourDies sehen bisweilen sogar liberale Optimisten wie etwa Yael Tamir, der zwar explizit davon redet, die soziale Identität sei eine Sache der individuellen »choice«, dann aber spezifiziert: »Stating that individuals can decide to adopt a new identity does not imply that they have an unlimited range of options, or that they will carry out successfully any choice they care to make, but only that they can act in ways that will bring them closer to their goal« (Tamir 1996, S. 184).
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ce »Zugehörigkeit« im Sinne eines tatsächlichen Miteinanderseins knapp wird. Diese altbekannte, meist alarmistisch formulierte These (»Erosion des gemeinschaftlichen Fundaments der Gesellschaft«) kann aus der Perspektive der vorliegenden Ontologie des Miteinanderseins folgendermaßen reformuliert werden: Eine Gesellschaft, in deren intermediären Institutionen jedermann nach eigenem Interesse und Gutdünken seine sozialen Affiliationen aussuchen kann, funktioniert deshalb, weil die beteiligten Individuen schon vorreflexiv und unthematisch (also unabhängig davon, worauf sich ihr individuelles Interesse richtet) ein gemeinsames Dasein haben. Dieses gemeinsame Dasein, das irreduzible Miteinandersein, ist aber nicht selbst Sache individueller Interessen. In diesem Sinne führt das Phänomen des sozialen Status zurück zur Frage nach der Ontologie des Miteinanderseins. Hier bedarf es freilich näheren Hinsehens. Denn die Verklammerung von Status und Zugehörigkeit, auf welche das obige Argument abstellt, scheint keineswegs zwingend zu sein. Denn es ist nicht auszuschließen, ja es ist tatsächlich ein relativ häufiges Phänomen, daß Wir-Gruppen ganz explizit Nicht-Mitgliedern Statuspositionen (oft sogar Spitzenpositionen) zuweisen – bzw. die Inhaber der Statusspitzenpositionen der Gemeinschaft sozusagen entfremden, also nicht mehr »uns«, sondern »denen« zuschreiben. Der mehr oder weniger ausgeprägte »göttliche« Charakter der gesellschaftlichen Spitzen in vielen sozialen Gebilden (von antiken Hochkulturen bis zu Fußballclubs!) bedeutet, daß der Inhaber der Statusspitzenposition eben nicht »einer von uns« ist. Ich glaube aber nicht, daß dies die These, daß Status so etwas wie ein vorreflexives und irreduzibles Miteinandersein voraussetzt, widerlegt. Es ist wohl ein evolutionär wichtiger Nebeneffekt, wenn nicht die eigentliche Ursache der Tatsache, daß der »Herrscher« eben nicht so sehr einer »von uns« als einer von »denen« – »den Anderen«, einer der »Götter« – ist, daß er bzw. seine Güterausstattung als Gegenstand des Neides nicht in Frage kommt – das wäre dann sozusagen Cäsars Chance im gallischen Dorf! 43 Wenn der Statusspitzenpositionsinhaber als »einer von denen« beschrieben wird, geht es mithin gerade darum, ihn dem Neid mittels einer Neubeschreibung zu entziehen. Und wie disfunktional dieser Neubeschreibungsversuch ist (weil die Nichtzugehörigkeitserklärung Aufgrund dieses Mechanismus schreibt Schoeck dem Neid den »zivilisatorischen Effekt« zu, Gemeinschaften nach außen zu öffnen (Schoeck 1966, S. 296).
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letztlich mit der Zuschreibung von »Status« konfligiert), wie instabil mithin die Unterscheidung von Göttern und Menschen ist, davon legen schon die Mythen ein beredtes Zeugnis ab. Unabhängig von dieser weiterführenden Frage kann aber gesagt werden: »Neidrelevant« ist Status nur als relativer Status der Mitglieder einer Wir-Gruppe. Insofern fällt vom Phänomen des Neides ein Licht auf das Miteinandersein. Dabei wird sichtbar, daß das Miteinandersein den Erklärungsrahmen atomistischer intentionaler Psychologien und Sozialtheorien sprengt. Täte es dies nicht, wäre die hier leitende Grundthese, daß Neid ein Phänomen ist, welches unser gemeinsames Dasein, unser Miteinandersein betrifft, mit einem offensichtlichen Problem behaftet. Zum Erlebnis des Neides gehört ja, daß man sich mit dem Beneideten zwar vergleicht, aber alle Gemeinsamkeit, jede Form von Beziehung zum Beneideten vermeidet – so wie es Schoeck in seiner These von der »Einsamkeit des Neiders« beschreibt. Wer neidet, erfährt sich – allenfalls zusammen mit seinen »Mitneidern« – als gegenüber der oder dem Beneideten distinkt abgehoben und in keinerlei Gemeinschaft stehend. Dies unterscheidet den Neid in aller Deutlichkeit etwa von der Entrüstung (indignation) und wird in diesem Gegensatz besonders greifbar; wer meint, »zu kurz gekommen« zu sein, appelliert geradezu an die Gemeinsamkeit der Situation, beispielsweise an die Tatsache, daß der so ungleich verteilte »Kuchen« doch letztlich gemeinsam erarbeitet worden sei o. dgl. Wer neidet, dem kommt es demgegenüber nicht auf Gemeinsamkeit an. 44 Neider sehen sich selbst und die Beneideten keineswegs als Mitglieder eines »Wir«, sie sehen sich nicht als gemeinsames Dasein, und rekurrieren in ihrem Fühlen nicht auf ein Miteinandersein, sondern unterhalten ein vollständig individualisiertes Selbst- und Fremdverhältnis, wie es die individualistische Sozialtheorie ja zur Basis des Gesellschaftlichen überhaupt erklärt. In diesem phänomenalen Gehalt des Neid-Erlebnisses könnte man nun einen direkten Widerspruch zur These von den gemeinschaftlichen Ermöglichungsbedingungen des Neides bzw. der Verwiesenheit der Theorie des Neides auf die Ontologie des vorreflexiv-irreduziblen Miteinanderseins liegen sehen: Wenn nämlich Insofern fällt von den gemeinschaftlichen Grundlagen des Neides auch ein schiefes Licht auf die häufigen individualistischen Versuche, die Empörung – »indignation« – als »Rationalisierungen« auf den Neid zurückzuführen (besonders explizit macht dies Elster 1999, S. 105).
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das gemeinsame Dasein durch so etwas wie ein explizites, reflexives »Wir-Bewußtsein« seitens ihrer Mitglieder konstituiert sein sollte, also nur dann und so lange bestünde, als ihre Mitglieder sich selbst und die anderen explizit mit dem »Wir« identifizierten, sich selbst als Mitglieder sähen, schlösse ein Erlebnisgehalt, wie wir ihn im Neid finden – »Vergleich« mit dem Anderen, aber keine Gemeinsamkeit – ein umgreifendes gemeinsames Dasein aus. Aber die Gemeinsamkeit des Daseins ist, wie oben dargestellt, keine Frage des reflexivthematischen Selbstverständnisses der Gruppenmitglieder. Ein reflexiv-thematisches Wir-Bewußtsein ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für das Miteinandersein (vgl. oben § 3). Noch ist das Miteinandersein überhaupt auf das zu reduzieren, was Individuen denken, fühlen oder beabsichtigen, wenn sie gemeinsam denken, fühlen oder beabsichtigen (vgl. oben § 9). Ein vorreflexiv-unthematischer, nicht-reduktionistischer und intersubjektiv-relationaler Begriff der Gemeinsamkeit des Daseins macht ein Miteinandersein auch da denkbar, wo sich Individuen selbst nicht als Gemeinschaftsmitglieder sehen. Dies löst den scheinbaren Widerspruch zwischen den im Rahmen der vorliegenden Analyse geltend gemachten sozialontologischen gemeinschaftlichen Vorbedingungen des Neides und der manifesten »Einsamkeit des Neiders«, welche Schoeck ins Zentrum seiner Theorie des Neides rückt. Aber auch wenn Schoecks »Einsamkeit des Neiders« auf der manifesten Ebene des individuellen »Selbstbilds« der gemeinschaftlichen »Tiefenstruktur« des Phänomens »Neid« nicht direkt widerspricht, bleibt doch eine gewisse Spannung zwischen diesen beiden Bestimmungselementen des Neides. Es scheint nämlich, daß sich Menschen im Affekt des Neides zu sich selbst (und zu den beneideten anderen) nicht als das verhalten, was sie in Tat und Wahrheit sind: nicht als »Wir«, als gemeinsames Dasein nämlich, sondern als vereinzelte Individuen. Wer Neid verspürt, »fühlt sich« nicht als das, was sie oder er je schon sein muß, um überhaupt Neid (und nicht bloß Haß) verspüren zu können. Das Neiderlebnis überspringt und verdeckt gleichsam seine eigene gemeinschaftliche Tiefenstruktur, seine gemeinschaftlichen ontologischen Ermöglichungsbedingungen. Der Neid ist deshalb, wenn das Gesagte zutrifft, ein auf eine spezifische, sehr radikale Art und Weise »fehlgehendes« Gefühl. Wir irren, wenn wir neiden. Dabei ist der hier vorliegende Irrtum nicht von der gewöhnlichen Art gefühlsmäßiger Irrungen und Täuschungen. Unser Irrtum liegt dabei nicht im »Objekt« unseres Gefühls. Ein solcher Irrtum liegt etwa vor, 436
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wenn sich z. B. hinter unserer Furcht vor Spinnen die Furcht vor etwas ganz anderem verbirgt – die Psychoanalyse hat eine Fülle entsprechender Fälle der »Objektverschiebung« in unserem Gefühlsleben aufgedeckt. Darum geht es aber nicht beim »Fehlgehen« des Neides. Unser Irrtum bezieht sich hier auch nicht auf unser Gefühl selbst. Ein Irrtum dieses Typs liegt vor, wenn wir uns über unseren Gefühlszustand täuschen, indem wir etwa glauben, uns über etwas zu freuen, was uns in Tat und Wahrheit ärgert. 45 Irrtümer dieser beiden Typen sind natürlich kata symbebekos auch im Falle des Neides möglich; 46 aber der Neid impliziert auch dort, wo er nicht »objektverschoben« und dem Fühlenden als Neid transparent ist, wesentlich einen Irrtum, der gegenüber den genannten (Irrtum bezüglich des Gehalts und Irrtum bezüglich des Modus des Gefühls) von viel radikalerer Art ist – und der quer zu den cartesianischen Fundamenten unseres Verständnisses von Intentionalität steht. Das cartesianische Argument lautet ja: egal, wie sehr ich mich in den Objekten meiner cogitationes täuschen mag, und egal, wie sehr ich mich vielleicht auch in der Einschätzung dieser cogitationes selbst täusche (indem ich etwa glaube, etwas zu wissen, was ich tatsächlich nur meine): es bin doch jedenfalls ich, der diese cogitationes hat. Dieser Selbstbezug, der ja als vorreflexiver Selbstbezug auch in jedem »sich fühlen« liegt, ist nach cartesianischer Ansicht ebenso kriterienlos wie infallibel. Die Dinge scheinen hier ähnlich zu liegen wie im Verhältnis von Reflexion und Selbstbewußtsein. Selbst wenn ich mich für einen anderen halte, bin es doch immer und unfehlbar ich, der sich für einen anderen hält, und insofern stehe ich auch dann tatsächlich in Kontakt mit mir selber (und nicht etwa einem anderen), weil ich ja von mir glaube, ein anderer zu sein – und nicht von einem anderen. Selbst wenn mein Gefühl sowohl bezüglich intentionalem Gehalt wie auch bezüglich intentionalem Modus fehlgeht, indem ich etwa glaube, mich über x zu freuen, tatsächlich aber über y wütend bin, stehe ich (scheinbar infallibel) als Fühlender in einem tatsächlichen Selbstverhältnis: es bin doch ich, der sich ärgert bzw. eben freut. Mag an der entsprechenden emotionalen Intention auch der intentionale Gehalt und der intentionale Modus fehlgehen: der subjektive Selbstbezug ist Vgl. zur Fallibilität von Gefühlen z. B. Greenwood, John D.: Realism, Identity, and Emotion. Reclaiming Social Psychology. London 1994, S. 144. 46 Ein solcher Fall läge vor, wenn sich – wie es Friedrich Nietzsche, Ayn Rand und andere generell vermuten – hinter der moralischen Entrüstung der Neid verbergen würde. 45
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infallibel. Genau an diese Prämisse rührt nun aber, wenn die vorstehende Analyse richtig ist, das Phänomen des Neides. Denn dieser scheinbar vorkriterial-infallible Selbstbezug steht hier in Frage: soweit wir Neid nur als gemeinsames Dasein haben können, uns im Neid aber nicht als irreduzibles Miteinandersein auf uns selbst beziehen, geht in gewisser Weise genau dieser vorreflexiver Selbstbezug in die Irre: wir irren hier nämlich, wenn die obige Analyse zutrifft, bezüglich des Sinns, in dem »wir selbst« dieses Gefühl haben. Wir stehen im Neid in unserer Selbstbeziehung nicht in Kontakt zu dem »Selbst«, als welches wir überhaupt neiden können. Das Fehlgehen des Neides betrifft insofern nicht den intentionalen Gehalt des Gefühls und auch nicht den intentionalen Modus. Es betrifft das Subjekt.
