Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat: Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters 9783110928082, 9783484350038


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VORBEMERKUNGEN
EINLEITUNG
I. Forschungsstand und Problemhorizont
II. Ziele, Struktur und Ergebnisse dieser Arbeit
ERSTER TEIL: DAS NEUE SAECULUM
I. Die Frage nach dem geschichtlichen Ort der Gegenwart in der europäischen Spätrenaissance
1) Denkmuster der Krise: Entwicklung und Zusammenhang des vorbarocken Geschichtspessimismus
2) Bedrängnis der »litterae«: Zur Tradition und Funktion humanistischer Zeitklage
3) Paradigmenwechsel: Matthias Bernegger (1582–1640) als Vertreter der politisch-historischen Philologie des Frühbarock
II. Dekadenz als Ordnungsverlust
1) Metaphorische Diagnose und politische Semantik der späthumanistischen Zeitkritik
2) Die todkranken Studien: Historizität als angefochtene Tradition
III. Verfall, Veränderlichkeit und Vergänglichkeit – Zu Fundamentalkategorien barocken Geschichtsdenkens
1) Vorbemerkungen zur Funktion der rhetorischen Topik
2) Vom Kreislaufmodell zur vanitas-Emblematik
IV. Begründung und Begrenzung des frühbarocken Modernismus
1) Höhe der Zeit? Das Thema »de felicitate saeculi« bei Caspar Dornau und Johann Balthasar Schupp
2) Nihil novi sub sole: Die Auflösung der Dekadenzperspektive
3) Fortschritte ohne Gewähr: die »neuen Dinge« und der alte Mensch
V. Mutatum genus dicendi: Klassizismus und Modernismus in der Stildiskussion des Späthumanismus
1) Der Streit um Cicero: Überwindung und Behauptung des humanistischen Nachahmungspostulats. – Literarische und historische Aspekte
2) Lipsius und der Lipsianismus
3) Caspar Barth und Martin Opitz: Der neulateinische Manierismus und die Begründung der muttersprachlichen Kunstdichtung
VI. Melancholie der Besten: Anerkennung und Auflösung der Zeitklage
ZWEITER TEIL: DER GELEHRTE IN DER GESELLSCHAFT
Die literarische Kritik des scholastischen Humanismus im Horizont sozialer Rationalität und kulturellen Wandels
I. Der Pedant und das Pedantische: Grundzüge einer Bedeutungsgeschichte im europäischen Zusammenhang
1) Voraussetzungen: Der Humanist als »grammaticus« und »paedagogus«
2) Bildungsanspruch und Sozialverhalten: Literarische Reflexe der gesellschaftlichen Diskreditierung des Pedantismus in der Romania
II. Die Problematisierung der humanistischen Erziehung im Horizont politischer Rationalität: Paradigmen der Argumentation in Deutschland
1) Kulturpolitische Determinanten der »gubernatio specialis«: Die Heteronomie des kulturellen Sektors im frühbarocken »Policey«-Staat
2) Der Nutzen der »litterae«: Praxisbezug als Bewertungskriterium
3) Fürstenerziehung und Elitebildung: Deklassierung und Funktionalisierung der humanistischen Propädeutik
III. »Beschreibungen deß Pedantismi«: Verwendungszusammenhang und Bedeutungsentwicklung eines Schlagworts
1) J. W. Zincgrefs »Facetiae Pennalium«: Anekdotische Komik und satirisches Porträt
2) Präparierte Muster: Epigramm und Verssatire
3) G. Ph. Harsdörffer: Distanz und Betroffenheit
4) Ernst und Scherz der Satire: J.B. Schupp – J. M. Moscherosch
5) Der Pedant in der Komödie: Zur ästhetischen Vermittlung sozialer Normen in Andreas Gryphius’»Horribilicribrifax«
IV. Ethos der Vernunft: Systematische Begründung und praktisches Interesse der Gelehrtenkritik in der Frühaufklärung
1) »Pedantismus« als Leitbegriff der Epochenrevision bei Christian Thomasius
2) Galantismus und Pedantismus: Die Einheit des Gegensätzlichen
AUSBLICK: METAMORPHOSEN EINES UNERLEDIGTEN PROBLEMS
Literaturverzeichnis
Vorbemerkungen
Verzeichnis der verwendeten Bibliothekssiglen und Standortnachweise
A. Texte und Textsammlungen
B. Untersuchungen
Namensregister
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Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat: Entwicklung und Kritik des deutschen  Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters
 9783110928082, 9783484350038

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Günter Hess, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino

Band 3

Wilhelm Kühlmann

Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1982

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der philosophischen Fakultät der Universität Freiburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Redaktion des Bandes: Alberto

Martino

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kühlmann, Wilhelm: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat : Entwicklung u. Kritik d. dt. Späthumanismus in d. Literatur d. Barockzeitalters / Wilhelm Kühlmann. Tübingen : Niemeyer, 1982. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 3) NE: GT ISBN 3-484-35003-2

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1982 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz und Druck: Maisch & Queck, Gerlingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Meiner Frau gewidmet

INHALTSVERZEICHNIS

VORBEMERKUNGEN

X

EINLEITUNG

I. II.

Forschungsstand und Problemhorizont Ziele, Struktur und Ergebnisse dieser Arbeit

1 10

ERSTER T E I L : D A S N E U E SAECULUM

I.

II.

D i e Frage nach dem geschichtlichen Ort der Gegenwart in der europäischen Spätrenaissance 1) Denkmuster der Krise: Entwicklung und Zusammenhang des vorbarocken Geschichtspessimismus a) Kultur und Barbarei b) Goldene und eiserne Zeit 2) Bedrängnis der »litterae«: Zur Tradition und Funktion humanistischer Zeitklage 3) Paradigmen Wechsel: Matthias Bernegger (1582-1640) als Vertreter der politisch-historischen Philologie des Frühbarock Dekadenz als Ordnungsverlust 1) Metaphorische Diagnose und politische Semantik tier späthumanistischen Zeitkritik 2) Die todkranken Studien: Historizität als angefochtene Tradition a) Bilder der Spätzeitlichkeit b) Gründe und Symptome des Kulturverfalls

17 17 17 23 31 43 67 67 85 85 93

III. Verfall, Veränderlichkeit und Vergänglichkeit - Zu Fundamentalkategorien barocken Geschichtsdenkens 113 1) Vorbemerkungen zur Funktion der rhetorischen Topik 113 2) Vom Kreislaufmodell zur vanitas-Emblematik 118 IV. Begründung und Begrenzung des frühbarocken Modernismus 136 1) Höhe der Zeit? Das Thema »de felicitate saeculi« bei Caspar Dornau und Johann Balthasar Schupp 136 2) Nihil novi sub sole: Die Auflösung der Dekadenzperspektive 151 3) Fortschritte ohne Gewähr: die »neuen Dinge« und der alte Mensch 165 VII

V.

Mutatum genus dicendi: Klassizismus und Modernismus in der Stildiskussion des Späthumanismus 1) Der Streit um Cicero: Überwindung und Behauptung des humanistischen Nachahmungspostulats. - Literarische und historische Aspekte 2) Lipsius und der Lipsianismus a) Pragmatische Auflockerung kanonischer Stilbewertungen: Positionen und Impulse b) Der Lipsianismus als Mode: Lakonismus, argutia-Bewegung und Hofstil. . c) Rhetorik und Erfahrung: Das bedachte Verstummen als Maxime politischen Sprachverhaltens 3) Caspar Barth und Martin Opitz: Der neulateinische Manierismus und die Begründung der muttersprachlichen Kunstdichtung

189 189 204 204 220 243 255

VI. Melancholie der Besten: Anerkennung und Auflösung der Zeitklage. . . 267

ZWEITER TEIL: D E R GELEHRTE IN DER GESELLSCHAFT

D i e literarische Kritik des scholastischen Humanismus im Horizont sozialer Rationalität und kulturellen Wandels I.

II.

D e r Pedant und das Pedantische: Grundzüge einer Bedeutungsgeschichte im europäischen Zusammenhang 1) Voraussetzungen: Der Humanist als »grammaticus« und »paedagogus« . . . . a) Der grammatische Enzyklopädismus: Anspruch und Opposition b) Der Epigrammtypus »in grammaticum« als Waffe im Literaturstreit . . . . c) Pulvis scholasticus: Der Pedant als Heros 2) Bildungsanspruch und Sozialverhalten·. Literarische Reflexe der gesellschaftlichen Diskreditierung des Pedantismus in der Romania a) Von der »comedia pedantesca« zu Montaigne b) »Scavant« und »honnête homme«: Der Pedant als Anti-Ideal von »la cour et la ville« D i e Problematisierung der humanistischen Erziehung im Horizont politischer Rationalität: Paradigmen der Argumentation in Deutschland . . . 1) Kulturpolitische Determinanten der »gubernatio specialis«: Die Heteronomie des kulturellen Sektors im frühbarocken »PoIicey«-Staat 2) Der Nutzen der »litterae«: Praxisbezug als Bewertungskriterium 3) Fürstenerziehung und Elitebildung: Deklassierung und Funktionalisierung der humanistischen Propädeutik a) Anti-scholastische Affekte der politischen Pädagogik b) »Arma-Litterae«: Zur Aktualität einer topischen Formel c) Hof-Schule: Probleme der »Akkomodation«

285

288 288 288 296 301 306 306 313

319 319 330 341 341 351 363

III. »Beschreibungen deß Pedantismi«: Verwendungszusammenhang und Bedeutungsentwicklung eines Schlagworts 372 1) J. W. Zincgrefs »Facetiae Pennalium«: Anekdotische Komik und satirisches Porträt 372 VIII

2) 3) 4) 5)

Präparierte Muster: Epigramm und Verssatire 379 G. Ph. Harsdörffer: Distanz und Betroffenheit 382 Emst und Scherz der Satire: J . B . Schupp - J. M. Moscherosch 393 Der Pedant in der Komödie: Zur ästhetischen Vermittlung sozialer Normen in Andreas Gryphius' »Horribilicribrifax« 400

IV. Ethos der Vernunft: Systematische Begründung und praktisches Interesse der Gelehrtenkritik in der Frühaufklärung 423 1) »Pedantismus« als Leitbegriff der Epochenrevision bei Christian Thomasius. . 423 2) Galantismus und Pedantismus: Die Einheit des Gegensätzlichen 437 AUSBLICK: METAMORPHOSEN EINES UNERLEDIGTEN PROBLEMS

455

Literaturverzeichnis Vorbemerkungen Verzeichnis der verwendeten Bibliothekssiglen und Standortnachweise A. Texte und Textsammlungen B. Untersuchungen

474 474 474 476 493

Namensregister

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IX

VORBEMERKUNGEN

Die folgende Untersuchung hat im Wintersemester 1979/80 der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg als Habilitationsschrift vorgelegen. Das Manuskript ist an einigen Stellen überarbeitet und gekürzt. Forschungsliteratur, die mir erst später zu Gesicht kam, habe ich in wichtigen Fällen anmerkungsweise notiert. Es war mir nicht möglich, die Zitate aus entlegenen und schwer zu beschaffenden Werken nochmals am Original zu überprüfen. Für dadurch mögliche Versehen bitte ich um Nachsicht. Die teilweise komplizierte Typographie älterer Texte und Titel habe ich in der Wiedergabe vereinfacht. Ein besonderes Problem war die Behandlung der lateinischen Zitate. Im Interesse des Lesers habe ich mich entschlossen, längere lateinische Passagen (bis auf wenige Ausnahmen, für die neuere Übersetzungen vorliegen) in der Darstellung zu übertragen. Bei lateinischen Gedichten folgt unmittelbar eine deutsche Verständnishilfe. Sämtliche Übersetzungen, jeweils mit »(Ü)« gekennzeichnet, stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir. Bei Querverweisen werden die Hauptabschnitte des Buches mit den Großbuchstaben Α - D gekennzeichnet. Zu danken habe ich vor allem meinem Lehrer Wolfram Mauser, der das Entstehen dieser Arbeit mit seinem Vertrauen, seinem Rat und durch seine Rücksichtnahme maßgeblich gefördert hat. Ich danke auch für die Ermutigung und für hilfreiche Hinweise, die mir im wissenschaftlichen Gespräch mit Freunden und Kollegen zuteil wurden. Von ihnen seien Walter Ernst Schäfer, Henning Thies, Heinrich Bosse und Erich Kleinschmidt besonders genannt. Gerne erinnere ich mich der Unterstützung durch die verschiedenen Bibliotheken, in denen ich gearbeitet habe. Vor allem die Mitarbeiter der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel haben es verstanden, die Arbeitsaufenthalte nicht nur nützlich, sondern auch angenehm zu machen. In den Dank einschließen möchte ich Klaus Garber (Osnabrück) und die Herausgeber der Reihe, in der diese Arbeit erscheinen darf. Ohne den Druckkostenzuschuß seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft wäre an eine Publikation nicht zu denken gewesen. Auch dafür möchte ich danken. Freiburg i. Brg., im Mai 1981

X

Wilhelm Kühlmann

EINLEITUNG

I. Forschungsstand und Problemhorizont Vielleicht mehr als andere Teilgebiete der Literaturgeschichte hat die Barockforschung wesentliche Impulse von der fortlaufenden Auseinandersetzung um Begriff und Begrenzung ihres Gegenstandes empfangen. D i e Übertragung des ursprünglich stiltypologisch konzipierten Barock-Terminus auf generalisierende Epochensynthesen im Zusammenhang historischer Periodisierung ließ dabei mannigfache Probleme und A p o n e n hervortreten. Die diesbezügliche Diskussion ist gut dokumentiert und braucht hier im vornherein nicht referiert zu werden. 1 Hervorzuheben ist ein grundsätzliches Dilemma. Es liegt in der Tatsache, daß im Gegensatz zu historisch benachbarten Bezeichnungen wie Renaissance, Humanismus, Reformation und Aufklärung Berechtigung und Bedeutung des Barockbe1

Einen umfassenden Überblick bietet der von W. Barner hgg. Sammelband: Der literarische Barockbegriff (1975); dazu heranzuziehen Barners Aufsatz: Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel »Barock«, in: DvjS45 (1971), 302ff. Für den gesamteuropäischen Zusammenhang vgl. R. Wellek: Der Barockbegriff in der Literaturwissenschaft, in: ders., Grundbegriffe der Literaturkritik, 2. Aufl., Stuttgart usw. 1971, 57ff. (urspr. engl. 1963); ferner W. Barner, Barockrhetorik, Erster Teil, 3ff.; Conrady, Lat. Dichtungstradition, 9ff.; H.-J. Lange, Aemulatio, 13ff.; sowie M. Brauneck (1971); einen Querschnitt durch die ältere Barockforschung bietet der von R. Alewyn hgg. Sammelband (1965); unter komparatistischem Aspekt vgl. E. Lunding, in: Teilnahme und Spiegelung. Fests. f. Horst Rüdiger. Berlin - N. Y. 1975, 193ff. sowie G. Müller-Schwefe: The European Approach to Baroque, in: Phil. Qu. 45 (1966), 419ff. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Aufriß mit ideologiekritischem Akzent liegt vor von H.-H. Müller: Barockforschung: Ideologie und Methode. Ein Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte 1870-1930. Darmstadt 1973. - Die Grundprobleme einer literarisch-historischen Periodisierung zusammengefaßt bzw. diskutiert bei H. P. H. Teesing: Das Problem der Perioden in der Literaturgeschichte. Groningen 1949, sowie ders.: Artikel »Periodisierung«, in: Reallexikon d. dt. Litgte, Berlin, 2. Aufl. 1966, Bd. 3, 74ff.; I. Strohschneider-Kohrs: Literarische Struktur und geschichtlicher Wandel. Aufriß wissenschaftsgeschichtlicher und methodologischer Probleme. München 1971; J. Hermand: Über Nutzen und Nachteil literarischer Epochenbegriffe, in: Monatshefte 58 (1966), 289ff. sowie ders. in: Synthetisches Interpretieren. München 1968, passim, bes. 45ff. (zum Problem geistesgeschichtl. Epochenbegriffe) und 66f. (zu »Barock«): festzuhalten ist Hermands Hinweis auf die Notwendigkeit, den prozeßhaften Charakter von Literatur und Geschichte herauszuarbeiten, dies nicht nur im Blick auf das »Progressive«, sondern auch dialektisch in der Untersuchung behaupteter Traditionen; ferner zu vgl. noch I. Hermand: Der Streit um die Epochenbegriffe, in: Jb. f. Intern. Germanistik, Reihe A, Bd. 2 (1976), 112ff. sowie E. Ribbat: >Epoche< als Arbeitsbegriff der Literaturwissenschaft, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft, hgg. v. W. Müller-Seidel. Münster 1971, 171ff.

1

griffs nicht aus der Semantik der geschichtlichen Selbstverständigung der Epoche abgeleitet werden konnten, auf die er sich bezieht. 2 Während die anderen Kategorien geschichtlich vorwärts weisende, d . h . durch »Abscheidung des Vergangenen« definierte soziale und geistige Bewegungen klassifizierend zusammenfassen, war die Bestimmung des »Barock« angewiesen auf lediglich im nachhinein zu vereinbarende wissenschaftliche Festlegungen. D i e Notwendigkeit, so zu verfahren, darf als Indiz für das Fehlen einer einheitlichen historischen Selbstbestimmung der kulturell und gesellschaftlich führenden Kräfte des 17. Jahrhunderts gelten, zugleich für ein Selbstverständnis, das sich gerade in Deutschland in der Kontinuität christlicher und humanistischer Traditionen entfaltete. 3 Das auf Stabilität gerichtete Systemdenken des barocken Zeitalters basierte wesentlich auf einer transhistorischen Sicht des Geschichtsprozesses, in dem die Reflexion einer immanenten, linearen Dynamik der Geschichte im Rückgriff auf Modelle der christlichen Geschichtsmetaphysik aufgehoben war. 4 In seinem grundlegenden Forschungsbericht, der für die Jahre 1945-1970 die Ergebnisse der Barockforschung zusammenfaßt, hat Manfred Brauneck Konsequenzen, Aufgaben und Anforderungen formuliert, die sich aus der Zurückweisung einer »einheitlichen Barockformel« ergeben: So erweist sich die Diskussion um das Barockproblem, wo sie sich von der historischen Forschung löst, im Grunde als wissenschaftlicher Anachronismus. ( . . . ) An die Stelle der Frage nach einem gemeinsamen Lebensgefühl tritt die Frage nach der gemeinsamen Tradition und den Formen ihrer Rezeptionen. Aus dieser Verschiebung der Fragestellung sollte eine Revision unseres Bildes vom 17. Jahrhundert zu erwarten sein. Es werden daher auch jene Arbeiten besondere Beachtung finden müssen, die das 17. Jahrhundert aus seinen epochalen oder nationalliterarischen Bestimmungen lösen und in den Zusammenhang weiträumiger Entwicklungen stellen. Diese Versuche qualifizieren sich im 2

Das Wort »Barock« wird heute mehrheitlich etymologisch abgeleitet aus dem mnemotechnischen Symbol einer abwegigen syllogistischen Figur (»baroco«), während man früher die portugiesische Bezeichnung für eine unregelmäßig geformte Perle zugrundelegte: Referat der diesbezüglichen Arbeiten bei Brauneck (1971), 391ff. 3 Der Aspekt fehlender Selbstbestimmung betont bei W. Bahner (Hg.): Renaissance. Barock. Aufklärung. Epochen und Periodisierungsfragen. Berlin 1976, 31 u. bes. 129; bereits Teesing (1949, s.o. Anm. 1), 118f. weist mit Recht darauf hin, daß der Ablauf der mittelalterlichen Literaturgeschichte im Hinblick auf die Ablösung kultureller Führungsschichten betrachtet wird (Geistliche, Bürger, Bauern), während dies spätestens seit Beginn des 17. Jahrhunderts aufgegeben worden sei. Huizinga notiert die resultierenden Verlegenheiten, indem er den Terminus »Barock« für ein »testimonium paupertatis des Geistes« erklärt (Holländische Kultur, S. 15). Zu Selbstverständnis, Selbstreflexion und Selbstartikulation ist zu vgl. das Buch v. Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg/München 1974, ferner W. Bahner (s.o.), S. 149ff. Zu Humanismus und Renaissance verweise ich auf Darstellung und Nachweise des folgenden Kapitels. 4 Dazu zusammenfassend die Arbeit von W. Vosskamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein. Bonn 1967 ( = Lit. u. Wirklichkeit, Bd. 1). Die vorliegende Arbeit ergänzt Vosskamps Ausführungen, indem sie ein anders gelagertes und historisch vorgängiges Schrifttum behandelt: dadurch rückt die Frage nach Konstanz und Wandel des zyklischen Geschichtsdenkens der Renaissance in den Mittelpunkt. 2

methodischen Ansatz durch die Frage, ob sie das blockhafte Epochendenken lediglich in einer neuen Phasenbildung wiederholen, oder ob sie in der historischen Folge die Schichtung und das Nebeneinander divergenter Traditionsfelder und ihrer Wirkungsgeschichte sichtbar zu machen vermögen.5 A m meisten zu der hier angesprochenen »Revision« des Epochenbildes hat die seit gut einem Jahrzehnt energisch vorangetriebene Aufarbeitung der rhetorischen Tradition beigetragen. Durch diese Arbeiten 6 wurden die theoretische Grundlage und epochale Eigenart der Barockliteratur abgeklärt. Diese gründet, wie mittlerweile allgemein anerkannt, in einem für Produktion wie Rezeption gleichermaßen verbindlichen System situativen, wirkungsbezogenen und intersubjektiv-repräsentativen Sprechens, dessen Normen in einer gesellschaftlich bestimmten Funktion von Literatur vorgegeben sind. Antike, humanistische und patristische Überlieferungen bilden ein »Argumentationssystem«, in dessen Akzentuierung und Applikation sowohl Poesie wie ungebundene Rede des Zeitalters begründet und bis ins einzelne geregelt wurden. Die Formulierung von Standpunkten innerhalb solcher vorgegebener Argumentationssysteme war überhaupt die einzige Möglichkeit einer Problemdiskussion, weil Intentionen und Meinungen subjektiver Art wenn überhaupt, dann nur in objektiven Verweisungszusammenhängen vermittelbar erschienen. 7 W. Barners Barockrhetorik (1970) stellt nicht nur gewissermaßen eine Summe der vorgängigen Rhetorikforschung dar, sondern beschreibt im weiten Überblick die vielfältigen Konsequenzen des barocken Rhetorizismus für die literarische Produktion des Zeitalters. Darüber hinaus wird hier der Blick auf die »geschichtlichen Grundlagen« des rhetorischen Systems gelenkt. Barner legt dar, wie überaus eng rhetorisch gelenktes Sprechen mit den sozio-historischen Gegebenheiten des 5

M. Brauneck (1971), S. 434. Forschungsberichte bei Dyck, Ticht-Kunst, 16ff.; Schings, Die patristische und stoische Tradition, Iff.; Barner, Barockrhetorik, 27-33, 46-58; M. Brauneck (1971), 452-460; K. Dockhorn: Rhetorik und germanistische Literaturwissenschaft in Deutschland, in: Jb. f. Intern. Germ. 3 (1971), 168ff.; die epochenübergreifenden Tendenzen der Rhetorikforschung ersichtlich bei H. F. Plett (Hg.): Rhetorik. Krit. Positionen zum Stand der Forschung . München 1977 (= Kritische Information 50), dort bes. der einleitende Beitrag des Herausgebers; ferner H. Schanze (Hg.): Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert. Frankfurt 1974. 7 Ich beziehe mich auf die von Dyck vorgelegte Bestimmung (Ticht-Kunst, 2. Aufl., 1969, S. 114): »Den Zusammenhang aller derjenigen Argumente nun, die gemeinsam den Problemgehalt einer behandelten Sache umgreifen, nennen wir Argumentationssystem. Argumentationssysteme sind sach- und problemgebunden. Als geprägte Antwort auf in Frage stehende Probleme sind sie Teil des Bildungssystems, das als Verstehenshorizont allen Denkenden gemeinsam war. (...) Ein A. hat in der Zahl der Argumente eine gewisse Konstanz. Das bedeutet jedoch nicht, daß ein Autor für ein bestimmtes Problem alle verfügbaren Argumente anführen müßte. Seine eigene Auffassung schlägt sich in der spezifischen Auswahl nieder, durch die er zu erkennen gibt, welche Aspekte er für die wesentlichen hält und in welchem Licht ihm das Problem erscheint. (...) Wir gewinnen durch eine Zusammenstellung der verwendeten Argumente bei Kenntnis des gesamten Systems die Möglichkeit, Akzentverlagerungen festzustellen und die Auffassungen verschiedener Autoren genau zu analysieren.« 6

3

Jahrhunderts zusammenhängt. Es erweist sich einerseits als Teil einer weltmännisch-höfischen, vor allem aber grundsätzlich »politischen« Erziehung, die, wie endgültig bei Christian Weise zu beobachten ist, zum Qualifikationsbild einer sich neu formierenden Elite gehört. Sie wird im wesentlichen gebildet von der Verwaltungsaristokratie des frühmodernen Staates und gruppiert sich zunehmend um den Hof als dem auch kulturell tonangebenden Zentrum absolutistisch-ordnungsstaatlicher »Sozialdisziplinierung« (G. Oestreich). Andererseits ist die Rhetorik vielfältig in der Bildungspraxis der Zeit verankert: im rhetorischen Unterricht der Universitäten, im Lehrprogramm der katholischen und protestantischen Gelehrtenschulen, aber auch - teilweise in Konkurrenz dazu und mit veränderten Akzenten - in der Adelserziehung. Grundsätzlich wird sowohl die programmatische wie auch die institutionelle Kontinuität des humanistischen Schulwesens deutlich, das - darauf hat schon Paulsen hingewiesen - bis ins 18. Jahrhundert mit nur unwesentlichen Veränderungen das allgemeinverbindliche Fundament der literarischen Kommunikationsgemeinschaft darstellt. 8 Barocke Literatur setzt insofern weiterhin die in der Gelehrtenerziehung vermittelten Praktiken, Kenntnisse und Normen voraus, dies jedoch im Zeichen einer Überformung als Reflex der veränderten gesellschaftlichen Gesamtsituation. Durch Barners Untersuchung hat das Interesse an Schule und Universität als sozusagen dritter Kulturinstanz des 17. Jahrhunderts (neben Hof und Kirche) unverkennbaren Auftrieb erhalten. Die Vorträge und Vorlagen des 1974 in Wolfenbüttel abgehaltenen Barockkolloquiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft haben einen Katalog von Fragen und Perspektiven vorgelegt, die sich hieraus ergeben, zugleich bereits weiterführende Ansätze umrissen. 9 Besonders C. Wiedemann gebührt das Verdienst, über Barner hinaus auf die »Geschichtlich-

4

8

Vgl. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 1, u.a. 302f., 312, 326: »Im ganzen und großen bleibt das protestantische Schulwesen zwei Jahrhunderte lang unveränderlich in diesem Rahmen (Paulsen zieht einen Querschnitt um 1580, - W. K.) bestehen.« Zum Schulwesen der Reformation existieren eine Fülle von Arbeiten: besonders lehrreich finde ich immer noch das Buch von G. Mertz: Das Schulwesen der deutschen Reformation im 16. Jahrundert. Heidelberg 1902; zur Universitätsgeschichte gibt einen Überblick über die Forschung L. Petry: Die Reformation als Epoche der deutschen Universitätsgeschichte, in: Glaube und Geschichte. Festgabe Joseph Lortz, Bd. 2. Baden-Baden 1958, 317-353; ferner W. Zorn: Hochschule und höhere Schule in der Sozialgeschichte der Neuzeit. Festgabe f. M. Braubach. Münster 1964, 321ff. Zur akademischen Grundlage der barocken Literatur und zum Bestand eines durch Schule und zumindest philosoph. Fakultät geprägten gemeinsamen Bildungshorizontes vgl. Hirsch, Bürgertum und Barock, bes. 22; Wiedemann, Klajs Redeoratorien, 113; Vosskamp, Landadel und Bürgertum, S. 109 (mit Lit.); Barner, Barockrhetorik, bes. 220ff.; Kontinuität und Umbildung der rhetorischen Literaturerziehung im 18. Jahrhundert hat neuerdings H. Bosse im einzelnen dargestellt: Dichter kann man nicht bilden. Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770, in: Jb. f. Intern. Germanistik 10 (1978), 80-125.

9

A. Schöne (Hg.), Barocksymposion 1974, München 1976: dort bes. die jeweils einleitenden Vorträge von W. Barner (l75ff.) und H.-H. Krummacher (313ff.). Ich selbst habe bei diesem Kolloquium einen Beitrag vorgelegt (383ff.), der Fragestellungen dieser Arbeit an einem literarischen Text (Happels »Academischer Roman«) entfaltet.

keit« der Barockrhetorik, d.h. ihren System- und Funktionszusammenhang im Hinblick auf die grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Jahrhunderts und der ihnen korrespondierenden Ideologiebildung aufmerksam gemacht zu haben. 10 Während in der älteren Forschung der höfische und geistliche Charakter der Barockkultur in den Vordergrund gestellt wurde, 11 zeigt sich in den letzten Jahren immer mehr, daß wir im Hintergrund mit komplexen sozialgeschichtlichen Vorgängen zu rechnen haben. Dazu gehört wesentlich der Einbezug der humanistisch-lateinischen »Gelehrtenrepublik« des späten 16. Jahrhunderts in den Wirkungs- und Ausstrahlungsbereich höfischer und staatlicher Rationalität. »Die Verbindung von Humanismus und höfischer Ideologie bildet, dem Vorgang in Frankreich entsprechend, das Grundreagenz des deutschen Literaturbarock. « 12 Der wachsenden Bedeutung eines bürgerlich-gelehrten Beamtenstandes, dessen Selbstverständnis sich aus seinen politischen Funktionen und aus der Übernahme aristokratischer Rollenmuster 13 konstituiert, entspricht auf der anderen Seite eine erkennbare Auflösungstendenz der sich korporativ und eigenständig verstehenden »res publica litteraria«. Die Umformung der »altständischen« Gesellschaft durch das Prinzip der »Nähe zum Hof« 1 4 betrifft im Kern auch die 10

Bes. Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität (1973) sowie: Barockdichtung in Deutschland (1972). Die von Barner und Wiedemann entwickelten Fragen untersucht im Hinblick auf einzelne Problemkomplexe Sinemus ( 1978, dazu meine Rezension). 11 G. Müller, Höfische Kultur der Barockzeit (1929); die geistliche Tradition nach den Arbeiten z.B. P. Böckmanns neuerdings exemplarisch thematisiert in den Untersuchungen W. Mausers (1976) und H.-H. Krummachers (1976, dazu meine Rezension). 12 C. Wiedemann, in: Vorspiel der Anthologie (1969), S. 6; Windfuhr, Barocke Bildlichkeit, gebraucht den Begriff »nebenbarocker Humanismus« (S. 351, vgl. a. 361); für die Literatur der Romania haben besonders die Untersuchungen von A. Buck (gesammelt 1968) und G. Hess (1939) die Kontinuität humanistischer Traditionen thematisiert. 13 Zum Begriff der sozialen Rolle setze ich die von H. Popitz getroffenen Bestimmungen voraus (1967), dort u. a. S. 21: »Als soziale Rolle bezeichnen wir Bündel von Verhaltensnormen, die eine bestimmte Kategorie von Gesellschafts-, bzw. Gruppenmitgliedern im Unterschied zu anderen Kategorien zu erfüllen hat.« 14 Begriff und Wirklichkeit der »altständischen Gesellschaft« sind besonders durch die Forschungen O. Brunners (zusammengefaßt 1968), G. Oestreichs (1969), C. Hinrichs (1964) sowie K. v. Raumers (1957) bestimmt und präzisiert worden. Dazu lehrreich vor allem St. Skalweits Problemumriß (1961) sowie der Sammelband zur »Entstehung des modernen souveränen Staates«, hgg. ν. H. H. Hofmann (1966, vgl. bes. die Einleitung des Herausgebers). Einen Überblick vermittelt W. Hubatsch (Hg.): Absolutismus. 1973. Festzuhalten ist, daß die Bildung des modernen Staates als ein längerer, in mehreren Phasen ablaufender Prozeß anzusehen ist, dessen Endstufe, der geschlossene Militär-, Verwaltungs- und Wirtschaftsstaat, gerade in Deutschland teils überhaupt nicht (in den kleinen Territorien), teils zu divergentem Zeitpunkt und in verschiedener Ausprägung erreicht worden ist: dazu bes. G. Oestreich, Ständetum und Staatsbildung, in: Geist und Gestalt, 277ff., spez. 279 sowie (zum deutschen Kleinstaat des 17. Jahrhunderts) H. Kraemer (1974). - Zur höfischen Zentralisierung und Überformung der Gesellschaft vgl. bes. die Arbeiten von N. Elias (1969) - dort auch über die Unterschiede der deutschen im Vergleich zur französischen Entwicklung - , J. v. Kruedener (1973) sowie Karin Plodeck (1972). 5

Schulen und Universitäten als Zentren der »Gelehrtenkultur«, wie sie E. Trunz in einem ideal typischen Querschnitt beschrieben hat. 15 Die Koexistenz von Schule und Hof impliziert Reibungen und Konflikte, Übergänge und Interferenzen, die sich aus der »Akkomodation« des bürgerlich-städtischen, kirchlich geordneten und literarisch-ästhetisch akzentuierten Schulhumanismus der Reformationszeit an den aristokratisch-höfischen Etatismus des 17. Jahrhunderts ergeben. 16 In der Konfrontation mit einer latenten oder offenkundigen Rearistokratisierung des Staatsapparates wird nicht nur der vor allem im Hinblick auf das Erwerbsbürgertum ausgebildete Geltungsanspruch der »nobilitas litteraria« auf die Probe gestellt, sondern werden gelehrte Bildung und literarisch-philologische Erziehung einerseits am Norm- und Ordnungsanspruch des Staates gemessen, andererseits nach dem »Nutzen« befragt, den sie für die Orientierung und Behauptung des Einzelnen in der Praxis des gesellschaftlichen Lebens bieten. Die Polarisierung von Verbalismus und Realismus (res - verba), aber auch die von Lipsius angesprochene Überführung der Philologie in Philosophie weisen auf Veränderungen, die bereits im geistigen Raum des Späthumanismus zu Überprüfung und Revision überkommener Positionen Anlaß geben. Gegenüber einer in der älteren Forschung mehrfach geäußerten Meinung, der Humanismus des späten 16. Jahrhunderts erschöpfe sich in einem zünftig abgeschlossenen Zirkel gelehrter Erudition, in einem philologisch-antiquarischen Editionsbetrieb und in einem ritualisierten, weltfremd-lateinischen und von den entscheidenden Momenten der geschichtlichen Entwicklung getrennten literarischen Glasperlenspiel 17 haben besonders die Forschungen G. Oestreichs nachgewiesen, wie in der »niederländischen Bewegung«, d.h. im politischen, moralistischen und militärischen Schrifttum vor allem der niederländischen Humanisten

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Trunz (1931), abgedruckt bei R. Alewyn (Hg., 1968), 147£f.; dazu ergänzend und exemplarisch E. Trunz: Hudemann und Ruarus. Zwei Dichter der Opitz-Zeit, in: Zs. d. Ges. f. d. Geschichte v. Schleswig-Holstein LXIII (1935), 162ff. Zur Entstehung eines humanistischen »Kasten«-bewußtseins im Frühhumanismus vgl. Toffanin (1941), 95ff. Zum Unterschied des um die Idee des »orator doctus« zentrierten Begriffs der humanistischen Gelehrtenrepublik im Vergleich zur aufklärerischen Semantik des Terminus als Gemeinschaft der vernünftig Denkenden vgl. die Definition von P. Bayle, zit. bei P. Hazard (1939), 138; in seinem Kapitel über die »sozialen Bedingungen« der barocken Literatur hat bereits P. Hankamer (3. Aufl. 1964) die gesellschaftlichen, geistigen und literarischen Grundzüge des »Späthumanismus« als Fundament barocker Literatur beschrieben (S. 39ff.).

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Dazu vgl. die gründliche soziologische Analyse von Alberto Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der lit. Intelligenz (1976), bes. 124ff.; zur »radikalen Entbürgerlichung der humanistisch-bürgerlichen Kultur« S. 131: »Diese Kultur, die von dieser modern gebildeten Beamtenelite adeliger bzw. patrizisch-bürgerlicher Herkunft hervorgebracht wurde, ist also nicht eine Standeskultur, wie es die ritterlich-höfische des Mittelalters oder die des Späthumanismus gewesen waren, sondern es handelt sich um eine Hofkultur, deren Schöpfer letztlich der Fürst ist und deren wahre Funktion in der Verherrlichung höfisch-aristokratischer Werte und der Rechtfertigung, Glorifizierung und Repräsentation der Macht und ihres sakralen und absoluten Charakters besteht.«

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So etwa der Tenor bei Hankamer: s.o. Anm. 15.

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entscheidende Anstöße für die Bewußtseinsbildung, aber auch für die Lebenswirklichkeit des barocken Zeitalters vorgeprägt sind. 18 Der Einfluß dieses »politisch« ausgerichteten Humanismus auch auf die deutsche Barockliteratur ist vor allem im Hinblick auf den zeitgenössischen Neostoizismus nachgewiesen. 19 So gut wie ungeklärt ist die Frage, ob und in welcher Weise sich im Schrifttum des deutschen Späthumanismus, d.h. in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ein ähnlicher Transformationsprozeß beobachten läßt. Dazu hat gewiß die Hürde der neulateinischen Sprache beigetragen. Dabei steht die massive Dominanz der neulateinischen Literatur bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus außer Frage. 20 Eine Beschränkung auf die muttersprachliche Produktion hat demgemäß zur Folge, daß weite Bereiche vor allem des diskursiven Schrifttums ausgeklammert bleiben, daß aber auch die übernationalen Zusammenhänge und der historische Ablauf geistiger Auseinandersetzungen einseitig und gegebenenfalls verzerrt dargestellt werden. K. O. Conrady, H. G. Roloff, L. Forster - um nur diese Namen zu nennen - haben auf die Bedeutung der neulateinischen Literatur hingewiesen und klargelegt, wie auch dieser Bereich als ein zwar eigenständiger, aber integrierter Sektor der nationalen Gesamtkultur gelten muß. 21 D a die neulateinische Literatur in einer ungebrochenen Kontinuität zur humanistischen Tradition steht 22 , ist sie Schlüssel und neuralgischer Punkt für die Aufhellung des Verhältnisses von »Renaissance« und »Barock« schlechthin.

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G. Oestreich, Geist und Gestalt, vor allem (grundsätzlich) S. llff., einschränkend zu der auf die deutschen Verhältnisse bezogenen Analyse von Trunz bes. S. 39. 19 Dazu besonders die Arbeiten von H.-J. Schings (u.a. 1966). 20 Zum Verhältnis der deutschen und lateinischen Produktion im 17. Jahrhundert s. Martino (1976, mit der älteren buchgeschichtlichen Literatur); signifikant die Tatsache: »Erst 1770 wird in Deutschland die Buchproduktion in lateinischer Sprache auf 14,25% des Gesamtvolumens absinken und erreicht damit, ungefähr mit einem Jahrhundert Verspätung, die französischen Werte von 1670-79« (S. 108/09). Bis um 1680 werden in Deutschland immer noch mehr als 50% der Bücher lateinisch veröffentlicht: dieser Anteil erhöht sich bedeutend, wenn man die geistlich-katechetische Literatur ausklammert. 21 Vgl. K. O. Conrady: Lat. Dichtungstradition, sowie ders.: Die Erforschung der neulateinischen Literatur. Probleme und Aufgaben (1955); daneben H.-G. Roloff (1971) sowie M. Wehrli (1963 u. 1976); der europäische Zusammenhang bei J. Jsewijn: Diffusion et importance historique de la littérature néo-latine, in: arcadia4 (1969), 66ff.; u.a. zur Symbiose von Latein und Volkssprache auch L. Forster: Deutsche und europäische Barockliteratur, in: Wolfenbütteler Beiträge 2 (1973), 64ff.; ders.: Der Geist der dt. Lit. im 17. Jahrhundert (1977); ferner ders.: Dichten in fremden Sprachen (1970), bes. 45ff. (zu Ren. und Barock); durch diese und andere Arbeiten ist nicht nur der Vorwurf der »Überfremdung« der deutschen Literatur überholt, sondern auch das Konzept einer Ablösung der lateinischen Tradition zugunsten einer synchron orientierten Zusammenschau deutschsprachiger und lateinischer Literaturproduktion korrigiert. Der Gedanke einer Überwindung der lat. Traditionen lag noch der Arbeit von F. W. Wentzlaff-Eggebert (1936) und der Literaturgeschichte Newalds zugrunde: dazu die Richtigstellungen und Verweise bei Barner (1970), bes. 251ff. 22 Auch dies wurde in der älteren Forschung im Hinblick auf organologische Vorstellungen von Wachstum und Verfall der Literatursprache bestritten: vgl. etwa Newald, Probleme und Gestalten, S. 45; eine Trennung zwischen Humanismus und Neulatein auch bei 7

Sozialgeschichtlich gesehen entspricht den bisher umrissenen Tendenzen die Ausbildung einer aus Hof, Adel, Patriziat und Beamtenaristokratie zusammengesetzten »Bildungsgesellschaft«.23 Dies hat zur Voraussetzung, daß sich aus der lateinischen »res publica litteraria« eindeutig eine Schicht bürgerlicher Gelehrter, vor allem Juristen, ausgliedert, für die zwar Schul- und Universitätsausbildung unabdingbar bleibt, deren Selbstverständnis aber nicht mehr nur von den scholastisch vermittelten Idealen der »litterata pietas« des reformatorischen Humanismus geprägt ist, sondern sich an Leitbildern ausrichtet, die im Raum ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Position Geltung besitzen. Höfisch-weltmännische und politisch-praktische Erziehung werden für die aufsteigende und an den Chancen des Fürstenstaates partizipierende Klasse des Bürgertums zum notwendigen Komplement humanistischer Gelehrsamkeit. Ja die Konzentration auf den alleinigen Erwerb einer humanistisch-enzyklopädischen »solida doctrina« und der lateinischen Perfektion erweist sich demgegenüber offenkundig zumindest in Einzelaspekten als Hindernis. Nicht nur die formalisierten Praktiken der scholastischen Erziehung, auch die Totalität des hier inkorporierten Anspruchs, zugleich die auf den Schulbereich zurückgedrängten Exponenten eines sich weiterhin wichtig nehmenden Akademismus werden in Frage gestellt bzw. kritisiert. Das Schlagwort des »Pedantismus« und die Figur des Pedanten sind dafür wegweisend. Nach dem Muster von »challenge and response« wirken gleichzeitig die Ansprüche praktischer Weitläufigkeit seit Beginn des Jahrhunderts unübersehbar auch in den scholastischen Raum hinein und führen zu Diskussionen, in denen sich an den literarischen Äußerungsformen von Selbstbehauptung, Reformbegehren, Apologie und Anpassung der Wandel der gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen ablesen läßt.

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Ellinger (1933): dazu Conrady (1955), S. 417. Richtig schon O. Kluge (1935), S. 19, Anm. 3: »Die Trennung zwischen Humanismus und Neulateinertum ist literaturgeschichtlich von zweifelhaftem Wert, sprachgeschichtlich eine Unmöglichkeit.« W. Flemmings diesbezügliche Bemerkungen (Kulturgeschichte des Barockzeitalters, S. 70) versuchen am Verhältnis zur Antike zu differenzieren (diese bedeute keine »Lebensmacht« mehr) und die »praktische« Benützung der antiken Überlieferung von einer »enthusiastischen« Hinwendung zu trennen. Zu einer endgültigen Beurteilung fehlt es an einer umfassenden Bestandsaufnahme; die Arbeit von Ellinger, deren letzter Band nicht erschienen ist, hat nur in Teilsektoren Fortsetzung gefunden. Zum Begriff der Bildung vgl. bes. Gadamer, 7ff.; der humanistische Ansatz der »eruditio« ist in den modernen, individualistischen Bildungsbegriff eingegangen, hat jedoch die historische Komponente professioneller, zünftiger Gelehrsamkeit abgestreift; wichtig für den Ansatz dieser Arbeit die Bemerkung Gadamers S. 15: »Es wäre lohnend, dem einmal gesondert nachzugehen, wie sich seit den Tagen des Humanismus die Kritik an der Wissenschaft der >Schule< Gehör verschafft und wie sich diese Kritik mit den Wandlungen ihres Gegners mitverwandelt.« In den von mir untersuchten Zusammenhängen wird der Begriff »Bildung«, wenn überhaupt, in der Regel in einem Sinne benutzt, der die spätere Entwicklung einer humanitären bzw. neuhumanistischen Bildungsreligion ausschließt. Dazu umfassend R. Fiedler: Die klassische deutsche Bildungsidee. Ihre soziologischen Wurzeln und pädagogischen Folgen. Weinheim 1972, sowie die immer noch lesenswerte Arbeit von Hans Weil: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. Bonn 1930. Zur »Bildungsgesellschaft« des 17. Jahrhunderts vgl. Martino (1976), bes. 123ff.

D i e s e sind hauptsächlich b e s t i m m t durch d e n universalen Ordnungsanspruch d e s frühneuzeitlichen »Policey«-Staates. 2 4 D a s i h m z u g r u n d e l i e g e n d e theoretische Schrifttum begreift n e b e n R e l i g i o n u n d Schule jedenfalls intentional auch die Literatur im K o n t e x t einer »Kulturpolitik«, 2 5 die sich d e n Z w e c k e n d e s »regim e n t s « , der Moralität u n d Stabilität der gesellschaftlichen O r d n u n g und der A b b i l d u n g u n d L e g i t i m a t i o n e i n e s » o r d o jubendi et parendi« dienstbar erweist. 2 6 Nicht nur die E i n z e l h e i t e n d e s binnenliterarischen N o r m e n r e p e r t o i r e s , 2 7 s o n d e r n s o gut w i e alle A r g u m e n t a t i o n s s y s t e m e , in d e n e n die Z w e c k e v o n G e l e h r s a m k e i t und B i l d u n g thematisiert w e r d e n , kreisen zu B e g i n n d e s 17. Jahrhunderts u m die sich hieraus e r g e b e n d e n P r o b l e m e und Folgerungen. Mit d i e s e m A u f r i ß v o n E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n , die das Bild d e s barocken Zeitalters b e s t i m m e n , sind z u m Teil Ergebnisse dieser A r b e i t v o r w e g g e n o m m e n . Jedenfalls zeigt sich, w i e gerade durch die Resultate und die Blickrichtung der R h e t o r i k f o r s c h u n g die Z u s a m m e n h ä n g e v o n Literatur-, Schul- und Bildungsgeschichte s o w i e deren E i n b e t t u n g in übergreifende politisch-soziale Prozesse teils bereits erkennbar g e w o r d e n sind, teils sich als H o r i z o n t weiter zu v e r f o l g e n d e r P r o b l e m e herausgestellt haben.

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Z u Begriff und Wirklichkeit des »Policeystaates« vgl. bes. G. Oestreich (1976) sowie die Arbeiten von Hans Maier (1966). Der Begriff wird verstanden als Zusammenfassung aller Tendenzen und Bemühungen, den Kultur- und Wissenschafts-Betrieb im Interesse staatlicher Wohlfahrt zu beeinflussen. Der Terminus selbst tritt erst im 19. Jahrhundert auf: vgl. E . Spranger: Art. »Kulturpolitik«, in: Herre/Jagow. Politisches Handwörterbuch, Bd. I 1923, Sp. 1087ff.; Dieter Sattler: Art. »Kulturpolitik«, in: Staatslexikon, hgg. v. H. Sacher, Bd. 5, 6. Aufl. 1960, Sp. 185ff. In der älteren Form der »Kulturpolizei« erscheint die Tradition einer obrigkeitlichen Regulierung deutlicher: vgl. Medicus: Artikel »Kulturpolizei«, in: Bluntschli/Brater. Deutsches Staats-Wörterbuch, Bd. 6, 1861, S. 149ff. Dazu jetzt besonders Günter Abel (1978), S. 99ff.; zur Sache ergiebig die Ausführungen und Belege bei Mauser (1976), S. 277ff. Zu beachten ist, daß die sich aus der Interpretation regimentaler »Souveränität« ergebenden Konflikte nicht nur im Verhältnis des Fürsten zu den Ständen ausbrechen, sondern analog in den Städten Auseinandersetzungen zwischen Rat und Bürgerschaft hervorrufen: auch hier geht es um die Definition obrigkeitlicher Gewalt, also um das absolutistische Prinzip. O. Brunner hat darauf verwiesen, daß sich in Deutschland seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in den deutschen Städten der Rat zunehmend als einheitliche »summa potestas« versteht und die ehemals »gemischte Verfassung« ausgehöhlt wird. Auch in den Städten wehrt sich die korporativ geordnete Bürgerschaft gegen die Übertragung des Prinzips von Herrschaft und Gehorsam, gegen die Degradation des »civis« zum bloßen Untertan (»subditus«); vgl. O. Brunner: Souveränitätsproblem und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der früheren Neuzeit, in: VJs f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 50 (1963), 329-60, bes. 344f., 357f. (exemplarische Auseinandersetzungen 1612 in Frankfurt), Abdruck auch 1968, 294ff. Dazu vor allem Sinemus (1978), bes. 53ff. zur Decorum-Lehre. 9

II. Ziele, Struktur und Ergebnisse dieser Arbeit Ich möchte in der vorliegenden Untersuchung die anfangs angeschnittene Frage nach dem Epochencharakter des 17. Jahrhunderts aufgreifen. Dabei ist nicht daran gedacht, nach Möglichkeiten einer periodisierenden kategorialen Synthese form- oder geistesgeschichtlicher Provenienz zu suchen. Der eigene Ansatz wie die Struktur der Arbeit sind vielmehr von der These bestimmt, daß zu Beginn des Jahrhunderts bewußtseinsprägende Veränderungen der kulturellen Situation in der Literatur thematisiert und in aufschlußreicher Weise verarbeitet werden. Die Analyse von Argumentationskomplexen, in denen sich das Transitorische des Geschichtsprozesses in zeit- und kulturkritischen Äußerungen, zum Teil in der Synopse des »Alten« und des »Neuen« niederschlägt, scheint geeignet, in der Optik der Zeitgenossen jenen vielschichtigen und schwer zu benennenden Wandlungsvorgang herauszustellen, in dem sich die literarischen und geistigen Konstellationen des 17. Jahrhunderts formieren. Es versteht sich, daß dieses umfassende Problem nur in einer Engführung der Fragestellung methodisch zu bewältigen ist und daß in dieser Begrenzung notwendigerweise wichtige Aspekte und Dimensionen - in diesem Fall vor allem der geistlich-theologische Bereich - weitgehend ausgeklammert werden müssen. Wegweisend für die Auswahl der Texte und die Schwerpunkte der Arbeit war die grundsätzliche Frage nach dem Schicksal des Späthumanismus in der Spannung von Kontinuität und Diskontinuität der Gesamtentwicklung vom 16. zum frühen 18. Jahrhundert. Der Terminus »Späthumanismus« wird verwendet als Inbegriff einer sozioliterarischen Formation, wie sie für die deutschen Verhältnisse im scholastischen Gelehrtenhumanismus des 16. Jahrhunderts ausgebildet worden ist. Unter einem wissenschaftsgeschichtlichen Blickwinkel bedingt dies die Konzentration auf die »studia humanitatis«, vor allem also Grammatik, Rhetorik, Ethik und Geschichtswissenschaft, dazu die deren Praxis programmatisch begründende und begleitende akademische Literatur. Wissenschaftssoziologisch und sozialgeschichtlich sind die Humanisten gemeint, d.h. konkret die Vertreter und Lehrer dieser »Studien« sowie mittelbar die lateinische Gelehrtenrepublik überhaupt, deren Identität sich aus der Beherrschung und Pflege der »litterae« ableitete. 28 In diesem Begriff sind Literatur und Dichtung im heutigen Sinne noch 28

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Es kann in dieser Einleitung nicht darum gehen, Spezialliteratur nachzuweisen oder in die Einzelauseinandersetzung mit der Forschung einzutreten. Da dies jeweils am gegebenen Ort der Darstellung erfolgen soll, gebe ich hier nur die allgemeinsten Hinweise auf die Grundzüge des »Humanismus«-Problems, zumal gerade dieser Terminus absolut offen und nur operativ zu bestimmen ist, - es sei denn, man verirre sich, wie schon Toffanin formulierte, »in die Wüste der Bibliographie«. Bekanntlich ist der Begriff ideologisch wie auch im epochalen Sinne erst im 19. Jahrhundert geprägt (durch F. J. Niethammer bzw. G. Voigt). Einen Überblick über die aktuelle und historische Bandbreite der Verwendung gibt der von H. Oppermann hgg. Sammelband (1970); lesenswert auch H. Friedrich: Abendländischer Humanismus, in: Gymnasium 74 (1976), Iff.; zur Antike vgl. H. Haffter: Römische Humanitas, in: Neue Schweizer Rundschau. N. F. (1954/5), 719ff. sowie ders.: Neuere Arbeiten zum Problem der Humanitas, in: Philologus 100 (1956),

nicht vom Gesamtkomplex einer philologisch-antiquarischen, auf die Antike bezogenen Buchgelehrsamkeit zu trennen. 29 Es geht also nicht primär um die umfassende geistige Bewegung des Renaissance-Humanismus oder um die Geschichte der daraus erwachsenden emanzipativen Strömungen der Neuzeit. Nach dem Sieg der Reformation und Gegenreformation gab es jedenfalls in Deutschland für eine autonome Bildungsreligion des Erasmischen Typus, geschweige denn für säkulare oder pagane Tendenzen keine Chance mehr, sich als öffentlich anerkanntes und eigenständiges Kulturideal zu behaupten. 30 Im Mittelpunkt des ersten Teils dieser Arbeit steht eine thematisch begrenzte Untersuchung der akademischen Deklamationsliteratur des frühen 17. Jahrhunderts. Gerade diese Textgruppe gehört zu den unbekanntesten, obwohl gewiß weiträumigsten Bezirken der Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts. In sie einzu-

287ff.; ferner F. Klingner: Humanität und Humanitas, in: Rom. Geisteswelt. 3. Aufl. 1956, 620ff. ; kritische Diskussion der Probleme von Wolfgang Schmid: Rezension von Franz Beckmann, Humanitas, in: Gnomon 28 (1956), 589ff.; dieser Beitrag sowie der oben erwähnte von Haffter (1954) sind abgedruckt in: Hans Oppermann (Hg.), Römische Wertbegriffe. Darmstadt 1967 (= WdF Bd. XXXIV), 483ff. bzw. 468ff. Generell gilt, daß beide Spielarten der späteren historischen Entfaltung bereits in der Antike vorgeprägt sind: einerseits der moralisch-pädagogische, auf gesellschaftlichen Umgang bezogene, andererseits die Verengung im Sinne der »doctrina« und der »artes liberales« sowie eines literarischen Enzyklopädismus. Die Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts lassen in der Spannung von höfisch- eleganter und scholastisch-polyhistorischer Bildung die polaren Spektren des Bedeutungsfeldes wieder hervortreten. - Zum Begriff der »Studia humanitatis« grundlegend: P. O. Kristeller: Humanism and Scholasticism, in: ders.: Ren. Thought and Letters (1956), 553ff.; Garin, Erziehung, Bd. I, 32ff.; A. Buck: Der Wissenschaftsbegriff (1973) sowie ders.: Die »studia humanitatis« (1959); ferner Erich König: »Studia humanitatis« und verwandte Ausdrücke bei den deutschen Frühhumanisten, in: Beiträge zur Geschichte der Ref. und Ren. (= Fests. f. Joseph Schlecht). München-Freising 1917, 202ff. ; die Jesuitische »Ratio studiorum« v. 1591 faßt diese Studien als »grammatica, histórica, poetica et rhetorica«: als solche bedingen sie die Kontinuität human. Tradition von ca. 1350-1750, wie mittlerweile allgemein anerkannt ist. Im einzelnen sei hier noch verwiesen auf die Monographien von H. Rüdiger (1937), W. Rüegg (1946) sowie die Aufsätze von K. Borinski (1968), H. Entner (1962), A. Campana (1946) sowie A. Renaudet (1945). Weitere Angaben wenn nötig jeweils im Zusammenhang der folgenden Kapitel. 29 Kurze Zusammenfassung des Bedeutungsfeldes und der Bedeutungsgeschichte bei R. Escarpit: Definition des Wortes »littérature«, abgedruckt bei H. Rüdiger (Hg.), 1973, 47ff. 30 Zur Geschichte der humanistischen Bewegung im »konfessionellen Zeitalter« s. besonders das gleichnamige Buch von F. Heer; dazu ergänzend A. Flitner: Erasmus im Urteil seiner Nachwelt. Tübingen 1952. Die Forschung hat das »Ende« des Humanismus bzw. der Renaissance an verschiedenen Daten festgemacht: für die deutschen Verhältnisse sei in Erinnerung gerufen: 1523ff. Streit zwischen Erasmus und Luther um die menschl. Willensfreiheit; allgemeine Verdüsterung im Blick auf Sacco di Roma 1527 (auch das Todesjahr von Macchiavelli und Castiglione); Tod des Erasmus 1536, Tod Melanchthons 1560; seit 1542 röm. Inquisition, bald darauf Konzil von Trient; 1580 Concordienformel (orthodoxe Versteifung des luther. Protestantismus); 1618/19 Synode von Dordrecht (calvinistische Orthodoxie): im Blick auf geistesgeschichtliche Dominanz hat sicherlich Joachimsen recht (Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes, S. 476): »Um 1550 ist die humanistische Bewegung zu Ende.« 11

dringen bedeutet zwangsläufig, den Leser mit entlegenen und wenig bekannten, von der Forschung kaum berücksichtigten Namen und Schriften zu konfrontieren. Der Gewinn liegt nicht nur in einer Verbreiterung der Textbasis, sondern in der Begegnung mit Rhetorik als Praxis der gesprochenen Rede. Trotz der Entwicklung der Rhetorikforschung mangelt es an Analysen von Redetexten, sieht man von den Untersuchungen zur deutschsprachigen Kausalberedsamkeit ab.31 Neben der geistlichen Rede und Predigt stellen aber die akademischen Deklamationen an Schule und Universität bis weit über die Mitte des Jahrhunderts nicht nur Fundament und Vorbild, sondern auch den Hauptanteil der publizierten Redeliteratur dar. Zusammen mit dem Dissertations- und Traktatschrifttum bilden sie ein Textkorpus, in dem lange vor der schüchternen Entfaltung einer entsprechenden deutschsprachigen Literatur Methoden und Argumente geistiger Auseinandersetzungen transparent werden. Für die Ideologie- und Theoriebildung der Zeit finden wir hier ein unerschlossenes und nicht zu verachtendes Quellenmaterial, welches unmittelbar Bildungspraxis und Bildungshorizont des barocken Literaten beeinflußt. Es kommt hinzu, daß man dieses Schrifttum als zentrale Äußerungsform des bürgerlichen Gelehrtentums sowie als repräsentatives Medium des Schulhumanismus und einer sich korporativ-altständisch organisierenden Kommunikationsgemeinschaft ansehen muß. Die akademischen Reden bilden ein Textkontinuum, das von den Tagen des frühen Humanismus bis ins 18. Jahrhundert reicht. Programm, Selbstdarstellung, Selbstverständigung und sozio-kultureller Anspruch des »corpus scholasticum« sind aus ihm in Konstanz und Wandel abzulesen. Somit bietet sich hier eine Chance, durch kontextbezogene Interpretation Zusammenhänge der Literatur-, Bildungs- und Sozialgeschichte exemplarisch sichtbar zu machen. Insofern in dieser Arbeit am Primat der Interpretation festgehalten wird, scheint mir auch die Gefahr eines outrierten Soziologismus vermieden und ein methodischer Zugriff gewählt, der sich in jüngst erschienenen Arbeiten zur Barockdichtung als erfolgreich erwiesen hat.32 Angesichts der Masse des Materials und der zugespitzten Fragestellung war exemplarisches Vorgehen geboten. Gewissermaßen als Interpretationsrahmen des ersten Teils dient eine bedeutende, 1622 gehaltene Rektoratsrede des Straßburger Professors Matthias Bernegger. Dieser gehörte zu den führenden Köpfen des niederländisch beeinflußten Späthumanismus und der politisch-historischen Philologie. In seiner Person und in seinen Werken manifestieren sich Traditionen des oberrheinischen Humanismus zusammen mit Reaktionen auf aktuelle Tendenzen der geistigen und politischen Entwicklung (zu Bernegger Kap. Β 13). Wie eine überraschende Fülle ähnlichen Schrifttums problematisiert Berneggers Rede die 31

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Dazu zählen z.B. die Untersuchungen von Sibylle Rusterholz (1974) und Maria Fürstenwald (1967) zur Leichabdankung und Totenrede. W. Mauser (1976) zur Lyrik sowie H. Steinhagen (1977) zum Trauerspiel des Andreas Gryphius. Steinhagen beschäftigt sich in seiner Einleitung ausführlich mit Chancen und Problematik einer Interpretation barocker Literatur; Wiedemann (1973, S. 22) hat die »auffällige Abstinenz« der Rhetorikforschung »in inteipretatorischer Hinsicht« bemängelt. Die vorliegende Untersuchung möchte diese Lücke schließen helfen.

historische Überständigkeit, also sozusagen die »Spätzeitlichkeit« des »Spät«Humanismus in der Frage nach dem »Greisenalter der Studien«. Insofern er in Kategorien des zyklischen Geschichtsdenkens der Renaissance argumentiert, sieht er das Schicksal der »litterae« thesenhaft unter dem Zeichen des Verfalls, ja eines Rückfalls in die »Barbarei«. Die hier auftauchenden Denkmuster sind in Argumentationskomplexen verankert, die sich aus dem Selbstverständnis und der Krise 33 des gesamteuropäischen Humanismus herleiten lassen. Kap. Β 11.2 sollen dazu dienen, die Tradition dieses Denkens expositorisch zu umreißen. Berneggers Ausführungen zeigen im Verein mit anderen Zeugen zeitgenössischer Literatur, wie auch in Deutschland an der Schwelle des 17. Jahrhunderts nicht nur die Situation der »litterae« in Bildern der Verunsicherung artikuliert wird (Kap. Β II 2), sondern wie die Diagnose dieser Situation einbezogen ist in eine zeitkritische Perspektive, welche Erfahrungen des Ordnungsverlustes einerseits historisch zu vermitteln sucht, andererseits ex negativo Ordnungspostulate mit wesentlich politischer Zielsetzung impliziert und voraussetzt. Die Verwendung der Körpermetaphorik erweist sich in dieser Hinsicht als aufschlußreich (Kap. Β II 1). Die Kategorie des Verfalls darf als ein moralistisch-kulturkritisches Muster der Bewältigung einer Welterfahrung gelten, welche sich mit der »Veränderlichkeit«, d.h. substantiellen Instabilität gesellschaftlich-politischer Zustände und Abläufe konfrontiert sieht. Diese »Veränderlichkeit« basiert auf dem Erlebnis einer zunächst undurchschaubaren, jedenfalls als übermächtig und bedrohlich bewerteten Phänomenalität der Geschichte. Die pragmatischen »Akkomodations«Zwänge der »neuen« Zeit werden im mythischen Topos des »genius saeculi« apostrophiert. Aus der zyklischen Geschichtsanschauung der Renaissance entwikkelt sich ein naturhaft gedachtes Gesetz geschichtlicher Dynamik, in dem die Instabilität des Weltgeschehens, in dem sich die Bedrohung des einzelnen Subjektes modellhaft abbildet, trostspendend verarbeitet wird. Die Kreislaufhypothese der stoizistischen fatum-Theorie dient gerade in ihrer Unerbittlichkeit dazu, den Dekadenzgedanken und das Bewußtsein der Veränderlichkeit geschichtsmetaphysisch aufzuheben. Hier liegt die Nahtstelle zu der in der christlichen Denktradition bereitliegenden vanitas-Topik, die bekanntlich in der Barockliteratur so häufig bemüht wird. Nicht zu übersehen ist dabei, wie auf der anderen Seite dem Dekadenzgedanken explizit widersprochen wird. Es zeigen sich Konturen eines frühbarocken »Modernismus«. Dieser hängt einerseits mit der »quereile des anciens et des modernes« der europäischen Spätrenaissance zusammen, begründet andererseits das barocke Modell des »theatrum mundi«, die exemplarische 33

Daß der Begriff »Krise« inflatorisch geworden ist, läßt sich beobachten. Ich fasse ihn operativ als Kampf um Selbstbehauptung und Selbsterhaltung einer historisch (noch) gültigen Überlieferung und ihrer Träger unter erkennbar sich verändernden und Problembewußtsein schaffenden historischen Bedingungen. Den Zusammenhang von »Krise« und »Kritik« hat R . Kosellek (1973) dazu benutzt, die Entwicklung der geschichtlichen Reflexion im Zusammenhang der bürgerlichen Emanzipation darzustellen (vgl. bes. S. 105ff.). Sein Ansatz impliziert Fragestellungen, die in den folgenden Kapiteln wegweisend sind.

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Geschichtsauffassung des 17. Jahrhunderts und eine charakteristische Interdependenz von Fortschrittsbewußtsein und Skepsis (Kap. Β III/IV). D i e Denkfigur einer Opposition von A l t und Neu strahlt bis in die Detailbezirke der Stildiskussion aus. Es ist nachzuweisen, wie vor allem in der lateinischen Literatur, d.h. im Einzugsbereich humanistischer Überlieferung Theorien eines »neuen Stils« diskutiert und legitimiert werden, die unter dem Einfluß vor allem des Lipsius und im Zuge der Rezeption der römisch-kaiserzeitlichen Autoren (Seneca, Tacitus) klassizistische Nachahmungspostulate mißachten. Die Bewegung des Anticiceronianismus ist Movens und Paradigma stiltypologischer Auflokkerungen, in denen - vorläufig im Gegensatz zur Normgebundenheit der muttersprachlichen Literatur - die Möglichkeiten eines pragmatisch-praxisorientierten und personalen Stils, damit auch die Überwindung gültiger Bewertungsschemata angebahnt werden. Auch in diesem Teilsektor ist der Prozeß dialektisch und erscheint Vertretern des Schulhumanismus als »Stilverfall«. Objektiv gesehen ist diese Stildiskussion Begleitumstand der politischen Bewegung und sozialgeschichtlich einzuordnender Distinktionsbedürfnisse, die mit der oben umrissenen Dissoziation der Gelehrtenrepublik zusammenhängen (Kap. Β V ) . Berneggers als Kontroverse organisierte Rede entwickelt im Schlußteil Argumente, die einen Zugang zu weiteren epochal bedeutsamen Denkmustern erlauben. Allein die rhetorische Strategie, wie der kultur- und zeitkritische Impuls der Dekadenzklage überwunden wird, ist bemerkenswert, nicht zuletzt deshalb, weil hier auf das so zeittypische Melancholiesyndrom abgehoben ist. Späthumanistische Kulturkritik erscheint als Symptom einer »Melancholie der Besten«: sie wird damit zugleich anerkannt und zurückgenommen. Die Rede mündet in einen moralischen Appell zur Besinnung auf Wert und Würde von Tugend und Wissenschaft. In exemplarischer Weise ist in dieser Begriffskoppelung ein ideologisches Muster bürgerlicher Selbstbehauptung und Resistenz formuliert (Kap. Β V I ) . Gilt der erste Teil der Arbeit dem Gesamtkomplex einer die epochale Lage thematisierenden akademischen Literatur, insbesondere dem Problem, ob und wie Konflikte und Krisenerscheinungen, aber auch weiterweisende Reaktionen und Lösungsanstrengungen deutlich werden, soll im zweiten Teil die Herausforderung des Humanismus als Kritik nachgewiesen und dargestellt werden. Erst die Analyse dieser Kritik offenbart wesentliche Denkanstöße der späthumanistischen Selbstverständigung und läßt die Gesamtentwicklung des hier interessierenden kulturellen Sektors als dialektisch-dynamischen Prozeß heraustreten. Dieser Prozeß ist literarisch faßbar in der Auseinandersetzung um die Geltung gesellschaftlicher Leitbilder und Qualifikationsmodelle. Gefragt werden soll nach der Entwicklung der Gelehrtenkritik, insbesondere soweit sie sich auf die humanistische Gelehrtenerziehung erstreckt. Es ist kein Zufall, daß zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Deutschland auf breiter Front das Schlagwort des »Pedantismus« als Bezeichnung einer formalisierten und scholastisch-isolierten Bildungspraxis aufgegriffen wird. Dieses Schlagwort wird zum Leitmotiv einschlägigen Schrifttums: der Satire, der Komödie und der kulturpolitisch-pädagogischen Traktatliteratur. Die A r t und der Ort seiner Verwendung deuten genauestens auf Akzente und Phasen,

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Begründungen und Bedingungszusammenhänge der von verschiedenen Seiten vorangetriebenen Bewegung hin, die den Schulhumanismus melanchthonischer Prägung überformt und schließlich überwindet. Die Entfaltung der Pedantismuskritik zeigt überdies, wie die Entwicklung in Deutschland phasenverschoben mit gesamteuropäischen Vorgängen, vornehmlich der Romania zusammenhängt. Deshalb müssen vorab die Grundzüge einer pragmatischen Bedeutungsgeschichte des »Pedantismus« im außerdeutschen Raum nachgewiesen werden (Kap. C I). Die Darstellung beschränkt sich nicht auf eine historische Semasiologie des Begriffs und seiner Derivate. Analysiert wird vielmehr immer zugleich der literarisch-pragmatische Kontext, in dem er erscheint. Erst dadurch wird ersichtlich, welchen argumentativen Stellenwert und welchen intentionalen Bezug er besitzt. Es zeigt sich u. a., daß die Kritik des Pedantismus vor allem zum Themenbereich der politisch-systematischen und politisch-pädagogischen Literatur gehört (Kap. C II). Deklassierung und Funktionalisierung der humanistischen Propädeutik sind die Kehrseite einer Wendung von der literarisch-ästhetischen zur moralischpolitischen Erziehung. Offenkundig entwickelt sich ein auf gesellschaftliche Bewährung gerichtetes Praxisdenken, das antischolastische Affekte einschließt. Die Untersuchung zeitgenössischer Traktate und Programmschriften lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf kohärente Argumentationskomplexe, in denen die Synthese höfisch-aristokratischer und gelehrt-bürgerlicher, geburtsständischer und meritokratischer Identitätsmuster und Verhaltensprofile sichtbar wird, jene Synthese, von der sowohl die Führungsschicht des frühneuzeitlichen Verwaltungsstaates als auch die Mentalität der literarischen Kommunikationsgemeinschaft des barocken Zeitalters geprägt sind (dazu bes. Kap. II 2, a und b). Die spezifische Einlagerung der Pedantismuskritik in verschiedene Formen vor allem satirischer Texttraditionen wird im folgenden Kapitel behandelt (C III). Als Beispiel dienen die deutschsprachige Schwank-, Charakter- und Epigrammliteratur, die »Gesprächspiele« Harsdörffers sowie Zeugnisse Schupps und Moscheroschs. Daß im »Horribilicribrifax« des Andreas Gryphius der Pedant endgültig auch in das Personal der deutschen Komödie aufgenommen wird, erweist sich als Konsequenz eines literarisch vorbereiteten Unbehagens. Eine ausgreifende Interpretation dieses Dramas (Kap. C III 5) verfolgt den Zweck, die Komik des Pedantesken als Komplement einer ästhetischen Vermittlung sozialer Normen zu begreifen. Diese implizieren sowohl geltende Maßstäbe sozialer Hierarchisierung wie auch vom Dichter formulierte und idealisierte Normpostulate, in denen moralische, soziale und politische Ordnungsvorstellungen zur Deckung gebracht werden. In der Epoche des Thomasius (dazu Kap. C I V ) wird die literarische Gelehrtenkritik nicht nur zum Treibsatz frühaufklärerischen Denkens, sie hat auch wesentlichen Anteil an der aufkommenden Geschmacksdiskussion, mehr noch: der Begriff des Pedantismus wird semantisch ausgeweitet und zum kritischen Raster einer epochal-bewußten Systemkritik, die getragen ist vom Ethos gesellschaftlicher Vernunft. Es zeigt sich, daß im Schrifttum der »galanten« Theoretiker weiterhin der antischolastische Habitus einer auf Homogenität bedachten und auf 15

die Ideale des »honnête homme« verpflichteten Elite besprochen wird, daß auf der anderen Seite in der bereits bei Thomasius zu beobachtenden Polarisierung von »Pedantismus« und »Galantismus« Strukturen bürgerlichen Denkens in Erscheinung treten, das sowohl die weltmännisch-elegante wie auch die scholastisch-gelehrte Komponente der Barockkultur als in sich zusammenhängend begreift. Dogmatismus, Systemglaube und der Formalismus repräsentativen Verhaltens - die rhetorische Erziehung ist Basis der dazu gehörenden Sozialisation müssen sich vor der Instanz einer als Natur gedachten Vernunft verantworten, die zum Regulativ und Parameter praktischer Moralität und bürgerlich interpretierter Gesellschaftsideale wird. Es ist höchst aufschlußreich für die Kontinuität einer epochenübergreifenden Diskussion, wie das Pedantismussyndrom sich in den Moralischen Wochenschriften, im Drama und im Prosaschrifttum des 18. Jahrhunderts als dringliches Thema der Aufklärungsliteratur erweist. Der Typus des Pedanten bleibt Zerrbild scholastischer Isolation und Deformation, wird nun aber zum Antiideal eines die Ansprüche bürgerlicher Individualität ins Recht setzenden Engagements. Die Logik dieser Entwicklung und die diachrone Perspektive dieser Untersuchung legen es nahe, Formen, Inhalte und Kontext der Gelehrtenkritik in der Literatur des 18. Jahrhunderts weiterzuverfolgen. Dies war ursprünglich auch meine Absicht; die Ausweitung der Problemstellung machte es sinnvoll und notwendig, den Schwerpunkt der Arbeit zu verschieben. Der abschließende Ausblick (D) soll - etwa an Lessings Komödie »Der junge Gelehrte« - wenigstens einige Fluchtlinien und Aspekte der Kontinuität nachweisen, in denen die Topik der im 17. Jahrhundert begonnenen Diskussion des scholastischen Humanismus bedeutsam bleibt. Erfahrungen unserer Tage haben uns hellhörig gemacht für die Zusammenhänge von Literatur, Schule und Gesellschaft. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit diesen Zusammenhängen zwar für eine historisch entlegene Epoche, sie verschließt sich aber nicht der Erkenntnis struktueller Analogien im Hinblick auf Dynamik und Äußerungsformen geschichtlicher Ablösungsprozesse. In solchen Analogien läge sogar das Motiv eines über die literaturhistorischen Ergebnisse hinausreichenden Interesses.

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ERSTER TEIL:

DAS NEUE SAECULUM

I. Die Frage nach dem geschichtlichen Ort der Gegenwart in der europäischen Spätrenaissance 1) Denkmuster der Krise: Entwicklung und Zusammenhang des vorbarocken Geschichtspessimismus a) Kultur und Barbarei Es hat sich gezeigt, daß gegenüber allen Versuchen, den epochalen Charakter der italienischen Renaissance abzuschwächen und gegenüber mittelalterlichen Traditionen zu relativieren, ein Faktum unleugbar blieb - in der Formulierung Joachimsens: »Wenn irgendetwas die Menschen der Renaissance verbindet, so ist es der Gedanke, einer neuen Zeit anzugehören.« 1 Hier liegt auch die entscheidende Differenz zu allen mittelalterlichen »Renaissancen« (karolingisch, ottonisch, französisch). Ein solches Bewußtsein äußerte sich in einem Komplex von historischen Metaphern. Sie gehören zu den »absoluten« Metaphern, deren pragmatischen Wahrheitsanspruch Hans Blumenberg beschreibt: »Ihr Gehalt bestimmt als Anhalt von Orientierungen ein Verhalten, sie geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität. Dem historisch verstehenden Blick indizieren sie also die fundamentalen, tragenden Gewißheiten, Vermutungen, Wertungen, aus denen sich Haltungen, Erwartungen, Tätigkeiten und Untätigkeiten, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Interessen und Gleichgültigkeiten einer Epoche regulierten.« 2 Wir können verschiedene Bildbereiche divergenter Herkunft unterscheiden: das Wort »Renaissance« selbst hängt mit der Vorstellung von Tod und Wiedergeburt zusammen, nimmt aber offen1

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P. Joachimsen, Geschichtsauffassung, S. 179f.; vgl. A. Buck, Geschichtsdenken der Ren., S. 8f.; H. Weisinger, Die Erneuerung der Bildung in den Selbstzeugnissen der Ren., bietet eine Fülle von Belegen mit weiteren Verweisen; s. ferner: F. J. Worstbrock, Über das geschichtl. Selbstverständnis des deutschen Humanismus; F. Simone: La Conscienza della Rinascita negli Umanisti, in: La Rinascita II (1939), 838-71; III (1940), 163-85. Η. Β.: Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 6 (1960), S.20. Zum Verhältnis von Praxis und Geschichtsbewußtsein vgl. das gleichnamige Buch von H. J. Sandkühler, bes. S. 364ff; zur Geschichtsmetaphorik neuerdings vgl. Demandt (1978). 17

sichtlich ein analoges biologisches Denkmodell in sich auf (»Wiederwuchs«).3 Es kommen hinzu der Rückgriff auf kosmologisch-astrologische Symbolkreise und die antike Metallmetaphorik (Wiederkehr des Goldenen Zeitalters).4 Die Lichtmetaphorik, die Wasser- und Flußmetaphorik (»ad fontes«) sind damit verbunden, dazu auch andere historisch interpretierte Mythologeme wie der PhoenixMythos. Wichtig ist, daß durch die zyklische Geschichtstheorie der Renaissance die Frage nach dem eigenen Standort im Ablauf von Aufstieg und Verfall, von Jugend- und Greisenalter virulent wurde, zugleich aber jedes Fortschrittsbewußtsein und jeder Fortschrittswille sich mit der Vorstellung einer vielleicht zu erreichenden, gewiß aber nicht zu übertreffenden kulturellen und zivilisatorischen Höhe der Antike auseinandersetzen mußten. Auf dem Boden des zyklischen Geschichtsdenkens konnte sich eine Dialektik zwischen Fortschrittsoptimismus und Verfallsbewußtsein entfalten, in dem sich die diversen Selbsteinschätzungen und Perspektiven sowohl der Einzelnen als auch der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Interessen unmittelbar im Modell der Geschichte selbst zu artikulieren vermochten. Für die Humanisten, Petrarca und seine Nachfolger und Anhänger, hing die Bewertung ihrer eigenen Epoche von der Erneuerung der antiken Bildung, zunächst vor allem der Poesie, bald aber grundsätzlich der »studia et litterae« überhaupt ab. Damit wurde ein bis in moderne stilgeschichtliche Periodisierungs3

Zusammenfassend A. Buck: Zu Begriff und Problem der Ren., dort auch Referat der zwischen Jost Trier und J. v. Stackelberg geführten Diskussion um die Wortbedeutung von »renasci«; ferner B. L. Ullman, Ren. - das Wort und der ihm zugrunde liegende Begriff, sowie G. B. Ladner, Pflanzensymbolik und Ren. Begriff. 4 Locus classicus ist der berühmte Brief M. Ficinos an Paul von Middelburg, in dem die Ren. sich selbst historisch wird (Opere, Basel 1576, I, S. 944): »Hoc enim seculum tamquam aureum liberales disciplinas ferme iam extinctas reduxit in lucem, grammaticam, poesiam, oratoriam, picturam, sculpturam, architecturam, musicam«: dazu P. O. Kristeller: Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino. Florenz 1953, S. 13 sowie ders.: Studies in Ren. Thought and Letters. Rom 1956, S. 213ff. Petrarca verband die Rückkehr der Goldenen Zeit mit der Tat Rienzis: Ep. fam. XVIII, 1. Die Lit. ζ. Thema ist umfangreich: vgl. zur Ren. speziell Ladner, Pflanzensymbolik, S. 379; F. Schalk: Das Goldene Zeitalter als Epoche, in: Archiv f. d. Studium der neueren Sprachen 199 (1962), abgedruckt in ders.: Exempla roman. Wortgeschichte. Frankfurt 1966, 150-66; H. Levin: The Myth of the Golden Age in the Ren., Bloomington, London 1969; zum Topos generell mit dem antiken Material: W. Veit: Studien zur Geschichte des Topos der goldenen Zeit. Diss. Köln 1961; B. Gatz: Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen. Hildesheim 1967 (= Spudasmata 16); M. Beller, in: arcadia 5 (1970), 23ff.; Henry Kamen weist auf die Rezeption des Mythos im Selbstverständnis des spanischen siglo de oro, in der französischen wie auch englisch elisabethanischen Topik des Herrscherlobs hin (etwa George Peele's »Descensus Astraeae, 1591): Golden age, iron age: a conflict of concepts in the Ren., in: Journal of Med. and Ren. Studies 4 (1974), 135ff. ; vgl. dazu Trevor Davies: The Golden century of Spain, 1501-1621. 1937; Elizabeth Armstrong; Ronsard and the Age of Gold. Cambridge 1968; H.-J. Mühl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Heidelberg 1965, bes. S. 95ff. (zur polit. Panegyrik) und S. 115ff. (zur Ren.-Bukolik). 18

Schemata nachwirkender Zusammenhang zwischen sprachlichen, stilistischen, ästhetischen Prozessen einerseits und der gesamtgesellschaftlichen bzw. politischen Entwicklung andererseits hergestellt. Nicht nur die »Spracharbeit« der deutschen Kulturpatrioten des 17. Jahrhunderts stützt sich weiterhin auf dieses Denkmodell, die Analogie von literarischer und politischer »Blüte« ist auch noch für die barocke Literaturpologetik Begründung eines Geltungsanspruchs, der freilich zugleich - bei eindeutigen Machtkonstellationen - auch eine politische Indienstnahme von Sprache und Literatur implizierte. 5 Dieses zivilisatorische Sendungsbewußtsein der Humanisten war in der Entfaltung der Renaissance nicht nur eine Chimäre, sondern artikulierte die »Einheit der Renaissance« als Erneuerung von Moral, Religion, Zivilisation wie auch Recht und Politik durch die Rezeption der in den antiken Schriften gefundenen Einheit von Wort und Sache, mithin auf dem Boden der wissenschaftlichen Methodik einer kritisch-grammatischen, exegetischen Textlektüre. 6 Eine solche humanistisch-literarische Zentrierung der Renaissance blieb so lange unwiderlegbar, wie auch die sachliche Geltung der antiken Texte unbestritten bleiben konnte. Sie wurde mitsamt ihren methodischen Implikationen erschüttert, als einzelne Bereiche gesellschaftlicher Tätigkeit ihre eigene Logik des Fortschreitens und ihre eigene Rationalität entwickelten. Neue Erfahrungen wie die Entdekkungsreisen und neue, in der Naturwissenschaft und Naturspekulation gewonnene Methoden und Wahrheitsbegriffe mußten die sachliche Authentizität der antiken Autoren widerlegen, Fragen und Neuerungen berechtigt erscheinen lassen, denen gegenüber sich sowohl der literarisch-klassizistischen Humanismus als auch ein mittelalterliches Autoritätsdenken in einer gemeinsamen Front mit verschiedenen Akzenten vereinigen konnten. In der Opposition der »novatores« integrierten sich ganz verschiedene Zielrichtungen: die verschiedenen Formen des Antiaristotelismus (Bruno, Campanella, Ramus), die aufkommende Naturwissenschaft und empirische Erfahrungswissenschaft (da Vinci, Galilei, Bacon), auch die spekulative, teils hermetisch-neuplatonische, teils pansophische Naturphilosophie, deren Wahrheiten aus dem »Buch der Natur« und nicht mehr aus der Exegese verbürgt waren (man denke z. B . an Paracelsus). Selbst wenn sich die »Neuerer« noch auf antike Autoren berufen konnten, wie z. B . Kopernikus, lag nicht mehr in diesem 5

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Vgl. die Formulierung bei G. Ph. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächsspiele, II. Teil, Neudruck Tübingen 1968 (urspr. 1657), S. 5: »So urkunden die Geschichte / daß aller Völcker Macht und Pracht / mit derselben Sprachen und Wolredenheit erhaben / un(d) auch zugleich wiederum zu Grund gesuncken. . . . « ; zur Akzentuierung des Gedankens bei M. Opitz vgl. Sinemus (1978), 18ff. Zur Einheit der Ren. vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Joan Gadol; die Einheit von Wort und Sache wird programmatisch von L. Bruni in seiner vielgelesenen Schrift »De studiis et litteris« gefordert: »Nam et litterae sine rerum scientia steriles sunt et inanes, et scientia rerum quamvis ingens, si splendore careat litterarum, abdita quaedam obscuraque videtur.«: L. Bruni, Hum.-Phil. Schriften, ed. H. Baron. Wiesbaden 1928, S. 19, vgl. auch ibid. Barons Vorwort. Zu der aus der Textlektüre entwickelten Methode s . A . Buck: Der Wissenschaftsbegriff des Ren.-Humanismus (1973) sowie ders.: Die »studia humanitatis« (1959).

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Verweis die eigentliche Plausibilität der Erkenntnisse, sondern in der Übereinstimmung von Theorie und Phänomen. 7 Dies hat dazu beigetragen, daß sich nicht nur ein Bewußtsein des Fortschritts über die Antike hinaus und im Wettbewerb (aemulatio) mit ihr bilden konnte, sondern letztendlich ein Bewußtsein der Kompetenz, das sich gar nicht mehr in den Formen humanistischer Rückwärtsbezogenheit zu beweisen und zu begründen brauchte. Am Ende dieser Entwicklung steht die französische »Querelle«, die nicht zu denken ist ohne die Cartesische Begründung der autonomen Reflexion. Auf diesem Hintergrund ist jene humanistische Ideologie zu sehen, derzufolge wie die kulturelle Blüte so auch der kulturelle Verfall am Stand der sprachlichliterarischen Bildung gemessen wurden. Erst durch die Pflege der »litterae«, ermöglicht durch die individuelle Befähigung zur Rezeption und Reproduktion der antiken Eloquenz, werden die im Leben und in der Gesellschaft notwendigen Tugenden und Wissensbestände (humanitas, civilitas, doctrina usw.) vermittelt. Erst durch sie erhebt sich der Mensch über das Tier, wird Natur zur Kultur (»cultura animi«). Angesichts des immer wieder drohenden Rückfalls sowohl des einzelnen als auch der Gesellschaft hinter diese Bildungsstufe wurde aus der Antike der Terminus der »Barbarei« zur vor allem polemisch verwendeten Bezeichnung historisch gegenläufiger Realität übernommen. 8 Die Beherrschung des eleganten Lateins ist in den immer wieder reproduzierten Gedankengängen der humanistischen Bildungspropaganda nicht nur Medium und Ausdruck individueller Erziehung zum »orator doctus«, sondern ermöglicht überhaupt erst menschliche Sozialisation und politische Ordnung auf der Grundlage kommunikativer Praxis und moralischer Reflexion. 9 In dieser umfassenden Hochschätzung der Sprache im Hinblick auf die Begründung von Kultur, Recht, Staat, Moral und Zivilisation gründet die Opposition gegen das »barbarische« Mittelalter sowie 7

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Vgl. J. Mittelstrass: Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips. Berlin 1962. Bekannt ist Erasmus' Satz aus der »Querela pacis«: »Bonae litterae reddunt homines«: zu diesem Bildungsbegriff vgl. Pfeiffer, Humanitas Erasmiana, sowie ders.: Die Wandlungen der » Antibarbari«; ferner nenne ich aus der Fülle der Literatur noch Schottenloher, Er. und die hum. Bildungsreform; zu Petrarcas polit. Barbarenbegriff, der bei den Italienern nachwirkt, vgl. Mommsen, Der Begriff des »Finsteren Zeitalters«, S. 169ff.; die auf dem hum. Bildungsideal des »cultus animi« (»cultura animi« erst bei Bacon) aufbauende »Kultur«-Vorstellung referiert Niedermann, Kultur, S. 88ff. - »Barbarismus« bezeichnet grammatisch einen Verstoß gegen die sprachliche Reinheit in der Wortwahl durch Übernahme fremder, vor allem nicht römischer Termini und Dialektismen: sowohl in Griechenland als auch in Rom war die sprachliche Kategorie einbezogen bereits in die Abgrenzung der nationalen und kulturellen Identität: vgl. J. Jüthner: Hellenen und Barbaren ( . . . ) , in: Unser Geschichtsbild ( . . . ) , München 1954, 25ff.; den antiken und mittelalterlichen Wortgebrauch referiert Borst, Turmbau, s. Index. Zugrunde liegen Ciceros Konzeption einer Begründung von Gemeinschaft, Staat und Kultur durch die Rede, ausgeführt u. a. in de inv. und de oratore, verteidigt gegen den Anspruch der Philosophen und Machtpolitiker: vgl. K. Barwick, Das rednerische Bildungsideal Ciceros, bes. S. 20ff. sowie neuerdings D. Harth, Philologie und praktische Philosophie, S. 9ff.

g e g e n d i e S a c h w i s s e n s c h a f t e n , e t w a M e d i z i n und Jurisprudenz, s o w e i t sie sich d e m k u l t u r e l l e n M o n o p o l a n s p r u c h d e s H u m a n i s m u s zu e n t z i e h e n suchten. 1 0 In der Front gegen die » B a r b a r e i «

des » P ö b e l s « , m i t d e m nicht nur

eine

U n t e r s c h i c h t d e r » U n g e b i l d e t e n « , s o n d e r n auch - s o w e i t sie sich d e m humanistischen

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versperrten

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Adel

und

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w a r e n , k o n s t i t u i e r t sich nicht nur e i n I d e n t i t ä t s m u s t e r , s o n d e r n auch ein p o l i t i sches W u n s c h d e n k e n : b e i E r a s m u s läßt sich b e o b a c h t e n , w i e d i e M i ß a c h t u n g v o n » K u n s t und Wissenschaft«, der »honestae disciplinae«, identifiziert wird mit einer » t y r a n n i s « , w e l c h e p o l i t i s c h e M a c h t statt auf d i e h a r m o n i s c h e M i t w i r k u n g aller l e d i g l i c h auf d i e W i l l k ü r u n d militärische G e w a l t e i n e s e i n z e l n e n stützt. 1 1 » B a r b a r e i « ist d e m n a c h e i n Z u s t a n d , in d e m d i e P a r t i z i p a t i o n d e r G e b i l d e t e n , v o r a l l e m also d e s B ü r g e r t u m s in d e r P o l i t i k

beschnitten w i r d und d i e I n t e r e s s e n

H e r r s c h a f t s a u s ü b u n g nicht m e h r durch » e r u d i t i o l e g e s et a e q u i t a s « , d . h . moralische Verantwortung

reguliert werden.12 D i e

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enthält u m g e k e h r t d i e Sehnsucht nach e i n e m politisch-gesellschaftlichen

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g l e i c h , e i n e r f r i e d e n s t i f t e n d e n » c o n c o r s d i s c o r d i a « , in w e l c h e r d e r »status r e i p u b l i c a e « nach I d e a l b i l d e r n g e r e c h t e r O r d n u n g ausgerichtet ist. 1 3 M a n d a r f das

Vgl. Gregor Müller, Bildung und Erziehung, S. 443ff. sowie H . Weisinger: T h e Ren Theory of the Reaction Against the Middle A g e s . . . , in: Speculum X X (1945), 461ff.; zum Fakultätenstreit s. Voigt, Wiederbelebung, I 74ff.; I I 477ff. sowie die von E . Garin hgg. Textsammlung: La disputa delle arti nel Quattrocento. Firenze 1947. 11 Ich beziehe mich im folgenden auf Erasmus Adagion I I 1, 1, zit. nach Ausgw. Schriften, ed. W . Welzig, Bd. V I I , 1972, spez. S. 494ff., dort S. 494 die Zukunftsprognose: » Q u o d si res pergat (die Vernachlässigung der »honestae disciplinae«, - W . K . ) qua coepit, futurum est ut summa rerum ad paucos redacta barbarica quaedam tyrannis sit apud nos, qualis est apud Turcas. Unius aut paucorum libidini parebunt omnia nec erunt politiae civilis ulla vestigia, sed militari violentia gubernabuntur universa.« Die Notwendigkeit der »solida doctrina« für die »bene constituta civitas« auch bei Melanchthon, In laudem novae scholae (1526), Werke I I I , 69. 12 Erasmus a. a. O . , S. 494: W i e im Kosmos so sind auch im Staat alle Elemente aufeinander abzustimmen und jedem die gebührende »auctoritas« zuzuweisen: . . . populo tribueretur quod aequum est, senatui ac magistratui tantum conceretur, quantum eruditio leges et aequitas pateretur. . . . « ; bes. die Juristen sind aufgerufen zur Durchsetzung moralischer Vernunft im Staat, diese moralische Vernunft verlangt Einsicht auf Grund von »erudit i o « : so verknüpft sich bei Melanchthon ausdrücklich ebenfalls die Verachtung der »litterae«, die »barbaries«, mit der »tyrannis«. W i e das konkret gemeint ist, illustrieren die Exempla des politischen Widerstandes, u. a. Th. Morus und Papinian: Or. de dignitate legum (1543), W e r k e I I I , 115ff., bes. 118ff. Zum humanistischen Rechtsgrundsatz der »Billigkeit« - aequitas - u. a. G . Kisch: Melanchthons Rechts- und Soziallehre. Berlin 1967. Z u Melanchthons »geheimer U t o p i e « der Herrschaft einer gebildeten Elite unter einem weisen Fürsten, zu seinem Bild der Juristen als Sachwalter des geschriebenen und ungeschriebenen Rechts in seiner Totalität, damit auch zum Widerstandscharakter des Rechts als Resultat praktischer Philosophie gegen fürstliche Willkür vgl. auch H . Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus, 93ff. 13 Erasmus a . a . O . , S. 496: » H o r u m omnium concors discordia et eodem tendens varietas longe fidelius servaret reipublicae statum quam nunc, dum quisque ad se rapere conatur omnia.« 10

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hier zugrundeliegende Denken als »bürgerlich« ansprechen, insofern es sowohl gegen die Anarchie des »Pöbels« wie gegen die Tyrannis des Alleinherrschers opponiert und von einem intermediären Standpunkt die gesamtgesellschaftlichen Interessen zu vertreten beansprucht. Praktisch konnte dies nur als Plädoyer für eine politische Mitsprache der vor allem bürgerlich-gelehrten Beamten und Kollegialorgane, aber auch der altständischen Korporationen insgesamt ausgelegt werden. 14 Diese Konnotationen von »Barbarei« sind im Auge zu behalten. Dies gilt auch für jene Reduktion und Verengung des Bedeutungsfeldes, die den Begriff auf seine formal-stilistischen Bewertungskriterien einschränken. Selbst in den nach dem Niedergang des florentinischen Bürgerhumanismus 15 erstarkenden klassizistischen Tendenzen bleibt die Semantik des »Barbarischen« im pragmatischen Kontext jeweils auf historische Wirklichkeiten bezogen, die sich in der Sprache symbolisieren; wenn ζ. B. in Italien L. Valla die Restaurierung und Konservierung des klassischen Lateins propagiert, ist dies nicht nur, aber doch ausdrücklich begründet in einer symbolisch-ästhetischen Rettung der in der Realität nicht mehr wiederzugewinnenden römischen Weltherrschaft. 16 Indem z. B. die Überlegenheit des Humanistenidioms durch die Identifizierung der Volkssprache mit einem durch den Barbareneinfall verdorbenen Latein legitimiert wird, gesellt sich zu dem politischen Projektionsmuster ein sozialer Impuls, der in der Beherrschung der lateinischen Sprache und in den damit verbundenen literarischen Aktivitäten Zugehörigkeitsmerkmale einer gesellschaftlichen Elite festlegt. 17 Indem diese Merkmale kulturelle Kompetenz voraussetzen, stehen sie nicht nur in Konkurrenz zu anderen kulturell symbolisierten Statuszeichen, sondern in Opposition zu einer Verteilung von Prestige und Positionen, welche auf ganz anderen Kriterien, z. B. Geburt, Macht und Reichtum beruht. Gerade die strengste Form des Klassizismus, der sog. Ciceronianismus darf nicht nur als leerer formaler Kultus verstanden werden, sondern ist auch die überspitzte Konsequenz eines spezifischen, die zeitlose Gültigkeit der »Cicero-Legende« voraussetzenden Ausleseverfahrens, in dem sich nicht nur eine Gruppe der Gebildeten in ihrem Anspruch bestätigt und

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Erasmus benutzt a . a . O . S. 495 das Modell des Hausstandes, bezieht sich also auf die Aristotelische »Ökonomie«: bezeichnenderweise aber nicht, um die »patria potestas«, also die monarchische Gewalt zu legitimieren, sondern die Notwendigkeit der funktionalen Aufteilung der Verantwortung (»pars functionis«) auch an die Frau und der gerechten sozialen Abstufung nach Stand und Verdienst. Dazu umfassend H. Baron in seinem Werk über die »Crisis of the Early Renaissance«: Einwände im einzelnen bei Sedlmayer, Wege und Wandlungen, 47ff. Vgl. Garin, Erziehung, B. II, 14 sowie das dort (219ff.) abgedruckte Prooemium zum ersten Buch der »Elegantiae«; ferner Garin, Der ital. Humanismus, 216ff.; zu Vallas Argumentation gegen die Volkssprache s. Klein, Latein und Volgare, 53ff. ; zur »Spiritualisierung« des röm. Imperiums s. K.-O. Apel, Idee der Sprache, 183ff. ; ferner zusammenfassend: Gerì (1974), 231ff. Einzelheiten bei Klein, Latein und Volgare, 54ff. (Valla und Biondo); die These stellt eine Weiterentwicklung der Danteschen Theorie von den zwei römischen Sprachen dar; vgl. Apel, Idee der Sprache, 20Iff.

nach innen stabilisiert, sondern zugleich nach außen auf die Ausbildung pragmatisch-gelockerter und historisch veränderter Sprachnormen reagiert. In der Opposition des humanistischen Kulturideals zum kohärenten Gegenbild der »Barbarei« fassen wir - dies ist festzuhalten - ein weiterwirkendes kategoriales System historischer Selbstverständigung, Urteilsbildung und Zeitkritik. Es stand in allen Fällen zur Verfügung, in denen Erfahrungen geschichtlicher Veränderung am Maßstab des humanistischen Programms zu bewerten waren. Insofern bildet es ein integriertes Interpretationsmuster der zyklischen Geschichtsanschauung, zugleich ein Instrument der Diagnose und Prognose, das seismographisch Wandlungen des epochalen Bewußtseins nachweist. b) Goldene und eiserne Zeit Die Frage nach dem geschichtlichen Ort der Gegenwart wurde von den meisten Humanisten der Blütezeit optimistisch beantwortet: kennzeichnend dafür ist etwa die Wendung gegen das im Mittelalter beliebte Bild, das die Moderne mit Zwergen vergleicht, die auf den Schultern von Riesen sitzen.18 Daran konnte zunächst auch das immer wieder aufflackernde Epigonengefühl wenig ändern, das nur die Kehrseite der Antikeverehrung darstellte. 19 Dennoch trieb angesichts unleugbarer geschichtlicher Dynamik gerade das Bewußtsein einmal erreichter zivilisatorischer Höhe die Frage nach der Möglichkeit zwangsläufigen Abfalls hervor. Die Beantwortung dieser Frage hing von der Möglichkeit ab, die pessimistische Perspektive des zyklischen Geschichtsmodells im Vertrauen auf die genuine Kraft des Menschen zu überwinden und die Erfahrung wissenschaftlichkultureller Perfektion zur Beglaubigung künftigen Fortschritts umzumünzen. Das historische Denken der Spätrenaissance offenbart deutlich ein Ringen um dieses Problem, bei dem sich Frontstellungen in der Art der späteren »querelle des anciens et des modernes« herausbilden. Auf der einen Seite wird vor allem bei den Naturwissenschaftlern, bei »modernen« Philosophen, aber auch bei Politikern wie

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Der Vergleich findet sich in Joh. Salisburys »Metalogicon« III 4 mit Berufung auf Bernhard von Chartres, hier durchaus noch in dem Sinne, daß die Modernen weiter sehen, d. h. über die Alten hinauskommen. Gegen dieses auch bei Alexander Neckam und Peter v. Blois verwendete Bild stellt sich ausdrücklich L. Vives: De causis corruptarum artium, I 5. Vgl. F. E. Guyer: The Dwarf on the Giant's Shoulders, in: MLN 45 (1930), 398ff.; G. Sarton: Standing on the Shoulders of Giants, in: Isis 25 (1935), 107ff.; R. Klibansky, ibid. 26 (1936), 147ff.; J. de Gheelinck, in: Archivum Latinitatis medii aevi (Bulletin Du Cange) 18 (1945), 25ff. Etwa Coluccio Salutati, in: Epistolario, ed. Fr. Novati. Roma 1891ff. Ep. II, 145: »Crede mihi, nihil novi fingimus, sed quasi sarcinatores de ditissimis vetustatis fragmentis vestes, quas ut novos edimus, resarcimus«. In anderem Zusammenhang konnte derselbe Salutati nicht untypisch durchaus gegen die übertriebene Hochschätzung der Alten polemisieren: s. den bei Garin, Erziehung, Bd. II, 137ff. abgedruckten Brief, spez. S. 139. Die Epigonenklage freilich bleibt gerade in poetischer Problematik eine Möglichkeit, wie das ferne Echo bei J. Balde beweist: »Nostrum aevum quid agit? Inventa invenire, cantata canere, rapto vivere« (Diss, de studio poetico, in: Op. omnia Bd. III, S. 325).

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etwa Bodin 2 0 gegen die auf Lukrez zurückgehende These von der Erschöpfung der Natur, dem »decay of nature« 2 1 gekämpft, gegen die Behauptung, alles Entscheidende sei schon gesagt, gegen den Glauben an die naturhafte Degeneration menschlicher Fähigkeiten. 2 2 Der Widerstand gegen den Gedanken der Dekadenz impliziert dabei nicht selten den Verzicht auf universalgeschichtliche Spekulation überhaupt oder einen Angriff auf den Mythos der Goldenen Zeit. 2 3 In äußerster 20

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Vgl. die Hinweise auf die Fortschritte der Technik und Naturwissenschaften bei L. da Vinci (Scritti, ed. Fumagalli, Firenze 1938, S. 39) sowie bei Galilei (gegen Aristoteles, Opere, ed. naz. VI 538); zu G.Brunos Verteidigung der »Veritas- filia temporis« s. G. Gentile: Il pensiero italiano del Rinascimento. Firenze 1940, 333ff.; zu Campanella s. Gis. Bock. Campanella. Tübingen 1974, S. 294ff. Das Material (darunter vor allem die modernistische Emphase bei Louis Le Roy, aber auch die Stimmen von Bodin, Pasquier, G. Harvey u. a.) ist gesammelt und interpretiert in den zahlreichen Untersuchungen zur »Querelle« in der Renaissance: A. Buck, die Querelle des Anciens et des Modernes im italienischen Selbstverständnis der Ren. und des Barock; ders.: Aus der Vorgeschichte der »Querelle . . . « in Mittelalter und Ren., in: Die hum. Tradition in der Romania«, S. 75ff.; H.Baron: The Querelle ( . . . ) as a problem for Ren. scholarship; Giacinto Margiotta: Le origine italiane de la »Querelle (...)«. Roma 1953. G. Atkinson: Les nouveaux horizons de la Ren. française, Paris 1935; H. Weisinger: Ideas of History during the Ren., in: Journal of the History of Ideas 6 (1945), 415-35; W. Rehm, Der Untergang Roms, S. 73ff.; Garin, Erziehung, Bd. III, S. 56ff.; spez. zu Bodin und Le Roy: John B. Bury, The Idea of Progress, S. 37ff.; zur Auseinandersetzung in England R. F. Jones, Ancients and Modems, S. 22ff. Eine fast endlose Liste von Büchertiteln, die sich mit dem Attribut »neu« schmücken, liefert L. Thorndike: Newness and Craving for Novelty in Seventeenth-Century Science and Medicine, in: Journal of the History of Ideas (1951), S. 584-98. Im Kontrast dazu ist das sich gleichzeitig entwickelnde Unbehagen an der humanistischen Bildungsideologie und -praxis zu verfolgen: vgl. exemplarisch P. F. Grendler: The rejection of Learning in mid-Cinquecento Italy, in: Studies in the Ren. 13 (1966), 230-49; die Herausbildung einer an den wissenschaftlichen Fortschritten angelehnten Originalitätsvorstellung und damit ein Hineinwirken der Polemik der »Modernen« bis in die Diskussionen des 18. Jahrhunderts untersucht B. Fabian: Der Naturwissenschaftler als Originalgenie. Lukrez, de rerum natura li 1150ff., V 826f. (rezipiert bei Gelegenheit u.a. von Petrarca, Salutati, Alberti und G. Bruno). Zum »Decay of Nature« vgl. R. F. Jones, Ancients and Modems, S. 23ff. (bes. S. 26f. zum Pessimismus John Donne's); ferner G. Williamson, Mutability Decay; H. Baron, The Querelle; ausführlich Don Cameron Allen: The Degeneration of Man and Renaissance Pessimism, in: Studies in Philology X X X V (1938), 202-37. G. Pico della Mirandola bestreitet in seiner antiklassizistischen Polemik gegen P. Bembo die These des Lukrez: Le epistole »De imitatione« di G. Pico della Mirandola e P.Bembo, a cura di G. Santangelo, Firenze 1954, S.31; hiergegen sowie gegen die Behauptung, alles Entscheidende sei schon gesagt: Rabelais, Pantagruel, BuchV, Kap 47; ähnlich Du Beilay, La Defence et Illustration de la langue francoyse I, 10 (ed. H. Chamard, 1948, S. 63); in Italien wandte sich neben Tassoni vor allem Secondo Lancelotti ausdrücklich 1623 bzw. 1636 gegen die weitverbreitete Dekadenzstimmung: »L'oggidi ovvero il mondo non peggiore ne più calamitoso del passato« sowie »L'oggidi ovvero gl'ingegni non inferiori a passati.« Dazu Näheres in der oben (Anm. 20) genannten Literatur, vor allem den Aufsätzen von A. Buck. Hierzu Allen (s. unter Anm. 21); er weist im einzelnen mit einer Fülle von Belegen nach, wie die pessimistischen Thesen auf die Diskussion der aristotelischen Physik zurückgehen. Die von Aristoteles versicherte »Ewigkeit« der Welt wird in Frage gestellt, nicht nur

Opposition zur Verfallshypothese steht vor allem der Satz »veritas - filia temporis«. 24 Auch die sprach- und literaturgeschichtliche Reflexion hat vor allem gegenüber einem rigiden Nachahmungsklassizismus »modernistische« Argumentationen ausgebildet. Gestützt auf die wachsende Erkenntnis der Historizität lateinischer Sprache und Literatur wird die »imitatio« der Antike formalisiert. Nicht das in der Vergangenheit mustergültig Geleistete einzuholen, sondern in Analogie zum Vorbild der Antike zu handeln ist die Devise. Dies bedeutet die Anerkennung einer Geschichtlichkeit und Gegenwartsbezogenheit der Kultur, legitimiert die muttersprachliche Literatur und hat Einfluß auf Kanonbindungen, Stilvorschriften, auch auf das Bild vom Dichter. Kriterium dichterischen Ranges ist nicht mehr nur die Reproduktion und Assimilation antiker Muster, sondern die »Neuheit« poetischer Erfindung, die Kraft und Technik ingeniöser »inventio«, welche im üterarischen Manierismus des späten 16. Jahrhunderts eine so große Rolle spielt. Der »Modernismus« der Spätrenaissance hat ein doppeltes Gesicht: er ist ebenso Reaktion auf die Erkenntnis einer Veränderlichkeit der Welt wie selbst verändernder Faktor. In der Anerkennung dieses Prozesses unterscheiden sich die Gegner der erwähnten »quereile« in keiner Weise, um so mehr allerdings in seiner Bewertung. Offenbar überwogen gegen Ende des 16. Jahrhunderts in ganz Europa Erfahrungen, die den Gesamtkomplex historischer Instabilität und wissenschaftlicher Dynamik als bedrohlich und verunsichernd einzuschätzen nahelegten. Ausgehend von Italien und Spanien ist eine zunehmende Düsternis der Zeitdiagnosen und Zukunftsprognosen unverkennbar. Nicht nur A. Buck sieht in dieser Veränderung des gesellschaftlichen Klimas ein Indiz für die Wendung von der Spätrenaissance zum Barock. 25 Auf jeden Fall gewinnen jene Theoreme,

durch das unklare Verhältnis zur christlich-jüdischen »creatio ex nihilo«, sondern auch durch pagane Elemente der stoischen Kosmologie, die z.B. in Lipsius' »Physiologiae Stoicorum« (dazu Allen spez. 224) einzusehen waren. Zu den Reflexen dieser Diskussion in Deutschland s. u. Kap. Β III und IV. 24 Das Dictum geht auf Aulus Gellius zurück (Ν. Α. XII, 11,7). Zur Verbreitung speziell s. F. Saxl: Veritas Filia Temporis, in: Philosophy and History. Essays presented to E. Cassirer. Oxford 1936, 197ff.; ferner D. Gordon, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 3 (1939-40), 228ff. 25 A. Buck, Die »Querelle«, S. 17: »als im Selbstverständnis des 16. Jahrhunderts das Dekadenzbewußtsein die Oberhand gewann, ging die Renaissance zu Ende und es begann der Barock.« Zum »Ende der Renaissance« in Florenz vgl. den Aufsatz von Eric Cochrane, in: BHR 27 (1965), 7ff.: Er weist nach, daß um 1580 der literarische Klassizismus etwa der »Crusca« allgemeine Ordnungsbedürfnisse einer Gesellschaft zum Ausdruck bringt, die im Schutze der Medici von der Dynamik bürgerlichen Geschichtsdenkens Abschied genommen hat. Während Cochrane neutral von »shift« spricht, akzentuiert H. Koenigsberger den Dekadenzgedanken: »Decadence or Shift? Changes in the Civilization of Italy and Europe in the XVI and XVII Centuries, in: Transactions of the Royal Historical Society. Ser 5, vol X (1960), Iff.; vgl. auch Β. Croce: Storia della età barocca in Italia. Bari 1929, 41ff. (»Decadenca«). Zum Hintergrund des Wandels vom bürgerlichen zum fürstenstaatlichen Humanismus s. R. v. Albertini: Das florentinische Staatsbewußtsein im Übergang von der Republik zum Prinzipat. Bern 1955.

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gegen die sich die Modernisten zu wenden hatten, verstärkte Evidenz: indem der Wandel vom Goldenen zum Eisernen Zeitalter konstatiert und beklagt wird, ist das zyklische Geschichtsmodell wieder in sein Recht gesetzt und kann im Nachherein die unausweichliche Fatalität der historischen Entwicklung anzeigen. 26 Zum Bild der »eisernen Zeit« gehört die Metaphorik der »kranken Welt«. Verstanden wurde diese »Krankheit« durchweg als moralisch qualifizierter Defekt der bewährten Ordnung: nicht nur die »Herrschaft des Geldes«, auch die politischen und geistigen Zwänge der Gegenreformation und der konfessionell bedingten Konflikte werden in metaphorischen Topoi dieser Art zusammengefaßt. 27 Im Kontrast zur humanistischen Vision von der Würde und Gottebenbildlichkeit des Menschen erscheint nun seine »miseria« im hellen Licht: damit ist nicht immer nur seine naturhafte Kreatürlichkeit und Hinfälligkeit gemeint, die im Schrifttum der christlichen Renaissance nie in Frage gestellt war, sondern eine aus eigener Kraft nicht zu überwindende Verdorbenheit schlechthin.28 Die anthropologische Skepsis dieser Art ließ sich nur religiös überwinden. Zahlreiche Vertreter der Spätrenaissance - man denke an Tasso und Michelangelo - haben diese Konsequenz gezogen. Nicht zu übersehen ist der politische Aspekt dieses Pessimismus. Die »bestialische« oder »sündige« Verfaßtheit des Menschen im »status naturalis« macht eine »zwanglose« Vergesellschaftung illusorisch. Die Angst vor der Anarchie verwandelt die Forderung nach einem »status civilis« in Gestalt herrschaftlicher Ordnung zum Anliegen der Vernunft, zum Motiv eigenen Interesses. Selbsterkenntnis impliziert den Willen zur freiwilligen Selbstdisziplinierung. Diese Freiwilligkeit ordnungskonformen und damit rollenbewußten Verhaltens unterscheidet eine Elite von der Masse, dem »Pöbel«, der in seiner Unfähigkeit zur Affektdisziplin zugleich mangelnde Vernunft verrät und damit zur ständigen Gefahr der im Staat geordneten Gesellschaft wird. 29 Die Frage nach den Bedingungszusammenhängen, den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Faktoren, welche zu dieser augenfälligen Verschiebung des

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Zum »eisernen Zeitalter« reiche Belege vor allem bei Kamen (1974), bes. 146ff.; vgl. auch H. Friedrich, Montaigne, 362f. Vgl. generell A. v. Martin, Peripetien in der seelischen Entwicklung der Renaissance; H. Haydn: The Counter-Renaissance. New York 1950, bes. S. 525ff. Picos Schrift »De dignitate hominis« mit Übersetzung hgg. von E. Garin; vgl. neben den dort gegebenen Hinweisen noch G. Müller, Bildung und Erziehung, S. 216: Liste der »miseria«-Tractate der Renaissance und zum pessimistischen Menschenbild bei Machiavelli und Cardano; die wichtige Differenzierung zwischen einem christlich-kreatürlichen Pessimismus und einer skeptischen Illusionslosigkeit nimmt H. Friedrich in seiner ausführlichen Behandlung des Themas vor: Montaigne, S. 114ff. ; ferner A. Buck, in: AfKg 42 (1960), 61ff. sowie Meyer-Minnemann (1969), 35ff. Diese Gedanken mit Hinweis auf Hobbes Theorie des Gesellschaftsvertrages auch bei Wiedemann (1976), S. 726/27: » . . . Die Gesellschaft nach absolutistischem Begriff zerfällt somit nicht primär in Stände und Klassen, obwohl das in der Praxis natürlich von Belang bleibt, sondern in eine Ordnungsrepräsentierende, rollenfähige Elite und eine ungeordnete, rollenlose Masse.«

gesellschaftlichen Bewußtseins und damit auch der geschichtlichen Selbstinterpretation beigetragen haben, ist in der historischen Forschung in aller Breite diskutiert. Dabei herrscht über die Schlüsselfunktion und Vorläuferschaft Italiens und Spaniens, also der katholisch gebliebenen Länder, weitgehende Übereinstimmung. Der Niedergang des italienischen Bürgerhumanismus, die Folgen des »sacco di Roma«, die politische Entmächtigung unter der spanischen Fremdherrschaft - in Italien wie in den spanischen Niederlanden - und die Folgen der Retheologisierung des öffentlichen Lebens, die Ausbildung einer unproduktiven Bürokratie und die Verlagerung des produktiven Kapitals entweder ins Ausland oder jedenfalls in weniger risikoreiche, zum Teil agrarische Produktionszweige (Verrentnerung) deuten auf eine Krise des städtischen Handels- und frühen Manufakturbürgertums, das mit seiner Dynamik, Rationalität und Zukunftsorientierung das geistige Bild der Hochrenaissance bestimmt hatte. 30 Nicht der gelegentlich einseitig pointierte Übergang vom Handels- zum Manufakturkapital scheint das entscheidende Moment für den Wandel des geistigen »Überbaus« in dieser Zeit zu sein, sondern die wachsende Ohnmacht des städtischen Wirtschaftsbürgertums angesichts einer politisch nicht zu verhindernden Ausbeutung für die Zwecke des territorialen Fürstenstaates, die Interessen der Dynastien, für Heer, Hof und Bürokratie. D i e zahlreichen Zusammenbrüche führender Banken durch Zahlungsunfähigkeit der Fürsten, 31 die Wehrlosigkeit angesichts solcher Schläge der »fortuna«, die Macht des fürstlichen Bürokratismus durch die willkürliche Lenkung und Verteilung von Monopolen und Privilegien, kurz die kameralistische Konzentrierung auch der wirtschaftlichen Interessen und Aktivitäten auf die

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Vgl. bes. die Analysen der wirtschaftlichen Auswirkungen der Gegenreformation in den katholischen, bes. von Spanien beeinflußten Ländern bei Trevor-Rooper: »Religion, Reformation und sozialer Umbruch« in dem gleichnamigen Sammelband, S. 15ff. Seine Ausführungen analysieren auch die italienische Wirtschaftskrise, die um 1620 kulminiert. Neben den religiösen und politischen Faktoren ist auch an den Rückgang des Levantehandels zu denken: vgl. R. Romano: Tra XVI e XVII secolo. Una crisi economica: 1619-22, in: RSI74 (1962); zusammen mit anderen Arbeiten dieses Verfassers wird die speziell Italien und den Mittelmeerraum betreffende Literatur bequem zugänglich referiert und diskutiert von Gisela Bock, Campanella, S. 39ff.; Trevor-Roopers Thesen sind diskutiert im Sammelband von Geoffrey Parker und Lesley M. Smith (Hgg.): The General Crisis of the Seventeenth Century. London 1978; vgl. ferner die den gesamten Problemkreis umreißenden Aufsätze in dem Sammelband: Crisis in Europe, hgg. von Trevor Aston. London 1965; detaillierte Zahlen und Statistiken bietet in weitem Überblick (leider unter Zurücktritt der Verhältnisse in Deutschland) H. Kamens Buch: The Iron Century (1871), auf das ich mich wesentlich stütze. Zu den Prozessen der ökonomischen und sozialen Krise des späten 16. Jahrhunderts vgl. ferner neben Mauser (Gryphius, 169ff.) den neuerdings gesammelt vorgelegten Untersuchungen von T. Klaniczay (1977, spez. 79ff. mit wertvollen Literaturnachweisen) die grundlegende Studie von Fernand Braudel: La Mediteranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II. Paris 1949 und 1967. Vgl. den zusammenfassenden Aufsatz von Jakob Strieder: Entstehen und Vergehen großer Vermögen im älteren Europa, in: Litw. Jb. 55 (1935), S. 325ff.; vgl. auch Kamen, Iron Century, S. 102ff. (»Growth of a public debth«).

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Bedürfnisse des »regiments«32 dürften noch weit über das tatsächliche Maß wirtschaftlicher Schwächung hinaus für eine Bewußtseinsveränderung, eine deterministische, pessimistische oder bisweilen fatalistische Krisenstimmung mitverantwortlich zu machen sein. Mit Ausnahme der freien Niederlande, in abgeschwächter Geltung für Venedig und England scheint für ganz Europa jene Tendenz zwingend und unausweichlich, in der sich die Chancen einer Teilhabe auch am wirtschaftlichen Erfolg auf die Agenten der fürstlichen Macht, d.h. aber im wesentlichen auf die Bürokratie verlagern. »Im Jahre 1530 gehörte der Reichtum hauptsächlich einer Führungsschicht von Kaufleuten und Manufakturfabrikanten; 1630 jedoch einer Beamtenelite.« 33 Die Veränderung der politischen Strukturen war verbunden mit einer enormen sozialen Dynamik. Ungeachtet aller notwendigen und hier nicht anzubringenden Differenzierungen - es geht nur um den gesamteuropäischen »Trend« - , kann man beobachten, daß sowohl das individualistische Streben des Einzelnen als auch die anonymen Mechanismen von Geld und Macht traditionelle Ordnungsvorstellungen und zeitlos gültige positionszuweisende Hierarchien scheinhaft erscheinen ließen. Nicht nur Moraldidaxe und Satire, sondern eine weitgreifende, prohibitive juristische und ordnungspolitische Reglementierung (bis hin zu den Kleiderordnungen) versuchten immer wieder und mit geringem Erfolg, die tatsächlichen Verhältnisse auf bekannte - altständische - Grundvorstellungen zurückzuführen. Während sich aus dem höheren Bürgertum in ganz Europa ein rentenverzehrendes und landbesitzendes, nach Nobilitierung strebendes Patriziat entwickelte, wurde auf der anderen Seite der landsässige Adel gezwungen, sich durch den Dienst am Hofe und in der höfischen Bürokratie seinen Teil an der wirtschaftlichen Macht des Fürstenstaates zu sichern.34 Es handelt sich in den komplexen sozialen Vorgängen der hier behandelten Epoche also nicht nur um eine Krise des Bürgertums, sondern auch um eine Krise der Feudalaristokratie, welche sich vor allem in Frankreich, aber auch in Deutschland einer bürgerlichen Konkurrenz im Ringen um Einfluß und Ressourcen gegenüber sah. Die ungeheuer anschwellende nicht nur philosophische, sondern vor allem juristische Literatur um Bestimmung, Grenzziehung, Privilegien und Rechte der »nobilitas« beweisen, in welchem Maße die Stellung des Adels zwischen einer bürgerlichen Beamtenaristokratie und der

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Grundsätzlich: F. Blaich: Die Epoche des Merkantilismus. Wiesbaden 1973. - Zur frühmerkantilistischen Tätigkeit deutscher Fürsten und der Macht und Bereicherung der in ihrem Dienst tätigen Agenten vgl. das Porträt des Amadisübersetzers Jacob Rahtgeb Von Speyer, der in den Diensten des Herzogs Friedrich v. Württemberg-Mömpelgard stand, bei Weddige, Amadis, S. 70ff. Trevor-Rooper: Religion Reformation und sozialer Umbruch, S. 46. Zur Feudalisierung des kapitalkräftigen Bürgertums (wesentlicher Anreiz waren die nicht selten mit Landbesitz und Adelstitel verbundenen Privilegien, gewiß aber die »Sicherheit« des immobilen Vermögens), Kamen, Iron Century, S. 166ff., zur Konkurrenz gegenüber dem Adel spez. S. 181ff. Zur Situation des Adels neben Elias, Höfische Kultur, und Kruedener, Rolle des Hofes, vgl. L. Stone: The Crisis of the Aristocracy 1558-1641. Oxford 1965.

höfischen Zentralmacht neu bestimmt werden mußte. 35 Die wachsende Verelendung der Bauern, die Entstehung einer besitzlosen, ständisch gar nicht mehr erfaßbaren Klasse (gespiegelt im aufkommenden Picaroroman) zeigt, wie sehr die Konzentration wirtschaftlicher Macht zuletzt von den schwächsten Gliedern der Ständepyramide zu tragen war. 36 Diese waren auch von der das ganze 16. Jahrhundert steigenden Teuerung sowie von konjunkturellen Schwankungen betroffen, die u. a. mit der rapide zunehmenden Bevölkerung und der Edelmetalleinfuhr aus der Neuen Welt zusammenhingen. 37 Im Jahrzehnt des beginnenden Dreißigjährigen Krieges - der Zeit der »Kipper und Wipper« in Deutschland - ist eine dramatische Verschlechterung und krisenhafte Zuspitzung der ökonomischen Lage in Teilen Europas zu verzeichnen, die gewiß zu der geistigen und geistlichen Erregtheit dieser Jahre beigetragen haben. 38 Für die deutschen Gelehrten, soweit sie in den niedrigen Ämtern von Staat, Kirche und Universität beschäftigt waren, bedeuteten die Jahrzehnte um 1600 bei gleichbleibendem oder nur wenig erhöhtem, oft gar nicht ausbezahltem Einkommen eine permanente Verminderung der Kaufkraft, eine verstärkte Abhängigkeit von Benefizien, Naturalleistungen und mäzenatischen Gunstbeweisen. Dabei ist ein Auseinandertreten der einzelnen Beamtenschichten festzustellen: die Kluft zwischen einer Verwaltungsaristokratie im Umkreis der Höfe und der breiten Masse der bürgerlichen Intelligenz wird größer. 39 Angesichts dieser hier nur in Umrissen darzustellenden Gesamtentwick-

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Einen umfassenden Überblick gewährt Cyriacus Spangenbergs »Adelsspiegel. Historischer Ausführlicher Bericht: Was Adel sey und heisse / Woher er komme / Wie mancherley er sey / Und was denselben ziere und erhalte / auch hingegen verstelle und schwäche (...)«, Schmalkalden 1591. Neben dem Geburtsadel und dem »gelahrten« und .»Kunst«-Adel wird auch der »Geldt / Gut / oder Reichthumbs-Adel« behandelt. Ein Schlaglicht auf die bürgerliche Nobilitierung wirft dabei die Klage des Verfassers (Teil I, Buch VIII, Kap. 6, S. 135): »Ob es wol nicht allein billich und recht / sondern auch Land und Leuten am nötigsten und nützlichsten were / das die hohe Obrigkeit solchen Leuten Ehre / Adel und Empter aufftrügen die (wie Jethro seinem Eydam Mose rhiet / Exod. 18) erbarkeit und Tugend halben ein gemeines lob und guten Namen hetten / und derwegen billich herfür gezogen und geadelt werden solten: so gehet es doch in diesem Stück / wie auch in vielen andern / nach der Welt altem brauch und weise zu / das Reichthumb / Geldt und Gut / viel Feldtgüter / stadtlichs einkommen / Rent und Zinse / grosser vorrhat / etc. einem weit für andern ans Bret helffen / und herfür bringen. ...« 36 Vgl. R. Endres: Das Armenproblem im Zeitalter des Absolutismus, in: F. Kopitzsch (Hg.): Aufklärung (1976), 220ff. 37 Zum Steigen der Weizenpreise und der Steigerung der Lebenshaltungskosten vgl. Kamen, Iron Century, S. 58ff. 38 Zu der astrologischen, mystischen, pansophischen, alchemistischen Spekulation der Zeit und der damit unmittelbar zusammenhängenden Blüte des Chiliasmus und Utopismus in Deutschland vgl. jetzt im größeren Zusammenhang das Werk von R. J. W. Evans: Rudolf II and his World. A Study in Intellectual History 1576-1612. Oxford 1973. 39 Vgl. die Analyse von V. Press, Calvinismus und Territorialstaat (1970), am Beispiel der Kurpfalz, spez. 161ff.; zur wirtschaftlichen Situation der Universitätsprofessoren hat P. Baumgart exemplarisch die Verhältnisse in Helmstedt zu Ausgang des 16. Jahrhunderts untersucht, in: Jb für Fränk. Landesforschung 34/35 (1975), 937ff.: er kommt zu dem Ergebnis, daß die heftigen zeitgenössischen Klagen, etwa eines Caselius, übertrie29

lung bedurfte es gar nicht mehr der Erkenntnis einer nach wie vor eklatanten Machtlosigkeit des Menschen gegenüber Naturkatastrophen (Seuchen, Brand, Tod usw.), um Sicherheitsgefühle, Vertrauen in die Zukunft als planvoll und rational zu bewältigende Dimension menschlichen Handelns, eine positive Einschätzung der eigenen Gegenwart zu untergraben und restaurative, konservative, eskapistische oder mystisch-religiöse, vor allem chiliastische Haltungen bzw. Erfahrungen zu fördern. D i e Entwicklung des »Barock« aus einer »Krise der Renaissance« ist in den geistes-, problem- und stilgeschichtlichen Untersuchungen der europäischen Forschung diskutiert und grundsätzlich bestätigt worden. Zwar herrscht Uneinigkeit, ob die Krisenepoche des Vorbarock sinnvollerweise unter dem Stichwort des »Manierismus« zusammengefaßt werden könnte, daß im 17. Jahrhundert sich aber universale Ordnungsvorstellungen zur Überwindung jener Krise konstituieren, wird nicht bezweifelt. 4 0 Ebenso unbestreitbar ist, daß sich die epochale Entwicklung in den verschiedenen europäischen Ländern phasenverschoben und mit ungleicher Eindeutigkeit und Intensität vollzieht. 41 Die Einlagerung der deutschen Verhältnisse in diesen Prozeß ist - jedenfalls von literaturwissenschaftlicher Seite - vornehmlich im Blick auf Stilprobleme und Einzelautoren, etwa M. Opitz, abgehandelt worden. Hinsichtlich des 16. Jahrhunderts standen mit Recht die alle ben seien, gemessen am Vergleich der Besoldung der Professoren und fürstlichen Räte. Wenig Rückschluß gibt eine solche Analyse der Nominaleinkommen über die tatsächliche Auszahlung. Auf jeden Fall ist der Abstand der Lehrer der philosophischen Fakultät zu den Professoren der Theologie, Medizin und Jurisprudenz beträchtlich, zumal diese jeweils noch umfangreiche Nebeneinkünfte zur Verfügung hatten (Predigerstellen, Praxis, Gutachten etc.). Noch schwieriger zu beantworten ist die Frage nach der realen Kaufkraft. Die starke Personalfluktuation in der philosophischen Fakultät bezeugt deutlich das allgemeine Ungenügen und das Streben nach Aufstieg innerhalb der Universität bzw. - vor allem für die Philosophen wichtig - auf gut dotierte Pfarrstellen. 40 Vgl. zur Arbeit Hausers und der diesbezüglichen Diskussion den Forschungsbericht von M. Brauneck (1971), 431; dort auch zu den zahlreichen anderen, vorwiegend stiltypologischen Bemühungen, das »Barock« als Epoche einer in der Ren. angelegten Bewegung bzw. als die Überwindung der Krise der Spätrenaissance im Sinne einer Überführung in neue Ordnungen zu interpretieren: S. 399ff. zu Hatzfeld und W. P. Friedrich, S. 427f. zu W. Sypher und zu dem durchaus anregenden und nachdenkenswerten Aufsatz von G. J. Geers, der das Ordnungsbedürfnis des Barock sozialpsychologisch in einer Art von masochistischem Selbstbestrafungstrieb aus Angst und Unsicherheit angesichts neugewonnener Freiheiten verankert sieht. Zusätzlich zu den bei Brauneck genannten Arbeiten ist die Epochenproblematik von Renaissance, Manierismus und Barock in den Arbeiten von T. Klaniczay (gesammelt 1977) untersucht. Er faßt nicht nur die internationale Forschung zusammen, sondern integriert die kulturellen und ästhetischen Aspekte in den sozialgeschichtlichen Kontext der Krise des Bürgertums. 41 Über die Problematik der nationalen Sonderentwicklungen innerhalb der gesamteuropäischen Bewegung vgl. das Referat der Forschungsarbeiten bei Brauneck (1971), S. 417ff. Bereits von einem rein stilgeschichtlichen Gesichtspunkt erweist sich die Divergenz und Phasenverschiebung der Entwicklung in Deutschland im Vergleich vor allem zu Italien (etwa was die Rezeption des Marinismus angeht). Die Frage nach den Ursachen muß in Rechnung stellen, daß der Gesamtprozeß der absolutistischen Staatsbildung in Deutschland unvollkommen und mit Verspätung einsetzt. Auch die wirtschaftsgeschichtlichen 30

kulturellen Phänomene durchdringenden Konsequenzen der konfessionellen Auseinandersetzung im Mittelpunkt. Ich möchte im folgenden wenigstens einige Linien verfolgen, in denen die Semantik der geschichtlichen Selbstverständigung und historischen Topik, wie sie sich im Krisendenken der europäischen Spätrenaissance ausgebildet hat, in Erscheinung tritt.

2) Bedrängnis der »litterae«: Zur Tradition und Funktion humanistischer Zeitklage im Schatten christlicher Geschichtstheologie Auch bei den deutschen Humanisten ließ der Blick auf die »renascentes litterae« zunächst die Herzen höher schlagen. Am bekanntesten ist der Ausruf Huttens in einem Brief an W. Pirckheimer vom Oktober 1518,42 Worte des hoffungsvollen Erasmus bezeugen den gleichen Optimismus. R. Agricola sah im Wiederaufleben der »litterae« ein universales abendländisches Kulturprogramm, das die Überwindung der »barbaries« auch diesseits der Alpen miteinschloß. Auch Reuchlin fühlt sich als Zeuge und Teilhaber kulturellen Aufschwungs, und Melanchthon verband den Preis des »Studium renascentium litterarum« mit dem Lob der Stadt Florenz als Hort dieser Studien: Die Gründung der Nürnberger Gelehrtenschule war ihm Beweis und Hoffnung für eine ähnliche Blüte auf deutschem Boden. Dennoch behält gegenüber der Renaissance-Idee die Vorstellung der »translatio studii« gerade in Deutschland eine ungebrochene Kraft, weil sie als Idee kultureller, institutioneller und nationaler Identität und Kontinuität, als »Kategorie erworbener Selbständigkeit« (Worstbrock) unmittelbar zusammenhängt mit der den Reichsgedanken begründenden Konzeption der »translatio imperii«. C. Celtis z. B. sieht sich in seiner Forderung, die Verspätung der »translatio studii« aufzuheben, als Exponent eines nationalen Programms.43 Es entspricht den Intentionen dieses nationalen Humanismus, den Mythos germanisch-deutscher Ursprünglichkeit auch im Hinblick auf Sprache und Dichtung in Tacitus' »Germania« hineinzukonstruieren und auch Leistungen des deutschen Mittelalters als Belege gegen die »Barbarei« des älteren Deutschland ins Feld zu führen. Der Kulturpatriotismus des 17. Jahrhunderts - verstiegen und erhitzt angesichts täglich greifbarer Schwäche des Reichs - ist eine unmittelbare Fortsetzung jener Bemü-

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Faktoren des 16. Jahrhunderts ergeben hier ein Bild, das erst in Ansätzen auf krisenhafte Erschütterungen des stadtbürgerlichen Handels (Niedergang der Hanse, Verlagerung der Handelswege) bzw. merkantilistische Reglementierung hindeutet; im Gegenteil, bis an die Schwelle des Dreißigjährigen Krieges kann man insgesamt von einem wirtschaftlichen Wachstum sprechen: vgl. für Deutschland bes. F. Lütge: Die wirtschaftliche Lage Deutschlands zu Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (1963) sowie die Zusammenfassung der Forschung bei Aubin/Zorn (1971), 410ff., bes. auch 461ff. zur konjunkturellen Entwicklung. Hierzu und zum folgenden vgl. Worstbrock, Über das geschichtliche Selbstverständnis. Worstbrock, 513ff.; zum politischen Gehalt der Argumentationen bei Celtis vgl. neuerdings Sinemus (1978), 22ff. 31

hungen des 16. Jahrhunderts und ist sowohl getragen von der Tradition einer romantischen Reichsidee wie auch von dem unmittelbaren bürgerlichen Interesse an einem machtvoll organisierten Zentralstaat. 44 Durch die Reformation wird der kulturell-literarisch zentrierte Geschichtsmythos des Humanismus von einer religiösen, heils- und kirchengeschichtlichen Geschichtsdeutung überlagert, zunächst freilich in dem Versuch, beide Kategoriensysteme miteinander zu harmonisieren. Luther benutzte die Lichtmetapher für seine eigene, von der religiösen und kirchlichen Erneuerung bestimmte Wirklichkeit, das Renaissance-Modell wird transformiert in die historische Projektion einer Wiederkehr der apostolischen Zeiten. 45 Auch die »Studien« erhalten ihren Sinn in der Rückkehr zur Bibel und zur reinen Lehre. Das Pathos der humanistischen Bewegung gerinnt schließlich zur Apologie der »artes«, insoweit diese für Exegese, Katechese und Kontroverstheologie zu funktionalisieren waren. Die Kenntnis der drei heiligen Sprachen erscheint als Voraussetzung der Verkündigung des Evangeliums; der Niedergang der Kirche - so verengt sich die Perspektive - nach der apostolischen Zeit und unter dem Papsttum fällt in die Zeit, »da die Sprachen aufhöreten.« 46 Indem das Schicksal des Einzelmenschen wie auch der Prozeß der Geschichte insgesamt dem Walten Gottes überantwortet wird, setzt sich Luther vom zyklischen Geschichtsbild der Renaissance ab. Er weist ausdrücklich die Metapher von Wachstum und Verfall zurück. 47 Gott als Herrn der Geschichte zu wissen verheißt nicht nur Trost, sondern verlangt die Aufhebung einer Kritik der Historie nach Maßstäben und Hoffnungen immanenter Geschichtslogik. Entsprechend strukturiert sich die Zeit nicht als dreidimensionaler Handlungsspielraum des Menschen, sondern schrumpft zu einem Feld isolierter Augenblicke zusammen, in denen sich der Christ in Anfechtung und Heimsuchung zu bewähren hat. 48 Im Rückgriff auf die Augustinische Zwei-Reiche-Lehre konstituiert sich ein Dualismus: der Kampf zwischen Christus und Satan, zwischen dem »corpus Christi 44

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Zur Tradition der Reichsidee s. F. Heer: Die Tragödie des Hl. Reiches. Wien 1952; C. Wiedemann versteht mit Recht die Begründung der nationalsprachlichen Poesie durch M. Opitz ihrer Struktur nach als »ästhetische Vorausprojektion« eines in der Geschichte nicht eingeholten Reichsabsolutismus: Barockdichtung in Deutschland, S. 181. U . a . WA 11, 208, 27 (Predigt vom 6. 12. 1523) sowie WA Br. 2, 149, 10 (vom 28. 7. 1520): zur Lutherischen Lichtmetaphorik s. Martin Schmidt, Luthers Schau der Geschichte, S. 24 sowie H. Zahrnt, Luther deutet Geschichte, S. 238. W A 15, 38f.: die bekannte Rede »An die Ratsherren ...«. WA 42, 407: »Ac sane non exigua consolatio est, quod Deus imperia constituit, servat et tuetur, nec illa, ut plerumque putamus, vel crescunt, vel cadunt.« Vgl. H. Lilje, Luthers Geschichtsanschauung, S. 35/36 (Zit. aus Erlanger Ausg. Ex op, lat. 18, 321): »ut transferamus nos extra tempus et Dei oculis inspiciamus nostram vitam. . . . igitur de omni tempore nihil habemus, quam quod hune est, reliqua non sunt, quia aut abierunt aut nondum venerunt.« Daraus ergibt sich in der protestantischen Katechese als Sünde: »Nicht erkennen die zeit seiner heimsuchung / als ein hohe theure zeit / die niemandt soll lassen über gehen / Post haec occasio calva.« (Andreas Musculus: Prophecey und Weissagung / unsers Herrn Jesu Christi / von dem zunahenden Unglück über Deutschland, o . o . 1557. Das Zitat fol. F l v ) .

mysticum« und dem »regnum babylonicum« spielt sich ebenso in der Seele des einzelnen wie in der geschichtlichen Welt ab. Geschichte ist in der Spannung von »regnum corporale« und »regnum spirituale« letztlich bezogen auf einen »deus absconditus«, wird zum unbegreifbaren »Maskenspiel Gottes«, 49 eines Vaters, dessen strafende und liebende Zuwendung im gläubigen Vertrauen anzunehmen ist. 50 Luther denkt in einem eschatologischen Horizont, ohne eine innerweltliche Ordnung nach der »nova lex« des Evangeliums zu erwarten. 51 Die äußere Ordnung des Lebens und des Staates ist Sache von Recht und Politik, deren Eigengesetzlichkeit ebenso anerkannt wie als vorläufig und hinfällig betrachtet wird. »Punktualisierung« und »Verräumlichung« der Geschichte, die dem Welttheatermodell des Barock zugrundeliegen, 52 sind im protestantischen Geschichtsdenken angelegt, freilich ganz bezogen auf das heilsgeschichtliche Drama der Erlösung des Menschen und der »Erfüllung« der Geschichte, noch nicht verengt im Sinne einer profanisierten Interpretation, die das gelungene Rollenspiel des einzelnen nicht mehr nur zur Voraussetzung seines Heils, sondern zur Bedingung seiner gesellschaftlichen Qualifikation und Selbstbehauptung macht. Wie war angesichts dieser »Geschichtslosigkeit« der Orthodoxie eine humanistische Zeit- und Kulturkritik möglich, die sich vom Utopismus der »Schwärmer« wie auch von der Resignation eines reinen Fideismus gleichermaßen unterschied? Der christliche Humanismus melanchthonischer Prägung, der in der moralischen wie literarisch-sprachlichen Bildung den Ausgleich zwischen einem theokratischen

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Vgl. Martin Schmidt, Luthers Schau der Geschichte, bes. S. 34ff.; H. Lilje, Luthers Geschichtsanschauung, zum Maskenspiel Gottes spez. S. 76f. und S. 52ff. zur Geschichte als Kampffeld zwischen Gott und Satan; s. auch H. Zahrnt, Luther deutet Geschichte, S. 149ff., 152ff., ferner H.-W. Krumwiede: Glaube und Geschichte in der Theologie Luthers. Göttingen 1952ff., bes. 75ff. (Ableitung der exemplarisch-didaktischen Geschichtsinterpretation aus dem Prinzip des »nihil novi sub sole«, Geschichte als Kampf zwischen Gott und Satan). Der Befund einer eigentlichen »Geschichtslosigkeit« 50 Vgl. Musculus, zit. oben Anm. 61, fol. C iii j: »Darumb auch Gott nichts anders mit uns umbgehen wird / als ein natürlicher Vater / welcher dem Kind die ruth erstlich weiset / und stecket sie wider hinter den nagel / aber wenn die Warnung nicht helffen: und kein besserung folgen wil / so reisset er mit grim die ruth von der wand / und schmeisset zu als der Diebhecker.« Gott als Vater ist Typus der Obrigkeit überhaupt, deren Rechte und Pflichten im 4. Gebot verankert sind: vgl. E. Kinder: Luthers Ableitung der geistlichen und weltlichen >Oberkeit< aus dem 4. Gebot, in: Schrey (Hg.), S. 221f. 51 Zum eschatologischen Denken Luthers vgl. bes. die Aufsätze von Kinder und Althaus bei Schrey, S. 40ff. bzw. 105ff. 52 Man denke an das Modell der Geschichte als »Schauplatz«, auf den sich die historischexplikative Emblematik bezieht. Zum »theatrum mundi« ausführlich: Barner, Barockrhetorik, 86ff., bes. 91f. zur Spannung der theozentrischen und weltimmanenten Interpretation. Der Aspekt einer Aufhebung der Geschichte kommt bei ihm nicht in den Blick. W. Benjamin hat in seinem Buch über den »Ursprung des barocken Trauerspiels« die Differenzen der Zeit- und Geschichtsauffassung des Barock sowohl zu einer religiösen Eschatologie als auch zum Zyklusdenken der Renaissance vermerkt: vgl. bes. S. 71ff.; »Hier wie in anderen Lebenssphären des Barock ist die Umsetzung der ursprünglich zeitlichen Daten in eine räumliche Uneigentlichkeit und Simultaneität bestimmend« (S.74). 33

Transzendentalismus und der als notwendig erkannten ethisch-politischen Regulierung des gesellschaftlichen und individuellen Lebens versuchte, hat im wesentlichen zwei genuin humanistische Kategorien tradiert, in denen die Kontingenz geschichtlicher Erfahrung kritisch auf universalhistorische Abläufe zu beziehen war: zum einen den Begriff der »Barbarei«, zum anderen die Topik eines dem zyklischen Geschichtsmodell verpflichteten Denkschemas. Beide zusammen geben humanistisch akzentuierter Geschichtsdiagnose ihre charakteristische Kontur. Es ist nicht nötig, im einzelnen die zahlreichen Äußerungen nachzuweisen, in denen sich in und nach den sog. Sturmjahren der Reformation (1521-25) humanistische Literaten und Gelehrte ihrem Unmut über die antiakademische Polemik der Prädikanten, den Wegfall der Pfründen und die materielle Unsicherheit der Existenz Luft machten. 53 Die Konfrontation des Erasmischen Humanismus mit den rigorosen Vertretern des reformatorischen Gedankens bildet - geistesgeschichtlich gesehen - den ersten Anlaß zur Ausbildung humanistischer Kulturkritik im Verein mit einer pessimistischen Geschichtsprognose. Typologisch wird hier deutlich, wie sowohl Existenzprobleme wie Statuskonflikte der Zeitklage Impulse verleihen. Das Schlagwort vom »Untergang der Bildung« reflektiert die konkrete Verlagerung von Vorstellungen, nach denen sich bislang die Bewertung und Verwertung von kulturell-literarischen Leistungen vollzog. Das nachfolgende Zitat mag illustrieren, wie sehr die Klage der Humanisten die Erschütterung von Geltungsansprüchen artikuliert, genauer gesagt, die Tatsache, daß soziales Ansehen bedroht ist, wenn die Leistungen, auf denen es beruht, für wichtige Gruppen der Gesellschaft belanglos werden. 54 Die Wissenschaft ist um ihre Ehre gekommen, gutes Leben aber, Reichtum und Überfluß werden wundersam verehrt. Die Schulen stehen leer; zu den Hofdiensten, zur Kaufmannschaft, zur Alchimie und zum Bergbau läuft man am meisten. (Ü) 55

Die Ausbildung der städtischen und staatlichen Bürokratie, der kirchlichen Ämter, die Restitution der Schulen und Universitäten haben bekanntlich den Humanisten nicht nur von neuem Aufstiegschancen und einen festen Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie zugewiesen, sie haben auch das mittelalterliche »corpus scholasticum« als ständischen und die »res publica litteraria« als ideellen

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Vgl. Paulsen, Geschichte des Gel. Unterrichts, Bd. 1, S. 194f.; Janssen, Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 7, 178ff.; Roth, Erziehungs- und Schulwesen, 36ff. ; Hartfelder, Melanchthon, 542ff.; Krause, Hesse, Bd. 1, S. 335ff. u.ö.; Mertz, Schulwesen, 65ff.; Leo Stern, Melanchthon, 52ff. Vgl. die soziologischen Analysen und Differenzierungen von Kluth, Sozialprestige, S. 22ff. Georg Witzel (1501-73) 1533 in einem Buch, zit. bei Döllinger, Die Reformation, Bd. I, 1851, S. 113f.: » . . . Expers sui honoris est scientia, abdomen vero et tumor et opulentia mirifice colitur. Scholae deseruntur; ad aulas, ad emporias, ad Alchymiam, ad metallariam strenue curritur.« Döllinger gibt in seinem dreibändigen Werk eine Fülle von Belegen für die soziale Erschütterung des scholastischen Gelehrtentums im Gefolge des reformatorischen Antiklerikalismus.

Identifikationsraum wiederhergestellt. Beide bilden die Grundlage für die »Gruppenkultur« des Späthumanismus, beide definieren in der Beherrschung der »litterae« ihre spezifischen Kooptationskriterien und Zugehörigkeitsmerkmale. Diese bedingen damit die Teilhabe des einzelnen Gelehrten am gesellschaftlichen Status, welche der Gelehrtenschicht insgesamt zukommt. Das hohe Ansehen des Gelehrten im späteren 16. Jahrhundert ist Ergebnis und Kehrseite seiner Integration in die Zwecke von Kirche und Staat, jener Integration, die den Kompromiß des humanistischen Enzyklopädismus vor allem mit den theologisch formulierten Wert- und Leitvorstellungen der Epoche voraussetzte. Dieser im Ideal der »litterata pietas« formulierte Kompromiß erwies sich, wie man weiß, in der Auseinandersetzung mit der Orthodoxie von begrenzter Tragfähigkeit. Wichtig ist, daß die Selbstbehauptung des Humanismus gegen die »rabies theologorum« Muster der Zeitkritik hervorruft, in der im Rückblick auf die vergangene bzw. nicht, wie erhofft, eingetretene »Goldene Zeit der blühenden Wissenschaften« historisches Bewußtsein entwickelt wird. Dies läßt sich beim alten Melanchthon beobachten, 56 spiegelt sich aber darüber hinaus in einer Vielzahl von Texten. Wie sich ein literatenhafter Verkanntheitsmythos mit einer Dekadenzklage verbindet, in der sich die humanistische Kulturkritik auf die augustinische Endzeitperspektive einstimmt, belegt exemplarisch die Vorrede des Petrus Vincentius (1519-1581) - Schüler Melanchthons, Professor in Wittenberg und späterer Rektor des Breslauer Elisabethanums - zu den 1563 erscheinenden Epigrammen seines Lehrers: ausgehend von einer Anekdote bei Strabo sieht er den »musicus et poeta« einsam auf einer Insel zurückgelassen. Niemand findet sich, der das Werk seines »ingenium« höher einschätzt als die fauligen Fische. »Wenn unsere Klage doch falsch wäre, daß in diesem Greisenalter einer schwierigen und ungefälligen Welt sowohl der Gottesgelehrsamkeit, als auch fast allen freien Künsten, besonders aber den ehrwürdigen poetischen Studien das gleiche widerfährt.« (Ü) 57 Gewiß ist diese Argumentation von einem konkreten Anliegen bestimmt - die Apologetik der Vorrede impliziert das Werben um Leser - , lehrreich im Grundsätzlichen aber ist die Strategie, mit der die Bedürfnisse und Beschwerden einer einzelnen Gruppe gesamtgesellschaftlich verallgemeinert werden. »Ort« dieser Verallgemeinerung ist der Topos »de saeculo«. Die bedrohte Anerkennung der »litterae« wird darin zum Indikator allgemeinen Ruins, konkrete Erfahrungen fungieren als Symptome des Kulturverfalls, der alle betrifft, die Interessen des

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Vgl. die Vorrede Melanchthons zur ersten Ausgabe seiner Werke (C. R. IV, spez. 716): »Ac si illa aurea aetas, quam tunc reflorescentibus utcumque litteris sperabamus, secuta fuisset, fortassis laetiora, nitidiora et scholis gratiora scripsissemus. Sed fatalis discordia, quae postea secuta est, et mea studia conterruit, et ut fert temporum moestitia tristiorem et quasi lugubrem habitum orationi nostrae circumdedit.« Reverendi . . . Philippi Melanthonis Epigrammatum Libri Sex Recens Editi Studio & Opera Petri Vincentij Vratislaviensis. Witebergae MDLXIII; Epistola dedic. fol. ij v: »Item in hac difficili & morosa delirantis Mundi senecta tum doctrinae de Deo ( . . . ) tum artibus liberalibus doctrinae omnibus fere, & imprimis honestissimis poeticae studiis accidere falso queri possemus.« Zur Person des Autors s. A D B , Bd. 39, 735f.

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humanistischen Literaten werden mit den Gesichtspunkten der potentiellen Adressaten vermittelt und erhalten so erst appellativen Wert. Vincentius polemisiert gegen die Begünstigung der niedrigen, aber gewinnbringenden Künste der »mercatura«, gegen den Verfall des Lerneifers in den Schulen, gegen ein Mißverständnis, das allgemein um sich greift und in dem das »otium litterarium« als bloße »negocij inopia« begriffen wird. Kulturkritik ist hier offensichtlich Modus der Apologie gegen erwerbsbürgerliches Praxisdenken und merkantile Nutzungskriterien; Verteidigung der Poesie organisiert sich in einer herausgestellten Solidargemeinschaft mit der »doctrina de Deo« und partizipiert dadurch an deren unbestrittener Relevanz. Deutlich wird der sozialgeschichtliche Impuls der Humanistenklage - die Gefahr der Isolierung - , deutlich aber auch die akzeptierte Lösung des reformatorischen Zeitalters: der unbestrittene Konnex von Theologie und artes, von dem hier die Poesie profitieren soll. Vincentius sieht die Herausgabe der Melanchthonschen Epigramme als nonnstiftende Tat, er selbst fungiert dabei gleichsam als Statthalter vergangener Kulturhöhe, wie sie in der Leistung Melanchthons repräsentiert erscheint. Der Verfallsgedanke wird in einer Form erhärtet, die, wie bereits erwähnt, in der gesamteuropäischen Spätrenaissance verbreitet war, nämlich in der These von der Erschöpfung der »Natur«. Einer Spätzeit große Leistungen der Vergangenheit zu vermitteln ist wichtig, jedoch nicht von sicherer Hoffnung auf Nachfolge getragen: »... wenn man auch bekennen muß, daß bei einer täglich schwächer werdenden menschlichen Natur jene Geistesgröße abnimmt, die jenen alten Zeiten zu eigen war.« (Ü) 58 Vor allem die »philippistisch« gesonnenen Neulateiner des 16. Jahrhunderts haben im Typus der Zeitklage und Zeitkritik wie Vincentius Bildungsverachtung (»contemptus artium«) als Index allgemeinen Ordnungsverfalls betrachtet. Die Person Melanchthons wird zum Palladium gegen die Entartungserscheinungen der Zeit. Johannes Stigelius (1515-62),59 Jacob Micyllus (1503-58),60 Johannes Boce58

Ibid. fol. V3: »Etsi autem in languescente indies hominum natura eam excellentiam ingeniorum, quae antiquis illis seculis fuit, decrementa sumere fatendum est: tarnen hoc quoque & opus Dei & beneficium singulare censeatur, quod illorum summorum hominum monumenta inter fatales mutationes & ruinas regnorum & politiarum tarn multis seculis conservata sunt ad hanc usque extremam Mundi fatiscentis posteritatem, nimirum, ut nunc etiam extarent aliquae tanque normae, ad quarum typum atque exemplum a preclaris & divinitus ad hoc excitatis ingeniis formarentur Poemata, celebrantia veri Dei laudes & virtutum exempta aliasque res in vita bonas, elegantibus, doctis & sonoris versibus.«

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J. Stigelius: (Elegia) XXIIII, Scripta ad Philippum Melanthonem qua déplorât contemptum artium, in: Poematum Liber Quartus, Continens Elegiarum Libros Tres. Ienae 1568, Liber I, Eleg. XXIIII. Vgl. dazu Ellinger, Geschichte Bd. II, 74ff., spez. 84f. sowie ders.: J. Stigel als Lyriker, in: NJb f.d. klass. Altertum 20. Jg. Bd. 39 (1917), 374-398, spez. 385ff.; ferner A D B , Bd. 36, 228-30. J. Micylli Argentoratensis Sylvarum Libri Quinqué ( . . . ) . o. O. (Frankfurt) 1564; vgl. bes. S. 16-25: Epistola ad Philippum Melanchthonem, u.a. (S.21) » . . . Nam quotus est, aliquem veterum qui noscere vatem Nunc velit, aut dignum laude poema putet?

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rus (1516-65) schreiben gleichgestimmte Elegien an Melanchthon oder anläßlich seines Todes, in denen das furchtbare »saeculum« angeklagt wird. Sánete senex nostri quem non contagia sedi, Corruptum vitijs detinuere suis. Ecquid in antiquos iam tristis respicis annos, Praesentesque gemis degenerare dies? (...) Heu series nostri nimium deterrima seeli, Quam sunt haec variis tempora plena malis. Inclyta iam virtus premitur, iam languet honestas, Iam moritur si quod vixit in orbe decus. (...) Intactum vitijs nostri dementia sedi Nil habet, inverso quaque tenore ruunt. Integra si qua manent, pravis & moribus obstant, Protinus haec odijs versa, doloque cadunt.

Aut quotus est, studio qui vel Demosthenis ora, Vel tua Marce pater, liberiore colat? Cum Latijs aeque videas sordescere Graecos. Hei mihi Barbariae quanta fenestra patet.« Nicht nur die Kriegsunruhen, auch das gewinnträchtige Studium der Jurisprudenz zerstören die Blüte musischer Bildung (diese Klagen auch bei vielen anderen Neulateinern, etwa Sabinus oder Lotichius), das Goldene Zeitalter ist wahrlich ein »goldenes« (auch dies ein häufiges Wortspiel): »Lucrum est, quod petitur, magnique salaria census, Aureaque ista licet saecula iure voces.« Das »Epicedion in Mortem Simonis Grynei« (ibid. 25-32) zieht eine traurige Bilanz. Grundlegend ist der Vergleich der Gegenwart mit einer besseren Vergangenheit. Nach dem Tode von Erasmus, Budaeus, Eoban Hesse drohten Barbarei und Verfall, vor denen sich das eigene Tun als eigene Tun als heroische Leistung, als musische Standhaftigkeit in düsterer Zeit abhebt (S. 27f.): »O labor, o rerum quae post hac forma futura est, O quae nos, & quam barbara vita manet. Sic quoque tristis hiems, quoties festinat, & atra Impendent nubes, & sine luce dies. Decutiunt frondes properatae mane pruinae, Et squalent subito prata nemusque gelu. Quo tantos igitur refert cepisse labores? Quid toties noctu continuasse diem? Si frustra est quidquid miseri sudamus, & omne Labitur incassum quod vigilamus, opus. Ergo artes valeant, valeant cum carmine Musae, Hactenus & pulchri quidquid in orbe fuit.« (Unterstreichungen von mir - W. K.). Zur großen Zeitklage, zur Trauer um Deutschland zur Konfrontation der gegenwärtigen »Zweitracht« (»discordia«) mit dem mittelalterlichen Kaisertum und dem Mythos germanischen Heldentums (Arminius) erweitert sich die Perspektive des Micyllus in der »Querela De Miseriis Et Calamitatibus Mundi, & praesentis vitae ac temporis« (ibid. S. 82-88). - Vgl. zur Dichtung des Micyllus: Ellinger, Geschichte II, 28ff., spez. 35ff. sowie ders.: Jakob Micyllus und Joachim Camerarius in: JNb f. d. klass. Altertum. 12. Jg., Bd. 24 (1909), 150-173. Grundlegend die Monographie von J. Classen: J. Micyllus (...) als Schulmann, Dichter und Gelehrter. Frankfurt 1858, zur Zeitklage spez. 78ff., ferner ADB, Bd. 21, 704-708. 37

Aurea iam cani sapientia spernitur oris, Spernitur ingenio Musica turba suo. (...) Optima spernuntur, sed quae nova plurima surgunt, Nequitiam produnt, stultitiamque suam. Plus auro virtus prisco pollebat in aevo. At nunc impietas grandis, habere nihil. ( . . . ) Inspice praeteritos oculis intentibus annos, Quaelibet & revoca temporis acta tui Et status & rerum series, mundique figura, Peior ab hoc certe tempore nulla fuit. Scilicet occiduo déclinât vesper olympo Actaque fini tum scena recludet opus. Ipse senescentis lugens deliria mundi, Approperet finis docte Philippe rogas. .. ,61 (Heiliger Greis, den nicht die Seuchen unserer Zeit mit ihren Lastern verdorben haben. Was blickst du noch traurig zurück auf vergangene Jahre und beklagst die entartete Gegenwart? . . . Weh über den schrecklichen Tiefstand unseres Jahrhunderts, wie reich sind diese Zeiten an mannigfachen Lastern. Schon wird die ehrwürdige Tugend gedrückt, schon ermattet die Ehrbarkeit, schon stirbt in der Welt, - wenn er je lebte - , der Anstand. . . . Der Wahnsinn unseres Jahrhunderts hat nichts unberührt gelassen und alles stürzt ein, weil der Maßstab verkehrt ist. Wenn aber etwas unberührt blieb und sich den verdorbenen Sitten entgegenstellt, sofort wird es mit Haß überzogen und fällt durch List. Die goldene Weisheit des weißen Hauptes wird verachtet, verachtet wird die Musische Schar ob ihrer Begabung. . . . Verachtet wird das Beste, aber alles, was neu ist, steht auf, Nichtsnutz und eigene Dummheit kommen an den Tag. Mehr als das Gold vermochte die Tugend in alter Zeit, nun aber gilt, nichts zu haben, als großes Verbrechen. Verfolge mit aufmerksamem Blick die vergangenen Jahre und rekapituliere die Taten deiner Zeit, den 61

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Johannes Bocerus: Eligiarum Liber Primus. Lipsiae 1554, Lib. I, Elegia V: »Ad Philippum Melanthonem« (fol. C - C 2 v ) . Ich kann das Gedicht wegen seiner Länge nur bruchstückhaft zitieren. Nicht die Gestaltung des Ganzen soll deutlich werden, sondern nur die Struktur der Gedanken und tragenden Kategorien. Der Ausdruck »musische Schar« (»musica turba«) u.a. auch in einer Klage des J. Gigas: Sylvarum Libri IUI. Witebergae 1640, fol. Β 5 (hier die Schiffsmetaphorik): »Clio Musica saepe gravem perpessa est turba ruinam, Prorsus tarnen non occidit, Ast hodie nimijs & fortibus ista procellis Carina tandem solvitur, Humidus incumbit pennis luctantibus auster. (...)« Zu Gigas vgl. Ellinger, Geschichte II, S. 116, zu Bocerus ibid. S. 309ff. sowie NDB, Bd. 1, S. 339. Nicht nur die elegische Dichtung als Gattung der Klage greift das Thema der Bildungsverachtung auf, auch das Epigramm als polemische Form der Lyrik erweist sich als geeignet. Als Beispiel zu vergleichen etwa: J. Lauterbachij Lobaniensis ( . . . ) Epigrammatum Libri VI. Francofurti MDLXII: »De Cyclopico Studiorum Contemptu« (S. 84/85) sowie »Pro Literarum Et Disciplinae Conservatione« (S. 109). Die »Querela poeseos« (so noch das Thema von Tschernings Magisterrede, vgl. Borcherdt, Tscherning, 127 und 138) artikuliert wie viele andere ähnliche Gedichte der Humanisten die prekäre Situation des Literaten (vgl. das paradigmatische Epigramm des Euricius Cordus, Lib. I, Nr. 61, ed. K. Krause, S. 20f., ferner die verstreuten Beispiele bei Ellinger, Geschichte, Bd. I, 402, 484; II, 260). Die Argumentationsstruktur wird deshalb topisch, weil sich in ihr die gleichbleibend aktuelle Differenz zwischen beanspruchter und tatsächlicher Anerkennung humanistischer Literaturproduktion appellativ formulieren läßt.