§ 18 »Zerbrochenes Wir« Mir scheint, daß Heideggers Daseinsanalyse (und nur Heideggers Daseinsanalyse) das geeignete theoretische Instrumentarium liefert, um dieser Struktur des Neides theoretisch bzw. analytisch gerecht zu werden. Heidegger hat – soweit ich sehe als Einziger – eine Theorie der Gefühle entworfen, die einerseits die Gefühle auf den hier fraglichen Aspekt des Selbstverhältnisses des Daseins hin thematisiert und andererseits ausdrücklich die Möglichkeit einer »Selbstverfehlung« des Daseins im Fühlen vorsieht (die Gestimmtheit des uneigentlichen Daseins) – auch wenn sich diese Theorie aufgrund atomistischer Vorurteile Heideggers nur in Gegenwendung zu Heidegger für das hier thematische Phänomen des Neides fruchtbar machen läßt. Heideggers Theorie des »Fehlgehenkönnens« von Gefühlen beginnt relativ unprätentiös mit einer kurzen, sehr spezifischen Analyse, nämlich der Analyse der Differenz von Furcht und Angst. In der Furcht, so Heidegger, ist »etwas« befürchtet (die Furcht hat, in der Terminologie gesagt, welche Heidegger ablehnt, einen intentionalen Gehalt). Die Furcht richtet sich auf ein möglicherweise eintretendes, für uns negatives Ereignis. Insofern zum intentionalen Gehalt der Furcht das »Für-uns-abträglich-Sein« wesentlich dazugehört, geht es dem Dasein in der Furcht, obwohl diese ganz auf das gerichtet ist, was da kommen könnte, eigentlich um sich selbst. Der »intentionale Gehalt« der Furcht verweist auf das »Subjekt« zurück. In Heideggers 438
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Worten: »Das ›Worum‹ die Furcht fürchtet, ist das sich fürchtende Dasein selbst« 47 – sozusagen »versteckt« hinter dem manifesten intentionalen Gehalt der Furcht. Dieser Rückbezug auf das »Subjekt« hat dabei nichts von einem sich reflexiv und gegenständlich auf sich selbst richtenden Affekt (so wie man sich selbst hassen, bemitleiden, fürchten oder vielleicht auch lieben kann). Wenn die Selbstbezüglichkeit, die im Zentrum von Heideggers Affektlehre steht, von dieser Art wäre, dann paßte der Neid von vornherein nicht ins Schema. Denn für den Neid ist es ja gerade charakteristisch, daß er sich nicht in dieser reflexiv-thematischen Weise auf den Neider selbst richten kann. Man kann sich selbst wohl bewundern und vielleicht auch über sich selbst entrüstet sein, aber man kann sich nicht selbst beneiden. Bei der »hinter« dem Bezug zum intentionalen Gehalt liegenden Selbstbeziehung, die Heidegger zum Leitfaden seiner Affektanalyse macht, geht es aber nicht bloß um einen solchen thematisch-reflexiven Selbstbezug. Das »Sich« dieses »Sichfühlens«, um welches in Heideggers Affektenlehre geht, ist jenes »Sich«, daß auch dann noch gleichsam vorreflexiv und unthematisch mitläuft, wenn man sich vor sich (selbst) fürchtet. Es geht auch dem (im Falle des Neids unmöglichen) reflexiv-thematischen Selbstbezug von Gefühlen vorher. Gefühle, Affekte, Stimmungen sind nach Heidegger im Innersten ihrer Ontologie nicht Bezugnahme auf das, worauf sich diese Affekte etc. unmittelbar richten (was sie freilich in einem konflikthaften Verhältnis dazu auch sind), sondern Weisen des vorreflexiv-unthematischen Sichbefindens. Die Befindlichkeit, schreibt Heidegger so, »bringt das Dasein vor es selbst«. 48 Dabei konfligiert dieser vorreflexiv-unthematische Selbstbezug aber mit der unmittelbar-vordergründigen Ausrichtung auf den intentionalen Gehalt des Fühlens. In Gefühlen wie der Furcht sind wir, obwohl wir im genannten Selbstverhältnis stehen, sozusagen benommen vom »etwas«, um das es dabei geht, aber was sich uns dabei eigentlich erschließt, ist doch unsere eigene Lebenssituation, unser »In-der-Welt-Sein«. Unsere Befindlichkeit, die »affektuelle« Beziehung, die wir fühlend zu »etwas« aufbauen, sollte deshalb letztlich als Weise verstanden werden, wie wir zu uns SuZ, 141. Heidegger sieht durchaus, daß man sich auch »für andere« fürchten kann; auch hier handle es sich aber um einen Modus des Sichfürchtens; befürchtet sei das Mitsein mit dem Anderen, der einem entrissen werden könnte. Zur individualistischen Verkürztheit dieser Konzeption s. u. 48 SuZ, S. 135. 47
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selbst stehen. Insofern dieses affektuelle, vorreflexive Selbstverhältnis aber in der Furcht gleichsam durch ein Verhältnis zum »etwas«, was befürchtet ist, verdeckt bleibt, läuft die Selbstbeziehung des Daseins in der Gestimmtheit der Furcht gleichsam am Dasein selbst vorbei. Der intentionale Gegenstandsbezug der Furcht schiebt sich gleichsam vor den Selbstbezug und verdeckt diesen. Dies unterscheidet die Furcht nach Heidegger von der Angst. In der Angst wird das Dasein sich seiner selbst als dessen gewahr, worum es in der Furcht geht – zumindest wenn man »Angst« im etwas eigenwilligen Heideggerschen Sinn versteht. Die Angst soll nach Heidegger eben das Gefühl, der Affekt, die Befindlichkeit sein, in welcher der in aller Gestimmtheit liegende, aber zumeist verdeckte Selbstbezug des Daseins ausdrücklich wird. Während sich das Dasein in der Furcht gleichsam verfehlt (weil es etwas befürchtet und sich dieser Gegenstandsbezug über den Selbstbezug legt), tritt es in der Angst in eine explizite Beziehung zu seinem eigenen Sein, welches Heidegger als seine Möglichkeiten definiert. Die Angst »wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet«, und das sind seine eigenen Lebensmöglichkeiten. Insofern sich das Dasein in der Furcht verfehlt, in der Angst aber in ein ausdrückliches Verhältnis zu sich selbst tritt, entspricht der Furcht im »uneigentlichen« Dasein die Angst im »eigentlichen« Dasein. 49 (Heidegger unterscheidet bekanntlich »Eigentlichkeit« und »Uneigentlichkeit« als die beiden Grundmodi der Existenz nach dem Kriterium, ob das Dasein vor sich selbst ausweicht, oder in eine ausdrückliche Beziehung zu sich selbst tritt; vgl. dazu oben § 12.) Oder anders gesagt: Furcht ist eigentlich Angst. Relativ harmlos ist diese Analyse, weil das »Fehlgehen« von Furcht ja zunächst nur darin besteht, daß die Selbstbeziehung des Fühlenden in diesem Gefühl gleichsam unthematisch bleibt, daß sie sozusagen vom »Gegenstand« des Gefühls überblendet wird. Diese Struktur entspricht einer allgemeinen Tendenz des Daseins, welche Edmund Husserl im Rahmen seiner transzendentalen Phänomenologie als »Verschossenheit« oder »Weltverlorenheit der natürlichen Einstellung« bezeichnet hatte: die Tendenz, ob des Gegenstandes der Intentionen das »Selbst«, welches intendiert, zu »vergessen«. (Vgl. oben § 10; was bei Heidegger Leistung der »Angst« ist – das »Hervorholen« und Explizitmachen des hier Vergessenen –, ist bei Husserl Leistung der »phänomenologischen Reduktion«.) Hinter dieser 49
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Vgl. SuZ, S. 189.
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»Überblendung« liegt aber bei Heidegger als entscheidendes weiteres Moment ein »Selbstverfehlen« des Daseins in seinem Selbstbezug. Das Fehlgehen unserer intentionalen Selbstbeziehung, die »Uneigentlichkeit«, ist nach Heidegger durch das verschuldet, was er »das Man« nennt. 50 Und das »Man« ist eine Weise des Selbstseins: das »Man-Selbst« (zu dessen Struktur wird gleich noch mehr zu sagen sein). Das Fehlgehen »uneigentlicher« Gefühle liegt insofern im Kern nicht bloß in einem Überblenden des Selbstbezuges durch die thematische Gegenstandsbeziehung (als ob zur Korrektur des affektuellen Fehlgehens in der Furcht nur die Selbstbeziehung »thematisch« werden müßte). Das »Man-Selbst« ist nicht anonym, sondern »weiß« durchaus um sich. Aber die Weise, in der es dem Man-Selbst um sich selbst geht, bedeutet das Unterhalten einer Selbstbeziehung, in der sich das fühlende Dasein selbst verfehlt: also gleichsam die Verwechslung eines »Man-Selbst« mit einem »eigentlichen Selbst«. Dasein, soweit es nicht »eigentliches Selbstsein« ist, fühlt (z. B. fürchtet) in diesem Sinne nicht eigentlich sich, oder es ist nicht eigentlich es selbst, das sich fühlt (bzw. fürchtet). Insofern zeigt sich in Heideggers Theorie der Affekte gleichsam ein Riß in der subjektiven Selbstbeziehung, der der bezüglich des Neides vermuteten Struktur entspricht. Allerdings ist Heideggers Lehre vom Fehlgehen »uneigentlicher« Gefühle von einem Moment geprägt, welches auch die gegenwärtige Sozialtheorie bestimmt, und welches es m. E. verunmöglicht zu sehen, in welcher Weise der Neid ein »uneigentliches« Gefühl ist. Für Heidegger ist Dasein nämlich eigentlich stets das individuelle Dasein des Einzelnen. Dieser oben schon beobachtete Zug der Daseinsanalyse kulminiert gleichsam in Heideggers Affektenlehre. Zwar wendet sich Heidegger in seiner Analyse ausdrücklich gegen eine Psychologisierung der Affektenlehre und deutet mithin an, daß das Thema »Gefühle« etwas ist, was nicht so sehr den Einzelnen für sich, sondern das Miteinandersein betrifft, also auch in seiner genuinen Sozialität zu klären wäre. 51 Aber Heidegger spezifiziert gleich daran anschließend, wie er sich dieses nicht das Einzelich, sonVgl. oben § 10. »Es ist kein Zufall, daß die erste überlieferte, systematisch ausgeführte Interpretation der Affekte nicht im Rahmen der ›Psychologie‹ abgehandelt ist. Aristoteles untersucht die pathe im zweiten Buch seiner ›Rhetorik‹. Diese muß – entgegen der traditionellen Orientierung des Begriffes der Rhetorik an so etwas wie einem ›Lehrfach‹ – als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufgefaßt werden« (SuZ, 138).
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dern das Miteinandersein betreffende Fühlen vorstellt: als Gestimmtheit der »Öffentlichkeit«, des »Man«. 52 Und weil »Öffentlichkeit« und »Man« in der Daseinsanalyse gleichsam synonym für die Uneigentlichkeit des Daseins stehen, entspricht es durchaus Heideggers Grundtendenz, wenn er das »eigentliche« Fühlen – für welches die Angst steht – nicht als »Mitbefindlichkeit« (von der Heidegger sowieso nur einen verkürzten Begriff zu bilden vermag) 53 , sondern als eine durchaus monologische, ja solipsistische Angelegenheit des individuellen Einzelnen schildert. Die Angst »vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein«, 54 sie »erschließt (…) das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann«. 55 Heideggers diesbezügliche Bemerkungen kulminieren in der These vom »existenzialen ›Solipsismus‹« der Angst. 56 Im Hintergrund dieser letztlich extrem atomistischen Konzeption der Befindlichkeit steht die Ansicht, daß die Möglichkeiten des Daseins – sein Sein – stets individuelle Möglichkeiten betrifft. Sozialität ist demgegenüber nach Heidegger dadurch charakterisiert, daß das (individuelle) Dasein seine eigenen Möglichkeiten aus dem Blick verliert und auf »jedermanns durchschnittliche Möglichkeiten« hinlebt. Sozialität installiere im Selbstverhältnis des Daseins sozusagen einen Begriff des »Jemand«-Seins, welcher dieses Selbstverhältnis vom Dasein selbst ablenkt. Schon vor dem Hintergrund dieser atomistischen Theorie der Befindlichkeit stellt sich der Neid zwar klar als »uneigentliches« Phänomen dar, aber dies doch nur insofern, als sich im Neid das Fremdverhältnis (zum beneideten Anderen) in das Selbstverhältnis des einzelnen Daseins schiebt. Wer neidet, bezieht sich auf sich selbst auf dem Umweg über einen Anderen, und dieser Umweg impliziert ein Sich-Vergleichen mit dem Anderen, welches letztlich mit einem »Vorsichselbstverdecken« der eigenen Einzigartigkeit einhergeht. Neid erscheint durch die Brille der Heideggerschen Theorie der Befindlichkeit als »Gestimmtheit des Man«, insofern der Neider sich auf sich selbst »Die Öffentlichkeit als die Seinsart des Man (…) hat nicht nur überhaupt ihre Gestimmtheit, sie braucht Stimmung und ›macht‹ sie für sich« (a. a. O.). 53 Wo Heidegger von »Mitbefindlichkeit« spricht, versteht er unter ihr nicht ein Fühlen, in dem wir uns selbst als Mitglieder einer Gruppe erschlossen sind, sondern bloß ein auf den Anderen bzw. sein Mitsein bezogenes Fühlen (cf. etwa SuZ, 141). 54 SuZ, S. 187. 55 SuZ, S. 188. 56 SuZ, S. 188. 52
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als »vergleichbares« (und insofern auch »vertretbares«) Man-Selbst – auf jemanden, der z. B. »weniger hat« – bezieht statt auf seine eigenen und einzigartigen Möglichkeiten. Insofern verstellt der Atomismus Heideggers den Blick auf die gemeinschaftlichen Grundlagen des Neides; wenn der Neid von hier aus auch als »uneigentlich« erscheint, tut er dies bloß in jenem atomistischen Sinne, in der die gegenwärtige Sozialtheorie den Neid als »irrational« qualifiziert. Dieses Bild des Neides ändert sich freilich, wenn man ein atomistisches Vorurteil Heideggers korrigiert. Heideggers Daseinsanalyse ist atomistisch bzw. individualistisch verkürzt, weil in Heideggers Definition des Seins des Daseins über seine Möglichkeiten völlig ausgeblendet bleibt, daß es Möglichkeiten gibt, die Dasein von vornherein nicht als individuelles Einzeldasein, sondern nur als gemeinsames Dasein hat – daß das Sein des Daseins also nicht bloß individuell ist, sondern auch gemeinsam (vgl. dazu oben § 11). Ein einzelnes Dasein mag in einer gegebenen Situation die individuelle Möglichkeit haben, den ihm auf dem Spielfeld zugespielten Ball als Querpaß an einen anderen Spieler abzugeben, einen gegnerischen Verteidiger zu umdribbeln, direkt aufs Tor zu schießen, oder aber das Spielfeld zu verlassen und aus dem Fußballclub auszutreten. Aber alle diese individuellen Möglichkeiten, zu denen sich das Dasein als individuelles Dasein zu verhalten hat, hat es nur aufgrund eines gemeinsamen Verhaltens zu einer gemeinsamen Möglichkeit: nur weil wir Fußball spielen können. Nur auf der Grundlage und im Rahmen der gemeinsamen Praxis »Fußballspiel« und unseres Miteinanderseins als Teams eröffnet sich der genannte individuelle Horizont von Alternativen. Eine Daseinsanalyse, welche durch eine individualistische Limitierung von diesen Möglichkeiten abblendet, bekommt das Seiende, das wir je selbst sind, nur sehr verzerrt in den Blick. Trotz allem beherzten Anti-Cartesianismus: Heidegger ist letztlich wie sein Lehrer Husserl im Banne einer atomistischen Intentionalitätstheorie, welche ihm trotz aller punktuellen Einsichten in das vorreflexiv-irreduzible Miteinandersein schließlich den Blick auf das gemeinsame Dasein verstellte. Die Analyse der gemeinschaftlichen Grundstruktur des Neides verlangt m. E. eine Korrektur dieser atomistischen Verengung. Die Frage lautet: wie verhält sich das Dasein im Neid zu seinen – individuellen und gemeinsamen – Möglichkeiten? Zunächst scheint Heideggers Lehre von der »Uneigentlichkeit« auf die Struktur des Neides zuzutreffen. Der Neid bezieht sich zugleich auf jedermanns und auf niemandes Möglichkeiten; der Neid A