Stand und Ablauf der Dinge, das Bild der Welt: sicherlich war keines schlechter vor dieser Epoche. Freilich senkt sich der Abend, wenn die Sonne sinkt, und die letzte Szene wird das vollendete Werk beschließen. Fragst du doch selbst, gelehrter Philippus, ob nicht das Ende der vergreisenden Welt herannaht, ihren Wahnsinn betrauernd. ...) Vor dem traurig rückwärtsgewandten Blick enthüllt sich die verkehrte Welt, eine wertvolle Erbschaft scheint vertan, Tugend und Laster stehen gegenüber, die Welt wird vom Geld regiert und von der Dummheit: es ist die »musische Schar«, die als Betroffene zugleich die Diagnose formuliert. Mit den Mitteln topischer Amplifikation, in Bildern endzeitlicher gestimmter Melancholie wird die Bedrohung eigener Wertordnungen zum Signum universaler Verderbnis. Es kann in diesem expositorischen Kapitel nicht die Aufgabe sein, diese und andere Klagen über die »Miseria saeculi« 62 auf ihren historischen Kontext bzw. auf konkrete Anlässe hin zu befragen oder sie mit älteren Texttraditionen und der zeitgenössischen Moraldidaxe in Beziehung zu setzen. 63 Jedenfalls steht dieses Schrifttum, was Optik, Topik, Erfahrungsgehalt und Intention angeht, in Analogie zu der entsprechenden Literatur des außerdeutschen Späthumanismus. 64 Das 62

Zu vergleichen wäre vor allem Joachim Camerarius: Votum Seu Preces. Poematium De Horum Temporum Miseria Et Cladibus. Lipsiae (1563). Dazu Ellinger, Geschichte II, 49 sowie ders. im oben (Anm. 60) erwähnten Aufsatz, S. 164ff. Camerarius empfiehlt dem einzelnen die Ruhe in Christus: diese religiöse Lösung der Probleme der Daseinsbewältigung gilt auch im 17. Jahrhundert, wird jedoch überformt von der neostoischen Ethik der »constantia«. Vgl. auch die Camerarius-Monographie von F. Stählin, bes. 69-71 sowie 99: »Insofern setzen die lauten und häufigen Klagen des 15. und 16. Jahrhunderts eine ausgesprochen bürgerliche Seelenverfassung voraus; darauf deutet ja auch, daß der Verfall in erster Linie als moralische Erscheinung aufgefaßt wird. Camerarius ist dafür ein Musterbeispiel. Weil er die Werte, die ihm als die höchsten erscheinen, Ehrbarkeit und gelehrte Bildung, von anderen mißachtet und beiseite geschoben sieht, glaubt er die Welt bereits dem Chaos ausgeliefert, und diese Angst vor dem Chaos ist bis zum heutigen Tage so eng mit dem Wesen des Bürgertums verknüpft geblieben, daß man das Chaos, bei seiner recht losen Beziehung zur politischen Wirklichkeit, geradezu als bürgerliches Mythologem bezeichnen kann.« - Ein kürzeres Beispiel der Zeitklage bei Joh. Posthius. Parerga Poetica. Würzburg 1580, fol. 53 ν, dort vor allem der Gesichtspunkt der Hoffnungslosigkeit betont: »... Nullaque spes melior venturo ostenditur aevo ...«; vgl. auch ibid. S. 99: »De vanitate huius mundi«. 63 Vgl. Martin Behrend: Zeitklage und laudatio temporis acti in der mittelhochdeutschen Lyrik. Berlin 1935 (= Germanische Studien, Heft 166); W. Rehm: Kulturverfall und spätmittelhochdeutsche Dialektik, bes. S. 305ff. 64 Typisch etwa Baptista Mantuanus: »De calamitatibus temporum« in: Op. omnia, Bd. 1 Antwerpen 1576, Iff.; zu französischen Beispielen vgl. Lenient, La Satire en France, I, 239ff.; allein in den Poemata des J. C. Scaliger (1574) finden sich »De barbarie sui temporis«(S. 49), »In contemptores literarum« (S. 209), »In barbariem huius saeculi« (S. 212), »De orbitate studiorum« (S.222), »De saeculi sui corniptione ad amicum« (S. 424), »In saeculi sui perfidiam« (S. 449) sowie S. 435 der Vergleich mit einer goldenen Zeit, die nicht historisch fixiert, sondern im Bild des arkadischen Mythos idealisiert wird: »Priscorum felicitatis cum aetate nostra comparatio«. Typologisch stellt dieses Gedicht den Übergang von der Zeitklage zur bukolischen Imagination dar und offenbar sehr deutlich den evasiven Charakter derartiger Poesie. Bei Scaliger bleibt der kritische Impuls, die Abwendung von der Gegenwart formuliert und präsent; dies ist nicht immer der Fall. 39

Thema » D e nostro seculo« bleibt von konstanter Aktualität bis ins neue Jahrhundert hinein: der Blick auf Veränderung und Endzeit der Welt, der Eintritt in das eiserne Zeitalter, die Perspektive des »Olim non erat sie« signalisieren konservatives Unbehagen, zugleich aber auch den Anspruch auf ungeschmälerten Besitz gültiger Wertmaßstäbe. 6 5 D i e s e sind in jener Art von Bildung inkorporiert und tradiert, die als »litterata pietas« in der Schule vermittelt und gegen die »Barbarei« der Zeit ins Feld geführt wird. Ein Gedicht von C. Barth mag Anspannung und Ohnmacht der rückwärtsgewandten Epochenschelte belegen. Es illustriert zugleich, daß es in der Klage um den Schwund von Tugenden eigentlich um die Erfahrung geänderter Zuweisung von »Prämien« und »Privilegien« geht: In seculum Fuere quondam seda, queis fuit Virtus, Achillis hodie nil valet, vafri cuneta Ulyssei persona; quisquís Heroum Gestare Clypeos, armaque acria affectat Vulpina ducat pectora; & Leoninos Vultus supina simiae exterat larva. Non proemia hodie, quippe praemium, Virtus Sibipte sola est, sed calumniae adfectat 65

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Vgl. Bauhusius, Epigrammata, 1618, 37f.: »De temporura nostrorum vitisjs, ad Odonem Rosianum.« »De tribus superesse nihil nil metallis Nil fulvi, niveique Cyprique, Tota at ferrea saeculi esse nostra ...« Aegidius Albertinus in seiner deutschen Übersetzung des »Horologium Principum« von A. de Guevara (1611) konstatiert (Vorrede, Bd. 1, S. 2 r/v): »Als der König Saturnus regirte hat man dieselbige zeit die Güldene zeit genent / nit darumb / daß sie von weisen Leuten ist vergult worden / sondern weil keine bösen Leuth verhanden waren / die von solcher gulden zeit das Golt hinwegk strichen. Die unsere Eysene (sie!) zeit wird auch nit darumb die Eysene genent / weil sie mangi hat der weisen und gelerten Leuten / sondern weil sie einen uberfluß hat der bösen. Gewiß und unglaubar ists / daß die Welt niemaln mit so vilen herrlichen und gewaltigen Lehrern und Scribenten staffirt unnd versehen gewest / als eben anjetzo / aber hergegn sehen wir / daß es niemaln weniger gefrüchtet als anjetzo.« Auch bei Hudemann wird die »eiserne Zeit« zur allgemeinsten Kategorie negativer Veränderungen und moralistischer Kritik: »Vorrede über den Hirrnschleiffer«, zit. bei Moerke, 1972, S. 228f.: »Es ist ein eysern zeit / darinnen wir jetzt leben / Dieselbe mancherley art Menschen thut außgeben ( . . . ) Ferner etwa A. Gravinus (1602), fol. 84ν: »De nostro Seculo...: »Aurea si quondam credendum secla fuisse Felix in toto quod status orbe fuit: Secla quis esse neget praesenti ferrea seclo, Infelix toto cum status orbe siet.« Typische Zeitklagen auch H. Meibomius: »De nostro seculo«, »Saeculi perversitas«, in: J. Gruter (Hg.), Delitiae Poet. Germ., Frankfurt 1612, Pars IV, S. 317; zyklisches Geschichtsmodell auch bei M. Zuberus: »Ad Germaniam ...«, in: Poematum Pars Altera, 1627, S. 372; Z. Lundius: »Miseria seculi«, in: Poemat. Juvenil., Hamburg 1635, 67f.; eine klassische »laudatio temporis acti« bei M. Kempius, Poetische Lust-Gedankken, 1665, S. 9 Nr. X:»Vom vorigen Zustande. Olim non erat sie«.

Fugam potentis. [...] Praevaricatur seculo, sapit quisquís. Furit omnis ordo, ne Poeticum dicas. In privilegia orbis ingruit Vatum. Et nos miselli, quid sit utile & sanctum, Libris sepulti disputamur in magnis? Sanctum profanum est, utile utile est ventri, Avarum honestum, sanguinis sitis virtus, Crudelitas est innocentia, stuprum Est Castitatis norma; caeteris parco. (Einst gab es Zeiten, die Tugend hatten, heute bedeutet die des Achilles nichts, alles die Maske des listigen Odysseus; wer auch immer der Helden den Schild und scharfe Waffen zu tragen begehrt, soll ein wölfisches Herz tragen und das Antlitz des Löwen ersetzen durch die stolze Larve des Affen. Es gibt keine Belohnungen heute, weil die Belohnung, die Tugend, zwar sich selbst genug ist, aber die Ränke des Mächtigen zu vertreiben trachtet. [...] Pflichtvergessen ist das Zeitalter, ein jeder ist weise. Jeder Stand wütet, daß man ja nichts Poetisches sage. Die Welt stürzt auf die Privilegien der Dichter. Und wir Armseligen disputieren, begraben unter dicken Büchern, was nützlich und heilig ist? Heilig ist das Profane, nützlich ist der Nutzen des Bauches, Habgier ist ehrenhaft, Blutdurst ist Tapferheit, Grausamkeit ist Unschuld, Schande Norm der Keuschheit; ich schweige vom übrigen.)66 Noch ist der Archimedische Ort des Kritikers unerschüttert, er objektiviert und problematisiert sich aber im Bild des unter Büchern begrabenen Gelehrten, um den sich die Welt nicht kümmert. D a ß es sich hier wie in den anderen Gedichten, vor allem den Elegien um »gebundene Rede« handelt, um epideiktische Lyrik, ist offensichtlich. Das rhetorische »genus demonstrativum« umfaßte ja nicht nur die Formen der Paraenese, sondern strukturierte auch Tadel und Klage. Laudatio und vituperatio hängen zusammen, insofern sie nach Wert und Unwert einer Sache fragen, also sich auf den »status qualitatis« beziehen. Für eine pragmatische Interpretation ist die negative, tadelnde Variante der Epideixis ergiebiger, weil sie positiv Normen impliziert, an denen gemessen wird. 67 Es ist also nicht weiter auffallend, daß Zeitklagen wie die oben erwähnten auch Eingang in die Praxis der rhetorischen Deklamation gefunden haben. Entsprechend der hier verfolgten Problematik sind jene Beispiele interessant, in denen

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Tarraei Hebii (d. i. C. Barth) Amphitheatrum Seriorum Jocorum, Libris XXX Epigrammatum constructum. Hanoviae MDCXIII, S. 475. Näheres zum Verfasser in anderem Zusammenhang. G. J. Vossius weist z. B. in seinem großen Lehrbuch ausdrücklich auf die reziproke Beziehung von Lob und Tadel hin: »sane qui laudandi rationem cognitam habebit, facile vituperandi modum noverit: ut in quo omnia haec invertere oporteat« (Comm. Rhet. Libri Sex. Marburg 1681, Lib. I, cap. V, § XXX, S. 90). Zur oratio »lamentatoria«, also der Klage führt Vossius aus (ibid. Lib. III, cap. VII, § XIII, S. 418): »Lamentatoria tum calamitates exponit, & amplificat, quo alios ad misericordiam concitet: tum odium ejus gignit, a quo quis malum accepit; tum metum parit in auditore, quia ostendit, quae uni contigerunt, aliis quoque accidere posse«. Als Wirkungsabsicht also auch der »Hass« auf den Urheber des Übels. . . . 41

sich die epideiktische Argumentation historischer Kategorien, also des Topos »de saeculo«, bedient und zugleich die Frage nach dem Schicksal der »litterae« thematisiert wird. In diesen Fällen läßt sich beobachten, an welchen Punkten und in welchem Kontext die Historizität des Humanismus, d. h. also - von heute aus gesehen - seine Spätzeitlichkeit im Sinne angefochtener Kontinuität zur Sprache kommt. Wie gesagt, soll im Mittelpunkt eine 1622 gehaltene Rede Matthias Berneggers stehen. Sie verarbeitet im Horizont aktueller Erfahrungen traditionelle Muster eines kritisch-apologetischen Traktatschrifttums, in dem die Frage nach der Verachtung der »Studien« und die Prognose der drohenden »Barbarei« im Mittelpunkt stehen. Offenbar gewinnt diese Perspektive im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts erneut an Dringlichkeit. Davon zeugt u.a. die 1578 erschienene weitläufige Rede »De barbarie imminente« von Caspar Hof mann, Dekan der philosophischen Fakultät in Frankfurt an der Oder. 68 Die Rezeption dieser Schrift weist auf die Bedeutung der hier verhandelten Fragen. Sie wurde 1620 mit einer kritischen Abhandlung von Caspar Dornau, dem Lehrer des Martin Opitz, gedruckt, beide Texte erscheinen dann noch - dazwischenliegende Editionen sind nicht auszuschließen - 1726 mit der verwandten Abhandlung eines gewissen Joachim Negelein in Nürnberg und schließlich noch 1747 zusammen mit dem Traktat eines gewissen Andreas Christian Eschenbach (»De imminente barbarie«).69 In Rostock spricht der Graecist Johannes Posselius d. J. (1565-1623) über das gleiche Thema 70 und 1602 erscheint in Köln die längere Schrift eines gewissen Maturinus Simonius mit dem bezeichnenden Titel »De litteris pereuntibus«. Sie wird im Jahre 1618 neu aufgelegt und noch einmal im Jahre 1716 gedruckt. Wohl

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Jöcher identifiziert Hofmann irrtümlich mit dem Altorfschen Mediziner gleichen Namens, er wird korrigiert in Adelungs Nachträgen, Bd. 2, S. 2054. Hofmanns Rede, beiläufig ausgewertet bei Janssen, Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 7, S. 375ff. sowie bei Döllinger, Reformation I, 509-511, der auch weitere Beispiele erwähnt. 69 Caspar Dornavius: Ulysses scholasticus, Hoc est, De erroribus, qui in scholis, quas appellant trivialibus, admittuntur, Dissert, duplex. Accessit Casparis Hofmanni De barbarie oratio. Hanoviae 1620. Dornaus Abhandlung erschien ursprünglich 1619 in Görlitz und findet sich auch in der ebd. 1677 von Antonius Schmiedt herausgegebenen Sammlung seiner Reden, Bd. II, S. 300-372. Eine Übersetzung von Dornaus »Ulysses« erschien noch 1788 in Campes Braunschweigischem Journal, Jg. 1, Bd. II, 191ff., X, 186ff. und XI, 273ff. von J. Stuve. Zu Dornau spez. vgl. unten Kap. Β V. - Ulysses Literarius Sive Oratio de Singularibus Et Novis Quibusdam Ex Orbe Literato qua in Auditorio Egidiano Norimberg. d. XX. Mart. A. C. MDCCXXV Eloquentiae Poeseos Et Graecae Linguae Professionem Publicam Auspicatus est Joachimus Negelein Aed. Div. Mariae Et Dominic. Antistes. (...) Norimbergae 1726. - Eschenbachs Rede war mir nicht zugänglich. Sie erschien angeblich in seinen Dissertationes academicae, Nürnberg 1705, schließlich in Frankfurt 1747, hg. von Johann Baptist Decker. 70 Joh. Posselius [d. J.]: Orationes octo habitae in publicis congressibus Academiae Rostochiensis. Francof. MDXIC (Nr. 5). Von mir wird ebenfalls u.a. herangezogen Jac. Bruno: Oratio de causis politiori litteraturae ruinam inferentibus. Conscripta & recitata in Academia Noricorum Altorphiana. Alt. 1622. Zu Posselius vgl. (außer Jöcher usw.) Otto Krabbe: Die Universität Rostock im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, Rostock 1854, ferner Moller, Cimbria litterata, II, 661-65 sowie ADB, Bd. 26, S. 461.

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diese Edition hat noch Herder mit Interesse studiert.71 Auch andere Späthumanisten und humanistisch beeinflußte Theologen haben sich mit dem Thema des Kulturverfalls beschäftigt, darunter z.B. der lutherische Reformtheologe Johann Mattheus Meyfart mit seinem 1636 erschienenen kompendiösen Manifest über die »bey dißen Elenden Zeiten eingeschlichene(n) Barbarey«. Die Rede Berneggers ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund der bisher verfolgten Tradition zeitkritisch-apologetischer Selbstbehauptung des Humanismus. Bei Bernegger freilich geht es um mehr: die Verfallsklage wird selbst zum Thema und auf ihre Berechtigung hin befragt. Es wird nicht einfach die Bedrängnis der litterae als Symptom des Kulturverfalls deklariert, sondern das »Greisenalter der Studien«, d.h. ihre eigene historische Überständigkeit steht zur Debatte. Das Schicksal des reformatorischen Humanismus selbst unterliegt somit den Gesetzen der Historizität, die Frage nach dem Verfall der Kultur erweist sich nicht mehr nur als Topos rhetorischer Aggression, sondern als Resultat eigener Betroffenheit. Diese Wandlung der Optik signalisiert veränderte Ausgangspositionen des Redners. Bernegger gehört zu einer Generation von Späthumanisten, die unter dem Einfluß der »niederländischen Bewegung« und im Rahmen einer politisch-historischen Philologie den »Verbalhumanismus« des 16. Jahrhunderts überwindet. Dies näher zu erläutern heißt zugleich, an einem konkreten Beispiel wesentliche Faktoren der barocken Literaturentwicklung sichtbar zu machen.

3) Paradigmenwechsel: Matthias Bernegger (1582-1640) als Vertreter der politisch-historischen Philologie des Frühbarock Der Mann, von dem hier zu sprechen ist, bekleidete von 1613 bis zu seinem Tode das Amt des Professors für Geschichte an der Universität Straßburg, von 1626-1629 nahm er daneben auch die Aufgaben des »orator academicus«, d. h. des Professors der Rhetorik wahr.72 Sein Name ist in der deutschen Literaturgeschichte nicht unbekannt. Obwohl noch weniger als der Wittenberger »professor humanitatis«, Augustus Buchner, selbst poetisch produktiv, gehörte Bernegger zu den Mentoren der aufblühenden deutschsprachigen Dichtung. Sein begeistertes

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Herder an Hamann, 16. Aug. 1766: »Ihren Fabriz brauche tapfer und will bald remittiren, wogegen ich mir - aber nicht eher, als bis ich Zeit habe zu lesen, den Muratori ausbitten will, zu durchlaufen. Das Buch de pereuntibus litteris bin ich begierig zu lesen ( . . . ) « . Es handelt sich wohl um die (mir nicht zugängliche) Ausgabe von Joh. Hermann v. Eiswich: Maturini Simonii de Literis pereuntibus Libellus ab ipso iterum editus, & praefatione atque annotationibus illustratus. Francofurti & Lipsiae 1716. Vgl. dazu mit Nachweis zeitgenössischer Rezensionen den Artikel in: Cimbria Litterata, Bd. I, 157f. sowie zu Eiswich auch die Daten in A D B . Diese Edition auch angeführt in Thomasius' Summar. Nachrichten, Bd. 2, S. 678. Zur Person vgl. NDB II, 106/07 sowie E. Berneker (1973); wertvoll, jedoch nicht immer zuverlässig und in Fragestellung und Methode veraltet ist die Monographie von C. Bünger, 1893.

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Plädoyer für die deutsche Sprache, enthalten im »Suetonianischen Fürstenspiegel« (1625), wurde ζ. B. von Klaj zitiert und als autoritative Unterstützung im Streben nach einer muttersprachlichen Kultur verstanden. 7 3 Opitz erfuhr von Bernegger Rat und Hilfe; er war mit ihm in Kontakt durch den pfälzischen Rat und Prinzenerzieher G. M. Lingelsheim getreten. 7 4 D a ß wir Bernegger als eines der »Häupter« des deutschen Späthumanismus ansehen dürfen, vermag allein der Blick in den von Reifferscheid herausgegebenen Briefwechsel zu beweisen. 7 5 Deutlich ergibt sich hier das persönliche Profil eines im nationalen und internationalen Kommunikationsnetz der Gelehrtenrepublik hoch angesehenen Mannes, dem überdurchschnittliche Offenheit für die geistige und wissenschaftliche, aber auch politische Situation der Zeit bescheinigt werden kann. Bernegger war - um nur weniges herauszuheben - Förderer des »Neuen« nicht nur auf dem Sektor der »schönen« Literatur und Poesie, 7 6 auch als Liebhaber und Kenner von Mathematik und Astronomie genoß er weitreichende Autorität. Davon zeugen sein Briefwechsel mit Kepler, vor allem aber die Übersetzung von Schriften Galileis, darunter des »systema cosmicum« (1635). 77 Nach Tübingen, zu Besoldus, Schikkard und Andreä, in den Kreis der um moralische Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens bemühten »societas Christiana«78 ergeben sich ebenso Verbindungen 73

Vgl. Klaj, Lobrede der Teutschen Poeterey, 1645, S. 24; zu Zincgref s. Reifferscheid, S. 795. 74 Bereits Opitz' Freund C. Kirchner hatte 1615-17 in Straßburg studiert; Bernegger überwachte den Erstdruck der Opitz'schen Gedichte (1624) und lieferte Geleitverse; Opitz' lat. Poemata, hg. 1631 von B. W. Nüßler, wurden Bernegger gewidmet (Reifferscheid, 886f.); vgl. bes. Szyrocki, Opitz, 35f., 59f.; ferner Höpfner (1880); allein von 1624-1629 waren 120 Schlesier in Straßburg immatrikuliert (so Schöffler, 49). Zu Berneggers Tätigkeit als Korrektor und Herausgeber, zu seiner Unterstützung von Studenten und Freunden geben die bei Reifferscheid abgedruckten Briefe Auskunft (s. den Index). - Zur Bedeutung des Professors für Harsdörffer vgl. Bischoff, lOff. ; W. Kayser, Die Klangmalerei, 33. - Zum Kreis um Lingelsheim grundlegend der Aufsatz von Mertens (1974). 75 Neben dem Briefband von Reifferscheid (1889) sind für eine detaillierte Beurteilung Berneggers die posthum hg. Briefwechsel mit H. Grotius (1667, 2. Aufl. 1670), mit Kepler (1672) und mit dem Tübinger Mathematiker Schickard (1673) heranzuziehen. Briefe zwischen Bernegger und Johann Freinsheim wurden 1905 von E. Kelter herausgegeben. Dazu kommt ein 1670 erschienener Sammelband mit Briefen u. a. an Galilei und Salmasius. Zu Schickard vgl. Seck (1975); Reifferscheid, S. 958. 76 Ungeklärt ist die genaue Beziehung Berneggers zur Straßburger Tannengesellschaft: vgl. die neueren Ergebnisse und Überlegungen von W. E. Schäfer, in: Daphnis 5 (1976), bes. 130ff. und 536ff. 77 Der Kontakt mit Kepler bestand seit 1613; Bernegger richtete die Hochzeit von Keplers Tochter aus: vgl. insgesamt J. Hemleben, Kepler, 127f. Zu Berneggers Übersetzungen Galileis s. Bünger, 61ff.; zahlreiche Briefdokumente bei Reifferscheid, bes. S. 922ff.; s. auch J. Hemleben, Galilei, S. 140f. 78 Über Andreä jetzt zusammenfassend die materialreiche Biographie von J. W. Montgomery, 2 Bde., 1973, vgl. spez. S. 70, 176f. Andreä nennt in seinem Plan der »societas Christiana« u. a. noch J. Gerhardt und J. Saubert, also Vertreter der lutherischen »Reformorthodoxie«; vgl. ferner Peuckert, Rosenkreuzer, 180f. sowie spez. G. H. Turnbull: J. V. Andreaes Societas Christiana. A Modell of a Christian Society, in: ZfdPh 74 (1955), 151-185. 44

wie zu den Größen des europäischen Späthumanismus, zu Grotius 79 und Janus Gruter, einem der bedeutendsten calvinistischen Emigranten. 8 0 Kein Wunder, daß Berneggers Treiben von der lutherischen Orthodoxie mißtrauisch beäugt wurde: die Beschuldigungen des Synkretismus und Kryptocalvinismus, die schon Johannes Sturm das Leben verbittert hatten, trafen auch ihn, bezeugen das Erasmische Erbe, das in seiner Person lebendig war. 81 Die »Tuba pacis« (1621), ein Aufruf zum Frieden zwischen den Konfessionen, ein Appell zur Wiedervereinigung der gespaltenen Christenheit muß als der vornehmste Beweis dieser »irenischen« Gesinnung gelten. 8 2 W o liegt das organisierende Zentrum dieser Aktivitäten, w o liegt der eigentliche Grund dafür, daß Bernegger zu Lebzeiten und erst recht nach seinem Tode als »Vir . . . fama per Universum Orbis Nobilis«, 8 3 als Hirtenheros Daphnis 8 4 gefeiert 79

Vgl. den erwähnten Briefwechsel; unter dem Pseudonym »Theodosius Irenaeus« ließ Bernegger 1628 einen »Syllabus autorum irenicorum« drucken; Verfasser war der französische Gelehrte Francois Hotman, Mitarbeiter Heinrichs IV. von Frankreich, Sohn des berühmten hugenottischen Publizisten. Hotmann wurde durch Grotius und Lingelsheim auf Bernegger verwiesen: vgl. O. Schiff: Zur Literaturgeschichte der kirchlichen Einigungsbestrebungen, in: Nederlandsch Archief voor Kerkgeschiedenis 30 (1938), 35-39; Bünger, 206f. 80 Zu Gruter vgl. die Monographie von Smend; über ihn und die anderen Emigranten vgl. R. v. Roosbroek: Die Beziehungen der Niederländer und der niederländischen Emigranten zur deutschen Gelehrtenwelt im XVI. Jahrhundert, in: H. Rössler (Hg.), Universität und Gelehrtenstand, 107-121; vgl. auch H.Schneppen, 1960, zu Bernegger S. 121, U. Bornemann, 1976, 25ff. 81 Zum Schicksal Sturms vgl. Sohm, bes. 236ff.; zu den Straßburger Theologen J. Schmidt, J. G. Dorsch und J. C. Dannhauer vgl. Adam, Kirchengeschichte der Stadt Straßburg, 384ff.; ferner jetzt W. E. Schäfer (1976), bes. 542f. (zu den Spannungen zwischen Bernegger und den Theologen); ferner Bünger, bes. 200ff.; in einem Brief vom 26./28. Juni 1644 an Andreä redet Schmidt von Bernegger zwar mit einem gewissen Wohlwollen, beklagt jedoch seine »lubricitatem & religionem ambulatoriam Besoldinae plane similem« und nennt ihn »gentilibus studiis penitus abruptum & mancipatum« (abgedruckt in: Patriotisches Archiv f. Deutschland VI, 1787, S. 336). 82 Zur »Tuba pacis« im Zusammenhang vgl. Bünger, 173ff. ; Waltraud Foitzik: Tuba pacis. M. Bernegger und der Friedensgedanke des 17. Jahrhunderts. Diss. phil. Münster 1955; J. H. Schölte: Der Simplicissimus und sein Dichter. Tübingen 1950, spez. 19ff.; zum Erasmischen Erbe im Leidener Kreis um Lipsius s. Oestreich, Geist und Gestalt, 104; Flitner, 94ff.; Berneggers »politische« Mentalität, seine Nähe zu den französischen »Legisten« des späten 16. Jahrhunderts, die aus den Wirren des Bürgerkrieges heraus den Staat als ordnungs- und friedensstiftende, eigenständige Macht begriffen, zeigt sich besonders in seiner Rede »Über die Amnestie« (1624, abgedruckt in: Or. academicae, 1640, S. 113-47) als Mittel des politischen Ausgleichs; es wäre zu überprüfen, ob er sich direkt auf die seinerzeit berühmte und mehrfach gedruckte Rede »De l'Amenstie« bezieht, die M. Antoine Loisel, »Advocat« Heinrichs III. von Frankreich, im Oktober 1582 in Angers gehalten hatte: dazu ausführlich: R. Schur, Die französischen Juristen, spez. 36ff. 83 Aus der Einladung zum Leichenbegräbnis, zit. bei Bünger, S. 388f.; vgl. die Würdigung in der »Laudatio Funebris« von J. H. Boeder, zuerst Einzeldruck 1640, einbezogen in: Orationes et Programmata, 1705, 155-185. 84 In: Luctus in tristem obitum Eruditorum Luminis DN. MATTHIAE BERNEGGERI . . . , Straßburg 1640, unpag.; eine Sammlung von Trauergedichten u.a. von Boeder, 45

wurde, daß er eine Schule von Gelehrten bildete, die - wie J. Freinsheim, sein Schwiegersohn, und J. H. Boeder, den z.B. Gryphius in Straßburg aufsuchte 85 zu den berühmtesten des Jahrhunderts gehörte? Die Antwort ergibt sich im Hinblick auf seine Lehre und die daraus sich abzweigenden Publikationen. Sie zeigen, daß Bernegger der herausragende Repräsentant einer Geschichtswissenschaft und Philologie war, welche auf der Basis der humanistischen Textlektüre und Textexegese die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Probleme der eigenen Gegenwart ganz bewußt in den Mittelpunkt stellten. In den Berichten der antiken Historiker suchte er weniger die Kunde einer idealisierten Vergangenheit, die Botschaft einzuholender Größe als vielmehr übertragbare Verhaltensmuster und Präzedenzfälle für die epochale Neuordnung des öffentlichen Lebens. Geschichtlich überlieferte Handlungsmodelle wurden auf diese Weise mit den konkreten Erfahrungen, den Verwertungs- und Applikationsbedürfnissen eines Publikums vermittelt, dessen Interesse an beruflicher Qualifikation und privater Orientierung Wissen und Wissenschaft als Selbstzweck ausschloß. Für die Elite der barocken Beamtenaristokratie erschien eine antiquarische oder nur private, d. h. philologisch-formale Beschäftigung mit der Antike wenig zweckmäßig. Auch die humanistischen »artes« hatten sich den dringlich empfundenen Problemen zu stellen, deren Lösungen tiefgreifende Konsequenzen auch für das individuelle Schicksal einschlossen: den Fragen nach einer jenseits der theologisch-konfessionellen Gräben möglichst konfliktfrei zu organisierenden Gesellschaft, der darauf bezogenen sinnvollen, d.h. aber Stabilität und Sicherheit verbürgenden Staatsordnung, den damit zusammenhängenden Postulaten von Herrschaft und Gehorsam und einer politisch zu formulierenden öffentlichen und privaten Rationalität und Moralität. Durch den Bezug auf die Praxis des außerakademischen Lebens gehören Berneggers Schriften zu der in den ersten zwei Jahrhunderten des 17. Jahrhunderts nun auch in Deutschland massiv und auf breiter Front einsetzenden »Welle« politischer Literatur, in der von verschiedenen Positionen aus, in divergenten literarischen Formen die Aspekte und Fragen der neuzeitlichen Staatsbildung thematisiert wurden. 86

85 86

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Gloner, Dorsch, Schmidt, Wolfgang Forstner; ein Trauergedicht Moscheroschs veröffentlichte Erich Schmidt, in: Zts. f. dt. Altertum 23 (1899), 72f.; Christopherus Colerus, der 1627/28 in Straßburg studierte, nannte Bernegger in einem längeren Namenstagsgedicht »Aufendthalt der Kunst Götinnen / Unsrer Zeutten rühm undt ehr« (abgedruckt bei M. Hippe, Chr. Köler, 145f.), in einem Brief an Opitz »columen inclinantium litterarum«; Opitz selbst spricht vom »ornamentum Germaniae« (Reifferscheid Nr. 413, Z. 15, bzw. Nr. 427, Z . 2 9 ) . Zum Aufenthalt von Gryphius in Straßburg s. W. Flemming, Gryphius, 56ff. J. H. Boeder beschreibt den Vorgang sowie den Anstoß Bodins in seinen »Dissertationes Politicae«, 1674, S. 313/14; »Cum instauran coepissent studia, plerique magnorum virorum, commentariis in Aristotelem & Platonem scribendis occupabantur aut dissertationes componebant de singularibus argumentis politicis. donee post Bodini, Andreae Fricii, Gregorii Tholosani Systemata ingens cupido & certamen Politica scribendi Systematice, saeculum invasit, & usque ad nauseam ac ineptias in hunc diem increvit.« H. Conring bemerkte ironisch, daß die Deutschen ihre Verspätung in den politischen

Als Wissenschaft, d. h. als Theorie von den Staatsformen und den Pflichten des Herrschers war Politik seit der mittelalterlichen Aristotelesrezeption neben Ethik und Ökonomie Teil der praktischen Philosophie. 87 Die hieraus erwachsenden Aristoteleskommentare bildeten auch nach 1600 noch ein Rückgrat der politischen Diskursliteratur. 88 Daneben traten andere, heterogene Textgruppen. Ihre Differenzierung deutet zugleich den Komplex von Problemfeldern und thematischen Konstellationen an: zu unterscheiden sind die großangelegten Systementwürfe »de república«, 89 daran sich anlehnende, jedoch vor allem die spätestens

Wissenschaften gegenüber den Franzosen und Italienern durch die Menge der Publikationen aufholen wollten: De civili prudentia, cap. XIV, S. 361. Das mit weitem Umblick und stupender Gelehrsamkeit geschriebene Werk von H. Dreitzel (Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat, 1970) darf als die neueste und beste Einführung in die politische Literatur und politische Wissenschaft des europäischen Frühbarock gelten; vgl. hierzu die historischen und systematischen »Grundlagen der Politischen Wissenschaft«, Kap. II, S. 87ff. 87 Zum systematischen Ort der Politik in der Wissenschaft s. Hennis, 1963; H. Dreitzel, bes. 59; hier auch S. Iff., ein umfassender Forschungsbericht; zur Politik an den deutschen Universitäten bes. H. Maier, 1962; zur Entwicklung des Begriffs »politisch« im 17. Jahrhundert bes. Frühsorge, 45ff.; 74ff. sowie Barner, Barockrhetorik, 135ff. (»Die >politische< Bewegung«): beide konzentrieren sich im wesentlichen auf die muttersprachliche Literatur, damit aber auf die Spätphase eines Prozesses, der bereits am Anfang des Jahrhunderts in Gang kommt. Bereits zu diesem Zeitpunkt ist - anders Frühsorge, 75 die Auffassung der Politik auch in Deutschland durchaus nicht mehr nur vom Aristotelismus oder von der christlichen Regimentslehre beherrscht. 88 Einen Überblick gibt H. Dreitzel, S. 136; spez. zur Aristoteles-Schule in Helmstedt (Caselius, Arnisaeus, Conring) Kap. I, S. 13ff.; vgl. auch Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie in Deutschland, bes. 182-86. Wichtig ist die seit dem 16. Jahrhundert vordringende Uminterpretierung des Begriffes »res publica«: gemeint ist nicht mehr »civitas« als Form der Vergesellschaftung (»societas«) freier Bürger, sondern »politia« - »Policey« als Herrschaftsordnung. An die Stelle der demokratischen tritt eine obrigkeitliche Aristoteles-Interpretation. Politik konzentriert sich auf den Staatsapparat bzw. vor allem im 17. Jahrhundert auf den Souverän und das »regiment«. Diese Entwicklung mündet in die absolutistischen Staatstheorien, die gesellschaftliche Existenz außerhalb der Familie nur als staatlich geordnete begriffen, d. h. aber den Bürger in den Untertan verwandelten (so Bodin). Gegen diese Ausdeutung des Aristoteles bleibt freilich Widerstand lebendig: so etwa bei Arnisaeus, vielen theologisch orientierten Theoretikern, aber auch bei den calvinistisch-»bürgerlichen« Niederländern, wie etwa D. Heinsius (vgl. die Verteidigung des Aristoteles gegen Bodin bei Reifferscheid, S. 750f.). Zur Gesamtentwicklung s. H. Dreitzel, bes. 344ff. 89 Zu den verschiedenen Textgruppen s. H. Dreitzel, bes. 154ff.; von deutschen Autoren kommen für das frühe 17. Jahrhundert besonders in Frage die Werke von Althusius, Keckermann, Arnisaeus, Besoldus, Kirchner, Schönborner, dazu - von katholischer Seite - etwa die »Politicorum libri decem« des Jesuiten Adam Contzen. Ich verzichte hier wie in den folgenden Anmerkungen auf die Auflistung der speziell von mir herangezogenen Werke und verweise auf das Literaturverzeichnis; Einzelbelege und Erläuterungen jeweils an Ort und Stelle. Zu Althusius vgl. die SpezialStudie von P. J. Winters, zu Contzen die systematische Untersuchung von E. A. Seils. Vornehmlich auf der muttersprachlichen Ebene existiert eine wesentlich konservativer ausgerichtete Literatur: sie umfaßt einerseits Traktate im Gefolge der christlichen Ständepredigt, der mittelalterlichen Fürstenspiegel und Regimentslehren (v. Osse, Lauterbeck u.a. - vgl. generell

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seit Bodin aktuelle Problematik herrscherlicher Souveränität behandelnde, in der Regel ebenso enzyklopädisch wie hodegetisch strukturierte Lehrbücher,90 die verzweigte Traktatliteratur des »jus publicum«,91 dazu die sich mit Machiavelli auseinandersetzenden Beiträge zur Theorie und Praxis der Staatsräson92 und das sich aus der Moralphilosophie als Doktrin der »civilis prudentia« entwickelnde neostoizistische Schrifttum in der Nachfolge der »Politik« (1589) des Justus Lipsius.93 Zahlreiche Sammlungen von akademischen Dissertationen, Observatio-

H. Dreitzel, 160ff.), andererseits biblizistisch argumentierende »Policey«-lehren (Reinkingk, Schupp) oder pragmatische Handbücher wie die »Aulico-Politica« des G. E. v. Löhneyß (1552-1662, ausführlich dazu H. Dreitzel, 162ff.)· Verfasser dieser Werke waren in der Regel nicht Fachgelehrte, sondern Theologen oder Praktiker. Dementsprechend dominiert im Vergleich zur akademischen Politikwissenschaft die bewußt anwendungsbezogene Zielsetzung und die Orientierung an einem patriarchalischen Staatsverständnis. Die Fragen der Gesellschaftsordnung werden unter den Gesichtspunkten der Amts- und Standesethik behandelt; der pädagogisch-moralistische Grundzug entspricht einer personalistischen Definition von Politik als fraglosem Komplement der Ethik. Die Eigenrationalität des Politischen versteht sich nur innerhalb der Ordnungslehre der Policey, nicht aber im Hinblick auf deren Telos bzw. auf eine weltimmanente Logik gesellschaftlichen Verhaltens. Zur älteren deutschen Polizeiwissenschaft vgl. H. Maier (1966) sowie G. Oestreich, Policey (1976); ferner Frühsorge, 61ff. 90 Vgl. etwa die Werke von Adam Keller, O. Melander, J. A. Werdenhagen, J. H. Boeder; die meisten akademischen Handbücher entfalten auch methodische Gesichtspunkte, sowie Probleme der »politischen« Pädagogik. In diesen Fällen spielt die Bestimmung des »Politicus« eine große Rolle: er wird einerseits abgesetzt vom bloßen Höfling (aulicus), andererseits vom reinen Rechtsgelehrten, den er durch philosophische Bildung überragt; der praktische Bezug und die praktische Urteilskraft trennen den Politiker vom Fachgelehrten, die moralische, ggf. christliche Bindung vom machiavellistischen Techniker der Macht: vgl. exemplarisch Contzen in der Widmungsepistel seiner »Methodus doctrinae civilis« (1628). 91 Ausführlich darüber H. Dreitzel, 97ff., 155ff.; einen Einblick in die Masse der juristischen Literatur vermittelt nach wie vor am besten O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3 und 4; vor allem nach 1648 durchdringen sich an den Universitäten Jurisprudenz und Geschichtswissenschaft; vgl. E. Scherer, 135ff.; N. Hammerstein (für die Universitäten Halle und Göttingen im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert). 92 Auch die aristotelische »Politik« und die christlichen Theoretiker bemühten sich, die Anstöße Machiavellis zur Autonomie und Technifizierung politischen Handelns zu verarbeiten: vgl. H. Dreitzel, 134, 148ff. Dafür stehen z. B. J. Boteros »Deila ragion di stato« (1589), deutsch bereits 1596, aber auch das Buch des Altorfer Professors Arnold Clapmarius »De arcanis rerumpublicarum libri IV« (1605). Zur Gesamtproblematik jetzt G. Kreuz (1978); zum Konflikt zwischen christlicher Staatsethik und Staatsräson (u. a. zu Botero) s. H. Lutz (1961). 93 Zu Lipsius' politischen Schriften vor allem G. Oestreich: J. Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates, in: Geist und Gestalt, 35ff.; zur Wirkung ibid. lOlff.: Polit. Neustoizismus und Niederl. Bewegung in Europa. Einschränkungen hinsichtlich der Lipsius-Rezeption gegenüber Oestreich mit Recht bei H. Dreitzel, S. 9, 403; die »bewußte Erneuerung der Stoa« als Philosophie der Praxis sowie die darin implizierte Theorie einer auf moralischer Vernunft aufgebauten Staatlichkeit hat G. Abel (1978) im gesamteuropäischen Zusammenhang dargestellt, vgl. bes. S. 67ff., 99ff. (»ordo in jubendo et parendo«). Zur Lipsius-Rezeption an einem konkreten Beispiel s. H. Dollinger: Kurfürst Maximilian I. von Bayern und Justus Lipsius. Eine Studie zur Staatstheorie 48

nen und Spezialuntersuchungen, aber auch zahlreiche Reden bezeugen, wie umfassend und intensiv noch vor der Einrichtung »politischer« Lehrstühle die Gesamtproblematik der frühabsolutistischen Strukturveränderungen an den Hochschulen von Theologen, Juristen, Philosophen und Philologen behandelt wurde.94 Teilfragen und Teilaspekte waren Gegenstand thematisch gesonderter Abhandlungen wie etwa der Fürstenspiegel, nun nicht zuletzt in Form der historisch-exemplarischen Herrscherporträts;95 daneben erschienen Hoflehren,96

eines frühabsolutistischen Fürsten, in: AfKg 46 (1964), 227ff. Die Textstruktur der Lipsianischen »Politik« ist vom Verfasser dem Leser gegenüber eingehend begründet worden (1590, S. 9ff.)· Das Sentenzenhafte der kompilierten Aussprüche, Zitate und Aphorismen, der Zwang zur nachdrücklichen »Kürze« erscheint als Ausdruck herrscherlicher Autorität und Souveränität, spiegelt die Entlastung vom Zwang des rationalen Diskurses und die Hinordnung auf die Bewältigung von Tatsachen (zu den Konsequenzen innerhalb der zeitgenössischen Stüdiskussion unten Kap. Β V), erfüllt dabei zugleich die Gebrauchsintention des Werkes. Geliefert werden sollen »praecepta« und »monita«, beide im Dienste praktischer Urteilsbildung und pragmatischer Reflexion, gestützt auf die historisch gesammelte Erfahrung der Antike. Zahlreiche Aphorismensammlungen, Schatzkammern, Kompendien, Florilegien, »Hortuli« und »Theatra« haben diese »offene Form« der politischen Didaxe übernommen bzw. gleichzeitig entwickelt. Vgl. zum einschlägigen Schrifttum H. Coming, De prudentia civili, 342ff. Zur deutschsprachigen Apophthegmenliteratur (Zincgref, Harsdörffer u.s.) bes. Verweyen, 1970. Formcharakter und Gattungsgeschichte werden hier lehrreich nachgewiesen, die Bezüge zur Pragmatik des »politischen« Stils und die Rechtfertigung der kurzen Form durch Lipsius bleiben außer Betracht; vgl. aber die Überlegungen zur »Standortbestimmung« (S. 72ff.), die mit Recht den Bezug zur »philosophia practica« herausheben. 94 H. Dreitzel, S. 412, gibt eine nach Universitäten geordnete Zusammenstellung des Schrifttums bis 1620, vgl. auch ibid. S. 133. 95 Typisch dafür Guevaras »Horologium principum«, deutsch von Aeg. Albertinus 1599, das sich an die Gestalt Marc Aurels anlehnt; im »Speculum Boni Principis« des C. Rittershusius fand Guevaras weitverbreitetes Werk ein protestantisches Pedant (Leipzig 1612). Die historische Porträtliteratur wurde besonders in Spanien gepflegt (s. Mulagk, 105f.). Vorbild war hier Xenophons Kyrupädie. M. Berneggers »Suetonianischer Fürstenspiegel« (1625) zeigt exemplarisch die Kombination von Herrscherlehre und historischer Optik; daneben werden weiterhin die mittelalterlichen und humanistischen Formen der Fürstenspiegel gepflegt, zumindest rezipiert: vgl. dazu Berges (1938), Hinrichs (1969, bes. 58ff.); Zusammenstellung von Titeln bei H. Dreitzel, 154; in Saavedra Fajardos »Idea de un principe politico-christiano« (urspr. 1640, danach lat. und deutsch vor allem wegen seiner anti-machiavellistischen Tendenz weitverbreitet und mehrfach aufgelegt; auch hier, fol. a 5 ν, die Empfehlung des Tacitus) benutzt die politische Literatur »moderne« Möglichkeiten der emblematischen Didaxe (vgl. dazu Mulagk, spez. 107ff., sowie Wucherpfennig, 18, 35 u.ö.). 96 Henricus Petrus Herdesianus: Aulica vita. Frankfurt 1577 (eine Anthologie einschlägiger Literatur); Eberhard von Weyhe: Aulico-politicus. Hannover 1596; Hippolytus a Collibus: Politicus sive Aulicus. Hannover 1595; von katholischer Seite A. Contzen S. J.: Daniel, seu de statu, Vita & Virtutibus Aulicorum & Magnatum. Köln 1630; wortführend hier vor allem Guevara, u. a. mit seinen »Institutiones vitae Aulicae«, deutsch von Aeg. Albertinus. München 1600: zur Guevara-Rezeption in Deutschland detailliert Chr. E. Schweitzer, in: Romanist. Jb. 11 (1960), 328-375. Zur Entwicklung der Hofliteratur im Gefolge von Castigliones »Cortegiano« vgl. Uhlig, Moral und Politik (1975), spez. zu Guevara S. 33ff., dort auch S. 39ff. zu E. v. Weyhe und Hippolytus a Collibus.

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Ämterlehren und Verwaltungshandbücher, 97 auch beschreibende Staatsmonographien, in denen die politische Verfassung einzelner Länder behandelt wurde. 9 8 Vermittelt wurde dieses für die Zeitgenossen bald kaum mehr übersehbare Schrifttum durch spezielle Anleitungen, Leitfäden und Bibliographien. 99 V o n diesem akademisch-eisagogischen Schrifttum ergeben sich enge Berührungspunkte mit der Hofmeisterliteratur als Anleitung zu Herrschererziehung oder politisch-praktischer Bildung; 100 die Hoflehren stehen in Konnex mit einer aus der Romania rezipierten Verhaltenslehre (Guazzo, della Casa, Faret, du Refuge), in denen das geregelte Zusammenleben von Menschen in der Gesellschaft überhaupt

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U. a. Adam Keller: De officiis juridico-politicis libri tres. Konstanz 1608; Hippolytus a Collibus: Consiliarius. Hannover 1598; weitere Titel bei H. Dreitzel, 154. Zu den Ämterlehren zählen auch frühmerkantilistische bzw. kameralistisch ausgerichtete Werke wie Chr. Besoldus: De Aerario Publico. Straßburg (2. Aufl.) 1639. 98 Nachweise bei H. Dreitzel, 154f. ; neben die monographische Behandlung der europäischen Staaten tritt die vergleichende Beschreibung antiker Verfassungsmodelle, vor allem im Kontrast zwischen Athen und Sparta (so etwa bei Keckermann, Systema Systematum, 1493ff. bzw. 1591ff., dort auch 1684ff. bzw. 1691ff. zur polnischen und deutschen Form der »Politia«), Die Tendenzen des Fürstenspiegels, der historischen Herrschervita sowie der typologisch-topisch erläuterten Staats- und Verfassungsgeschichte verbinden sich bei A. Contzen S. J. mit einem didaktisch funktionalisierten Exotismus, der vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (man denke etwa an Zieglers »Asiatische Banise«) zur Einkleidung und Modellierung von Erfahrungen eigener politischer Wirklichkeit dient: Methodus doctrinae civilis seu Abissini regis historie. Köln 1628. - J. H. Boeder unterscheidet in seinen »Institutiones Politicae« (1674), S. 297f., die verschiedene Art der »descriptiones Rerumpublicarum«: descriptio nuda, d. politice explicata & illustrata, censura rerumpublicarum & krisis (also den Vergleich) sowie die »gemischten« Formen. Auch die Staatsutopien haben hier ihren systematischen Ort (Th. Morus, Campanella). Dort auch ein Katalog der einschlägigen antiken und »modernen« Autoren, »quibus cottidie aliqua accedunt«; vgl. H. Conring, 1662, 305ff. 99 Eine lehrreiche Rezension des einschlägigen Schrifttums etwa bei H. Conring, De civili prudentia, 1662, cap. XIV, 297ff. Vgl. das chronologische und kommentierte Verzeichnis der Bibliographien der politischen Wissenschaften für das 16. und 17. Jahrhundert bei H. Dreitzel, 429-430. 100 Besonders zu diesem Thema »de educandis atque erudiendis principum« konnte an bereitliegende Traditionen der humanistischen Publizistik angeknüpft werden. Ein von C. Heresbachius 1598 hg. Sammelband vereinigte z.B. einschlägige Schriften von I. Pontanus, Sturm, Petrarca, Erasmus u.a.; Spezialtraktate ferner u.a. von R. Lorichius, B. W. Nüßler (Princeps literatus, 1618 - mir nicht zugänglich), H. Stephanus (in Versform, 1590). Mit wachsender autokratischer Souveränität des Fürsten wurde die Dringlichkeit seiner sorgfältigen Erziehung immer deutlicher empfunden. Das Thema ist deshalb auch in den meisten der bisher genannten Formen der politischen Literatur direkt und indirekt abgehandelt. Zur Praxis barocker Fürstenerziehung exemplarisch am Beispiel Anton Ulrichs von Braunschweig vgl. J. J. Müller (1976); ferner neben Berges (1938) Hans Heim: Fürstenerziehung im 16. Jahrhundert. Paderborn 1918; - zur »politischen« Erziehung des akademisch gebildeten Beamten entwirft ein detailliertes Curriculum (neben den oben Anm. 106 genannten Autoren) das von Moscherosch 1652 neu herausgegebene »Gymnasma de Exercitiis Academicorum« mit der angehängten »Dissertatio de Politico«: dazu im Zusammenhang der hier interessierenden Fragen s. unten Kap. C II. 50

bzw. das Auftreten des Einzelnen bei Hofe sowie die Leitbilder der guten Gesellschaft kodifiziert und bis ins Detail abgehandelt wurden. 101 Bernegger hat sich, obwohl »Politik« als Teil der praktischen Philosophie nicht in sein Ressort fiel, ausdrücklich ausbedungen, auch hierüber lesen zu dürfen. Nicht der Universalgeschichte, sondern der »politischen« Exegese, d.h. der Edition, Kommentierung und zeitgemäßen Vermittlung der römisch-kaiserzeitlichen Geschichtsschreiber galt seine Aufmerksamkeit. 102 Daß er die »Politik« des Lipsius in den Unterricht einführte, darüber disputierten ließ - posthum erschien 1641 eine kommentierte Ausgabe mit ausführlichem Register - beweist, welche Bedeutung Bernegger der Vermittlung »politischer Klugheit« zumaß. Denn es war die Theorie der »civilis prudentia«, die aus der Perspektive des Subjektes moralpsychologisch formulierte Kunst- und Pflichtenlehre politischen Handelns, nicht wie bei den aristotelisch-systematischen Schriften Entwurf und Analyse objektiv politischer Strukturen, auf welche die »Politik« des Lipsius zentriert war und die den ungeheuren Erfolg dieses Werkes hervorrief. 103 Bereits in der mittelalterlichen Scholastik wie auch im Traktatschrifttum der Renaissance, soweit es sich mit

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Stefano Guazzo (1530—93): La civil conversatione. (zuerst) Brescia 1574, deutsch 1599, vor allem jedoch verbreitet in der lat. Übersetzung von 1596/98, die später von E. Reusner herausgegeben wurde (vgl. dazu E. Bonfatti, 1977); I. della Casa: Galateo (zuerst 1559), deutsch und lat. übersetzt von Nathan Chytraeus 1597 bzw. 1588; N. Farets »L'honêtte homme« (zuerst 1633) erschien in deutscher Sprache 1647, Du Refuges »Traité de la Cour« (zuerst 1616) fand in Harsdörffer einen Übersetzer (1655). Rezipiert wurden diese Werke nicht nur in diesen, sondern teils in international verbreiteten lateinischen Fassungen, teils in Traktaten, die eine oder verschiedene Vorlagen bis hin zum totalen Plagiat nachschrieben. »Der politische Weltman« (1631) des J. M. Husanus z.B. stützt sich auf Guazzo, Husanus wird ausgebeutet von D. Zunner: Wegweiser zur Höflichkeit (1648). Eigenständig in der Anlage sind J. Althusius': Civilis Conversationis Libri Duo. Hanau 1601, in denen in polyhistorischer Manier die Regulative eines nach Maßgabe des Geziemenden (»decorum«) eingerichteten gesellschaftlichen Miteinander festgehalten sind. Bereits in der Semantik von »conversatio« erscheint der sprachlichkommunikative Aspekt des Wortes nur als Teil eines umfassenden Kodex normierter Sozialität. Ich verzichte an dieser Stelle auf Nachweise der umfangreichen Forschungsliteratur zum Thema, da in den folgenden Abschnitten immer wieder einzelne Komplexe dieses Schrifttums in den Blick kommen werden. 102 Zu Berneggers Bemühen um die Vorlesungen zur Politik s. Bünger, 228; die editorische Tätigkeit Berneggers wurde größtenteils durch seine Schüler J. Freinsheim und J. H. Boeder unterstützt bzw. fortgesetzt. Vgl. Bünger, 320ff., Etter, 155f. sowie Sandys, 366ff. 103 Der Konflikt zwischen stoizistisch-prudentistischem und aristotelischem Verständnis von »Politik« gründete in der verschiedenen Beantwortung der Frage »An genus politices sit scientia vel prudentia« (Besoldus). Die Aristoteliker konzentrierten sich auf die dogmatische, juristische und soziologische Interpretation staatlicher Strukturen, die Lipsianer untersuchten die individualpsychologischen sowie individuell-moralischen Antriebe, Regeln und Ziele politischen Handelns: im Hinblick auf den einen Zweck, die Fundierung einer stabilen Herrschaftsordnung sowie die Ausarbeitung einer entsprechenden Handlungstheorie unterschieden sie sich nicht. Vgl. H. Dreitzel, 152f. Zu Berneggers Ausgabe der »Politik« des Lipsius s. Bünger, 130ff. 51

der »vita activa« befaßte, 1 0 4 war die Klugheit als handlungsregulierende Instanz, als Vermittlung zwischen Weisheit und Praxis, zwischen D e n k e n und Tun, zwischen der Erkenntnis des substantiell Gültigen und des historisch Kontingenten behandelt worden. Bei Lipsius rückt diese Tugend in den Mittelpunkt, weil sie allein in der Lage schien, sinnvolles und erfolgreiches Verhalten des Einzelnen angesichts einer politisch-gesellschaftlichen Praxis zu gewährleisten, die unverkennbare Eigengesetzlichkeit gewonnen hat. D i e Klugheitslehre des Lipsius formulierte eine Doktrin innerweltlichen Handelns, welche die Autonomie der Politik gegenüber einem moralischen, resp. ethischen Universalismus anerkannte. 1 0 5 D e r klassische Konflikt zwischen honestum und utile, dem sittlich Guten und dem Nützlichen, wird zur Kenntnis genommen; der Primat der Tugend bleibt zwar bestehen, in der Theorie der »prudentia mixta« wird aber angesichts der Herausforderungen machiavellistischer Praxis und politischer »Notwendigkeit« eine abgestufte Kasuistik des erlaubten politischen Betruges herausgearbeitet. 1 0 6 Ihre Handlungsnormen gewinnt Klugheit vornehmlich aus der eigenen Erfahrung (usus, experientia), dazu aus der Geschichte als dem komplementären, gleichsam unendlichen Raum eigener Weltkenntnis. 107 Bezugspunkt ist die jewei-

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Zur Klugheitslehre der Ren. vgl. Baron, Secularization of Wisdom; Rice, 209ff. (Zusammenfassung) sowie R. de Mattei (1951); einen instruktiven Abriß der Theorie der »prudentia« seit der mittelalterlichen Scholastik liefert Wucherpfennig, 35ff.; dort weitere Literatur. 105 Vgl. H. Dreitzel, 153; ausführlich zu Lipsius neben G. Oestreich vor allem Mulagk, 80ff. sowie Abel, Stoizismus, bes. 18ff. (zum Anteil des Neostoizismus an der Entwicklung neuzeitl. Rationalität) und 72ff. (Ethik und Politik); spez. zum Praxisbezug der Klugheit S. 82ff.; bei Abel auch ausführliche Erörterungen des Zusammenhangs von prudentia und sapientia im System neostoischer Moralität; das komplementäre Verhältnis beider Verhaltensmodelle entspricht dem Auseinandertreten staatlich-vergesellschafteter und privater Existenz des Individuums. 106 Zur Theorie der »prudentia mixta« (Lipsius, Pol. libri VI, 1589, auch IV, Kap. 13/14, in der Ed. 1590, 147ff.) vgl. H. Dreitzel, 152; E. Hinrichs, 67ff.; R. G. Kreuz, bes. 193 (Staatsräson als Ausnahmesituation unter dem Druck der »necessitas«; hier die Berührung mit Machiavelli; dazu spez. E. Hinrichs, 74ff.); J. H. Boeder begreift Lipsius' Terminus der »prudentia mixta« ausdrücklich als »nomen alium« für »ratio status« (Institutiones Politicae, 1674, S. 296). Dort auch S. 1 die Gliederung der politischen Wissenschaft in »decreta«, »praecepta« und »exempla« (dazu H. Dreitzel, 419f.). - Die Semantik des Begriffs »politisch« in der Literatur des 17. Jahrhunderts ist maßgeblich von der prudentistischen Interpretation bestimmt und gerät in kritisch-polemischem Zusammenhang stets in die Nähe pejorativer Etikettierung des gewissenlosen Prakmatikers und machiavellistischen Technikers der Macht; vgl. dazu Barner, Barockrhetorik, 139ff., spez. 142, sowie Frühsorge, 45ff. 107 Vgl. die Ausführungen und Belege bei Wucherpfennig, 51f.; E. Hinrichs, 80ff. Bernegger hat in seiner 1613 gehaltenen Antrittsrede als Professor der Geschichte diesen Gesichtspunkt ausdrücklich betont: Geschichtskenntnis vermittele »prudentia«, indem sie gewissermaßen ein langes Leben sowie Erfahrungen durch Reisen und politische Praxis ersetze (Or. Ac., 1640, S. 233). 52

lige G e g e n w a r t , der situative K o n t e x t , in d e m das j e w e i l i g e H a n d e l n steht; d e n n o c h entwickelt sich aus der Klugheitslehre e i n e geschichtliche P e r s p e k t i v e , in der die Dreidimensionalität der Z e i t als v o r g e g e b e n e Denkstruktur sämtlicher E n t s c h e i d u n g e n anerkannt wird. Nicht die G e s a m t e n t w i c k l u n g der G e s c h i c h t e interessiert, aber auch nicht nur die R e p r o d u k t i o n v o r g e f u n d e n e r N o r m e n . Stattd e s s e n resultiert die kluge E n t s c h e i d u n g -

s o w o h l im Interesse d e s sozialen

G a n z e n (»conservatio reipublicae«) als auch im Interesse der Selbstbehauptung d e s E i n z e l n e n (»conservatio ipsius«) - aus der Erinnerung an die V e r g a n g e n h e i t u n d der P r o g n o s e der Z u k u n f t . D e s h a l b wurde im g a n z e n 17. Jahrhundert »Klugheit« e m b l e m a t i s c h als Januskopf dargestellt, der zugleich vorwärts u n d rückwärts blickt. 1 0 8 T h e o r i e generell, auch politische Systematik steht unter d e m Vorbehalt der Praxis. D e s h a l b w e n d e t sich Lipsius - ein T o p o s , der vielfaches E c h o finden wird g e g e n die Platonische Staatstheorie, g e g e n utopisches D e n k e n schlechthin. 1 0 9 Er polemisiert g e g e n e i n e n lediglich scholastisch-traditionsgeleiteten Diskurs, der sich nur auf die k o n t e m p l a t i v e Erkenntnis als Frucht der »vita umbratilis« stützt: f e h l e n d e r Praxisbezug wird identifiziert mit m a n g e l n d e r Glaubwürdigkeit, wird angegriffen aus einer b e t o n t instrumentalen Interpretation v o n T h e o r i e , Philoso-

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Bereits bei Thomas v. Aquin ist der Akt der Klugheit (»consiliari«) durch »memoria praeteritorum«, »intelligentia praesentium« und »solertia in considerandis futuris eventibus« definiert; angelegt ist dieses Verständnis bereits in der Patristik (Augustinus). Vgl. Kirchner, Fortuna 89, 207; Hinrichs, 81, Anm. 137; Jansen, Grundbegriffe, 84f.; Wucherpfennig 45ff. (u.a. zur möglichen Verbindung mit der Situationsanalyse der Gerichtsoptik nach Cicero, de inv. II 12); einen ausführlichen »Diseurs von der Fürsichtigkeit« als Exegese eines Janus-Emblems liest man in Aeg. Albertinus' »Hirnschleiffer«, S. 84ff. Z u r Behandlung dieser Frage in der politischen Literatur s. Etter, 16ff.; Wucherpfennig, 52ff. ; R . Kosellek hat nachgewiesen, wie sich aus der im Klugheitsgedanken wurzelnden Denkform der politischen Prognose ein lineares Zeitbewußtsein und eine den Fortschrittsgedanken ermöglichende Überwindung typologischer und exemplarischer Geschichtsinterpretation entwickelt: Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: Epirrhosis. Festschrift C. Schmitt. Berlin 1968, 549ff., bes. 558f. Vgl. auch Koselleks Studie: Historia Magistra Vitae, in: Natur und Geschichte. Festschrift K. Löwith. Stuttgart 1967, 196ff. - Ausführlich zum Problem von Veränderlichkeit und Fortschritt unten Kap. Β III und IV. Lipsius: Politicorum libri VI, Ed. 1590; IV, 13, 147: »Quos (gemeint sind die Idealisten W. K.) alibi libens audio: hie qui possum? Aevum & homines ignorare mihi videntur, & dicere tamquam in Piatonis πολιτεία non tanquam in Romuli faece sententiam. Inter quos enim vivimus? nempe argutos, malos: & qui ex fraude, mendaciis, constare videntur.« Evident der Begründungszusammenhang einer negativen Anthropologie, die Erfahrung der »eisernen Zeit«: zum Topos vgl. R. G. Kreuz, 189ff.; betroffen vom Praxisvorbehalt der Politik sind die Philosophen überhaupt, vor allem Cato als Prototyp des Stoikers, aber auch Cicero als Theoretiker des freien Diskurses. Hier liegt der Konnex zwischen dem zeitgenössischen Anticiceronianismus und den realistisch-taktischen, im Zeichen der »Akkomodation« stehenden Veränderungen von Kommunikationsnormen und Stilbewertungen: dazu unten Kap. Β III und Β VI. 53

phie und literarischer Bildung überhaupt.110 Auch wo die politische Theorie und die Applikation historischer Erfahrung als notwendig und wertvoll ausdrücklich bestätigt wird, hält sich dieser Praxisvorbehalt - wie etwa bei Besoldus zu lesen: Um einen vollendeten politischen Körper zu bauen, wäre es nötig, die Erörterungen aller Philosophen, oder vielmehr der Politiker, die sich jeweils auf ihre eigenen Prinzipien stützen, mit der Geschichte der Staaten, deren moralischer Verfaßtheit und deren Gesetzen zu vergleichen. Aus diesem Vergleich könnte Gewißheit und Vollendung der politischen Kunst abgeleitet werden, freilich begründet an den Beispielen der blühendsten Gemeinwesen. Und trotzdem darf man auf keinen Fall annehmen, daß dies genügt: denn die Praxis selbst gilt als notwendig und sie unterscheidet sich gänzlich, wenn so zu sprechen erlaubt ist, von der Theorie. (Ü)111 110

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In diesem Zusammenhang Lipsius' berühmte Aussage: »Ego ad sapientiam primus vel solus mei aevi Musas converti: Ego e Philologie Philosophiam feci« (Brief vom 5. Okt. 1582). Philosophie als »lex vitae«, als lebensstabilisierende Handlungsanleitung steht nicht nur im scharfen Gegensatz zur Schulphilosophie, sondern auch zu einem Studium der »litterae«, das sich in Sprachkultur und Philologie erschöpft: vgl. Belege und Ausführungen bei Abel, 69f. Es ist bezeichnend für die Resonanz der von Lipsius postulierten Bewertungsnormen literarischer Bildung, daß Bernegger von J. H. Boeder gegen den Vorwurf in Schutz genommen werden muß, sich nur mit dem »Schmutz« der Schule und den leeren, formal-philologischen Exerzitien der Textexegese beschäftigt zu haben. Bernegger erfülle, so Boeder, die zentrale Forderung, daß niemand »Criticus« sein könne, der nicht auch »philosophus« sei (Orationes et programmata, 174f. ; vgl. auch S. 161f. sowie 168). Bezeichnend auch, wie Dan. Heinsius (1580-1655, Professor für Griechisch, Politik und Geschichte in Leiden) der Behandlung des zweiten Buches der Aristotelischen Politik (Orationes, 226ff. : De civili sapientia, cum secundum Aristotelis Politicorum interpretari inciperet, spez. 227) ausdrücklich die Verwahrung gegen das Mißverständnis voranschicken muß, als handele es sich hier um wenig glaubwürdige und fernab politischer Erfahrung konstruierte Denkmodelle: »Nam qui nihil praeter umbráticos fuisse doctores, nullam Reipubl. partem attigisse eos arbitratur, ideoque fides in his habeatur, parum dignos esse, nae is, Auditores, in historia, omnique antique peregrinatur memoria«. In seiner Rede über »Vorzug und Würde der Geschichte« (ibid. S. 140ff.) verweist er eine rein theoretische Klugheitslehre ausdrücklich in die belanglose Sphäre des »Schulstaubs«: »ipsa autem, sine historia, ineptis putidisque et accuratis nimirum distinctionibus philosophorum ac divisiunculis, ab humanis autem separata actionibus, emancipata prope ac enecta, extra locum suum, non in civitatibus, ubi régnât, sed in pulvere scholastico, ubi nata est, intereat.« Der abwertende Topos vom »Schulstaub« polemisiert gegen die Verherrlichung der »vita umbratilis«, welche in der Bezeichnung der Schule als »schattichtem Ort« weiterlebte. Die Vorstellung ist altrömisch und bezeichnete ursprünglich ein verweichlichtes und tatenloses Leben im Gegensatz zur »vita rustica« und zur »disciplina militaris«. Durch Cicero, Lukrez, Horaz und die Neoteriker wird »umbra« zum Raumsymbol eines musischen Individualismus, das schließlich bei Vergil (vgl. Geo. II, 458ff.) im Ruhm des Landlebens zugleich die Idealität einer weitabgewandten musischen Existenz abseits der »vita publica« impliziert. - Zur antiken Literatur vgl. die reichen Ausführungen von V. Buchheit: Der Anspruch des Dichters in Vergils Geórgica. Darmstadt 1972 (= Impulse der Forschung Bd. 8), 56ff. Besoldus: Principium et finis politicae doctrinae, S. 191, dort zit. nach J. Bornitius: Discursus politicus de prudentia politica comparanda. Erfurt 1602 (mir nicht zugänglich): »ut ( . . . ) corpus politicum perfectum constitueretur, opus esset, ut omnium philosophorum, seu potius politicorum disputationes, rationibus suis innitentes, cum historiis rerum publicarum, earumque moribus ac legibus conferrentur. Ex quarum collatione, certitudo & perfectio artis politicae; rationibus nimirum & exemplis florentissimarum

Die Geschichtsbezogenheit der Klugheit als handlungs- und entscheidungsbezogener Tugend intendiert nicht die Beschäftigung mit der Geschichte schlechthin, nicht die beliebige Exemplifizierung guten oder schlechten Handelns, auch nicht - w i e in der christlichen Universalgeschichte - den Nachweis göttlicher Geschichtsteleologie nach dem Muster von Tugendlohn und Sündenstrafe. Geschichtskenntnis ist deshalb wertvoll, weil sie einen Vorrat von Handlungsmodellen vorlegt und zugleich deren Erfolg oder Mißerfolg in der Faktizität der Ereignisse beispielhaft beobachten läßt. Die Analyse historisch belegten Verhaltens ist aber nur dann sinnvoll, wenn es übertragbar ist, d.h. wenn die Rahmenbedingungen des geschichtlichen Exempels möglichst denen entsprechen, in welchen eigene »Klugheit« sich zu bewähren hat. Die Rezeption der Autoren der römischen Kaiserzeit im 17. Jahrhundert ist demgemäß durch den Anforderungscharakter der eigenen Erfahrung bestimmt. Die epochemachende Tacitusausgabe des Lipsius (1574) hängt in diesem Punkte mit der politischen Klugheitslehre zusammen. In der Vorrede zu dieser Ausgabe hat Lipsius selbst auf die »similitudo temporum« der eigenen Gegenwart mit der Lebenswelt des Tacitus abgehoben: was man dort lesen konnte, erscheine »velut theatrum hodiernae vitae«. 112 Auch Bernegger geht davon aus, daß die Lektüre des Tacitus in vielen Fällen »die Szene der gegenwärtigen Dinge an Personen der Antike darstellt« (Ü). 1 1 3 A . Buchner in Wittenberg bezeichnet brieflich Tacitus als »den nicht genug zu lobenden Schriftsteller, aus dem man die Künste des Hofes und der Reiche schöpfen kann, nicht um sie alle auszuüben (das möge Gott abwenden!), sondern um sie zu erkennen

rerumpublicarum fundata, deduci posset. Et tarnen haec sufficere, nullo modo reputandum est: nam & ipsa praxis necessaria habetur; & a theoria (si ita loqui licet) differì omnino.« 112 Eine Formulierung des Lipsius aus der Vorrede seines Tacituskommentars (vgl. Etter, 17). Die Idee der »similitudo temporum«, nach der die Vergangenheit verwandter Epochen zum Spiegel der eigenen Zeit wird, gründet in der zyklischen Geschichtstheorie der Renaissance und wurde wegweisend von Machiavelli (Discorsi I 39) formuliert. Die Wendung zur römischen Kaiserzeit als Ziel der römischen Geschichte, der gegenüber die römische Republik als nicht selten chaotisch erscheinendes Vorspiel abgewertet wird, entspricht dem aktuellen Bewußtsein der Herausbildung des fürstlichen Absolutismus aus den Bürgerkriegen der konfessionellen Epoche. E. Hinrichs (S. 83f.) spricht deshalb von einem im Vergleich zum Frühhumanismus zu beobachtenden »Paradigmawechsel«. Exemplarisch die auf dem Vergleichsgedanken basierenden Überlegungen Murets, in denen das Fazit der geschichtlichen Veränderungen gezogen wird: »Nullam esse propemodum gentem, quae non ab unius nutu atque arbitrio pendeat, uni pareat, ab uno regatur. Ergo hac saltem in parte propius accedit ad similitudinem temporum nostrorum status ille rerum, qui sub imperatoribus quam qui imperante populo fuit. Quo autem quaeque historia rerum nostrarum similior est, eo plura sunt in ea, quae discamus, quae ad usum converamus, quae ad vitam moresque referamus.« (zit. nach Etter, S. 16). 113 Brief an Virdung in Altorf vom 15. Juli 1636 (Briefwechsel Bernegger-Freinsheim, ed. E. Kelter, 1905, S. 69): »... a familiari Taciti nostri lectione, quae praesentem rerum scenam sub antiquis personis in non paucis exhibet, oculos ac manum dimovere nondum possum.« 55

und zu unterscheiden, sie zu verabscheuen und sich vor ihnen zu hüten: damit man nicht selbst umzingelt wird oder andere, zu deren Beistand einen Gott berufen will« ( Ü ) . 1 1 4 Thomas Lansius - eine Leuchte der Tübinger Universität - bemerkte 1606, daß »Tacitus allein wohl klarer reden, die Fehler der Fürsten zeigen, berühren und vielfach treulicher korrigieren könne, als selbst 600 sehr geschwätzige R a t g e b e r . . . « ( Ü ) . 1 1 5 Tacitus als Lehrmeister der »arcana imperii«, also des politischen Krisenmanagements (der lateinische Ausdruck stammt von ihm), als Führer zu den Feinheiten der »ars aulica«, als Historiker, der nicht nur berichtet, sondern nach den »causae latentes« fragt und damit das Urteilsvermögen (judicium) anspricht - mit diesen Qualitäten ist der Rezipientenkreis des Tacitus zu bestimmen: die Inhaber des Regiments, vor allem aber die Räte und die Verwaltungsaristokratie insgesamt, schließlich, zum Teil damit identisch, die Hofleute. 1 1 6 Bestimmte

Komplexe

schälen

sich

heraus,

bei

deren

Behandlung

das

Geschichtswerk des Römers, vor allem die hier entwickelte Phänomenologie der

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Brief vom 17. April 1635 (Epist. Parsi, Nr. X X , S.47f., ed. 1680): »Habe ( . . . ) simul C. Taciturn, multo gravissimum & prudentissimum, nec unquam satis dilaudandum scriptorem: unde aularum Regnorumque artes haurias, non ut exerceas omnes (hoc Deus avertat) sed ut intelligas, atque sic internoscas, detesterisque atque caveas: ne aut ipse circumversiaris, aut alii, quibus Deus te olim assistere volet.« Th. Lansius: De utilitate & jucunditate Historiarum, in: Mantissa consultationum, 1666 (gehalten 1606), S. 289f.: »unus Tacitus loquatur clarius, atque Principum vitia monstret & tangat multa fidelius, quam vel sexcenti iique maxime garruli consiliarii...« In diesem Sinne bei Hippolytus a Collibus, 1598, S. 238, der Rat, Tacitus »in den Händen abzunutzen«. Zur Lehre von der in den »arcana imperii« gefaßten Technik der Machtbehauptung s. H. Dreitzel, 149f., 398ff.; in Boccalinis »Ragguagli di Parnaso« werden Nutzen, Wert und Kritik des Tacitus mit Bezug auf Lipsius und Machiavelli mehrfach ausführlich besprochen. In Cent. I, Rei. LXXXVI (zit. nach der deutschen Übersetzung 1644), S. 238f. läßt Boccalini Lipsius auftreten und Tacitus folgendermaßen anpreisen: »Es seye Tacitus unter allen verständigen Historicis der vornembste / ein Vatter der Weißheit / ein Wunder und Oraculum in der ratione status, ein allgemeiner Lehrer und unterweiser der Politicorum, und rechter Meister aller der jenigen / in deren Schafften mehr Sententiae als Wörter zufinden: ein rechte Richtschnur darnach sich ein jeder richten soll / der grosser Herren ihre actiones zubeschreiben sich unterfangen will / welches aber eine sonderliche grosse Kunst / so allein den allervortrefflichsten Historicis bekannt / und die den jenigen einen unsterblichen Namen zu wegen bringet / so sie recht zugebrauchen wissen. Ja es sey Tacitus ein rechtes wares Contrafait aller Historien, der beste Schul- und Lehrmeister aller hohen Potentaten und / anderer / so zu Hof leben / ein rechter Probierstein / auff welchem man den humor grosser Herren probiren / und erkennen lernen soll / die rechte Wage / darauff man auch die Privatpersonen auff das allergenaweste abwiegen und erfahren kan / was hinder jhnen stecket / ein Buch / welches alle Fürsten und Herren täglich in jhren Händen haben solten / die die Kunst wol zu regieren zulernen begehren / wie nicht weniger die Unterthanen / so jhren Oberherren gebürlichen Gehorsam zu leisten sich befleissen.« Wenn Lipsius bei Boccalini gleich darauf auf Vorhaltungen hin das ganze Argumentationsarsenal der »antihöfischen« Tacitus-Kritik referiert (S. 239f.), zeigt sich sehr deutlich, daß die als notwendig erachtete Rezeption des Römers noch nichts aussagt über die Akzentuierung der Bewertung und die Stellungnahme des Rezipienten hinsichtlich der bei Tacitus geschilderten Wirklichkeit. Sowohl die Apologe-

Diktatur, z u m locus classicus wurde. In der Gestalt d e s Tiberius fand m a n ζ. B . das Muster taktischer »dissimulatici«, im Schicksal des Günstlings S e j a n das Parad i g m a höfischer Existenz, 1 1 7 im Schicksal der stoischen V e r s c h w ö r u n g u n d im E n d e d e s S e n e c a E x e m p e l d e s Widerstandes und der moralischen Integrität. D i e s e V e r s c h w ö r u n g k o n n t e heroisch gepriesen w e r d e n - e t w a bei H e i n s i u s , der hier V o r b i l d e r niederländischer Bürgerfreiheit erblickte, 1 1 8 sie k o n n t e n auch z u m D e n k m a l f e h l e n d e r »prudentia« w e r d e n . A . B u c h n e r , der W i t t e n b e r g e r Lutheraner, hat in einer g r o ß e n R e d e über die »Prudentia t e m p o r u m » ( 1 6 5 3 ) , also über die »Klugheit, sich in die Z e i t zu f ü g e n « , diesen A s p e k t h e r a u s g e h o b e n : die V e r s c h w ö r e r m u ß t e n angeblich scheitern, weil sie die Kunst d e s richtigen Sprec h e n s , m e h r n o c h d e s S c h w e i g e n s nicht verstanden: v o n hier aus ergibt sich ein b e d e u t s a m e r Z u g a n g zu historisch-pragmatischen A s p e k t e n der zeitgenössischen Rhetorik und Stildiskussion (dazu unten Kap. Β V ) . Wieviel hervorragende Männer sind unter Tiberius entweder vertrieben oder ganz beseitigt worden - nur weil sie ohne Wachsamkeit redeten. Was trieb Thrasea, was Helvidius Rusticus, was andere mehr ins Exil oder zwang sie, zu sterben, als die allzu ungezügelte Ruhmsucht aus Starrköpfigkeit und ein eitles Streben nach Freiheit, indem sie spektakuläre Größe höher einschätzten als Sicherheit, die sich der Zeit anpaßt, und indem sie am Hofe und beim Fürsten nicht anders sprachen als wenn sie im Säulengang

ten des Absolutismus wie auch die Anhänger ständischer oder bürgerlich-republikanischer Ideen fanden in Tacitus Material für ihre Positionen. Das hängt mit der Verschlossenheit des Taciteischen Berichtsstils zusammen, der sich bewußt von moralistischen Urteilen zurückhält: zur Rezeption des Tacitus im 16. und 17. Jahrhundert grundlegend das dankbar benützte Werk von Etter, bes. S. 221. (zu den politischen Implikationen der Rezeption); dort auch S. 115ff. zu Lipsius, S. 93ff. (zu Boccalini). 117 Das entsprechende Tiberiusbild, um nur einen Autor zu zitieren, exemplarisch gedeutet von J. H . B o e d e r in einer Rede anläßlich einer Privatvorlesung über Tacitus' Annalen: Post absolutum, in privata Annalium Taciti interpretatione, Anno M D C X X X V I , Principatum Tiberianum, in: Orationes et programmata, 1705, Nr. XIX, 301-322. Der Grundtenor zusammengefaßt in dem Satz: »Ultima igitur servitutis post Augustum sensit Roma«; vgl. auch ibid. Nr. XIV, S. 258ff. (ebenfalls von 1636): Oratio de C. Cornelii Taciti Historia, ac multa scribendi arte judicioque. In Boeclers »Dissertationes politicae« im Anhang der »Institutiones politicae« (1674), spez. 420ff. findet sich ein aus Tacitus zusammengestellter Katalog von Belegstellen zu einer Phänomenologie der »simulatio & dissimulatio«. Als deren »membra« begreift er die Gesichtspunkte »In occultanda animi sententia«, »In formanda ad decorum speciem oratione« (»Dici enim non potest, quantum faciat ad vim imperii dictio honora, oratio favorabilis, speciosa responsio«: ein Hinweis auf die politischen Parameter der zeitgenössischen Stilbewertung), »In virtutibus simulandis«, »In auctoritate & fama tuendis ostentandisque.« Nebenbei sei bemerkt, daß Veit Ludwig von Seckendorff, der nachmals berühmte Verfasser des »Teutschen Fürstenstaates« (1655) bei B o e d e r in Straßburg über die »Tiberii Revelati forma sive Ratio status aperta facie deprehensa« redete: das entsprechende Programma Academicum vom 27. September 1643 in: Orationes et programmata, 1705, 381-85. 118 Vgl. vor allem die drei Reden zu Tacitus in: Orationes 1657, Nr. X V - X V I I , S. 166ff.; daraus im Zusammenhang die Zitate unten Kap. C III 2, c; zur Bedeutung des Tacitus für die Niederlande (neben Lipsius vor allem wichtig Hugo Grotius) vgl. Etter, 115ff. (leider werden die Reden des Heinsius nicht behandelt). 57

(der Stoa - W. Κ.) Schule hielten und mit ihrem Kleanthes oder Zeno in Sicherheit philosophierten. (Ü)"® D i e Stelle selbst darf als Beispiel des »custodite loqui« verstanden werden, dies um so mehr, als Buchner sogleich auf Ciceros » D e officiis« verweist, w o der Konflikt zwischen honestum und utile abgehandelt war, freilich auf eine Stelle, w o die Relativität dessen eingeräumt wird, das als »schändlich« gilt. D i e s aber ist die Grundproblematik Machiavellis: dementsprechend galt Tacitus als der Autor, in dem die provokativen Thesen des Italieners illustriert waren. Beide wurden deshalb vor allem von christlichen Theoretikern verdammt; B. Schupp etwa spricht vom »falsch-weltklugen Tacitus«. 120 D i e pragmatische Erzählweise des Tacitus, die Ambivalenz und Hintergründigkeit seines Urteils ließ die Suche nach dem Wahren der Geschichte, jeweils gemessen am moralisch Eindeutigen, dubios erscheinen. P. Lambeccius (1628-1680), Professor der Historie in Hamburg, wendet sich z . B . 1653 gegen die Zurücksetzung des Livius - dem Verklärer altrömischer Bürgerfreiheit. 121 Seiner Meinung nach verdient Tacitus

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Α. Buchner: Orationum Academicarum Vol. Tria 1705: »De Prudentia Temporum« ( = Or. Nona der »Orationes festae«), S. 541ff., spez. 548: »Quot sub Tiberio egregii viri aut jactati fuerunt, aut piane sublati, non alia causa, quam quod incustodite locuti essent? Quid Thraseam, quid Helvidium Rusticum, quid alios plures, aut in exilium ejecit, aut mori coegit, quam intemperantior gloriae ex gravitate cupidi tas, & libertatis affectatio inanis, cum magna & speciosa potius, quam tuta & apta tempori censerent, non aliter, ac si in porticu haberent scholam, & cum Cleanthe suo si ve Zenone philosopharentur secure, non in curia apud Principes sententias dicerent. Alia eloquentia in libera civitate, alia apud regnantes est opus ...« Die Exempel der stoischen Verschwörung thematisieren die Probleme der »offensio«, des Anstoß erregenden Sprechens, also den Konflikt zwischen der Sprache des Untertanen und des »vir bonus«: in diesem Sinne behandelt etwa auch bei M. Piccartus (1574-1620, Professor in Altdorf): Observationum HistoricoPoliticarum Decades, 1621, Decas V, Nr. 2 (»Sententias de república libere dicendas, & quaedam circa hoc Axioma notata«); Lansius: De utilitate et jucunditate historiarum (zit. nach dem unpag. Originaldruck 1606, fol. D lv): »... ne Helvidiorum, Senecarum & Thrasearum mentionem injiciam; quos habemus nullos, aut paucissimos: sed in tali seculo vivamus, quod fertile adulationis, candoris sterile, plures foveat & promoveat Placentinos atque Laudenses, quam Veronenses ...«; ähnlich mit z.T. ätzender Schärfe Besoldus u.a.: Hinweise darauf im Zusammenhang späterer Ausführungen. - Zur zeitgenössischen Auseinandersetzung um die sich aus der politischen Klugheit ergebende Maxime, sich »in die Zeit zu schicken«, vgl. Wucherpfennig, 69f. J. B. Schuppius: Schrifften (1663), S. 552 (in: Von der Einbildung); zum Tacitismus als »Ersatz für den Machiavellismus« vgl. Etter, 24ff.; J. v. Stackelberg (1960), 63ff.; G. Toffanin: Machiavelli e il »Tacitismo«. La Politica storica al tempo della controriforma. Padova 1921. In: Orationes 1660, S. 35f.; zum Konflikt zwischen Livius und Tacitus s. Etter, 15f. Zu Lambeccius ausführlich Moller: Cimbria Litterata III, 391ff. Zu vergleichen ist seine Rede zum Antritt der Geschichtsprofessur 1652 (1. c., Iff.): »De Historiarum cum caeteris sapientiae & Literarum studiis conjunctione«. Hier wird versucht, einer einseitig politischen Ausrichtung des Geschichtsinteresses mit dem Hinweis auf die Einlagerung auch der Geschichtswissenschaft in den gesamten Kontext des humanistischen Enzyklopädismus entgegenzuwirken. Nicht nur die »prudentia civilis« ist angestrebt (ganz im Lipsiani-

Tadel und Verdammung, »weil er, um seine Klugheit und Erfahrung herauszustreichen, überall haufenweise listige Mahnungen, zugespitzte Vermutungen und dunkle Schatten von Verdächtigungen dem Leser bis zum Überdruß aufdrängt, nicht selten auch zum Nachteil der historischen Wahrheit« (Ü). Dennoch: »Trotzdem gilt jener allein heute als Historiker, jener allein als der beste Lehrmeister der politischen Wissenschaft« (Ü). 122 Und was das Schlimmste ist: Tacitus sei, so Lambeccius, »weder ein guter Historiker noch ein guter Bürger, weil er Verbrechen und Betrug nicht nur erzählt, sondern lehrt. Und nicht unverdientermaßen begann, seitdem man Geschichte auf diese Weise zu schreiben anfing, auch der Name >Politiker< - wie der des Tyrannen ursprünglich lobenswert und ehrenhaft zum Inbegriff des Lasters und des öffentlichen Hasses zu werden.« (Ü)123 Schelte dieser Art konnte nicht verhindern, daß das Studium des Tacitus zum Rüstzeug des Gebildeten gehörte: die Romane und Dramen des 17. Jahrhunderts - man denke vor allem an Lohenstein - bezeugen die intensive und ausgebreitete Rezeption, zugleich die Kenntnis, die man beim Publikum voraussetzen konnte.124 Die Verwandtschaft zwischen der absolutistischen Epoche und dem römischen Prinzipat bzw. Dominât war tiefer begründet als nur in einer Analogie politischer Problemfälle. Was Tacitus interessierte, war der Sinn der Geschichte ohne Gott, die Spannung zwischen fatum und fortuna, was ihn bewegte, war ein Zwiespalt, der auch am Anfang des barocken Jahrhunderts bewußtseinsprägend war: zwischen der Erkenntnis, daß die Entwicklung zur (absoluten) Monarchie unausweichlich schien, und der Überzeugung, daß dieser Prozeß seinem Wesen nach

sehen Sinne - vgl. 15f. - spiegelt sich die »scena huius mundi« in der Antike; die »affectus hominum« bleiben gleich, nur Ort und Umstände, also die Accidentien, ändern sich), sondern zugleich »antiquitatis cognitio« sowie »sermo & Eloquentia« (S.28). Deutlich S. 34 erkennbar der Harmonisierungsversuch in der Gemeinsamkeit der Ziele von Geschichtswissenschaft, Moralphilosophie und Politik. 122 a. a. O., S. 35f.; »... cum ad ostendendam prudentiam suam & rerum experientiam ubivis cumulatim quae nescio callida mónita, & acutas conjecturas suspicionum umbras lectori ad nauseam usque obtrudat, nonnumquam etiam cum detrimento historicae veritatis . . . Attamen ille solus nunc historiáis, ille solus optimus doctrinae politicae magister habetur.« Hier wird deutlich, wie eng bei der Beurteilung des Tacitus stilistische Kategorien mit der Einschätzung des politischen Gehaltes zusammenhängen: zu der darauf bezogenen zeitgen. Diskussion s. unten Kap. Β V. 123 ibid.: » . . . eum nec bonum esse Historicum, nec bonum Civem, cum scelera & fraudes non narret tantum sed doceat. Nec immerito ex eo tempore, quo historiae ita conscribi coeperunt, Politici nomen, quod, ut tyranni, laudis olim & honestatis fuit, vitii coepit esse vocabulum & odii publici.« 124 Vgl. die Studie von B. Asmuth: Lohenstein und Tacitus. Eine quellenkritische Interpretation der Nero-Tragödie und des »Arminius«-Romans. Stuttgart 1971 (= Germanist. Abhandlungen 36); auf die epochalen Hintergründe des Tacitismus sowie auf die TacitusRezeption im politischen Schrifttum der Zeit geht der Verfasser leider nur flüchtig ein: vgl. die Kritik bei Wucherpfennig, 32f. Auch sonst werden die Zusammenhänge des gesamteuropäischen Tacitismus in der germanistischen Forschung so gut wie nicht beachtet; vgl. die gelegentlichen Bemerkungen bei Vosskamp (1967), 45f.

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bedrohlich war und zum Verlust von Freiheit(en) führte. 125 Im Geschichtswerk des Tacitus war wie in einem Code die Frage präsent, wie Tugend und Anpassung zu vereinen seien; aufzuspüren war hier nicht nur die Doktrin der politischen Klugheit, sondern zugleich die Spur altrömisch-senatorischen Bewußtseins, melancholischer Trauer, die Erfahrung erlebter Tyrannei. D i e zeitweilige Scheinexistenz und Machtlosigkeit des römischen Senats, wie Tacitus sie schilderte, waren sie nicht Perspektiven der altständischen Gesellschaft? Bernegger darf mit Janus Gruter, dem Heidelberger, als Begründer des - der Terminus scheint mir zweckmäßig - »oberrheinischen Tacitismus« gelten: dieser wird repräsentiert von seinen Schülern J. Freinsheim, J. H. B o e d e r und dem Freunde Christoph Forstner. 126 Wissenschaftsgeschichtlich gesehen hat Bernegger durch seine Ausgabe der antiken Historiker, mehr aber noch bezeichnenderweise mit dem Register seiner 1638 erschienenen Tacitus-Ausgabe einen bleibenden Ruf gewonnen. 1 2 7 Dieser Index enthielt zum ersten Male nicht nur Eigennamen, sondern auch Sachbezeichnungen. Das weist auf die vorgestellte Benutzung hin: nicht die Information über römische Geschichte oder bedeutende historische Personen, überhaupt nicht eine lineare Lektüre ist intendiert, sondern die Verwendung des Textes als Nachschlagewerk, also als Handbuch der Praxis, als Vademecum des Politikers, der nach Präzedenzfällen und »praecepta« sucht. 128 125

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Zum Zwiespalt des Taciteischen Geschichtsdenkens vgl. J. Vogt: Das römische Geschichtsdenken und die Anschauung des Tacitus, in: R. Stadelmann (Hg.): Große Geschichtsdenker. Tübingen 1949, 35-56, spez. 52; zusammenfassend die Würdigung bei K. Büchner: Rom. Literaturgeschichte. Stuttgart, 3. Aufl. 1962, 462ff. (Stichworte: Domitianerlebnis, die Zwänge unfreien Sprechens, das »corruptissimum saeculum«, der Komplex von Machttechnik, Sachzwängen und Moral, die Monopolisierung von »virtus« beim Kaiser, die stille Polemik gegen die kaiserliche Propaganda); ferner ausführlich und lehrreich R. Häussler: Tacitus und das historische Bewußtsein, 1965, bes. 233ff.; neuerdings lesenswert der glänzende Essay von G. Mann: Versuch über Tacitus, in: NR 87 (1976), 249-280. - Die Problematik einer nicht mehr auf göttliche Providenz zu beziehenden Geschichte wird z. B. von Boccalini im Blick auf Tacitus angeschnitten. In Cent. I, Rei. XXIII, spez. S. 52 (dt. Übers. 1644) läßt er im Munde des Lipsius die provokativen Denkanstöße zusammenfassen: »jhr habt in dem ersten Buch ewer Historien frey herauß gesagt / Gott frage nichts nach dem Heil und wolfart der Menschen / trachte nur dieselbe zu Straffen / welches umb so viel desto abschewlicher / wann es von einem weltlichen Fürsten / will geschweigen von Gott gesagt würde ...«. Vgl. auch den Vorwurf der Gottlosigkeit ibid. S. 240. Alle drei charakterisiert von Etter, 157ff.; zur Wirkung der Straßburger Schule exemplarisch vgl. H. Kappner: Die Geschichtswissenschaft an der Univ. Jena vom Humanismus bis zur Aufklärung. Jena 1931 (Beih. z.Zs. f. thüring. Geschichte, N.F. 14.3), bes. 72f. (Bose als Schüler Boeclers; er gab u. a. Berneggers »Synopse« der »Politik« des Lipsius neu heraus; dazu und zu den Vorlesungen über Tacitus vgl. S. 102ff.). Vgl. Etter, 156f.; Bernegger mußte die Arbeit an diesem Index krankheitshalber im wesentlichen Melchior und Johann Freinsheim überlassen; was bisher nur metaphorisch behauptet wurde (z.B. von J . W . Gebhardt, Fürstliche Tischreden, l.Theil, 1598: Tacitus als »so zu sagen vieler vornemmen Politischen Regeln ein stattlich Register«), scheint nun für den Gebrauch realisiert. Bezeichnenderweise mußten sich der Herausgeber (Freinsheim in der Widmung zu Berneggers Tacitus-Ausgabe) gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, der Index mache die

Für die epochale Bedeutung Berneggers am Jahrhundertanfang ist die Frage relevant, wie sich seine Schriften in die Produktion des gesamteuropäischen Tacitismus einreihen. Diese Bewegung - in wichtigen Untersuchungen leider vornehmlich im Blick auf die außerdeutsche Literatur erforscht 129 - hat im wesentlichen drei Textgruppen hervorgebracht: 130 a) längere Abhandlungen oder Exkurse im Anschluß an ausgewählte Stellen aus Tacitus' Schriften, mehr oder weniger systematisch angelegt, b) politische Beobachtungen und Aphorismen, Marginalien und Randnotizen, Sentenzen-Sammlungen und Florilegien, 131 c) an Tacitus anschließende Traktate, vornehmlich zum Thema Fürstenlehre und Staatsräson. 132 Mit seinen 1640 gesammelt erscheinenden »Quaestiones Miscellaneae« zu Tacitus' »Agricola« und »Germania« schließt sich Bernegger an den ersten der oben genannten Texttypen an. Diese Publikation setzt sich aus einzelnen Disputationen zusammen, die teilweise bereits vorher gedruckt worden waren. 133 Janus Gruters 1604 in Heidelberg vorliegenden »Varii discursus sive prolixiores commentarii ad aliquot insigniora loca Taciti atque Onosandri« 134 Gesamtlektüre entbehrlich (vgl. die Zitate bei Etter, 156f.); auf den erhellenden Charakter der Register für die Analyse von Wirkungsabsicht, Leseerwartung und Gebrauchsfunktion barocker Literatur hat W. Welzig (1976) am Beispiel der Register barocker Romane hingewiesen. 129 Neben den bisher erwähnten Büchern von Etter, Stackelberg und Toffanin vgl. u. a. noch Blüher, Seneca, 371ff. ; ferner K. C. Schellhase: Tacitus in Renaissance Political Thought. Chicago - London 1976. 130 Die hier vorgelegte Einteilung ist übernommen von Stackelberg, S. 84. 131 Zu dieser Gattung gehört in Deutschland der »Aulico-Politicus« (1596) des E. v. Weyhe (1553-1633), der seit 1617 im Dienst Herzog Friedrich Ulrichs v. Braunschweig-Wolfenbüttel stand. Im Vorwort nennt er als Zweck der Maximensammlung, der höfische Politiker solle die Klugheitsregeln des »Magisters Aulicus Cornelius Tacitus« kennen und ihnen folgen; nach dem Vorbild von Guicciardini, Lottini und Sansovino habe er sie ohne Ordnung ausgewählt und nach seinen eigenen Erfahrungen zusammengestellt. Vgl. H. Dreitzel, 110; Uhlig (1975), 39-41 (zur Rezeption von Castiglione und Guevara). Ähnlich: Johann Theodor Sprenger, Tacitus Axiomaticus de Principe, Ministris & Bello. Frankfurt 1658. 132 Zur von Tacitus beeinflußten, antiabsolutistischen Staatsräson-Literatur in Deutschland s. Etter, 166ff. (Cyriacus Lentulus, Professor im calvinistischen Herborn, Clapmarius); die Rezeption der außerdeutschen Tacitus-Literatur ist unerforscht; grundsätzliche Bemerkungen dazu bei Etter, 150ff. sowie 167f.; Scipio Ammiratos »Discorsi sopra Cornelio Tacito« (Florenz 1594) erschienen in lat. Übersetzung von Johannes Pflug 1609 in Frankfurt (weitere Auflagen 1612 und 1618). Die einzige deutschsprachige Übersetzung des Tacitus des 17. Jahrhunderts erschien 1657 von Carl Melchior Grottnitz von Grodnau, Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft (Nr. 601, »Der Behütende«, Aufnahme 1653); von ihm auch ein »Teutsch gekleideter Regiments-Rath« (1647). 133 Vgl. Bünger, llOff.; in Berneggers Erstlingswerk der Tacitusexegese, dem 1619 erschienenen Kommentar zum »Agricola«, ist in der Vorrede der praktische Bezug exakt ablesbar: »... si unquam alias, his certe temporibus et hac scena rerum expedire crederem hune talem autorem, si civilem prudentiam spectes, historicorum facile Principem, juventutis Studiosae manibus ingerì, ut haustis ex hoc uberrimo fonte praeceptis, olim in sua quisque statione ad omnes vitae casus instructiores accederent.« 134 Der zweite Teil dieser Diskurse erschien 1605; Neuauflage 1679; zu Leben und Werk Gruters vgl. Smend; 1607 gab Gruter eine eigene Tacitus-Ausgabe heraus; vgl. Etter, 162. 61

dürfen als Vorbild gelten. A u s Gruters Vorrede zu diesem Werk geht hervor, daß er sein Unternehmen an die vornehme Jugend adressiert, welcher sowohl der Nutzen des scholastischen Exercitiums wie überhaupt die ausschließliche Beschäftigung mit den Alten wenig sinnvoll erschien: Wenn ich, sage ich, nicht auf absurde Weise die adelige Jugend zur Lektüre der Alten aufgemuntert habe oder eine Methode gezeigt habe, aus den klassischen Schriftstellern keinesfalls unfruchtbare Samen für die rhetorische Kontroverse zu sammeln, habe ich mehr erreicht als ich will. Denn daß wir heute die Alten beinahe verachten und nur die Neuen wälzen, ist in der Tat dasselbe, als wenn wir die lebendige Quelle sprudelnden Wassers verlassen, um uns an einem Wasser niederzulassen, das durch einen schmutzigen Kanal abgeleitet und schließlich in einem noch schmutzigeren Sumpf gesammelt ist. (Ü)135 Eine ähnliche Bezugnahme auf Publikumserwartungen läßt sich ablesen aus dem Vorwort des 1658 erschienenen »Tacitus Axiomaticus«. Verfasser, d.h. eigentlich nur Kompilator, war der sächsisch-magdeburgische Rat Johann Theophil Sprenger, zuvor Professor für Jurisprudenz in Heidelberg (J. M. Moscherosch übrigens hat zu diesem Werk ein bisher unbekanntes Geleitpoem verfaßt). Viele werden mich des Irrtums bezichtigen, daß ich ein schreckliches Altertum auf unser Jahrhundert zu wenden beabsichtige, werden mir vorwerfen, daß ich andere Staatskundige preisgebe, die unseren Zeiten angemessener sind und aus denen mit größerer Deutlichkeit und weniger Mühe die Staatsregeln ausgemacht werden können, daß ich zu früheren Epochen heraufsteige und daß Älteres zu durchforschen mehr zur Verwirrung als zur Klarheit beiträgt. [... dann die Replik, W. K.] Viel weniger werden sie das Altertum verachten, wenn sie merken, daß die Ermahnungen des Altertums auf unsere Zeiten passen. Wer möchte nicht glauben, daß bei veränderten Zeitläuften, nach dem Wandel der Staatsformen und des menschlichen Geistes jene alten Dinge nicht so passen, sondern neue Krankheiten auch neuer Rezepte der Mediziner bedürfen? Tacitus freilich - die Gelehrten bestätigen dies - zeigt dieselben Wunden der Reiche, an denen auch unsere Jahre leiden, und dazu passende Pflaster, die man benutzen muß. Wenn man dies bestreiten sollte, kämpfe ich nicht mit Gründen, nicht mit Zeugnissen, sondern mit dem Augenschein, und die allgemeine Zustimmung der Erfahreneren wird mich schützen. Daher kommt es, daß die Modernen aus den alten Regeln des Tacitus die rechten Vorschriften von Herrschaft und Gehorsam entnehmen, - nicht anders als die Bildhauer ihre Bildhauerkunst an den alten Statuen ausrichten... (Ü).136

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S. 3 (1604): » . . . si inquam, haud absurde nobilem adolescentiam áut excitaverim ad lectionem Veterum, aut monstraverim qualemcumque rationem colligendi a classicis Scriptoribus haud quaquam infoecunda, in utramque partem disserendi semina; assecutus sum plus quam volo. Nam quod hodie fere neglectis Antiquis versemus Novitios, idem est profecto ac si relicta viva fontis scaturigine, assideremus aquae, & derivatae per foetidum canalem, & collectae in paludem longe foetidiorem.« J. Th. Sprenger, Tacitus Axiomaticus, 1658. Ad Lectorem, fol. a4/a5v: »Multi me erroris arguent, quod antiquitatem horridam ad nostrum flectere seculum animus sit, alios prodiise, objicient, & nostros temporibus magis aptos statistas, ex quibus majori perspicuitate, & minori labore regulae status enii possent, ad superiora tempora ascendere, & antiquiora perscrutali potius confusionis, quam dilucidationis esse. ( . . . ) Multominus antiquitatem contemnent, cum Taciti mónita, nostris convenire temporibus animadverterint. Quis quidam facilius crediderit, mutatis temporum curriculis, versis Rerumpublicarum & hominum ingeniis, antiqua illa non ita congrua esse, sed novos morbos, novis

Die politische Exegese der Historiker ist also Reaktion auf die drohende »Verachtung der Studien« seitens einer Schicht von Studenten und Rezipienten, für die »politische« Anwendbarkeit, gegenwartsbezogener Gehalt und Wert im Sinne praktikabler Entscheidungshilfen wichtigste Kriterien für die Hinwendung zu den »Alten« waren. Auszumachen ist ein konsequenter Anpassungsprozeß, der sich als Veränderung der Rezeptionsziele und Rezeptionsmodi ausweist. Eine aktuelle Beschäftigung mit Tacitus hat das zu leisten, was H. Conring (De civili prudentia, 1662, 335) an Machiavellis »Discursen« zu Livius als vorbildlich notiert: »non enim grammatizat, sed philosophatur«. Auch Bernegger hat die hier angesprochenen Verschiebungen der Verwertungsinteressen bemerkt und berücksichtigt. Daß er sich dagegen wehrte, den Lehrstuhl der Rhetorik zu übernehmen, hing offensichtlich mit der damit verbundenen Aussicht auf sinkende Hörerzahlen zusammen. 137 Die vorsichtige Sympathie für die Reformvorschläge Ratkes, 138 der Widerwille gegen ein einseitiges Training der »memoria« entsprang einem Bemühen um Praxisbezug, bei dem Bildung des Urteilsvermögens im Mittelpunkt stand. Die Vorschläge Berneggers zur 1619 vorgenommenen Reform der Straßburger Akademie zielen in diese Richtung: »Möchte wünschen, daß es erlaubt were, nit ad calamum dictando (welches bei der mutwilligen Jugend albereit anfangt, für Penälisch, wie sie es nennen, gehalten zu werden) sondern libere disserendo zu profitirn.« 139 Straßburg war eine bevorzugte Ausbildungsstätte für Adelige und Begüterte, die hier an der Grenze der französischen Einflußsphäre, nicht weit vom kurpfälzischen Hof in Heidelberg, sich neben den eher lässig betriebenen Studien die Kenntnis der französischen Sprache und die Tugenden moderner Weitläufigkeit anzueignen suchten. 140 Keinen Einzelfall stellten offenbar jene drei Jünglinge aus dem holstei-

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indigere medicorum praeceptis; verum Tacitus, nec Docti negant, eadem regnorum vulnera, quibus & nostri anni laborant, & congrua, quibus uti debeant, emplastra monstrat. Si contradixeris, non rationibus, non testimoniis, sed evidentia pugno, & communis Peritiorum assensus me tuebitur. Hinc est, quod moderni ex antiquis Taciti regulis justa Imperii & obsequii praecepta non secus quam sculptores ex antiquis statuis sculpendi artem desumant . . . « - Das Moscherosch-Gedicht ibid. fol. b4. Zu Sprenger vgl. Zedier und Jöcher s.v.! Vgl. Bünger 332ff.; u.a. auch den Brief vom 2. April 1635 an J. Freinsheim (ed. Kelter, 1905, S. 25f.); ähnlichen Widerwillen gegen die Übernahme des Lehrauftrags für Rhetorik zeigte übrigens auch H. Conring in Helmstedt (1632, vgl. v. Moeller, S. 34). Vgl. die Rede »De doctrinae parandae ratione« v. 1619, in: Or. ac., 1640, 77-112, spez. lOOff. (die Vorschläge Ratkes werden auf längst geäußerte Meinungen antiker Theoretiker, vor allem Quintilian zurückgeführt; dadurch ist ihre Neuheit zwar bestritten, der Sachgehalt aber gebilligt); vgl. auch Bünger, 240ff. Berneggers Vorschläge zur Reform der Akademie abgedruckt bei Bünger, 221ff., das Zitat S. 229; zu seiner Lehrpraxis s. ibid. 294ff.; zum Gesamtkomplex der Reformversuche an den deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts vgl. den Aufsatz von J. Bücking (1976). Zur Geschichte der Straßburger Akademie jetzt grundlegend das Werk von Schindling, 1978, zu Bernegger S. 280-89; lesenswert ferner Charles Engel: L'école latine et l'ancienne academie de Strasbourg. Strasbourg 1900; G. Meyer: Die Entwicklung der Straß-

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nischen Hause Rantzau dar, die, wie Bernegger schreibt, »nicht um der Studien willen hier verweilen - das nämlich ist ihnen obsolet und beinahe unehrenhaft, sondern um Reiten und Fechten zu lernen«. 141 Die Ritterakademien des 17. Jahrhunderts, vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg aufblühend, versuchten, die hier exemplarisch erkennbaren Konflikte zwischen Gelehrten- und Adelserziehung abzugleichen. 1 4 2 Eine Durchsicht der oben erwähnten »Quaestiones Miscellanaea« ergibt genaueren Aufschluß über das Themenspektrum und die politische Ausrichtung der Tacitusexegese. In jedem Falle werden aus der Beschäftigung mit dem Text Informationen und Erkenntnisse über gegenwärtige Zustände, Escheinungen und Merkwürdigkeiten abgeleitet; dies gilt auch dort, wo für die Interpretation der »Germania« auf die Traditionen des vor allem am Oberrhein beheimateten humanistischen Kulturpatriotismus zurückgegriffen werden konnte. 143 Die Frage, ob die Römer jemals ganz Deutschland beherrscht haben (Qu. 158), entwickelt aus der Kunde germanischer Freiheit sogleich aktuelle Polemik und einen aktuellen Appell: Polemik gegen die Jesuiten, gegen die Deutschen, die sich in den Dienst fremder Mächte stellen (gemeint sind »südliche Völker«, also Italien und Spanien), Aufruf an die Besinnung der Deutschen auf die eigenen Interessen und die eigene Kraft. 1 4 4 Einen zweiten Schwerpunkt bilden pädagogische Fragen, z.B. die Probleme der Erziehung von Adel und Militär als den dem bürgerlichen Schulhumanismus fernstehenden Gesellschaftsgruppen, dazu gehören auch die Aspekte der muttersprachlichen Bildung. 145 Gesichtspunkte der Wirtschaftsethik, z . B . das Problem von Zins und Wucher, Probleme des Naturrechts, etwa die

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burger Universität . . . , Frankfurt 1926; P. Wentzcke: Die alte Universität Straßburg; in: Elsaß-Lothringisches J B . 17 (1938), 17ff.; Straßburg als bevorzugte Universität für Adel und Patriziat: Wentzcke, 62ff.; A.Schulze: Die örtliche und soziale Herkunft der Straßburger Studenten von 1621-1793. Frankfurt 1926; Schindling, 382f.; zur sozialen Schichtung zu vgl. auch K. Goldmann: Straßburg und Nürnberg, in: Mitt. d. Vereins f. Gte der Stadt Nürnberg 46 (1955), 524ff. sowie C. Zwilling: Die französische Sprache in Straßburg bis zu ihrer Aufnahme in den Lehrplan der Akademie, in: Fests. z. Feier des 350j. Bestehens des protest. Gymnasiums zu Strassburg. Strassburg 1888, 255-304; »Politik« als »AdelsWissenschaft«: H. Dreitzel, 104. An Kepler 5. Juni 1627 (ed. Kelter, 64): »De Danis quod quaeris, tres Ranzovii hic agunt, non studiorum, id enim isti iam obsoletum et paene probrosum ducunt, sed artis equestris et gladiatoriae causa.« Mit derartigen »Stutzern« hat sich Bernegger wie auch seine Kollegen mehrfach auseinandergesetzt (vgl. Bünger 213, 226); auch in seinen Vorschlägen zur Universitätsreform denkt er an die, welche sich der rhetorischen »exercitien beschämen« und von denen »seither die reitschul in solchem flore ist ( . . . ) die Academia nit allein negligirt, sondern auch verhasst und verspottet werden will.« Lit. bei H. Dreitzel, 104f.; ferner jetzt Klaus Bleek (1977). Vgl. die Inhaltsübersicht bei Bünger, 115ff. Vgl. Bünger, 122; Schindling, 282-84. Vgl. etwa Qu. 172: »Quale gymnasium filiis Principum, aliisque ad Reipublicae spem educandis, sit frequentandum« (nach Agr. 4.4. und 5.1); Qu. 173 (zur Frage der rechten »peregrinado«; darüber existiert auch ein eigener Traktat Bemeggers); Quo. 204: »An eloquentia militum ducem praeditum esse deceat« (nach Agr. 29. 3; 33. 2); Qu. 210: »Belline vel pacis artes magis necessariae Principi (nach Agr. 39. 3). Selbst in der so

Behandlung der Eigentumsfrage, 146 berühren sich eng mit den eigentlich politischen Themen, zu denen auch das Verhältnis von Staat und Konfession gehört: »Ob die Verschiedenheit der Religion im Staat erträglich ist« - also das Toleranzproblem - (Quaest. 46); 147 »ob Streitgespräche über die Religion im Staat geduldet werden können« (Quaest. 154). 148 Fragen der Staats- und Regierungsform 149 oder das z . B . im Hinblick auf das Haus Habsburg so aktuelle Problem, »ob die Herrschaft bei einer bestimmten Familie verbleiben soll« (Quaest. 160, vgl. auch Nr. 32), führen zu den zentralen Punkten der durch Machiavelli und Bodin repräsentierten Herausforderung überlieferter Herrschaftsordnung. »Ob der Fürst von den Gesetzen entbunden sei«, 150 »ob der Fürst allein ohne den Rat über wichtige Dinge entscheiden soll«, 151 »ob der Fürst sich mit einer Leibwache umgeben soll« und - damit zusammenhängend - : »ob Machiavellis Ansicht richtig ist, es sei sicherer gefürchtet, als geliebt zu werden«. 152 Sollen die Minister eigene Leistungen dem Ruhm des Fürsten zuschreiben? 153 Wie steht es mit dem Widerstandsrecht gegen Tyrannen? 154 Hat Machiavelli recht, wenn er nicht das Geld, sondern die Soldaten für den »Nerv des Krieges« erklärt?155 Bereits aus dieser beispielhaften Auswahl wird deutlich, welche Qualifikationen Bernegger vermitteln will. Der Student bzw. Leser sollte offenbar befähigt abgegriffenen letztgenannten quaestio handelt es sich nicht nur um einen routinemäßig zu traktierenden topischen »Ladenhüter«, sondern um die Übung, in dieser gegebenenfalls für das Wohl des Staates entscheidenden Frage die nötigen Argumente zu sammeln. 144 Zu Zins und Wucher vgl. Qu. 112, 113, 137; zur Eigentumsfrage Qu. 138: »Rerum ac possesionum communitas an probanda« (nach Germ. 26. 2.); hier geht es nicht nur um den Kommunismus Piatos, um die Entwürfe der Utopien (Morus), ganz gewiß auch um die keinesfalls verstummten Stimmen linksprotestantischer Radikaler: vgl. zur Behandlung des Themas H. Dreitzel, 360. 147 »An Religionis diversitas in República ferenda« (nach Germ. 9. 1.). 148 »An & quatenus in República disputationes de Religione ferendae« (nach Germ. 34. 4). 149 Etwa Qu. 55: »An Democratia caeteris Reipublicae formis deterior sit« (nach Germ. 11. 4 und 44. 3.). 150 Qu. 35: »An princeps sit legibus solutus« (Germ. 7. 1.); ähnlich Qu. 163. 151 Qu. 52: »An princeps solus sine Consilio debeat de rebus gravioribus statuere«. 152 Qu 207: »Verane Machiavelli sententia, quod metui quam amari tutius sit« (nach Agr. 32. 3). Hier ging es nicht nur um Machiavellis »Principe«, Kap. 17; ähnlich argumentierten auch christliche Theoretiker wie Botero (dt. 1596, S. 20vff.: Reputation wichtiger als Liebe der Untertanen), ganz zu schweigen von Hobbes, Leviathan, Kap. 14; Furcht als Mittel der Menschenführung war Konsequenz einer pessimistischen Anthropologie, der Überzeugung von der letztlichen Ohnmacht der Vernunft: die Gegenposition bei Cicero (De Off. II, 7), vgl. H. Dreitzel, 400f. ; gegen Machiavelli auch Qu. 163, 182, 183. 153 Qu. 69: »Ministri num a se bene gesta Principis gloriae debeant atribuere« (nach Germ. 14. 3.). Die angeschnittene Frage gehört zum Gesamtsyndrom höfisch-taktischer Anpassung und Zurückhaltung, zur »prudenza inferiore«, die es verbat, klüger oder irgendwie besser als der Fürst zu erscheinen; reflektiert wird die Monopolisierung von Macht und Prestige durch den absolutistischen Souverän (dazu ausführlich die bekannten Werke von Elias und Kruedener). 154 QU. 191: »Num in tyrannos insurgere liceat« (nach Agr. 15. 2. und 30. 5.). 155 Qu. 208: »Rectene Machiavellus statuat, milites potius quam pecuniam esse nervum belli« (nach Agr. 33. 9.). 65

werden, in der Kommentierung des antiken Autors beispielhaft die politischen, juristischen und moralischen Gesichtspunkte eines zu Einzelfällen (causae) aufgelösten historischen Geschehens zu erfassen, in grundsätzliche, topisch zu verallgemeinernde Kategorien und Problemdefinitionen überzuführen und die hier zu bedenkenden Argumente im Rückgriff auf anerkannte Gewährsmänner zu entwickeln, gegebenenfalls gegeneinanderzuhalten. Die am historischen Fall getroffenen Urteile und Entscheidungen waren Vorübungen künftiger Praxis; sie konnten durch Art und Zitierung der Autoritäten sowie durch die Gewichtung und Auswahl der Argumente Positionen umreißen. Antikerezeption dieser Art stand also ganz unter dem Gesetz der Applikation. Als »politisch-historische« beantwortete die humanistische Philologie die Frage nach ihrem Nutzen. Gerade der antike Text bot die Freiheit, auch die heiklen Probleme aktueller Politik modellhaft im historisch Entfernten abzuhandeln, befreite von dem Zwang zur Parteinahme und damit von der Gefährdung durch ein direktes politisches Engagement. Die Stoffwahl, aber auch die Verweisstruktur des barocken Trauerspiels wie auch des höfisch-politischen Romans belegen deutlich, wie diese Möglichkeiten der Historikerexegese auch für die fiktionale Literatur fruchtbar geworden sind. In der Frage, ob die gegenwärtigen Zeiten lasterhafter sind als die alten, 156 steht bei Bernegger auch die Bewertung der Verfallsklage und rückwärtsgewandten Kulturkritik an. Die im folgenden angezogene Rede, Berneggers 1622 gehaltene Rektoratsansprache (ein Jahr nach Erhebung der Akademie zur Universität), entfaltet diese Problematik im speziellen Blick auf den tatsächlichen oder angeblichen »Verfall der Studien«. Die Berechtigung der humanistischen Verfallsklage wird zur »quaestio« und zum Thema der rhetorischen Argumentation »in utramque partem«. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß man im Sprecher nicht den Repräsentanten eines humanistischen Ressentiments in der Nachfolge der erwähnten Beispiele des 16. Jahrhunderts zu gewärtigen hat, sondern einen Mann, der die Konflikte und die Symbiose von Politik und »eruditio«, von Gelehrtenerziehung und neuen Qualifikationsbildern aufmerksam beobachtete. Daß sich die Rede als Diagnose der Gegenwart gibt, aber dabei Prognose der Zukunft und vergleichende Erinnerung an Traditionen impliziert, erweist sie als Frucht der »prudentia«. Aus der Denkstruktur der Klugheit erwächst ein Bewußtsein der Historizität, in dem die Spätzeitlichkeit des Späthumanismus selbst zum Thema wird.

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Qu 108: »num tempora nostra vitiosiora sint antiquis« (Germ. 19. 3.).

II. Dekadenz als Ordnungsverlust

1) Metaphorische Diagnose und politische Semantik der späthumanistischen Zeitkritik Matthias Bernegger beginnt seine Rede, indem er Anlaß und Situation, Dank und ermahnende Vorausschau nach dem Topos »ex similitudine« 1 in einer mehrgliedrig ausgesponnenen Schiffsallegorie zusammenknüpft: er selbst, der neue Rektor, als Steuermann des Universitätsschiffes, Gottes Hilfe als Wind in den Segeln, die Dekane und Prorektoren als Ruderer und Bootsmänner, die Scholarchen, d. h. die Beauftragten des Magistrats, als treue und kluge Schiffsherren. Dies Bild wird weiter ausgeführt: wie ein heimkehrender Schiffer dem ausfahrenden Ratschläge und Auskünfte über Wetterverhältnisse und Gefahren gibt, so hat Berneggers Vorredner und Vorgänger im Amt, der Mediziner Melchior Sebitz, selbst fast schon aus den Wogen des Schulmeeres in Sichtweite des Landes und im Begriffe, bald den Hafen zu erreichen, es aus großen Wohlwollen gegen mich für nötig gehalten, Mahnungen und Warnungen auf den Weg zu geben: wenn nicht, um damit Stürme zu bestehen, so doch wenigstens, den rechten Kurs zu halten und die seichten Klippen zu vermeiden - und dies sogar mit Vorschriften, was wohl besonders bewundernswert, hervorgeholt aus der medizinischen Kunst, in der er selbst hervorragt. (Ü) 2 Sebitz hatte also die Universität im Bilde des menschlichen Leibes dargestellt und seine Ermahnungen als metaphorische Umsetzungen medizinischer Rezepte formuliert. Bernegger greift das sich ihm bietende organologische Modell auf: 1

Vgl. die ausführliche Erörterung der aus dem Topos der »Ähnlichkeit« sich ergebenden Argumentationstechnik bei J. Dyck, Ticht-Kunst, 54ff. (dort zahlreiche Verweise). 2 Die Rede ist abgedruckt in: Orationes academicae, 1640, S. 148-80 (Nr. 5), das Zitat dort S. 148f.: »ipse propemodum e sali scholastici iactatione terram prospiciens, atque adeo portum iam iam attingens, si non de tempestatibus subeundis [...] saltem de recto tenendo cursu, declinandis brevibus scopulis pro sua in me egregia benevolentia duxit admonendum, & quidem praeceptis, id quod vel imprimis mirandum, ex ipsa medica, qua cum excellit arte depromptis.« Die Schiffahrtsmetaphorik gehört zu den verbreitetsten Büdfeldern des 17. Jahrhunderts, weil sich mit ihr alle Faktoren innerer und äußerer Gefährdung (durch Schicksal und Sünde), die Vorstellung des Zieles, des Weges, der Rettung und des Scheiterns (Schiffbruch) allegorisieren ließen. Menschliches Leben überhaupt (etwa ausführlich Aeg. Albertinus, Hirnschleiffer, 158-69), die Gefahren des Hoflebens (etwa Grob, Epigramme II, Nr. 154, S. 157), aber auch - um im politischen Raum zu bleiben - Staat und Gemeinschaft im Bild des schon bei Vergil bedichteten »Staatsschiffes« fanden hier ein Analogiemodell: zum letzteren etwa die detaillierte Exegese in einer Rede des Jesuiten F. Bencius: De comparatone navis & reipublicae, in: Orationes, 1592, Nr. XXIV, 328-340; P. Rusterholz (1973); sowie E. Schäfer bei Jehn, 67

zunächst in Form einer apophthegmatischen Anekdote. Er berichtet, wie Heinrich Iv. von Frankreich gegenüber seiner adeligen Begleitung einmal über einen Rektor der Pariser Universität, einen Mediziner, gesagt habe: »Universitas mea valde aegrotat, cum iam sit sub imperio Medicorum.« Der scherzhafte Hinweis auf diesen Ausspruch ist nicht nur eine geistreiche Anknüpfung, sondern weist auf die Gesamtthematik der R e d e voraus: Heinrichs Abneigung gegen jede Art weltfremder Gelehrsamkeit war ebenso bekannt wie sein Bemühen, durch eine Kommission die Pariser Universität zu reformieren und zu reorganisieren. 3 Berneggers Verteidigung des verspotteten Mediziners bringt nunmehr - oberflächlich gesehen - nichts als eine Reihe von Exempeln für die Behauptung, daß auch Kaiser und Könige seit der Antike Ärzte gewesen sind. D i e Bemerkung, daß die gallischen Könige Geschwüre durch bloße Berührung zu heilen wußten, spielt auf den von der zeitgenössischen französischen Hofpropaganda revitalisierten sakralmagischen Königsmythos an. 4 Mehrere berühmte Namen werden zum Nachweis der Tatsache genannt, daß Ärzte noch in jüngster Zeit auch zu »politischen Dingen« herangezogen wurden und als Ratgeber von Kaisern und Königen fungierten. 5 D i e argumentative Metaphorik des Redeeinsatzes offenbart sich im Rückgriff auf Plato: »Bene gubernare, esse perite medicari.« 6

Toposforschung, 259ff. Aus den zahlreichen Einzeluntersuchungen zur Schiffahrtsmetaphorik sei verwiesen auf: Stückelberger S. 109ff. (zur antiken und besonders stoischen Tradition mit weiteren Nachweisen); zur christlichen Deutung der Meerfahrt als Allegorie menschlicher Gefährdung s. Hugo Rahner: Das Meer der Welt, in: Zts f. kath. Theologie 66 (1942), 89-118 sowie ders.: Griechische Mythen in christlicher Deutung. Darmstadt 2. Aufl. 1957, S. 430ff.; zur Entfaltung des Bildbereichs in der barocken Literatur s. Windfuhr, Barocke Bildlichkeit S. 83ff.; K. Berger: Barock und Aufklärung im geistlichen Lied. Marburg 1951, S. 51ff.; H. Verbeek: Barocke Weltdeutung im Bild von der Schiffahrt des Lebens, in: Päd. Provinz 10 (1956), 551ff.; G. Fricke; Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius S. 227f. u. ö.; Materialien und Zusammenhänge bieten ferner E. R. Curtius, Europ. Lit., S. 138ff.; Β. Blume: Das Bild des Schiffbruchs in der Romantik, in: Jb. d. dt. Schillergesellschaft 2 (1958), S. 145ff. sowie R. Gruenter: Das Schiff. Ein Beitrag zur histor. Metaphorik, in: Tradition und Ursprünglichkeit. Akten des III. Intern. Germanistenkongresses 1965 in Amsterdam. Hg. v. W. Kohlschmidt u. H. Meyer, Bern - München 1966, S. 86-101. 3 Vgl. Hinrichs, Fürstenlehre, S. 329 (zu Heinrichs Iv ironischen Bemerkungen über Stubengelehrte) sowie S. 279 und 333f. (zu den Bemühungen um eine Reform der Pariser Universität). 4 Vgl. Hinrichs, Fürstenlehre, S. 326; M. Bloch : Les Rois Thaumaturges. Strasburg 1924; Moscherosch schreibt in seinem Tagebuch unter dem 22. 12. 1629: »Anno 1626 uff diesen tag hab ich zu Pariß den K(önig) sehen die krancken heilen en la grande Sale ou gal(erie)«: abgedruckt in:Jb.f.Geschichte, Sprache und Litteratur Elsass-Lothringens 16 (1900), S. 187. 5 Bernegger nennt P. Jovius, W. Lazius, J. Sambucus, J. Langius und J. Crato. Zum letzteren vgl. die umfassende Monographie v. J. F. A. Gillet. Bernegger könnte mit dieser Namensliste auf die bekannte Konkurrenz der Hofärzte - meist humanistischer Gesinnung - zu den Hoftheologen und Hofpredigern anspielen und damit den dominierenden Einfluß der Straßburger Orthodoxie kritisieren. 6 Der Satz ist ein Extrakt aus zahlreichen Erörterungen bei Plato: s. F. Wehrli: Der Arztvergleich bei Piaton, in: Mus. Helveticum8 (1951), 177-84; vgl. auch Aristoteles, Politik 81b/82a (= Buch III, Kap. 11). 68

Wenn hier der Fürst mit dem Arzt, der Arzt mit dem Politiker identifiziert wird, erscheint in einer von uns ernst zu nehmenden Weise die Logik der verschiedenen Tätigkeiten aufeinander übertragen, d. h. die plausible Rationalität der ärztlichen Tätigkeit auf der Grundlage von Diagnose und Therapie wird auf den gesellschaftlich-politischen Zusammenhang angewendet. Christoph Besoldus (1577-1638), der Tübinger Jurist, Verfasser zahlreicher politischer Schriften und spätere Kaiserliche Rat, erläutert exemplarisch das Gemeinte: Also muß man die erfahrenen Mediziner nachahmen, die den Puls fühlen und die schädliche Säfte zu erforschen pflegen, bevor sie an die Heilung herangehen. So müssen auch hier die Anlagen, die Natur, die Charaktere und die Affekte der Menschen ziemlich sorgfältig untersucht werden. . . . (Ü) 7

Die Arzt-Metaphorik impliziert das Verständnis der staatlich geordneten Gesellschaft als Körper, dies nicht wie etwa später bei Herder im biologisch-vegetativen Sinn, sondern in einer funktionalen Interpretation. 8 Beide Bildelemente fungieren zusammen als ein Modell gesellschaftlicher Wirklichkeit und des ihr zugeordneten politischen Handelns. Der Wert dieses Modells lag traditionell nicht nur in der hohen Disponibilität und ganz verschieden zu gewichtender Applizierbarkeit - je nach Position und Absicht des Sprechers - , sondern in der Chance überhaupt, die komplexe Problemlage des originären Untersuchungsbereiches, d. h. des Verhältnisses von Herrscher, Staat und Gesellschaft an einem sekundären, allseits einsichtigen, vor allem aber theologisch-dogmatisch unbelasteten Gegenstandsbereich theoretisch zu klären. 9 Der tragende Analogiegedanke entfaltet sich dabei im politischen Denken der Zeit an mehreren Punkten: 1. im Gedanken der Kompetenz und Methode: Politik und Medizin sind zugleich theoretische Wissenschaften wie praktische »Künste«; sie setzen Sachkenntnis und Einsicht in einen speziellen, eigengesetzlichen Zusammenhang von Fakten, Funktionen und Prozessen voraus. Wie nur ein Arzt über den Arzt, so kann auch nur ein Politiker über Politik urteilen. Dies aber bedeutet tendenziell den Ausschluß des Bürgers = Patienten sowohl von Diagnose als auch von The7

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Chr. Besoldus: Principium et finis pol. doctrinae. Straßburg 1625: Diss. II: De República Curanda, cap. VI (»De Symptomatibus Politicorum malorum ac quomodo Respublica poßit emendad?«) S. 170: »Periti ergo Medici sunt imitandi; qui aegroti venam tentare, noxios humores explorare prius soient, quam ipsam aggrediantur curationem. Ita & hic ingenia, natura, mores, affectus hominum, accuratius indagandi sunt . . . « Zu Besoldus vgl. N D B II, 178f.; Stintzing-Landsberg I, 1880, 692ff. Ferner das Lebensbild von E. Niethammer (1941) sowie Kleinheyer/Schröder, Deutsche Juristen, 33-35. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Mechanismus und Organismus erst bei Kant (»Kritik der Urteilskraft«, § 65); zur »organischen« Staatslehre des 18. Jhdt. s. vgl. G. Kaiser: Pietismus und Patriotismus. Frankfurt, 2. Aufl. 1973, 139ff. Zur Modellfunktion von Metaphern vgl. die Unterscheidungen bei M. Black: Models and Metaphors. Ithaca-London 1962, spez. das Kapitel »Models and Archetypes«; im Zusammenhang der Metapherntheorie zusammenfassend J. Nieraad: »Bildgesegnet und Bildverflucht«. Forschungen zur sprachl. Metaphorik. Darmstadt 1977 ( = Erträge der Forschung, Bd. 63), 92ff. Zu diesem Aspekt Ausführungen und Belege bei H. Dreitzel, 117, 229, 380.

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2. in der Bestimmung des Telos: Wie der Arzt um die Gesundheit des Körpers, so hat sich der Politiker an der »salus publica« zu orientieren. Die politische Körpermetapher setzt dabei voraus, daß das staatliche Ganze gegenüber den einzelnen Gliedern und Organen Priorität besitzt und Aufgabe sowie Funktion der Einzelteile auf die Wohlfahrt dieses Ganzen hin vorgängig determiniert und demgemäß den Rang und Bedeutung abgestuft sind. Insofern sich die Sorge um die Wohlfahrt des staatlichen Körpers nicht nur um die ideale Vollkommenheit des glücklichen, unversehrten Lebens, sondern um den bloßen Erhalt zu kümmern hat - dies ist aber die Lage von Notstand und Krise - , ergibt sich aus dem Zusammenhang von Telos und Therapie das Instrumentarium der »Staatsräson« als Handlungsweisung zunächst in Ausnahmesituationen, schließlich als Konzentration auf das »Überleben« des politischen Körpers um jeden Preis.11 3. im Verständnis von Krankheit und Therapie: Der Makrokosmos der im Staat geordneten Sozietät spiegelt den leiblich-seelischen Mikrokosmos des Menschen als Komplex zu erhaltender und zu harmonisierender Funktionen. Die Bedeutung des funktionalen Aspekts fordert die Ordnungsmächtigkeit einer das Ganze regelnden Zentralinstanz. Krankheiten und Krankheitsprozesse sind Symptome funktionaler Unordnung, gestörter Konkordanz. Sie entstehen potentiell an jedem Glied des Körpers, geben sich aber - in der Terminologie der zeitgenössischen Humoralpathologie - als verdorbener Säftehaushalt zu erkennen. Wie die Körper sich durch fehlerhafte und verdorbene Säfte verändern oder korrumpiert werden, krank werden und zugrunde gehen: so werden auch die Gemeinwesen durch verdorbene Sitten niedergedrückt und gehen zerstört zugrunde. Denn die Gründe für den Untergang der Gemeinwesen sind im Grunde moralisch, nämlich Fehler oder Sünden der Menschen, wie die wahren Politiker versichern. (Ü) 12

Die medizinisch-pathologische Diagnose der durch den einzelnen drohenden Gefährdung des ganzen Staats-»Leibs«, d. h. aber der in diesem Zitat exempla-

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Zu den Aspekten der politischen Körpermetapher ausführliche Friihsorge, 59-74; ferner E. Hinrichs, 55ff.; Mauser, Gryphius, bes. 183f.; Wucherpfennig, 94f.; R . G . K r e u z zeigt, wie die Interpretation der »salus publica« abhängig ist von den divergierenden Zielsetzungen politischen Handels; in der Differenz von »Überleben« und »gutem Leben« (felicitas, beatitudo) äußert sich der Unterschied zwischen der Ausrichtung an einem überstaatlichen Maßstab des Guten und einer politisch-instrumentellen Interpretation: zur Körpermetaphorik spez. vgl. S. 184; ein Kompendium der politischen Pathologie stellt das Buch des italienischen Tacitisten Petrus Andreas Canonherius (Canonieri) dar: In Septem Aphorismorum Hippocratis libros Medicae, Politicae, Morales ac Theologicae Interpretationes. 2 Bde. Antwerpen 1618; dort eine katalogartige Analogisierung von Medizin und Politik S. 177ff. und 264ff.; zum Telos etwa S. 177f. (in der aristotelischen Definition von »Staatsräson«): »Sicut medicina pro fine sanitatem, sic Politica civium beatitudinem ac felicitatem habet«. Canonherius a . a . O . , S. 643: »Sicut corpora a vitiosis, & corruptis humoribus mutantur, vel corrumpuntur, aut morbo afficiuntur, & intereunt: sic respubl. a corruptis moribus opprimuntur & oppressae intereunt: nam interitus rerum publicarum causae sunt morales

risch erkennbaren Interpretation von »Sünde« durch Begriffe von Krankheit zeigt, wie die Moralität des einzelnen nicht mehr nur unmittelbar zu Gott und seinen Geboten, sondern funktional-politisch gedeutet wird. Die Begrifflichkeit des medizinischen Sinnfeldes erlaubt es, Fehlverhalten als Resultat von Störungen des Affekthaushalts zu definieren; so wie dieser auf die Wohlfahrt des ganzen »corpus« auszurichten ist, ist die moralische Qualität menschlichen Handelns politisch gesehen an der Zwecksetzung des Staates zu messen. Wie der Arzt die Aufgabe hat, die körperliche Beschaffenheit des Menschen positiv zu regulieren, ist auch der Staat angewiesen auf die durch den Politiker zu leistende Disziplinierung seiner Einzel-»Glieder«. In der Vorstellung der affektbedingten, d. h. aber letztlich durch körperliche Disharmonie erzeugten Störanfälligkeit koordinierten Funktionierens des menschlichen bzw. staatlichen Ganzen liegt das entscheidende »tertium comparationis« von Politik, Moral und Medizin. In der politischen Pädagogik und Staatstheorie der Antike finden wir - wie auch im medizinischen und historischen Schrifttum - das Organismusmodell bereits voll entfaltet und jeweils intentional funktinalisiert. 13 Die mittelalterlichen Fürstenspiegel sowie die Traktatliteratur des Renaissance-Humanismus haben den Topos

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nempe hominum vitia ve) peccata, ut veri politici affirmant.« Der politische Auftrag der auch im pädagogischen und poetologischen Bereich sehr beliebten Arztmetaphorik ist unmittelbar einsichtig. Erziehung wie auch Dichtung stehen im Dienste einer moralischen Disziplin, die sich als Affektzügelung versteht und somit einer Krankheit des politischen Körpers vorbeugt, welche in einer pathologischen Störung im Individuum und durch das Individuum ihre Ursache hat. Andreas Gryphius vergleicht z. B. das zu erziehende Kind mit einem Eisenklumpen: »Was die Arbeit an diesem rauen Metall verrichtet / das thut an dem Menschen eine geschickte Aufferziehung / welche einig die wilden Gemüther so bändig zu machen weiß / daß sie nochmals in dem gemeinen Wesen die richtige Zusammenstimmung machen.« (zit. M. Fürstenwald, S. 40). Die Verkehrung der Renaissancepädagogik ist erkennbar, die eine ganzheitliche individuelle Natur des Menschen voraussetzte und entwickelte. Die ästhetischen Qualitäten der Dichtung ordnen sich diesem moralisch-politischem Zweck unter, ja werden erst durch diesen legitimiert: »Also haben sie (die Dichter, W. K.) diesen artigen Griff erfunden / den Leuten mit einer verdeckten / doch anmuthigen / weise beyzubringen / wofür Sie sonst einen Abscheu trugen. Denen Medicis gleich / welche die Artzeneyen / so etwann den Patienten zuwieder seyn möchten / überzuckern / oder von aussen süsse zu machen pflegen / damit Er solche desto lieber annehmen / und zu seinem besten gebrauchen möge.« (A. Buchner, Anleitung zur deutschen Poeterey, Poet, hg. v. Marian Szyrocki, Tübingen 1966, Anhang S. 5-6). Zum poetologischen Arzttopos vgl. Mauser, Opitz, S. 297; K. Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie, Bd. 1, S. 111; Herrmann, Naturnachahmung, S. 39. - Wie sich die Logik des Arzt-Vergleiches geistlich ausdeuten ließ, zeigt beispielhaft Gryphius Leichenpredigt: »Der Tod als Arzt der Sterblichen« vom November 1957 (s. M. Fürstenwald, S. 104ff.) Vgl. W.Jaeger, Paideia, Bd. 2 (1936) S. llff.; F. Wehrli: Ethik und Medizin. Zur Vorgeschichte der aristotelischen Mesonlehre, in: Museum Helveticum 8 (1951), S. 36ff.; Klaus Weidauer: Thuykdides und die Hippokratischen Schriften (...). Heidelberg 1954, bes. S. 72ff. (der Arzt als Politiker); ferner Gierke, Bd. 3, 18ff., 28ff. 71

tradiert.14 Während aber ζ. B. Erasmus in der Identifizierung des Herrschers mit dem Arzt ausdrücklich das Interesse des Patienten heraushob, demgemäß davor warnte, die Interessen des Fürsten mit denen des staatlichen Ganzen zu identifizieren und die Möglichkeit des Staatskörpers auch ohne Fürst, seine Superiorität über diesen betonte,15 kommt bereits Lipsius gelegentlich wie später Hobbes zu dem Schluß, daß ohne den Fürsten vom Staatskörper nichts als der tote Kadaver, d.h. aber die bloße Menge von Einzelnen übrigbleibe.16 Während bei Erasmus sich die Körpermetaphorik mit der platonischen Identität von rex und philosophus verbindet, zugleich mit einem Tugendkatalog, der den Fürsten auf die Wohlfahrt der Untertanen verpflichetet und das fürstliche Eigeninteresse an die Wohlfahrt des gesellschaftlichen Ganzen gebunden wird, ist bei Machiavelli die Vorstellung des Staatskörpers nicht mehr auf das Ethos der Gemeinschaft verpflichtet, sondern wird zum Modell einer auf die Diagnose und Prognose politisch-historischer Prozesse sowie die Technik politischer Machterhaltung konzentrierten Reflexion. Der Verlust eines vornehmlich religiös definierten Telos staatlicher Ordnung entläßt dabei zugleich den Fürsten aus der Verpflichtung zur Rücksicht auf die Rechte der korporativ konstituierten Gesellschaft. Die Qualifikation des Fürsten besteht demnach in der Erkenntnis und gegebenenfalls energischen Ausnützung der nach den Prinzipien von Ursache und Wirkung funktionierenden politischen Mechanismen.17 Die Unterschiede zum überlieferten christlichen-humanistischen Herrscherbild waren evident.18 Die in den Schriften der althumanistisch und christlich ausgerichteten Staats14

Die christliche Gemeinschaftslehre und die daraus ableitbaren Versuche einer Gemeindeordnung und Biblischen »Policey« konnten sich berufen vor allen Dingen auf Römer 12. 3-8: vgl. Dempf, Sacrum Imperium, S. 80f. ; zur Verarbeitung der antiken Quellen in den politischen Traktaten der Renaissance s. Paul Archambault: The Analogy of the »Body« in Renaissance Political Literature, in: BHR XXIX (1967), 21-53. Zur Rezeption vgl. auch Hans-Peter Dreitzels rollensoziologische Analyse moderner Sozialpathologie: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden in der Gesellschaft (...). Stuttgart 1968 (= Göttinger Abhandlungen zur Soziologie und ihrer Grenzgebiete, 14. Band). 15 Erasmus, Institutio Pri. Chr. ed. Welzig, S. 158f., 178f. (der gute Hausvater), 134,190f., 222f. (»Qui ad commodum publicum spectat, Rex est: qui ad suum, Tyrannus«); 288f.; 306f. : »ne componat se Rex cum quolibet suorum, sed cum universo Reipublicae corpore: Ita videbit quanto pluris sit illa, tot egregios viros ac foeminas complectens, quam unicum Principis caput. Respublica, etiam si Princeps desit, tarnen erit Respublica.« Kofier (Zur Geschichte der bürg. Gesellschaft, S. 194): die Humanisten forderten die »nicht tyrannische, d. h. im Interesse der Allgemeinheit wirkende und womöglich durch bürgerliche Beamte und Gelehrte beratene Fürstenherrschaft«; ähnlich E. Hinrichs, Fürstenlehre, S. 126. 16 Lipsius (Vorrede zum Kommentar zum Panegyricus des Plinius: Op. omnia, Bd. IV. 1637, S. 292): »... Ille (der Fürst - W. K.) est imago & exemplar Dei in terris, rerum moderator & arbiter, in cuius manu positae opes, dignitas, vita omnium nostrum. Sicut anima corpori praeest, & animae ratio: sic Princeps hac Populum regit, & eadem ilia ratio ipsum. Tolle, cadaver ac funus est haec omnis multitudo...«. 17 Zu Machiavelli s. Frühsorge, 80ff. 18 Zum Herrscherbild des 17. Jhdt. s. vgl. bes. den Aufsatz St. Skalweit.

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theoretiker propagierte Metaphorik des politischen Körpers zielte auf eine gemäßigte und moralisch verpflichtete Monarchie. Sie blieb gerade in Deutschland, dem Land partikularer »Libertät« und einer von der Zähigkeit korporativer, altfeudaler und ständischer Rechte gekennzeichneten Verfassungswirklichkeit, ideologisch einsichtig. Die theologisch-ethische Orientierung an der »gemeinen Wohlfahrt« wurde zum Topos der »Policey«, zum gedanklichen Substrat des patrimonialen, hausväterlichen und sittlich verantworteten Fürstenamtes. 19 Gerade die Häufigkeit der am Corpus-Modell orientierten Argumentationen weist allerdings darauf hin, daß durch die europäischen Tendenzen hin zu einem höfischen Zentralismus, die schließlich auch im deutschen Fürstenstaat lange vor ihrer offiziellen Exkulpation offenbar die Erfahrungswelt bestimmten, die Harmonie von politischer und gesellschaftlicher Struktur bzw. Machtverteilung brisant, weil durch eine machiavellistisch praktizierte fürstliche Souveränität gestört und bedroht erschien. Der sich im 17. Jahrhundert steigernde Machtanspruch des Herrschers spiegelt sich denn auch minutiös in der veränderten Akzentuierung der Körper-Allegorie und in einem rigoroseren Verständnis ärztlicher Befugnis und ärztlicher Technik. HeinrichIV. von Frankreich betonte z.B. ausdrücklich die Dominanz des Hauptes und die Berechtigung des Arztes auch zu harten Maßnahmen. 20 Im Bilde des Sonnenkönigs erreichte dann die metaphorische Legitimation der absoluten Majestät eine ganz neue Qualität. 21 Für unseren Zeitraum ist, wie J. v. Stackelberg gezeigt hat, die politischmedizinische Aphoristik von großer Bedeutung, welche sich in der Interpretation des hippokratischen Corpus und im europäischen Tacitismus entwickelt. 22 Wenn auch die darin erkennbare Emanzipation der Politik von Theologie und abstrakter Moralphilosophie in Deutschland ihre Grenze an der offiziellen Geltung des aristotelischen Systems und an den Postulaten der christlichen Herrscherlehre fand, zeigt sich dennoch sehr deutlich, wie sehr das in medizinischer Metaphorik gefaßte, am Gedanken der »politischen Klugheit« orientierte Politik-Verständnis sich als Krisen-»Management« verstand und damit tendenziell eine instrumentelle

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Zur Diskussion der »gemischten« Verfassungsformen Gierke, Bd. 4, 287f.; zum Fortdauern der altständischen Gesellschaft s. K. v. Räumer: Absoluter Staat, Korperative Libertät, Persönliche Freiheit, in: HZ 183 (1957) 55ff. (mit umfangreichen Nachweisen). Vgl. E. Hinrichs, 185f. Vgl. die entsprechende Paraenese eines deutschen Autors: »Dann gleich wie die Sonne oben am Himmel von Gott gemacht und erschaffen ist; und ist ein rechtes Wunderwerk des Allerhöchsten: also sind auch die Könige Fürsten und Herrn von Gott ins weltliche Regiment verordnet und gesetzt. Dannenhero sie Götter genennet werden... Von der Sonne haben der Mond und alle andere Sterne jhr Liecht und Schein: und scheinet die Sonne sowohl den Armen als den Reichen. Also haben Rähte, Beampte und Dienere auch insgemein alle Unterthanen nechst Gott von jhren Fürsten und Herrn jhre Ehre und zeitliche Wohlfahrt.« (1661): zit. nach Forster: The Temper of the Seventeenth Century German Literature. London 1951, S. 9. J. V. Stackelberg: Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes Aphorismus, in Zts. f. Roman. Phil. 75 (1959), S. 322-35; ferner ders.: Tacitus, S. 19ff.; vgl. Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 109ff.

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Praxis der herrschaftlichen Souveränität zum Ausdruck brachte. Der in zahllosen Schriften der Zeit vorgetragene Appell an traditionelle Herrschertugenden wie mansuetudo, benignitas, benevolentia, placabilitas usw. muß verstanden werden als einzig verbleibende Einwirkungsmöglichkeit gegenüber einer regimentalen Ordnungsmacht, deren Interesse sich nicht unbedingt mit dem Wohl des ganzen »Staatskörpers« deckte. Während Erasmus vor allem die lindernde, heilende und schonende Tätigkeit des politischen Arztes betonte, steht nun als Rezept gegen Aufrührer und Dissidenten die Forderung des Lipsius im Raum: »ure et seca«, bei Gryphius später formuliert: »man heilt zuweilen nicht / als nur durch Brand und Eisen«. 23 Deutlich wird der Konflikt zwischen einer Anerkennung der sozialdisziplinierenden Rolle des »Regiments« und der beständigen Furcht vor einer Verselbständigung, dh. moralisch nicht mehr einklagbaren Durchsetzung eines nur von Eigeninteresse diktierten Machtwillens. Deshalb etwa die Mahnung, nicht nur der Körper, sondern auch das Haupt könne erkranken, ja dies sogar bei Gesundheit des Körpers, 24 deshalb die Einschränkung der äußersten politischen Zwangsmittel (»ignis & ferrum«) auf den Notfall, die Ausnahmesituation der »nécessitas«, deshalb der Hinweis, daß »durch zu große Strenge manche Fürsten ihre Reiche verloren hätten«. 25 Die Körpermetaphorik illustriert die zentrale Aufgabe des Politikers, die Symptome politischer Instabilität zu erkennen und die jeweils vom Einzelnen, vor allem vom aufrührerischen Volk, von allen nur »privaten« Aktivitäten ausgehende Bedrohung der staatlichen Ordnung aufzufangen. 26 Es ist bezeichnend für die im Großteil des akademischen Schrifttums vorwaltende Interessenlage, daß die Krankheiten des politischen Körpers von einer Ideologie des Ausgleichs und der Harmonie der gesellschaftlichen Kräfte her bestimmt werden und infolgedessen sowohl die zur Tyrannis entartende Alleinherrschaft des Souveräns wie auch die »Pöbelherrschaft« der »Menge« als besonders gefährlich erscheinen. In der Fabel von Menenius Agrippa, der mit dem Bilde des politischen Körpers die Interdependenz der gesellschaftlichen Gruppen versinnbildlichte und damit die revolutionäre Sezession der römischen Plebs rückgängig machen konnte, las man ein treffendes Exempel für eine am Gemeinwohl orientierte Praxis der Krisenbewältigung. Wir 23

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Der Lipsiussatz stammt aus seinen »Politicorum libri sex«, Buch IV, Kap. 3; das Gryphiuszitat findet sich »Carolus-Stuardus«, Akt III, V. 589 (eine Unterhaltung zweier »engelländischer Grafen« über den Fall Stuart). Der Kontrahent wendet ein (V. 590): »Heist diß das Reich geheilt / wenn nun kein Reich zu weisen?«. Etwa Adam Keller: De officiis juridico-politicis. 1607, S. 150: »Haec (gemeint ist placabilitas, - W. K.) enim atque misericordia semper sit comes justitiae oportet, & recordetur clavum Reipublicae tenens, ei velut corpori etiam posse morbos accidere, qui sanandi potius sint, quam exasperandi; interdum caput laborat aegritudine, valente reliquo corpore...«; vgl. D. Zunner, 1648, bes. 226ff. Ausführlich Adam Keller a. a. O., 524ff. (mit den Autoritäten der christlichen Staatstheorie und Herrscherlehre untermauert). Vgl. etwa Chr. Forstner, Hypomnemata, 1623, Nr. X, S. 53: »De privatorum potentia & remedüs«; zur Trennung von Privatheit, Privatinteresse und öffentlicher Gewalt s. Frühsorge, 88ff.

finden das Beispiel angezogen etwa bei M. Junius, bei A . Buchner, bei Harsdörffer sowie besonders ausgeprägt in einem längeren Traktat von Caspar Dornau, dem Lehrer von Martin Opitz in Beuthen. 27 Auch hier sind zwei Tendenzen beherrschend; »nach unten« wird die Gehorsamspflicht der Untertanen eingeschärft und vor den Gefahren der Demokratie 28 gewarnt, »nach oben« wird in der Kooperation von Groß- und Kleinhirn gegen die Allmachtsansprüche des Souveräns argumentiert. 29 Es artikuliert sich der Wille zu einer moralisch gemeinten, in Bildern der Naturgesetzlichkeit vorgetragenen, damit aber quasi naturrechtlichen Absicherung gegen Herrscherwillkür. Daß hier nicht nur die Partizipation des humanistisch gebildeten Gelehrtenbürgertums - zu denken ist an die fürstlichen Räte - verfochten wird, sondern die intermediäre gesellschaftliche Situation des Bürgertums überhaupt zum Ausdruck kommt, ist kaum zu bezweifeln. Die Anerkennung des Fürsten als Zentralinstanz krisenüberwindender, Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit garantierender Staatsmacht ist gekoppelt mit einer Warnung vor unwillkommenen Konsequenzen absolutistischer Souveränität. Dornau polemisiert mit dem Bild der Ohren, die für alle Töne offen sind (Tugend der »affabilitas«), ζ. B. gegen das heroische Pathos der Distanz, gegen den subtilen Terror der Machtrepräsentation und gegen jene von den Machiavellisten vorgenommene Umwertung, nach der nicht die verbindende Kraft der »Liebe« zwischen Souverän und Untertan, sondern die Respekt und Subordination heischende Reputation als Hauptmittel der Machterhaltung zu

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Junius (1545-1604) Prof. für Rhetorik in Straßburg (vgl. Schindling, 1978, 227ff.) nimmt das Plädoyer des Agrippa aus Dion. Hal. (Buch VI) in seine »Orationes ex historiéis« auf: »Adhortatio ad reconciliationem & concordiam inter plebem ac Senatum dissidentes« (Straßburg 1598, Pars prima, Nr. 24, S. 138ff.); Buchner erwähnt die Parabel in der Vorrede zur Abhandlung eines Schülers »de praecipuis eversionis Rerump. Caußis« (Dissertationes Academicae. Vol. I, Wittenberg 1650, Nr. CXLVIII, S. 463-71); zu Harsdörffer vgl. Poet. Trichter, 3. Teil, S. 59f., Gesprächsspiele Theil II, Nr. CVIII, S. 74; Ars Apophthegmatica, S. 30; vgl. auch M. Tympius, Aureum Speculum, 1629, 984ff. sowie P . A . Canonieri, Interpretationes, Bd. I, S. 178f.; Caspar Dornaus Werk nennt sich »Menenius Agrippa, Hoc est Corporis humani cum República perpetua comparatio« (Vorrede v. 1615), abgedruckt in: Opera ed. Schmiedt, Bd. II, S. 171-266. Der Traktat könnte beeinflußt sein durch die 1564 in Paris erschienene »Anatome corporis politici« des Johannes Michaelis (dazu Frühsorge S. 64f.; zu ähnlichen Schriften s. Wucherpfennig, 95, A. 237).

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Die Demokratie als Verfassungsform wurde in der Zeit ausführlich diskutiert, jedoch in der Regel mit einem ganzen Bündel von schon der Antike (Aristoteles, Cicero u.a.) überlieferten Argumenten abgelehnt: so etwa bei C. M. v. Grottnitz, Regiments-Rath, 1647, 7ff. Vgl. Horst Dreitzel, 276f.; K. Griewank: Staatsumwälzung und Revolution in der Auffassung der Renaissance und Barockzeit, in: Wiss. Zts. der Univ. Jena 2 (1952/53) S. 11-23; Mauser, Gryphius S. 117ff. referiert die zeitgen. Diskussion des Freiheitsbegriffs; dort auch eine seltene, bezeichnenderweise sich als Übersetzung aus dem Holländischen ausgebende Stimme für die »Popular-Regierung«. Ed. Schmiedt, Bd. II, S. 210: »Quemadmodum ergo tutum non videbatur naturae; nervös omnes ex cerebro in subjectas partes tarn dissito intervallo diduci: ita ne arbitretur Princeps; suo ductu conficienda omnia; sed precipuam esse prudentiae partem, alios prudentiores judicare.«

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gelten hat.30 Gegen eine willkürliche Interpretation der Souveränitätsrechte argumentiert auch Dornaus Gleichsetzung des »Vitalis spiritus« des Körpers mit den Gesetzen: ihnen müsse sich der gute Fürst verpflichten. Es geht also um den Kardinalpunkt der epochalen politischen Diskussion: Ist der Fürst »legibus absolutus«? So herrschten die guten Fürsten, von denen ζ. B. Theodosius glaubte, sich an die Gesetze gebunden zu bekennen sei eine würdige Bezeichnung des mit Majestät regierenden Herrschers und in Wahrheit sei es etwas Größeres als die bloße Herrschaft, den Prinzipat den Gesetzen zu unterwerfen. (Ü) 31

Der Hinweis auf die Gesetze darf verstanden werden als Plädoyer für altständische Freiheitsrechte. Der Traktat als Ganzes erweist sich in der Intention der allegorischen Exegese als Versuch einer legalistischen Festlegung des Absolutismus. Wie sehr der Körper-Topos in seiner Auslegung von den jeweiligen Intentionen des Autors her geprägt wird, erweist sich exemplarisch im Vergleich der Dornau'schen Exegese mit einem spätbarocken Beispiel (deutsch 1677), bei dem es summarisch heißt: Dem Menschlichen Leibe nun (sagte Menenius ferner) ist das gemeine Regiment gantz gleich / in welchem die Edelleute und reiche Personen den meisten Nutzen der Republick ihnen zueignen / da indessen der gemeine schlechte Mann sich mit schwehren Arbeiten kümmerlich ernehren mus. Unterdessen aber gleichwie die vom Magen verdäuete Speisen dem Blut und dessen Adern zugeschicket / und die Nerven durch dessen Krafft gestärcket werden: Also bestehet die vornemste Beschützung unnd Stärcke des gemeinen Regiments in dem Adel hoher Personen / und in den Gütern wolhabender Leute: Scheinet dannenhero der Vernunft gemäß zu seyn / daß der Pöbel fein willig und gerne mit ihnen übereinstimme. 31 "

Das im Corpus-Modell zum Ausdruck kommende Ordnungsdenken hat Systemcharakter: die Erhaltung des Ganzen ist abhängig von der störungsfreien Funktion der Einzelglieder, die untereinander im Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit stehen. Insofern geht es bei einer Disfunktionalität in Einzelbereichen bis hin zum Fehlverhalten des Individuums immer zugleich um den Bestand des universalen Ganzen.32 Konkrete Kritik äußert sich als Hinweis auf drohenden Ordnungsverlust. Für die in humanistischen Denktraditionen verlaufende Interpretation einer solchen Erschütterung ist kennzeichnend, daß das zyklische Geschichtsmodell,

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Ibid. S. 221: »Pateat perinde Princeps omnibus; faciles aditus praebeat, non optimatibus solum; sed infimae etiam plebeculae; nullius inopiam ac vilitatem non tribunali, non domo, non cubiculo excludat: de occupatione caussetur nunquam.« sowie - vermittelnd S. 206: »Principie amplitudo atque divina illa existimatio, virtute quidem & interiori adfectu retinetur: sed crescit quoque & propagata extero apparatu« (der freilich, wie weiter ausgeführt wird, auf keinen Fall durch Gut und Blut der Untertanen bezahlt werden darf). Ibid. S. 236: »Sic imperarunt boni Principes: e quorum censu Theodosius, dignam vocem majestate regnantis putavit, legibus alligatum se fateri: reveraque majus esse imperio, submittere legibus principatum.« J. A. Weber, Curiose Discursen 1677, S. 918/9. Zum Ordnungs- und Systemdenken der Zeit ausführlich Mauser, Gryphius, 185ff.

der Topos von Aufstieg und Fall, vom Rückfall in die drohende »Barbarei« aufgegriffen wird. Auch Bildungskritik organisiert sich im Hinblick auf die Gefährdung des Gesamtsystems, dies um so mehr, als im Verständnis des christlichen Humanismus Gesinnung und Gesittung des Individuums von der in Schule und Kirche zentrierten moralisch-literarischen Erziehung abhingen. Der Altorfer Professor Jacob Bruno (1594-1654), ein Lehrer Harsdörffers, beklagt in einer 1622 gehaltenen Rede über die »Gründe für den Untergang der feineren Wissenschaft und Literatur« die Krankheit des »corpus literarium«: Blicke um dich in Deutschland und du wirst sehen, wie die Struktur des literarischen Körpers kaum noch zusammenhängt, der Kopf leidet, das Herz geschwächt ist, Hände und Füße zittern und zucken, weil, worüber ich reden will, eine schreckliche Barbarei als Unwetter aus allen Winkeln der Welt und allen Ständen einbricht. (Ü) 33

Barbarei und Niedergang sind für den Sprecher Resultat des »Neuen« in der Geschichte: die Erschütterung gewohnter Vorstellungen erweist sich als Begleiterscheinung des neuen Jahrhunderts. Dieses ist »verblüht« (»defloratissimum«) und führt in Habgier und Ungerechtigkeit eine »barbariem scilicet ordinumque omnium confusionem« herauf. Dabei merkt der Kranke das heraufziehende Unheil nicht einmal: Denn den Medizinern galt immer als ein Zeichen des Todes, wenn der Kranke die Krankheit selbst nicht fühlt und auf Befragen nicht antworten kann, wo es ihn schmerzt, wie einst Hippokrates lehrte (Ü) 34

Für Bruno ist jene von Plato und Pythagoras beispielhaft formulierte Harmonie zerstört, die jede Gesellschaft begründet. 35 Angesichts dieser Unordnung bleibt nur die Möglichkeit, sich nach rückwärts zu orientieren, ist es doch das »Neue« selbst, das die Konfusion hervorruft: »hodie nihil nisi novum quadrat, antiqua sordent, & negliguntur«. Die Orientierung an der Tradition, der Hinweis auf den von den »Jüngeren« nicht mehr beachteten Luther wirkt dem moralischen Verfall entgegen, der - politisch - die »Veränderung der Gesetze« und den Wandel des »status publici« mit sich führt, von dem Polybios (zu ergänzen: und Machiavelli) gesprochen hat. Auch der Dreißigjährige Krieg erscheint als Folge dieser Zerrüttung. Bereits in der großen Rede des Frankfurter Professors Caspar Hofmann über die »drohende Barbarei« von 1578 ist der »ruinosus rei literariae status«

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Jacobus Bruno: Oratio de causis politiori Literaturae ruinam inferentibus, fol. A 3 (IV): »Circumspice, quaeso, in Germania, videbis quam aegre structura corporis literarij cohaereat, caput dolet, cor languet, manus & pedes tremunt & palpant, quia, quod propositum mihi dicere, hórrida barbaries ab omnibus mundi cardinibus & ordinibus irrumpit tempestas.« Ibid. fol. A 3 (I): »Lethale enim semper medicis signum fuit, quando aegrotus morbum ipsum non sentit, & interrogatus nihil dicere potest, ubi doleat, ut olim docuit medicorum oculus Hyppocrates.« Ibid. fol. Β. Zu den hier angesprochenen Pythagoräischen und Platonischen Harmonievorstellungen vgl. die Zusammenhänge und Nachweise bei Leo Spitzer, Classical and Christian Ideas of World Harmony, bes. S. 8ff. sowie K. Reinhardt: Kosmos und Sympathie ( . . . ) . München 1926.

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Signum einer allgemeinen »tristis rerum humanarum in omnibus ordinibus facies«. 36 Die umfassende Kritik an Imperium, Ecclesia und Academia faßt den kulturellen Bereich ebenso als betroffen vom Ordnungsverlust wie in der eigenen Entartung als Ausgangspunkt und Ursache. Das »Goldene Zeitalter« sei jenes, »cum ordinatissime omnia gererentur«, 37 als Kirche, Schule und Instanzen politischer Macht einträchtig zusammenwirkten. Diese Eintracht sei durch Willkür und Eigensucht der »politici«, also durch die Emanzipation - so darf man verstehen einer spezifisch »politischen« Rationalität zerstört, damit aber auch die »Harmonie« des politischen »Körpers«. 38 Für Hofmann ist es ein Kainszeichen der Epoche, daß die Gerechten machtlos seien, alles entschieden werde nach den »arbitriis poten tum, quorum voluntates expugnabiles videntur«. Die akademische Rede, verankert selbst in einer vom höfischen Zentralismus bedrohten, von Macht und Reichtum isolierten korporativen Institution, wird zur Plattform umfassender Zeitkritik: der humanistische Terminus der »Barbarei« interpretiert die gesellschaftliche »ataxia«, der Topos »de saeculo«, die Klage über das »Greisenalter der Welt« überführen den Gedanken des Ordnungsverfalls in die historische Perspektive des Niedergangs. 39 Der bei Bruno, Hofmann und anderen eindeutig als genuin »politisch« verstandene »Ordnungsverlust« enthält Projektionsmuster einer christlich-platonisch überlieferten Ordnungsmetaphysik, deren naturgesetzliche Verbindlichkeit bildhafte Evidenz gewinnt. So wird das Corpus-Modell bei Hofmann vom Funktionsmodell der Gestirnsharmonie ergänzt und unterstützt: Wie aber die Himmelskörper, die diese unteren Zonen regieren, wenn sie nur ein wenig vom rechten Kurs abweichen, dies nicht ohne vielfältige Schädigung menschlicher Dinge tun (wie bei den Eklipsen ersichtlich): so fließen die Irrtümer der Regierenden sofort über auf Reiche und Völker, wenn sie zufällig vom Sittlichen und Gerechten abweichen aus Pflichtvergessenheit, angetrieben von ihren Affekten, übereiltem Ratschluß oder durch allzugroß Nachsicht gegenüber Zuträgern und den Verlockungen des Geldes. Jene alten >Herrscher und Hirten der Völker< [Zitat aus Homer - W. K.] glaubten, nicht nur für die Unversehrtheit ihrer selbst, sondern auch für die der unteren Magistrate sorgen zu müssen [...]. (Ü) 40

Man muß diesen vom Ethos christlicher Amtsethik getragenen, auch die Regierenden verpflichtenden Appell mit einer Passage eines Vertreters des (christlichen) Absolutismus vergleichen, um zu erkennen, wie deutlich sich die Akzente

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C. Hofmann: De Barbarie imminente (1578), zit. nach der Edition v. 1726: s. S. 157. Ibid. S. 165f. Ibid. S. 171ff. Ibid. S. 175 sowie der ganze Zusammenhang S. 163-184. Ibid. S. 170: »Quemadmodum vero corpora coelestia, quae regunt haec inferiora, si paululum a recto cursu divariunt, non sine multiplici rerum humanarum malo id faciunt: ut apparet in Eclipsibus, ita si gubernatores ab honesto & justo recedere contingat, oblivione officii sui aut percitos affectibus & praecipiti Consilio aut nimia erga delatores & pecuniae aucupes indulgentia, protinus errata redundant in regna & gentes. Porro veteres illi »archontes & poimenes laon« [i. Orig. griechisch - W. K.] non suam tantum, sed inferiorum quoque magistratuum integritatem sibi praestandam esse putabant...«.

selbst bei Verwendung eines ähnlichen Bildfeldes in Richtung auf hierarchische Unterordnung, Subordination unter die Obrigkeit verschieben können. Botero (Von der Anordnung guter Policeyen, dt. 1596, S. 24f.) schreibt: Dan zu gleicher Weise / als die Element / und die andern Cörper so von den Elementen zusammen gesetzet sind / ohn Unwillen und ohne widersprechen sich richten nach der Bewegung und Lauff des Himmels / als welcher seiner natur halben edeler und vortrefflicher ist / daß die Untersten nach den Obersten sich richten: Also sind die Leute gern einem solchen Fürsten und Herrn unterworfen unnd gehorsam / welcher mit seiner Tugend alle andern ubertrifft / und meniglichen vorleuchtet. Es beschwäret sich ja niemand leichtlich / dem underthan zu seyn / der höher und grösser ist / als er. . . .

Der leichte Akzentverlagerung der Bildexegese belegt die fließende, unmerkliche Veränderung vom Ordnungsgedanken des patrimonialen Ständestaates zu dem des hierarchisch formierten Untertanenverbandes. Aus einem Konservatismus der ethischen Gesinnung im Dienste der wankenden Ständeordnung, aus dem Ideal der »guten Ordnung und Policey« wird eine Ideologie regimentaler Superiorität, die in Gefahr ist, als Instrument der Macht zum Selbstzweck zu werden. (Vgl. Leo Just, Stufen und Formen des Absolutismus, in: Hist. Jb. 80, 1961, 143ff.) Für Literatur und Kunst des 17. Jahrhunderts ist von zentraler Bedeutung, daß die gemeinsame Ordnungsideologie in ihren moralischen und politischen Dimensionen ästhetische Konsequenzen nach sie zieht. Erst die Repräsentation von Ordnung, ihr In-Erscheinung-Treten, d.h. aber ihre in sinnenhafter Evidenz zugleich den Affekt bewegenden Eindrücklichkeit, vermag den abstrakten OrdoGedanken wirkmächtig zu machen, ihn einzubinden in einen analogistischen Universalismus, der dem einzelnen zugleich die »gute« Ordnung des Kosmos, der Natur wie die der Gesellschaft ein »sehbar« und verblindlich macht. Ordnung in diesem Sinne repräsentiert sich als »ornatus«; in der ästhetisch-ethischen Ambivalenz des decorum-Begriffs gewinnt die Ordnungsphänomenalität der Welt sozialdisziplinierende Potenz. Nicht zufällig erhebt Caspar Dornau in seinem KorpusTraktat, dessen politische und soziale Intentionen ich bereits umrissen habe, die Einsicht in kosmische Ordnungsharmonien zum Würdezeichen menschlicher Vernunft: Wenn es im Geist des Menschen ein Licht gibt, das uns erlaubt, jedwedes Ding passend zu benennen, so scheint mir dies, soweit ich urteilen kann, vorzüglich bei dem hervorzuleuchten, der dieses weite Gebäude, gefertigt aus Himmeln und Elementen, zuerst »Mundus« (der lat. Ausdruck für »kosmos« - W. K.) nannte. Denn mit angenehmer Schönheit ist in ihm alles Obere, Untere, Einfache und Gemischte geziert: so daß nichts an Großartigkeit großartiger, nichts geziemender im Hinblick auf das Geziemende, an Ordnung nichts zusammenpassender, nichts weiser an Weisheit oder perfekter ausgedacht, ja nicht einmal vorgestellt werden kann. (Ü) 4 1

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Dornaus einleitende Sätze ed. Schmiedt, Bd. II, S. 178f.: »Si quid est ingenio hominum lucis; unde rem aliquam nuncupare possimus nomine convenientissimo [die typische barocke Lust des zuordnenden und ordnungsstiftenden Benennens]: id mihi, quantum judicare valeo, in eo maxime videtur eminuisse; qui aedificium hoc amplissimum, ex coelis elementisque fabrefactum, Mundum primus appellavit. Tam enim amoena pulchritudine ornata sunt in eo omnia supera, infera, Simplicia, mixta: ut nihil ñeque ad

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Die Erkenntnis naturhaft-kosmischer Ordnungshierarchie bedingt somit auch die Anerkennung gesellschaftlicher unveränderlicher Rangordnungen. Hippolytus a Collibus (1561-1612, zunächst Professor in Heidelberg, später Diplomat im pfälzischen Dienst) zögert deshalb beispielsweise nicht, in Analogie zum System der Himmelssphären, der Elemente und Lebewesen unmittelbar zu folgern: »... und es ist nicht anzuzweifeln, daß die Adeligen auch adeligere Positionen einnehmen«. 413 Dies heißt aber, daß Intelligenz, scharfsinniges Durchdringen der empirisch-sinnlichen Welt im Hinblick auf Transparenz der Schöpfungsordnung, analogische und universale Kombinationsgabe als Systematisierung des scheinbar Unvereinbaren und Widersprüchlichen zugleich gekoppelt ist mit moralischpolitischen Postulaten: die naturhafte Ordnung der Gesellschaft, die durch das »Regiment« zu gewährleisten ist, kann nur auf Kosten geistiger Disqualifikation des erkennenden Subjektes bestritten werden. Daraus ergeben sich Verhaltensmaßregeln und Handlungsappelle. Sie sind aus der wissenschaftlichen »Theoria« abzuleiten und implizieren den teleologisch fundierten Gedanken der Selbsterhaltung des Systems: Die Mathematik aber lehrt die einträchtige Ordnung der Dinge und schreibt die Harmonie vor, die man beim Handeln beachten muß; ihr ist nichts harmonischer als Ordnung und Zusammenklang der Dinge, die Dauer und Ewigkeit verbürgt. Denn alles Ungeordnete wird umgekehrt durch seine eigene Zerrüttung und fällt zusammen wie geschwächt durch inneren Dissens. (Ü) 42

Auch die Poesie ist in ihrer Harmonie und Gesetzmäßigkeit Abbild dieses Ordnungsideals. Paul Schede Melissus z.B. hat 1595 in einem längeren Gedicht besungen, wie die Konkordanz der Himmelskörper, die Einigkeit des Hauptes mit den Gliedern des Körpers (gedeutet als »princeps aeque subjectus legi atque subditi«), die »Absurdität aller Diskrepanz und Zwietracht« im Wohlklang der polyphonen Musik und in der festen Gesetzmäßigkeit der Poesie widergespiegelt werden. Die »wohltemperierte Eunomie« des Staates steht in Analogie zur Norm

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magnificentiam magnificentius; nihil decentius ad decorum; ad ordinem nihil concinnius; nihil ad sapientiam sapientius aut perfectius excogitari, ac ne fingi quidem possit.« Zur zeitgen. Definition von »mundus« vgl. O. Casmann (1562-1607), Cosmopoeia, 1958, Iff.: »Universa naturalium corporum comprehensio & compages dicitur. Est autem MUND U S (ab ornatu dictus) corporum tum aetheriorum & superiorum, tum elementariorum ac inferiorum, aliarumque naturarum, quae in his naturaliter continentur bonum & sapienter pulcreque ordinatum Systema«; ferner ausführlich C. Aslacus, Physica et Ethica Mosaica, 1613, bes. 30ff. Hippolytus a Collibus, Princeps Consiliarius, 1598; Anhang mit dem Titel »Nobilis«, S. 356ff., das Zitat S. 357. Wowerus, De Polymathia, S. 293: »Mathemathice autem docet concinnum ordinem verum, & harmoniam praescribit, quam in actione servare oportet; qui nihil convenientius quam ordo & rerum consenus, qui continutationem & aeternitatem conservât. Nam inordinata sua ipsius confusione evertuntur & velut intestino dissidio labefacta concidunt.« - Zur Gemeinsamkeit der ethischen wie ästhetischen Relevanz von »Ordnung« s. Mauser, Gryphius, S. 186f.; vgl. auch zur zentralen Regulierungsfunktion des DecorumBegriffs in der Rhetorik und Stil-Theorie: Sinemus, Poetik und Rhetorik, bes. 53ff.

der Dichtung. Hier fällt nicht nur ein Licht auf den Begründungszusammenhang der Opitz'schen Reform der muttersprachlichen Dichtung, sondern umgekehrt auch auf den tieferen Impuls in der Disqualifikation »regelloser« Literatur. UT Musicarum sunt teretes modi Symphonianim, quos variis sonis Concors in unum conjugavit Melpomene artifici Minerva; Utque in politis carminibus tenor Concinnus aures adficiens, trahit Vinctam Poesin lege certa Ad numéros habilem rotundos: Sic publica in re praecipue est opus, Ut temperatis Eunomiae jugis Decenter ad praefîxa sancti Vincula juris, idoneasque Legum catenas, quam mediocrium Et infimorum, tarn procerum simul Et colla summatum alligentur. (.. .)42a (Wie die gewundenen Weisen symphonischer Musik, die in verschiedenen Tönen kunstreich Melpomene einig zusammenband, wie bei wohlgebauten Liedern der einhellige Grundzug, der die Ohren berührt, die Poesie, gefesselt nach sicherem Gesetz, mitzieht, passend zum wohlgerundeten Rhythums: So ist im Staat vorzüglich Not, daß sich unter das wohlgeordnete Joch der Eunomie - geziemend an die unwandelbaren Fesseln des heiligen Rechts und die passenden Ketten der Gesetze - die Hälse aller beugen: sowohl die der Mittleren und Unteren wie auch der Vornehmen und Herren.) »De desordre en decadence« - mit diesem französischen Sprichwort, das Besoldus in Tübingen zitiert, 43 ergibt sich der gemeinsame Nenner von Ordnungsmentalität und Verfallsklage. Aufgabe der politischen »Klugheit«, speziell ihres prognostischen Abschätzungsvermögens ist es, »Heilmittel« gegen die Ursachen zu finden, aus denen die Unordnung des Ganzen hervorgeht. Dazu bedarf es des Erkennens der Anzeichen und Symptome, der »praecognita« und »praesagia« möglicher Veränderungen. Nicht nur die Beobachtung der Wirklichkeit, also die rationale Überprüfung und vergleichende Untersuchung gesellschaftlicher Defekte, zu verstehen als moralisches Fehlverhalten von Individuen und Gruppen, erscheint als notwendig, Indizcharakter besitzen auch irrationale Formen der Prognose: Prophezeiungen, Offenbarungen, Visionen, Träume, astrologische Spekulationen. 44

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P. Schede Melissus: Meletematum Piorum, 1595, Melos IX, S. 303-305. Vgl. zum »Ornatus mundi« auch das ähnliche Gedicht ibid. S. 3f. 43 Besoldus, Principium et finis Politicae doctrinae (1625), S. 164. 44 Vgl. z. B. Besoldus, Principium et finis Pol. doctrinae, ausführlich Kap. V (S. 147-167): »De praesagiis ruinae Rerumpublicarum«, sowie ibid. Diss. II, Kap. 2, S. l l l f f . »De Repub. curanda« sowie Kap. 6, S. 167ff.: De Symptomatibus Politicorum morborum ac quomodo República poßit emendari«; vgl. auch neben zahlreichen anderen politischen Autoren der Zeit, die man an den angegebenen Stellen zitiert findet, noch den Bemegger-Schüler J. H. Boeder: Institutiones Politicae, S. 248ff. (De Remediis Rerumpublicarum corruptioni opponendis). Entsprechende Erörterungen sind natürlich auch zahlreich in deutscher Sprache, vgl. z. B. C. M. v. Grottnitz, Regiments-Rath, 1647, III, 81

D i e Fülle diesbezüglichen Schrifttums um 1600 - man denke nur an die Grappe der astronomisch-astrologischen Kometenliteratur - bezeugt die angstvolle Anspannung des Blicks in eine Zukunft, die unberechenbar »Neues« heraufzuführen schien. Was aber, wenn alle »remedia« versagen, alle menschlichen Mittel der Krisenbewältigung? Auch diese Frage wurde diskutiert und in der Regel zugleich beantwortet im Rückgriff auf die bereitliegende theokratische Geschichtsteleologie, welche allein die Erfahrung einer sinnvoll nicht mehr zu ordnenden Welt auf die im Glauben gesicherte letzte, göttliche Ursache hinzudenken erlaubte. 45 Indem sich in diesen Fällen Weltgeschichte und Heilsgeschichte zur Deckung bringen lassen, übernimmt die rhetorische Zeitkritik Formmuster der alttestamentarischen Prophetie; in ihr als vor-modernem Typus der Prognose ist zukünftige Geschichte antizipiert, ihr Angstpotential vermindert, weil alle Bedrohung zugleich als göttliche Strafe - vorherbestimmt, biblisch angesagt, exemplarisch in der Heilsgeschichte vorgezeichnet - gedacht werden kann. Besoldus macht in diesem Sinne in einer 1614 in Tübingen gehaltenen Rektorratsrede »Über die Gefahren unseres Zeitalters« (»De periculis nostri saeculi«) den »politicus Antichristus« nicht nur für die Phänomene moralischer Entartung, ja zugleich auch für

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Cap. lOff., S. 447ff. sowie die Spezialabhandlung eines Paul Matthias Wehner: Metamorphosis Rerumpublicarum Von Veränderung/Undergang/Verwandlung und Perioden der Regimenten / und deren Ursachen ( . . . ) Frankfurt 1665. Der Verfasser weist zur »Erkandtnuß der Kranckheit« ausdrücklich auf das »doppel und zwiefach Gesicht« des »Regenten und Weltweise(n) Politici« hin: »eines auf die vergangene Zeit und verlauffenes Wesen / das andere aber auff die zukünfftige und hoffende Ding / ehe dann sie sich im Werck ereygnen / haben und gute Auffachtung geben sollen / damit auf beyder Seiten Collation und Gegenhaltung / was einem zu thun und zu lassen / zu erfinden.« (S. 17) Hier zeigt sich das Grundkonzept der politischen Klugheit. Wie die anderen Theoretiker beschäftigt sich auch Wehner ausführlich mit den Arten der »praecognitiones«: erstens den göttlichen und prophetischen Offenbarungen (z. B. durch Träume und Visionen), zweitens durch teuflische Offenbarungen, durch Erfahrungen vor allem in Gestalt einreißender Laster sowie drittens durch prognostische Spekulationen wie z. B. astrologischer Art. Wie auch sonst unterscheidet auch Wehner nicht eigentlich zwischen Symptom und Ursache: gesellschaftliche Konflikte sowie natürliche Vorfälle sind sowohl kausal als auch teleologisch zu interpretieren. In die Symptomenlehre der politischen Krankheiten fließen sowohl die traditionellen Lasterkataloge wie auch die bei Aristoteles diskutierten Ursachen für Verfassungsänderungen und Revolutionen ein: vgl. dazu Horst Dreitzel, bes. S. 398ff. und 404f. sowie exemplarisch die katalogartigen Zusammenstellungen bei J. Bornitius, Partitionum Politicarum Libri Iv, 1608. Er unterscheidet in den vier Büchern vier Aspekte der Politik: De República fundanda, conservanda, amplificanda, curanda. Der letzte (S. 120ff.) untersucht a) morbi, b) causae morborum, c) prognostica, d) remedia, e) prophylactica, f) therapeutica. Diskussion der Fragen etwa bei Besoldus, Principium et finis pol. Doctrinae, Diss. II, Kap. 6, S. 167ff.: mit Verweis auf die Rosenkreuzer und Boccalini »Interdum seculum respuit medicinam«. Daraus ergibt sich die Erkenntnis: »mederi reipublicae non esse in potestate humana. Ergo ante omnia placandus est Deus (...) namque ubi peccata adhuc vigent, ibi in vanum laboramus...« Für den Politiker ist deshalb zu überlegen »sua Prudentia an Fortuna respublicae constent.« Hier zeigt sich die Verbindung der epochalen Fatum-Fortuna Problematik mit den Ordnungspostulaten und der Frage nach der Handlungsmächtigkeit des einzelnen im politischen Feld.

politische Bedrängnis und wirtschaftliches Unheil verantwortlich. 46 Er polemisiert gegen jene, die das »Goldene Zeitalter« schmeichlerisch mit der Gegenwart identifizieren und zeichnet wiederum im Rückgriff auf die Körpermetaphorik ein düsteres Bild der Lage: Nun aber erfahren wir jeden Tag, daß alles ins Schlechtere stürzt und, im Grunde erschüttert, entartet, daß weithin Verbrechen und Verwirrung aller Dinge nachwachsen, daß wir weder Heilmittel noch die Krankheiten und Laster weiter ertragen zu können scheinen: was im politischen gleichermaßen wie im menschlichen Körper nur den grausamen Tod beschleunigen kann. Wer deshalb verneint, daß wir uns in einem Abschnitt wunderlicher Veränderung befinden, der muß entweder sehr stark oder überhaupt dumm sein. (Ü)47 Bildungskritik gewinnt aus dieser Optik der Zeitkritik ihre Konturen; der traditionelle Humanismus - dies war, wie gesagt, der entscheidende Anstoß für Lipsiusscheint ungeeignet für Daseinssicherung und geistige Orientierung in der Krise, aber auch für eine moralisch-politische, den Einzelnen betreffende, auf den öffentlichen »Nutzen« bezogene Erziehung. Bildung und Studium der Wissenschaften scheinen uns gewissermaßen mehr im Wege zu stehen als zu nützen: die wir ohne Frucht und nicht zu wahrem Zwecke lernen. Nämlich nicht um daraus richtiger leben oder tapferer sterben zu können. Wer will nun Helvidius Priscus nachahmen, der, wie Tacitus wußte, noch als Jüngling seinen Geist den höheren Studien widmete; nicht wie die meisten, um mit einem glänzenden Namen faulen Müßiggang zu verhüllen, sondern um desto gefeiter gegen die Zufälle des Schicksals die Geschäfte des Staates zu ergreifen. Manche stellen (heute) die nützlichsten Disziplinen zurück und treiben schäbigerweise reine Nichtigkeiten. (Ü)48 Zielpunkt der Kritik ist der Formalhumanismus, jene Philologie, die auch Lipsius in Philosophie überführen wollte. Eine humanistische Erziehung, so Besoldus, die

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In: Templum Iustitiae (Sammelband). Tübingen 1616, S. 123-138 (darnach zitiert). Ein kennzeichnender Passus (S. 133, § 20): »Divitiae priorum temporum nobis sunt ablatae; Pars quam habemus, abituritionem minatur aperte: sola tantum Vitia crescunt, Nil nobis de pristina reliquum est prosperitate, nisi sola omnino crimina, quae prosperitatem non esse fecerunt. Quis metuit mortem & irridet? nos & in Belli metu captivitatis ludimus, & positi in alimentorum angustia maxuma, ridemus, peccamus (...) Et ideo Propheta clamat ad Deum: Percussisti eos, & non doluenint, attivisti eos, & renuerunt accipere disciplinam...« (nach Jeremias 5.3). 47 Ibid. S. 126 (§ 6): »Nunc autem, omnia in peius ruere, & retro sublapsa referri, adeo passim scelera atque rerum omnium confusiones succrescere, quotidie experimur; ut nec Remedia, nec Morbus atque vitia, nos amplius ferre posse videatur: quod in corpore Politico aeque ac in Humano, non nisi Mortem cruentam accelerare potest. Unde qui negat nos in articulo admirabilis mutationis versari; eum vel nimis fortem, vel omnio stolidum esse oportet.« 48 Ibid. S. 135 (§ 27): »Eruditio & Studia Literarum, plus nobis obesse, quam prodesse quoddammodo videntur: qui sine fructu, nec ad verum finem addiscuntur, non ut inde rectius vivere, vel fortius mori queamus. Quis nunc imitari cupit Helvidium Priscum: Qui, ut Tacitus norat, Iuvenis admodum, illustre Ingenium altioribus studiis dedit; non ut plerique, ut nomine magnifico segne otium velaret: sed quo firmior adversus fortuita, Rempublicam capesseret. Utillissimis disciplinis posthabitis mera »adoxa« (i. O. Griechisch - W. Κ.), mera paradoxa, scabiose nonnulli tractant«. 83

sich nur mit dem beschäftigt, »was uns zu wissen oder nicht zu wissen nicht mehr interessiert«, wie z . B . » ( . . . ) , ob Aeneas zuerst mit dem rechten oder mit dem linken Bein sein Schiff bestiegen hat«, muß jenen Gebildeten Recht geben, die »der Gelehrtenrepublik gewissermaßen eine große Niederlage voraussagen«. Das Studium der Alten, so an anderer Stelle, nütze der »Tugend«, aber nur insoweit es »mehr zum öffentlichen Nutzen als zur privaten Ergötzung betrieben werde«. Bildung und Wissenschaft geraten hiermit selbst in die Dichotomonie von Öffentlichkeit und Privatheit, die der gesellschaftlichen Omnipotenz des Staates entspricht. Literarische und sittliche Erziehung der Jugend, falsch betrieben, d.h. nicht ausgerichtet auf die von der Wohlfahrt des Ganzen 4ier zu definierende Bestimmung des Einzelnen, werden selbst zu Ursachen der »allergefährlichsten Veränderungen«.49 Der sozialdisziplinatorische Auftrag des gerade in dieser Funktion bejahten Staates formuliert die Bewertungsmaßstäbe auch für den Geltungsanspruch der »litterae«, nicht mehr aber der Konsens der Gelehrtenrepublik als ideeller Vereinigung gebildeter Privatleute. Die als »exordium extra rem«50 erkennbare Redeeinleitung Berneggers ist nach alledem nicht nur plaudernder Anschluß an den Vorgänger, wie Bünger gemeint hat (S.248, 253), sondern zitiert ein im Denken der Zeit geläufiges Bildmodell, das in der Kombination vielfältiger Analogien und aktueller Applikationsmöglichkeiten die eigene Situation des Sprechers und das Thema der Rede derart zu explizieren vermag, daß die Interdependenz von bildungs- und hochschulspezifischer Problematik mit den Zuständen von Staat und Gesellschaft präsent ist. Wenn Bernegger nicht ohne Ironie vermerkt, sein Vorredner habe keine Vorschläge für das Verhalten in »tempestates« gegeben, deutet er auf das Ziel der eigenen Ausführungen, die Situation der akademischen Gelehrtenkultur und der humanistischen Tradition genauer ins Auge zu fassen.

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Chr. Besoldus: Principium et finis Politicae Doctrinae, Diss. I, Kap. 5, S. 158. »Si item loca, ubi bonae literae moresque juventuti inculcentur, sint vel moribus depravata, vel institutio ibi non rite tractetur, mutationes periculosissimae instant.« Vgl. auch Besoldus' Feststellung in seiner »Synopsis doctrinae politicae« (1620), S. 60: »Studia literarum reformatione indigere, multi putant: id ut non abnuerim; ita magis dolet, ea a prisca integritate indies recedere magis.« Die Theorie des exordium wird in den zeitgenössischen Rhetoriken ausführlich behandelt. B. Keckermann schreibt z. B. in seinem Systema Rhetoricae (in: Systema Systematum, Bd. I, Kap. X I , S. 1024ff.): «Exordium asciticium (das entspricht dem. e. extra rem - W. K . ) sive externum est, cum argumentum ducimus non ex ipsa tractatione, sed vel a persona nostra & auditorum, vel a tempore, vel a loco, vel a connexione thematis cum praecendentibus, vel a laudatione nostri thematis, vel etiam ab elegantia sententia, sive Chria alicuius autoris.«

2) Die todkranken Studien: Historizität als angefochtene Tradition a) Bilder der Spätzeitlichkeit Das »exordium ante rem« ist bei Bernegger wie in vielen Beispielen der humanistischen Deklamationsliteratur als historische Anekdote gestaltet. Durch ein allegorisches Scharnier wird das Referat dieser Anekdote wiederum in den grundlegenden Bildbereich der medizinischen Krisendiagnose eingebettet: Cornelius Celsus (der Verfasser von acht Büchern über die Medizin aus der Zeit des Tiberius) berichtet - so Bernegger 51 - von einem Arzt namens Philippus aus Epirus, der es unternommen habe, die Wassersucht eines Freundes des Königs Antiochus zu heilen. Ein anderer Arzt verneinte die Möglichkeit einer Heilung, weil er die Unmäßigkeit (»intemperantia«) des Kranken durchschaut hatte. Der zweite Arzt behält gegenüber seinem Konkurrenten recht, der Patient stirbt »nec tarn inscitia neglegentiave medici quam sua ipse temperantia«. Aus dieser Geschichte entwikkelt Bernegger seine Bedenken zu den redlich gemeinten Rezepten seines Vorgängers und zugleich jene »quaestio«, welche die Struktur der Rede bestimmt: Ich muß bekennen, daß mir Derartiges in den Sinn kam, als ich diese Rezepte zur Verwaltung der Respublica Académica hörte, aus dem Zentrum der Medizinischen Kunst selbst hervorgeholt, bei Gott, schön, außergewöhnlich und ausgesucht und, wenn es welche gibt, die auf sie hören, zum Heil des Menschengeschlechtes geschaffen. Aber was nun, wenn der Kranke selbst (ich will nämlich die Studien gleichsam als einen gewissen Körper auffassen, um den sich der Fleiß der Ärzte bemüht), was nun sage ich, wenn dieser Kranke entweder so von Alter erschöpft und ausgemergelt ist, daß er nichts vermöchte, auch wenn er wollte, oder so aufgeblasen und widerspenstig, daß er nicht wollte, selbst wenn er medizinische Hilfe von irgendeiner Seite an sich heranlassen könnte? [...] Und in der Tat gibt es Leute von bedeutendem Ansehen in Wissenschaft und Literatur, die immer wieder behaupten, diese unsere Studien seien zu einer extremen Vergreisung heruntergekommen und schwebten nun an der Schwelle des Untergangs, ja sogar jenes geistreiche Diktum des Parasiten bei Terenz anführen, mit dem er einen von ihm aufgeschreckten Alten verspottet: [... ] Schon ist's Zeit, wem es passt, zum Begräbnis der >litterae< zu gehen. (Ü)52 Dies also ist das Thema der Rede: »das Greisenalter der Studien«: »Warum bemühen wir uns noch um die todgeweihten >litterae< wider das Gesetz der 51 52

Orationes academicae (1640), S. 153. Ibid. S. 153f.: »Tale quippiam in mentem mihi venisse diffiteri nequeo, cum audirem Academicae gubernandae Reipubl. praecepta ista, ex ipso artis medicae meditullio deprompta recitari, pulchra, sic me Deus amet, egregia, exquisita, &, si sint, qui obtemperent, ad salutem nata generis humani. Sed quid si, cogitabam, aeger ipse (fingam enim & ego studiorum hoc ceu corpus quoddam, circa quod medicorum occupetur industria), quid si, inquam, hic aeger aut ita senio defectus & exhaustus viribus sit, ut ne possit quidem etsi maxime velit; aut ita contumax ac refractarius, ut neque velit, si possit ullius opem admitiere medicam? (...) Atqui sunt perfecto magnae in Uteris famae viri, qui studia haec nostra ad extremam dedueta senectutem, ac promemodum im limine fati nunc haerere dictitant, imo Parasiti Terentiani dictum illud lepidissimum, quo in senem a se modis omnibus exagitatum festivissime ludit (...) »Exequias Uteris ire, quibus est commodum iam tempus est«. 85

Natur?« Bernegger will den »litterae den Puls fühlen« und zunächst die Gründe derjenigen anführen, »qui adeo de literatura meliore despectent«. Den Hauptteil der Rede nimmt dieses Referat der kulturkritischen Pessimisten ein, auf das der Redner dann Punkt für Punkt antwortet. Die formale Anlage des Ganzen ist demgemäß durchsichtig: es handelt sich um eine Kontroverse, in der eine causa, hier die Meinung fingierter, aber nicht fiktiver Gewährsleute in pro und contra abgehandelt wird. Bernegger verläßt schon mit der so pointierten Fragestellung die herkömmlichen Bahnen der »oratio sollemnis«, schwenkt nicht in das genus demonstrativum ein, um mit einem leichten Abtun der kritischen »Prolepse« den traditionellen apologetischen Traktat über Nutzen und Würde der litterae zu liefern. 53 Die konkrete Frage, die »quaestio finita« wird nicht durchgehend durch »quaestiones infinitae« topologisch amplifiziert und dabei ins Allgemeine verflüchtigt, sondern bleibt als Frage nach der Spätzeitlichkeit des Späthumanismus präsent, in der konkrete Erfahrungen und Konflikte der Zeit verarbeitet und mit den Mitteln der Rhetorik schließlich ebenso appellativ wie kritisch-wertend aufgehoben werden. Berneggers Fragestellung findet in den Reden und Traktaten der Zeit ein reiches Echo, wie zum Teil in den oben erwähnten Texten schon ersichtlich wurde. Der Niedergang der Studien wird dabei in einer ganzen Reihe von Bildern ausgedrückt. Wir finden die Metapher vom Schwanengesang54 und das Bild der sinkenden Sonne: Aber wie wir sahen, daß das Licht der gerade eben untergehenden Sonne süßer ist, so auch, daß uns die literarische Bildung gerade in ihrem Verschwinden angenehmer sein muß; und daß auch die Ungebärdigen den letzten Anblick einer untergehenden und nie mehr zurückkehrenden Sache festhalten: sei es weil die Verärgerung aufgebraucht ist und Wildheit durch Mitleid ersetzt wird, sei es weil die Erinnerung an eine vergangene Sache, die wir nicht mehr in unserer Gewalt haben, eine schmeichelnde Empfehlung an die Hand gibt. (Ü) 55

J. Caselius (1533-1613), den man den letzten Humanisten nannte, greift zurück auf humoralpathologische Kategorien der »Kälte« und sieht sich selbst in einer Art von Heroismus der Spätzeitlichkeit auf einsamer Wacht, ja beinahe auf verlorenem Posten. Das folgende Zitat stammt aus einer Magisterrede von 1602, eben jenem Jahr der vorläufigen Ausbootung der Helmstedter Humanisten unter dem Druck der Stände und der Orthodoxie, dem schließlich auch der kunst- und

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Zur Kontroverse als Teil des genus suasorium, (eigentlich ein Typus der Gerichtsrede) vgl. die Ausführungen bei Vossius, Commentariorum Rhetoricorum Libri Sex, Buch I, cap. IV, S. 27ff. Zur deklamatorischen Technik der Prolepse (»ratio occupandi quae videntur obstare«): Quintilian Inst. Or. IV, 1, 49/50. M. Simonius, D e litteris pereuntibus, 1618, S. 187. Ibid. S. 142: »Verum ut solis iam iam cadentis lumen dulcius esse videbamus, sic nobis gratiores esse debere abeuntes litteras; Rei Pereuntis, & nunquam amplius reversurae novissimum aspectum, etiam feroces retiñere: sive quod consumpta indignatione, ac saevitia misericordia subeat, sive quod rei praeteritae, & quae amplius in potestate nostra non sit memoria lenocinium commendationis sumministrat.«

literaturfreundliche, humanistisch gesonnene Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel nachgeben mußte. 56 Caselius schreibt: Denn wer weiß nicht, daß anderswo das Studium der Sprachen friert und daß andernorts bald diese, bald jene freien Künste und Wissenschaften, die sich eigentlich so nennen, entweder darniederliegen oder nur noch saumselig betrieben werden? Denn wir kennen die zahlreichen Stimmen sowohl der Studierenden wie auch der Gelehrten: von denen beklagen sich jene, daß ihre Jugendzeit vernachlässigt wird, diese - und hier vor allem die Alten - verkündigen aus dem, was sie sehen, mit Schmerzen der Nachwelt die Barbarei: diesen stimme ich trotzdem nicht zu, weil ich sehe, daß die Musen noch nicht die Hände strecken einer wenn auch noch so drohenden Barbarei, und weil ich sehe, daß ihnen noch bisweilen gütig unter die Arme gegriffen wird. Aber wenn all diese Sorge auch nach allgemeiner Meinung vor allem die Fürsten angeht (was ich nicht leugnen möchte; ihnen geziemt es, hoch zu schätzen und zu schützen nicht weniger die Künste des Friedens als die des Krieges); dürfen auch wir dennoch nicht den Wachposten der literarischen Bildung verlassen, auf den wir von Gott gestellt sind. (Ü)57 Die Drohung einer »Barbarei« der Zeit, einer Krise und eines Niedergangs der Studien konkretisiert sich in der Feststellung eines »contemptus studiorum«, einer Verachtung der Studien, und wird damit auf ihren sozialen Nenner gebracht. Für Calixtus, den humanistisch und irenisch gesonnenen Helmstedter Theologen, sind die Verächter der Studien durchaus ernstzunehmende Männer, denn der Grund ihrer Meinung liegt in einer Unwissenheit: nicht diese einfache und gänzliche, nach der die Künste total verkannt werden, sondern eine andere, die verbunden und vermischt ist mit einigem Anteil an Bildung« (d.h. einer) »Unkenntnis mehr falscher Einstellung als reiner Verneinung«. (Ü)58

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Über Caselius vgl. H. Kämmel in ADB, R. Neuwald in NDB; am gründlichsten: Henke, Calixtus, Bd. 1, S. 48 u.ö.; neuerdings im Gesamtzusammenhang der Entwicklung der Helmstedter Universität sowie der politischen und religiösen Frontenbildung im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel: H. Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, 16ff., 44ff., 99ff. 57 Diagraphe [i.O. griechisch - W. K.] Magisterii Philosophie!. Helmstedt 1602, fol. D. 2: »Nam quis nescit, alieubi studia linguarum frigere, alijs in locis alia liberalium artium & scientiarum, quae ita proprie appellantur, aut lacere aut tractari segniter admodum? Crebros enim nos tum studiosorum adolescentum, tum doctissimorum sermones cognoseimus: quorum mili aetatem neglectam queruntur, hi, & cum primis senes, barbariem ex ijs, quae vident, posteritati cum dolore denunciant: quibus tarnen non assentio, cum videam Musas nondum dare manus, quamvis truci Barbariae, & eas interdum benigne sublevari. Haec autem omnis cura tametsi potissimum ad principes pertinere iudicatur, quod inficiari nolim: quos magni facere & tueri non minus artes pacis quam militiae decet, siquidem hae ad illas recte semper referuntur: tarnen neque nos stationem litterariam, quo loco a Deo collocati sumus, deserere debemus.« 58 Vgl. Calixtus. Orationes selectae. Helmstedt 1660: Quaestio De causa odii, quo exercetur hodie Philosophie et decrescentis apud nos indies solidae eruditionis quam in actu promotionis XI Magistrorum (...) Anno MDCXIX alicui e Candidatorum numero recitandam suppeditavit, S. 125-139, das Zitat S. 129f.: »inscitia, non ea simplex & omnímoda, per quam artes penitus ignorantur, sed alia, quae cum nonulla eruditionis partícula sit conjuncta sive commista« (d. h. einer) »ignorantia pravae potius dispositionis, quam purae negationis.« 87

Nicht die Bildungsferne des nichtakademischen »Pöbels«, sondern die mangelnde Attraktivität der »Studien« selbst für den Gebildeten wird beklagt: Philologie, Grammatik, Lektüre der »auctores« bleiben in den Augen nicht nur der Unerfahrenen, so A . Buchner, sondern auch derer, die als gelehrt gelten wollen, den Liebhabern »unnützer Künste« überlassen. . . . was uns aber alles nicht erschüttern darf, ja vielmehr anspornen muß, tapferer und eifriger gegen die Barbarei der Zeit zu kämpfen, und wenn auch nicht zur Burg der gelehrten Bildung aufzusteigen, so doch uns ihr immer strebend anzunähern. (Ü)59 Der ideale Wert von Kulturtradition ergibt sich gerade aus dem Kontrast gegenüber den »gewinnträchtigen« Qualifikationen. D i e drohende Isolation angesichts rationaler Verwertungsmaßstäbe und Verwertungsbedürfnisse wird aufgefangen im Appell an die moralische Standfestigkeit des Einzelnen gegenüber den Verlokkungen des Geldes, gegenüber der Orientierung an den faktischen Nötigungen sozialer Sicherung und sozialen Aufstiegs. Calixtus wie Buchner konstatiert, daß die »solida eruditio« in der »täglichen Erfahrung« (»quotidiana experientia«) mit Haß und Verachtung verfolgt werde; er blickt nostalgisch in eine bessere Vergangenheit und stellt sich mit der Frage nach den Ursachen des »Verfalls« auch die Frage nach dem Charakter der gegenwärtigen Epoche sowie der Verantwortung für die beklagten Zustände. D i e s e werden von ihm nicht als Folge fataler Unausweichlichkeiten, sondern als Folge menschlichen Versagens interpretiert: Wenn wir sehen, daß die solide Bildung Tag für Tag sich mindert und abnimmt und daß nicht leicht einer unter uns sich finden läßt, der mit den alten Priestern der Bildung und Wissenschaft verglichen werden kann, so scheint mir hier der Grund für die bei uns abnehmende und zusammenfallende Bildung vorzuliegen. Denn ich wage nicht die Natur anzuklagen, als sei sie ausgemergelt und erschöpft, als wenn sie, die einst an Geist und Urteilskraft hervorragende Männer hervorgebracht hat, nun schwach sei und versage und nicht das Späte mit dem Frühen ins Gleiche bringen könne. (Ü)60 59

A. Buchner. Epistol. opus posthumum, Ed. secunda. Dresden 1680, Pars II, Nr. LV, S. 174-214 (ein ausführliches undatiertes Schreiben, das den Charakter eines Traktats über Sinn und Methode des Studiums annimmt) das Zitat S. 175: »Quae tarnen omnia de statu nos deturbare non debent, quin incentivo potius esse, ut fortius alacriusve in Seculi pugnemus barbariem, & utut ad eruditionis arcem non possimus ascendere, ad illam tarnen semper anhelemus.« 60 Calixtus, 1660, S.28ff.: De Recto Iuventutis Informatione et Praeceptorum Officio (1627), das Zitat S. 37: »Quum solidam eruditionem indies minui & decrescere videamus, neque facile inter nos repertum iri, qui cum antiquis litterarum & scientiarum mystis comparari queant, decrescentis & labascentis apud nos eruditionis eadem mihi causa esse videtur. Neque enim naturam, ut effoetam & decrepitam accusare ausim, ac si quae olim homines ingenio & judicio praestantes produxerit, nunc deficiat, nec primis postrema aequare valeat«. In seiner an den Nürnberger Rat und Patrizier Georg Remus gerichteten Widmungsvorrede seiner »Delitiae poetarum Germanorum« (1612, unpag.) schneidet auch Gruter die Frage an, ob man die »Seltenheit« wahrer und großer Dichter in der Gegenwart »den Sternen, dem Wandel der Zeit, dem »Kreislauf der Dinge« zuzuschreiben solle oder nicht lieber auf jene »praeposteros« verweisen müsse, »qui dignitatem divinae artis collutulant sua barbarie, sua inscitia, dum paßim id videri dicique volunt, quod minime omnium sunt...« Zur Abwehr des fatalistisch interpretierten Dekadenzgedankens vgl. unten Kap. B/V. 88

Calixtus wendet sich also gegen das in der europäischen Spätrenaissance vertretene Theorem vom »Verfall der Natur«; er sucht Verantwortlichkeiten und damit Abhilfe, vor allem im Kampf gegen die Mißstände der Schulpraxis und das Elend der Lehrer. 61 Der eigentliche Adressat derartiger Klagen ergibt sich aus der Feststellung: Die Adeligen und Reichen sind gewöhnlich davon beinahe überzeugt, daß die Studien ihres Adels und ihres Reichtums nicht würdig seien. (Ü)62 Die »Proletarisierung« der Humanisten, Gelehrtenschule und Artistenfakultät als eine Domäne der Armen, von den wohlhabenden Aufsteigern entweder gemieden oder schnell abgemacht: dies sind Hauptpunkte des Ordnungsverfalls aus althumanistischer Sicht. 63 Der in der Ideologie der »nobilitas Iitteraria« vertretene Gleichheits-, ja Suprematsanspruch gegenüber Feudaladel und Erwerbsbürgertum, gegenüber Macht und Geld scheint in der Praxis widerlegt und damit jene gesellschaftliche Harmonievorstellung, die in der Identität von Stand und Prestige (»dignitas«) ihren Ausdruck findet. Das späthumanistische Gelehrtenbürgertum sieht sich Anfang des 17. Jahrhunderts mit einer Entwicklung konfrontiert, nach der subjektiv elitebildende Qualifikationen nicht mehr unbedingt die Zugehörigkeit zur gesellschaftlich führenden Schicht und die Teilhabe an den gesellschaftlichen Chancen verbürgt. Die Geltung der Studien und die Geltung ihrer Vertreter leiden darunter, daß sie, wie Caspar Hofmann schon 1578 scharfsinnig diagnostiziert, vom Volke beargwöhnt, von den »Magnaten verachtet« und von der neuen Führungsschicht der höfischen Verwaltungsaristokratie zwar nicht abgelehnt, so doch problematisiert und kritisiert, nach dem Wert und Nutzen für die Praxis allein gemessen werden: Nun ist die Sache soweit gekommen, daß die Studien verachtet darniederliegen und die für den Staat nützlichen Disziplinen wie aus der Höhe verachtet werden, so daß der Name eines Gebildeten gleichermaßen bei den Höchsten wie bei den Niedrigsten verhaßt ist und das Zeugnis einer durch Leistung errungenen scholastischen Würde nur noch nicht 61

Im einzelnen werden u.a. bemängelt: die fehlende Begabungsbewertung und Auswahl der Schüler, d.h. aber die Folgen der Monopolstellung der Gelehrtenschule; daraus resultierend der Überfluß an »Scheingelehrten«; die unangemessene Besoldung der Lehrer mit der Konsequenz des häufigen Wechsels und der negativen Auslese; plädiert wird für eine sorgfältige Handhabung des Stipendiatenwesens. Ähnliche Stimmen sind zahlreich. Die Reformpädagogik der Zeit (u. a. Comenius) hat sich mit den hier angedeuteten Mißständen immer wieder auseinandergesetzt. 62 Calixtus, 1660, 37f.: »Solent enim nobiles & divites fere persuasum habere, studia non esse sua nobilitate & divitiis digna«. 63 Der Begriff »Proletarisierung« ist kein unangemessener Anachronismus; er findet sich etwa außer in der unten wiedergegebenen Redepassage von Bernegger auch in Gruters Vorrede (1612), unpag., hier bezogen auf die Gelehrten des 16. Jhdts. und deren mit dem Elend der Gegenwart vergleichbaren Lebenssituation: »... Caeteri omnes agunt inter capite censos, inter proletarios; contenti totam vitam sordido oblectari pane. Nam cedo sis mihi vel profusißimae munificentiae Mecoenatum, ostendam tibi rursus eundem hactenus amare literas, quatenus ipsis indulgent alimenta carceris; quibus quidam vivant in diem, sed non etiam instruant rem familiarem. Unde quotidie videmus a funere eruditißimi quique, uxorem eius liberosque ad pudendam illieo dilabi egestatem.« 89

schmachvoll zu sein beginnt bei denen, denen nichts wichtiger ist als der Ton der Jagdhörner. Verwunderlich aber ist es, daß die Studien und Schulen auch von denen vernachlässigt werden und gehaßt sind, die eben deshalb, weil man glaubt, daß sie etwas gelernt haben und wissen, Ehre und Achtung genießen... (Ü)64 D i e Dissoziation der scholastischen Gelehrtenrepublik in ein akademisches »Proletariat« einerseits - dies war die Masse der Studenten, bestimmt für Kirchen- und Schuldienst, nicht über das »magisterium« hinauskommend, angewiesen auf Mäzenatengunst, Protektion der Mächtigen - und die Gruppe der Aufsteiger andererseits, deren Selbstverständnis nicht mehr von der Beherrschung der disreputierlich werdenden scholastisch betriebenen »litterae« bestimmt war, äußert sich bei Bernegger höchst signifikant in der Koppelung der sozialen Diagnose mit dem Topos des Verfalls: Denn sie [die Kulturpessimisten - W.K.] glauben, daß in unserem Deutschland die humanistische Gelehrsamkeit, wie die Alten formulierten, ermatte und - da sie nichts habe, über das sie weiter fortschreiten könne, nach dem Verbrauch aller Wachstumsmittel - nach dem Gesetz der Sterblichkeit dem Untergang entgegensehe, allmählich obsolet werde, selbst schon infolge ihres Alters friere und daß außer den Gelehrten aus dem Pöbel und diesem proletarischen Haufen nur überhaupt wenige große und vornehme literarische Geister übrig seien, die, wie die Letzten ihre Geschlechts, Namen und Zeichen der Musen mit ins Grab ziehen würden. (Ü)65 D i e offenkundige Abkehr der Jugend von den »bonae artes« gehe so weit, daß es »beinahe eine neue Sache, ja ein Wunder« sei, einen eifrigen Studenten in diesen Fächern zu finden. Welche andere Zeiten, als Reuchlin und Eoban Hesse vor 300 bzw. 1500 Schülern lasen! Denn wie wenige Studenten gibt es, die nicht fürchten, verfärbt, beschmutzt und geschändet zu sein, wenn sie öfter die Bänke des Hörsaals drücken oder die Vorlesungen der Professoren besuchen. (Ü) 66 64

C. Hofmann, De Barbarie imminente, S. 186: »Nunc eo res rediit, ut contempta jaceant & frigeant studia, & disciplinae Reipublicae utiles velut ex alto despìciantur, ita ut apud summos pariter & imos eruditi nomen propemodum invisum sit, & virtute partum Scholasticae dignitatis testimonium tantum non contumeliosum esse incipit, apud eos, quibus Panico cornuum sono nihil est antiquius. Mirum autem est, ab istis quoque negligi, & in odio esse studia & Scholas, qui ob hoc ipsum quod didicisse aliquid & scire putantur, in honore & existimatione sunt (...)« 65 Orationes ac., 1640, 161f.: »Nunc enim in Germania nostra doctrinam humaniorem, ut antiqui loquebantur, delinquere putant, & cum non habeat, quo progreditur ulterius, incrementis omnibus consumptis, ex lege mortalitatis ad occasum spedare, paulatim obsolescere, ipsa vetustate iam frigere ac praeter istos ex plebe eruditos, & hanc proletarian! turbam, paucos omnino superesse rei literariae proceres, qui velut familiae extremi, Musarum nomina atque insignia secum sint in sepulcra tracturi. »Den historischen Hintergrund beleuchtet Bücking, Reformversuche (1976): vornehmlich aus wirtschaftlichen Gründen widmeten sich Dreiviertel der Studenten des 17. Jahrhunderts nur den propädeutisch-artistischen Fächern, von diesen schlossen aber nur etwa 25% mit dem Baccalauréat, nur 5% mit dem Magisterium ab (vgl. spez. S. 367). 66 Orationes ac., 1640,162: »Quotus enim quisque studiosorum est, qui non decolorali, imo pollui, incestari metuat, si auditorio, subsellia premat saepius, recitationesque Professoroni, quas vulgo lectiones appellant, frequentet. Metuunt quippe ne probrosum in vulgus a penna nomen haec eis diligentia conciliet.« 90

Daß Klagen dieser Art letztlich die Kluft zwischen humanistischer Bildungsideologie und der realen Verteilung sozialer Chancen übersehen, bleibt nicht unausgesprochen. C. Scioppius (1576-1649) weiß für den, der »reich werden will« ohne sich an den »illiberalen Künsten«, d.h. an Kaufmannschaft und Militärdienst die Hände schmutzig zu machen, ohne andererseits zum »Parasiten« des Hofes zu werden, nur den Weg der Jurisprudenz, d.h. aber die Qualifikation für den Aufstieg in die Verwaltungsaristokratie. Für den Musen jünger und Sprachbeflissenen sei an das alte Sprichwort zu erinnern, demnach »die Schwester eines guten Geistes die Armut« sei. Den mit dieser Armut ringenden, sich um die »politiores literae« bemühenden Gelehrten trifft die Feststellung, daß die Fürsten keinen Geschmack an Literatur haben, und niemandem etwas blindlings schenken, es sei denn für eine Leistung, die sie zum Zweck der eigenen Belustigung oder zu nützlichen Diensten gebrauchen können. (Ü) 6 7

So wie die Fürsten zeigen sich etwa bei Harsdörffer auch die Kaufleute von der »Gelehrten Armut« unbeeindruckt, die »Ackersleute« aber wissen nur zu antworten, daß sie Mitleiden mit ihr hätten / in dem sie / aus Blödigkeit / andern die Unsterblichkeit versprechen, / in dem sie fast selbsten hunger sterbe .. , 68

Zahlreiche weitere Zeugnisse der Zeit ließen sich anführen, in denen die dargelegte prekären Erfahrungen ausgesprochen werden und mit adhortativem, apologetischem oder polemischem Grundtenor die »Verachtung der Studien« und die »Barberei des Zeitalters« vermerkt werden. In einem Brief des späteren Rothenburger Bürgermeisters Johann Georg Styrzel, eines späten, jedoch typischen Vertreters des bürgerlichen Gelehrtenhumanisms, produktiv als Verfasser lateinischer Lyrik und mit zahllosen Geistesverwandten in reger Korrespondenz,69 erscheint in der Perspektive des 20. Mai 1623 der »wiedergewachsene« Baum der Renaissance beschnitten und zu einem Strunk zurückgebildet. Styrzel schreibt an den Ulmer Patrizier Hammonius Besserer, erinnert sich der gemeinsamen Schulzeit und bricht eine Lanze für dessen philologische Interessen und althumanistische Gesinnung. Diese bezeugt zu finden, erregt seine besondere Freude, 67

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C. Scioppius, Consultationes, 1671, 54f. (mit Bezug auf Gruters Sammlung lat. Inschriften): »At ego non nescio, quae res faciat, ut politiores literas interius docti, cum rei familiaris angustiis plerumque luctentur. Principes hodie nullum literarum gustum habent, neque quicquam cuiquam temere largiuntur, nisi quo vel voluptatis suae vel utilitatis administro uti queant. Itaque Assentatores & Ridiculi sive Parasiti hilaritatis per meliora dicta artifices, tum vel maxime Lenones ac perductores adulteriorum interpretes aucta parte passim apud Reges & cujuscunque generis Principes inveniuntur, quoniam eis jucundi sunt.« Harsdörffer: »Der Gelehrten Armut«, in: Nathan und Jotham, 1650, 2. Teil, unpag., Fol. Pv Styrzel (1591-1668) gehörte zu den Briefpartner von A. Buchner, Moscherosch und den Straßburgern wie Rompier von Löwenhalt und J. H. Boeder, ferner von J. V. Andrae, Harsdörffer, Zeiller, Schupp u. a. Von seiner ca. 3000 Briefe umfassenden Briefsammlung ist nur weniges gedruckt, ein kleiner Teil handschriftlich erhalten. Die am meisten interessierenden Briefe an ihn sind leider bisher nicht auffindbar.

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zumal ich zu meiner großen Freude sehe, daß unser gegenwärtiges Zeitalter, mag es auch offenbar allmählich zur Barbarei der alten Zeit zurückgleiten, noch nicht so fruchtlos ist an Produkten humanistischer Bildung, daß es nicht wie ein gestutztes und bis auf den Boden zurückgeschnittenes, aber noch nicht ganz trockenes Bäumchen, wenn auch nicht gerade viele Triebe in der Art hervorbringt, wie ich es eben bei dir gerne und freudig erkenne (Ü)70 und er ruft ihm, dem Liebhaber der Philologie als der althumanistischen Zentraldisziplin, aufmunternd wie scharfblickend zu: Tu, was du tust, und fahre fort, wie du fortfährst: und kümmere dich keinen Deut um das, was die Spötter der schönen Wissenschaften und die anderen, die nur »Reales« genannt sein wollen, entgegenblöken... (Ü). D i e Frage nach der »Spät«-zeitlichkeit des »Spät«-humanismus ist hier aus der Optik der Betroffenen thematisiert und beantwortet. Die zitierten Belege sind jeweils rhetorisch funktionalisiert, adressatenbezogen und gattungstypologisch abgebunden - als Element vor allem der »adhortatio« - , belegen jedoch ein zusammenhängendes Argumentationssystem, in dem sichtlich konkrete Erfahrungen verarbeitet werden: die Konfrontation von »Verbalismus« und »Realismus«, die Pauperisierung und Abstiegsangst des niedrigen Gelehrtentums, dem korrespondierend der Prestigeverlust des humanistischen Literaten allgemein, die ausbleibende soziale Gratifikation literarischer Leistungen, die sozialen Spannungen innerhalb der »Gelehrtenrepublik« und des »corpus scholasticum«. D i e »laudatio temporis acti« versteht sich so als Selbstversicherung angesichts eines aus der Latenz heraustretenden Unbehagens, der moralische Appell füllt ein Sinndefizit aus, das aus der Funktionskrise traditioneller humanistisch-literarischer Qualifikationen, zugleich aus einer Legitimationskrise der kohärenten Geltungsansprüche resultiert. Aufgefangen wird die »Diskrepanz zwischen noch florierendem Wissenschaftsbetrieb und den Regungen des Neuen«. 7 1 Wie zu allen Zeiten der Geschichte - man denke an Spätantike und Spätmittelalter 72 - erweist

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Handschriftlich in einem Augsburger Briefkonvolut (Epistolarum Centuria I, Nr. 1, fol. a. Stadtbibliothek Augsburg Signatur 4° Cod. H. 20): »praesertim, cum magno meo cum gaudio, videam, seculum nostrum praesens, utut ad pristinae aetatis barbariem sensim relabi videatur, non tarnen adeo esse effoetum bonarum literarum, quin aliqua subinde, licet non ita multa, veluti trunca, & ad solum usque recisa, ñeque plane adhuc arida arbuscula germina producat, quale modo te lubens laetusque cerno.« Das folgende Zitat: »AGE QUOD AGIS, & PERGE VELUT PERGIS: neque quid literarum optimarum osores & alij, qui modo REALES se dici volunt, ogganniant unius assis aestimes...« Das Bild vom Baumstumpf hat biblischen Referenzwert (Dan. 4.7ff.): umfassend G . B . Ladner, Pflanzensymbolik, 364. R. Vierhaus in: W. Müller-Seidel (Hg.): Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft, S. 18. Zur Spätantike vgl. Jakob Burckhardt: Die Zeit Konstantins des Großen, hg- v. Felix Stähelin, Berlin-Leipzig 1929, S. 206-235 (»Alterung des antiken Lebens und seiner Kultur«); Franz Hampl: Römische Politik in republikanischer Zeit und das Problem des »Sittenverfalls«, in: HZ 188 (1959), S. 497-525; Franz Altheim: Spätantike als Problem, in: Soziol. und Leben, hg. C. Brinkmann. Tübingen 1952., S. 166ff. - Zum Spätmittelalter neben den bekannten Arbeiten von Stadelmann, Rehm und Huizinga auch Rudolf

sich die Verfallsklage als allgemeinste Kategorie der argumentativen Verarbeitung erlebter Historizität, indem sie gerade diese aufzuheben bestrebt ist. Das Bewußtsein des Transitorischen der akzeptierten kulturellen Tradition repliziert dabei, wie deutlich wurde, auf sozialgeschichtliche Veränderungen, in denen der geistigliterarische Monopolanspruch einer bestimmten Schicht in Frage gestellt, d. h. im Horizont gewandelter bzw. konkurrierender Namen der Akzeptabilität problematisiert wird. Die späthumanistische Klage hat nichts zu tun mit späteren nachromantischen Erlebnis- und Ausdrucksformen der Spätzeitlichkeit und des epigonalen Bewußtseins. 73 Sie ist im Rahmen der Zeitkritik angesiedelt und als Teil einer umfassenden Zeitdiagnose verstanden; fatalistische Gedankengänge werden im allgemeinen abgewehrt; das Bewußtsein der eigenen kulturellen Kompetenz bleibt erhalten, ja wird nicht selten heroisch gesteigert. Die Isolation der »solida doctrina« von Macht und Reichtum ist schmerzlich empfunden, kehrt sich argumentativ jedoch gegen die »Bildungsverächter« selbst. Die »Krankheit« des »literarischen Körpers« ist Gegenstand einer gesellschaftlichen Pathologie überhaupt. Darin liegt der politische Impetus dieser Art von Kulturkritik. b) Gründe und Symptome des Kulturverfalls Verfolgt man den Katalog von zeitgeschichtlichen Erscheinungen, die in Berneggers Rede als Gründe und Indizien des Kulturverfalls angeführt werden, schälen sich drei Komplexe heraus: a) die mangelnde Unterstützung der politischen Machthaber für Schule, Gelehrsamkeit und Bildung, b) äußere Faktoren (Krieg, Teuerung und Geldverfall), 74 c) »innere«, d.h. in der Praxis des Gelehrtenschulwesens selbst angelegte Depravationen und Defekte. Im ersten Punkt wird hingewiesen auf den Mißbrauch der ökonomischen Ressourcen der Schulen und

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Koch: Klagen mittelalterlicher Didaktiker über die Zeit. Diss. Göttingen 1931. Einen Streifzug durch die Jahrhunderte unternimmt Hans Delbrück: Die gute alte Zeit, in: Preuß, Jb. 71 (1893). Delbrück mißt den immer wieder anzutreffenden laudationes temporis acti gerade wegen ihrer typologischen Gleichheit keine Bedeutung bei, während Rehm sie als objektive Zeugnisse der Epigonenzeit interpretiert. Beide Standpunkte sind zu überwinden durch den hier unternommenen Versuch, Klage als Kommunikationsform von Kritik als Anti-Kritik, als Modus spezifischer Interessenvertretung und Wegweiser zu epochalen historisch-gesellschaftlichen Problemkonstellationen zu interpretieren. Zur Phänomenologie spätzeitlicher Literatur und spätzeitlichen Denkens vgl. die Ausführungen von F. Martini: Spätzeitlichkeit in der Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Stoffe, Formen, Strukturen. Fests. f. Heinrich Borcherdt. München 1962, S. 440ff.; W. Kohlschmidt (Hg.) Spätzeiten und Spätzeitlichkeit. Vorträge, gehalten auf dem II. Internationalen Germanistenkongreß 1960 in Kopenhagen. Bern-München 1960, bes. S. 16-26 (»Die Problematik der Spätzeitlichkeit«); M. Windfuhr: Der Epigone: Begriff, Phänomen, Bewußtsein, in: Archiv für Begriffsgeschichte 4 (1959), S. 182-209. Zu den »publica« und »privata mala«: Orationes, S. 168-170; vgl. die Klagen von Martin Opitz über die kriegsbedingte Rückkehr »ad pristinam studiorum barbariem« im Widmungsschreiben seiner Klagelieder Jeremiae: abgedruckt bei Reifferscheid, S. 863f. sowie: Geistliche Gedichte, ed. Trunz 1966, S. 36ff.

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Studierenden für fremde Zwecke.75 Dies sei verbunden mit einem antischolastischen Affekt. Die Geringschätzung der »professoria lingua«, also der Gelehrtensprache, sei Zeichen einer Opposition gegen das Lehramt überhaupt.76 Grundsätzlich gestört erscheint die Korrespondenz von Leistung und Belohnung, letztere sowohl materiell wie ideell verstanden: Den Guten Künsten werden heute weder Ehre noch würdige Belohnungen zuteil: dies selbst gilt als augenscheinlichstes Argument für die Tatsache, daß die Studien ebenso wohlfeil werden wie ihrem Untergang sich nähern. (Ü)77

Die großen literarischen Beispiele mäzenatischer Förderung der »litterae« gehören, so Bernegger, zu den ausgestorbenen Erscheinungen.78 Daraus ergibt sich die betrübliche Prognose: Wie also die Fackeln, die niemand geschwungen entflammt, von selbst schwächer werden und schließlich verlöschen: so darf es nicht verwunderlich erscheinen, daß die weder durch Ehren noch durch Belohnungen angeregten Studien mehr und mehr ermatten und alles auf die alte Barbarei zuläuft. (Ü)79

Im Hinblick auf die »inneren« Zustände des Bildungswesens, auf die Praxis des Lernens und Lehrens, hebt Bernegger wiederum drei Beobachtungen heraus: a) die Vernachlässigung der klassischen Texte, das drohende Übergewicht der »modernen« (»recentes«) gegenüber den altbewährten Autoren, b) die damit zusammenhängende Mißachtung elementarer Bildungsvoraussetzungen, wie sie in der humanistischen Artistenfakultät vermittelt wurden (Grammatik, Eloquenz, Dialektik, Geschichte und Kenntnis der Antike überhaupt), c) die scholastischspitzfindige, von »wahrer« Gelehrsamkeit abstechende Betriebsamkeit der höheren Fakultäten.80 Der zweite Punkt rekurriert auf die seit der humanistischen Reorganisation der Universitäten geläufige Beschwerde über das vorschnelle »progrediren«. Warnungen vor der Vernachlässigung der humanistischen Propädeutik durchziehen die

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Orationes, S. 169: »Ego vero facilius ostendam aliquem Iustinianum, qui stipendia bonarum artium magistris antiquitus obsignata, tollat aut certe minuat.« Ibid. S. 168: »Nam hodie quidem docendi munus, non unius Pistocleri immiti superbia adeo despectum est, quod olim Senecae accidit, a nonullis inter probra soleat objici Professoria lingua.« Ibid. 168: » . . . nec honos hodie bonis artibus, nec praemia condigna tribuuntur: quod ipsum ut evilescentium, sie ad interitum properantium studiorum argumentum habetur evidentissimum.« Vorher ist die Rede vom »Wohlfeil - Werden« der akademischen Grade. Zu den ibid. aufgeführten »obsoleta & iam dudum intermortua exempla« zählen Augustus, Karl IV, Maximilian I, Ludwig XII. Ibid. S. 169: »Ut ergo fasces, quas nemo iactatas inflammat, spontanea remissione languentes extinguuntur denique: sic mirum videri non debet, non honoribus nec praemiis excitata studia magis magisque languere, & ad priscam omnia barbariem spedare.« Ibid. S. 171f. Zum Punkt a) vgl. unten Kap. BV! Gemeinsamer »Topos« dieser Faktoren ist der Gedanke, daß alles Untergehende zu seinem Untergange selbst mithilft.

gesamte Deklamationsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts seit Melanchthon. 81 Gewiß wirken hier noch Traditionen des frühhumanistischen Rangstreits der Disziplinen, der »disputa delle arti« weiter, 82 gewiß handelt es sich um die Kritik an realen Mißständen, vor allem an der mangelnden Studien- und Priifungsreife vieler Studenten, 83 die Akzentuierung der diesbezüglichen Klagen des Frühbarock informiert aber darüber hinaus recht genau über die offenbar sich verstärkende Spannung zwischen dem humanistischen Enzyklopädismus, besonders den Praktiken der grammatisch-philologischen Erziehung einerseits und den Anforderungen vornehmlich der »politischen« Praxis, d.h. aber des öffentlichen Lebens andererseits. Dies belegen nicht nur die Klagen über die Vernachlässigung des Griechischen, sondern auch die verstärkte Apologie des Lateins. 84 Johannes Posselius, Professor in Rostock, setzt sich z . B . in einer Rede »de barbarie imminente« (gedruckt 1591) gerade mit diesem Symptom des »cyclopicus contemtus disciplinarum« ausführlich auseinander. 85 Kritisiert wird die Abscheu vor den humanistischen »exercitia loquendi, scribendi, disputandi, declamandi«; fassungslos konsta-

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Vgl. Melanchthon: Encomion Eloquentiae (1523), ed. Nürnberger, S.61f.; ausführlich C. Hofmann: De barbarie (1578), 226ff.: »... Refrixit in animis discendi ardor, successit pigritia, impatientia curae & laboris, crescit indies negligentia, ut plurimis nunc degustatio saltern studiorum tumultuaria & jejuna allubescat, eaque non ex bonis Autoribus comparata, sed ex summariis, collectaneis, rhapsodiis, indicibus & centonibus decerpta & mendicitate collecta. (...) Nimirum properant ad altiores disciplinas allecti splendore dignitatis, & aviditate quaestus, eique se studio tradere malunt, quod in pretio esse vident.« 82 Vgl. Voigt, Wiederbelebung I 74ff., II 447ff.; vgl. Garin, Ital. Humanismus, Kap. I, passim; Garin, Erziehung, Bd. II 24 und die Literaturangaben S. 75. 83 Bekanntlich war dies nicht zuletzt auf das Fehlen einer einheitlichen Reifeprüfung zwischen Gymnasium und Hochschule zurückzuführen. Diese wurde von Staatswegen in Gestalt des Abiturs erst sehr viel später eingeführt (1788). Die im 16. und 17. Jhdt. stattdessen geforderten »testimonia« oder die akademische »Deposition« ließen sich teils durch Geld erkaufen, wurden teils praktisch mißachtet oder nicht rigoros genug gehandhabt: vgl. dazu Tholuck, Das ak. Leben, I, 192ff., 200ff.; ferner Bücking, Reformversuche (1976), 366ff. 84 Vermerkt bei Bernegger, Orationes, 164; ausführlich die Rede des D. Heinsius: »De prolapsis Graecarum literarum studiis, & ad ea adhortatio«, in: Orationes, 211ff., Nr. XIX. Zum Studium des Griechischen bei den Jesuiten vgl. Duhr, Studienordnung. 84ff., dort S. 86, Anm. 2 ein Hinweis auf den sozialgeschichtlich aufschlußreichen Passus der Straßburger Studienordnung von 1619: »Es solté kheinem discípulo classico, allein die geborenen Herren ausgenommen, zugelassen werden, sich von der Griechischen Sprache zu eximinieren, dieweil dieselbigen doch solche zeith über, da Graeca tractiret werden, schwätzen undt andere auch hinttern«. 85 J. Posselius: Orationes octo. 1591, 120ff.: De imminente Barbarie, spez. 126; vgl. auch ibid. lOlff.: De disciplina honesta in Academiis conservanda. Der Redner wendet sich in seinem Spektrum von Verfallsphänomenen u.a. verhement gegen eine als »Freiheit« mißverstandene »Anarchie«, . . . quasi vero libertas sit, licentia faciendi quidquid übet«. Dagegen das richtige Verständnis: »... Legum servi sumus, ut liberi esse possimus. Et sciat veram Iibertatem esse, sponte & libero ac hilari animo recte facere, & Deo ac honestis Magistratuum legibus ac Praeceptorum monitis, libenter & non coacte obedire« (S. 115f.). Die wahre Freiheit als freiwilliger Gehorsam! 95

tiert der Redner das Vordringen der Muttersprache im Schulbereich und die Tatsache, daß Latein zu sprechen als Makel des »beanus«, des Zöglings der Gelehrtenschule, gilt. 86 Während hier noch die Verteidigung des umgangssprachlichen Lateins im Mittelpunkt steht, geht es in anderen Schriften der Zeit um den in der Antikerezeption verankerten Lernmodus von »lectio« und »imitatio«, ja um den grundsätzlich Exegese und Rezeption kanonischer Texte voraussetzenden Wissensbegriff schlechthin. In der Vernachlässigung des Lateins und der »exercitia« waren von Grund auf »curriculum« und methodischer »cursus« eines in der hierarchischen und naturhaft-gültigen Ordnung der Dinge verankerten, in der Kohärenz von »artes« und »scientiae« organisierten Wissenschaftssystems in Frage gestellt. Kaum zu übersehen ist die Fülle der hodegetischen und eisagogischen Literatur, der Anleitungen und Methodenlehren, in denen vor »ungeordnetem« Studium abgemahnt, zugleich Wissenserwerb und Wissensziele bestimmt und geregelt wurden. 87 D a ß sich der Perfektionismus dieses Systems, auch das hier integrierte Leitbild des lateinischen »orator doctus« nicht ohne weiteres allgemeinverbindlich tradieren ließen, zeigen insbesondere die sich mit der Ausbildung des »Politikers« 86

Ibid. spez. 127: »... ut non dicam quosdam adeo de sua mente & sanitate deturbatos esse, ut eos pudeat latini sermonis. Existimant enim exercitium latine loquendi ad Beanos (ut vocant) in particularibus scholis, literis operam dantes, & non ad studiosos, in Academias discendi causa missos, pertinere: ideo non desunt, qui irrideant & subsannent eos, quos audiunt latino sermone uti. Hinc fit, ut nunquam fere audias studiosos inter se loqui, sed ubique locorum vernaculosa lingua garrire, idque gravitas quaedam studiosis digna existimatur.« Die Folgerung aus diesen - von unverständigen Eltern unterstützten Zuchtlosigkeiten (S. 128): »Cum igitur praesentis seculi labes quaedam sit & macula, disciplinam negligere & aspernari, ac omnia media quibus salutaris eruditio comparatur, fugere, odisse, detestali, fieri non aliter non potest, quin interitus literarum & doctrinae sequatur.« Zur Erschütterung der Iat. Klassizität durch pragmatische Fakten vgl. unten Kap. Β V. 87 Gefahren gingen grundsätzlich aus von jedem Lernen auf eigene Faust ohne die rechte Auswahl der Autoren (topisch die Wendung gegen die Autodidakten, vgl. etwa Posselius 1591, 106f.), sodann von »neuen« Methoden; im Mittelpunkt der Diskussion des frühen 17. Jahrhunderts stand hier der Anti-Aristotelismus des J. P. Ramus; dazu Dreitzel, 82ff. mit Lit.; H.-J. Lange, Aemulatio, bes. 43ff.; Henke, Calixtusl, 73ff.; zur europäischen Methodendiskussion der Spätrenaissance umfassend N. W. Gilbert: Renaissance Concepts of Method. New York 1960. Bernegger hat sich vor allem in zwei komplementären, 1619 gehaltenen Reden mit der Methodenfrage auseinandergesetzt (Orationes, 39ff., bzw. 77ff.): Die parandae doctrinae modis illegitimis, bzw. De doctrinae parandae ratione. Er wendet sich gegen die künstliche Lernmethode, vor allem gegen Mnemotechniken in Art von Murners »Chartiludium«, gegen kabbalistische, nur als »abergläubisches« Spiel von Allegorien verstandene Spekulationen sowie gegen das Vordringen der »ars Lulliana« (kurz nach der Jahrhundertwende u.a. von Alstedt aufgegriffen) und rosenkreuzerischer Hoffnungen auf die Generalreformation der Wissenschaften. Er hält fest an den alten Gelehrtentugenden, vor allem Fleiß und Übung (labor, usus). Diesen aus dem Weg zu gehen, sei gleichsam ein zweiter Sündenfall: Wissen »sine magno labore ac diuturno tempore« erwerben zu wollen. Zugleich sei aus dieser »Konfusion« nichts als ein »Chaos« zu erwarten. Aufgelöst wird das Aristotelische Ordnungssystem (dies spez. gegen Lullus): »cum quaelibet disciplina suum habeat obiectum determinatum, sua 96

befassenden Schriften. Der 1607 erschienene »Politeusomenos« des J. Caselius (1533-1613), gedacht für den »ingeniosus adolescens«, der »mature & recte educetur ad rempublicam« läßt in den Konturen der apologetischen Argumentation exemplarisch Rückschlüsse auf die Erschütterung bislang plausibler Traditionen zu. Diese Schrift, gewidmet dem herzoglich-braunschweigischen Rat Tobias Paurmeister, gehört zu einer ganzen Reihe von politischen Traktaten und thematisch gleichgerichteten Reden, in denen, gerichtet vor allem an die Adresse des Adels, das Berufsbild des Politikers gezeichnet wird. Nach dem Vorbild des stoischen Staatsmanns fordert Caselius nicht nur die Zügelung der Affekte insgesamt, sondern eine Kombination von Allgemeinbildung und Berufsbildung. Erst dadurch wird der Politiker im Gegensatz zum Juristen und Höfling befähigt, Nutzen und Folgen von Entscheidungen zu beurteilen und in der Vereinigung von persönlicher Tugend und Klugheit der Reflexion auf die »salus publica« zu beziehen. 8 8 Bezeichnenderweise muß sich Caselius in seinem Versuch, humanistische Universalbildung und praktisches »Herrschaftswissen« zu vereinen, gegen den Vorwurf wehren, er halte durch zu hohe Anforderungen die begüterten und adeligen Studenten von der Jurisprudenz ab. 89 Die antiken Sprachen werden dabei

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principia, suum finem, & pro hoc fine determinato términos determinatissimos, quibus perruptis, confusis, alio translatis necesse est fines ipsos disciplinarum confundí«. Neuerungen ist erst dann Glauben zu schenken, wenn bewiesen ist, daß etwas von dem als variabel und veränderlich zu gelten hat, von dem »wir wissen, daß es unveränderlich und unwandelbar« ist: »... cumque axiomata, quibus nostrae scientiae nituntur, ex ipsa natura ceu fonte defluxerint, ipsas quoque scientias immutabiles esse, quas invertere volunt, eos naturam ipsam pervertere...« (die Zitate S. 57, bzw. 62f.) Klassisches Beispiel für die zugleich Methode und System der Wissenschaften demonstrierende Literatur war die Jesuitische »Ratio studiorum« (ed. Pachtler, 1887ff.). Sie war gültig bis 1832. Einen Überblick über die Literatur »de studiis instituendis« zu geben ist hier unmöglich: vgl. die im Literaturverzeichnis referierten Titel und Sammelwerke von Alstedt, Richerius, Vossius, Grotius (et alii), Dilherr, Wagenseil; zum eisagogischen Schrifttum im weiteren Sinne gehören auch die zahlreichen Reden über Wert und Würde der Studien insgesamt, bzw. der einzelnen Disziplinen und akad. Grade sowie auch die kürzeren, z. T. als Brieftraktate erfaßten »Consilia«. Umfassenden Überblick gewähren A. Buchner: Dissertationum Academicarum, vol. primum. Wittenberg 1650, S. 59-150 sowie die Bibliographie in den von dem Jenaer Professor F. A. Hallbauer 1730 hgg. »De Institutione Scholastica Opuscula Omnia« J. Sturms (Praefatio S. 1-24). Vgl. ferner Erman Horn, bes. I, Nr. 6037ff. und die barocken Realenzyklopädien wie Morhof, Polyhistor Literarius, bes. Lib. II, Cap. VII-XI, 385ff., Lipenius, Bibliotheca realis philosophica, Frankfurt 1682 sowie G. Draudius, Bibliotheca classica, 1625, bes. Bd. II (»Libri philosophici«) (jeweils unter verschiedenen Stichworten: Scientia, Methodus, Institutio, Educatio- sowie bei den Einzeldisziplinen). Zu Caselius vgl. oben Anm. 56; spez. zu seiner politischen Pädagogik s. Dreitzel 99ff. Fol I 2 (unpag.): »Nec in eo peccali a nobis putem, qui advolantes primum e scholis puerilibus, profectu & annis pueros, iubemus, non illotis manibus, sed iniatos quibusdam Musarum sacris (...) eruditione unius altriusque doctrinae pernecessaria & studio humanitatis (...) ad disciplinas Πρακτικωτερας transiré. (...) Iniuria quoque gravi me afficiunt, qui tarn a nobili & necessario legum studio per me abstrahi susurrant, praesertim non neglectos a fortuna, & nobili loco natos. Haec autem est, si non calumnia est? Quod si quis aberrantem e cursu revocet, qui rectiorem tibi semitam monstret, eine succenseas.« 97

zunächst mit der »ad fontes« Metaphorik verteidigt. Auch Bernegger vertritt bei Antritt seiner Geschichtsprofessur (1613) die immer wieder hervorgehobene Untrennbarkeit des in den Schriften des Alterums präsentierten Sachwissens von der sprachlichen Darbietung: die Benutzung von Übersetzungen unterhöhle die »fundamenta disciplinarum«, da die modernen sich nicht in der Lage der alten Völker (Römer, Griechen, Araber) sähen, Wissenschaft in ihrer Muttersprache zu besitzen.90 Wenn Caselius verspricht, das Griechische könne binnen kürzester Zeit ohne Vernachlässigung der anderen Fächer, ohne Mühe, beinahe spielerisch

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Caselius: Politeusomenos, Fol. E 3ff. (zum Verhältnis Muttersprache-Latein insgesamt); Berneggers ausführliche Apologie der alten Sprachen in: Orationes (Nr. IX, 231ff.: De humaniorum Πςογνωςει ad Studium historicum requisita, 1613 spez. 241ff. : »Atque hic audire mihi videor illorum voces, qui omnia illa praeclara, quae dixi, monumenta, aut e graeco sermone in latinum, aut ex utroque in vernaculum, & et eum, qui salsamentariis notus est, esse conversa dictitant, ita ut aut neutro illorum sit opus, aut altero certe tantum: cum ilio peregrinitatis quasi cortice detracto, nucleis vesci, & velut osse contracto succum ac medullam ipsam exsugere liceat. A qua opinione viri prudentes atque docti sic dissentiunt, ut avocandis a Graecae & Latinae linguae studio adolescentibus, ipsa fundamenta disciplinarum convelli ac labefactarì putent: neque ullam pestem praesentiorem, aut ullum certius exitium non historiae modo, sed omnibus omnino literis adferri posse arbitrentur, quam si linguae illae, quae quasi sacraria quaedam & promae condae earum sunt, negligantur. Quod qui negat, ignorare videtur, avorum nostrum memoria, cum pestifera quaedam opinio invaluisset, exquisitiorem latinae linguae cultum non magnopere prodesse: graecas vero literas, etiam impedimento esse, quanta & quam densa barbariei caligo universum prope terrarum orbem obtexerit; quanta linguarum neglectum rerum ignoratio consecuta sit: quantum praestantissimum autorum & historicorum praecipue, istis tenebris immersum perierit. Quod si quis in translationes ita iuratus est, ut earum fidei nihil derogandum opine tur, nae ille, saniorum iudicio magnopere decipitur. Ut enim aquae non gratius modo, sed saluberius ex ipso fonte bibuntur, quam deductis inde limosis rivulis, aut sordidis lacunis: ita quis non malit praestantissimos quosque & quasi maiorum gentium historíeos ipsos audire loquentes, quam per internuncios ac interpretes, & eos multum de nativa semper autoris gratia perdentes: nec raro mentem eiusdem haudquaquam assecutos ...« Zum Aspekt der Wissenschaftssprache ibid. ( O r l i , S. 39ff., 1619), spez. 45f. Gegen die rigorose Behauptung der althumanistischen Einheit von res und verba erhoben natürlich die Übersetzer ihre Einwände; vgl. dazu etwa den Geleitbrief des Andreas Viritius an David Chytraeus zur 1599 erschienenen deutschen Fassung von Lipsius »De constantia« (hg. v. L. Forster, 1965), fol A 4 . Dort der zentrale Punkt: » . . . Multi enim, ut nosti, dotibus ingenii praecellunt: latine & graece nesciunt«. Grundsätzlicher Widerstand gegen die Monopolstellung der alten Sprachen findet sich bei bürgerlich orientierten Autoren, etwa B. Schupp, z.B. in seiner Schrift »Der Teutsche Lehrmeister (ed. P. Stötzner, 1891); dort S. 38: »Es ist die Weißheit an keine Sprach gebunden. Warumb solte ich nicht in Teutscher Sprache eben so wohl lernen können, wie ich Gott erkennen, lieben und ehren solle, als in Lateinischer? Warumb solte ich nicht eben so wohl in Teutscher Sprache lernen können, wie ich einem Krancken helffen könne, auff Teutsch, als auf Griechisch oder Arabisch? Die Frantzosen und Italiäner lehren und lernen alle Facultäten und freyen Künste in ihrer Muttersprache« (so auch in seiner Rede »De opinione« = »Von der Einbildung«, in: Schrifften, 521ff.). Vgl. Klaus Schaller: Muttersprache und realistische Bildung, in: A . S c h ö n e (Hg.). Barock-Symposion 1974, S. 198ff., dort auch zu Ratke. Zu Schupps Kritik des akademischen Pedantismus vgl. unten Kap. C IV!

gelernt werden, 91 ist dies freilich bereits die Antwort auf ein drängendes Bedürfnis der Epoche: die in den Schlagwörtern »cito, tute et jucunde« zusammengefaßten Bemühungen um Effizienz der Spracherziehung und Propädeutik, um Entlastung des Kanons, um methodische Reorganisation des Wissenserwerbs, um empirische Vergewisserung und »Realismus« spiegeln die systematisch kaum mehr zu integrierende Spezialisierung von Einzeldisziplinen, soweit sie sich aus der Eigenrationalität ihres Praxisbezugs verstanden, darüber hinaus ein genuin bürgerliches Rentabilitätskalkül, in dem auch die »studia humanitatis« nach Aufwand, Kosten und Nutzen bemessen wurden. Private Interessen und staatlicher Nutzen waren gleichermaßen Motiv der zeitgenössischen Reformpädagogen (wie Ratke-Ratichius, aber auch C. Dornau), Vorschläge zu einer Reorganisation der Gelehrtenerziehung vorzulegen, in denen praxisbezogene Empirie (im Gegensatz zur bloßen Buchgelehrsamkeit) und muttersprachliche Bildung zur Geltung gebracht werden sollten. Daß diese Projekte ohne durchschlagenden Erfolg blieben, lag neben äußeren Faktoren (Krieg, Finanznot, Desinteresse vieler Machthaber an einer allgemeinen Verbreitung von Wissen) nicht zuletzt an der Tatsache, daß ohne umstürzende Neubestimmung der Bildungsziele und des Wissensbegriffs überhaupt, d. h. nur vom Gedanken der methodisch-didaktischen Reform das theologisch-axiomatisch fundierte System des humanistischen Aristotelismus nicht zu erschüttern war. 92 Daß - dessenungeachtet - auch die Poetologie sich auf die Interessen einer universitätsfernen Bildungsgesellschaft einzustellen bereit war, zeigt sich endgültig in Harsdörffers »Poetischem Trichter« (1650), dessen Titulatur bereits programmatisch die Befreiung von Latinitätszwang und akademischer Propädeutik verkündet. 93 Die Apologie des Lateins setzt verschiedene Schwerpunkte: neben der bereits angesprochenen Rolle als Sprache der antiken Autoren und der Wissenschaft 91 92

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Caselius; Politeusomenos, fol. E 3. Zu Dornau vgl. unten Kap. Β IV! Zu Ratke neben Schaller (s.o.) und Michel ibid. 185ff. die einschlägigen päd. Nachschlagewerke wie Ballauff, Bd. II, 152ff. und Moog, Bd. 2, 233ff.; Hettwer, 137ff. Zur Resonanz der Ratkeschen Vorschläge bei J. Jungius, dem Begründer der ersten deutschen naturwissenschaftlichen Gesellschaft (Rostock 1623), vgl. Guhrauer, 28ff. G. Ph. Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reim=kunst / ohne Behuf der Lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugießen. Nürnberg 1650 (Nachdruck Darmstadt 1969). Dort vgl. bes. die Vorrede; Latein als (nur noch) »Muttersprache der Gelehrten« (ibid. Dritter Theil, 1653, S. 4/5). Das Verhältnis Deutsch-Latein spielt auch eine große Rolle in Harsdörffers »Gesprächsspielen«: vgl. dazu und zur Kritik des Pedantismus unten Kap. C IV 3. Anforderungen der Praxis begründen die Abkehr vom Latein auch bei D. Richter: Thesaurus or. novus, 1660, fol. Aiiij: » . . . bin ich auf die Gedancken gekommen, dieses Büchlein lieber in teutscher als lateinischer Sprache zu schreiben; Denn ich sähe / daß es nicht so vielen Leuten bey uns angenehm werden würde / wann ich mich der lateinischen Sprache darinnen beflissen / insonderheit weil doch eine jedwedere Nation die Eloquentz vornehmlich in seiner Muttersprache übet / und vielmehr in derselbigen zehen / zwanzig und mehr Reden / als in der Lateinischen eine / anbringen kan / derowegen ich darauf bedacht gewesen / wie ich vor allen Dingen zu der teutschen Beredtsamkeit gute Anleitung zeigen möchte.«

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schlechthin wird auf die Funktion als Verkehrssprache des »orbis christianus« verwiesen. 9 4 Freilich muß auch Caselius zugestehen, daß in der Verwaltung die Muttersprache unentbehrlich erschien. 95 Daß dieser im Horizont aufkommenden Nationalbewußtseins überdies ein neuer, unübersehbarer Prestigewert zugemessen wurde - zumal in der Auseinandersetzung mit dem Vordringen des Französischen - , ergibt sich aus einer Fülle von Zeugnissen. 96 Überhaupt war es für den Humanisten mit der Rettung des Lateins als Instrument von Wissenschaft, Bürokratie, Diplomatie und gelehrter Kommunikation nicht getan. Lateinische Spracherziehung verstand sich als Ausbildung des »orator doctus«, war integriert in das auf Spracheleganz angelegte System der »exercitia styli«, basierte auf der Lektüre und Nachahmung der klassischen Autoren. Im jahrelangen Drill des »perfectus orator« lag - man sieht dies deutlich im Lehrgang etwa des Straßburgers Johannes Sturm - die eigentliche Ursache für das Ärgernis der »mora philologica«. 97 Wie Bernegger verteidigt auch Caselius demgegenüber umfassende Antikerezeption und lateinische Spracheleganz vor allem im Gedanken der ständischen, soziale 94

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Caselius: Politeusomenos, fol. E. 3. Daraus ergibt sich der Lateingebrauch für den auf ausgebreitete und dauernde Wirkung bedachten Schriftsteller, aber auch die Verwendung des Lateins als Sprache der Korrespondenz, Diplomatie u. dgl. (fol. F 1). Die Einzelheiten des Prozesses, in dem der lateinischen Sprache als Medium der internationalen Diplomatie vor allem in Gestalt des Französischen Konkurrenz erwuchs, sind, soweit ich sehe, noch nicht erforscht. In Deutschland war vor dem Dreißigjährigen Krieg u. a. der pfälzische Hof Einfallstor des Französischen. Im Verkehr bes. mit den Schweden benutzte der pfälzische Geheime Rat L. Camerarius jedoch noch das Lateinische, ja bemühte sich, die Relevanz und Würde der eigenen Anliegen durch besondere sprachliche Eleganz zu repräsentieren (vgl. umfassend dazu Schubert, Camerarius, 323ff.). Bei den Friedensverhandlungen am Ende des Krieges offenbarte sich der Zerfall des »orbis christianus« auch in der Zurückdrängung des Lateinischen: vgl. dazu S. H. Steinberg, Der Dreißigjährige Krieg, S. 103. Im Fall muttersprachlicher Praxis ist aber rhetorische Ausbildung unumgänglich (fol F. 1). Hierzu zählt der gesamte Komplex der à-la-mode-Kritik; zum Vordringen des Französischen vgl. Höpfner, Reformbestrebungen, 21ff.; Gebauer (in: AfKg, 9, 1911, 404ff.); Cohn, 92; auch für die Sprachgesellschaften spielte der Aspekt des nationalen Prestiges eine Rolle, wie ihn etwa Chr. Forstner (Hypomnemata, 1623, Nr. LXXXII, 254f.: Lingua patria) ausdrückt: »Pertinet ad Reipubl. existimationem, ne in judiciis, in tribunalibus, in conventibus, denique quibusvis, alia lingua etiam peregrini utantur, quam nostra...«. Der Ausdruck bei Caselius: Politeusomenos fol. 11; von J. V. Andreä stammt eine eigene so betitelte Schrift (1609), abgedruckt in: In bene méritos gratitudo..., 1633, 161-196. Als autobiographischen Anlaß berichtet Andreä sehr realistisch das Erlebnis einer bei bekannten »Literati« vorgetragenen Kritik der brotlosen Künste. Andreä wendet sich traurig an seinen Lehrer, den berühmten Tübinger Rechtsgelehrten David Magirus: »Ego subtristior, meum infortunium, respondeo, quod indixerunt mihi, quotquot linguas, Mathesin, & historiam, studia mea habent exosa, quid agam autem, si hoc ingenio insolito nemo futuras est, ut illi ajunt, qui me ferat, nedum alat? aut si omnem pauperiem spernam, qui naturam meam non tarn hue inclinantem, quam ab adversa parte abhorrentem?...« Die Schrift gibt sich als Verteidigung des humanistischen Enzyklopädismus (daher der Titel »Mora philologia excusata«), freilich in Abwehr einer bloß formalistischen Spracherziehung (vgl. bes. S. 171) und in Empfehlung auch der empirischen und mechanischen Wissenschaften (S. 172/73).

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Distinktionsbedürfnisse ansprechenden und elitäre Absonderung versichernden Qualität der humanistischen Bildung: Jene Jugend, von der hier die Rede ist und von der wir annehmen, daß sie zur Stütze des ganzen Staates wird, wird sich, wenn sie mit dieser Unwissenheit zufrieden ist, niemals irgendwie vom Volke abheben und wird - was noch augenscheinlicher sein wird vielleicht überhaupt nicht mehr als das Volk von dem wissen, was an Gutem die genaue Lektüre der Alten mit sich bringt. (Ü)98 Gerade für den Studenten von Adel - er ist auch hier im Gedanken an politische Bildung besonders angesprochen - liegt in dieser ständischen Dignität nach Caselius die besondere Angemessenheit der humanistischen »Studien«. 99 Für die Entwicklung der barocken Literatur insgesamt ergeben sich bedeutsame Gesichtspunkte: Die von Opitz und den Sprachgesellschaften vollzogene Organisation muttersprachlicher Dichtung ist nicht zu denken ohne die zeitgenössische Diskussion um Relevanz und Funktion des Lateins in den verschiedenen Bereichen und Aspekten der politischen und gesellschaftlichen Praxis. Sie hat sich dabei wesentlich auseinanderzusetzen mit der Frage, wie auch in der Muttersprache die soziale Wertigkeit sowie ständisch-repräsentative Funktion kultureller Kompetenz zu erhalten war. Deutschsprachige Dichtung und Literatur überhaupt konnten sich nur durch Anpassung an die im Lateinischen per se gesicherten Distinktionsbedürfnisse des intendierten Publikums legitimieren. Weniger die Ablösung des Lateins durch die Volkssprache überhaupt, nicht also wie in der Reformation die allgemeine Verbreitung der Glaubensbotschaft bzw. der Wissenschaft und Kultur standen zunächst zur Debatte, 1 0 0 sondern die Förderung muttersprachlicher, aber zugleich »eleganter« kultureller Kommunikationsformen; Opitz 98

Caselius: Politeusomenos, fol. E. 3: »Iuventus illa, de qua nos loquimur, & per quam summae reipubl. subveniri iudicamus, si ea inscitia contenta erit, nemo se pacto e vulgo exemerit, ne forte admodum supra vulgus sapiet, quod magis patebit, ubi dixero, quid boni adferat lectio accurata veterum.« 99 Adelige Natur erweist sich in besonderer Leistungsfähigkeit, fol. D (1): Nisi generosi seminìi sit, aut equus, aut canis, ex neutro aliquid eximium speres. Ad eundem modum utplurimum orti e vili genere, etiam animo humili & interdum pravo sunt, maiorum similes, nec facti ad cogitandum sublimia, aut ad gerendam memorabiles.« 100 Für Luther kam der Volkssprache kein absoluter Wert, sondern nur ein instrumenteller zu: Verbreitung der Glaubensbotschaft auch im Deutschen (vgl. das Referat bei Borst, Turmbau III, 1, 1067ff.); das Festhalten an den »drei heiligen Sprachen« (dazu bes. die bekannte Predigt »An die Ratsherren...«) ergab sich für Luther als Konsequenz der reformatorischen Bibelphilologie, der Kontroverstheologie sowie dem Interesse an einer humanistischen, am römischen Recht geschulten Beamtenschaft. Die totale Expatriierung der Muttersprache aus der nachreformatorischen Gelehrtenschule (vgl. dazu neben Paulsen I u.a. Mertz, bes. 267ff.) zerstörte die Träume einer muttersprachlichen Wissenschaft und Nationalkultur, wie sie etwa K. Pellikan entwickelt hatte (vgl. Chronik, Kap. XXIV, 123ff.): Erleichterung des propädeutischen Studiums; Muttersprache in der Schule wie Griechen und Römer; Barbarei nicht nur als Sprachverfall, sondern als mangelnde Sachkenntnis; Sprachpraxis als Signum von Vaterlandsliebe; allgemeine Verständlichkeit deshalb auch Erlaubnis der Mundart; Übersetzung der wichtigen antiken und modernen Schriften (Aristoteles, Cicero, Cusanus) auch für Ungelehrte; muttersprachliche Bibelkommentare. 101

und seinen Nachfolgern ging es primär um die »Nobilitierung« des Deutschen und den Beweis, daß auch außerhalb des Lateins die Gewähr dafür gegeben war, daß die Übernahme der »Volks«-sprache nicht zugleich die Nivellierung sozialer Hierarchien implizierte. Angemessenheit und Akzeptabilität muttersprachlichen Schrifttums waren in der Poetik und Rhetorik des 17. Jahrhunderts dadurch gesichert, daß in decorum-Lehre und Stiltheorie, in der dramatischen Ständeformel 101 und in der Polemik gegen Volksbücher und Pritschmeisterdichtung die kulturelle Symbolik der Ständegesellschaft unangetastet blieb. D i e in der »Verachtung der Gelehrten« signalisierte Formation einer außerscholastischen Bildungsgemeinschaft 1 0 2 verbot neben anderen Faktoren einerseits das betonte Anknüpfen an die Tradition der nationalen neulateinischen Literatur, 103 bedingte andererseits freilich im Postulat formaler und stilistischer Exklusivität die Anlehnung an die im akademischen Bereich beheimateten Sprachexerzitien und Bildungsvoraussetzungen. 1 0 4 D i e mit Opitz einsetzende Welle muttersprachlichen 101

Zur Opitz'schen Reform vgl. die sozialgeschichtlich fundierten Ausführungen bei Mauser (in: Festschrift V. Santoli, 1976, 281ff.) sowie ders.: Gryphius, bes. 290ff. (jeweils mit umfassenden Belegen): »Die poetisch-stilistischen Qualitätsmerkmale, für die der Name Opitz stand, sind Ausdruck des elitären Selbstverständnisses von Adel und Bürgertum. Kulturträger zu sein, verpflichtet zu qualifiziertem Stil, und die Qualität des Stils ist ein Indiz dafür, daß man zur gehobenen Gesellschaft gehört.« (S. 302) Ferner neuerdings die gründliche Untersuchung von Sinemus (1978), zu Opitz spez. Kap. 1,12ff., zur DecorumLehre und Stiltheorie 53ff., zur Ständeformel des Dramas 35ff. 102 Opitz erhofft sich neben einer Blüte der deutschen auch den Erhalt der lateinischen Poesie, »welcher seit der vertriebenen langwierigen barbarey viel große männer auff geholffen«; die folgende Einschränkung zeugt aber von Skepsis: »...vngeacht dieser trübseligen Zeiten vnd höchster Verachtung gelehrter Leute« (Buch v.d. Deutschen Poeterey, Kap. III, fol. C Ilr). Die Konturen eines außerakademischen Publikums ibid., Kap. VIII, fol. KIv: »Welches denn der grosseste lohn ist / den die Poeten zue gewarten haben; das sie nemlich inn königlichen vnnd fürstlichen Zimmern platz finden / von grossen vnd verständigen Männern getragen / von schönen leuten (denn sie auch das Frawenzimmer zue lesen vnd offte in goldt zue binden pfleget) geliebet / in die bibliothekken einverleibet / öffentlich verkauffet vnd von jederman gerhümet werden.« 103 Die deutschen Neulateiner des 16. Jahrhunderts werden bei Opitz so gut wie garnicht, in den Poetiken des 17. Jahrhundert in der Regel allenfalls beiläufig erwähnt; ihr Referenzwert, wohl auch ihre Bekanntheit war in den Kreisen des zu gewinnenden adeligen und großbürgerlichen Publikums nicht allzu hoch; überdies eigneten sie sich z. T. nicht zur Exemplifizierung eines vom Erlebnishaft-Biographischen abgesetzten, auf Repräsentation angelegten Sprechens; außerdem huldigen die späten Neulateiner in Deutschland (C. Barth, Taubmann) einem stilistischen Manierismus, der weder in deutscher Sprache nachgeahmt werden konnte noch im Typus dem differenzierten Normrepertoire der »Zierlichkeit« und dem Regulativ der »Angemessenheit« entsprach. 104 In der Hervorhebung der charismatischen Qualifikationen des Dichters (ingenium, Phantasie, »sinnreiche« und »scharfsinnige« Einfälle und Erfindungen; vgl. Poeterey, Kap. III, fol. Β IIIv, C Ir) polemisiert Opitz sichtlich gegen die in der akademischen Tradition sowie in der scholastischen Praxis geläufige Einordnung der Poetik in die Grammatik, d. h. gegen ihre Bestimmung als Lehre von Metrik und Prosodie: »Die worte vnd Syllaben in gewisse gesetze zue dringen / vnd verse zu schreiben / ist das allerwenigste was in einem Poeten zue suchen ist« (Poeterey fol. Β IIIv). Die Polemik gegen den verachteten »grammaticus« gehört zum apologetischen Gestus sowohl der deutschen als 102

Regelschrifttums für Dichtung, Rhetorik, aber auch für Umgangs- und Verhaltensformen überhaupt versuchte - mit hier nicht zu besprechenden Akzentverschiebungen - , den daraus sich ergebenden Anforderungen und Bedürfnissen gerecht zu werden. 105 Die in der Polemik gegen das reine Fachstudium zutage tretende Selbstbehauplateinischen Poesie des 17. Jahrhunderts. - Auf der anderen Seite hielt Opitz in Theorie und Praxis an der Kenntnis der alten Sprachen und Autoren und am humanistischen Produktionsmodell von ars, usus, imitado fest: vgl. Poeterey, bes. Kap. V I I I , fol. Κ I r ; ich habe dies an einem exemplarischen Beispiel untersucht (in: Daphnis 7, 1978, 199ff.) D a ß die Anlehnung an lateinische Dichtung der deutschen Poesie in wichtigen Aspekten nichts nützen konnte, wurde vermerkt (vgl. Harsdörffer zu Frage der »Reimgebäude«: Poet. Trichter, Zweyter Theil, S. l l l f . ) ; wegen der »Neuheit« muttersprachlicher Kunstpoesie und fehlender Hilfsmittel schien - so jedenfalls Zesen, 1639 - das Dichten in lateinischer Sprache leichter (vgl. K. F. Otto: On Zesen's poetics, in: Neophilologus 57, 1973, 62). Grundsätzlich blieb bis weit ins 17. Jahrhundert - ganz abgesehen von den katholischen Gebieten - lateinische und fremdsprachige Dichtung ein Qualifikationsnachweis (dazu die Studien von L. Forster) Iat. Poesie speziell für einen nicht-deutschen Rezipientenkreis zumindest hilfsweise unumgänglich (vgl. das Beispiel in Zesens 1645 erschienenem Roman »Adriatische Rosenmund«, Buch I, ed. Jellinek, 1899, S. 32/33). Polemik gegen lat. Dichter und ihre Erzeugnisse ist selten und richtet sich nur gegen einen etwaigen mit Verachtung der Muttersprache einhergehenden Ausschließlichkeitsanspruch: vgl. bei Trunz, Hudemann, 207; ähnlich ein lat. (!) Epigramm Zincgrefs (in: Epochen dt. Lyrik 4, S. 50f.) oder die Bemerkung S. v. Birkens in seiner »Rede-bind und Dicht-Kunst«, 1679, Vorrede (unpag.): »Es gibt auch Unteutsche Gelehrte in Teutschland/ die allein Lateinische Verse hoch-achten / und hingegen die Teutsche Poesy vernichten.« Ähnlich Bernegger, Quaestiones ad Taciturn, 1640, Quaestio 195. Daß akademische Bildung und lateinische Exerzitien für den Dichter als unabdingbar angesehen wurden, belegt die Verteidigung von Rist und Schupp gegen Angriffe, die sich auf die Dichterkrönung eines Nicht-Lateiners bezogen: vgl. Hansen, Rist, 169f. - Die durch Weise und seine Schüler sowie Thomasius propagierte Aufwertung des Deutschen - als Lernziel, bzw. Unterrichtssprache - steht hier nicht zur Debatte (vgl. unten Kap. C V ) , hinweisen möchte ich nur auf eine den Stand der Diskussion zu Ende des Jahrhunderts materialreich zusammenfassende Schrift des Herborner Professors Christian Theophil Gravius: D E M O N S T R A T I O P A R A D O X A , D E N O S T R A L I N G U A E V E R N A C U L A E IN D O C E N D I S , D I S C E N D I S Q U E A R T I B U S , E T S C I E N T I I S , P O S S I B I L I U S U ( . . . ) Das ist: Ein Fremder / aber doch Vernunft 1 gegründeter Beweißthum Von Unser Hoch=Teutschen Landes» und Fürsten=Sprache Ihrem zur Lehre der Kunst und Wissenschaften / Möglichem / Hoch=Gelehrtem und Öffentlichem Schul=Gebrauch. Herborn o. J . (Vorrede dt. 1692). 105

Zur Opitz-Rezeption s. die Monographie von Klaus Garber, 1976; wie kompliziert die Lagerungen im Verhältnis der lateinisch-deutschen Sprachebenen und wie differenziert die von den verschiedenen Autoren dabei bezogenen Positionen erscheinen, zeigt sich z. B . darin, daß ein Mann wie Schupp, der dem Treiben der Sprachgesellschaft und allem »Opitzieren« reserviert gegenüberstand, zugleich in Theorie und Praxis energischer Verfechter der Muttersprache war, - daß aber andererseits J . V. Andreä, bürgerlicher Erzprotestant wie Schupp und ihm geistig sehr nahestehend, durchweg lateinisch schrieb (sieht man von geistlicher Literatur ab). Dies war nicht nur eine Frage der Fähigkeiten. Schupp, Prediger im relativ freien, bürgerlich gesonnenen Hamburg, schrieb unter anderen Bedingungen als Andreä, der zu den schärfsten Kritikern des höfischen Absolutismus gerechnet werden muß. Latein fungiert hier als Arkansprache, als Idiom der isolierten Intelligenz, als Vehikel geistiger Konterbande.

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tung des Humanismus - ich komme hierauf zurück - wäre leicht als Artikulationsform von rein gruppenspezifischen Partialinteressen mißzuverstehen, ließe man die immanent politische Zielrichtung der diesbezüglichen Appelle außer acht. Wenn Caselius und andere Autoren auf der Untrennbarkeit und Interdependenz von moralischer, sprachlicher und gelehrt-sachlicher Bildung insistieren, d.h. auf der Identität von Bildung und Tugend, 106 handelt es sich nicht lediglich um Reproduktionen antiker Postulate (Cicero, Cato). Gerade an die Adresse des Politikers, d. h. des zu Macht und Einfluß aufsteigenden Beamten richtet sich der Hinweis auf die in der Kenntnis der antiken Autoren verankerte moralische Erziehung. Moralische Textexegese und philosophische Ethik waren angelegt auf die Internalisierung der unabhängig von der historischen Empirie zu bedenkenden, in der menschlichen Natur begründeten sittlichen Axiomatik. Rein instrumenten interpretiertes, nur anwendungsbezogenes Wissen, zumal politische und juristische Qualifikationen werden deshalb für den, der nicht durch die »doctrina de vita & moribus« zum »vir bonus« geworden ist, zum zweischneidigen Schwert (»gladius anceps«). 107 Gerade der Politiker als Agent des nur in seiner ethischen Identität zu rechtfertigenden Macht- und Ordnungsstaates bedarf der Erkenntnis der Gerechtigkeit jenseits aller pragmatischen Legalität, erst recht angesichts der Anfechtungen eines machiavellistisch verstandenen Prudentismus. Erst die in der humanistischen Bildung integrierte Formierung der Tugend als unveräußerlichem »habitus« bewahrt vor der Versuchung reiner Interessenpolitik. In diesem Sinne setzen sich auch Juristen wie Besoldus in Tübingen energisch für die humanistische Elementarerziehung ein. Ganz wie etwa bei Melanchthon und humanistisch gesonnenen Rechtstheoretikern der Vergangenheit qualifiziert sich nach Besoldus der Jurist mittels der »artes« nicht nur für die verschiedenen Sachaspekte seines Berufs, sondern lernt grundsätzlich Recht und Billigkeit »ius & aequum« 108 zu

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Vgl. Caselius: Politeusomenos, fol. G 3 (ff.): zum Gesamtkomplex der »prudentia«. Ibid. fol. H 3: .. .»Maneo igitur in sententia, quam in Propolitico traditi, qui non sit vir bonus, eum nullo bono suo, & pessimo publico, operam positurum in praeceptis politicis, & iis disciplinis, quibus politice semper utitur. Illa namque sine virtute sunt gladius anceps. ( . . . ) Optandum neminem esse iurisconsultum, nisi idem iustus sit...« Was diese Forderung im einzelnen impliziert, läßt sich in Caselius Traktat genauestens ablesen: Widerstand gegen reine Macht- und Interessenpolitik; Verfechtung der »Wahrheit«, abgeleitet aus dem ethischen Telos des Staates, begründet im Studium der Geschichte; Kenntnis von Logik und Rhetorik, nicht wie bei den »Neueren« im Sinne der Disputationskunst und der Kunst des schönen Redens, sondern mit dem Ziel, Wahrheit zu finden und zu überzeugen (zum letzteren fol. E 2); zu diesem Festhalten an der Identität von Rhetorik und Moral, Logik und Sprachkunst gegenüber einer artistischen Verselbständigung elokutioneüer Fähigkeiten vgl. H.-J. Lange: Aemulatio Veterum, bes. 41ff. (Einfluß des Ramus; Diskussion der Frage im rhetorischen Schrifttum; dazu vgl. meine Rezension). Chr. Besoldus: De cognitione & usu iurisprudentiae, in: Templum iustitiae, 1616, 1-109. Wie bei Caselius die Berufung auf die Großen des Humanismus (Erasmus, Alciati, Vives, Valla, aber auch auf zahlreiche zeitgen. Abhandlungen) zum Beweis der These, daß der Jurist zugleich philologisch-historisch gebildeter Polyhistor sein müsse. Spez. S. 5: » . . . certissimum est; veram felicemque ad Iustitiae Templum viam, per medios, amoenis-

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erkennen, d.h. die in der Realität auszugleichende Spannung zwischen beiden Handlungsmaximen. Für diese politisch höchst aktuelle Aussage fungiert wie schon bei Melanchthon auch bei Besoldus neben anderen Exempeln Papinian, der Märtyrer des Rechts, als leuchtendes Beispiel. 109 Deshalb wird auch auf Caesar verwiesen, der sich nicht scheute, sich mit grammatischen Fragen zu befassen: ganz im Gegensatz zu den Militärs unserer Zeit: die formlos, unkultiviert, roh und Verachter der guten Künste nichts als Drohungen, Trotz und unfromme Flüche brummen und schnauben.110 Die Integrität des mit der Kirche symbiotisch verknüpften Schulwesens ist also in den Augen der christlichen Humanisten unabdingbar für die Anbindung des privaten und öffentlichen Lebens, vor allem der »Politik« an die sittliche Idealität der gesellschaftlichen Ordnung. Daß im Zeitalter absolutistischer Interessenpolitik Gefahren gerade von der »Spitze« des Staates drohten, bemerkt eine - in dieser Offenheit allerdings nicht gerade häufige - Feststellung des Nicolaus Vernulaeus (1583-1649, Professor in Löwen), der unter den »Imperij Tyrannorum arcana« notiert: Academien und Schulen zerstören, gleichsam als ob nach Austilgung der Rudimente aller Künste lesen und schreiben genug sei. Damit nämlich - kein Wunder - niemand mehr Weisheit besitzt als der Tyrann." 1 simosque nos ducere hortulos Philosophiae; a ianua aberrare, aliam qui semitam insistit; neque facile lus & aequum videre, Artium liberalium qui careat conspicillis«. Zur Bedeutung der »aequitas« in humanistischer Jurisprudenz vgl. Darstellung und Lit. bei H. Dreitzel, 205ff. 109 Besoldus: Papinianea Securis, in: Templum Iustitiae..., 1616,112-119; zu Melanchthon und weiteren Belegen s. u. im anderen Zusammenhang Kap. C III 2,c. Besoldus wie Caselius reproduzieren die Rechtsauffassung Melanchthons, der nach dem Vorbild Ulpians den Juristen nicht allein als Verwalter des positiven Rechts, sondern als praktischen Philosophen des geschriebenen und ungeschriebenen Rechts, der Gerechtigkeit in ihrer Totalität« begriff. »Er erhoffte von ihnen die Behauptung und Durchsetzung des Rechts auch gegen fürstliche Willkür und Tyrannei und gab den Wittenberger Studenten der Jurisprudenz [neben Papinian, - W. K.] Thomas Morus zum Vorbild, der durch seine unbeugsame Rechtlichkeit zum Märtyrer des Rechts geworden sei.« Zit. nach H. Dreitzel 94; vgl. dort auch die weiteren Zusammenhänge der protest. Rechtsphilosophie und die Literatur (S. 89ff.). 110 Besoldus ibid. S. 6: »... In hoc dissimilis viris militaribus seculi nostri: qui pene inconditi, inculti, immansueti, bonarumque artium contemptores; nihil aliud quam minas, ferocitatem, & Numinis impías devotiones fremunt atque spirant.« 111 Nie. Vernulaeus: Institutionum Politicarum Libri IV. Köln 1628, Buch I, Titulus XXI, S. 154: »Academias & scolas evertere, quasi explosis artium omnium rudimentis legere scribereque sit satis. Ut nimirum nemo plus quam Tyrannus sapere audeat. »Die These, daß Wissenschaft für »tout le monde« eine Bedrohung der absolutistischen Herrschaftsordnung darstelle und deshalb als Arcanum zu behandeln sei, hat Richelieu in seinem »Politischen Testament« vertreten (ed. W. Mommsen, 1926, spez. S. 204f.: im Sinne des Merkantilismus hier auch die Bevorzugung der »artes mechanicae« vor den »artes liberales«) Dagegen Chr. Weise (Politische Fragen, 1693, S. 468): Ein Gelehrter sucht allemahl Freyheit. Denn wer im Studieren seine freye Meinung vorbringen mag / dem ist auch die Dienstbarkeit in andern Sachen beschwerlich / die er geringer schätzet als die Studia. Drum haben auch die Tyrannen dieses gewisseste Arcanum ihrer Regierung / daß sie die Unterthanen nicht studieren / sondern die Künste bloß in den geheimen Cabinete 105

Wenn Bernegger in seiner R e d e im Blick auf die »inneren« Zustände der Universitäten auch den disziplinarischen Aspekt des »Bildungsverfalls« heraushebt, 1 1 2 geht es ebenfalls nicht nur um die Mißachtung des in seinen Prinzipien als unveränderlich gedachten Wissenschaftssystems, sondern zugleich um eine Frage von politischer Relevanz, nämlich die Verletzung des durch göttliches Recht eingesetzten »magisterium« als Mittelinstanz zwischen väterlicher Gewalt und Obrigkeit. 113 Es handelt sich in dieser Optik jeweils um Symptome potentieller Anarchie, Anzeichen einer grundsätzlichen Mißachtung der regimental bestimmten Sozialordnung. D i e Klage über studentische Zuchtlosigkeit, ja Aufsässigkeit war zwar nicht neu, gewann jedoch offenbar gerade zu Beginn des barocken Jahrhunderts eine historisch begründete Aktualität. D i e Zunahme der adeligen und patrizischen Studentenschaft mit einem steigenden Selbstbewußtsein und einem Widerwillen gegen die scholastische »vita monastica«, die »akademische Freiheit« als Nische in einer reglementierten Umwelt, als befristetes soziales Ventil gegenüber der Obrigkeit von Familie und Staat, dies waren wesentliche Faktoren für das Umsichgreifen des sog. »Pennalismus«, dem Inbegriff studentischer Ausschweifungen. 1 1 4 Zahlreiche Federn haben sich gegen diese Auswüchse

ihres Hoffes exerciren lassen.« Caselius: Politeusomenos, fol. E 1 bestimmt die humanistische Ausbildung von ratio und oratio in Kontrast und Opposition zum Tyrannen: »Tyranni enim est, sua iussa velie fieri, non persuadere rationibus.« Die Verteidigung der »Disziplinen« gegen ihre Verächter und gegen die »contemptores antiquitatis« (ibid.) erhält dadurch den Charakter politischer Resistenz. 112 Bernegger, Orationes, 164f.: »Pennäler-Existenz« gilt als schändlich; Studenten treiben sich überall, nur nicht an der Universität herum. Latein wird nicht mehr gelernt, stattdessen nur noch seine barbarischen Abkömmlinge (also die romanischen Sprachen). Nur noch die Armen und die von den Eltern Gezwungenen studieren - so wie die Bauern ihren Frondienst leisten. 113 Vgl. E. Kinder: Luthers Ableitung der Obrigkeit aus dem 4. Gebot, in: Für Kirche und Recht. Fests. f. Johannes Heckel. Köln - Graz 1959, 270ff. Melanchthon: Loci praecipui theologici 1559, in: Werke, hg. von R. Stupperich, Bd. II, S. 303; weitere Belege bei H. Dreitzel, 91. Für die Bestimmung auch des scholastischen »magisterium« als »species« der Obrigkeit vgl. exemplarisch (so auch in zahllosen ähnlichen akademischen Deklamationen) N. Chytraeus: Oratio de officiis ingenui et litterati adolescentis oratio, 1586, sowie ders.: Regula Vitae, 1562 (eine an Melanchthon angelehnte Ethik als Exegese der 10 Gebote), zum »quartum praeceptum« spez. fol. I 3ff. Zur Geltung des Prinzips von Herrschaft und Gehorsam auch in der Schule s. Bernegger, Orationes, VI, 1623, 181 (»gloria obsequii«). Topische Formel der Promotionsrhetorik war in diesem Sinne die Deutung der Schule, resp. Universität als »seminarium rei publicae« (vgl. etwa Bernegger, Orationes, I, 1640, Einleitung). 114 Zum Pennalismus und zu den damit zusammenhängenden Depositionsritualien vgl. Tholuck: Ak. Leben, 201ff. ; Janssen; Geschichte des dt. Volkes, Bd. 7, 218ff.; Artikel »Pennal-Wesen« in: Zedlers Univ. Lexicon, Bd. 27,1741, Sp. 269; Bücking, 366; ErmanHorn, Bd. I Nr. 12505ff., Bd. II, Nr. 9927ff.; zu den Verhältnissen spez. in Straßburg s. Wentzke, 62ff. sowie die Rede J. H. Boeclers, in: Orationes et programmata, 1705, Nr. XVIII, 297ff. - Zur »Verwilderung der Sitten« bei den Studenten und den Zuchtmitteln dagegen für das 16. Jahrhundert vgl. Mertz, 384, 429ff. Der Pennalismus als Probejahr des Beanus nach der Ablegung der Deposition als eine Art akademischen Initiationsrituals geht bis auf die mittelalterliche Universität zurück. 106

des akademischen Treibens in Bewegung gesetzt, selbst der Reichstag nahm sich dieses Themas an. 115 Studentenkomödie und - sehr viel später - der »akademische Roman« fanden hier reichen Stoff, 1 1 6 spezielle Traktate erbaulichen Charakters bemühten sich um die sittliche Festigung des »Studentenstandes«. 117 Johann Matthaeus Meyfarts 1636 erschienene »Christliche Erinnerung V o n der A u ß den Evangelischen Höchen Schulen in Teutschlandt an manchem ort entwichenen Ordnungen und Erbaren Sitten und bey dißen Elenden Zeiten eingeschlichenen Barbarey« versteht sich nicht nur als Manifest gegen den »Pennalismus«, vielmehr wird von diesem Ansatz her aus der Sicht eines Melanchthonianers die Gesamtheit von Phänomenen kritisch beleuchtet, die sich aus dem »Verfall« der Akademien und der Entwicklung zum Militär- und Beamtenstaat ergeben. Die academische Barbarey ist der unerschöpffliche Pfuel / aus welchem alle Unlust in die Kirchen, in die Policeyen / und in jegliche Gesellschafften der Menschen losquellen.. . m Meyfart (1590-1642) gehörte zur sog. lutherischen Reformorthodoxie, er wirkte von 1616-1623 am Coburger Gymnasium »Casimirianum«, seit 1633 als Professor, danach auch als Rektor der infolge der Kriegsereignisse relutheranisierten Universität Erfurt. 119 Allein schon durch den monumentalen Charakter (mehr als 500 Seiten in vier Büchern), mehr noch durch ihren unerhörten, leidenschaftlichen engagierten Tonfall, die Weite des literarischen Einzugsbereichs, die Verbindung

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Schriften gegen den Pennalismus u. a. von Jarnow, Quistorp, Cothmann, Dorsch (in Straßburg): vgl. Leube: Reformideen, 64; Buchner, Dissertationes, 1650, vol. I, 151ff., 320ff. Zum Kampf gegen den Pennalismus an der dafür bis zu Goethes Zeiten berüchtigten Universität Jena s. Kappner, 79ff. Die Konstitution des Reichstags zur Abschaffung des »Pennals-Wesens« wurde 1654 in Regensburg beschlossen. 116 Vgl. Erich Schmidt: Komödien vom Studentenleben aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Leipzig 1880; Herbert Nimtz: Motive des Studentenlebens in der deutschen Lit. von den Anfängen bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Diss. Berlin 1937; zum »akademischen Roman« vgl. meinen Aufsatz zu Happel (1976). 117 Exemplarisch B. Kindermann: Der christliche Student. Wittenberg 1660. 118 Meyfart, Christi. Erinnerung, S. 334; gemessen wird an dem Ideal (ibid. S. 314f.): »Alle Gymnasien und Classen seyn schöne Weinstöcke / auff ihnen und aus ihnen sollen wachsen die sieben Trauben der Weißheit / des Verstandes / des Raths / der Stärcke / der Erkäntniß / unnd der Furcht des HERRN und der Frömmigkeit ( . . . ) Auff ihnen und aus ihnen sollen wachsen rothe Trauben zu der Priesterschafft; blaue Trauben zu der Policey / weisse Trauben zu dem gemeinen Wesen...«. Dementsprechend das studentische, im Grunde aber für die Gesamtgesellschaft postulierte Standesethos (ibid. »Vorbereitung« = Vorrede, unpag., fol. g. II): »In dem Verstand leuchtet die Weißheit / in dem Willen herrschet die Heiligkeit / in den Sinnen blühet die Reinigkeit / an dem Leibe glentzet die Schönheit. Aus den Augen gehet die Keuschheit / aus dem Munde die Warheit aus / aus den Worten die Freundlichkeit / aus den Gebehrden die Demütigkeit / aus dem gantzen Leibe die Erbarkeit / aus der gantzen Seele die Gottesfürchtigkeit.« 119 Zu Meyfart vgl. neben den einschlägigen biographischen und theol. Lexika besonders die Arbeiten von Hallier sowie Leube, Reformideen, bes. 115ff.; dazu Krummacher, Der junge Gryphius, 494f. u. ö. Meyfart trat neben seiner akademischen Tätigkeit auch als Verfasser deutschsprachiger geistlicher Literatur sowie einer deutschen Rhetorik (1634) hervor. Letztere ist im Nachdruck erschienen (1977): dort im Anhang Werkkatalog, Bibliographie und Zeittafel. 107

der in ihrer Interdependenz begriffenen geistlichen, moralischen, pädagogischen, theologischen und politischen Aspekte der Zeitkritik darf die »Erinnerung« als eines der bedeutendsten, an eine muttersprachliche Öffentlichkeit sich wendenden Streitschriften des Frühbarock gelten. Das Werk ist hier insgesamt nicht zu würdigen. Seine Brisanz ergibt sich nicht zuletzt aus alt-reformatorischen Forderungen (freie Pfarrerwahl, Kirchenzucht ohne Ansehen der Person, Katechese, Bibelstudium und persönlich-praktische Frömmigkeit statt Metaphysik und Kontroverstheologie). Dementsprechend scharf waren die Repliken der sächsischen Orthodoxie, die gegen Meyfart alle klassischen Formen der Diskrimierung benutzten: Pathologisierung (ein Hypochonder mit gestörtem Affekthaushalt), Kriminalisierung (Hintergehen der Zensur), Stigmatisierung (ein verkappter Papist!).120 Für den hier interessierenden Zusammenhang ist wichtig, daß Meyfart gegen die Verachtung Melanchthons an den Universitäten kämpft121 und den Verfall der Disziplin im Zusammenhang des à-la-mode-Studiums bekämpft. Die Verachtung der freien Künste, ja der Pennalismus überhaupt erscheint als Signum einer Deklassierung der bürgerlichen Gelehrtenschule, bedeutet die Auflösung der Einheit von Lateinschule und Akademie. Aus der Sicht der alten »Biedermänner«122 wird beklagt, daß gerade der »fromme« Student123 gegenüber jener Schicht von Aufsteigern und Angepaßten zurückbleibt, von der es heißt: Darzu bringen sie die Exempel seines Gleichens / von Geschlecht: Ehr und Alter / die im reiten / fechten / tantzen / springen / instrumentirn / Ballenschlagen manches grosses Lob gewonnen / und ihnen selbsten die güldene Pforten an Königlichen und Fürstlichen Höfen zu staatlichen Amptern unnd Würden geöffnet. Mit jenen armen Schluckern in schwartzen Kleidern und langem Mantel sey wenig zuerwerben: sie disputiren, commentiren, colligiren, lesen / schreiben / medi tiren / declamiren / conversiren, aber es bleibe ein kahles disputiren, kahles commentiren, kahles colligiren, kahles lesen, kahles schreiben, kahles meditiren, kahles declamiren, kahles conversiren unnd kahles calmeusiren.124 120

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Vgl. Meyfarts eigenen Bericht über seine Bedrängnisse und Verfolgungen: Christliche Erinnerung, Vorbereitung fol. h.; materialreich zur Position, zum Inhalt und zur Rezeption der Schrift: Henke, Calixt u. seine Zeit, 2/1, S. 82ff. (zustimmend J. V. Andrea; Johann Gerhard sah den »melancholicus affectus«). Hoe von Hoenegg, der sächsische Hofprediger, ließ die Schrift beschlagnahmen (dazu Hallier, 22ff. ). A . a . O . , S. 112f.: Gegen die Neoscholastik der Universitäten, die von den Katholiken initiierte »neue Dialektik«, die von den protestantischen Hochschulen begierig aufgegriffen werde: »Philippus ist ihnen allen / zu tölpisch / zu heßlich / ja so bäurisch und plumbisch / und wisse gantz nichts von den subtilen Handgriffen. In Summa Philippus hat weniger als nichts verstanden / unzahlbare Irrthümer in den Künsten der Natur / der Sitten / der Vernunfft / der Zunge und der Wolredenheit begangen / niemals ein Ding richtig beschrieben / richtig zertheilet / richtig geschlossen / richtig geordnet ( . . . ) Dergestalt spottet von dem Melanchthon die heutige Welt / unnd ist Philippus der gemeine Praeceptor aller Teutschen gewesen.« A . a . O . S. 158 und 365 (zur Pflichtvergessenheit der Fürsten): »Was würden doch die alten Fürsten und Räthe bei gewaltigen Städten sagen / wenn sie aus den Gräbern hervorgehen / unnd die erbaren / züchtigen und Adelichen auff etlichen ihrer hohen Schulen beschawen solten?« 124 Vgl. das Porträt oben Anm. 118! Ibid. S. 397.

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Und an anderer Stelle: In lateinischer Sprache schöne Exempel der Tugend an Helden, Märtyrern / und Bekennern / redlichen Leben und Thaten / vorzustellen / ist Bacchantisch / Bäwrisch / pennälisch / die mögen die Rhetorica, Oratoria (mercket ihr Biederleute / das seyn nicht nur der Königen, sondern den Kaysern hoch Adeliche / und wolanstehende Sachen / dadurch manche zu grossen Würden kommen / unnd weit bessere Dinge verübet / als Alexander mit seinen glückseligen siegreichen Waffen) treiben.125 Meyfart kämpft gegen die Übernahme aristokratischer Lebenshaltung und der auf Repräsentation und Reputation bedachten Umgangsformen. 1 2 6 D i e Gruppe, an die sich seine Schrift richtet, d.h. die breite Masse der nur die Artistenfakultät durchlaufenden, für kirchliche Ä m t e r bestimmten Studierenden wird zugleich getröstet und gewarnt. Ob nun wol es bey Universiteten den frommen Studenten offtmals sehr ubelgehet ( . . . ) ersetzet doch solchen Schaden Gott anderweit ( . . . ) Endlich schads nicht / obgleich ein Student in diesem Leben dahinden bleiben / und nicht nach seinen Tugenden zu Diensten gebrauchet wird. Es ist ein andrer Tag gesetzet .. n l D i e im eschatologischen Horizont auslaufende Troststrategie hat ihr Komplement in der Demonstration der Folgen eines durch Übernahme feudaler Bildungsverachtung verpfuschten Studiums: das Elend des Soldaten, die Existenz des Krämers und Wucherers oder die Degradation in die Misere dörflichen Schulmeisterums. 128 Meyfarts A p p e l l stabilisiert die ideale Koinzidenz bürgerlicher Tugendnormen, 125 126

127 128

Ibid. S. 139 (in einem ausführlichen Porträt des »alamodischen« Studenten S. 138-160). Vgl. ibid. 215/16: »Grüsset ihn jemand einen Studenten / er raffet die Götter und Menschen zu zeugen an / und schreyet / ihm sey die größte Ehren=Schmach angethan. ( . . . ) Aber wenn du ihn einen Edlen heissest / oder Geschlechter / oder Juncker / das Kützelt ihn zum süssesten in der linken KnieScheiben ( . . . ) Da / da stehet sein Beutel offen/ wie ein Hoff Keller / und ist seiner und sein Baarschaft vergeuderisch die bravirende Probe zuerstatten seiner Magnificentz und Freygebigkeit...« Die Auflösung der Kleiderordnung als Auflösung der Ständeordnung zeigt sich im akademischen Bereich als Widerwillen gegen die Tracht des Scholaren, die bei vielen Universitäten (Wittenberg, Tübingen u. a.) die philosophische Fakultät auf ihre vergangene oder noch aktuelle Rechtsstellung als Teil des »corpus ecclesiae« verwies. Dazu Meyfart a. a. 0.168, 138: »Den Allamodischen Studenten verdreust den schweren und erbaren Mantel zu tragen...«; vgl. dazu Tholuck, Ak. Leben, Kap. I, S. 2ff. Letztlich geht es im Widerwillen gegen den Scholarenmantel um das Streben nach dem »jus gladii«, dem Degen als Zeichen des Cavalliers: dazu die Schrift des Straßburger Theologen J. Dorsch: Pallium exulans in possessionem restitutum, e somnio satyra. - Accessit Quint. Sept. Fiorenti Tertulliani Apologia pro pallio, cum mantissa Philologica ad eandem. o.O. 1629 (vgl. Horning, Dorsch, 71). Noch Thomasius erwarb sich Feinde, weil er auf dem Katheder den Degen nicht ablegte. Grundsätzlich zu den zeitgen. Kleiderordnungen und deren Indizwert für ständischen Ordnungswillen: Sinemus, 144ff. Der Wegfall der Kleiderordnungen für Gelehrte und die Übernahme höfischer Kleidung bedeutet die Integration in die nach funktional-politischen Gesichtspunkten geordnete Beamtenhierarchie: vgl. Eisenbart, Kleiderordnungen, 60; Boehm, Libertas scholastica, 48f.; Paulsen, Gel. Unterricht I, 482. A . a . O . , Vorbereitung, fol. g l i / g III. Vgl. a. a. O. S. 228ff. Hier der im protestantischen Schuldrama bereits im 16. Jahrhundert verwendete moraldidaktische Typus des verlorenen Sohnes. 109

übertragen auf den akademischen Bereich, mit der Chance des Aufstiegs, muß aber auf der anderen Seite zähneknirschend die Konsequenzen der gesellschaftlichen Macht- und Rangverschiebungen, die Veränderungen von Geschmacks- und Kulturkonventionen, den Einbruch neuer gesellschaftlicher Verhaltensmuster und Leitbilder in die Gelehrtenerziehung, den Plausibilitätsverlust sakrosankter Traditionen zur Kenntnis nehmen. Es zeichnet Meyfart aus, daß er vor den tieferen Ursachen der von ihm als Misere beklagten Verhältnisse nicht Halt macht und die Rolle der Fürsten und einer anpassungsbereiten Geistlichkeit schonungslos bloßstellt. Wir hören hier die alten Klagen über das geraubte Schul- und Kirchengut, die Tatsache der Verachtung des Predigeramtes, den Jammer über einen Zustand, in dem nur die Armen, nicht aber mehr die Adeligen und Reichen ihre Kinder die geistliche Laufbahn einschlagen lassen (im Gegensatz zu den Jesuiten): Also haben in den nechsten Jahren viel Evangelische Fürsten und Regenten ihre eigne Doctores und Professores fast mit Gewalt genöthiget die Barbarey auff Universiteten zu beförderen 129

Fürsten haben, wie Meyfart meint, Universitätsgefälle für »Hoffschrantzen« und »Schmarotzer« ausgegeben, aber die scholastische Disziplinargewalt unterminiert und die Professoren aus Mangel an Besoldung zu unwürdiger Tätigkeit gezwungen. Daß der Kritik hier Grenzen gesetzt waren, weiß auch Meyfart: Genug von diesem. Wir wollen in acht nehmen die Regel / welche ein vortrefflicher Mann gefasset / Calisthes aber am Hofe des Alexander wenig in Acht genommen / und sein Leben darüber verschertzet hat. Mit Königen und Fürsten / ist selten doch immerdar sittiglichen zu reden. 130

Im Kreise der höfischen »Ohrenbläser« erscheint selbst eine Berufung auf Gott nicht unbedingt wirkungsvoll. Sieht Meyfart doch die Ruchlosigkeit der Welt, den Aberglauben sowie den Untergang der Länder und alle Landplagen als konsequente Folge der »Epicuristerey der heutigen Welt«, wobei drei Meinungen unterschieden werden: entweder werde geleugnet, daß Gott auf die Frommen schaut und die Seele nach dem Tode belohnt wird oder/und es werde die Vorsehung geleugnet, stattdessen ein Fatum angenommen (ein Reflex des tonangebenden, vulgär gedeuteten Neostoizismus), das »aus blinden Glückszufällen« besteht oder man könne beobachten, daß viele in dem Irrthumb (stecken) / darinnen Plinius gehaffet / und Lipsius gestorben / unnd meynen die Religion bestehe / nur in den Einbildungen der Menschen / und daß ein Gott sey / were erdichtet worden zu dem Ende / daß man eusserliche Zucht und Erbarkeit erhalte: Belustigen sich unterdessen an Streitschrifften der Päpstischen wider die Evangelisch / deren beyde wider die Reformirten. 131

Kein Wunder, daß angesichts dieser Diagnose Meyfart dort am schärfsten wird, wo er die Anpassung und Unterwürfigkeit der Geistlichkeit an den Pranger stellt, 129 130

131

Ibid., S. 173. Ibid. S. 175; man denke an die Erlebnisse des unschuldigen Simplicissimus am Hof des Procurators in Hanau. Ibid. S. 336ff.

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die nicht nur zu den »Nimrodischen Tyranneyen der Fürsten und Herren« schweigt und alle Ansätze zur Kirchenzucht zuschanden macht: Sie gebraucheten in den öffentlichen Gebeten prächtige Tituln der Fürsten und Herren vor den erschrecklichen Ohren Gottes: Den fürsten und Herren begehreten sie nicht einmal wegen begangener grausamer Sünden die Kirchen-Buß anzukündigen: Sie schwiegen / Hessen Fürsten und Herren die geistliche Güter der Kirchen und Clöster und Schulen: auch Spitälen zum HoffGefräß / Pracht / Kurtzweil / Narrerey / Jägerey anwenden [ . . . ] Sie schwiegen / wenn die Fürsten und Herren allein ihnen die volle Gewalt / Prediger ein und abzusetzen nehmen / und die Kirchen ihres göttlichen Rechtes beraubeten. Sie laureten auff alle Mittel / wie sie Fürsten und Herren im gantzen Leben gefallen / in Predigten dem zu Liebe diesen stecken / diesem zu Trotze jenen lieben möchten. [ . . . ] war nicht genug / daß sie für ihre eigne Person Schinderey trieben und finantzeten / sondern sie preiseten auch rechtfertigten und entschuldigten die grawsamen Schätzungen der Fürsten und Herren / die in Göttlichen und weltlichen Rechten verbotenen Auffsätze / die nicht unabwendlich zu Beförderung des gemeinen Besten / sondern nur umb des Hoffprachts willen / und wegen anderer unnützer Dinge von unbarmhertziger Obrigkeit angeordnet / und den armen Unterthanen auffgebürdet worden: Sie zeigeten den Handwerckern und Crämern auff öffentlichen Cantzeln Mittel / wo sie ihres Schadens sich erholen könten. 132

Im ganzen betrachtet, bildet Meyfarts Werk - abgesehen von seinen kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekten - ein Mittelglied zwischen der altprotestantischen à la mode-Predigt etwa der Teufelsbücher sowie Joh. Sommers »Ethographia Mundi« (1608) und dem wenige Jahre später mit Moscheroschs »Gesichten Philanders von Sittewalt« (1. Aufl. 1640) einsetzenden satirischen à la modeSchrifttum. Von jenem trennt es die scharfe Kritik an den innerkirchlichen Zuständen, von diesem das Fehlen des kulturpatriotischen, nationalromantischen, nicht selten auch sprachpuristischen Anliegens. Im Vergleich mit der lateinischen Verfalls-Deklamatorik ergeben sich Parallelen zu den älteren Texten, besonders den Reden des J. Posselius sowie C. Hofmanns. Der Unterschied zu Bernegger ist deutlich: Meyfart argumentiert in einem exegetischen Verweishorizont aus Bibel und Patristik, seine laudatio temporis acti dient dem eindeutigen Anliegen einer Reformation im Sinne einer Reaktion (wörtlich verstanden), die verschiedenen Aspekte der Kritik werden durch das gemeinsame Fadenkreuz einer theokratisch abgesicherten, moralisierenden, ständisch geordneten Pflichtenlehre aufeinander bezogen, die eine Identität der Interessen und Bedürfnisse von Schule, Kirche und Staat fraglos voraussetzt. Bernegger würde in Meyfarts Augen als Tacitist und Lipsius-Adept zweifellos in den Geruch der neostoizistischen »Epicuristerey« geraten. Demungeachtet empfahl sich der Blick auf Meyfart nicht nur als Hinweis auf einen bedeutenden muttersprachlichen Text. Seine Darstellung der Verhältnisse und die Art ihrer Verarbeitung belegen zusammen mit den anderen Zeugnissen recht deutlich den Einfluß der frühabsolutistischen Strukturveränderung auf die innere und äußere Situation der humanistischen Gelehrtenerziehung. Im Topos 132

Ibid. S. 290ff., spez. 292/93; Nimrod als Prototyp des Tyrannen in der christl. Literatur geht zurück auf Genesis 10.8-12 und Augustinus, Civ. Dei XV, 5.

Ill

der drohenden »Barbarey« ergibt sich bei aller Differenzierung von Positionen die gemeinsame argumentative Plattform althumanistischer Zeitkritik. Überdies wird erkennbar, wie deutlich die von Bernegger kursorisch notierten Phänomene des »Bildungsverfalls« im Umkreis des thematisch vergleichbaren Schrifttums eingelagert sind in eine Reflexion von Erfahrungen, welche die Gesamtheit der politischgesellschaftlichen Verhältnisse sehr bewußt einbeziehen. Berneggers Frage nach der Situation der »Studien« wird - aus der Sicht der Kulturpessimisten - nicht nur als Mosaik von Mißständen und Entartungsphänomenen beantwortet. Die Technik der topisch argumentierenden Rede erlaubt es, die Einzelheiten empirisch-historischer Verweise auf allgemeine Gedankengänge zu beziehen (»loci communes« als Beantwortung der »quaestiones infinitae«). Es wird im folgenden zu untersuchen sein, wie diese allgemeinen Denkformen die Perspektive des Verfalls näher begründen und als gesetzmäßig bestimmen. Von da aus wird es möglich sein, wenigstens in Umrissen die Verbindungen der Dekadenzideologie mit den für das Jahrhundert nicht weniger wichtigen Kategorien der »Veränderlichkeit« und »Vergänglichkeit« herauszustellen.

112

III. Verfall, Veränderlichkeit und Vergänglichkeit - Zu Fundamentalkategorien barocken Geschichtsdenkens

1)

Vorbemerkungen zur Funktion der rhetorischen Topik

Die Art und Weise, wie in Berneggers Rede die Frage nach der Situation der »Studien« behandelt wird, ist geprägt von dem Strukturplan der Kontroverse und von dem topischen Verfahren der rhetorischen Argumentation. Tradition und systematische Begründung dieses Verfahrens, die Vieldeutigkeit des Toposbegriffs und die Grundzüge seiner divergenten wissenschaftsgeschichtlichen Verwendung waren Gegenstand weitläufiger und teilweise kontroverser Forschung. Ich möchte hier nur einige für die Textanalyse wichtige Aspekte herausheben. Hinsichtlich der spezifisch rhetorischen Funktion der Topik hat sich als sinnvoll und notwendig erwiesen, zumindest zwei historische Bedeutungsvarianten des zugrundeliegenden Terminus zu unterscheiden. 1 Zum einen ist eine logisch-mnemotechnische Untersuchungsmethode gemeint, mittels derer die für die Strategie des Sprechers wichtigen Informationen möglichst vollständig herausgefunden und geordnet werden konnten. Sie war die Lehre von den »Örtern«, welche als »sedes argumentorum« (Cicero, Quintilian) die Beweisgründe einer Rede enthielten. 2 Sowohl die rhetorische inventio als auch die im Zusammenspiel von Thesis und Hypotheses, von konkreter und allgemeiner Bezugnahme sich entfaltende amplificatio 3 war angewiesen auf die vorgängige Analyse der rhetorischen causa z . B . 1

2

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Über die sich vor allem im Anschluß an E. R. Curtius entwickelnde Toposforschung unterrichten insbesondere die Sammelbände von P. Jehn (Hg., 1972) sowie M. L. Baeumer (Hg., 1973); dazu spez. zum rhetorisch-literarischen Toposbegriff im Blick auf das 17. Jahrhundert: J.Dyck, Ticht-Kunst, bes. 174ff. ; dort S. 40ff. sowie bei Jehn, 121ff. zum Topos-Begriff in der barocken Rhetorik und Poetologie. Ein kritischer Überblick über den weiten Bereich der fachspezifischen Toposforschung findet sich bei Bornscheuer, Topik, 109ff. Zu der im folgenden getroffenen Unterscheidung zwischen einem formalen und materialen Toposbegriff vgl. bes. die Aufsätze von E. Mertner (1956) und B. Emrich (1966) bei Jehn (Hg.), 20ff., bzw. 90ff. sowie Bornscheuer, Topik, 61ff. Vgl. Cicero, Topica 2. 7/8; de orat. s. 41, 162ff.; Quintilian Inst. or. 5, 10, 20 vgl. Dyck, Ticht-Kunst, 42ff. Mertner, Topos und Commonplace, bei Jehn (Hg.), spez. 29ff. Zur Lehre der inventio s. Lausberg, Handbuch § 260ff. spez. zu den loci § 373ff. Die Lehre von der amplificano war auch in den Rhetoriken des 17. Jahrhunderts unterschiedlich eingeordnet: sowohl als zur inventio gehörig wie auch als Teil der dispositio, vor allem aber der elocutio: vgl. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum Libri Sex, 5. Aufl., 1681 (meine Ausgabe) 99ff., 317ff., 378ff. Generell gilt die Definition, wie sie etwa bei B. Keckermann, Systema Rhetoricae, 1613, cap. VII, S. lOOOff. formuliert ist. Der Hinweis auf die Anwendung der »loci logici« betrifft den Denkweg vom Allgemeinen zum Besonderen: » . . . Primo ergo a genere fit extensio seu dilatatio, 113

hinsichtlich äußerer4 und innerer Gesichtspunkte5, die, zusammengenommen, das Argumentationsspektrum des Redners ausmachten. Die konkrete Problematik einer vom Wirkungsziel her definierten Sache (quaestio finita) wurde mittels der topischen Gedankenführung dabei bereits aus ihrer situativen Bedingtheit herausgelöst und auf quaestiones infinitae bezogen, zu deren Beantwortung die sog. loci communes (»Gemeinplätze«) bereitlagen. Dieser zweite Bedeutungsaspekt des Topos-Begriffs darf im Gegensatz zum technisch-formalen nicht nur instrumenten aufgefaßt werden, nicht nur als propädeutisches Modell der Textproduktion. Bereits Cicero hat den logisch-dialektischen Toposbegriff des Aristoteles6 im Rahmen der philosophisch-ethischen, ja letztlich politischen Interpretation des rhetorischen Amtes eindeutig qualitativ bestimmt. Der einzelne Fall, das konkrete Problem war nach Cicero nur adäquat zu behandeln, wenn auf der Ebene der loci communes die grundsätzlichen Gesichtspunkte der rhetorischen causa zur Sprache kommen. Deshalb mußte der Redner umfassend gebildet sein, nicht nur technisch-sprachlich versiert (Ideal des orator doctus). Denn von ihm wurde der Rekurs auf die gültigen Annahmen und Postulate der theoretischen wie - vor allem - der praktischen Vernunft erwartet, d.h. aber die Fähigkeit, die Einzelaspekte des Themas unter allgemeine Sach-, Handlungs- und Verhaltenskategorien zu subsumieren. Dieser Aufstieg vom Konkreten zum Allgemeinen erfordert Kenntnis über das Wesen des Menschen, über die Tugenden, über soziale und politische Wertkategorien; gerade hierin gewann die Rede höchsten Bedeutungsgehalt und stilbestimmende Struktur.7

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quando ab individuo seu specie ascendimus ad ipsum genus, atque illud in orationem producimus, quam amplificationem vocant Rhetores translationem hypothesis ad thesin: Nam hypothesis Rhetoribus dicitur omne singulare & particulare. Thesis vero iisdem dicitur omne universale. Pertinent autem ad locum generis omnes generales sententiae, sive axiomata, quaecumque in oratione adhiberi possunt. Genus autem illud, seu generales sententiae, per quam fit amplificatio, vel nude tantum proponitur, vel prolixius diducitur, & tum dicitur fieri digressio ad locum communem.« Zur amplificatio vgl. Lausberg, Handbuch S. 400ff., spez. 407 sowie B. Emrich bei Jehn (Hg.), 114ff. Topossysteme sind variabel und bei den verschiedenen Autoren verschieden katalogisiert. Zur Unterscheidung zwischen »inneren« und »äußeren« loci vgl. Cicero, de orat. 2. 39, 163. Zu den »inneren« Topoi gehören die Argumente aus der Sachdefinition, aus einem Teil der Sache oder aus dem Namen (etymologisch). Äußere loci etwa: Das Verwandte, die Gattung, die Arten, das Ähnliche, das Unähnliche, das Entgegengesetzte, die Folgen. Dies nach Dyck, Ticht-Kunst 43, der ibid. auch verschiedene andere Toposlisten und Toposschemata referiert. Zum aristotelischen ( - sehr unscharfen - ) Toposbegriff s. B. Emrich bei Jehn (Hg.), 91ff.; Bornscheuer, Topik, 26ff. Die Gemeinplatz-Argumentationen sind die pathoserregenden Höhepunkte der Rede: vgl. die Ausführungen und Belege aus Cicero und Quintilian bei B. Emrich, in: Jehn, Hg., 115ff.; Bornscheuer, Topik, bes. 67ff.: dort die Einzelnachweise und die Einordnung der philosophisch-politischen Rhetorik in die Krisenzeit der römischen Republik, in der die öffentliche Rede heterogene Interessen in der psychagogischen Vor-Stellung konsensfähiger Grundüberzeugungen politisch zu integrieren hatte. Dem entsprach Ciceros Ideal des »consensus omnium bonorum«. Zu Cicero vgl. oben Anm. 15 zu S. 19-21.

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Die »Gemeinplätze« waren wegen ihrer klassifikatorischen Funktion als schematische Organisationsformen des Wissens zu benutzen; als solche wurden sie immer wieder für die literarische und wissenschaftliche Praxis seit dem Humanismus empfohlen; 8 in der Wirklichkeit des Redeaktes stellten sie aber jeweils intentional abgebundene Strukturelemente eines gesellschaftlichen Bewußtseins dar, auf das sich der Redner beziehen mußte, um nicht nur akzeptable, sondern auch wirkmächtige Aussagen machen zu können. 9 Sie waren vorgegeben durch Konsens und Bildungshorizont der Kommunikationsgemeinschaft, in der sich Redner und Publikum bewegten; sie waren bedingt durch einen gemeinsamen soziokulturellen »Habitus«, 10 der den Bereich des aktuell Denkbaren, das Spektrum möglicher Problemstellungen definierte. Ihre Allgemeinheit und potentielle Universalität machten es möglich, Informationen, Erfahrungen und divergente Vorstellungen kommunikabel zu formulieren und in einem tradierten Vorverständnis zu verankern; diese Offenheit des locus communis garantierte seine Applizierbarkeit, verlangte aber auf der anderen Seite die situationsbezogene Akzentuierung und Interpretation. So ergab sich, wie Bornscheuer formuliert, »die doppelte Funktion, einerseits Problemdiskussionen im Rahmen des gesellschaftlichen Normsystems zu halten, andererseits die interpretatorische Reflexionskraft immer neu voranzutreiben«. 11 Melanchthons Äußerungen zur Funktion des »locus communis« mögen das hier notwendigerweise thesenhaft Vorgetragene illustrieren und zugleich die ethischpraktische Axiomatik der ciceronisch beeinflußten Rhetorik des christlichen Humanismus verdeutlichen. Der »praeceptor Germaniae« sah in den loci communes die »formae rerum«, durch welche sich die Vielfalt des Lebens auf moralische und anthropologische Kategorien zurückführen ließ.12 Die Verbindlichkeit dieser literarisch wie lebenspraktisch regulativ wirkenden Allgemeinbegriffe 13 ergab sich aus ihrer naturhaften Evidenz: 8

Dazu Buck, Studia humanitatis, sowie (bes. zum 17. Jahrhundert) Dyck, Ticht-Kunst 59ff. Ich lehne mich im folgenden an Bornscheuers Analyse von »vier Strukturmomenten eines allgemeinen Topos-Begriffes« an: »Habitualität, Potentialität, Intentionalität, Symbolizität« (Topik, 91ff., bes. 104-108). 10 Bornscheuer, Topik, S. 96f. (Definition des »habitus« im Anschluß an Panofsky und P. Bourdieu): »Ein Topos ist ein Standard des von einer Gesellschaft jeweils internalisierten Bewußtseins-, Sprach- und/oder Verhaltenshabitus, ein Strukturelement des sprachlich-sozialen Kommunikationsgefüges, eine Determinante des in einer Gesellschaft jeweils herrschenden Selbstverständnisses und des seine Traditionen und Konventionen regenerierenden Bildungssystems.« 11 Ibid. S. 101. 12 Zum Locus communis bei Melanchthon vgl. die Zusammenfassung in C. R. XX, 695-88; ferner den Abschnitt aus den »Elementa rhetorices«, C. R. XIII, 451-52 sowie die nicht im C. R. abgedruckten »De Rhetorica libri tres«. Wittenberg 1519, spez. fol. E iij a ff.: dazu Speri, Melanchthon (1959), 32ff. 13 Melanchthon ist besonders von Cicero beeinflußt, bei dem er auch den Begriff der »leges naturales« finden konnte (vgl. Speri, 1959, S. 40). Aus der summatorischen Funktion der ethisch-rhetorischen Allgemeinbegriffe versteht sich die Übernahme des Terminus »loci« zur Bezeichnung theologisch-dogmatischer Grundaxiome: Loci communes rerum theolo9

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So sind in den beratenden wie in den Gerichtsreden die Gemeinplätze gewisse allgemeine Lebensregeln, von deren Geltung die Menschen überzeugt sind. Diese möchte ich nicht ohne Grund Naturgesetze nennen, weil sie gewissermaßen so notwendig sind, weil sie nach allgemeinem Verständnis nichts enthalten, was der Hörer verneinen kann. (Ü) 14

Es war klar, daß diesen »allgemeinen Lebensregeln«, z.B. der Vergeltung von Wohltaten oder dem aus der pietas entwickelten Tugendkanon, Anforderungscharakter beizulegen war. Generell ließ die Bezugnahme auf Lebensbedingungen, Verhaltensweisen und humane Konstanten sich nicht von normativen, d.h. ethisch zu verallgemeinernden Aussagen trennen, da der verantwortungsvolle Redner nur ein moralisch qualifiziertes Ziel seiner Bemühungen im Auge haben durfte. Die vielbeschworene Koinzidenz von orator und vir bonus Schloß selbstverständlich den technisch-logischen Aspekt der loci nicht aus, hielt jedoch grundsätzlich an der Koppelung von docere und movere sowie an der Identität von Normvermittlung und Faktenanalyse fest. Die Bindung der rhetorischen Praxis an rechtes Urteilen über die Wahrheit, d.h. vor allem die Normgerechtigkeit von Handlungen hing bei Melanchthon mit seiner theologisch-naturrechtlichen Ethik zusammen. Sie bildete ein Hauptmoment der »litterata pietas« allgemein und ein Charakteristikum der Schuloratorie speziell. Wenn im Laufe des 17. Jahrhunderts die Schulberedsamkeit im Horizont pragmatischer Rationalität disqualifiziert wurde, die Spannung von orator und vir bonus unausgleichbar erschien, wenn schließlich das »Pedantische« des von Cicero und Melanchthon entwickelten Redemodells angesichts politisch-taktischer Erfolgskalkulation (etwa bei Chr. Weise) mißbilligt wurde, war nicht zuletzt die ethische, normative Qualität des topischen Verfahrens betroffen. Dieser Prozeß soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden: seine Spuren und Motive sind in verschiedenen Abschnitten dieser Arbeit nachgewiesen, vor allem im Hinblick auf die zeitgenössische Kritik des Ciceronischen Rede- und Stilideals (dazu unten Kap. Β V). Festzuhalten ist, daß auch im Falle Berneggers die Analyse der formalen Technik allein wenig aussagekräftig ist. Daß der Redner sich des Topos der Ähnlichkeit bedient (so in der Einleitung und in der probatio, dem ersten Teil der Kontroverse), daß sich selbst die historische Thematik aus der Entfaltung des

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gicarum seu hypotyposes theologicae, Wittenberg 1521; ähnlich im 17. Jahrhundert Johann Gerhardt: Loci theologici, 9 Bde., 1. Aufl. Frkft. 1610-21. Vgl. P. Joachimsen: Loci communes. Eine Untersuchung zur Geistesgeschichte des Humanismus und der Reformation, in: Luther-Jb. VIII (1926), 27ff. Rhetorica, 1519: »Ita sunt in suasoriis ut in iudicialibus loci communes regulae quaedam vivendi generales, natura hominibus persuasae, quas non tempere leges naturae vocarerim, id est sententias, quasdam adeo necessaries, ut vulgo conceptas nihil sonent, quod possit auditor negare.« Vgl. auch dort den ganzen Zusammenhang über die philosophisch-ethische, lebenspraktische und literarische Bedeutung dieser »Gemeinplätze«. Melanchthon zählt z.B. auf (ibid. fol. Biiijb): »virtutes, vitia, fortuna, vita, mors, opes, ingenium, iuventus, senectus, denique omnia, quae generaliter in caussas incidunt«. Zu dem im folgenden erwähnten Beispiel von pietas und impietas als »primus locus« vgl. C. R. XX 696f. Daß darüber hinaus auch die logisch-formale und mnemotechische Seite der Topik referiert wird, ist selbstverständlich.