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gehört zur Sphäre des Sich-Vergleichens, des sozialen Vertretungszusammenhanges des »Man«, er ist ein Phänomen des »abständigen« Verhaltens, in dem sich Dasein auf sich selbst nur in Relation auf andere bezieht (und sich dadurch in seiner individuellen Eigenheit verfehlt). Aber die Tatsache, daß der Neid, wie sich im Blick auf seine sozialen Voraussetzungen zeigt, eine Sache des Miteinanderseins ist, sollte davon abhalten, unter dem Titel der »Eigentlichkeit« in diesem Fall nur ein Austreiben des Anderen aus dem individuellen Selbstverhältnis zu empfehlen, eine Art »Neidfreiheit«, die aus einer atomistischen, ja autistischen Abschottung des Individualdaseins erwächst. 57 Nicht den Neid loszuwerden muß in normativer Hinsicht das Ziel sein – sondern zu dem vorzustoßen, was der Neid eigentlich ist. Heidegger stellt der uneigentlichen »Gestimmtheit des Man« den »Mut zur Angst« entgegen; Angst bedeutet dabei ein über den Tod vermitteltes Heraustreten aus dem Vertretungszusammenhang des »Man«, ein Sichverhalten zu seinen Möglichkeiten, zu seinen Intentionen als eigenen, d. h. als solchen, die einem »letztlich« niemand abnehmen kann. Heideggers Lehre vom Tod dient m. E. vor allem dazu, auf ein Strukturmoment unserer Intentionalität im Ganzen aufmerksam zu machen. Der Tod erscheint bei Heidegger als jene besondere Möglichkeit unter all unseren anderen Möglichkeiten, welche uns ganz augenscheinlich kein anderer abnehmen kann. Niemand anderes kann unseren Tod sterben – auch wenn andere im Extremfall für einen sterben, sterben sie damit nicht unseren eigenen Tod. Das »Vorlaufen in den Tod«, in dem das Dasein in ein eigentliches Selbstverhältnis tritt, steht allerdings m. E. bei Heidegger gleichsam symbolhaft für etwas, was unsere Intentionalität im Ganzen betrifft: niemand kann uns unsere Intentionen »abnehmen«, weil niemand unsere Intentionen haben bzw. ausführen kann, so wenig wie wir die Intentionen anderer haben können (vgl. dazu für den speziellen Fall praktischer Intentionen Annette Baiers own agencyArgument oben § 9). Wir können zwar, wie wir gemeinhin sagen, »jemandes Vorhaben ausführen«, wenn wir z. B. jemandem beim Türöffnen zuvorkommen; insofern scheinen wir uns auf den ersten Blick in unserer Intentionalität gegenseitig vertreten zu können; aber wir führen dabei, wenn wir genauer hinschauen, nicht das »TüröffDies die typische Empfehlung »libertärer« Denker. Vgl. als Illustration dazu etwa Rand 1971.
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nensvorhaben« des anderen aus, sondern unser eigenes »Zuvorkommensvorhaben«. Jemand anderes mag zwar vorhaben, mich zum Türöffnen zu bringen, aber er kann nicht im strikten Sinn mein Türöffnen vorhaben bzw. ausführen. 58 Wir können, mit anderen Worten, nur unsere eigenen Intentionen haben – dies übrigens nicht nur im Sinne praktischer Intentionalität, sondern auch im Bezug auf Kognitionen (wenn wir hier sagen, daß jemand »keine eigenen Meinungen« habe, meinen wir damit, daß er die Meinungen, die durchaus die seinigen sind, nach der Vorgabe der Meinungen anderer bildet). In diesem Sinne kann uns nicht nur der Tod, sondern jede noch so beiläufige unserer Intentionen niemand anderes abnehmen – wir sind als »Träger« unserer Intentionalität unvertretbar. Ich verstehe Heideggers Motiv der Eigentlichkeit im Grunde als Beschreibung eines Selbstverhältnisses des Daseins, in welchem das Dasein dieser Grundstruktur seiner Intentionalität gewahr ist und sich aus dieser unterstellten indexikalischen Singularität bzw. Unvertretbarkeit seines »Selbst« begreift. »Angst« im Heideggerschen Sinn ist das, was aus einem Selbstverhältnis reißt, in dem wir unser Fühlen, Intendieren und Handeln als das begreifen, was »man« tut oder denkt (was also auch ein anderer tun oder denken könnte und auch tatsächlich denkt), statt als unser ureigenes Intendieren und Handeln (welches uns niemand abnehmen kann). Wenn dergestalt Heideggers Motiv der Angst tatsächlich auf eine intentionalanalytische Grundstruktur aufmerksam macht – eine Neigung des Daseins, fühlend, denkend und handelnd sozusagen an sich selbst vorbeizuleben, bzw. die Möglichkeit, sich aus dieser Uneigentlichkeit zu lösen und auf sich selbst zurückzukommen – so läßt diese sich durchaus von Heideggers eigener atomistischer Beschränktheit ablösen. Auch wenn wir nicht die Gefühle, Absichten etc. anderer haben können, uns in unserem eigenen Fühlen, Vorhaben, Denken etc. niemand vertreten kann, heißt dies nämlich nicht, daß deshalb alle meiner Gefühle, Vorhaben und Meinungen meine individuellen Gefühle und Intentionen zu sein haben (und daß mich deshalb ein Gewahrwerden des eigentlichen »Wer« des Daseins unweigerlich vereinzeln muß). Aus der Unvertretbarkeitsthese folgt der »existenziale Solipsismus« Heideggerschen Zuschnitts gerade nicht; denn so wie wir als Individuen viele Intentionen haben, welche wir nicht als vereinzelte Individuen, sondern nur gemeinsam 58
Vgl. dazu Baier 1971, S. 657 f. A
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und als Mitglieder eines Kollektivs haben können – etwa die individuelle Absicht, heute Abend an der Chorprobe teilzunehmen, oder die gemeinsame Absicht, eine Chorprobe abzuhalten – gibt es auch Gefühle, die wir gemeinsam haben, und solche, die die »unsrigen« gerade nur insofern sind und sein können, als wir selbst umgekehrt Mitglieder einer Gruppe sind. Edith Stein hat – vielleicht in Anschluß an Max Scheler – die Nuancen, um die es hier geht, eindrücklich am Beispiel der Trauer dargelegt. Die Trauer, die wir beim Verlust eines Freundes empfinden, und welche uns »als Person« betrifft, unterscheidet sich phänomenal (qualitativ, und nicht bloß graduell) von der Trauer, die wir als Mitglied etwa beim Verlust eines Vorstandsmitgliedes empfinden, welche nur als »Beitrag« zu unserem gemeinsamen Trauern ist, was sie ist, und welche wir deshalb nur als Mitglied überhaupt empfinden können. 59 Solche Gefühle können wir als Individuen nur haben, weil wir gemeinsam »da sind«, weil unser Dasein ein gemeinsames ist. Ein sozusagen »nostrologisch korrigiertes« Bild der Daseinsanalyse Heideggers verstünde die Eigentlichkeit des Daseins nicht als Angelegenheit eines Einzeldaseins, sondern gleichermaßen auch als Angelegenheit eines vorreflexiven und irreduziblen Miteinanderseins. Heidegger schildert das Man an einer Stelle als »Masse, in der jeder ›ich, ich‹ sagt« und doch sich selbst verfehlt. 60 In dieses Bild paßt der Neid; nicht insofern das »ich, ich«, der uneigentliche individualisierende Selbstbezug des Man im Gegensatz zu einem eigentlichen »existenzialen Solipsismus« steht, sondern insofern an der Stelle des uneigentlichen individuellen »ich, ich« eigentlich ein als solches explizites und transparentes gemeinsames Dasein, ein vorreflexiv-irreduzibles Miteinandersein steht – ein Wir. Heidegger deutet die grundsätzliche Möglichkeit einer solchen Interpretation an, wo er das »Man« als »zerbrochenes Wir« bezeichnet, ihm also ein »eigentliches Dasein« nicht im Sinne des individuellen SelbstStein, Edith: Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften. Zweite Abhandlung: Individuum und Gemeinschaft. In: Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung. Hrsg. v. Edmund Husserl, Bd. 5, Halle 1922, S. 116–284, S. 120; zum »Beitragscharakter« von Emotionen und Intentionen vgl. ebd. S. 130; 148. Solche Gefühle, zu denen m. E. auch der Neid gehört, sind – in der Terminologie von John D. Greenwood ausgedrückt, intrinsisch (und nicht bloß derivativ) sozial (vgl. zu dieser Unterscheidung und zu Greenwoods Positionierung der Gefühle überhaupt im Bereich des intrinsisch Sozialen Greenwood 1994, S. 86; 94). 60 Heidegger [1938]/1989, S. 321. 59
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seins, sondern des Wir-Seins entgegenstellt. 61 Im Neid, so könnte man sagen, »zerbricht« das Wir insofern, als sich ins Selbstverhältnis des eigentlichen Miteinanderseins – in unser Selbstverständnis – der Vergleich von Individuen, unser individuelles Wechselverhältnis drängt und wir so »unser Dasein« in unserem Selbstverhältnis verfehlen. Die vordergründige, individualisierende und atomisierende »Einsamkeit des Neiders« überlagert und verdeckt die gemeinschaftliche Tiefenstruktur dieses Gefühls. Das individuelle Selbstverhältnis legt sich über das gemeinsame Dasein. Das Dasein versteht sich nicht mehr als das Miteinandersein, das es ist, sondern als vereinzeltes »Ich«. Kommen wir mit diesem Befund abschließend auf das individualistische bzw. atomistische Bild des Neides in der gegenwärtigen Sozialtheorie zurück. Der Neid ist nicht das, wofür ihn Jon Elster (im Anschluß an die eine ganze Reihe ähnlich individualistischer Autoren) hält – der »Zement der Gesellschaft« –, sondern vielmehr so etwas wie ein individualisierendes Mißverständnis von Gemeinschaft. Die atomistische Sozialtheorie, die alles Soziale aus einer vorgängigen Individualität ableitet, findet im Neid keinen Kronzeugen für ihre Deutung, sondern sitzt dem Phänomen des Neides gleichsam auf, indem es das individualisierende Selbst- und Fremdverhältnis, welches im Neidphänomen manifest wird, beim Wort nimmt, und damit wie der Neider selbst die gemeinschaftliche Ermöglichungsbedingung und Grundstruktur des Neides übersieht. Damit folgt die individualistische Theorie des Neides der eigenen Tendenz des Neides zur »Uneigentlichkeit« – dazu, das Dasein in seiner Selbstbeziehung von sich selbst abzudrängen, indem individualistische Sozialtheorie wie der Neid selbst das gemeinsame Dasein mit einem Verhältnis von Individuen überblenden. Die »bockbeinige Individualität«, die sich nach Schoecks richtiger Beobachtung im Neid äußert, darf insofern entgegen Schoecks Deutung nicht dafür genommen werden, daß Individualität – und nicht etwa Gemeinschaft – den »Kern unseres Menschseins« ausmache. Die gemeinschaftlichen Grundlagen unseres Menschseins äußern sich auch und gerade im Neid – wobei es gegen dessen eigene Tendenz zur Verbergung dieser Grundlage eines Äquivalents für die Heideggersche »Angst« bedarf, wenn wir uns dieser Grundlagen inne werden sollen. Ich vermute, daß es sich bei diesem »eigentlichen« Äquivalent des Neides um die 61
Heidegger [1934]/1982, S. 43. A
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»Entrüstung« (indignation) handelt, welche als solches keineswegs, wie Elster in der Nachfolge von Autoren wie Friedrich Nietzsche, Ayn Rand, Gonzalo Fernández de la Mora und vielen andern, eine nachträgliche »Rationalisierung« von Neid wäre. Damit soll nicht gesagt sein, daß jedweder gesellschaftlich auftretende Neid zuverlässig auf einen Mißstand in unserem gemeinsamen Dasein hinweist, daß es also unser Ziel in der Gestaltung unseres Miteinanderseins sein muß, jeden Anlaß für Neid zu vermeiden. Wir haben – nicht zuletzt aus Effizienzüberlegungen – wohl gute Gründe gegen den »gleichmacherischen Neid«. Umgekehrt erscheint es als ebenso falsch, den Neid als individualpsychologisches Charakterproblem, als Laster zu verstehen. Die hier vorgeschlagene Interpretation bewegt sich jenseits dieser ewigen Kontroverse um die ethische Bewertung des Neides. 62 Man hat den Neid bislang in normativer Hinsicht entweder als Laster kritisiert oder dann als Reaktion auf Ungerechtigkeit gerechtfertigt. Ihn demgegenüber im Ausgang von einer Ontologie des Miteinanderseins nicht als individualpsychologisches Phänomen zu verstehen, sondern als etwas zu durchschauen, was uns nicht als Individuen, sondern als gemeinsames Dasein betrifft, bedeutet in gewisser Weise, beides zu tun. Im individuell gefühlten Neid leben wir an uns selbst vorbei; stoßen wir aber zu dem vor, was der Neid »eigentlich« ist, konfrontiert er uns mit unserem gemeinsamen Dasein, und tut insofern etwas in normativer Hinsicht Wesentliches: es stellt uns vor die Möglichkeiten, zu denen wir uns als gemeinsames Dasein zu verhalten haben: die Möglichkeiten, die wir als gemeinsames Dasein sind – und denen das Theorieprojekt dieses Buchs gegolten hat.