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Topos »a tempore« ergibt, die Frage nach der Zukunft den Gesichtspunkt der »consequentia« ins Spiel bringt, daß etwa auch nach »inneren« und »äußeren« Faktoren des Kulturverfalls gegliedert wird, betrifft eigentlich nur die formale Logik der Redestruktur. Erst die Auswahl der Gemeinplätze, ihre Applikation und Exegese, ihre Konkretisierung und Intentionalisierung vermag die Positionen zu verdeutlichen, über die geurteilt werden soll. Dazu zählt die Körpermetapher, die, wie gezeigt, ein enormes moralisch-politisches Aussagepotential enthielt und sich zudem traditionell als Modell politischer Argumentation bewährt hatte, dazu zählt der Topos von der drohenden Barbarei und dem Greisenalter der Studien als humanistisch geprägten Generalnenner kulturkritischer Reflexion. Auch die Behauptung, daß alles Untergehende durch innere Zerrüttung bei seinem Untergange mithelfe, erhält erst in der Rede seine situations- und sachbezogene Deutung im Hinblick auf den »Disziplinverfall« und die Krise des scholastischhumanistischen Enzyklopädismus. Die Frage nach den Gründen des Niedergangs führt einerseits zur Aufzählung von Depravationsphänomenen, andererseits zur Formulierung von Gemeinplätzen, in denen das Kontingent der Erfahrung auf einsehbare »naturgesetzliche« Regeln gebracht wird. Wenn z.B. Bernegger nach den Gründen des allgemeinen Unbehagens fragt, ergibt sich die Konjunktion von konkretem Bezug und allgemeiner Formel etwa in der Aussage, in einer Zeit, die auf »varietas« und »novitas« aus sei, gebe es nichts, das, sei es noch so hervorragend, lange gefallen könne. 15 Das gleiche gilt für die Klage, daß die Studien zu derartiger Masse angewachsen seien, daß sie schon an ihrer eigenen Größe zu leiden hätten 16 - oder auch für den Satz: »Etwas, das allen offensteht, wird beinahe mißachtet und vernachlässigt« - dies in Anwendung auf den allgemeinen Niveauverlust der Gelehrtenerziehung. 17 Alle diese generellen Feststellungen

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Bernegger, Orationes academicae, 1640, S. 166; die Folgerung: »Quid ergo mirum studiorum etiam, quae per octingentorum decursum, ad hoc usque duravere tempus, tandem aliquando satietatem oboriri.« 16 Ibid.: »praesertim cum in eam molem excreverint, ut iam copia magnitudineque laborent sua, non secus ac vitis, nisi subinde amputetur, ipsa sua fecunditate gracilescit ac périt. Daß im Begriff der Masse zugleich der der »Menge«, also die Vorstellung des deklassierten Gelehrtenproletariats einbegriffen ist und die naturhafte Bildlichkeit ein konkretes soziales Urteil impliziert, belegt die Fortsetzung: »olim non nisi nobiliores, & ad spem nati Reipublicae literarum studiis destinabantur, eo quod monente Sallustio, Patres Consilio valere decet: in populo supervacanea est calliditas. At iam a plurimis annis, nullis non etiam imi subsellii hominibus Musis operari concessum est.« - Der topische Gedanke »Niedergang durch Überlastung« gehört neben anderen (morphologischen, vitalistischen und anthropomorphen) Vorstellungen bereits zum Grundbestand der antiken Verfallsdiskussion und wurde besonders in der römischen Kaiserzeit zur Denkformel der Krisenreflexion (Livius, Seneca, Tacitus, Plinus, vorher schon Horaz): vgl. die zahlreichen Belegstellen im Zusammenhang bei R. Haussier, Tacitus, 272ff. Die Logische Konsequenz des moles-Topos lag auf der Hand: entweder eine Erleichterung der Last oder bessere Unterstützung. 17 Ibid.: »Quae promiscue sunt omnibus expósita, fere fastidiuntur ac negliguntur. [ . . . ] ita quo maior universitatum, Gymnasiorum, Scholarum numerus existit, eo minor hominum solide doctorum copia fieri videtur.« 117

strukturieren die Rede hin auf die Grundthese der Argumentation. Sie sind vorweggenommen in einer bereits zu Anfang ausgesprochenen pessimistischen Diagnose der Geschichte, aus der sich im Gegenzug der obligate moralische Appell entwickelt. Wenn also im ersten Teil der Rede die Tatsache des Kulturverfalls bewiesen wird, handelt es sich bereits durch die Auswahl der argumentativen Muster nicht nur um eine pragmatische Analyse des historischen Befundes. In der pessimistischen Beurteilung der Lage, die Bernegger nur als weitverbreitete Meinung referiert, sind bereits jene Ansatzpunkte präsent, die in der Widerlegung der These, also im zweiten Teil der Rede, das moralische Beweisziel des Sprechers programmieren (vgl. dazu unten Kap. Β. VI). Die zeitkritische Schärfe der Epochenanalyse dient dazu, die Frage nach dem Verhalten des Einzelnen herauszutreiben. Das historische Urteil reflektiert in der Erfahrung einer veränderlichen Welt bereits die Möglichkeiten transhistorischer Stabilität, in denen auch der Dekadenzgedanke überwunden ist. Damit verweist Berneggers Rede auf kategoriale Probleme des barocken Geschichtsdenkens, auf die im folgenden einzugehen ist. 2) Vom Kreislaufmodell zur vanitas-Emblematik Aus der Sicht der Skeptiker, die den todgeweihten litterae »den Puls fühlen wollen«, ergibt sich als universales Gesetz aller irdischen, geschichtlichen Phänomene das des Kreislaufs. Kein Ding habe eine »konstante fortuna«. Begründet wird also nicht die Hoffnung auf den Wiederaufstieg, die Rückkehr der goldenen Zeit, vielmehr ist ein allgemeiner, gesetzlich ablaufender Verfallszyklus konstruiert: Es sei das böse und fortwährende Gesetz des Schicksals, daß etwas zur Gipfelhöhe Geführtes wieder zum tiefsten Grunde immer wieder zurückgleitet - und dies schneller, als es emporgekommen ist - und daß es dann an sein Ende kommt, wenn die Wachstumskräfte verbraucht sind. (Ü) 1 8

Dieses Gesetz gelte nicht nur für die Reiche und Städte, also politische Gebilde, sondern auch für Sitten, Sprachen und Kultur. Alles sei historisch begrenzt und könne seiner »Sterblichkeit« nicht entgehen: und wenn auch menschlicher Entschluß sich dem mit aller Kraft entgegenstemmt. 19 18

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Ibid. S. 155: »malignam perpetuam fati legem esse, ut ad summum perducta, rursus ad infimum velocius, quidem quam ascenderunt, relabantur, finisque tunc appetet, ubi incrementa consumpta sunt.« Ibid.: » . . . sed & mores, & linguas, & literas suis definiri temporibus, nec effugere mortalitatem, omnia molimine consiliorum humanorum in contrarium frusta nitente.« Gegenüber älteren Formulierungen, die den unausweichlichen geschichtlichen Wandel behandeln, unterscheidet sich Berneggers Formulierung durch die genaue, als Gesetz beschriebene Bewegungsdynamik, die an eine ballistische Kurve erinnert. Vgl. demgegenüber Melanchthon (C. R. IV, 717, Vorrede seiner Schriften von 1542): »solere fatales mutationes omnibus rebus humanis accidere quae humanis consiliis caveri non possunt« oder J. Camerarius (zit. nach F. Stählin, Camerarius, 90): »Sunt nimirum temporum fatales conversiones potentiores quam omnia Consilia humana.«

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Die in der Theorie des »fatalis orbis« auf den Begriff gebrachte Erfahrung der Veränderlichkeit der Welt findet sich in ähnlicher Formulierung bei Machiavelli, 20 bei Lipsius21 und bei Bodin. 2 2 Dieser wandelt die Zyklustheorie gegen die platonische Konstruktion eines der Geschichte enthobenen Idealstaates, gegen die christliche Geschichtstheologie wie auch gegen den Renaissance-Mythos von der Wiederkehr der goldenen Urzeit. 23 Auch die Antike besaß für ihn innerhalb der Universalgeschichte nur einen relativen Wert: verehrungswürdig, aber nicht unüberholbar. 24 Denn nach Bodin konnte der allmähliche Aufstieg der Menschheit durch die natürliche Periodik von Verfall und Erneuerung nur unterbrochen und zeitweise gefährdet, aber letztlich nicht aufgehalten werden. Die bei Bodin kompromißhaft angedeutete Fortschrittsperspektive, die auf die aufklärerische Interpretation des Zyklusmodells verweist, entsprang einem Vertrauen in die Kraft des Menschen, infolge eigener Einsicht und natürlicher Moralität den Ursachen des Verfalls entgegensteuern zu können. 25 Die Emanzipation der politischen Rationalität von einer theokratischen Geschichtsteleologie führt hier nicht wie bei Gracian zur Haltung des melancholisch-pessimistischen »desengano« (die gute Zeit kehrt zwar wieder; diese Hoffnung aber ist für den Einzelnen, der in einer schlechten Ära lebt, bedeutungslos), 26 sondern zu einer Reflexion der moralisch-politischen Defekte der Gesellschaft mit dem Ziel ihrer Ausschaltung. 20

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Vgl. Istorie fiorentine, dt. hg. von H. Floerke ( = Werke, Bd. I V , 1925), S. 268ff. Dazu s. K.Schmidt, Machiavelli, bes. 117ff., Rehm, Untergang Roms, 55ff. mit Literaturangaben. D e Constantia, dt. ed. L . F o r s t e r , S . 4 4 f f . , spez. 47 v/48: »o du wunderbares und unbegreifliches Gesetz der Natur: Es kömpt doch alles in diesen des Wachsthumbs und absterbens runden und von ewigkeit her verordnetem Circkel: und sind wol alte und langweerende / aber keine ewigweerende dinge in dieser Welt.« (Buch I, Kap. X V I ) . Ausführlich zu der von Lipsius besonders in der »Manuductio ad stoicam philosophiam« (1604) und »Physiologia stoicorum« (1604) rezipierten stoischen Kosmologie und deren Beziehungen zu einem ethisch-politischen Ordnungsdenken: G . Abel, Stoizismus, bes. S. 92ff. Vgl. Klempt, Die Säkularisierung, 64ff.: dort die entsprechenden Belege aus dem »Methodus ad facilem historiarum cognitionem« (zuerst 1566); Bodin vergleicht die Wechselbewegungen der Geschichte mit dem notwendigen Wandel der Jahreszeiten: die Logik dieser Metapher bestätigt die Sicherheit erneuter Blüte nach Epochen des Verfalls: »Habet natura thesauros innumerabiles, quae nullis aetatibus exhauriri possent. Quae cum ita sint et cum aeterna quadam lege naturae conversionem rerum omnium velut in orbem redire videatur, ut aeque vitia virtutibus, ignoratio scientiae, turpe honesto consequens sit, atque tenebrae luci, falluntur qui genus hominum semper detenus se ipso evadere putant.« (Methodus, cap. V I I , ed. 1572, S. 480). Vgl. Klempt, Säkularisierung, 50ff. Vgl. ibid. S. 65. Methodus, Kap. V I I , ed. 1572, S. 474: »Quod si res humanae in detenus prolaberentur, iampridem in extremo vitiorum ac improbitatis gradu constitissemus: qua quidem antea perventum esse opinor, sed cum flagitiosi homines nec ulterius progredì, nec eodem loco stare diutius possent, sensim regredì necesse habuerunt, vel cogente pudore, qui hominibus inest a natura; vel necessitate, quod in tantis sceleribus societas nullo modo coli poterai; vel etiam, quod verius est, impellente Dei bonitate.« Vgl. G . Schröder, Β . Grecians »Criticón«, S. 61.

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Insofern lieferte der Zyklusgedanke die allgemeine Begründung für politische Prognose und Prophylaxe, mittels derer die von verschiedenen Seiten drohenden »conversiones rei publicae« abgefangen werden sollten. 27 D i e Verfallsperspektive aktivierte demnach die Potenzen der politischen Klugheit. D i e Erhaltung des status quo gegenüber einer immanenten Dynamik der unter dem Gesetz des kontinuierlichen Wandels stehenden Geschichte fand aber dort ihre Begrenzung, wo der Kausalnexus der Abläufe und die Offenheit der Zukunft nicht mehr kalkulierbar waren. In den Begriffen von fatum und fortuna wurden beide Pole transrationaler Kontingenz im gesamten Schrifttum des 17. Jahrhunderts vielfach problematisiert. D i e negative Qualifizierung der geschichtlichen Bewegung als Symptom beständiger Labilität, als permanenter Bedrohung durch die Katastrophe (verstanden im wörtlichen Sinne) betraf sowohl die Institutionen der Gesellschaft im ganzen wie auch das Schicksal des Individuums. 28 In Anbetracht dessen, daß die letzten Impulse der geschichtlichen Bewegung staatlicher und personaler 27

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Vgl. zu diesem Aspekt oben S. 71ff. ; grundlegend die Reflexion der Bedingungen von Entstehung, Aufstieg, Blüte und Verfall der Staaten bei Bodin, De rep. IV, Kap. 1-3 Methodus, cap. VI; ähnlich Botero, dt. 1596, S. 491ff. : »Woher es komme / daß die Stette / so ein mal angefangen / auffzugehen / und jhr gewisses ziel erreichet / nicht weiter, noch höher kommen: sondern eintweders still stehen / oder wider abnehmen«; ausführlich Chr. Besoldus, Principium et finis pol. doctrinae, 1625, Diss. II., Kap. V, S. 147-67 (»De praesagiis ruinae Rerumpublicarum«); ferner u.a. Arnisaeus, Doctrina Politica, Lib. II, c. I, 1643: er unterscheidet die unveränderliche Dynamik des geschichtlichen Wandels von dem Komplex reparabler Defekte in den Begriffspaaren naturalis declinatio-morbus, eversio-conversio; auch J. Bornitius (Partitiones Pol., 1608, S. 120) entfaltete die Frage nach der politischen Rationalität der Staatserhaltung (Körper- und Krankheitsmetapher) aus der Sicherheit, »quod in humanis nihil stabile, omniumque rerum sit vicissitudo, ortus, incrementum, decrementum, occasus«; M. Wehner, Metamorphosis Rerum-publicarqum, 1665: Analogie von elementaren und kosmischen Veränderungen zur Veränderung der »Regimenten«; deutlich hier der Zweck des Verweises: Widerlegung des Kritikers, »der die Götter beklagt und beschuldiget / als wann sie sich deß Menschen nicht annehmen / und umb die menschlichen Sachen nichts bekümmert weren / sondern Hessens in seinen vollen Lauff gehen / wie es ging«; auch in der akademischen Quaestionenliteratur ist die Frage nach der Veränderlichkeit mit den Problemen der Stabilisierung der polit. Ordnung verzahnt; vgl. etwa J. Gerhard, Centuria Quaestionum Politicarum, Jena 1608 (»Decas Decima«). Die Erfahrung von Höhe und Fall ergibt sich für das Individuum besonders deutlich (und exemplarisch für andere Bereiche) im Umkreis des Hofes. Die Gnade und Gunst des Fürsten ist der entscheidende Faktor der Instabilität, dem das Streben nach Erhaltung des eigenen »status« gegenübersteht. Sowohl im staatlichen Ganzen wie auch in der Daseinsökonomie des einzelnen hat sich die Rationalität des Menschen in der Spannung zwischen fataler Zwangshaftigkeit der subjektiv nicht mehr durchschaubaren Abläufe und der Notwendigkeit prudentistischer Gegenwehr bzw. moralischer Resistenz zu bewähren. Opitz bemüht die Zirkelmetapher, wenn er ausdrücklich in der Vorrede der »Weltlichen Poemata« (1625) bemerkt, »Daß gelehrter Leute Zu- vnd Abnehmen auff hoher Häupter vnd Potentaten Gnade/Mildigkeit vnd Willen Beruhet«. Vgl. zu dieser Vorrede Sinemus, 17ff., der auf die Beweisintention der gegenseitigen Abhängigkeit kultureller Blüte, d.h. mäcenatischen Engagements und staatlicher Wohlfahrt abhebt. Das Fatum ist also gerade als Grenzbegriff der individuellen wie politischen Klugheit definiert: »Consiliorum, & humanae prudentiae incertitudo, Fatum« (Chr. Forstner, Hypomnemata, 1623,

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Klugheit prinzipiell unzugänglich, allenfalls in ihren Wirkungen abschätzbar und durch Vor-sicht abdämpfbar erschienen, lautete die epochentypische Frage: . . . da besonders unser Status aus ständiger Bewegung besteht, was bitte wird unter den Menschen so stabil und unbeweglich sein, daß es keine Veränderung erduldet? Nichts bleibt in dieser Welt in seinem Bestand: der Mond und der ganze Bereich der sublunaren Welt spielen mit der Varianz ihrer Erscheinung? (Ü) 29

Aus der Formulierung ergibt sich bereits, daß für die Wahrung des »stabilen Status« - des einzelnen wie der Ordnung der Gesellschaft - in der Welt selbst kein Anhaltspunkt gefunden werden konnte. Zugleich wird offenbar, wie die negative Interpretation des zyklischen Geschichtsmodells der Renaissance im Horizont angespannter, weil ständig bedrohter Sicherungsbedürfnisse als Denkvoraussetzung für die im Barock allgemein verbreitete pädagogische Allegorisierung der Geschichte betrachtet werden muß. Die idealisierende Statik der moralischen und politischen Ordnungssysteme der Zeit ist Resultat einer Ausschaltung der geschichtlichen Handlungsperspektive, soweit sie entweder innerweltliche Erneuerung und historischen Fortschritt (als »Wiederaufstieg«) oder - theologisch gedacht - eschatologische Verheißungen im Sinne endzeitlicher »renovatio« umfaßte. Dieser Befund, den bereits W. Benjamin angedeutet hat, 30 spiegelt das Ende des reformatorischen und humanistischen Zeitalters - sozialgeschichtlich interpretiert - , die Eliminierung von Geschichtsmodellen und optimistischen Propositionen, in denen sich die bürgerlichen Emanzipationsbewegungen des 16. Jahrhunderts ihre Topik historischer Selbstverständigung geschaffen hatten. Die Angst vor der Geschichte als Inbegriff von Fall- und Verfallsprozessen ist Ausdruck einer durchaus verständlichen Interpretation der geschichtlichen Situation des Frühabsolutismus, weil ja eine Veränderung des status quo in der Tat im Horizont des höfischen Machtmonopols nur als Prozeß fortschreitender Gefährdung errungener Positionen erfahrbar war. 31

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30 31

Nr. XLV), es wandelt sich zur fortuna unter dem Aspekt, den z.B. Schupp in seinem »Salomonischen Regentenspiegel« (Schriften 1664, S. 41) ausspricht: »Das Glück ist bey Hofe nicht derer, die es verdienen / sondern derer / denen es beschehret ist.« In der emblematischen Exegese des »Fallgesetzes« werden hinsichtlich der Unausweichlichkeit des Niedergangs das Schicksal der Hofleute wie auch die Geschichte der blühenden Städte und »Regimenter« in Analogie gesetzt: vgl. Aegidius Albertinus, Hirnschleifer, Neuausgabe, S. 147ff. (Motto: »Thum / dessen Spitz umbfellt«), Chr. Besoldus: Principium et finis pol. doctrinae, Diss. II, cap. 1, S. 88f.: »Cumque inprimis omnis noster status, sub perpetuo motu consistât, quid quaeso stabile inter homines, & ita immobile erit, ut nullam mutationem patiatur. Nihil in hoc mundo suo permanet statu: Luna & quicquid sub ipsa, varia Idea ludit.« Vorher wird der Satz »nullum imperium esse aeternum« mit einem Zitatenbündel aus der politischen Literatur (Botero u.a.), aus der Patristik (Boethius) und der Dichtung (Ovid) belegt und in wörtlicher Übereinstimmung mit dem von mir zitierten Passus bei Bernegger festgestellt: »tali in orbe omnibus rebus perpetua lex est, uti ad summum perducta, stare loco nesciant, finisque omnium adpetet, ubi incrementa sunt consumpta.« W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, ed. 1972, S. 73ff. Die Warnung vor »neuen Gesetzen«, wie sie Bodin, de rep. IV 3, begründet, durchzieht die gesamte politische Literatur der Zeit.

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Wie bei Bernegger gilt auch bei anderen Autoren der Zeit das geschichtliche Gesetz des kontinuierlichen Kreislaufs als Form geschichtlicher Veränderlichkeit auch für kulturelle Phänomene und Normen gesellschaftlichen Verhaltens (mores, linguae, literae). Die im folgenden Βodin-Zitat getroffene Feststellung widerruft die Sicherheit des Renaissance-Humanismus, durch Nachahmung der antiken Kultur auf Dauer den einmal erreichten »Stand« kultureller Blüte bewahren zu können: Es gibt auch eine eigentümliche Wechselhaftigkeit von Wissenschaft und Literatur, daß nämlich die Künste an manchen Orten durch Erfahrung und Mühe erfindungsreicher Menschen entstehen, darauf Wachstumskräfte gewinnen, darnach eine Weile in ihrem Bestand erhalten bleiben, schließlich durch ihr eigenes Alter schwach werden, allmählich absterben und im langdauernden Vergessen begraben werden: sei es infolge langdauernden Kriegselends oder weil die allzugroße Fülle (ein besonders in diesen Zeiten sehr zu befürchtendes Übel) besonders dem Leichtfertigen Sättigungsgefühle nahezulegen pflegt oder weil Gott gerechte Strafen von denen fordert, die heilbringende Wissenschaften zum Verderben der Menschen verwenden. (Ü)32 Strukturell ist die Definition der Ausgangs- und Problemlage identisch mit den Aussagen zur politisch-moralisch akzentuierten Dekadenzdiagnose, dem korrespondierend der Aufforderungscharakter des historischen Urteils. So wie das Individuum, konzentriert auf den transzendenten Charakter seiner moralischen Vernunft, in der unbeugsamen Tugendhaltung der constantia, die Gültigkeit ethischer Ordnung beglaubigte, die sich dem Zerstörerischen der Zeit widersetzen konnte, 3 3 - so wie in der Politik die Ordnung der Gesellschaft das hierarchische System kosmischer, trans-lunarer Weltharmonie widerspiegeln sollte, so waren auch Sprache und Literatur in ihrem »Status« nur zu erhalten, wenn sie in ihren Normen und Regeln das Unveränderliche in der Geschichte repräsentierten; das aber bedeutete, daß Sprache und Literatur selbst nach zeitlos gedachten Gesetzen geregelt wurden und somit in der reinen Geltung ihrer Formen die depravierenden Momente der historischen Empirie hinter sich ließen. 34 Der Übergang von der 32

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Bodin, Methodus, cap. VII, ed. 1572, S. 476: »Est enim literarum sua quoque vicissitudo, ut primum quibusdam in locis ingeniosorum hominum experientia & labore artes oriantur, deinde incrementa suscipiant, post aliquantum in statu vigeant, tandem sua vetustate langueant, denique sensim emoriantur & oblivione diuturna sepeliantur: vel bellorum diuturna calamitate: vel quod nimia copia (malum his temporibus valde metuendum) satietatem levissimo cuique affere soleat: vel quod iustas Deus poenas expetit ab iis, qui scientias salutares, in hominum perniciem convertunt. Zum Ethos der constantia vgl. Abel, Stoizismus, S.78ff.; ferner die gesamte Literatur zum barocken Trauerspiel (z. B. Schings, Patristische und stoische Tradition, S. 236ff.) sowie W. Welzig: Constantia und barocke Beständigkeit, in: DVjs XXV (1961), 416ff. Auch für den ästhetischen Formbegriff ist daran zu erinnern, daß im Zuge der aristolischen Dichotomie von forma und materia, Akt und Potenz, die Güte der Schöpfung überhaupt mit ihrer von Gott gedachten Formqualität identisch war: »Unordnung«, die Unsicherheit einer Welt im Zeichen der »vanitas« waren nicht Folgen der Schöpfung, sondern Konsequenzen des Sündenfalls und menschlicher Verfehlung: Formdisziplin und Ordnungsdenken waren demgemäß geistige Anstrengungen, diesen Depravationsprozeß zumindest der Intention nach rückgängig zu machen: vgl. die ausführliche Darstellung in einer zeitgenössischen christlich-biblischen Physik: C. Aslacus, Physica & Ethica Mosaica, 1613, spez. S. 30ff.

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-stichworthaft formuliert - Nachahmungsästhetik des Humanismus zur Regelästhetik des barocken Zeitalters signiert in unverkennbarer Eindeutigkeit Homologie und Interdependenz des moralischen, ästhetischen und politischen Systemdenkens der Epoche. Dieses ist die Antwort auf Aponen in der Verarbeitung historischer Erfahrungen: die Uminterpretation des zyklischen Geschichtsgedankens in der Applikation auf die eigene Zeit nötigte zu einem idealistischen Ausstieg aus der Geschichte als Kontinuum empirisch-reflektierten Handelns, weil die Orientierung an der Tatsächlichkeit des Weltgeschehens, an der Faktizität der Verhältnisse die Anerkennung unwillkommener Konsequenzen bedeutet hätte. Thematischer Index des historischen Wandels ist die Apostrophe des »genius saeculi«. Wo in seinem Namen Anpassung gefordert oder empfohlen wird - z.B. in der Stildiskussion35 - , geschieht dies zumeist mit dem Unterton des Bedauerns oder der Resignation. Die gesamte à-la-mode-Kritik darf als Argumentationssystem verstanden werden, das nicht anti-absolutistisch, aber doch in deutlicher Opposition zum Monopolanspruch des höfischen Lebensideals und den Axiomen der aristokratischen Repräsentationskultur stand. Auf der anderen Seite entwikkelten sich in Westeuropa im Zusammenhang politischer Rationalität auch Grundzüge einer Kulturtheorie, die nicht zugleich in negativer Prospektion den Zyklusgedanken implizierte. Bodins kulturgeschichtliche Reflexionen samt seiner bekannten Klimatheorie sowie die Anfänge der europäischen Moralistik erfaßten jedenfalls tendenziell die epochalen, nationalen und lokalen Bedingungen und Wandlungen auch von Literatur und Sprache. Erkenntnisse dieser Art standen von vornherein unter dem Gesetz der »Akkomodation« und blieben deshalb in Deutschland einstweilen in ihrer Wirkung beschränkt. Spezialtraktate bezeugen, daß die diesbezügliche ausländische Literatur sehr wohl rezipiert wurde, freilich ohne die Perspektive eines in die Zukunft reichenden offenen Geschichtsprozesses zu entwickeln und damit die Auflösung des transhistorischen Systemdenkens zu bewirken (vgl. das folgende Kapitel). Ähnlich wie Bodin diskutiert z.B. Chr. Besoldus in seinem Buch »de natura populorum« (1619) die politischen und kulturellen Faktoren und Prozesse historischer Veränderungen. In direktem Bezug auf J. Barclays »Icon animorum« (1614) heißt es: Aber zumeist unterscheiden sich in den einzelnen Epochen nach den örtlichen Gegebenheiten nicht nur die Vokabeln der Dinge, der Habitus der Völker und ihre Sitten, und Neigungen, sondern auch Kultur und Militärwesen. Denn die Epochen haben selbst ihren Genius. Dieser pflegt die Gemüter der Menschen zu gewissen Tätigkeiten zu lenken. Ja die Zeit verändert selbst die Natur des Ortes. (Ü) 36

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Vgl. dazu insgesamt Kap. Β V! S. 39: »Sed non pro locorum situ, vocabula rerum, habitusque populorum, & mors eorum, animorum inclinationes: sed literarum insuper, armorumque studia, singulis plerunque aetibus variantur. Nam & ipsa sécula genium habent; qui mortalium ánimos in certa studia inflectere solet. Imo ipsam loci naturam, commutât tempus.« Besoldus betitelt das 10. Kapitel (S. 48ff.): »Literas, & ipsum etiam solum, sua Fata habere, temporisque successu immutali.« Darstellungen wie diese gehören zu den zeitgenössi-

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Bernegger kommt es demgegenüber zunächst darauf an, den Niedergang der eigenen Zeit nicht nur an den Phänomenen zu belegen, sondern in der Bewegung der Geschichte selbst typologisch zu verankern. Er weist deshalb zur Demonstration des Kreislaufs von Aufstieg und Verfall zunächst auf die Zerstreuung und Zerrüttung der antiken Kulturzentren hin. Durch die Vorstellung der »translatio artium« als Komplement der biblisch-patristischen Weltreichslehre 37 ist der Konnex zum nachchristlichen Abschnitt der abendländischen Kulturgeschichte hergestellt. Dem Publikum waren einschlägige Paradigma geläufig: das jüdische Volk, die griechische Stadtkultur und das antike Rom. Sein Schicksal war es vor allem, das bereits im Schrifttum der gesamteuropäischen Spätrenaissance - prototypisch für geschichtsphilosophische Überlegungen des 18. Jahrhunderts bis zur Moderne - ein Reflexionsmodell der Dekadenztopik anbot. 37a So wie sich die aufgehende Renaissance in der Glorie römischer Kultur gespiegelt hatte, die es zu erneuern galt, so finden Melancholie und Zeitkritik des 16. und 17. Jahrhunderts im Nachdenken über ihren Niedergang Denkbilder sowie rational und emotional bestimmte Identifikationsmuster der eigenen Gegenwart. Dabei ging es nicht nur um die Entdeckung einer lyrisch umsetzbaren Ruinenromantik, 38 vielmehr um das exemplarische Gesetz der geschichtlichen Bewegung, um die Bedingungen von Größe und Untergang, aus denen man zu lernen hatte. Durchaus verschieden waren je nach der Ausrichtung der Textintentionen die Akzentuierungen der Themenbehandlung. Der Fall Roms konnte im Rahmen katechetisch-trostspendender vanitas-Perspektive zur Sprache kommen, nicht in erster Linie im Hinblick auf die Fragen nach den Ursachen des Niedergangs, sondern um die Ökonomie

37 37a

38

sehen Ansätzen einer Kultur- und Literaturgeschichte, wie sie in der Nachfolge Bodins in Deutschland auch von Keckermann und Reineccius ausgebildet wurden (»Historia scholastica«: vgl. Klempt, 69ff.). Die historisch-empirische Analyse kultureller Phänomene ist wie die Rücksicht auf nationale, temporäre und lokale Besonderheiten von Ländern und Staaten nach Bodin Voraussetzung realitätsgerechten und erfolgreichen politischen Handelns; sie ergeben sich wie die bekannte Klimatheorie aus der Auflösung der Universalgeschichte; in der Konsequenz, d. h. nach Ausfall des Perfektions-Kriteriums, zeichnen sich bereits hier Ansätze einer historischen Betrachtungsweise ab, die später Voraussetzungen der Geschmacksdiskussion werden (vgl. P. Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I, 24ff.: Dubos, Montesquieu, Winckelmann). Zu Bodin vgl. neben Klempt: H. Busson, Le Rationalisme, 540f., Janet, Histoire de la science politique, 531ff. Auch in der zeitgenössischen Politiktheorie in Deutschland setzte sich der Grundsatz der Anerkennung der von Menschen geschaffenen Tatsächlichkeit und der Berücksichtigung historischer Besonderheiten durch: vgl. H. Dreitzel, Prot. Aristotelismus, 130f., 301. Zur Theorie der »translatio artium« vgl. F. J. Worstbrock, in: AfKg XL VII (1965), 1-22. Vgl. Buck, Das Geschichtsdenken der Renaissance, S. 22ff.; W. Rehm: Der Untergang Roms im abendl. Denken. Leipzig 1930, ders.: Europ. Romdichtung, 2. Aufl. München 1960; ferner Karl Christ: Der Untergang des römischen Reiches in antiker und moderner Sicht, in: ders. (Hg.), Der Untergang des römischen Reiches. Darmstadt 1970 ( = WdF Bd. CCLXIX): umfassende Literaturnachweise. Vgl. Rehms Ausführungen zu Du Beilays »Antiquitez de Rome« (1558), in: Europäische Romdichtung, 86ff.

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der Vorsehung und den Gang der Heilsgeschichte zu demonstrieren. 3 9 Er konnte aber auch in den Traditionen moralistischer Geschichtsschreibung als Exempel einer Interdependenz von moralischer und politischer Integrität funktionalisiert werden oder in der Suche nach den »causae universales« und »causae speciales« Anhaltspunkte für Handlungsnormen der eigenen Epoche liefern. 40 D i e Analyse des Niedergangs als Suche nach den politisch-moralischen Ursachen ergänzte komplementär die Untersuchungen der Bedingungen römischer Größe, wie sie Lipsius vorgenommen hatte, um der eigenen Zeit die Einrichtung eines funktionierenden Machtstaates vorzuführen. 41 Ob die Perspektive theologisch oder poli39

Kennzeichnend für die im Vergleich zum italienischen Frühhumanismus gewandelte Optik ist das Zurücktreten der These, Rom sei von außen, infolge der Barbareneinfälle überwältigt worden; zwar gewann diese nationalistische Ansicht unter dem Eindruck des »sacco di Roma« noch einmal einleuchtende Plausibilität, darnach aber trat in den Vordergrund die Frage nach den inneren Ursachen des Verfalls. Dazu, um ein deutsches Zeugnis zu zitieren, vgl. einen Passus aus den »Fasti« des Nathan Chytraeus (Hanau 1594, S. 195f.): »En, monimenta olim claris decorata triumphis, Ut iaceant, propriis vix agnoscenda ruinis! Haec Roma est, Dea terrarum, magno aemula cáelo, Quae titulis aeterna olim soloque tremenda Nomine, praesenti populis pro numine eulta est. Nunc sine honore icaet, licet ipsa cadavere tantae Molis adhuc spirare minas ¡rasque putentur. Sed frusta externus nam postquam defuit hostis, Viribus ipsa suis in se crudeliter uti Coepit, ut hosti aditus etiam quandoque paterent. Iam patuere, viden capiti ut diadema revulsum Miles humi stravit! populis calcata profanis Sceptra iacent, soliique nitor fastusque superbi Desiit: in vieta victrix iam Roma sepulta Relliquias vix ipsa suas, vix nomina servat, Rebus in adversis victrix, sed vieta secundis.« - Zur vanitas-Perspektive vgl. Rehm, Romdichtung, S. 134ff.; ders., Untergang Roms, 83ff. Daß die Verfallsklage unter dem Eindruck der Prachtentfaltung des gegenreformatischen Rom, der »ecclesia triumphans« zurücktreten konnte, belegt Gryphius' Sonett »Als er auß Rom geschieden« (Werke, ed. Szyrocki, Bd. I 87) dazu Rehm, Romdichtung, 146ff. 40 Rom als Paradigma (ähnlich wie bei Bodin, Methodus, cap. VI, ed. 1572, 369f.) ausführlich behandelt bei Besoldus, De natura populorum, 1619, Cap. IX, S. 38ff.: »Cur Fato, temporisque successu, mutetur natura populorum«; in politisch-analytischen Traktaten dieser Art fehlt bezeichnenderweise der vanitas-Komplex vollständig: es dominieren die Autoren der historisch-politischen Wissenschaft, wie (bei Besoldus) Canonieri, Cardano, Machiavelli, Guicciardini, Barclay, Cunaeus, Piccartus. Das Schicksal der alten Kulturen (neben Rom auch Griechenland, spez. Athen behandelt) verknüpft sich mit dem Blick auf die historischen Wandlungen Deutschlands. 41 J. Lipsius: Admiranda, sive de magnitudine romana. 1598 (dt. von J. V. Andrea, 1620); dazu treten Spezialabhandlungen: De magistratibus veteris populi Romani (1592), der Kommentar zu Polybios: De militia Romana (1595/96) sowie die Schrift über in der Antike verwendeten Kriegsmaschinen: Poliorceticon sive de machinis, tormentis, telis (1596). Über Zielsetzung und Einfluß dieser Literatur vgl. G. Oestreich, Geist und Gestalt, bes. 117ff. 125

tisch-pragmatisch ausgerichtet war, der moraldidaktische oder pädagogisch exemplarische Bezug zur Gegenwart blieb in jedem Fall erhalten. Daß in der geistigen Diskussion der Zeit verschiedene Interpretamente lebendig waren, daß keineswegs allein die christliche Geschichtsmetaphysik das Meinungsklima prägte, erinnert an die für Krisenepochen typische Gleichzeitigkeit von Orientierungslosigkeit und Orientierungssuche. Die Dynamik des Kosmos wie die Dynamik der Geschichte evozierten in noch unauflöslicher Koppelung Sinnfragen und Begründungsprobleme. Die Auswahl der Antworten war jeweils bestimmt von dem praktischen Interesse an der Kategorisierung aktueller Erfahrungen. So ist es ζ. B. kein Wunder, daß im Modell des römischen Niedergangs auch jener politische Aspekt keineswegs vergessen war, welchen der italienische Bürgerhumanismus entwickelt hatte und der bei Tacitus eine bedeutende Rolle spielt, der Verlust der Freiheit: Die Römer, die den Griechen in der Weltherrschaft nachfolgten, erduldeten schon bald eine andere Veränderung. Welches Volk, das mächtiger war im Handeln und Erleiden? Welches war freier vom Joch der Sklaverei? Nichtsdestoweniger wurden sie plötzlich zu Sklaven gemacht und gewöhnten sich an die Sklaverei - so sehr, daß selbst den Kaiser Tiberius eine so kriecherische Sklavengeduld anekelte und er beim Verlassen der Kurie sagte: »O Menschen, zur Sklaverei geboren...« (Ü)42

In Opitzens »Trostgedicht« (geschrieben 1621ff.), das sich emphatisch gegen die Folgen des katholisch-habsburgischen Machtanspruches wendete und in der Katastrophe der pfälzischen Politik den Mut zur Verteidigung der Freiheit ebenso wie die unerschütterliche Ruhe des Weisen predigte, spielte dieser Gesichtspunkt des römischen Niedergangs durchaus eine Rolle.43 Er war auch im Gedenken an die

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Besoldus, De natura populorum, 1619, S. 47: »Romani etiam, qui Graecis in Imperio succensere mundi, multam jam olim metamorphosin passi fuerunt. Quae gens, aut in agendo aut in patiendo fortior? quae servitude solutior? servi nihilominus repente facti, & servituti assuefacti sunt; usque adeo, ut Tiberium Imperatorem, tarn projectae servientium patientiae taeduerit, & quoties Curia egrederetur, dixerit: O homines ad servitutem paratos.« Aus der Sicht der Gegenwart und aus der Vehemenz des calvinistischen Antikatholizismus schleuderte J. C. Scaliger seine lyrische Anklage gegen die Stadt, die noch weniger als ein Schatten ihrer selbst geworden sei: »Ad Romam de suis tyrannis« (in: Poemata 1574, S. 389; gehört zur Sammlung von Schmähgedichten in Hinkjamben: »Hipponax«), Vgl. Buch I, V. 329ff., spez. zum Verlust der Freiheit V. 362ff. : . . . »Octavius wacht auff / vnd nimpt sich seiner (d.i. des ermordeten Casars, - W. K.) an / Macht das noch ledig ist jhm vollend vnterthan. Da ward kein Scipio / kein Fabius gehöret / Kein Bürgermeister mehr / noch Rahtesherr geehret. Da war kein Cassius / kein Brutus in der Statt / Der feindlicher Gewalt frey unter Augen tratt. An Tugend statt kam Mord/Neid/List vnnd Hofepossen: Wie sich Tiberius im Hurenhaus entschlossen / Was Claudius befahl / was Nero / was das Schwein

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christlichen Märtyrer impliziert, die als Exempel der Glaubens- und Gewissensfreiheit in einer Epoche der Tyrannei eindeutige Idealbilder und Verhaltensmuster abgeben konnten. 44 In Berneggers Rede sind diese Aspekte nur mittelbar präsent. Sie hier zu erwähnen, ist insofern legitim, als dadurch der Rezeptionshorizont des Publikums von 1622 umrissen werden kann, ein Komplex von literarisch vorgeprägten Konnotationen, durch welchen die explizierte Aussage der Rede jeweils in den umfassenderen Horizont eines epochalen Diskurses eingelagert ist. - Bernegger geht es speziell um die Geschichte der »literaria sapientia«. Situativ begründet, dem Charakter der Universitätsrede angemessen ist die Behauptung, das Stadium der »literarischen Kindheit« sei gekennzeichnet durch die Gründung der Universitäten von Paris und Padua und setze sich - mit Einschränkungen - fort in der Verbreitung der Wissenschaften durch Kollegien und Klöster. Die Lebensaltermetaphorik erläutert den Geschichtsprozeß und liefert gleichsam eine Archäologie des Schulhumanismus. Die folgende Zeit - ich paraphrasiere - ist eine Epoche der Dämmerung: die Sonne der Bildung scheint noch bleich, verhindert aber jedenfalls dunkle Nacht. Erst mit Maximilian I., der seinerzeit die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg zur Gründung der hohen Schulen in Wittenberg und Frankfurt/Oder anregte, beginnt das silberne Zeitalter. V o r hundert Jahren übernahmen die Deutschen die Spitze der europäischen Kulturentwicklung, weil sie sich die lateinische Sprache und die griechischen Wissenschaften zu eigen machten. - Bodin, Riccoboni und Paulus Jovius ( = Paolo Giovio) müssen als Zeugen dafür dienen, daß endlich nicht nur die lateinischen, sondern auch die griechischen und hebräischen Wissenschaften in einer fatalen Wanderung auf deutsche Lande übergingen. (Ü) 4 5

Domitianus hieß / das ließ man A m e n seyn. So hat die schöne Statt zusehend abgenommen / V n d ist j e mehr und mehr biß auff die Neige kommen: D i e sonst in Leydenszeit den Wolcken gleiche stund / Sanck in der Wolfahrt hin in aller Schanden Grund.« ( V . 371-84).

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Im Zweiten Buch, V . 153ff., das vanitas-Argument. Es dient der allgemeinen Güterentwertung (Bild vom Rad der fortuna) als Vorbereitung des Porträts des stoischen Weisen: » W o ist das schöne R o m / dem nichts auff Erden gleiche / Nichts nächst gefunden ward / die Göttin aller Reiche / D e r Außzug der Natur / das Haupt der gantzen Welt? Ihr A a ß ist noch zusehn / sie selber ist g e f ä l l t . . . « V g l . das Gryphius-Gedicht: » Ü b e r die vnter jrrdischen Gruffte der Heiligen Märtyrer zu R o m « ( W e r k e , ed. Szyrocki, Bd. I, S. 87). Bernegger, Orationes academicae, 1640, S. 160: »Literae ( . . . ) non Latinae modo, sed Graecae & Hebraicae in Germanorum terras fatali commigratione transierunt.« Die Aussage gehört zum topischen Arsenal des barocken Kulturpatriotismus, wie etwa auch bei Harsdörffer, Gesprächsspiele, Neuausgabe, Teil I I I , S. 463 (neue Paginierung): » D i e Lateinische Sprache R o m ist mein Vatterland / da bin ich reich gewesen / Und nun von dar verjagt / im Teutschenland genesen.«

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Damit, also in der Epoche des Erasmischen Humanismus, ist der Höhepunkt und das Ziel der translatio studii erreicht. In der Kombination der biblisch-patristischen Weltreichslehre 46 mit der historischen Licht- und Metallmetaphorik sowie dem Lebensaltervergleich 47 wird eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung konstruiert, die ihre A k m e zu Beginn des 16. Jahrhunderts erreicht und in der Gegenwart unverkennbar den Wendepunkt überschritten hat. D i e in den vorhergehenden Abschnitten zitierten düsteren Gemälde der »Barbarei« illustrieren und begründen die Stringenz der historischen Konstruktion. D a ß derart ungefähr mit dem Ende des ablaufenden Jahrhunderts eine Zäsur gesetzt wird, ist kein Einzelfall. Für Posselius ζ. B. reicht die Blüte der römischen Kultur von Cicero bis Quintilian, die Autoren der Kaiserzeit, die im 17. Jahrhundert rehabilitiert werden, fallen in das nachfolgende Zeitalter der Barbarei. Im Vergleich zum Humanismus wiederholte sich dieser Abstieg im ablaufenden »saeculum«: Da also aus gewissen Anzeichen offensichtlich ist, daß die Jahre dieser Schicksalsepoche, reich an gelehrten Männern, beinahe erfüllt sind, ist weniger verwunderlich, daß diesem goldenen Zeitalter nunmehr gewissermaßen die Barbarei auf dem Fuße folgen wird. (Ü) 48 Auch Maturinus Simonius datiert drei Blütezeiten: die hohe Zeit der griechischen Kultur von Pythagoras bis Demosthenes, denen allerdings noch große Namen in der Kaiserzeit und unter den Kirchenvätern nachfolgen, eine römische Epoche von Cicero bis Plinius und schließlich jenes »saeculum«,

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Quelle dieser mittelalterlichen Konzeption war bekanntlich das Alte Testament: Dan. 2.21 und Eccles. 10.8 in Verbindung mit den Träumen Nebukadnezars und Daniels (Dan. 2.31-45, bzw. 7). Durch den Danielkommentar des Hieronymus und durch die christliche Historiographie (Orosius) wird das Modell weiter ausgeführt und blieb bis ins 18. Jahrhundert die kanonische Ausdeutung der universalgeschichtlichen Entwicklung. Auf protestantischer Seite wurde die Lehre besonders durch die Chronik Johann Carions (s. C. R., Bd. XII, dazu Klempt, S.20f.) sowie durch SIeidans »De Quattuor summis imperiis libri tres (zuerst 1566) verbreitet: nach W. Goez das »verbreitetste Schulbuch der protestantischen Welt« (48 lateinische, 4 deutsche Auflagen). Umfassend zur translatioIdee: W. Goez: Translatio imperii. Tübingen 1958; ferner E. Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte, S. 45ff.; Menke-Glückert, Die Geschichtsschreibung der Ref. und Gegenreformation, S. 36ff.; P. E. Hübinger, Spätantike und frühes Mittelalter, S. 3ff.; Klempt, S. 27ff.; P. A. van den Baar: Die kirchl. Lehre der T. I., Rom, 1946; zu den antiken Quellen, Haussier, Tacitus, S. 80ff., 127ff.; Th. E. Mommsen: St. Augustine and the Christian Idea of Progress, in: JHIXII (1951), 346ff. ; Zurückweisung dieses Konzepts nicht nur bei Bodin, sondern zumindest in der Abschwächung des eschatologischen Aspekts auch durch Lipsius: s. Nordman, Lipsius als Geschichtsforscher, S. 54f. Augustinus hat nicht nur den sechs Schöpfungstagen sechs Weltalter zugeordnet, sondern die Universalgeschichte mit den sechs Lebensaltern des Menschen kombiniert: vgl. Vosskamp, 15ff.; Klempt 143f.; Dempf, Sacrum Imperium 117ff.; ausführlich R. Häussler: Vom Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs, in: Hermes 92 (1964), 313-41; R. Schmidt: Aetates Mundi, in: Zts f. Kirchengeschichte 67 (1955/56), S. 288-317. J. Posselius, Orationes octo, 1591, S. 130: »Cum igitur ex certis indiciis appareat, annos huius periodi fatalis doctorum hominum fere completos esse, minus mirandum est, quandam Barbariem aureae huic aetati suçcessuram esse.«

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das vor zwei Jahren abgelaufen ist und das einzigartige und hervorragende Männer in aller Art Wissenschaften anregte, hervorbrachte und ernährte. (Ü) 49

Dies sind Aussagen, die gewiß aus Anlaß der Jahrhundertwende auf rückblickendes Urteil angelegt waren; die gemeinsame Optik des Abstiegs stimmt mit den bereits zitierten Zeugnissen überein und läßt Denkformen historischer Melancholie erkennen, zu deren Überwindung die zeitgenössische Theoriebildung sich aufgerufen fühlen mußte. Dies betraf einerseits die Frage nach der Berechtigung solcher Klagen, die ja zweifellos die gesamtgeschichtliche Entwicklung nur vom Standpunkt partialer Interessen her erfaßten. Darüber hinaus barg die Dekadenzklage nicht nur ein fortdauerndes Potential altbürgerlicher Gesellschaftskritik, sondern führte in Einzelargumenten zu Fragen theologischer Bedeutung, zum Problemfeld der substantiellen Veränderlichkeit oder Unveränderlichkeit der Welt überhaupt. Die Überwindung der Dekadenzhypothese war deshalb nicht nur eine Frage sozialpsychologischer Befriedung, berührte sich mit dem Melancholieverbot, durch das die geschlossene Gesellschaft auch mental abweichendes Verhalten zur »Akkomodation« nötigte, sie war vielmehr auch eine der Bedingungen der Entfaltung barocken Systemdenkens überhaupt (s. dazu die folgenden Kapitel). Ein besonderer Konfliktpunkt der konsequent zu Ende gedachten negativzyklischen Dekadenzthese lag zweifellos, wie gesagt, in der Theorie eines fatalen Geschichtsprozesses, in dem die Willens- oder Handlungsfreiheit des Individuums in Frage gestellt war oder - wie bei Bernegger - der Erfolg und damit Sinn eines gegen die immanente Bewegung der Geschichte antretenden Handelns verneint wurde. Bereits die gesetzmäßige Formulierung des zyklischen »fatum«, die Identifizierung gesellschaftlicher Vorgänge mit natürlichen Abläufen, die Anlehnung an die Terminologie der Biologie/Medizin und physikalischen Mechanik (Niedergang als Aufzehrung der »Wachstumsmittel« - »incrementa«) tangierten gefährlich die historische Handlungsmächtigkeit Gottes und des Menschen. Justus Lipsius, der Protagonist des frühbarocken Neostoizismus, bezeichnete das »natürliche Fatum« als »die Ordnung der natürlichen Ursachen«, »welche [...] durch jhre macht und nach jhrer Natur/ allzeit etwas gewieses und gleichmessiges ausrichten und zu wege bringen«. 50 Indem sich die Dynamik der Gesellschaft in Prozessen der Natur abbildet, ist die Frage nach dem Bewegungsgesetz der Geschichte zugleich das Problem kosmischer Weltimmanenz, stößt an die Dogmen der Schöpfungstheologie und wird unausweichlich mit häretischen Theoremen konfrontiert, welche die Naturphilosophie der Renaissance vorgelegt hatte. Lipsius greift die altstoische Konzeption des fatum als »series implexa causarum« auf, um sie bezeichnenderweise in Anlehnung an Seneca sogleich mit christlichen Elementarvorstellungen zu vermit49

50

Maturinus Simonius, De Uteris pereuntibus, 1618, S. 184f.: » . . . quod ante annos duos decursum est, quod singulares & eximios in omni literarum genere vires excitavit, produxit, & aluit.« (Die Erstausgabe des Werks erschien 1602). J. Lipsius, De Constantia, deutsche Übersetzung, ed. L. Forster, S. 52 v.

129

teln. I n d e m er pagane Interpretationen zurückweist - es sind genau die der häretischen Tradition der Spätrenaissance 5 1 - , setzt er die Freiheit der göttlichen Providenz wie auch die Möglichkeit humaner Willensfreiheit in ihr Recht: der menschliche Wille wird selbst zum Faktor jenes Geflechts v o n Ursachen, die die W e l t b e w e g e n , in der Vorsehung aber bleibt die Finalität des Gesamtprozesses an d e n geglaubten Sinn gekoppelt. 5 2 Im Rückgriff auf die bereitliegenden Differenzierungen und Korrekturen der Patristik (Augustinus, Boethius) werden die Voraussetzungen für jene - in der Forschung ausführlich dargestellte 5 3 - Synthese des christlichen Stoizismus geschaffen, auf der barockes D e n k e n basiert. D e r

51

52

53

Lipsius unterscheidet das »wahrhafftige«, christlich interpretierte fatum von dem »fatum mathematicum« (astrologisch verstanden), dem »natürlichen« fatum = fatum physicum« (in der Aristotelesinterpretation des Alexander von Aphrodisias) und dem »gewaltsamen« fatum, mit dem die stoische Deutung gemeint ist (Unterwerfung Gottes unter das beschlossene Schicksal, Aufhebung des freien Willens: vgl. Chrysipp bei Gellius, N. A. VII 2; Seneca Ep. fam. 77, 12; de benf. IV 7.2; de Providentia V 8): D e constantia, deutsch, ed. L. Forster, S. 51 vff. ( = Buch I, Kap. XVIIIff.). Es geht hier nicht um antike Lehren, sondern um die Naturphilosophie der ital. Renaissance, welche teils pantheistisch, teils averroistisch orientiert, wesentliche Dogmen des Christentums in Frage stellte. Die These von der Ewigkeit der Welt und der Sterblichkeit der Einzelseele bei Pomponazzi z. B. huldigt einem naturalistischen Immanentismus, indem auch das »fatum stoicorum« wieder zu Ehren kommt. Zahlreiche Autoren haben sich neben Lipsius in die Diskussion eingeschaltet, um die christlich-aristotelische Vorstellung von creatio und mundus zu verteidigen: gegen Cardano wurde z. B. viel gelesen J. C. Scaligers »De Subtilitate«, u.a. 1607 (meine Ausgabe); vgl. dort spez. 42ff. (»An natura sit Anima mundi, Fortuna, Fatum, Casus«); ausführliche Widerlegungen Patrizzis z. B. bei O. Casmannus, Cosmopoeia, 1598, 17ff., 78ff., 133ff., spez. 147f.: »Sie statuitur mundi anima secundum Stoicos, Platónicos & Patricium, tum hoc pacto Dei singulis rebus proprias & distinctas vires donantis bonitas & sapientia, non modo obscuratur, sed prorsus ex hominum animis evellitur, dum aliis cuidam naturae & animae, non autem ipsi Deo eas vires, eamque rerum administrationem, contra quam forte & Veritas & Religio, attribuimus.« Daneben vgl. etwa die Werke von Pererius, 1588 (bes. 507ff., de fortuna, casu, et contingentia); C. Aslacus, 7ff. sowie die zahlreichen Genesis-Kommentare (etwa Danaeus, Pareus u.a.): weitere Titel bei Allen (1938), 210-11; sowohl die häretischen Auslegungstraditionen des Stoizismus wie auch die Auswirkungen auf die Epochenkrankheit der »Melancholie« ergeben sich sehr eindrucksvoll aus Richard Burtons Darstellung der »Religious Melancholy« (in: Anatomy of Melancholy, 1621, ed. London 1893, Bd. 3, spez. 441, mit Erwähnung von Pompanazzi, Cardano, Vanini). Zur christlichen Überformung des Stoizismus vgl. Blüher, Seneca in Spanien, 161ff. ; Schings, Patristische und stoische Tradition, 201ff.; zu Lipsius speziell J. L. Saunders, Lipsius, 137ff.; Rühl, 43ff.; Borkenau (ideologiekritisch), 180ff., vor allem Abel, 74ff. Von germanistischer Seite hat vor allem die intensive Auseinandersetzung mit den Werken von Gryphius und Lohenstein die Frage nach der Koexistenz und Harmonisierung christlicher und neostoischer Denktraditionen aufgeworfen: vgl. neben Schings (s.o.) bes. Speilerberg, 104ff.; Vosskamp, Zeit- und Geschichtsauffassung, 125ff., 171ff.; Wucherpfennig 152ff.; ferner Kappler (1936) sowie neuerdings H. Steinhagen (1977) 81ff. und passim (sozialgeschichtliche und wissenschaftsgeschichtliche Voraussetzungen des barocken Krisendenkens). Der Rahmen dieser Arbeit verbietet, auf die Ausführungen im einzelnen einzugehen: in einem Aufsatz zu Gryphius' Kopernikus-Gedicht (Schiller-Jb. 1979) habe ich versucht, die Position dieses Autors im Zusammenhang neuzeitlicher Wissenschaft vergleichend zu bestimmen.

130

christliche A k z e n t des Lipsianischen K o m p r o m i s s e s deutet hin auf die moralische A b s i c h t : es g e h t in G e s c h i c h t s d e n k e n und K o s m o l o g i e u m die B e d i n g u n g e n d e r E r m ö g l i c h u n g v o n T u g e n d , von Resistenz des Individuums in e i n e m scheinbar nur in sich selbst b e w e g t e n P r o z e ß blinder geschichtlicher A b l ä u f e . A b g e w e h r t wird die i m M o d e l l des fatums v e r b o r g e n e T h e o r i e einer innerweltlichen » P r o z e ß l o gik«, die sich mit der E n t w i c k l u n g einer enttheologisierten »politischen« R a t i o n a lität d u r c h a u s d e c k t e . E s w a r e n christliche T h e o r e t i k e r , die Machiavelli - n e b e n a n d e r e n P u n k t e n - als U r h e b e r einer L e h r e v e r d a m m t e n , »die mittels fatum und f o r t u n a die M e n s c h e n von d e r göttlichen Providenz und von d e r T u g e n d abziehe und d e n freien Willen p e r v e r t i e r e « . 5 4 D a ß die » f a t a « als K o m p l e x natürlichg e s e t z m ä ß i g e r Z u s a m m e n h ä n g e , d e r e n eigentlicher Impuls bedrohlich und inkalkulabel ins D u n k e l p r i m ä r e r U r s a c h e n verwies, nicht d e r » T u g e n d entgegensteh e n « , d a ß »nicht die f a t a , s o n d e r n wir selbst uns v e r d e r b e n « 5 5 , war zu beweisen: d e n n die O r d n u n g der W e l t und der Gesellschaft war nicht nur als funktionales Aggregat

zu

denken,

das

sich

in d e r

»Selbsterhaltung«,

»conversatio

sui«

e r s c h ö p f t , s o n d e r n m u ß t e die Unbedingtheit v o n T u g e n d p o s t u l a t e n im Prinzip d e r T e l e o l o g i e und d a m i t i m G l a u b e n an die praestabilierte H a r m o n i e von T u g e n dordnung

und W e l t o r d n u n g

e r h a l t e n . 5 6 D a s Interesse a m

»Stabilen«

in

der

G e s c h i c h t e , an d e m sich das V e r h a l t e n in der Krise des p h ä n o m e n a l e n Ordnungs-

54

55

56

Vgl. exemplarisch H. Wagnereck S. J . : Vindiciae politicae adversus Pseudopoliticos, 1636. Lib. II, cap. I I I , 369ff. So Chr. Besoldus: Principium et finis politicae doctrinae, 1625, Diss. II, cap. 2, spez. 113: im Zusammenhang ausführliche Auseinandersetzung mit dem astrologischen Determinismus in der Tradition des neuplatonischen Denkens (vgl. dazu Garin, Ital. Humanismus, 128ff. sowie vor allem D . C. Allen, The Star-Crossed Renaissance; ferner Evans, 278ff. u. ö.) sowie mit der verbreiteten Kometenprognostik. Noch bei Lohenstein (vgl. Wucherpfennig, 135ff.) spielt die Frage der astralen Determination als Signum weltimmanenter Fatalität eine bedeutende Rolle. Das Thema ist gerade im politischen Schrifttum der Zeit omnipräsent: vgl. die zahlreichen Verweise bei Besoldus I.e. Das Problem der kosmologischen Selbsterhaltung artikuliert in der frühen Neuzeit die Problematisierung der »creatio continua«, der fortdauernden Erhaltung der Welt durch den Gnadenakt Gottes, und damit die Auflösung des »immediaten« Verhältnisses von Gott - Welt überhaupt. O. Casmann z . B . (Cosmopoeia, 1598, 141f.) wendet sich ausdrücklich gegen Patrizzis »animam talem, quae se universo mundi corpori & eius partibus immisceat, ut omnia eius membra instar vinculi colliget: quippe Deus immediate (!) & condere & conservare (!) mundum omnipotenti sua sapientia & bonitate novit & vult. »Auch Telesio (vgl. Garin, Ital. Humanismus, 243f.) verstand die Selbsterhaltung des Kosmos als zwar von Gott verliehenes, aber den Dingen immanentes Prinzip. Das Problem spiélt in der augenblicklichen Forschung zur Vorgeschichte des neuzeitlichen Subjektivismus und einer den Teleologiegedanken auflösenden Rationalität eine große Rolle: vgl. den Sammelband von H. Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Frankfurt 1976, mit umfassender Einleitung (S. 9ff.). Die Rolle des Stoizismus ist dabei umstritten. Während Blumenberg (u.a. ibid. 157ff.) einen kategorialen Bezug zwischen Stoizismus und neuzeitlicher Rationalität ablehnt, hebt Abel dagegen auf die in der Stoa-Rezeption zu Tage tretenden Tendenzen einer autogenen Vergesetzlichung von Ethik und Politik ab: vgl. ausführlich - auch zur Interpretation des Neostoizismus durch W. Dilthey-Abel, 1978, bes. 16ff. 131

Verlustes orientiert, kongruiert mit dem Bedürfnis nach Erhaltung des individuellen und gesellschaftlichen »status«, der die substantielle (!) Veränderlichkeit der Welt negiert. Der Kreislaufgedanke, der im Humanismus Denkform universalgeschichtlicher Positionsbestimmung war, wird nun zum emblematisch übertragbaren Gesetz der »Unbeständigkeit«, die Sterblichkeit des Menschen zum Modell geschichtlichen Verfalls: in beiden Fällen liegt die Homologie des Gedankens im Postulat des transhistorischen, ebenso zwangsläufig wie schuldhaft verfehlten Erhalts ursprünglicher Vollkommenheit, die nur im Jenseits einzuholen ist. Die Dichotomie von Geschichte als Raum accidentieller »Zeitlichkeit« und subjektiven Widerscheins zeitenthobener Dauer, in dem die »ratio mensurae« aufgehoben ist,57 bestätigte die Welt in ihrer Tatsächlichkeit, um sie im selben Augenblick im Bewußtsein zu überwinden. Der Neostoizismus als Philosophie der Krise, in der sich eine Schicht von Gebildeten die mentale Gewißheit selbstmächtigen moralischen Handelns erhielt, das in der epochalen Situation zugleich auf pragmatische Anpassung an die undurchschaubaren, jedenfalls unkalkulierbaren Gesetze von »Macht« und »Reichtum« angewiesen war, ist gerade bei Lipsius Komplement einer Theorie »politischen« Handelns, welche auf die Beamtenelite des barocken Fürstenstaates zugeschnitten war. Er erlaubte das grundsätzliche, im bürgerlichen Interesse liegende Einverständnis mit dem Machtmonopol des Souveräns, erhielt sich aber gleichzeitig in der Innerlichkeit des Subjektes die Freiheit der moralischen Integrität: auf diese allein nämlich war der Souverän zu verpflichten, sollte nicht die Ordnungsmacht des Absolutismus im machiavellistischen Sinne zum Hebel fürstlicher Partialinteressen degenerieren, gegen die legale Mittel (Privilegien, ständische Rechte usw.) in immer geringerem Maße zur Verfügung standen. 58

57

Zum Begriff der Ewigkeit ist zu bedenken, daß er die physikalische wie auch geschichtliche »Zeit«-Rechnung überhaupt aufhebt, also qualitatives Denken insgesamt limitiert: vgl. die Diskussion bei Pererius, De communibus omnium rerum natura, 1595, spez. 662ff. sowie C. Aslacus, 1613, 117f., der doppelte Zeitbegriff: »Tempus accipitur vel latius vel angustius. Latius pro quavis cuiusvis entis duratione, atque ita aeternorum aeterna, creatorum vero determinata & circumscripa est duratio. Angustius vero & frequentius usurpatur pro duratione mundi huius seu fluxo hoc spa tío, quod coeli siderumque metitur convolutio. Atque hinc liquet ante conditum mundum fuisse aeternam durationem seu aeternitatem ipsam & proinde tempus late sumptum. At non fuit tempus hoc fluxum seu mensuratum quod cum mundo incepit. Distingui itaque potest tempus late acceptum in aeternum & mundanum: quorum illud Logicum & Metaphysicum, hoc Physicum.«

58

Abel, Stoizismus, 15f. : »Das stoische Gedankengut (wird) in der Hand des Besitz- und Bildungsbürgertums zu einer Individual- und Sozialethik sowie politischen Theorie im engeren Sinne erneuert, die dem einzelnen Individuum Handlungsanweisungen geben, um sich in der für ihn krisenhaft und undurchschaubar erlebten Welt zurechtzufinden, sich die Forderung nach neuer Zucht und Ordnung zu eigen zu machen und sich in dieses vom Neustoizismus in Gestalt der civilis doctrina noch entworfene System diszipliniert einzupassen und damit u.a. etwa den Konflikt zwischen Trieb und Norm ausschließend zugunsten der Norm zu entscheiden.« Gegenüber Abel ist zu ergänzen, daß a) die stoische Ethik insofern sie die moralische Disziplinierung der gesamten Gesellschaft

132

Die im christlichen Neostoizismus unternommene Harmonisierung von fatum und Providentia - die Nähe zur theologischen Logik des humanistisch gemäßigten Calvinismus ist deutlich - erkennt den im göttlichen Ratschluß verkörperten Zusammenhang von Ursprung und Ziel der geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung an, soweit der universale Prozeß der Geschichte gemeint ist. Gleichzeitig ist die empirische Welt in ihrem Eigengewicht in den Blick kalkulierender Rationalität genommen: Lipsius weiß, daß das fatum als Instrument göttlichen Willens in der Zeit »in den Dingen« wirkt, d.h. aber: nur in der Reflexion der tatsächlichen Umstände, in der Erfahrungswelt der Erscheinungen postuliert werden kann. Die Eigenbewegung des Seienden wird nicht aufgehoben, sondern in ihrer inhärenten Bestimmung im Akte des Glaubens auf Gott zurückgeführt. Die Fatalität der »necessitas« wie auch das Sinndefizit einer im Walten der fortuna erfahrenen Kontingenz ist damit zurückgenommen. Die theokratische Oboedienz der Universalgeschichte und die als gesetzhaft definierte Kausalität der Welt, in der allein das Postulat teleologischer Vorsorge zu retten war, ließ keinen Freiraum mehr für unmittelbares, transnaturales Eingreifen der göttlichen Macht (etwa durch Wunder und Strafe). Dies bedeutete eine weitreichende Veränderung des geistigen Klimas im Vergleich zur Glaubensgewißheit des 16. Jahrhunderts, in dem auch die erfahrbare Lebenswelt direkt vom heilsgeschichtlichen Antagonismus zwischen Gott und Satan durchdrungen war. Durch die Kategorie des fatum wird die Geschichte wie auch der Kosmos zwar nicht sinnentleert, aber in die Ferne Gottes gerückt: die Angriffe auf Lipsius seitens der Theologie beweisen deutlich genug, wie sehr der Stoizismus darin selbst Anteil an der Herausbildung neuzeitlicher Anthropologie und Kosmologie besitzt.59 Geschichte als »Verhängnis« scheint bedrohlich, weil sie nur im intellektuellen und moralischen Heroismus des Individuums auf den ersten Beweger alles Geschehens hin zu durchdringen ist. Prototyp und Exponent dieser neuen Einsamkeit des Menschen war der Märtyrer. Seine Versuchungen gründeten in der perspektivischen Amphibolie des fatum-Begriffs. Was dem Auge Gottes, was im Blick auf die zeitlich sich erfüllende Willenshandlung Gottes sinnvoll »vorgesehen« war, konnte jeweils aus der Perspektive des affektgetrübten, in seiner Erkenntnis verhinderten Subjektes nur als Spiel von Zufällen erscheinen. Das nackte Antlitz einer gottverlassenen Welt, die seit dem mittelalterlichen Nomina-

59

einschließlich des Souveräns postuliert, nicht die politische Subordination per se unterstützt, sondern - man denke an das barocke Trauerspiel (Papininian) - zugleich einen Anhaltspunkt politischer Resistenz bietet - und daß b) die neostoische Kosmologie und Geschichtsmetaphysik in der Rezeption der scholastischen Unterscheidung von causae primae und causae secundae (so bei Lipsius: vgl. Abel, 75, 91f.) ausdrücklich die Emanzipation der Politik von der Theologie begünstigt. Denn während Gott als unerforschliche Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, hat sich diese ausdrücklich nur mit den causae secundae zu beschäftigen (so etwa bei einem christlichen Theoretiker wie Arnisaeus; vgl. H. Dreitzel, 70f.). Zur theologischen Kritik an Lipsius vgl. Schings, Patristische und stoische Tradition, 205ff.

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lismus immer von neuem zu bewältigende Erfahrung des »deus absconditus« war in der Koinzidenz von Providenz und fatum noch einmal auf das Sinnangebot christlicher Heilsgeschichte zu verpflichten. Die Trostlosigkeit weltimmanenten Mißlingens - Leiden, Verfolgung, Bedrückung, auch der Gesamtkomplex politischer Entmächtigung - wurden zu Motiven der Aktivierung der moralischen und intellektuellen Energien des Individuums. Denn sich auf den Standpunkt jenseits der Geschichte zu erheben, in der Sphäre des beständig Unbeständigen gerade in der Gesetzhaftigkeit des Kosmos die Hand Gottes zu erspähen, war Zeugnis höchster Intelligenz, weil hier das Abstreifen der »opinio« (der Befangenheit der Vernunft in den Gaukelbildern der Affekte) vorausgesetzt wurde, - war in diesem Sinne Tugendzeichen und in theologischer Konsequenz Antizipation der Erlösung in und von der Welt der Sinne. Die bildende Kunst des 17. Jahrhunderts hat die Fluchtperspektiven nachgezeichnet, die aus der Weltimmanenz hinausführten (man denke an die Deckengemälde), die barocke Literatur, vor allem Trauerspiel und höfischer Roman, die Katechese der geistlichen Literatur waren bemüht, in konkreten Gestalten exemplarisch die Möglichkeiten der Weltüberwindung zu beglaubigen, zugleich aber praktische Handlungsmodelle zu liefern, in denen gerade die extreme Anfechtung des Subjekts die potentielle Unbedingtheit geistiger Autonomie vor Augen stellte. 60 D i e Interpretation der Veränderlichkeit der Welt als Unbeständigkeit, die Übernahme des Zyklusmodells als Gesetz weltimmanenter Bewegung erlaubte in bestimmten Grenzen (darüber s. das folgende Kapitel) die Übernahme der späthumanistischen laudatio temporis acti, d.h. des Rückblicks auf verlorene Ordnung und Perfektion, weil im Glauben an die Providenz Gottes Konsequenzen des 60

Zur perspektivischen Ambivalenz von fatum-fortuna vgl. Wucherpfennig, 151ff. Es ist von Bedeutung, daß der zeitgenössische Tacitismus bei den Autoren der römischen Kaiserzeit die analoge Problematik im Verhältnis dieser Kategorien vorfand: vgl. G. Pfligersdorffer: Fatum und fortuna..., in: Litw. Jb. d. Görresges., N. F. Bd. II (1961), 1-30; W. Theiller, Tacitus und die antike Schicksalslehre; R. Häussler, Tacitus, 380ff.; J. Kroymann: Fatum, Fors, Fortuna..., in: Satura. Fests. f. O. Weinreich. Baden-Baden 1952, 71ff. ; K. Büchner in seiner Einleitung der Übersetzung der »Historischen Versuche« des Tacitus. Stuttgart 1963, 2. Aufl. (= Kröner TB 225), 39ff. ; J.Vogt: Das römische Geschichtsdenken und die Anschauungen des Tacitus, in: R. Stadelmann (Hg.): Große Geschichtsdenker. Tübingen 1949, 35ff. - Zur Ideographie und Ikonologie der fortuna in Mittelalter und Renaissance liegen vor umfassende Untersuchungen von Doren, Hampe, Heitmann und A. Warburg; zur fortuna im Barock spez. Schings, Tradition, 185ff. ; Vosskamp, Zeit- und Geschichtsdenken, 135ff.; H. O. Burger, Belisarius, 172ff. - Den politischen und sozialgeschichtlichen Zusammenhang der im fatum-Denken vollzogenen Umwandlung weltimmanenter Kontingenz hat neuerdings W. Mauser im größeren Zusammenhang herausgearbeitet. Indem die Leiden des Menschen im Hinweis auf Ursprung und Endzweck erklärt werden, erscheinen sie entweder als sinnvoll oder sind nur Symptome einer verfehlten Optik des Subjekts. Daß die Akzeptabilität gesellschaftlichen Leidens der Sicherung der absolutistischen Herrschaftsordnung zugute kam, ist nicht zu bezweifeln, auch nicht, daß die im Barock auf die Spitze getriebene Interdependenz von Leiden und Heil, Anfechtung und Bewährung ursächlich mit dem politischen Erfahrungsgehalt des Absolutismus zusammenhängt (vgl. umfassend Mauser, Gryphius, 152ff., spez. 164).

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Geschichtspessimismus aufgehoben waren. Wie diese Synthese in der barocken Literatur im einzelnen vorgenommen wurde, muß außer Betracht bleiben, weil hier nur von den Nahtstellen zwischen Zyklusdenken und vanitas-Theorie gehandelt werden soll. Ein Zitat aus Martin Opitzens »Trost-Gedichte in Widerwertigkeit D e ß Krieges« (entstanden 1621ff.) mag abschließend verdeutlichen, wie sehr im barocken Geschichtsdenken immer zugleich die Entkräftung durchschlagender Zeitkritik angelegt war: Was heisset trotzig seyn / und mit dem Himmel streiten (...) Dann wer nicht wil / der muß. Gott wil / sich ausgesetzt / nichts lassen jmmer währen: Es soll ein Wechsel seyn / es sol sich alles kehren: Was war / was ist / was wird / hat seinen rechten Lauff: Wann eines niderfällt / sogeht ein anders auff. Wie Fäulichkeit das Holtz / Rost Eisen pflegt zufressen / So ist sein Zweck / Maß / Tag vnd Stunde zugemessen / Dem alles / was hier ist: Ein jedes Ort vnd Land / Ein jedes Königreich hat seinen Stillestand. Die Vrsach ist zwar auch in eusserlichen Wercken: Wann Vntreu wird erregt / wann sich die Laster stercken / Wann weiser Rath gebricht / wann frembdes Volck einschleicht / Wan Obrigkeit von Art der alten Rechte weicht / Vnd was noch weiter ist: Doch eygentlich zu schreiben / Der erste Quell ist GOtt / der thut diß alles treiben / Der stellet alles an / der hat ein jedes Haar Der Menschen abgezehlt / geschweige Zeit vnd Jahr. Er dancket Fürsten ab / setzt ander' an die Stelle: Da hilfft nun nichts darfür / wie sehr man wider belle / Wie seltzam man auch thu / wie offt man sage: Nein: Es ist der alte Lauff / vnd wird auch noch so seyn. Deß Himmels schöner Baw / muß wie ein Kleyd veralten / Kan seine Zierlichkeit nicht jmmerzu behalten / Das Firmament gibt nach / vnd unserer Erden Kreiß Nimpt ab je mehr vnd mehr / wird wie ein alter Greiß.61 Dan obwol viel in den Gedancken stehen / daß die gantze Welt und derselben Creaturen / mit veraltet / und an allen Kräfften abgenommen / so ist doch solches ein gantz irriger Wahn / und zu erweisen daß die Welt noch für sich an ihren gantzen herrlichen Gebäu. G. Ph. Harsdörffer

61

Buch II, V. 97ff. Zur Anlehnung dieses Gedichts an Lipsius vgl. Cunningham (1974), 63ff.; zur Entstehung im Zusammenhang der pfälzischen Niederlage ibid. 29ff. 135

IV. Begründung und Begrenzung des frühbarocken Modernismus

1)

Höhe der Zeit? : Das Thema »De felicitate saeculi« bei Caspar Dornau und Johann Balthasar Schupp

Die kultur- und zeitkritischen Diagnosen, welche in den bisher besprochenen Zeugnissen formuliert waren und sich als deutscher Zweig eines übernationalen geschichtspessimistischen Argumentationssystems erkennen ließen, entwickeln ein Bewußtsein der »Modernität« - verstanden als bedachte »Abscheidung« des Vergangenen von der Gegenwart1 - , indem sie die eigene Epoche als Periode des Verfalls verstehen. Der Höhepunkt der sich nach der immanenten Logik des Kreislaufs vollziehenden geschichtlichen Entwicklung wird in die Vergangenheit gelegt, die Zukunft erscheint drohend und gefahrvoll, die Gegenwart gezeichnet durch den fühlbaren Beginn einer Wende zum Schlechteren. Die in der Figur der laudatio temporis acti, in der spezifischen Applikation des Topos »a tempore« vorgetragenen Anklagen artikulieren im Sinne einer rückwärtsgewandten Utopie jeweils ex negativo zu interpretierende Gegenbilder vollendeter, jedoch verlorener Ordnung und Harmonie. In der Perspektive der Dekadenz werden aktuelle Erfahrungen gesellschaftlicher Veränderungen auf die historische Ebene projiziert, die Pathologie der Gesellschaft impliziert zugleich noch die Frage der Pathogenese. Ich habe bereits darauf hingewiesen, wie die inhärente Problematik eines geschichtsdeterministischen Fatalismus sowohl theologische wie psychologischmoralische Grundaxiome in Frage stellt, von denen die Glaubwürdigkeit auch politischer Ordnungspostulate abhing. Die Konfrontation mit der Historizität

1

Modernität wird verstanden im Sinne der seit dem Mittelalter entwickelten Bedeutung von »modernus« als »derzeitig« (nicht einfach »neu«), also als zusammenfassender Begriff für die Attribute der jeweiligen Gegenwart: vgl. W. Freund: Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters. Köln/Graz 1957, bes. 5; ferner K.-H. Gerschmann: »Antiqui - novi - moderni« in den »Epistolae obscurorum virorum«, in: AfBg 11 (1967), 23ff. ; E . R. Curtius, Europ. Lit. und Lat. M A , S. 259f.; F.Martini: Modern, Die Moderne, in: R L , 2. Aufl. Bd. II, S. 391ff.; zur Begriffsgeschichte von »modern« und dem Bedeutungswandel in der Neuzeit: H. R. Jauß: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, S. 7ff.

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einer sich wandelnden Welt, deren Telos ebenso wie das des Kosmos problematisch erscheint, führt zu Denkanstrengungen, diese »Veränderlichkeit« als Symptom lediglich immanenter »Unbeständigkeit« zu definieren und sich somit der Beständigkeit des »Stabilen« in der Geschichte zu versichern. Die Kreislaufhypothese der Renaissance wird gerade in ihrer unbedingten naturhaften Gesetzlichkeit anerkannt; aus der Kategorie des Verfalls als Begriff der Situierung der Gegenwart im Prozeß der Universalgeschichte entwickelt sich aber in paradoxer Ambivalenz das Attribut der Vergänglichkeit als Index allen irdischen Geschehens, damit zugleich die Überwindung der physikalischen Zeit der Geschichte und des Kosmos im Horizont der Ewigkeit. In der Optik göttlicher Providenz, die das »fatum« mit den immanenten Bewegungen der Geschichte vermittelt, ist die Geschichte als lediglich phänomenaler Index der »Zeitlichkeit« aufgehoben und wird auf die Geltung der im göttlichen Ratschluß, in der Ewigkeit des »nunc stans« begründeten Weltordnung hin verpflichtet. Die vanitas-Emblematik signiert den defensiven Impetus eines intellektuellen Bemühens, gesellschaftliches Handeln in der Transparenz dieser Ordnung zu begreifen und damit die Frage nach dem offenen Ziel der erfahrenen Historizität auszuschalten. Dadurch wird nicht nur ein enormes Trostpotential frei, das sich gegen die kritischen Anfragen der Dekadenzklage richtet; die nur in der Stabilität der Verhältnisse erfüllbaren Sicherheitsbedürfnisse, welche ihrerseits die Unwandelbarkeit des gesellschaftlichen Tugendkanons postulieren, gewinnen zugleich eine transgeschichtliche Legitimität. Die Dekadenzklage war eine der möglichen Antworten auf die Erscheinung des Neuen in der Geschichte. Sie gehört zum Krisendenken der Spätrenaissance. Im Umkreis der bürgerlichen Gelehrtenrepublik formulierte sie die Erfahrung der Veränderlichkeit, d.h. Labilität soziokultureller Positionen und Wertmaßstäbe. Es wird im folgenden darzustellen sein, daß die Verfallsperspektive des Späthumanismus nicht nur durch die Rekonstitution einer metaphysischen Geschichtstheologie aufgefangen wird, in der der Kreislaufgedanke lediglich zum Gesetz weltimmanenter Abläufe wird und somit das in der Schöpfungsordnung fundierte Vertrauen des Menschen auf die Unmittelbarkeit Gottes zwar anspannt, aber gerade im Verfall der Geschichte zum Signum humaner Würde macht; - vielmehr wird die Dekadenzklage, speziell in ihrer humanistischen Ausprägung auch durch die Erfahrung möglichen Fortschritts entwertet, welcher den Blick auf eine nur in der Vergangenheit gelungene Perfektion menschlichen Handelns als einseitig zurückweist. Die Tatsache, daß diese Erfahrung des zivilisatorischen Fortschritts zu Beginn des Jahrhunderts auch in Deutschland zur Sprache kommt, konturiert Bewußtseinslagen, die in der bisherigen Forschung zu wenig berücksichtigt worden sind. In der Konkurrenz gegenläufiger Argumentationssysteme offenbart sich die Positionsgebundenheit und Intentionalität der historischen Wertung. Es wird klar, daß die gesamteuropäische Diskussion zwischen den »Antiqui« und den »Novatores«, von der bereits die Rede war, auch in Deutschland reflektiert wird, freilich keine eigene Dynamik entwickelt, die aus der »Querelle des anciens et des modernes« 137

ein Vertrauen in den Fortschritt der menschlichen Gattung entwickelt. 2 Zwar ist unverkennbar, daß zu Beginn des Jahrhunderts die Entfaltung von Technik und neuzeitlicher Wissenschaft sowohl die normative Geltung von Überlieferungen problematisiert als auch in Kontrast tritt zur statischen Systematisierung und Ordnungsideologie des soziokulturellen Bereichs, 3 doch führt dieser Konflikt lediglich zu einer Auflösung humanistischer Retrospektive, wie sie die Dekadenzklage artikulierte. D i e Frage nach der H ö h e der Zeit, die Frage, ob die Gegenwart wirklich schlechter als die Vergangenheit sei, implizierte in der humanistischen Tradition sowohl politisch-moralische wie literarisch-kulturelle Gesichtspunkte des historischen Vergleichs. Dabei wurde die Gegenwart nicht nur an der unmittelbaren Vergangenheit, sondern wurden zugleich beide im Blick auf die Antike als Inbegriff einzuholender Leistung gemessen. D i e Dekadenzklage lebte davon, 2

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Zur Querelle in der Spätrenaissance vgl. oben S. 24ff. mit den Anmerkungen; zur französischen Querelle noch immer grundlegend die älteren Untersuchungen von Rigault und Gillot; die ideengeschichtlichen sowie soziohistorischen Zusammenhänge sind dargestellt in den einleitenden Aufsätzen von Werner Krauss und Hans Kortum zu dem Sammelband: Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts. Berlin 1966; Kortum hat besonders auf den Geist fürstenstaatlicher Enkomiastik und die Analogie zwischen politischer und kultureller Selbstbehauptung des Absolutismus in der Argumentation der »Modernen« hingewiesen, neben dem genannten Aufsatz ausführlich in seinem Buch: Perrault und Boileau. Der Antike-Streit im Zeitalter der Klassischen französischen Literatur. Berlin 1966; vgl. ferner W. Krauss: Die Literatur der französischen Frühaufklärung. Frankfurt 1971. Entfaltung und Bedeutung der Auseinandersetzung sind ausführlich dargestellt auch von H. R. Jauß in seiner Einleitung zur Edition von Perraults »Parallèle des Anciens et des Modernes...«. München 1964 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 2). Zu den Reflexen der Querelle in Deutschland vgl. auch Jauß: Fr. Schlegels und Fr. Schillers Replik auf die Querelle..., in: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, S. 67ff. (ursprünglich 1967); zur Fortsetzung der Fortschrittsdiskussion jetzt auch R. Wellek: The Price of progress..., in: Studies on Voltaire and the eighteenth century CLV (1967), 2265ff.; ferner A. Buck: Das heroische und das sentimentale Antikebild in der franz. Lit. des 18. Jhdts., in: GRM 44 (1963), 164ff. sowie ders.: Vorromantik und Rückkehr zur Antike in der europ. Lit. des XVIII. Jhdts., in: arcadia 1 (1966), S. 5ff.; B.Fabian: Der Naturwissenschaftler als Originalgenie, in: Europäische Aufklärung, Fests. H. Dieckmann, hg. v. H. Friedrich und F.Schalk. München 1967, 47ff.; zur Querelle in England vgl. u.a. R. F. Jones: Ancients and Modems. A Study of the background of the »Battle of the Books«. St. Louis 1936 sowie H. J. Real: Die Biene und die Spinne in Swifts »Battle of the Books, in: GRM 54 (1973), S. 169ff. Weitere Literatur zur Geschichte der Fortschrittsidee angeführt bei Thraede, Artikel »Fortschritt«, in: RAC, Bd. VIII 1972, Sp. 180f. Bei Schupp polemisch formuliert: »Alle artes illiberales, alle Handwerck und andere Ding / werden von Tag zu Tag besser excolirt, und steigen immer höher. Die Artillorey ist in kurtzer Zeit so hoch kommen / und werden dadurch solche Ding gethan / daß alles was von den Alten in dieser Kunst geschehen ist / nur Kinderspiel ist gegen den heutigen Inventionen. Aber in artibus liberalibus geiget man immer auff der alten Geigen. Hier practicirt einer plus ultra. Ob [sie!] ihr müssige Jesuiten! Facile est inventis aliquid addere. Ein Zwerch / der auff eines Riesen Schultern stehet / kan ehe über einen Zaun als der Riese selbst...« (in: Salomo oder Regentenspiegel, zuerst 1657, zit. nach: Schrifften. Hanau 1663, S. 51).

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jedenfalls soweit sie Fragen der Kultur und Bildung artikulierte, die Gegenwart sowohl von der Blütezeit des Humanismus als auch von der Goldenen Zeit des Altertums - jeweils verschieden akzentuiert - abzuheben. Humanistische Bildung selbst - im literarischen Bereich die imitatio der antiken Autoren - lieferte den Beweis, daß die großen Vorbilder der Vergangenheit eingeholt bzw. in der aemulatio, im Wettkampf um Vollendung, überholt werden konnten. Die Redivivus-Formel, stehende Figur der literarischen Paraenese, dokumentiert diesen Geist eines objektiv epigonalen, sich aber nicht unbedingt inferior verstehenden Klassizismus. Die Wende zur Literaturtheorie der Spätrenaissance ist dadurch gekennzeichnet, daß nicht mehr nur im Einzelwerk perfekte Modelle der Antike nachgeahmt, sondern das überzeitliche Gesetz der Perfektabilität, das in ihnen verkörpert schien, herausgelöst und somit allgemein für die Gegenwart übertragbar gemacht wird. Voraussetzung dieser Neuakzentuierung war die Erkenntnis der Historizität der Antike im Widerschein der eigenen Geschichtserfahrung. Die mit dem Namen von Opitz verbundene literarische Reform des deutschen Frühbarock, der Übergang zur Muttersprache, die Rezeption der europäischen Renaissanceliteratur ist nicht zu denken ohne diese Formalisierung des Nachahmungsprinzips, ohne die damit verbundene Aufwertung der »Erfindung«, ohne die rhetorische Systematisierung der literarischen Produktion. Daß diese sich nicht nur vor den scholastisch kanonisierten Mustern der Antike zu beglaubigen habe, sondern zugleich, ja mehr noch in den Verwertungsbedürfnissen und Geschmacksnormen der eigenen Zeit anpassen müsse - diese Grundeinstellung setzt voraus, daß die Eigengeltung der »Moderne« anerkannt und mit dem humanistischen Traditionsbewußtsein vermittelt wird. In diesem Punkte hängt die divergente Bewußtseinslage von Renaissance-Klassizismus, Schulhumanismus und barocker Literaturpraxis mit der auf zivilisatorisch-technischem Gebiet gewonnenen Überzeugung zusammen, daß in der Antike sowohl verschiedene als auch keineswegs nur unüberholbare Möglichkeiten menschlicher Produktivität vorgelegt waren. Die Frage nach der »Höhe der Zeit« läßt in der Abwehr der Dekadenzklage zugleich wichtige theologische und politisch-ethische Positionen erkennen. Indem die These vom »Verfall der Natur« widerlegt wird, bleibt in der substantiellen Unwandelbarkeit der Welt die Stabilität der Schöpfungsordnung beglaubigt; es wird jene Melancholie eines geschichtspessimistischen, weltimmanenten Fatalismus überwunden, der menschliche Autonomie und menschliche Schuldfähigkeit in Frage stellt. Aus der Überwindung der Dekadenzklage ergibt sich die Perspektive des »nihil novi sub sole« als Basis des Welttheatergedankens, der das epochale Modell sowohl des gesellschaftlichen Rollenspiels als auch der heilsgeschichtlichen Vorläufigkeit der geschichtlichen Existenz des Menschen begründet. Im politischen Sinne ist die Abwehr der Dekadenzklage Plädoyer für die Akkomodation an die Gegenwart als Summe der jeweilig im Augenblick zu erfüllenden Rollennormen, ein Plädoyer für die Anpassung an die faktisch gegebenen Verhältnisse. Man darf nicht vergessen, daß die spätere französische »Querelle des anciens et des modernes« - wie Kortum nachgewiesen hat - nicht zuletzt von einer Tradition 139

der Herrscherpanegyrik beeinflußt war, die den Vergleich der eigenen Zeit mit der Antike - in diesem Fall mit dem augusteischen Rom - nur unter positiven Auspizien zuließ. Die Abwehr einer romantischen Verherrlichung antiker Perfektion erweist sich somit direkt oder indirekt auch als Mittel, die historische Kritik aktueller Erfahrungen zu vereiteln. Auf der Basis des »nihil novi sub sole« - dies ist die Plattform politisch-pragmatischer Auflösung der humanistischen Rückwärtsgewandtheit - bleibt dem Denken innerhalb der Geschichte keine Möglichkeit, grundlegende Alternativen zu formulieren: die Antike als Wunschraum und Wunschtraum unerfüllter Bedürfnisse, die im 18. Jahrhundert von neuem kritische Bewertungsmuster der Gegenwart liefern wird, verstößt gegen jene Logik absolutistischer Sozialdisziplinierung, die auf Akkomodation und Subordination, auf der transgeschichtlichen Geltung des sozialen Normsystems besteht. Die hier im Vorgriff entwickelten Thesen, die den komplexen Gehalt der Argumentationen noch keineswegs abdecken, sind im folgenden anhand von Texten zu belegen, die sich die Widerlegung der Dekadenzklage zur Aufgabe stellen. Als Ausgangspunkt bietet sich eine Rede an, die Caspar Dornavius ( = Dornau, 1577-1632) 4 im Jahre 1617 bei der Verlesung der Schulgesetze des Schönaichianum im oberschlesischen Beuthen hielt.5 Verfasser und Institution sind bedeutend. Das Schönaichianum, genannt nach seinem Gründer Georg von Schönaich, war ein kurzlebiger Versuch, die in Schlesien fehlende Universität6 durch ein Gymnasium mit »lectiones publicae«, also in der Art der alten Straßburger Akademie zu ersetzen. Konfessionell hatten sich die Schönaichs den Liegnitzer Piastenherzögen angeschlossen, waren also reformiert. Diese Tatsache ist nicht unerheblich, wurden doch gerade durch die reformierten oder »kryptocalvinistischen« Schlesier jene Verbindungen zu den westdeutschen kulturellen Zentren, vor allem nach Heidelberg, geknüpft, die für die Entwicklung der deutschen Literatur um Opitz fruchtbar wurden, indem sie den Stand der literarischen Diskussion vor allem in Frankreich und den Niederlanden nach Osten vermittelten.7 Die Lage der Reformierten zwischen den lutherisch-katholischen

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Zur Person vgl. den ADB-Artikel von H. Palm (Bd. 5, 1877, 351f.); besonders unter Gesichtspunkten einer Pädagogik-Geschichte wird D. gewürdigt von A . Seilmann: C. D. Langensalza 1898; Briefe von Dornau in Reifferscheids Sammelwerk (s. Index) sowie in: Neues Lausitzisches Magazin 39, 381-390; D. als Lehrer von M. Opitz: M. Rubensohn: Der junge Opitz, in: Euphorion 2 (1895), 57ff. sowie 6 (1899), 22ff.; ferner Szyrocki, Opitz, S. 15ff. Vgl. J . - U . Fechner: Der Lehr- und Lektüreplan des Schönaichianums in Beuthen als bildungsgeschichtliche Voraussetzung der Literatur, in: A . Schöne (Hg.): Barock-Symposion 1974, S. 324-334; dort S. 326 die ältere schulgeschichtliche Literatur; vgl. Szyrocki, Opitz, 15ff. Zu den Auswirkungen der in Schlesien fehlenden Universität vgl. H. Schöffler, Deutsches Geistesleben S. 50ff.; ferner H. Schneppen, Niederländische Universitäten, S. 31ff. Wichtige Erkenntnisse zur Entwicklung der reformierten Gemeinde in Schlesien, vor allem in Brieg und Breslau sowie eine Übersicht über die führenden Köpfe bietet: J. F. A . Gillet: Crato von Crafftheim und seine Freunde. Bd. 2, Frankfurt I860, bes. S. 393ff.: auffallend, daß neben Dornau auch andere bedeutende Gönner des frühen

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Fronten wird mit dazu beigetragen haben, daß die Beuthener Schule programmatisch ein praktisch und irenisch ausgerichtetes Christentum vertreten sollte. 8 Daß die Akademie nach dem Tode ihres Gründers (1619) ihre Pforten schließen mußte, ist primär nicht den Kriegswirren zu verdanken, sondern der sich auf Propagierung des ketzerischen Arminianismus berufenden Antipropaganda, welche schließlich zu einer hohen Geldstrafe führte. Ihr entzog sich der Neffe und Nachfolger Georgs von Schönaich durch die Flucht nach Polen. Das Zurücktreten der konfessionellen Markierungen im Beuthener Schulprogramm hängt eng mit der Ausrichtung der Akademie auf die Ausbildung einer politisch versierten und gesellschaftlich gewandten Beamtenschaft zusammen: Das Leitbild des »politicus« bestimmte wie bei Bernegger die Lernziele der Schule, vor allem durch die Erweiterung des literarischen Rezeptionsraums über die institutionalisierten Traditionen des christlichen Humanismus hinaus. Auf den in der Zeit einzigartigen Lehrstuhl eines »professor morum« wurde Caspar Dornau gerufen. Daß dieser »professor morum« nicht scholastische Ethik zu lehren hatte, sondern gesellschaftliche Gewandtheit im weitesten Sinne, ergibt sich aus Dornaus Antrittsrede »Charidemus, hoc est, De morum pulchritudine, necessitate, utilitate ad civilem conversationem« (1617). 9 In diesem bedeutenden Zeugnis der zeitgenössischen Bildungsgeschichte wird das Evangelium der Schicklichkeit, des »decorum« vertreten, die Lehre, wie der Mensch auch in seiner äußeren Erscheinung, in seinem Benehmen, seiner Gestik und in seiner Sprache einerseits das Bild vollendeter Harmonie zu bieten habe - für den neuplatonischen Einschlag dieses Gedankens spricht die Erwähnung M. Ficinos10 - und wie er andererseits in vollendeter Manier die sich aus der sozialen Ordnung ergebenden Rollenpostulate und Verhaltensnormen zu beherrschen und das jeweils Angemes-

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Opitz zum Kreis der Reformierten zählten, bes. der Arzt Caspar Cunrad sowie der Arzt und Dichter Daniel Rindfleisch ( = Bucretius): vgl. dazu spez. Gillet, S. 413/14; R . J. W. Evans, dem wir die unvergleichliche Erschließung der humanistisch-manieristischen Kultur Böhmens und der angrenzenden Länder zur Zeit Rudolfs II verdanken (1973), hat den personalen und geistigen Umkreis Dornaus, die literarisch-ästhetisch wie auch religiös-philosophisch unorthodoxe Physiognomie des Breslauer Humanismus (Monau, Acidalius, Frenzelius, Calaminus, Tobias Scultetus u . a . ) eindrucksvoll dargestellt: vgl. zu Dornau spez. S. 148ff. Dornau selbst hebt diesen Aspekt in seinem »Panegyricus Parentalis« über Georg von Schönaich besonders heraus: Euergetes Christianus, in: Orationum tom. II. ed. A . Schmiedt, Görlitz 1677, s. 598ff., spez. S. 656. G. v. Schönaichs Lieblingslektüre: Th. a Kempis, Bellarmins »Enchiridion de ascensione mentis in Deum«, die Theologia »Germanica« sowie u. a. die Schriften Melanchthons und Arndts. Zitiert nach dem Einzeldruck: Beuthen 1617; abgedruckt auch in: C. Domavi Orationum aliorumque Scriptorum Tom. I, ed. Antonius Schmiedt. Görlitz 1677, S. 354-420 (ohne den Anhang). Der Name »Charidemus« vielleicht gewählt in Anspielung auf den Hauslehrer bei Martial X I , 40 (übersetzt von Opitz, Florilegium variorum epigrammatum, abgedruckt im Anhang zu Weltliche Poemata. Zweiter Teil, ed. Trunz, 1975, S. 24), vielleicht im Sinne einer etymologischen Anspielung (Charis = Anmut, Grazie). Fol. C 2v = Görlitzer Ausgabe S. 364; fol. D 3 auch ausführlich über den Platonischen »amor«.

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sene zu beurteilen und zu praktizieren habe. 1 1 Regulatives Prinzip dieser Verhaltensnormierung ist, wie nicht anders zu erwarten, die gesellschaftliche Klugheit (prudentia): sie gilt besonders für das Leben am H o f e und besteht nicht zuletzt in der Disziplinierung der Affekte (»dominan affectibus«). Der Begriff der »Humanität« wird von der Barbarei ungesellschaftlichen Verhaltens abgesetzt. Prototyp dieser Gesellschaftsfeindlichkeit ist der Kyniker Diogenes. 1 2 Er wendet sich nicht nur gegen den eleganten Verhaltenskodex, sondern gefährdet als »honorum contemptor« wie die Wiedertäufer und der aufrührerische »Pöbel« die gesellschaftliche Hierarchie. Diogenes ist der Prototyp des Gleichmachers, der die Herrschaftsordnung der »Policey« samt dem dazugehörigen Idealkonnex von »Tugend« und »Ehre« ablehnt. 13 11

Vgl. u. a. fol. C 3: »In eo itaque consistit omnis elegantia corporis & decor gratiosus: ut mens animi exprimatur convenienti sermone, sermo gestu, gestus membrorum habitu: & haec conjunctim inter se singula eo usque aptentur: ut nihil ñeque ab interiori animo, neque a recte judicandum sensu discrepet: omnia suavissima temperie conspirasse videantur...« Die Schönheit als äußere Erscheinung geistig-moralischer Qualitäten (fol. C3): »Qui hoc fiat, rogat quispiam? aut praescire cupit illud in animo pulchrum? Nihil aliud est; nisi opinionum in mente, judiciorumque aequabilitas & constantia; cum firmitate quadam & stabilita virtutem subsequens; aut virtutis vim ipsam continens: quam si oculis contingeret usurpare corporeis; Deum immortalem, quam pulchram faciem, quam sanctam, quam magnifice lucideque fulgentem, intueremur«; der gesellschaftliche Nutzen einer solchen ästhetischen Hierarchisierung (fol. D v): »Sed tarnen sunt alia, meo judicio, haud minora: quod ex morum hac philosophia, quae tota activa est, & ad conversationem in omni vita pertinet, praecepta haurimus: quibus instructi promiscuum genus hominum secernere, inque ordines & certas classes tribuere, dignoscere denique singillatim quodvis valeamus. An est quisquam, aut omni intellectu adeo derelictus aut hospes in hoc mundi emporio; ut nesciat, quanti sit haec res momenti? Tanti profecto: ut nisi ad interiorem animum penitissime demiseris; quae sit diversitas, quam variabilis ordinum in vita statuumque conditio: non possis aptare officia, quae conveniant singulis. Divina itaque laus est; probe memoria obsepsisse: quibus inter se gradibus distens ii, qui personas in hac mundana scena sustinent...«. 12 Zu Diogenes vgl. fol. C 3: »... Quasi enim rei literariae dignitas & majestas Philosophi in sordibus consisterei; in foedo corporis pedore; in habitu vestituque plane indecenti: adeo ille pulchrum putabat; capite esse semitonso, pedibus non calceatis grassari per nivem; lacero pallio nuditatem corporis tegere die, noctu caput obvolvere...«. Die Gestalt des Diogenes verschmilzt - wie hier angedeutet - im 17. Jahrhundert mit dem Antibild des Pedanten; im Zeichen des Diogenes, d. h. eines gesellschaftskritischen »Zynismus« tritt anderseits die zeitgenössische Satire an: dazu unter Β VI u. ö. Daß sich Dornaus »doctrina morum« mit der Gegnerschaft eines altbürgerlichen Moralismus auseinanderzusetzen hatte, der in der neuen Botschaft - letztlich zu Recht - aristokratisch-höfische Interessen vertreten sah, belegt ein Passus fol. D 3 : »Nolim hic quisquam contrahat frontem; judicioque sibi precipitato imponat: quasi palpones instruere velimus aut polypos ad omnem versutiam, & astum, & falladas, & mellitos adulationum hamos; aut seculi depravatis moribus conformare quenquam cogitemus«: die Beteuerung eines Festhaltens am Leitbild der »pietas« und an der übergeordneten Geltung der biblischen und christlichen Lehre, also der Versuch im Sinne der zeitgenössischen Synthese des »politicus christianus«. 13 Diogenes verachtet den Adel, den Fürsten, die Ehe, die Magistrate; Amtsgewalt und Schwertgewalt hält er für Räuberei; man würde heute sagen, Diogenes steht für die utopisch-phantastische Vision eines herrschaftsfreien Daseins: s. Dornau a. a. O. fol. D 3; 142

Dornau verkündet die Botschaft, wie sie etwa Giovanni della Casa in seinem »Galateus« formulierte: Uns darf es nicht genügen, etwas Gutes zu tun, sondern wir müssen uns darum bemühen, daß dies anmutig geschieht. Die Anmut aber ist nichts anderes als gewissermaßen ein Licht, das aus einer Übereinstimmung wohl, harmonisch und mit Rücksicht auf das Ganze zusammengesetzter Teile hervorleuchtet: ohne dieses ist freilich auch das Gute nicht schön... (Ü)' 4 Wie hier bei della Casa wird auch bei Dornau die Koinzidenz von Tugend und Schönheit, von innerer Qualifikation und äußerer Erscheinung verkündet. Diese äußere Erscheinung, die »pulchritudo«, erfüllt nach Dornau die ursprüngliche Absicht des Schöpfers, weil sie Erscheinungsform der Harmonie ist, in der sowohl die gesellschaftliche Ordnung wie die Ordnung des Kosmos und der Natur sinnlich nach außen treten und gegenseitig aufeinander verweisen. Ich erlaube mir im folgenden ein längeres Zitat anzuführen, weil es in Ergänzung zu den oben bereits angeführten Zeugnissen physiko-politischer Harmonielehre (vgl. S. 79) den ästhetischen Aspekt des Konkordanz-Gedankens besonders deutlich macht und die Abhängigkeit des literarisch-sprachlichen Formideals von Grundpostulaten gesellschaftlichen Verhaltens offenlegt. Da wir uns Martin Opitz als Hörer dieser Botschaft denken müssen, darf Dornaus Hymnus auf die konfliktüberwindende Potenz der Schönheit zu den Schlüsselimpulsen der Neuorganisation des literarischen Normenrepertoires gerechnet werden: Ich habe bewiesen, was ich ganz zu Beginn meiner Rede versprochen habe: daß nämlich diese Disziplin, welche das sittlich-gesellschaftliche Verhalten lehrt, (d.h.) zu dessen Anmut in Gespräch und Betragen, zu einem in allen Handlungen klug zu bedenkenden Vorteil (anleitet), auf nichts anderes aus ist, als uns mit wahrer Schönheit geschmückt aus dieser (Ring)Schule zu entlassen. . . . Was, sage ich, ist nämlich diese ganze Welt? Sie ist Schönheit: wahrlich sie ist reiner Schmuck. (Wortspiel zwischen mundus = Welt und mundus = rein, fein, geschmückt; Anspielung auf die Doppelbedeutung des griech. »Kosmos« - W. K.). Denn nicht >mit anderem Namen durfte benannt werden die Welt: / hat sie doch zu Recht vom »Schmuck« den Namen.< Was ist jenes Bewundernswerte an der Himmelsregion? Wo so viele Sterne, untereinander so an Größe, Ort und Bewegung unterschieden, dennoch ihren abgemessenen Lauf vollführen, daß daraus eine süßeste Sphärenharmonie entsteht - nach der Meinung der Platoniker nicht eine Harmonie der Töne, mit den Ohren des Körpers zu begreifen, sondern der Proportionen bei den Bewegungen der Sterne, die mit dem Ohr des Herzens aufgenommen wird: mit welchem Namen also wird sie von uns benannt werden? Es ist die Schönheit. Was will oder worauf entsprechend Diogenes als negatives Beispiel auch in der Ethik, z.B. bei Christian Matthias, Systema Ethicum. Marburg 1626, S. 195ff. dort ausdrücklich der Bezug zu den Wiedertäufern, zu Karlstadt sowie der ganze Komplex der die »natürliche« Ordnung der Gesellschaft stützenden Argumente (Göttl. Ordnung, Zehn Gebote, Naturordnung, »Politia«, Gesetz der Vernunft). 14 Io. Casae Galateus seu de morum honestate et elegantia; liber ex Italico Latinus interprete Nathane Chytraeo. Frankfurt 1588, S. 85 (das Buch erschien ursprünglich in Venedig 1558): »nobis non satis esse debet, ut aliquid bene facimus: verum in hoc incumbere debemus, ut id fiat venuste. Venustas vero nihil aliud est, quam quaedam quasi lux, quae ex rerum bene compositarum, & concinne, ratione totius, partium inter se distributarum congruentia effulget: sine qua quidem bonum quoque non est bellum...«. 143

ist jene »concordia discors« der Elemente zu beziehen? Daß nämlich das warme Feuer nach oben steiget; die trockene Erde nach unten; das kalte Wasser abwärts fließt; die feuchte Luft sich niederschlägt, wo auch immer sie hingetrieben wird? Es ist die Schönheit. Was ist jene so süße Harmonie, die unter der Erde den Metalladern, den Gängen von Gestein, Edelsteinen und Säften zu eigen ist, daß sie zu gemeinem Nutzen wie auch zur Zierde bemerkt werden? Es ist die Schönheit. Was ist die so annehmliche Übereinstimmung der Gräser, Sträucher und Bäume, daß sie Früchte jeweils nach ihrer Art und Natur tragen? Es ist die Schönheit. Was ist die schließlich doch hergestellte Gesellschaft der Land-, Wasser- und geflügelten Tiere trotz ihrer so widersprechenden Neigung? Es ist die Schönheit. Was ist jene wunderbare Vereinigung zwischen so vielen Gliedern unseres Körpers zu wechselseitigem Dienst, die doch an Beschaffenheit ganz gegensätzlich, an Zahl unterschieden, jeweils anders gelegen und schließlich im Gebrauch und durch (gegenseitige) Fesseln vereint sind? Ja schließlich was ist die mit dem Körper gemeinsame Wohnstatt der Seele selbst? Es ist Schönheit. Was sind im Staat die Geschäfte der Behörden mit den Bürgern, die des Volkes mit dem Fürsten, des Fürsten mit den Gesetzen? Was sind jene in den verschiedenen Körperschaften verbundenen Arbeiten: Nicht dies Ganze als Schönheit; Schönheit ist, was immer man in der Natur den Gipfel seines Glücks erreichen sieht, zu dem es in uranfänglicher Schöpfung vom göttlichen Werkmeister bestimmt worden ist. O deshalb nicht legitimer Sohn der Natur, sondern Hurenkind! o mißratenes Scheusal, widerlich den Ohren, abstoßend den Augen, den zu erwähnen die Sprache sich sträubt! o in fernste Länder zu verbannende Mißgeburt, wer auch immer noch zögert, sich in der Zierlichkeit der Sprache, des Betragens oder der Handlungen nach der Schönheit der Natur und der ihres Architekten zu bilden. (Ü) 15

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Dornau, Charidemus, fol. E 1/2: »Probavi, quod pollicitus sum in primo orationis limine: facultatem hanc, quae mores informât: ad eorum in sermone, ad venustatem in gestu, ad omnem in omnibus actionibus opportunitatem atque prudentiam, nihil aliud agere: nisi ut ornatos nos vera pulchritudine, ex hac palaestra dimittat. ( . . . ) quid inquam totus hic mundus est? Pulchritudo est; vere mundus est. Nec - alio mundus debebat nomine dici: Nomen ab ornatu convenienter habet. Quid illud admirabile in caelesti regione? ubi tot stellae, tam inter se dissidentes magnitudine, loco, motu; sic tarnen conficiunt dimensum suum cursum: ut suavissimus inde concentus efformetur; non sonorum, qui percipiatur auribus corporis, ex platonicorum opinatione: sed proportionum in motibus siderum, qui cordis aure sentitur: quo ergo a nobis appellabitur nomine? Pulchritudo est. Quid porro sibi vult, aut quo referenda est discors illa elementorum concordia? ut ignis calidus sursum ascendat; terra sicca deorsum; aqua frigida labatur per declivia; aer humidus se insinuet, quocunque impellitur? Pulchritudo est. Quae illa tam suavis harmonía sub terra visceribus metallorum lapidum, gemmarum, succorum: ut ad communem usum aeque ac ornamentum referan tur? Pulchritudo est. Quae herbarum, fruticum, arborum, tam gratiosa conspiratio; ut fructus secundum specimen naturamque suam proférant? Pulchritudo est. Quae animalium terrestrium, aquatilium, volatilium ex tam repugnanti inter se adfectione, facta tarnen consociatio? Pulchritudo est. Quae inter tot membra corporis nostri contrarium piane qualitatum, numero distincta, sejuncta loco, unita usu vinculisque ad mutua officia mirabilis communio? imo quod hoc ipsum animae cum corpore contubernium? Pulchritudo est. Quid sunt in Rep. commercia Magistratus cum civibus, populi cum principe, principis cum legibus? quid illae conjunctae in collegiis diversis operae? Nihil hoc universum, nisi pulchritudo est; pulchritudo est, quidquid in rerum natura consequi vides fastigium felicitatis suae, ad quam ab Opifice in prima creatione destinatum fuit. O itaque Naturae non legitimim filium, sed spurium! o monstrum deforme, ingratum auribus, visu horridum, dictu asperum! o portentum in ultimas terras efferendum! quicunque aut sermonis, aut gestuum, aut actionum decore, confirmare se ad Naturae pulchritudinem ejusdem Architect! dubitat.«

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Unter Aufbietung aller rhetorischen Pathosmittel wird der schöne Schein als Erscheinung der Weltharmonie bestimmt, in der als »concordia discors« alle Widersprüche der Natur und auch alle Konflikte der Gesellschaft aufgehoben sind. Die Rechts- und Ständeordnung der Gesellschaft ist, wo sie in Erscheinung tritt, so wie die Natur Repräsentant umfassender Ordnungsprinzipien: Aufgabe der Erziehung und Bildung ist es, diese Ordnung auch im eigenen Verhalten zu versinnlichen. Das bedeutet Triebkontrolle und Anpassungsvermögen, die Ausmerzung aller konflikterzeugenden Widersprüche selbst um den - uneingestandenen - Preis, daß die »unschönen« Wirklichkeiten des gesellschaftlichen Lebens nicht mehr repräsentierbar sind. Die Satire des 17. Jahrhunderts konzentriert sich auf die Entlarvung des bloßen Scheins der Erscheinung, zeigt sich aber gerade in dieser Optik durchaus auf das hier vorgetragene Ideal verpflichtet. Der Harmoniegedanke setzt die Ungleichheit und Funktionalität der Einzelglieder und Einzelelemente sowohl des Kosmos wie der geordneten Gesellschaft voraus. Die Durchsetzung rein individueller Interessen mußte unter diesen Vorzeichen in der Tat zum Verstoß gegen die Weltordnung werden. Die »Einigkeit« = funktionale Regulierung des Kosmos war demgemäß bis in semantische Äquivalenzen hinein als Argument für gesellschaftliche Hierarchien und gegen den »Neid«, also das Aufbegehren von Benachteiligten zu verwenden. So z.B. in einem zeitgenössischen Gedicht: Corporum mundi concordia Ne sociis quidquam invideas, ne lividus esto. Namque sine invidia inter se coelestia degunt Corpora, non solis radiis maioribus uri Luna solet: non terra humilis coelo invidet alto; Ponto amnes, semper placida sed pace fruuntur. Cur tu ergo alterius rebus macrescis opimis?16 (Einigkeit der Weltenkörper. - Beneide um nichts deine Mitmenschen, sei nicht mißgünstig. Denn die Himmelskörper ziehen ohne Neid ihre Bahn, nicht mit größeren Sonnenstrahlen pflegt der Mond verbrannt zu werden: die niedrige Erde neidet dem hohen Himmel nichts, nichts die Flüsse dem Meer, sondern genießen gefälligen Frieden. Warum magerst du also ab, wenn die Dinge des anderen gut stehen?)16

Die Verheißung des Friedens - dies war der historische, vom Bürger akzeptierte Auftrag der absolutistischen Machtentfaltung und des fürstlichen Ordnungsmonopols - forderte die Anerkennung der Disparität gesellschaftlicher Positionen und Chancen, deren Konfliktpotential durch etwa diese Anerkennung außer Kraft gesetzt wurde. 16

Nathan Chytraeus in der von Janus Gruter unter Pseudonym hgg. Sammlung: Delitiae Poetarum Germanorum... Frankfurt 1612. Pars II, S. 346. Die Botschaft des Geziemenden wird auch in Deutschland so formuliert, wie sie später in Goethes »Tasso« widerklingt: Erlaubt ist, was sich ziemt; vgl. das Epigramm Moscheroschs (Centuria Epigr., 1650), S. 20, Nr. 6: »Adolescentia. Sola decentia Non quae corde placent nobis; non, quod libet aequum est: Quae decet; ista licet, ista decet.«

145

Wer der Adressat dieser Botschaft war, ergibt sich zwanglos aus der Stellenbeschreibung des »professor morum«. Dieser sollte die Jenige, so ihre studia mehrentheilss absolviret, vnndt Vorhabens sein, in einen gewissen Standtt zutretten, vnndt entweder selbst zu regiren, zu diehnen, oder sich bediehnen zu lassen, informiren, vntterweisen vnndt lehren ( . . . ) Wie sie sich im reden vnndt geberden tarn publicè quam privatim, in omnibus actionibus et in quovis genere vitae, gegen Jedermenniglichen, so wol dehnen, so Standes- vnndt ehren halben über sie, alss denen so Standes vnnd Ehren halben Ihnen gleich, auch vntter Ihnen sein, verhalten sollen, alss da sindt nach dem Königlichen: Fürstlichen: Grafen vnnd Herren Standt (welche nitt weniger alss andere Ihre Information in moribus bedürfend) der Adeliche Ritterstandt, die Rhätte der Könige vnnd Fürsten, die Regenten vnnd Haubtleutte, so in hohen Ämbtern siezen, vnnd nit vor sich, sondern wegen eines andern zu regiren haben: Item Krieges Obriste vnnd Befelichshabere, Jurisconsulti, Medici, Philosophi, Patresfamilias vnndt andere derogleichen publicae et privatae personae, so Unterrichts bedürffen. Dan die Erfahrung bezeuget, dass den gelertten vntter den Euangelischen, sonderlich den Theologis, Pastoribus vnnd Philosophis an Ihrem aufnemben, fortkomben, vnnd nützlichem anlegen Ihrer Studien offtmals nichts mehr vorhinderlich ist, denn dass sie in moribus so gar nicht vntterrichtet, vnnd sich gar nit gegen den Obern, vnnd in dass gemeine weltliche wesen vnnd zustandt, zu schicken vnnd zu unterrichten wissen, gereicht auch der Euangelischen Kirchen nit zu geringer verachttung.17

Das Ideal gesellschaftlicher Gewandtheit sowie eines eleganten Repräsentationsvermögens wird also für alle Glieder der Ständepyramide postuliert, betrifft aber besonders die souveränen Herrscher aller Kategorien sowie ihre Dienstleute, also die neue Schicht der bürokratischen, um den Hof als Machtzentrum gelagerten Verwaltungshierarchie. Die Anpassung an die Formkonventionen des Umgangs und des Verhaltens bildet ein besonderes Auslesekriterium, das neben, über und im Extremfall an die Stelle der bloß gelehrten Studien tritt. Wer sich diesen Anforderungen versagt, hat mit Rückschlägen seines persönlichen Fortkommens zu rechnen. Die Normierung des Verhaltens auch im Sinne ästhetischer, d.h. ordnungsstützender Repräsentanz ist die Folge frühabsolutistischer Umbildung der Machtverhältnisse, denn nur so können die angesprochenen Sanktionen begründet werden. Besonders von der Gefahr der Ungleichzeitigkeit betroffen sind die Vertreter des im kirchlichen Raum beheimateten Gelehrtenhumanismus. In dieser Feststellung zeichnet sich die Deklassierung des altbürgerlichen Humanismus ab, der Schicht der niederen Theologen und Schulmeister, die in den folgenden Jahrzehnten zum Ziel der Pedantenkritik und Pedantensatire werden. Es kündigt sich der im 17. Jahrhundert im Leitbild des »politicus« vollzogene Ausgleich zwischen gelehrt-humanistischen und weltmännisch-höfischen Qualifikationen an. Diejenigen, die diesen Ausgleich nicht selbst mitvollziehen und verkörpern wollen, werden in ihrer gesellschaftlichen Geltung beschnitten. Als Anhang der Druckfassung seines »Charidemus« hat Dornau einen in der Zeit einzigartigen Lektürekatalog von knapp 430 Autoren zusammengestellt. In

17

Zit. nach Konrad Kolbe: Stiftungsurkunde der Schule und des Gymnasiums zu Beuthen an der Oder aus dem Jahre 1616, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 3 (1893), S. 246f.

146

d i e s e m B ü c h e r v e r z e i c h n i s ist d i e i m V e r g l e i c h z u m T e x t k a n o n d e s Schulhumanism u s m a r k a n t e V e r s c h i e b u n g d e r literarischen R e z e p t i o n s b e r e i c h e d o k u m e n t i e r t , w e l c h e durch die Einbindung

der Gesellschaftserziehung

und des

politischen

Studiums in d e n B i l d u n g s a u f t r a g d e r A k a d e m i e ( d i e W e r k e sind w o h l nicht als Schulbücher gedacht, sondern g e b e n L e s e e m p f e h l u n g e n ) hervorgerufen wurde.18 B e m e r k e n s w e r t ist nicht nur d i e W i e d e r g a b e e i n e s k o m p l e t t e n K u r s u s d e r politischen W i s s e n s c h a f t e n ( K a t e g o r i e n : D e P r i n c i p e , D e A u l i s , D e Consiliariis, d a n n u . a . D e M i l i t i b u s , D e R e O e c o n o m i c a ) , s o n d e r n auch d i e T a t s a c h e , d a ß sich i m a l l g e m e i n e n T e i l d i e s e s K a t a l o g s (237 A u t o r e n ) in d i e Schicht d e r h e r g e b r a c h t e n m o r a l d i d a k t i s c h e n L i t e r a t u r aus A n t i k e und lateinischer R e n a i s s a n c e - in d i e s e K a t e g o r i e f a l l e n auch d i e w e n i g e n deutschsprachigen T i t e l w i e z . B . d e r » R e n i c k e F u c h s « 1 9 - nun d i e H o f - , K o n v e r s a t i o n s - und B e n i m m l i t e r a t u r I t a l i e n s und F r a n k reichs ( d a r u n t e r auch d i e A n f ä n g e d e r M o r a l i s t i k in G e s t a l t v o n » E s s a i s « ) 2 0 e i n l a g e r t . A n d e r S p i t z e d e r italienischen T i t e l

finden

G r u n d b ü c h e r d e r H o f - und G e s e l l s c h a f t s e r z i e h u n g : C a s t i g l i o n e s

Montaignes sich d i e d r e i

»Cortegiano«,

G i o v a n n i d e l l a Casas » I I G a l a t e o « u n d G u a z z o s » C o n v e r s a t i o n e c i v i l « . 2 1 M a n m u ß

18

J.-U. Fechner hat in seinem erwähnten Aufsatz (s. A n m . 5) eine erste Übersicht und Aufschlüsselung des Autorenkatalogs geliefert; vgl. die Bemerkungen vor allem von V . Sinemus und G . Oestreich in der Diskussion zu Fechners Aufsatz, die auf die hier entwickelten sozialgeschichtlichen Implikationen hinweisen (I.e., S.437). Erwähnenswert, daß sich derartige Autorenkataloge - durchweg viel geringeren Umfangs - häufiger im politischen Schrifttum finden: etwa bei Gumpelzhaimer/Moscherosch, Gymnasma de Exercitiis Academicorum (1652), Sectio V I , Part. I, cap. 6, S. 105f. sowie Diss, de politico S. 116f.

Zum Reineke Fuchs vgl. jetzt Hubertus Menke: A r s vitae aulicae oder descriptio mundi perversi? Grundzüge einer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Erzählthemas vom Reineke Fuchs, in: Niederdeutsches Jb 98/99 (1975/76), 94-136. 20 Eine Rezeptionsgeschichte Montaignes für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts ist ein Desiderat: wir finden ihn immer wieder besonders in der politischen Literatur zitiert (dazu vgl. unten C I I ) und gelegentlich gepriesen wie z. B. Gumpelzhaimer/Moscherosch, Diss, de politico (1652), S. 117: » L e s Essays de Michel Montaigne, Opus Socratis illius Gallici, quo quidem nec Gallia nec reliqua Europae regna dignius videre unquam, Opus cui quam meretur laudem ne laudatissimus quidem persolvere potest. Opus quod hominem tam sibi reddit ipsi, ut sine eo sensum communem caecutire persuasum mihi habeam omnino. Opus quo quem carere video, tacite eum in literis languere ac frigere praesumo. Opus quo in latina lingua simile non visum est ullum unquam adeste hic bonae mentis cultores & insequimini.« 21 Z u Guazzo vgl. jetzt Sinemus, 217ff.; Emilio Bonfatti: Die Verbreitung von Stefan Guazzos »Civil Conversatione« in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert, in: Deutsche Barockliteratur und europäische K u l t u r . . . , hg. v. M . Bircher und E . Mannack. Hamburg 1977, S. 209-211; spez. zu Castiglione und Casa verweise ich auf H . Adams: » I I cortegiano« and » I I Galateo«, in: M L R 42 (1947), 455ff. sowie G . Müller, Bildung und Erziehung 260ff., 403f. (mit umfassenden Referenzen). Zu den Idealen der Gesellschaftserziehung in der Tradition des »Cortegiano«, aus dem sich schließlich das Leitbild des »honnête h o m m e « und des engl. »Gentleman« entwickelt vgl. die älteren Arbeiten von Cohn, Gesellschaftserziehung, und Borinski, B. Gracian, sowie H . O. Burger, Europäisches Adelsideal; ferner die Untersuchungen von M . Magendie, Ruth Kelso, B. Zaehle, J. H . Hexter, den Aufsatz C. J. Burckhardts zum »Honnête H o m m e « sowie die bei 19

147

sich diese Zusammenhänge vor Augen führen, um begreifen zu können, warum gerade Dornau in seiner Eigenschaft als »professor morum« gleichzeitig mit dem »Charidemus« eine Rede über die »Höhe der Zeit« hielt; - mit diesem Titel ist »de felicitate saeculi« sinngemäß wiederzugeben. Die Forderung nach Anpassung an die gültigen Regeln der Gesellschaft, nach Anerkennung ihrer Ordnungsprinzipien, nach Repräsentation ihrer distinktiven Konventionen wäre sinnlos, wenn gleichzeitig den Adressaten eines solchen Appells die Misere gegenwärtiger Zustände vor dem Hintergrund einer leuchtenden Vergangenheit vorgeführt würde. Indem Dornaus Rede vor allem den technisch-zivilisatorischen Aspekt des Fortschritts akzentuiert, tritt eine genuin bürgerliche Rationalität in den Vordergrund. Daß in Beuthen der Calvinismus dominierte, markiert deutlich einen geistigen Habitus, der sich von der katholischen Spiritualität wie auch vom lutherisch-altdeutschen Konservatismus abhebt. Dornau plädiert für die Anerkennung menschlicher Leistungsfähigkeit sowohl in der Ordnung der Gesellschaft wie in der Produktivität von Wissenschaft und Technik. In beiden Fällen ist eine Mentalität in Frage gestellt, die in der Synthese von religiöser Orthodoxie und humanistischer Scholastik, im Verdikt menschlicher »curiositas« und in der Verketzerung des »Neuen« die Selbstmächtigkeit des Menschen sowohl in politischer wie auch in wissenschaftlich-kultureller Hinsicht zu verneinen geneigt war. Wenn Dornau sich in beiden Punkten engagiert, sind gleichlaufende Interessen zur Deckung gebracht. Dornau spricht für ein Bürgertum, das im Schoß der friedenssichernden absolutistischen Ordnungsmacht die Überwindung politisch-gesellschaftlicher Konflikte ebenso wie die Entfaltung technisch-zivilisatorischer Möglichkeiten erhoffte. In beiden Fällen ging es darum, Innovationen gegen Traditionen zu behaupten. Dornaus Lebenslauf und seine anderen Schriften, seine geistige Herkunft wie auch die Berührung mit der außerdeutschen Kultur der Spätrenaissance belegen, daß er für sein Amt prädisponiert war. Nach dem Studium der Philosophie und Medizin in Jena war er Reisebegleiter und Dometscher eines vornehmen Venezianers, promovierte 1604 in Basel zum Dr. med., 22 bereiste mit Jaroslav Smiricky, dem Sohn eines der böhmischen protestantischen Magnaten, in den Jahren 1606/ 07 Frankreich, England und die Niederlande und wurde 1608 Rektor der Schule in Görlitz. Aus dieser Tätigkeit sind eine Reihe von Reden und Programmen überliefert, in denen sich auch die ungebrochene Kontinuität humanistischer

22

Frühsorge, S. 221ff. referierte Literatur. Besonderes Gewicht kommt der jetzt in einer Taschenbuchausgabe vorliegenden weiträumigen Arbeit von Norbert Elias »Über den Prozeß der Zivilisation« zu: s. bes. Bd. II, S. 313ff. (Zusammenfassung). Von germanistischer Seite hat bes. Wolfram Mauser die im elegantia-Ideal zusammenfließende ethische und ästhetische Normierung im Zusammenhang der sozialgeschichtlichen Prozesse seit dem 16. Jahrhundert dargestellt: vgl. seinen Opitz-Aufsatz, bes. S. 300ff. sowie in seinem Gryphius-Buch S. 290ff. Vgl. Dornaus Nachruf auf Jacob Zwinger, der Felix Plater, J. N. Stupanus und C. Bauhinus, berühmten Baseler Ärzten, gewidmet ist: Orat. Tom. I. ed. Schmiedt, 1677, S. 505ff.

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Lehrpraxis - etwa im Nachspielen Ciceronischer Prozesse - belegen läßt. 23 Nach dem traurigen Ende des Beuthener Gymnasiums übernahm er politische Aufgaben für die böhmischen Stände und reiste u. a. zu Bethlen Gabor nach Siebenbürgen. 1621 schließlich wurde Dornau fürstlicher Rat und Leibarzt bei Herzog Johann Christian von Brieg. Als Dichter und Herausgeber 24 steht Dornau in einer humanistischen Tradition, die nicht die des reformatorischen Schulhumanismus ist, sondern in die geistig-literarische Sphäre des Prager Manierismus um Rudolph II. verweist. Daß er die Medizin als Studienfach erwählte - nicht aber die Jurisprudenz - , könnte ein Fingerzeig für tieferliegende Interessen Dornaus sein: entschieden sich doch hierfür nicht wenige, die in latenter Opposition zur aristotelischen Philosophie, zu einer bloß philologischen Buchwissenschaft und zu jeglicher orthodoxer Dogmatik standen, stattdessen aber paracelsischen, pansophischen, magisch-hermetischen oder alchemistischen Neigungen nachgingen. Auf diesem Hintergrund ist auch erklärlich, daß Dornau zu den entschiedensten Kritikern der erstarrten humanistischen Scholastik gehört: seine diesbezügliche Schrift, in der Erfahrungen seiner Reisen kondensiert sind (»Ulysses Scholasticus«, 1619), wurde in deutscher Sprache noch im 18. Jahrhundert gelesen. 25 Zwei Punkte sind hervorzuheben: Dornaus Einsatz für die im Zeichen des »Realismus« antretende Reformpädagogik und sein Eintreten für die deutsche Sprache. Wir haben in unsern Zeiten die edle Kunst der Chymie. Es wird darin einem Unerfahrenen schwer zu verstehen seyn, was Calziniren, Filtriren, Reverberiren und Versüßen ist aber deutlich und anschaulich wird's ihm werden, wenn er selbst sieht, wie der Meister Hand anlegt. Alle militairischen Ausdrücke sind leicht zu verstehen, wenn man sich dieselben beim Anblick einer in Ordnung stehenden Armee recht erklären läßt, sie bleiben aber dunkel wie cimmerische Finsterniß, wenn man sich nur an die Worterklärungen hält und ein Soldat aus Büchern zu werden denkt. 26

In einem Abschnitt über die Spracherziehung und stilistische Übung (also die sog. »exercitationes styli«) läßt sich genau erkennen, wie der Einsatz für die deutsche Sprache durch die Rezeption der in der italienischen Questione della lingua ausformulierten Argumente und durch die Umdeutung des Nachahmungsprinzips gestützt wird:

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24

25

26

Vgl. die in Schmiedts Sammlung, Bd. II, S. 466ff. abgedruckten »Programmata«, die auch die Verteilung der Rollen bei den Deklamationsakten abdrucken. Vgl. besonders Dornaus monumentales Sammelwerk »Amphitheatrum Sapientiae JocoSeriae«, in dem rhetorische Meisterleistungen besonders aus dem Bereich des ironischen Enkomions vereinigt sind (Hanau 1619). Zu Dornaus Verankerung im schlesischen Humanismus und seinen engen Beziehungen zur »Rudolphinischen Schule« vgl. Evans, 1973, bes. S. 149 und 187 (mit Hinweisen auf tschechische Literatur). Abgedruckt bei Schmiedt: Orationum Tom. II, 305, bzw. 340ff. (es handelt sich um zwei Reden). Weitere mir bekannte Abdrucke: Hanau 1620, Nürnberg 1726. Die deutsche Übersetzung eines gewissen Stewe in: Braunschweigisches Journal, hg. v. J. H. Campe, 10. Stück (1788), Bd. 1, S. 191-205, Bd. 3, 187-300 sowie 11. Stück (1788). S. 273-88. Ebda. 10. Stück, Bd. 3, S. 192; das folgende Zitat 11. Stück, S. 231: entspricht dem Text bei Schmiedt, Orationum Tom. II., S. 345 und 359f.

149

Es ist ja eine schändliche Trägheit, in der wir tief versunken, es absichtlich zu verhüten scheinen, daß unser Vaterland durch die Bildung der Muttersprache keine (sie!) Ehre und keinen Ruhm erlange. Der türkische Sultan hat so viel Achtung für seine Muttersprache, daß wenn er ehrlich und gewissenhaft etwas verspricht, er türkisch redet, und wenn er betrügen und sein Wort nicht halten will, mit den Gesandten in einer fremden Sprache spricht. Ist etwa Cicero's Ruhm nach so vielen Jahrhunderten deswegen auf uns gekommen, weil er in einer fremden Sprache Lob zu erwerben suchte - oder nicht vielmehr deswegen, weil er die lateinische, das heißt, seine Muttersprache, auf alle Weise ausgebildet hat. Eben das ist ja aus Beispielen unsrer Zeit offenbar. Sind Franciscus Petrarca, Actius Sinceras, Petrus Bembus und andere in ganz Italien durch das Studium und die Kenntnis der lateinischen Sprache, weshalb sie allerdings ebenfalls Achtung verdienen, berühmt geworden, oder haben sie ihren Ruhm nicht der Ausbildung und Vervollkommnung ihrer Muttersprache, der italienischen, zu danken?

Daß Martin Opitz gerade das Beuthener Gymnasium besuchte, daß Caspar Dornau sein Lehrer und Förderer war, daß Opitz seine Reden und Traktate sicherlich mit viel Anteilnahme und Sympathie gelesen hat, ist von gar nicht zu überschätzender Auswirkung auf die Neubegründung einer deutschsprachigen Kunstdichtung. Opitz' Programmrede »Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae« entstand in eben diesem Jahre 1617 in Beuthen und wurde von Dornau herausgegeben. Wie sich die dort propagierten Leitgedanken einer Aufwetung der deutschen Sprache und einer an den Normen der Eleganz und des Dekorums auszurichtenden Dichtung schlüssig aus Dornaus Eintreten für eine politisch-gesellschaftliche Erziehung und für eine Anpassung an die aktuellen Erfordernisse der Gegenwart ergeben, dürfte einsichtig sein. Opitz' Begegnung mit den Heidelbergern und seine niederländische Reise, auch die Rezeption von Heinsius' niederländischen Gedichten als Beispielen muttersprachlicher Kunstdichtung entfalten nur die Ansätze, die in Beuthen programmiert waren. Die Würdigung der Gegenwart als Neuzeit, die Rechtfertigung des kulturellen und wissenschaftlichen Fortschritts zur »Materie« einer akademischen Rede zu machen, war - jedenfalls in Deutschland - zu dieser Zeit außergewöhnlich. Unter den wenigen analogen Beispielen innerhalb der akademischen Deklamationsliteratur ist Johann Balthasar Schupps 1639 in Marburg gehaltene Ansprache »De Felicitate hujus seculi XVII.« hervorzuheben. 27 Sie berührt sich in einigen Punkten und Intentionen mit den Gedankengängen Dornaus, akzentuiert jedoch theologisch-politische Grundsatzfragen, die bei Dornau in den Hintergrund treten. Aus Schupps Rede läßt sich klar erkennen, wie das Lob der eigenen Zeit beschwichtigend auf Krisenerfahrungen der Spätrenaissance antwortet und somit ihren Teil zur Überwindung geistiger und sozialer Verunsicherungen beiträgt. Der Verfasser, wegen seiner späteren Auseinandersetzungen mit der Hamburger Orthodoxie gelegentlich als »Lessing des 17. Jahrhunderts« apostrophiert, gehört zweifellos zu den unabhängigen Köpfen der Epoche, wie auch seine anderen zeitkritischen Reden belegen, ganz abgesehen von seinem umfangreichen satiri27

Zit. nach dem Abdruck in: Volumen Orationum Solemnium et Panegyricarum in celeberrima Marpurgensi Universitate olim habitarum. Glessen 1656, S. 61-71.

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sehen Schrifttum in deutscher Sprache. 28 Schupp benutzt die Möglichkeiten der akademischen Freiheit sowie die traditionellen Lizenzen der akademischen Scherzrede und des rhetorischen Paradoxons, um immer wieder zeitgenössische Vorurteile (»praejudicia«, »opiniones«) zu entlarven. Unter den Zeitkritikern steht er in einer Reihe mit Joh. Val. Andreä. Wie dieser verband auch Schupp einen konservativ-christlichen Grundzug mit entschiedener, bürgerlichen Geist verratenden Kritik an den zeitgenössischen Erscheinungsformen von Schule, Kirche und gesellschaftlicher Praxis. D a ß er in dieser Haltung schon in der Marburger Zeit auf Widerstände stieß, belegen seine Apologien. Im erläuternden Nachwort zur Rede »De felicitate...« bezeugt er mit Anklängen an den Taciteischen »Dialogus de oratoribus« den tieferen Grund dieser Widerstände, nämlich jenen Verlust der »libertas«, der zum Verschwinden der wahrhaft großen Redner und Philosophen geführt habe. Der deutsche Schlußsatz dieser Apologie lautet: »Ich schweige und denke.« 2 9

2) »Nihil novi sub sole«: Die Auflösung der Dekadenzperspektive Sowohl Dornau wie auch Schupp - ihre Reden mögen als Leitfaden der Analyse dienen - wehren die Ansicht der »Alten« als »vani & facilis vulgi commentum« bzw. als »popularis admodum querela« ab. 30 Schupp betont die Trübung eines sachgerechten Urteils durch blindes Festhalten am Überkommenen und paraphrasiert die Position der Konservativen folgendermaßen: . . . denn die Tugenden / als auch die Laster / nicht so wol auß jhrem Werth und Verdienst / als auß närrisch / eingebildetem Alterthumb geschätzet und geachtet werden / unter welcher all seiner Larve viel Laster bedecket werden / denn so bald etwas geschieht / das nicht ein sonderliches Alterthumb an sich hat / ist es gantz und gar nicht angenehm / und schmecket dem Munde zumal nicht / so gar / daß man gleich höret: Die Alten sind auch keine Narren gewesen. Welches Sprüchwort anzutasten / ein sonderlich grosses Verbrechen wäre / dahero dann diese unsere vorstehende Hundert-Jährige Alters=Zeit / ob sie wol in Glückseeligkeit keiner andern Zeit weichet / so stincket solche doch als ein

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29

30

Zu Schupp vgl. Paulsenl, 482ff., Barner, Barockrhetorik (verstreute Bemerkungen: s. Namensindex), dazu die Artikel in ADB und RThK; exakte bio-bibliographische und quellenkundliche Untersuchungen von C.Vogt in: Euphorion 16 (1909), 245-320, 673-704 sowie ibid. 21 (1914), 103ff. und 490ff. Die - angesichts des nicht anders als blamabel zu nennenden Forschungsstandes - wertvolle Arbeit von Hildegarde E. Wiechert beschäftigt sich vor allem mit den volkssprachlichen Satiren und zeigt - wie so viele Untersuchungen - eine vornehme Nichtbeachtung des lateinischen Schrifttums; dort eine weiterführende Bibliographie; immer noch nicht ersetzt E. Bischoffs Monographie von 1890. A . a . O . , S.71: »Saepe cogitavi, cur hodie non reperiantur tam grandes atque eximii Oratores, quam temporibus Ciceronis & Quintiliani? Causam esse credo servitutem, cujus institutis assentatores evadunt. Servitus, est ingeniorum career, qui erectum spiritum intereipit & intercludit. Libertas vero, magnánimos spiritus alit, & alacritatem ad mutuam aemulationem accendit ...«. Schupp, Volumen S. 62, bzw. Dornau, ed. Schmiedt, Tom. I, S. 268 (praefatio). . 151

ohnflätige Abzucht und Ursach alles Übeln / trefflich an / über derer Natur und Eygenschafft Alle klagen / entrüsten sich / und wenn man in einem und anderm mißhandelt / so fort ist es der Zeit Schuld / und so bald etwas nicht nach Wunsch hinauß laufft / muß es diese Zeit verursachen / und die Schuld tragen / Jedermann beschwert sich / daß er eben zu dieser ohnglückseeligen bösen Zeit geboren / gönnen und überlassen diesem gegenwärtigen Zeitlauff nichts als den blossen Nahmen / Haß und Mißgunst / und mir ist nicht änderst / als hörete ich die Jenige / die stätig in jhrem Munde führen: O der bösen Zeiten: O der verderbten bösen Sitten / Gewohnheiten und Gebräuchen! es verändert sich alles / wir werden den Pfeilen deß Unglückes als ein Ziel fürgesteckt / und in den Dümpffel deß Elends gleichsam versencket / und ist keine Spur der alten Teutschen Ehr / Glauben und Redligkeit mehr übrig / sondern gleich dem Eysen alles mit Rost überzogen und gefressen. Der Erdboden ist nicht mehr so kräfftig / wie vor Zeiten. Der Welt Kräffte als deren Marek verschwindet / veralten / und die allgemeine Natur und derer Zustand zerfeilet.31 Die These vom Alter der Welt und Verfall der Natur, also physikalische und kosmologische Argumente werden hier deutlich auf sozialpsychologische Bedingungen, auf die Unzufriedenheit des altdeutsch gesonnenen Bürgertums mit der »neuen Zeit« zurückgeführt. Dementsprechend bezieht sich die Widerlegung der Zeitklagen, auch wo dies nicht ausdrücklich vermerkt wird, immer zugleich auf ein Beweisziel, das in der Korrektur verfehlter geistiger Einstellungen zugleich erwünschtes soziales Verhalten begründen soll. Sowohl Schupp wie Dornau stellen die zitierten Äußerungen der Unzufriedenheit als Herausforderung (»contumelia«) und Angriff auf die Beständigkeit der Güte und Barmherzigkeit Gottes dar. Die gleichbleibende Wirkung der Naturgesetze, der ewige Lauf der Sterne

31

Ich zitiere ausnahmsweise aus der deutschen Übersetzung der Rede: »Sermon von der Siebenzehenden dieses Hundertjährigen Zeit=Lauffs Glückseeligkeit Beschreibung«, in: Schrifftejn, Hanau 1663, 775ff., die Stelle 775; im folgenden werde ich mich auf die lateinische Fassung stützen, nicht nur weil die genannte deutsche Übersetzung sehr unbeholfen ist, sondern weil sie den lateinischen Text verkürzt und verändert. Die lateinische Version des Zitats (1656, 62): »Virtutes & vitia non plus ex merito, quam stolida antiquitate aestimantur. Multa flagitia iniqua hac conteguntur larva. Si quid agitur, nisi antiquitatem sapiat, ad palatum non est, confestim auditur: DIE ALTEN SIND AUCH KEINE NARREN GEWESEN. Quod violare nefas sit. Proinde seculum hoc, quamvis felicitate cedat nulli, ceu lerna & sentina omnium malorum sordescit cuivis: De ejus genio conqueruntur omnes: irascuntur, & si quid peccant, temporis est crimen, si quid expectationem fefellit, continuo tempus vapulat. Exprobrant, quod hoc luctuosissimo sydere nati, miseroque huic seculo praeter nomen & invidiam relinquunt nihil. Puto me jam audire eos, qui semper in ore habent: o tempora! o mores! Perplexa sunt omnia. Variis Fortunae telis expositi alto calamitatis mergimur gurgite; nec priscae nobis virtutis gloria. Rubigine laesa atque obducta cuncta. Terra non eo valore praevalet, quo praevalebat olim. Vires mundi emedulatae senescunt. Atque universalis rerum labitur status.« Zu denen die »o tempora, o mores« riefen, gehörte u. a. - Schupp hat den Text sicher gekannt - Antonio de Guevara: De Vitae Rusticae privataeque laudibus, cap. XIII, zit. nach dem Abdruck bei Herdesianus, S. 250f.: »o tempora, o mores! O vos aurea desiderataque veterum sécula! Differentia, quae inter vos haecque nostra praesentia sécula constituí posse videatur, est, quod mundus ante vos paulatim degenerabat, qui nunc totus omnino corruptus est atque perditus... Nostri maiores seculo vivebant ilio ferreo, sed istud in quod nos incidimus, coenosum summo iure poterit appellali...«

152

s e i e n B ü r g e n d e r p l a n e n d e n S o r g e d e r g ö t t l i c h e n M a c h t in d e r W e l t . D i e sinnlich g r e i f b a r e H a r m o n i e d e r N a t u r wird z u m Indiz für die E n t f a l t u n g d e s g ö t t l i c h e n P l a n s in d e r » s e r i e s r e r u m « . D e r f a t u m - G e d a n k e f u n g i e r t h i e r d i r e k t als G e g e n a r gument zur Verfallshypothese.

D e r im christlichen Stoizismus

übernommenen

T r e n n u n g v o n c a u s a e p r i m a e u n d c a u s a e s e c u n d a e (vgl. d a z u d a s v o r h e r g e h e n d e K a p i t e l ! ) entspricht die scholastisch-aristotelische Differenzierung v o n A c c i d e n s u n d S u b s t a n z : d i e i m S c h ö p f u n g s a k t g e o r d n e t e M a t e r i e k a n n sich z w a r » s p e c i e « dauernd verändern, nicht aber durch »fatigatio«, »consumptio« o d e r »diminutio« auflösen. In d e r christlichen Naturphilosophie w u r d e besonders auf diesen Punkt abgehoben.

E s galt e i n e r s e i t s d i e B e h a u p t u n g v o n d e r E w i g k e i t d e r W e l t z u

w i d e r l e g e n , also d i e » c r e a t i o e x nihilo« z u b e w e i s e n , a n d e r e r s e i t s d i e D e n k a n s ä t z e z u e n t k r ä f t e n , d i e z u d e m » n a t ü r l i c h e n « A n f a n g d e r W e l t ein

entsprechendes

E n d e in A n a l o g i e s e t z t e n . 3 2 W ä h r e n d v o r a l l e m die geistliche L i t e r a t u r d e r Z e i t den eschatologischen Ausblick -

die A p o k a l y p s e und das H e r a u f k o m m e n

der

» n e u e n « W e l t im Z u s a m m e n f a l l v o n G e g e n w a r t u n d h e i l s g e s c h i c h t l i c h e r E n d z e i t -

32

Schupp, a . a . O . , 62/63: » . . . Quippe summus coeli terraeque Arbiter, cum operosae mundi machinae initium daret, naturae certas posuit leges, seriem rerum causasque connexuit firmiter, res omnes non imprudentia sed Consilio ordinans, easque perpetuo abditissima ratione propagane, quae vis divina non minus se in harum sustentatione exerit, quam exeruit in creatione, ut qui rerum naturalium statum labi, Numen deficere contendat. Absit haec in D E U M contumeliam!« - D e r Ausdruck »machina mundi« hat noch keine dezidiert materialistische Bedeutung. E r akzentuiert vielmehr schon bei Nicolaus von Cues das Zusammenwirken aller Teile zu einem funktionierenden Ganzen: vgl. Mittelstrass, Rettung der P h ä n o m e n e , 190ff. - Zur Widerlegung des Verfallsgedankens durch die Trennung von Accidens und Substanz vgl. exemplarisch O . Casmann, Cosmopoeia, 1598, cap. V , 174ff. ( » D e Mundi tempore & Duratione, item Figura«), quaest. V I I , 245ff.: A n mundus sit periturus, & quomodo, an secundum substantiam, an vero secundum Accidentia?; ähnlich Aslacus, Physica & Ethica Mosaica, 1613, bes. 37ff. ( » D e caussa finali«): die durch G o t t gewährleistete »conservatio« des Kosmos hat tröstlichen Charakter; bei Casmannus, Aslacus, in zahlreichen anderen Traktaten und Lehrbüchern (vgl. die Zusammenstellung bei D . C. Allen, 1938, S. 210f.) werden die paganen Versionen der Kosmologie ausführlich referiert: vgl. exemplarisch Aslacus, 25: Aristoteles, Proclus, Averroes, Democrit, Leukipp, Heraclit, Empedocles. D e m B e h a r ren auf der Beständigkeit in der Substanz entspricht der Nachweis fortwährender »corruptio« aller »Weltdinge«: dies als Nachweis gegen die These von der Ewigkeit der Welt als Materie. - D e r katholische Ordensdichter Laurentius von Schnüffis, der sich selbst als bekehrten »Epikuräer« bezeichnet, hat (Mirantisches Flötlein, 1682, ed. 1968, S. 176) genau auf die Doppelpoligkeit der Argumentation hingewiesen: » . . . Kan aber die W a s ewig ist / Natur seyn Göttlich / D i e da beständig nie? D a s war nicht Göttlich / spöttlich: W i r sehen j a von Stund zu Stund / W i e auch die Felsen gehn zu Grund / W i e daß die Krafft der Erden Sehr nemme täglich ab / S o daß sie werden Müß selbst ihr G r a b .