In der bislang jüngsten Runde dieser Kontroverse hat Marguerite La Caze die Rolle der Anwältin des Neides übernommen (La Caze, Marguerite: Envy and Resentment. In: Philosophical Explorations 4 [2001], S. 31–45. Zur Entgegnung der Anklage vgl. z. B. Van Hooft, Stan: La Caze on Envy and Resentment. In: Philosophical Explorations 5 [2002], S. 141–147). 62
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Die Kritik des ontologischen Individualismus ist selbst schon Teil der Rekonstruktion der Gemeinschaft, denn der ontologische Individualismus entspricht einer Tendenz zum Selbstmißverständnis, welches zu unserem gemeinsamen Dasein wesentlich hinzugehört. Rekonstruktion des gemeinsamen Daseins und Kritik des ontologischen Individualismus gehören insofern »in der Sache« zusammen. Im methodischen Zugriff hingegen handelt es sich dabei um zwei verschiedene Dinge: das kritisch-argumentative Zurückweisen individualistischer Theorieansätze ist eins, die phänomenologische Rekonstruktion eines individualisierenden Selbstverhältnisses unseres gemeinsamen Daseins ein anderes. Obwohl von der »Sache«, wie ich meine, gefordert, beinhaltet der kritisch-rekonstruktive Ansatz eine Spannung, die das Ganze des vorliegenden Theorieprojekts kennzeichnet, und der diese abschließenden Bemerkungen gelten sollen. Die Thesen der vorliegenden Arbeit sind in einer Vielzahl von Diskussionen entstanden. Die Spuren der vielen Hinweise, Kritiken und Nachfragen, die mir in den Jahren der Arbeit an diesem Projekt zuteil wurden, sind in der vorliegenden Arbeit allgegenwärtig. Manche dieser Interventionen waren mir im Prozeß der Arbeit an der Endfassung gerade deshalb besonders wichtig, weil sie mir Lichter steckten, von denen aus ein Schein nicht nur auf den einen oder anderen Teilaspekt, sondern auf das Projekt im Ganzen fiel – ein Schein, in dem sich die Eigenart und die Grenzen des hier leitenden Verständnisses des Verhältnisses von »Kritik« und »Rekonstruktion« besonders deutlich zeigen. Dies betrifft etwa die Auswahl der besprochenen sozialtheoretischen Positionen. Von all dem, was üblicherweise zur Theorie der Gemeinschaft gehört, ist im Vorliegenden vieles absent. Was ist mit der Rolle der Werte für das Miteinandersein, was mit dem Verhältnis von moralischem Universalismus und partikularer Gemeinschaftsorientierung, dem Spannungsverhältnis, das A
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allem faktischen Gemeinschaftsleben eingeschrieben ist? Warum die ganzen Fragen kultureller und politischer Identität, der Rolle und Struktur von Anerkennung bloß so beiläufig streifen? Die vorliegende Analyse tritt ja immerhin mit dem Anspruch auf, die Grundlagen der Sozialtheorie zu betreffen. Im Prozeß der »Rekonstruktion der Gemeinschaft« bleiben dabei aber scheinbar gerade die »praktischphilosophischen« Themen der Theorie der Gemeinschaft bzw. der Sozialphilosophie außen vor. Dabei sind gerade sie es, welche im Zentrum so mancher Debatte stehen: man denke etwa an den »Kommunitarismus« oder an die intersubjektivistische Sozialtheorie und ihre Auseinandersetzung mit dekonstruktivistischen Ansätzen. Bezüglich all dieser Debatten bleibt der Grundlegungsanspruch dieser Arbeit – also der Anspruch, durch einen veränderten sozialontologischen approach eine präzisere Sicht der Dinge zu ermöglichen – unzureichend ausgewiesen. Vordergründig hat dies rein pragmatische Gründe – und einen äußerlichen Anlaß. Mit Blick auf die gegenwärtige sozialwissenschaftliche Forschung hat sich eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen des »ökonomischen Verhaltensmodells« von selbst nahegelegt. Die Bedeutung dieses eigentlichen »Paradigmas« in den Sozialwissenschaften liegt der Entscheidung zugrunde, diesen Ansatz (und nicht etwa die linguistisch, strukturalistisch oder dekonstruktivistisch orientierte) Sozialtheorie bzw. –wissenschaft zum Ausgangspunkt der kritischen Rekonstruktion der Gemeinschaft zu nehmen. Diese Wahl bedeutet indes nicht, daß das (als »Cartesianische Gehirnwäsche« bezeichnete) individualistische Intentionalitätsverständnis nicht ein viel allgemeineres Phänomen wäre. Es betrifft, wie dargelegt, nicht nur das mancherorts als »instrumentalistisch« oder »intentionalistisch« verschriene ökonomische Verhaltensmodell, sondern gerade auch jene Ansätze, welche ob des vermuteten Monologismus den Ansatz bei der Intentionalität im Ganzen preisgeben. 1 Freilich ist mit der Wahl der kritisierten Theorieansätze weitgehend auch die Wahl der beleuchteten sozialtheoretischen Themen getroffen, hier beispielsweise der Begriff der Handlungsrationalität und der exemplarische Fall des Neides. Eine thematische Auswahl ist in einem so breiten Themenfeld unausweichlich, gleichzeitig aber keineswegs unproblematisch. Das allgemeinere Problem, das sich hinter solchen pragmatischen Notwendigkeiten zeigt, ist darüber hinaus vielleicht das Problem jeder 1
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Vgl. dazu z. B. Tietz 2002, S. 56 ff.
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mit Grundlegungsanspruch auftretenden Kritik: als Kritik macht sie sich in bestimmter Hinsicht vom Kritisierten abhängig – und droht gerade durch die damit verbundene Horizontverengung, ihren Grundlegungsanspruch zu desavouieren. Wo es bloß um die thematische Ausrichtung und Reichweite geht, läßt sich dieses Problem durch den Hinweis auf die Grenzen des im Rahmen einer Studie Machbaren vielleicht etwas entschärfen. Nicht alle im Rahmen eines solchen Theorieprojekts notwendigen Auseinandersetzungen können tatsächlich geführt werden. Vieles bleibt außen vor. In veränderter Form kehrt aber dasselbe Problem im Innern wieder, insbesondere da, wo es um die Statik der »Rekonstruktion der Gemeinschaft« geht bzw. den Einwand, daß hier Grundlegendes zur Marginalie erklärt wird. Um dafür ein Beispiel zu erwähnen: Weswegen in der Ontologie der Gemeinschaft dem Zusammenseinwollen der Individuen so wenig Aufmerksamkeit schenken? Warum sozialontologisch nicht bei so etwas wie einer individuellen Präferenz für das Zusammensein mit anderen ansetzen? Entsprechende Theorieangebote sind verfügbar. Robert Sugden hat etwa vor einiger Zeit überzeugend dargelegt, daß das traditionellerweise als »Sympathie« oder »Altruismus« bezeichnete Phänomen einem Kernbestand nach in Tat und Wahrheit einer Neigung der Individuen zu emotionaler Übereinstimmung entstammt. Menschen mögen es eben, in demselben emotionalen Zustand zu sein wie ihre Mitmenschen – selbst wenn sie diesen emotionalen Zustand selbst nicht mögen, es also um »negative« Gefühle geht. 2 Auf einer ganz ähnlichen Linie rekurriert etwa Ulrich Baltzer in seiner Analyse des Gemeinschaftshandelns auf so etwas wie eine individuelle Neigung zum (wie auch immer gearteten) Anschließen des eigenen Handelns an das Handeln anderer. Wir mögen es, wenn Beitragshandlungen dicht ineinander greifen (wie es sich exemplarisch bei Tätigkeiten wie Fechtkämpfen oder gemeinsamen Musizieren zeigt); das macht einen wesentlichen Teil des Reizes unseres Miteinanderseins aus. 3 Liegt nicht hier – und nicht in einem vorreflexiven, irreduziblen und relationalen Miteinandersein – der Schlüssel zur Ontologie der Gemeinschaft? Es drängen sich zwei Erwiderungen auf: erstens der kritische Vgl. Sugden 2002. Vgl. dazu Ulrich Baltzers Analyse des »emphatischen Gemeinschaftshandelns« in Baltzer 1999, S. 282 ff.
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Einwand, daß Individuen, die dasselbe fühlen, deswegen noch nicht gemeinsam fühlen, bzw. daß das faktische Gleichschwingen von individuellen Verhaltensweisen noch kein Gemeinschaftshandeln konstituiert. Und zweitens der Anspruch auf Grundlegung: wenn ein Individuum die gefühlsmäßige Übereinstimmung (»alignment«) im Sinne von Sugdens »fellow feeling« genießt, dann fließt dieser Genuß nicht aus einem Innesein des eigenen Fühlens in Kombination mit einer Überzeugung, daß der andere dasselbe fühlt (und allenfalls einer Iteration dieser Überzeugung), sondern aus einem irreduziblen intentionalen Miteinandersein. Oder, auf Baltzers Fall bezogen: Anschlußverhalten ist wirkliches Anschlußverhalten nur durch die Beitragsintention, und Beitragsintentionen gibt es nur im Rahmen von gemeinsamer intentionaler Aktivität. Soweit der individuelle Genuß sich auf das Verhalten als Anschlußverhalten richtet, setzt er ein Wesen voraus, welches gemeinsam mit anderen intendieren kann. Es geht mir an dieser Stelle, wie gesagt, nicht um den inhaltlichen Punkt (siehe dazu oben Teil I), sondern um die sich hier exemplarisch zeigende Argumentationsstruktur. Das Problem ist hier (wie auch sonst so oft) nämlich, daß diese beiden genannten, sich aufdrängenden Reaktionen – die kritische Zurückweisung einerseits, das »Untergreifen« bzw. die Rekonstruktion des vermeintlichen Alternativansatzes auf der eigenen theoretischen Basis andererseits – einander in gewisser Weise in die Quere zu kommen drohen. Natürlich liegt hier kein direkter Widerspruch oder logischer Konflikt vor. Aber es geht doch gleichzeitig auch um mehr als ein um ein bloßes Darstellungsproblem. Was sich hier zeigt, ist m. E. eine Art argumentationstechnische Ambivalenz zwischen Kritik und Rekonstruktion. Die kritische Reaktion, die »bestimmte Negation«, schneidet hier scheinbar der zweiten, der rekonstruktiven Reaktion den Weg ab. In kritischer Hinsicht wird nämlich der hier entwickelte Begriff des intentionalen Miteinanderseins anderen Ansätzen gegenüber als Alternative stark gemacht; ineins mit diesem Abstoß erfolgt aber eine ganz andere Bewegung, ein Untergreifen, denn der hier entwickelte Ansatz beansprucht ja zugleich, an der Klärung der Grundlagen dessen zu arbeiten, was in allen Sozialontologien in Frage steht. Die Frage stellt sich: geht es um das Herausarbeiten einer alternativen Sicht, oder geht es bloß darum, noch eine dem Anspruch nach tiefere Fundierungsebene unseres Sozialitätsverständnisses einzuziehen, die im Übrigen alles beim Alten läßt? Auf diese Frage läßt sich zunächst entgegnen, daß diese beiden 452