D a s bleibt beständig / Wird auch zu keiner Frist V o n seinem S E Y N abwendig: S o ist die Welt dann ewig nicht / Weil immerzu ihr Wesen bricht / Ist endlich sie / so rühret Sie von dem Wesens her / D e m da gebühret D i e Göttlich' E h r . « 153

weiterhin trostspendend verkünden konnte,33 ging es in der Systemphilosophie darum, Güte und Stabilität des Kosmos und der Natur ungeachtet phänomenhafter Depravationen und gesellschaftlicher Mißstände darzutun. Dem diente die Widerlegung eines paganen Pessimismus, demnach die Veränderungen der Welt auf einen substantiellen, in natürlichen Abläufen sich vollziehenden Schwund der erhaltenden Kräfte der Natur und des Kosmos verwiesen. Diese weitverbreitete Anschauung, in der sich deutlich die Krisenerfahrungen der Spätrenaissance artikulieren,34 verstieß nicht nur gegen theologische Grundaxiome, sondern ließ auch in der Konzeption des moralischen Verhaltens und des politischen Handelns die Orientierung an dem göttlich verbürgten »Stabilen« in der Geschichte nicht mehr zu, jenem Stabilen, das im barocken Fürstenstaat die Unumstößlichkeit der sozialen Ordnung und ihrer Regulative beglaubigte. Das Modell des barocken Welttheaters vertrug weder Alternatiwisionen einer möglichen Mehrheit von Welten35 noch die Fortschreibung eines spiritualistischen, in Endzeiterwartungen schwebenden Utopismus,36 es vertrug auch nicht die These von der totalen »mutatio in deterius«, also die gleichsam intellektuelle, wissenschaftliche Variation der These vom »Greisenalter der Welt«. Die Widerlegungen dieser These von seiten einer theologisch inspirierten Physik37 kongruieren in der europäischen Spätrenaissance mit der Opposition gegen die Dekadenzhypothese und die Vorstellungen von der goldenen Urzeit 33

Vgl. ζ. B. Valerius Herberger: »Des Jüngsten Tages Blütenknospen«; Auslegung von Lukas 21. 25-36, in: Hertz-Postilla (zuerst 1613), in der 21. Aufl. 1732, S. 9ff. spez. 12f. Herberger bezieht sich auf seine 1598 erlebten Eindrücke von Himmelszeichen (»Feuerstrahlen«). 34 Vgl. die materialreichen Arbeiten von Williamson, Mutability and Decay, sowie D. C. Allen, The Degeneration of Man; ferner H. Levin, The Myth of the Golden Age in the Renaissance, 148f. sowie die bereits genannte Literatur zur »Querelle« der Spätrenaissance. Zur Krise der Spätrenaissance vgl. mit einer Fülle von Nachweisen jetzt T. Klaniczay: Periodisierung und Interpretation der Literatur der Renaissance, bzw. Die Krise der Renaissance und der Manierismus, 1977, S. 30ff., bzw. 79ff. 35 Dagegen u. a. ausdrücklich O. Casmannus, Cosmopeia, 1598, 157ff. (Quaest. I: Mundus unusne sit, an plures); es ging in dieser Auseinandersetzung auch um die Behauptung der vorkopernikanischen Monopolstellung der Erde. Sie wird in der Aufklärung gerade aus dieser Optik erschüttert: vgl. Fontenelles »Entretiens sur la pluralité des mondes« (1686); Kepler schrieb 1609 (veröffentlicht 1634) sein »Somnium sive Astronomia Lunaris«, die satirisch gemeinte Geschichte vom möglichen Leben auf dem Mond, ein Vorgriff in utopisch-fiktionaler Form. V. Andreä in seinem »Menippus« sieht die Menschheit von »weiß Gott welchen neuen Sternenwohnern bedroht«, s. das Zitat unten Anm. 116. 36 Die Diskriminierung, Verfolgung und ggf. Liquidierung der »Schwärmer« spricht eine deutliche Sprache: vgl. exemplarisch die Monographie von W. Dietze zu Quirinus Kuhlmann. Berlin 1963 37 J. C. Scaliger, De Subtilitate ad Cardanum, 1607 (zuerst 1557), Exerc. LXXVII, S. 289: »Non ex fatigatione, Mundum solutum iri«. Hier zeigt sich deutlich, daß die Widerlegung der Erschöpfungsthese sowohl der christlichen Kosmologie als einem physikalischen Denken zu Gute kam, das ebenfalls an der »Beständigkeit« der Weltgesetze interessiert war: » . . . Caeterum ex fatigatione futurum, ut fathisceat Mundus, atque corrumpatur neque Philosophorum est, qui ilium statuunt sempitrnum, neque Christianorum, qui incendio absumptum iri praedicamus.«

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bzw. Vergangenheit. D i e Verteidigung der »conservatici mundi« und des Satzes »naturam non pati senium« konnte dabei nicht nur das Gesetzesdenken der neuen, empirischen Naturwissenschaften abstützen, sondern sprach sich zugleich gegen die Vorstellung der modernen »Epikuräer«, also der europäischen Libertiner aus, daß Gott sich nicht um die Welt kümmere und sie ihrem eigenen Untergang entgegengehen lasse. 38 Auch an diesem Punkte zeigt sich die zeitbedingte Interdependenz und gegenseitige Inanspruchnahme von Ordnungsargumenten physikalisch-kosmologischer, theologischer und moralisch-politischer Herkunft und Zwecksetzung. Beispielhaft läßt sich dies in der deutschen Barockliteratur bei Harsdörffer nachweisen. In seinen Frauenzimmer-Gesprächspielen wird (vgl. das Motto dieses Kapitels) die These vom naturhaften Erschöpfungsprozeß der Welt ausdrücklich abgelehnt. Der Appell an das Vertrauen in die Allmacht und weiterwirkende Kraft Gottes wird gestützt durch die Aufzählung der Fortschritte in Wissenschaft und Künsten. 39 Der gesellschaftlich-moralische Aspekt (»Solle dann die Welt nicht an Frommheit abgenommen haben?«) wird widerlegt von der Wahrheit des »nihil novi sub sole«. 40 Zweck dieser Argumentation ist ganz deutlich die Entkräftung von Sozialkritik; Unzufriedenheit fällt auf den Kritiker zurück und beweist Glaubensschwäche: Diesem nach erscheinte / daß wir Menschen sonsten zu klagsüchtig / und uns vieler Bekümmernussen Ursach fürdichten; da wir vielmehr von GOttes Vätterlicher Straffhand / ails mit Gedult annemmen und ertragen solten. Fest glaubend / daß der Wille Gottes die höheste Gerechtigkeit seye / und uns wegen unserer begangenen Sünden / auff keine Weiß noch Weg unrecht / oder unbillich beschehe / wie wir Menschen fälschlich vermeinen.41 Die »Ursach / unerwarteter Veränderungen«, die Kausalität von Aufstieg und Fall, hängt mit dem Verschulden des Individuums zusammen: »dein Stoltz und 38

Diese These bes. in der französischen Satire und Zeitkritik mehrfach angesprochen: vgl. Meyer-Minnemann, 111 ff. ; zu Epikur und der Rezeption seiner Gedanken vgl. W. Schmid: Epikur, in: RAC V (1962), 681-819; umfassend jetzt C. Schneider, Der Libertin. 39 Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1641-49). Nachdruck hg. v. J. Böttcher. Tübingen 1968-70 (= Deutsche Neudrucke, R.Barock. 13-20): II. Teil, Gespräch Nr. LXXVIII (Verweis auf J. Johnstons »von der Natur Beständigkeit«, Amsterdam 1634), S. 230ff. (neue Paginierung). 40 Ibid. S. 232ff. Zum Thema »Ob die Welt älter werde« vgl. ibid. VII. Teil, Gespräch CCLXIV, 327ff.; vgl. auch zum Problem des »Neuen« ibid. Teil VII, Gespräch CCXLIX, 477ff. Harsdörffer bezieht sich in Gespräch LXXVIII nicht nur auf Johnston, sondern auch auf Cardanos »De subtilitate«, G. Pancirollis »Rerum memorabilium Libri Duo« (1607/08 in lat. Fassung in Deutschland erschienen); Dornaus »Parallela morum Saeculi« (dazu Näheres im folgenden) und Bacons »De dignitate et augmentis scientiarum«. Daß sich die These »nihil novi sub sole« ausdrücklich gegen Degenerationsvorstellungen wendet, belegt eine (mir nur dem Titel nach bekannte) Rede eines gewissen Matthias Paisenius, die von Nathan Chytraeus 1595 in Rostock herausgegeben wurde: »Oratio continens hujus seculi cum antiquis collationem, qua demonstretur, nihil praesens a prioribus degenerasse, sed, omnibus aetatibus, eandem fabulam, mutatis tantum personis, actam esse, & eos, qui in contraria sunt opinione refutans (nach Moller, Cimbria litterata, torn. II, 474/75). 41 Harsdörffer opus cit., II. Teü. Gespr. LXXIX, S. 234. 155

Hochmut / welcher den Oberherrn der Welt / zu deinem Knecht machen wollen / wird durch solches Unheil bülich bestrafft«, 42 die Unversehrtheit des »Weltgebäudes« läßt »kein Alter« verspüren: die Erfahrung der geschichtlichen Dynamik und Veränderlichkeit schlägt auf den theologisch-kosmologischen Gedanken der »conservado« nicht durch: Wie man in einem Cirkel nicht sagen kan / welches der Anfang / oder das Ende sey: so kan man auch in der Welt Lauff nicht sagen / was neu / oder alt sey. Alles nimt ab; alles nimt wieder zu / und ist die grosse Welt in diesem Fall / mit der kleinen Welte nicht zu vergleichen. 43 D i e Apologie der kosmologischen Identität der Welt gegen zeitkritische Melancholie hat nicht nur sozialpsychologisch-beschwichtigende Funktion, sie verteidigt auch die Identität der menschlichen Vernunftnatur gegen die These - so Schupp von der »collapsa eminentia humanarum dignitatum«. 44 Dies ist die Basis, eine unüberwindbare Inferiorität gegenüber der Antike zu widerlegen; 45 hiermit kann auch gegen die pessimistische Interpretation des alten Bildes operiert werden, nach dem die Modernen wie Zwerge auf den Schultern von Riesen sitzen. Bei Schupp wird mit humoristischem Hintersinn das Problem bis in körperliche Aspekte deduziert: die Menschen der Gegenwart seien auch an Statur und Lebensalter ihren Vorfahren nicht unterlegen. D e r Verweis auf die »Giganten« der frühen Menschheit - aus der Bibel, aber auch aus aufsehenerregenden Knochenfunden herausgesponnen - gehörte in der Tat zu den stehenden Argumenten der Dekadenzklagen. 4 6 Erst die Gleichheit des Menschen vor der 42 43

44 45

46

Ibid. VI. Teil, Gespr. CCLXX, S. 409. Ibid. VII. Teil, Gespr. CCLXIV, S. 328f.; Auch hier die Frage nach der Konstanz der Welt. Sie wird sowohl theologisch wie physikalisch beantwortet: »Weil aber das End der Welte übernatürlich erfolgen wird / ist auf keine wirkliche Abnehmung zu suchen. Weil die Elemente mit ihren widrigen Eigenschaften streiten / ist der Welt Abnehmen nicht zu beförchten. Eines Dings Untergang / ist des andern Aufnehmen...« (S. 327). Im VI. Teil, Gespr. CCXLIX, S. 476ff. zur Einschätzung des »Neuen« deutlich die verschiedenen Positionen auf die Gesprächspartner verteilt: a) Die »curiositas« des Menschen »von Natur aus«, die Möglichkeit des Neuen als Folge der »unendlichen Gedanken des Menschen, b) Differenzierung von »neu« und »erneut«; die meisten Neuerungen sind in Wirklichkeit nur Erinnerungen oder Erneuerungen, c) die Neuerungen gehören zum Komplex der Veränderungen, sind Konsequenz der Veränderlichkeit der sublunaren Welt. Passagen wie diese beweisen in der Vorführung von alternativen Stellungnahmen, die nicht vermittelt und nicht auf authentische Wahrheit hin befragt werden, daß die Optik Bacons, den Harsdörffer auch sonst mehrfach zitiert, zwar bekannt ist, aber sich gegen theologisch/teleologische bzw. humanistische Kategorien nicht durchsetzen kann. Volumen Orationum, 1656, S. 63. Vgl. etwa J. Wowerus, De Polymathia (zuerst 1604), ed. 1665, S. 347ff.; ähnlich Puteanus: Palaestra Bonae Mentis, 1611, S. 37: »Nam de iniquitate temporum queri, morosum est: felices jam in ipsis Litterarum reliquiis esse possumus, & vel Antiquitatem provocare, si sequimur / imo digni esse, quos Musarum fama respiciat.« Schupp, Volumen, 1656, S. 63/64; Chr. Besoldus behandelt die Frage ausführlich und mit zahlreichen Belegen: Principium et finis Politicae doctrinae (1625), Diss. Altera, S. 117ff. Die Frage »an mundus decrescat, ac ratione naturalium & mortalium in dies deterior evadat« gehört zum Problemkreis« De causis ruinarum, Imperiorum generalibus, Fato,

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Geschichte, die so als Szenarium wechselnder, zur Anpassung bzw. Behauptung zwingender »Umstände«, als Handlungs-»Raum«, nicht als handelnd erfahrenes Zeitkontinuum fungiert, sichert die Anrechenbarkeit, aber auch Kalkulierbarkeit menschlicher Taten, darüber hinaus eine systematische Anthropologie überhaupt. Im Horizont unabwendbarer Prozesse würde - so Schupp und andere Autoren der Zeit - nicht nur die geistige Autonomie des Menschen gefährdet, sondern müßten Gebet und Bitten, die Hoffnung auf Besserung zugleich mit der humanen Verantwortung für das Böse in der Welt sinnlos bzw. unbeweisbar erscheinen. 47 Fast in jeder vom Standpunkt des Modernismus operierenden Erörterung des Dekadenzproblems wird die laudatio temporis acti aus der perspektivischen Optik und der besonderen pathologischen Psychologie des Greisenalters erklärt und entwertet. Gewissermaßen ein Leitzitat ist dabei der Verweis auf Horaz, ars poetica, V. 169ff., über den »difficilis, querulus, laudator temporis acti«. 48 Rezipiert wird dabei der verzweigte Komplex der in der Antike, bei Cicero, Tacitus, Astris, numeris Piatonicis etc.« Bezeichnenderweise wird hier zustimmend Bodins Zurückweisung der Vorstellung vom Goldenen Zeitalter referiert. S. 118f. zum Problem der längeren Lebensdauer und »gigantischen« Körpergröße der früheren Menschen (mit zahlreichen Nachweisen); Dornau nahm die These von der »longaevitas« der Frühzeit zum Thema einer eigenen Rede: Mathusala vivax: Hoc est de caußis Longaevitatis Patrum primigeniorum Dissertatio (1619), in: ed. Schmiedt, Bd. II, S. 266ff. Es geht ihm darum, die hohe Lebensdauer der Patriarchen gegen rationalistische Kritik zu verteidigen und mit dem Nachweis eines »gesunden« Lebenswandels und der günstigen Bedingungen der »Frühzeit der Welt« zu erklären. Demgegenüber wird die Gegenwart zur Epoche moralischer Verderbnis, die erst in der »Rekonstitution« des Paradieses zu beseitigen ist (vgl. die Zusammenfassung S. 298). Die Rede hält am Dekadenzgedanken fest, akzentuiert jedoch die Möglichkeit natürlicher Ursachen und menschlicher Verfehlung. Im Vergleich dieses Textes mit der Rede »de felicitate saeculi« zeigt sich im Kontrast der moralisch-gesellschaftlichen und intellektuell-technischen Bewertungsperspektive die Ambivalenz der zeitgenössischen Argumentationen, zugleich das Janusköpfige Gesicht des »fin-de-siecIe-Humanismus« (Evans). Die Frage nach den »Giganten« der Genesis wurde natürlich auch in den Bibelkommentaren ausführlich behandelt (vgl. etwa D. Pareus, 1609, 4, 747ff., spez. 755f.). Vgl. ferner dort auch zu archäologischen »Beweisen«: J. Gruterus: Lampas sive Fax Artium Liberalium. Frankfurt 1604, II, 1266-1275; L. Rhodiginus: Lectionum Antiquarum. Leiden 1560, I, 79; P. Camerarius: Operae Horarum Subscisivarum. Frankfurt 1602, I 381. 47 Schupp, Volumen, S. 63: »Frusta supplicamus coelitibus: Frustra meliora speramus; si ita certo infelicia sunt omnia, quae nobis eveniunt. Infelix religio est, unde nihil expectatur. »Ähnlich Calixtus, Orationes selectae. Helmstedt 1660, S. 125-39, spez. S. 131f. ; gegen Fatalismus auch J. Gruter im Vorwort der von ihm hgg. Sammlung »Delitiae Poetarum Germanorum, 1612. 48 Die schematische Charakterisierung des Greisenalters als einer Phase mürrischer, egoistischer, schwächlicher und rückwärtsgewandt-wirklichkeitsfremder Denkhaltung geht zurück auf Aristoteles, Rhetorik II, 12-14 (von dort wie auch von der Horazstelle in die Decorum-Lehre der Ren. und des Barock, aber auch z.B. von Bodin - Methodus, cap. VII, ed. 1572, S. 480 - rezipiert) und auf die von Hippokrates überlieferte physiologische Schilderung (der Körper des Greises wird trocken, kalt, schimmlig): vgl. A. Dyroff: Der Peripatos über das Greisenalter. 1939; vgl. generell die sachkundigen Ausführungen bei H. Friedrich, Montaigne, S. 224f. m. Anm. (dort weitere Literatur) sowie das Kapitel III 1 (»Schrecken und Ehren des Alters«) in B. Gracians »Criticón«. 157

Seneca

und

den

Kirchenvätern

greifbaren

Anti-Dekadenz-Polemik. 4 9

Daß

Machiavelli, Castiglione wie auch Bodin hier einstimmen, zeigt den tieferliegenden Konsens dieser Abwehr der Zeitklage: 5 0 Der laudator temporis acti - auch der Molièresche Misanthrop gehört dazu 51 - ist der nicht anpassungswillige Exzentriker, in dem sich »morositas« und »melancholia« verbinden, die Hauptsünden des gesellschaftlichen Menschen, weil in ihrem Zeichen die Erfordernisse der Zeit, die Notwendigkeiten einer nur in Zustimmung vollziehbaren Erfüllung aktueller Konventionen nicht mehr gewährleistet sind. Nicht daß der Zeitkritiker den möglichen Fortschritt verkennt, ist eigentlich relevant, sondern daß er nicht zur Erkenntnis der gleichbleibenden Natur des Menschen und der strukturellen Konstanz der ihn selbst zu je neuer Entscheidung zwingenden geschichtlichen Möglichkeiten gelangt, zu der moralische Festigkeit und innere Gemütsruhe verbürgenden Schau des »nihil novi sub sole«, dessen paradoxes Gesetz ungleicher Identität sich in der Welt als »theatrum mundi« erfüllt. Bernegger z. B . erläutert in einer seiner Tacitus-Quaestionen den Ruf des Ecclesiastes: Dies fassen wir trotzdem nicht so auf, als wenn die Weltdinge immer in genau demselben Stand blieben, sondern wir wollen (es so deuten), daß nicht immer alles zum Schlechteren zurück gedreht wird, sondern in einem gewissen Wechsel und einer gewissen Umkehr getrieben wird. ( . . . ) Wie die Natur des Menschen dieselbe bleibt, so bleiben auch die Begabungen, Sitten, Geschäfte, Gelegenheiten, Entschlüsse, Vorkommnisse, Irrtümer und auch Verbrechen immer dieselben: nur die Personen und Schauspieler der Fabel wachsen nach in den einzelnen Epochen. (Ü) 52 Daß die Morosität des laudator temporis acti nicht nur als theologischer Verstoß, als psychologische Schwäche, als Erkenntnisdefekt, sondern auch als moralisches Manko, als potentielle Unfähigkeit zu einem gesellschaftlich indizierten Tugendverhalten zu interpretieren war, belegt ein Abschnitt in der Rede Schupps. E r

49

50

51

52

Vgl. Thraede, Artikel »Fortschritt« in: RAC, Bd. VIII, 1972, Sp. 150f.; die antike Diskussion breit rezipiert bei Bernegger: »Num tempora nostra vitiosora sint antiquis«, in: Quaestiones ad Taciti Germaniam et Agricolam, Quaest. 108; vgl. auch die Ausführungen zur Frage »Utrum sécula nostra antiquis peiora« bei Gumpelzhaimer/Moscherosch, Gymnasma de Exercitiis Academicorum, Part. I, S. 13ff.; vgl. auch die Behandlung der Frage »antiquissimum quodcunque verissimum?« bei Chr. Matthias, Systema Ethicum, 1626, S. 238ff. Castiglione, Cortegiano, Buch II, c. 1-3: vgl. dazu Loos, S. 183ff.; Machiavelli, Vorwort zu Buch II der Discorsi; Bodin, Methodus, cap. VII. S. Akt. III, Szene 5; die Rolle als Prototyp des Zeitkritikers mit betonter Polemik gegen die neue à-la-mode-Welt beispielhaft auch in Aßmann von Abschatz Gedicht »Wie ist die deutsche Welt in Neuigkeit ersoffen! . . . « abgedruckt bei Cysarz (Hg.): Hoch und Spätbarock, S. 236. S. Anm. 49: »quod non ita tarnen accipimus, ac si prorsus eodem semper statu res mundanae locatae manerent: verum id volumus, non semper in detenus omnia volvi, sed vicissitudine & conversione quadam agitan [ . . . ] ut natura hominum eadem manet, sic ingenia, mores, negocia, occasiones, Consilia, eventus, enata etiam atque scelera eadem perpetua durant: personae tantum & actores fabulae singulis aetatibus succedunt«. Zusammenfassende Darstellung des Welttheater-Topos bei Barner, Barockrhetorik, S. 86-134.

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habe schon in seiner Jugend vernommen, berichtet er, »quod inverterentur omnia in Imperio Romano«. 5 3 Die dieses behaupten würden, seien aber - hier die Wendung zur Stigmatisierung des Kritikers - selbst »facinorosi, corruptissimi, vitiosissimi«. In dem anschließenden Passus wird die Geltung des historischen Urteils von einer perspektivischen Erkenntnishaltung abhängig gemacht, die den harmonisierenden Universalismus der Zeit generell begründet: eine legitime Einsicht und Bewertung der aktuellen Geschichte ergibt sich nicht aus der Empirie der Erfahrung im Sinne der Verallgemeinerung persönlicher Betroffenheiten, sondern aus einer Perspektive der Distanz, aus einem Gesamtüberblick, in dem das Nächstliegende als unmittelbarer Eindruck entwertet und die Präsenz sinnlicher Erfahrungen in der Korrektur kontemplativer Vernunft aufgehoben ist: Wie der Mond unter den Planeten der kleinste ist, aber weil uns am nächsten als der Größte erscheint, so halten wir auch unsere Unglücksfälle für die größten, weil sie uns am nächsten sind. (Ü) 5 4

Evident ist der Nutzen, der sich aus diesem Verweis subjektiver Erfahrung in die Sphäre des Nicht-Authentischen ergibt. E r liegt zum einen in der Entwertung des Übels und des Leides. Die Erkenntnishaltung der Distanz macht es zum anderen möglich, die gesellschaftliche Selbsterfahrung in die Uneigentlichkeit des theatrum mundi zu überführen und als Wechselspiel zwischen geschichtlicher Kontingenz und einem sich darüber erhebenden Subjekt herauszustellen. Indem so die rückwärtsgewandte Utopie einer laudatio temporis acti zurückgewiesen wird, bleibt auch eine Antizipation von Zukunft außer Betracht, die das Rollenspiel in der Welt als ganzes verändern würde. Der Austritt aus der Geschichte als einem sinnvoll zielgerichteten Handlungsraum wirft das Subjekt zwar nur auf den Rest heilsgeschichtlicher Hoffnung zurück, verbürgt allerdings jene Erleichterung und Trost spendende Sicherheit, im korrekten Spiel der zugewiesenen Rolle auch den Sinn der Geschichte zu treffen. Die Abwehr der konservativen Zeitkritik nach dem Muster von Aufstieg und Verfall plädiert somit für die Orientierung des Einzelnen im Rahmen der geschichtlichen Faktizität als Inbegriff der zur Entscheidung aufrufenden Situationen und zeigt unverkennbar die Rollenzwänge des barocken Ordnungsstaates an. Die Disziplinierung des Einzelnen und seine Erziehung vom Korporationsmitglied zum Untertan ist angewiesen auf die Zerlegung der Geschichte in Einzelmomente und typische Situationen, um durch Vergleich jene Regeln und Gesetze von zeitloser Gültigkeit abzuleiten, nach denen sich der Einzelne tugendhaft zu bewähren oder in prudentistischer Reflexion zu entscheiden hat. Die Akzeptierung des Welttheater-Modells reflektiert letztlich die Einsicht des erfolgsorientierten Praktikers, der weiß, daß »sich der Weltlauf nicht nach uns wenigen richtet, sondern wir uns in selbigen schicken lernen müssen«; die Anerkennung des Guten der Epoche erfordert bzw. bezeugt Anpassung, denn 53 54

Schupp, Volumen, 1656, S. 67. Schupp, Volumen, 1656, S. 67: »Quemadmodum Luna inter Planetas est minima, ast quia nobis próxima, videtur planetarum maximus; ita nos nostras calamitates putamus maximas, quia nobis sunt proximae.«

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»je näher sich unser Bemühen der gegenwärtigen Zeit und ihrem Guten angleicht (dies möchte ich nämlich alles als augenscheinlich bewiesen haben), um so weniger wird man es als tadelnswürdig befinden.« (Ü) 55 Wie sich der Topos des »nihil novi sub sole« dazu eignete, die bedrängenden Erfahrungen des Einzelnen, Leid und Übel zu entwerten, in deren Ausmalung sich die geschichtspessimistische Diatribe gefiel, läßt sich bei Schupp exemplarisch verfolgen. Hier werden die einzelnen Komplexe bedrückender Erlebnisfelder katalogartig aneinandergereiht, um sie im einzelnen rhetorisch in die distanzierte Erkenntnishaltung vergleichender Geschichtsreflexion zu rücken. Behandelt werden: der Krieg, die Seuchen und Krankheiten (»pestis«), Hungersnot und Teuerung, Abgabelasten und Tribute (»exactio«, »tributio«), die inflationäre Preisentwicklung und schließlich die angeblich entartete Jugend (»pietas juventutis«). Spiegelbildlich entspricht diese Liste den Hauptmomenten der Zeitklage, wobei im letzten Punkt die spezifische Erschütterung des Gelehrtenschulbetriebs durch die Tendenzen eines antiverbalistischen Realismus und einer weltmännischen Kavalierserziehung mitbedacht ist.56 Mit einem umfangreichen Verweisapparat werden die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges nicht nur als relativ harmlos gegenüber früheren Grausamkeiten hingestellt, sondern die Einschätzung des Krieges als »malum« selbst als Ergebnis depravierter Erkenntnishaltung beschrieben. Die Todesfurcht - ein Hauptfaktor der Kriegsangst - gehört zur »opinio«, der Kategorie des bloßen Meinens. Dieser Begriff gehört in die stoische Anthropologie. Er bezeichnet die Entmächtigung der ratio unter dem Ansturm der Affekte und begründet eine Trübung der Erkenntnis und damit die mögliche Fehlleitung von Handlungen: »Opinio nobis haec depingitur magna & formidulosa, quae si ratione examinatis, levia sunt.« 57 Die ratio ist eine feste Burg (»arx firma«), die keine Kraft versehren kann, wenn sie nicht von der »opinio» beeinflußt wird. Zeitdiagnose mündet hier durch rhetorische Persuasion in jene Bestärkung der seelisch-geistigen Autarkie des Menschen ein, jenes Hauptanliegen des christlichen Stoizismus, dessen zeitgeschichtlicher Charakter als bestimmte Antwort auf bestimmte Bedürfnisse hier exemplarisch zutage tritt. Die Transformation der pragmatischen Geschichtsreflexion in den moralischen Appell stellt die richtige Beurteilung geschichtlicher Erfahrungen in den Dienst einer elitären Ethik, der moralische Impetus speist sich umgekehrt aus der Betrachtung der Welt als theatrum mundi. Die weltüberhobene Distanz der Vernunft - nicht instrumenten, sondern metaphysisch verstanden - impliziert die Befreiung von einer geschichtsreflektorischen Melancholie 55 56

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Gumpelzhaimer/Moscherosch, Gymnasma, S. 22. Schupp, Volumen, 1656, S. 68ff; interessant - S. 70f. - Äußerungen zur Teuerung und Inflation. Schupp beschreibt das relativ zu kleine Warenangebot bei vergrößerter Geldmenge. Der allgemeine Wohlstand sei im ganzen Volke im Vergleich zu früheren Zeiten gewachsen. Ibid. S. 68; die Entwertung der Übel im Rekurs auf die Täuschbarkeit der »opinio« entspricht den Argumenten des Neostoizismus, wie sie Lipsius, De constantia, deutsch, ed. L. Forster, Buch II, Kap. XIXff. (S. 125vff.) vorträgt.

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und von einem Denken, das Leid und Übel der Gegenwart im Blick auf verlorene oder antizipierte Vollkommenheit kritisiert. Wie der zeitkritische Stachel einer in der humanistischen Ideologie angelegten Heroisierung des Altertums zugunsten einer »vorurteilsfreien« Beweglichkeit gebrochen wurde, kann anhand einer ebenfalls in Beuthen gehaltenen Rede Caspar Dornaus demonstriert werden. Das Verfahren, das sich in seinem rhetorischen Traktat »Parallela morum seculi« 58 ablesen läßt, ist ebenso einfach wie zwingend. Die Gegenwart wird gegenüber der Antike in der Art verteidigt, daß jene exkulpiert wird, indem dieser die gleichen Laster wie jener zugelegt werden und somit auch hier die typisch humanistische Distanz der Antike gegenüber nach dem Modell des theatrum mundi aufgefüllt wird. Am Leitfaden der Zehn Gebote will Dornau beweisen, »nihil nunc peccari quo non peccatum prius fuit«. 59 Es geht also nicht - wie in der französischen Querelle - darum, die Höhe der eigenen Zeit im Vergleich mit der Augusteischen Epoche der Antike zu beweisen, sondern umgekehrt darum, die Miseren der Gegenwart und den Komplex moralischer Defekte (also im Blick auf die gesellschaftliche Praxis) spiegelbildlich in der Antike abzubilden. Damit wird diese einerseits als Kategorie der historischen Reflexion insgesamt desillusioniert, andererseits als Arsenal und Fundgrube exemplarischer menschlicher Möglichkeiten, vor allem auch in puncto Laster instrumentalisiert. Dies Verfahren kann sich zwar stützen auf kritische Ansätze des christlichen Humanismus selbst, markiert jedoch in seiner grundsätzlichen Desillusionierung den entscheidenden Umschlag vom Renaissance- zum Barockhumanismus. Bezeichnend für die Zielrichtung der Argumentation ist die Auswahl der behandelten Laster. Diese Auswahl zeigt, von welchen Verfehlungen speziell die Gegenwart rhetorisch entschuldigt werden muß. So legt es Dornau u. a. darauf an, nachzuweisen, daß die »prudentia« als »instrumentum tyrannidis« nicht nur ein Schandzeichen der eigenen Epoche sei. Zu der unter das Vierte Gebot fallenden gesellschaftlichen Pflichtenlehre fragt er zweifelnd: »an hoc tantum mundi senio homo homini lupus esse coepit.« 60 Schulelend und Pedantismus werden mit Verweisen auf die dargestellte Wirklichkeit der antiken Komödie, Machiavellismus, Herrscherintrigen und politische Skrupellosigkeit in der antiken Tragödie belegt - ein Fingerzeig auf die epochalen Motive der Senecarezeption im barocken Trauerspiel. Es folgt der gesamte Lasterkatalog der Zeit: Trunksucht und Freßlust - Phänomene des sog. Grobianismus und des öfteren als deutsche Nationalspezialität gebrandmarkt - , Lug und Betrug beim Handel, Mißbrauch der Justiz, das Elend der Literaten angesichts des unsanktionierten Plagiats u . a . m . Dornau legt Wert darauf, die gesellschaftlichen Übel zu personalisieren, die Haftbarkeit des Menschen zu betonen, demgemäß seine eigenen Anstrengungen zu motivieren

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Abgedruckt bei Schmiedt, Orationum Tom. I, 199-266 (zuerst 1616); zum Argumentationsschema der »Parallele« vgl. Jauß, Vorwort zu Perrault, S. 27. Ibid. S. 207. Ibid. S. 217.

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und das Bewertungsmuster von Tugend und Laster zu festigen. Dem entspricht die Auflösung der Geschichte als Prozeß in den indefiniten, epochenübergreifenden Horizont von Präzedenzfällen. Der Zwang zur gesellschaftlichen Disziplinierung an der Schwelle der Neuzeit konstituiert sich - auch dies ein Beleg wesentlich als Selbstdisziplinierung des Subjektes und Dämonisierung der als Affekt auftauchenden »ungeordneten« Bedürfnisse: »Frustra ergo accusamus iniquitatem temporis; qui intus gerimus capitalem hostem.« 61 Entwertung des Übels, Versicherung der Identität und geistig-moralischen Autonomie, dementsprechend der Verantwortung des Menschen, Abschneiden einer jeden innerhistorischen Perspektive, eines jeden retrospektiven oder antizipatorischen Utopismus, Aufruf zur Bewährung und Orientierung in bzw. an den gegebenen Verhältnissen, Bestimmung der Ordnung und Festigung des Gottvertrauens gerade im Horizont negativer Erfahrung, Anerkennung des »Neuen« in der Geschichte, jedoch nicht als Signum offener Historizität, sondern geknüpft an die Versicherung des »Stabilen« selbst angesichts phänomenaler Depravationen, deshalb zugleich die Reduktion veränderter gesellschaftlicher und politischer Erfahrungen auf die im Exempelarsenal der Geschichte vorgegebenen, d.h. vorinterpretierten Gesetze und Handlungsmuster - mit diesen resümierenden Stichworten läßt sich die Gesamttendenz der Argumentation zusammenfassen, in denen die Dekadenzperspektive der Spätrenaissance überwunden wird. Was sich hier im Textspektrum der akademischen Traktat- und Deklamationsliteratur beispielhaft beobachten läßt, muß verstanden werden als Ergebnis der politischen und theologischen Dogmatik der Zeit. Gerade in Deutschland waren die Angriffe auf die Ideologie der Goldenen Zeit, soweit sie als Signum altständischer Retrospektive zu gelten hatten, im Gedanken der menschlichen Erbsünde sehr leicht theologisch zu fundamentieren: Das Saturnische Zeitalter des Friedens, der Gerechtigkeit und der Gewaltlosigkeit gab es demnach nur »in statu integritatis«.62 Die Klagen über das »eiserne Zeitalter« der Gegenwart rekapitulierten in dieser Optik nichts als die zeitlos gültige und unabwendbare Folge des menschlichen Sündenfalls; rückwärtsgewandte Kritik war wesenlos, weil sie letztlich nur anthropologische Konstanten formulieren konnte. Die augustinische Ableitung des Staates, von Luther, Bodin und anderen Theoretikern aufgegriffen, die Staatsordnung als Konsequenz der »imperfectio hominis« verbannt die Goldene Zeit in die vorgeschichtliche und allenfalls eschatologisch einzuholende Phase der Menschheit. Auch die aristotelische Staatstheorie war sich mit der augustinisch geprägten Soziallehre darin einig,

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Ibid. S. 264. So etwa bei Besoldus betont: »Non post lapsum erat aureum saeculum ullum: nam & mox Cain fratrem Abelem occidit, Cainum Lamech. Cain eiusque filii regni speciem, statum & jura constitueront. Unde haec statim, haec semper, haec necessario sunt secuta; discretae gentes, dominia distincta, agris terminis positi, aedificia collata, bella introducta, servitia constituía, obligationes, contractus, & gentium jura . . . « (Principium et finis politicae doctrinae, 1625, Diss. Prima, Kap. VI, S. 56-70; das Zitat S. 67; dort zahlr. Verweise).

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d a ß die m e n s c h l i c h e Sozietät a u f politische Subordination angewiesen w a r . 6 3 D i e T h e s e v o n d e r ursprünglichen B a r b a r e i menschlicher F r ü h z e i t , die F o r m e l v o m N a t u r z u s t a n d des »bellum o m n i u m c o n t r a o m n e s « - H o b b e s wird d a r a n anknüpfen - griff sowohl auf T h e o r e m e d e r antiken Kulturlehre wie auch d e r christlichen G e s c h i c h t s t h e o l o g i e z u r ü c k . D e r M y t h o s von der G o l d e n e n Z e i t w u r d e deshalb k o n s e q u e n t e r w e i s e - e t w a bei d e m Tübinger Juristen B e s o l d u s - ausdrücklich in das R e i c h der F a b e l n und M ä r c h e n verwiesen, das von den »ingeniis p r u d e n t u m « , also d e n politischen P r a k t i k e r n nicht zu b e t r e t e n sei. 6 4 W a s diese

Äußerung

politisch implizierte, ergibt sich e x negativo aus der späteren Hinzufügung des A u t o r s , es sei in d e r T h e o r i e einer n a t u r g e g e b e n e n U n t e r w e r f u n g des E i n z e l n e n u n t e r d e n S t a a t in G e s t a l t des S o u v e r ä n s nicht j e n e »Sklaverei« justifiziert, die v o n den »multi m a g n a t e s « praktiziert w e r d e . 6 5

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Zur Kongruenz von augustinischer und bodin'scher Rechtfertigung des Staates vgl. Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und Absoluter Staat, S. 178f.; dort ebenso wie in der von Gottfried Niedhart herausgegebenen Auswahl aus Bodin ( R U B 9812) die umfangreiche Literatur, auf die ich nicht im einzelnen verweisen kann; der aristotelische Standpunkt (vgl. Dreitzel ibid.) ausführlich gegen den lutherisch-augustinischen abgesetzt u . a . bei Johann Konrad Dannhauer: Exercitationes Ethico-Politicarum (1626), S. 13ff: Problema V : »An Politica sit Eventualis, post lapsum demum orta, cujus antea nulla fuerit nécessitas? ; er führt folgende Argumente an: 1.) ob ordinis necessitatem (Ordnung von Gott, schon im Paradiese notwendig), 2.) ob politiae naturalitatem (der Mensch als zoon politikon), 3.) ob simile (Ordnung und Ungleichheit auch unter den Engeln), 4.) ob facilem contrariorum argumentorum dilutionem: unter anderem gegen die These - auf Adam bezogen - »Lex iusto non est posita«; dann auch Problema V I . S. 16ff. (»Quaenam causa & origo politiae?«: Hier ausführlich gegen die bodinsche These ( R e p . I 6) »ac si imperia vi seu violentia coaluissent«. Weitere Belege anzubringen erübrigt sich, da die gleichen Argumentationsreihen im einschlägigen Schrifttum immer wiederkehren. Besoldus I.e. (s. Anm. 62) S. 67f.: »Et ideo quae de aureo hoc seculo Poetae tractant, aetati nulli, sed statui solum Innocentiae adplicari posse, puto. [ . . . ] Maximeque ideoque errant, qui nobis aliud aliquod aureum seculum, aliam libertatem comminiscuntur, & dispersa per agros, per sylvas, per spelaea homines référant, & ita felicissime eos vixisse putant. [ . . . ] Dominetur aureum seculum in concionibus, jaceat in judiciis, valeat in opinionibus, & sermonibus; ab ingeniis prudentum repudietur: rectius veriusque cum historiéis sentiunt illi, quibus persuadere difficillimum, & quantum recolligo, impossibile erit, ut Scythismum illum ullis statuant virtutibus emicuisse. »Angesichts solcher skeptischer Einschätzung der menschlichen Natur verliert übrigens auch die ciceronischhumanistische Version der Vergesellschaftung an Glaubwürdigkeit, die auf die Rolle der Rede und der Überredung bei der Staatengründung abhebt (dazu vgl. Harth, Philologie, 9ff.). Melchior Junius weist die Mythe von Orpheus, der durch seinen Gesang die Menschen, vereinigt habe, in das Reich der Fabel und dezidiert, »quod politica prior sit Eloquentiae, unde haec illius radix esse nequit. Illud enim Studium prius est quod magis necessarium est: at Politica ista necessaria est hominum vitae, ut sine ea ne ad momentum quidem persistere poßit, Eloquentia vero fortassis melius carere licet.« Eine massive Zurückweisung der humanistischen Position, um so bemerkenswerter, als Junius selbst der bedeutendste Rhetoriklehrer Straßburgs im späten 16. Jahrhundert war (zu Junius vgl. Schindling, 1977, S . 2 2 7 f f . ) . Vgl. Besoldus, a . a . O . cap. X I , 64f.: »Sed porro, quemadmodum non pugnat libertas, in qua creati sumus, cum politica subjectione: ita vicissim per jam dedueta, simul evictum 163

Die Ausweisung des Mythos vom Goldenen Zeitalter in die Fabelwelt der Dichter, Resultat endgültiger Verzweiflung an der perfekten Ordnung der Welt als Natur, ist in der europäischen Schäferdichtung befolgt worden. Diese setzt - das ist bisher zu wenig interpretatorisch fruchtbar gemacht worden - die Wandlung des politischen Denkens voraus. Ungeachtet der nach Typen und Gattungen sehr wohl zu differenzierenden Formen der Pastoralpoesie läßt sich generell beobachten, daß in der Wende zur Spätrenaissance und erst recht im 17. Jahrhundert in der Fiktion der Saturnischen Welt, selbst wenn die Formel von der Goldenen Zeit beibehalten wird, nicht mehr die lustvolle Freiheit des Individuums, nicht mehr die spontane Harmonie des Zusammenlebens vor aller Geschichte, d.h. aber als deren Korrektiv vorgestellt wird. Selbst wo die arkadische Szene sich als Raum alternativer Daseinsführung gibt, ist sie vielmehr ein Rollenspiel, das auf die Realität der Ordnungszwänge von Stadt und Hof bezogen bleibt. Die Evasion nach Arkadien oder in die Verkleidungsspiele des Landlebens verneint nicht mehr die von Theologie und Politik einhellig behauptete Disziplinierungsbedürftigkeit des Menschen, sondern eröffnet nur noch den Schein des Ungezwungen-Privaten, der als Schein verstanden wird. Der utopische Wunsch zielt nicht auf die Aufhebung von Herrschaft, sondern auf deren Idealität und die Konfliktlosigkeit ihrer Durchsetzung. Auch für den Schäfer bleiben Herrscherpanegyrik und Friedenslob - der Frieden als Ergebnis gerechter Herrschaft unbezweifelbare Aufgaben. Die Schäferspiele der Literatur ermöglichen zwar die Selbstdarstellung verschiedener Gruppen (Gelehrte, Landadel, Hof), dies aber so, daß auch im Raum des Privaten idealisierte Konventionen und Tugendpostulate in Kraft bleiben: eben jene, die in der Welt der realen »Politik« gefährdet sind. Ich muß mich im Rahmen dieser Arbeit auf diese allgemeinen und skizzenhaften Bemerkungen beschränken, die nur Perspektiven nachweisen sollen, welche sich aus der zeitgenössischen Behandlung des »aurea aetas«-Topos ergeben. 66 Die bisher dargestellten Argumentationszusammenhänge - Antwort auf die Frage, ob die Gegenwart schlechter als die Vergangenheit sei - bezogen sich im wesentlichen auf die Entkräftung des latenten, kosmologisch und historisch for-

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esee spero, despotikon dominatum, quem multi Magnates nimis exquirunt, & subditos non aliter ac vere & proprie servos, tractant; Primaevae Naturae & rationi etiam contrarium esse. Ab hacque servili subjektione, Imperium Politicum omnino différé.« Einen Überblick über die europäische Forschung zur Bukolik und Georgik gibt die von Klaus Garber 1976 hgg. Aufsatzsammlung, darin u.a. wichtig die Arbeit von Erich Köhler (266ff.): Absolutismus und Schäferroman, Honoré d'Urfés Astrée; S. 268: »Aus seinem Arkadien ist die Unschuld des Goldenen Zeitalters gänzlich verschwunden. Der humanistische Glaube an die natürliche Güte des Menschen und die Möglichkeit seiner Selbstverwirklichung in Freiheit konnte dem Chaos der religiösen Bürgerkriege nicht standhalten. In diesem geschichtlichen Augenblick, da der Mensch wieder im Zeichen des Sündenfalls stand, mußte das Gesetz selbst in das imaginäre irdische Paradies der Bukolik Einzug halten. Jetzt war es die Unterordnung, die als die »natürliche« Lebensordnung des Individuums erschien. Das Prestige Arkadiens ermöglichte die Fiktion, daß diese Unterwerfung eine ganz und gar freiwillige sei.« Zur europäischen Tradition s. Garber, Locus amoenus; dort S. 214ff. besonders zur Saturnischen Topik. Garber zeigt,

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mulierten Geschichtspessimismus der Spätrenaissance. Zu verfolgen war die Entwicklung von Kategorien individueller und gesellschaftlicher Erfahrung und Selbstreflexion, der Übergang von der universalgeschichtlichen Optik der Renaissance zum restituierten Modell des »theatrum mundi«. Wie aber - ist nun zu fragen - wurde das Problem gestellt und gelöst, wenn es um die Würdigung der doch für jeden Einsichtigen unverkennbaren zivilisatorischen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritte ging? Welche Rolle spielte diese Erfahrung des »Neuen« für die Entwicklung des historischen Bewußtseins? Mit welcher Begründung löste sich aus der Gewißheit menschlicher Leistungsfähigkeit - vor allem im Vergleich zur Antike - nicht ein Denkmuster ab, in dem das Bewußtsein der »Moderne«, wie es sich doch »politisch« zu erkennen gab, in das Vertrauen auf die Aufwärtsentwicklung der menschlichen »Kultur« umgeschlagen wäre?

3) Fortschritte o h n e G e w ä h r : die »neuen Dinge« und der alte Mensch Dornau, Schupp und andere Autoren des Frühbarock bekunden die Höhe der eigenen Zeit in detaillierten Katalogen des Fortschritts auf den verschiedenen Gebieten der Technik, Wissenschaft, Kultur und Zivilisation. Allein die Tatsache, daß dies - wenn auch selten genug - im Rahmen der akademischen Deklamation geschehen kann, beweist die latente Tendenz zur Aufhebung der strengen Trennung von artes liberales und artes mechanicae. Texte dieser Art illustrieren den Zusammenhang der zeitgenössischen Bewußtseinsbildung in Deutschland mit den entsprechenden Auseinandersetzungen der gesamteuropäischen Spätrenaissance. Dabei ist nicht zu verkennen, daß infolge der offiziellen Verpflichtung der Universitäten und Schulen auf das humanistisch-aristotelische System sowie der theologischen Oboedienz von Lehre und Forschung gerade die akademische Literatur nur in Einzeldokumenten den Nachweis einer Problematisierung der Fortschrittsfrage erlaubt. Diese verstreuten Belege wenigstens exemplarisch, wie hier beabsichtigt, zur Kenntnis zu nehmen, empfiehlt sich um so mehr, als auch außerhalb der akademischen Welt bis über die Jahrhundertmitte hinaus, sieht man von den Aktivitäten des Joachim Jungius in Rostock und den Wunschphantasien

daß die Vorstellungen der Goldenen Zeit in der deutschen Schäferdichtung generell zurücktreten bzw. in der Einschränkung auf die ungestörte Natur politische Implikationen vermeiden (vgl. zu Birken S. 222)! Zur Entwicklung der aurea aetas-Vorstellung in der Bukolik der Renaissance von der emanzipativen Ausdeutung zur Formel der Herrschaftspanegyrik vgl. die ausführliche Darstellung von H.-J. Mähl, 1965, bes. 112ff., zu deutschen Dichtung ibid. 133ff. Das schwierige und doch sozialgeschichtlich aufschlußreiche Erscheinungsbild der Schäferdichtung hat gerade in den letzten Jahren zu verstärkten Bemühungen der Forschung geführt: vgl. bes. den Aufsatz von Voßkamp, in: A. Schöne (Hg.), Barocksymposion 1974, 99ff., sowie die Referate der Wolfenbütteler Tagung über »Schäferdichtung«, hgg. v. W. Voßkamp, 1977; dort bes. die Aufsätze von V. Meid (59ff.) und C. Wiedemann (96ff.), deren Ergebnisse ich bei meinen Ausführungen berücksichtigt habe. Zur Poetik der Pastoralpoesie neuerdings zu vgl. Sinemus, 92ff.

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der Rosenkreuzer ab, die Denkanstöße naturwissenschaftlichen Erkenntnisstrebens und die Fragen zivilisatorisch-technischer Weltbemeisterung von den dringenden Problemen der gesellschaftlich-politischen Ordnung überlagert wurden und dementsprechend im Themenspektrum jedenfalls des bisher von der Literaturwissenschaft aufgearbeiteten Schrifttums in den Hintergrund treten. 67 Sowohl bei Dornau als auch bei Schupp werden hinsichtlich der zentralen akademischen Disziplinen (Philosophie, Theologie, Jurisprudenz) weiterhin die humanistischen Reformen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts gefeiert. D i e Erinnerung an den Kampf der »Epistolae obscurorum virorum« für die »Reinheit der Sprache« und eine »neue Freiheit der Religion« revitalisiert freilich eine angesichts der konfessionellen Orthodoxie durchaus aktuelle Frontstellung. 68 Bedeutsameren Aufschluß über das von Dornau zur Sprache gebrachte Interesse und über den Zusammenhang der R e d e mit dem Prozeß der Rehabilitation der »theoretischen Neugierde«, den Hans Blumenberg 6 9 im Querschnitt abendländischen Denkens dargestellt hat, eröffnet Dornaus pathetischer Preis des Fernrohrs und der Entdeckung einer bisher dem menschlichen A u g e entzogenen Sternenwelt. Galileis wenige Jahre zuvor erschienener »Sidereus Nuncius« (1610) darf als Lektüreerlebnis vorausgesetzt werden, wenn es heißt: Durch welche Kenntnis von Sternen ist jene Kunst bereichert, die über die Gestirne entscheidet? Wieviel Sternbilder und Himmelskräfte kennen wir, die der Vergangenheit unbekannt waren. Der Atem würde mir ausgehen, der Tag selbst und Euer Höreifer nicht

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Joachim Jungius (1587-1657), Professor der Mathematik in Rostock, gründete 1622 in Rostock die erste naturforschende Gesellschaft (»societas ereunetica«) nach dem Vorbild der römischen »Academia dei Lyncei«: vgl. Guhrauer, Avé-Lallemont und Kurt Müller, bes. 137f. ; während Jungius offensichtlich in Kategorien der modernen Experimentalwissenschaft dachte, sahen die Rosenkreuzer, die Vertreter der hermetisch-alchemistischen Geheimwissenschaften, aber auch die Pansophen Naturerkenntnis unter dem Gesamtaspekt einer Wiederherstellung des der Menschheit einst verliehenen Wissens: sich der Geheimnisse der Natur zu bemächtigen bedeutete, die im Paradies verlorene Herrschaft des Menschen über die Natur zurückzugewinnen, zugleich aber in der Schau ursprünglicher Weltharmonie auch die Ordnung des Kosmos und der Gesellschaft wiederherzustellen. Die angekündigte »Generalreformation der ganzen Welt«, gegen die sich u.a. Bernegger sarkastisch wandte, war häretisch, weil sie das Dogma des Sündenfalls außer acht ließ. Die Angriffe der Schulwissenschaft gegen die hermetische Tradition involvieren deshalb nicht nur methodische Opposition, sondern auch die Frontstellung gegen sozialreformerische Tendenzen. Vgl. dazu Evans, bes. Kap. 7, zusammenfassend S. 281f.; ferner Yates, Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes, bes. 129ff. (dort auch zum Einfluß der hermetischen Tradition auf Bacon) sowie Blumenberg, Prozeß der theoret. Neugierde, 189ff., bes. 194f. (»Rekonstitution des Paradieses als Geschichtsziel« bei Bacon). Vgl. Dornau, ed. Schmiedt, Bd. I, S. 273-278; Schupp, Volumen 1656, S. 64/65 mit Zitat aus den »Epistolae obscurorum virorum«. Daß der Begriff der »Glückseligkeit der der deutschen Sprache« bei Opitz eine große Rolle spielte, mag ebenfalls von Dornau beeinflußt sein: vgl. Opitz, Welti. Poemata, ed. Trunz, II. Teil, Nachwort S. 13. H. Blumenberg: der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt 1973 (= stw24); es handelt sich um den erweiterten und überarbeiteten dritten Teil seiner »Legitimität der Neuzeit«.

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ausreichen, wollte ich Euch in der Rede die vielen Instrumente der Mathematiker vorführen, die in wenigen zurückliegenden Jahren der kühne Fleiß des Menschen teils erfand, teils nach ihrem Verlust wiederfand, teils, obwohl schon erfunden, noch verbesserte. (Ü)70 Das folgende Referat faßt die Entdeckungen Galileis zusammen. Dornaus Rede ist zusammen mit den bereits erwähnten Reaktionen der oberrheinischen Späthumanisten um Bernegger und Lingelsheim Indiz dafür, daß vor allem die calvinistisch orientierten bzw. beeinflußten Bildungszentren in Deutschland unmittelbar und positiv auf die Fortschritte in Wissenschaft und Technik reagierten. 71 D i e Bekanntschaft des Redners mit Kepler - der Astronom schrieb für ihn z . B . ein Hochzeitsgedicht - markiert biographische Hintergründe und geistige Korrespondenzen. 7 2 Argumentiert wird nach mehreren Seiten. Bestritten wird zum einen die Überlegenheit der Antike, zum anderen wird die Tat Galileis nicht nur zum Signum moderner Selbstbehauptung, sondern auch zum leuchtenden Beispiel menschlicher Erfindungsgabe. Die Ausweitung der dem Menschen zugänglichen Realität, der Durchbruch in die jenseits der natürlichen optischen Beschränktheit liegenden Bereiche des Kosmos, der Erfolg menschlicher Neugier (»curiositas«) veranlassen zu dem Ausruf: O Kraft des menschlichen Genies! Dieses ist so wißbegierig, daß es, wenn die Erde etwas nicht gewährt, den Himmel durchdringt, und sogar betritt! Und in der Folge noch mehr schafft herbei die menschliche Mühe, wenn sie unermüdet nach Wissen durch die Natur strebt.73

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Dornau, ed. Schmiedt, I, S. 280f. Galileis Werk wird nicht ausdrücklich genannt. »Qua enim siderum notitia locupleta est ars illa, quae de astris decernit? Quot egregias stellarum configurationes juxta & vires novimus, quarum rudis atque ignara fuit antiquitas! Spiritus me deficeret, dies ipse, & Vestrum in audiendo Studium, si dictione mea repraesentarem vobis tot Mathematicorum instrumenta; quae paucis abhinc annis, audax hominum industria vel invenit nova, vel deperdita repent, vel reperta correxit«. Zur Bedeutung von Galileis »Sidereus Nuncius« s. Blumenberg, Prozeß, 180ff. ; Boas, Renaissance der Naturwissenschaften, 343ff.; Galileis Schrift ist neu hgg. von Blumenberg (Frankfurt 1965 = Sammlung Insel 1), dort S. 5-73 der einleitende Essay: »Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit«; ferner ders.: Die kopernikanische Wende, 122-64, vor allem 149ff. Der prototypische Charakter des Fernrohrs als Signum eines umstürzlerischen Wahrheitsbegriffes ergibt sich aus der Satire; man lese die Karikatur des »Doctor Fürzel« bei Moscherosch, Gesichte Philanders von Sittewald (zuerst 1640), ed. Bobertag, S. 43. - Frühsorge, Polit. Körper, 108ff. hat die sinnbildliche Qualität des Fernrohrs als Index auch der politischen Klugheit, der empirischen Orientierung des Indiviuums in Staat und Gesellschaft sowie das damit verbundene Interesse an einer an Weltbeobachtung gebundenen Reflexion des praktischen Handelns nachgewiesen. Zu Bernegger und Lingelsheim vgl. oben S. 43f. ; auch Schupp, obwohl lutherisch gesonnen, verdankt seine Offenheit für bürgerliche Wissenschaft und Technik nicht zuletzt dem Aufenthalt in den Niederlanden: vgl. Bischoff, 1890, llff. Vgl. Evans, S. 149f. Dornau a.a. O., S. 282: »O vim humani ingenii! quod ita est curiosum sciendi: ut si quid terra non suppetat, coelum petat, atque etiam ingrediatur! Plura subinde adfert labor hominis ad sciendum per naturam alacer. - Visae sunt ipsius quoque Solis maculae, libera 167

D i e geistige Horizontverschiebung ist hier nicht nur als Erweiterung sinnlicher Anschauung verstanden, sondern bezieht sich auf die Vorstellung des sich an der Natur abmühenden, ja mit der Natur in Rivalität tretenden Menschen. D a s in der neuplatonischen Tradition überlieferte Bild des schaffenden Geistes als dem Rivalen der Natur 74 gewinnt Evidenz durch den Erfolg der instrumentellen Fertigkeit. Wissenschaftlich-technische Kreativität ist hier deutlich in Anlehnung an den Prometheus-Mythos der Renaissance gedeutet, 7 5 der Begriff des ingenium, dem die Findungsgabe (»inventio«) zugeordnet ist, evoziert den neuplatonisch gedachten Analogiebezug zwischen menschlicher und göttlicher Schaffenspotenz. 7 6 D a ß sich Dornau von jenen Vorbehalten frei macht, die dem Wissensstreben des Menschen Bedeutung, Berechtigung oder Nutzen absprachen, ergibt sich aus dem weiteren Kontext der Rede. Galileis Tat wird als symptomatisch gewertet. D a s rhetorische Pathos speist sich aus dem panoramatischen Umblick in alle Bezirke der Wissenschaft. Dornau bespricht die Neuheiten der Medizin, Chemie

oculorum acie; & ejusdem corpus, quod tota antiquitas exquisita semper rotunditate apparere statuit, oblongum contemplan & ovale visus noster potest; cum hemisphaerio nostro illucescit. Numéris cuncta assequi non licet; quae in siderum ortu & occasu, cursu & statione, progressu & regressu, beneficio & maleficio nostri Astronomi viderunt, docuerunt; omnia abstrusa a priscorum oculis, sive mentis sive corporis dicam.« 74 Der Mensch als »faber naturae« etwa bei Ficino: »humanae artes fabricant per se ipsas quaecumque fabricat ipsa natura, quasi non servi simus naturae, sed aemuli«: Theologia Platonica XIII, 3. in: Opera. Basileae 1576, Tom. I, 295. Zum Renaissance-Platonismus speziell im Zusammenhang der Astronomie vgl. Mittelstrass, Rettung der Phänomene, 190ff. Die Vorstellung vom Menschen, der mit seinen Künsten in Wettstreit mit der Natur tritt, übrigens auch in einem der spärlichen Barockgedichte auf technische Erfindungen: D. D. Morhof: »In Illustris Viri ROBERT BOILI Machinam Pneumaticam mirabilem. Ergo novis semper tua gloria crescit ab ausis, // Maxime Vir, gentis gloria summa tuae? // Jam Natura tuis succumbens artibus a se // Exit & exerto stat pudibunda sinu (...)«, in: Opera Poetica. Lübeck 1697, S. 658f. 75 Vgl. Petri Pomponatii Mantuani libri quinqué de fato, de libero arbitrio et de praedestinatione, ed. R. Lemay, Lucani 1957, S. 262: »Prometheus vere est philosophus, qui dum vult scire Dei archana, perpetuis curis et cogitationibus roditur, non sitit, non famescit, non dormit, non expuit, ab omnibus invidetur ...«, zit. nach A. Buck: Über einige Deutungen des Prometheus-Mythos in der Literatur der Renaissance, in: ders., Die hum. Tradition in der Romania, 91-100, spez. 94f. ; vgl. auch P. Rossi: Il mito di Prometheo e gli ideali della nuova scienza, in: Rivista di filosofia 46 (1955), 142ff. Weitere Literatur bei Buck. 76 Im inventio-Begriff treffen sich die zeitgenössischen Vorstellungen rhetorisch-poetischer wie wissenschaftlich-technischer Kreativität. Man denke an die von J. C. Scaliger gebrauchte Formel vom Dichter als »alter deus«. Sie gründen im neuplatonisch gedachten Konnex zwischen menschlicher und göttlicher Schaffenspotenz, exemplarisch gepriesen etwa in Campanellas Gedicht »Deila possanza de l'uomo«, in: Poesie, a cura di G. Gentile. Bari 1915 ( = Scrittori d'Italia), 170ff.; vgl. Klaus Conermann, der Poet und die Maschine, 1975, bes. 173f. Das Schaffensmodell der Naturwissenschaft hat auch noch (bzw. wieder) den Genie-Begriff des 18. Jahrhunderts mitgeprägt: vgl. B. Fabian: Der Naturwissenschaftler als Originalgenie, in: Europ. Aufklärung H. Dieckmann zum 60. Geburtstag, hg. v. H. Friedrich und F. Schalk. München 1967, 47ff. 168

bzw. A l c h e m i e , 7 7 die F o r t s c h r i t t e auf d e m S e k t o r der M a t h e m a t i k und G e o m e t r i e , d e r Musik und A r c h i t e k t u r . I m Hinweis auf das zeitgenössische Fortifikationswesen, in d e r E r w ä h n u n g v o n F o r t s c h r i t t e n in Hinsicht militärischer O r d n u n g und Disziplin fließt a u c h die Interessenperspektive der neuzeitlichen Politik mit ein: die F o r t s c h r i t t e in d e r zeitgenössischen Physik w a r e n ja in d e r T a t selbst bei Galilei nicht selten v o n militärischen Bedürfnissen und V e r w e n d u n g s i n t e r e s s e n angeregt.78

D e r zivilisatorische

Glanz der g r o ß e n

Städte -

genannt

werden

A m s t e r d a m , P r a g und B r e s l a u - wird sarkastisch gegen eine r o m a n t i s c h e G e r m a n e n v e r e h r u n g h e r a u s g e s t r i c h e n , ein mit B e w e i s n o t ringender Hinweis, da sich für d e n Z w e c k der R e d e , die W i d e r l e g u n g l ä h m e n d e r R e t r o s p e k t i v e , ein V e r g l e i c h mit d e r antiken Stadtkultur nicht a n b o t . N e b e n d e r A s t r o n o m i e rückt d e r zweite, traditionell diskutierte B e r e i c h neuzeitlicher E r k e n n t n i s e n t g r e n z u n g in den V o r d e r g r u n d : die E n t d e c k u n g e n des U n b e k a n n t e n jenseits der O z e a n e . D i e s e werd e n , wie häufiger in d e r gelehrten T r a k t a t l i t e r a t u r (und bei G . B r u n o ) , mit der antiken A r g o n a u t e n f a h r t verglichen. D a b e i ist d e r G e d a n k e d e r Ü b e r b i e t u n g impliziert: Wie hoch soll man selbst die Expedition der Argonauten einschätzen? In der Tat war Griechenland von j e her selbstherrlich, oft auch auf Kosten der Wahrheit. Dies ergibt sich in deutlichem Beweis im Blick auf (einerseits) die Flotte Jasons und (andererseits) die der Unseren, die des Columbus, Vespucci, Maghellan, Caboto, Drake und Candish. (Ü) 7 9 A s t r o n o m i e und E n t d e c k u n g s f a h r t e n kongruieren für D o r n a u nicht nur in der Möglichkeit, bisher B e h a u p t e t e s durch A u g e n s c h e i n zu widerlegen o d e r zu bewei-

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Zur Verbreitung, Bedeutung und gedanklichen Grundlage der alchemistischen Lit. in ihrer Blütezeit von ca. 1550-1650 vgl. Evans, 142ff., 199 u . ö . ; Thorndike: A History of Magic and Experimental Science, Vol. V I I , 1958, bes. 153ff.; J . W. Montgomery (1973), Bd. 1 , 1 - 2 3 u. passim; zum Gesamtkomplex der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften verweise ich (neben Boas) auf A . C. Crombie: Von Augustinus bis Galilei, neuerdings in einer Taschenbuchausgabe greifbar (1977). Zur Medizin und Chemie bei Dornau vgl. a . a . O . (ed. Schmiedtl), S. 279f. Vgl. Mittelstrass, Rettung der Phänomene, 228ff.; die Aktualität der Naturwissenschaften wurde im politischen Schrifttum des frühen 17. Jahrhunderts noch weniger vom ökonomischen Gesichtspunkt, sondern vom militärischen Nutzen her thematisiert: vgl. etwa (über »Fortificieren, Miniren, Artillerey« usw.) bei Gumpelzhaimer/Moscherosch, Gymnasma, 2. Aufl. 1652, Part. III, S. 7ff. Dornau a . a . O . , S. 291: »Ipsa expeditio Argonautica quanti est habenda? Fuit equidem sui semper ostentatrix Graecia; saepe quoque amplificatrix veri; quod sane in Jasonis Classe, & hac nostra Columbi, Vespuci, Magellani, Caboti, Draxi, Candiscili, sat illustri documento patet.« Auch G . Bruno verglich die Entdeckungsfahrten mit dem Zug der Argonauten: s. Aschermittwochsmahl, ed. Blumenberg, 72f. Bei Heinrich B o e d e r in Straßburg erschien eine Dissertation: Argo nova, seu Diss, de Navibus Heroicis & fatalibus juniorum temporum (1664). Besoldus in Tübingen fügte seinem 1623 in Straßburg erschienenen »Discursus politicus de incrementis imperiorum, eorumque amplitudine procuranda« eine »dissertatio singularis de Novo Orbe« an. Zur Bedeutung der Entdeckungsfahrten als Selbstbestätigung der »theoretischen Neugier« vgl. Blumenberg, Prozeß, 141 und 53. Zur Wirkung der Entdeckungen auf die Gedankenwelt der Spätrenaissance: Geoffroy Atkinson: Les Nouveaux Horizons de la Ren. Française. Paris 1935. 169

sen (gegen Laktanz und Augustin z . B . die These, daß es »antichthones« gebe), sondern vor allem in der Beglaubigung menschlicher Leistung: instrumentale Fertigkeit verbessert die organische Ausstattung des Menschen und macht eine Welt verfügbar, die - eine zentrale Erfahrung der Neuzeit - offensichtlich nicht mehr von vornherein in einem zugemessenen Erkenntnishorizont Grenzen und Zwecke menschlicher Einsicht definierte. Gerühmt werden die mechanischen Hilfsmittel: neben das Fernrohr treten der Kompaß, die nautischen Uhren. Es geht darum, im Hinweis auf die antike Unterlegenheit die Überschätzung des Erreichten abzubauen, um die Unterschätzung der eigenen Kräfte zu bekämpfen. D e r rückwärtsgewandte Zeitkritiker ist demnach hier nicht vom schwindenden Vertrauen in die Stabilität und Erhaltung des Kosmos Bedrohter, sondern - wie ähnlich bei Bacon und Bodin - derjenige, der der Mühsal des Fortschreitens träge ausweicht: So groß ist nun Nutzen und Handlichkeit der Künste, daß der Mann, der das Zeitalter anklagt, dem Zeitalter Unrecht tut, sich selbst aber der Trägheit und gähnender Ungeschicklichkeit anklagt. (Ü)80 Es geht dennoch primär nicht um den Nutzen der Instrumente, sondern um deren Dokumentationswert für die geistige Hoheit des Menschen. Deshalb wird auch das berühmte Horologium des Straßburger Münsters erwähnt. Schede Melissus und Nicodemus Frischlin hatten es bereits gepriesen: . . . Humanae o divina manus inventa. Quid usquam Aut Deus, aut Natura facit; quod pollice nostro Non imitemur opus, nos nostri gens aemula Patris? En quisquam has fabricatas satis admiretur, & ore Praedicet? antiquus si tale videret Aratus Structum opus: egregio quam conderet aethera versu? Si Proclo Sphaeram licuisset cerneret talem: Nonne putas ilium longe meliora fuisse Scripta relicturum, quae postera disceret aetas? .. ,81 (O göttliche Erfindungen der menschlichen Hand. Was mehr noch schaffen Gott oder Natur, was wir mit unserem Daumen nicht nachahmen, wir, ein Geschlecht, das mit seinem Vater wetteifert? Kann jemand diese Erzeugnisse genügend bewundern und im Worte preisen? Wenn solch ein Kunstwerk der alte Arat sähe: welchen Äther würde er dann in hervorragenden Versen besingen? Wenn Proclus solche Sphäre hätte sehen dürfen: Du glaubst doch, er hätte dann bei weitem bessere Schriften hinterlassen zur Belehrung der späteren Epoche?)

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Dornau a. a. O., S. 293: »Tanta nunc est artium utilitas & facilitas: ut qui seculum incuset; seculo injuriam faciat; se ipsum accuset, ignaviae & inertis oscitantiae.« Bacon wendet sich gegen die »Sorglosigkeit und Trägheit« (»socordia et inertia«) der Menschen, die sich die Selbstüberhebung des Aristoteles zur angenehmen Autorität werden ließen, um sich die Mühsal weiterer Untersuchungen zu ersparen: »Novum Organum, Praefatio«, vgl. Blumenberg, Prozeß, 193. N. Frischlin: Liber UNUS De Astronomico Horologio Artentoratensi, in: Operum Poeticorum ( . . . ) Pars Epica (...), ed. M. G. Pflueger. Straßburg 1598, S. 39-82, das Zitat S.42; vgl. Schede Melissus, 1625, S. 643f.: »Apollo Telo Armatus, Ad spectatores Machinae Astronomicae; In Templo Argentinensi.«

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Frischlins Hymnus auf den Straßburger »globus colestis« kombiniert den Gedanken der Naturnachahmung mit dem Dogma von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die Perspektive des »plus ultra«, des Durchbruchs durch die naturhaft, d.h. aber teleologisch gesetzten Beschränkungen wird trotz aller neuplatonischen Töne nicht eröffnet. Die nachfolgenden - hier nicht zitierten - Verse referieren denn auch sogleich die Erlösungstat Christi, um die Heilsbedürftigkeit des Menschen zum Kontrapost seiner intelligiblen Würde zu machen. Bei Dornau bleibt dieser theologische Rückbezug ausgespart. Er ist fasziniert von den »insignia automata«, den »novae machinae«, den artifiziellen Kuriositäten der manieristischen Epoche, an denen die Kunst und Raritätenkammern der Zeit so reich waren. 82 Wenn dabei auch eine von Kaiser Rudolph selbst ersonnene mechanische Landkarte erwähnt wird, offenbart sich deutlich die geistige Herkunft des Redners: die faustisch-naturphilosophische, vom Hermetismus der Spätrenaissance beeinflußte Atmosphäre des Prager Hofes. 8 3 Die Welt der admirabilia und technischen Spielereien, in denen noch ungelenkt von Verwertungsin82

Vgl. J. v. Schlosser: Die Kunst und Wunderkammern der Spätrenaissance. 1908; J. U. Fechner: Die Einheit von Bibliothek und Kunstkammer im 17. und 18. Jahrhundert, in: P. Raabe (Hg.) Öffentliche und private Bibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Bremen/Wolfenbüttel 1977, 11-31; Klaniczay, 1977, 103ff. 83 Zu Rudolphs mechanischer Landkarte s. Dornau a.a.O., S. 294; zum Gesamtkomplex der Uhren, Maschinen und technischen Raritäten S. 291-296. Dornau scheint nicht nur hier Guido Pancirollis »Rerum Memorabilium Libri Duo« zu benützen, lat. in zwei Bänden Amberg 1607/1608; das Werk ist ein Nachfahre der zuerst 1499 erschienenen, immer wieder aufgelegten Kulturenzyklopädie des Polydorus Vergilius: De Inventoribus Rerum Libri tres. Darüber hinaus erschienen zahlreiche ähnliche Werke wie Ramelli: Diverse et Artificiose Machine« (Paris 1588) oder Veranzio: »Machinae Novae« (ca. 1616). Diese wurden gerade in Prag viel gelesen und prägten den Geist manieristischer Ingeniosität: vgl. ausführlich Evans 186ff. (dort auch zu der Faszination durch die Uhren); Hocke, Manierismus I, 120ff.; 81ff. Thorndike, History, Vol. V. cap. XXVII; Boas, 231; in Rostock erschien 1604 das Werk eines gewissen D. Magnus Pegelius: Thesaurus Rerum Selectarum, Magnarum, Dignarum, Utilium, Suavium, Pro generis humani salute oblatus. Das Werk ist Kaiser Rudolph und allen Ständen gewidmet: der Verfasser (1547 bis nach 1612), vorübergehend Prof. der Mathematik in Helmstedt und Rostock, verspricht u.a. die Kunst, Luftschiffe und Unterseeboote zu bauen, das Schießgewehr zu bessern, in der Nacht zu sehen, Schiffbrücken zu machen, die Kunst, sehr vieles zu gleicher Zeit zu schreiben und das Geheimnis der Gedächtniskunst (Mnemonik). Bezeichnend für den umfassenden Impuls solcher Aspirationen ist die Tatsache, daß Pegelius - als Vorläufer der anderen zeitgenössischen Reformpädagogen auch die Reform der Schulen, der Universitäten und der Philosophie ins Auge faßt. Auch hier spielt die Abkehr vom Latein - nach dem Vorbild der Italiener - eine besondere Rolle. Pegelius geht es nicht wie in der Dichtungstheorie der Zeit um die Herausbildung einer deutschsprachigen Kunstliteratur, sondern um die Partizipation der »illiteraten« Bürger, die sich gleichwohl durch »ingenium, judicium« und »prudentia« auszeichnen. Dementsprechend die Grundthese des »Realismus«: »Res a verbis propter res usurpatis distinguendae. »Und der Maßstab der Sprachbewertung: »Et ea lingua inter linguas praeferenda, quae brevius & significantius Res désignât & sic finem suum rectius assequitur...« (S. 87v.) Zur Person vgl. J . B . Krey: Andencken an die Rostockschen Gelehrten aus den drei letzten Jahrhunderten. 4. Stück. Rostock 1814, S. 45-48; Krause, ADB XXV, 315-18.

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teressen sowohl das Geheimnis der Natur wie die Potenz des schöpferischen Menschen in gegenseitigem Bezug zutage trat, hat neben Dornau auch andere literarisch bekannte Persönlichkeiten beeindruckt: D i e Sammlungen und Schriften eines Rist und Andreä etwa legen nicht nur davon Zeugnis ab, sondern von der Emanzipation aus der Beschränkung eines nur literarisch-ästhetischen Humanismus schlechthin. 84 Auch bei Dornau wird - wenn auch vorsichtig - der Verdacht des Banausischen entkräftet, durch den die mechanischen Künste diskriminiert waren. 85 Dabei zeigt sich im weiteren Zusammenhang, daß der Mythos vom Menschen als »alter deus«, der noch bei den Nürnbergern das Lob technischer Leistungen bestimmt, 8 6 bei Dornau durchaus kombiniert ist mit der Einsicht in die Zusammenhänge von technischer Innovation und wirtschaftlicher Produktivität und Prosperität. Wenn er den hohen Stand der schlesischen Prozellan- und Glasfabrikation, auch die moderne Papierherstellung erwähnt, außerdem die schlesische Leinenweberei preist, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts einen großen Aufschwung genommen hatte, treten Denkansätze in den Vordergrund, die erwerbsbürgerliche Interessen ebenso wie frühmerkantilistische Einsichten dokumentieren: Sollen wir aber nach dem Batist, der feinsten Art des Leintuchs, so ängstlich suchen? Denn, um von anderen Gegenden zu schweigen, ist doch in der Tat unser Schlesien das 84

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Zu Rist vgl. Jerricke 54ff. sowie Hansen, Rist, S. 156ff.; massive Plädoyers gegen den kulturellen Monopolanspruch des literarischen Humanismus vor allem bei Andreä: bei ihm vereinigen sich eine christozentrische Theologie mit einer letztlich gnostisch legitimierten Neigung zur mechanischen und mathematischen Naturerkenntnis, die in der Parallelführung von wissenschaftlicher und religiöser Fragestellung die Reformideen des Rosenkreuzertums, als deren Propagator Andreä bekanntlich galt, charakterisieren; vgl. in diesem Sinne vor allem schon die Frühschrift »Mora philologica«, dann die ironischen bis beißenden Ausfälle im »Menippus« bis hin zur utopischen Ordnung der »Christianopolis«. Freilich bleibt, gerade weil Andreä das Phänomen der menschlichen »curiositas« selbst erfahren und in seinen eigenen Denkansätzen beständig reflektiert hat, die Skepsis gegen die Art von Wißbegierde besonders wach, welche sich aus den pansophischen und theozentrischen Rahmenbedingungen zu lösen droht: in diesem Sinne die Selbstabrechnung des »Turbo«, in dem zugleich der manierist.-frühbarocke Modernismus und seine faustische Hochschätzung des menschlichen ingeniums überhaupt ihre eigenen Ängste freigeben, die And. schließlich zur christlichen Weltüberwindung und Nachfolge Christi freilich in einer für ihn unverzichtbaren christlichen Gemeinschaftsordnung - treiben; vgl. zu Andreä die Monographie von Hoßbach sowie das stupende Werk von J. W. Montgomery (1973, mit umfassender Biographie), die Aufsätze von Joachimsen und Scholtz, die deutsche Neuausgabe der »Christianopolis« (RUB 9786) sowie zum Autobiographischen sein Lebensbericht, lat. ed. F. H. Rheinwald 1849, deutsch in der einzigen Übersetzung von Seybold (Winterthur 1799). Dornau a . a . O . , S. 289: »Video me in tanta rerum copia eo abripi: ut ad ipsas prope officinas mechanicorum delatus fuerim: non eas quidem, in quibus aliquid sorditiei aut servile insit: sed quae hominem etiam ingenuum dedeceant minime«; vgl. die Wendung gegen die Verachtung der mechanischen Künste (herausgehoben: Spiegelfabrikation) bei Gumpelzhaimer/Moscherosch, Gymnasma, S. 397ff. (»de artibus mechanicis«). Vgl. Conermann (1975): Zu den Mühlengedichten im »Pegnesischen Schäfergedicht« von Harsdörffer, Klaj.

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blühendste. Es liefert keine unedlere Tuchart als das (antike) >carbasumAltenGemischten Lesarten< im Stil ziemlich geändert habe, sei dies nun auf das Alter zurückzuführen oder auf meinen augenblickli60

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Jacobus Pontanus S. J.: Progymnasmatum Latinitatis, sive Dialogorum Vol. Primum..., 9. Aufl. Ingolstadt 1602, Vol. Secundum, 9. Aufl., Ingolstadt 1606. Das Zitat am Ende der Praefatio des Vol. Primum (unpag.): »Verborum tarn sollicitus esse non potui, nec debui, ut quaedam parum quidem latina, verumtamen contritißima, & ad rem eandem toties notandam commoda retinerem. (...) Itam Ecclesiastica nonnulla, ut communio, ieiunium, rosarium, benedictiones, confeßiones, campana & similia. Nam semper haec mutare, incommodum valdeque putidum esset. Nec pauca verba minus Romana, nec a Tulliano myrothecio prompta, nec illius seculi, quod perfectissimum & aureum vocant, totam orationem deformabunt, sin alioqui splendida, illustris & artificio quodam distincta fuerit. Conformanda est ad Ciceronis exemplar quantum fieri potest nostra oratio, tarnen cum iudicio & delectu, non ex Caesare tantum, & antiquis illis, quin etiam ex recentioribus Plinio, Tacito, Suetonio, Quintiliano, Seneca, bellissimum quodque, & quod maxime videbitur exceluisse, depromendum est.« Opera omnia Bd. I, S. 141ff.: erste Auflage erschien 1577.

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chen Geschmack (»iudicium«). Ich glaube nämlich, daß lehrhafte Schriften dieser Art jene zerflossene, süßliche und rhythmische Redeweise, wie sie aus Cicero fließt, nicht zulassen. Sie verlangen vielmehr eine kurze, scharfsinnige und mit antiquarisch-gelehrten Bemerkungen versetzte Redeweise, wie wir sie entweder aus Ciceros Briefen an Atticus oder aus den alten Komödien schöpfen. Aufs höchste habe ich mir Mühe gegeben, lieber von wenigen, wie Atticus sagt, gebilligt zu werden als von vielen. (Ü)62 Das hier angesprochene stilistische Beurteilungsvermögen, iudicium, regelt traditionell im Sinne eines äußeren und inneren Aptum die Anpassung der Sprache an die Sache, die Textgattung, die Wirkungsabsichten und die Adressaten unter Berücksichtigung der Umstände von Zeit, Ort etc. 63 Lipsius beruft sich hierauf, wenn er nur noch den Briefschreiber Cicero als »attisch« bezeichnet. Mit dem Begriff »attisch«, der, wie gesagt, schon in seiner Brieflehre eine wichtige Rolle spielte, greift Lipsius auf ein schon in den antiken Auseinandersetzungen entwikkeltes und beispielhaft von Cicero und Quintilian formuliertes stilkritisches Bewertungsschema zurück. 64 Im antiken Streit zwischen Asianismus und Attizismus ging es um das angemessene Verhältnis des sprachlichen Aufwandes zur besprochenen Sache, also um den Modus zwischen res und verba. Der Attizismus war der erste Anticiceronianismus, während die Anhänger Ciceros ihren Autor immer wie er sich selbst zwischen den Extremen ansiedelten. Der Rückgriff auf diese antike Debatte bedeutete eine argumentative Verknüpfung der Nachahmungsproblematik, der Frage nach den Grenzen und der Gültigkeit des Kanons, mit dem Problem der Bewertung stilistischer Extreme und der grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen »alten« und »neuen« Autoren und Tendenzen. 6 5 62

Ibid. Lib. III, Epist. XVI, S. 181: »Habes Antiquas meas, Valeri, & de stilo mutasse me nonnihil a primis illis Variarum libris videbis. Sive aetas hoc facit, sive nunc iudicium meum. qui puto eiusmodi didaktika [i.O. griechisch] scripta diffusum illud, suave numerosum orationis genus, quale a Cicerone manat, non admittere. breve potius desiderant, acutum, mixtum doctrinae antiquae notis, quale aut e Ciceronis ad Atticum, aut e Comoediis antiquis haurimus. Ad summum dedi operam, ut, quod ait Atticus »Paucis probatus potius, quam multis forem«. 63 Ich verzichte auf die Darlegung der Decorum-Lehre und der Rolle des »iudicium« darin, da die bisherige Forschung erschöpfend unterrichtet: vgl. Fischer, Gebundene Rede: S. 106ff. (zur antiken Stillehre), S. 132ff., bzw. 147ff. (zu Humanismus und Barock), S. 184-252 (zur Lehre vom »Angemessenen«); ferner Dyck, Ticht-Kunst, S.66ff.; S. 118f. zum Verhältnis iudicium-decorum-ingenium; Sinemus, 1978, 53ff. und Lange, Aemulatio, S. 22-28 (»Der Formalismus des rhetorischen Wertungssystems«, dort vor allem zu Dyck und H. Friedrich: das formale Decorum-Schema gibt kein materiales Kriterium für den Manierismus; der Manierist hat »einfach ein anderes Decorum als der Klassizist... Der Manierist hat auf Grund seiner ethischen Vorentscheidung ganz andere Vorstellungen davon, was als angemessen gelten darf, als sie gegenüber dem dem Schmuckbedürfnis und der Wirkungsästhetik weniger grossherzigen Klassizisten vergönnt sind.« Was Lange »ethische Vorentscheidungen« nennt, wäre besser als Reaktion auf politisch-gesellschaftliche Anpassungszwänge zu erklären. 64 Die antiken Stellen sind aufgeführt bei Lange, Aemulatio, S. 171, Anm. 23. 65 Zur antiken Auseinandersetzung: Norden, Antike Kunstprosa, bes. I 126ff.; 251-99; 355-91; U. v. Wilamowitz-Moellendorff: Asianismus und Attizismus, in: Hermes 35 (1900), 1-52; A. Desmouliez: Sur la polémique de Cicéron et des Atticistes, Rev. Et. Lat. 212

In d e n klassizistisch ausgerichteten H u m a n i s t e n p o e t i k e n d e s 16. Jahrhunderts b e d e u t e t e »attisch« die B e w a h r u n g e i n e s natürlichen und vernünftigen M a ß e s g e g e n ü b e r der » K a k o z e l i e « , also d e m affektierten Sprechen seitens der A s i a n e r u n d kaiserzeitlichen D e k l a m a t o r e n einerseits u n d den Archaisten, Attizisten und d e n A n h ä n g e r n e i n e s k n a p p e n L a k o n i s m u s andererseits. 6 6 D a s »atticum g e n u s dicendi« b e z e i c h n e t e e i n e A u s d r u c k s w e i s e , die s o w o h l den Forderungen nach p u n t a s u n d perspicuitas in Wortwahl u n d Satzbau entsprach w i e auch die rhythmischen u n d figuralen, darunter auch die tropischen F o r m e n des ornatus in rechtem M a ß e a n w a n d t e . D i e darin e n t h a l t e n e Modusregel galt grundsätzlich für alle Stilhöhen, d e r e n V e r w e n d u n g durch das N e t z der D e c o r u m s v o r s c h r i f t e n geregelt war. D i e s e s Verständnis findet sich in d e n stiltheoretischen T e i l e n der Rhetorik bis ins 17. Jahrhundert, w i e H a n s - J o a c h i m L a n g e n a c h g e w i e s e n hat. 6 7 N e b e n Strebaeus, D r e s s e r , V o s s i u s und Causinus verweist er auch auf die e n t s p r e c h e n d e Formulierung bei J. H . A i s t e d : Zwischen diesen beiden extremen Spielarten, dem Asianismus und Lakonismus, bildet die attische Stilart die Mitte, welche sehr dazu geeignet ist, eine schlagfertige Beredsamkeit und Sprachfähigkeit in uns auszubilden. Denn wie der Asianismus die Gedanken allzuweit zerstreut und den Geist gewissermaßen erschlaffen macht, so daß er mehr auf die Wörter als auf die Sachen sinnt, so preßt der Lakonismus den Gedanken allzusehr zusammen, so daß unser Geist - gedrängt von einem eifernden Bemühen um die Sachen weniger auf die Wörter sinnt, als es die Schlagfertigkeit (Gefälligkeit) des Redens verlangte. Aber der Attizismus ist die Mitte haltende Begabung und deshalb sehr geeignet zum Belehren und allen angenehm. Denn wie in der Natur, so ist auch in der Kunst das Maßhalten die angenehmste und nützlichste Sache. (Ü) 68

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30 (1952), 68-185; A. Diehle: Analogie und Attizismus, in: Hermes 85 (1957), 170-205. Entartung des Stils als Zeichen der Dekadenz wurde nicht nur von Tacitus und Quintilian diskutiert: vgl. K. H . O. Schönberger: Die Klagen über den Verfall der römischen Beredsamkeit im 1. Jahrhundert nach Christus. Ein Beitrag zum Problem des Dekadenz. Diss. Würzburg 1951. Hervorragendes Hilfsmittel zum Eindringen in die antike Diskussion und Terminologie mit umfassenden Indices und einer reichen Bibliographie ist die Aussage des Ciceronischen »Brutus«, erklärt von Otto Jahn und Wilhelm Kroll, 7. Auflage, überarbeitet von Bernhard Kytzler. Zürich/Berlin 1964. B. Kytzler (»Manierismus« in der klassischen Antike, in: Colloqouia Germanica 1, 1967, 2-25) hat sich mit Recht u. a. gegen Hockes typologische Identifizierung der Klassik und des Attizismus, bzw. des Asianismus und des Manierismus gewandt und auf die Problematik der Übertragung antiker Stilschemata hingewiesen. Grundlegende Definition der Kakozelie bei Quintilian (jetzt in der zweisprachigen Ausgabe von Helmut Rahn, Darmstadt 1975): VIII 3, 56. Vgl. die Materialien bei Lausberg, Handbuch § 1071ff. Zum Asianismus und Attizismus in der humanistischen Literaturtheorie s. H . J. Lange, Aemulatio, S. 63ff. Lange ibid. S. 65-66. J. H. Aisted: Scientiarum Omnium Encyklopaedia Universa in IV tomos distributa. Lugduni 1649 (zuerst 1630), Bd. I, S. 489a: »Inter haec duo extrema dicendi genera, Asiatismus et Laconismus, medium est Atticum genus, quo valde est accommodatum ad promptam quandam eloquentiam et facundiam in nobis formandam. Nam ut Asiatismus nimis diffundit cogitationes, et mentem quodam modo laxat, ut magis cogitet de verbis quam de rebus: ita Laconismus cogitationem nimis constringit, ita ut mens nostra soUicitudine quadam rerum compressa, minus cogitet de verbis quam promptidudo 213

Wie sich aus der Rezeption dieses Schemas etwa auch in Georg Neumarks »Poetische Tafel(n)« (1667, S. 313) ergibt, berührt das attisch-attizistische Modustheorem nicht die überlieferte Stiltrias und die Decorumsvorschriften, sondern besteht grundsätzlich auf der Verständlichkeit, Sachbezogenheit und »Natürlichkeit« der Diktion. Zwar wurde der Asianismus als spezifische Gefahr des »genus grande«, der Lakonismus als diejenige des »genus humile« bewertet, konnte dementsprechend der Stilcharakter des Attischen sekundär mit dem »genus medium« identifiziert werden, doch implizierte das Attizismus-AsianismusModell die grundsätzliche Forderung der Angemessenheit von Gegenstand und sprachlichem Aufwand auf allen Ebenen des Stils im Gegensatz zu »Dunkelheit« und »Schwulst« als den entsprechenden manieristischen Extremformen. Wenn Lipsius in dem oben angezogenen Beleg den »attischen« Stil seiner philologischen Essays verteidigt, bewegt er sich damit zunächst noch auf unverdächtigem Terrain, betont er doch ausdrücklich den didaktischen Charakter dieser Schriften. Neu allerdings ist, daß nur noch der Briefschreiber Cicero als »attisch« bezeichnet wird, Ciceros praktische Oratorie mit Attributen qualifiziert wird, die bisher dem asianischen Stil zukamen. Lipsius hat dies selbst zugegeben: Seit alters liebe ich Cicero, habe ihn auch nachgeahmt. Nun als Mann steht mir der Sinn anders. Die asianischen Happen sind nicht nach meinem Geschmack. (Ü) 69

Hier werden also hinter den traditionellen Begriffen entscheidende wertungstypologische Verschiebungen vorgenommen. Cicero, der Klassiker der humanistischen Redekunst, das Muster und Idealbild der Goldenen Zeit, wird einem stilistischen Extrem zugeordnet, dem Asianismus; das macht den an der Klassizität Ciceros orientierten Kanon und die entsprechenden Beurteilungsmaßstäbe hinfällig. Ob und in welchen Schriften Cicero wirklich asianisch ist oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle und war ja auch in der antiken Debatte umstritten. Für Lipsius kommt es nur darauf an, einen Freiraum für die von ihm bevorzugte Stilrichtung des Attizismus, also eine durch »Kürze« bestimmte Sprechweise zu gewinnen. Damit ist das Problem über die Frage der Wortwahl und der stilistischen und dispositorischen Lizenzen niedriger Textgattungen (Essay und Brief) ins Grundsätzliche transponiert: Lipsius hat im Vergleich zu Ciceronianismus und Klassizismus ein »neues« Stilideal im Auge, das er gegen die »Schule« hartnäckig verteidigt. Lipsius hat in einer Rede vermerkt, daß stilistische Vorlieben mit den Schriften und Autoren zusammenhängen, mit denen man sich beschäftigt. 70 Die Aufwer-

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loquendi requirebat. Sed Attizismus [hier also im Sinne des musterhaft »attischen« gebraucht] est media indoles, ac proinde valde accomodatus est ad docendum omnibus gratus. Nam ut in Natura, sic quoque in arte temperamentum est res gratissima et utilissima.« Brief vom April 1586 an P. Villerius, in: Op. omnia Bd. II, S. 75a (Epist. Cent. II, Nr. X): »Ciceronem amo olim, etiam imitatus sum: alius mihi sensus nunc viro. Asianae dapes non ad meum gustum.« Orationes octo, ed. H. Kromayer. Jena 1726 (Reden aus Lipsius' Frühzeit, in denen er noch in Ciceros Spuren wandelte), S. 101.

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tung der kaiserzeitlichen Autoren gegenüber Cicero war in der Tat ein Ergebnis des »politischen« Humanismus, in dessen Mittelpunkt die Geschichtsschreiber, vor allem Tacitus sowie Seneca als Gewährsmann des Neostoizismus, standen. Bereits im Vorwort seiner »Politik« nimmt Lipsius auch zu Stilfragen Stellung: die Auflösung des diskursiven Zusammenhangs der zitierten Schriften, die Isolierung von Einzelsentenzen ergebe sich als sinnvoll im Hinblick auf den praktischen Verwendungszweck des Werks und den herausgehobenen Kreis der Adressaten. 71 Weder Problemdiskussion (»disputationes«) noch ästhetische Ergötzung (»amoenitates«) seien angestrebt, sondern eine auf Wirkung bedachte Konzentration auf den Sachgehalt der Aussagen, auf deren Verwendung in »usus« und »actio«. Die Sentenz als Form stilistischer Kürze diene der Intention, den Leser wie ein Schwert oder Geschoß zu durchdringen. 72 Kürze entspreche dem »Gewicht an Autorität« und dem Charakter von Belehrungen, die wie das Gesetz nicht »disputieren«, sondern befehlen. 73 Vorwürfe gegen die »Dunkelheit« der Sentenzen werden nicht zuletzt im Hinweis auf den Stilcharakter der zitierten »klugen« Autoren zurückgewiesen. 74 Die Historiker Sallust und Tacitus wie auch Seneca werden in stilistischer Hinsicht deshalb empfohlen, weil sie im Gegensatz zu rhetorisch-formalem »Luxus« eine »männliche« Diktion repräsentieren, in welcher der Sachgehalt von Aussagen prägnant, direkt und in einer den Scharfsinn des Lesers aktivierenden Weise vermittelt wird. Er soll lesen, schauen, und Blüten aus der ganzen Wiese zu diesem Kranz der Eloquenz pflücken. Aber besonders möchte ich raten, Sallust, Seneca, Tacitus und die Gruppe der kurzen und subtilen Autoren zu lesen, durch deren scharfe Sichel jener Luxus gewisser-

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Politicorum Libri Sex, Frankfurt 1590, S. 9-19 (»Ad Lectorem«). Ibid. S. 10/11: »Nam inopinatum quoddam stili genus instituimus; in quo vere poßim dicere omnia nostra esse, & nihil. (...) Nec hue ambitio nos aut novitatis ventus impulit (ingenue id testor) sed tuus fructus. Quid utilius potui, quam tot Sententias in unum conducere; pulchras, acres, & ita me Salus amet, ad salutem natas generi humani? Nam quod ego eadem dicerem: ecquando mihi eadem vis, aut fides? Ut in uno aliquo telo aut gladio multum interest, a qua manu veniat: sic in sententia, ut penetret, valde facit robustae alicuius & receptae. Auctoritatis pondus.« - Zum Adressaten ibid. S. 17: »Ut nemo temere me arbitretur aut iudicet, nisi sermonis bene peritus. (...) Ut nemo, nisi qui rerum etiam peritus. Non tu aliquis e plebe; non tu etiam liberalior mea iuventus. Nam etsi capere haec potestis non potestis iudicare.« In diesem Zusammenhang die Empfehlung zu wiederholtem Lesen (S. 14) oder zur Beherzigung des Satzes (S. 15): »Quae intellexi, proba sunt; credo, & quae non intellexi.« 73 Ibid. S. 12: »Atque haec omnia, pro rerum magnitudine breviter praestiti. Nec. enim ad disputationes aut amoenitates me diffudi; sed preßis habenis currum hunc, ut sic dicam, continui intra órbitas Usus & Actionis. Ea mihi in oculis. ideoque nec ad tenuium rerum monitiunculas abii, contentus Communia quaedam praecepta dedisse, & velut decreta. Nam l e g e m b r e v e m e s s e o p o r t e t , ait Romanus nosterSapiens, q u a e i u b e a t , n o n d i s p u t e t . atque hoc servavi.« 74 Ibid. S. 14: »Ac primum, nisi fallor, Calumniae telum erit in Obscuritatem huius scripti. Tenebrosum est, inquient, nec omnia in eo liquent. Credo, sed quae mea hic culpa? scriptorum illa est, a quibus hausi; quorum, nescio quomodo, ut quisque prudentißimus, ita astrictißimus est, & pauci sermonis.« 72

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maßen ein wenig beschnitten wird; die Rede soll prägnant, heroisch und wahrhaft männlich werden. (Ü) 75 Wenn Lipsius im Vorspann seiner Senecaausgabe (1605) den Stil des römischen Philosophen charakterisiert, ihn gleichzeitig in seiner »Manuductio ad Stoicam philosophiam« (1604) beinahe hymnisch preist, ergibt sich ein Tableau von Stilqualitäten, die eindeutig den Vorrang der Sachen = Gedanken und der »Effizienz« der Sprache vor den Gesetzen der ästhetischen Harmonie und der eleganten Konzinnität betont. Im Streit zwischen »Verbalismus« und »Realismus« schlägt sich Lipsius auf die Seite eines »energetischen« Stilbegriffs, in dem der Kunstcharakter der Diktion sich kalkulierter Wirkungsabsicht verpflichtet: Der sprachliche Einsatz hat einen Höchstgehalt von »sachlicher« Aussage zu vermitteln. Ausgewählte, eigentliche, bedeutsame Wörter: ja welche, die immer etwas mehr sagen, als sie sagen. Darin scheint gewissermaßen seine (d. h. Senecas - W. K.) charakteristische Begabung zu liegen, daß bei sparsamer Verwendung von Wörtern dennoch eine wunderbare Energie und Wirksamkeit vorhanden ist: in der Kürze, in Klarheit und Glanz. Es gibt Anspielungen, Bilder, Sprachfiguren, häufig und beinahe unaufhörlich. Diese erfreuen gleichzeitig und belehren. Sie weisen uns auf die Sache und zugleich über die Sache hinaus. Das ist Sorgfalt, keine Affektiertheit, Zierlichkeit, nicht Aufputz, ausgearbeitete, nicht gedrechselte Rede. ( . . . ) Sogar in der Kürze selbst und in der gedrängten Sprechweise erscheint eine gelungene Fülle. Er läßt die Worte fließen, aber gießt sie nicht aus; er fließt, aber läßt sich nicht hinreißen. ( . . . ) Schließlich, wie fruchtbare Bäume, deren besondere Gabe darin liegt, Frucht zu tragen, trotzdem Blüten und Blätter zu haben, so gewährt uns dieser, den wir um der Frucht willen lesen und verehren, gleichzeitig Vergnügen und (somit) Venus und Minerva zugleich. (Ü)76 Seneca wird zum Beispiel stilistischer Selbstdisziplin, bei dem die elokutionellen Schmuckmittel insgesamt in den Dienst bedachter und konzentrierter gedanklicher Aussagen gestellt sind. Bis in semantische Äquivalenzen hinein zeigt sich in der Katalogisierung solcher Stilqualitäten der Bezug zum Rationalismus der stoischen Anthropologie, die ja zugleich die affektgetriebene Verfassung des

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Epistolica Institutio, in: Op. omnia Bd. II, S. 531ff.; das Zitat c. XI, S. 539a: »Legat, videat, et flores ex omni prato carpat ad Eloquentiae hanc corollam. Sed imprimis suadeam Sallustium, Senecam, Tacitum, et id genus brevium subtiliumque scriptonim iam legi, quorum acuta quasi falce luxuries illa paulisper recidatur; fiat oratio stricta, fortis, et vere virilis.« Opera omnia, Bd. IV, S. 454 a/b: »Verba, selecta, propria, significantia: imo quae plus aliquid semper dicunt, quam dicunt. Qui proprius quidam eius Genius videtur, ut in parsimonia verborum mira energeia (i. O. griechisch - W. K.) atque efficacia sit; in brevitate, claritas et splendor. Sunt allusiones, imagines, translationes, crebrae et paene continuae: qua delectant simul et docent; et in rem animum, atque extra rem mittunt. Est cura, non affectatio; decor, non comptus; tractata oratio, non torta. [...] Iam in ipsa brevitate, et stricto dicendi genere, apparet beata quaedam copia. Fundit verba, etsi non effundit; fluit, non rapitur [...] Denique, ut felices arbores, quarum praecipua dos est fructum ferre, flores et folia tarnen habent: sic iste, quem fructus causa legimus et colimus, oblectationem adfert pariter, et Venerem cum Minerva iungit.«

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Menschen bejahte. Indem in den Augen von Lipsius Senecas Stil zugleich gedanklichen Scharfsinn und elokutionelle Kunst voraussetzt bzw. aktiviert und in idealer Weise Sachbezogenheit und Wirksamkeit vereinigt, spricht er zugleich Intellekt und Affekt an. Dies aber so, daß die affektbewegenden Momente des Stils genau auf den Gehalt zugeschnitten sind, ja ihn derart »scharfsinnig« vermitteln, daß dem Leser bzw. Hörer die Entschlüsselung der Sprache zur Aufgabe des Denkens und Quell eines eigenen »Vergnügens« wird. Lipsius nimmt seinen Autor gegen den Vorwurf der »Kakozelie« in Schutz (»cura, non affectatio«) und widerruft die entsprechende Verurteilung von Seiten Quintilians (Inst. or. X, 1, 125-131), aber auch die kritische Bewertung durch Erasmus. Dieser hatte zwar den Ethiker Seneca geschätzt, freilich den Stoiker im Widerspruch zu zentralen Vorstellungen des Christentums gesehen, Senecas Stil aber verurteilt. Erasmus meinte, Seneca habe sich allzu wahllos rhetorischer und theatralischer Effekte bedient: So oft er auf bedeutende Materien zu sprechen kommt, ( . . . ) scheint er seine Sprachmächtigkeit und eine erhabene Diktion repräsentieren zu wollen und irgendwie etwas Tragisches an sich zu haben. Wahrscheinlich ist ihm ein Großteil dieser Fehler aus der Schule der Deklamatoren hängengeblieben, in der er beinahe sein ganzes Leben verbrachte. (Ü) 77

Statt der »declamatoria quaedam affectatio« wünscht sich Erasmus »simplex illud et naturale«. Seneca habe nicht danach gestrebt, zu sagen, »quae essent optima, sed quae placèrent maxime«. Karl Alfred Blüher hat recht, wenn er in diesem Wandel der stilistischen Einschätzung letztlich gespiegelt sieht den »Übergang von dem nach innen gerichteten Ideal schlichter Menschlichkeit des erasmischen Humanismus zu dem nach außen gekehrten Menschentum des in die Barockzeit überleitenden Späthumanismus, das in pathetischer Überhöhung und Ostentation seinen Ausdruck findet«.78 Was Lipsius - und auch Muret 79 - an Seneca und den kaiserzeitlichen Autoren zu schätzen wußten, war eine Sprache, die nicht mehr im ästhetischen Wohllaut genossen werden 80 oder wie bei den Ciceronianern die Zugehörigkeit zu einer Klasse der Gelehrtenrepublik dokumentieren sollte, sondern die einen höchsten 77

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Die folgenden Zitate aus dem Brief an Peter Tomiczki, Bischof von Krakau und Kanzler von Polen, gleichzeitig Vorrede zur (zweiten) Seneca-Ausgabe des Erasmus. (Basel 1529). Der Brief ist abgedruckt bei Allen, Opus epistolarum Des. Erasmi R., t. VIII, p. 25-39 (Nr. 2091). Vgl. dazu K. A. Blüher, Seneca in Spanien, S. 183ff.; W. Trillitzsch: Erasmus und Seneca, in: Philologus 109 (1965), 270-93; vgl. auch das satirische Porträt des stoischen Weisen in der »Laus stultitiae«, ed. Welzig, Bd. II, S. 54ff. S. 64 (Seneca als »Oberstoiker«); der Text: »Itaque quoties in grandes materias incidit, [ . . . ] videtur ostentare grandiloquentiam suam, et nescio quid tragicum spirare. Horum vitiorum bonam partem probabile est illi ex palaestra declamatoria haesisse, in qua pene detrivit aetatem«. K. A. Blüher, Seneca in Spanien, S. 314. Vgl. Blüher ibid. S. 311f. Petrarca fesselte an Cicero die »verborum dulcedo et sonoritas«: s. Zielinski, Cicero, S. 138; W. Rüegg, Cicero und der Humanismus, S. 28ff.

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Grad von Referenz mit einem höchsten Grad von vorwiegend intellektuellem Reiz vereinigte und das »ingenium« des Sprechers, seine geistige Auffassungsgabe, in der Formulierung selbst zu bezeugen in der Lage war. In diesem Sinne hat der Stil Senecas über Lipsius und die Lipsianer auf die spanischen Concettisten (Quevedo, Gracian) gewirkt und auch sonst in Europa Resonanz gefunden.81 Der Stilist Seneca tritt neben den Philosophen und Dramatiker, wobei es wenig von Belang war, was Seneca selbst zu stilistischen Dingen gesagt hat.82 Daß Lipsius es wagte, sich über die Geschraubtheiten des Apuleius hinwegzusetzen, hängt mit der Vorliebe für Archaismen und seltenes Wortmaterial zusammen: in diesem Interesse fallen das Bedürfnis nach Ausweitung des Wortschatzes, nach Erweiterung des Sagbaren zusammen mit der erwünschten Möglichkeit, erlesene Gelehrsamkeit und außergewöhnliche, ja provokante, jedenfalls »unpedantische« Freiheiten zur Schau zu stellen.83 Die politisch bedingte Veränderung der rhetorischen Praxis, die Anpassung des Gelehrten an die Repräsentationsbedürfnisse der adeligen und fürstlichen Adressaten - Voraussetzung seiner Qualifikation außerhalb der »Gelehrtenrepublik« ebenso wie die Chance, die eigene Unentbehrlichkeit unter Beweis zu stellen - zeigt sich gleichnishaft in Lipsius' Edition und Kommentierung des von Plinius verfaßten »Panegyrikus auf Trajan«.84 Auch hier handelt es sich nicht eigentlich um eine »Entdeckung« (W. Barner) der Silbernen Latinität - die Autoren waren längst bekannt - , sondern um eine Aktualisierung von Stilcharakteren und Gattungsspezifika im Hinblick auf praktische Verwertungsbedürfnisse. In einem seiner großen Verteidigungsbriefe hat Lipsius grundsätzlich zur Frage

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Vgl. K. A. Blüher, Seneca in Spanien, S. 309-19 (»Der späthumanistische Anticiceronianismus und die Wiederaufwertung von Senecas Prosastil«); dort zu Lipsius Einfluß auf Quevedo (mit ihm seit 1604 in Briefwechsel), S. 315f.; zu Gracian S. 318f. sowie auch G. Schröder, 118ff., bes. 141. Besonders mit englischem Material: G. Williamson: The Senecan amble. A study in prose from Bacon to Collier. London 1951, bes. 121ff. (»Lipsius. His Hopping Style«). - Zur Auseinandersetzung mit Seneca in der französischen Theorie der Zeit (Balzac, S. Evremond) vgl. B. Munteano: Humanism et Rhétorique. La survie littéraire des rhéteurs anciens, in: Rev. d'Historié de la France 58 (1958), S. 145ff. Zur Rezeption des Seneca philosophicus und Seneca tragicus gibt es gerade für Deutschland eine Reihe von hervorragenden Arbeiten (Schings, Welzig u.a.). Seneca verurteilte jede affektierte Dunkelheit des Stils: F. I. Merchant: Seneca the Philosopher and his Theory of Style, in: The American Journal of Philology 26 (1905), 44-59. Zu Apuleius vgl. Lipsius Op. omnia Bd. I, S. 167b (= Quaestiones Epistolicae Lib. II, Epist. XXII); ibid. S. 179a (= Lib. III, Ep. Xii); S. 334a (Electorum Lib. II, c. XXI). Zum Stil des Apuleius s. M. Bernhard: Der Stil des Ap. v. Madaura. 1927; zur Einschätzung seitens des Humanismus vgl. K. Krautter, 72ff.; bes. 96ff. Zur Edition des Panegyricus s. Nisard, Triumvirat, S. 104f.; abgedruckt Op. omnia Bd. IV, S. 295-364. Zur Wirkung: Croll bei Patrick, S. 18-21, Anm. 17. Der Panegyrikus bei Plinius gilt bis hin zu Gottsched (vgl. Sinemus, 196f.) als Beispiel der auf höfische Repräsentationsbedürfnisse zugeschnittenen zugleich sinnreichen und erhabenen Schreibart. Bei Buchner (Epistolarum Pars I, Nr. CLXXI, S. 403ff., spez. 408f.) wird er neben dem Cicerostudium dem »Politiker« besonders empfohlen.

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des Verhältnisses von »ingenium« und »iudicium« Stellung genommen und damit die Kardinalfrage des Klassizismus-Streits auf den Begriff gebracht. Wie es also gewisse Vorlieben des Geschmacks gibt, die man nicht ändern kann, so auch des Urteilsvermögens, und dabei unterscheiden wir uns bei der Bewertung nicht weniger als bei unseren Handlungen. Um beim Thema »Stil« stehenzubleiben: nun, wer unter den Alten und unter den Neuen schrieb oder schreibt nach demselben Schema? Du wirst wohl vielleicht einige finden, die sich ähnlich sind, und das kaum: keine aber, die sich gleichen. Die Natur hat bei den Körpern selten darin gelogen, daß sie die Früchte sogar der gleichen Mutter angeglichen hat: willst du dies beim Stil von so himmelweit verschiedenen Begabungen? Wenn nun jener sich ändert, so auch notwendigerweise die Urteile, weil jeder glaubt, das Beste zu erlangen oder sicherlich ihm nachzufolgen. Von der innersten Quelle des »ingenium« stammen die Unterschiede: eine zerfliessende Rede, eine gedrängte; eine fröhliche, eine ernste; jeden erfreut sie oder erfreut ihn nicht, ganz wie jeder verfaßt ist. Deshalb waren ganze Nationen einst uneins über den besten Stil: und du kennst die Attischen, Asiatischen, Rhodischen Redner: was wunderst du dich da bei einzelnen Menschen? Was in dieser Zeit? Wo doch gerade der Dümmste am kühnsten ist, und jeder beliebige aus dem literarischen Pöbel sich selbst dieses Geschmacksurteil anmaßt. (...) Warum sollte nicht bei einer so freien Textgattung jedem Zustimmung, Ablehnung, ja auch die Sprache frei stehen? (Ü)85 Stilistische Freiheiten werden legitimiert, weil zu rechnen ist mit einem vom Einzelnen nicht zu verantwortenden Wandel der Geschmacksnormen: Stilregulative unterliegen der Pragmatik von Handlungskonventionen. Geschmack und Urteilsvermögen sind nicht mehr zu unterscheiden. Die Aufwertung des ingenium vollzieht sich im Umblick auf die allgemeine Orientierungslosigkeit, in der ästhetische Konventionen nicht mehr einhellig von den dazu eigens Qualifizierten festgelegt sind. Es wird klar, daß in der Konsequenz solcher Einschätzung noch im Rahmen eines auf die Antike bezogenen Denkens die Möglichkeiten des zeitangepaßten Personalstils bedacht werden. Mehr noch: indem sich das stilistische Urteilsvermögen nicht mehr an zeitlosen Vorbildern ausrichten kann, wird es selbst zum Medium und Reflex historischer Veränderungen. In letzter Konsequenz wird hier ein Freiraum geschaffen, in dem Stilnormen einfließen können, die nicht mehr von der Schule, sondern von der gesellschaftlichen Praxis her bestimmt sind. Was sich als Plädoyer für »Neuerungen« zu erkennen gibt, macht zugleich die Bahn frei für soziale Definitionen und Restriktionen der Sprache im 85

Opera omnia Bd. II, Ep. Nr. XXVII, S. 81b: an Abraham Mylius o. J. (aus Leiden): »Ut palati inclinationes quadem sunt, quas haud mutes, sic iudicii, nec in probando minus differimus quam in agendo. Ut haeream in hac stili linea: age, quis inter veteres, & inter novos, eadem ratione scripsit aut scribit? Similes fortasse aliquos reperies, & id aegre: nullos pares. Natura in corporibus raro hoc commentata est, ut vel ab eadem parente foetus assimilent: vis tu a diversissimis ingeniis stilum; Quod si ille variat: necessum est iudicia. quia quisque optima assequi, aut certe sequi se, censet. A fonte ingenii interno, Myli, ista sunt: & diffusa oratio, strida; Iaeta severa; quemque delectat aut indelectat, ut quisque est talis. Hinc nationes olim totae dissederunt de optimo genere dicendi: & nosti oratores Atticos, Asiáticos, Rhodios: quid miraris homines singulos? Quid hoc aevo? cum imperitissimus quisque audacissimus, & iudicii hunc calculum sibi sumit quilibet e litteraria plebe. (...) Cur in tam libero scribendi genere non liber cuique sensus, dissensus imo lingua sit? 219

Rahmen sozialer Angemessenheit. 8 6 Indem Lipsius sich von dem »literarischen Pöbel« absetzt, ordnet er auch die Regulative der Sprache und Literatur den Gesetzen einer Klugheit unter, die sich als historisch-politisch zu erkennen gibt und in deren Zeichen der Gelehrte seine »Bildung« den Kalkülen gesellschaftlichstaatlicher Nutzbarkeit dienstbar machen kann. D a ß sich Lipsius dementsprechend scharf - im Anschluß an Erasmus - gegen eine bloße Nachahmungsästhetik wendet, kann nicht mehr verwundern. 87 Wenn er speziell gegen den Ciceronianismus und Konservatismus des deutschen Schulhumanismus polemisiert, wirft dies schon ein Licht voraus auf die bösen Worte über des Deutschen Mangel an «esprit«, mit denen Bouhours Jahrzehnte später die Gemüter erregen wird. Melanchthon und seine Anhänger müssen sich das Verdikt gefallen lassen: . . . und wie lächerlich! nicht einmal zu Cicero rufen sie uns im Ernst: sondern zu ihrem Melanchthon, einem Mann, der mir, abgesehen von der Religion, gar nicht zu verachten ist; aber doch nicht zu den Führern und Vorkämpfern der Beredsamkeit zu zählen. (Ü) 88

b) D e r Lipsianismus als Mode: Lakonismus, argutia- Bewegung und Hofstil Lipsius inaugurierte einen »neuen« Stil mit »neuen« Mustern. Was er mit »attisch« bezeichnete, was seine Gegner als attizistisch oder lakonistisch einstuften, war ein vom Bemühen um »Kürze« - »brevitas« - geprägter Sprachcharakter. In seinen eigenen Schriften wird das Gemeinte deutlich: Lipsius läßt Konjunktionen weg und vermeidet logische Übergänge, er lehnte die strenge Bindung an die »partes

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Das Ausspielen des ingenium gegen das iudicium als Zeichen des Manierismus bei Friedrich, Epochen, S. 604; 629; zum Verhältnis von ingenium und iudicium im Zusammenhang von natura-ars s. Dyck, Ticht-Kunst, S. 117ff.; H. P. Herrmann, Naturnachahmung und Einbildungskraft, S. 52ff. betont mit Recht die rhetorische Definition der inventio als Findekunst, topologische Methode, und setzt das barocke Verständnis von ingenium gegen eine vorromantische Interpretation ab; freilich ist diese Einschränkung eine Folge der gesamteuropäischen Entwicklung, die eine um 1600 durchaus vertretene Möglichkeit einer Phantasie-Kunst zugunsten einer neuen Anbindung jeglicher Fiktion an allegorisch-signifikative Zwecke (ausführlich vor allem bei Masen) abwürgte. Vgl. Gerhart Schröder, B. Gracians »Criticón«, S. 158ff.; Lange, Aemulatio, z. Thema, bes. S. 133ff. trennt bei der Beurteilung von Scaligere novitas-Formel nicht streng genug zwischen imitatio autorum und imitatio naturae. - Bei dem zitierten Lipsius-Text bleibt das Decorum-Schema ganz aus der Diskussion, die Qualitäten des jeweils Angemessenen werden vielfach relativiert. Es fehlt vor allem die etwa bei Scaliger noch festgelegte Funktion des iudicium: »primum, quo optima quaque seligamus ad imitandum« (Poetices L. VII: Buch C, c. 1, 214). Offensichtlich verschmilzt bei Lipsius die Vorstellung des persönlichen ingenium mit der zeitgenössischen Idee des »genius saeculi«.

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Vgl. Op. omnia Bd. II, S. 197/198; Epist. LXII, Cent. IV an Joh. Vergerius vom März 1603 aus Löwen. Op. omnia Bd. II, S. 486b / 487a; Epist. Cent. III, Ep. XXVIII aus Löwen, Februar 1596: »Et o ridiculum! nec ad Ciceronem quidem serio nos vocant: sed ad Melanchthonem suum, virum mihi, nisi a religione, haud aspernabilem; sed nec inter duces aut antesignanos ad Eloquentiam ponendum«.

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orationes« ab. Exordialtopik ist ihm fremd, er kommt sogleich zur Sache. Es verschwinden die ciceronischen Klauseln wie auch die zierliche Konzinnität der Satzglieder. Nicht das Bemühen um Ausgewogenheit und Harmonie steht im Vordergrund, sondern eine Vorliebe für Pointen (»acumina«), eindrucksvolle Verdichtungen, entlegenes Vokabular, archaische Wortformen, Bilder und Metaphern. 89 Lipsius hat sich selbst wiederholt gegen übereifrige Nachahmer zur Wehr gesetzt und die Beachtung des »modus« verlangt. 90 Dennoch konnte er nicht verhindern, daß der Lipsianismus, das »lipsianizein« (Morhof u.a.) zu einer Modeerscheinung wurde und sich nicht nur auf die Epistelliteratur auswirkte. 91 Ich möchte mich im folgenden mit dieser Auseinandersetzung beschäftigen. Dabei ist nicht daran gedacht, den Gesamtumkreis der Lipsius-Rezeption abzuschreiten und ein Pendant zu den diesbezüglichen Untersuchungen der außerdeutschen Forschung zu liefern. Vielmehr gilt es - dem Thema dieser Arbeit entsprechendvorerst einmal exemplarisch nachzuweisen, daß wir in Lipsius und seinen Nachahmern wichtige Positionsverschiebungen der Stilbewertung zu fassen bekommen, deren literarische Diskussion die Entwicklung des Humanismus und ihre Hintergründe beleuchtet sowie einen Erkenntnisbeitrag zur epochalen Auseinandersetzung um die Angemessenheit diverser Sprachcharaktere in der Spannung von Schwulst und Schwulst-Kritik liefert. Festzuhalten ist, daß in der Geschichte der Latinität mit Lipsius ein Epochedatum gesetzt wurde. J. H. Aisted z. B. unterscheidet in seinem »Orator« fünf Altersstufen der antiken Literaturentwicklung sowie drei der »neueren« (nach der »renovatio« durch Petrarca). Die erste Phase reicht für ihn von Petrarca bis Baptista Mantuanus, die zweite von Angelo Poliziano bis Melanchthon, Camerarius und Sturm, die dritte geht »a Lipsio usque ad momentum«.Seiner Meinung nach lassen sich in der Neuzeit drei Parteien unterscheiden: »Ciceroniani«,

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Zum Stil des Lipsius, der freilich in verschiedenen Lebensepochen (er begann als gemäßigter »Ciceronianer«) und auch in den diversen literarischen Genera differiert vgl. neben Croll auch Lucían Müller: Geschichte der klassischen Philologie in den Niederlanden, S. 26ff.; aufschlußreich ist die Charakterisierung in den Stillehren: im Rückblick auf eine Fülle einschlägiger Literatur referiert J. G. Heineccius in seinen weitverbreiteten »Fundamenta stili cultioris« (benutzt in der Ausgabe 1766), S. 112ff.: Lipsius, »qui quum iuvenis stilo nitido et plane ad Ciceronianam dicendi rationem composito uteretur: paullo post novum sibi ipsi finxit dicendi genus, abruptum, histrionicum, atque innumeris refertum archaismis, ut saepe vetere quodam grammatico, aut si mavis, Delio natatore opus esset ad solvenda illius aenigmata.« Heumann (ibid. S. 113 zitiert) unterscheidet den frühen Stil des Lipsius vom späteren: »non scatet argutiis, non verborum allusionibus, non studet sententiosae brevitati, sed profluenti utitur stilo, facili, amoeno.« Vgl. Op. omnia Bd. II, Cent. I, Ep. XV, S. 16b/17a: an Janus Dousa, Leiden, April 1580; - ibid. Cent. II, Ep. X. S. 75a: an Villerius. Leiden April 1586; - ibid. Cent, ad Germanos, S. 327, Ep. III Juli 1591 an Janus Wowerenus. Vgl. Morhof, Polyhistor (Aus. 1714), spez. 298ff. (zum Briefstil) mit weiteren Zeugnissen; dort auch über Lipsius-Nachahmer; wie »Affen Ciceros« gab es nun »Lipsianische Affen« (S. 300).

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»Philippistae« (also Anhänger Melanchthons) und »Lipsiani«. 92 D i e s e Dreiteilung, die praktisch auf die Frontstellung von konservativen Schulhumanisten und den »Neuerern« hinausläuft, hält sich bis weit ins 18. Jahrhundert. Zahllose Traktate, Reden und Briefe beschäftigen sich mit der Cicero-Frage und dabei jeweils in der Regel auch mit Lipsius. 93 Im Mittelpunkt stand dabei die Frage des »delectus verborum«, die Tendenz eines zur Dunkelheit neigenden »Archaismus«, der zugleich »verba novata« begünstigte. Henricus Stephanus ( = Henri Estienne, 1531-98), der sich ausführlich mit Lipsius auseinandergesetzt hat, definiert die Vorliebe für das sprachlich Entlegene bei Lipsius als Hinwendung zum Reiz des »Neuen«: Lipsius schätze »antiquum ilium sermonem«, »quod suis auribus plane no vus sit.« 94 D i e meisten deutschen Späthumanisten sahen in dieser Tendenz eine verderbliche, wie eine Seuche um sich greifende Zeiterscheinung. Vincentius Fabricius (1612-1667), keineswegs ein »Schulfuchs«, sondern der spätere Syndikus und Bürgermeister von Danzig, sieht in der Neigung zum »Archaisieren«, in der »Kakozelie« des Lipsius und seiner Anhänger, in dem Verlust einer rechten Einschätzung der Vorbilder nicht nur ein Versagen gegenüber dem autoritativ

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J. H. Aisted. Orator. 3. Aufl. Herborn 1616, S. 14f. und 147f. Er bezieht sich dabei auf F. Taubmann, Dissertatio de lingua Latina, 1606, dort in einer Rezension der zeitgenössischen Ausdruckstendenzen zu Lipsius S. 27ff. (gemäßigtes Urteil). Zu dieser Epochalisierung sind die historischen Arbeiten heranzuziehen. Ich nenne nur Jacob Burckhard: De Linguae Latinae in Germania per XVII saecula amplius fatis. Hannover 1713. S. 458ff.: Ableitung des »novum illud atque adfectatum genus scribendi« aus dem Anticiceronianismus; zur stilistischen Entwicklung im Späthumanismus (Melanchthonianer, Lipsianer und Jesuiten) s. cap. VII, S. 511ff. Der Schluß berichtet u.a. von den »Realisten«, den Pedanten als »martyres Latinitatis« und zitiert Hofmannswaldau: »Ad sermonem Latinum quod attinet, me nihil hic monente, istum non tarn in scholis, quam ubique apud nos negligi, ad sera poenitentia hanc negligentiam sequitur.« (S. 565). 93 Eine Übersicht über das frühe 17. Jahrhundert bietet die von J. M. Dilherr hgg. Sammlung: Philologiae apparatus. Jena 1632, mit Beiträgen von Dilherr, Taubmann, Barth, Weitzius u.a.; natürlich auch dort (S. 269) eine »commendatio Ciceronis«; zahlreiche Belege für die spätere Zeit in dem zitierten Werk von Heineccius. Zu den schärfsten Kritikern des Lipsius gehört Morhof (s. Heineccius I.e., S. 114). Bei Cellarius, dem Hallenser Professor, wird ähnlich wie bei Aisted und vielen anderen die Degeneration der Moderne parallel zum Niedergang der römischen Kaiserzeit gesetzt. Lipsius gehört zu den Vertretern des Niedergangs, weil er die späteren Autoren (Tacitus usw.) bevorzugt: »Dissertatio de fatis Latinae Linguae« (gehalten 1701), in: Dissertationes Academicae, 1732, spez. 474ff. - Als Kuriosum sei vermerkt, daß Christian Adolph Klotz, den man als Widerpart von Herder und Lessing kennt, eine »Oratio pro Lipsii Latinitate« schrieb (Jena 1761, nach Heineccius, S. 114). 94 Henricus Stephanus (= Henri Estienne): De Latinitate falso suspecta expostulatio. Eiusdem De Plauti Latinitate Dissertatio o . O . (Genf) 1576: das Zitat S. 364. Stephanus vertritt einen gemäßigten Anti-ciceronianismus, gehört jedoch zu den Kritikern des Lipsianischen Stils, vgl.: De Lipsi Latinitate ( . . . ) nec Lipsiomini, nec Lipsiocolacis; multo minus Lipsiomastigis. Libertas volo sit Latinitate, sed Licentia nolo detur illi (...). Frankfurt 1595. Auseinandersetzungen mit dem extremen Ciceronianismus in: Pseudocicero, Dialogus o.O. (Genf) 1577, und: Nizoliodidascalus, Sive Monitor Ciceronianorum Nizolianorum Dialogus. o.O. 1578. 222

festgelegten Charakter literarischer Gattungen, sondern ein Zeichen, »daß man nicht allmählich, sondern in raschem Lauf von der alten Beredsamkeit abfällt.« 95 Das Spektrum der Lipsius-Kritik reicht von deutlicher Verurteilung (so bei Morhof) bis zur Anerkennung seiner unnachahmlichen persönlichen Schreibweise, die lediglich von den Nach-»äffern« in Mißkredit gebracht werde. Bei Augustus Buchner, dem Wittenberger Professor und Mentor auch der deutschen Poesie, bekunden Reden und Briefe den Widerstand gegen die an dunkle Autoren der Spätantike angelehnte Stilverderbnis der Gegenwart. In einer Rede »De literarum periodis« 96 argumentiert er - wie viele Humanisten nach ihm - kritisch mit der Analogie des antiken »Verfalls der Beredsamkeit« zur aktuellen Entwicklung. 97 Die Schwulst-Kritik des 18. Jahrhunderts - Reflex des bürgerlichen Vernunftideals - wird diese Argumentationsfigur mit deutlicheren politischen Akzenten repetieren. In Gottscheds Einleitung zur »Akademischen Redekunst« verbindet sich der Preis Ciceros mit dem Tadel der Archaisten, Attizisten und der servilen Rhetorik der Kaiserzeit: Doch dieß (Cicero und seine Epoche - W. K.) war der höchste Gipfel der römischen Beredsamkeit; und da sie nicht mehr steigen konnte, so sank sie wiederum. Asinius, Calvus, Cälius und Gallius wolltens besser machen, als er. Sie gaben (wie Lipsius W. K.) seine Schreibart für wässerig und für gar zu wortreich aus: und bemüheten sich, scharfsinniger und künstlicher zu reden. (...) Seneca half, mit seinen sinnreichen und spitzfindigen Einfällen, auch sehr viel dazu: ob er gleich wider die Verderbnis seiner Zeiten eifert. Tacitus und die Plinier wurden auch von dem Strome dahin gerissen: und die schöne Natur ging verlohren. - Unter tyrannischen Kaisern verfiel die Beredsamkeit noch mehr. Die ganze Gelehrsamkeit ward in keinem Werthe gehalten. Man dorfte nicht mehr mit Freyheit denken und öffentlich reden. Ein Machtspruch des Kaisers, ja bisweilen eines Lieblings entschied alles. Die Römer nahmen sclavische Neigungen an; und machten den Kaisern knechtische Schmäuchleyen. Die Schreibart ward schwülstig:

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Briefe an Caspar Barlaeus vom Februar 1632 (Barlaeus stand selbst im Geruch lipsianischer Kakozelie - so bei Morhof). Der Brief beschreibt die kulturelle Lage der »Germania superior«: »... Novi autem non modo stomachi vestii, ineptiarum vilitate, sed etiam oculonim fastidium. Qui sermonem in homine erudito requiritis, non Lipsii & talium (sine me vera loqui) kakozelia (i.O. griechisch - W. K.) inquinatum; sed ex Ciceronis, Crispi, Livii myrothekiois [i.O. griechisch - W. Κ.] prolatum. Illam autem maciem, & illa ossa pleraque in nostris oris, nec pauci apud vos in eodem valetudinario & probant, & sectantur. Adeo non gradu, sed praecipiti cursu a pristina eloquentia descitum est: postquam ineptissimi Critici (de nugatoribus, non eruditis loqui me cense) invenerunt verba quibus loquerentur.« (V. Fabricius: Orationes - Epistolae - Poemata, 1685, S. 266); vgl. auch ibid. S. 298 eine ausführliche Kritik des »archaizein«. In: Orationum Academicarum Volumina Tria. 1705 Pars Tertia, S. 804-826. Mit Berufung auf Cicero, Quintilian, Seneca, Tacitus usw. gegen Attizismus, Archaismus und Schwulst die Feststellung S. 814: »Secuta post aetatem Ciceronis alia doctorum aetas, satis vel eorum proprio testimonio indicavit, non solum quantum a cacumine & fastigio praecedentis aetatis abfuerit: verum etiam mutato genere dicendi, & eloquentia omni prope in barbariem versa, ad imum celerius quidem, quam ascenderai, properavit. Dazu analog die Gegenwart: S. 818ff. - Eine umfassende Stilkritik des Lipsianismus und Tacitismus als Ausdruck einer ethisch verwerflichen »obscuritas« liefert der späte, fromm gewordene Scioppius: De Styli Historie!..., in: ders.: Infamia Famiani, 1658, bes. S. 8ff. 223

und der metaphorische Ausdruck vertrieb fast alle Vernunft aus ihren Reden und Schriften .. Auch für Buchner beginnt die Barbarei, das »mutatum genus dicendi«, nach Cicero: im Horizont der alten Verderbnis erklärt sich die neue: Auch einige Schriftsteller unserer Zeit haben, wenn sie etwas zu schreiben sich anschikken, nicht nur die Wahl der guten Wörter vernachlässigt, sondern bemühen sich im Gegenteil eifrig, den Rost der alten oder die Härte der neuen Autoren ihren Schriften beizumischen und scheinen freiwillig die Ähnlichkeit gerade mit den schlechtesten und verdorbensten Autoren angestrebt zu haben. (Ü)99 Im Rückblick auf Cicero wird Front gemacht gegen die »Neuerer« und »Halbgebildeten«, die statt der Eleganz und Reinheit der Sprache überflüssigen »Schmuck«, »Schminke« und »Kräusel« bevorzugen. 1 0 0 D i e Position dieser Rede ist in zahlreichen Briefen rekapituliert: Buchner polemisiert gegen stilistische »affectatio«, gegen »leere Größe« und »Dunkelheit«, gegen die Bevorzugung von Persius und Claudian, von Spätlateinern wie Curtius gegenüber Virgil, Horaz, Ovid und Cicero. 1 0 1 Auch die notwendige »Kürze«, soweit sie nicht auf Dunkelheit hinauslaufe und einer speziellen Vorliebe des Autors entspreche, sei aus

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Aus: Einleitung zur »Akademischen Redekunst«, Leipzig 1759, S. 8f.; zu Gottsched vgl. auch mit weiteren Belegen im Zusammenhang: Sinemus, bes. 196ff., zur Synopse Staatsverfassung und Beredsamkeit ibid. S. llOff. (bes. bei Weise aktuell); Schwind, 1977, spez. S. 248ff. Wie sich aus diesen und anderenorts erwähnten Passagen ergibt, kann die Synopse ganz verschieden intentionalisiert werden: bei Weise wie auch bei den »Modernen« (z.B. Puteanus: dazu im folgenden) stellt sie ein Argument zur Anpassung der »pedantischen« Schulrhetorik an die Erfordernisse der Verwaltung und des Hofes dar, wird also letztlich ganz im Sinne des Absolutismus aktiviert. Bei Gottsched, der Weise bezeichnenderweise sehr kritisch gegenüberstand, wie auch bei Redelehrern wie F. A. Hallbauer in Jena (vgl. Anleitung zur politischen Beredsamkeit, 1736. Nachdruck 1974, Vorrede fol. 2v) werden deutlich politische Akzente im Sinne der Absolutismuskritik, d. h. im Kontext bürgerlicher Selbstbehauptung gesetzt. Niedergang der Beredsamkeit ist Folge und/oder Ursache der »umgestürzten Freyheit« (Hallbauer I.e.): zur Entwicklung des Topos im 18. Jahrhundert vgl. H.-W. Jäger: Politische Kategorien in Poetik und Rhetorik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bes. S. lOff. - Entsprechend auch andere Anknüpfungspunkte: die Ethologie des »vir bonus« (vgl. H.-J. Lange, 45ff.), des redlichen Mannes von Charakter, der sich auch als Redner nur der »res honestae« annimmt, findet sich bei Erasmus (s. Ciceronianus, S. 88, ed. Payr), vor allem bei Sturm (vgl. Sohm, 73f., lOOff.) und wird auch in der Frühaufklärung (Gottsched) reproduziert und gegen die Anpassung des Bürgertums an die Maximen »politischer«, d. h. machiavellistischer Klugheit gewendet. A. Buchner: Orationum Academicarum, 1705, Pars Tertia, hier S. 818: »quorum nonulli etiam nostri temporis scrip tores, cum quid scribere sunt aggressi, non solum bonorum verborum delectum neglexerunt: sed illud maxime studuerunt, ut vel veteratorum rubiginem, vel novorum autorum asperitatem suis scriptis admiseuisse, & similitudinem pessimi cujusque, & corruptissimi ultro appetiisse videantur.« Ibid. S. 824/25 und passim Etwa: Epistolarum opus, 1680, Pars II, Nr. XXVIII, S. 98ff. (»Nepoti suo.«); zu den Gefahren des »kurzen Stils« ibid. Nr. XXXII., S. 109ff. (»Viro Godofredo Schneidero«); ferner Nr. LV., S. 174ff. (»Aegidio Schurick, Ossitiensi«),

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Cicero zu gewinnen. 102 Buchner weiß, daß er sich in dieser Verteidigung der »Klassiker« mit den »Realisten« auseinandersetzen muß, für die die »elegantia sermonis« nichts als leeres Wortgeklingel ist, 103 er weiß auch, daß er samt seinen Gesinnungsgenossen, den Verteidigern der »wahren Gelehrsamkeit«, als Schulmeister und Wortkünstler beschimpft wird. 104 Wie im Raum des protestantischen Humanismus wirkt Lipsius auch auf die katholischen Autoren, vor allem die Jesuiten ein und verursacht Stellungnahmen pro und contra, zumindest aber referierende Aufmerksamkeit. Quevedo und Gracian haben sich, wie gesagt, zu Lipsius bekannt, bei Caussinus wird die Position der »Anticicerones« nachgewiesen, 105 bei dem Pariser Jesuiten Franciscus Vavassorius (Vavasseur, 1605-1681) findet sich eine 1636 gehaltene Rede »Pro vetere genere dicendi contra novum«, in der die ciceronische Beredsamkeit und die Literaturnormen der Augusteischen Epoche in einem »Vergleich der Zeiten« den Hintergrund für eine Kritik der Gegenwart abgeben. Willkür des Stils, Schwulst und Aufgeblasenheit, französisch-lateinischer Mischmasch und »spanische«, von Lucan und Seneca beeinflußte Sentenzenwut werden als Phänomene gedeutet, die mit der Diskriminierung des Lateins bei Hofe und in der Öffentlichkeit zusammenhängen: Wenn wir im Vertrauen die Wahrheit hören und aussprechen wollen, so ist die Latinität bei Hofe lächerlich, in der Öffentlichkeit unnütz, auf den Kanzeln der Kirchen verhaßt. Seht ihr also, daß das ganze Latein, wie gering es auch immer ist, aus der Sonne und dem Staube (der Öffentlichkeit - W. K.), wo es an sich leuchtend und offen hingehörte, in den Schatten der Schulen, in die Mußestunden und häuslichen Übungen verbannt und den Schülern und Lehrern allein anvertraut ist? (Ü)106 102

Im Gegensatz zu Buchner (vgl. die vorstehende Anmerkung) differenziert D. Heinsius gerade in puncto »Kürze« sehr genau: für ihn ist Cicero »scriptor ut eximius, ita fere ab omnibus antiquis, qui brevitate commendantur, admodum diversus.« Heinsius verspricht - es handelt sich um das Vorwort an den Leser seiner »Orationes« - nicht nur den verschiedenen Begabungen, Neigungen und Naturellen gerecht zu werden, sondern gerade die Stilcharaktere des »homo politicus«, des unter Tiberius aufkommenden »acumen«, bzw. der »brevitas« wie auch die Formen der kaiserzeitlichen Panegyrik zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu den Ciceronianern gelte doch die bekannte Tatsache: »Iam quis nescit, aliam in foro, aliam in castris, aliam in schola eloquentiam requiri?...« 103 Vgl. Buchner an Aegidius Strauchius, undatiert, in: Epistolarum Pars II., 1680, S. 170ff., spez. 173: »Ac nescio an ridendi magis sint, an miserandi potius ìIli vitilitigatores nostri, qui fastuoso supercilio nostra despicientes studia; se Realium [Hervorhebung von mir W. Κ.] titulo pompatice jactant. Quasi vero ex bonis auctoribus, a quibus tam Graeci quam Latini sermonis puritas & elegantia pendet, nil nisi verba inania & quaedam lenocinia sermonis [...]« Es folgt der Aufruf zum Widerstand gegen die »Musenverächter«: solange es Leute wie er, Buchner, und sein Briefpartner gebe, würden diese Feinde der Kultur ihr Ziel nicht erreichen. 104 Vgl. ibid. S. 175: dies solle »uns« nicht stören, weiter gegen die »Barbarei« der Zeit zu kämpfen. 105 Vgl. oben Anm. 81! Zu Caussinus vgl. Eloquentiae sacrae et humanae Parallela Libri XVI, II. 14 und 17 (»Anticicerones«); ferner Lange, Aemulatio, bes. 69f. 106 In: Orationes, 1646, S. 86-134; das Zitat S. 103f.: »Si tarnen familiariter audire verum, & fateri volumus, Latinitas in aula, ridicula: in foro, inutilis: in suggestis templorum, odiosa. Videtisne igitur totum Latinum, quantulumcumque est, ex sole & pulvere, quo id loco, 225

Auch die deutschen Jesuiten hatten gegen das Eindringen modischer Stilreize anzukämpfen. Jacob Keller S. J. etwa, seit 1607 Rektor des Münchener Jesuitenkollegs, mußte sich vor seinen römischen Oberen dafür verantworten, daß er Cicero und die klassische Latinität vernachlässige. 107 Jacob Bidermann, der Dramatiker, berichtet 1606 in einem Brief an seinen Lehrer Matthäus Rader von der beckmesserischen Reaktion eines von ihm in Epigrammen angegriffenen »Greises«, der ihn des Lipsianismus, des Archaismus, der Dunkelheit, grammatischer und metrischer Verstöße beschuldigt. Bidermanns Reaktion: Ich habe den stockdummen Alten weidlich ausgelacht, und damit ich dieses Gelächter mit dir teile, habe ich dies geschrieben. Ich bin sicher, daß ich mit den »fritilli« (»Würfelbecher«) Wasser auf seine Mühle geleitet habe. Was das Silbenmaß angeht, schick mir doch bitte deine Grammatiker zu Hilfe, damit sie die Vergile und Ovide vor Melissus bewahren: Was den' »praetor« angeht und den »dies dictus«, werde ich unsere Rechtsverdreher befragen. Was das Archaische betrifft, dessen er mich beschuldigt, sollen die Leser urteilen: und ich will lügen, wenn Misenus weiß, was »alt« ist, wo doch dort auf Worte ganz aus unserer Zeit und Gewohnheiten angespielt wird, die sogar den Klippschülern bekannt sind. (Ü)108 Für die Abschätzung einer Einwirkung des Lipsius auf die europäische Literatur ist nach verschiedenen Gattungen und Gebrauchsformen zu differenzieren. Zugleich gilt es zu beachten, daß Lipsius' Ruf »zur Sache« im Gegensatz zur Schulrhetorik verschiedene Tendenzen begünstigte. Auf Lipsius konnte sich einerseits die mit der Schulrhetorik brechende, den Stil als Ausdrucksform der Person akzeptierende Essayliteratur in der Art Montaignes berufen, 1 0 9 andererillustri & aperto, versan decuit, in scholarum umbracula, otiumque, & ad domesticas exercitationes relegatum, solisque discipulis & doctoribus commissum.« Zum Autor s. Sommervogel VIII, 499ff. 107 Vgl. Barner, Barockrhetorik, S. 357. 108 Richard van Dülmen: Die Gesellschaft Jesu und der bayrische Späthumanismus. Ein Überblick. Mit dem Briefwechsel von J. Bidermann, in: Zts. f. Bayr. Landesgeschichte 37 (1974), S. 358-415. Der Brief ist abgedruckt auf S. 404-05: »Risi effuse stupidissimum senem, et ut hunc risum tecum communicarem, istaec scripsi. De fritillis (ein von Bidermann verwendetes unklassisches Wort, Belege bei Seneca, Martial, Iuvenal) certum mihi est aquam illi haesisse. De Syllabis: tuos quaeso Grammaticos mihi suppetiatum mitte, qui Marones et Nasones a Melisso vindicent: De praetore, dieque dicto, Nostras egomet Leguleios consulam. De antiquitate, cuius me accusat, iudicent ii, qui legent: et mentiar, si novit Misenus, quid Antiquum sit, quando ibi voces plane nostri aevi et morís pueris trivilisque noti alluduntur.« 109 Vgl. dazu die eingehend begründete Ablehnung Ciceros bei Montaigne, Essays II 10, dort auch über Montaignes Vorliebe für Seneca, und vor allem den Essay »Bemerkungen über Cicero« (140): »Pfui der Beredtheit, die uns Lust an ihr selbst und nicht an dem, was sie sagt, finden läßt...«. Zu Cicero und Montaigne s. H. Friedrich, Montaigne, vor allem S. 79f. ; zu Lipsius und Montaigne vgl. Croll bei Patrick, bes. 42ff.; 178ff. Ferner Margot Recksieck: Montaignes Verhältnis zu Klassik und Manierismus. Bonn 1966; Richard Sayce: Renaissance et Manierisme dans l'oeuvre de Montaigne, in: Actes du III e Congrès de L'Ass. Intern, de Litt. Comparée, S. 137-151. Zur Aufwertung Senecas bei Montaigne vgl. C. Hill Hay: Montaigne lecteur et imitateur de Senèque. Poitiers 1938; G. Dire: De l'influence de Senèque sur les »Essais« de Montaigne, in: Les études classique 22 (1954), 270-86. 226

seits ergeben sich deutliche Bezüge zur wissenschaftlichen und philosophischen Prosa eines Bacon und Descartes. 110 Die Wirkung des lipsianischen Stilideals, der »modernen« Latinität und des aktuellen »Lakonismus« auf die deutschsprachige Prosa des 17. Jahrhunderts freilich liegt noch im Dunkeln. Ein bedeutsamer Einfluß der auf der lateinischen Ebene geführten Diskussion auf die muttersprachliche Literatur ist sehr wahrscheinlich. Wenn z. B. Zesen einen »kurzbündigen Stil«, auch als »lakonisch« angesprochen, von einem »langen Gezerre« und einer »Mittelfahrt« unterscheidet und den lakonischen Stil besonders für den Brief empfiehlt, darf dies als Resonanz nicht zuletzt auf die von Lipsius vertretene Stilklassifikation verstanden werden. 111 Weitere Anhaltspunkte ergäben sich bei der Analyse von Übersetzungen, etwa der Opitz'schen Übertragung von Barclays »Argenis«: bezeichnenderweise hat Opitz sich brieflich vom Stil dieses Autors distanziert. 112 Die Konfrontation eines personalen Stils und einer sachbezogenen, nicht scholastisch formalisierten Diktion mit der im ganzen gerade in Deutschland weiterhin übermächtigen Schulrhetorik enthält, wo immer sie ausgetragen wird, Artikulationsmuster des späthumanistischen »Modernismus«. Nur selten trifft man dabei freilich auf ein Plädoyer nicht nur für die Freiheit des Sprechens, sondern auch für die Freiheit des Gedankens - wie bei Schupp: Andere mögen sagen, was sie wollen, ich aber will frei aussprechen, was ich frei fühle. Ich glaube, höchstes Kunstwerk des Redners sei es, zuerst zu lernen im Kompendium der Wort und Dinge, darauf aber seine eigene Natur nachzuahmen. Was auch immer ohne Zustimmung und gegen den Widerstand der eigenen Natur gesagt wird, ist affektiert. Der große Erasmus antwortete auf die Frage, wen er nachahme, er ahme Erasmus nach. (ü)» 3 Auch hier wird die »lakonische Kürze« zum Antibild scholastischer »Geschwätzigkeit«:

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Zu Bacon vgl. Croll, bes. S. 188ff.; im Zusammenhang mit Descartes S. 35ff. Van Ingen, Zesen S. 96f. Zum Vordringen des Lakonismus bei Zesen s. auch V. Meid, Zesens Romankunst, bes. S. 80ff. Zu Zesens Klassifikation vgl. Richter, Thesaurus or. novus, S. 109: »Es ist auch nicht genug / daß sich einer entweder eines kurtzen oder langen Styli nur angewehne: denn ein rechter Orator muß alle Stylos schreiben können; denn er hat sie alle vonnöthen / und zwar oft in einer Oration.« Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache, Kap. V (»Zur Theorie des Prosastils«), S. llOff. hat auf die bis ins 18. Jahrhundert weiterwirkende Trennung der jeweils auf Cicero oder Seneca basierenden Richtungen des Prosastils hingewiesen: dort s. zu Weise, Gottsched bis hin zu Geliert; S. 123ff. zur Entwicklung in Frankreich. 112 Zu dieser Übersetzung vgl. Schulz-Behrend, in: PMLA LXX, 1955, 455-73; Schupp kritisiert sie in »De Opinione« (S. 43). Opitz selbst gesteht in einem Brief an Balthasar Venator u.a. »Imo ipsa Barclaii stylus nunquam fuit ad meum gustum.« (vom 4. Mai 1628, abgedruckt bei Reifferscheid, S. 319-322, das Zitat, S. 321). 113 Volumen oratorium, 1656, S. 25 (aus »De Opinione«, 1638): »Dicant alii, quicquid velint, ego libere quoque eloquar, quod libere sentio. Puto, optimum oratorie artificium esse, primo discere compendio verborum & rerum deinde imitari naturam suam. Quicquid invita & reluctante natura dicitur, affectatum est. Magnus Erasmus, interrogatus, ecquem imitaretur? Respondit se imitari Erasmum.« 111

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Ich sehe aber, daß noch die Vorurteile regieren. Denn siehe, die Menschen halten den Schwätzer Zipphusius, dem Schweigen Strafe ist, für beredt. Als ob in Wirklichkeit ein Acker fruchtbar genannt werden könnte, der eine Menge von Unkraut erzeugt. Lakonische Kürze dagegen erscheint vielen als Faulheit. Aber die Menschen werden von Vorurteilen getäuscht. Aber was glaubt ihr mir - kurz zu sein bedeutet Mühe. Ich liebe nicht diejenigen, die zwar Vieles, aber Törichtes schreiben. (Ü)114

Wenn im 18. Jahrhundert mit jeweils verschiedenen Intentionen so unterschiedliche Autoren wie Winckelmann, Herder, Hamann und Goethe im Ideal des »kurzen« und präzisen Stils »den ersten Schritt« sehen, »um aus der wässerigen, weitschweifigen, nullen Epoche sich herauszuretten«, 115 werden Fluchtlinien deutlich, auf denen das Plädoyer für eine, sei es dem unmittelbaren personalen Ausdruck, sei es der Reinheit, Klarheit und Prägnanz der »Sache« dienende Diktion mit der epochalen Kritik am »Barockschwulst« als letzter Erscheinungsform gelehrter Rhetorik verschmilzt. Das ist hier nicht weiter zu verfolgen. Im 17. Jahrhundert dominieren andere sich ζ. T. überschneidende Interpretationsmuster bzw. Anwendungsbereiche der gesellschaftlichen quasi-»natürlichen« Konversation, der elitären Herrschaftssprache und einer auf Effizienz verpflichteten Verwaltung, damit zusammenhängend die antiklassizistische Durchbrechung des Modus-Theorems und der humanistischen Klarheits-Postulate im Sinne arguter »Scharfsinnigkeit«. Lipsius - mehr noch seine Nachahmer - konnte in der Tat verstanden werden als Repräsentant stilistischer Affektation und modischer Neuerungen überhaupt, als Apologet einer am Muster der Silbernen Latinität ausgerichteten sententiösen und concettistischen Spitzfindigkeit. Insoweit gehörte das Haupt des Neostoizismus zu einer Bewegung, die gegenüber objektiven kanonisch fixierten Normen die manieristischen Möglichkeiten eines auf Wirkung angelegten, zugleich die geistige »Souveränität« des Sprechers in den Vordergrund stellenden Sprachhabitus legitimierte. Schon vor Lipsius gab es Ansätze einer Aufwertung stilistischer »argutia,116 doch die bei ihm zu beobachtende Rehabilitation des »ingenium« verbunden mit einer ostentativen Vorliebe für vor- und nachklassische Ausdrucksformen macht den »lakonistisch« verstandenen »Lipsianismus« zum integrierten Bestandteil epochaler Stilschemata, die später bei Tesauro, Pellegrini und Gracian in der Theorie der 114

115 116

Ibid. S. 44: »Videbam vero opiniones adhuc regnare. Ecce enim, garrulum Zipphusium, cui tacere poena est, facundum putant homines. Quasi vero foecundus dici possit ager, qui magnam lolii copiam gignit! Contra brevitas Laconica multis videtur ese ignavia. Sed ab opinione homines falluntur. Sed quid mihi creditis, labor est esse brevem. Non amo eos, qui multa quidem sed stulta scribunt.« Zum Ideal der Kürze vgl. den historischen Querschnitt von H. Rüdiger, 1958. Barner weist mit Recht darauf hin (Barockrhetorik S. 45), daß schon Scaliger 1561 in seiner Poetik im Rahmen einer an Martial orientierten Epigramm-Theorie eine argutiaLehre liefert: Poetices L. VII, S. 169ff. ; im Jahre 1562 erschien in Venedig das Buch des bekannten italienischen Neulateiners Francesco Spinola: »Concetti della lingua latina«. Daß die argute »elocutio« mit dem Attizismus identifiziert wurde, beweist schon der Titel eines 1712 in dritter Auflage erschienenen Buches von C. V. Verani: »Pantheon argutae elocutionis et omnigenae eruditionis selectiori extructum Attizismo. Tom. 1.2. Aug. Vind. / Fft. 1712.

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»acutezza« systematisiert 1 1 7 und erst dann bei Masen, Weise und ihren A n h ä n g e r n in der deutschen Rhetorik assimiliert werden. 1 1 8 Lipsius' Impuls zur A u f l ö s u n g der althumanistischen Nachahmungsdoktrin kongruiert in wesentlichen Punkten mit der »argutia«-Bewegung, die v o n Zeitgenossen als R e f l e x des Zeitgeistes verstand e n wurde: »Sprechen wir also v o m Scharfsinnigen, um uns d e m Jahrhundert anzupassen.« 1 1 9 Ich m ö c h t e diese A n a l o g i e in einigen notwendigerweise kurzgefaßten T h e s e n belegen: 1.) Zentrales stilbildendes Ideal sowohl bei Tesauro als auch bei den anderen Theoretikern des Concettismus und einer arguten Sprechweise ist die »acutezza«. Im D e u t s c h e n wird die aus ihr herrührende Qualität des Stils mit »sinnreich«, »scharfsinnig« oder »spitzfindig« wiedergegeben, aus der antiken Tradition stamm e n die analogen Termini »acutus«, »acumen« etc. 1 2 0 Ziel dieser in der gedankli117

B. G r a d a n : »Agudeza y Arte de Ingenio, en que se explican todos los modos y diferencias de conceptus« (1642); M. Pellegrini: »Delle Acutezze, che altrimenti Spiriti, Vivezze, e Concetti, volgarmente si apellano« (1639); E. Tesauro: »II Cannocchiale Aristotelico, o sia, Idea dell'arguta et ingeniosa elocutione, che serve a tutta l'Arte oratoria, lapidaria, et simbolica. Esaminata co'principii del Divino Aristotele«, zuerst 1655, nun vorliegend in einem Nachdruck (1968), hg. v. A. Buck; vgl. (mit weiteren Nachweisen): Klaus-Peter Lange: Theoretiker des literarischen Manierismus. München 1968 (dort auch zur Vita von Tesauro und Pellegrini); Η. Friedrich, Epochen der ital. Lyrik, S. 593ff.; B. Croce: I Trattatisti italiani del Concettismo e Baltasar Gracian, in: Probleme di estetica, 4. Aufl., Bari 1940, S. 313ff.; M.Praz: Studi sul Concettismo. Firenze, 2. Aufl. 1946; R. Montano: Metaphysical and verbal arguzia and the essence of the Baroque, in: Colloquia Germanica 1 (1967), 49ff; H. Mehnert: Bugia und Argutezza. Emmanuele Tesauros Theorie von Struktur und Funktion des barocken Concetto, in: Rom. Forschungen 88 (1976), 195ff. 118 Bamer, Barockrhetorik, S. 44-46; 185ff. (zu Weise); Fischer, Gebundene Rede S. 171; zur »scharfsinnigen Metaphorik« s. Windfuhr, Barocke Bildlichkeit, S. 261ff.; Schwind, 1977, bes. 51f. 119 Beckher/Radau, Orator Extemporaneus (1664), S. 34: »Loquamur itaque de Acuto, ut seculo nos accomodemus.« 120 Schon bei Opitz dringt »Spitzfindigkeit« zunächst über die Epigrammtheorie ein (S.D. II v: »denn die kürtze ist seine eigenschafft / und die Spitzfindigkeit gleichsam seine seele und gestalt« - nach Scaliger); auch im Terminus »sinnreich« werden die Anforderungen an eine gedanklich-kombinatorische Erfindungskunst zusammengefaßt. Der Poet muß »von sinnreichen einfällen und erfindungen sein« und kann von den sonst so gefährlichen Liebesdingen schreiben, »weil die liebe gleichsam der Wetzstein ist an dem sie (die Poeten - W. K.) jhren subtilen Verstand scherffen / und niemals mehr sinnreiche gedancken und einfälle h a b e n . . . « (S. B. III v. bzw. Clr). Hinweise zur Theorie des scharfsinnigen Stils bei den Deutschen (nach Masen) bei Windfuhr, Barocke Bildlichkeit, S. 263, Anm. 2 (Kindermann, Omeis, Neukirch, Harsdörffer). - Über antike Wurzeln des arguten Stils vgl. Curtius Europ. Lit. S. 278ff.; Friedrich, Epochen der ital Lyrik, 604f.; K.-P. Lange, Kap. I, S. 47ff. und 25f. (zum »argutezza-Phänomen« in seinen verschiedenen Spielarten); R. Grimm: Bild und Bildlichkeit im Barock, in: G RM 19 (1964), 379-412, weist darauf hin, daß zentrale Lehren des »Concettismus« schon in der Rhetorik des Aristoteles zu finden sind. - Die Termini »acutus« und »argutus« schon in der Antike öfters ineinander übergehend: vgl. etwa Cicero, Brutus 167: dort auch der konnotative Zusammenhang mit »urbanitas« und (§ 63) mit »elegans«, »facetus« und »brevis«. 229

chen Arbeit der »inventio« zu entfaltenden Scharfsinnigkeit ist die Erzeugung neuer, möglichst überraschender Wirkungen durch eine ungewohnte Verbindung von Vorstellungen. Die auf diese Weise immer wieder angesprochene Redunanz des Gemeinten, also des signifikatorischen und kombinatorischen Verweisungspotentials, gegenüber dem Gesagten, den sprachlichen Elementen in Wort, Satz und Schluß, stimmt mit der grundsätzlichen Intention eines Lipsianischen Lakonismus überein. D i e von Lipsius erstrebte »probatio« durch die »pauci«, eine Elite der zum Mitdenken Fähigen, entspricht jener durch die ingeniöse Sprachkultur angestrebte Aktivierung des Lesers (und Partners), einem spezifischen Affekt des Publikums (Überraschung, Bewunderung - stupore, maraviglia, applauso). Die Lust (diletto) an der Erfindung und Entschlüsselung möglichst neuer und entlegener Beziehungen, an dem Ausdruck des kaum mehr Denkbaren in der Sprache evoziert eine innere Genugtuung, weil durch die Kunst der Erfindung der natürliche und gewohnte Zusammenhang von res und verba auf »neue« Weise aufgehoben und zugleich ungeahnt wiederhergestellt ist. Mittel dieser scharfsinnigen Kombinationstechnik sind u.a. Wortspiele, semantische Mehrdeutigkeiten, Oxymora, weitläufige Allusionen und eine auf entlegenen Vergleichspunkten basierende Bildlichkeit. Wie schon Horaz bemerkte, ist bei diesem Stilideal der »Kürze« die Grenze zur Dunkelheit (obscuritas) fließend. 121 2.) Ebenso wie die Lipsianer gerade das ungewohnte, archaische Wortmaterial mit besonderer Patina auskosteten, setzt sich auch Tesauro für »parole pellegrine« 121

Horaz, ars poetica. 25f.: »... brevis esse laboro, / obscurus fio«. Zur Kategorie dei »Kürze« vgl. die Materialien und Stellensammlungen bei Curtius, E. L. 479ff. und mit noch weiterem Horizont (vom kallimacheischen Ideal des »Lepton« bis zur Schwulstkritik des 18. Jahrhunderts): H. Rüdiger: Pura et illustris brevitas. Über Kürze als Stilideal, in: Konkrete Vernunft. Fests. f. Erich Rothacker. Bonn 1958, S. 345-372, bes. 352 zu Senecas »stilus concisus« und zum Attizismus/Lakonismus mit Thukydides, Sallust und Tacitus als Musterautoren. Auch Vossius faßt Apuleius, Sallust, Tacitus, Seneca und »similes« unter der Rubrik der »breves illi Scriptores«: s. Barner, Barockrhetorik 274. Croll S. 87 sieht in »brevity« wesentliches Kennzeichen eines »stoischen« Stils, vor allem in der Vorliebe für »sententiae«. Die Sentenzen sind schon in der Antike syntaktisches Aequivalent und figúrales Mittel der Kürze und offenbaren in ihren verschiedenen Spielarten zentrale Züge des arguten Stils: vgl. das Kapitel über die Sentenzen bei Quintilian VIII.5; dazu mit reichem Material Wanke, Seneca S. 121ff. Unterteilung in »enthüllende Sentenz« »normative Sentenz, Maxime« und die Formen der antithetischen und paradoxen Pointe). Bei Tesauro zählen (Canocchiale, bes. S. 10) zu den Mitteln der »argutezza verbale« u. a. die »sentenze argute«, die »apoftemmi laconici & succincti, che significano più che non dicono. - Th. Verweyen, Apoththegma, (1570) hat die diversen Traditionen und Anwendungsbereiche der einzelnen literarischen Kurzformen untersucht, ohne auf historische Begründungszusammenhänge näher einzugehen. Gerade auf dem Hintergrund dieser Traditionen - dazu gehören etwa Erasmus »Adagia« - ergibt sich, daß »manieristische« Kürze nur dann vorliegt, wenn a) ein Rest an semantischer Dunkelheit gewünscht wird, b) der Kontext der »kurzen« Rede weder gedanklich noch sprachlich ausgearbeitet ist, c) das Modus-Postulat verletzt wird, d.h. Sentenzen und kombinatorische Verdichtungen, nach dem Muster der »guten« Autoren gemessen, im »Übermaß« vorkommen.

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ein, darunter u.a. auch die altertümlichen. Die Leistung des ingegno offenbart sich in der Überwindung eingefahrener sprachlicher Gewohnheiten. 1 2 2 D e m entspricht der Gestus des Ekels (taedium, nausea) am Vulgären und Herkömmlichen der sprachlichen Gewohnheit, die Suche nach Distinktionsmerkmalen in Kontrast zum Standard der allgemein zugänglichen, weil überlieferten und institutionalisierten Bildung. Gerade die Verfestigung der humanistischen Rhetorik und die Verbreitung der »Studien« verminderten deren Wert zur Symbolisierung gruppenspezifischer Unterscheidung: dies betraf die Elite der barocken Gesellschaft wie auch die aus der Gelehrtenrepublik sich heraushebende Schicht der sich an die Repräsentationsformen der Aristokratie anpassenden bzw. mit ihr in Wettbewerb tretenden bürgerlichen Intelligenz. Der scharfsinnige Stil ist ein prestige-verbürgendes »Unterscheidungszeichen«, das innerhalb des allgemeinen sprachlichen Systems neben den nicht-sprachlichen Zugehörigkeitsattributen (Mode, Verhaltenssicherheit, Etikette usw.) auf der Ebene kultureller Qualifikationen sozial herausgehobene Positionen markieren bzw. reklamieren kann. 123 122

Zu den »ungewohnten Wörtern« gehören altertümliche (vgl. Lipsius' Archaismus!) fremdsprachliche, abgeleitete, veränderte, zusammengesetzte und erdachte: dazu K.-P. Lange zu Tesauro, Theoretiker, S. 74ff. 123 Vgl. P. Bourdieu, Soziologie der symbolischen Formen, S. 65: »Ein Stil muß sich nämlich, mit Notwendigkeit wandeln, sobald er vollständig verbreitet ist, weil er ein Unterscheidungszeichen ist, das nicht allgemein werden dürfte, ohne seine Bedeutung oder genauer (im Saussureschen Sinne) seinen >Wert< zu verlieren, den es seiner Stellung innerhalb eines Systems und seinem Gegensatz zu anderen Elementen desselben Systems verdankt. Dasselbe Prinzip schreibt zweifellos auch der Suche nach Distinktion eine unaufhörliche Erneuerung ihrer Ausdrucksmittel in allen Bereichen vor, in denen (...) z.B. die traditionellen Standesinsignien in größerem Maßstab zugänglich werden und entsprechend das Bestreben, Unterschiede zu markieren, (...) sich äußert.« Die Mißachtung überkommener literarischer Normen bei Lipsius und der späthumanistischen »Moderne« entspricht der Logik modischer Neuerungen auf allen Gebieten der auf Repräsentation bedachten, d.h. um Prestigewirkung bemühten kulturellen Erscheinungsformen. Der stilistische Terminus der Kakozelie wird etwa in diesem Sinne bei Burton (Anatomy I, S. 91) zum metaphorischen Aequivalent eines von Ambition und Abhängigkeit geprägten Sozialverhaltens: »To see the kakozelian (i. O. griechisch - W. Κ.) of our times, a man bend all his forces, means, time, fortunes, to be a favourite's favourite's favourite, etc., a parasite's parasite's parasite, that may scorn the servile world as having enough ready.« Die Differenzierung der Sprache lagert sich ein in statussymbolische Umgangsformen. Auf die Rolle dieses außenorientierten Verhaltens im höfischen Bereich haben N. Elias, Höf. Gesellschaft, bes. 120ff., und J. Kruedener, die Rolle des Hofes, bes. 29ff., aufmerksam gemacht. Zur Dialektik von Imitation und Distinktion in der Kleidermode erhellend G. Simmel: Die Mode, in: Philosophische Kultur. Potsdam 1923 (3. Auflage), 23ff. sowie Bourdieu, Soziologie der symbolischen Formen, S. 59ff. Die gerade im 17. Jahrhundert zu beobachtende beständige Durchbrechung der immer wieder neu erlassenen Kleiderordnungen, in denen gesellschaftliche Formationen statisch festgelegt werden sollten, entspricht der Formulierung und Auflösung transhistorischer und ordnungsrepräsentativer Stilklassifikationen.· dazu umfassend Sinemus, 1978, 144ff.; zur Funktion von Distinktionsmerkmalen im Rahmen von Prestigebedürfnissen sowie zu diesem Begriff grundsätzlich vgl. die Arbeit von Kluth (mit weiterer Literatur): in diesem Kontext empfiehlt sich auch die immer wieder herausgehobene »Wirksamkeit des »arguten« oder »kurzen« Stils. Der Besitz von Prestige läßt sich nur am beeinflußten und 231

3.) Diesem sozialen Motiv des Stilwandels entspricht nicht nur eine elitären »Geschmack« bezeugende Auswahl des sprachlichen Materials, sondern eine Verschiebung des zugrundeliegenden Begriffs der individuellen »Leistung«: der »argute« Stil verlangt primär intellektuelle Fähigkeiten, verlangt »Nachdencken« sowohl vom Produzenten wie vom Rezipienten. Gefordert ist die »subtilitas« als herausragendes Attribut des ingenium. Mit ihrer Hilfe wird der verborgene Sinn und das tiefere, kombinatorisch zu entschlüsselnde, deshalb frappierende Bedeutungspotential der Dinge entdeckt. Der »subtilitas in re« entspricht die »subtilitas« als »vis intellectus«:124 diese Qualität ist aber wesentlich naturbedingt und nicht durch kulturelle, erst recht nicht durch scholastische Einübung zu gewinnen. Das ingenium hat charismatischen Charakter und erschöpft sich nicht in der Praxis der sprachlichen »ars«: es konkurriert damit jedenfalls intentional erfolgreich im Rahmen kultureller Äquivalenz mit den Aspirationen des Geburtsadels, indem es die Allgemeinheit der humanistischen »eruditio« zwar voraussetzt, aber im selben Augenblick hinter sich läßt. 125 4.) »Brevitas« ist eines der wesentlichen Merkmale auch des bildlichen Sprechens: das Bild offenbart das Wesentliche einer Sache nicht diskursiv-logisch, sondern durch gleichzeitiges Anschauen, eine Form der Evidenz; in der Form des Emblems vereinigt sich diese Art reizvoller »Kürze« mit einem sententiösen und maximenhaften Ausdruck in Gestalt der inscriptio und subscriptio. Ja im Bild selbst ist das überhaupt Unsagbare zugleich aufgehoben, verrätselt und offenbart. Die vom Leser zu entschlüsselnden Verweisungen sprechen die kombinatorische Lust des ingenium an. In diesem Sinne ist das Bild eine Form des Lakonismus und es kann nicht verwundern, wenn Harsdörffer das »Gleichnis« als »Lakonische Weibsperson« allegorisiert, »weil wir alles, was wir nicht nennen können durch

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beeindruckten Publikum ablesen. Prestige zu besitzen bedeutet, »eine Reihe aufeinander abgestimmter Techniken des Verhaltens zu beherrschen, die bei den anderen Reaktionen, Einstellungen und Gefühle hervorrufen, die unter dem Begriff Prestige subsummiert worden sind«. (Kluth, S. 10). Zur Definition der »Subtilitas« vgl. bes. J. C. Scaligers »De Subtilitate«, S. Iff. (benutzt in der Ausgabe Frankfurt 1607). Er definiert die »subtilitas in intellectu« als: »Vis intellectus, qua difficilia cognitu facile comprehenduntur. Ab hac subtilitate vocati sunt homines ingeniosi, quoniam ingenium est, abque si Graece dicas, to emphyton« (i.O. griechisch). Insofern die argutia-Bewegung die hohe Einschätzung des Verstandes voraussetzt, durch logische Operationen und kombinatorische Fähigkeiten tiefere Wahrheiten und - hinter der sinnlichen Welt - ungeahnte Perspektiven aufzudecken, ergeben sich Kongruenzen zu der am Beginn des 17. Jahrhunderts von Spanien her (Suarez) reaktivierten Dialektik und Metaphysik. In der »acutezza«-Bewegung kehrt sich aber diese kombinatorische Logik potentiell gegen sich selbst, insofern sie in Gefahr gerät, die Aufdeckung von Wahrheiten zugunsten eines lustvollen Spiels und einer gesellschaftlich-kommunikativen Form der »urbanitas« zu vernachlässigen. Beide Möglichkeiten sind auch in Deutschland gegeben: ihre Realisierung hängt von der vorgängigen religiös-ethischen Position des Autors ab. -

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Gleichnisse auszudrücken pflegen«. Es ist diese Weibsperson, die sich vermißt, »alle Fragen mit zweyen oder dreyen Worten« zu beantworten.126 5.) Besondere Bedeutung erlangte »brevitas« im Sinne sententiöser oder arguter Zuspitzung als Charakteristikum des epigrammatischen Stils bzw. des Epigramms als Gattung.127 1655 faßt ζ. B. Czepko das Prinzip in dem Satz zusammen »Mehr dencken als lesen«. m Dieser epigrammatische »Stylus« wird in der »politischen« Beredsamkeit Christian Weises gepflegt, aber auch schon am Anfang des Jahrhun-

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Harsdörffer: Nathan und Jotham. Das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte (...): Geistl. Lehrgedichte, Erster Teil, Nr. LXII (unpag.); zur Metaphorik bei Harsdörffer vgl. Windfuhr, Bildlichkeit, S. 30ff. und die Verweise S. 268ff. ; zur Theorie der Metaphorik in der Systematik von »acutezza« s. Κ.-P. Lange, Theoretiker, S. 78ff.; zur Verwandtschaft des Concettismus mit Emblematik und Epigrammatik vgl. M. Praz, Studies in seventeenth-cent, imaginery, 2. Aufl. 1964, S. 22ff. Hocke, Manierismus i.d. Lit., 171ff.; Schöne, Emblematik und Drama, S. 37ff. Nicht umsonst gehört der Theoretiker der argutia Masen, auch zu den bedeutendsten Polyhistorikern der emblematischen Tradition (Speculum imaginum veritatis..., 1650); vgl. ferner R. Grimm, Bild und Bildlichkeit im Barock, S. 395ff. sowie Jons, Sinnen-Bild, S. 23 und Windfuhr, Barocke Bildlichkeit, S. 262ff. 127 Zur Epigrammpoetik und Gattungstheorie mit Rezension der bisherigen Forschung jetzt zu vgl. Jutta Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1979 (= Germanistische Abhandlungen 49). Leider beschränkt sich diese Arbeit auf deutschsprachige Autoren. Bemerkenswerter als die Einzelheiten der Theoriebildung ist die Hervorhebung funktionaler Aspekte, wie z.B. die Tatsache, daß M. Rader S.J., der maßgebliche Herausgeber Martials auf katholischer Seite, im Vorwort seiner Edition ausdrücklich die »Zeitgemäßheit« des Epigramms und die umfassenden Möglichkeiten poetischer Nutzbarkeit hervorhebt (in der Martialausgabe von 1660, Praefatio, spez. S. 6): »Ad usum porro scribendi, nostronimque temporum ingenium, quod longos fastidit, brevia, acuta, piperata dicta, vel maxime amat, quid aptius lectiusque deligas? Habes hic (qua hodie frequentantur) natalitia habes epitaphia, salutationes, gratulationes, laudes, petitiones, iocos, risus, sales, & quidquid in ullo fere argumenti genere desiderare possis. »Wie diese gesellschaftliche Aktualität des »kurzen« Gedichts und des »kurzen« Stils Hintergrund und Motivation für die Produktion von Epigrammen bildet, zeigt sich sehr deutlich in den begleitenden Erläuterungen Moscheroschs zu seinen sukzessive erschienenen Epigrammsammlungen, zusammengefaßt in der Ausgabe von 1665: dort die Begründung der »brevitas« u. a. auch mit Verweis auf Lipsius (S. 50), - der Widerwille gegen das »lange« Gedicht, gegen jede Art von poetischer »loquacitas«. Bezeichnenderweise empfiehlt sich Moscheroschs Poesie zugleich durch eine brieflich an Harsdörffer ausgesprochene (vgl. ibid. S. l l l f f . ) Verurteilung des »Pedantismus«; unpedantische Dichtung gehört zu den Voraussetzungen, »êstre propre aux affaires d'Estat & du Monde« (vgl. ibid. S. 113). 128 Motto der »Sexcenta Monodisticha Sapientium«, in Darmstadt 1963 (zuerst 1630), S. 219. Gerade im Blick auf Lipsius und die Rolle Senecas in der Stildiskussion ist aufschlußreich, daß bei Owen, dem weitverbreiteten und in Deutschland vielfach rezipierten englischen Epigrammatiker, der »Seneca philosophus« (so der Titel) wegen der Nähe seines Stils zur »epigrammatischen« Kürze gerühmt wird: »Pene tuae dici possunt Epigrammata Gnomae, Praeterquam numeris tua dicta carent.« (Epigrammata, Breslau 1668, S. 92, Nr. 140).

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derts in der Rezeption spätantiker Epigrammliteratur (Martial) und neulateinischer Epigrammatiker aufgegriffen und geschätzt.129 6.) Eine Sprache, die der »acutezza« gehorcht, bedient sich einer Scheinargumentation, die »auf urbane Weise täuscht«, d. h. das rhetorisch-logische Enthymem als Schlußfigur wird seines Mittelgliedes verlustig, der logisch zu explizierende Gedanke bis zur Unkenntlichkeit verkürzt und damit auch für transrationale Aussagen verfügbar. 130 Dieses Mittel zur Verkürzung der Aussage bestimmt u. a. auch die Theorie Masens in seiner »Ars nova argutiarum« (zuerst 1649). Bekanntermaßen bezieht er sich hier u.a. auf Tesauro. Bei genauerem Hinsehen aber wird deutlich, daß er seine »fontes argutiarum« in enger Anlehnung an die Scherzund Witztheorie vorträgt, wie sie Cicero im zweiten Buch von »De Oratore«, danach u.a. Quintilian, Pontanus und - für den gesellschaftlichen Adressaten hinreichend deutlich - auch Castiglione in seinem Cortigiano referiert hat. 131 Masen bleibt also auf paradoxe Weise Ciceronianer, wie er in einem Epigramm scherzend pointiert: 132 »Sunt tarnen & rigidi quae possint ferre Catones, Ni pudet arguto cum Cicerone loqui«.

Dieser Cicero ist aber genau der, den auch Lipsius von seiner Polemik ausgenommen hatte, der urban scherzende Briefschreiber und berühmte Witzling, von dem Lipsius in seinen »Variarum lectionum libri II« rühmte: »In iocis & facetiis Cicero semper Deus est. .. .«133 An der gleichen Stelle verteidigt Lipsius übrigens Ciceros berühmtes witziges und zugleich aggressives Wortspiel mit der semantischen Mehrdeutigkeit von »Verres« (Verres als der Mann, gegen den Cicero redet, verres als »Eber«, »ius verrinum«, eine Suppenart) ausdrücklich gegen den Tadel des Tacitus als »elegantissimus iocus« und »acute (Unterstreichung von mir W. K.) & venustum dictum«. Und der Rezeptionskreislauf zwischen Tesauro, Masen und Lipsius, der zugleich auf eine Kohärenz stilistischer Beurteilungskriterien hindeutet, schließt sich, wenn man bei Tesauro eben dieses Verres-Wortspiel als Beispiel eines scharfsinnigen arguten Syllogismus im Sinne der »acutezza« analysiert findet.134 129

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Zu Weise und seiner Einschätzung der »argutae inscriptiones « als »poesis politicorum« vgl. Barner, Barockrhetorik, S. 185f. und 357ff.; ferner Fischer, Gebundene Rede, S. 247ff. Dazu K.-H. Lange, Theoretiker, S. 103ff. Masen, Ars nova arg., Art. III, S. 12: »Ciceronis pro hac re doctrina proposita breviter, & explicata«; S. 13-21: De facetiis, earumque genere ac varietate ex Cicerone. Ciceros Witztheorie steht in De Oratore, II, c.LVIII, § 236ff.; sie wird aufgegriffen von B. Castiglione im »Cortegiano«, II 45ff.; vgl. dazu Loos, B. Castiglione, S. 175f. u. 198ff. Zur Tradition des Apophthegmas und der Scherzrede (facetiae) s. Th. Verweyen (1970). Ars nova arg., 1649 aus dem Geleitgedicht »Ad studiosam juventutem« (unpag.): »Trotzdem gibt es etwas, was auch die strengen Catone vertragen können, wenn man sich nicht schämt, mit dem arguten Cicero zu sprechen.« Variarum Lectionum Liber II, Opera omnia Bd. I, S. 38/39. Tesauro, Il Canocchiale, S. 11, vgl. dazu K.-P. Lange, S. 17 und 107.

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Von Lipsius ausgehend, läßt sich genau verfolgen, wie das Stilideal der Kürze sich aus Nötigungen der politisch und sozial veränderten Kommunikationsbedingungen ergibt, d.h. wie stilistische Bewertungskategorien unmittelbar resultieren aus den praktischen Erfahrungen akzeptierter bzw. obsoleter und kompromittierender Sprachnormen in der Gesellschaft des Hofes und in der barocken Verwaltungselite. Lipsius selbst hat in seiner »Politik«, wie gesagt, daraufhingewiesen, daß gerade dem Fürsten eine sparsame, »kurze« Diktion zukomme. Diese müsse wie eine Münze sein, die bei kleinem Gewicht großen Wert habe. D e m sparsamen Aufwand an Worten entspreche ein um so bedeutsamerer Sinn. 135 Zugleich erscheint diese »kurze« Sprache als Zeichen und Beweis fürstlicher Souveränität, »kurzer« Stil symbolisiert die Machtfülle von Herrschern und ihre nicht mehr zu diskutierende Entscheidungsgewalt; demgegenüber fungiert wortreiche Länge als Ausdrucksform des auf »Bitten« angewiesenen Untertans. 136 Erycius Puteanus, einer der strengsten Anhänger des lakonischen Lipsianismus, nicht zufällig Professor im spanisch-habsburgischen Löwen, 137 beschreibt diese ständische und politisch-funktionale Zuordnung von Stilcharakteren in seiner dialogischen Abhandlung »De Lakonismo Diatribe« sehr deutlich: Auch Könige und Fürsten, die, Gott am nächsten, Gott auf Erden repräsentieren, empfehlen, sparsam, aber scharfsinnig in ihrer Sprache, ihre Majestät durch Lakonismus, die Krone durch ein Apophthegma: man könnte glauben, daß auch die Sprache durch denselben Stirnreif gebunden ist, der das Haupt umgibt. Sie ragen unter den Menschen,

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. . . »Apage linguaces istos: quibus (plerumque ista evenit) loquentiae nullum, sapientiae parum« Pol. L. Sex, in: Opera omnia, Bd. IV, S. 34b; vgl. die obigen Hinweise auf die stilkritischen Überlegungen im Vorwort der »Politik«; eine interessante Parallele zu dieser Applikation der Münzmetaphorik in Stephan Guazzos »De civili conversatione dissertationes politicae« (zuerst 1586, deutsch 1599, hier zitiert nach der lateinischen Ausgabe von Elias Reusner, Leipzig 1673; dort S. 179: »Verba absque sententiis, verba non sunt, sed nugae. Estque admodum paucis concessum, ad Phocionis excellentiam accedere: qui paucis usus fuisse dicitur verbis, sententiis multis: non secus, ac loquelam comparasset denario; qui tanto pluris aestimatur, quanto minons est materiae, & valons majoris. Quod revera rarum & singulare donum est. Sed qui id consequi nequit, considerare ad minimum debet; magis semper laudatum fuisse incultum prudentiam, quam copiosam & stultam loquacitatem. Assimilaturi itaque linguam denario dicemus, quod sicuti in hoc forma & pressura sive typus principaliter non consideratur, sed pondus & materia; ita in sermone non tam venustas & ornamentum, quam gravitas & utilitas, contemplanda sint. Et ideo multi sunt, qui licet optimos conceptus habeant, eos tarnen verborum cultura exprimere nequeunt.« 136 Noten zur Politik, a.a.O., S. 132: mit Berufung auf Tacitus und Demetrios von Phaleron: »Nam praecepta & iussiones, quae Principi conveniunt, brevibus verbis formantur: preces autem, quae humilioribus, verbosae & longae esse debent«: hiermit ist der Weg zur spezifischen Form des »devotionalen« Schwulstes als Mittel untertäniger Annäherung an den Herrscher gewiesen, zugleich die »Höfische Kurtzbündigkeit« als Kommunikationsstandard der von solchen Rücksichten befreiten Elite festgeschrieben. 137 Puteanus (= Hendrik van Put) lebte von 1574 bis 1646. Seine Karriere war steil, nicht zuletzt durch gute Beziehungen zum Cardinal Borromeo. 1601: Professor der Eloquenz in Mailand, Dr. juris, span. Hofhistoriograph, nach dem Tode des Lipsius ab 1607 Professor in Löwen, s. Art. in ADB, sowie Croll S. 71. 235

ja über die Menschen empor - sicherlich auch aus dem Grund, daß sie die Geschwätzigkeit an das schmutzige Volk verweisen und stattdessen in Sentenzen verschlossene Orakel aussprechen. (Ü)138

In der Widmung derselben Schrift heißt es: Nicht nur Tugend und Glück, sondern auch Weisheit und Beredsamkeit trennen vom Volk, große und göttliche Gaben. Die Beredsamkeit ist der Dolmetscher der Weisheit: aber jene unerschütterliche, gedrängte und gleichsam mit den Spitzen blitzender Sentenzen ausgerüstete; die einst die Spartaner unter Anleitung des Lycurg pflegten, diese, so wage ich vorherzusagen, ist auch die Deine ( . . . ) In der Kürze liegt eine gewisse Autorität und Majestät: dies beides aber beim Fürsten, dessen Worte wie Dogmen sind, gewichtig mit Herrschermacht, erhaben mit Freiheit, lieblich mit Leutseligkeit. (Ü)

Wenn derselbe Puteanus in seiner »Suada Attica« die antike Stilentwicklung bis zu dem, wie er meint, asianischen Ciceronianismus ganz in Lipsius' Sinne entwickelt, verteidigt er zugleich sein eigenes Stilideal. Über die Synopse von Staatsverfassung und Beredsamkeit wird nicht nur die politische Angemessenheit des römischkaiserzeitlichen Manierismus nachgewiesen, sondern zugleich die Rechtfertigung auch der modernen Anpassungen der Beredsamkeit an die Kommunikationsbedingungen des Fürstenstaates mitgeliefert: Nach Cicero war es leichter, durch Kürze, als durch Wortreichtum den Titel eines Beredten zu bewahren: man gelangte von der Masse zum Gewicht, von der rohen Kraft zum Scharfsinn, und darin schwitzte anschließend die Beredsamkeit, sich mit lebendigen und angemessenen Sentenzen aufzurichten und mit dem Sinngehalt die Sprache selbst zu übertreffen. Auch die Notwendigkeit der Zeiten brachte die Form hervor: und nach der Freiheit des römischen Volkes liebte es auch die Redekunst, beschränkt zu werden. Kein Wunder, jeder bemühte sich, die dem Herrscher würdige Rede zu imitieren und zu seiner eigenen zu machen, und ließ trotzdem bei aller Kürze den Rhythmus nicht außer acht.

(Ü)139 138

139

E. Puteanus: De Laconismo Diatribe, in: Amoenitatum Humanarum Diatribae XII, in: Opera omnia, torn. IV, Bd. II, Löwen 1615, Nr. VII, S. 367-449, die Zitate S. 393, bzw. 367: »Etiam Reges Principesque, qui Deo Proximi, in Terris Deum repraesentant, sermone parci, sed arguti, majestatem suam Laconismo commendant, Apothegmate Diadema: putes eadem fascia quae caput ambit, linguam quoque vinctam. Eminent inter homines, imo supra homines, hac paene de caussa, quod polylogia (i. O. griechisch) ad sordes populi relegata, sententiis conclusa oracula loquantur«. »Non Virtus aut Fortuna tantum, sed sapientia & facundia a populo secernunt, magnae & divinae dotes. Sapientiae interpres Facundia est: sed illa fida, stricta et vibrantium velut sententiarum aculéis instructa; quam Spartani olim Lycurgi instituto, coluerunt; & tuam esse, praedicare ego audeo [...] In Brevitate auctoritas quaedam & majestas est: utraque haec in Principe, cujus verba velut dogmata sunt, cum imperio gravida, cum liberiate augusta, cum humanitate amoena.« E. Puteanus: Suada Attica. Sive Orationum Syntagma«, in: Opera omnia, Tom. IV Löwen 1615, Bd. I, fol. a 5 (Widmung): »Post Ciceronem facilius erat, brevitate, quam copia tueri diserti nomen: a mole ad pondus [man denke an die barocken »Zentnerworte«, - W. K.], a robore ad acumen ventum est, in eoque deinceps sudavit Eloquentia, ut aptis vi visque sententiis exsurgeret, sermonem ipsum aevi sensus superaret. Temporum necessitas quoque exegit formam: & postquam libertas Populi Romani constringi ipsa Suada amavit. Nimirum, dignam Imperatore orationem imitari quisque, & suam facere conatus est, neque in brevitate tarnen, numéros omisit.« Vgl. auch die Ausführun-

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Caspar Ens schreibt in seinem »Apparatus Convivialis«, Köln 1615, unter der Überschrift »Coram Principibus breviloquentiam usurpandam«: Durch eine Reihe von Beispielen ist belegt, daß Kürze und Dunkelheit dazu geeignet sind, Schrecken einzujagen. Kürze der Rede und Dunkelheit des Sprechens hat etwas Herrschaftliches, und ist deshalb sehr geeignet für Drohende, nützt wunderbar, den Leuten, mit denen wir es zu tun haben, Schrecken einzujagen: denn wie man alles in der Dunkelheit mehr fürchtet als bei Licht: so machen jene Dunkelheiten der Rede gleichsam alles, was vorgebracht wird, schrecklicher. (Ü)140 »Kürze« ist somit Attribut der Herrschersprache, Signum von Macht und Entschlossenheit; darüber hinaus gehört sie zum Komplex disziplinierten und rationalisierten Verhaltens, das die Kommunikationsnormen des höfischen und politischen Reglements erfüllt. Deshalb wird die entsprechende Diktion nicht nur bei Rhetorikern der Zeit - Daniel Richter, 141 B. Kindermann, 142 G. Ph. Harsdörffer 143 und schließlich ausführlich in der »Politischen« Rhetorik des Christian Weise

gen in Puteanus' »Palaestra bonae mentis« (Löwen 1611): (S. 28) »Quis Principis sui personam decoro satis habitu repraesentet, nisi culta ac nitida Suades pompa mandata vestierit«...; (S. 31) das Erziehungsziel: »Bonos formamus Patriae cives, Principi subditos, & bonos censemus, qui doctrina & prudentia fiunt . . . (und als Empfehlung seiner Lehrtätigkeit): O magnum igitur Litterarum beneficium, quae facilem Principis dignationem impétrant; & eo ducunt, quo per longissimas solet ambages iri! Quotus quisque aut magnatum territ limina, ut viam votis aperiat? aut favores emendicat, ubi commendetur; aut amicitias emit, ne repulsam petitio patiatur? Has molestias anfractusque homines amusi subeunt, & tarnen magnae doctrinae opinione fulti.« 140 Gaspar (oder Caspar) Ens gehört zu den vielen Unbekannten der Epochenschwelle um 1600: ein Polyhistor mit einem reichen vielfältigen Werk von Schwanksammlungen, Reiseschrifttum, Dramen und Übersetzungen (ins Lateinische). Jöcher weiß von ihm nur, daß er um 1612 gelebt hat; Werkverzeichnis und spärliche biogr. Bemerkungen bei Kosch: Deutsches Lit.-Lexikon, 3. Aufl., Bern / München 1972, Sp. 340. Das Zitat S. 257f.: »Brevitatem & obscuritatem aptam esse ad terrorem inferendum, aliquot exemplis confirmatum. Brevitas loquendi & sermonis obscuritas imperiosum quiddam habet, ideoque aptissima est minantibus utraque, mirifice prodest, ad ánimos eorum quibuscum agimus, perterre faciendos: nam ut in tenebris magis timentur omnia quam in luce: sic illae orationis quasi tenebrae terribiliora redunt ea quae proponuntur.« (...) »multa deblaterare, artis non est; sed paucis multa dicere.« 141 Im Zusammenhang der Synopse von Staatsverfassung und Beredsamkeit werden adressatenbezogene Unterschiede des Stils gefordert: »... indem dem gemeinen Volck alles gar weitläufftig und deutlich; hergegen aber hohen Standespersonen/Rähten und Bedienten alles viel nervöser und kürzer vorgebracht werden muß.« - Daß vornehme Leute keine Zeit haben, sich mit elaborierter Weitschweifigkeit belästigen zu lassen, gehört zu den Direktiven der gesellschaftlichen Klugheit, nicht erst bei Gracian; vgl. zu der entsprechenden Passage im »Oráculo manual« H. Rüdiger, Brevitas, S. 358. 142 Vgl. Sinemus, 1978, S. 102f. 143 Poetischer Trichter, Dritter Theil, S. 67f.: »Ferners ist die Kürze der Rede eine sondre und bey Fürsten und Herren nohtwendige Zier / dardurch das Gedächtniß / sonder Belästigung / gerühret und nachdrucklichst belustiget wird. Wie sich bald und wol entschließen eine Königliche Tugend ist; also ist auch kurtz und wol reden eine Prob eines verständigen Hofmanns: Wann man nemlich nicht mehr Wort / als die Sache von nöhten hat, gebrauchet / selbe aber mit gebührlicher Schicklichkeit und sondrem Nachdruck zu Werke bringet.«

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und seiner Anhänger für die Herrscher, Herren und das in die Funktionsstellen des Staates aufsteigende Bürgertum empfohlen, 144 sondern ist, abgedämpft durch Harmoniepostulate, bereits in der Verteidigung der Dichtung durch Martin Opitz im frühen 17. Jahrhundert als Mittel der Repräsentation geheimnisvoller Hoheit latent präsent: Dann inn dem sie so viel herrliche Sprüche erzehleten / und die worte in gewisse reimen und maß verbunden / so daß sie weder zu weit außschritten / noch zue wenig in sich hatten / sondern wie eine gleiche Wage im reden hielten / und viel sachen vorbrachten / welche einen schein sonderlicher propheceiungen und geheimnisse von sich gaben / vermeineten die einfältigen leute / es müste etwas göttliches in ihnen stecken / und Hessen sich durch die anmutigkeit der schönen getichte zue aller tugend unnd gutem wandel anführen. 145

Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich sehr deutlich, daß Stilnormen und Sprachregelungen, die in der Poetik und Rhetorik der Zeit formuliert werden, heteronom bestimmt sind von den staatspolitischen Interessen der Dynasten und den Ordnungspostulaten des bürokratischen Etatismus, denen sich der um sein »Glück« besorgte Gelehrte anzupassen hatte. Stilbewertungen ergeben sich zumindest in dem hier angesprochenen Punkt - aus den Postulaten der politischen Klugkeit, dem Kalkül des Herrschers und der um ihn gruppierten, von ihm abhängigen bzw. in seinen Dienst tretenden gesellschaftlichen Elite. Eine Sprache, die mehr verhüllt, als sie offenbart, gehört wesentlich zum Habitus des um seine »Reputation« besorgten Fürsten: sintemahl das zuviel reden / machet die Wörter verächtlich / und entdeckt die geheimniß / und wo er nit ein Man eines grossen Verstands sein wird / werden die Leute durch sein reden / alle seine Mängel warnehmen. 144

Vertraulichkeit - auch in der Sprache - »zerschlägt gewalt und ansehen«, 147 die zunge sol wie das schwert gebraucht werden / das ist / das du dem Leib dem fechten nit bloß gebest. Wer sein gemüt gantz eröffnet / der ergibt sich der gefahr. Kurtze gesprech seind kräftig / und geben dem gemüht viel nach zu dencken. 148

Der Herrscher wird zum Prototyp des »verschlossenen« Individuums, die Nichtidentität von Innen und Außen auch in der Sprache, das Verbergen sowohl der eigenen Schwächen als auch der »arcana imperii« prägen einen Verhaltensmodus, der für die Selbstbehauptung des Souveräns als auch für die höfische Gesellschaft im Ringen der Individuen und Gruppen um die Gunst des »Glücks«, der inkalkulierbaren und nicht mehr zu erzwingenden Partizipation am Machtmonopol des 144 145

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Vgl. Barner, Barockrhetorik u.a. S. 175; ausführlich Schwind, 1977, S. 97, 128ff. Poeterey, Kap. II, fol. Β Ι Γ ; zu den rezeptionsästhetischen Kategorien des Rätsels und Orakels vgl. Manfred Fuhrmann: Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike, in: W. Iser (Hg.) Immanente Ästhetik - ästhetische Reflexion. München. 1966, 47ff. Saavedra Fajardo, Abris Eines Christlich-Politischen Printzens, [deutsch] 1674, S. 117f. Ibid. S. 122. Ibid. S. 122.

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Fürstenstaates unabdingbar ist. 149 Insofern Herrschaftssicherung nur in der Konstitution des Ordnungsstaates erfüllt ist, hat das skizzierte Verhalten funktionale Bedeutung für die Erhaltung der ständig bedrohten »Disziplin« des Individuums wie auch der sozialen Gruppen, insbesondere des »Pöbels«. Der Ausdruck »lakonisch« für die »kurze« Sprache der regimentalen Kommunikation wird deshalb immer wieder in Beziehung gesetzt zum rigorosen Macht- und Militärstaat Spartas. Ein kleines Gedicht illustriert »scharfsinnig« diese semantische Konnotation: De Spartanis Interrogatus quispiam, quei Sparta sie Floreret? an quod imperare bene Recteque possent, ac solerent? immo, ait, Parere cives absque vi quod sueverint.150 (Über die Spartaner. Auf die Frage, warum Sparta so blühte und ob sie gut und richtig herrschen konnten, sagte einer; nein, - weil die Bürger sich daran gewöhnt haben, auch ohne Gewaltanwendung zu gehorchen.) Für den fürstlichen Beamten, den »consiliarius« bis hin zum »secretarius«, prägt deshalb der Gegensatz von bürgerlicher ( = den Untertan betreffender) »Weitläufigkeit« und höfischer »Kürze« wichtige Regulative der Stilwahl und Sprachhaltung. In Anlehnung an die Zweckmäßigkeit der Herrschafts- und Befehlssprache wird die Warnung vor dem scholastisch-gelehrten Schwulst und einer in Worti>9

Vgl. Saavedra Fajardo a. a. O., S. 453ff.: »Die geheimnuß seines Hertzens sol er niemand offenbahren«; ähnlich u.a. bei Botero, Von Anordnung guter Policeyen, dt. 1596, S.94ff.: »Mittel und wege / wie ein Fürst oder Herr sein Reputation und Ansehen erhalten könne; dort ein ganzer Katalog von Schutzmaßnahmen: der Fürst muß (S. 94v) »sein Schwachheit und Unvermügenheit weißlich wissen zu verbergen«; er muß mehr handeln als reden, allzeit »gravitetisch und bestendig« sein (95v); »Heimlichkeit und Verschwiegenheit« an den Tag legen und sich nicht mit »Schwätzern und Klappermäulern« gemein machen (S. 98ff.); auch nichts von dem mitteilen« was zu seiner Herrlichkeit und Vortrefflichkeit gehöret«. - Zu Charakterisierung des verschlossenen und isolierten Individuums im barocken Trauerspiel als Reflex der höfischen Gesellschaft, vgl. Steinhagen, 1977, S. 58ff.: Steinhagens These, daß in diesem Modell disziplinierten, die NichtIdentität des Subjekts postulierenden Verhaltens letztlich die bürgerliche Rationalität der neuzeitlichen Geldwirtschaft durchschlägt, ist in diesem Zusammenhang nicht näher zu diskutieren. 150 M. Zuberus, Poematum Pars Altera, 1627, S. 443; vgl. auch J. W. Gebhardt / M. G. Draudius: Fürstliche Tischreden, Erster Theil, 1620, S.78f.: »Daß in dem Reden alle vornehme Leut sich der Kürtze befleissen sollen. Lang schwätzen ist keine Kunst / ungeachtet es heutiges Tages darfür halten wollen. Aber seine Rede kurtz und recht zu setzen wissen / ist ein gewaltig Meisterstück.« Es folgt ein Hinweis auf das Verhalten der Lakedämonier bei Gesandtschaften (nach Plutarch) . . . »Der jetzige König in F r a n k reich pflegt es anders zu machen. Dann alsbald er mercken kan / daß einer vor jhme zu lange zu reden begehrt / rufft er stracks ein andern zu sich / unnd lest den Stockfisch stehen. Es haben solche Fürsten nicht allzeit die Weil / daß sie eines jeden lang Geschwätz außhören können. Insonderheit sollen große Herren (auff deren jegliches Wort jedermann Achtung zu geben pflegt) sich der Kürtze im Reden befleissen / unnd das lange Geschwätz den Tiriackel Krämern lassen [...] welches die Lakedämonier von sich selbsten geredt.« 239

reichtum prunkenden, d.h. aus der Figurenamplifikation sich ergebenden Dunkelheit formuliert. 151 Politische Rede tritt in Gegensatz zur Schulrhetorik. Der scholastisch perorierende Redner macht sich sowohl in der Verwaltung als auch bei Hofe lächerlich.152 Diese Opposition betrifft auch die Regeln des Komplimentierwesens, das sich an der Erfahrung, an der Situation und an dem Naturell von Adressat und Sprecher, nicht aber am rhetorischen Schema auszurichten hat. 153 Diese in der muttersprachlichen Rhetorik erst bei Weise voll ins Licht tretende Distanz von althumanistischen Redeidealen, die deren Relevanz nur noch auf einen schmalen Bereich praktischen Gebrauchs (Panegyrik) beschränkt, wird in der politischen Didaxe, in den Leitfäden zur Ausbildung des »politicus« schon Jahrzehnte früher bedacht. Es ist höchst aufschlußreich, wie bei einem Praktiker wie Adam Keller 1607 die Klugheits-Forderung mit den Qualitäten der ingeniösen, scharfsinnigen Sprache verknüpft wird: es wird hier deutlich, daß im Ideal der »Kürze« sozialdistinktive wie auch funktional-politische Bewertungsgesichtspunkte sich überlappen. Das sich daraus ergebende Rollenbild des »juridicopoliticus« lehnt sich - der Rückgriff auf Lipsius erweist sich als berechtigt ausdrücklich an die (neo-)stoische Anthropologie an, deren Gegensatz zum Aristotelismus herausgehoben wird. Denn die Stoiker verstehen den Geist (»ingenium«) eines Klugen als den Habitus, der schnell seine Pflicht findet; andere nennen ihn die Kraft des Geistes, mit der wir etwas (er)finden, was wir von niemandem gelernt haben. Die Peripatetiker nennen ihn eine gewissermaßen von Natur aus angelegte Geisteskraft, die mit ihren Mitteln dazu dient etwas zu (er)finden, was mit der Vernunft (»ratio«) beurteilt werden kann. (Ü) 154

Der mit »ingenium« ausgezeichnete Beamte hat demnach nicht nur einmal Gelerntes anzuwenden oder Fakten und Situation nur nach Maßgabe der natürlichen, jedem Menschen zukommenden Vernunft zu beurteilen, sondern muß fähig sein, a) sich unmittelbar auf unerwartete Herausforderungen einzustellen, b) in der Art seiner Sprache diese seine Qualifikation zu repräsentieren, c) sich damit nicht nur über die »vulgäre Vernunft« zu erheben, sondern sich in Kommunika151

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Vgl. dazu Schwind, 1977, mit Hinweis auf Weise S. 97ff. dort ausführlich zu den entsprechenden Kollisionen mit der traditionellen Schulrhetorik; s. auch ibid. 128ff., 157. Die Situation ist in der Satire des öfteren dargestellt: vgl. unten C II und III; hier nur der Hinweis auf Moscheroschs Gesicht »Hoff-Schule« (Gesichte I, 7, S. 405ff.) sowie ibid. das Gesicht II 2, S. 186ff., spez. 194ff.: die große Phillippika des Airovest gegen Cicero. Dazu Schwind, 1977, S. 129ff.; vgl. auch Barner, Barockrhetorik, 166ff. Es ist keine Frage, daß sich diese Tendenzen auf breiter Front erst nach der Mitte des Jahrhunderts in Deutschland durchsetzen. Mir kommt es darauf an, zu zeigen, daß im Bereich der »politischen« Literatur und der Reflexion der »politischen« Klugheit sich die grundlegende Konkurrenz von Schule und Hof bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts herausbildet. Adam Keller: De officiis juridico-politicis..., 1607, Lib. I, Kap. II: »De ingenio consiliari] & officialis juridicopolitici, spez. S. 22f.: »Prudentis enim ingenium dicunt esse Stoici habitum celerem officij inventorem: alij vim animi, qua aliquid invenimus, quod a nemine didicimus: Peripatetici vim quandam naturaliter animis insitam, suis viribus praevalentem ad inveniendum, quod ratione judicari possit.«

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tionsformen zu behaupten, die gerade im Rest des Ungesagten, in der Verschlossenheit des »tiefen« oder »hohen« Bedeutungsgehaltes besondere Aufmerksamkeit erfordern. »Scharfsinnigkeit« als Stilideal hat in der Qualifikation des höfischen Beamten die entscheidende soziale Determinante; sie verlangt, in der kommunikativen Praxis von Hof und Politik, unmittelbar und sofort nicht nur selbst angemessen zu replizieren, zu formulieren und das Sprachspiel des verhüllenden Nennens sowie die »urbane« Praxis der Konversation zu beherrschen - von hier aus ergäben sich tieferliegende Impulse zur Rolle der »Kürze« im Sinne eines extemporalen Sprechens - , 1 5 5 sondern auch kraft eigener Findungs- und Kombinationsgabe einerseits die eigene Identität taktisch zu verhüllen, andererseits die des Partners hinter ihrer repräsentativen Äußerlichkeit zu erkennen. Durch die Dokumentation solcher Fähigkeit gewinnt er Anteil an jener Art von »Reputation«, die zu seiner praktischen Behauptung im aristokratisch geprägten Umfeld wie auch zu seiner Bewährung im Dienst des Herrschers unumgänglich ist. Bei Adam Keller liest sich die entsprechende Empfehlung u. a. so: . . . Von da aus ist zu hoffen, daß es leicht möglich sein wird, mit einem aufgeweckten und hurtigen Geist [»ingenium«] auf jedes beliebige Zustoßende, ja selbst auf das Paradoxe antworten zu können. Denn die von Natur oder durch ständige Übung erworbene geistige Regsamkeit ist der Anfang, das Mittel und das Ende hervorragender Handlungen. >Baldt unnd wol resolvirt oder resolut zu sein / halt man für eine Fürstliche tugendtbonae literae< und die >Sitten< der Jugend eingeprägt werden, moralisch verdorben sind oder die Erziehung dort nicht richtig gehandhabt wird, auch gefährlichste Umwälzungen bevorstehen.« 13 Die in den Jahren um 1600 zu beobachtende Welle der Universitätsreformen, welche die korporative Struktur der spätmittelalterlichen Universität auflösen und mit verschiedener Durchsetzungskraft auch die gelehrten Institutionen in Staatsanstalten umwandeln - neben diesem juristischen Aspekt muß das Bemühen um pädagogische und didaktische Rationalisierung als analog eingeordnet werden - , beweisen, daß die Theorien des politischen Schrifttums auch in dieser Hinsicht epochale Tendenzen der Zeit reflektieren. 1 4 Man darf angesichts der Vielfalt und doch Einhelligkeit der Zeugnisse in den Jahrzehnten an der Schwelle des Dreißigjährigen Krieges das Entstehen einer staatlichen »Kulturpolitik« ansetzen, die sich als Teil der Disziplinierung vor allem des Untertanen, ideell aber auch der Gesamtgesellschaft einschließlich des an die Gesetze gebundenen Fürsten begreift. Das aber bedeutet, daß die Polarität von

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Keckermann, a . a . O . (s. A n m . 9), S. 950: »Subordinatur hic disciplinae Politicae peculiaris quaedam disciplina...«, er zitiert aus den » D e república libri sexetviginti« des Gregorius Tolosanus. Frankfurt 1609, Buch XIII, 3, XVIII 1; dazu Otto Casmann. Doctrinae et vitae politicae methodicum ac breve systema, Frankfurt 1603, c. 15; ferner verweist er auf entsprechende Forderungen bei Johannes Casus, Joh. Althusius sowie bei dem Calvinisten Lambertus Danaeus ( = Lambert Daneau, 1530-96). Principium et finis Pol. doctrinae, Diss. II, e . V . , »De Praesagiis ruinae Rerumpublicarum« (S. 147-167) - erschienen 1625 - , das Zitat spez. S. 161: »Salutem reipublicae omnium privatorum salutem complecti; stante república omnes cives stare; cadere ea cadente«. Ibid. S. 158: »Si item loca, ubi bonae literae moresque juventuti inculcentur, sint vel moribus depravata, vel institutio ibi non rite tractetur, mutationes periculosissimae instant«. Vgl. J. Biicking: Reformversuche an den dt. Universitäten in der frühen Neuzeit, in: Festg. f. W. Z e e d e n , 1976, S. 355-69.

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Privatheit und staatlicher Öffentlichkeit unmittelbar auch die kulturelle Sphäre betrifft. Grundsätzliche Züge der barocken Dichtungsapologetik sind hiervon bestimmt, etwa wenn Opitz sich gegen den Vorwurf wehrt, daß mit der Poesie kein Amt zu bekleiden sei, wenn der Topos vom Dichten der Nebenstunden Platz greift, 15 wenn bestimmte Gattungen, vor allem Liebesgedichte nur noch als »juvenilia«, als Produkte also einer noch »ungezügelten Jugend« zu legitimieren sind oder durch Tugendbekenntnisse revoziert werden müssen oder wenn allgemein der Nutzen auch der Dichtung »zue aller tugend vnnd guttem wandel« (M. Opitz) apostrophiert wird. Bei Georg Neumark etwa ist diese allgemeine Formel recht eindeutig politisch präzisiert: Viel nützliche Sachen von dem Regier» und Hauß= Stande können durch Poetische Lieder beygebracht werden / saget Diogenes Laertius. Unter den Gedichten von Amphion und Orpheus, stecket nichts anders verborgen / als daß verständige und beredte Leute ein ungeschlachtes Volck Ieichtlich zum Gehorsam bringen und zu guten Gesätzen gewähnen können. 16 Wenn auch in der poetischen Metapher die Schule im althumanistischen Sinne weiterhin als Musenort angesprochen wird, 17 Besoldus, Bernegger und zahllose Theoretiker des ganzen Jahrhunderts definieren die gelehrten Institutionen nicht mehr wie im 16. Jahrhundert wesentlich nur pragmatisch als Ausbildungsort der Beamten von Staat und Kirche, sondern als Erziehungsstätten des Untertanen überhaupt, als Seminarien, »Pflanzschulen«, des Bürgers. 18 Immer wieder blickt man auf die berühmte spartanische Zucht, bei der die Auswahl der Lehrer und Art der Erziehung von der Obrigkeit und von dem Gedanken der »Disziplin«

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Dichtung legitimiert nicht für Amt: Opitz, Poeterey, Kap. III gegen die, welche »auch wol vorgeben / man wisse einen Poeten in öffentlichen ämptem wenig oder nichts zue gebrauchen; weil er sich in dieser angenemen thorheit und ruhigen wollust so verteuffe / das er die andern künste vnd wissenschafften / von welchen man rechten nutz und ehren schöpffen kan / gemeiniglich hindansetze. Ja wenn sie einen gar verächtlich halten wollen / so nennen sie jhn einen Poeten...«, dort auch S. Bllr; zur Dichtung als Nebenwerk; vgl. die Belege bei Markwardt, Gte. der dt. Poetik, Bd. I, 1937 (Index!); 16 G. Neumark, Poetische Tafeln 1667, Neudruck 1971, § 12; fol. B2v. 17 Man vgl. die poetischen Lexika des 17. Jahrhunderts, in denen formelhaft die verschiedenen Topoi gesammelt sind. Harsdörffer empfiehlt z.B. im Dritten Theil seines »Poetischen Trichters« (Nürnberg 1653, Nachdruck Darmstadt 1959), S. 416 für das Wort »Schule« folgende »verblümten Reden«: »Die Lehrstatt aller Kunst und Tugend / der Musen Tummelplatz / der Knaben Marterbanck / der Schulen schwerer Staub / der Gelehrten Thüreschwelle / der Sitz der Wissenschafften / das Haus und Vatterland deß Phoebus und der Musen. Die Schul ist die Zuchtmeisterin der unabhängigen Jugend / die Amme der Gelehrten / die Quelle freyer Künste / gleich Josephs Kercker / der zu grossen Ehren bringet / massen man in der Schul lernet / was man ausser der Schul gebrauchen muß«; sehr lehrreich ferner M. Bergmann, Deutsches Aerarium Poeticum, 1676, fol. Α-C: »Von Bestellung der Schulen« und »Von Schulsachen«. 18 Besoldus Pol. L. Duo, 1620, S. 535 mit Verweisen; der Topos häufig in Hochschulreden wie z.B. bei Bernegger Orat. academicae, 1640, Nr. I (gehalten 1630), S. Iff. (die frischgebackenen Magister zur »spes usus publici«, als liebliche Pflanzen des »ager hic literarius« vorgeführt). 324

bestimmt waren. 19 Diese auf ordnungspolitischen Nutzen ausgerichtete Erziehungstheorie der Theoretiker des 17. Jahrhunderts diente nicht nur den Zwecken des Fürstentums. Denn auch für das Bürgertum war nur durch eine starke Zentralmacht die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung, damit aber auch die Grundvoraussetzungen wirtschaftlicher Entfaltung erfüllt bzw. geschaffen. Wenn mehr als einhundert Jahre später der junge Schiller die von ihm besuchte »MilitärPflanzschule« als »Sklavenplantage« beschimpfen wird, ist im Schöße des ancien régime eine Generation herangewachsen, die mit Rousseau im Kopf im staatlichen Schulwesen nur noch die politischen Signaturen der Unterdrückung erkennen konnte. 20 Nach Besoldus also muß die Schule das Zusammenleben der im Staate vereinten »societas« bereits in der Jugend demonstrieren, ja mehr als das: die notwendigen Normen bereits internalisieren und praktizieren. Nicht also nur Theorie ist gemeint, sondern vorweggenommene Wirklichkeit als »peritia« und »consuetudo«. Die Ordnung der Gesellschaft, die in der moralisch abgestützten Formierung durch die Herrschermacht gesichert ist, muß sich bereits in der Seele des einzelnen widerspiegeln. Die rigide Disziplin der Schule - man denke etwa an die sächsischen Fürstenschulen, die unmittelbar dem Landesherrn unterstanden - , die Rute als Sozialisationssymbol, ursprünglich religiös vom Gedanken an die grundsätzlich durch den Sündenfall verdorbene menschliche Natur gefordert, 21 hat also auch im politischen Auftrag gegen die Affekte, d. h. - ich zitiere eine Passage aus

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Besoldus I.e. S. 535f.: Besoldus hebt als besonders nachahmenswert die »publici Paedagogi« hervor, vor allem aber die Tatsache: »Apud eosdem, qui in liberos indulgentior erat, quam ut eos cum reliquis, publicae institutionis diseiplinae educari p a t e r e t u r , is Civium jure excidebat.« Was d e m Protestanten und späteren Konvertiten recht ist, scheint auch d e m katholischen Jesuiten und b e d e u t e n d e n politischen Theoretiker A d a m Contzen durchaus billig. Vgl. Politicorum Libri Decern, Mainz 1620, bes. 190ff. ; dort 198f. mit der Marginalie« Inanis cultus literarum fugiendus«: »Nam otium, & molitiem, nulla re facilius aut honestius in ánimos irrepere, quam via hac literarum, omnio f a t e n d u m est.« Im Z u s a m m e n h a n g der Bezug auf Sparta: »Atqui robur, & virtus non sunt, ubi illa. Ut catuli ad v e n a n d u m inepti qui saltare & eiusmodi delitias docti: sic ad virilia exercitia p a r u m apti, cives nimis exculti. Franciscum regem P r i m u m , & L e o n e m D e c i m u m (also die H e r o e n der Renaissance - W. K.), qui avide litteras excitarunt, in coelum tollimus. Si proposito spectamus, merito; si finem & successum ambigo, quia revera alter Galliam suam, alter Italiani cultiorem a m o e n i o r e m q u e reddidit, sed una ¡fe molliorem. Quid b o n a e spei reliquum, ubi etiam foeminae paßim in libris & litteris? atqui e o ventum. Mihi Spartani illi probi, qui ( . . . ) Litteras ad usum saltem discebant, reliqua omnis disciplina erat, ut pulchre parerent, ut labores perferrent, ut in pugna vincerent. ( . . . ) Non nimis, non omnes studiis se applicent, sed nobilitas maxime: quia patres valere decet Consilio, populo supervacanea est calliditas.« Vgl. Β. v. Wiese: Schiller. Stuttgart 1963, S. 20ff. Z u r R u t e »als« n u m e n scholasticum« vgl. Tholuck, D a s Akademische Leben, S. 187ff. ; die A u f k l ä r u n g wird gegen diese Art von »politischer« Pädagogik auch im N a m e n bürgerlicher Politik Front machen. Bei J o h a n n Heinrich C a m p e , dem Philanthropen (1746-1818), las man auf einer Büste Rousseaus die Inschrift »Er zerknickte die R u t e n d e r Kinder und Völker«, (nach Leo Balet/E. G e r h a r d , Die Verbürgerlichung der deutschen K u n s t . . . , S. 241).

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dem »Politischen Weltmann« des Henricus Husanus (1631 - »die innerlichen Feinde«, anzugehen, davon in gemein alle Menschen gar leicht eingenommen / uberwunden / bey so gutem Glück und Welstand (sie!) durch die Winde der Freyheit verführet werden / und als / ob ein jedes / was sie gelüste / bald auch zimlich und vergönnet / sich uberreden lassen. 22

Die Zeiten der Rabelais'schen Abtei Thelème sind also längst vorbei, Ethik und Politik kommen in ihrem Sozialisierungsauftrag überein, denn in disen beyden wird gelehret / wie man für sich allein: seine affecten begierden und bewegungen deß Gemüths zu mässigen / zu zwingen / und im Zaum zu halten / wie widerumb in gemeinem Nutz das Regiment zu führen / alles auff Tugend unnd Ehrbarkeit zu richten / und was dergleichen mehr in diesem Leben nötig.23

Der Prügelpädagoge des 17. Jahrhunderts ist also nicht nur Produkt pädagogischer Unbeholfenheit und administrativer Misere, sondern als letzte Konsequenz im System vorgesehen. Der Konflikt und das Ärgernis der Zeitgenossen entspringen allerdings aus der Tatsache, daß sich die Schüler von Adel und Patriziat lieber zu »heroischen« als zu »servilia ingenia« machen ließen, d. h. sich z. B. durch Privaterziehung dem ethischen Rigorismus entzogen, ja infolge der realen Machtverhältnisse den ordnungspolitischen Auftrag des »Policey«-Staates nicht in jedem Falle ernstzunehmen hatten. Für die bürgerlichen Theoretiker gilt dieser Auftrag allgemein, sie versuchten in eigenem und im Interesse der Zentralmacht auch der rückständigen Feudalität »einzureden«, daß sich Adel auf Tugend, diese aber auf Bildung und Affektkontrolle gründe. Augustus Buchner schreibt in diesem Sinne im Juni 1636 an einen offenbar faulen und widerspenstigen Junker: Der Lust zu dienen und den Affekten zu gehorchen, ist Sache des Volkes und des Pöbels, der ist edel und adlig, der der Vernunft gehorcht und beständig die Liebe zum Rechten und Anständigen bewahrt. 24

Tugend also als Vernunftleistung, Affektkontrolle als Prinzip ständischer Hierarchisierung und Prestigeverteilung - im Dienste des gemeinen Nutzens. Der kulturpolitische Sektor der »gubernatio specialis« entwickelt ein konzises und epochales Programm: es reicht vom Eintreten für die Gemeinschafts- gegen die Privaterziehung - ein in der Traktatliteratur der Zeit im Anschluß an Aristoteles und Quintilian vielbehandeltes Thema 25 - bis hin zur Säuberung der Öffentlichkeit von »skandala« aller Art. Dazu gehören neben dem Bordellwesen auch die 22

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Die Zitate, S. 120/21; Husanus der weitgehend Guazzo ausschreibt, bezieht sich vor allem auf Lipsius; Husanus ist plagiiert bei D. Zunner, Wegweiser zur Höflichkeit, 1648: hier die Passage S. 196ff. Zunner a . a . O . , S.216f. A. Buchner, Epistolarum Pars I, Nr. XXIV, S. 57 (ed. 1680); Buchner empfiehlt gerade adeligen Zöglingen immer wieder die Lektüre von Guazzos »De civ. conversatione« sowie Casas »Galateus«: vgl. ibid. Parsi, S. 169, 153f., 159ff. Vgl. Aristoteles, Politik, Buch VIII, Kap. 1; Quintilian Inst. Or. I 2; wie Aristoteles für gemeinschaftliche = einheitliche = öffentlich überwachte Erziehung Besoldus, Pol. Libri Duo, 1620, S. 542f. (mit weiteren Verweisen); auch Bernegger plädiert gegen die Privaterziehung (Speculum Boni Principis, 1625, Quaestio 7).

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implizit unmoralischen - »ludi scenici« und das Fastnachtswesen als Inbegriff unkontrollierbarer A n a r c h i e . 2 6 H i e r z u gehört auch die Beurteilung literarischer P r o d u k t i o n e n , w i e sie v o n d e n Literaten, die die Z e i c h e n der Zeit e r k e n n e n , i m m e r w i e d e r n a c h g e s p r o c h e n w e r d e n : Polemik g e g e n die alten V o l k s b ü c h e r und S c h w a n k m ä r e n , die sich s o gar nicht an den A u f t r a g der Ehrbarkeit hielten u n d als A b b i l d e r der formierten Gesellschaft brauchen lassen m o c h t e n , die P o l e m i k g e g e n d e n A m a d i s r o m a n als feudalromantischer Traumwelt voll aventiurehafter Selbstverwirklichung u n d unkeuscher Lust, die P o l e m i k g e g e n die »poetica figm e n t a « überhaupt, die unter ihrer Hülle vielleicht süßes Gift verbergen, also gerade im Freiraum der Phantasie j e n e A f f e k t e erregten, die nicht unmittelbar d e n O r d n u n g s v i s i o n e n dienstbar waren. 2 7 D i e platonische Dichterkritik - ganz zu s c h w e i g e n v o n d e n bereitliegenden t h e o l o g i s c h e n Verdikten - m u ß v o n d e n Schriftstellern des Jahrhunderts i m m e r w i e d e r entkräftet w e r d e n . 2 8 M a n d e n k e auch an j e n e n ursprünglich bei Lukrez ganz anders gebrauchten T o p o s der

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Vgl. Besoldus a . a . O . , S. 543ff.; die Polemik gegen das Fastnachtswesen, wohl auch getragen von gelehrtem Standesdünkel gegen dieses Forum konkurrierender »Subkultur«, sehr häufig: vgl. Schede Melissus »In Germanorum Scazon Bacchanalia«, in Schediasmata, 1625, S. 45-47; eine »Bacchanaliorum detestatio« auch in den »Fasti« (1594) des Nathan Chytraeus (S. l l l f f . ) Was diese Mores-Lehren eigentlich bedeuteten, nämlich das Ausmerzen von »Freiheit« liest man unverhüllt nicht selten bei den »poetae minores« der Epoche; etwa bei M . Z u b e r , Geniale rusculum, 1622, S. 31: »Levitas morum, libertatis ansa: Saepe leves faciunt mores, ut vivere liber / Possit, sub servo qui fuit ante jugo.« Besoldus a . a . O . , S. 550: »Maxima porro cautio est adhibenda, studia ne passim permittantur moribus nociva; honestaeque disciplinae pernitiosa maxume: venena quae melle condita instillant adolescentibus; & blanda quidem, non tamen continent salubria. Qualia magnam partem sunt figmenta Poetica; in utramvis partem hominum ánimos, moresque flectentia; & prudenti quae ideo judicio examinari debent: raro enim Poetae leguntur, eo modo ut vult Heinsius (orat. 4). Adhuc minus ferendae sunt Amadisii, similesque fabulae (vide de la Nove, discursus 6, quas etiam Lipsius damnavit, in notis ad fin. lib. I polit. Possevin. in apparat, ad omn. gent. Histor. sect. 4. cap. 3. fol. 145 Dn. D. Thorn. Lansius, in orat. funebr. Sibyllae Ascaniae).« Zu der hier genannten Amadiskritik, u . a . auch zu de la Noue vgl. umfassend Weddige 200ff. und 235ff. (dazu auch meine Rezension), ferner den Aufsatz von W. E. Schäfer (1965). Zur Topik von Hülse und Kern, Gift und Honig und dgl. s. Gersch, Geheimpoetik, 67ff. Besoldus a . a . O . , S. 550: »An Poetas recte e República sua ejecerit Plato«; es folgt eine Sedimentschicht von Zitaten und Verweisen, die sowohl antikes Material als auch Zeugnisse der Patristik und der Zeitgenossen umgreift. Zur Piaton. Dichterkritik im antiken Zusammenhang vgl. Joachim Dalfen: Polis und Poiesis. Die Auseinandersetzung mit der Dichtung bei Plato und seinen Zeitgenossen. München 1974; exemplarische Auseinandersetzungen mit Plato, d . h . aber gegen den Zugriff von Kirche und Staat, bei J. C. Scaliger, Contra poetices calumniatores, sowie im »Liber Historicus« seiner Poetik; in Deutschland ein frühes Zeugnis: die Rede des J. Caselius »Pro arte Poetarum« (1569); eine Monographie über die Auseinandersetzung speziell mit Plato in der deutschen Poetologie des 16. und 17. Jahrhunderts fehlt: die einzelnen Aspekte (Dichtung und Moral, Dichtung und Wahrheit, Dichtung und Affekt) werden jedoch in der apologetischen Argumentation immer wieder thematisiert: dazu vgl. die Arbeiten von Dyck, die Bemerkungen von Conrady, Lat. Dichtungstradition, S. 293ff. sowie spez. zum Affektproblem E. Geisenhof, S. 37ff.

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überzuckerten Pille, der z u m L e i t m o t i v moralischer A l l e g o r e s e barocker Literatur wird: zu v e r s t e h e n als A n t w o r t auf e b e n j e n e Restriktionen, die sich g e g e n j e d e v o n der B o t s c h a f t der T u g e n d losgelöste Fiktion und Wirklichkeitsdarstellung richtete.29

W e n n B e s o l d u s konstatiert, daß die alte und bewährte P o e s i e T u g e n d -

lehre war, tut er das in e i n e m Z u s a m m e n h a n g , in d e m auch die Z e n s u r als Mittel der Kulturpolitik a n g e s p r o c h e n wird. 3 0 D a ß der »Policey«-Staat gewillt war, w e n n er auch n o c h nicht alle Mittel besaß, mit nutzlosen E l e m e n t e n a u f z u r ä u m e n , besagt die bei B e s o l d u s im N e b e n b e i - übrigens auch bei K e c k e r m a n n im gleichen Z u s a m m e n h a n g a u f t a u c h e n d e - B e m e r k u n g : »Ferner ist in u n s e r e m Staat ein großer M a n g e l , d a ß wir ein >Ergasterium< vermissen, >daß wir kein Z u c h t h a u ß habenPedantsMagnaten< zuerkannt wird, wenn sie nur etwas gelehrter sind (wir können uns nicht zu Unrecht gratulieren zu ihrer Anzahl) oder die >studia literarum< begünstigen und nicht zögern, großen Aufwand für die Schulen zu treiben - zuerkannt wird von denen, die als Leute des Militärs, als kriegerisch, als Höflinge, als größere Politiker erscheinen wollen? (Ü) 6 6

Es geht also um Selbstbehauptung gegen die Gefahr, bei der Verteilung der fürstlichen Mittel ins Abseits zu geraten, um Gegenwehr gegen die immer größere Summen verschlingenden Instanzen des Machtstaates: Hof und Militär; um Widerlegung der sich politisch gebenden Prudentisten, die gegen alle bürgerliche Theorie die realen Mittel der Machterhaltung höher einschätzen als jenes bürgerliche Prinzip der Legalität als Moralität. Die sich so weitläufig in zoologische Allegorese verirrende Rede will trotz aller »pedantischen« Exkurse nichts anderes als »ridendo dicere verum«. Der Fuchs, das Tier, das sich durch »Betrug, Raub, Grausamkeit, Gefräßigkeit, durch List und Verstellung auszeichnet, das kann nicht mit dem »scholasticus« verglichen werden: eben jene Merkmale fallen genau

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J. Scaliger hielt in Leiden keine Vorlesungen und fühlte sich nicht geboren »pur caqueter en chaire et pedanter«: vgl. D e j o b , Muret, 406. Ich zitiere nach der Originalausgabe von 1614; die beiden Reden sind auch z . T . abgedruckt in Dornaus »Amphitheatrum Sapientiae«, 1619, s. 540ff.; für die weiterreichende Aktualität der Problemlage zeugt ein Neudruck von 1728, hg. v. Mart. Fridericus Vossius, zusammen mit der Rede des Rektors von Saalfeld, Magister Christopherus Wilhelmus Schneierus (gehalten in einem »actus oratorius«): »Dissertatio Philologica de Pervagato Q u o Litterati Vapulant Dicterio K A L M E U S E R « . Nach der Vorrede dieser Ausgabe erschien die Rede des Schneierus zuerst Jena 1709. A . a . O . , S. 4: »Quin e o res jam rediit, ut hoc nominis non nostro tantum ordini, sed etiam Principibus viris, & reliquis Magnatibus, si vel doctiores, quorum de numero nobis haud immerito gratulamur, vel literarum studiis patrocinentur, & magnos sumptus in scholas facere non dubitant, ab iis, qui viri militares, qui bellicosi, qui aulici, qui videri cupiunt, tribuatur.«

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auf jene zurück, die das Wort »Schulfuchs« so leicht im Munde führen. »Humanitas« - verstanden als »pietas, virtus und morum honestas«, vereinigt mit »sapientia« und »eloquentia« - steht gegen die Verschlagenheit, »calliditas«: die Schule ist der Hort wahrer Menschenbildung und einer dem Menschen und dem Staat nützenden Ausbildung. 67 Wenn schon der Fuchs mit dem »scholasticus« verglichen werden kann, dann nur in jenen Merkmalen der wahren Klugheit und tüchtigen Unermüdlichkeit, von der die Zoologie ebenfalls berichtet. Die zweite Rede konstituiert sich als Ergänzung der ersten, beide entfalten sich strukturell in der Art eines rhetorischen Paradoxons, einer rhetorischen Kontroverse, die sich die Kasuistik der Allegorese zunutze macht. Heiders Reden sind elegante Transpositionen der akademischen Apologie in eine »lustige« Form, sie erweisen sich als rhetorisch-artistische Stellungnahmen und Muster einer widerständigen Antwort gegen Kräfte in Hof und Militär, die unter der politischen Reform des Bildungswesens offenbar die totale Marginalisierung des Bildungsbürgertums verstanden. 68 Heider wird wie Besoldus, wie Heinsius und die anderen bedeutenden Späthumanisten die Ausrichtung der »eruditio« auf eine »humanitas« befürwortet haben, die sich ganz der »civilitas« öffnet. Daß dies Reform und Reorganisation bedeutete, war offenbar. Besoldus selbst - ich komme auf den Abschnitt seiner »Politik« zurück - formuliert das Reformprogramm direkt und indirekt: indirekt durch Verweise auf die Kritik des »grammaticus«69 und die Gelehrtensatire in der Komödie »Turbo« seines Freundes Valentin Andreä: »Comoedia festivissima«,70 direkt durch die Gegenüberstellung von »praecepta« und »usus«, durch die Konfrontation von »res« und »verba«, durch ein vulgärhumanistisches Plädoyer für die Muttersprache. 71 Wie schon anderweitig angedeutet, zeigt sich auch hier, daß der Übergang von der lateinischen zur deutschen Sprache in der Dichtung nur 67 68

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Ibid. S. 17ff. Als Hochschulrede gehört der Text in die Tradition der »orationes de quolibet«, die wiederum die spätmittelalterlichen Gewohnheiten der »disputatio quodlibetica« weiterführen: darüber jetzt mit der älteren Literatur Erich Kleinschmidt, Scherzrede und Narrenthematik im Heidelberger Humanistenkreis um 1500, in: Euphorion 71 (1977), S.47ff.; in der Mischung von »Scherz« und »Ernst« erinnert sie an manche Beispiele Schupps (etwa »De lana caprina«), in der Art der satirischen Tierallegorese und des ironischen Enkomions war unter den Zeitgenossen vielgelesen die »Laus Asini« des Daniel Heinsius (mir bekannt die Ausgabe Leiden 1629). Besoldus, Pol. Libri Duo, 1620, S. 548f.; er greift u.a. zurück auf die den Grammatiker verspottenden Epigramme der griechischen Anthologie. Gedruckt 1612, 1616 und 1621; in Übers, hg. v. W. Süß, Tübingen 1907; vgl. G. Hess, Narrenzunft, 320ff. Hier der Komplex der zeitgen. Argumentation in nuce: a) Verweis auf die Völker der Antike, auch die Araber, die mit ihrer Muttersprache zufrieden waren, b) Spracherwerb nicht durch Grammatik, sondern durch praktische Übung: Hinweis auf Ratkes Reformvorschläge, deren Nutzen abzuwarten sei, entsprechend das Plädoyer für das gemeinsame Erlernen von res und verba. c) Weitergehend: Warum nicht auch die Philosophie und die anderen »artes« in der

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ein E l e m e n t , nur ein Resultat des allgemeinen Problemdrucks war. D i e R e f o r m des Martin Opitz zeigt genau jene L o g i k , die die »artes« in dem dargestellten »politischen« Sinn einerseits auf die Anforderungen der maßgeblichen

Elite

ausrichtete, andererseits dem gelehrten Literaten die W e g e eröffnete, auch seine Musen der » m o r u m honestas« zu verpflichten. Die Rolle der Sprachgesellschaften, vor allem der Fruchtbringenden Gesellschaft beweist in ihrer untrennbaren Kunst- und Tugendprogrammatik

die erst in der Muttersprache zur Geltung

k o m m e n d e öffentliche B e d e u t u n g der Literatur für die »Politik«. D a ß sich hier auch Fürsten mit sprachlichen Quisquillen und der Normierung

literarischer

K o m m u n i k a t i o n beschäftigten, ist nur von einem kulturpolitischen Interesse her zu verstehen, das auch die Dichtung nicht mehr als Privatsache und reife Frucht des akademischen Curriculums, sondern als brauchbares Instrument

sozialer

Praxis ansah. Besoldus selbst hat - jedenfalls in der 1620 erschienenen »Politik« -

den

»Aristarchus« des Opitz noch nicht zur Kenntnis g e n o m m e n . D a ß seine G e d a n k e n in die gleiche Richtung gehen, ja sein Plädoyer für die Muttersprache eigentlich weit über die Literatur als Dichtung hinausgreift, beweisen die Fingerzeige für den L e s e r : einerseits auf die scharfen Ausfälle gegen den lateinischen Universalismus, die »tyrannis linguae L a t i n a e « in A n d r e ä s Satire »Menippus« 7 2 - die übrigens als S u m m e und epochaler Abriß der zeitgenössischen Konflikte gar nicht hoch genug einzuschätzen ist - , andererseits auf die speziell die Poesie betreffenden Ü b e r l e gungen des Wittenberger Professors Friedrich Taubmann in der V o r r e d e zu seiner A u s g a b e des Vergilischen » C u l e x « . 7 3

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Muttersprache lernen? (Gewährsmänner: Estienne Pasquier sowie Trajano Boccalini). Signifikant die Erörterung der Sprachenfrage im »politischen« Zusammenhang: vgl. auch ausführlich dazu J . Reifenberg, Politische Beantwortung, S. 344ff.; S. 349 der zentrale Gesichtspunkt (neben der Polemik gegen die Sprachmischung): »Ex neglecta vernaculae linguae quae pernicies in Rempublicam redundet...«; auch der Nürnberger Michael Piccartus empfiehlt in seinen »Observationum Historica-Politicarum Decades« (1621), Abschnitt III, 10: »Linguae patriae usum sánete in rep. tuendum, & reprehensae ineptiae Germanorum circa hanc rem«. Ausgabe 1618, Nr. 13, S. 26-27. Andreäs Satire hat wütenden Protest hervorgerufen, greifbar vor allem in der Gegenschrift »Antimenippus« eines gewissen Caspar Bucherus, Professor der Oratorie, in Tübingen, erschienen 1617 (vorher in einem Redeactus vorgetragen): bezeichnend für den sozialgeschichtlichen Kontext ist, daß der Verfasser in Andreäs Kritik Schützenhilfe für die feudalen, adligen Verächter der Studien wittert. Andrea sei (so S. 1) Patron alter und längst widerlegter anti-humanistischer Aversion« e Centaurorum quorundam, aliorumve Barbarorum Politia profectum, qui inter enses & hastas aliquando versari debeant.« Daß Andreä schließlich als beinahe einziger Theologe in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen wurde, hat gewiß neben anderen Momenten auch dieses Engagement in der Sprachenfrage zur Ursache. Wittenberg 1609. Die Vorrede ist eines der wichtigsten Zeugnisse vor Opitz' »Aristarchus«. Taubmann geht aus von der durch Goldast vermittelten »altdeutschen« Dichtung so wie Opitz - ; er »schämt sich«, daß die Deutschen nicht wie die Italiener, Spanier und Franzosen ihre Muttersprache pflegen. Als gewisser Ausgleich bleibt die Genugtuung über die Blüte der neulateinischen Dichtung in Deutschland mit den Gipfelleistungen eines Paul Schede Melissus.

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Ein weiterer Punkt, der in Besoldus' Traktat konsequent im Sinne neuzeitlicher Rationalität zur Sprache kommt, ist die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Begabung (»natura«) und jenem Ideal polyhistorischer und akademischer Perfektion, das die außerscholastische Berufspraxis kaum einkalkulierte. Der Monopolanspruch der Gelehrtenerziehung produziert den offenkundigen Konflikt mit den »artes mechanicae«, 74 verweigert sich aber auch den pragmatischen Momenten der Herrschererziehung und Ausbildung der Beamtenelite. Besoldus rezipiert auch hier die neuesten Schriften des außerdeutschen Raums, so neben dem Italiener Canonieri vor allem den Traktat des Spaniers Juan Huarte »Examen de ingenios para las sciencias« (ursprünglich 1575), in dem es um das »ingenio« und seine Verschiedenheiten geht. Huarte zieht auf humoral theoretischer Grundlage die Konsequenz aus der Notwendigkeit berufsspezifischer Spezialisierung: die Rücksicht auf die verschiedenen menschlichen Begabungen und ihre Elemente hat Konsequenzen bis in die Stiltheorie (vgl. oben Kap. Β V) und steht gegen jeglichen wissenschaftlichen und literarischen Systematismus. Die ausgebreitete Rezeption von Huartes Traktat - in Kreisen der Fruchtbringenden Gesellschaft bis hin zu der mehr als hundert Jahre später folgenden Eindeutschung durch Lessing - zeigt das erwachende Interesse an einer moralistischen Reflexion menschlicher Subjektivität. 75 In Deutschland mußten sich Huartes Überlegungen vor allem gegen den scholastisierenden Enzyklopädismus richten. In diesem Sinne wird Huartes Entwurf ζ. B. in Berneggers 1625 erscheinendem »Speculum boni Principis« bedacht, freilich in einer höchst aufschlußreichen Unentschiedenheit: Bernegger stimmt Huarte einerseits zu, entfaltet als Gegenbedenken jedoch eine Reihe von Exempelfiguren polymathischer »doctrina«, die allein durch ihre Existenz die Fähigkeit des Menschen beweisen sollen, den ganzen »Kreis« des

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Besoldus, Pol. Libri Duo, 1620, S. 552; gerade an dieser Stelle wird die persönliche Position des Besoldus im Kreise der anti-aristotelisch gesonnenen »Rosenkreuzer« um Andreä deutlich: Besoldus argumentiert gegen die Alleinherrschaft des Aristoteles besonders »in naturalibus« mit Verweis auf die neuplatonisch-hermetische Tradition (Hermes-Trismegistos, Francisco Patrizzi), »in moralibus« bevorzugt er die Stoiker. In der Front gegen den Aristotelismus weiß er sich einig mit Campanella, Tobias Adami (»vir supra meam laudem«) und Cardano. Die pädagogischen und utopischen Schriften Andreäs spiegeln die Aufwertung der »artes mechanicae« in vielfacher Weise: man vgl. die nun leicht greifbare deutsche Übersetzung der »Christianopolis« (ursprünglich 1619), ed. W. Biesterfeld. Stuttgart 1975 ( = Reclam UB 9786). Dort auch weitere Hinweise auf die Verbindung zu Campanella und Bacon sowie eine Auswahl der Literatur. Besoldus a . a . O . S. 549f.: Etiam sciendum est illud, quod Studia ad ingenium sunt accommendanda (sie!): & quod faciat habilem Natura, Ars vero facilem, ususque potentem. Itidem non ay catedra de entendimiento, ni de prudencia, no hombre que la ensenne...«. Die Übersetzung Lessings von 1752 liegt in einem von Martin Franzbach besorgten Nachdruck vor: München 1968. Dort auch Zusammenstellungen der Literatur sowie ausführlich zur Wirkungsgeschichte im 17. Jahrhundert (u.a. lateinische Übersetzung 1622 durch Joachim Caesar, Hof- und Justizrat in Halle, also unmittelbar im Umkreis der »Fruchtbringenden Gesellschaft«).

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Wissens in sich zu vereinen: Orígenes, Aristoteles, Eratosthenes, Pythagoras, Varrò und schließlich J. C. Scaliger. 76

3) Fürstenerziehung und Elitebildung: Deklassierung und Funktionalisierung der humanistischen Propädeutik a) Anti-scholastische Affekte der politischen Pädagogik Das Aperçu Senecas »nec vitae sed scholae discimus« findet sich in herausgehobener Endstellung am Schluß des ersten Buches von Lipsius' »Politik«. 77 Es schließt ein Kapitel ab, in dem zwar die unveräußerliche Koppelung von Gelehrsamkeit (doctrina) und Tugend (virtus als prudentia und sapientia) fortgeschrieben ist, zugleich aber jene Einschränkung markiert, welche den »wahren Nutzen« gelehrter Bildung von einer nicht auf die moralische Ausbildung des Menschen gerichteten Beschäftigung mit den »artes« abhebt. Gelehrsamkeit wird mißbraucht, wenn sie sich in Worten erschöpft, nicht in Taten dokumentiert, wenn sie den Gelehrten selbst nicht zur »Tugend« verhilft. 78 Mit Hinweis auf Tacitus wird die »träge Muße« jener Bildung gegenübergestellt, die - ein Hinweis auf den Adressatenkreis dieser Ausführungen - den Einzelnen für die Wechselfälle der Staatsgeschäfte tauglicher macht. 79 Was sich hier bei Lipsius im Zusammenhang der Klugheits-Lehre und Herrscherdidaxe vorsichtig, aber unverhohlen ankündigt, das nicht mehr zu zügelnde Unbehagen an praxisferner Polymathie, findet anderwärts deutlicheren Widerhall. In den von Johann Werner Gebhart 1598 herausgegebenen »Fürstlichen Tischreden« offenbart sich dabei sehr klar die Dissoziation des Bildungsprogramms entsprechend einer Gegenüberstellung von Privatpersonen und Repräsentanten der Herrschaft. Auch in Georg Engelhardt Löhneys' voluminöse Programmschrift »Aulica Politica« (zuerst 1622-24, sodann 1679) wird die Passage übernommen: Ich bin offtermals inn meinen Sinn mit etlichen vornemmen Fürsten nicht wol zufrieden gewesen / daß sie jhre Kinder schlimmen Paedanten / welche ausserhalb der Schulfüchserey an Sitten / Geberden / und allem jhrem Thun und Lassen die gröbsten Bengel sind / vertrawet haben / so es darfür halten / daß / wann jhre Discipel in sieben oder acht Jahren die Lateinische und Griechische Grammatica also gelernet / daß sie auch alle Regeln und Figuren von Wort zu Wort außwendig können / und etwas auß dem Cicerone und Virgilio

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A . a . O . , Quaestio 15. J. Lipsius, Pol. Libri Sex; Lib. I. cap. X , in der lat. Ausgabe Frankfurt 1590, S. 41f., spez. 42. Ibid., S . 4 1 die Randglossen: »Doctrina Prudentiam promovet: Virtutem ornat, aut perficit. Et proprie ánimos expurgat, ac praeparat. Usus eius, vere sus. Nec enim in verbis nudis: sed bonis factis. Abutuntur, qui non tales.« A m Rande »Finis eius verus«: dann die Tacitus-Allegation: »Tu contra habeto eam non ad pompam aut speciem, nec ut nomine magnifico segne otium veles, sed quo firmior adversum fortuita rempublicam capessas.«

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zusagen wissen / daß sie es gewaltig wol getroffen haben / als wenn Lateinisch reden eben das vornemste an einem Fürsten were [...]. Also soll ein kluger Institutor dem ein junger Fürst in seine Disciplin untergeben / denselben von andern Privatspersonen zu untêrscheyden wissen / deren etliche darumb studieren / daß sie Doctores, Schulmeister und Prediger: Andere darmit sie jhren Herrn desto besser dienen / und von jhnen herfür gezogen werden können: Alle aber thun es gemeiniglich deß Gewinns halben. Aber ein Fürst studiere darumb damit er Land und Leut zu regieren tüglicher sey: soll derhalben mit den minutiis Grammaticorum, oder Philosophorum, und Poetarum sein beste Zeit nicht verlieren.80 Tugend weist sich hier als Tauglichkeit aus, Wissenschaft und Kunst reflektieren die spezifischen Aufgaben von Amt und Beruf, die Dichotomie von Privatheit und regimentaler Qualifikation. Wie man sieht, ist von der kalkulierenden Reflexion nach Aufwand und Nutzen auch die Poesie betroffen. Lipsius' Einschränkung der doctrina setzt sich im Schrifttum der Fürstenspiegel fort. Bei Saavedra Faajardo heißt es: Wird also einem Printzen genugsam sein, die Künste unnd Wissenschafften oben hin durchgangen zu haben / und wird ihm viel ersprießlicher sein / auß der erfahrung deß im friede / und kriegswesen eine wissenschafft zu haben; und auß den künsten nur so viel erlernen alß genug hat den verstand zu erleuchten / unnd eine Sache zu urtheilen.81 Besoldus konstatiert definitorisch: Aber eine andere Erziehung gebührt denjenigen, die Fürsten sind oder zur Lenkung des Staates erzogen werden - eine andere den Privatleuten, die zur Unterwerfung erzogen werden. Diese müssen ein jeder nach seinem Fassungsvermögen in den ehrenhaften Studien des Geistes wie auch des Körpers und den übrigen für den Staat nützlichen Künsten, jene aber vor allem in den Herrscherkünsten ausgebildet werden. (Ü)82 Das in der Aristotelischen »Politik« ( § 7 7 a , Kap. III 4) aufgeworfene Problem einer besonderen Herrschererziehung im Vergleich zur allgemeinen Tugend des Bürgers ist hier eindeutig entschieden. Die humanistische Vision einer »eruditio«, die sich als Entfaltung der jedem Menschen zukommenden »humanitas« versteht, fällt hier der Rollendifferenzie80

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Gebhart, Tischreden, cap. XVI, S. 42f.; die Stelle bei Löhneyß, Buch I, cap. 25, S. 18; Georg Engelhard von Lohneyß (1552-1622) war ein pfälzischer Adeliger, diente dem Kurfürsten von Sachsen, schließlich Herzog Heinrich Julius von Braunschweig. Er schrieb außer der »Aulico-politica« Hippologisches (1609: De Cavalleria) sowie ganz im Sinne des frühen Merkantilismus, bzw. Kameralismus einen »Bericht vom Bergwerk« (1617). Er gibt sich als entschiedener Realist und Praktiker, will nicht als Philosoph wie Plato und Aristoteles spekulieren, »sondern wie ein Politicus oder alter Aulicus von solchen Sachen, die ich selbst gesehen und erfahren, in Teutscher Sprache einfältig schreiben«: zur Charakteristik des Werks s. Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus, S. 162ff.; interessant, daß die zitierte Philippika in lateinischer Sprache auch bei G. Ens, Apparatus Convivialis, S. 145 erscheint. »Abriß Eines Christlich-Politischen Printzens«, (deutsch), 1674, S. 47f. Besoldus, Pol. Libri Duo, 1620, S. 537: »Alia autem est Institutio eorum, qui Principes sunt, vel ad Rempublicam gubernandam educantur: alia Privatorum, qui ad Subjectionem informantur. Hi pro captu quisque suo, tum animi, tum corporis honestis studiis, reliquisque Reip. necessariis artificiis; Illi artibus potissimum Imperatoriis sunt erundiendi.«

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rung und schichtenspezifischen Auslese der politischen Führungselite zum Opfer. Es wird zur epochalen Akzentuierung des aufklärerischen Humanitätsideals im 18. Jahrhundert gehören, den Bürger auch in puncto Wissen und Bildung wieder als ganzen Menschen statt als Untertanen zu begreifen und ihn - man denke an Schillers Jenaer Antrittsrede - von den Restriktionen einer bloß funktionalen »Brotwissenschaft« zu befreien. Das pädagogische Schrifttum des Humanismus bis hin zu den Traktaten des reformatorischen Humanismus in Deutschland hatte sich zwar seit je in der Tradition der Fürstenspiegel um die Bildung des Herrschers, mittelbar und damit zusammenhängend auch um die Gewinnung des Adels für die »studia humaniora« gekümmert. Ziel war die »nobilitas litterata« (so Johannes Sturm 1549), in politischer Hinsicht der platonische »rex philosophus«. 83 Der ungebildete Herrscher wie auch der banausische Adel gehörten im Bewußtsein der Gelehrtenrepublik - nicht immer ausgesprochen, doch deutlich genug signalisiert - genau wie der Pöbel zur Gruppe derer, die sich selbst von der »humanitas« ausschließen, waren Vertreter »kyklopischer« oder »kentaurischer Barbarei«: Zwar waren immer wieder die besonderen Tugenden und Qualifikationen des Herrschers herausgehoben worden (z. B. juristische Kenntnisse, Sprachkompetenz und vor allem historisches Wissen), doch wurde erst am Beginn des neuen Jahrhunderts in Deutschland offensichtlich ein Stadium erreicht, wo die Perpetuierung und der umfassende Anspruch des scholastischen Exercitiums als Hindernis und Gefahr für die sachgemäße Ausübung von Herrschaft verstanden werden: nicht nur von den »Barbaren«, sondern von humanistisch gebildeten bürgerlichen Theoretikern selbst. Diese Einschätzung mußte besonders die »litterae« betreffen, insofern sie an die Basisdisziplinen von Grammatik und Rhetorik und - bisher - an die Beherrschung der alten Sprachen gebunden waren. Besoldus bestätigt, daß, was die »litterae« angehe, »diversum vulgo, & adversum Judicium sit.«84 Gegen eine feudal-aristokratische Distanzierung, die jene nur »in die Schulen« verbannt, plädiert er umgekehrt für eine Integration im Rahmen der allgemeinen Befähigung von »sapere & judicare«. »Ratio« und »oratio« gehören in diesem Sinne neben »Ethik« und »Politik« zu elementaren Qualifikationen des Herrschers. Es geht also nicht um eine die humanistischen Traditionen beseitigende Alternative, sondern um Integration und Synthese mit den auf die Interessen des Staates bezogenen Künste »des Friedens und des Krieges«, um

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Der Topos vom »rex philosophus«, schon im Mittelalter, dann bei Erasmus, Rabelais, Morus, in den politischen Biographien und Fürstenspiegeln des 16. Jahrhunderts (exemplarisch Marc Aurel z . B . bei Guevara, darnach auch mit konkretem Tugendprogramm ausgewalzt und zugleich historisch beglaubigt, im 18. Jahrhundert, z. B. bei Gottsched (s. Rieck, 46ff.) als Leitbegriff vernünftiger Herrschaft expliziert, mußte sich unter den Bedingungen des vollendeten Absolutismus bei La Bruyère widerrufen lassen (S. 355, Nr. 19, ed. Garapon): »Welcher Traum, welcher Fieberwahn hat wohl den großen, weisen und geschickten Antonin bewogen zu sagen, daß die Völker erst glücklich wären, wenn ihre Herrscher philosophierten oder wenn die Philosophen und die Schulmeister ans Ruder kämen?« ( Ü . ) . Besoldus, Pol. Libri D u o , 1620, S. 540.

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strenge Abscheidung des nur Privaten von dem für die Sphäre der öffentlichen Praxis Gültigen und Nützlichen. Mit diesem Standpunkt vertritt Besoldus den Konsens der meisten Theoretiker der Zeit. Für sie ergab sich die Revision und Dringlichkeit der Reflexion der Fürstenerziehung zwangsläufig aus der Erkenntnis, daß hier mehr und mehr der einzige brauchbare Ansatzpunkt gegeben war, den Machthaber schon früh und eindringlich auf jene Prinzipien legaler und moralischer Machtausübung zu verpflichten, auf die Regeln des »rex bonus et justus«, die angesichts wachsender Souveränität durch das Gegengewicht ständischer und korporativer Privilegien politisch immer weniger zu erzwingen war. Philosophische Moral und - wesentlich, aber in diesem Zusammenhang bewußt außer acht gelassen - christliche, theologisch reflektierte Amtsethik formulieren jene politischen Prinzipien des Ordnungsstaates, deren Durchsetzung dem Fürsten obliegt und deren Gesetze er als Erster zu verkörpern hat: Tyrannei ist nach Besoldus nichts anderes als die Verbesserung der Fehler anderer, von denen der Fürst selbst »beschmutzt« ist.85 Aus diesem Gesamtinteresse ergibt sich ein in der politisch-pädagogischen wie auch moralisch-pragmatischen Literatur der Zeit unermüdlich wiederholtes und eingeschärftes System von Geboten, die alle dem Ziel dienen, den Fürsten an das Gesamtinteresse des Staates, damit aber an die Zwecke der Untertanen zu binden. Hierzu gehören Topoi der Hofkritik, 86 wie z.B. die Polemik gegen Schmeichler und Parasiten, gegen eine »weibische« Erziehung und mangelnden Gewöhnung an Pflichtbewußtsein und Disziplin, aber auch die Polemik gegen eine »bloß« pedantische, d. h. humanistisch-literarische Ausbildung ohne Bezug auf die Praxis. Nicht der »Princeps otiosus, in litteris delicians« ist gewünscht, nicht der kulturell dilettierende Liebhaber, nicht das Produkt weltferner »Philosophastri aut Paedagogi«, sondern ein in den Künsten des Geistes und des Körpers, des Krieges und des Friedens umfassend prädisponierter Machthaber. Besoldus zitiert bezeichnenderweise ausführlich sowohl eine längere Passage Wolfram von Eschenbachs - der »altdeutsche« Argumentationshintergrund - als auch einen Passus aus Silius' »Punica« mit Bezug auf Scipio - dies als Anknüpfung an humanistisch-antike Autoritäten. 87 Die Polemik gegen den Pedanten nährt sich - wie zu sehen ist - in diesem Kontext aus der Sorge um die sachgerechte Ausbildung des Fürsten und des Politikers. Dies ein wesentlicher Aspekt der zeitgenössischen Konfrontation von res und verba. Gerade weil die Verantwortung des Fürstenerziehers - konkret des Hofmeisters auch in seiner inferiorsten Position - für die Wohlfahrt des »gemeinen Wesens« so ernstgenommen wird, beklagen sich an diesem Punkte selbst die konservativen Verteidiger der »litterae« über die Unzulänglichkeit der Repräsen-

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Besoldus a . a . O . , S. 538. Zum Gesamtsyndrom dieser Kritik vgl. den umfassenden historischen Längsschnitt von H. Kiesel (1979) sowie C. Uhlig: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance: Studien zu einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik. 1973. Besoldus, a . a . O . , S. 541f. Abgedruckt Silius Pun. VIII, 551-58.

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tanten des eigenen Systems: gerade weil, wie etwa noch G. Morhof in einer programmatischen Rede 1684 ausführt, das Glück des Staates mit der Ausbildung nicht nur der Bürger, sondern vor allem der Fürsten durch die »litterae« auf dem Spiele steht, 88 wird ein kaum über die Anfangsgründe hinausgekommener, weltfremder Prügelpädagoge oder auch ein allzu willfährig allen modischen Neuerungen hinterherlaufender, die schädlichen Neigungen des Zöglings und die Nachsichtigkeit der Eltern befördernder »praeceptor« allzuleicht zu einer öffentlichen Gefahr. Die bedrückende Abhängigkeit des Hofmeisters und die Misere einer derartigen Literatenexistenz in feudalen Diensten bleibt nicht unbemerkt: kleidet sich aber in eine Polemik gegen die »monetae paedagogi« (nach Lukian zumeist) oder auch in die konkretere Forderung nach besserer Besoldung und standesgemäßer Anerkennung. 8 9 Gerade in derartigen Argumentationsfeldern sind die Aporien und historischen Grenzen deutlich sichtbar, welche den Versuchen indirekter politischer Mitgestaltung und Machtpartizipation mittels des Prinzips »Bildung« gesetzt waren. Es handelt sich angesichts dieser Analyse also nicht um rhetorische Spiegelfechtereien oder spitzfindige Polarisierungen, sondern um die Offenlegung und den impliziten Ausgleich eines zeitgenössischen Konflikts, wenn die Frage der aktuellen politischen Bildung angesichts überkommener Traditionen auch in der rhetorischen Kontroverse entfaltet wird. Der Marburger Professor Hermann Kirchner z . B . läßt so 1617 über die konträren Thesen disputieren »necessariam esse Principi literarum scientiam« und »principis officio plurimum officere literarum Studium«. 90 Interessant ist vor allem die Gegenrede: Hiernach nützt das »Studium literarum« weder den ökonomischen Interessen des Hausvaters noch den fiskalischen Bedürfnissen (Stichwort »aerarium«) des Fürsten. Im Gegenteil. Eine Beschäftigung mit literarischen Dingen und musischer Vervollkommnung wird ihn gerade von den notwendigen Kenntnissen und Praktiken der Machtausübung zurückhalten. Die Armut und Schmutzigkeit der alten und neuen Philosophen und Literaten - Diogenes, der Kyniker, auch hier als figuraler Topos - sind lebendes Beispiel für mißlungene Lebenspraxis. Humanistische Bildung im Sinne der »litterae« ist demgemäß Sirenengesang. Er verführt dazu, seine Heimstatt »non in campis, non in foro, non in media hominum turba, sed in littoribus habuisse«. 91 Der philosophierende, meditierende und Gedichte schreibende Herrscher sollte sich wie Diokletian ins Privatleben zurückziehen: einst gab es hierfür als Refugium die Klöster. 92 Diese Entfremdung des Menschen von der Praxis durch Bildung und 88

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D. G. Morhof, Orationes, 1698, S. 188ff. (»De Literarum in Republ. utilitate«), spez. S. 197ff. Vgl. die Vorschriften für den Hofmeister und die Betonung seiner Verantwortung bei Moscherosch Gesichte, S. 504ff. (in: Hof-Schule); J. Reifenberg, Politische Beantwortung, 319ff.; in der lateinischen Deklamatorik etwa ausführlich bei Jacob Bruno (1622): Oratio de Causis..., spez. fol. b 3ff.; Wowerus, De Polymathia, spez. S. 364ff. In: Orationes. Marburg 1617, S. 171ff. A . a . O . , S. 192. Ibid. S. 194.

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Wissenschaft gilt besonders angesichts der Anforderungen des Krieges. Der Redner thematisiert hier die ebenfalls hochaktuelle Opposition von »arma« und »litterae« (darüber im folgenden Abschnitt) und kommt dabei dem Zweck seiner Rede entsprechend zu dem Schluß, daß zwischen ihnen »nulla consensio, nulla conspiratio« zu vermitteln sei.93 Die im staatstheoretisch-systematischen Schrifttum ausformulierten Gesichtspunkte öffentlicher und privater Erziehung beeinflussen nicht nur ganz deutlich das aktuelle Themenarsenal der rhetorisch-scholastischen Deklamationsliteratur, sondern bestimmen als detailliertes Programm auch eine zahlenmäßig immer stärkere Gruppe pädagogisch-hodegetischer Traktatliteratur, die sich speziell an die Zielgruppe der »politici« - sei es den Herrscher direkt, seien es die verantwortlichen Exekutoren und Teilhaber staatlicher Macht - wendet. Zugrunde liegt die Tradition der Fürstenspiegel einerseits und der humanistisch-akademischen Methodik und Protreptik andererseits. Angesprochen werden die Studierenden direkt oder ihre Präzeptoren und Hofmeister. Als Beispiel sei angeführt und kurz charakterisiert das 1652 in zweiter Auflage von Hans Michael Moscherosch herausgegebene und erweiterte Werk seines Jugendfreundes Georg Gumpelzhaimer, das zuerst 1621 in Straßburg erschien und eine Summe der diesbezüglichen Literatur der Zeit darstellt: »Gymnasma De Exercitiis Academicorum In quo Per Discursum disseritur De eorum necessitate, modo, temporis, personis, utilitate ...«. Es handelt sich um ein offenbar begehrtes Studienhandbuch für die an die Universitäten strömenden Zöglinge aus Adel und Patriziat. In seiner Grundtendenz polemisiert das Werk gegen den Universalismus der humanistisch-akademischen Buchwissenschaft und versucht mitsamt der anhängenden »Dissertatio de Politico« einen Gesamtaufriß der Qualifikationen der neuen politischen Führungsschicht zu entwerfen. 94 Ausgangspunkt ist der Ausgleich zwischen »ars« und »Mars« dergestalt, daß neben die Buchwissenschaften der gesamte Umkreis der auf »usus« und »experientia« bezogenen Realwissenschaften (von Jurisprudenz und Geschichte bis zu Mathematik und Fortifikationswesen) und schließlich alle in praktische Klugheit auslaufenden Weltkenntnisse in die akademische Erziehung integriert werden: dazu gehören auch die ritterlichkörperlichen Übungen (gegen die mönchisch-gelehrte Bildungswelt des Museums), die Ausbildung gesellschaftlicher Fähigkeiten wie Tanzen und Fechten, aber auch die Modalitäten der Kavalierstour als Sproßform und Sonderer-

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Ibid. S. 195. Mir ist nur die 1652 erschienene Ausgabe zugänglich. Über die Abweichungen beider Ausgaben, d.h. die Zusätze Moscheroschs unterrichtet Philipp Schreibmüller: Georg Gumpelzhaimers Schrift: Gymnasma de exercitiis academicorum« (Straßburg 1621) und ihre Neubearbeitung durch lohann Michael Moscherosch (Straßburg 1652). Diss. Phil. Erlangen 1908. Als Druckschrift erschienen Borna-Leipzig 1908; über Gumpelzhaimer s. G. Glasenapp: Georg Gumpelzhaimer, ein vergessener Bayerischer Pädagoge, in: Blätter f. das Gymnasial-Schulwesen 42 (1906), S.75ff. Im Vorwort wird berichtet, daß die Erstauflage des Werks bald vergriffen war, ein Neudruck aber wegen der Kriegswirren verschoben werden mußte.

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scheinung der akademischen peregrinatio. 95 Das Thema der Verachtung der Studien ist ausführlich behandelt; wir finden hier zwar die Zurückweisung eines bloßen feudal-banausischen Hochmuts seitens der »Stutzer«,96 zugleich aber mit der Achtung vor dem neuen »genius saeculi« zugleich das Referat der berechtigten Kritik. In dem speziell die Fürsten- und Adelserziehung behandelnden Kapitel sind in nuce die verschiedenen Argumentationshorizonte mitsamt den Formen ihrer satirischen Umsetzung zu erfassen. 97 Gumpelzhaimer rezipiert die stoizistische »artes«-Kritik, konstatiert den divergenten Bildungsmodus von Schule und Konversation 98 und macht zum Thema auch die Gefahr ungezügelter und unregulierter literarischer Aktivität für den Staat.99 Die zivilisierende Kraft der doctrina wird stoisch interpretiert.100 Zielgruppen des Traktats sind offensichtlich gleichermaßen die pedantischen Gelehrten wie auch die Kreise einer rückständigen Adelswelt, deren obsolete Ideologie auf eine Selbstisolierung hinausläuft: Unser Herr hat Gelts und Guts genug / er darff nicht studiren. Das Studium machet schellige Köpff / er soll kein Doctor werden: Die Bauren und armer Leut Kinder welche durch das Studium sich ernehren sollen / müssen fleissig studiren. 101

Die hier propagierte und vor allem nach dem Kriege verstärkt zu beobachtende Zuwendung des landsäßigen Adels zum akademischen Studium impliziert also die Entlastung des Bildungsprogramms vom scholastischen Exercitium, das allein den Brotgelehrten überlassen bleibt. Der Appell zum akademischen Studium ist zu begreifen als Faktor eines Wandlungsprozesses, der auch die Feudalität zu »Säulen des Staates« und damit zu qualifizierten und disziplinierten Agenten fürstlicher Macht erzieht. Dieser Vorgang lag sowohl im Interesse des Bürgertums als auch der Inhaber staatlicher Autorität. Wie dieses neue Selbstverständnis sich nur in

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Zum Gesamtkomplex des Reisewesens und der Reiseliteratur sehr lehrreich: Ludwig Scheidt: Italienreisen im 17. und 18. Jahrhundert. Wien - München 1959. 96 Part. I, Sect. I, cap. 24: »Magistros despiciunt, tum quod plerumque sint plebei & vilioris conditionis... ; Polemik gegen den adeligen Snob mit Berufung auf Verstand, Tugend und »Erfahrenheyt« in einem Gedicht des Straßburgers Matthias Schneuber: Gedichte. Straßburg 1644, S. 367: »An eynen Stutzer«; brieflich immer wieder Klagen über feudale Bildungsverachtung, wie etwa Bernegger an Grotius (Epp., 1670, S. 48, Brief vom 1. Juni 1630) bei Empfehlung eines gewissen Adrian von der Linde: »Non enim unus est ex ilio Nobilitatis globo, sub vexillo vanitatis militante, qualis, pudet dictu, pleraque Germanica nunc esse s o l e t . . . « 97 Partitio I, Sect. V, cap. Iff.: »De Principum Illustrium & Nobilium Personarum Nostrorumque Academicarum Vita, Moribus & Studiis«. 98 Ibid. c. 5ff. (nach Sen ep. 89, 107 samt dem Fragekatalog aus de brev. vitae c. 13); zur Konversation ibid. c. 3 (nach Lohneysen). 99 Ibid. c,18ff.; Berufung u.a. auf Lipsius und Macchiavelli; Cicero und Demosthenes als schlechte Beispiele!; dagegen gefordert: iudicium naturale und sensus communis, usus et experientia; hier auch (c. 26) wieder das Sprichwort: »Je gelehrter / je verkehrter«. 100 Ibid. c. 37. 101 Ibid. cap. 42 nach: Reinhard Lorichius: Instruction und Bericht / wie / und in welchen stücken junge Fürsten Vnd andere Heren* stands Kinder . . . zu underweisen und anzuführen. (2. Aufl.) Herborn 1618; vgl. den Bericht des jungen Simplex bei Grimmelshausen, Buch I, c. 1, ed. Tarot, S. 11, Z. 26ff.

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der Überwindung traditioneller Lebensgewohnheiten und Freiheitsansprüche durchsetzt, also sich nicht ohne tatsächliche Konflikte herausbildet, spiegelt sich wiederum in der rhetorischen Kontroverse. Eine Passage der »Adelichen Tischreden« (1661) des Johannes Lassenius (1636—1692)102 läßt den modernen mit dem historisch obsoleten Standpunkt zusammenstoßen. Der Adelige Vanno, an anderer Stelle als »Bauernschinder« gebrandmarkt, wendet sich gegen das zum Studium aufrufende Plädoyer seines Vetters Fiorentino: Ihr habt bißher viel vom studiren der vom Adel geredet. Aber mein wozu dienet die Blackscheisserey? lasset die studiren / die sich damit nähren müssen; wir können doch wol leben / ob wir gleich nicht studiret haben. Das ist eine schlechte Entschuldigung / sagte Don Fiorentino, die ihr daher hingebt. Es ist wahr / die vom Adel dürfen allezeit nicht darum studiren / daß sie sich damit ernähren / allein sie müssen darum studiren / daß sie unter sich selbsten und einem unvernünfftigen Tier einen Unterschied machen / daß sie ihr Gemüth selbst erfrischen / und ergetzen / daß sie ihrem allgemein Vatterland dienen mögen: und glaubet Ihr mir sicherlich, Herr Vetter Vanno, daß Tugendliebende Gemüther / die höchste Ergetzlichkeit im studiren suchen / und in den Büchern finden. Ey sagt Don Vanno, es mag seyn wie ihr will / es können auch wol Leute dem Vatterland helffen im Krieg / oder auch guthen Rath mitteilen / die gleich nicht studiret haben / und hoffe ich noch zu erleben / daß man der Blackscheisserey nicht werde achten. Etwas gemach / sagte Don Fiorentino, Herr Vetter Vanno, verachtet nicht also das studiren; ihr möget gleich in den Krieg ziehen oder nicht / so werdet jhr doch wenig darinn ausrichten / im Fall ihr mehr mit Dollkühnheit eure Feinde / als mit Verstand angreifet.. ,103

Fiorentino gesteht zu, daß viele Gelehrte als »nutzlose Erdenlast« anzusehen seien (»inutilia terrae pondera«), verweist jedoch auf die von Karl d. Gr. geforderte Adelsbildung: schon damals sei erkannt, daß die dominierende Stellung des Adels sich auch in puncto Bildung niederschlagen müsse. In dem von Lassenius fingierten Zwiegespräch werden paradigmatische Grundvoraussetzungen für die Zusammensetzung des literarischen Publikums im 17. Jahrhundert greifbar. Der alte, ständisch verankerte Gegensatz von Adel und Gelehrtenbürgertum, von »arma« und »litterae«, wird als überholt entlarvt; beide ehemals Rang und Würde verbürgenden Statusmerkmale gelten nur noch, wenn sie sich an einem Tugendbegriff orientieren, der sich im Dienst am »gemeinen Vatterland« erfüllt. Lassenius hat diese epochal-signifikante Koppelung von Adel und Tugend im ersten und zweiten Gespräch seines Werkes ausführlich und eindringlich vorgetragen. 104 Die allgemeinen Züge der Tugendvorstellung finden in dem zitierten Abschnitt eine spezialisierte Explikation. Dabei zeigt sich, daß die Tugend als »Zierde« des Adels idealerweise genau als jene statussichernde »Tauglichkeit« zu verstehen ist, mit der sich die Feudalität zusammen mit dem bürgerlich-gelehrten Beamtentum dem fürstlichen Interesse als Sachwalter des »gemeinen Nutzens« dienstbar zu machen hat. Die moralische Akzentuierung des Tugendbegriffs, der durch repräsentativ-ästhetische Graduierung nach außen 102 103 104

Zu Lassenius s. A D B 17 (1883), 778f. sowie Moller, Cimbria Litterata II, 449-454. Viertes Gespräch, S. 99ff.: »Vom Studieren und Reisen der vom Adel«, das Zitat S. 118. Zur Kongruenz von Adel und Tugend grundlegend: Mauser, Dichtung, Religion und Gesellschaft, 240ff. mit reichem Material.

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dokumentiert wird, darf also nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der politische Auftrag des Tugendappells praktisch in der Eignung zum Dienst am Fürsten erfüllen muß. Das in Versen abgefaßte Fazit des Gesprächs weist dem widerstrebenden Adel den historisch fälligen Weg: Wer Verstand und Weisheit liebt / Sich dem Himmel eigen gibt / Solcher ist deß Landes Ruhm / U n d der Fürsten Eigenthum / Ein vom A d e l der studirt / Doppelt Adels Namen führt / U n d der fremde Reich gesehn / Muß bald nach den Fürsten gehn. 105

Ich habe bisher versucht, anhand ausgewählter Beispiele aus vier Textsorten zu analysieren, in welcher Weise sich die Leitbilder der neuen Herrschaftselite des absolutistischen Staates gegen gelehrt-zünftige Monopolansprüche bzw. scholastisch-akademische Traditionen einerseits und gegen altfeudale Lebens- und Wertvorstellungen andererseits herausbildeten und in ζ. T. polemisch-kontroverser Argumentation für den Leser sinnfällig gemacht werden. Es wäre ein leichtes, die hier entwickelten Grundzüge in einer Fülle einschlägigen Schrifttums sowohl zur Gelehrten- und Herrschererziehung weiter zu verfolgen. Dabei wäre einsichtig zu machen, wie gegen Ende des Jahrhunderts der gesellschaftliche Druck auf die Gelehrtenschule als Residuum eines literarisch-lateinischen Akademismus immer stärker wird. Die verhältnismäßig geringe Rolle der adelsspezifischen Ausbildungsinstitute (Ritterakademien) als Konkurrenz der Gelehrtenschule 106 hängt mit dem Ausweichen in die Privaterziehung zusammen, aber auch mit der organisatorischen Einbindung und infolgedessen traditionssichernden Integration des Schulwesens in den kirchlichen Amtsbereich. Mit der politischen Reformierung der Gelehrtenschule durch Christian Weise, der in Curriculum und Methode mit konservativen Überlieferungen aufräumt, wird die Konsequenz aus der bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts sich entwickelnden Trennung von »privater« und »politischer« Erziehung gezogen. 107 105 106

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Lassenius a . a . O . , S. 126f. Zur Rolle der sog. Ritterakademien vgl. Barner, Barockrhetorik, 377ff. mit der Literatur sowie Bleek (1977). Z u Weise umfassend auf Grund der bisherigen Forschung: Barner, Barockrhetorik, S. 167ff.; neben der von Weise vorangetriebenen Bemühung um die Erziehung einer angepaßten bürgerlichen Beamtenelite ohne lästigen Rückblick auf humanistisch-akademischen Systemzwang, - die Polemik Gottscheds gegen Weise entspringt offensichtlich dieser prohöfischen Adaption des antiken Erbes - erscheinen natürlich weiter zahlreiche Schriften speziell zur Adels- und Fürstenerziehung: recht signifikant für die Lage der »litterae« und die totale Kapitulation des bürgerlichen Bildungsanspruches vor Lebenstil, Mentalität und Snobismus der »Magnaten«: Joh. Chr. Wagenseil: »Von Erziehung Eines Jungen Printzen, der vor allem Studiren einen Abscheu hat, D a ß er dennoch gelehrt und geschickt werde [ . · · ] . Leipzig 1705. Die Widmung an Kaiser Leopold skizziert die Ausgangslage als Misere der Adelserziehung: »Schicke man aber einen jungen Edelmann in eine öffentliche Schule / würde insgemein fast ebenso wenig ausgerichtet / als durch

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In der hier wegweisenden Frage nach der Rezeption der Pedantismuskritik der Romania als Medium antihumanistischer Affekte im Zuge der Ausbildung des neuen Bildungsprogramms ist noch einmal zurückzugreifen auf den Traktat von Gumpelzhaimer/Moscherosch. Es ist bedeutsam und illustriert die bisher dargestellten Zusammenhänge, daß hier in ähnlicher Weise wie im Falle der »policey«staatlichen Theorie der Kultur bei Besoldus ebenfalls jene Pedantismuskritik und ihre satirische Verarbeitung Eingang findet, dabei aber in historischen Rückverweisungen an eine Tradition angebunden wird, die ursprünglich ζ. T. in anderem Kontext die Opposition gegen das scholastische Exercitium zum Ausdruck brachte. Gumpelzhaimer/Moscherosch zitieren so neben einer Passage aus einer Predigt Geilers von Kaisersberg den Passus »vom unnützen studiren« aus Sebastian Brants »Narrenschiff«, 108 instrumentieren wie Besoldus ihre Argumentation mit »Germanum illud proverbium« - »Je gelehrter / je verkehrter« - , benutzen daneben den vierten Diskurs aus Garzonis »Piazza Universale«109 und verweisen ausdrücklich auf die 1622 in Straßburg deutsch erschienene Narrensatire des Italieners Antonio Maria Spelta. 110 Folgen wir diesem Hinweis auf das Kapitel 116 in dessen »Sapiens Stultitia«, ergibt sich ein erneuter Einblick in das politische Interesse, das der Gelehrtenkritik zugrundeliegt. Der Abschnitt bei Spelta, d.h. in der deutschen Übersetzung, ist überschrieben »Narrheit in Verwaltungen gemeinen Nutzens ein grosser Gehülff«: es handelt sich um eine ironische Argumentation in der Nachfolge von Erasmus' »Laus Stultitiae«. Spelta thematisiert den Schaden, den der Staat von falscher Gelehrsamkeit nehmen kann. Gerade in Straßburg mit seiner Tradition des Sturmschen Ciceronianismus mußte es hart in den Ohren klingen, wenn hier Demosthenes und Cicero verurteilt werden: Sie erweckten Tumulten: und Auffruhr / erhetzten die Gemüter wider einander / gaben ursach zur wehre zu greiffen / haben gemachet / das die Respub: sein über / und über gegangen. 111

Die humanistisch-platonische Vorstellung vom »rex philosophus« wird als lächerlich und unpraktisch gebrandmarkt, Aristides und Sokrates wurden (es wird unterstellt: zu Recht) aus der Stadt vertrieben, der kaiserliche Philosoph Marc

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einen untüchtigen privat-Praeceptorem. Der Zwang gewisse Stunden zu halten / auswendig zu lernen / mit gemeiner Leute Kinder umzugehen / und denen in allen gleich gehalten zu werden / sey ihm unleidlich; zudem dencke er meistentheils stets auf das Jagen / an den Krieg / oder anderes / wohin ihn sonst seine Begierde traget.« A . a . O . , Part I, Sect. V, cap. 8. Ibid. cap. 7: nicht unbedingt aus Garzoni direkt entnommen, sondern vielleicht aus den 1618 in erster Auflage erschienenen »Facetiae Pennalium« des Julius W. Zincgreff (ed. 1978, S. 69ff.): dazu vgl. unten CHI 1. Zu Spelta (1559-1632) bei Zedier und Jöcher nur wenig Informationen; kurze Charakterisierung des 1608 in ital. Sprache erschienenen Werks bei Schneegans, Geschichte der grotesken Satire, S. 443ff.; von G. Ens erschien auch eine lateinische Übersetzung (Köln 1621); ich benutze die Ausgabe von 1622. Ibid. S. 85; vorher der Zusammenhang von Staatsverfassung und Beredsamkeit sowie die Formel vom »genius saeculi«.

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Aurel, Vertreter einer nur spekulativen und individualistischen Ausbildung der Lebensweisheit, erwies seine Unfähigkeit bei der Erziehung seines Sohnes Commodus. Der Maßstab des politischen Nutzens ist komplettiert durch die implizite Forderung gesellschaftlich-geselliger Anpassung und lebenspraktischer Verhaltenssicherheit: auch hier also der staatspolitische und der höfisch-gesellige Gesichtspunkt verkoppelt: Wie sie [die Gelehrten - W. K.] offtermahlen den gemeinen Nutzen / Land und Stätten hoch schädlich seind / also seind sie auch bey de Leuten / in ihrer Conversation beschwerlich und verdriißlich: summa / in all jhrem thun und vorhaben / unleidlich und ungern gesehen. 112

Mit Übersetzungen dieser Art ist der Weg bereitet für den allerdings zögernden Einsatz der Pedantismus-Satire auf deutschem Boden. Bevor diese in den Mittelpunkt der Darstellung rückt, soll die literarische Formulierung der neuen Leitbilder noch an zwei anderen bereits angesprochenen Argumentationskomplexen weiter detailliert werden und damit auch die historische Funktion scheinbar ganz allgemeiner Topoi im Zusammenhang sozialer Umschichtungen nachgewiesen werden. Während Lassenius den rückständigen Adeligen Vanno darauf aufmerksam macht, daß adeliger Waffendienst nicht allein für Tugend und Fürstengunst prädisponiere, entwickelt sich im Zuge der Gelehrtenkritik und einer anti-kontemplativen Polemik ein gegenläufiger Argumentationskomplex, der die heroische Bewährung des einzelnen in der Praxis am Extremfall des Krieges dokumentiert: Da möchte ich wol wissen / was für ein Ort solchen Doctorn, und gelöhrten weisen Leuten / könte assigniret und verordnet werden? Als welche änderst nichts können / dann die Bücher durchlauffen / die Sternen begaffen / und den Himmel beschauen / doch nicht wissen / was sie hienieden auf Erden machen. Was vermögen wol solche Leut / in dergleichen treffen mit jhrer Kunst / Witz und Geschicklichkeit / so daheimden ad umbram, & fornacem, wie man sagt / hinder dem Ofen gesessen / und in jhren Fantaseyen aufferzogen worden?" 3

Es handelt sich um das Thema »arma-litterae«, der Konkurrenz und Harmonie von »Degen und Feder«. Auch mit der Diskussion dieses Topos gewinnt die deutsche Barockliteratur Anschluß an geistige Auseinandersetzungen der europäischen Renaissance. Kühne Faust und blancker Degen Künnen Würd und Ruhm erregen; Ruhm und Würde muß sich legen, Stützet Feder nicht den Degen. F. v. Logau

b) »Arma-litterae«: Zur Aktualität einer topischen Formel Die Vereinigung von literarischer Bildung und kämpferischer Tapferkeit, von sapientia und fortitudo zu preisen, gehört zwar zum topischen Arsenal der 112

Ibid. S. 90.

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Ibid. S. 78f.

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abendländischen Herrscherpanegyrik, 114 gewinnt aber erst in der europäischen Renaissance Indizwert für eine breitere und keineswegs reibungslos verlaufende sozialgeschichtliche Entwicklung. In Castigliones Idealtyp des »Hofmanns« (»cortegiano«) und den nachfolgenden Lehrbüchern höfischer und gesellschaftlicher Erziehung wird der Versuch unternommen, ältere Leitbilder ritterlichen Daseins und militärisch-kämpferischer Tüchtigkeit mit den Postulaten weltmännischer Bildung und humanistischer Erziehung zur Synthese zu bringen. 115 Die Kluft zwischen »Waffen und Wissenschaften«, d.h. aber die Konkurrenz zwischen nobilitas generis und nobilitas litteraria, zwischen bürgerlicher Bildungsaristokratie und feudalem Erbadel wird ausgeglichen. Sie ist im Dienst am Fürsten, im Zuge der Eingliederung des einzelnen in den sowohl von Militär als auch von Bürokratie geprägten Zentralstaat obsolet geworden. Dieser Ausgleich erforderte, wie bereits dargestellt, Zugeständnisse sowohl von der Schicht der aufsteigenden »Gelehrten« wie auch Anpassung seitens des auf einen eigenen Ehrenkodex bedachten Adels. Sowohl der scholastische Humanismus wie auch eine sich 114

Vgl. Curtius, Europ. Lit., S. 179ff.; zur Formel »Waffen und Wissenschaften« spez. S. 186ff. (Bojardo, Ariosi, Rabelais, Spenser, Cervantes); ferner Ricken, 33ff.: zur Tradition der mittelalterlichen Koppelung von »Chevalerie et Clergie«; zur Verwendung des Topos in den zeitgenössischen Fürstenspiegeln vgl. exemplarisch: Bernegger, Speculum Principis... (1625), fol. C Iff.: dort der Verweis auf typische Belege der antiken Literatur: Homer, II.XIII, 729ff., XVIII252; Properz III, eleg. 9, bes. V. 19ff.: »hic satus ad pacem, hic castrensibus utilis armis: naturae sequitur semina quisque suae« - Bernegger zielt hier auf die Seltenheit militärischer und gleichzeitig geistig-literarischer Qualifikation); Plinius, Panegyricus, c. 4; Claudian, Stil. I, V. 32; ferner etwa M. Tympius, Aureum Speculum Principum (1629) 1006ff. (mit den dazugehörigen Exempeln). 115 Zur Frage des Vorrangs von Waffen oder Wissenschaften spez. »Cortegiano« 145/46; vgl. dazu Loos, 140ff. ; Gesamtwürdigung des neuen gesellschaftlichen und gebildeten Adelstyps: Burger, Europäisches Adelsideal, 220ff. v. Martin, Soziologie der Renaissance, llOff.; N. Elias, Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, 351ff. (»Die Verhöflichung des Krieges«); vgl. auch die zusammenfassenden Bemerkungen bei Buck, Die humanistische Literatur in der Romania, 70f. ; zum historischen Zusammenhang auch Sinemus, 215ff. Daß sich die Vereinigung von »Waffen und Wissenschaften« in der Hand des Adels als Abwehr gegenüber der bedrohlichen Macht der bürgerlichen Intelligenz verstand, wird gelegentlich direkt ausgesprochen (vgl. Ricken, S. 36, mit Verweis auf einen 1553 erschienenen Traktat); zum gesamteuropäischen Kontext des Themas s. Robert J. Clements: Pen and Sword in Renaissance Emblem Literature, in: ML Qu V (1944), 132-141; ferner Levin, The Myth of the Golden Age, 146f. - Es ist lehrreich zu verfolgen, wie im einzelnen die Spannung zwischen Gelehrsamkeitsideal und altfeudaler Bildungsverachtung thematisiert und ausgeglichen wird. Bei Guazzo (lat. Übersetzung): De Civili Conversatione, S. 314: wird das Problem behandelt im Zusammenhang der Pflichten der Gelehrten gegen die »idiotae«. Der Wendung gegen jeglichen »tumor« der Gelehrten folgt eine durchaus humanistische Erhöhung der »literae« gegenüber den »artes« (Topos der Ruhmgewährung; Exempel: Achill und Homer); dann aber der Ausgleichsversuch (»Quam bene arma cum literis conjungantur«) mit dem Paradebeispiel Caesar; als dritter Aspekt des Ausgleichs: mäzenatische Freigebigkeit liegt im eigenen Interesse; - Du Refuge, Kluger Hofmann, übers, v. Harsdörffer, erschienen 1655, S. 25 (gegen feudale Bildungsverachtung): »Gewiß ist es / daß die Anzahl solcher groben Gemüther am Hof nicht gering ist / welche wegen ihrer unvernünftigen Plumpheit ihnen nicht einbilden können / daß ein Edelmann oder Cavalier zugleich gelehrt und ein Soldat seyn könne. Nicht zwar daß ich 352

nicht d e n (aus der V e r e i n i g u n g v o n » T u g e n d und Wissenschaft« e r g e b e n d e n ) n e u e n Leitbildern ö f f n e n d e Feudalität war v o n einer Legitimationskrise bedroht, die ggf. unweigerlich in e i n e n Verlust an R a n g und Prestige, im G r u n d e aber in e i n e n A u s s c h l u ß v o m Verteilungsapparat und S t e l l e n m o n o p o l d e s H o f e s e i n m ü n d e t e . V o l k e r S i n e m u s hat anhand der Formel v o n » D e g e n und Feder« untersucht, w i e in der d e u t s c h e n Literatur d e s 17. Jahrhunderts in verschiedener W e i s e die grundsätzliche A u s e i n a n d e r s e t z u n g zwischen » B e a m t e n m e r i t o k r a t i e « als Derivat der nobilitas litteraria einerseits und geburtsaristokratischen Geltungsansprüchen andererseits verarbeitet wird. 1 1 6 E s zeigt sich - angesichts der v o n S i n e m u s reich b e l e g t e n A u s f ü h r u n g e n kann ich mich kurz fassen - , daß sich das in die Ä m t e r hierarchie der V e r w a l t u n g aufrückende Gelehrtenbürgertum mit d e m N a c h w e i s v o n B i l d u n g und Leistung zunächst g e g e n e i n e größtenteils o f f e n b a r bildungsferne Feudalität b e h a u p t e t . Literarische Fähigkeiten - der »doctus orator« als V o r a u s setzung, bei Kaspar Stieler etwa, des idealen »Secretarius« - prätendieren nicht nur e i n e s y m b o l i s c h e , sondern auch e i n e historisch reale E r h ö h u n g des gesellschaftlichen Status, ggf. auch die titularmäßige Gleichstellung mit der »nobilitas generis«. 1 1 7 A u c h in d e n Kreisen der »Fruchtbringenden Gesellschaft«, zumal in

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leugnen wolte / ob nicht nebenst der Kunst und Wissenschafft / auch öffters Thorheit und Hasenhafftigkeit zugleich angetroffen würde. Denn man nur gar zu viel der jenigen antrifft / welchen das Griechische und Lateinische zu nichts anders genützt hat / als daß es dieselben nur eigensinnig und verdrießlich gemacht / und welche an statt / daß sie von jhrem Studiren grosse Weißheit und Geschicklichkeit davon bringen sollen / nichts als ein auffgeblasen Gemüth voller Stoltz und Hochmuth erlanget haben. Nichts desto weniger muß man bekennen / daß wann die Wissenschafft einen auserlesenen Kopf antrifft / sie solche Wundernswürdige Wirckungen herfür bringt / daß man sagen könte / daß die jenigen / so sie besitzen / etwas mehr als ein Mensch an sich hetten ( . . . ) Nicht wird eine vollkommene Wissenschafft aller freyen Künste / so die Alten Encyclopediam genennet haben / allhier erfodert / welche etliche fürwitzige Köpffe närrischer Weise als das höchste Gut des Lebens gehalten h a b e n . . . « Es folgt die Auflistung der notwendigen intellektuellen Qualitäten des Hofmanns; besonders die Integration des Wissens in die Praxis des Umgangs und der Konversation wird verlangt, »eine mittelmäßige Wissenschafft der anmuthigsten Streit=Fragen / so zuweilen in guten Gesellschafften fürzulauffen und zu entstehen pflegen«. Unter den Buchwissenschaften stehen im Zentrum Politik und Historie, besonders empfohlen wird, wie nichts anderes zu erwarten: Tacitus (S. 30). Ähnliche Verhaltensregeln wie bei D u Refuge finden sich auch bei N. Faret, L'honnêste homme, dt. Übers. 1647, vgl. dort bes. S. 351 (»Von dem Studiren«): auch hier wird akademische Bildung bejaht, doch ritterliche Exerzitien und der auf Klugheit gründende Praxisbezug trennen den Gebildeten vom »Schulfuchs«: »Der kluge Hofmann soll in seiner Jugend alle Wissenschafften durchwandert / alle Künste erlernet / alle jhm anständige Sprachen / welche seine nohtwendigste Ehrenkleider sind gefasset / und fremde Länder besehen haben: doch soll er den schweren Schulstaub abgeschüttelt / und den Büchern / mit Hintansetzung andrer Angelegenheit / nicht zu viel ergeben sein: wol wissend / daß offt zwischen der Klugheit und Wissenschafft eine Klufft befestigt / daß diese und jene nicht können zusammen kommen.« (S. 352) - »Zum wenigsten aber soll ein Hofmann / benebens den Büchern / die Ritterlichen Übungen / als fechten/reiten/ dantzen etc. verstehen / damit er nicht gar für einen Schulfuxen gehalten werde.« (S. 356). Sinemus (1978), 207ff. (Kap. III). Ibid. spez. 207-210. 353

der Epoche ihrer Gründung, wird die ideelle Gleichberechtigung des Adels der Feder und des Adels der Waffen anerkannt. Die Tendenzen moderner Arbeitsteilung legen eine prinzipielle Anerkennung der je verschiedenen Verdienste nahe, soweit sie sich auf das gemeinsame Interesse an einer Hebung der nationalen muttersprachlichen Kultur sowie allgemeiner Tugend und Gesittung bezogen. Freilich zeigt sich auch hier, daß trotz der ständenivellierenden Gesellschaftsnamen eine reale gesellschaftliche Gleichstellung von Adel und Gelehrtenbürgertum illusorisch war und daß bei der Aufnahme von Mitgliedern sehr wohl differenzierte Kooptationskriterien zur Anwendung kamen. 118 Im Zuge der von der Geschichtswissenschaft beschriebenen Refeudalisierung und Rearistokratisierung von Staat und Gesellschaft, im Zuge einer Entwicklung, in der sich auch der »alte« Adel durch Erwerb von Bildung und gelehrte Studien für den Verwaltungsapparat qualifizierte und somit den am Anfang des Jahrhunderts bestehenden Rückstand zur bürgerlichen Elite wettmachte, setzten sich zunehmend die Ansprüche der ererbten Nobilität durch. Alberto Martino hebt in diesem Zusammenhang darauf ab, daß sich gegen Ende des Jahrhunderts dadurch die Chancen sozialer Mobilität und gesellschaftlichen Aufstiegs für die mittelständische Intelligenz verschlechtern. 119 Während der Beginn des Jahrhunderts durch deutlich erkennbare Impulse geprägt war, »zweier der Herkunft nach unterschiedliche soziale Elemente in einer höfisch orientierten Schicht« zusammenzuführen, »die trotz ihrer Binnengliederung vom Standpunkt des souveränen Fürsten als homogene Fürstendienerschaft anzusehen war«,120 erscheint gegen Ende der Epoche das auf dem Prinzip »Bildung« beruhende, leistungsbewußte Selbstverständnis des Gelehrtenbürgertums im Hinblick auf tatsächliche Erfüllung sozialer Aufstiegs- und Geltungsansprüche von neuem gefährdet, wenn nicht widerlegt. Der Epigrammatiker Wernicke hat dies polemisch in einem Gedicht auf die »Unterdrückung geschickter Leute« festgehalten: Die jetzt am Steuerruder stehn, Und an der Fürsten Seite gehn, Sind Leute, denen offt nichts recht Zum Vorzug giebt, als ihr Geschlecht;

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Ibid. spez. 214-228. Vgl. seinen Aufsatz über »Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz« (1976). Über das Vordringen bürgerlicher Gelehrter in das sich ständig erweiternde Behördenwesen im Laufe des 16. Jahrhunderts, dementsprechend die vorübergehend rückläufige soziale und politische Stellung des Adels; vgl. Erich Hassinger, Das Werden des neuzeitlichen Europa, 365ff. Rössler, Deutscher Adel 1555-1740, bes. (zusammenfassend) 345f.; weitere Hinweise bei Sinemus, 237f. - Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts »befestigte sich zusehends in der sozialen Ordnung die Präponderanz des Adels. Die Fürsten hoben geflissentlich seinen gesellschaftlichen Rang hervor und bevorzugten ihn im Zivil- und Militärdienst um ihn für den Verlust seiner politischen Rechte zu entschädigen, auf die er zugunsten des Fürstentums hatte verzichten müssen. Das Zurücktreten des Bürgertums stand damit im Zusammenhang« (so Zeeden, Das Zeitalter der Glaubenskämpfe, S. 203); dazu mit weiteren Hinweisen vgl. Sinemus, 239f. Sinemus, 1978, S. 239.

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Die gnug gelernt sich zu verstellen, Viel Schwierigkeit in leichten Fällen Zu machen, und durch schlaue Künst' Geschicktre Leute zu verdringen: So gar, dass itzund der Verdienst Gering ist, oder bey Geringen.121 Noch schärfer beschreibt das 1650 in Danzig erscheinende Gedicht der barocken Poetin Sibylle Schwarz die nicht zuletzt als Folge des Krieges sich entwickelnde Situation: (...) Hohe Schlösser / dicke Ma wren / Grosse Dörffer / Gelt und Gut / Schöne Pferde / reiche Bawren / Das macht euch den grossen Muth; Nun der Krieg euch das genommen / Müßt jhr zu den Bürgern kommen. Habt offt kaum das Brodt zu essen / Hungert manchen langen Tag / Und seit dannoch so vermessen / Daß man sich verwundern mag / Ja ein kluger muß euch weichen / Kan euch kaum das Wasser reichen. Die in Phebus Hütten leben / Müssen / ob es schon nicht recht; Euch die Oberstelle geben / Ihr seit Herren / sie die Knecht; O geht hin / und laßt euch lehren / Wie jhr andre auch solt ehren. (.. .)122 Aus der Themenstellung dieser Untersuchung ergibt sich die Frage, ob und wie sich die oben skizzierte Entwicklung in der späthumanistischen Literatur niederschlägt. Bereits der gesamte Komplex der Kritik des scholastischen Gelehrtentums war ein Zugeständnis an einen Leistungsbegriff, der sich im Gegensatz zum älteren Ideal der nobilitas litteraria nicht mehr allein auf die etwa im akademischen Titel offenkundige Bewährung in der »Wissenschaft« stützte, sondern auf die Funktion und den Nutzen der Studien für Staat und Gesellschaft. Die auf den Beamten zugeschnittene Ideologie des Adels der Feder funktionalisiert bereits den ursprünglichen Gedanken der natürlichen Gleichstellung des Menschen, welcher im humanistischen Bildungsideal inkorporiert war. Bereits die Humanisten des 16. Jahrhunderts haben schmerzlich die Realität des Satzes erfahren müssen: »Virtus & Scientia nobilitant naturaliter, non civiliter«. 123 Für die große

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Wernicke, ed. R. Pechel (1909), S. 187. Deutsche Poetische Gedichte. Dantzig 1650, S. Lv ff.: »An den unadelichen Adel«, das Zitat S. LjX. H. Kirchner, Respublica 1609, s. 154; vgl. dort auch S. 151 der Hinweis auf die ästhetischrepräsentative Korrelation v. Adelswürde: »Ordo nobilium non modo titulis, honoribus & privilegiis, sed etiam externo cultu & habitu in bene constitute rep. discernendus a plebeis.« 355

Masse der mit der Magisterwürde oder mit dem Brieftitel des »poeta laureatus« heimkehrenden bürgerlichen Humanisten war die Idee des Bildungsadels bereits eine von der Realität ständig widerlegte Vision: nur die promovierten Juristen und die Spitzen der theologischen Zunft, bereits durch die Hierarchie der akademischen Fakultäten von den »studia humaniora« streng geschieden, wußten sich titular- und rangmäßig, nicht zuletzt auch im Hinblick auf reiche Einkünfte aus Besoldung und Nebentätigkeit gegenüber den Geltungsansprüchen des »alten« Adels zu behaupten. Der akademische Humanismus von Schule und Artistenfakultät war erst recht von einem auf den Begriff des politisch-gesellschaftlichen Nutzens gebrachten Adelsbegriff getroffen, der sich etwa in der Maxime ausdrückte: »Denn der Adel ist eine gesellschaftsbezogene (»civilis«) Angelegenheit und man kann ihn nur durch gesellschaftsbezogene Disziplinen, bezogen freilich auf Krieg und Frieden, erringen.« (Ü) 124 Der Anspruch auf Gleichstellung ergab sich für den »consiliarius« bis hin zum »secretarius« aus seiner in meßbare Leistung umgesetzten literarischen Bildung, für den »poeta philologus«, auch für den Philosophen war diese Art von Leistung schwerlich nachweisbar. Die Problematik solcher Funktionalisierung von Bildung flöß nicht selten in die akademisch behandelte Frage ein, ob die »dignitas« des Menschen von seiner natürlichen Qualität oder von seiner öffentlichen Position abhänge. Die »concordia armorum & bonarum artium« - so der Titel einer 1615 erschienenen Rede des französischen Jesuiten Franciscus Remondus 125 - war also die ideologische Basis, auf der sich Verwaltungselite und Feudalaristokratie zu verständigen hatten. Bartholomäus Keckermann bezeichnet in seiner Rhetorik die »comparado eloquentiae cum virtute militari« als »locus communis«, also als abstrakte Formel obligater Fragen, von denen das kulturelle Bewußtsein der Epoche geprägt war. 126 Der Ausgleich von »ars« und »Mars«, wie ihn etwa 124

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Chr. Besoldus, Discursus Politici Singulares, Diss. II, cap. X, S. 103f. (erschienen 1626): dort zahlreiche Belege und Zitate zum Thema »De Gradibus & quomodo Nobilitas acquiritur.« Fr. Remondus S. J., Carmina et Orationes. Ingolstadt 1615, S. 266-295. Systema Rhetoricae, in: Systema Systematum I, 1613, S. 1001; diese »comparatio« fließt auch in die apologetischen Formeln von Würde und Nutzen der litterae ein, in denen diese als Waffen und Instrumente in Kampf um Bildung, Weisheit, Gelehrsamkeit usw. apostrophiert werden: »haec quoque nostra militia est« (E. Puteanus, Suada Attica, in: Opera omnia I, Nr. XII, S.260ff.: Exhortatio ad litterarum studia«, spez. S. 261f.) Heinsius vergleicht im Nachruf auf Joseph Scaliger das »instrumentum« seines »Heros« mit den Waffen des Achilles. - Der »locus communis« als Thema der Oratorie: Philipp Camerarius: Utrum arma bonis litteris praeferenda? vel, utra militia togata an armata praestantior sit? (Operae Horarum Subcisivarum, 1618, Cent. Tertia, Caput LXVIII, S. 245ff. - Eine in Altorf gehaltene Rede); vorher geht bezeichnenderweise eine »Commendatio bonarum literarum, de dignitate atque utilitate nec non de comtemtu earum & barbarie paulatim ingruente« (ibid. Caput LXVII, S. 241ff.); vgl. auch E. Puteanus, Suada Attica, in: Opera omnia I, lOlff.; ferner die »Dedicatio« bei Gumpelzhaimer/ Moscherosch, De Exercitiis; auch bei Charon (De la sagesse, 1630) wird Wissenschaft (»science«) in Konkurrenz zu »dignité, noblesse naturelle, vaillance militaire« disputiert: s. den Abdruck bei Garin, Erziehung, III, S. 176.

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Moscherosch, Harsdörffer und Lohenstein fordern, 127 gehört denn auch zu den möglichen Themen der Kasualpoesie und Schuloratorie. Friedrich Taubmann, der Wittenberger Poet und Professor, verarbeitet die topische Polarisierung ζ. B. in einem Gedicht, das anläßlich eines diesbezüglichen Traktats eines gewissen »Joh. Lauterbach in Noscowitz J. C.« zu schreiben war: Nempe sui plenus truculentus turget in armis Trossulus, & solis it Trossulus efferus armis: Momentum non grande putans tranquilla togatae Nomina militiae sectari Pacis in umbra. Contra qui Clariae seque & sua mancipat arti; Plus homines L O N G A E quam C U R T A E vestís honorât; Et druidas Equiti praeponens negligit istam Bellonae subolem crudi Mavortis alumnam. Saepius acta fuit non uno judice res haec: Sed patrocinio pars utraque tuta fideli Erubuit de jure suo concedere parti: A t nunc ambiguae sufflamina ponere litis Lege jubet lata sic L A U T E R B A C H I U S : ut cum Ballade (quis credat?) Mavors conjuret amice Et conjurato victuros foedere dicant. Scilicet hoc potuit non quivis unus in horto Musarum eductus, vel solo Marte: sed is, qui Bellandi fandique potens, & praelia Musis Temperat, & rigidum moderatur Apolline Martern. 128 127

Moscherosch, Centuria Epigrammatum I, Nr. 43 (zuerst 1630, in der Ausgabe 1665, S. 18, Nr. 43: »Ars-Mars. Omne feret punctum Marti qui conjunxerit Artem: Artem qui Marti junxerit omne feret. Mars ut ab Arte manum sumit, feliciter audet: Ars Animi caput est: Mars Animi manus est.« Ähnliche Epigramme mit Rekurs mit analoger Ausgleichstendenz bei anderen Neulateinern. 128 »Ad Tract. D e Armis & Litteris J O H . L A U T E R B A C H I in N O S C O W I T Z , J. C.«, in: Melodaesia, 1622, S. 176; Gedichte dieses Lauterbach sind abgedruckt in JanusGruters»Delitiae Poetarum Germanorum«, 1612, Bd. III 2, S. 948ff. ; der Traktat selbst war mir nicht zugänglich. - D a ß das Thema »arma-litterae« besonders im Dreißigjährigen Krieg formelhaft in schmerzliche oder leidenschaftliche Plädoyers einging, sich in Kunst und Wissenschaft der allgemeinen Verrohung zu entziehen bzw. sich nicht ganz von den belanglos und fruchtlos gewordenen »artes« abzuwenden, ist naheliegend: typisch etwa Passagen eines Gedichtes von Janus Gruter (abgedruckt bei Hippe, Chr. Köler, S. )«: [ . . . ] Liberales disciplinas negligit / Quisque Germanorum, easdem qui prius bona fide / Aestimabat, seque Marti vel Vacunae dedicat / Saeculi exsecratus huius barbari inclementia ( . . . ) ; die »Materie« als R e d e etwa bei Georg Richter, Orationum Decas Prima, 1638, Nr. 2: »De studiis praesertim Philosophia tempore belli non deserendis«. - Eine sehr handgreifliche Konfrontation von »ars« und »Mars« schildert Moscherosch in seinem Gesicht »Soldaten-Leben« (Zweiter Teil, Nr. VI; s. Ed. Bobertag, Nachdruck 1964, S. 332ff.): » . . . Was wolstu Schrifftling, du Blackvogel, sagen? antwortete ihm Bbwtz, mach du nur die Gurgel fertig, daß Glaß außzusauffen oder du must sterben. Ich bin ein klein Männichen, sprach er wider, aber versichere dich Bbwtz, du wirst einen Mann an mir finden, ugd der ist deß Teufels, der sich vor einem Grossen fürchtet: Ich will einem noch weisen, was hinder eim kleinen Männichen und hinder der Feder stecket. ( . . . ) König Heinrich der IV. in Franckreich hat besser gewußt, was hinder der Feder steckt, er hat auß Erfahrenheit einen viel andern Außschlag von den Gelehrten geben. Je prends, pflegt er zu sagen, mes meilleurs soldats de l'escritoire, meine besten Soldaten neme ich von der Feder.«

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(Wohl strotzt, ganz von sich eingenommen, Trossulus dräuend in Waffen, und Trossulus geht wild einher nur in Waffen allein: hält es für belanglos, dem Militär, im Schatten den ruhigen Titeln des Friedens nachzujagen. Der dagegen, der sich und das Seine widmet der Apollinischen Kunst (Clarius - ein Beiname Apollos, W. K.), ehrt mehr die Männer mit langem als die mit kurzem Rock, setzt die Druiden über den Ritter, verachtet den Zögling Bellonas als Schüler des ungebildeten Mars. Öfter ist diese Sache nicht allein von einem Betrachter behandelt worden: sondern beide Parteien, geschützt von getreuen Verwaltern ihrer Interessen, scheuten sich, von ihrem Recht zugunsten der jeweils anderen zurückzuweichen. Nun aber befiehlt durch Gesetz Lauterbach, die Hindernisse des beidseitigen Streites abzutragen, so daß (wer möchte es glauben?) Mars sich freundschaftlich mit Pallas (im Text wohl Druckfehler - W. K.) verschwört und beide den Sieg in beschworenem Bündnis verkünden. Freilich vermochte dies nicht ein Beliebiger, im Garten der Musen erzogen oder alleine durch Mars: sondern einer, der, mächtig im Streiten und Sprechen, sowohl den Kampf mit den Musen wie auch den harten Mars mit Apollo mildert und mischt.) Taubmann apostrophiert hier also ein in der Person des Autors und in dessen Werk eingelöstes Programm. Was hier nur formelhaft und metaphorisch angedeutet ist, entfaltet sich im ganzen Spektrum der bereitliegenden Argumentation in der 1606 abgehaltenen »Consultatio de praerogativae certamine, quod est inter milites et litteratos« des Tübinger Professors Thomas Lansius (1577-1657), abgedruckt und veröffentlicht in seiner 1656 erschienenen »Mantissa consultationum et orationum«. Wilfried Barner hat bereits auf die Bedeutung dieser Redesammlung hingewiesen, ohne auf den Text näher einzugehen. 129 Lansius, von Hause aus Jurist, war Professor für Geschichte, Politik und Eloquenz am Tübinger »Collegium illustre« (eingeweiht 1594), das neben der Kasseler Ritterakademie zu den frühesten Institutionen gehört, in deren Lehrplan feudale Standeserziehung mit

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Barner, S. 789ff., dort auch Spezialliteratur zur Person; - die Redeübung des Lansius ist kein Einzelfall; aktuell ist vor allem die »politische« Einkleidung, der direkte Bezug auf Rang, Status- und Rechtsfragen; im Rahmen der philosophischen Lebenswahlproblematik geht es schon bei Melchior Junius um die gleichen Konflikte, wenn er in fünf Reden »De certo vitae genere homini nobili deligendo« sprechen läßt und dabei unterscheidet a) »Pro vita privata & solitaria« (hier auch Gelehrsamkeit im Sinne des musischen »otium«), b) Pro vita aulica, c) Pro Literis & Peregrinationibus (der »moderne« praxisbezogene Bildungsbegriff), d) Pro vita Militari«, in: Orationes, Basel 1590, Nr. VII, S. 209ff.; vom selben Autor eine Rede »De literarum ac militum contentione«, in: »Orationum quae Argentinensi in Academia . . . recitatae, Pars Nona, Bd. V, Nr. 1, S. Iff. (Straßburg 1603); auch in Bern erschienen 1607 vier Reden »De hac Quaestione utrum alia vitae genere, an vero literarum studia amplectenda Nobilibus & Patriciis...: hier werden neben der vita militaris, der vita aulica und der vita scholastica auch die ars notariatus verteidigt; Jakob Thomasius läßt in Leipzig - allerdings mit eindeutig paraenetischer Tendenz - reden über das Thema »Rem literariam praestari militari« (Praefationes... 1683, Nr. 34, S. 189ff.; in seinen 1698 posthum erschienenen »Dissertationes...« findet sich übrigens, gehalten 1652, die gegen Ende des Jahrhunderts dringlicher werdende Frage behandelt: »De studiorum Academicorum comparatione cum Mercatura«); daß das Thema arma - litterae auch in Breslau unter Christian Gryphius weiter aktuell war, berichtet D. Eggers, Die Bewertung..., S. 57; noch Goethes Lehrer in Leipzig, der bekannte Philologe Joh. August Ernesti, läßt sprechen »De Belli Pacisque artium comparatione« (Orationes ... 1762, S. lOOff.).

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akademischer Ausbildung verbunden werden sollte. 130 Es handelt sich nicht nur um eine Rede, sondern um eine rhetorische »concertado« von zehn Reden: diese Antworten auf ein gestelltes Thema geben sich also als »consultationes« so wie die Redner selbst als »consiliarii«. Der als Präses fungierende adelige Schüler stellt das Thema (»relatio«) und formuliert die »conclusio«. Die einzelnen Plädoyers dienen also ganz wie in einer freilich idealisierten Realität zur Ausbildung des »iudicium«, zur Beurteilung einer Sachlage und damit zur Grundlage des Handelns. Es ist von symbolischer Bedeutung, daß bei dieser Redeübung Prinz Friedrich Ulrich von Braunschweig das Thema formuliert, also ein am Collegium studierendes Mitglied des kulturell aufgeschlossenen Braunschweiger Fürstenhauses; es ist auch von Belang, daß er den Streit zwischen Militât und Literaten gerade in seiner Eigenschaft als fürstlicher »pater familias« problematisiert, der für die »Einigkeit zwischen allen Ständen« zu sorgen habe. Ich möchte, da bisher noch nicht geschehen, wenigstens auf die zentralen Passagen der Einzelargumentation in den ersten sechs Reden eingehen. Denn durch die Ausfaltung der »Materie« in die rhetorische Kontroverse lassen sich die topischen Modelle und argumentativen Strategien einer hier in Sprache umgesetzten Interessenrivalität zwischen berufs- und standesspezifischen Geltungsansprüchen konkret analysieren. Die erste Rede gibt sich als Verteidigung vor allem der »vita militaris«: sie sei sowohl Stütze des Staates als auch entscheidendes Moment adeligen Ranges: Was, ich beschwöre Dich, hat Deine Familie zum Gipfel einer so beneidenswerten Macht und Größe geführt, die beinahe an den Himmel reicht? Etwa beschwerliche Bildung? Etwa die Verbannung - Tag und Nacht - in der Bibliothek? Etwa die ungeheuren Wälzer 130

Die ältere Literatur zur Geschichte des Tübinger »Collegium Illustre« bei Barner, Barockrhetorik, S. 378; dazu jetzt W. Jens, Eine deutsche Universität, S. 217ff. - Die Kasseler und Tübinger Ritterakademien sowie ihre Nachfolger waren vom Fürsten zusammen mit den Landständen - initiert: ihre Ausbildung diente der »politischen« Qualifikation und gesellschaftlichen Perfektion in bewußter Abspaltung vom Erziehungsinstitut des akademischen Bürgertums. Dies wird besonders deutlich, wenn man die allerdings seltenen Formen einer institutionalisierten Adelserziehung vergleicht, wie sie z. B. in der oberösterreichischen Landsschaftsschule in Linz vorliegt. Auch die Landstände ließen in der 1570 erschienenen Instruktion die Frage vorlegen, »ob Nötten, daß Potentaten, Fürsten/Herren, Edelleut studieren und gelehrt sein sollen«, beantworteten sie jedoch noch ganz im Sinne der »litterata pietas«: angestrebt war die Beherrschung des Lateins als Umgangssprache, zentrale Autoren waren Cicero, Terenz und Erasmus (vgl. O. Brunner, Adeliges Landleben, S. 155ff.). Diese Ansätze und Inseln einer vorhöfischen, christlich-humanistischen Adelserziehung verweisen auf ältere Versuche der Synthese von »arma« und »litterae« (man denke an Erasmus' »Miles christianus«). D a ß der melanchthonsche Gedanke gerade beim protestantischen Adel Oberösterreichs Resonanz fand, hängt zweifellos mit der konfessionell bedingten Isolation und dem hiermit verstärkten Selbstbehauptungswillen zusammen: aus dieser Schicht entstammt eine Gruppe berühmter Barockliteraten (Hohberg, Stubenberg, Kuefstein, Greiffenberg). D a ß jene Synthese nur bei einer kleinen Gruppe gelang, hinter der das »adelige Landleben« durchaus in altgewohnten Bahnen weiterlief, illustrieren biographische Zeugnisse z. B. der Katharina v. Greiffenberg (vgl. die Monographie von H.-J. Frank, S. 63).

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von Kommentaren und Ratsbeschlüssen? Sollte damit irgendein Pedant (»paedagogus«) prahlen, den die am Boden kriechende Furcht vom Nachdenken über die Tapferkeit mit festem Band zurückzieht? (Ü)131 Die zweite Rede ergeht sich in einer großangelegten Gelehrten- und Fakultätenkritik und prononciert den Gegensatz zwischen »bonus« und »doctus«. Heftig wird die Herrschaft der Juristen am Hofe angegriffen; 132 die Philosophen geraten nicht nur wegen eines lebensfeindlichen Rigorismus ins Kreuzfeuer, sondern auch, weil sie nur die antiken Autoren, zudem mit unnützer Spitzfindigkeit, interpretieren; die Ethiker speziell lehren zwar »mores«, aber nur »meras virtutes«, nicht bezogen auf die Praxis (»actiones«). Erst recht geraten Poesie und Rhetorik ins Zwielicht: nicht nur das alte Argument vom Lügencharakter der Poesie - expliziert am Amadisroman 133 - , auch die »zwei Federn« des Geschichtsschreibers werden gerügt: die eine für Wohltäter und Mäzene, die andere für die, »a quibus sperneretur« (S. 66). Daß Grammatik und Philologie - wiederum mittels der parodistischen Quaestionenliste - sowie obskure Disziplinen wie die Alchemie verspottet werden, ist zu erwarten. Die Ausfälle gegen Ideologie und Praxis der Gelehrtenrepublik werden in der fünften Rede durch eine Polemik gegen die scholastischen Privilegien ergänzt, während Rede 3 und 4 sich zur Aufgabe setzen, die »literariae utilitates« zu verteidigen. Für die Anlehnung dieser Apologien an die im kulturpolitischen Gesamtrahmen definierten Zwecke der Herrschaftssicherung ist bezeichnend, daß der Nutzen der »litterae« vor allem in der komplementären Ergänzung der staatlichen, d.h. militärischen Disziplinar- und Sanktionsgewalt gesehen wird. Literatur dringt in die Gemüter der Menschen, also dorthin vor, wohin die »vis armorum« nicht reicht. Wie so oft auch hier die Bedrohung durch das Volk als 131

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S. 42: »Quid obsecro te, inclytam tuam familiam ad tantum invidendae potentiae & amplitudinis fastigium, coelo proximum evexit? Num diurnum nocturnumque & consiliorum Volumina? Paedagogus aliquis, quem timor humi serpens a fortitudinis cogitationibus robusto fune retrahit semper, talia jactitet.« Daß diese hier rhetorisch inszenierte Bildungsverachtung von Seiten des Adels durchaus - und gewiß mehr als aus den literarischen Zeugnissen ersichtlich ist - Realität war, ergibt sich aus der Kontinuität einer polemischen Figur: sie reicht vom Widerstand der Humanisten gegen den »cyclopicus contemptus studiorum« bis hin zum Begriff des »Adelspöbel(s)«, wie ihn S. v. Birken, später Gottsched und Lessing in verschiedenen Variationen benutzen (dazu s. Sinemus, S. 177). Entsprechend die Feststellung des J. J. Boissard in seinen »Icones virorum illustrium«, Frankfurt 1598, zit. nach R. J. Clements (vgl. oben Anm. 115, S. 135): »Refragrari licet huic opinioni barbariem nostri seculi advertamus: inter nobiles potissimum nostros, qui nescio quibus fumis vanitatis inflati rem litterariam fastidiunt et aversantur, tanquam fatuitatem, qua animi simul et corpora enervantur et fatiscunt: summumque decus in arte militari constituunt, in Martiis exercitiis, et belvina feritate: quasi vero literae militarem disciplinam removeant, animum generosum effeminent«. S. 56 (es spricht ein Henning von Schulenburg): »Quid nunc consuetas Ictorum adulationes, quibus in Aulis pene soli regnant, commemorem? ubi ad gratiam Principum omnem ingenii & consiliorum vim flectunt & convertunt: nihil loquuntur, quod non placeat; nihil faciunt, quod displiceat.« Zu den Philosophen und Ethikern vgl. S. 60ff., zum Amadisroman spez. S. 65f.; dazu Weddige, spez. 234ff.

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Hintergrund: »Denn wie oft geschah es, daß wenn der Pöbel unruhig wurde, ein einziger Literat mit einer mannhaften Rede und dank der gemütsbewegenden Macht der Sprache« seine Zwecke erreichte. 134 Alte Fronten werden mit der Behauptung aufgerissen, daß die »Künste des Körpers« den »Künsten des Geistes« hintanständen - man denke hier an die leibfeindliche Praxis der in der mönchisch-klerikalen Tradition stehenden Gelehrtenschulen - ; deutlicher wird die Replik, wenn auf die Grausamkeit der Militärs, allerdings mit dem ungefährlichen, weil katholische Länder betreffenden Beispiel des »Montezuma Mexicanus« angespielt wird.135 Hier können althumanistische Vorstellungen vom Tugendadel aktualisiert werden - genannt wird etwa Aeneas Sylvius - , hier darf im Scheingefecht des rhetorischen Rituals, im Freiraum des scholastischen Exercitiums sogar an die provozierende Theorie vom verbrecherischen Ursprung (»sceleratus ortus«) der Nobilität erinnert werden. 136 Die sechste Rede endlich liefert ein vorläufiges »iudicium« und denunziert die bisherigen Argumentationen als historisch überfällige Scheingefechte, die sich nur auf den Mißbrauch sowohl von »arma« als auch von »litterae« stützen. Die Kontroverse endet vorläufig in einem Vergleich, der nicht nur die Bedeutung des Kriegers und des Gelehrten an der Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben mißt, sondern zugleich zwei andere Prinzipien der gesellschaftlichen Hierarchisierung betont. Zum ersten das der Statusäquivalenz, d.h. daß die Spitzen des einen Standes mit den Spitzen des anderen, wie bei den Franzosen - hier ein Verweis auf Bodin de rep. III 6 - , der »Magister Equitum« nun mit dem »Regni Cancellarius« 134

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S. 71: »Nam quoties factum est, ut tumultuante plebe literatus unus mascula oratione & flexanima linguae gratia impetravit«; ähnliche Argumente ganz auf politisch-praktische Interessen der Obrigkeit oder des Herrschers bezogen sind im apologetischen Zusammenhang immer präsent: vgl. etwa die Vorrede zu B. Kindermanns »T. Redner« (1660): rhetorische Brillanz nicht nur als Mittel ein »Göttliches Ansehen« zu erlangen und sich (hier die ältere humanistische Schicht) von den »Menschlichen Centauren« (Anspielung auf den rustikalen »eques«) und »rasenden Bestien« zu unterscheiden, nein: »was für Ehre und Nutz bringet ihnen nicht die Wolredenheit? Durch diese allein werden oftermals die schlafenden Soldaten zum Fechten aufgeweckt / daß Sie / wie erhitzte Löwen an den Feind gehen und schlagen; Durch diese allein kommen Sie von ihrer schändlichen Flucht wieder zurücke in vorige O r d n u n g . . . « . W . M a u s e r (Opitz, S. 310) hat darauf aufmerksam gemacht, wie auch das poetische Ideal der »Zierlichkeit« auf eine »angenehme Gewalt« über »ein wolgearbeitetes Gemüthe« zielt. S. S. 89ff.; ein Greuelgemälde älterer und neuerer Grausamkeit »ungebildeter«, d . h . nicht durch das Studium großer Vorbilder »gezähmter« Soldateska, u . a . auch mit Verweis auf die »Hispanorum crudelitatem in Reges Americanos« entwirft Lansius in einer großen und durchaus kühnen Rede »De Utilitate & Jucunditate Historiarum«, in: Mantissa 1656, S. 272ff. (gehalten 1606); auch dort (zit. nach Einzeldruck, Tübingen 1606, S. 13v) der klagende Verweis auf die fehlende Resistenz gegenüber höfischer Entartung: »ne Helvidiorum, Senecarum & Thrasearum mentionem injiciam; quos habemus nullos, aut paucissimos: sed in tali seculo vivamus, atque fertile adulationis, candoris sterile, plures foveat & promoveat Placentinos atque Laudenses, quam Veronenses.« Die geschichtliche Ausbildung des Herrschers ist also umso dringlicher, als er nur noch von unredlichen Schmeichlern umgeben ist. Vgl. S. 94.

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verglichen werden, also Gleiche mit Gleichen. 137 Das ist nicht mehr humanistisch, sondern politisch, also im Hinblick auf staatliche Funktionen gedacht und bricht den alten Hochmut der Gelehrtenrepublik. Zum zweiten der Hinweis auf die gesellschaftliche Realität und politische Machtverteilung: Es sei zu erinnern, daß man nicht in einer Republik des Thomas Morus oder der eines Plato lebe, sondern schließlich im Römischen Reich, und es sei schließlich - ein humoristischer Zynismus - das selbstbeanspruchte Recht des Weisen, alle äußeren Güter zu verachten, darunter auch die erstrebten Praerogativen: um der öffentlichen Ruhe willen seien sie anderen zu überlassen. Wie die Höflinge im Umkreis des Fürsten auf niedrige Dinge und Menschen herabsähen, möchten doch die Weisen nur mit der Tugend kämpfen, die geheimen Winkel der Glückseligkeit erforschen und die Anreize äußerer Ehren geringschätzen.138 Kein Zweifel, daß in der scheinbar so »akademischen« Zeremonie reale Rangund Machtverhältnisse transparent werden, reale Statuspositionen abgesteckt werden; die Nobilitierung und Rangidentität der Topjuristen - Beispiel: Papinian - ist zugestanden; für sie vor allem gilt der Ausgleich von »arma« und »litterae«, für den Bürger als »politicus«, die schmale Schicht einer Elite. Für die anderen wird unter dem Signum von Bildung und Weisheit der Weg in die Privatsphäre verwiesen, von ihnen und vor ihnen bleiben die »praerogativen« des Adels unangetastet. Der Hinweis auf die Realität der politischen Machtverteilung beweist deutlich, daß in der Opposition von »ars« und »Mars« nicht nur soziale Konkurrenzverhältnisse zur Debatte standen, sondern daß es dabei auch um die Art der politischen Praxis der staatlichen Herrschaft ging. Wenn immer wieder die Bedeutung der »Künste des Friedens« betont wird, waren nicht nur bürgerliche Geltungsansprüche zu vertreten, war nicht nur ideologisch-propagandistischer Flankenschutz für Status- und Aufstiegsaspirationen zu liefern, sondern wurde damit auch der Verzicht auf nackte politische Repression, die Einschränkung und Einbindung der militärischen Sanktionsgewalt im Rahmen von Legalität und Moralität gefordert. Denn in den das bürgerliche Element bei Hofe vertretenden Juristen waren idealerweise nicht nur Rechtstechniker gemeint - ich habe bereits darauf hingewiesen - , sondern die philosophisch gebildeten und ethisch verantwortlichen Vertreter des Gemeinwohls. Nicht erst im durchorganisierten Staat des preußischen Großen Kurfürsten hatte man sich zu verteidigen gegen die Monopolisierung von Einfluß, Macht und Prestige beim Militär,139 bereits bei Machiavelli standen jene gefährlichen Thesen, nach denen Herrschaftssicherung wesentlich auf der Macht der Waffen beruhe, Bildung dagegen im Grunde schädlich sei und 137 138

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Vgl. S. 116f. Ibid. » . . . meminerint etiam, nos non in aliqua Mori aut Piatonis República versad; sed in Imperio Romano vivere ( . . . ) meminerint denique, sapientum esse & haberi volunt, omnia externa bona, inter quae ista quaesita praerogativa est, tranquilitatis publicae causa aliis cedere; & ut ii, qui cum Principe in aula versantur, viliores res hominesque fastidiunt, sie cum virtuti tantum litent & felicitatis adyta scrutentur, honorum illecebras flocci pendere...« Vgl. C. Hinrichs: Preußen als Historisches Problem, S. 38.