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Bewegungen sich zueinander verhalten wie Flugbahnen, die sich zu durchkreuzen scheinen, wenn man sie in der Aufsicht betrachtet, in Wahrheit aber ganz überschneidungsfrei verlaufen, weil sie sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen befinden. Abstoß und Abzielen auf eine Alternative beziehen sich auf die Ontologie, Untergreifensbewegung und Fundierungsanspruch auf die Ontik. Was in der Kritik weitergetrieben und dadurch nach Möglichkeit verändert werden soll, ist die Sozialontologie. Die Gesellschaft selbst darf dabei ruhig unverändert bleiben. Ontisch bleibt somit alles beim alten; was Gemeinschaft war, ist, und wohl auch bleiben wird, soll bloß einer vertieften Analyse zugänglich gemacht werden. Aber diese Antwort erledigt die Frage nicht. Läßt sich das (scheinbar) Kollidierende nämlich zunächst mit dem Hinweis auf die Unterscheidung zwischen Ontologie und Ontik, von wissenschaftlichem Gesellschaftsbild und der Gesellschaft selbst, auseinanderziehen, so ist doch andererseits auch von vornherein klar, daß es sich hier letztlich um keine stabile Unterscheidung handeln kann. Martin Heidegger hat es als Charakteristikum des Daseins bezeichnet, daß es »ontisch ontologisch« ist. Das Sein des Daseins ist im Kern dadurch gekennzeichnet, daß es irgendein Verständnis von diesem Sein hat. Dies gilt, wie dargelegt, auch vom gemeinsamen Dasein. Dies freilich nicht in dem simplen Sinne, in dem der Zusammenhang von Ontologie und Ontik der Gesellschaft oft gesehen wird. Wenn die vorliegende Analyse (Kap. i) zutrifft, dann ist der Zusammenhang zwischen Sein und Seinsverständnis hier keineswegs der, daß Gemeinschaft ist, wofür sie gehalten wird, daß also Gesellschaft und Gesellschaftsbild kurzschlüssig zu identifizieren wären. Denn gemeinsames Dasein kann sich in seiner Gemeinsamkeit durchaus mißverstehen; und daß es dies unter Bedingungen der »Cartesianischen Gehirnwäsche« fast durchgängig und auf systematische Weise tut, ist ja gerade eine der Thesen dieser Arbeit. Der Zusammenhang von Gesellschaft und Gesellschaftsbild, von Ontologie und Ontik ist ein anderer, ein Negativer: die individualistische Ontologie, die es nach der geäußerten Ansicht zu revidieren gilt, ist nicht unabhängig von der Ontik unseres gemeinsamen Daseins. Es ist mithin nicht bloß das Selbstverständnis, sondern gerade auch das Selbstmißverständnis des gemeinsamen Daseins, welches die Ontik unseres gemeinsamen Daseins selbst im Kern betrifft. Das Existenzial der »Uneigentlichkeit« soll diesen Zusammenhang zwischen verfehlter Ontologie und Ontik beschreiben. Es gehört zur A
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Weise, in der wir »Wir« sind, gerade hinzu, daß wir uns als vereinzelte Individuen begreifen. Diese Selbstdeutung bringt aber die fundamentale Gemeinsamkeit unseres Daseins nicht zum Verschwinden. Mit Heidegger gesagt: auch das durch das individualisierende Selbstverhältnis »zerbrochene Wir« ist noch eine »Weise des WirSelbst«. Damit wird das genannte Problem aber nicht zum Verschwinden gebracht; es tritt in veränderter Gestalt erneut auf. Wenn unser Dasein durch ein individualisierendes Selbstverständnis »uneigentlich« ist, das Ziel der Analyse aber gerade eine unverstellte Sicht auf die Gemeinsamkeit unseres Daseins ist, dann muß es doch darum gehen, das Dasein von einem uneigentlichen Selbstverhältnis in ein eigentliches zu überführen. Denn das Ziel der Analyse ist ja genau das, was die Eigentlichkeit des gemeinsamen Daseins mit ausmacht: ein Verständnis der Gemeinsamkeit unseres Daseins. Mithin engagiert sich die Ontologie der Gemeinschaft nolens volens für die Eigentlichkeit des Miteinanderseins. Wenn dem aber so ist: weshalb ist dann so wenig davon zu lesen, wie ein solches eigentliches Miteinandersein denn aussähe? Müßte die ganze Analyse, so der aus dieser Überlegung resultierende Einwand, nicht viel dezidierter von dieser praktischen Konsequenz und dem normativen Gehalt her aufgezäumt werden anstatt von den vorliegenden, über weite Strecken eher »theoretischphilosophisch« gefärbten sozialontologischen Analysen? Man könnte sich diesem Einwand gegenüber natürlich auf die geradezu quietistische Position zurückziehen, die in Heideggers Analyse der Eigentlichkeit (bzw. in ihrer Selbstimmunisierung) eine so wichtige Rolle spielt. Es geht bei der Eigentlichkeit auf dieser Linie, wie Heidegger zu betonen beliebt, in keiner Weise um die Praxis (geschweige denn deren Veränderung), sondern bloß um die Haltung. Mit dem Eintreten in ein eigentliches Selbstverhältnis ändert sich bloß das Selbstverhältnis; ansonsten bleibt alles wie gehabt. Weitermachen wie bisher, lautet in dieser Perspektive die Empfehlung ans Dasein; nur soll man’s jetzt eben eigentlich tun. Aber das ist, wie schon oben im Vorspann zu Teil II bemerkt, nicht die Eigentlichkeit, die hier gemeint ist. »Eigentlichkeit« soll etwas im Sinn des dem zweiten Teil dieser Arbeit vorangestellten Zitat Charles Horton Cooleys sein: das gemeinsame Dasein »must emerge somewhat from its subconscious condition and know and guide its own processes«. Ich glaube übrigens, daß das quietistische Eigentlichkeitsverständnis wesentlich aus der Verlegenheit stammt, mit einem 454
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individualistisch beschränkten Eigentlichkeitsbegriff zu den Belangen der Gemeinsamkeit des Daseins schlicht nichts zu sagen zu haben (s. oben Kap. iv). Das aber ändert sich, wenn man die Daseinsanalyse aus ihrer individualistischen Beschränktheit löst. Dabei zeigt sich nämlich, daß sich das Dasein immer auch in einem Raum von Möglichkeiten bewegt und bestimmt, welchen es nur als gemeinsames Dasein hat. Ob es zu diesen Möglichkeiten in ein ausdrückliches Verhältnis tritt oder ob diese ganze neue Dimension von Möglichkeiten im Rahmen eines individualisierenden Selbstverhältnisses verdeckt bleiben, macht wohl durchaus einen praktischen Unterschied. Denn nur wenn es der entsprechenden Möglichkeiten gewahr ist, hat das Dasein überhaupt die Möglichkeit, sich auf die eine oder andere Option festzulegen: an seinen gemeinsamen Möglichkeiten vorbeizuleben oder aber sich selbst ausdrücklich in diesem Möglichkeitsraum zu bestimmen. Insofern würde ich »Eigentlichkeit« durchaus in einem praktischen Sinn verstehen wollen. Eigentlichkeit ist zwar eine Frage der Haltung, aber als solche keineswegs folgenlos. Und soweit die Analyse des gemeinsamen Daseins ihrerseits diesem »Selbstsein« gilt, ist sie Teil der Praktischen Philosophie. Das heißt aber nicht, daß das philosophische Transparentmachen der fundamentalen Gemeinsamkeit des Daseins zwingend ein bestimmtes Wertengagement (oder gar eine irgendwie »kritisch-emanzipatorische« Abzweckung) voraussetzt. Argumentativ läßt sich dazu anführen, daß Zurückhaltung im Engagement möglich ist, ohne von neuem die prekäre Unterscheidung von Ontologie und Ontik zu verabsolutieren. Es reicht der Hinweis darauf, daß »Ontologie« im Sinne einer philosophischen Disziplin noch nicht »Ontologie« im Sinne eines existenziellen Selbstverhältnisses ist. Natürlich sind das nicht völlig getrennte Sphären: philosophische und wissenschaftliche Forschung setzen bei lebensweltlich-alltäglichen Deutungen an, und wirken auf diese zurück. Aber es bleibt doch bei einer grundsätzlichen Differenzierung. Ontologie als wissenschaftliche Disziplin ist nicht gleich existenzieller Vollzug. Die philosophisch-sozialontologische Analyse, die Analyse der Grundlagen der Gemeinsamkeit des Daseins endet mit der begrifflichen Freilegung des entsprechenden Raums von Möglichkeiten. Die Aufgabe, sich in diesem Raum auf eine Weise gemeinsamen Seins festzulegen, ist und bleibt eine andere.
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Namensindex
Abrams, Dominic 92 Adams, Douglas C. 264 Alanen, Lili 26, 155, 164, 217 Anderson, Benedict 87, 92 Anderson, Elizabeth 383–384, 391 Angehrn, Emil 13 Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 48 Apel, Karl-Otto 182 Aristoteles 239, 251, 269, 423–425, 441 Assmann, Jan 92 Austin, John L. 223 Axelrod, Robert 320 Bach, Johann Sebastian 314 Bacharach, Michael 368, 388 Baecker, Dirk 311 Baier, Annette C. 26, 37, 154, 157–159, 164–165, 167, 172, 174–175, 217, 221, 230, 232, 444–445 Baltzer, Ulrich 28, 46–47, 50–51, 53, 179, 305, 398, 451–452 Becker, Gary S. 310 Bednarz, John 311 Beethoven, Ludwig van 161 Bicchieri, Cristina 339 Biemel, Walter 249 Binswanger, Ludwig 288 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 79–81, 97 Bourdieu, Pierre 247, 254 Brandom, Robert B. 46, 63, 82, 84, 149, 255, 257, 265, 403 Bratman, Michael E. 29, 69–71, 122–124, 150–151, 153–164, 197, 211, 216, 220– 221, 225–227, 229, 230–231, 236 Buhr, Manfred 76 Buonaparte, Napoleon 101–102
Calhoun, Craig 254 Camic, Charles 360 Canto i Mila, Natalia 85 Carman, Taylor 257, 264, 266, 269 Cäsar, Julius 431–434 Castaneda, Hector-Neri 188 Celano, Bruno 193, 228 Cohen, Philip R. 29, 53, 149, 164, 165, 186 Coleman, James 375 Colman, Andrew M. 368 Condorcet, Marie Jean Nicolas Antoine de Caritat 313 Cooley, Charles Horton 222, 243, 454 Cooley Angell, Robert 222, 243 Cramer, Wolfgang 101, 312 Currie, Greg 22 Dalgleish, Tim 425 Davis, John B. 405 Dennett, Daniel C. 192 Descartes, René 24, 26, 36–39, 47–48, 101, 104, 115–116, 149, 179, 181, 191, 195, 196, 204, 217, 221–226, 228, 230, 232–235, 244, 249, 273–275, 288–289, 295–296, 308, 382, 393, 417, 443 Dewey, John 239 Dreyfus, Hubert L. 250, 254–255, 257– 258, 260–261, 263, 265–266, 269, 271, 289, 290 Durkheim, Emile 215, 218, 238–239, 278, 414–415, 417 East, M. P. 425 Ebeling, Hans 276 Elias, Norbert 78, 281 Elster, Jon 22, 236, 310, 326, 334, 337, 394, 412–414, 418–419, 427, 435, 447–448
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Wir-Intentionalität https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
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Namensindex Embree, Lester 264 Engels, Friedrich 27 Esposito, Roberto 282 Fagin, Ronald 141 Farina, F. 386 Faulconer, James 271 Fehr, Ernst 324 Fichte, Johann Gottlieb 101, 312 Fitzpatrick, Dan 127 Flood, Merrill M. 318 Fodor, Jerry 191 Frank, Robert 430–431, 433 Frank, Simon L. 25, 104–105 Freud, Sigmund 416–417, 427 Fullbrook, Edward 405 Gauthier, David 325, 333, 340, 346–349, 352–353, 364, 371–372 Geiger, Theodor 206 Geßler, Heinrich 54–55, 174 Giddens, Anthony 247 Gilbert, Margaret 17, 19, 60–61, 69–73, 88, 102, 118, 124–125, 130–131, 163, 168, 186, 200–201, 207, 211, 214–216, 219–221, 228, 236, 349, 353–354, 369– 371, 399 Goldmann, Lucien 274 Goyal, Saanjev 349 Greenwood, John D. 437, 446 Grice, Herbert Paul 120, 128 Großheim, Michael 247 Guignon, Charles 250 Gulick, Robert van 182 Habermas, Jürgen 182, 186, 248, 273, 276, 410 Hahn, F. 386 Hall, Harrison 255, 257 Halpern, Joseph Y. 141 Hamilton, Peter 377 Harrison, Ross 403 Harsanyi, John 364–365 Hartshorne, Charles 218 Haugeland, John 255, 257, 259–260, 262, 265, 269–271 Havas, Randall 269 Hayek, Friedrich August von 315
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Heal, Jane 127–130 Heidegger, Martin 10, 25–26, 36, 48, 59, 90, 103, 104, 137, 139–140, 146–147, 234, 244, 246, 247–308, 392–393, 408, 421, 438–448 Heinämaa, Sara 26, 155, 164, 217 Heitmeyer, Eilhelm 410 Henning, Boris 155 Hennis, Wilhelm 211 Henrich, Dieter 100–101, 312 Hesiod 423, 425 Hildebrand, Dietrich von 25, 138–140, 287, 288 Hilmer, Brigitte 13 Hindriks, Frank 213 Hirsch, Fred 419 Hogg, Michael A. 92 Hollinger, David A. 83 Hollis, Martin 321, 411–412 Homans, George Caspar 43 Honneth, Axel 35, 116 Hooft, Stan Van 448 Hornsby, Jennifer 193, 228 Hume, David 354 Huntington, Samuel P. 62, 78–79, 81 Hurley, Susan 385 Husserl, Edmund 25, 48–49, 55, 114, 119, 132, 136–137, 146, 149, 185, 191, 222, 234, 247, 249, 250–251, 261, 276, 289, 297, 440, 443, 446 Ikäheimo, Heikki 218 Janssen, Maarten Chr. 349, 372–373, 388 Jaspers, Karl 247 Johansson, Ingvar 193 Kagel, John K. 322 Kant, Immanuel 62, 93, 274, 326–327, 333–336, 355, 385, 393, 395, 401, 403, 405 Kennedy, John F. 162 Khalil, Elias L. 332 Kierkegaard, Sören 304 Kirchgässner, Gebhard 309, 340 Kisiel, Theodore 269, 271, 277 Klaus, Georg 76 Köhnke, Klaus Christian 64, 85, 89
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans Bernhard Schmid
https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