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zur » V e r w e i c h l i c h u n g « f ü h r e . 1 4 0 D e r Ausgleich von » a r m a « und »litterae« plädierte also nicht nur für ein n e u e s soziales Leitbild, sondern drang auch auf die Gewaltlosigkeit d e r Politik und stand damit g e g e n eine nicht m e h r von » G e m e i n wohl« und v o n objektivierbaren N o r m e n geleitete M a c h t a u s ü b u n g . 1 4 1

c ) H o f - Schule: P r o b l e m e d e r A k k o m o d a t i o n E s kann hier nicht d a r u m g e h e n , das g e s a m t e S y n d r o m d e r Hofkritik zu analysier e n , wie es sich exemplarisch in d e m düsteren G e m ä l d e konzentriert, das J o h a n n M i c h a e l M o s c h e r o s c h in den » G e s i c h t e ( n ) Philanders von Sittewald« a u s m a l t . 1 4 2 D e r E r f o l g dieses W e r k e s , einzulagern in einen ganzen K o m p l e x satirisch-kritis c h e r L i t e r a t u r d e r Z e i t g e n o s s e n , 1 4 3 beweist, in welcher Spannung die politische

Vgl. Machiavelli, Principe - Der Fürst (ed. Zorn) Kap. X I V , S. 59: »Ein Herrscher soll also kein anderes Ziel, keinen anderen Gedanken haben und sich keiner anderen Kunst widmen als der Kriegskunst...«; vgl. auch das Proömium zum 5. Buch der »Istorie Fiorentine; dt. 1925, S. 268ff. 141 Johannes Riemer: Glücklicher Bastard Oder Tyrannischer Großvater. Merseburg 1678, S. 119f. : »Die Waffen seynd das euserste Mittel voller Gefahr / mit welchen wann sie Unglücklich / das gantze Reich zugleich unter gehen kann. D a hingegen tausenderley Vernünfftige Anschläge der Gelehrten / dienlich und der Republic, zuträgliche Mittel zu erfinden wissen / wie dem Vorfallenden Unheil ab geholffen / und Land und Leute in ihrer Ruhe gehalten werden. Welches lange nicht so besorglich als der Gebrauch des Degens ( . . . ) Waffen schützen das Reich bey vorfallender Noth / aber doch seynd Sie ein Werckzeig der Feder / als welche den Estât gründen und Tag und Nacht / auch mitten in Friede verwalten muß.« Das Zitat nach Helmut Krause: Feder kontra Degen. 142 J . M. Moscherosch: »Hoff-Schule«, in: Visiones De Don Quevedo. Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt«, zuerst Straßburg 1640, zit. nach dem Nachdruck der 2. Aufl. (Straßburg 1642), Hildesheim - New York 1974, spez. S. 405-540. 143 Der Stand der Moscherosch-Forschung ist - nicht zuletzt wegen der noch immer fehlenden Textausgaben - gekennzeichnet durch eine Menge biographischer und kulturgeschichtlicher Einzelarbeiten, hinter denen weder der Gesamtumriß der Vita noch die geistige und politische Position des Autors recht sichtbar wird. Als einziger Versuch einer zusammenfassenden Lebensbeschreibung liegt vor die amerikanische Dissertation von St. L. Grunwald. Die von Moscherosch formulierte satirische Hofkritik, wie sie in ähnlicher Intention bei Autoren wie Rist, Logau, Grimmelshausen, Schoch, Lauremberg, J . R a c h e l u . a . auftaucht, hat Veranlassung gegeben, ihn zum Exponenten der »gegenhöfischen Strömung« des deutschen Barock zu machen (Erika Vogt, 1932). Sowohl dieser Terminus wie auch die von marxistischer Seite benutzte Nomenklatur des »bürgerlich-konservativen Antifeudalismus« (vgl. etwa Hartmann, Barock oder Manierismus, spez. 391ff.) verfehlen eigentlich die komplizierten Lagerungen dieses Typs der bürgerlich-moralistischen Hofkritik. Moscherosch ist nicht anti-höfisch im politischen Sinne: Alternative Positionen zur politischen Ordnung des Absolutismus und höfischen Zentralismus sind nirgends erkennbar. Hofkritik ist kein klassenspezifischer Widerstand, sondern Kritik moralisch bewerteter Praxis, ein Beharren auf der Universalität der ethischen Normen. Erst recht bedarf der Begriff des »Antifeudalismus«, ein schnell zitiertes und allzu weitläufiges Etikett, einer Differenzierung, die sich mit den unverkennbaren Widersprüchen zwischen konservativer Retrospektive auf die Normen der altständischen Gesellschaft einerseits und dem kulturpatriotisch ausgedrückten Verlangen nach dem machtvollen Einheitsstaat auseinandersetzen müßte. 140

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Rolle und soziale Wirklichkeit des Hofes zu den weiterlebenden Idealvorstellungen einer »ehrbaren« Obrigkeit standen. Der »altdeutsche« Standpunkt, den Moscherosch vertritt, postuliert mit den Bildern humanistischer Germanenmythologie und auf der Folie christlich-humanistischer Fürsten- und Gesellschaftsdidaxe die Identität persönlicher Moralität in der Praxis individuellen Verhaltens und der Ausübung politischer Macht; die Kritik ist ausgerichtet - so wird deutlich - an der biblisch fundierten, universalen Naturgesetzlichkeit der Zehn Gebote; 144 es wird nicht anerkannt, daß sich im Gefolge der Verschiebung politischer Machtverhältnisse eine eigene Logik und Rationalität des politischen Handelns herausgebildet hat, die pragmatisch und prudentistisch die Leitvorstellungen ethischer Verbindlichkeit bedroht; gesehen, aber nicht sanktioniert wird die Tatsache, daß die Tugend der »Klugheit« als »politische« nicht mehr wie im Rahmen des christlichen Tugendkanons nur als Selektions- und Applikationsinstanz bei der praktischen Umsetzung vorgegebener Normen fungiert. Die Adäquatheit von Sein und Erscheinung wird moralisch definiert; vehement, aber hilflos zielt die Satire auf die gesellschaftliche Mechanik der Repräsentation, sofern sie nur als Äußerung »politischer«, d.h. hier aber staatlich-hierarchischer Macht in Erscheinung tritt. Moscherosch und die meisten ähnlich argumentierenden Kritiker neben ihm sind keine Antimonarchisten, sondern Vertreter einer moralisch abgesicherten und rechtlich verpflichteten Monarchie. Das wird u.a. deutlich in dem satirisch inszenierten Streitgespräch zwischen Cäsar und seinen Mördern. 145 Hofkritik dieser Art ist nicht Vehikel im Kampf um bürgerliche Freiheit als politischer Verfassungsrealität, sondern Plädoyer gegen eine Erschütterung von verbindlichen Normen durch eine vom Hof ausgehende Praxis. In dieser Optik wird der Hof zum Institut der Heuchelei, einer in Sklaverei entarteten Dienstbeflissenheit, einer von Rücksicht auf Reputation und Praetext, von Schweigen und Anpassung regulierten Sklavensprache, zum Tummelplatz des Parasiten turns, zu einem Netz von Zwangsverhältnissen, die die persönliche Integrität des einzelnen vernichten, zur »Hölle« in der Welt. 146

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Moscherosch a . a . O . , S.465f.: Mein bedencket / noch heutigs Tags: warumb können Fürsten und Herren sich mit den Geistlichen und Pfarrherren nit alle mahl vertragen? Warlich auß keiner andern ursach: als daß Sie / die Pfarrherrn / stäts mit jhren Zehen Gebotten auffzogen k o m m e n . . . Warumb solt uns dann Gott zu Fürsten gemacht haben / wann wir es nicht besser als die Bauren haben solten... Ein Fürst ist an die Zehen Gebott eben so fest nicht gebunden... Gerechtigkeit? was ein Fürst will / das ist an sich selbst recht / und darff sich nicht allererst durch euch Schulfühxe recht erkennen lassen« . . . »Es ist ein unerforschlicher unterscheid zwischen dem was Recht ist / und dem was einem Nutzet.« Moscherosch, a . a . O . , S. 424ff., spez. S. 427. Kein anderer als Lessing hat scharfsinnig anläßlich einer späten Übersetzung von Guevaras »Menosprecio de corte« die Dämonisierung des Hofes mit Recht als mögliche Folge gesellschaftlicher Marginalisierung interpretiert: »Unter hundert Dichtern, welche die Wut des stürmenden Meeres beschreiben, ist vielleicht kaum einer, welcher sie aus eigener Erfahrung kennt. Dem Hof geht es nicht anders. Aus dem innersten seiner Studierstube zieht oft ein Mann wider ihn los, der, ungeschickt sich an demselben zu

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Schon der Titel des Moscherosch-Kapitels (»Hoff - Schule«) impliziert die Spannung zwischen Schule und Hof. Schule erscheint als Ort der philosophisch und theologisch reflektierten und systematisierten Moralität; »Seneca« ist der Praeceptor, der Typ des Philosophen, der noch im Tode gegen das geheiligte Gesetz der Akkomodation verstößt, gegen die - in der Tat in der politischen Literatur propagierte - Empfehlung, daß der Lehrer eines Fürsten, der Höfling überhaupt nie mehr Wissen verraten darf als dieser selbst. 147 Seneca steht gegen Sejan, den Günstling des Tiberius, er steht gegen die »Favoriten« und »Mignons«, er steht aber auch für jenes Prinzip der Verpflichtung von Herrschaft auf Moral, dessen Verfehlung den Tyrannen kennzeichnet. Der Tyrann - hier als Dionys von Syrakus - wendet sich gegen den Politicus als Sachverwalter zugleich rechtlicher und gesellschaftlich nützlicher, weil vom Gemeinwohl geleiteter Herrschaft. Den Tyrannen zeichnet aus, daß er die »Schule« und die »Bücher« als Inbegriff theoretischer Verklärung und historisch angesammelter Erfahrung verachtet. Dionysos von Syrakus gegen Solon, der sizilische Tyrann im Verbund mit einer anderen topischen Exempelfigur, mit Julian Apostata, Sinnbild einer sich von »christlicher« Politik entfernenden Staatslogik: beide polemisieren gegen den »Pedanten« als Verfechter scholastisch-systematischer Theorie. 1 4 8 Es zeigt sich, daß hier in dem satirischen Typus potentiell mehr getroffen werden konnte, als nur ein akademischer Traditionalismus, mehr als das Unangepaßtsein nach Maßgabe »politischer« Weitläufigkeit. In den Worten des Julian Apostata, gerichtet an Luzifer, den Höllenfürsten, wird die Ambivalenz der Pedantenkritik transparent, die mögliche Anbindung an ein Interesse, das über die Kritik und Reformation einer nur scholastischen Gelehrsamkeit hinaus - dieser Anstoß fand, wie dargelegt, den Beifall führender Späthumanisten - schließlich allzu leicht hinauslaufen konnte auf die Beseitigung der moralischen Identität des Staates überhaupt. Es wird ex negativo deutlich, wie in dieser Optik die zugleich rationale wie ethisch verpflichtete Sachwaltung des Gelehrten in der Bürokratie des Staates, verstanden als Umsetzung der in der Reflexion für rechtens befundenen Erkenntnisse der Theorie, als Korrektiv gegen die Gefahr skrupelloser Machtpolitik des vom

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zeigen, ihn nur mit fremden Augen sieht, und die Menschen nur aus Büchern kennt, worinne sie fast allezeit abscheulicher geschildert werden, als sie sind.« (Rezensionen aus der »Berlinischen Privilegierten Zeitung«, 1751, 100. Stück; Werke, ed. H. G. Göpfert, Bd. III, S. 68). Etwa: Bessel, Faber Fortunae Politicae, 260ff. (»Contra Potentiores non temere disputandum«); Forstner, Hypomnemata, 1623, X I , S. 63ff.; Harsdörffer / du Refuge, Kluger Hofmann, 63ff. ; auch als Thema der Observationen- und Quaestionenliteratur, z. B. bei Michael Piccartus, Professor in Altorf: Observationum Historico-Politicarum Decades (1624), V 2 : »Sententias de república libere dicendas, & quaedam circa hoc Axioma notata« (Problem des Anstoß-Erregens, der »offensio«; das Ganze nach Tacitus). Moscherosch a . a . O . , S. 461ff.; die Verdammung des heidnischen Renegaten Julian Apostata stammt aus der christlichen Tradition; formelhaft etwa bei Nathan Chytraeus (Fastorum Libri XII, 1593, S. 299f.) rezipiert: »ferus tyrannus...«; gerade unter den Humanisten waren jedoch die schriftstellerischen und philosophischen Versuche des Kaisers wie auch seine religiöse Toleranz unvergessen.

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Gesetz sich lösenden Souveräns gedacht ist. Julian Apostata verwendet die Topoi der Pedantenkritik, die sich in seinem Munde letztlich als ideologische Vehikel der Durchsetzung des höfischen Absolutismus ausnehmen: Mein / bedencket doch bey euch selbst / was solten diese Pedanten und Schulfüchs / so einen Hund kaum auß dem Ofen zu locken haben / und von der Welt / wegen jhres wüsten und grillischen Lebens in Kleydung und anderen / für alberne Thoren gescholten werden / wissen? welche / wann sie in die Welt zu unsers gleichen kommen / sich stellen wie eine Kuhe / die ein new Thor anblarret / oder wie eine Ganß / die in ein Logel sihet; ob sie ihr Tag keinen Menschen sonsten gesehen hätten / und nicht wissen was sie reden oder thun sollen: kommen auffgezogen wie die Bettelhunde: und nichts desto weniger in aller dieser Armut haben sie eine so hartnäckichte Einbildung / daß sie meynen, andere Leute wären / gegen jhnen zurechnen / Unmenschen und wilde Thiere. Schreiben von Sachen und machen ein gewissen schluß von Dingen / die sie doch ihr lebenlang weder gehöret noch gesehen / noch verstanden: schreiben von Königreichen / von bestellung der Regimenten / wollen den Königen Gesätze geben; und die weise vormahlen / wie sie leben sollen / wie sie jhr Land und Leut in gutem Wolstand erhalten / und wider äusserlichen Gewalt defendiren mögen / da sie doch jhr lebentag nit wol einen Meyerhoff verwaltet / noch eines Schulttheissen Verstand auff dem Dorff hätten gleichen mögen. Wann das seyn solte / so könten weltliche Könige / Fürsten und Herren nicht ärger restringiret und vexiret werden / als dergleichen Haluncken so ungeschewet schreiben dörffen, was sie wollen. Ist einer unter uns / der sich nur ein wenig gute Tag anthun will / so bald muß er ein Tyrann / ein Bluthund / und deß Königlichen Scepters nicht werth seyn / darum daß wir den underthanen nicht besser hoffieren wollen: und sie / die Monsichtige tropffen selbst / wissen nicht / wann es zum Treffen kompt / wie sie die Sachen angreiften und remediren solten: gehen daher mit einem verstrubelten Bart / da / wer eine solche Gestalt anschawet / nicht weiß / ob er einen Kautzen oder einen Busch sehe / so tieff haben sie die Augen in dem haarichten Kopf stecken; und wann sie reden / ein gethön machen / als ob sie auß einem holen Hafen brummeten.149 Moscherosch verdeutlicht, wie der Eintritt des Gelehrten in die »große« Welt Konfrontation mit einer Praxis bedeuten kann, die weit mehr verlangt, als das »Abschütteln des Schulstaubs«. Bereits an der Schwelle des Dreißigjährigen Krieges (1619) werden die Konsequenzen bedacht, die der Aufstieg des akademischen Bürgers nach sich zieht. In Justus Reifenbergs (gest. 1631) »Politischer außgefertigter Diseurs von der Hochgelehrten zu Hof mühsamen zustand / wunderbarem glück und Unglück.. .« 150 werden die Kosten genannt, die das Glück mit sich bringt, einst wie »Michaelus Hospitalius, Großcantzler in Franckreich« 151 zu »grossen Würden und digniteten zu gelangen«. Der in der Verwaltung aufsteigende Bürger sieht sich mit dem »hochtrabenden Hofgesindelein« konfrontiert, »so geringe ämpter bedienen / und doch mächtig reich werden / so bey junger Herren diensten gehegt / und darnach erhaben

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Moscherosch a.a.O., S. 462f. In: Politische Beantwortung . . . dreyer Fragen..., S. 1-350; Der Verfasser (s. ADB, Zedier und Jöcher s.v.) gehört zu den profilierten calvinistischen Juristen und politischen Theoretikern der Epoche: Dr. jur. Heidelberg 1616, darnach Professor in Herborn, Bremen und Franeker; Kommentator u. a. von Machiavellis »Discorsi«. Ibid. S. 15.

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werden«. Mit diesen »minorum gentium politici« gilt es, »conversation« und »communication« zu pflegen. 152 D a vermögen nichts die gelehrte gute künste / groß ubung in Geist-Weltlichen und Politischen sachen / erwisene wolredenheit: erzeigter glaube und trew müssen im finstern logieren. Ja wann es jhrer vorgefaßten Meinung nach gehen solte / würden die liebe studia also verhasset werden / daß man die eitern und kinder darzu zwingen m ü ß t . . .153

»Geübter fleiß / kunst / tugend und fridfertiger wandel« bedeuten nichts in den Augen dieser »bawrenstoltzen gesellen«: Sie wissen in grund der warheit / den geringsten partem orationis nit / vil weniger können sie einen politischen autorem lesen oder verstehen / dessen sie sich doch (wann je ein rubor in ihnen were) billich schämen solten: dannoch wollen sie die gelehrten herumbriikken und discipliniren, von ihnen werden sie für Schulfüchs / da doch / ausserhalb angelegter Kleidung / kein schul oder trivialsachen solche vorgeben / ja für halbe Narren under die äugen bescholten und angezogen. 154

Der höfische »Ohrenbläser« ist der erbitterte Feind der »hochgeehrte(n) häupter / darauf gemeinen nutzens wolfahrt gewidemt (sie!)«. 155 Dennoch - so lassen sich Reifenbergs Darlegungen verstehen - , trotz des Wütens der »Frau invidia«, trotz des Verlustes der »libertet und Freyheit«156 hängen Wohl und Wehe, Aufstieg und 152

Ibid. S. 3f. Ibid. S. 10. 154 Ibid. S. 12f.; an anderer Stelle - S. 63 - die gesellschaftliche Realität des arma-litteraeTopos: »Die krieger stecken die köpffe zusamen wider einen Schreiber.« Der doppelte Zugriff der Hof- und Pedantenkritik wird oft in der Formel »asinus ínter simias« - »Esel unter Affen« sichtbar (so etwa bei Bessel, Faber Fortunae, S. 35); wie sich die Beschwerde Reifenbergs in der Sicht eines melanchthonsch-gesinnten Vertreters akademischer Dignität ausnimmt, zeigt die im Tone der Empörung berichtete Anekdote bei Meyfart, die sichtlich reale Erfahrungen verarbeitet (Christliche Erinnerung, 1636, S. 192f.): »Bißweilen lassen es ihnen die Fürsten gefallen / in massen geschehen / daß an gewissem Ort der Rector einer vornehmen hohen Schul gen Hoff erfordert worden / und durch Anreitzung der Teller Lecker und Suppen Fresser von den gebornen Narren angeredet worden: Was hat der Schulmeister allhier zu schaffen? Ein Kammerknecht sagte hönischer Weise drein: Still / oder du kriegest die Ruthen. Der Rector antwortete etwas beweget / doch bescheidentlich / aber getrost: Daß mich der Narr unter die Schulmeister rechnet / achte ich nicht / ist eben / als ob der General Tylli zürnen wolte / wenn ihn jemand unter die Soldaten rechnete / da unterschiedliche Ordnungen zu finden. Ich habe Gott zu loben und zu dancken / daß er mich aus dem Staube erhoben / und zu einem Meister oder zu einem Rectoren dieser hohen unnd durch die gantze Welt sehr tewer berümbten Schule gesetzet. Der jenige aber, welcher dieser Mißgeburt (dem Narren) die Wort in das Maul geleget / mag erstlich ein Ertzschänder seyn Gottes des Vaters ( . . . ) Er mag ein Ertzschänder seyn und bleiben meines Fürsten / der in dieser Stadt nicht Classen für die Schützen Knaben / sondern ein Collegium für alle Faculteten, alle Künste / Wissenschaften und Hauptsprachen / Sitten / Tugenden gestiftet: Er mag ein Ertz Schänder seyn meiner und meiner Hohen Schul / weil ich schnöde Instrumenta nie geführet / mein Schul auch nicht gelitten. Der Ohrenbläser und in dem falle der Meister des Narrens ist noch werth aus meinem Munde zuvernehmen / wie hoch bey Gott die Meister solcher Schulen / die ich regiere / angesehen / ihren Verdiensten wird kein Feld Hauptmann und Volck Bezwinger gleichen.« 155 Reifenberg a . a . O . , S. 14. 156 Ibid. S. 63; 67. 153

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Fall des Gelehrten von der Fähigkeit ab, »bey Hofe gunst und ehrliche Freundschaft« zu erwerben. Der Aufstieg, der aber nur wenigen zuteil wird und in einem dauernden Kampf und mittels einer totalen Kontrolle des Verhaltens gesichert werden muß, bleibt die schmale Pforte zu einem, wenn auch nur »eingebildeten Glück« 157 - dies angesichts einer Misere, die Reifenberg »ungeschminkt«, wenn auch mit den Mitteln des rhetorischen Pathos beschreibt: Dann was verdient oftmahls ein wolberedter / geübter gelehrter mann? Die meisten seind ein hauffen bettler / und haben nicht so vil / daß sie sich und ihre können erhalten: man zehlt jhnen die bißlein in den mund / und gibt jhnen nicht mehr als sie kaum essen können. Vil feiner frommer geschickter gesellen / und fürtreffliche ingenia, müssen im land herumb terminieren, und können keinen underhalt haben. O der schnöden Welt!158 Für den, der sich am Hofe den Zwängen eines prudentistischen Lavierens, einer die moralische Integrität verletzenden »Akkomodation« entziehen will, gibt es nur zwei Möglichkeiten: die Identität von Wissen und Tugend im Handeln auch auf Kosten persönlicher Nachteile, ja selbst im Angesicht des Todes durchzuhalten oder den Hof zu meiden. Die letzte Alternative ist der Rückzug aus der Öffentlichkeit in die Sphäre des Privaten, deren antipolitische Konturen die Farben eines bukolisch-zeitlosen Glücks tragen. Diese Bildwelt der Bukolik interpretiert zugleich die Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Glücks, nämlich die Notwendigkeit, sich »auf seinem eigen acker und hof« behaupten zu können. Wünschenswert sei es, sich und den Musen leben zu können: und mit wenigen und treuen Freunden im Winkel eines Ackers alt zu werden. Es gebe entweder kein Leben in dieser irdischen Verbannung oder dies erst sei das wahre Leben. O wahre Quelle der Freude und der reinen Lust! O Sitz der Anmut und der Grazien! möge mir in euren Schattenwinkeln Ruhe und Leben gegönnt sein: mir gestattet sein, weit vom Tumult der Gesellschaft, zwischen diesen Gräsern, zwischen diesen Blüten des bekannten und unbekannten Kreises, mit munterem und staunendem Auge umherzuschweifen: bald zu dieser aufgehenden (Blüte), bald zu dieser fallenden Hand und Blick im Kreise herum zu wenden... (Ü).159 157

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Ibid. S. 68; Reifenbergs Urteil ist dezidiert (S. 67): »Die freyheit aber ist inaestimabile bonum, ein edler thewer schätz / mit keinem gelt und gut zu bezahlen / und macht ein ruhsam und selig leben. Wo aber keine freyheit ist / da ist kein selig und ruhsam leben / und wer eines andern knecht ist / der hat seine freyheit und seinen edelsten schätz auf erden verloren. Wer nun mit grossem fleiß und aller macht durch heucheley und fuchsschwäntzerey / nach grosser Herren gnad trachtet / der hat sich schon aller freyheit begeben / und zum leibeigen knecht dessen gemacht / dessen gnad und gunst er begert: Dem muß er zu gefallen reden und schweigen / gehen und stehen / essen und trincken / muß sein gantzes leben und wandel anstellen / nicht nach seinem / sondern eins andern willen und wolgefallen . . . welches ein elend / und einem erbarn aufrichtigen hertzen / ein hohe beschwerliche dienstbarkeit ist.« Ibid. S. 60. Ibid. S. 235: »Optabile esse, sibi posse vivere & Musis: & cum paucis, & non fallacibus amicis, in agelli ángulo consenscere. Aut nullam esse in hoc terrestri exilio, aut earn demum veram vitam esse. O gaudii & liquidae voluptatis vere fons! O Venerum & Gratiarum sedes! mihi in vestris umbraculis quies & vita sit: mihi fas remoto extra cívicos tumultus, inter has herbas, inter hos noti ignotique orbis flores, hilari & hiante oculo oberrare: & modo ad hunc occidentem, modo ad hunc orientem manum vultumque circumferre...«.

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Sätze, die hier von dem weitgereisten Busbequius160 zitiert werden, finden bei vielen Autoren des Zeitalters ihr Echo. 161 Der unscheinbare Traktat Reifenbergs vermag dem heutigen Betrachter wie selten sowohl den frühen Zeitpunkt der Aktualität dieser Phantasien auch auf deutschem Boden wie auch den ideologischen Stellenwert, den unverhüllten Bezug zur zeitgenössischen Lebenswelt und Lebenspraxis zu illustrieren. Die Äußerungen des Busbequius belegen exemplarisch, wie eng der Traum von Glück und Freiheit an humanistische Ideale angeschlossen ist. Sich selbst zu leben, bedeutet, in freundschaftlicher Geselligkeit den »Musen« zu leben. Man muß sich erinnern an die oben analysierten kulturpolitischen Überlegungen bei Besoldus, die gerade die »studia«, soweit sie nur auf »voluptas« und »tranquillitas animi« zielten, diskriminiert hatten. »Landleben« und »musische« Freundschaftspflege sind imaginierte Räume der Evasion, Refugien und konfliktfreie Zonen sowohl vor den »Tumulten« der »civilitas« als auch vor dem disziplinarischen Anspruch des »wol-geordneten Regiments«. Es bestätigen sich die bereits in anderem Zusammenhang der obigen Kapitel getroffenen Feststellungen. Im Traktat des Justus Reifenberg wird die Alternative zur bukolisierenden Evasion in die Privatheit angedeutet: die Möglichkeit der Resistenz in der Einheit von politischer Praxis und individueller Moralität. Auch hier geschieht dies durch einen Code von Exempeln, durch die Beispiele »stoischer freyheit« eines Helvidius Priscus, Paetus Thrasea, durch die »Catones, Bruti«, durch Papinian. 162 Es sind Paradigmen einer anti-tyrannischen Haltung, die sich weigert, »zu creutz« zu kriechen und sich zu »accomodiren«.163 Nicht erst das Papinian-Drama des Gryphius wird am Ende des Dreißigjährigen Krieges den epochalen Gewissenskonflikt des zum Höfling und Politiker avancierten Gelehrten thematisieren. Bereits für Melanchthon und seine Schüler, die selbst in der Rezeption des römischen Rechts maßgeblich am Ausbau des Fürstenstaates mitgewirkt haben, ist der Hinweis auf Papinian identisch mit der Forderung nach der platonischen Einheit von Wissen und Tugend. Das Lob Papinians durchzieht die Declamationsliteratur des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, 164 es wird in dem Augenblick zu 160

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Augerii Gisleni Busbequii Legationis Turcicae Epistolae: einer der meistgelesenen »politischen« Reiseberichte der Zeit, z.B. auch von P. Fleming gelobt (Lat. Gedichte, ed. Lappenberg, S. 340); vgl. ausführlich zu Autor und Werk: Evans, S. 121; welche Ausgabe Reifenberg benutzt hat (möglich etwa Paris 1595 oder Frankfurt 1605) konnte ich nicht feststellen, ist auch nicht wichtig: die Stelle stammt aus Epistola IV, in der Gesamtausgabe (»omnia quae extant«), Leiden 1633, S. 373. Vgl. etwa Friedrich von Logau: »An mein väterlich Gut, so ich drey Jahr nicht gesehen«, in: Sämtl. Sinngedichte, ed. Gustav Eitner, Stuttgart 1872 ( = BLV CXIII), S. 54-56. Reifenberg, a . a . O . , S. 151-55; 174-76. Ibid. spez. S. 154. Eine genauere Studie hierüber bereite ich vor: auszugehen ist von Melanchthons Deklamation »De legum iustitia« (1552): C. R. XI, 1016ff.; spez. 1019; sowie »De reverentia legum« (1553). C. R. XII, 12ff. spez. 17; dazu Melanchthons Epigramm auf ein PapinianGedicht eines seiner Schüler (ed. 1563, fol. E 2 v - E 3); weiter Matthaeus Wesenbecius I. C.: »De Papiniano Oratio in Praelectionum ingressu dicta«, abgedruckt: Exempla

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besonderer Dringlichkeit verfestigt, als sich im Zeichen des Bodinschen Souveränitätsbegriffs die Weigerung Papinians, Caracallas Brudermord zu verteidigen, auch als Verletzung politischer Klugheit und zweckmäßiger, weil ordnungsstabilisierender Subordination interpretieren läßt. Reifenberg: Weg mit dir, der du auf französisch Einspruch erhebst, mit deiner neuen Klugheit, der du wagst, die von allen Zeiten gerühmte Tat der Dummheit zu überführen, du, den alle klugen und gerechten Menschen deshalb mit Verdienst zurückweisen. (Ü)165 Der Ausfall des Autors gegen Bodin 166 kann nicht verhehlen, daß im Blickwinkel einer politischen Logik Papinians Tat fraglich geworden ist. Der Einzug des humanistischen Literaten in die große Welt und seine Verwandlung zum Spottobjekt des »asinus in aula« ist also nur die harmlose Variante einer sich verschärfenden Konfrontation, welche schließlich für den humanistischgelehrten, akademisch-qualifizierten Politiker zur totalen Bedrohung wird. Die Leistung des Gelehrtenbürgertums beim Aufbau des territorialen Fürstenstaates Iurisprudentiae. Leipzig 1585, S. 9-54; von hier aus neben zahlreichen Erwähnungen in Zeit-Spiegeln, Exempelbüchern, in Gedichten, in Lipsius »De Constantia« usw. wichtig und wohl auch Gryphius nicht unbekannt: »Papinianea Securis« von Chr. Besoldus, in: Templum Iustitiae. Tübingen 1616, S. 112-119 (mit aktuellen, zeitgen.-politischen Applikationen), sodann als Auseinandersetzung mit Bodin: H. Kirchner: Orationes IX und X, in: Orationes, Marburg 1617, S. 125ff. Einige der hier erwähnten Zeugnisse neben weiteren Belegen gesammelt bei Dieter Nörr: Papinian und Gryphius. Zum Nachleben Papinians, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte 83 (Rom. Abt.), Weimar 1966, S. 308ff. Die wichtigen Studien zum Drama des Gryphius - Schings, Heckmann, Szarota, auch neuerdings Harald Steinhagen - lassen diese rhetorische Vorgeschichte des Trauerspiels wichtig für die historische Dimension der Problemstellung und Problemlösung - weitgehend außer Acht. 165 Reifenberg, S. 174f.: »Apage vero Gallice interpellator cum tua nova ista prudentia, qui omnibus aevis collaudatum facinus insipientiae coarguere audes, quem omnes prudentes & justi homines idcirco meritissime réfutant.« Ich erinnere an A. Buchners Rede »De Prudentia temporum« (gehalten 1653), die mit Verweis auf den »genius saeculi« das Beispiel der stoischen Freiheitshelden für die eigene Zeit als nutzlos verwarf (Orationes 541-99, spez. 548). 166 Reifenberg und die anderen zeitgenössischen Verteidiger Papinians haben eine Passage aus Bodins »De re publica Libri Sex«, frz. 1576, III 4 im Auge. In der vom Autor selbst besorgten lat. Fassung heißt es (ich zitiere nach der 7. Auflage, Frankfurt 1641, S. 458/ 58): »Praestat igitur magistratu abdicare, si lex ipsa divinas aut leges oppugnet, aut unicuique turpis & iniqua videatur (...) Cum vero Reipublicae morbis, ac principum peccatis mederi constantia non potest, praestat aliquid indulgere, quam Reipublicae vulnera a principibus illata exacerbare; eosque ab insania ad furorem adigere: uti Papinianum fecisse legimus. [...] Fortiter ille quidem magis quam sapienter. Nam Caracalla furens, ac fratris cruore nondum satiatus, Papinianum occidi mandavit: ac post tanti viri occasum, qui solus hominis impetum regere, ac furentum audaciam reprimere potuisset, a caedibus & crudelitate non prius destitit, quam se ipsum cum imperio perditum iret. Quod sic non ut hominis divinissimi laudes egregias ulla sui parte minuere, id enim fieri nullo modo potest; sed ut magistratus intelligent, quatenus peccata principum, quae auferri non possunt, ferre debeant. Non debuit Papinianus tanto viro, id est, se ipso Rempublicam orbare, sed Principi vel potius suo dolore indulgendo, sibi Remp. ac seipsum Reipubl. servare: fortiter quidem & sapienter facturus, si nondum parricidium fuisset admissum.«

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vollzieht sich in der Spannung v o n A u f s t i e g und Fall u n d e r ö f f n e t die letzten H o r i z o n t e einer Alternative v o n R ü c k z u g u n d Martyrium. V o n der normativen Kraft d e s Faktischen a n s c h e i n e n d bestätigt, erscheint d e m n a c h das L o b der Schule d e s H o f e s als Schule d e s L e b e n s , erscheint der Preis der »vita aulica«, in der sich die für d e n humanistischen A n s p r u c h schmerzliche Dissoziation v o n »vita« und »schola« ankündigt: Es ist freilich dies die Aufgabe eines weisen Mannes: das Leben klug zu führen zu wissen: der Zeit zu gehorchen und alle Dinge nach Urteil und Willen derer auszurichten, mit denen man lebt. Wo aber glaubt ihr, liebe Zuhörer, können wir dies lernen? Etwa in den Schulen? Jenes bezeugt doch die alltägliche Erfahrung, daß, je sorgfältiger sich einer darauf gestürzt hat, er um so mehr nur nach seinem Gutdünken lebt, vor Gespräch und Umgang mit anderen zurückschreckt oder, wenn er einmal hinzugezogen wird, nur Anlaß zum Gelächter bietet. Wo also werden wir dies lernen? am Hof, am Hof sage ich, werden wir es lernen: Wo gibt sich die Möglichkeit, die Seiten der Könige und Fürsten zu umgürten, beim Mahle dabeizustehen, zu den Gesprächen hinzugezogen zu werden, manchmal bei Ratsbeschlüssen dabeizusein. Dies, sage ich, ist die beste Schule, die in wenigen, ich sage nicht Jahren, sondern Monaten, ländliches und bäuerliches Betragen beseitigt, urbanes, gepflegtes und gebildetes anerzieht. 167 G e w i ß , diese R e d e n g e h o r c h e n d e n G a t t u n g s g e s e t z e n des » g e n u s demonstrativum«, entfalten und akkumulieren die für ihre »Sache« sprechenden

Argu-

m e n t e . D a ß aber - inhaltlich - die Opposition von Schule und H o f instrumentalisiert w e r d e n kann, z e u g t v o n der historischen Plausibilität d e s A r g u m e n t s : gerade die G r o ß e n unter d e n Späthumanisten, die berühmten G e s t a l t e n des bürgerlichen H u m a n i s m u s der freien N i e d e r l a n d e , h a b e n die »Studien« als »Burg der T u g e n d « b e z e i c h n e t . G e g e n d e n Z w a n g der höfischen A k k o m o d a t i o n ist s o im N a m e n bürgerlicher Ideale auch der » G e l e h r t e bey H o f e « verteidigt, indem ihm das Z e u g n i s wahrer Menschlichkeit ausgestellt wird: Der du die Musen liebst die ruh und still seyn lieben / Dem Witz und Weißheit steht im Hertzen eingeschrieben / Du hast von Büchern dich nach Hofe hergemacht / Wo man bey nichts thun schwitzt / bey schlaf und wollust wacht. Wo spottet man dich auß / daß du dir suchst zu schaffen W o Faulheit Arbeit ist / bist Esel unter Affen? Was thust du wo es nicht bey Menschen Menschen hat? Wo nichts ist das dir gleicht da hast du keine stat. 168 167

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Orationes de hac Quaestione, utrum alia genera vitae, an vero literarum studia amplect e n d a . . . Bern 1607, S. 7: »Est sane praecipuum hoc hominis sapientis munus: scire prudenter vitam agere: inservire tempori: & cunetas suas ad eorum quibuscum degit, judicium, & voluntatem dirigere. Ubi vero illud discere nos posse censetis Auditores? Num in Scholis? At experientia illud quotidiana testatur, quo quisque diligentius literis incunuerit: eo magis suis moribus vivere, ab aliorum conversationibus abhorrere, aut si aliquando ad easdem pertrahatur ridenti saltern materiam praebere. Ubi ergo tandem illud discemus? in Aula, in Aula inquam discemus: Ubi dabitur Regum atque Principum latera cingere, astare mensae: colloquiis adhiberi, consiliis quoque interdum interesse. Hec est inquam, optima Schola, quae paucos intra, non dico annos, sed menses, agrestes & subrusticos mores tollit, urbanos, comptos, politos inducit.« Martin Opitz, in: Florilegium Epigrammatum. Frankfurt 1644; zit. nach: Weltliche Poemata. Zweiter Teil, hg. ν. Erich Trunz. Tübingen 1975, Anhang S. 42. 371

III. »Beschreibungen deß Pedantismi«: Verwendungszusammenhang und Bedeutungsentwicklung eines Schlagworts

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J. W. Zincgrefs »Facetiae Pennalium«: Anekdotische Komik und satirisches Porträt

Zu den meistgelesenen Büchern des deutschen Frühbarock gehörten offensichtlich Julius Wilhelm Zincgrefs »Facetiae Pennalium«, zuerst erschienen 1618, anschließend nicht ohne Veränderungen bis ca. 1656 noch zehnmal neu aufgelegt, nunmehr leicht einsehbar in der histor.-krit. Ausgabe von Dieter Mertens und Theodor Verweyen.1 Der Verfasser (1591-1635), Sohn eines kurpfälzischen Rates, promovierter Jurist, gehörte zum Kreis der bedeutsamen Heidelberger Späthumanisten um den jüngeren Lingelsheim. Zusammen mit Bernegger machte er sich um die Gedichte des befreundeten Martin Opitz verdient. In seiner Sammlung von Apophthegmen bewies er ein kulturpatriotisch gefärbtes Sensorium für die praktischen Bedürfnisse der Gesellschaftskultur. Seine politischen Schriften, dazu gehören auch die »Ethisch-politischen Embleme«, zeigen ein unverhülltes Engagement für die pfälzische Politik. Von deren Katastrophe Niederlage des Winterkönigs, Einnahme Heidelbergs durch die Spanier - wurde Zincgref schwer getroffen. 2 Auch seine »Facetiae« sind nur zu verstehen als Reflex eines Interesses an der Reorganisation der deutschen Verhältnisse insgesamt. Hier werden die bisher dargestellten Impulse der Gesellschaftserziehung, die Anstöße eines politischen Rationalismus, die ideologischen Muster einer Akkomodation an die Praxis des »modernen« Lebens, aber auch genuin bürgerli-

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Tübingen 1978 ( = N D L Neue Folge 28): Vgl. D. Mertens / Th. Verweyen: Bericht über die Vorarbeiten zu einer Zincgref-Ausgabe, in: Jb. f. Internationale Germanistik IV, 2 (1972), S. 125-150. Zu Leben und Werk Zincgrefs vgl. den Artikel v. Waldbergs in: A D B 45 (1899), 306-11; Reifferscheid, Briefe G. M. Lingelsheims..., passim (s. Stichwort-Index); Fr. Schnorr v. Carolsfeld: Julius Wilhelm Z. s. Leben und Schriften, in: Archiv für Litteraturgeschichte VIII (1879), 1-58, 446-490; D. Mertens: Zu Heidelberger Dichtern von Schede bis Zincgref, in: ZfdtA. CHI (1974), 200-241; zu Zincgrefs Bejahung der politischen Bestrebungen des pfälzischen Kurfürsten in der 1619 hg. Sammlung »Emblematum Ethico-Politicorum« s. F. A. Yates, Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes, spez. S. 83; dort auch generell der Versuch, die politischen und kulturellen Aspekte der Rolle der Pfalz im Deutschland des frühen 17. Jahrhunderts zusammen zu sehen: zur politischen und kulturellen Schlüsselstellung der Pfalz vgl. zusammenfassend C.-P. Ciasen: The Palatinate in European History 1559-1660. Oxford 1963. Zu Zincgref als Schriftsteller und speziell zu den »Apophthegmata« vgl. Verweyen, Aophthegma, S. 119ff.; zu den »Facetiae« auch die Bemerkungen bei C. Wiedemann, Vorspiel der Anthologie, S. 26.

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che Motive realistischer Kalkulation in den Kategorien von Aufwand und Nutzen zum ersten Male in der deutschsprachigen Literatur im Hinblick auf den zeitgenössischen Akademismus satirisch umgemünzt. Die Satire als Formulierung bzw. Darstellung einer widersprüchlichen Wirklichkeit, als Modus literarisch-kommunikativer Opposition, ästhetisch sozialisierter Aggression und formalisierter Festschreibung grundsätzlicher oder partikularer Gegenentwürfe zu einer erfahrenen Realität erweist sich hier wie auch in den folgenden Beispielen als Komplement der zeitgenössischen Diskursliteratur, ohne deren Problematisierung überkommener Traditionen und Bewertungsmuster die Satire selbst ohne Adressaten, zumindest aber ohne ein vorgängig prädisponiertes Publikum bleiben müßte. 3 Zincgrefs Schrift setzt die akute Wahrnehmung der Funktions- und deshalb Legitimationskrise elementarer Praktiken des scholastisch-institutionalisierten, auf der Geltung der »freyen Künste« und ihrer Vertreter aufbauenden Bildungswesens voraus. Erst in diesem historischen Moment wird die außerdeutsche Universitäts- und Gelehrtensatire rezipiert und legt Kritik frei, die von nun an auch in der deutschen Kulturszene die Perpetuierung des Systems bis hin zur Weiseschen Reform und den Angriffen des Thomasius begleiten. Allerdings zeigt gerade die im folgenden zu umreißende Konstanz dieser Aggression die Stärke des Systems, das sich teils wegen fehlender Alternativen, teils wegen der umgreifenden theologischen und politischen Axiomatik des barocken Scholastizismus bis weit ins 18. Jahrhundert, d. h. aber bis zu einer grundsätzlichen Neuorientierung des Bildungs- und Wissenschaftsbegriffes selbst durchhält. Es ist bezeichnend, daß wie später die komödiantische Pedantensatire bei Gryphius auch Zincgrefs Werk zu verstehen ist als Frucht langjährigen Aufenthalts im Ausland. 4 Erst aus der exzentrischen Perspektive des Weitgereisten wird das Zurückgebliebene deutscher Verhältnisse evident. Daß sich satirische Kritik bei Zincgref nicht aus der Anknüpfung an bodenständige Traditionen organisiert, die ja vor allem in den spiritualistischen Strömungen des Linksprotestantismus bereitlagen, zeigt sich deutlich in der Struktur der »Facetiae« selbst. Schon im Titel wird angedeutet, daß zwei Gruppen von Texten kombiniert sind: einerseits die »Facetiae«, andererseits ein Katalog literarischer Porträts, die als »Charakterismi« bezeichnet werden. Die Fazetien stammen teilweise aus der antiken Sammlung »Philogelos« des Pseudo-Hierokles, 5 den Porträts liegt typologisch die vor allem seit der kommentierten Edition des Casaubonus (1592) bekannte Schrift des

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Eine genaue Verankerung des hier vorausgesetzten Verständnisses von »Satire« im einschlägigen Schrifttum muß unterbleiben; ich verweise grundsätzlich auf Jürgen Brummacks reich informierenden Forschungsbericht: Zu Begriff und Theorie der Satire, in: D V j S 45 (1971), Sonderheft Forschungsreferate, S. 275-377, dort bes. S. 350ff. zur soziohistorischen Funktion der Satire. Zincgrefs »peregrinado« führte 1612/13 nach Basel, 1613/14 nach Orleans und 1615 nach England. Philolegos, D e r Lachfreund, von Hierokles und Philagrios. Griechisch-deutsch m. Einl. u. Komm. hg. v. A . Thierfelder. München 1968.

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Theophrast zugrunde. 6 Beide antiken Traditionen waren schon vor Zincgref in der Erstausgabe des Ps.-Hierokles durch Melchior Goldast und Marquard Freher zusamengefiihrt und im Sinne eines aggressiv-antischolastischen Witzes umfunktioniert worden. 7 Die Empörung über die Hierokles-Ausgabe im Kreise der »Akademiker« 8 setzte sich fort im wütenden Widerstand der Be- und Getroffenen gegen die Schrift Zincgrefs. 9 Ein ähnlicher Aufschrei übrigens wie in der bereits erwähnten Reaktion auf Andreäs »Menippus«. Der Rückgriff auf antike Muster der Satire wird bei Zincgref ergänzt durch zitierende Anknüpfung an kritische Äußerungen der neulateinischen Literatur, 10 vor allem aber durch die Instrumentalisierung der bereits in der Romania und in England verfestigten satirischen Schemata der Gelehrtenkritik. Zincgref rezipiert nicht nur den Pedantenessay Montaignes, 11 sondern nimmt in sein Werk u.a. auch längere Passagen aus der Humanistensatire des Thomaso Garzoni, des Trajano Boccalini, aus den »prologues facetieux« des Franzosen Bruscambille und aus den »Characters« des Sir Thomas Overbury auf. 12 Die Vorrede der Erstausgabe konzentriert die Summe der Anstöße, wie sie auch in der nicht-satirischen Literatur formuliert werden. Es handelt sich nicht um die Fortsetzung einer nur innerscholastischen Verspottung der gelehrten Rituale, wie sie - im Sinne sozialer Ventilierung und Aggressionsabfuhr - z . B . in der Tradition der scholastischen »orationes quodlibeticae« sanktioniert war, sondern

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Die »Charaktere« galten als ausgesprochen »politische« Gattung, insofern sie Einteilungskriterien für die »classes hominum« boten; politisches Kalkül und ges. Umgang erforderten die richtige Einschätzung von »affectus« und »mores« des Gegenübers. Vgl. die Bemerkung bei Morhof, Polyhistor, S. 454: »Est & inter Veteres aureus líber, Theophrasti Characteres, cum aureo Isaaci Casauboni Commentario editus, quem praecipue Politicis commendaverim, quorum hominum ingenia nosse interest.« Im rhetorischen Zusammenhang gehört die Kenntnis des »Codex morum«, - auch dazu Theophrast ein wichtiges Hilfsmittel - zur Voraussetzung persuasiver Ethopoiie: vgl. Morhof ibid. S. 615f. mit Verweis auf Arist. Rhet. II 12/13, 14, 17. Die deutsche Literatur hat im Gegensatz zu England und Frankreich die Gattung kaum eigenständig entwickelt; das vorhandene Bedürfnis belegt etwa Harsdörffers Übersetzung von Joseph Halls »Characters«: Die Kennzeichen der Tugenden und Laster. Frankfurt 1652. 7 Ladenburg 1605. Näheres dazu in der Einleitung von Mertens/Verweyen, S. IXf. 8 Georg Michael Lingelsheim an Jacob Bongarsius am 7. 5. 1605 (zit. nach der Einleitung von Mertens/Verweyen S. X): »Sed facetiae illae scholasticae commoverunt nostros Académicos, adeo ut Rector distractionem libelli edicto prohibuerit & jam vindictam spirant magistri, eo quod nimis contumeliosus sit interpres in totum ordinem...« 9 Als Antwort darauf schrieb Zincgref seine »Apologia« für die Ausgabe von 1624, ed. Mertens/Verweyen, S. 86ff. 10 Neben Passagen aus Quintilian, Theophrast und Petron (s. S. 52ff.) werden angeführt: Johannes Sturms »De educatione principis« (S. 56), U. v. Huttens »Misaulus« (S. 57f.), J. Sadoletus »De liberis recte instituendis« (S. 55) sowie eine nicht zu identifizierende »Beschreibung eines Pedanten« bei Caspar Barth (S. 58-60). Die Zitate sind im einzelnen belegt und bibliographisch erfaßt in der Ausgabe von Mertens/Verweyen. 11 Ed. Mertens/Verweyen S. 89. 12 Die Nachweise im einzelnen leicht einzusehen bei Verweyen/Mertens: vgl. die Einleitung S. Xlf. sowie die Bibliographie S. XXXVI-XXXIIX.

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um die satirische Übersetzung des Gesellschaftlich-Vernünftigen, wie es in der zeitgenössischen Traktatliteratur ausformuliert wurde. Zincgref wendet sich prononciert gegen die Verwechslung des Philosophen mit dem Politiker, d . h . aber gegen die unqualifiziert erscheinenden Ansprüche des professionellen Gelehrten auf Geltung und Aufstieg. Philosophische und ästhetisch-literarische Bildung ist »Müßiggang« und trägt auch nicht zu jener »Tugend« bei, die zum »Weltwandel und allen Bürgerlichen Geschafften« nötig ist. Der wahre Philosoph ist der bürgerliche Praktiker, der alle Gelehrsamkeit nicht in scholastischer »Spitzfindigkeit«, sondern als ein Wissen »auß natürlicher Vernunft / oder täglicher Erfahrung« begreift. Dann wie die A l t e n recht gesagt / so macht Kunst niemand frömmer oder besser / sondern nur politer vnd subtiler vnd jhr eintziger Zweck ist / den Verstand / alß welchem von Gott aller guten Künsten principia eingepflantzet / nur auffzumundern / die natürliche noticias zu dirigiren vnd also die Leut zum Weltwandel vnd allen Bürgerlichen Geschäfften / vnd gar nicht zum müssiggang zu praepariren / vielweniger sie zu einem ewigen denck vnd Banckleben anzuschmiden / da sie dann durch stetigs sitzen / fast alle lebhaffte Geister vergucken / vnd solche Schwindelhirn vnd dömpfige Köpff bekommen / daß sie auch meistentheils vor grosser (sie!) witz neben / witz hinden witz fornen witz zu lauter Narren werden / die weder Gott noch den Menschen nutzen / Dahero jener recht gesagt / studeo studes studui studere habe in supino stultum. Dieser nun sind heutigs Tags schir alle H o h e vnnd Niderschulen v o l l . . . (S. 4f.).

Bereits die Begrifflichkeit dieses Ausfalls beweist den emanzipatorischen Zug der Kritik. In der Satire als literarischer Gattung, die Realität unmittelbar verarbeitet, scheint die Apostrophe von Vernunft und natürlicher Erfahrung in einer Weise unbefangen und kritisch verwendet, die im System noch keinen Platz besitzt. Die Satire als »niedrige« Form der Literatur greift Anstöße auf, die erst sehr viel später, d . h . gegen Ende des Jahrhunderts im Horizont der Aufklärung programmatische Konsequenzen und historische Veränderungen zeitigen. Zincgref wendet sich gegen das akademische Proletariat, gegen die Schicht der Schreiber und Schulmeister, die nur aufgrund des »Donat«, also ihrer humanistischen Grundausbildung »Stand und pracht führen«. Jenes Prinzip, nach dem der akademische Humanismus angetreten war, das Prinzip »Aufstieg durch Bildung« wird zugunsten einer elitären Hierarchisierung angegriffen: In Summa / Freye künst sein nicht vor ein jeden Dickkopff / sondern nur vor die Ingenia die gleichsam von der Natur hierzu beschaffen seyn. (S. 4).

Die Instrumentalisierung des Gegensatzes von Kunst und Natur legt den sozialen Nenner dieser Polemik bloß, das Ressentiment einer neuen Elite, die sich in den Formen einer charismatischen Begabungsbewertung gegen die Klasse der Artisten abkapselt. Gerade die Monopolstellung der Gelehrtenerziehung fördert eine sekundäre Dissoziation und Deklassierung, nach der die »Philosophen« in puncto Status und Prestige insgesamt jener Verachtung anheimfallen, die sich in den Vexierritualen des akademischen Pennalismus symbolisierte. Zincgref beklagte, daß der »Nähme« des Philosophen »auff die elendeste Leut geerbet« ist, »welche bey nahe alle löbliche Studien vnd Freye künst durch jhre Hasereyen unnd 375

Unmores beschmeisset und veracht gemacht haben / nach dem sie also überhand vnd zugenommen / daß auch ein jeder Bawren Sohn / dem doch offtmal der Flögel viel besser als die Feder in der Hand stünde / ein Graduirter seyn will« (S. 3). Es war ein Affront gegen die durch gemeinsame Bildung gewährleistete Homogenität und Integrität der Gelehrtenrepublik, daß in der Zincgrefschen Optik »Pennäler« zusammen mit Schulmeistern, »Pedanten«, ja die ganze Klasse des artistischen Magistertums verspottet werden. In seiner Apologie gegen die vorgetragenen Gegenangriffe erklärt Zincgref deutlich, daß er mit seiner Kritik nicht als Parteigänger höfisch-aristokratischer Bildungsverachtung verstanden werden will und wehrt sich gegen Beispiele von der falschen Seite;13 er macht aber auch klar, daß für ihn die Berufung auf Größen wie Melanchthon und Camerarius, also auf die Tradition des protestantischen Schulhumanismus keine durchschlagende Geltung mehr besitzt. 14 Zwar werden jene großen Namen salviert, jedoch die Polarisierung von »bonae literae« und »boni mores« ist als gegeben angenommen. Die Qualifikationen des richtigen gesellschaftlichen Verhaltens, aber auch jene Form einer politischen Geschmeidigkeit, die von den »in der Schul praeconcipirten (vorgefasten) meynungen« zugunsten der friedvollen Einigkeit und konfliktfreien Verwaltung des »Politischen Wesens« u.U. Abstand nimmt, sind jene Kriterien, die den Pedanten von jenem Leitbild des gebildeten Weltmanns unterscheiden, das dem Autor vorschwebt. Zincgrefs Fazetiensammlung unterscheidet sich von älteren Schwanksammlungen folgerichtig durch eine einseitige Verlagerung des satirischen Gefälles, der degradativen Tendenz. Nicht der Bauer oder der Kleinbürger, auch nicht der Theologe oder pfäffische Mönch werden karikiert, sondern Pennäler und Pedanten übernehmen die Rolle des Verspotteten. Die Muster der Universitätssatire und das in der studentischen Subkultur beheimatete Inventar der Gelehrtenkomik sind zwar präsent, jedoch grundsätzlich umfunktionalisiert. 15 Nicht mehr der sehr 13

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S. 89f.: »Wann aber irgend ein Hoffkate käm / und euch dergleichen sagen wolte / dann leydets nit, aber sehet / daß jhr dieselbe nit mit bösen Worten / sondern mit guten moribus refutirt, dann dieses ist das beste refutirn, quando malos sermones facimus virtute írritos. Drumb sag ich nochmals wann die HoffEsel kommen / und euch viel schufften wollen / da habt jhr ursach euch zu widersteiffen / dann weil sie selbst einem Hundt nit können auß dem Ofen locken mit jhrem Latein / können sie euch ewerer Unwissenheit nit beschuldigen: dieweil sie selbst ungelährte Fantasten sein, gleich wie jr gelährte Fantasten seyd / wie jhr Schul pennal seyd / so seyn sie Hofpennal / vermeynen / wann einer ein krumbs Füßlin machen unnd die Kappen bald Frantzösisch / bald Welsch rucken könne / sey er ein gewaltiger Monsieur...«. S. 87: »Ja sagen sie aber / er schändet den gantzen Schulorden / das gantz Schulampt / darunder doch so viel herrliche Leut gewesen / als Philippus Melanthon / Joachimus Camerarius / und dergleichen: Ey mein lieber Schulfuchs / wie nahe meynstu / Herrlein / du seyest auch ein Philippus oder Camerarius.« Zur Einordnung von Zincgrefs Facetien in die Schwankliteratur vgl. Erich Straßner: Schwank. Stuttgart 1968 ( = Slg. Metzler 77), spez. S. 59; F. Gerhard: Joh. Peter de Memels Lustige Gesellschaft nebst einer Übersicht ueber die Schwank-Literatur des XVII Jh. s. Diss. Heidelberg 1893, S. 53ff.; H. Gumbel: Zur deutschen Schwankliteratur im 17. Jahrhundert, in: ZfdPh. 53 (1928), S. 303-346, spez. 313ff. und 328ff. zum

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oft grobianisch inszenierte Protest des ungelehrten Laien gegen akademische Entfremdung, lebensferne Narrheit und scholastischen Triebverzicht ist gemeint, nicht volkstümlich-naturhafte Vernunft und direkt zugreifende Volkssprachlichkeit mit akademischer Unfähigkeit kontrastiert, sondern die totale Unzuständigkeit der akademischen »doctrina« und eines formalisierten Bildungssystems im Angesicht lebenspraktischer, d . h . aber gesellschaftlich verordneter Anpassung dem Gelächter preisgegeben. Der »Pennal«, der nicht gelernt hat, »ein par Bein über ein Pferd hinab zu hengen«, korrekt den Hut zu ziehen oder unfähig ist, sich in Gesellschaft »gar höfflich« zu zeigen, 16 markiert die Verwandlung der älteren Gelehrtentorheit zum Mangel an Eleganz. Nicht akademische Narrheit und einfältige Weltvernunft sind kontrastiert, sondern eine tölpelhafte Einfalt ist anvisiert, die sich als Produkt gerade akademischer Basis-Erziehung ausmachen läßt. In katalogartiger Reihung, in ermüdend gleichbleibender Optik, fast ganz ohne narrative Explikation, dagegen in einem anekdotenhaften Berichtstil, der fiktionale Elemente bewußt vermeidet, werden immer wieder die Unfähigkeit des niederen Gelehrtentums, der Mangel an »ingenium« und »iudicium«, das Unangepaßtsein im wörtlichen Verständnis von »ineptiae«, das Fehlen von »sensus communis«, die groteske Verkennung lebenspraktischer Umstände und vorgegebener Selbstverständlichkeiten aufs Korn genommen. Es handelt sich um eine Art umgekehrter Apophthegmenliteratur, die nicht das richtige Diktum als Ergebnis vollendeter Erfassung der Lage feiert, sondern ambitioniertes Versagen und groteske Mißverständnisse reproduziert. Die Schwänke geben sich als anekdotische Splitter sozialer Wirklichkeit und fungieren so als Beleg für die im Vorwort entwickelte Einschätzung sozialer Disqualifikation. 17 Wie deutlich allerdings hier die Satire bereits von einer personalisierten, partikularen, nur Mißstände, also nicht axiomatische Phänomene des Systems anvisierenden Kritik in die Positionen eines grundsätzlichen Revisionismus umschlägt, der den ganzen Komplex von Statusansprüchen und die ihnen zugrundeliegenden humanistisch-akademischen Wissenschaftsvorstellungen (Verhältnis zur Antike, fetischistische Buchgelehrsamkeit, Rolle von Vernunft, Natur und Erfahrung, soziale Verantwortlichkeit gegen systematisch-mechanischen Doktri-

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Weiterleben der Studentenschwänke. Hierzu recht bedeutsam die anonym erschienene Sammlung von 1667: Gepflückte Fincken oder Studenten-Confekt: Zincgrefs Facetien sind dort z. T. incorporiert: Dritte Tracht, cap. CCXXXII. »Studenten* und Schul= Possen«, S. 310ff. ; G. Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft, S. 234ff. spricht von einem »Verfall« der lat. Universitätssatire im 17. Jahrhundert und zieht dafür als Beispiel auch Zincgrefs Sammlung an (S. 240). Vgl. die Beispiele S. 12f., Nr. 47; S. 13, Nr. 52; S. 14, Nr. 54 und 56. Zur Unterscheidung von A n e k d o t e und Schwank vgl. H. Grothe: Anekdote. Stuttgart 1971 ( = Slg. Metzler 101), spez. S. 28ff.; Kluth, Sozialprestige und sozialer Status, 1957, S. 23 hat den zugrundeliegenden sozialgeschichtlichen Prozeß strukturell beschrieben: »Das soziale A n s e h e n löst sich auf, wenn die Leistungen, auf denen es beruht, nicht mehr erbracht werden können, oder ihren Sinn verlieren, weil das Ziel, auf das sie gerichtet waren, verwirklicht oder für die Umwelt belanglos geworden ist.«

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narismus) unterminiert, wie deutlich im Schrifttum dieser Art bereits Fronten der Aufklärung antizipiert werden, mag eine Passage aus der »Beschreibung eines Schultyrannen«, der »Gewalt ohn Vernunfft« illustrieren: Alle seine Gedancken schlägt er in Büchern nach / so bald er sie nicht drin findet / verwirfft er sie / als ob sie vnrecht gewessen / viel weniger meynt er / daß er etwas reden dörffe / so er nit zuvor bey einem andern gelesen / Er kan jhm nit eynbilden daß der Mensch etwas von Natur habe / sondern müsse alles lernen / gestalt er sich selbst zu einer jmmerwehrenden vnwissenheit verdampt vnnd sich als ein senium pecus nur zu mutation gewehnet / nichts selber inventirt / sondern nur dahin sich befleissigt / wie er zum allerzierlichsten das jenige auffklauben oder aufflecken könne / was andere gespeyet haben. Er kan nit glauben / daß Adam ohn bûcher sey gelährt worden / oder daß die jenigen so vor auffkommung der bûcher vnd des bûcher schreibens gelebt / etwas haben wissen können / gleich als ob der Mensch nichts von geschicklichkeit in der Natur / Vernunfft vnd im Verstandt hätte / sondern alles in den grossen vnd manchmal widerwertigen büchern suchen müste. Er hat kein natürlich sondern ein artificial judicium, dannenhero mancher Baur der nur natürliche reden vnd verstand führet / besser vrtheylt als er / Er gibt niemandt rationem, doch will er jedermans Wort vnnd Werck an sein rationes vnnd regulas anhalten / gleich als ob es so wohl vmb vns Menschen stünde / daß alles nach den Regulen köndte gerichtet werden / vnd jedermann nach der Grammatic reden vnd thun köndte / vnnd wann er weit kompt / daß er die consuetudinem oder vsum nicht mehr verthädigen kan / so nennet ers ein anomaliam, graecillum, exceptionem vnd so fortan. In summa er ist ein purlauterer künstlicher Esel. (S. 85)

Was Zincgref mit Pedantismus und Schultyrannei meint und mit engagierter Deutlichkeit zur Sprache bringt, sind also Widersprüche der Epoche als Kontext von wissenschaftsgeschichtlichen, bildungsgeschichtlichen, literarisch-sprachlichen und sozialgeschichtlichen Momenten des kulturellen »Überbaus«. Die Übernahme der Pedantenkritik gerade durch einen oberrheinischen Autor gibt allerdings eine weitere mögliche Dimension der Polemik gegen die »minutiae grammaticorum« zu bedenken: handelt es sich hier nicht zugleich um ein Plädoyer für die geistliche, vor allem aber politische Einheit der getrennten protestantischen Richtungen? Wodurch waren denn Calvinismus und Luthertum so tief geschieden, wenn nicht durch die in politischer Hinsicht als grammatische Quisquilie erscheinende Bibelexegese der Abendmahlstheologie? Für diese - natürlich explizit kaum zu belegende These - spricht in der Tat allein schon das Erscheinungsdatum der Zincgrefschen »Facetiae«: 1618! Zincgrefs Werk speziell und die Kritik des Pedantismus im allgemeinen, verstanden als Signal einer Ablösung gelehrter Standeskultur zugunsten eines gesellschaftlichen Integralismus von zunächst politisch-höfischer, später erwerbsbürgerlicher Dominanz, finden reiche Resonanz. Sie ist auch da noch präsent, wo die Denunziation des Pedanten nurmehr Schlagwortcharakter annimmt. Ich möchte im folgenden den Spuren dieser Kritik nachgehen und wenigstens in Umrissen die Tradition jener Aggression darstellen, die sich schließlich noch als Movens kultureller Neuorientierung am Ende der barocken Epoche erweist.

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2) Präparierte Muster: Epigramm und Verssatire In Johann Rists zuerst 1634 erschienener Gedichtsammlung »Musa Teutonica« läßt sich an einem typischen Beispiel beobachten, wie neben Zincgrefs Rückgriff auf die literarischen Traditionen von Schwank- und Porträtschrifttum nun auch der in der neulateinischen Überlieferung bereitgestellte Spielraum der epigrammatischen Invektive ausgenützt wird. Es handelt sich um das »Sonnet« An einen ruhmsüchtigen/großsprecherischen ungelehrten Pedanten. J . S . V . V . Dein ligen O Pedant / dein Ehrgeiz thut mich zwingen Daß ich die grosse Kunst / Lehr und Geschicklichkeit / Der du gantz unverschämt dich rühmest weit und breit / Muß denen noch zuletzt / die dich nicht kennen / singen Fürwahr / der Tugend liebt / dem möcht das Hertz zuspringen (sie!) Wann er dich schneiden hört: Du Hoffnung unser Zeit / Du andrer Lipsius / daß sich Europa frewt / Du weist viel sprachen schön und zierlich vor zu bringen / Bey dir ist Paulus Geist / im Fall du lehren solt / Du newer Theophrast / du machst was mehr als Gold / Du Orpheus hast die Welt fast durch und durch gezogen / So das auch hin und her durch Teutsch und Welsches Landt / In Franckreich unnd zu Rohm dein Nahm ist wohl bekandt / Doch was hie gutes steht vor dir / das ist erlogen. 18

Humanistische Ideologie in topischen Formeln der Paraenese wird pointiert als Lüge entlarvt. Die moderne - weltmännische - Form des Sonetts darf als literarischer Gestus einer beanspruchten Überlegenheit verstanden werden. Der Angriff konstituiert sich als Entlarvung: nicht der Gelehrte scheint gemeint, sondern der Ungelehrte. Darin liegt die Zurücknahme des satirischen Impulses, ebenso wie in der Personalisierung auf einen konkreten Fall. Zincgref hatte verallgemeinert und typisiert, weitgehend gedeckt durch eine Zitatmontage, die die Berufung auf Autoritäten beibehält. Hier nun der umgekehrte Fall. Beides ist aufzufassen als Möglichkeit, Realität der »indignatio« der Satire zu unterwerfen, ohne grundsätzliche, systemimmanente und gruppenkonforme Leitbilder anzutasten. Die »Unverschämtheit« wird angegriffen, ein moralischer Defekt, der Mangel an »Tugend«. Die Satire als Invektive hat noch nicht - wie beinahe schon bei Zincgref - den archimedischen Punkt gewonnen, von dem aus nicht mehr die Kluft von Wirklichkeit und Ideologie bemerkt, sondern die Ideologie selbst als Produkt historischer Wirklichkeiten, d.h. also in diesem Fall die humanistische Ruhmestopik und Redivivuspanegyrik als überholte Form gelehrter Reputation überhaupt verworfen wird. Ganz konkret zeigt sich, wie weit auch ein Autor wie Rist, der in seinen »Monatsgesprächen« dem antischolastischen Affekt einigen

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Zitiert nach der dritten Auflage, Hamburg 1640, unpag. (nach der handschriftlichen Seitenzählung fol. 73v.).

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Raum gönnt, 19 als barocker Schriftsteller immer noch auch den Denkmustern des Späthumanismus verpflichtet bleibt. Die Aufnahme des antik-humanistischen Epigrammtypus »In Grammaticum« ich habe bereits darüber gesprochen - bleibt auch bei anderen Autoren Ausdrucksmöglichkeit aktuellen Widerwillens. So etwa in Daniel von Czepkos (1605-1660) Gedicht »Warte deines Ambts. An einen spitzfindigen Schul Fuchs«.20 Czepko operiert wie C. Barth mit den bis ins Fäkalische reichenden Formeln der Schulmeisterinvektive. Die Charakterisierung seines Gegners als Schulmeister, als Beherrscher lateinischer Phraseologie, als elender Kasualpoet, als Polyhistor und Verskünstler ohne »Lehren und Verstand« dienen dazu - und können offenbar auch vor dem intendierten Leser dazu dienen - , die kritische Kompetenz des Grammatikers, also seine Fähigkeit zum literarischen Urteil lächerlich zu machen. Besonders gegen Ende der Epoche häufen sich die Angriffe gegen den Pedanten. Man kann dies sowohl bei Johannes Grob 21 als auch bei Christian Wernicke (1661-1725) beobachten. In seinem Epigramm »Auf einen Schulfuchs« wird bereits Buchgelehrsamkeit überhaupt, damit aber die ganze Tradition der antikisierenden Imitatio betroffen: Dass eine glückliche Natur, Bissweilen grosse Leut' ohn' andre Hülffe machet, Das glaubt er nicht, und denckt wer bey der Lamp' und Uhr Nicht manche lange Nächte wachet; Wer die Poeten nicht, kein Griechisch und Latein, Versteht, noch voller Sinn-Sprüch' ist, Der sey ein schlechter Tropff: Kurtz, Crato bildt sich ein, Dass keiner lesen kann, als der mit Brillen lisst.22

Wernicke setzt sich bereits mit den Anwürfen des Pater Bouhours auseinander, die - Thomasius wird daran anknüpfen - den Deutschen den »Bei esprit« absprachen. 223 Die Komponente sozialer Degradation weicht zugunsten einer Polemik gegen die jahrhundertealte Verherrlichung der »elucubratio«. Dies kann man von dem bekannten »Abriß eines gemeinen Schulmannes« bei Hofmannswal-

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20 21

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223

Vgl. J. Rists: Sämtliche Werke, hg. v. Eberhard Mannack, Bd. V, Berlin - New York 1974, S. 15ff. (in: »Die alleredelste Torheit«) und 21 sowie Bd. VI (»Die alleredelste ZeitVerkürtzung«), S. 332f. D. Czepko v. Reigersfeld: Weltliche Dichtungen, hg. v. W. Milch. Breslau 1932, S. 362. Johannes Grob: Epigramme nebst einer Auswahl aus seinen übrigen Gedichten, hg. v. A. Lindquist, S. 112. Leipzig 1929 ( = BLV 273): vgl. Buch I, Nr. 90, »Auf einen grimmigen Schulmeister«, Buch II, Nr. 52, S. 136 »Auf einen aufgeblasenen Halbgelehrten«. Chr. Wernickes Epigramme, hg. v. R. Pechel, Berlin 1909 ( = Palaestra 71), S. 187; zum Komplex der Schul- und Gelehrtenkritik gehören u. a. auch die Epigramme II 14, III 43, IV 3, 20, 51, 52. Vgl. besonders das Epigramm VI 16, S. 340 mit dem dazugehörigen Kommentar: grundsätzlich zu W.s kritischem Standpunkt, der in wesentlichen Punkten mit dem Boileaus kongruiert, s. Pecheis Einleitung S. 49ff.

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dau ebensowenig sagen wie von Benjamin Neukirchs Satire »Wider die heutige Erziehung der Jugend«. 23 Hofmannswaldaus Anwürfe treffen das Elend des Kleinbürgers, dessen kulturelle Ambitionen in der Bedrängnis durch Schulchaos und eheliches Mißgeschick als vermessen denunziert werden. Natürlich werden hier auch grammatisches Exercitium, Cicero- und Aristotelesverehrung, logischer Formalismus mitbetroffen. Die satirische Inszenierung spielt allerdings nicht viel mehr aus als den Hochmut des an Stand, Rang und Würde überlegenen Patriziers. Karikiert wird die Wirkungslosigkeit und Belanglosigkeit einer eingebildeten Macht, die sich nur auf die Verwaltung der »Rute« beschränkt. Es ist bemerkenswert, wie sich die auseinanderentwickelnden literarischen Positionen Hofmannswaldaus und Wernickes auch in der Verarbeitung des »Schulfuchs«-Themas bemerkbar machen. So wie Wernicke beweisen auch die Verssatiren Jacob Burckhard Menckes (1674-1732), der sich als Dichter »Philander von der Linde« nannte, den Reflex der in der Epoche des Thomasius ausbrechenden Grundsatzdiskussion. Mencke hat selbst in zwei Reden »De Charlatanería eruditorum« - darüber später Näheres - Position bezogen. In den »Schertzhafften Gedichten« (zuerst 1706) läßt er in der sechsten »Satyre«, aus Anlaß einer Magisterpromotion 1698 gedichtet, bereits in der Form Anregungen der »battle of the books« verspüren, in denen sich die »Querelle des anciens et des modernes« artikulierte. 24 Wider die Mängel der Philosophie. In einem erdichteten Krieg und darauf erfolgten Frieden-Schluß zwischen der Philosophie und Pedanterie fürgestellt. ( . . . ) Es hat traun die Natur nichts heßlicheres gezeugt, Kein Reich ist so verhast, kein Staat bringt so viel Schaden, Als die Pedanterie, die sich für keinem beugt, Und selbst zu Gaste kömmt, wo man sie nicht geladen: (...) Denn der Pedanten-Schwarm, der alles überzieht, Beschmeist die Weißheit selbst, wie Wespen Ros- und Liljen: Setzt ihren Kindern zu, und ist voraus bemüht, Die wahre Wissenschaft durchgehends zu vertilgen.. Ρ

Der akademische Zweck dieser »Satyre« macht es notwendig, daß die philosophischen Disziplinen (Logik, Metaphysik, Eloquenz, Moral, Physik) den Kampf gegen die »falsche Wissenschaft« führen. Pedanterie heißt offenbar zunächst doktrinäres Festhalten am »Alten«, 26 bedeutet Rhetorizismus (Stichworte: 23

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Hofmannswaldaus »Abriß eines gemeinen Schulmannes« (ursprünglich in: Deutsche Übersetzungen und Gedichte, 1679, S. 40f.) ist abgedruckt in DNL, Bd. 36: Zweite schlesische Schule I, Stuttgart o. J., hg. v. F. Bobertag, S. 90f.; Neukirchs Satire ibid. Bd. 39: Die Gegner der zweiten schlesischen Schule II, Berlin u. Stuttgart o. J., hg. v. L. Fulda, S. 470-74. Zu Mencke vgl. Witkowski, Geschichte des lit. Lebens in Leipzig, S. 277ff.; dazu der Artikel in A D B XXI, 310f. Zitiert nach der dritten Auflage, Leipzig 1722, S. 43-47, spez. S. 43. S. 44: » . . . Und weil man, was nicht alt, als ungeschickt verweist, / sind neue Thaler nicht so lieb als alte Moden.« 381

Anagrammwesen, Chrien, Solözismus) und dialektische Sophisterei. In der siebenten Satire, einer Übersetzung aus dem Englischen (John Hall, 1627-57)27 erscheinen als Opfer der Satire bereits zusammen sowohl der galante Literaturbetrieb wie auch im »Pedantismus« zusammengefaßt der Autoritätenhimmel des Späthumanismus (Stichworte: Aristoteles, Homer, Cicero, Ovid, Joseph Scaliger). Gerade diese Übernahme aus dem Englischen weist voraus auf die Gelehrtenkritik der Moralischen Wochenschriften, die bald darauf auch in Deutschland die diesbezügliche Auseinandersetzung bestimmen und von denen schließlich Lessings »Junger Gelehrter« beeinflußt wird. Bei Menckes Rückgriff auf John Hall schlägt ein Nützlichkeitsdenken durch, das die komplementäre Paarung von galanter und pedantischer Gelehrsamkeit bereits in einem pointiert bürgerlichen Sinne überwindet. Nicht mehr die Konfrontation des politisch-höfischen Weltmanns mit dem Pedanten steht auf dem Programm, sondern die Perspektive des Kaufmanns, der Hof und Schule zugleich als interdependente Instanzen eines teils antiquarisch-weltfernen, teils belanglos ritualisierten Bildungshabitus begreift. . . . Weswegen lebt man denn? schlägt uns der Puls darum Daß unsre beste Krafft biß in das Alterthum A n eitlen Puppenwerck muß wie an Klippen scheitern? Sucht man den Tag darum mit Lampen zu erweitern, Daß man ein stinckend Kraut bey seinem Namen nennt, Und des Deucalions Groß=Groß=Frau/Mutter kennt? Das trägt die Kosten nicht, daß unsre träge Hertzen Sich selbst, Zeit und Geld so liederlich verschertzen: Daß man nichts bessers lernt, und für sein täglich Brodt Kaufft ein gelehrtes Nichts und kluger Leute Spott. Drum dencken andere dem Schaden für zu kommen; Da wird der junge Herr bald ins Contor genommen, Das macht, er ist geschickt und sein erhabner Sinn Hat Lust zur Kauffmannschaft, zum Wucher, zum Gewinn.. ,28

3) G. Ph. Harsdörffer: Distanz und Betroffenheit Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658), der Nürnberger Patrizier und erstes Haupt des kurz nach 1640 gegründeten Pegnesischen Blumenordens (zusammen mit Johann Klaj), hat sich wie kein zweiter Autor des Jahrhunderts in seinem gesamten Schaffen dem Ziel verpflichtet gefühlt, die deutsche Literatur und Sprache auf das Niveau der westeuropäischen Nachbarn zu heben. Niemand vermochte so wie er den weiten Umkreis der literarischen Produktion, aber auch 27

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S. 47-55; Mencke lagen offenbar vor Halls »Poems« v. 1647. Hall spielte auch eine wichtige Rolle als Universitätsreformer, angeregt von Bacon, und in der englischen Kontroverse der Ancients and Modems: dazu vgl. das gleichnamige Werk von R. F. Jones, 1936; - auch die fünfte Satire Menckes (S. 38-42) thematisiert den PedantenKomplex: »Wider die Affectation, welche Pedanten in ihrer Tracht und äußerlichen Conduite spühren lassen.« A . a . O . , S. 51f.

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des geistigen Lebens in Westeuropa zu überblicken und zu verarbeiten. 29 Auf der Basis selbstverständlich verfügbarer akademischer Bildung und im Traditionszusammenhang eines christlichen Patriotismus löst sich Harsdörffer - in dieser Deutlichkeit und grundsätzlichen Frontstellung eigentlich als erster - sowohl aus dem Räume humanistischer Latinität als auch aus dem autoritären Geltungsbereich eines nur gelehrt-professionellen Literaturbetriebs. Gegen den kulturellen Monopolanspruch des Gelehrtenhumanismus und seiner Institutionen öffnet er sich in voller Zustimmung den Verhaltensleitbildern der aristokratisch-höfischen Gesellschaft, wie sie sich in der Romania längst etabliert hatten. Harsdörffer vertritt den Typus eines Bürgertums, das sich - weitgehend freigesetzt von Erwerb und Produktion - zwar weiterhin mit den Attributen von Tugend und Wissenschaft gegen die Geltungsansprüche der Feudalität behauptet, jedoch diese Prinzipien nunmehr eindeutig als praktische Momente sowohl repräsentativ-seigneurialer Lebensformen als auch gesellschaftlich-geselliger Selbstverständigung im privaten Bereich begreift. In seinen »Frauenzimmer-Gesprächsspielen« (1641-49) 2 9 " wird der Versuch unternommen, das Ideal einer die traditionellen Grenzen von Stand und Beruf übergreifenden Geselligkeit vorzuführen. Die Teilnehmer 3 0 finden ihre eigene Rollenidenität im Medium des Gesprächs und in den Formen einer anmutig reglementierten Kommunikation. Nicht die Vermittlung eines festens Wissensbestandes ist angestrebt, dieser wird vorausgesetzt; vielmehr soll die Fähigkeit zu einer konfliktfreien, von humanen und entspannten Umgangsformen getragenen »Konversation« zugleich eingeübt wie dargestellt werden. In der Vereinigung von »Anstand« und »Nutzen« geht es darum, dem einzelnen als Teilnehmer eines geselligen Diskurses Möglichkeiten zu eröffnen, die Fähigkeiten des Verstandes sowohl zu schärfen als auch in ihrer Präsentation zwanglos sich selbst wie auch die Gesprächspartner in Szene zu setzen. Urteilskompetenz, Scharfsinn, Entschlüsselungslust und kombinatorisches Vermögen entfalten sich

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29a

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E i n e umfassende moderne Monographie über Harsdörffer bleibt weiterhin Desiderat; einzusehen noch immer T h . Bischoffs Charakteristik von 1894; Heinz Zirnbauer lieferte eine Bibliographie, die umrißhaft Harsdörffers Gesamtschaffen verdeutlicht (in: Philobiblon 5, 1961, 1 2 - 2 9 ) ; zum Pegnesischen Blumenorden J . Karl F . O t t o , Sprachgesellschaften, S . 4 3 f f . (m. L i t . ) ; dazu die diesbezüglichen Passagen in der von Christoph Stoll vorgelegten Dokumentation ( 1 9 7 3 ) , die auch einen ausführlichen Forschungsbericht enthält. Zitiert nach dem von Irmgard B ö t t c h e r vorgelegten Neudruck, Tübingen 1967/69: im folgenden mit G S p abgekürzt; die Seitenangaben beziehen sich auf die Paginierung der Neuausgabe. Dazu jetzt grundlegend das Buch von Rosemarie Zeller, Spiel und Konversation ( 1 9 7 4 ) ; dann die älteren Arbeiten von G . A . Narciss ( 1 9 2 8 ) , Rolf Hasselbrinks Kieler Dissertation ( 1 9 5 6 ) über »Gestalt und Entwicklung des Gesprächsspiels« sowie der Aufsatz von K . G . Knight, in: G L & L 13 ( 1 9 5 9 / 6 0 ) , 1 1 6 - 2 5 . V o r Beginn des I. Teils der GSp, S. 2 2 , werden vorgestellt: »Angelica von Keuschewitz / eine Adeliche Jungfrau; Reymund Discretin / ein gereist= und belesener Student; Julia von Freudenstein / ein kluge M a t r o n ; Vespasian von Lustgau / ein alter Hofmann; Cassandra Schönlebin / eine Adeliche Jungfrau; Degenwert von Ruhmeck / ein verständiger und gelehrter Soldat«: zu den Teilnehmern - die Namen sprechen schon für sich - , ihrer Rolle und Charakteristik in den Gesprächen vgl. Narciss, s. 113ff.; Zeller, S. 41ff.

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in der Präsentation eines immanent-universal verweisenden Wissenskosmos. Es wird gezeigt, daß dieser gerade in sozialer Interaktion und geselliger Aktivierung dem einzelnen in allen möglichen Bezügen und Tiefenschichten ansichtig wird. Das Zeremonielle der Rollenverteilung und Gesprächsführung betont nicht nur die Kunst des Gefallens, sondern ist zugleich als spielerisch-diszipliniertes Ritual Voraussetzung sowohl für allseitige Teilhabe und gegenseitige Ergänzung als auch - in der Korrelation von Methode und Gegenstand - für die Präsentation von universalen Zusammenhängen, die die Kompetenz des Subjekts übersteigen. Das »Vergnügen« der intendierten Leser, von den literarischen Figuren vorgegeben der emotionale Aspekt des Spiels - , hängt sicherlich mit dem Bedürfnis zusammen, in einer inszenierten Quasi-Wirklichkeit, als Mischung von Bericht und Fiktion, gegen die Erfahrungen tiefgreifender gesellschaftlicher Zerklüftung und gegen die Gefahren eines geistigen Horizontzerfalls eine gelungene, zur Identifikation und Nachahmung einladende Alternative vorzufinden: Harsdörffer transformiert universales Wissen um zu »Kultur«, d.h. zum Medium individueller wie sozialer Entfaltung, zur Chance »spielerischer« Verständigung abseits religiöser, politischer oder sozialer Zwänge und Konfrontationen. Dies ist nur möglich in einem Kreis von Partnern, die wesentliche Voraussetzungen der Verständigung und des Verständnisses mitbringen: im Profil der exemplarisch stilisierten MikroGruppe sind die Extreme und Einseitigkeiten, bedingt durch Beruf, Stand usw., abgedämpft oder abgekappt. Nur dadurch wird das Ritual des Diskurses selbst zum Spiel, zur disziplinierten Freiheit, zur lustvollen und genußreichen Beherrschung selbst vereinbarter Regeln. 31 Die ältere Literatur lieferte in der Nachfolge von Castigliones »Cortegiano« das kunstvoll arrangierte Gespräch als Inbegriff elitär-kultivierter Geselligkeit, in der Tradition der antik-humanistischen Dialogliteratur zugleich die Möglichkeiten didaktischer Vertiefung, im enzyklopädischen Schrifttum bereitliegendes »curiöses« Wissen und in der literarischen Formenvielfalt der Spätrenaissance zahlreiche Vorbilder für sinnreich-scharfsinnige Literaturund Sprach-»spiele« (Emblematik, Fabel, Apophthegma, Rätsel, kombinatorische und manieristische Exerzitien und Redetypen). 32 Erst bei Harsdörffer wird nun auch in Deutschland bewiesen, w i e , nicht nur d a ß in der geselligen Aktivierung aller Elemente individueller Bildung (doctrina als memoria, ingenium als Gabe der Findung und Erfindung, iudicium als Urteilskompetenz) nicht nur die »Kurzweil« einer müßigen Gesellschaft auszufüllen ist, sondern verschiedenartige

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Die hier versuchte partielle Würdigung der GSp stützt sich vor allem auf die Arbeit von R. Zeller: 51ff. (Absicht und Struktur), 36ff. bzw. 105ff. (Rollenspiel und Spielbegriff); Beherrschung von Sprache und Wissen als Voraussetzung (S. 39). Zu Castiglione und der italienischen Gesprächsliteratur s. Zeller, 81ff., dort auch S. 157ff. zur ars combinatoria und ars memorativa (R. Lullus, A. Kircher u.a.), S. 86f. Harsdörffers Beziehung zu Comenius: beide sehen sich in der Tradition von Piatos Dialogen: »Das Lernen soll mühelos vor sich gehen, darum wird der Stoff in der Form des Spiels präsentiert.« Umfassende Quellennachweise nach den verschiedenen Rezeptionsbereichen bietet Narciss, S. lOOff.

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Menschentypen in eben diesem kulturell bestimmten Freiraum in disziplinierter Humanität integriert werden können. Man hat mit Recht bis ins Detail auf strukturelle und programmatische Kongruenzen zur französischen Salonkultur des 17. Jahrhunderts aufmerksam gemacht. 33 So wie dort im Umkreis des »honnête homme«, so gehören auch hier Polemik und Abgrenzung gegenüber allem »Pedantischen« und »Schulfüchsigen« immer wieder zur sprachlichen Gestik einer neuen Exklusivität, die sich in der Mitte zwischen altfeudalen und scholastisch-humanistischen Traditionen der Gruppenkultur ansiedelt: Harsdörffer zeigt nicht nur hier eine intermediäre Position, die für ein Großteil der barocken Literaten kennzeichnend ist. Trotz aller bis ins Preziose gehenden Abundanz des formalen Kultus, in denen sich nicht zuletzt die Statusbedürfnisse des patrizischen Bürgertums zwischen »Pöbel« und Erbadel kundtun (dies auch die Situation etwa bei Hofmannswaldau und Lohenstein in Breslau), schlägt wie auch in der anderwärts zu beobachtenden Hinwendung zum Bereich der Technik und Naturwissenschaften, 34 aber auch zu einer spezifischen »Mittelstands«-Ideologie nach dem Muster der »aurea mediocritas« 35 - eine Bewußtseinslage stadtbürgerlicher Sekurität durch, die bereits jenseits der Epochenkrise anzusiedeln ist. Dies kann hier im einzelnen nicht weiter verfolgt werden. Es ist bezeichnend für die kulturelle Situation Deutschlands gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, daß Harsdörffer im Unterschied zur Gelehrtensatire Zincgrefs die Kritik des Pedantismus bereits durchgehend als Folie einer alternativ formulierten Gesellschaftskultur artikulieren kann. Etwa gleichzeitig mit dem »Horribilicribrifax« des Andreas Gryphius markiert Harsdörffer eine doppelte Front. In dem aus dem Französischen übernommenen »Schauspiel Teutscher Sprichwörter« treten Fiebras, der Typus des aufschneiderischen »miles gloriosus« und »Thesaurus«, der Vertreter pedantischer Gelehrsamkeit zusammen auf. 36 In beiden sind jene Attribute und Zuordnungskriterien ständischer und professioneller Absonderung konzentriert, sozusagen die Extremformen von »arma« und »litterae«, welche in der Perspektive der großbürgerlich-aristokratischen Verständigung marginalisiert werden. Harsdörffers »Gesprächspiele« zeigen bis ins Detail die im Schlagwort des »Pedantischen« zusammengefaßten Aversionen. Die Form des geselligen Dialogs erscheint als »Lehrart«. Der damit angedeutete Einbezug der Apologie der literarischen Form in die zeitgenössische Methodendiskussion legt den antisystematischen und antischolastischen Grundzug offen. In der Verteidigung des Gesprächscharakters wird die Praxis des dialogischen »Spielens« zu

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Zeller, S. 60ff. (»Die GSp und die Bewegung der Preziösen«). Hier vor allem zu nennen, die 1651 bzw. 1653 von Harsdörffer fortgesetzten »Delitiae mathematicae et Physicae« seines Lehrers Daniel Schwenter: genaue Angaben bei Narciss, S. 201f. Vgl. Bischoff, S. 257f.: gegen die Hofleute, die nach Geld und Gut jagen, die Aufforderung, »den Mittelstand sich begnügen zu lassen, nicht zu viel zu haben, darneben aber auch keinen Mangel zu leiden«. GSp II, S. 31 Iff.; vgl. Bischoff, 148ff.

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einem Akt der Emanzipation: »weil der Verstand dardurch alles Zwanges fürgeschriebener Lehren entbunden / sich in seiner eingeschaffnen Freyheit befindet nachzusinnen.. .«, 37 Daß in diesem Zusammenhang mehrfach der Name Bacons auftaucht, deutet das tieferliegende praktische Interesse an der Methodik der Wissensvermittlung an: nicht die Freiheit der autonomen Vernunft, also »raison« im Sinne Descartes', ist gemeint, sondern Befreiung vom Enzyklopädismus der Buchgelehrsamkeit, Einbezug von neuen Wirklichkeiten und Erfahrungen, Emanzipation des »ingenium«, das sich an Phänomenen der Sprache, Literatur wie auch Natur abarbeitet und aktiviert. Pedantismus bedeutet in dieser Hinsicht Isolierung und Kompromittierung der Wissenschaft, ideell wie auch sozial: Es wäre zu wünschen / daß die alten Schulfüchse die Wirdigkeit der Künst und Wissenschafften / mit ihren ungeschlachten und unartigen Sitten / bey Fürstenhöfen nicht so verächtlich gemacht hätten. In dem sie die jetzige Zeiten / mit den jenigen so sie aus vielen Büchern erlernet vergleichen / kommet ihren alles / welches sie in ihrer gewöhnlichen Einsambkeit nicht gesehen / noch sehen mögen / so frembd vor / daß sie sich gantz nicht in die Welt schicken / auch von allen nicht wol änderst / als ungleiche Reden führen können. 38 Mit Balthasar Schupp und Chr. Gueintz proklamiert auch Harsdörffer die Erkenntnis, daß menschliche Vernunft nicht an gewisse Sprachen gebunden ist. 39

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GSp, Zuschrift des VIII. Teils, S. 9, vgl. auch ibid. S. 32ff.: die »eingeschaffne Begier alles zu wissen« begründet den enzyklopädischen Anspruch, den Zusammenhang aller Wissenschaften. Besonders zu beachten ist die Behauptung, es gäbe keine Wissenschaft, »so alle andre unter sich begreift / sondern sie werden unterschieden / und nach jhrer Behandlung abgesondert«; diese vielfältigen »Weisen« der Behandlung werden ausdrücklich mit einem traditionellen Theorie-Begriff harmonisiert (der göttliche Geist des Menschen, der dazu ausersehen ist, »die großen Wunder Gottes / und sich selbsten zu erkundigen«), sind aber bereits in neuzeitlicher Weise Korrelate des »vielfältigen Nutzens« aller Dinge in der Welt, d.h. von der Praxis der Verwertung bestimmt. 38 GSp, Teil II, Nr. LIV, S. 56; als Marginalie der Hinweis auf Bacons »von Würde der Wissenschaften«, also den 1623 lateinisch erschienenen ersten Teil der »Instauratio magna« (»De dignitate et augmentis scientiarum libri IX«), Harsdörffer bezieht sich auf die ausführliche Diskussion der Verachtung der »Pedanten« seitens der Herrscher und Politiker, Buch I, Kap. II (»The Advancement of Learning«, ed. Wright, 1885, S. lOff., bes. S. 12f.): Bacon geht es hier um die Abwehr und Widerlegung wissenschaftsfeindlicher Haltungen, die in einem Katalog von zeitgenössischen Vorurteilen referiert werden (in der modernen engl. Ausgabe, S. 10; - in GSp, Teil VII, Nr. CCLIX, S. 260ff. wird Bacons »Nova Atlantis« gerühmt, als dessen Thema »die englische Erkundigung aller natürlichen Ursachen / so weit es nemlich menschlicher Verstand bringen kan« übersetzt ist. Nicht daß hier die Konsequenzen von Bacons Position erkannt oder gar ausgesprochen würden (Bacons »Haus Salomons« erscheint als »schöne Erfindung« im literarischen Sinn, das Gesamtwerk als Lehrgedicht), doch allein schon der Einbezug derartiger aktueller »Neuheiten« als Gegenstand des Diskurses interpretiert die historische Funktion der Gesprächsform als Freiheitsraum. - Zu Bacon-Rezeption im barocken Deutschland fehlt eine gründliche Untersuchung: Anmerkungen bei Cohn, Gesellschaftsideal, S. 8 u. passim (»Zu diesem Kampf wider Pedanten und Schulfüchse vereinen sich die besten Geister des Jahrhunderts«). 39 GSp, Teil II, Nr. LIV, S. 57. 386

Hier liegt das Fundament für seine verstreute Polemik gegen den Universalanspruch des Lateins: sie wird unterstützt durch die Rezeption von Schottels und anderer Theorie, dernach die deutsche Sprache als Ur- und Heldensprache zumindest ebenbürtig neben das Griechische zu setzen sei. 40 D a ß in Harsdörffers Poetik die Kunst des Dichtens ausdrücklich ohne Voraussetzung des Lateins vermittelt werden soll, liegt auf dieser Linie. 41 Harsdörffer hat sich mehrfach gegen Angriffe der »Schulfüchse« gewehrt, die ihm diese »Verachtung des Lateins« und damit »Unwissenschaftlichkeit« überhaupt vorwarfen. 4 2 In der Tat war er weit davon entfernt, den kommunikativen und wissenschaftlichen Wert der Gelehrtensprache zu verkennen: gerade weil die deutsche Sprache vor allem terminologisch noch nicht von Seiten der Gelehrten »bearbeitet« und kodifiziert erschien - hierzu die Pläne eines deutschen Wörterbuches - , richten sich die Angriffe nicht gegen das hilfssprachliche Idiom der Wissenschaft, sondern gegen die ungezügelte Verwendung im Bereich der politischen Praxis von Rechtspflege und Verwaltung, der privaten Geselligkeit und der »schönen« Literatur. Wie auch bei anderen Vertretern der barocken Sprachgesellschaften wird leidenschaftlich gegen die Sprachmischung polemisiert, nicht gegen eine Beherrschung und separate, jeweils von den Umständen geforderte Anwendung der Einzelsprachen. Dabei tritt die deutsch-lateinische Sprachmischung an die Seite des à-la-mode-Syndroms: 43 beide sind gleichermaßen von patriotischem Widerwillen betroffen, weil sie das zentrale Anliegen Harsdörffers berühren: die in der Sprache und literarischen Kultur symbolisierte, zugleich auch ökonomischen und wissenschaftlichen Fortschritt verbürgende Einheit der Nation. Die deutsche »Spracharbeit« zielte bei Harsdörffer und seinen Mitstreitern auf genau das, was die Französische Akademie wie der »humanesimo volgare« in Europa überhaupt in ihrem Wörterbuch verwirklichen wollten, nämlich auf die sprachliche Repräsentanz und das gemeinsame sprachliche Instrumentarium eines macht-

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Dazu s. Borst, Turmbau 3, 1, S. 1356; Hankamer, Die Sprache, S. 119ff.; W. Kayser, Die Klangmalerei, spez. S. 180ff.. So behandelt schon in der Titulation des »Poetischen Trichter(s)« angekündigt. - Die Polemik gegen die Monopolstellung des Lateins durchzieht Harsdörffers Gesamtwerk: vgl. die Ausführungen und Zitate bei Bischoff, 69ff., 75, 363f. D i e lateinisch verfaßte, also ausdrücklich an den Kreis der Gelehrten gerichtete Schrift »Specimen Philologiae g e r m a n i c a e . . . « , Nürnberg 1646, sollte dazu dienen, »etlichen Mißgünstigen zu begegnen, welche (ihn) beschuldigen, daß (er) die Jugend von dem Latein und Studiren abführe, und zu den Teutschen allein verleite«: vgl. Narciss, 40f., 195f.; Bischoff, 65ff.; auch die »Schutzschrift« (GSp. Teil I, S. 383) nimmt zum Problem Stellung und akzentuiert den historisch gebotenen Kompromiß: »Viel stehen in dem Wahn / daß durch Erhebung der Teutschen Sprache die Lateinische fallen werde / aller massen man sihet / daß auf den hohen Schulen oft mehr Teutsche / als Lateinische Gedichte aufgesetzet werden / da man doch wegen dieser und nicht jener Sprache Erlernung dahin geschicket. Solches ist gewißlich nicht zu beförchten. Keine kan der Zeit [!] / ohne die andere / erlernet werden.« D i e Phänomene der Sprachmischung ausführlich behandelt in den GSp, II. Teil, Nr. LIV, S. 46ff.

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voll z e n t r i e r t e n einheitlichen S t a a t e s . 4 4 D i e grundsätzliche P r o b l e m a t i k d e r v o n H a r s d ö r f f e r und seinen F r e u n d e n so energisch v o r a n g e t r i e b e n e n » S p r a c h a r b e i t « , das weit ü b e r diesen Punkt hinausreichende D i l e m m a eines B ü r g e r t u m s , das in seinen kulturellen A k t i v i t ä t e n den schützenden Zirkel d e r lateinischen G e l e h r t e n republik verlassen und zumindest auf kulturellem S e k t o r öffentliche R e p r ä s e n t a n z und V e r a n t w o r t u n g b e a n s p r u c h t e , lag genau in der bereits notierten intermediär e n Position: a n d e r s a u s g e d r ü c k t , in der allzu schmalen gesellschaftlichen Basis. H a r s d ö r f f e r k o n n t e sich eine r e f o r m a t o r i s c h e Vereinheitlichung d e r d e u t s c h e n Sprache

nur

als

»Reinigung«,

als g e l e h r t - a u t o r i t ä r e

Kodifizierung,

als

eine

B e s t a n d s a u f n a h m e vorstellen, welche sich in der Spekulation um U r s p r a c h e und S t a m m w ö r t e r nicht nur ein mythisches L e g i t i m a t i o n s m o d e l l , sondern zugleich ein praktisches B e w e r t u n g s m u s t e r vorgelegt h a t t e . Z w a r entfernt v o m

manischen

Purismus eines Z e s e n , blieb t r o t z b e m e r k b a r e r K o m p r o m i ß b e r e i t s c h a f t d e r Wille zur Distanz v o n den P h ä n o m e n e n sprachpraktischer » G e w o h n h e i t « . 4 5 D i e zuletzt

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Harsdörffers »Teutscher Secretarius« (zuerst 1655; vgl. Zirnbauer, Nr. 49ff.) wendet sich nicht nur immer wieder gegen Sprachmischungen, etwa der »Cantzley-Briefe«, sondern äußert sich in einem Anhang auch über die Haupthindernisse des allgemeinen Wohlstandes: neben der Trägheit der Jugend, Mangel an Handwerkern und schiffbaren Flüssen, Unsicherheit und Beschwerlichkeit der Wege werden u. a. auch »die alten und neuen Auflagen, Zölle, Mauten und Ambtgelder« aufgeführt: s. Bischoff, S. l l l f . Die gerade für den Kaufmann so schmerzliche Zerrissenheit des Reiches, Symptom der Schwäche, spiegelt sich in der Verelendung der Sprache: beide beruhen auf demselben Komplex von Ursachen.

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Dies betraf ζ. B . die Rechtschreibung, die Frage nach der Natur der »Stammwörter«, das Problem der »neuaufkommenden fremden Wörter«: zur Frage der Sprach-»Gewohnheit« ausführlich G S p III. Teil, Nr. C X L I V , S. 324ff.; der zentrale Punkt ausgedrückt in der Geld-Metaphorik: »An der Müntz wird nicht das Schrot von jedem erforscht / sondern für Landgültig erachtet / wann selbe gäng und gebe ist: So ist es auch mit den Worten bewandt / in dem in diesen beeden Handel und Wandel bestehet.« (S. 324); dagegen »Herrn Degenwerts Schlußrede« u.a. (S. 328f.): »Nicht alle Müntzen so gäng und geb seyn / sind richtigen Halts / sondern gehet dem / der es nicht verstehet / oder nicht beobachtet / der Betrug in die Hände. Wie nun ein falscher Groschen / dem guten nicht vernachtheilen kan; so mag auch die böse Gewonheit keine gültige Regul geben / oder das Böse für das Gute aufdringen. Der unbegründte Gebrauch unter dem gemeinen Volk [man vgl. hier etwa die Position Luthers, der dem Volk »aufs Maul« schauen wollte! W. K . ] ist ein mißbräuchliche Verfälschung / und obwol solchen zu steuren / so schwer als unmüglich / so muß man doch dahin bemühen / daß unsere liebe Nachkömmling ersehen können / mit was getreuem Eifer wir uns wider befahrliches antrohendes Unglück gesetzet haben. ( . . . ) Es were oft besser / daß wir an stat unserer groben Muttersprache / unseres gelehrten Vatters Sprache lerneten. Dann so eine grosse Unterschied unter eines Baurn und eines Capellenmeisters Gesänge / so grose Ungleichheit ist zwischen deß Sprachverständigen und Unverständigen Rede.« Die höfisch-aristokratische Bewertung der Sprache als Sozialphänomen im Unterschied zu historisch-theologischer Deduktion und gelehrter Regulierung exemplarisch bei Castiglione: vgl. Borst, Turmbau 3/1, S. 1107f. Der letztlich bis zu Dantes Sprachtheorie zurückweisende Konflikt zwischen »grammatica« als Kunst- und Hochsprache und der Volkssprache als Symptom von Instabilität, Unordnung und kontinuierlichem Wandel, verankert in einem biblischen und geschichtstheologischen Denkzusammenhang, setzte sich in der »Questione della lingua« Italiens in

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in der Sprachdiskussion der Renaissance erörterte Polarisierung von Sprache als Grammatik und Sprache als »consuetudo« brach von neuem wieder auf. 46 In der Tat gab es ja auch keine »Gewohnheit«, deren Einbezug nicht das erstrebte Ziel einer einheitlichen, für Wissenschaft und Kultur tragfähigen deutschen Hochsprache im selben Augenblick vereitelt hätte. Es gab nur eine sozial wie literarisch zerklüftete Sprachlandschaft mit den Gruppen- und Standesidiomen des Adels und der Gelehrtenrepublik, es gab die »verdorbene« Verwaltungssprache der Kanzleien, es gab die Fach- und Sondersprachen der diversen sozialen Gruppen, etwa gerade im Dreißigjährigen Krieg das Esperanto der Soldatensprache. Es gab weder wie in Frankreich eine machtgestützte Akademie noch wie in Italien ein dominierendes kulturelles Zentrum (Florenz) oder einen verbindlichen literarischen Kanon. Vorhanden war beinahe nichts als der bloße Wille einer engagierten Elite, der sich jedoch bald nach der Jahrhundertmitte - man denke an die Entwicklung der Fruchtbringenden Gesellschaft zu einer Art Ritterorden 4 7 - nur auf relativ wenige »patriotisch« gesonnene Vertreter der Feudalität stützen konnte. Der Sehnsuchtsblick nach rückwärts, das Anklammern an die lange bereitliegenden, seit den Tagen eines Celtis und Aven tin, seit der Entdeckung der Taciteischen »Germania« sich anbietenden Germanenträume, all die komplizierten Ableitungsversuche des Deutschen, der Altersbeweis und die NatursprachenSpekulation als Ringen um »Reputation«, all dies sind historisch einsichtige und konsequente Bemühungen, ideologische Ansatzpunkte für eine Einheitssprache zu gewinnen. Die à-la-mode-Polemik war Rundumverteidigung, also nicht nur gegen die Sprachpraxis der »höheren Stände«, sondern zugleich auch gegen die des »Volkes«, das sich auch hier nur nach jenen »opinion leaders« richtete, von denen abzuhängen unleugbare Erfahrung war: Moscherosch, Reuter und andere liefern dazu satirisch getrübte, aber sicherlich in der Tendenz korrekte Illustrationen. Insofern war der in der Spracharbeit enthaltene Wille zur nationalen Einheit als Basis einer politischen und kulturellen Konsolidierung gleichzeitig behindert durch die sozialen Grenzen und die gesellschaftlichen Interessen eben der Schicht, in der allein er sich entfalten konnte. Die Aufladung des Sprachideals mit Tugendprogrammatik 4 8 implizierte ein letztlich politisches Dilemma: die Koinzidenz von Sprachreinheit und moralischer Integrität - zusammengefaßt im Schlag-

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vielerlei Verästelungen fort: in dem Augenblick, wo die deutsch-lateinische Zweisprachigkeit das Problem nicht mehr entschärfte, also gerade im Falle einer Monopolisierung der Muttersprache, wie tendenziell bei den barocken Theoretikern, mußte sich das Problem von neuem in dilemmatischer Form präsentieren: vgl. grundsätzlich K. O. Apel, D i e Idee der Sprache S. 115ff., 201ff.; H.-W. Klein, Latein und Volgare, 18ff. Zur Entwicklung der Fruchtbringenden Gesellschaft gegen bisherige Thesen, die die Verständigung zwischen Bürgertum und Aristokratie über die Schranken der gesellschaftlichen Hierarchisierung betonten, also die Gesellschaft als antizipierte Öffentlichkeit verstanden (so Habermas, Strukturwandel und Öffentlichkeit, S. 46) neuerdings mit guten Gründen Volker Sinemus (1978), S. 221 ff.; zur späteren Entwicklung s. Barthold, 29 Iff. Dazu besonders F. van Ingen: D i e Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Versuch einer Korrektur, in: Daphnis 1 (1972), S. 14ff.

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wort vom »teutschen Biedermann« - band auch die Spracharbeit an konservative Ordnungsaxiome, von deren Auflösung man sich nur das Chaos befürchtete. Auch hier, ja gerade hier offenbarte sich zwar bürgerliches Denken, das sich aber in dieser Beschränkung zugleich ebenso isoliert wie machtlos erwies und sich im sozialen Umfeld sowohl »nach oben« als auch »nach unten« gegen den Vorwurf bloß gelehrter Aspiration und eines unpraktischen Systematismus und Akademismus wehren mußte. Harsdörffer selbst hat bereits in den »Gesprächspielen« die gelehrte Spracharbeit mit der Formel von »Degen und Feder« verteidigt: das Ziel seiner Argumentation, der Beweis, daß sich diese auch für »vornehme Leute« zieme, machte es offensichtlich im selben Atemzuge nötig, sich gegen den Vorwurf der »Schulfüchserey« zu wehren. 49 Dies ist in der Tat genau das Prädikat, mit dem gegen Ende der Epoche - im Zeichen galanter Inthronisation des Geschmacks und eines exklusiven »je ne sais quoi«, aber auch im Horizont philosophisch-kritischer Vernunft - die Arbeit der Sprachgesellschaft allzu leicht belegt werden sollte. Trotz aller Ungerechtigkeit und schiefen Optik einer solchen Denunziation - sie blieb auch in der wissenschaftlichen Beurteilung nicht ohne Folgen - offenbart sich in solcher Zuordnung ein Stück historischer Wahrheit: barocke »Spracharbeit« ist in der Tat die letzte Phase eines zwar auf die Volkssprache bezogenen, aber vom humanistischen Impetus gespeisten Bemühens um grammatisch-normative Sprachregelung. Sie blieb trotz der oben erwähnten Neueinsätze gebunden an das rhetorische System und damit an die Schule. Das »kunstrichtige« Wirken der barocken Gelehrten bleibt ein verspäteter, dadurch um so glühenderer Vulgärhumanismus: er wird betroffen von den sozialen und geistesgeschichtlichen Faktoren des spätbarocken Epochenwandels und erweist sich damit bereits in dieser Phase als historische Sackgasse. Martin Opitz hatte die Verachtung der Gelehrten beklagt und gleichzeitig wie viele nach ihm die Exempel jener Kaiser und Herren angeführt, die nicht nur - aus betont wohlverstandenem politischem Eigeninteresse - zu Mäzenen wurden, sondern selbst die »Studien« mit ihrer herausragenden sozialen Stellung zu vereinigen wußten. Dies bleibt ein konstantes apologetisches Modell, ein weiterwirkender Angemessenheitsbeweis im Ringen um die soziale Geltung des bürerlichen Literaten. 50 Bei Harsdörffer läßt sich exemplarisch beobachten, wie die Polemik gegen den Pedanten, also die Reaktion auf den antik-akademischen

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GSp (»Schutzschrift«), Teil I, S. 384f.: »Etliche halten die Teutsche Spracharbeit / durch die Bank hin / für Schulfüchserey / welche vornemen Leuten nicht gezieme.« Es folgen die topischen Exempel (Cäsar, Claudius, Varrò, Cicero, Karl d. Gr.): »Wer bist du aber / der du die hochermeldte Weltherren für Schulfüchse ausschreien darfst? Vergleiche deine und ihre Taten / deine und ihre Siegesprachten / du unbehirnter Frevler? Hat dich Midas zum Richter gesetzet zu beurtheilen / was du niemals angehöret? Was man in der Schul erlernet / ist dahin angesehen / daß es ausser der Schul sol gebrauchet werden. Einen Rittersmann geziemet benebens den Degen auch die Feder; ohne welche sein Verstand nicht wol ausgeschärfet / und sein Verdienst nicht hochangelangen mag.« Dazu Sinemus (1978), bes. S. 18ff. (»Vorschlag einer humanistisch-gelehrten und fürstlich-höfischen Allianz«).

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Affekt der barocken Hof- und Verwaltungsaristokratie, in das Streben nach Nobilitierung von Literatur und Wissenschaft einbezogen wird. Die anti-akademische Geste entwickelt sich zu einem allseits präsenten Topos und indiziert die soziale Dissoziation der »res publica litteraria«. Wie zwingend die Absetzbewegung von einem nur gelehrt-akademischen »Stallgeruch« den symbolischen Qualifikationsnachweis für eine Anerkennung seitens der »großen Welt« bedingt, zeigt sich sehr deutlich im Antwortschreiben Harsdörffers (datiert 1.9. 1645) auf einen ebenfalls französisch abgefaßten Brief Moscheroschs, in dem dieser ostentativ und mit sichtlichem Blick auf Gunst und »Beförderung« die Erlebnisse, Begegnungen und Einsichten seines Paris-Aufenthaltes zusammenfaßt. Es geht letztlich um die Frage, ob »Les Poetes sont propres aux affaires d'Estat & du Monde«. Harsdorf fer ergänzt und repliziert die diesbezüglichen Überlegeungen Moscheroschs: Si par le nome de Poete sentend un Pedant crotté qui vous presente un sonnet mal battu, remply des quelques antitheses cousues du til blanc, & quelques Antinomasies sauvages, jointes avec un rythme raboteux, qui est un homme tres scavant chezsoy, mais fol en bonnes compagnies: (Veuque la grande science & la sagesse sont ordinairement detachées) un tel n'est pas capable d'autres affaires d'Estat, que de le schole, ou les verges luy serviront de sceptre. Mais si ce nom represente un homme d'un esprit naif, docte en tous Disciplines requises pour l'accomplissement de cet' art, pratique en ce genre d'Eloquence, que nous appelions Poesie & Peinture parlante, je suis d'avis qu' après les autres qualitez necessaire, celle d'un Poete luy soit honnorable utile & delectable.. ,51

Auch bei zahlreichen anderen Zeitgenossen erscheinen Partikel der anti-pedantesken Polemik als unabdingbares Qualitätsattribut: V. Fabricius lobt ein Werk A. Buchners als »heroisch angeführet / Darin man nirgends kein pedantisch Färblein spüret«, 52 S. v. Birken in seiner Vorrede zu Anton Ulrichs »Aramena« (1669) wendet sich im Sinne des höfisch-politischen Romans gegen die »Amadisische und andere auffschneiderische alberne Pedantische fabelbruten«, Harsdörffer empfiehlt der Fruchtbringenden Gesellschaft den Straßburger Poeten Matthias Schneuber als »Lehrer der poeterey zu Straßburg, ein hochgelehrter Mann und kein Schulfuchs«, Rist wendet sich gegen deutsche Versmacher als »Bönhasen, Pedanten und Schlüngel«, Johann Klaj setzt die deutsche Dichtkunst gegen die »von Griechen und Lateinern erbettelte Verskunst« ab: sie sei jetzt »aus dem Schulstaub hergeflohen«, »nach welchem sie noch stinke«, während sie früher »zu Hofe nebenso andern Ritterlichen Übungen [...] in vollem Schwange gangen«. 53 Das semantische Potential des denunziatorischen Begriffs ist offensichtlicch bereits so groß, daß konkrete Inhalte hinter der allgemeinen Wertigkeit verschwinden. Ein bedeutsamer Faktor mit weiterführender Perspektive muß noch erwähnt werden, in dessen Akzentuierung sich die anti-scholastische Argumentation als Moment einer grundsätzlichen Umschichtung des literarischen Publikums und der 51

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Abgedruckt in: J.-M. Moscherosch, Centuria Prima [-Sexta] Epigrammatum, Frankfurt 1665, S. 111-115; zum Brief Moscheroschs (abgedruckt ibid. S. 102-09). Zit. bei Borcherdt, Buchner, S. 3. Die Zitate nach Borinski, Die Poetik der Ren., S. 176, 186f., 251.

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kulturellen Kommunikationsgemeinschaft zu erkennen gibt. Gerade in den »Gesprächspielen« tritt die Frau als eigenständige Partnerin der gebildeten Gesellschaft mit eigenem Anspruch auf Teilhabe und Rücksichtnahme auf. 54 Hier profiliert sich, wenn auch noch schematisiert und steif, das Muster der »bonne compagnie«, also einer Gruppe kulturell ambitionierter Privatleute, die sich wie in den französischen Salons im »Haus«, also einem auch der Frau zugänglichen, ja von ihr geprägten Raum versammeln. Das implizierte Distanz sowohl zur Sphäre der Akademie wie auch zum Exterieur politisch-repräsentativer Öffentlichkeit. Die Geschmacksbegriffe der »galanten Epoche«, also der Jahrzehnte von ca. 1680-1730, setzen diese Veränderung des Wirkungsbereichs und Bewährungssektors von Literatur und »Gelehrsamkeit« voraus. Vor der Instanz galanter Geselligkeit, in der die Regeln des politischen Prudentismus, zugleich damit die rhetorischen Konventionen des sozialen und situativen »Decorum« in den Bereich des Privaten transponiert werden, erscheint die Gelehrtenrepublik nicht zuletzt als ausgesprochene Männerkultur im Lichte einer schlechten und auf sich selbst zurückgeworfenen Exklusivität. Wann aber solches entretien nicht a la moderne accomodirt ist / so werden gewiß die D a m e n einen schlechten gusto darvon haben / und viel lieber Cavalliers discuriren hören / als Scholaren. Der Herr perdonire meiner libertet im Reden / ich will mich candide exponiren: D i e tratementi der Gespräch-Spiel sind nicht wenig mit der Schulfüxerey parfumiret, und bringen viel res sur le tapis, welche unter den Philosophis besser als unter den Damen können agitiret werden. 55

Mit diesem deutsch-welsch-lateinischen Sprachgemisch illustriert Harsdörffer selbst ex negativo sowohl das Programm seiner »verständigen Gesprächübung« als auch den Verzicht auf allein männliche Adressaten, d.h. den Willen zum Abstieg von der vermeintlichen Höhe akademischer Terminologie zugunsten einer auch den Frauen verständlichen Muttersprache. Der Durchbruch der humanistischscholastischen Sprachbarriere bedeutete einen erst in der Zukunft umfassend wirksamen Impuls zu einer »Laisierung« des Geschmacks. Die traditionell auch unausgesprochen immer vorausgesetzten Bewertungsmaßstäbe der humanistischakademischen Exerzitien (Kanon, Nachahmungs- bzw. Überbietungsideal, Anspielungshorizont und Theoriebezogenheit) gehen auf in einem von »natürlicher« Vernunft geprägten Urteilsvermögen, das sich vorläufig jedenfalls noch mit dem als schicklich Empfundenen identisch weiß. Für die »Weibs personen«, »von Jugend auf zu den Künsten und Wissenschaften nicht angehalten / auch wegen ihrer Blödigkeit deroselben fast unfähig geachtet«, bedeutete der Ansprucch auf Rezeption muttersprachlicher Poesie sowohl Befreiung aus dem Lektüregetto von 54 55

Dazu R. Zeller (1974), S. 61f. GSp, II. Teil, Nr. LIV, S. 53f.; die Rücksicht auf die Frauen gehört zum Normkomplex der »Höflichkeit«: dazu GSp, Teil I, Nr. XLVIII, S. 296: auch hier die Polarisierung von Schule und Hof: »Warum sind die Gelehrten selten höflich? - Dieweils sie selten nach Hof kommen / sondern vielmehr Bücher durchlesen als Bügel verreissen.« R. Zeller (1974) verweist auf die analogen Konventionen der französischen Salonkultur (S. 64ff.: »Der Gelehrte und der Pedant«),

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B e t - u n d Erbauungsliteratur als auch unleugbare K o n s e q u e n z einer intellektuellen B e f ä h i g u n g , die sich in der »politischen«, d . h . rationalen V e r w a l t u n g des H a u s e s b e w i e s e n hatte: Solte man nun auch des Lesens der ergetzlichen Lustgedichte uns berauben / würden wir gewiß aller Weltlichen Händel / Wolredenheit / Höflichkeit / und Gemühts= Belustigung entnommen / unsere angeborne Einfalt noch in viel grössern Schimpff und Spott setzt [sie!] / da uns doch zu Regierung deß Hauswesens nicht weniger Verstand / so durch das Lesen ausgeschärffet wird / vonnöhten als denen / welchen Land und Leute zu beherrschen obliget. 56

4) Ernst und Scherz der Satire: J.B. Schupp - J. M. Moscherosch J o h a n n Balthasar S c h u p p ( 1 6 1 0 - 1 6 6 1 ) ist bereits mehrfach im Z u s a m m e n h a n g deklamatorischer Zeitkritik ins Blickfeld gerückt. Ein k o m p r o m i ß l o s e s Eintreten u n d in der Art d e s E n g a g e m e n t s unerhörtes Plädoyer für e i n e R e f o r m d e s d e u t s c h e n Schul- und Universitätswesens im Sinne eines »bürgerlichen Realismus« durchzieht fast das G e s a m t w e r k . 5 7 Mit Harsdörffer, der ihn mehrfach zitiert, verband ihn die Einsicht in die Rückständigkeit der deutschen Gelehrtenerziehung. Schupps T h e s e , »es sey nicht alle Weißheit an Universitäten g e b u n d e n « und der daraus abgeleitete »treuliche« Rat, sich »nicht lang auff T e u t s c h e n Universitäten« a u f z u h a l t e n , 5 8 z o g ihm d e n Z o r n von K o l l e g e n zu, ausgedrückt in der G e g e n s c h r i f t e i n e s g e w i s s e n Magister Bernhard Schmid »Discursus d e reputatione

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GSp: I. Teil, Nr. XLVII, S. 281f. Vgl. Klaus Schaller: Johann Balthasar Schupp: Muttersprache und realistische Bildung, in: A . Schöne (Hg.), Barock-Symposion 1974, S. 198-209: dort auch die weiterführende Literatur und die Bezüge zu Ratke und Comenius. In »Freund in der Noth« (Erstdruck 1657; ed. W. Braune, 1878, S. 59: »Ich rahte dir Treulich, daß du dich nicht lang auf Teutschen Universitäten aufhaltest, sondern wann du gute fundamenta in Theologia und Philosophia gelegt hast, so begebe dich an einen vornehmen Fürstl. oder Gräfl. Hof, informire ein paar junge Herren ( . . . ) Docendo diseimus. Wer nicht ein wenig bey Hof gewesen ist, der kennet die Welt nicht recht. Ein vornehmer Fürstl. oder Gräfl. Hof, ist eine hohe Schule, darin man grosse Tugenden und grosse Laster lernen kan. Ich hab allzeit viel gehalten von den Leuten, welche nicht in pulvere Scholastico, sondern in actione, und unter hohen Stands-Personen sind aufgewachsen, gleich wie Erasmus Roterodamus, Julius Caesar Scaliger, Johannes Barclajus, und andere.« In der Sache so auch bereits in der Marburger Rede »De opinio« (deutsch: »Von der Einbildung«, Schriften 1663, S. 538; vgl. dort die Apologie S. 800) sowie in dem reformpädagogischen Traktat »Der Teutsche Lehrmeister« (Erstdruck 1667), ed. P. Stötzner, 1891, S. 38: »Die Frantzosen und Italiäner lehren und lernen alle Facultäten und freyen Künste in ihrer Muttersprache«. Im »Freund in der Noth« (ed. 1878), S. 56, übrigens auch ein Beleg für Schupps Respekt vor Harsdörffer in der gemeinsamen Front gegen den Scholastizismus: » . . . Wann du von deiner ordentlichen Arbeit müde bist, so suche deine recreation in rebus honestis [ . . . ] darzu der Sinnreiche und Arbeitsame Harsdörffer, gute Anleitung gibt, welchem du einmal in meinem Namen aufwarten, und sagen solt, daß er mit seinem Spielen mehr ausgerichtet hab. als ein gantz Regiment Pedanten und Schuelfüchs mit ihrem Arbeiten, Schlagen und Plagen.« 393

Académica«. Schupps ausführliche und scharfe Apologien 59 wie auch seine anderen Traktate lassen keinen Zweifel daran, daß er neben der Rede (oratio) vor allem praktische »Vernunft« (nicht mehr nur identisch mit Logik und Syllogistik) und »Erfahrung« 60 als entscheidende Kriterien einer weltzugewandten Erziehung ansah. Das Lesen im »grossen Weltbuch« bedeutete ihm - bemerkenswert die Verzahnung von Akkomodations-Postulat und »antihöfischer« Wendung - , »an grosser Herren Höfen leben / und täglich sehen was in Politicis für ein Unterscheid sey inter Theoriam & Praxin«61, grundsätzlich aber eine Distanz zum aristotelischen System,62 ja eine provokante Befragung der akademischen - später als Pastor und Prediger in Hamburg - , vor allem auch der kirchlichen Wirklichkeit. Daß Schupp mit unbestechlichem Blick reales Unbehagen ausspricht, macht ihn dennoch nicht zu einem »Modernen«; die Schwierigkeiten, die im literarischen Umkreis in vieler Beziehung beispiellose Position des Mannes zu bestimmen, ergibt sich bei einem Blick auf Thematik, Form und Stilcharakter seines deklamatorischen und satirischen Schrifttums. Schupp greift bis hin zu grobianischen Tönen auf literarische Muster und Sprachformen der reformatorischen Epoche zurück. Nicht umsonst hat man ihm das unziemliche Einflechten volkstümlicher Ausdrucksmuster (Fabel, Schwank, »Volksbuch«) vorgeworfen: Schupp wußte sich hier mit dem Hinweis auf Bibel und reformatorische Predigtpraxis zu wehren. 63 Seiner Mentalität und seinem Anliegen nach gehört er zweifellos etwa wie Andreä und Meyfart zur lutherischen Reformorthodoxie. Seine Weltoffenheit, die sich den Realitäten und Zeitproblemen voll aufschließt, statt sie allzubald mit Trost-Strategien (z. B. der vanitas-Topik) zuzudecken, wird aus älteren humanistischen Quellen gespeist. Es ist symptomatisch für den Verfasser des »Teutschen Lucianus«, daß er sowohl seine geistigen Gegner als auch die Symptome des erstarrten Akademismus immer wieder mit den Waffen des Erasmus von Rotter-

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Schrifften 1663, S. 785-807; dort S. 788: »Wann ich einen Ertz-Pedanten beschreiben wolte / so wolte ich diesen M. Bernd vor mich nemmen.« Beginn seiner Rede »De Oratore inepto« in deutscher Übersetzung v. B. Kindermann, Schrifften 1663, S. 848: »Die Vernunfft ists / welche die Menschen von dem unvernünfftigen Vieh unterscheidet. Der Gebrauch der Vernunfft macht kluge Leute.« Der polemische Erfahrungsbegriff recht deutlich an einer Stelle seiner »Antwort auff M. Bernh. Schmids Diseurs« (Schrifften, S. 802): »Wann ich das Studenten Leben beschreiben / und nur sagen wolt / was ich selbst als ein Student und Professor gesehen und gehört hab / so wolt ich es beschreiben / wie der edle Hofmann Comeniaeus (der nicht darnach gefragt hat / ob alle Desinentia in A generis Feminini seyen). Den Lauff seiner Zeiten beschrieben hat / nicht aus Büchern / sondern aus Erfahrung«. Aus dem »Regenten=Spiegel«, Schrifften 1663, S. 9/10. Vgl. z.B. das ironische Referat des Streits zwischen Aristotelikern und Anhängern des Ramus: Schrifften 1663, S. 535 (in: »Von der Einbildung«). »Fabul=Hans«, in: Schrifften 1663, S. 824ff., u.a. S. 840: »Es last sich aber ansehen / als sey es in der Kirchen ein alter löblicher Brauch gewesen / die hohen Articul unsers Christlichen Glaubens den einfältigen Leuten in feinen lustigen Historien und Bildern zuerklären / und für zustellen.«

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dam und der »Epistolae obscurorum virorum« bekämpft. 6 4 In seiner berühmten Rede über den »Orator ineptus« - sie war bereits zu erwähnen - zieht er selbst alle Register der Rhetorik, um den Rhetorizismus als Moment der »Unwissenheit jetziger Zeit« zu entlarven. 65 Diese Rede, die in ihrer grundsätzlichen Perspektive und radikalen Distanz ihresgleichen im 17. Jahrhundert sucht, verharrt trotz der Summierung tiefsitzenden Unbehagens in einer Erasmisch-ironischen Haltung und gibt sich paradoxerweise als Verteidigung eben dessen, was kritisch gemeint ist. Die rhetorische Technik der ironisch-fingierten Rede transportiert Kritik und Apologie zugleich, letztere als Durchschein des noch in den Symptomen der Entartung präsenten und zugleich unangetastet bleibenden Telos der von Aristoteles, Cicero und Quintilian gedachten »wolredenheit« als »Werckzeug der gantzen Weltweisheit / aller Künste und Wissenschaften«. 66 Eine Interpretation dieses bedeutsamen Textes ist hier nicht zu leisten, zumal eine greifbare Neuedition nicht vorliegt. Es geht nur darum, den oszillierenden Charakter der von Schupp literarisch fixierten Position zu erkennen. Die Rückwärtsbezogenheit auf die bürgerliche Epoche eines reformatorischen Humanismus macht Schupp zugleich zum Vorläufer bürgerlicher Aufklärung. An zwei Punkten, die den Kampf gegen den »Pedantismus« der Epoche unmittelbar betreffen, läßt sich dies, damit auch zugleich Verschiebungen der Position im Vergleich zu Harsdörffer nachweisen. Schupp wendet sich wie vor ihm Andreä und wie gleichzeitig Harsdörffer gegen die »Tyrannis« akademischer Latinität: dabei hält er sich aber im Gegensatz zu den Theoretikern der Sprachgesellschaften von einer Suche nach der Ur- und Heldensprache, auch von einem Streben nach »kunstrichtiger« Idealität weitgehend frei. Nicht in der »Würde« der Muttersprache und ihrer »Reinheit« das soziale und internationale Ansehen, also die »Reputation« ihrer Sprecher zu repräsentieren wird verlangt, sondern jener »usus«, jener »Nutzen« ins Feld geführt, der mit der Pflege der Muttersprache zugleich den unteren Schichten zugute kommt. Die Position Schupps wird also nicht so sehr durch den vielzitierten Satz markiert, den auch Barockgelehrte neben ihm unterschrieben haben, die Proklamation nämlich, daß »Keine Sprache an eine Facultet gebunden / auch keine Facultet an die Sprache«, sondern durch einen dieser Stelle vorhergehenden Passus, der in der Übersetzung durch Kindermann bis ins Einzelne hinein die geistige und verbale Radikalität der Reformationsepoche aufscheinen läßt: Die Lateinische Sprache ist nicht zu verwerffen noch zu verachten. Gleichwol ist es nicht der geringsten Thorheit heut zu Tage eine / daß umb ein Wort zwey oder drey Latein halber zum öfftern die allerungeschicktesten und gottlosesten Pfaffen einer Gemeine gleichsam uffgedrungen und uffgezwungen werden / wie auch bey den Regierungen / und wird ihnen auß keiner andern Ursachen die Kirche und Regierung anvertrauet / als daß sie ein wenig Latein zu wege samlen können / da andere ehrliche und verständige Leute

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65 66

Eine Zusammenstellung der literarischen Quellen sowohl in der Dissertation von W. W. Zschau (Halle 1906) wie auch in den Aufsätzen von G. Vogt (Euphorion 1909 und 1914) zeigt Schupps große Belesenheit sowohl im antiken wie humanistischen Schrifttum. Schrifften 1663, S. 848. Ibid. S. 859.

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anstehen müssen / darum weil sie nicht wissen / daß Grammatica eine Kunst seye / welches jene gute Magd wußte und meynete / sie hätte eine grosse Kunst / weil sie S.V. einen grossen Arsch hatte. Aesopus hatte nur seine Gärtners Hacke in der Hand? und lernete dadurch / in dem er gleichsam andere Sachen thäte / mehr als solche Beani auß jhren Büchern / welche sie von Staub und Schimmel uberwachsen / des Jahrs nur einmal ansehen. Wenn der Witz in der Lateinischen Sprache bestehet / wäre es genug gewesen / wenn uns Christus die Lateinische Grammatic als daß er das Evangelium hinterlassen.67 Hier wird in Kategorien von - sozialen - Ursachen und Folgen argumentiert, die Wirkung eines lateinischen Monopolismus in Kirche und Politik offen als Repression bezeichnet. D e m widerspricht nicht, daß auch Schupp immer wieder die muttersprachliche Kultur Westeuropas zitiert, allerdings mit einem Zungenschlag, der das »Engagement« für den Nutzen des »gemeinen Mannes« nicht verhehlt. A n die Adresse der »halbgelehrten Tiere« heutzutage gerichtet, verweist er nicht nur auf das »ReligionsWerck« der »vorigen Secula«, also auf die Reformation, sondern auf die »wolbestallten« Schulen des Auslandes, die Blüte der Niederlande: daß in allen Wissenschafften / auch unter den gemeinen Handwerckern / die allergeschickteste gefunden werden / das der / so mit jhnen umbgehet /sich schämen muß / zu gedencken daß er studiret habe. Wenn aber die Handgewerbe wol floriren und im Schwange gehen / so muß denn auch das gemeine Wesen in gutem Auffnehmen seyn / und das Geld von andern Orten herbey gebracht werden.68 D i e merkantilistische Perspektive des Schlußsatzes ist ausgesprochen oder implizit auch in der »à-la-mode-Kritik« und Spracharbeit eines Harsdörffer, eines Moscherosch und anderer präsent. Sich von Handwerkern beschämen zu lassen, dürfte ihnen kaum in den Sinn gekommen sein. Die bürgerliche Geisteshaltung Schupps zeigt sich nicht nur hier, sondern auch in der Betonung ausgesprochen ökonomischer Aspekte fürstlicher Herrschaft: Kritik wird nicht am Hof als Macht- und Zentralinstanz geübt, sondern an der Unfähigkeit bzw. an dem mangelnden Willen, in der solide-kaufmännischen Kalkulation von Soll und Haben zu wirtschaften. Daß Schupp von den Verhältnissen in den Niederlanden beeindruckt war, die er als junger Mann kennengelernt hatte, läßt sich belegen und markiert einen bedeutsamen geistigen und sozialen Bezugspunkt. 69 Man könnte einwenden, daß in den erwähnten Passagen nur in 67 68 69

Ibid. S. 537 (in: »Von der Einbildung«), Ibid. S. 538. Vgl. »Regentenspiegel« (Schrifften 1663, S. 26ff., Cap. IV): »Die alten Schulden bezahlen wir nicht / und die neue lassen wir alt werden / kombt jemand in Person zu uns / der Schuld fordern will / so muß unser Hoffmeister seiner alten Gurgel zusprechen / und muß den Creditoren Tag und Nacht voll saufen / und ihn allezeit Weingrün halten / biß er gantz abgemattet worden / sich besorget / er möge todt gesoffen werden / und Gott danckt / wann er mit gnädigen Complementen mit etwa einem Hasen oder einer Rehkeul dimittiert, und ihm ein Trompeter zugegeben wird / der ihn wider sicher nach Hauß geleitet / und seiner Frauen sagt / was für grosse Gnaden ihrem Hertzliebsten bey Hofe begegnet sey« (ein Beispiel für Schupps schwankhaftes Erzählen selbst in einem Fürstenspiegel: das Motiv findet sich auch sonst); Hofkritik ist vor allem kalkulierender Widerstand gegen aufgeblähte Verwaltung udn Höflingswirtschaft (26f.: »... es sey vier Wochen nicht über ein Reichsthaler in der RentCammer gewesen. Unterdessen sind der CammerRath / der

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rhetorischer Unverbindlichkeit A r g u m e n t e präsentiert w e r d e n . D o c h Schupps V e r t e i d i g u n g g e g e n die A u s f ä l l e d e s b e s a g t e n Magisters Bernhard Schmidt, in d e n e n der A u t o r als Person greifbar wird, bestätigen die G e s a m t t e n d e n z der D e k l a m a t i o n e n und Satiren. A l s A n t w o r t auf die Verteidigung der a k a d e m i s c h e n » R e p u t a t i o n « denkt sich Schupp an die Stelle e i n e s Universitätsreformers mit d e m R e i c h t u m »Kayser Carls« und b e k e n n t : Dem Mathematico wolt ich dreytausend Reichst, geben / damit er diese scientias (gemeint die der oberen Fakultäten, zugleich der durch die »Scholastiker« verdorbene Aristoteles - W. K.) also excolire, in Deutscher Sprach / daß alle Handwercks-Leut dieselbe lernen / und ihre Handwerck dadurch perfectioniren können. Dem Physico wolt ich auch drey Tausend Reichst, geben / daß er gedächte / ich will die Physic also excoliren, daß die Bauern mehr von mir lernen können / als die gelahrte aus des Aristoteles Physic bisher gelernet haben. 7 0 W e n n sich Schupp auch in seiner Kritik d e s Pedantismus ähnlich w i e die politischen T h e o r e t i k e r der Zeit - ich erinnere an B e s o l d u s - auf die Praxis d e s gesellschaftlichen L e b e n s und der staatlichen Ordnung beruft, opponiert er g e g e n d e n A k a d e m i s m u s der humanistischen Tradition, j e d o c h nicht wie j e n e aus der Perspektive d e s politischen S y s t e m d e n k e n s , im G e g e n t e i l . In s e i n e m » S a l o m o O d e r Regenten=Spiegel« (zuerst 1657), geschrieben als Fürstenlehre und Staatstraktat im G e f o l g e der »Biblischen Policey« d e s Dietrich Reinkingk (1653), wird in

der

ungebrochenen

Vehemenz

eines

biblizistisch-christlichen

Rigorismus

gerade g e g e n die »Pedanterey« der akademischen »Politik« Front gemacht: Es ist Pedanterey / daß man auff Universitäten viel disputirens macht auß dem Aristotele, de Virtutibus & Vitiis... Es ist Pedanterey / daß man auff Universitäten grosse Disputationes políticas hält / und disputirt, an Monarchia sit praeferenda Aristocratiae? An foeminae sint capaces imperii? und was dergleichen Ding mehr sind. Wan die gantze Academia Oxoniensis & Cantabrigiensis würden nach London kommen / und würden alle jhre Scalas Praedicamentales anwerffen und Sturm lauffen / so würden sie doch nicht Meister in Londen werden / oder deß Protectors resolution (gemeint ist Cromwell W. K.) ändern / sondern er würde sagen / jhr Herren magistri nostri, nostrique Magistri, Ich hab da funfftzig tausend Scholarn, welche Mußqueten tragen ( . . . ) die sollen euch auff eure Syllogismos ( . . . ) genugsam antworten ( . . . ) Es ist Pedanterey daß man auff den Universitäten grosse Disputationes Oeconomicas hält / und auß dem Aristotele disputiret / wie eine glückselige Haußhaltung anzustellen sey / und wie man einen grossen Herren reich machen solle. Wie ein jeglicher sein Ampt in einer ordentlichen wolbestalten

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CammerSchreiber und Schreibers Schreiber so viel / daß sie in vier Wochen nicht einen / sondern so viel Reichsthaler zu ihrer Besoldung einnehmen«); Schupp empfiehlt dem Fürsten einen Kaufmann zum Ökonomen zu nehmen (S. 29: » . . . wann sie ehrlich tractiret werden / können sie nicht allein einem Herrn helffen / sondern auch sich selbst...«); in diesem Zusammenhang die Polemik gegen die »gelahrte Leute / Doctores oder Licentiatis Iuris. Allein ich habe auß Erfahrung gelernet / daß man mit Syllogismis in Barbara & Celarent, in Darapti & Felapton, und mit allen titulis & regulis Iuris, keinem Herrn ein Wechsel auff Amsterdam oder Venedig machen / oder etwas auff die Tafel schaffen könne«: Schupp war 1646-49 Konsistorialrat des Landgrafen von HessenBrauchbach; sein Aufenthalt in Holland fällt in die Jahre 1634/35: vgl. Bischoff, Schupp, 11 ff. Schrifften 1663, S. 801 (in: »Antwort auf M. Bernh. Schmids Diseurs«).

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Haußhaltung thun solle / das kann man besser lernen auß der Haußtafel im Catechismo / als auß dem Aristotele oder Piatone. 71

Schupp sieht im »Machiavellistischen Ratio Status« »nichts anders als inversus Decalogus«: unter diesem Blickwinkel erscheint selbst Seneca als »greulicher Schulfuchs«. 72 Typisch für Schupp ist das geschärfte Problembewußtsein, gepaart mit einem dezidiert bürgerlichen Standpunkt, der auch in den Politikern - man denke an das obige Zitat im Zusammenhang der Problematik der Muttersprache letztlich zugleich machtlose wie innerlich gefährdete, ja potentiell gefährliche Theoretiker und Agenten des Absolutismus erblickt. Wenn Schupp wie die Tyrannen bei Moscherosch sich gleichermaßen gegen die Platonischen Bilder der Herrschaft wie gegen den Pedantismus der akademischen »Politik« wendet, schärft der Vergleich des jeweiligen Kontextes den Blick dafür, daß das Schlagwort in jeweils total entgegengesetztem, wenn auch auf die gleiche Gruppe bezogenem Sinne gebraucht ist. War dort der akademische »Pedantismus« als ein moralistisches Theoretisieren und demgemäß Hindernis realitäts- und machtbezogener Interessenpolitik anvisiert, erscheint bei Schupp das Schulfüchsige der Theorie im Zwielicht lächerlicher Machtlosigkeit und fehlender - weil nicht religiös zentrierter - personaler Verbindlichkeit. Moscheroschs »Gesichte Philanders von Sittewalt« bieten ein kompendiöses, facettenreiches Bild der Epoche, ein Arsenal satirisch-didaktisch eingefärbter und polyhistorisch kompilierter Referate und Darstellungen verschiedener und durchaus widersprüchlicher Tendenzen und Argumentationssysteme. Während in der »Hoff-Schule« (vgl. oben Kap. II 3 c ) das Pedantische des bürgerlichen Gelehrten in seiner latenten Opposition zu den Anpassungszwängen des Hofes gezeigt wurde, tritt im zweiten »Gesicht« des 1643 erschienen zweiten Teils (»Hanß hienüber - Ganß herüber«) zum ersten Mal in der deutschen Literatur der Pedant als fiktionale Gestalt im epischen Zusammenhang auf. 73 E r heißt Laelius. Moscherosch knüpft in seinem »Gesicht« an die Ciceronianismus-Diskussion der europäischen Spätrenaissance an. Die Rede des mythischen, aus Cäsar übernommenen »Airovest« reproduziert zwar noch die Apologetik der späthumanistischen Moderne (Lipsius, Barclaius, Heinsius), wendet den Gedanken jedoch in einen kulturpatriotischen Zusammenhang mit zeitkritischer Spitze: »Es ist nicht mehr umb die Zeit / das Caesar die Welt mit dem Schwerdt und du (Cicero - W. K . ) mit

71 72 73

Schrifften 1663, S. 5f. Ibid. S. 529. Zitiert nach dem photomech. Nachdruck, Hildesheim 1974, hier S. 186ff. - Nicht auszuschließen, daß sich Moscherosch durch entsprechende Figuren der französischen Epik hat anregen lassen. In Frage kämen hier besonders die Gestaltung des überstudierten Phantasten Collinet sowie des Schulmeisters Hortensius bei Charles Sorel: Histoire Comique de Francion, ed. A . Adam. Paris 1958, etwa 183ff., 252ff. u . ö . ; vgl. auch die deutsche Übersetzung von Christine Hoeppner (1968). Weitere Hinweise im Kontext bei M. Nicolet: La Condition de l'homme de lettres au XVII e siècle a travers l'œuvre de deux contemporains: Ch. Sorel et A. Furetière, in: Revue d'Histoire Litt, de la France 63 (1963), 369-393.

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der Zungen bezwingen werdest«. 74 Das Pathos des Sprechers ist nicht nur korrekte Ethopoiie des Cäsargegners: wenn er dem lateinischen Rom die Schuld am deutschen Niedergange zuschiebt, ist Aktuelles präsent. Die vulgärhumanistische Argumentation (»Deine Bücher waren new / als du sie schriebest.. ,«75) mündet in den Zusammenhang des nationalen Anliegens. Nicht Cicero soll getroffen werden - er wendet schaudernd sein Haupt vor dem angeblichen Ebenbild -, 7 6 sondern die Konsequenzen gelehrter Standeskultur und muttersprachlicher Expatriierung. Laelius ist typologisch-synthetisiertes Zerrbild - »ein Alter verlägener Academicus« -, 7 7 aber doch Demonstrationsfigur sozialer Deformation und kommunikativer Entfremdung. Er ist - ausdrücklich - nicht nur lächerliches Vexierobjekt der von Moscherosch inszenierten Geselligkeit, sondern wegen seines Hochmuts, also als Exempel ständischer Separation, ein Ärgernis. 78 Laelius ist in der deutschen Literatur der erste »Sprachnarr« des ausgesprochen pedantesken Typus. Dies bezeugt seine Eingangseröffnung: Per Deum atque hominum fidem ( . . . ) Ich habe eine harte Reyse gethane / aber durch Kraffte der lepidissimae doctrinae de modalibus mich underweges im optima forma in mire selbsten refocillirende: wz ist doch über einen Manne der so feine studirete hat: was wolte sich einer sterblicher Mensche für Unsterblikeite chauff (sie!) der Erden sonst wündschende. 79

Laelius verstößt hier wie im folgenden nicht nur gegen elementare Regeln des Umgangs, er wird vor allem gemessen an seiner praktischen Unfähigkeit in der Muttersprache. Diese Unfähigkeit beweist sich auch im deutsch-französischen Sprachgemisch. Mit der lateinischen Sprache - es geht auch hier keineswegs um einen Angriff gegen die Mehrsprachigkeit an sich - sind zugleich Elemente des kohärenten und terminologisch präsenten Wissenssystems getroffen: metaphysische Spitzfindigkeiten (d. h. die Aristotelische Syllogistik), humanistischer Musenkult. Laelius wird in einer Rauferei verletzt und damit symbolisch bestraft: die Freiheit von Autor und Leser, reales Ärgernis im Lustgefühl komischer Degradation zugleich aufzurufen und unschädlich zu machen. Moscherosch hat den Laelius-Typus im selben »Gesicht« verdoppelt. Als Pendant tritt »Mutius Jungfisch« auf, der sich bei Airovest um einen Dienst bewirbt (»Secretariatsstelle« bei einer nach Persien gehenden »Fürstlichen Bottschafft«): ein niedriges Amt der Verwaltungshierarchie also, doch zur Sphäre »politischer« Praxis gehörig, welche die Gegenwelt zum Traditionsraum der Gelehrtenschule bildet. Der Kandidat wird von Expertus Robertus examiniert, freilich auf eine komische Weise, die gerade die abgefragten Qualifikationen als sinnlos entlarvt: Ob Ob Ob Ob

74 75

S. 194. S. 196.

er er er er

nemlich wäre deponiret worden? nicht den Priscianus gelesen? nicht noch einen Milch-Zahn vom M. T. Cicero habe? nicht dessen Orationes ad unguem recitiren könne?

76 77

Ibid. S. 200. S. 198.

78

79

S. 201. 198.

s.

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Ob er nicht den Hut abziehe / wan man den nach Gott Heyligsten Mann Aristoteles nenne? Ob er auch den Schimpff und Ernst / den Rollwagen gelesen? 80

Cicero, Aristoteles und die »Volksbücher«: in Anbetracht konkreter beruflicher Perspektiven und praktischer Sicherungs- und Aufstiegschancen rücken alle drei Autoren in die Ecke des Unerheblichen. Der satirische Autorenkanon zwingt undenkbar Auseinanderliegendes zusammen und signalisiert als Gemeinsames die Proletarisierung und Abstiegsbedrohung des humanistisch-akademischen Magisteriums in jene hier literarisch symbolisierte Zone, welche die Leser der alten »Volksbücher« einnehmen. Gewiß zeigt sich Mutius Jungfisch als Halbgelehrter und Tölpel - wie an anderen Stellen wirken auch hier Zincgrefs »Facetiae Pennalium« hinein - , doch dieser Einbezug einer direkte Systemkritik abschwächenden Polemik »ad personam« legt doch genügend Merkmale frei, die Elemente des Systems schlechthin lächerlich machen: Poesie als scholastische Disziplin, Philologie als Wortkrämertum statt Bemühen um »Verstand der Wort« und »Zweck« des Poeten - also den Verlust der historischen Urteilskraft, Duckmäusertum und knechtische Gesinnung,81 Provinzialismus. Der von Moscherosch satirisch in Szene gesetzte Fragekatalog schließt sich strukturell an satirische Techniken an, die seit der Renaissance in Form der komischen Bücherkataloge, der Quisquiliensammlung und komischen Quaestionenliste bereitlagen. Diese literarische Einordnung darf nicht übersehen machen, daß im Erzählmuster der Satire der Typus einer Alltagssituation präsent ist, welche einen Großteil der Literaten und akademisch Gebildeten immer von neuem hautnah berührte: das Suchen nach einer »Bedienung«, nach einem Dienst bei Hofe oder in der Verwaltung. Der satirische Impuls wie auch jene Erfahrung, die dabei als Bezugsmodell Leser und Autor präsent bleibt, erwächst aus der in dieser Situation praktisch erlebbaren Überständigkeit eines akademischen Humanismus im Horizont des »politischen« Bürgertums. Bis in die Satire des 18. Jahrhunderts wird sich das hier von Moscherosch verwendete satirische Erzählmodell bewähren.

5) Der Pedant in der Komödie: Zur ästhetischen Vermittlung sozialer Normen in Andreas Gryphius' »Horribilicribrifax« Die Komödie ist in der Poetik des 17. Jahrhunderts weniger durch einen gattungsspezifischen Wirkungseffekt als durch einen festen Gegenstandsbereich bestimmt. Nur indirekt - weniger jedenfalls als in der Theorie des Trauerspiels - werden die psychologischen Zusammenhänge von Komik und Lachen, die emotionale Reak80 81

Ibid. S. 243; vgl. dort zum folgenden bis S. 248. S. 247: »Ob er es leyden könne / wan jhn seine Oberen mit Worten straffen; oder / ob er es nicht leyden könne? Ob er Creutz und Ellend erfahren? gelernet Hunger / Hitz / Frost / Durst unnd ander Ungemach leyden / Gefahr / Noth und jammer außstehen? . . . «

400

tion d e s Z u s c h a u e r s auf eine als lächerlich dargestellte Wirklichkeit bedacht. V i e l m e h r ist das K o m i s c h e bereits als vorliterarisch präjudizierte,

objektive

Qualität j e n e m Ausschnitt sozialer Realität z u g e o r d n e t , der allein d e m L a c h e n p r e i s g e g e b e n w e r d e n darf: der W e l t d e s g e m e i n e n L e b e n s bzw. in ständischer Präzisierung der W e l t der niedrigen, allenfalls mittleren P e r s o n e n . K o m ö d i e ist K o m p l e m e n t d e s Trauerspiels, hat »solche Sachen« abzubilden, »die täglich vnter g e m e i n e n L e u t e n vorlauffen«. 8 2 D i e in der Hierarchie der G a t t u n g e n zu beacht e n d e R a n g - und W e r t o r d n u n g der sozialen Wirklichkeit, d . h . die Rücksicht auf die dort g e l t e n d e n i d e o l o g i s c h e n A x i o m e der Statusverteilung b e d i n g e n die im R a h m e n der » d e c o r u m « - T h e o r i e formulierten Vorschriften der sprachlichen Charakterisierung und g a t t u n g s e i g e n e n Stilebene. D a s ebenfalls v o m G e s e t z der G a t t u n g her geforderte gute E n d e der K o m ö d i e , zu verstehen als a n g e b o t e n e L ö s u n g der im Spiel ausgetragenen Widersprüche, 8 3 gewinnt Verbindlichkeit und

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M. Opitz, Buch v . d . Deutschen Poeterey, Cap. V, S. D 2b; vgl. Harsdörffer Poet. Trichter. II. Theil, 11. Stunde, S. 71: die Aufteilung von drei dramat. Gattungen auf die drei Hauptstände, dabei »Die Freudenspiele / so deß gemeinen Burgermanns Leben außbilden«; dazu die Erläuterungen ibid. 96f.; eine ausführliche, historisch untermauerte Poetik der Komödie erst bei Albrecht Christian Roth: Vollständige Deutsche Poesie (1688), S. 75ff. ; Abdruck des Kapitels bei M. Syzrocki (Hg.): Poetik des Barock, S. 197ff. Rotth definiert die Kom. als ein »Handelungs Gedichte / in welchen der Poet von gemeinem bürgerlichen Leben etwas entlehnet hat / welches er auf eine lächerliche Arth vor den Augen der Zuschauer von den Personen / von denen es entlehnet ist / last vornehmen und ausführen / daß dem Volcke die Fehler des Menschlichen Lebens möchten gezeiget und sie auff kurtzweilige Arth gebeßert werden.« Die lat. Theorie hat die Komödie schon seit der Rezeption der Aristotelischen Poetik ausführlich behandelt: die dort (Kap. 5) zugewiesene »Nachahmung von Gemeinerem« wird dabei ständisch qualifiziert und nach Maßgabe der in der Rhetorik entwickelten Decorum-Vorschriften erläutert. Vgl. dazu ausführlich Sinemus (1978) 27ff. (»ständischer Legitimismus als Wirkungsvoraussetzung«): ferner M. T. Herrick: Comic Theory in the 16. Century. Urbana/Illinois, 2. Aufl. 1964; Karl Holl: Zur Geschichte der Lustspieltheorie. Berlin 1901; spez. zur Gattungstheorie Scaligere, der die Komödie nach »personarum condicio, fortunarum negotiorumque qualitae, exitus, stilus« ständisch genau bestimmt (niedriges Milieu, heiteres Ende, volkstümliche Diktion - ) ; s. auch Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, spez. S. 210f. - Die Diskussion des Komischen im Hinblick auf Wirkungsmomente hatte ihren Ort nicht in der Gattungstheorie, sondern in der Rhetorik, spez. in der schon bei Cicero und Quintilian vorgetragenen Theorie des Witzes sowie in der Ethos-Lehre und Affekttheorie. Von hier aus wäre durchaus eine barocke affektpsychologische Theorie des Lachens zu entwickeln: vgl. exemplarisch O. Casmannus, Nucleus Mysteriorum Naturae, 1605, bes. Lib. II, cap. XXIX: De Facúltate Loquendi Et Ridendi«. Dort S. 324 die Definition: »Risus est motus ab anima rationali cum sentiente conjuncta ortus, ideoque homini proprius...«. D a ß Komik in der ästhetischen Verarbeitung von Widersprüchen besteht, die als Diskrepanzen oder Kontraste in Erscheinung treten, ist so gut wie von allen Theoretikern formuliert worden: gegenüber einer nur idealistischen Klassifizierung dieser Widersprüche (Häßlich-Schönes, Nichtiges-Erhabenes, Sein-Schein, Unsinn-Verstand, GestaltIdee usw.) hat L. Borew mit Recht darauf hingewiesen, daß das Komische in der Kunst durch die Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit erzeugt werde (spez. S. 99). Für ihn wie für Georgina Baum (»Charakter und Inhalt des Komischen...«) ist der komische Konflikt Ausdruck für die Widersprüche der objektiven gesellschaftlichen 401

didaktischen Wert gerade in dem Maße, wie epochale, aktuell gültige Ordnungspostulate erfüllt werden. Komödie ist zwar, wie immer wieder gesagt, »Spiegel« des Lebens, 8 4 aber die scheinbar realistisch-schildernden Einzelzüge der Darstellung stehen in einem funktionalen Zusammenhang, in dem durch kontextuelle Zuordnung im Fiktionsraum der Bühne ein Wertsystem transparent wird, an dem sich Normerfüllung und Normverstoß ablesen lassen. Die Art dieses Wertsystems, das nicht begrifflich expliziert wird, sondern in die dramatische Gestaltung eingeht, setzt die jeweils akzeptierten gesellschaftlichen Normerwartungen voraus. Diese bilden ja den Beurteilungsrahmen für die Bewertung von Handlungen im Stück. 85 Die in der Zeit vieldiskutierte Frage, ob und wieweit Komödien von der Obrigkeit zuzulassen seien, entzündete sich ja immer wieder an der Praxis der Wanderbühnen, die sich in der Darbietung exzentrischer Elementarkomik und »unnützer« Lustbarkeiten einen Freiraum des Lächerlichen erhielten, der sich dem gesellschaftlich-pädagogischen Auftrag des Regeldramas entzog. Wirklichkeit. In Anlehnung an Marx' berühmte Definition (»Die letzte Phase einer weltgeschichtl. Gestalt ist die Komödie«) arbeitet Baum allerdings ein Wertungsschema heraus, daß den Komödiendichter einseitig auf die Parteinahme für das »Neue« im Sinne des historisch Fortschrittlichen verpflichtet. Generell zur Theorie des Komischen bietet umfassende Übersicht der von R. Grimm und K. L. Berghahn herausgegebene Sammelband: Wesen und Formen des Komischen im Drama. Darmstadt 1975, dort bes. die Aufsätze von Otto Rommel. Die neueren literatursoziologischen, literaturpsychologischen wie auch pragmatisch-semiotischen Ansätze einer Theoriebildung sind in eine Reihe von exemplarischen Studien eingegangen, die v. W. Preisendanz und R. Warning herausgegeben wurden: Das Komische. München 1976 (= Poetik und Hermeneutik VII). Ich werde an Ort und Stelle im einzelnen hierauf verweisen. 84 Cicero umschreibt in diesem Sinne die K. als »imitatio vitae, speculum consuetudinis, imago veritatis« (De rep. IV 11 § 13); so auch bei Erasmus (op. omn. 1528) und in der bis Chr. Weise reichenden Theorie des Schuldramas. Hier wirkt allerdings ein älterer, mittelalterlicher Begriff der »Comoedia« weiter, in dem das Drama als Widerspiegelung des menschlichen Lebens überhaupt gemeint ist. Diese »Abbildung« ist jedoch nie nur realistisch gedacht, sondern steht unter einem pädagogischen Auftrag. Nur in der Art kann die Erfahrung des Lebens auf die Bühne gebracht werden, daß zugleich die »Vermahnung« zum rechten Handeln eingebracht wird. Exemplarisch hat dieses Luther in seiner Empfehlung der Schulkomödie formuliert (s. Catholy, Das deutsche Lustspiel I, S. 83; Böckmann Formgeschichte, S. 294); Luthers Bestimmung hält sich in der Vorredenpoetik der Schulkomödie, vgl. etwa L. Hollonius, Somnium Vitae, (1605), ed. Dorothea Glodny-Wiercinski, Berlin 1970 (= Komedia 16), S. 16 sowie zahlreiche Äußerungen bei Weise. Dazu s. W. Schubert, Nachwort zu »Bäurischer Machiavellus«. Berlin 1966 (= Komedia 10), S. 107ff., sowie W. Rieck: Die Theorie des dt. Lustspiels in der Periode v. 1688 bis 1736, in: Wiss. Zts. der Päd. Hochschule Potsdam 9 (1965), S. 27-39. 85 Diese Zusammenhänge, durch die sich der historische Ort und der soziale Auftrag jedenfalls der älteren Komödie ablesen läßt, hat jetzt Mauser in den Vorüberlegungen seiner Interpretation von G. Hauptmanns »Biberpelz« formuliert (1975, S. 216ff.). Die relationale Qualität des Komischen (Wer lacht wann über wen und warum?) ist auch in der älteren Literatur immer wieder hervorgehoben worden, vgl. etwa H. Plessner, Lachen und Weinen, 3. Aufl. 1961, z. B. S. 117: »Was eine Gesellschaft komisch findet, worüber sie lacht, das wechselt im Lauf der Geschichte, weil es zum Wandel des Normenbewußtseins gehört.«

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Die Erkenntnis des Komischen einer realen oder fiktional reproduzierten Wirklichkeit, auch die besondere Eigenart des literarisch garantierten »happy end« ist zu allen Zeiten durch die komplexen Erwartungen und Voraussetzungen des Publikums bestimmt, auf das sich der Autor bezieht - es sei denn, der Autor isoliere sich absichtlich oder ungewollt von der ihm vorgegebenen Kommunikationsgemeinschaft. 86 Ein gerade im Barock kaum denkbarer Fall. Das Publikum, für das die Regeln der Poetik des 17. Jahrhunderts gelten, d.h. die Rezeption der Komödie maßgeblich beeinflussen, genießt die Lust des Lachens als psychisches Korrelat der eigenen Exklusivität. Bereits durch die Identifizierung des komischen Personals mit Menschen, Handlungen und Attributen, die als rangniedrig eingestuft werden, basieren alle möglichen Momente der komischen Wirkung auf dem Mechanismus der Degradation. 87 Erst auf dieser Basis grundsätzlicher Unanfechtbarkeit der sozialen Ordnung kann sich die Lust an einer belachenswerten Welt im einzelnen entfalten, eine Lust, die wie für das Komische schlechthin eine Mischung von Betroffenheit und Distanz voraussetzt. 88 Die komischen Einzelzüge nichtsprachlicher und sprachlicher Art, ja die Modellierung der komischen Situationen und die Figuration des Spielpersonals können zwar durchaus Entlastung, Befreiung und Protest angesichts politischer, moralischer und kultureller Normen ausdrücken, aber nur insoweit sich diese von den tabuisierten Zonen des gesellschaftlich Gültigen fernhalten, z. B. von »hohen Standespersonen« und den in ihnen personalisierten politischen und theologischen Wahrheiten. Diese Schranke in der Abbildung und Konstruktion von Themen und Konflikten ist nicht nur

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Dazu ausführlich Siegfried J. Schmidt: Komik im Beschreibungsmodell kommunikativer Handlungspiele, in: W. Preisendanz/R. Warning (Hg.), Das Komische (1976), S. 165-189, spez. S. 168 und 186f. Bezeichnenderweise hat Hobbes (On Human Nature, 1650) das Lachen auf dieser Basis definiert, nämlich als »nothing else but sudden glory arising from a sudden conception of some eminency in ourself, by comparison with the infirmity of others, or with our own formerly«. Vgl. O. Rommel, Analyse des Komischen, S. 4. Daß es nicht nur ein LachenÜber, sondern ein Lachen-Mit gibt, nicht nur Überlegenheitskomik, sondern auch eine Komik der Solidarisierung und Mitbetroffenheit, ist evident. Die analytische Differenzierung im einzelnen hat die Forschung viel beschäftigt, darf aber in diesem Zusammenhang außer Acht bleiben. Bereits für Plato wird die Seele durch das Komische in Lust und Unlust erregt (Philebos 48a). Vgl. zum Wechselbezug von Realitätsbezug und Lustgefühl der Befreiung, F. Martini, in: R. Grimm/K. L. Berghahn (Hg.): Wesen und Formen des Komischen im Drama (1975), spez. S. 348f.; hier setzt auch die psychologische und von Freud im Zusammenhang der psychoanalytischen Theorie explizierte Bestimmung des Komischen ein: dazu neuerdings zusammenfassend: H. R. Jauss, Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden, in: Preisendanz/Warning (Hg.), Das Komische (1976), S. 103-132; für die barocke Komödie besonders wichtig die »Komik der Gegenbildlichkeit«, dazu Jauss bes. S. 105: »wer nicht weiß oder erkennt, was ein bestimmter Held negiert, braucht ihn nicht komisch zu finden. Damit ist auch schon die kognitive Funktion dieser Komik deutlich geworden. Über den komischen Helden können ästhetische wie moralische Normen thematisiert, aus ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit oder verschwiegenen Geltung zu Bewußtsein gebracht, in heiterer Absicht verspottet oder in kritischem Ernst problematisiert w e r d e n . . . « .