Namensindex König, René 247 Kopernikus, Nikolaus 107, 124, 136–137, 140–141, 144–145, 152, 188 Krebs, Angelika 13 Kuhn, Thomas Samuel 270 Kutz, Christopher 55, 57, 162, 230 La Caze, Marguerite 448 Landshut, Siegfried 77 Lazarus, Moritz 38, 60, 63, 85–90, 93, 96– 97, 104, 218 Lazear, Edward P. 309 Lehmann, Gerhard 274–275, 278 Lehtinen, Aki 351–352 Leibniz, Gottfried Wilhelm 247 Lem, Stanislaw 58, 65 Lenin, Vladimir Ilyich 76 Lepore, Ernest 182 Levesque, Hector 164–165 Lévinas, Emanuel 149 Lewis, David K. 126, 130–131, 338–339, 344, 361 Locke, John 411 Loubser, Jan J. 378 Löwith, Karl 288 Luce, R. Duncan 318, 320 Luhmann, Niklas 247, 311–312, 314, 359–362, 374, 375–379, 380–382 Luther, Martin 173, 314 Lütkehaus, Ludger 416 Maffesoli, Michel 177 Malpas, Jeff 255, 260, 269, 270 Mandeville, Bernhard 316 Martin, Michael 394 Marx, Karl 27, 76–78, 80–81, 246 Mathiesen, Kay 190, 222 Matisse, Henri 193 Matthes, Peter 415 McGinn, Colin 183 McIntyre, Lee C. 394 Meggle, Georg 13, 156, 190, 192, 213, 215, 222 Mehta, J. 341 Meijers, Anthonie W. M. 192–193, 199, 200, 202–204, 239 Merton, Robert K. 419, 423 Meyer, Katrin 13
Miller, Kaarlo 122, 149, 153 Miller, Seumas 149, 156–157, 349, 350 Milobenski, Ernst 423 Mora, Gonzalo Fernández de la 415, 421, 427–428, 448 Morgan, Jerry 29, 53, 149, 186 Morris, Stephen 141 Moses, Yoram 141 Mulligan, Kevin 132 Münkler, Herfried 410 Nakhnikian, George 188 Nash, John 339 Neuhauser, Fabian 125 Nida-Rümelin, Julian 324–326, 333–335 Nietzsche, Friedrich 437, 448 Nozick, Robert 126, 141, 418 Ockham, Wilhelm 41, 50, 141, 213 Olafson, Frederick 257 Olson, Mancur 319 Ortega y Gasset, José 222, 405 Otaka, Tomoo 114 Pareto, Vilfredo 317, 320, 324, 350, 363, 370 Parks, Rosa 174 Parsons, Talcott 342, 359–362, 374–382 Peter, Fabienne 13, 328 Petrarca, Francesco 416 Pettit, Philip 22, 214, 219, 321 Pfeiffer, Gabrielle 149 Platon 403, 423 Plessner, Helmuth 312 Plutarch 432 Pollack, Martha 29, 53, 149, 186 Popper, Karl Raimund 21 Provis, C. 349 Putnam, Hilary 192 Putnam, Robert D. 410 Quinton, Anthony 22 Raatzsch, Richard 13, 22, 166 Rabinow, Paul 254 Raiffa, Howard 318, 320, 322 Raines, Howell 174 Rakoczy, Hannes 118
A
Wir-Intentionalität https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
473
Namensindex
474
Rand, Ayn 205, 416, 437, 444, 448 Rawls, John 325, 340, 383–384, 389, 418, 422 Regan, Donald 334 Reinach, Adolf 55, 114, 119, 120 Rorty, Richard 84, 250 Rosenberg, Jay 170 Rossini, Gioacchino 174 Roth, Alvin E. 322 Rousseau, Jean-Jacques 343 Ruben, David-Hillel 126 Runciman, W. Gary 318
Smith, Adam 316, 398, 412 Stackelberg, Heinrich von 368 Starmer, C. 341 Stein, Edith 49, 133–134, 446 Steinthal, Heyman 86 Sternberger, Dolf 276 Stoutland, Frederick 155–156, 230 Sugden, Robert 163, 169, 321, 341, 347, 365, 386, 387–389, 391, 398, 412, 451– 452 Sunstein, Cass R. 172 Swindler, J. K. 401
Sandel, Michael 211 Sartre, Jean-Paul 25, 61–64, 66–68, 101, 138, 140, 286–288, 290, 296, 297–303, 401 Scheff, Thomas J. 129 Scheler, Max 25, 49, 137, 145, 147, 247, 287, 446 Schelling, Thomas C. 337–338, 340, 344, 354–355, 361 Schiller, Friedrich 55, 173 Schmid, Hans Bernhard 85, 93, 146, 218, 234, 324, 328, 338, 381, 384, 395, 405 Schmitt, Frederick F. 22, 220 Schoeck, Helmut 414–415, 419–424, 434, 436, 447 Schopenhauer, Arthur 416 Schumpeter, Joseph Alois 211 Schütz, Alfred 187, 246 Schweikard, David 13 Searle, John R. 29, 37, 49, 52–53, 125, 127, 135, 148–149, 151, 153, 163–164, 168, 179, 181–188, 190–195, 197–209, 211, 216, 220–221, 225–231, 236–237, 239, 260–261, 286, 289–290, 391, 393– 397, 401–407 Segal, Gabriel M. A. 191, 223 Sellars, Wilfrid 187, 188–189, 191, 257, 403, 405 Selten, Robert 364, 365 Sen, Amartya Kumar 318, 322, 328, 332, 383–384, 386 Shils, Edward 361, 376 Simmel, Georg 60–63, 68–69, 85, 87–88, 91, 94, 96, 104, 247, 248 Sloterdijk, Peter 417
Tamir, Yael 91, 433 Taylor, Charles 34, 115–117, 250, 289, 290 Tell, Wilhelm 54–55, 173–174 Thalos, Mariam 355 Thatcher, Margaret 22, 95–96 Theunissen, Michael 288, 296 Thomä, Dieter 13, 147, 248, 250, 253, 276, 292 Thoreau, Henry David 173 Tietz, Udo 73, 89, 92, 450 Tomasello, Michael 118, 397 Tönnies, Ferdinand 27, 135 Tucker, Albert W. 318 Tucker, Aviezer 172 Tuomela, Maj 166, 205 Tuomela, Raimo Heikki 13, 29, 72, 122– 124, 126, 131, 149–153, 156, 157, 161– 166, 172, 205, 211, 213–214, 219–221, 236, 238 Turner, John C. 68, 92 Turner, Stephen C. 193, 228 Updike, John 31 Vallée, Richard 15 Vanderstraeten, Raf 374 Vanucci, S. 386 Vardi, Moshe Y. 141 Varian, Hal R. 422 Velleman, David J. 157–159, 162 Wagner, Hans 101, 312 Waldenfels, Bernhard 193, 228 Wallgren, Thomas 26, 155, 164, 217
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans Bernhard Schmid
https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
Namensindex Walther, Gerda 25, 48, 132–138, 144, 161, 177, 188 Watts, F. N. 425 Weber, Marianne 109 Weber, Max 20–23, 44, 108–114, 118, 121–122, 156, 187, 210–212, 214, 220, 238, 247, 253, 327–333, 360, 385, 386 Weber, Ulrich 222, 405 Weintraub, E. Roy 318 Weiß, Johannes 254, 277
White, Mark D. 338 Williams, Bernard 403 Winch, Peter 257 Winckelmann, Johannes 330 Wittgenstein, Ludwig 182, 257, 259, 354 Wojtyla, Karol 175, 176 Wrathall, Mark 255, 260, 269, 270–271 Wright, George H. von 45 Wrong, Dennis H. 377 Wundt, Wilhelm 38, 86
A
Wir-Intentionalität https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
475
Stichwortindex
Absicht (cf. auch Intention; Intentionalität, praktische) 43, 45–46, 53, 56, 65, 150, 152, 154, 157, 170, 240; individuelle und gemeinsame 148, 301–302; gemeinsame 124, 152–153, 161, 169, 171, 208, 212, 240, 306, 390, 401 Affekt (cf. auch Intentionalität, affektive; Emotionen; Fühlen; Gefühle) 48, 413, 423, 439, 441, Aggregat 15, 18, 30, 62, 64, 77, 80, 187, 188, 209, 244, 417 Akt, intentionaler 140; sozialer 114, 117 Akteurperspektive (cf. auch Teilnehmendenberspektive, Beobachterperspektive) 76, 375, 381–382 Alltag 35 Alterität 34, 138, 296 Altruismus 324, 395–396, 405–406, 451; starker und schwacher 394 Anerkennung 149, 185, 450 Anschlußhandeln (cf. auch Anschlußverhalten) 50, 113 Anschlußintention 107 Anschlußverhalten (cf. auch Beitragsverhalten, Gemeinschaftsverhalten) 42– 46, 55–57, 59, 107–108, 113, 121, 127, 240, 452 Anthropologie, philosophische 246 Antwortreaktion 114 Anwesenheit 43–44 Assoziation, freie 27–28 Asymmetrie 25, 159 Atomismus, atomistisch 25, 104, 116, 186, 211, 214–215, 219, 236, 274, 278, 280, 283, 285–286, 311–312, 360, 382, 389, 415, 420, 428, 435, 438, 442–443, 445 Ausdruck 114
476
Autonomie 65, 84, 88, 277, 414; intentionale 154, 156, 219, 278, 388, 391, 415, 427 Autopoiesis 377 Behaviorismus 41, 46, 51, 53, 57, 60, 63, 66, 107 Beitragsabsicht 121–122, 124, 152, 159, 207, 240 Beitragshandeln, Beitragshandlung 111, 113, 115, 121–122, 124, 149, 151, 162, 164, 167, 305–308, 386, 391, 397, 399– 400 Beitragsintentionen, Beitragsintentionalität 58, 114, 121, 123, 127, 148, 150, 152–153, 161, 164, 168, 177, 229, 240, 397, 452; Formen/Typen 161, 162 Beitragsverhalten 44, 57, 59, 112, 114, 119, 124, 152–153, 161, 398, 399, 404 Beobachterperspektive (cf. auch Dritte, der; cf. auch Teilnehmendenperspektive) 56–57, 59, 61–62, 86, 168 Bewußtseinsphilosophie (cf. auch Mentalismus) 181, 185, 277 Beziehung (cf. auch Relation) 198–199, 203, 226–228, 238, 239, 241, 405, 435; soziale 114; Ich-Du-Beziehung 187, 301 Brauch 205 civilization-consciousness 79 commitment (cf. Festlegung) 149, 157, 201, 206, 328, 332, 386, 393–395, 401, 403, 406; joint und individual commitment 215; conditional commitment 215 common knowledge 123–127, 130–131, 133–136, 138, 141–149, 151–153, 161,
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans Bernhard Schmid
https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
Stichwortindex 177, 216, 318, 321, 336, 341, 345–346, 350, 357, 369 conscience (de) soi 101, 288, 296 Demokratie 43, 79, 97, 171–172 Deprivation, relative 419, 423 Devianz 362, 366, 377, 380, 389 Dissens 172–174 Dissidenz, dissident 161, 163–167, 170– 174, 176, 178, 225 Dritte, der (cf. auch Beobachterperspektive) 60–62, 64–68, 101, 207, 289, 296, 301–303; Perspektive der dritten Person 76 Dyade 167 Egoismus 383, 394–395, 403, 405–406; individueller vs. kollektiver 401 Egologie 297 Eigeninteresse 314–319, 321, 325–326, 360, 362, 380, 386, 387, 395, 401–402, 406–407, 418 Eigentlichkeit (cf. auch Selbstverhältnis, eigentliches) 147, 245, 253, 255–257, 259–260, 269–271, 273, 278, 286, 293, 295, 300, 307–308, 440, 444, 446, 454– 455 Einfluß 159–162 Einfühlung 132–138, 140 Einigung 132, 134–137 Einverständnis 202–203, 205 Emanzipation 312–315, 323, 406 Emergenz 188, 215, 229, 238–239, 378 Emotion (cf. auch Gefühl, Affekt) 398, 413–414, 446, 451 Empathie 398 Empfinden, gemeinsames 20 Engagement 162, 176, 249 Entscheidungsfindung 172 Entscheidungstheorie 24, 127, 319, 398 Erfolg (cf. auch Ziel, Zweck; Handeln, instrumentelles) 259, 264–265, 271; instrumenteller 265–268, 270, 272–273 Erfüllungsbedingung 178, 195; Nichterreichen der Erfüllungsbedingungen 194 Erleben, Erlebnis 133, 136; gemeinsames
116, 134, 138–141, 143, 146, 161, 177, 286, 288; originäres 133 Erneuerung 175, 176 Erwartung 109, 112–114, 118, 120–121, 127–128, 143, 171, 212, 334–350, 361– 363, 371, 378–379, 389; kognitive und normative 206–207, 324, 334–335 Erwartungsnutzen 209, 310, 317–319, 325, 341–342, 345, 347, 349, 365, 368, 370, 383, 389, 392 Ethik 177 Ethnizität 81 Evidenz, intuitive 141 Existenzphilosophie 24–25 exit-Option 175 Exklusion 59, 73–76, 81–82, 85, 88, 90, 92, 275, 279 Faktum, soziales 218; 238; natürliches Faktum 182–183, 185, 291; institutionelles Faktum (cf. auch Institution; Regel, konstitutive; Funktion) 182– 184, 262–265, 268 Fallibilität 225 Familie 29–30, 71, 95 Festlegung (cf. auch commitment) 45, 200, 203, 205–206, 345, 395, 399–400 focal point (cf. auch salience) 340–343, 355, 361, 372 foundationalism 224–225, 232 framing 347 Freiheit 380 Freiwilligkeit 70–71, 84, 105, 201; starke und schwache Freiwilligkeit der Gruppenzugehörigkeit 29 Fremderfahrung 256, 296, 301 Freundeskreis 31, 46, 93–94 Freundschaft 420 Fühlen (cf. Gefühle, Emotionen, Affekte, affektuelle Intentionalität) 50, 435, 439, 442, 452 Funktion 184, 258, 261, 267; symbolische 264 Gefangenendilemma 317–319, 322, 340, 384–385, 392 Gefühle (cf. auch Emotionen, Affekte, affektuelle Intentionalität, Fühlen) 49–
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Wir-Intentionalität https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
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50, 138, 413–414, 418, 421, 436, 438– 439, 447; gemeinsame 138, 177, 446 Geist 182 Geisteswissenschaft 183 Geltungsanspruch 186 Gemeinsamkeit 135, 137, 139, 144, 148– 149, 153, 161, 177, 187, 197, 207, 229, 245, 280, 285, 296, 300, 303, 378, 381– 382, 407, 426, 435, 454–455; intentionale 140–141, 200, 230, 232, 237–239, 256, 285 Gemeinschaft 20, 25–27, 30, 48–49, 68, 80, 88, 90–101, 104, 118, 135, 140, 146, 149, 176, 191, 207–210, 216–217, 220, 233, 236–243, 248, 259, 261, 272–274, 280–287, 292, 301, 390, 416, 425; Gemeinschaft vs. Gesellschaft 27–28, 135, 433; Rekonstruktion der Gemeinschaft 35–36, 243–246, 413, 449–455; Erlebens-, Handelns- und Gefühlsgemeinschaft 48–49; Formen der Gemeinschaft 119 Gemeinschaftsbewußtsein 97–98, 104– 105, 150; reflexiv-thematisches 280 Gemeinschaftserleben 132–133 Gemeinschaftsgefühl 94, 299, 416 Gemeinschaftshandeln 24, 28, 30–31, 42– 60, 65–68, 98, 107–124, 150–174, 177, 187, 193, 198, 201–208, 220, 236, 240, 273, 292, 297, 298, 305–308, 386–387, 397–398, 402, 412, 452; Arten des Gemeinschaftshandelns 32–33, 120, 125– 127, 148, 151; Motive des Gemeinschafthandelns 19; Struktur des Gemeinschaftshandelns 45, 105 Gemeinschaftspraxen 172–173, 176, 206, 257, 273; normative Gemeinschaftspraxen 174, 257, 259, 268, 285 Gemeinschaftsverhalten 42, 44, 45 Gemeinwohl 315–317, 320, 406 Gesellschaft 27, 31, 43, 88, 104, 146, 209, 222, 235–237, 254, 256, 267, 285, 313, 388, 390, 411–413, 427; Substanz der Gesellschaft 307 Gesellschaftstheorie (cf. Sozialtheorie) 377 Gewißheit (cf. auch Infallibilität) 57, 223, 231
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Gewohnheit 201, 205, 257, 313, 337, 343, 344, 348, 355–356, 372, 390 Gleichheit (cf. Symmetrie) 35; Gleichheit und Gemeinsamkeit 76, 80 Globalisierung 80 Großgruppen 172 group mind 220, 226, 228, 230–233, 235– 236, 404 Gruppe (cf. Wir-Gruppe) 94, 99, 141, 164–166, 179, 191, 193, 207, 210, 213, 216, 227–228, 237, 268, 383, 401; soziale Gruppe 96; formelle vs. informelle Gruppe 432 Gruppenbewußtsein 92, 94, 96, 99, 106 Gruppengefühl 97 Gruppengeist 110, 146, 190, 217, 218, 230, 408 Gruppenintention 171 Gruppenloyalität 402–403 Gruppenmeinung 170 Gruppenseele 146 Gruppensubjekt 188 Haltung 176; uneigentliche 176; kognitive vs. normative 202, 203 Handeln 277; individuelles Handeln 27, 209; individuelles vs. gemeinsames Handeln 18–19, 32, 35–37, 39–41, 50, 53–59, 64, 106–107, 111, 117, 150, 186, 239, 385; paralleles individuelles Handeln 16–17; erfolgs- vs. normorientiertes Handeln 267–268, 304, 307; instrumentelles Handeln 26–27, 30–31, 252, 253–259, 273, 306; normreguliertes Handeln 252, 255, 376; normorientiertes Handeln 256, 259–260, 266, 268, 271, 274; erfolgsorientiertes Handeln 266; Handeln und Verhalten 45; Handeln von Individuen und Handeln von Gruppen 60–61; soziales Handeln 66, 109–113, 151, 187, 212, 237, 253, 305, 344, 375; gemeinsames Handeln 131, 132, 149, 153, 175, 212, 385, 387, 400; rationales Handeln 319; kollektives Handeln 334, 398 Handlung 154–156, 212, 376 Handlungsalternative 209, 310 Handlungsfolgen 327, 332, 334–336, 431
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans Bernhard Schmid
https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
Stichwortindex Handlungsgründe 127, 130, 387, 394– 397, 403–405; interne vs. externe Handlungsgründe 403–405 Handlungskonsequenz 383, 385–387 Handlungsplan 27, 66, 249, 294, 297–298 Handlungsrationalität 310, 325, 327–328, 333, 344, 368, 374, 383, 393, 395, 397, 399, 400, 450 Handlungstheorie 174, 221, 284, 382; analytische Handlungstheorie 24 Herrschaft 159, 313 Hintergrund, intentionaler 194 Holismus 210, 214, 216, 238–239 homo oeconomicus 244, 309–310, 322– 323, 336, 345, 353, 383–384, 386, 390, 393 Homogenität 79–80, 87 Ich-Bewußtsein 234 Ich-Intentionalität (cf. auch Intentionalität, individuelle) 153, 229 Idealismus 263; sozialphilosophischer Idealismus 84–85, 92; sozialkonstruktivistischer Idealismus 262 Identifikation (cf. auch Selbstzuschreibung) 78–79, 92–93, 103, 284, 388, 389, 416, 436; interne und externe 63 Identität (cf. auch Wir-Identität) 79, 91, 383–384, 392; kollektive Identität 79, 81–82, 85, 88, 91, 100, 103, 105, 280, 283; gemeinsame Identität 90, 94, 281, 283; soziale Identität 91, 93, 433 I-intention 153 immagined communities 87, 91–92, 94, 99 Imperialismus, ökonomischer 33, 410 Impuls 355–356, 358, 372 Individualismus 35, 37, 147, 189, 198, 208–209, 211, 214, 217, 221–226, 229– 234, 238, 273, 277, 280, 311, 383, 389, 407; methodologischer Individualismus 20–23, 33, 40, 110, 145, 190, 192, 209, 211, 216, 227, 310, 375, 413, 418–420, 430; ontologischer Individualismus 20– 23, 35–36, 60, 166, 211, 219, 222, 244, 246, 308, 310, 449; sozialtheoretischer Individualismus 34, 60, 256, 408; »individualistische Illusion« 28, 31–35;
formaler Individualismus 189–190, 192, 222–226, 231–232; materialer/ subjektiver Individualismus (cf. auch Internalismus) 190, 192, 196, 223, 225– 232, 289; normativer vs. ontologischer Individualismus 311; phenomenological individualism 190, 222 Individualität 65, 311–315 Individualitätssemantik 311–313 Individuum 311–313 Infallibilität (cf. auch Gewißheit) 101, 195, 223, 288, 438 Initiative, intentionale 159, 162 Inklusion 73, 175 Innovation 377 Institution 117, 119, 172, 182–184, 416; intermediäre Institutionen 434 Institutionalismus (cf. Intersubjektivismus, Konventionalismus) 119 Integration, soziale 70–71, 78–81, 313– 317, 323, 406 Intention 52, 107, 154–160, 195; individuelle Intention 150–151, 154, 195, 208, 210; individuelle vs gemeinsame Intention 64, 67–68, 107, 166, 170– 171, 177–179, 186, 188; gemeinsame Intention 148, 152–154, 160–161, 164– 165, 170, 177, 180, 187, 189, 191–192, 199, 217, 221, 229, 234–239, 248, 249, 256, 280–281, 291, 306, 389–393; kollektive Intention 196, 205; »schlafende« Intention 159 Intentionalismus 38–39, 47, 50, 54, 59, 61, 100, 115–116, 185, 207, 243, 273, 275 Intentionalität, intentional 37 45–51, 56– 59, 110, 115–116, 136, 150, 168, 180– 186, 190, 194, 197–199, 203, 212, 22– 222, 232, 234, 238–240, 243, 249, 275, 284–285, 289–290, 396, 444; intentionaler Gehalt 23–24, 153, 159, 192, 197, 209, 211, 229, 437, 438; intentionales Subjekt 23–24, 37, 155, 197, 218, 223, 233, 234; intentionaler Modus 24, 197, 421, 437; individuelle Intentionalität 27–28, 185, 209, 212, 301; kognitive Intentionalität 115, 123, 137, 153, 291; praktische Intentionalität 291; affek-
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Wir-Intentionalität https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
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tuelle Intentionalität 437, 438; praktische, kognitive und affektuelle Intentionalität 33, 47; 48, 50, 139–140, 161, 169, 178, 250; ontologischer Status der Intentionalität 45–46; gemeinsame Intentionalität 59, 101, 105, 123, 147, 153, 185, 193, 204, 208, 217, 227, 241, 295, 301; kollektive Intentionalität 118, 135, 157, 179, 181, 185–186, 189–197, 200–204, 207, 213–214, 217, 219–221, 225, 232–233, 235–238, 241, 286, 391, 393, 397, 401–402; gemeinsame Intentionalität 198, 236, 392; unbewußte Intentionalität 168; abgeleitete Intentionalität 184–185; fehlgehende Intentionalität 194–196 Intentionalitätsschema 288 Interaktion 43–44, 92–93, 114, 236, 254, 375 Interdependenz von Erwartungen 337– 345, 354, 359–360, 366, 369–370, 374– 379, 387, 398 Internalismus (cf. auch Solipsismus, methodologischer) 40, 180, 190–193, 195, 198, 199–203, 208, 213, 223, 231, 240, 249, 289, 393, 401; Intersubjektivismus 39, 115–119, 140, 182, 185, 205, 273, 285, 326, 397 Intersubjektivität 149, 183, 186, 222, 253, 288, 301, 381 Iteration, infinite 114–116, 119–136, 141–144, 145, 185 joint intention 152 Kampf (cf. auch Konflikt) 58, 65, 67 Kausalität, kausal 21, 45–46, 210 Klasse, gesellschaftliche 30, 76–81, 111 Klassenbewußtsein 80, 218 Kleingruppe 29–30, 32, 35, 43, 163, 167 Kognitivismus 202–204, 207 Kollektiv 21, 89, 105, 145, 147, 186, 189, 196, 210–214, 217–219, 233, 236–237, 312, 416, 446; Existenz des Kollektivs 236–237; kausale Rolle des Kollektivs 21, 210–211 Kollektivbewußtsein 101, 239, 275, 278, 288
480
Kollektivgeist 20, 38, 60, 90, 147, 226– 227, 279 Kollektivismus 23, 25, 37, 145–147, 188– 191, 214, 218–220, 232, 234–235, 248, 256, 273, 277, 280, 283, 389, 408, 414 Kollektivitätskonzept 209–210, 214 Kollektivsubjekt (cf. auch Kollektivgeist, group mind) 20, 38, 60, 110, 145, 147, 148, 189, 195, 217, 219, 220, 221, 226, 228, 229, 231, 232, 233, 234, 235, 237, 238, 275, 276, 277, 278, 282, 284, 288, 404, 408 Kommunikation 116–117, 120, 249, 253, 295, 342–343, 377–380, 396 Kommunikationsgemeinschaft 30, 273, 285 Kommunikationsmedium 375 Kommunitarismus 34, 91, 116, 211, 410, 433, 450 Komplizenschaft 55–56 Konflikt 100, 237, 377, 407, 411 Konformismus 174–176 Konformität 170, 380 Konkurrenz 407, 427 Konsens, Einvernehmen 39, 120, 129, 307, 314 Konsequentialismus 328, 385 Kontingenz 378; doppelte Kontingenz 272, 361–363, 374–383 Kontrolle 157–159, 379 Konvention 45, 252, 259, 263, 299, 304, 338, 340, 344, 348, 358, 362, 365, 375– 377, 381, 390 Konventionalismus 46, 171, 248, 256, 259, 260–274, 285, 293, 376–377, 379 Kooperation 30, 163–164, 167, 174, 227, 317, 318–325, 333–339, 385, 388, 407 Koordination 26–27, 67, 297, 298, 306, 335–339, 354–379, 380–383, 393, 399, 407, 412 Kritik 449–455 Kultur 78–79, 362, 376–378 Kundgabe 114, 117 labeling 347 Lebensform 259, 264, 267 Liberalismus, liberal 88–89, 91, 97, 116, 277, 433
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans Bernhard Schmid
https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
Stichwortindex Liebe 412–414, 420 Macht 28, 157, 158 Makro-Subjekt (cf. auch Kollektivsubjekt, group mind) 189, 234, 408 Masse 76–79, 305, 414, 446 Menge 15 Mentalismus 38, 181, 243 Methodologie 22, 25, 34 Miteinandererleben (cf. gemeinsames Erleben, Wir-Erleben) 138, 146 Miteinandersein 24–28, 32–33, 36, 58, 166, 208, 244, 246–249, 253, 273–275, 278, 280, 282, 285–287, 290, 294–295, 298, 300, 304–305, 308, 390, 392, 399, 403–406, 410–411, 415, 426–427, 430, 432, 434, 442, 444, 447; Miteinandersein vs. Nebeneinandervorkommen 47, 284–285, 397; vorreflexiv-unthematisches Miteinandersein 104, 275, 278, 284, 344, 407, 409, 411–412, 420; eigentliches Miteinandersein 279, 446, 447 Miteinandervollzug von Akten 139–140 Mitfühlen (cf. auch Gefühl, gemeinsames; Sympathie) 138 Mitgliedschaft (cf. auch Zugehörigkeit) 43, 432 Mitteilung 133 Moderne 410 Monologismus, monolog(ist)isch 115– 116, 136, 139, 182, 185, 243, 248, 256, 259, 273, 276, 278, 289, 292–294, 306, 326, 382; bewußtseinsphilosophischer Monologismus 38–39, 185; subjektphilosophischer Monologismus 397 Moral 206 Motiv, Motivation 19, 44, 53, 323, 375– 376, 396, 398, 415 motivational set 400–401, 404–405 Motivationssystem 375 mutual belief 123–124, 131 Nation 30, 80–81 Nationalismus 277 Naturwissenschaft 183 Neid 412–438; starker vs. schwacher Neid 418
Nichtbeitragen 174 Nichtteilnahme 172–176 Norm 258–259, 271, 299, 304–305, 308, 338, 342, 362–363, 375; soziale Norm 206, 252–253, 256, 258, 261–262, 265– 272, 303, 306–308, 327, 375–377, 380– 381; partikulare vs. universale Norm 307 Normativierung 205–206, 410 Normativismus 202, 204, 207 Normativität 45, 161, 170–171, 177–179, 200–203, 257, 273, 294; soziale Normativität 170, 179, 204–207, 270, 395, 397; reine Normativität 179; instrumentelle Normativität 207 Normkonformität 265–268, 271, 303, 362 Normorientierung 266 Normwandel 307 Objekt-Wir 61, 288, 296, 301 Öffentlichkeit 252–253, 257–259, 267– 268, 270, 285, 292, 295, 304, 442 Ökonomie (cf. auch Verhaltensmodell, ökonomisches; Imperialismus, ökonomischer) 33, 309; experimentelle Ökonomie 322 Ontologie 22, 24, 214, 216, 237, 262; Ontologie vs. Ontik 453, 455; Ontologie und Phänomenologie 24, 166, 368; Ontologie des Miteinanderseins (cf. Sozialontologie) 25–37, 43, 50, 56, 61, 100, 178, 207, 308, 406, 411–412, 426– 427, 434, 448; Ontologie der Gruppe 43–44, 60, 74, 213; Ontologie der Gemeinschaft 50, 72, 100, 132, 246, 279, 287, 390, 451, 454; Ontologie des Volkes 256, 276–278, 282–283, 293; Ontologie des Volksgeistes 87; Ontologie des sozialen Verbandes 114, 135 Opposition 172, 175, 176 Ordnung 362; soziale Ordnung 229, 312, 315, 320, 360, 361, 378; spontane Ordnung 315, 320; emergente Ordnung 379 Organisation 76 own-agency-Argument, own agency condition 155–157; own agency condition und Eigentlichkeit 444–445
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Wir-Intentionalität https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
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Paar 44 Partialintention 138 Partikularismus 402 Partizipation 59, 72–76, 85–90, 279 Person 175, 376, 380 Personalität höherer Ordnung (cf. Kollektivsubjekt, Makro-Subjekt, group mind) 146 Pflicht (cf. auch Verpflichtung) 110, 200, 202, 205–206, 332, 386, 405–407; Pflicht vs. Interesse 402 Phänomenadäquatheit 24, 35, 37 Phänomenologie 24–25, 48–49, 114, 132– 133, 138–139, 141, 143, 145, 175, 186, 188, 247, 251, 260, 296, 297 Philosophie der Sozialwissenschaften 34 philosophy of mind 181, 186, 208, 211, 221, 291 philosophy of society 236, 238 Phronesis 269 Plan (cf. auch Handlungsplan) 272, 273 plural subject theory 118, 214–215, 220, 228 Pluralis maiestatis/- modestiae/ – auctoris 11–12 politics of identity 84 Positivismus 26 Präferenz 211, 310–311, 314–319, 327, 350, 357, 393, 397–399, 427–430 Pragmatismus 246, 250, 257 pro-attitude 165 rational choice 156, 372, 374, 430 Rationalität 244, 310, 314–319, 321–409, 416–418; strukturelle Rationalität 324–327, 334–336; strategische Rationalität 337, 357; parametrische Rationalität 337, 357; individuelle Rationalität 411; kollektive Rationalität 365, 388 Rationalitätsprinzip 310, 324, 332, 383, 418 Realismus 263 Referenzgruppe 423–425, 430–432 Reflexion 281 Reflexionsskepsis 104, 283 Regel 184, 237, 264, 304, 349, 350, 396; konstitutive Regel 184, 262, 268
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Regelfolgen, Regelanwendung 117, 269, 356 Relation (cf. Beziehung) 227, 229, 235, 239 Repräsentation 222, 289, 290 Restriktion 304, 308, 409 Risikoaversion 364 Rolle 258–259, 267; soziale Rolle 161– 162, 252 Rollenkonflikt 260, 270 Rollenkonsistenz 259 Routine 46, 358 salience 338, 340–349, 350–359, 361, 369, 376, 381, 387, 392 Sanktion 362–363, 366, 376 Schauspiel 54–55 scorekeeping 149 Selbstbegriff 102, 281–282, 299 Selbstbeschreibung, gesellschaftliche 98, 410–411 Selbstbewußtsein 100–101, 437; individuelles 101–102; soziales 89, 286 Selbstbeziehung, Selbstbezug 249, 256, 276, 289, 294, 421; reflexiv-thematischer Selbstbezug 301, 339, 440; vorreflexiv-unthematischer Selbstbezug 439; fehlgehender Selbstbezug 409, 438, 441 Selbstbild 105, 436 Selbstmißverständnis 249, 421, 449, 453 Selbstreflexion 224–225 Selbsttäuschung 101, 195, 225 Selbstverantwortung 276 Selbstvergegenständlichung, reflexive 286 Selbstverhältnis 101, 244, 252, 259, 270, 283, 288, 299, 302, 304; reflexives Selbstverhältnis 39, 59, 86, 88, 92, 94, 97; vorreflexives Selbstverhältnis 440; eigentliches Selbstverhältnis 454; existentielles Selbstverhältnis 455; uneigentliches Selbstverhältnis 26, 36; alltägliches Selbstverhältnis 251; gemeinsames Selbstverhältnis 283; individualisierendes Selbstverhältnis 411, 449; individuelles Selbstverhältnis 418
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans Bernhard Schmid
https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
Stichwortindex Selbstverständnis 240, 303, 436, gemeinsames Selbstverständnis 88; kollektives Selbstverständnis 102–103; philosophisches Selbstverständnis 244; alltägliches Selbstverständnis 244, 308, 409; individualistisches Selbstverständnis 299 Selbstwahl 304 Selbstzuschreibung 71–72, 74, 78–79, 83–84, 275, 388 Self-Categorization Theory, self-categorization 68, 91–92, 94 shared cooperative activity 122, 158–160 shared intention 158, 213, 227 singularism 214 Singularität, indexikalische 445 Sinn 247, 377; subjektiv gemeinter Sinn 21–23, 45, 60, 109, 118, 212; »objektiver« Sinn 212; gemeinsamer Sinn 212 Sitte 205 Skeptizismus, Skepsis 192, 225, 268 Social Identity Theory 91–92 Solidarität 85, 175, 417 Solipsismus, existentialer (cf. auch Internalismus) 442, 445–446; methodologischer 190–191, 200, 208, 216, 219, 227, 229, 231, 236, 289, 393, 404 Sollen 177, 179 Sorge 48, 246 Sozialisation 27–28, 76 Sozialkonstruktivismus, idealistischer (cf. auch Idealismus) 262 Sozialontologie (cf. auch Ontologie des Miteinanderseins, Ontologie der Gruppe) 91–92, 95–96, 102, 104, 114, 118– 119, 132, 191, 211, 215, 236–238, 243, 245, 288, 296, 298–299, 307, 388, 426 Sozialphilosophie 34, 209, 211, 246, 247, 253, 450 Sozialpsychologie 92 Sozialstruktur 97–98, 274 Sozialtheorie 34, 37, 100, 115, 218, 229, 244, 247, 254, 280, 314, 340, 359, 374, 382, 406, 412–413, 421 Sozialwissenschaft 33, 35 59, 85, 91, 97, 100, 103, 136, 183, 209, 211–212, 244, 246–248, 253, 309, 310, 360, 450
Soziologie, soziologische Theorie 34, 59, 210, 247–248, 253, 329; phänomenologische Soziologie 246 specified range constraint 72–73, 426 Spiegelung 122 Spiel 55 Spieltheorie 141, 339, 347, 351, 365 Spontaneität, spontan 81, 83, 89–90, 173– 174, 201, 204 Sprache 85, 115–117, 119, 182, 184, 232, 394–397, 401 Sprachphilosophie 181 Sprechakt 181–183 Sprechhandlung 119, 184 Status, sozialer 419, 422–424, 430–435 Subjekt 218, 223, 227, 233–235, 239, 250– 251, 313, 438; individuelles und kollektives Subjekt 233–234 Subjekt-Wir 61–62, 101, 140, 287–290, 295–303 Submission 174 Subversion 176 superagent (cf. auch Kollektivsubjekt) 227 Supervenienz 188, 238–239 supraindividualism 220 Symbol, Symbolisierung (cf. auch Intentionalität, abgeleitete) 117–118, 184, 375–376, 396 Symmetrie 35; symmetrische und asymmetrische soziale Beziehungen 28–29, 32 Sympathie 398, 412–413, 451 Systemtheorie 97, 338, 359, 374–383 Täuschung (cf. auch fehlgehende Intentionalität) 193, 204 Team 95–96, 240, 387–389, 391, 443 team reasoning 388 team thinking 387–388, 391–392 Teambewußtsein (cf. auch Wir-Bewußtsein) 93–94, 96 teamwork 412 Teilnahme 175 Teilnahmetheorie gemeinsamer Intentionalität 164, 166–167, 169–176 Teilnehmerperspektive (cf. auch Akteurperspektive) 57, 59, 61–62, 86, 135 Tiere 118, 265, 272, 396, 397
A
Wir-Intentionalität https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
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Tod 444–445 Tradition 343–344, 348 Übereinstimmung 204 Überzeugungen (cf. auch Intentionalität, kognitive) 34, 45, 48, 50, 109, 112–132, 141, 145, 149, 222; gemeinsame Überzeugungen 124, 130–133, 143, 208, 212 Uneigentlichkeit (cf. auch Selbstverhältnis, uneigentliches; Haltung, uneigentliche) 175–176, 244–245, 248, 251, 255, 257, 270, 273, 300, 308–309, 390, 409, 421, 440–442, 447, 45 Universalismus 396, 402, 405 Unterordnung 157 Verabredung 120, 201, 204–205, 348 Verantwortung 157, 331 Verband, sozialer 114 Vereinbarung, Vertrag 32, 118, 399 Vereinigung 77 Verhalten (cf. auch Gemeinschaftsverhalten) 41, 45, 50–58, 107–121, 124, 127, 149–150, 152, 154, 156, 158, 162, 168– 169, 195, 205, 207–208, 240, 275, 358 Verhaltensmodell, ökonomisches 26, 33– 34, 308, 310–312, 320–324, 328, 332, 340, 344, 345, 346, 353, 359, 366, 369, 374–375, 377, 382–384, 389–393, 406, 409, 413, 450 Vernunft 313–317, 322, 327, 406; instrumentelle Vernunft 273 Verpflichtung (cf. auch Pflicht) 398–400 Verständigung 115, 117–118, 120, 326 Verständigungsabsicht 119 Verstehen 114, 329–331, 375 Verstehende Sozialwissenschaft 21–23, 210, 248, 329–332, 375 Vertrauen 411–412 Volk 63, 86–90, 97, 103, 147, 246, 248– 249, 256, 275–283, 299 Volksgeist 85–89, 218 Volksgemeinschaft 277, 286 Volksseele 86 Volkssubjekt (cf. auch Kollektivsubjekt, group mind) 277 Voluntarismus, voluntaristisch 29, 70–71 voluntary association 27–28
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Wechselbezug 139–140, 149, 254, 256, 286–287, 290 Wechselverhältnis 284, 286, 296 we-intention 122, 151–153, 157, 213 Weltbild 263 Werkzeuggebrauch 265, 267, 269, 272 Werte, gemeinsame 376, 380 Wertengagement 245, 247, 455 Wertfreiheit 331 Wertrationalität, wertrational 110, 327– 332, 335, 385, 399, 406 Widerstand 175–176 Willensschwäche 45, 195, 225 »Wir« 34, 61, 64, 67, 70–71, 80, 92, 94, 98–102, 105, 116, 135, 146–147, 170, 179, 185, 187, 216, 244, 248, 274–276, 278, 280, 282, 285–289, 295, 298, 301, 403, 417, 435–436, 454; Anwendungsbedingungen von »wir« 11–12, 16–18, 42, 45, 47, 52, 54, 63–64, 66–73, 95–96, 106, 108, 154, 160, 167, 240, 426; distributives und kollektives »Wir« 15, 61, 64, 67, 100, 116, 148, 298, 417; Grenzen des Wir 62, 73, 75, 78, 81–84, 90–91, 99; »Wir«-Rhetorik, politische 70, 73; partizipative vs. exklusive Dimension des »Wir« 72–74, 82, 90, 99; universales »Wir« 74; eigentliches »Wir« 278; reflexiv-thematisches vs. vorreflexivunthematisches »Wir« 102; vorreflexiv-unthematisches, relationales »Wir« 293; Struktur des »Wir« 104; dissidenter Gebrauch von »wir« 164, 166–167; initiatorischer vs. konstativer Gebrauch von »wir« 168; »zerbrochenes Wir« 244, 300, 305, 447, 454 Wir-Begriff 76, 82, 279, 284; partizipativer Wir-Begriff 76, 81, 83–85, 91, 99, 100; exklusiver Wir-Begriff 76, 78, 80– 85, 91, 99–100, 279; reflexiv-thematischer Wir-Begriff 301 Wir-Berührung 140, 287 Wir-Bewußtein 61–62, 64, 72–82, 86, 89– 96, 99, 107, 274–275, 282, 436; reflexiv-thematisches Wir-Bewußtsein 99, 102–104, 207, 278–280, 296, 389; vorreflexiv-unthematisches Wir-Bewußt-
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans Bernhard Schmid
https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
Stichwortindex sein 99–103, 296; Fallibilität des WirBewußtseins 102 Wir-Erleben 132, 136–138, 187 Wir-Gruppe 12, 15–16, 18, 20, 27, 36, 39, 42, 53, 65, 76–81, 84, 91–93, 96, 99, 102–103, 118, 193, 207, 213, 216, 233, 301, 425, 427–429, 432, 433, 435; partikulare Wir-Gruppe 85, 402 Wir-Identität 74, 78, 92, 100, 103, 281, 285, 296; globale Wir-Identität 281; thematisch-reflexive Wir-Identität 299 Wir-Intentionalität, Wir-Intention (cf. auch Intentionalität, kollektive; Intention, gemeinsame) 140, 147, 153, 185– 191, 194, 198, 199, 213, 219, 224, 227, 289, 294, 299 »Wir«-Sagen 82, 84, 280, 426 Wir-Subjekt (cf. auch Subjekt-Wir) 60 Wissen 125–126, 133; gemeinsames Wissen (cf. auch common knowledge) 128– 130, 133–134, 136–137, 143–145, 148, 150, 177 Wissenssoziologie 146
Zeichen 263–264 Zeitdiagnose 44 Ziel (cf. auch Zweck; Handeln, instrumentelles) 32, 178, 383; individuelles Ziel 297–298, 303, 360, 390; kollektives Ziel 151, 161, 297; gemeinsames Ziel 164 Zugehörigkeit 31, 63, 81, 88, 90–91, 93, 166, 279, 311, 432, 434 Zugehörigkeitsbedingungen 74–75, 80– 84 Zugehörigkeitsbewußtsein, reflexives (cf. auch Wir-Bewußtsein) 61, 87, 93, 97 Zusammenhalt , gesellschaftlicher 410– 411, 427 Zustand, mentaler 45–46 Zustimmung 70–71, 105, 201, 204 Zwang 70–71, 105, 239, 305, 313, 414 Zweck (cf. auch Ziel; Handeln, instrumentelles) 46–47, 258, 327, 330 Zweckrationalität 110, 118, 127, 327–332, 385, 399, 406, 413 Zweckverband , Zweckgemeinschaft 30– 32, 46 Zweifel 224
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Wir-Intentionalität https://doi.org/10.5771/9783495997000 .
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