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durch die Standesformel bedingt, sondern zugleich durch die der Komödie defini torisch zugewiesene Sphäre der Privatheit, des Privatlebens. Es gilt also gerade im barocken »Schertzspiel« die historischen Voraussetzungen des Komischen als Vermittlung defekter Wirklichkeit zìi beachten. Nur insofern sich Kritik an Exempeln des Niedrigen und Privaten artikulieren läßt, ist sie nach den Gesetzen der Gattung überhaupt dramatisch vorzutragen. Umgekehrt aber heißt dies: Jene Phänomene, die von komischen Figuren verkörpert werden und somit der Lizenz des Lachens freigegeben sind, gehören in den Augen von Autor und Publikum nicht mehr zu der vor dem Lächerlich-Werden geschützten Zone. Die komischen Figuren des barocken Lustspiels bilden - wie das barocke Drama überhaupt - außerliterarische Wirklichkeit nicht mimetisch ab. Es sind keine individuell zu verstehenden Charaktere, sondern Spielfiguren, die bestimmte Merkmale und Verhaltensweisen repräsentieren. Wie mit ihnen im Drama verfahren wird, in welcher Weise sie in die Inszenierung komischen Geschehens einbezogen werden, gibt genauen Aufschluß darüber, unter welchen Gesichtspunkten nicht nur sie selbst, sondern die von ihnen verkörperten Attribute, Verhaltensmerkmale, Prinzipien, Ideologeme usw. abgewertet werden. Denn erst diese bereits vorliterarisch vorauszusetzende Abwertung macht es möglich, sie als komisch darzustellen. Auch Andreas Gryphius hat sich - mit Einschränkungen - in seinen Komödien an die Regeln der Poetik gehalten. Recht verstanden, besagten diese ja nicht, daß in einem Stück nur niedrige Personen auftreten durften, sondern lediglich, daß nur diese degradativer Komik auszusetzen waren. Im Gegenteil, gerade die Einführung einer nicht vom komischen Verdikt betroffenen Handlungsebene und Figurengruppe erlaubte es, bereits stückintern im Zusammenprall verschiedener Wert- und Normsysteme recht genau die Perspektive festzuschreiben, unter der die als komisch zu belachenden Fehler zu bewerten waren. Die kontrastive Struktur des »Peter Squentz« als Doppelspiel von Hof und Handwerkertruppe ζ. B. funktionalisierte den sozialen Abstand zwischen beiden Gruppen zur Exposition abweichender kultureller, kognitiver und speziell literarisch-sprachlicher Standards, dies aber so, daß die Bewertung zugleich die angenommene Interdependenz ständischer und kultureller Hierarchien offenlegte. 89 Die Struktur des Dramas beweist die Zustimmung des Autors zur Gültigkeit der Maßstäbe, nach denen geurteilt wird. Indem Gryphius sein Stück so anlegt, daß in der Spannung von Hof und Handwerkern zugleich Norm und Normabweichung definiert werden, erweist sich der Dichter als Apologet einer von der Dominanz des Hofes her geprägten gesellschaftlichen Ordnung. 90

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Dazu im einzelnen die neueste, pragma-semiotisch angelegte Untersuchung von Roland Eisner: Zeichen und lit. Praxis. Theorie der Literatur und die Praxis des Andreas Gryphius im »Peter Squentz«. München 1977, vgl. besonders die Zusammenfassungen S. 187f. und 213ff. Eisner, S. 215. Die vom Autor zu verantwortende »textuelle Bedeutungskonstitution«, die das Verhalten der Handwerker als Normabweichung definiert, suggeriert »das im

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Erst die Einsicht in das historisch bedingte Gattungsverständnis der barocken Komödie und die bereits in der vorgegebenen Struktur enthaltenen Realitätsmodelle bieten die Möglichkeit, auch im Falle des hier zu besprechenden Stückes die geschichtliche Bedeutung des Textes in der gegenseitigen Bedingtheit von Gegenstand und Form zu erfassen. Das »Scherz-spiel« »Horribilicribrifax Teutsch« mit dem Untertitel »Wehlende Liebhaber« erschien erst 1663 als Anhang der vom Dichter durchgesehenen Gesamtausgabe, entstand aber wahrscheinlich bereits zwischen 1647 und 1650, d.h. nach Gryphius' Rückkehr von seiner das Studium abschließenden Reise. 91 Anregungen des langjährigen Auslandsaufenthaltes schlagen sich deutlich nieder im dramatischen Personal: der Titelheld sowie sein Doppelgänger erinnern nicht nur an den Plautinischen miles gloriosus, sondern gehen bis in Einzelheiten auf Vorbilder der italienischen »Comedia dell' arte« zurück. Daß Gryphius in Italien oder Frankreich auch dem Bühnentypus des Pedanten begegnet ist, darf angenommen werden: 92 er tritt auf als »SEMPRONIUS. Ein alter verdorbener DorffSchulmeister von großer Einbildung«. Der Name Sempronius allerdings macht es nicht unwahrscheinlich, daß Gryphius auch auf ein Vorbild der deutschen Literatur anspielen wollte: In dem an den Leser gerichteten Nachwort zu Johann Balthasar Schupps »Ineptus Orator«, 1643 bereits in dritter Auflage vorliegend, wird unter dem Namen Sempronius ein »Liebhaber der freyen Künste« angeführt. Dieser Sempronius-Schupp erzählt die Geschichte als Anekdote aus seiner Königsberger Studienzeit - ärgert seine Mitbürger, indem er auf sein Haus als eine

politischen und historischen Bereich verfolgte Ziel der Integration der Handwerker in die vom Hof vertretene zentralistische Gesellschaft ( . . . ) als bereits erreichter historischer Stand. So gilt die durch den Hof repräsentierte Ordnung als naturhaft gegeben.« 91 Ich zitiere im folgenden nach der hist.-krit. Gesamtausgabe, hg. v. M. Szyrocki und Hugh Powell: Lustspiele I, hg. v. H.Powell. Tübingen 1969 ( = NDL N.F. 21). Die hier fehlende Numerierung der Auftritte entnehme ich dem Abdruck des Stückes in: Komödien des Barock, hg. v. U.-K. Ketelsen, Reinbek b. H. 1970 ( = Row. Klassiker 524/525). - Die Sekundärliteratur - ich stütze mich besonders auf die Untersuchungen und Interpretationen von E. Mannack, W. Hinck, G. Kaiser - einzusehen bei E. Mannak: A . Gryphius, S. 57ff. und 65. Eine umfassende Untersuchung der dramaturgischen Einzelaspekte liefert A. Schlienger: Das Komische in den Komödien des Andreas Gryphius. Bern 1970, allerdings ohne auf die historische Relation der Textelemente einzugehen. Nachweise im einzelnen, wenn nötig, an Ort und Stelle. Das Drama ist auch gewürdigt von W. Flemming, Einführung in: Die dt. Barockkomödie, 2. Aufl., 1965 ( = D L E , Reihe Barock, Bd. 4), S. 5ff.; Holl, Geschichte des deutschen Lustspiels, S. 97f.; P. Böckmann, Formgeschichte, S. 444ff. ; zu vgl. auch H. Kindermann, Theatergeschichte Europas, Bd. III, S. 425ff. 92 Der Einfluß der Comedia dell'arte vor allem für den Capitano-Typus und die Rolle der Bedienten ausführlich behandelt bei W. Hinck: Gryphius und die ital. Komödie, in: G R M N. F. 13 (1963), 120ff.; sowie ders.: Das dt. Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts ( . . . ) . Stuttgart 1965, S. 105ff. Ferner E. Mannack: Gr. s. Lustspiele. Ihre Herkunft, ihre Motive und ihre Entwicklung, in: Euphorion 58 (1964), S. Iff. Der Capitano-Typus ist bereits bei Heinrich Julius von Braunschweig voll ausgeprägt: dazu E. Catholy, Das deutsche Lustspiel, S. 127ff.; die Rolle des Pedanten wird in den genannten Arbeiten nur am Rande besprochen.

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Art Wetterfahne Neptun mit dem Dreizack befestigt. Dieses wird von den ehrbaren Bierbauern mißverstanden: »Dieser Sempronius / weil er ein Gelehrter ist / darff vielleicht uns neben sich verachten / und daß er unser spotte / hat er einen Bauern mit einer Gabel auff sein Haus gesetzt.« Es kommt beinahe zum Kampfe: Sempronius »grieff den Degen / schickte sich zum Streit / und vermaß sich unter ihrem Blute zu sterben...«. Der Konflikt endet versöhnlich mit einem allgemeinen Trinkgelage. Wie bei Gryphius wird der Gelehrte schließlich in grobianischer Solidarität von der Gesellschaft eingeholt, der er sich hochmütig entziehen wollte: vom unprätentiösen, sozial unprivilegierten Kleinbürgertum. 93 Die Typisierung der komischen Protagonisten nach literarischen Mustern, Capitano und Pedante, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Figuren bis ins Detail ganz bestimmte soziale Gruppen repräsentieren. Die Klischees der Stegreifkomödie müssen als Mittel betrachtet werden, die in den Personen gemeinte historisch-soziale Wirklichkeit in das dramatische Spiel so einzuführen, daß zugleich und von Anfang an in der satirischen Verzerrung der Charaktermaske das Harmlosigkeitspostulat des komödiantischen Spiels erfüllt ist. Nur so ist das Vergnügen an den komischen Helden gewährleistet, nur so können diese mit Erfahrungen der Realität identifiziert, im selben Augenblick aber als Spielfiguren des ästhetischen Scheins rezipiert werden. 94 Die Lust des Verlachens beruht auch hier - die Theorien des Komischen haben immer wieder diesen Punkt herausgehoben - auf der Gleichzeitigkeit von Identifizierung und Distanzierung. Die Überführung sozialer Verhaltenstypen in die Karikatur durch Konzentration, Isolation, Übertreibung von Einzelzügen und kontrastierende Herausarbeitung von Diskrepanzen wäre ohne Effekt, wenn nicht eben dadurch eine dem Publikum zugängliche Realität anvisiert würde. 95 Denn erst der transparente Wirklichkeitsbezug der Figuren macht diese zu Exponenten von Normen und Erwartungen des Publikums

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Zit. nach B. Schuppius: Schriften 1663 S. 869f. Die Unschädlichkeitsforderung der Komödie ist bereits in der Aristotelischen Poetik angelegt (Kap. 5): das Lächerliche resultierte aus einem Fehler oder einer Schande, die aber »nicht schmerzt und nicht verletzt«. Ähnlich auch Cicero, De Oratore II, 58, § 237. Der Spielcharakter der Komödie, dazu gehört die Technik der Übertreibung und der Rollentypik, ist die Voraussetzung, daß die Anomie bzw. der gesellschaftliche Normverstoß komisch in Erscheinung tritt, d.h. daß die vorgeführte Normabweichung nicht ernstlich als Angriff auf Konventionen aufgefaßt werden kann: dazu ausführlich die Einleitung von E. Catholy: Das dt. Lustspiel, S. 7ff. Das Verfahren der Typisierung als zentrales Moment des Komischen hat besonders H. Bergson herausgestellt: Das Lachen. Zürich 1972 (Mechanisierung des menschlichen Lebensvollzugs als Entfremdung von natürlicher Situationsbeherrschung usw.); dazu auch W. Hinck, Lustspiel, S. 40: im 17. Jahrhundert ist die Schematisierung von Rollentypen durch die Ethos-Lehre als Teil der rhetorischen inventio definiert. Diese bezieht sich zwar vornehmlich auf die Kundgabe der »mores oratoris« im persuasiven Interesse, impliziert aber generell die Klassifizierung menschlicher Charaktere nach ihren Eigenschaften, insofern gehört die Ethopoiie schon bei Quintilian in den Bereich der Komödie (Inst. Or. VI 2, 20); vgl. auch Cie.; de oratore II 178ff.; Vossius, Commentariorum Rhetoricorum Libri Sex (in der Ausgabe Marburg 1681): Parsi, Liber II, Cap. IV, S. 285ff.

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bzw. in d i e s e m Fall zu G e g e n b i l d e r n o d e r in ihrer Insuffizienz bloßgestellten Scheinrepräsentanten. Für w e l c h e d e m Zuschauer erfahrbare Wirklichkeit stehen also die k o m i s c h e n H e l d e n bei Gryphius und w e l c h e N o r m e n w e r d e n durch sie in der Dialektik v o n N o r m e r f ü l l u n g und N o r m v e r s t o ß bestätigt bzw. außer Kraft gesetzt? D i e s läßt sich zunächst dadurch feststellen, daß das soziale Profil der k o m i s c h e n Protagonisten b e s c h r i e b e n wird. D i e b e i d e n Bramarbasse verkörpern a b g e d a n k t e , adelige Offiziere. 9 6 In ihrem r o d o m o n t i e r e n d e n Sprachgemisch spiegelt sich g e w i ß der » A l b traum der f r e m d e n Soldateska« ( G . Kaiser), d o c h offensichtlich sind einheimis c h e , provinzielle Landjunker g e m e i n t , die nur im Kriege durch das W a f f e n h a n d werk B e r ü h r u n g mit der großen W e l t b e k o m m e n haben und zu »Cavaliren« g e w o r d e n sind. Sie sind arm und sind angesichts des »drohenden« Friedens erst recht aller A u s s i c h t e n beraubt: ihre Heiratsprojekte und Mitgiftambitionen entspringen dieser Z w a n g s l a g e . 9 7 Ihre m a n g e l n d e n Qualifikationen, ihre Funktionslosigkeit k o m p e n s i e r e n sie durch A d e l s s t o l z und einen Sprachtypus, der sich

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In dem vorgeschalteten fiktiven Schreiben des Daradiri. an Horibili. firmiert der Absender als »D. Windbrecher / von Tausend Mord / auff Ν. Ν. N. Erbherr / in und zu Windloch«, Horibil. ist Herr »von Donnerkeil / auff Wüsthausen«; Selene (12, S. 51, Ζ. 30) zieht Daradiri vor, weil er «Land=Juncker« ist; Daradiri flucht 11, S. 50, Z. 7: »Bey meinen adelichen Ehren«; sein Wutausbruch (V3, S. 105, Z. 20ff.) gehört zur Ethopie dieses Typus: »Ich mag euch verschencken / verkaufen / verstechen / verjagen / verschikken / verwechseln / verbeuten / ihr seyd mein avec tous ces deffauts, nichts anders / als leibeigen; darnach habts euch zurichten / denn das ist unser endlicher / ernster / und ungnädigster Wille«. Horribili. und Daradiri werden von Dionysios, dem Diener des Cleander u . a . als »Bauernschinder« beschimpft: V 10, S. 110, Z. 32; beziehungsvoll auch die Verwendung des Ausdrucks »arme Ritter«: 119, S. 75, Z. 9. Auch Vincentius Ladislaus, der Bramarbas-Typ bei Heinrich Julius von Braunschweig, ist Ritter und Mitglied des niedrigen Adels, der, wenn nicht beim Militär, vom väterlichen Vermögen leben muß: ein lustiges Porträt des »lausigen Edelmanns«, der aus lauter Not Kriegsdienste suchen muß, findet sich bei Johann Beer: Jucundi Jucundissimi Lebensbeschreibung (1680) Buch I; ed. R. Alewyn (1957), S. 72ff. Vgl. bes. II, 1 (der Friedensschluß als Unglück); die pekuniäre Zwangslage, bes. Daradiris, wird in fast allen seinen Auftritten angedeutet. Man darf das Geldproblem nicht nur als Moment der Handlungsmotivation sehen (Mitgift), es gehört vielmehr zu den in der Traktatliteratur der Zeit angeschnittenen Fragen der Adelsqualifikation; vgl. ζ. B. Jakob Thomasius: Dissertationes LXIII varii Argumenti. Halle 1698, Nr. 17, S. 168ff. (von 1659): »De Divitiarum valore circa Nobilitatem«; Thomasius tritt für eine »mittlere« Lösung des Problems ein; Reichtum sei zwar nicht das »Fundament« des Adels, ermögliche aber die Adelstugenden in Taten überzuführen, so daß, wenn die Mittel fehlen würden, dieser selbst darniederliege oder wenigstens sich abschwäche. Auch in den politisch-systematischen Schriften, etwa von Keckermann und Arnisaeus, ist das Thema behandelt. Gryphius zeigt entsprechend der Äußerung des Thomasius also in seinem Stück, welche Verletzung der Ehre und der »Tugend« Geldmangel nach sich ziehen kann, legt aber an anderen Personen (dazu s.u.) positiv dar, daß der Grund der »Tugend« nicht vom Geldbesitz abhängt, sondern vielmehr Qualitäten beinhaltet, die allerdings - so exemplarisch im Stück vorgeführt - Aufstieg und damit auch soziale und finanzielle Sicherheit verbürgen. 407

krampfhaft bemüht, die Regeln galanter »Courtoisie« einzuhalten. 98 Gryphius zeigt gerade in der satirisch konstruierten Mischung von sprachlicher Affektation, im sprachlich symbolisierten Ringen um Reputation und Eleganz, im Aus-derRolle-Fallen und in der Verselbständigung eines zum Jargon verfallenden Idioms, daß die erstrebte Zugehörigkeit zu einer Klasse, die den höfisch-galanten Umgangston richtig und zu Recht beherrscht, nicht mehr durch adelige Abkunft und Ritterbürtigkeit, auch nicht mehr durch kriegerische Aktivitäten und Verdienste gewährleistet ist bzw. sein soll. Daradiri hat nur da Erfolg, nämlich bei der verarmten, als hochmütig und adelig charakterisierten Jungfrau Selene, wo ebenfalls die gesellschaftliche Absicherung nicht durch persönliche Qualitäten, also als Belohnung eigener Verdienste angestrebt wird. Beide werden gegenseitig zu betrogenen Betrügern. Welcher Art diese Verdienste sind, die im Stück belohnt werden, ist an den zwar gefährdeten, aber weil von Gryphius als normrepräsentativ gedachten und deshalb dem Verlachen entzogenen Gestalten ablesbar. Die Namen Cleander, Bonosus und Palladius verraten z.T. durch etymologische Allegorese persönliche Qualitäten und sind deshalb weder durch Beruf noch Stand charakterisiert. Palladius wird im Stück zum (Hof-)marschall berufen, sein Name schon weist ihn als Repräsentanten der höfischen Welt aus." In ihm werden zusammen mit dem weiblichen Pendant - Coelestina - Tugenden gesammelt, die nach dem Willen des Verfassers den sozialen Aufstieg bedingen und rechtfertigen. Palladius ist Gelehrter, allerdings nicht - wie Selene in ihrem Adelsstolz mißversteht - in der Art des Sempronius Vertreter eines akademischen Proletariats oder eines nur bürgerlichen Brotberufes. 100 Von dem pedantischen Typ des Gelehrten

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Palladius als Muster »anmuthiger Courtesi«: 11, S. 49, Ζ 5. Die Berufung zum Hofmarschall III 2; Palladius als Aufsteiger, der sein Glück macht, schon I 2, S. 51, Ζ 4/5; Palladius und Coelestina werden von geringerem Stande gezeichnet als die Gruppe der adeligen Frauen; zu Coelestina vgl. ihre Äußerung zu dem werbenden Horrobili. II/2, S. 61, Ζ 18. Die »sprechenden Namen« gehören zu den Mitteln, mit denen ein Autor ein Vorverständnis des Zuschauers herstellt, bzw. die Entschlüsselung des Textes unterstützt. Umfassend zu dem Thema jetzt H. Thies: Namen im Kontext von Dramen. Frankfurt u.a. 1978 (= Sprache und Literatur. Bd. 13). 12, S. 51, Ζ 7ff. : »Gelehrte: Verkehrte. Ein Gebündlin Bücher / und ein Packetlin Kinder ist ihre gantze Verlassenschaft. Was kan eine Dame von Qualität vor contentament haben bey einem solchen Menschen? Des Morgens um vier / oder auch eher / aus dem Bette / und unter die Bücher / von dannen auff den Hoff / in die Kirche oder zu den Krancken. Sie träumen an der Taffei / oder belegen die Teller wohl gar mit Brieffen. Den gantzen Tag / steckt ihnen der Kopf voll Mäusenester / und (was der Teuffei gar ist) wenn sie um 12. Uhr wiederum zu Bette kommen / so schlagen sie sich mit tollen Gedancken / machen Verse oder schicken die fünff Sinne gar in Ost/Indien...« Vergleicht man diese Beschreibung mit einer gäntzlich unkomisch gemeinten Darstellung (Georg Ciegler, Welt-Spiegel, Lüneburg 1664, S. 570f.) ergibt sich in der Tat die zugrundeliegende sozialgeschichtliche Differenz von Gelehrtenhabitus und Adelsmentalität: »Denn ob wol die Animi bona Gottes Gaben seyn / so weis man doch / daß sie uns nicht also angeboren oder angeflogen seyn / wie die Corporis & fortunae des Leibs und des Glücks Güter. Sondern es kostet grosse Mühe und Sorge / Schweiß und Fleiß / Arbeit und Kopffbrechen v. Jugend auff / und das gantze Leben des Menschen gehet dahin mit grosser Arbeit / und man hat wenig

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wie auch von der gesellschaftlichen Randexistenz des Landjunkers ist er abgesetzt: beiden gegenüber wird er zum Exponenten der höfischen Verwaltungsaristokratie, also zum Lehrbeispiel einer »Erhöhung«, die zugleich den Zugang zu Macht und Einfluß einschließt. Damit ist zugleich die Optik des Publikums disponiert, die in Palladius demonstrierten Möglichkeiten erfüllter Norm sind in der Logik des Erfolgs abgesichert. Die Belohnung des Palladius bildet gleichsam den archimedischen Punkt, in dem die Bewertung der Figuren im Spiel mit den realen Erfahrungen und Sehnsüchten des Publikums verknüpft ist. Der Hof erscheint als zentrale Instanz der Verteilung von Macht, Status und Prestige: das entspricht der historischen Situation am Ausgang des Dreißigjährigen Krieges. Diese reale Lage wird im Drama anerkannt, aber zugleich werden die Bedingungen formuliert, die eine solche Superiorität legitimieren. Die Qualitäten des Palladius und der ihm zugeordneten Spielfiguren profilieren wesentliche Elemente höfischer Dignität. Wichtig ist, daß diese direkte Bezugnahme auf Vorgänge gesellschaftlicher Hierarchisierung in der dramatischen Struktur auf eine andere Ebene verlagert ist. Das entspricht dem Heiterkeitspostulat der Komödie, bedeutet aber zugleich, daß die Teilhabe an öffentlicher Gewalt, höfischer Reputation und fürstlicher Aura als konsequente Folge privaten Verhaltens interpretiert wird. Diese Aussage kongruiert mit den Gattungsbestimmungen der Komödie, weil hier nur in der Sphäre der Privatheit das allgemeine Problem der gesellschaftlichen Statusverteilung thematisiert werden kann. Gryphius hat sein Stück mit dem Untertitel »Wehlende Liebhaber« gekennzeichnet: damit ist die Art der Handlung benannt. Alle Hauptbeteiligten kommen dadurch ins Spiel, daß Heiraten angestrebt werden. In beinahe kombinatorischer Kalkulation werden alle möglichen Verbindungen durchprobiert, bis schließlich die rechte Wahl oder die gerechte Zuweisung des Ehepartners die Aufhebung der das Stück bestimmenden Konflikte signalisiert. 101 Das »Wählen« der Liebhaber ist eine Äußerung des Willens, Resultat eines psychischen Aktes, einer Bewegung der Seele (»motus animi«) aufgrund sinnlicher, d. h. körperlich vermittelter Reize. Es ist in der weitverzweigten Affekttheo-

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guter Stund / man kräncket sein Leib und Leben mit dem studiren / unnd alle Kräffte werden dadurch debilitiret und geschwächet: Nach dem mahl der Berg zur Kunst und Tugend gar einen engen Weg hat / und derselbe gehet gar krum herum / ist gantz schlipperich / rauch und wild / und mit allerley Dorn und Disteln bewachsen. Welches auch manchen für den Kopff stosset / und von dem studieren abschrecket / oder wenn er schon angefangen / sihet aber den langen / schweren und gefährlichen Weg für sich / den er durchbrechen sol / jhm ein solch grawen ankompt / daß er die Studia unserm Herrn Gott befiehlt / und sich davon machet. So ist neben schwerer Mühe und Arbeit / nichts anders bey den Studiis, denn Armuth/Elend und Betteley.« Zur Handlung vgl. besonders G. Kaiser, Horribili., S. 232ff.; dort auch zu der im Stück verwendeten bedeutungstragenden Bildlichkeit und Motivik und dem »Bauplan« der Szenen; Kaiser hebt besonders die auf Liebe gegründete Verbindung von Palladius und Coelestina heraus; daß bei Gryphius die seelischen Dimensionen der Liebe - etwa im Vergleich zu den Liebespaaren Shakespeares - nicht in die Darstellung eingehen, sondern nur die darauf bezogene Problematik der Interaktion und Kommunikation, also der soziale Aspekt, ist evident: dazu vgl. Hinck: Gr. u. die ital. Komödie, S. 134ff.

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rie der Zeit als »appetitio ad bonum« zu bewerten. 102 Die überragende Rolle der Affekttheorie für die barocke Anthropologie und Ethik ist mittlerweile allgemein anerkannt. 103 Zwar differieren je nach christlicher, aristotelischer und stoischer Systematik die Auffassungen über die Rolle des Affektes in der Natur des Menschen, Einigkeit besteht aber darüber, daß die Beurteilung der Affekte identisch ist mit der moralischen Qualifizierung seiner Handlungen. Gryphius selbst hat - in Anlehnung an Scaliger - die Demonstration richtiger und falscher Affekte als Gegenstand und Zweck des Trauerspiels definiert. 104 Daß dies zumindest partiell auch für die Komödie gilt, daß sich hierauf der erläuternde Untertitel bezieht, ergibt sich aus einer einfachen Überlegung. Affekte sind als wertvoll (oder nicht wertvoll) nämlich anhand der Frage zu überprüfen, ob sie sich nach etwas »Gutem« ausrichten. In der Handlung des Dramas erfolgt diese Beurteilung dadurch, daß sich - im negativen Fall - das Affektziel als schlecht, d.h. nur scheinbar gut herausstellt. Das Verfehlen des Rechten ist dann darin begründet, daß die affektregulierende Urteils-Instanz - der menschliche Geist (»ratio«) versagt. Denn unabhängig vom Endziel der Affektregulation (aristotelisch: Metriopathie; stoisch: Apathie) ist die Überlegenheit des Geistes im metaphysischen Dualismus der zeitgenössischen Anthropologie unumstößlich. Auch die Komödienhandlung konstruiert deshalb immer wieder Situationen, in denen sich die Qualität der Personen - diese sind ja das Affektziel ihrer Liebhaber - als gut oder schlecht herausstellt. Das Ende der Handlung - die »restitutio in integrum«105 - ist gut in dem Sinne, daß die in der dramatischen Inszenierung erwiesenen Qualitäten durch die Zuordnung des entsprechenden Partners belohnt und bestätigt werden. Das affektive Begehren des einzelnen - in seiner Heiratsab102

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In der aristotelischen Theorie, die von Thomas v. Aquin, Melanchthon und auch Spinoza grundsätzlich übernommen wird, gehört die Liebe »amor« zum Bereich des sinnlichen Begehrens (»concupiscibile«) auf etwas Gutes (»circa bonum«). Dazu gehören Affekte wie »gaudium« und »desiderium«. Freude wäre demnach ein »motus de bono praesenti«, »desiderium« aber auch »spes« und »cupiditas« - Aspekte der Geschlechterliebe - ein »motus de bono futuro«. Für den protestantischen Bereich wäre besonders hinzuweisen auf die Affektenlehre in Melanchthons »de anima« (1553), dort (ed. R. Nürnberger, 2. Aufl. 1969, S. 313): »Affectuum alii naturam iuvant, alii destruunt. Iuvantes naturam, ut laetitia spes, amor, oriuntur a notitia monstrante quiddam boni, sive sit toti homini bonum, sive parti, et sive erret notitia, sive recte iudicet.« Dort auch S. 319ff. die Differenzen zur stoischen Auffassung der Affekte, nach der diese als »opiniones« und in jedem Sinne lasterhaft definiert werden. Vgl. die bereits im anderen Zusammenhang erwähnten Untersuchungen von Dilthey, Rotermund und Geisenhof; dazu Mausers Darstellung der Beziehungen von Affektenlehre und Ethik (mit weiterer Litertur): Dichtung, Religion und Gesellschaft, S. 221ff. In der Vorrede zu »Cardenio und Celinde«; dazu Geisenhof, S. 38ff.; ähnliche Bestimmungen bei Mauser a . a . O . , bes. S. 224 (Harsdörffer u.a.); ferner Erwin Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand. Zur Theorie und Darstellung der Passiones im 17. Jhdt., in: Poetik und Hermeneutik 3 (1968), 239-69. Ein Ausdruck von Helmut Arntzen, Die ernste Komödie: Teilabdruck in R. Grimm/K. L. Berghahn (Hg.): Wesen und Formen des Komischen im Drama, S. 426; auf die genuine Dreisätzigkeit der Komödie hat besonders Northrop Frye hingewiesen (Der Mythos des Frühlings, ibid. S. 160ff.).

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sieht - ist im Falle der nicht von Komik betroffenen Figuren durch Wunscherfüllung als wertvoll abgesegnet. Anders bei Sempronius und Horribili. Auch sie erstreben ein »Gutes«: nämlich Coelestina. Hier zeigt sich, daß Affekte nur in einer Weise geäußert werden dürfen, die diese zugleich als dem Verstände als Organ moralischer Vernunft und rechter Objektwahl untergeordnet kennzeichnet. Der Affekthaushalt des Menschen unterliegt der Disziplin der ratio, die im Erkennen des Rechten Sittlichkeit verbürgt. Die komischen Personen verstoßen gegen dieses Gebot und disqualifizieren sich damit zugleich für den Aufstieg in der menschlichen Ordnung, die hier als Kongruenz von sozialer und moralischer Rangordnung abgebildet wird. Sempronius und die Capitani ermangeln einer Vernunft, die auf richtiger Selbsteinschätzung beruht. Ihr affektives Fehl verhalten ist Mangel an jener Art von Erkenntnis, von der die Regulation der Affekte abhängt. Dieses Erkenntnis impliziert wesentlich die Anerkennung der eigenen sozialen Position. Verfehltes Streben aus »großer Einbildung« (der stoische Terminus der »opinio« 106 ) ist als ebenso moralisch wie gesellschaftlich relevant verstanden. Verfehlte Partnerwahl ist fehlgeleiteter Affekt als Resultat defekter Vernunft, die nicht im Akt der Selbstbescheidung und Selbstdisziplin die eigene Stellung in der Welt realistisch erfaßt und hinnimmt. Die so als verfehlt bewerteten und lächerlich dargestellten Aspirationen der komischen Helden werden im Stück korrigiert: sie werden bestraft. Die Interdependenz von Belohnung und Bestrafung, von Gratifikation und Degradation ist ein Akt der Gerechtigkeit. In der Verteilung der »erotischen Prämie« wird das Drama zum Lehrstück hergestellter gerechter Ordnung, zu einer beglaubigten Soziodike, in der im Schein des Spiels die Identität von moralischer und sozialer Hierarchie behauptet ist. Zu fragen bleibt, wie genau die »Erhöhung« der Palladius-Gruppe im Stück gerechtfertigt wird, welche Qualitäten sowohl fürstliche Gunst als auch die Liebe von Coelestina erringen. Dem Sujet der Heiratskomödie wie auch dem »privaten« Charakter der Gattung entsprechend wird die Botschaft der Tugend vor allem an den Frauengestalten demonstriert; sie erscheint hier vordergründig nur als bewahrte Keuschheit, die weder verkauft noch verschleudert wird. 107 Im Bewahren der weiblichen Tugend - beispielhaft in der Verknüpfung von Prüfung, Bewährung und Erhöhung der Sophia vorgeführt 108 - ist jedoch zugleich die 106

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Zur stoischen Auffassung der »opinio« vgl. Rühl, bes. 40ff., 66ff. Schupps Rede »De opinione« wurde mit dem Titel »Von der Einbildung« ins Deutsche übersetzt. Dazu ausführlich besonders G.Kaiser, Horribili., S. 232ff. (dreifache Gestaltung des Partnerschaftsmotivs: Liebe - Kauf - Tugend); wie schon angesprochen, ist allerdings auch der Aspekt der Liebe nicht vom Aspekt der Tugend zu trennen. Akt V, 12; die Szene ist in allen Interpretationen des Dramas berücksichtigt. Die hier zu Tage tretende strukturelle Entsprechung zum Verlaufsschema des Trauerspiels ist nicht der einzige Punkt, in dem sich die Komödie als Komplement des ernsten Dramas verstehen läßt. Gerade am Beispiel des Palladius zeigt sich, wie auf der Ebene des Lustspiels geradezu exakt jene Bedingungen und moralischen Werte im Bereich des Privaten definiert werden, die im Bereich des Trauerspiels in der Sphäre der öffentlichen Repräsentanz staatlicher Ordnung, d.h. am Hofe, den moralischen Heroismus, aber gleichzeitig damit auch die Gefährdung des Einzelnen ausmachen.

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allgemeine, sozusagen strukturelle Definition der Tugend Inbegriffen. Sie ist zu verstehen als Bewahrung der persönlichen Integrität, d. h. aber als psychische Disziplin gegenüber inneren und äußeren Einwirkungen, gegenüber den Anfechtungen von Macht und Geld, im tiefsten Sinne stoischer constantia verwandt. Die Koppelung der sozialen Bewertung der Figuren mit ihrer sittlichen Qualifikation läßt sich als semantische Tiefenstruktur des Stückes beschreiben: doch erst in der sprachlichen Charakterisierung der Figuren tritt diese nach außen. Gryphius' »Horribilicribrifax« ist ein Drama der Sprache, 109 indem diese als Medium der Kommunikation nicht oder kaum dazu dient, Handlungen zu befördern, sondern selbst als symbolische Handlung, ja größtenteils anstelle außersprachlichen Handelns die Wertigkeit der Figuren repräsentiert. 110 Versteht man Tugend als Affektdisziplin, als Bewahrung der Person gegenüber Trieb, Lust und sozialer Ambition (Ehrgeiz usw.), wird der Stilcharakter der beiden milites gloriosi in seiner gegenbildlichen Funktion erkennbar: ihre schwülstige Sprechweise, rhetorisch zu verstehen als urteilslose Überladung mit Formeln, Figuren und ambitiöser Metaphorik, ist Zeugnis ungezügelter Affekte. Die rhetorische Theorie der Zeit hat ja bekanntlich die Funktionalität der Redefiguren durchaus affektpsychologisch definiert. Demgegenüber erweisen sich Palladius und Coelestina in der Beherrschung einer gesellschaftlich adäquaten, d.h. eleganten, aber nicht das eigene Ich - hier ist das Postulat der Selbsterkenntnis impliziert - in den Vordergrund spielenden Kommunikationsform als musterhaft. Sie beherrschen die Sprache des Hofes, erfüllen also die sozialen Verbindlichkeiten der Gesellschaft, ohne aber ganz in ihnen aufzugehen. Gryphius zeigt (IV 5) in der Art, wie sich beide im Festhalten an den Formen des Komplimentierwesens, der Etikette und der »Sprache des Hofes« beinahe verfehlen, genau die Bedrohung unverstellter Begegnung - in diesem Fall verkörpert in der aufkeimenden Liebe. Letztlich aber gelingt es, jenseits aller »Verlarvung« und hinter den »kalten Worten« die »Aufrichtigkeit

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G. Kaiser, Horribili., S. 243: »Das Problem der Kommunikation ist das umfassendere, und das Problem der Sprache gliedert sich ihm zwanglos ein.« Ein systematischer Aufriß der Mittel sprachlicher Komik - er wäre mit Gewinn bei einer Detailanalyse der einzelnen Sprachprofile des Dramas heranzuziehen - , bei Volker Schulz, Studien zum Komischen in Shakespeares Komödien, S. 40ff. ; daß es keine Sprachkomik außerhalb der pragmatischen Dimensionen des Sprechens, d.h. außerhalb einer Verankerung im Kontext der dargestellten Handlungen gibt, ist eine aus der neueren Kommunikationstheorie abgeleitete richtige Einsicht. Durch sie wird die ältere Trennung von Charakter- und Situationskomik aufgehoben: dazu neuerdings Karlheinz Stierle: Komik der Handlung, der Sprachhandlung, der Komödie, in: W. Preisendanz / R. Warning (Hg.), Das Komische, S. 237ff., spez. 254ff. Den sozialen Kontext und die soziale Wertigkeit der symbolischen Handlungen, wozu ja auch die Figurensprache gehört, hat P. Bourdieu hervorgehoben (Zur Soziol. d. symb. Formen, spez. S. 62, dort auch der Hinweis auf den im symbolischen Bereich wie auch im realen Sozialsystem gleichermaßen wirksamen Mechanismus von »Einschluß und Ausschluß«). Dazu ausführlich G. Kaiser, Horribili. S. 246ff.

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des Gemüts« zu erkennen und damit Liebe zu vermitteln und erlebbar zu machen. 1 1 1 Bereits der Terminus »kalt« verweist auf die affektpsychologische, spez. humoralpathologische Begründung des sprachbewertenden Terminus: die kalten Worte stehen für die Art von Tugend, die in der Vollendung der Form jede Äußerung von Ich-Ansprüchen diszipliniert, damit aber die Innerlichkeit der Person unzugänglich macht. Gryphius lehrt, die zeremonielle Verschlossenheit der Individuen als Gefahr zu erkennen. 1 1 2 Überwunden wird diese Krise dadurch, daß - nach den Worten des Palladius - »Hertz und Zunge« eine Sprache reden. 1 1 3 Das erinnert an die bereits von Cicero (De orat. III 6 § 60/61) wie auch von biblischer Ethik (vgl. Matth. 12. 34) geforderte Aufhebung des »discidium linguae atque cordis«, ist also eine von Gryphius ins Spiel gebrachte ideale Begrenzung rhetorischen Rollenverhaltens, ein unüberhörbar auch mit Kritik unterfaßter Appell gegen die Formalisierung der Kommunikation. Paradoxerweise ist die im Drama gelungene Sprache der Unmittelbarkeit auf sprachlose Kommunikation angewiesen: Blick, Händedruck, Kuß. Die Harmonie von Herz und Zunge unterliegt im Rahmen der sozial vorgegebenen Umgangsformen den Gesetzen des Schweigens: eine »eloquentia in tacendo« (vgl. dazu oben Kap. Β V ) , in der die Verhüllung taktischer Isolation fällt. Welche Position nimmt Sempronius in der Konfiguration des dramatischen Personals, in der Bewegung der Handlung und schließlich im Hinblick auf die komplexe Überlagerung von sprachlichen, moralischen und gesellschaftlichen Bewertungskategorien ein? Die Charakterisierung des Pedanten im Personenverzeichnis gibt von vornherein wichtige Fingerzeige auf die Art der Laster, die im Spiel vorgeführt werden, zugleich aber auf die Normen, an denen diese gemessen werden. Sempronius ist alt: damit paßt er in die Typenschablone des »comicus senex«, der die Verbindung eines Liebespaares stört, in diesem Fall als Nebenbuhler des Palladius im Werben um Coelestina. Doch auch unabhängig davon ist der verliebte Alte bereits komisch, weil nach den Gesetzen des Anstände und der psychologischen Wahrscheinlichkeit, in der Theorie des »decorum« ausgedrückt,

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Bezeichnenderweise wird auch die Sprache des Sempronius-Briefes als »kalt« bezeichnet: II 7, S. 71. Die beinahe mißglückte Verbindung von Palladius und Coelestina deutet auf den Punkt, an dem Gryphius' Kritik an einer rigiden stoizistischen Affektpsychologie erkennbar wird. Zur »Verschlossenheit des Subjektes« im Trauerspiel, Resultat einer durch äußere Faktoren erzwungenen taktischen Verhaltenskontrolle, in der die Unberechenbarkeit der anderen durch eigene Unberechenbarkeit ausgeglichen wird: vgl. Harald Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken D r a m a . Tübingen 1977, S. 57f. Steinhagen sieht mit Recht die »gesellschaftliche Substanz der Nichtidentität«, der Differenz zwischen Innen und Außen. G . Kaiser, Horribili. S. 2 5 0 , sieht zutreffend den Fehler des Palladius darin, auch gegenüber Coelestina die Hofsprache zu gebrauchen: zu ergänzen ist aber, daß diese Fehler auf vor-sprachlichen Fehlentscheidungen beruht, d. h. auf der Übertragung des höfischen Verhaltensmodells in den privaten Bereich.

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Vgl. dazu A k t IV, 5, S. 94, Z . 16ff. A k t II, 3, S. 6 3 , Z . 36f.

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Alter und Liebesverlangen als unziemlich und abnorm gewertet werden. 114 Daß der Pedant »von großer Einbildung« ist, kontrastiert mit seinem Beruf als Dorfschulmeister: in der Personenliste des Gryphius, die genau die ständische Gliederung der Figuren widerspiegelt, erscheint er wie am Schluß der Komödie in eine Sphäre verbannt, unter der sich nur noch die gar nicht mehr ständisch zu erfassenden Akteure befinden, der Jude und die Kupplerin. Daß der Pedant als Dorfschulmeister bezeichnet wird, hat verschiedene Funktionen, die auseinandergehalten werden müssen. Einmal wird dadurch selbstverständlich die Art der scholastisch-humanistischen Gelehrsamkeit exponiert; die ganze Art der Kommunikationsunfähigkeit des Sempronius erscheint als verfestigte, ja verdinglichte Mechanisierung beruflicher Praktiken, als Automatismus eines einseitigen und nicht mehr situationsgerecht handelnden Spezialistentums.115 Zum anderen muß man allerdings daran denken, daß sich Kritik in Form der komischen Satire durch die ständische Festlegung der Gattung Komödie nur auf niedrige Personen beziehen kann. Das heißt aber: so wie in den beiden Capitani nicht nur der snobistische Stolz eingebildeter Landjunker und Maulhelden, sondern - gemessen etwa an Palladius - auch die Selbsteinschätzung des nicht durch Leistung ausgewiesenen Geburtsadels überhaupt betroffen werden, ist auch im Dorfschulmeister potentiell die ganze Klasse spezifisch scholastischer Qualifikationsmerkmale, also der Schulhumanismus überhaupt kritisiert. Das Ende des Stückes weist den Repräsentanten historisch überständiger Geltungsansprüche, dem Adel der Feder und dem Adel des Degens - beide erscheinen isoliert von jenen Tugenden, die Palladius und seine Freunde als Männer des Hofes beherrschen - den gemäßen Platz im sozialen Leben an. Daradiri und Horribili bekommen militärische Posten, Sempronius wird im angehängten »Heyraths-Contract« »Oberster Inspector der Calfacterey zu Hinderlocheshausen, Mitregent des Collegii zu Bitterlingen, Verwalter des Zoll-Amts zu Blitzloch / und designierter Vice Stadt-Schreiber des

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Der »comicus senex« gehört bereits in der antiken Komödie in ihrer hellenistischen Form zum festen Arsenal der Figuren. In der rhetorischen Ethopoiie (vgl. Aristoteles Rhet. II 12ff. : »Mores hominum secundum varios status«) ist auch das Alters-Decorum berücksichtigt: z.B. bei Vossius, Commentar. Rhet. Libri Sex, S. 291ff.: »Quomodo secundum aetates humana vita distinguatur«, dort z. B. das Greisenalter durchgehend als Gegensatz zum Verhalten der »Jugend« abgehandelt, zusammengefaßt etwa in der Feststellung (S. 229): »Contra senectus, quae mala aetas dicitur ( . . . ) voluptatum est expers, viribus effoeta, morbis obnoxia.« In diesem Kontext ist die Äußerung der Coelestina zu verstehen (II 7, S. 71, Z. 12f.): »Ach armseliger Semproni! wilst du vor grossem Alter gar kindisch werden!«. Den Begriff der »Verdinglichung« hat Schlienger ins Spiel gebracht: der »Gegensatz von Sinngehalt und Sinnlosigkeit« (S. 225) trifft allerdings die historischen Dimensionen der Gestaltung nicht: Gegenstand und Modus der Sprache der komischen Personen hat in ihren Augen durchaus »Sinn«, beruhen allerdings auf nicht internalisierten oder falsch eingeschätzten Vollzugs- und Gestaltungsnormen der Interaktionssituation. Rollenanalytisch läßt sich besonders das Verhalten des Sempronius beschreiben als Mangel an Rollendistanz, als Mangel der in jedes Rollenspiel einzubringenden Ich-Leistung, als Verfehlen von Rollenerwartungen.

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Königlichen Fleckens Schitstroh«. 116 Übersetzt man diese lustige Titulatur in die Realität, scheint Sempronius für Funktionen, sei es im Schulbereich, sei es auf der Ebene verhältnismäßig niedrigen Verwaltungsdienstes geeignet. Adeliges Junkertum und die »eingebildete Hoheit« des Gelehrten müssen in einem wesentlichen Aspekt das gleiche Schicksal erleiden: sie werden gemessen an funktionaler Leistung in den beiden »Säulen« des fürstlichen Territorialstaates, in Heer und Bürokratie. Das auf dem Theater dargestellte Spiel von Erhöhung und Erniedrigung definiert mit literarischen Mitteln die für Gryphius und wohl auch das von ihm implizierte Publikum annehmbaren Bedingungen, unter denen Anspruch auf gesellschaftliche Geltung erhoben werden kann. Es sind zugleich die rezeptionsästhetisch vorgegebenen Parameter der komischen Darstellung. Betrachtet man das Auftreten des Pedanten gemäß der Unterscheidung von positionsunabhängiger bzw. positionsabhängiger Kritik, 117 sind zum ersten die Monologe 14 und V 7 , zum zweiten die Konfrontation Sempronius - Horribil. (III 6) sowie die Auseinandersetzungen des Pedanten mit der Kupplerin Cyrille (15, 118, I I I 3 , I V 8 , V I I ) zu untersuchen. Bezeichnenderweise kommt es zu keiner Gegenüberstellung von Sempronius - Coelestina, sondern nur zu einer abschlägigen Reaktion der Umworbenen auf den pedantesken Liebesbrief, der von der Kupplerin überbracht wird: »Ja wohl / armseliger Semproni! warum bist du nicht Palladius! . . . « U 8 Die Monologe des Sempronius zeigen deutlich, daß nicht, wie manchmal zu lesen, von Scheingelehrsamkeit oder »hoher« Gelehrsamkeit gesprochen werden kann. Sempronius kennt seine »auctores« und weiß sie zu zitieren: in der Art der Zitate, in der Tatsache, daß Zitat und Glosse, Reminiszenz und Kommentar, also literarisch-scholastische Formen der Buchgelehrsamkeit seine Sprache bestimmen, nicht aber eine ohne Bildungsvoraussetzungen operierende Unmittelbarkeit, zeigt sich der Pedant als Träger eines grammatischen Ritualismus, durch den er bereits dem Gesetz komischer Unzulänglichkeit anheimfällt. Der Monolog als dramatische Form - in diesem Drama fast nur dem Pedanten zuerkannt - symbolisiert seine gesellschaftliche Isolation. Sempronius geht von Hypothesen aus, die in der Gesellschaft der Bühne widerlegt werden. Sein Brief an Coelestina beweist, wie sich - ein Grundgesetz der komischen Diskrepanz überhaupt - verschiedene Bezugs- und Bewertungssysteme überlagern. Bereits in den Monologen ist die fehlende Selbsteinschätzung zugleich ein Fehlgriff der wertenden Kategorie: »Ich / der ich ein Wunder bin inter eruditos hujus seculi .. .«. I19 Es darf hier nicht nur darüber gelacht werden, daß Sempronius' Prahlereien mit seiner beruflich ablesbaren Situation nicht übereinstimmen - die Qualität seiner Gelehrsamkeit steht eigentlich gar nicht zur

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S. 116, Z. 4ff. Diese Unterscheidung nach der Systematik von V. Schulz, Studien zum Komischen, S. 27ff. Dieser Satz ist ausgesprochen von der Bedienten der Coelestina, Camilla: II, 7, S. 71, Z. 14f. I, 4, S. 54, Z. 14.

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D e b a t t e , der P e d a n t ist a u c h v o m scholastischen B e r e i c h isoliert, in d e m e r sich hervortun könnte - ,

s o n d e r n a u c h d a r ü b e r , d a ß e r d a v o n ausgeht, d a ß sein

Bildungsbegriff h u m a n i s t i s c h - g r a m m a t i s c h e r »eruditio« v o n allgemeiner B e d e u tung ist. D a ß e r sich g e r a d e in der B e z i e h u n g zur F r a u , im L i e b e s w e r b e n als unzulänglich erweist, reproduziert zwar bereits ältere M o d e l l e der Schulmeisterk o m i k , 1 2 0 m u ß j e d o c h im Z u s a m m e n h a n g der Kodifizierung galanter U m g a n g s f o r m e n g e s e h e n w e r d e n , wie sie e t w a H a r s d ö r f f e r , aber a u c h die höfische E r z i e hungsliteratur schlechthin festgelegt hat. Sempronius hält sich in seinem B r i e f z w a r g a n z an die V o r s c h r i f t e n scharfsinniger inventio - Gryphius funktionalisiert hier ein O p i t z - Z i t a t 1 2 1 - , m o n t i e r t seine sinnreichen B i l d e r j e d o c h als v e r q u e r e M i s c h u n g petrarkistischer F o r m e l n , antiker Mythologie und hyperbolischer F a c h t e r m i n o l o g i e ( » . . . der eintzigen subtilität und h ö c h s t e m E n t i m e i n e r M e t a p h y s i c a . . . « ) . 1 2 2 H i e r ist nicht nur das t e x t i m m a n e n t e » d e c o r u m « nicht g e w a h r t - zu v e r s t e h e n als ranggleiche B i l d e b e n e - , sondern auch die Verfehlung des sozialen a p t u m zwischen Stil und S p r e c h e r , aber auch zwischen Stil und A d r e s s a t zu m o n t i e r e n . 1 2 3 Natürlich spielt a u c h hier die »übel a n g e b r a c h t e « S p r a c h m i s c h u n g eine R o l l e , e n t s c h e i d e n d a b e r ist, d a ß eine Stilebene angestrebt wird, die - in sich s c h o n d u r c h b r o c h e n - schließlich in einer A r t zurechtgewiesen wird, die mit d e m k o m i s c h e n W ö r t l i c h - N e h m e n der petrarkistischen M e t a p h e r zugleich ihre soziale

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Das Liebeswerben des Gelehrten überhaupt muß auch im Zusammenhang der alten Diskussion gesehen werden: »An vero literato viro sit ducenda uxor«, bzw. »An, qui libris vacere debet, scilicet Studiosus, amare possit«: so die Überschriften der entsprechenden Kapitel bei Gumpelzhaimer/Moscherosch, D e Exerc. Academicorum Part, V , sect. II: D e Venere, cap. 2 und 3; dies ist nicht nur ein topischer »Ladenhüter«, sondern bezieht sich auf aktuelle historische Gegebenheiten: das z. T. weiterbestehende Eheverbot, bzw. die Unabdingbarkeit der Ehegenehmigung für Lehrer an Schule und Universität. Der Gelehrte als »fool in love« war der lebendige Widerspruch zwischen bürgerlicher Lebensanschauung, die E h e implizierte, und den in die humanistische Ideologie musischer Einsamkeit eingelagerten Relikte eines mönchisch-klerikalen Lebensideals der »vita solitaria«. Auch die Pedanten und Gelehrtengestalten der Komödie des 18. Jahrhunderts etwa bei Lessing, Geliert und Lenz reproduzieren die alte Konfliktlage. Daß sich in der Figur des verliebten Schulmeisters der Lustgewinn des Zuschauers auch aus der Tatsache ableitet, daß hier gleichsam Rache für die im Namen der Erziehung zu verdrängende Sexualität genommen werden kann, ist leicht einsichtig. »O ihr einiger Schleiffstein meines Verstandes« (Akt. II, 7, S. 70, Z . 18) nimmt Bezug auf Opitz Verteidigung der erotischen Poesie im »Buch von der deutschen Poeterey«, Kap. I I I , S. C l a . Akt II 7, S. 70, Z. 8f.; die petrarkistischen Formeln und Bilder, die Sempronius wie auch Horribili. gebrauchen, werden durch Übertreibung und Verzerrung nicht als solche, sondern in ihrer Verwendung kritisiert: das entspricht der Tradition anti-petrarkistischer Satire: darüber zu vgl. das diesbezügliche Buch von J . - U . Fechner, der freilich den Gesichtspunkt der kontextuellen Zuordnung außer Acht läßt. Vgl. etwa Harsdörffers Bestimmung (zit. bei Schlienger S. 105): »Wann man von hohen Personen / oder wichtigen Händlen Sinnbilder haben wil / muss man auch die Erfindung von grossen und wehrtgeachteten Sachen herholen / als da ist die Sonne / Mond / Sterne / Gold, E d e l s t e i n e . . . « ; die komischen Liebhaber bemühen sich, diese Regel zu befolgen und die metaphorische Sprache der »tropischen Hofgesellschaft« (so Windfuhr, Barocke Bildlichkeit, S. 154ff.) zu erreichen.

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Widersprüchlichkeit enthüllt: »Stellet ihn (den Brief - W. K.) unserem Koch zu. Denn weil er so voll feuriger Gedancken, können wir etwas Holtz zu dem Braten ersparen.« 124 Der Unzulänglichkeit »nach oben« entspricht die komische Unzulänglichkeit »nach unten«, d . h . im Verhältnis zu der als Frau aus dem Volke dargestellten Kupplerin Cyrilla. 125 Die »Einbildung« des Sempronius erweist sich in beiden Fällen als Resultat sozialer Fehleinschätzung, in der Konfrontation mit Cyrilla als unangebrachtes Überlegenheitsgefühl des Gelehrten. Der ostentativ latinisierende Sempronius - er verweist u . a . stolz auf Cicero als Vorbild - wird in eine Komödie des Mißverstehens verwickelt, in der der Autor alle Register des Wortwitzes zieht: 126 Wiederum geht Sempronius von einer falschen Hypothese aus. Seine gelehrten Zitate und Sentenzen verfehlen ihren Zweck, Eindruck zu erregen und Würde zu repräsentieren. Cyrilla besitzt gar nicht die Fähigkeit, sich in dem Verständnis- und Wissenshorizont zu bewegen, der überhaupt Kommunikation und damit auch Empfänglichkeit für die Intentionen des Schulmeisters ermöglichen würde. Auch hier ist nicht so sehr Gelehrsamkeit als »hohl« entlarvt, als vielmehr Gelehrsamkeit als Hindernis sozial richtigen, weil zweckmäßigen Verhaltens kritisiert. Es geht um das Problem der Verwendung, der sozialen Praxis, wie schon bei Coelestina um die Abschätzung des »usus«, also um die Kompetenz, gesellschaftlich adäquat zu urteilen. Sempronius disqualifiziert sich im Bereich des »iudicium«, dem Organ der Klugheit. Darin einbegriffen ist, daß er jene leutselige Herablassung vermissen läßt, die - wie der Umgang mit Höhergestellten - ebenfalls in der zeitgenössischen Theorie der Konversation formuliert war: dieser Maßstab wird auch beim Publikum vorausgesetzt. Daß sich der Pedant und die Kupplerin in einer zunächst nur verbalen, schließlich handgreiflichen Prügelei zusammenfinden ( V I I ) , bedeutet einen Rückgriff auf archaische, vorzivilisatorische Arten der Konfliktlösung - seit dem antiken Mimus vor allem in der commedia dell' arte vorgeführt. Indem beide auf dem Niveau vital-komischer Auseinandersetzung zu einer Verständigung kommen, enthüllen sich beider vitale Interessen: Sempronius legt Wert auf seine Gelehrtenwürde, zugleich bescheidenen Vermögenszuwachs und gänzlich unheroische, kleinbürgerliche Bequemlichkeit. 127 Diese Interessen - im angehängten »Ehe-Contract« genauestens aufgelistet - berühren die in der Konversation der guten Gesellschaft tabuisierten Zonen: das Finanzielle und die Bereiche der Leiblichkeit. Deshalb können sie als »nied124 125

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A k t II, 7, S. 71, Ζ 18f. Zu Gestalt der Kupplerin vgl. Creizenach II, 1, 287ff. sowie die Literatur zur Comedia dell'arte; Gryphius zeichnet die Figur sprachlich durch Verwendung des - allerdings mißverstandenen - Kirchenlateins; auch in seiner Komödie »Geübte Dornrose« (dazu Mannack, Gryphius, 62ff.) wird die erzwungene Eheschließung mit der Kupplerin zum Instrument der Bestrafung (eine Interpretation dieses Dramas - eines Doppelspiels - bei Catholy, D a s dt. Lustspiel, S. 148ff.; ferner G. Kaiser, in: Dramen des A . Gryphius, 1968, S. 256ff.). Zum Verhältnis Sempronius-Cyrilla ausführlich Schlienger, S. 57ff., 205ff., 214f. Vgl. die Ausführungen von G. Kaiser, Horribili, S. 253ff. S. A k t V , 11, S. 112, Z. 19ff.

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rig« auch nur in einer grotesken und obszönen Sprache vorgetragen werden. In ihnen wird ein Wirklichkeitsverhältnis präsentiert - von hier aus auch die Verbindungen zum Zunft-Drama des »Peter Squentz«, 128 das in den repräsentativen Formen des Umgangs und des gesellschaftlichen Rollenspiels gerade verhüllt wird. Indem beide sich prügeln, wirken sie komisch, daß sie aber sich prügeln, isoliert sie von der »zivilisierten« Gesellschaft, stuft sie zurück auf ein Niveau, das - nicht zuletzt ökonomisch bestimmt - die Zugehörigkeit zur Klasse derer verbietet, von denen über die Bestreitung des Lebensunterhaltes nicht gesprochen zu werden braucht. Daß auch der humanistische Gelehrte auf dieser Ebene eingeordnet wird, indiziert die Anerkennung von Rangordnungen, in denen nicht mehr gruppenspezifische Würden und Statusprivilegien die zentrale Rolle spielen, sonden die Verteilung von Geld und Macht. Die Bürgerlichkeit des Humanisten wirkt in einer Perspektive komisch, in der hinter der nunmehr angemaßt scheinenden Würde das Elend einer abhängigen Lebensweise sichtbar wird. Gryphius polemisiert nicht per se gegen die Schulgelehrsamkeit,129 sondern beschreibt in der Handlung der Komödie sehr genau, welche Faktoren und Vorzüge ins Spiel kommen müssen, um nicht als Nur-Gelehrter von der sich neu formierenden Elite seiner Zeit ausgeschlossen zu bleiben. Dies gilt im gleichen Maße für die Capitani. Gryphius hat dies bereits im szenischen Arrangement zum Ausdruck gebracht. Indem sich Sempronius und Horribili. einander im Kampf um Coelestina stellen (III 6), wird ein Duell vorgeführt, in dem keiner der Kontrahenten Sieger bleibt. Beide erweisen sich als Mißverständnissen verhaftet, deren Auflösung der Zuschauer kennt und deren überholte Positionen im Verlauf des Stückes selbst dramatisch bewiesen werden. Gestritten wird um Coelestina: es geht um den Nachweis, ihrer Liebe »würdig« zu sein.130 Gerechtfertigt werden soll also die Angemessenheit der eigenen Aspirationen; dazu werden alle Anstrengungen unternommen, den eigenen Status, die eigene Reputation herauszustellen. Der komische Effekt wird dadurch hervorgerufen, daß die Art und Weise, wie der Kampf ausgetragen wird, beide Partner gleichermaßen vor dem »hohen« Ziel ihres Verlangens diskreditiert. Indem beide gegenseitig ihr Potential an Würde ins Spiel bringen, wird klar, welche Normen sie beide verfehlen, dadurch aber auch, wie eng beide Figuren Vorstellungen verhaftet sind, deren Begründung uneinsichtig erscheint. 128

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Gryphius hat die Bezüglichkeit beider Lustspiele dadurch kenntlich gemacht, daß Squentz als Signatar des angehängten Ehecontractes auftaucht. Nimmt man beide Komödien zusammen, ergibt sich, daß Gryphius in ihnen die problematische Einordnung von drei wesentl. altständischen Gruppen thematisiert: des zünftigen Handwerkertums, der ritterlichen, landsäßigen Feudalität und des ebenfalls noch - jedenfalls an den Universitäten - sich korporativ-eigenständig verstehenden bzw. ideologisch im Gruppenideal der Gelehrtenrepublik absondernden Gelehrtenbürgertums. Dies war noch (vgl. Mannack, Gryphius, S. 84) das Mißverständnis Eichendorffs, der sich darüber wunderte, daß Gryphius in seinem »Horribili.« gegen die Schulgelehrsamkeit zu Felde ziehe, während er selbst in seinen Tragödien sich den Seneca zum Muster nehme. Akt III, 6, S. 80-85; zur »Würde« s. S. 81, Z. 16 (»ich sage / daß ich ihrer Liebe würdiger bin«).

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Dies ergibt sich bereits aus der Struktur des Konfliktes: ein Ringen um Präzedenz zwischen dem Adel des »Buches« und dem Adel des »Degens«, zu verstehen als Bereiche »professioneller« Qualifikation. 131 Beide treffen sich in der Frage »Wer bist du«, 132 beantworten diese Frage jedoch nur in verfehlten Formen ostentativer Repräsentation; in ihnen ist jene - nach dem Willen des Autors einzig mögliche Antwort ausgespart, die allein die Identität der Person erweist, die Antwort der Tugend. Stattdessen versuchen sich beide auf zweierlei Weise zu übertrumpfen. Sempronius erinnert an alte Raufhändel aus Studententagen, um seine Tapferkeit an den Tag zu legen, Horribili. möchte dem Pedanten als Verfasser von »vielen Sonetten, Madrigalen, Oden, Canzonen« usw. »das Widerspiel beweisen«. 133 Beide einigen sich schließlich, sich in einem Redekampf vor dem Bedienten Harpax zu produzieren. Der Capitano will eine »Roration halten / die ich getahn / als Pappenheim Magdeburg einnahm«, 134 Sempronius soll unmittelbar replizieren. Beide Reden sind so gestaltet, daß sie mit viel Worten und unter Aufbietung allerdings nicht beherrschter rhetorischer Kunstgriffe eigentlich nichts sagen. Horribili. verheddert sich bereits in den Formen des »exordium«, ebenso Sempronius: ihre Reden sollen Beredsamkeit beweisen, mißachten aber die Erfordernisse der Sache und der Situation. Gezeigt wird, wie kunstvolle Rede genau dort in Schweigen mündet, wo die Klärung eines Vorgangs, die Anweisung und Vermittlung von Handlungen beginnt. Der Konflikt von res und verba entscheidet sich zugunsten der »vielen Worte«, weil die Wirklichkeit als Gegenstand der Rede nicht zur Sprache kommt, sondern lediglich die Eloquenz der Sprecher demonstriert werden soll. Indem Gryphius auf der Bühne eine Situation herbeiführt, die genau den Typus mißlungener Rhetorik illustriert - Rhetorik als Medium im Kampf um Ich-Repräsentation ohne soziale Verbindlichkeit - , wird ex negativo klar, was wahre Beredsamkeit zu leisten hätte; so wie beide Partner im Rückzug auf ihre eigene »Würde« als Signum ständischer Rivalität die übergeordneten Zwecke der Politik, die Herstellung einer Gelehrtenbürgertum und Adel gleichermaßen umfassenden Ordnung desavouieren, erscheint auch ihre Rede als Form eines Geltungsanspruchs, der sich nicht vom Ganzen der Gesellschaft her definiert. Im höfischen Dienst des Palladius ist jene Instanz angedeutet, in der die Auflösung der Konflikte in der Herstellung von Ordnung erwartet wird. Mehr noch: die Reden fingieren eines der bedrückendsten Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges, die Einnahme von Magdeburg, dem Bollwerk des deutschen Protestantismus. Beide Redner haben dazu nichts zu sagen, weil - in den Worten des Sempronius - »jus sit in armis«. 135 Politik wird den Waffen überlassen. Damit ist 131 132 133 134 135

Ibid. S. 82, Z. Iff. Ibid. S. 80, Z. 25/26. Ibid. S. 82, Z. 14ff. Ibid. S. 82, Z. 18f. Ibid. S. 84, Z. 26. Kennzeichnend und doppeldeutig der Schlußsatz des Sempronius: »Remittire mich also auff die / die bißanher geschwiegen haben / und noch de facto schweigen« und die Schlußfrage des Horribili. (S. 83, Z. 34): »Könte man wohl was schöners gesaget haben...?«

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eine Rhetorik der bloßen Worte, die sich nicht in den Dienst des Friedens stellt, also eine Rhetorik, die nichts zur Lösung der politischen Konflikte beiträgt, durch das Unheil der Geschichte selbst widerlegt. Das Verständnismodell, vor dem beide Reden und ihre Sprecher komisch erscheinen, ist geprägt vom Gedanken an eine Friedensordnung, in deren Dienst »Waffe« und »Feder« sich zu stellen haben, d. h. aber von den Leitvorstellungen einer politischen Vernunft, in der eine stabile gesellschaftliche Ordnung von außen durch politische Mittel, im Mittun der Person aber nur durch Disziplin zu gewährleisten ist. Tugendordnung und Friedensordnung hängen so zusammen und bedingen einander. In der Optik des Jahres 1648 erscheint die alte Auseinandersetzung von arma und litterae obsolet, weil beide »Professionen« sich im Dienst am Staat zu bewähren haben, dessen Ordnung sich im Fürsten manifestiert. Gelehrtenadel und Waffenadel sind als bloße Antithese komisch, weil beide ihren Wert nur von einer funktionalen Bestimmung im Rahmen der Politik erhalten, anderenfalls ist die Gelehrsamkeit tot, die Tapferkeit der Waffen aber nur eine bombastisch-abenteuerliche, ja gefährliche Äußerung des »gladiatorius animus«.136 Gryphius selbst war als Syndikus der schlesischen Stände 137 ein Vermittler zwischen altständischen Privilegien und dem Ordnungsanspruch der Zentralmacht Habsburg: er hat auch in diesem Drama mit den Mitteln der Komik gezeigt, welche Qualifikationen einerseits vom Hofe als Ordnungsmacht abzufordern waren, um seine Souveränität zu rechtfertigen, andererseits, welche Gefahren in einer Loslösung gruppenspezifischer Einzelinteressen vom Ziel einer politischen Friedensordnung zu erwarten waren. Die scheinhafte Existenz des Pedanten und der Capitani ist in Handlung und Sprache als substanzlos gezeichnet, weil hier wie dort Rollenansprüche und Rollenerwartung nicht zur Deckung kommen. Die Laster der komischen Helden sind nicht wie bei Molière oder in der Typenkomödie des 18. Jahrhunderts zu verstehen als defekte Menschlichkeit oder vorgegebener Schein, der im Stück »korrigiert« würde - der Lasterhafte wird aus der Gesellschaft ausgestoßen oder nach Einsicht und Besserung in sie integriert - , sondern von vornherein bloßgestellt. Ob Sempronius und die Capitani von ihrer Einbildung geheilt werden, steht gar nicht zur Debatte, weil die Bühne kein Instrument der Erziehung des einzelnen Menschen, sondern auch in der Komödie »theatrum mundi« ist. Im Spiel wird eine Ordnung hergestellt, die nach den Maßstäben der Angemessenheit den sozialen, moralischen, sprachlichen und politisch-funktionalen Status der Figuren zum Ausgleich bringt. In der »Comedia pedantesca« des Andreas Gryphius wird die Gelehrtenkritik eines Moscherosch und der anderen von mir erwähnten Autoren fortgesetzt. In

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So lauten die gegenseitigen Anwürfe der beiden Kontrahenten zu Beginn des Zusammentreffens, S. 80, Z. 21ff. Vgl. dazu die biographischen Angaben bei Mannack und in der Gryphius-Monographie von W. Flemming, ferner Eisner, Zeichen und lit. Praxis, S. 219ff. (»so profilierte er sich durch die von ihm ergriffenen Maßnahmen als geschickter und entschlossener treuer Vertreter der Landstände«).

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der Konfiguration der dramatischen Personen und im gerechten Ausgang der Komödie sind jene Normen gesellschaftlicher Vernunft präsent, vor denen sich der »Nutzen« der humanistischen Gelehrsamkeit zu bewähren hat. Die Auseinandersetzung mit einem nur auf die Schule bezogenen, nur »professionellen«, nicht aber im Dienste des Ganzen stehenden Akademismus wird sich in den Jahrzehnten nach dem Erscheinen des »Horribilicribrifax« fortsetzen. Auch Christian Weise hat sowohl in seinen Dramen wie in seinen Romanen den Typus des Pedanten als Gegenbild der politischen Erziehung des Gelehrten benutzt. 138 Johann Beer zeigt mehrfach in seinen Geschichten, wie leicht res und verba, Realität und Rhetorik auseinanderfallen, wie der praktische Bezug der Schulgelehrsamkeit verloren ist, stattdessen aber eine Entfremdung droht, in der sich die Existenz des Menschen selbst wie bei Sempronius in der Beherrschung sprachlicher Formalitäten aufhebt. 1 3 9 In der Konfrontation des Landadeligen und seines Präzeptors, die sich gegenseitig zu Narren machen, schließt Beer an die komödiantische Konstellation des Gryphius an, demonstriert jedoch beispielhaft auch die reale Situation des humanistischen Magisters, den nur die »Einbildung« vor der Einsicht in die gegebene Verteilung des gesellschaftlichen Ansehens schützt. 140 In Eberhard Werner Happels »Academischem Roman« (Ulm 1690), literarisch bereits in Absicht und Struktur das Ende der Epoche bezeichnend, wird die Gestalt des Pedanten zu einer epischen Hauptfigur. Vorgeführt wird das ganze Spektrum akademischer Unangemessenheit wie auch - in höchst realistischen Schilderungen - die Wirklichkeit einer verelendeten Existenz; die Optik Weises ist kombiniert mit Rückgriffen auf die Gelehrtenkritik Zincgrefs und die Klagen eines Meyfart. Troll, der Pedant, lernt bei jenem »Supermagister Trubald Holofernes«, der einst bei Rabelais den Part eines mittelalterlichen Scholastizismus vertrat. 141 Wenn hier im Gattungsbereich der »niedrigen« Literatur und in der Bewußtseinslage eines bürgerlichen Realismus der Kreis bis zu den Tagen eines 138

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Man denke z.B. an den Schulmeister »Scibilis« in: »Bäurischer Macchiavellus«, der Vertreter der Gelehrsamkeit im insgesamt provinziell-komisch dargestellten Milieu eines ehrsamen, kleinstädtischen Bürgertums. J. Beer: Die teutschen Winternächte, ed. R. Alewyn. Frankfurt 1963: Buch IV, Kap. VII: »Ludwig erzählt, was er auf der Universität getan« (S. 236ff.), u.a. (aus der Perspektive des Landadeligen): »Ich habe mein Tag keine Ordnung, eine Oration zu tun gelernet, aber ich wollte flugs mit einem Gelehrten ex tempore auftreten und vielleicht mehr res auf die Bahn bringen als jener Wort. Denn wenn mir anjetzo ein Gelehrter reden sollte vom Ackerbau, da kommen sie daher mit einem abstrahierten Exordio, sie fangen an, einen Umschweif zu suchen, und brauchen unter dem Schein ihrer Gelehrsamkeit einen Haufen Phrases [ . . . ] Aber ich mache es schlecht und recht, ich greife der Sach geschwind ins Maul, und lauter res, lauter res, rede auch in einer Viertelstund so viel als jener in achtzehn Wochen.« Vgl. auch ibid. Kap. V, S. 226ff. den Bericht von Ludwigs Krankheit, einer Geistesverwirrung, die sich in den Formen rhetorischer Tollheit kundtut. Dazu insgesamt Urs Herzog, in: DVJs 45 (1971), S. 524ff. Vgl. Beers »Jucundi Jucundissimi Wunderliche Lebens* Beschreibung« (1680), ed. R. Alewyn. Hamburg 1957, S. 97ff. Zu Happels Roman vgl. im einzelnen meinen Aufsatz in A. Schöne (Hg.), BarockSymposion 1974, S. 383-95.

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angriffslustigen Humanismus zurückgeschlagen wird, offenbart sich in einem bescheidenen Detail die Gesamttendenz der Epochenwende: in ihr wird die scholastisch-akademische Kultur einer Revision unterzogen, welche zugleich auf die Anfänge wie auf die Zukunft einer praktischen Gelehrsamkeit verweist. Happels »Akademischer Roman« erscheint etwa gleichzeitig wie die »Vernunftlehre« des Thomasius, die Programmschrift der Frühaufklärung. Was die Gelehrtensatire bisher nur im einzelnen didaktisch vermitteln konnte, wird nun systematisch begründet, zugleich aber in einem Wissenschaftsbegriff verankert, in dem Nutz und Unnutz akademischer Gelehrsamkeit nicht mehr nur im Rahmen politisch-sozialer Zweckmäßigkeit, sondern im Entwurf einer aufklärerischen Praxis bestimmt ist.

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IV. Ethos der Vernunft: Systematische Begründung und praktisches Interesse der Gelehrtenkritik in der Frühaufklärung

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»Pedantismus« als Leitbegriff der Epochenrevision bei Christian Thomasius

Im Herbst 1687 schlug Christian Thomasius, Doktor beider Rechte und Privatdozent in Leipzig, ans Schwarze Brett seiner Universität ein Empörung und Aufsehen erregendes »teutsch Programma« an. Es lud ein zu einer Vorlesung »über des Gratians Grund=Reguln / Vernünfftig / klug und artig zu leben«. Der gleichzeitig zur Begründung gedruckte »Discours« formulierte als Thema die provokante Frage: »Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle?« 1 Mit dieser Schrift wurde das Schlagwort des »Pedantismus« in Deutschland endgültig zum Signum epochaler wie nationaler Selbsteinschätzung und Selbstkritik; wenn große Autoren des kommenden Jahrhunderts die barocke Kultur im Zeichen des »Pedantismus« disqualifizieren, ist der Vorstoß des Thomasius vorauszusetzen. 2 Die sozialen, literarisch-kommunikativen, wissenschaftstheoretischen, wissenschaftsgeschichtlichen und wissenssoziologischen Motive und Aspekte, die, wie ich zu zeigen versucht habe, in einem längeren historischen Prozeß das semantische Feld des Pedantismus-Begriffs bestimmt und ausgeweitet haben, werden von Thomasius systemkritisch gebündelt. Pedantismus erscheint im Horizont aufgeklärten Denkens als Syndrom des historisch Überständigen, zugleich als Kennwort einer nationalen Misere, die für Thomasius im Augenblick nur durch entschlossene Übernahme französischer Kultur, Sprache und Leitbilder zu kurieren ist. Wenn dem Pedanten der »parfait homme sage« 3 gegenübergestellt

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Ich benutze die Ausgabe von Peter von Düffel, in: Chr. Thomasius, Deutsche Schriften. Stuttgart 1970 ( = RUB 8369-71, S. 5-49; vgl. dort auch das Nachwort und die Auswahl wichtiger Literatur; eine Gesamtbibliographie mit ausf. Kommentaren hat vorgelegt Rolf Lieberwirth: Chr. Thomasius. Sein Wissenschaftliches Lebenswerk. Weimar 1955 ( = Thomasiana 2); Hinweise auf später erschienene Literatur, soweit hier wichtig, in den folgenden Anmerkungen. Vgl. speziell zu Thomasius den Brief Schillers an Goethe vom 29. 5. 1799: »Ich bin gestern zufällig über ein Leben des Christian Thomasius geraten [ . . . ] Es zeigt das interessante Loswinden eines Mannes von Geist und Kraft aus der Pedanterei des Zeitalters, und obgleich die Art, wie er es angreift, selbst noch pedantisch genug ist, so ist er doch, seinen Zeitgenossen gegenüber, ein philosophischer, ja ein schöner Geist zu nennen.« Diseurs S. 45: . . . »ein vollkommener weiser Mann ( . . . ) den man in der Welt zu klugen und wichtigen Dingen brauchen kan.«

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wird, gewinnen die im Schlagwort geronnenen Konflikte eine neue Qualität. Was als Auseinandersetzung um Geltung und Kompetenz des humanistischen »grammaticus« in der Renaissance begann und zugleich das Unbehagen an einer scholastisch entfremdeten Elementarerziehung beförderte, was in der Konfrontation mit einem politischen Rationalismus, mit einer ebenso moralistisch wie gesellschaftlich-praktisch akzentuierten Verhaltenslehre weitergeführt wurde, was sich in der Opposition von Verbalismus und Realismus, in der Diskussion des »usus«, d.h. von Nutzen und Praxis, entfaltete, was schließlich zum Indiz sozial »marginalisierter« Literatur- und Sprachpraxis, zum Symptom fehlender Anpassung an die Gegenwart »moderner« Gesellschaftlichkeit geworden war: all dieses Potential an Bedeutung ist bei Thomasius präsent und wird in einer zukunftweisenden Form nicht nur funktionalisiert, sondern systematisch begründet. Die Verwendung des Deutschen als Sprache der Lehre 4 - so epochemachend im Rückblick anzusehen - ist dafür nur Symptom. Es geht auch um mehr als um die Reform der Ausbildung des Gelehrten, um mehr als die bei Christian Weise zu beobachtende Reform des akademischen Erziehungsprogramms im Sinne der »politischen Klugheit«. Weises Gedanken zielten im wesentlichen darauf, das Gelehrtenschulwesen den Anforderungen der fürstlichen Bürokratie und höfischen Herrschaftspraxis im Interesse des bürgerlichen Beamtentums und seiner Aufstiegsmöglichkeiten anzupassen: daher die pragmatische Revision der Rhetorik, vor allem der Systematik der Decorum-Vorschriften zugunsten situativer Rücksicht auf den jeweiligen Adressaten, daher die Ausbildung und Theorie der Bedingungen erfolgreichen sprachlichen Handelns überhaupt (Kriterium der Effizienz, empirische Menschenkenntnis). 5 Daß Thomasius mit Weise - aller Unterschiede ungeachtet - in wichtigen Punkten übereinstimmt, kann nicht verwundern und ist von der neueren Forschung betont worden: dies betrifft vor allem den Kontinuitätszusammenhang zwischen der rhetorischen Decorum-Lehre auf der Basis »politischer« Urteilskraft und der frühaufklärerischen Erörterung des Geschmacksproblems, 6 aber auch die schon bei Weise - neben einer Theorie der Staatsklugheit und politisch-höfischen Kommunikation - ausgebildete Lehre einer »gesellschaftlichen« Klugheit im privaten Sektor. Diese »Privatklugheit« organisiert und reflektiert individuelles Verhalten nach Maßgabe der Erfahrung und

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Zu diesem Aspekt vgl. Richard Hodermann: Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache um die Wende des 17. Jahrhunderts. Diss. Jena 1891; über Thomasius' Verhältnis zur dt. Sprache s. E. Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache, 1966, S. 16f. Wie der Anstoß des Thomasius im Universitätsbereich gelegentlich auch positiv rezipiert wird, zeigt die recht umfangreiche Abhandlung des Herborner Professors Chr. Th. Gravius: De Nostrae Linguae Vernaculae In Docendi Discendique Artibus Et Scientiis [...]. Herborn 1692. Zu Weise umfassend Barner, Barockrhetorik; neuerdings mit weiterführenden Hinweisen sowie einem Vergleich von Weise u. Thomasius: Sinemus, Poetik und Rhetorik (1978), S. lOOff. sowie 161f.; vgl. auch J. Brückner (1977). Diese Perspektive ist von Sinemus (ibid. S. 161) einleuchtend entwickelt.

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steht - hier in der Tat die V e r b i n d u n g z u m politischen Prudentismus - gleichfalls im D i e n s t e der Interessensicherung u n d Selbstbehauptung d e s E i n z e l n e n . 7 W a s unterscheidet also die Gelehrtenkritik der politischen B e w e g u n g seit A n f a n g d e s Jahrhunderts, deren A k k o m o d a t i o n s p o s t u l a t e W e i s e z u m ersten M a l e in deutscher Sprache für den Schulgebrauch systematisierte, v o m Begriff d e s Pedantischen bei T h o m a s i u s ? T h o m a s i u s sieht die a k a d e m i s c h e Erziehung in D e u t s c h l a n d polarisiert in zwei g l e i c h e r m a ß e n unfruchtbare, sich b e i n a h e spiegelbildlich aufeinander b e z i e h e n d e Lager: z u m e i n e n in die scholastisch-pedantische G e l e h r s a m k e i t e i n e s profession e l l e n A k a d e m i s m u s , in die zünftige E n k l a v e derer, die »unter d e m studieren fast veraltet sind«, z u m anderen in e i n e kavaliersmäßige und den

akademischen

Freiraum unverbindlich ausnützende Oberflächenbildung v o n L e u t e n , die »statt der B ü c h e r Wohllust und Ergetzlichkeit geliebet«. 8 D i e s ist die gesellschaftliche D i s s o z i a t i o n der Gelehrtenrepublik, die im traditionellen K l a g e t o p o s über den » c o n t e m p t u s studiorum« seit B e g i n n des Jahrhunderts z u m T h e m a g e w o r d e n war. D e m g e g e n ü b e r proklamiert T h o m a s i u s die Einheit v o n galanter Weitläufigkeit und nützlicher Wissenschaft. In dieser Einheit sind die traditionellen G r e n z e n zwischen professioneller G e l e h r t e n e r z i e h u n g und politischer Standesbildung, d . h . aber auch die Kluft zwischen privater und öffentlicher Sphäre zwar in der 7

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Die Ausbildung einer Theorie der Privatklugheit bei Weise hat G. Frühsorge verfolgt (Der politische Körper, 1974); er trennt dabei streng die Ursprünge der politischhöfischen Klugheit einer - nach Habermas - repräsentativen Öffentlichkeit von der bürgerlichen Klugheit als Lebenslehre des »gemeinen Lebens« (vgl. S. 43ff. u. die Einleitung); dies gegen Barner (Barockrhetorik 138f.), der von einer Übertragung der politischen Klugheit auf die »Vita civilis« spricht: vgl. zu beiden Thesen nun Sinemus, Poetik und Rhetorik, 1978, 132ff. Frühsorges Bedenken gegen Barner, die Frage nach der Art der Übertragung (S. 40), münden in die These von der Aufwertung »sensorischer Erfahrung als Basis der Selbstbehauptung des empfindenden Subjekts« - dies nach Frühsorge (S. 21) Movens bürgerlicher Privatklugheit - ; ohne mich hier auf eine Auseinandersetzung einlassen zu können, halte ich Frühsorges strikte Trennung für überzogen. Inhalte und Geltungsbereich der »Klugheit« sowohl bei Hofe als auch im Kreis des Erwerbsbürgertums kongruieren im Zwang zur Kalkulation, die sowohl Affektdisziplin wie Welt- und Menschenkenntnis einschließt. Norbert Elias, Höf. Gesellschaft, 141, hat auf die verschiedenen Ziele der Verhaltenssteuerung aufmerksam gemacht (hier: Kalkulation von Gewinn und Verlust, dort von Prestige und Status-Chancen): die formale Analogie machte eine Übertragung im Sinne Barners durchaus möglich. Diseurs, S. 35; letztere sind Vertreter jener »falschen Galanterie« (dazu etwa Diseurs, S. 13), also einer nur äußerlichen Nachahmung französischer Zivilisation und Sprache, die Thomasius nicht nur hier immer wieder seinen eigenen Vorstellungen entgegenstellt; vgl. entsprechende Porträts französisierender Lebensweise: Vernunfftlehre (1691, Nachdruck 1968), S. 12f. sowie zahlreiche in den »Kleinen Schriften« (1701), bes. »Vom elenden Zustand der Studenten«; einen Auszug daraus (»Zwei Erscheinungsformen falscher Galanterie: Wollust und Ehrgeiz«) abgedruckt bei C. Wiedemann (Hg.), Der Galante Stil 1680-1730. Tübingen 1969 ( = Deutsche Texte 11), S. 18ff.; dort auch exemplarische Texte der zeitgenössischen Galanterie-Diskussion von anderen Autoren. Zum Begriff der »Wollust« ist einzusehen Thomasius »Ausübung der Sittenlehre« (1696, Nachdruck 1968), 9. Hauptstück, S. 183ff., spez. zum »studieren eines Wohllüstigen« S. 208ff. 425

konkreten Ausfüllung der anzustrebenden Kompetenzen noch erkennbar, jedoch zweitrangig geworden im Hinblick auf die Formierung einer einheitlichen »Lebensart«, die für das »gemeine Wesen« schlechthin als nützlich gilt.9 Was gemeint ist, konkretisiert sich für Thomasius in den von französischen Theoretikern entwickelten Leitbildern der honnêteté, der beauté d'esprit, des bon goût, der galanterie. 10 Mit Vaugelas (1595-1650) und Costar (1603-1660) wird Galanterie erläutert, daß es etwa gemischtes sey / so aus dem je ne scay quoy, aus der guten Art, etwas zuthun / aus der manier zu leben / so am Hoffe gebräuchlich ist / aus Verstand / Gelehrsamkeit / einen guten judicio, Höfflichkeit / und Freudigkeit zusammengesetzt werde / und deme aller zwang / affectation, und unanständige Plumpheit zuwieder sey. 11

Thomasius identifiziert diesen Komplex von Merkmalen eines »geschickten Menschen« ausdrücklich mit den im Begriff der »politesse« zusammengefaßten Fähigkeiten. Dazu tritt erläuternd der von Balthasar Gracian am Modell des »discreto« entwickelte »Geschmack«. 12 Dieser Terminus wird ausdrücklich nicht als lediglich ästhetische Urteilskategorie, wie bei Bouhours in seiner Theorie des »je ne sais quoi« verstanden, 13 sondern wie bei Gracian als eine den persönlichen Habitus sowie die individuelle Lebenspraxis regulierende Handlungskategorie, als praktisches Vermögen. Bei dem Spanier dominiert allerdings ein dezidiert kalkulatorischer Zweckzusammenhang. Nur mittels des »gusto«, der natürlichen Sicherheit instinktiver Erkenntnis, waren angesichts der Unberechenbarkeit des sozialen Rollenspiels situationsadäquate und lebenstaktisch erfolgversprechende Verhaltensweisen zu gewährleisten. Für Gracian war der Geschmack überlegenes Komplement des Verstandes (»razon«), insofern er auf der Basis subjektiv-empirischer Erfahrung, also in der Tradition einer allerdings pragmatisch-kasuistisch entfesselten »Klugheit« Taktik und Strategie der Lebenskunst, ja des Lebenskampfes bestimmte. 14

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Vgl. Diseurs S. 30ff. : das Bild eines »gelehrten Fürsten« in der Tradition der Herrschererziehung mit Hinweis auf Piatos »rex philosophus«, dann S. 32 die »Privat-Person« betreffend; nach Bouhours wird (Diseurs S. 17) als der »homme de bon goust« definiert: » . . . so viel den Willen angehet / der eine vergnügliche und dem gemeinen wesen nützliche Lebens-Art einer verdrießlichen und pedantischen vorziehet«. 10 Vgl. Diseurs S. 45. 11 Diseurs, S. 19. 12 Zu Gracian bes. Diseurs, 47; vgl. S. 45: »Discret seyn« »Stück der galanterie«. 13 Zu Bouhours' Ästhetik der »delicatesse« vgl. Schümmer, Geschmacksbegriff 131f.; K. Stierle u. a.: Artikel »Geschmack«, in: Hist. WöBu d. Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 444-456, spez. 445f. 14 Zum praxisbezogenen Geschmacksbegriff Gracians vgl. Schümmer, 121ff. ; Schröder, B. Gracians »Criticón«, 72ff., 150f., 158ff.; Blüher, Seneca in Spanien, 397ff.; Barner, Barockrhetorik, 124ff.; Mulagk, Phänomene, 198ff., 254ff.; Freier, Kritische Poetik, 112ff. : er schlägt den Begriff »Fingerspitzengefühl« vor; dort auch spez. 116f. zu Thomasius; Stierle u.a. Art. Geschmack, Sp. 445f.; auch Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 31ff., betont den gleichzeitig moralischen wie gesellschaftlichen Charakter des Geschmacksbegriffs, seine »ihm eigene Normkraft, sich der Zustimmung einer

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Der Gegensatz von Pedantismus und »bon goût« scheint somit vordergründig lediglich auf die Anpassung des »savant« an die Wirklichkeit der »grossen Welt«, an die Erfolgsregeln, an Verhaltenskodex und den Kommunikationsstil einer aristokratisch-höfischen Oberschicht hinauszulaufen, scheint ein praxisbezogenes, modernisiertes »Rollenprofil« herauszuarbeiten, in dem die Isolation der akademischen Gelehrtenrepublik aufgebrochen wird. In der Tat ist dieses Postulat im Schlagwort von der »galanten Gelehrsamkeit« alsbald auch zur gängigen Münze geworden. 1 5 Zwar liegt auch in dieser Propagierung einer einheitlichen Lebensart, in der Profilierung eines von den Anforderungen des geselligen Miteinanders regulierten Bildungsstandards ein emanzipatives Moment: würde sich Thomasius darauf beschränken, liefe seine Argumentation allerdings nur auf die Fortsetzung jener Pedantismus-Kritik hinaus, die, wie ich gezeigt habe, bereits seit Jahrzehnten in der »politischen« Pädagogik ihren festen Platz besaß. Zieht man nicht nur den provokativen »Discours« von 1687, sondern vor allem die bald darauf erscheinenden praktischen Teile der »Vernunfftlehre« (1691) und der »Sittenlehre« (1696) heran, 1 6 zeigt sich freilich sehr deutlich, wie bei Thomasius die Abrechnung mit der »Pedanterey« des Zeitalters in einer neuen Zweckbestimmung der Wissenschaft eingelagert ist, die dadurch erst als solche im modernen Sinne und im Gegensatz zu »Gelehrsamkeit« (doctrina) konstituiert wird. Die praktisch-methodische Voraussetzung jedes Wissenserwerbs - »ars« im traditionellen, vom humanistischen Trivium her definierten Sinne - ist für Thomasius kompetente Ausübung der »gesunden Vernunfft«, Ziel allein das dadurch zu erwerbende Wissen um Wahrheit. 1 7 In der kritischen Auseinandersetzung vor allem mit Descartes, aber auch mit Malebranche und anderen modernen Theoreti-

idealen Gemeinschaft sicher zu wissen«. Besonders das letztere begründet, wie noch zu entwickeln ist, Thomasius' Rezeption des Geschmacksbegriffs. - Zur Gracianrezeption in Deutschland zusammenfassend (mit der älteren Literatur: Cohn, Borinski) jetzt Barner, Barockrhetorik, S. 142ff. 15 Zum Begriff des Galanten vgl. neben den älteren Arbeiten von Steinhausen und Wendtland jetzt Martens, Die Botschaft der Tugend, S. 354ff.; zur Anziehungskraft des höf.-galanten Lebensideals für das Bürgertum um 1700 vgl. W. Martens: Bürgerlichkeit in der frühen Aufklärung, in: F. Kopitzsch (Hg.), Aufklärung S. 348f. 16 Lieberwirth Nr. 55, bzw. 115; ich benutze jeweils die photomechanischen Nachdrucke, hgg. v. W. Schneiders. Hildesheim 1968; die »Ausübung der Sittenlehre« (zitiert als AdSL) bildet den zweiten, praktischen Teil der 1692 erschienenen »Einleitung zur Sittenlehre« (Lieberwirth Nr. 61); die »Ausübung der Vernunftlehre« (Zit. als AdVL) setzt die »Einleitung zur Vernunfftlehre« von 1691 fort (Lieberwirth Nr. 52). Bei Lieberwirth auch Hinweise auf die ältere Sekundärliteratur. Zur Ethik des Thomasius umfassend. W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, sowie W. Bienert (1934), 21ff. und F. M. Barnard: The »Practical Philosophy« of Chr. Thomasius, in: Journal of the History of Ideas 32 (1971), 221ff. 17 Der erste Teil der »Vernunftslehre« behandelt das Wahrheitsproblem, ist jedoch bereits praktisch orientiert, denn die »Erfindung neuer Wahrheiten« bedeutet, »den natürlichen Trieb der gesunden Vernunfft folgen« (so die Zusammenfassung in: AdVL, S . 5 ; vgl. auch das Vorwort von W. Schneiders); es gibt bei Thomasius keinen Vernunft-Begriff, der sich nicht funktional, also als Instrument praktischer Aufklärung verstünde.

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kern wird Vernunft nicht mehr als Organ scholastischer Syllogistik und Disputierkunst, nicht mehr als »Waffe« in einem »Krieg« 18 um die Auslegung von Axiomen bestimmt, sondern erscheint als praktische Fähigkeit, sowohl Denktraditionen als auch das jeweils eigene Wissen als vorurteilsbefangen zu erkennen und zu überprüfen. Als Instrument dieser Prüfung bleibt Vernunft »Kunst« und ist somit angewiesen auf die Erziehung des Denkenden. Denn - das ist bedeutsam Vorurteile erwachsen nach Thomasius nicht nur aus der unkritischen Übernahme autoritativ sanktionierter (Schein-)Wahrheiten (praejudicium autoritatis), sondern sind zugleich immer auch das mögliche Ergebnis einer affektiven Trübung des Urteilsvermögens im denkenden Subjekt selbst (praejudicium praecipitantiae: Vorurteil als Voreiligkeit). 19 Der kritische Wahrheitsanspruch der Vernunft ist durch psychologisch-anthropologische Hindernisse, durch Gefahren seitens der menschlichen Affektgebundenheit, also damit durch mangelnde moralische Ausbildung bedroht. Die Fähigkeit zu vernünftigem Urteil ist angewiesen auf kritische Selbsterkenntnis, Überprüfung der eigenen Bedingtheiten, eine Selbsterkenntnis, die allerdings nicht nur als spekulative Innenschau zu verstehen ist, sondern immer zugleich die Vergewisserung des Ichs in der Gesellschaft erfordert. 20

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Ausübung der Vernunftlehre, S. 273ff.; vgl. auch Thomasius' ausführliche Erläuterungen in der Widmung dieser Schrift (fol a 3) ».. .Doch hat bißhero nun etliche hundert Jahr hero in denen Teutschen Hohen und Niederen Schulen die gelehrte Welt dieser GrundLehre der Wahrheit entbehren müssen / indem die auffgeblasene und Sophistische Syllogismus-Kunst dieses Titels der Logic ohne einigen Grund und gantz unverschämter Weise sich angemasset / weil sie sich nicht entblödet vorzugeben / sie wolte jungen Leuten den Weg weisen die Wahrheit vermittelst ihrer Vernunfft zu finden / und dennoch daneben offenbar gestanden / daß die Erfindung der Wahrheit als ein finis externus nicht in ihrem Vermögen stehe. Wannenhero etliche Hochgelehrte und Galante Männer von allerhand Nationen in diesem / das Sclavische Joch der alten Irrthümer sich von dem Halse werffenden Seculo über diesen Haupt-Mangel theils sich beklaget / theils auch selbsten versucht denselben durch ihre Arbeit zu ersetzen.« 19 Ausübung der Vernunftlehre, vor allem 1. Hauptstück; S. 21 die Definition: »Die praejudicia sind aber falsche Meinungen / die dich von Erkentniß der Wahrheit abführen«; das Mittel gegen Vorurteile ist der Zweifel: Thomasius übernimmt dabei nicht den Cartesischen Begriff eines grundsätzlich-methodischen Zweifels selbst an der Realität von Ich und Welt, sondern postuliert die Annahme von Grundwahrheiten; der eingeschränkte Gebrauch des so definierten »dubium dogmaticum« meint den Zweifel an jeweils bestimmten Dingen und Urteilen; daß der Kampf gegen das Vorurteil der Autorität konkret die Position der individuellen Vernunft gegen »Obrigkeit, Eltern und Praeceptoren«, damit gegen die in der Ethik des reformatorischen Humanismus gebräuchliche Auslegung des vierten Gebotes formuliert, wird von Thomasius ausführlich begründet (S. 42ff.). Grundsätzlich zur Art der Vorurteile ist zu vgl. die »Einleitung zur Vernunftlehre«, spez. 12. Hauptstück, S. 287ff. 20 Als Imperative formuliert in: »Ausübung der Vernunftlehre«, bes. S. 63ff.: »Denn wenn er diese praestiren könte [gemeint: »über seine affecten allbereit zu triumphieren«, W. K.] hätte er seine Studia allbereit absolviret«; spez. S. 65f.: der Zusammenhang von Vernunfft-Lehre und Weisheit; »Damit du aber der Weißheit in dir nicht verfehlest / darffstu nichts mehr beobachten / als: Lerne dich selbst erkennen. [...] Aber wundere dich nicht wie es komme / daß öffters unter tausend Gelehrten kein Weiser ist / weil nicht nur niemand die Lehre von der Selbst-Erkentniß practiciret, sondern wir leider in einem

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» U n p e d a n t i s c h e « Wissenschaft setzt also die Beherrschung der A f f e k t e , die durch d e n W i l l e n zur V e r n u n f t zu leistende Z ü g e l u n g der Triebe voraus: sie m u ß sich vor allem konzentrieren auf die B e k ä m p f u n g der E i g e n l i e b e . 2 1 In seiner »Sittenlehre«, in der sich T h o m a s i u s mit d e n abendländischen A f f e k t t h e o r i e n (bis hin zu D e s c a r t e s ) auseinandersetzt, wird im G e g e n s a t z dazu die »vernünfftige L i e b e « als zentrale anthropologische P o t e n z d e s M e n s c h e n , als Grundlage und Mittel s o w o h l einer Erziehung d e s E i n z e l n e n wie auch einer v o n H a ß , Z w a n g , G e w a l t befreiten Gesellschaft angesprochen: 2 2 in ihr gründen nach T h o m a s i u s alle T u g e n d e n , aus ihrem F e h l e n e r g e b e n sich über die drei H a u p t a f f e k t e (Wollust,

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solchen Seculo leben / darinnen die Leute / die das Nosce teipsum inculciren für Fantasten / wo nicht gar für schädliche Ketzer geachtet werden.« Zu den Haupt-»Axiomen« der Weisheit gehören die Bestimmung des Menschen als Lebewesen (Unterschied zu den Bestien), also eine anthropologische Reflexion, das der Theologie zugewiesene Nachdenken über das Verhältnis Gott-Mensch, vor allem aber: »betrachte deine Pflicht mit denen du allen Menschen die mit dir in einer Gesellschafft leben / verpflichtet bist [...]«; dieser soziale Aspekt der Selbsterkenntnis wird in der »Ausübung der Sittenlehre« präzisiert: bes. 13. Hauptstück, S. 391ff.; spez. zum Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Menschenkenntnis S. 397 (§ 4); jene wird vorausgesetzt, um diese in praktischer Absicht kritisch zu gewährleisten. Kritisch ist Menschenkenntnis, wenn sie die Wirklichkeit hinter allem Schein durchschaut; das ist nur möglich, wenn empirisch auch das »euserliche Thun und Lassen« genau beobachtet wird; »wüst du aber andre Leute kennen lernen / mustu ein gut Auge haben. Denn dieses kan dir kein Lehrmeister [ . . . ] geben«. Weitere Belege bei Sinemus (1978), S. 164: dort auch die Analogien zu Gracians Bestimmung von Selbstund Weltkenntnis (vgl. Handorakel, ed. Hübscher, S. 46, 78f., 132f. dazu W. Krauss, Gracians Lebenslehre, bes. 107ff.). Sinemus greift nur auf Thomasius' »Kurtzen Entwurff der Politischen Klugheit« (1705, deutsch 1707), nicht aber auf seine »Sittenlehre« zurück, aus der entscheidende Unterschiede zu den Gedanken des Spaniers ersichtlich werden. Sowohl Thomasius wie auch Gracian begreifen und entlarven den Schein des gesellschaftlichen Rollenspiels und der repräsentativen Prätentionen. Dieser jedoch als produktive Voraussetzung einer vernünftig-naturhaften Ordnung des sozialen Lebens, in der Postulate der Sozialdisziplin fortgeschrieben werden, jener als Qualifikation des heroischen Individuums, das sich gerade in der virtuosen Beherrschung der Anpassung als Resultat vollendeter Erkenntis bewährt. Kennzeichnend für beide Autoren, d. h. für ihren operativen Begriff von Lebensweisheit ist das Zurücktreten der christlich-stoischen teleologischkosmologischen Situierung der Selbsterkenntnis. Vgl. Einleitung zur Vernunfftlehre, spez. 305ff.; ferner ausführlich in »Ausübung der Sittenlehre«, S. 15ff. (u.a. Verstand als »König«, Wille als »Rahtgeber«; der »falsche« Wille ist Hauptursache des »allgemeinen Unglücks«: dieser Terminus erinnert an die »publica mala« des Lipsius: gerade gegenüber dessen Empfehlung der »constantia« wird die grundsätzlich andere Zielrichtung, Begründung und Eigenart der Argumentation ersichtlich; an die Stelle der Standhaftigkeit tritt die »Gemütsruhe«). Vgl. »Ausübung der Sittenlehre« allgem. 1. Hauptstück; auch S. l l l f . : »Und also hätten wir zwey Haupt-Arten und Brunnquellen aller andern Gemüths-Neigungen. Die Liebe und den H a ß / wiewohl auch unter denenselben die Liebe die vornehmste ist daß wir fast sagen können: die Liebe sey der eintzigste Affect und Liebe und Verlangen sey einerlei. [ . . . ] Zugeschweigen daß der Mensch zum lieben / nicht aber zum hassen geschaffen ist / und also das vornehmste Wesen des Menschen in seinem Willen / dieser aber gäntzlich im lieben bestehet.«

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Ehrgeiz, Geldgier) alle Laster. 23 Bis in biblische Sprach- und Stilmuster hinein ist hier eine Utopie der universalen Liebesethik formuliert, in der das praktische Interesse der Aufklärung, d.h. des vernünftigen Urteils mündet. Nur durch »vernünftige Liebe« lassen sich Friede, Glückseligkeit und Gemütsruhe, die drei Hauptelemente jenes Endzustands erreichen, in dem Aufklärung als Erziehung des einzelnen und - diese vorausgesetzt - Aufklärung als Erziehung der Gesellschaft ihren Zweck erfüllt hat. 24 Durch die erkenntnispsychologische - hierin auch einbegriffen: die interessenbedingte - Gefährdung der Vernunft hängt die Erkenntniskritik des Thomasius die Konstitution der Vernunft als Methode - zutiefst mit dem System der affektiven Disziplinierung zusammen, wie es sich in Politik und Ethik seit Beginn des Jahrhunderts herausgebildet hatte. Vernunftkunst steht in einem interdependenten Zusammenhang mit der Willensleistung des Menschen, setzt seine sittliche Erziehung voraus. D i e »wunderliche Verwirrung«, als die man die Koinzidenz von Galanterie, Geschmack und Vernunftlehre bezeichnet hat 25 - bereits 1687 geht Thomasius damit ausdrücklich über die bloße Theorie einer galanten Hofphilosophie hinaus 26 - , ist nicht äußerliche Einkleidung des aufklärerischen Impetus in den Benimm-Kodex der galanten Gesellschaft, sondern deutet auf die Bindung der vorurteilsfreien Erkenntnis an die vorgängige Selbstkontrolle des Subjekts. Vorurteilsfreie Vernunft setzt ebenso Erziehung voraus, wie sie Erziehung bewirkt: beide Seiten des hieraus sich ergebenden pädagogischen Programms hat Thomasius gesehen und beschrieben. In diesem Denkzusammenhang berühren sich - schlagwortartig formuliert: Descartes und Gracian; daß die von Thomasius

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Ibid. S. 139ff. sowie 157ff., spez. zur leichten Übersicht die Affektentafel S. 170-73. Gemütsruhe ist neben leiblicher Gesundheit Hauptelement der »zeitlichen Glückseligkeit«; daß »alle Menschen nach einem glücklichen Leben trachten« wird als Grundaxiom gesetzt (Ausübung der Sittenlehre S. 3ff. als Referat der Deduktionen der »Einleitung der Sittenlehre«; vgl. dazu Bienert, 24ff.); die Sittenlehre speziell hat die Aufgabe, die inneren Hindernisse der Gemütsruhe zu beseitigen, die »Politic« muß die »äußerlichen Verhinderungen abschneiden« (Resümmee in AdVL, S. 54f.); durch die Gemütsruhe werden die allseits erfahrbaren Leiden der menschlichen Gesellschaft (vgl. den Katalog in: A.d.SL. S. 5ff.) beseitigt, weil sie identisch mit der »vernünfftigen Liebe« ist, also eine vernunftgeleitete Kontrolle aller Affekte überhaupt, zugleich eine Harmonie der menschlichen Verstandeskräfte (diese als Termini des rhetorischen Systems - memoria, ingenium, iudicium: A.d.SL. 8. Hauptstück, S. 174ff.). Von Thomasius' individualpsychologischer und sozial-funktionaler Definition der Gemütsruhe ergibt sich auch sein Verständnis des »Mißvergnügens« (vgl. A.d.SL. S. 20f.) als ihr Gegenteil. Der historische und überlieferte Typ des Melancholikers wird damit neu gefaßt: von hier aus wären weitere Untersuchungen zu den entsprechenden Figuren der zeitgenössischen Komödie (z. B. bei Weise) möglich. Schümmer, Geschmacksbegriff, S. 138. Vgl. Diseurs, S. 41 (Kritik an des Abbé de Gerard »La philosophie des gens de Cour« Paris. 3. Aufl. 1685): »... vielweniger was die Methode betrifft / allzu genau erinnern / was er eigentlich durch die Philosophie verstehe / auch die Vernunfft-Lehre als das nötigste Stück ausläst...«. Ähnlich auch in Thomasius' »Hofphilosophie« (lat. 1688) sowie in Monatsgespräche, Januar 1690, spez. S. 23ff.

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akzentuierte Interdependenz von Vernunftkompetenz und Affektkontrolle im Rationalismus der Aufklärung aufgelöst und in eine Hierarchie von Sinnlichkeit und Verstand übergeführt wird, hat bedeutende Konsequenzen. Davon ist auch die spezifisch ästhetisch-literarische Geschmacksdiskussion betroffen; Gottsched wird in seiner Poetik den Geschmacksbegriff zu objektivieren versuchen, d . h . rationalistisch in der Anlehnung an Wolff mit der Unbedingtheit von Regeln zum Ausgleich bringen. Die bei Thomasius auf die Gestaltung der Lebenspraxis wie auch der gesellschaftlichen Kommunikation bezogene Funktion des Geschmacks, aber auch seine erzieherische Modellierung des ganzen Menschen müssen in dem Maße in den Hintergrund treten, als Geschmack nur noch erkenntnistheoretisch, nicht aber mehr wie bei Thomasius affektiv-pädagogisch definiert wird. 27 Diese in der Folge einer metaphysisch-rationalistischen Systematik sich ergebende Degradation des Geschmacks zum untergeordneten Teilvermögen der Verstandeskräfte wird eigentlich erst von Schiller in der Nachfolge Kants rückgängig gemacht; in der »Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts« wird die Erziehung des Menschen zur Vernunft von neuem problematisiert. Gewiß kategorial ganz anders als bei Thomasius, doch mit ihm analog in der Sicht des Grundproblems. Indem Thomasius über die regulative Funktion der »vernünfftigen Liebe« Vernunftkunst mit Sittenlehre, Erkenntnis mit Moralität verknüpft, ist bereits in der Begriffsbildung ein Zirkelschluß erkennbar, dessen ideologische Aporien unausweichlich sind: die affektive Bedingtheit des Vernunfturteils läßt sich nicht durch Vernunft aufheben, sondern nur durch Willenserziehung. Diese setzt aber logischerweise wiederum Vernunfturteile, zumindest aber die Freiheit des Willens voraus. In dem Augenblick, wo Thomasius die auf Einsicht beruhende Möglichkeit, sich zu bessern, bezweifeln oder gar verneinen mußte, war der Aufbruch des Menschen zur vernünftigen Liebe, die Initialzündung praktischer Selbst-Aufklärung sozusagen, nur noch in einem göttlichen Gnadenakt zu erhoffen. Die Wendung des Thomasius zum Pietismus ergab sich als letzte Konsequenz seines Menschenbildes. 28 Man muß die von Thomasius mitbedachte Bedingtheit des Prozesses der Vernunft im Auge behalten, um in seiner Zustimmung zu den Umgangsnormen einer gesellschaftlichen Elite mehr zu sehen als nur die unvermeidliche oder etwa lediglich taktische Assimilation der bürgerlichen »Avantgarde«. Thomasius vertritt den anthropologisch bedingten Primat des Willens. Deshalb bleibt für ihn jenseits aller äußerlichen Galanterie das Sozialisationsmodell einer auf Affektkontrolle beruhenden Geselligkeit in Kraft. In der vorgesteil-

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Zur rationalistischen Geschmacksdiskussion vgl. Sinemus, 170ff.; Schlimmer, 138ff.; Freier, Kritische Poetik 92ff. (spez. zu Gottsched); D. Brüggemann (1971), spez. 132ff.; es ist bezeichnend, daß Christian Wolff (1679-1754), der Begründer der »geometrischen Methode« der Philosophie in Deutschland, im Gegensatz zu Thomasius den Glauben an die Syllogistik als einzig gültige Grundlage, ja hinreichende Voraussetzung der Urteilsbildung teilt. Vgl. den »Beschluß« der AdSL (1696), S. 524ff.

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ten Idealität einer zwar »ungleichen«, aber doch in der Anerkennung eines gemeinsamen sittlich-ästhetischen Kodex homogenen Elite, die sich im gegenseitigen Korrektiv des «bon goût« integriert und nach außen als Gemeinschaft der »honnêtes hommes« zu erkennen gibt, wird die utopische Gesellschaft der »vernünftigen Liebe« transparent. Die Distanz zum »Pöbel«, die Anerkennung des Hofes als Adressaten, als Bildungs- und Bewährungsstätte des zur Gesellschaftlichkeit berufenen Menschen,29 fordert in der Vorbildlichkeit des Umgangs zugleich die Identität von Erscheinung und Sittlichkeit, nicht bloß Nachahmung geschmacklicher Konventionen (über dieses »Vorurtheil der Nachahmung« vgl. AdSL, S. 27f.). In dieser Idealität steht »galanterie« für ein Programm, das gruppenspezifische Beschränkungen ablegen kann. Thomasius' befriedete Gesellschaft, von rechter Liebe durchwaltet, setzt die Kunst der »Höflichkeit« voraus, die in der Theorie der Zivilisation und Konversation als Regel und Norm des Zusammenlebens unter den durch äußere Klüfte von Rang, Stand, Alter, Geschlecht usw. getrennten Menschen vorformuliert war. Daß dies alles auf eine Synthese hinausläuft, die in historisch greifbare und bereits mehrfach beschriebene Prozesse eingebunden ist, d.h. in eine spezifisch deutsche Form der bürgerlich-höfischen Allianz, steht außer Frage. Die gemeinsame Front gegen den Pedantismus als Inbegriff einer für beide Teile ineffizient werdenden Wissenschaftspraxis und Sozialformation gehört hier wie dort zu einem Arsenal von Gemeinsamkeiten, das sich auch im Horizont fortschreitender bürgerlicher Emanzipation durchhalten wird.30 Zahlreiche Schriften des Thomasius, darunter sein »Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit...« (1705), belegen im einzelnen, wie die Erziehung des Individuums für die Gesellschaft auch seine Anpassung an die Gesellschaft

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Vgl. Diseurs S. 43; zur Anlehnung an den »bon usage« des Hofes s. auch Sinemus (1978), S. 167f. Die Vorrede zur »Hofphilosophie« (dt. 1710) enthält ausführliche Äußerungen zum Pedantismus, darunter die Feststellung, daß »nebst den Academischen Sitten auch so gar die Lehren selbst die auf Academien gebräuchlich sind / an den Höfen gemeiniglich in so üblem Ruff stehen / daß sie auch dieselbe insgemein mit dem Namen Pedanterey zu belegen pflegen«. Zum Bündnis von Absolutismus und Bürgertum in Deutschland zusammenfassend F. Kopitzsch in seinem fundamentalen Aufsatz zur »Sozialgeschichte der deutschen Aufklärung« (1976): » . . . k a n n nicht geleugnet werden, daß die deutsche Aufklärung weitgehend durch das Bündnis mit dem Absolutismus ihr spezifisches Gepräge erhielt. Zwar waren diese beiden historischen Erscheinungen letztlich unvereinbar, doch wurde dies mehrere Jahrzehnte hindurch von der gegenseitigen Zusammenarbeit überdeckt. Die Trägerschichten der deutschen Aufklärung waren überwiegend mit den Territorialstaaten eng verbunden und materiell von ihnen abhängig. Die von ihnen angestrebten Reformen erschienen nur durch obrigkeitliche Mitwirkung durchführbar. Auch die Herrscher und führenden Beamten blieben, nicht zuletzt durch die Nähe zu den Trägern der neuen Bewegung, von der Aufklärung nicht unbeeinflußt. Daß aufklärerische Positionen nicht immer ihretwegen übernommen wurden, sondern weil sie politischen und ökonomischen Interessen der Regenten und ihrer Bürokratie andere und bessere Begründungen geben konnten, ist immer wieder festzustellen.«

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erforderlich macht: Positionen und Leitvorstellungen des »Prudentismus« werden von Thomasius weiter fortgeschrieben. 31 Jedoch mit dem Telos vertieft sich auch der Begründungszusammenhang. Zwar weist auch Thomasius immer wieder auf die Anerkennung des Decorum hin, d.h. also auf die Notwendigkeit der politischen Klugheit als Voraussetzung erfolgversprechenden Handelns, doch die Lehre des Geziemenden wird philosophisch-systematisch begründet. Als Philosophie der gesellschaftlichen Lebenswelt auf der Basis praktischer Urteilskraft (»iudicium practicum«) bildet sie eine selbständige Disziplin neben Ethik (als Lehre des »honestum«), neben Ökonomie und Politik. Im Gegensatz zu einer transhistorischen Morallehre werden hier die »consuetudo«, die empirisch festzustellenden, geschichtlich gewordenen und ebenso veränderlichen Regeln der »Wohlanständigkeit« reflektiert, also die unabdingbare »Grammatik« des menschlichen Miteinander. Die Einhaltung des Decorum ist notwendig, weil nur hier ausdrücklich die (nach dem Sündenfall) »natürliche« Ungleichheit der Menschen »praesupponirt« wird. Das »decorum« sichert den Frieden der menschlichen Gesellschaft über die Bereiche des Erzwingbaren, »iustum«, hinaus. Hier werden Verhaltensnormen vorgebildet, die ein möglichst konfliktfreies, daher auch glückliches Miteinander ermöglichen. 32 Die Mißachtung dieser Regeln, z . B . im Umgang mit Frauen 3 3 auch dies ein Merkmal des Pedantismus - , erscheint mithin als Störfaktor der öffentlichen Ordnung. Mit Thomasius - läßt sich das bisher Gesagte zusammenfassen - erhält die Kritik des Pedantismus eine systematisch bestimmbare, durch »Natur« und »Vernunft« ableitbare Position im Gesamtkonzept einer Erkenntniskritik wie Gesellschaftslehre. Die bisher nur im Entwurf von Gegenbildern formulierte, nicht selten satirisch-typologisch verfestigte, damit zugleich personalisierte Polemik gegen den scholastischen Gelehrten wird an ein verallgemeinerungsfähiges Interesse gebunden, das zugleich für sich eine eigene historische Legitimität beansprucht. Die historische Dimensionierung der Kritik als Abscheidung des Vergangenen, als Erkenntnis von Vorurteilen begründet die Überprüfung von Positionen. Gegenüber der Geltung des akademisch-aristotelischen Systems fordert Thomasius zumindest die Rezeption älterer nicht-konformer Denker (etwa Ramus), zugleich die Berücksichtigung auch der Theorien der neuen Philosophie

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Dazu Sinemus, 163f., B. Böhm: Sokrates im 18. Jahrhundert spez. 29ff. Die grundsätzliche Bestimmung des Decorums als Element einer praktischen Philosophie leicht nachzusehen im Abdruck einer Passage aus den »Kleinen Schriften« (1701, Abh. IV) bei C. Wiedemann (Hg.), Der galante Stil, S. 4 - 6 ; dazu Sinemus, 163; zum Verhältnis von iustum, decorum und honestum im Zusammenhang der Zielvorstellungen von Glück und Frieden insgesamt: Bloch, Thomasius, S. 34ff.; die Einlagerung der Decorum-Theorie in die Naturrechts-Vorstellungen behandelt u. a. bei Hammerstein, Jus und Historie, 58ff. Gegen Vorurteile über das weibliche Geschlecht s. Diseurs S. 35f. sowie z . B . A . d . VL. S. 248ff. ; die »schuldige Ehrerbietung und Hochachtung« gegenüber der Frau erscheint schon »von der Natur her« geboten.

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eines D e s c a r t e s , G a s s e n d i , H o b b e s , G r o t i u s , P u f e n d o r f u s w . 3 4 H i e r d u r c h wird das bisher in D e u t s c h l a n d geltende humanistisch-aristotelische System a u f g e b r o c h e n . A u c h in d e r F r a g e d e r M u t t e r s p r a c h e w e r d e n geltende T r a d i t i o n e n

befragt:

T h o m a s i u s knüpft nicht an die V o r a r b e i t e n d e r b a r o c k e n Sprachgesellschaften an. D a s B e m ü h e n eines Schottel wird teils diskreditiert, 3 5 teils als historische Sackgasse nur n o c h mit unverbindlichem R e s p e k t b e t r a c h t e t : 3 6 K o n s e q u e n z

einer

R e f l e x i o n d e r » c o n s u e t u d o « , also der empirisch-historischen Wirklichkeit. Mit der W e n d u n g g e g e n den unpraktisch-spekulativen C h a r a k t e r d e r b a r o c k e n » S p r a c h a r beit« trifft T h o m a s i u s zwar g e n a u das D i l e m m a eines kulturpatriotisch übersteigerten Vulgärhumanismus, Selbstbehauptung,

damit a b e r zugleich eine ältere Stufe bürgerlicher

die sich in der humanistischen Pflege der S p r a c h e , in der

H o c h s c h ä t z u n g v o n T u g e n d und Wissenschaft, im P o c h e n auf »solida eruditio« schlechthin g e g e n ü b e r den monopolisierten Geltungsansprüchen d e r höfischen V e r h a l t e n s e t h i k zur W e h r gesetzt h a t t e . H i e r a u s resultiert die teilweise bittere

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Vgl. Diseurs S. 33f.; die »scholastische Pedanterey« stellt sich als im Mittelalter entstandenes System fortschrittshemmenden Denkens dar, d. h. der ma. Begriff der philosophischen Scholastik wird zum Terminus eines traditionellen Akademismus schlechthin. Wie schon Schupp sieht Thomasius seine Auseinandersetzungen typologisch vorgeprägt, im Kampf der Humanisten gegen die »Magistri nostri«: vgl. A d V L S. 98f. ; die seit 1715 erschienenen »Summarischen Nachrichten Von auserlesenen ( . . . ) Büchern« bilden sozusagen eine historische Revue nicht-aristotelischer Denker bis zum Humanismus; die Gelehrtenkritik der Gegenwart spiegelt sich auch hier z. B . in der Wissenschaftskritik des Agrippa von Nettesheim (»Eckstein der Schulfüchse«: Bd. I, 2. Stück, Nr. 5, S. 191). Der umfassendste wissenschaftskritische Aufriß des Pedantismus findet sich in der A d V L , 2. Hauptstück, S. 68ff. (»Von der Geschicklichkeit andern die Erkäntniß des wahren beyzubringen«). Eine Einzelanalyse würde zeigen, daß keine der hier katalogisierten Einzelverstöße nicht schon seit dem Beginn des Jahrhunderts kritisiert worden sind: neu ist die Durchschlagskraft infolge präziser Situierung in einem auf »Gründen« aufgebauten Denkmodell.

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Diseurs, S. 11: » . . . wenn ich meine Herren von dem Frantzösischen Sprachmeister an das Schotteiii teutsche Sprachen Schul / von dem Dantzmeister auff die Kirmessen / von unsern Mode Schneidern an einen Dorfstörer [ . . . ] verweisen wolte.« Ibid. S. 28: unmöglich, »die teutsche Sprache durchgehende in Hochachtung zubringen« [ . . . ] weil bißher schon eine geraume Zeit so viel kluge Köpffe / so viel edele Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschafft vergebens daran gearbeitet haben«. Die auf den vorhergehenden Seiten vorgetragene ausführliche Kritik an vorliegenden Übersetzungen aus fremden Sprachen verschweigt deshalb auch vollständig die noch durchaus Achtung gebietenden Leistungen im Kreis der Sprachgesellschaften. Thomasius vermißt vor allem bei Übersetzungen antiker Texte die »Anmut«, Frucht der »Gesellschaft anderer Leute«, nicht der »Schule«. Auch sonst hat Thomasius mehrfach den barocken Purismus kritisiert, natürlich - wie so oft auch bei anderen Autoren - mit Zesen als Prügelknaben (s. A . d . V L . S. 169); dazu zählt auch seine Kritik der »Cöthener Logik« s. Blackall, Die Entwicklung des Deutschen, spez. S. 25; dort auch S. 7f. zum Verhältnis von Leibniz und Schottel. Die Kritik der »Galanten« an der barocken Spracharbeit ist Protest gegen die fehlende Empirie der »Grammatik« und gehört zum Klugheits-Komplex: zahlreiche Belege, die die Übertragung des Pedantismus-Etiketts auf jede nur »kunstrichtige« Sprachregelung illustrieren, bei Wendtland, Theoretiker der galanten Stilepoche, S. lOOff.; dort auch die durchaus analoge Polemik Weises.

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Kritik von Zeitgenossen, die in Thomasius nur den Kavalier, den Apologeten höfischer »galanterie« zu sehen vermochten. 3 7 Thomasius bricht mit dem rückwärtsgewandten Blick einer »konservativen« Opposition: dies zeigt sich gleich zu Anfang seines Diskurses von 1687 in der Abwehr des traditionellen - angsterfüllten - Ressentiments gegen jede Veränderung, damit implizit im Bruch mit der Dekadenzperspektive der Spätrenaissance, wie wir sie am Anfang dieser Untersuchung analysiert haben. Die vorurteilsfreie Würdigung der französischen Kultur und Sprache setzt diese Wendung voraus. Wie Thomasius seine Aufforderung zur »Nachahmung« der Franzosen verstanden wissen wollte, bewies er in einer Replik auf die vieldiskutierte Polemik Père Bouhours: dieser hatte den Deutschen den »bei esprit« abgesprochen, ja die zurückgebliebene deutsche Kultur mit dem barbarischen Atavismus der »Moscoviter« verglichen. Auch gegen ihn wird das Mittel der »raison« ins Feld geführt: Entlarvung des Vorurteils gegenüber einer ganzen Nation, Kritik als Unterscheidung, Hinausgehen über den Standpunkt des Gegners. 38 Der Ersatz des Lateinischen durch das Französische als Universalsprache der Gebildeten deutet darauf hin, daß Thomasius eine Reform des Denkens, nicht eine Reform der Sprache anstrebte. Die Abtrennung des Lateinischen vom Qualifikationsbild des Gelehrten 3 9 integriert ihn in den Kommunikationsbereich des »gemeinen Lebens«, bedingt zugleich auch eine Befreiung von Mentalitätsstrukturen der scholastischen »Lehrart«. 40 Mit der Abkehr vom Latein antizipierte Thomasius eine ideale, auf gemeinsamen Bedürfnissen beruhende Interessenidentität der höfischen Gesellschaft - soweit diese überhaupt den Willen zur Partizipation am Fortgang der Wissenschaft besaß - mit einer damit kohärenten, vor allem juristisch gebildeten Verwaltungsaristokratie und einer Vorhut »progressiver« Denker überhaupt. Denn die entschlossene Lösung der Sprachenfrage war eine der wesentlichsten Voraussetzungen, die gesellschaftlich führende Schicht auf eine Art von Bildung zu verpflichten, welche auf der Basis der »Vernunftlehre« die Ablösung historischer Vorurteile zu befördern hatte. Mit welchen objektiven Schwierigkeiten der etwaige Ersatz des Lateinischen durch die Muttersprache zu kämpfen hatte, zeigt sich nicht nur in der von Thomasius begründeten Empfehlung des Französischen, sondern bleibt auch bei nachfolgenden Theoretikern ebenso bekannter wie peinlicher Makel nationaler Zurückgebliebenheit. 41 Daß

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Vgl. Borinski, Gradan, S. 104ff. ; dort auch - spez. S. 106 - das typische Gegenargument: der Nachweis des »pedantismus aulicus«. Vgl. Diseurs bes. S. 37ff. ; Thomasius bezieht sich auf die Abqualifizierung der Deutschen in den 1671 erschienenen »Entretiens D'Ariste et D'Eugene«, bes. Iv. Entretien: »Le bei esprit«; ausführlich zu dieser Polemik, ihrer Vorgeschichte und den zeitgen. Reaktionen: Erich Haase: Zur Frage, ob ein Deutscher ein Bei Esprit sein kann, in: GRM 40 (1959), 360ff. Diseurs S. 25. Ibid. S. 36. Vgl. Blackall, Entwicklung des Deutschen, Kap. II über die Probleme einer muttersprachlichen Terminologie, bes. in der Philosophie.

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das Latein auch im Interesse einer studierenden Elite angegriffen wurde, die »einigen Ekel vor dem Studiren« überhaupt hatte, liegt auf der Linie von Thomasius' pädagogischen Intentionen. 42 Nicht umsonst wird gerade die Hofmeisterliteratur der Zeit auf diese Formel zurückgreifen. 43 Für die Rezeption der bei Thomasius formulierten Anstöße in der »galanten Epoche« der deutschen Literatur, also ca. von 1680-1730, war bedeutsam, daß der Kampf gegen den Pedantismus im publizistischen Bereich fortgesetzt wurde. Thomasius hat seit 1688 - im Bemühen um aufklärerische Breitenwirkung 44 -

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Vgl. Diseurs S. 32; diese pädagogisch-didaktische Kritik, mit dem methodischen Neueinsatz zusammenhängend, schließt an die oben von mir dargestellten Argumentationen der politischen Erziehungstraktate an: überhaupt hat Thomasius in den praktischen Teilen sowohl der Vernunft - wie auch der Sittenlehre detailliert auf die Muster der akademischen Hodegetik und Hofmeisterliteratur zurückgegriffen: vgl. besonders zur »Unterweisung junger Leute«, A.d.VI, S. 99ff., bes. 113ff. als Gründe des »Ekels vor dem Studiren«: der Pedantismus der Schulmonarchen« und die übelen »mores« der Academien: ... »und die junge Leute / sonderlich diejenigen / die manierlich erzogen sind / können nicht anders als mit dem grösten Verdruß ansehen / wenn man sie aus einer artigen und galanten Lebens-Art in so eine wilde und wüste Gesellschaft Verstössen will / und weil ihr Verstand noch nicht erläutert ist die Sachen genungsam zu unterscheiden / so kommen ihnen alle Wissenschaften und Künste in der Gestalt vor / wie der Scarron seine neun Musen in Kupffer stechen lassen / oder sie bilden sich ein / daß / wenn sie studiereten / sie eben solche Kerlen werden müssen / wie des Sorels sein Hortensius und der Barbon des Balzac aussiehet.« 43 Z.B. Joh. Chr. Wagenseil: Von Erziehung eines jungen Prinzen, der vor allen Studien einen Abscheu hat, daß er dennoch gelehrt und geschickt werde. Leipzig 1705. Die Lage, die zu methodischen Reformen zwingt, wird sowohl in der Widmung an Kaiser Leopold als auch auf S. 5 beschrieben: »Es haben die Edelleute keine Gedult der Unterrichtung statt zu geben: sie lassen sich nicht zwingen; sie pochen auff ihren Standt! sie machen ihren Praeceptoribus, indem sie auff allerley Stücklein sie zu betrügen / und ihnen schwartz für weiß zu machen bedacht sind / das Leben nur saur / oder wann sie ja in den Schrancken der Bescheidenheit bleiben / so sind doch ihre Gedancken wenig auff das studiren gerichtet...« Ausführlich wird die Frage des Lateins behandelt: dessen immer noch bestehendes »Privilegium« vor den Muttersprachen wird u. a. darauf zurückgeführt, »daß die Gelehrten / weilen sie mehrmalen sonst wenig geachtet werden / über ihrer Sprach halten / damit sie sich etwas in Ansehen setzen / und hierdurch gleichsam einen Vorzug über die sonst Hochgeachtete Políticos bekommen mögen / wann sie diesen soloecismos und barbarismos für zuwerffen wissen.« (S. 318f.). 44 Legitimation und Absicht einer Öffentlichkeit herstellenden Journalistik ist in der A.d. VI. erkennbar. »Andern die Wahrheit beyzubringen« und das »Reich der Finsterniß« zu verkleinern bedeutet nicht nur »Freyheit der Lehre«, sondern zielt darauf, »daß alles Volck die Warheit lehrete«. Academische Lehrbefugnis ist nicht ein Monopol, sie ist nur Zeugnis einer Befähigung, durch die das allgemeine Recht, den Menschen durch Aufklärung zu dienen, nicht eingeengt wird. Gegen alle Beschränkung auch durch äußeren Zwang wie Schreibverbot gilt: »Es wird dir doch nicht verboten seyn mit anderen Leuten umzugehen. Da hastu nun tausend Gelegenheiten für eine / in Spazierengehen / bey der Mahlzeit / auff der Börse / in Buchläden / in Gewölben / bey visiten, und in Summa bey allen Conversationen, sie mögen weit oder enge seyn / ohne einige Affectirung oder pedanterey deine Erkenntnis andern mitzutheilen / und ihnen ihre eigene oder allgemeine Irrthümer zu erkennen zu geben. So machte es Socrates, der doch viel vortrefflicher gewesen ist / als alle Philosophen nach ihm.« (S. 81). Allein die Aufzählung der Lokale

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seine »Monatsgespräche« herausgegeben, ein Periodikum in der Nachfolge des französischen »Journal des Savants« (1665ff.) und des »Mercure galant« (1672ff.). Was Pedantismus bedeutete, wurde dort nicht nur in der Revision und Rezension der literarischen und philosophischen Überlieferung offengelegt, sondern auch mit den Mitteln fiktionaler Satire in Anlehnung an Formen der Gesprächsliteratur vorgeführt: David, der in Vorurteilen befangene Pedant, illustriert die Theorie des vernünftigen Urteils ex negativo. Er tritt damit in die Fußstapfen zahlreicher Vorläufer, allerdings mit jenem entscheidenden Merkmal charakterisiert, das die Pedantismus-Kritik des Thomasius von der »satyra pedantesca« der humanistischen Tradition abhebt. 4 5

2) Galantismus und Pedantismus: Die Einheit des Gegensätzlichen Im folgenden soll weder die spezifisch ästhetisch-literaturkritische Linie der Geschmacksdiskussion verfolgt werden noch ist daran gedacht, die ganze Breite des Traktatschrifttums der galanten Epoche einzubeziehen. Dies ist wegen der Fülle des Materials und des Stands der Forschung auch gar nicht möglich. Vielmehr möchte ich an einigen Beispielen der Schuloratorie und des methodischdidaktischen Schrifttums exemplarisch das Eindringen und die Resonanz der Pedantismuskritik in den scholastischen Raum untersuchen. Dies ist zugleich ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Thomasius. In den Argumentationen eines akademischen Reformismus spiegelt sich dabei nicht nur die externe, epochalgesellschaftliche Herausforderung, sondern auch eine Art der Replik, in der die Verhaltensschematisierung des Hofes ihrerseits als Äußerung pedantesker Erstarrung bewertet wird. In der Distanzierung von Pedantismus und Galantismus als extremen, jedoch typologisch verwandten Phänomenen verfehlter Menschlichkeit

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und Situationen aufklärerischer Kritik zeigt, daß Thomasius hier die Theorie einer bürgerlichen Öffentlichkeit, als der gegenseitigen Aufklärung von Privatleuten, die sich dadurch zu einem räsonnierenden Publikum zusammenschließen, formuliert. Grundlage ist die Voraussetzung einer Mündigkeit der individuellen Vernunft: daß sich die Argumentation hier vor allem gegen die Privilegien der »Schule«, also der staatlich beamteten Lehre, richten, hängt nicht nur mit Thomasius' eigenen Leipziger Erfahrungen zusammen, sondern impliziert grundsätzlich das Recht auf »Bildung« auf der Basis privater Initiative. Zum Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit vgl. Habermas, Strukturwandel, s. 3 8 - 4 0 u. passim; zu den Monatsgesprächen auch Witkowski, Lit. Leben in Leipzig, 203ff.; H.Schulz-Falkenthal: Ch. Thomasius-Gesellschafts- und Zeitkritik in seinen »Monatsgesprächen« 1688/89, in: Wiss. Zts. der Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg, Ges. u. Sprachw. Reihe, Iv (954/55), S. 533-554. Vorrede und Januar-Gespräch mit der Ansprache an »Monsieur Barbon >und< Möns. Tartuffe«: ersterer der Pedant in Jean-Louis Guez de Balzacs Abhandlung »Le Barbon« (1648) ist abgedruckt im Auswahlband, ed. P. v. Düffel, S. 55ff.; zur zentralen Rolle der Ped.-Thematik in den Monatsgesprächen vgl. man diesbezüglich das Register des 1. Bandes, Januar-Juni 1688, Nachdruck Frankfurt 1972. Es enthält mehr als vierzig Lemmata, die das gesamte Bedeutungsfeld des Begriffes umreißen.

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emanzipiert sich das aufkommende Handelsbürgertum von den Bildungsnormen des Hofes und der Akademie und bereitet die Wendung von der Formkultur der humanistischen Tradition zum Erziehungsideal einer natürlichen Humanität vor. Thomasius selbst hat als Anhang sowohl der lateinischen (1688) wie auch der deutschen Ausgaben seiner »Hofphilosophie« (1688 u.ö.) die Rede des holländisch-friesischen Juristen Ulrich Huber (1636-1694) »De Paedantismo« veröffentlicht, auch in den »Monatsgesprächen« eine auswählende Paraphrase geliefert. 46 Die Rede wurde gehalten aus Anlaß der Rektoratsübergabe an der Universität Franeker am 1. Juni 1688, darf also als frühes Echo auf den Vorstoß des Thomasius gelten. Huber entwickelt sein Thema aus der Erfahrung einer widersprüchlichen Situation. Es scheint ihm seltsam, daß die seit dem Mittelalter korporativprivilegierte Welt des Gelehrtentums (»ordo noster«) - berechtigte Privilegien als Schutz vor den Anfeindungen und Störungen seitens der Ungelehrten - nunmehr global mit dem Titel des »Pedantischen« belegt werde. Diese Denunziation steche ab (»abhorrere«) von der offiziell durch Gesetz und Macht (»potestas«) zugestandenen Autorität und Würde. Es geht dem Redner darum, die Gerechtigkeit des Vorwurfs dadurch zu überprüfen, daß die Wortbedeutung von »Pedantismus«, die verschiedenen »species« des Gemeinten differenziert und ihm Rahmen einer etymologischen Definition auf ihre Berechtigung hin untersucht werden. Unter dem Titel »Quid non sit Paedantismus« - im ersten Teil der Rede - faßt Huber die grassierenden, aber seiner Ansicht nach fehlgeleiteten Verwendungen des Schlagworts zusammen: er gibt damit eine aufschlußreiche Skizze des aktuellen Wortgebrauchs. Angegriffen werden die im »Pedantismus«-Vorwurf zutage tretende generelle Verachtung jeder Gelehrsamkeit und aller Künste, 47 die Übertragung des Worts auf durch Bildung und Kultur angeblich verweichlichte und zur Regierung untaugliche Herrscher und »Magnaten« (Stichwort: der »Graeculus« Hadrian) - hier auch der arma-litterae-Topos. 48 In einer Auseinandersetzung mit 46

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Ich benutze den lat. Textabdruck im Anhang von E. Richter: Obstetrix animorum. Leipzig 1693. Die deutschen Übersetzungen stammen nicht von Thomasius: vgl. Lieberwirth Nr. 30; dazu Monatsgespräche Januar 1690, S. 55-86; die Einleitung würdigt die Person Hubers und seine Beredsamkeit, die es im Gegensatz zur »Schulfüchsischen Rednerey« verstehe, »vernünfftig (zu) raisonniren«. Thomasius hat sich auch in seinen juristischen Publikationen mit den Schriften des berühmten holländischen Rechtsgelehrten beschäftigt. Zur Person Hubers vgl. Nieuw Ned. Biogr. Woordenboek I (1911), Sp. 1165-67 sowie die Nachrichten bei Zedier (Bf. XIII, 1055f.) und Jöcher (Bd. 2) S. 1743f.; zu Huberts politischem Denken s. E. H. Kossmann: D e Dissertationes van Ulric Huber, in: European Context. Studies in die history and literatur of the Netherlans, presented to Theodor Weevers, 1972, S. 164-72. S. 46f.: »Primo omnium satis id arbitor esse notum, apud scurras urbanos, hominesque maligne indoctos omnes genus doctrinae artesque studiorum per contemptum hac ipsa Paedantismi appellatione traduci.« S. 47-54; noch immer wirkt Machiavellis altes Bedenken, die kulturelle Verweichlichung trage zum Untergang der Macht bei; dagegen Huber mit einem Arsenal von Exempeln; die Frage spitzt sich besonders im Hinblick auf die Gründe des Niedergangs von Griechenland und Rom zu, stellt sich aber auch in der Moderne etwa im Falle des gestürzten Jacobs II von England (S. 50).

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Montaigne erscheint auch die Diskriminierung des philosophischen Magistertums, ja selbst der humanistischen Trivialerziehung bis hin zum letzten Schulmeister als ungerecht, werde doch damit zugleich das historische Verdienst der humanistischen Epochenwende, verkörpert in Männern wie Erasmus, Scaliger und Salmasius, ja das Verdienst um die Erziehung und Beförderung der menschlichen Gesellschaft (»societas«) schlechthin betroffen. 4 9 Pedantismus ist für Huber eine Degenerationserscheinung, die sich aus der historisch begründeten Schulexistenz des Gelehrten ergeben habe: in diesem Zusammenhang die bereits erwähnte Ableitung des Begriffs von »paedagogus«. 50 Zwar erkläre sich dadurch zwangsläufig nicht selten ein Mangel, ein »iudicium« und eine Entfremdung gegenüber den Angelegenheiten des bürgerlichen Lebens (»civilia negotia«), doch habe auch der Gelehrte eigentlich nur Anteil an den allgemein-menschlichen Lastern. Allerdings erwachse ein spezifischer Konflikt: der Gelehrte als Lehrer, angewiesen auf die Wahrung von »gravitas« und »severitas«, angetan mit der Würde und Vollmacht zu strafen, also festgelegt auf ein spezifisch extern konturiertes Rollenbild und Rollen verhalten, werde unmittelbar betroffen von jeder Widersprüchlichkeit zwischen Lehre, Beruf und Leben. 5 1 Diese Differenz zwischen Ideal und Erscheinung bestimme in den Augen der Welt, teils berechtigt, teils pauschal übertragen, das symptomatische Bild des Pedantismus. Dieser wird in drei Grundzügen definiert: fastus bzw. ostentatio ficta virtus - iudicium ineptum. 5 2 Huber faßt also wie Thomasius den Begriff ausdrücklich affektpsychologisch. Eine grundsätzlich wissenschaftskritische Wertigkeit ist damit indirekt einbegriffen, aber nur in dieser Vermittlung vorgetragen. Die besondere, im beruflichen Rollencharakter begründbare Angreifbarkeit des Gelehrten bedingt zwar eine Entfremdung zum bürgerlichen Leben, jedoch ist der Defekt des Pedanten allgemein übertragbar. Denn er bezeichnet Phänomene zwischenmenschlichen Fehlverhaltens überhaupt. Insofern betrifft er zunächst die gesamte akademische Welt einschließlich der sich so häufig erhaben dünkenden höheren Fakultäten, 5 3 darüber hinaus aber jede Art von Anmaßung, Dünkel, Heuchelei auch in der »grossen Welt« der Politiker, den Sphären von Hof und Verwaltung. Pedantismus ist Mangel an Lebensart, ein Defizit an Bildung, die im privaten wie im öffentlichen Bereich gleichermaßen verbindlich sei. Wie bei Thomasius werden beide Ebenen des Verhaltens nicht mehr geschieden: auch die Sphäre der »repräsentativen Öffentlichkeit« - dazu gehören Hof und Akademie muß sich an Maßstäben der Zwischenmenschlichkeit messen lassen, die unter

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S. 54-60; die Einheit der Gelehrtenrepublik emphatisch gegenwärtig in dem Satz (S. 57): »Ego vero nec ipsos inferiorum Scholarum magistros per contemptum ullo modo Paedantas appellari patior;« und kurz vorher: »Nam qui Erasmos, Scaligeros, Salmasios, ne reliquos enumerem, nihil quam Paedantas fuisse contenderei, nae is justissimo gravissimoque literati orbis convitio exploderetur.« Vgl. oben S. 307. S. 61f. S. 63. S. 63ff. ; 78ff.: jeweils Durchführung durch die einzelnen Universitätsdisziplinen.

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Privatleuten g e l t e n . 5 4 D i e s e M a ß s t ä b e unterlaufen das soziale R o l l e n s p i e l . H u b e r fordert »simplicitas naturalis«, 5 5 die Einheit v o n Schein u n d Sein also, »habitus« der Mäßigkeit 5 6 u n d die Ausrichtung am »iudicium

den

commune«.57

G e g e n p o l z u m P e d a n t i s m u s ist die Ü b e r e i n s t i m m u n g mit der »Natur«,

diese

K o n g r u e n z schließt A n p a s s u n g an die gesellschaftlichen U n t e r s c h i e d e und historisch g e w o r d e n e n L e b e n s g e w o h n h e i t e n ein. 5 8 D e m e n t s p r e c h e n d wird bei H u b e r w i e auch bei zahlreichen anderen A u t o r e n der k o m m e n d e n Jahrzehnte auch für d e n a k a d e m i s c h e n R a u m und die gelehrte K o n t r o v e r s e ein V e r h a l t e n s k o d e x präsentiert, der j e d e Art v o n »Streitsucht« als Mittel der A u s e i n a n d e r s e t z u n g v e r b a n n e n soll. W i e bei T h o m a s i u s hängt diese Kritik d e s » W o r t g e z ä n k s « einerseits mit d e m Postulat der Vorurteilslosigkeit z u s a m m e n , i n d e m das E i g e n i n t e r e s s e der Person zurücktritt, andererseits wird das Ideal der » h o n n ê t e t é « auch für d e n Kommunikationsstil der G e l e h r t e n verbindlich g e m a c h t . 5 9 W e n n im Rückblick die gelehrte Polemik durch die Jahrhunderte

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S. 85-89; auch hier der Begriff des »sanum judicium«, der an die »gesunde Vernunft« des Thomasius anklingt; Pedantismus als Inbegriff jedweder »Affectation« im öffentlichen und privaten Bereich (S. 89): »Teneamus igitur, quicunque in actionibus publicis privatisque affectat videri doctus & eloquens, eruditionesque miscet, ubi necesse non est, Paedantismi se alligai, & hujus rei quam multiplex usus abususque sit pro sese cuivis observare licebit. Idem affectationis Vitium facit ex hominibus doctis in commercio vitae communis & conversatione civili paedantas, quando in habitu, incessu, vultu, motu corporis ipsoque sermone singularis amant esse, contraque iudicium commune se conspiciendos ridendosque praebent. Injurii sunt aulici homines aliique peregrinis culti elegantiis, quando eruditos, qui talia civilitatis imitamenta nesciunt usurpare, quasi paedantas intuentur modo in illorum simplicitatem nihil affectati vel contorti appareat.« Huber geht aus von der kynisch-stoischen Gelehrten- und Sophistenkritik bei Lucían, d . h . von der hier vorgebildeten Kritik der »ficta virtus« (S. 73f.). In eingeschränkter Zustimmung heißt es dann (S. 76): »Sed arbitor hoc eum studiosis hominibus inculcare voluisse, genus optimum doctrinae id esse, quod minimum recederei a judicio communi hominum, qui simplicitate naturali [Hervorhebung von mir - W. Κ.] recte uterentur; scilicet, accedente cultu civilis conversationis, quae in vita privatorum, quos utique noluit esse feros & barbaros, supponi debet. »Der Begriff der simplicitas weist sowohl auf die Natürlichkeitspostulate der französischen Klassik als auch auf - gerade in Holland lebendige - religiös begründete Tugendprogrammatik. S. 82: »Ita modus in omnibus rebus optimus est habitus.« Vgl. S. 76f., 83f., u . ö . S. 89f.: »Nam etiam hac parte verissimum est illud ( . . . ) quicquid cum natura convenit, optimum est. Non excludimus utique diversitatem hominum atque professionum neque mutationum vultus, cultus, incessus sermonisque secundum illam varietatem; modo in omnibus conveniens decor & moderatio civilis nihil abhorrens ab usu recepto.« Thomasius hat in seinen »Summarischen Nachrichten Von auserlesenen ( . . . ) Büchern«, 7. Stück, Halle/Leipzig 1716, S. 595ff. in diesem Sinne ausführlich das Werk des Baseler Theologen Samuel Werenfels »Dissertatio de Logomachiis eruditorum. Oder ( . . . ) von Wortgezänken und schwülstigen Reden« (Amsterdam 1702) rezensiert. Neben der Schwulstkritik - dazu unten - wird hier der Gelehrtenstreit der vergangenen Jahrhunderte kritisiert. Auch hier dominiert die affektpsychologisch-moralische Wertung: »Durch jene verstehet unser Autor allerley Haberechtereyen und Sophistereyen derer Gelehrten / die öffters mit tödlicher Feindschafft vergesellschafftet sind / und aus einer Herrschsucht über andere ihren Ursprung n e h m e n . . . « Für J . B . Mencke wird die

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hindurch lediglich als Symptom menschlicher Fehlhaltungen - also unter dem Gesichtspunkt des Gelehrten-Lasters - gesehen wird, muß zwangsläufig jede inhaltliche oder historisch-kritische Wertung der geistigen Kämpfe der Vergangenheit zweitrangig werden. Die in den akademischen Raum hineingetragenenen Harmonievorstellungen nivellieren die kritische Auseinandersetzung mit Problemen der Vergangenheit, soweit sie nur irgendwie in philologisch-humanistischen oder scholastisch-syllogistischen Formen ausgetragen wurden. Nicht bei Thomasius, aber allzuleicht bei den Theoretikern der galanten Epoche ist die Wissenschaftsgeschichte ein Kompendium menschlicher Unzulänglichkeit. Das hängt auch damit zusammen, daß sowohl die Streitigkeiten der Humanisten wie auch die dogmatisch-theologischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit gar nicht mehr als Streit um Wahrheiten gewürdigt werden, die den Wahrheitskriterien des Vernunfturteils standhalten. Daß allerdings jedwede Art von Theorie, auch die der »progressiven« Denker, in ihren Vertretern nach »decorum«-Vorstellungen beurteilt wird, zeigt sich bei Huber z.B. darin, daß selbst der Cartesianismus oder das Auftreten eines Hobbes als eine Art von Pedantismus gebrandmarkt wird, insofern er äußerlich als »fastus doctrinae« in Erscheinung tritt. 60 Erst Lessing wird in seiner Polemik die Wahrheitsfrage gegenüber allen Gesetzen der »bienseance« wieder in den Vordergrund stellen und auch in den vergangenen Diskursen der Scholastik und des Humanismus, ja selbst in grammatischen Quisquillen den Prozeß bzw. die Vorgeschichte der Aufklärung demonstrieren. D a ß bei Huber wie bei Thomasius epochale Probleme der Stilbewertung in die Bestimmung des Pedantismus einbezogen werden, wundert nicht. Stilistische Phänomene - zusammengefaßt in den Begriffen »tumor« - »affectatio« - »obscuritas« - sind für ihn nur äußeres Zeichen für gesellschaftliches Fehlverhalten bzw. menschlich-moralischer Defekte. In der affektpsychologischen Definition des Pedantismus als »fastus« und »ostentatio« gründet die semantische Äquivalenz einer literarisch-kritischen und gesellschaftlich-wertenden Terminologie. Huber aktualisiert wie die gegen Ende des Jahrhunderts bei Weise politisch-pragmatisch

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Tradition der gelehrten Kontroverse, der gesamte Komplex der Invektiven und Polemiken, zum Mißbrauch gerade der außergewöhnlichen Freiheit von staatlicher Reglementierung, der sich die akademische Gelehrtenrepublik erfreuen kann. Verschiedene Meinungen sollen der »Freundschaft« nicht schaden. Andernfalls manifestiere sich im Gelehrtenstreit nicht die Suche nach Wahrheit, sondern Lasterhaftigkeit: ambitio, livor, odium, als Phänomene der Eigensucht im Sinne des Thomasius: s. exemplarisch die »Oratio de origine et causis bellorum inter eruditos« (gehalten 1725), in: Orationes Academicae. Leipzig 1734. Nr. XIV, S. 425-447, spez. 425f. sowie die unten noch zu erwähnenden Reden »De Charlatanería Eruditorum«. S. 66-68. Nach den »dictatores« der Metaphysik und Theologie: »Est & aliud genus periculi, quod in atrocem paedantismum videtur desiturum, si quis eo studendi more procedat, quo ingentis animi philosophi [d.i. Descartes, - W. Κ.] se usum esse gloriatur.« Huber meint, die Übertragung der an sich nicht unberechtigten Cartesischen Methode des Zweifeins auf alle Gegenstände und Institutionen führe zu einer eingebildeten Gelehrsamkeit, die sich anmaße, alle eigenen Urteile für »geometrische Wahrheiten« auszugeben. Diese Arroganz gehöre zu Phänomenen, »quae cum aliorum contemptu junctae sunt verissimi characteres formidabilis Paedantismi« . . .

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begründete, von den galanten Theoretikern nicht ohne Widersprüche und Zugeständnisse fortgeführte Schwulst-Kritik die regulative Aufgabe des »iudicium«, also der bereits in der rhetorischen Tradition fixierten Instanz, welche sprachliche Kommunikation und literarische Produktion mit geltenden Normen vermittelt. 61 Dabei geht der Redner allerdings - hier zeigen sich spezifisch niederländische Züge - sowohl über Weises Stil-Pragmatismus wie auch die elitäre Geschmackstheorie der Galanten hinaus, indem er das »commune & civile iudicium« nicht nach Maßgabe der »politischen Klugheit« konstituiert, sondern es mit dem gesunden Menschenverstand identifiziert, »den auch das Volk jeden Tag in seinen Geschäften benützt«. 62 Nicht die höfische Rationalität, pragmatische Erfolgsethik, auch nicht Anpassung an die im Geschmacksbegriff zusammenfließenden Kommunikationsnormen der guten Gesellschaft werden gegen die Entfremdung des gelehrten Literaten ins Feld geführt, sondern die »vox populi« als »vox Dei«. 6 3 Pedantismus ist schlechthin Ausdruck einer scholastisch-hermetischen »Verrätselung« der Wirklichkeit. Terminologische wie stilistische »Dunkelheit« verstößt gegen die Pflicht aller Wissenschaft auf Überführung auch der »secreta rerum« in »simplicissimas veritates«. 64 Dies ist genau der Standpunkt des Thomasius. Gegen

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Zur Schwulstkritik bei Thomasius und den »Galanten« s. Windfuhr, Barocke Bildlichkeit, S. 376ff. spez. zu Thomasius auch Blackall, Entwicklung des Deutschen S. 13; Windfuhr zeigt leider nicht, daß gerade Thomasius' Ideal der »Deutlichkeit« eng mit seinem Wahrheitsbegriff zusammenhängt und deshalb gerade in der »Ausübung der Vernunfftlehre« formuliert wird (2. Hauptstück: »Von der Geschicklichkeit andern die Warheit bey zubringen«, spez. S. 147f.): »Etliche Worte sind hierneben auch verführerisch und der Warheit schädlich / wenn man sich der Rhetorischen figuren bedienet / des Lesers affect zu bewegen / daß dasjenige / was unsere Gründe nicht zu tun vermögen / er sich selbst durch unsere schönen Worte berede. Die Warheit gleichwie sie selbst nackend ist / also braucht sie des gekünstelten Anstrichs der Redner-Kunst nicht / sondern ist für sich schön genug.« Dies gilt nach Thomasius eingeschränkt für den Kommunikationskreis der vernünftigen und weisen Menschen (die »Pedanten oder zärtlichen Nahmen-Gelehrten« werden davon ausgenommen, S. 149). Diese sind nicht durch eine rhetorische Sprache zu bewegen (S. 148): »Denn an statt daß du vermeinest ihre affecten zu rühren / werden sie vielleicht deinen eigenen / z.e. deinen Hochmuth / deine Rachgier / deine fleischlichen Begierden dadurch kennen lernen / an statt daß du ihnen zeigen wilst / daß du weise seyst / werden sie dich vielmehr für einen Sophisten halten.« 62 S. 77: »Ego vero sic existimo, commune atque civile judicium sal esse omnium rerum, ipsius quoque reconditissimae doctrinae: Suppono quidem notitias a vulgi sensu remotas; sed illa ipsa scientia tali judicio regi debet, quale plebs in suis negotiis omni die exercet, alioqui insulsa & insipida cuncta fient.« 63 S. 77f.: »In affectibus equidem morumque via scimus, idoneum auctorem non esse turbam, sed alia est ratio judicii communis, quod non aliter a Deo conditum est, quatenus labe originali mansit intactum, quam sicut in consensu longe maximae partis hominum, de rebus eorum captum non superantibus elucet; unde non absurde fertur in proverbio, si id recte ita mihi intelligendum videtur, vox populi, vox Dei.« 64 S. 78: »Etiam ea gratia doctrinarum professiones institutae sunt, ut per regulas attenta meditatione usuque conceptas & firmatas secreta rerum in simplicissimas veritates resolvantur. Quicunque igitur id agunt, ut involucris formularum terminorumque scholae, quasi aenigmatibus cognitiones rerum implicent atque tegant, ne populo scilicet innotescant, eos hactenus Paedantismi absolvere non possum.«

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die sophistische Schulphilosophie protestiert Huber mit dem Hinweis auf apostolische Einfachheit, in der Frage von Stilbewertungen sind bürgerlich-althumanistische Positionen der Schwulst-Kritik präsent. Es ist kein Zufall, daß gerade Cicero und Terenz gegen die »ebriosa eloquentia« der Gegenwart und als Anwälte sprachlicher »perspicuitas« aufgerufen werden. 65 Die im Anti-Ciceronianismus des Frühbarock - ich erinnere an meine diesbezügliche Darstellung - zum Ausdruck kommende Tendenz zur Emanzipation von traditionellen Stilregulativen wird hier als Entartungserscheinung gebrandmarkt. In der Kontinuität des Argumentationszusammenhanges werden im legitimierenden Rückgriff ältere Positionen aktualisiert, ohne daß es sich dabei in der Ausbildung der kritischen Frontstellungen um reine Wiederholungen handelt. Hubers wie auch Thomasius' moralistisch-affektpsychologische Definition des Pedantismus-Begriffs macht es möglich, eben diese denunziaiorische Formel gegen Phänomene und Exponenten des literarischen Manierismus zu kehren, der sich einst selbst im Zeichen des Antipedantismus gegen klassizistische Beschränkungen durchzusetzen hatte. Wie bei Huber wird auch noch in der Ära Gottscheds der stilistische Pedantismus mit der berühmten bei Quintilian überlieferten Forderung des »fac stylum occultiorem puer« identifiziert. 66 Schwulstkritik ist Element einer sozialkritisch pointierten Gelehrtenkritik, gehört zur Polemik gegen eine Entfremdung vom »gemeinen Leben«. Die von dem Gottschedianer Johann Simon Buchka übersetzte lateinische Abhandlung des Basler Professors für Beredsamkeit und späteren Theologen Samuel Werenfels »De meteoris orationis«67 zeigt z.B. sehr deutlich die im Horizont einer 65

S. 73-75 beschreibt Huber das Treiben der Sophisten in Athen (nach Lukian), zusammengefaßt in den Stichworten: »baculi, perae, barbae, impudentia, adulatio, liguritio, avaritia, syllogismus«. Er gesteht gerne zu, daß die antiken Sophistereien nicht bis »auf den Buchstaben« gegenwärtiger Praxis gleichen, gibt aber zu bedenken, »an bona pars de quibusdam hujus temporis hominibus vera sint«. Dann das bereits im frühen christlichen Humanismus immer wiederangezogene Bild apostolischer Einfachheit: »Quid utique, si Petrus & Paulus in ilio simplici cultu citarent omnes, qui sacra faciunt, ad rationem muneris sui reddendam & verba sua factis implenda sub praemie coelestis beatitatis«. Das ist natürlich genau die Frage, mit der der zeitgen. Pietismus der Orthodoxie gegenübertrat und in der sich die Bemühungen um »praxis pietatis« mit dem Praxisbezug aufklärerischer Vernunft trafen. Zur »ebriosa eloquentia« der Gegenwart vgl. S. 83/84: »quid vobis de Professore publico Eloquentiae videtur, qui Terentium atque Ciceronem ut nimia perspicuitate lánguidos se ferre non posse f a t e b a t u r . . . ?

66

Huber S. 64, nimmt Bezug auf Quintil. Inst. Or. V i l i 2, 18; vgl. das Gedicht der Luise Adelgunde Victoria Gottsched »Ode über eines Schulfuchses im Quintilian σκοτιον, σκότιςον! Tanto melior! ne ego quidem intellexi! »(1742), abgedruckt in: Epochen deutscher Lyrik 1700-1770, hg. v. J. Stenzel. München 1969 ( = D T V - TB 4019), S. 159-61. Erstausgabe 1694; die Auflage von 1702 wurde von Thomasius besprochen, von mir benutzt in der Übersetzung von Buchka, abgedruckt in: Der deutschen Gesellschaft in Leipzig Eigene Schriften und Übersetzungen ( . . . ) , Leipzig 2. Aufl. 1742, Bd. I, S. 371ff. Den Zusammenhang mit der durch Boileau angeregten Rezeption von Ps.-Longins »Peri Hypsus« referiert Windfuhr, Barocke Bildlichkeit, S. 318: auf den von mir herausgehobenen Zusammenhang geht er nicht ein.

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»philosophischen Oratorie« einbegriffenen kritischen Impulse gegen die elitäre Selbst-Isolation der Gelehrtenrepublik. Werenfels wendet sich gegen eine »Schwäche der Beurteilungskraft«, die sich als unfähig erweist, Sprache und Gegenstand adäquat aufeinander zu beziehen. Argumentiert wird noch mit dem Regelsystem der Decorum-Vorstellung, der Akzent liegt aber wesentlich auf der Angemessenheit von Stilebene und »Sache«. Die Stilregulative des situativen und sozialen Aptum bleiben weitgehend außer acht. 68 Die Polemik gegen die »hochtrabende Schreibart« zitiert zwar noch ausführlich die Auseinandersetzung der Spätrenaissance (Cicero, Livius, Horaz gegen Tacitus, Persius, Statius und die anderen »dunklen« Autoren der silbernen Latinität), 69 jedoch wird im Grunde jede Nachahmung eines antiken Autors zur angemaßten Sprachpose. Diese erscheint nicht nur wie bei Huber als Ausdruck eines allgemeinmenschlichen Lasters, sondern wird ganz präzise als Resultat der spezifischen sozialen Situation des scholastischen Humanismus, d.h. der Isolation und Degradation seiner Träger aufgefaßt. Schwulst ist in diesem Sinne ein Produkt psychologischer Kompensation: Sie ahmen die Reden der grösten Männer nach. Aber wer denn? Leute, die im Dunkeln leben, in der Studierstube stecken, und niemand, als Knaben, Jünglingen oder einigen ihres gleichen bekannt sind. Sie suchen es Leuten nachzuthun, die von den grösten und wichtigsten Sachen reden. Aber wer sind diese? Solche, die nichts zu sagen haben, wenn man das ausnimmt, was die freyen Künste angehet.70 Sowohl die Verkleidung der Wirklichkeit in antikisierende Sprachformen und Denkmuster wie auch die damit zusammenhängende, weil aus dem rhetorischpoetischen Arsenal des Humanismus übernommenen Mittel der Metaphorik, Periphrase und Mythologie werden bei Werenfels nicht nur in Rücksicht auf

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Werenfels Begriff der vernünftigen Sprache betont nicht den rhetorisch-psychagogischen, sondern den sachbezogen-kommunikativen Wert. S. 408: »Die Sprache ist uns nicht zur Verdunkelung unserer Meynung, sondern zur Eröffnung unserer Gedancken gegeben worden.« In diesem Sinne auch Buchka in seiner Vorrede; bei ihm wird auch deutlich, wie die veränderte Stilbewertung mit einem gewandelten Gegenstandsbegriff zusammenhängt, der den Sachbezug der Sprache nicht mehr intellektuell-ingeniös vermittelt, d. h. dem »Scharfsinn« von Autor und Publikum überantwortet, sondern die sprachlich auszudrückenden Vorstellungen und Gedanken an eine objektive, empirisch faßbare Ordnung der Gegenstände bindet. Z. B. S. 375: »Unsere Gedancken entspringen von den Sachen, die wir empfinden, und sich durch die äußerlichen Sinnen dem Gemüthe vorstellen. Die Dinge außer uns haben unterschiedene Grade... Wie die Dinge außer uns beschaffen sind, wovon man redet, so soll auch die Rede beschaffen seyn.« Vgl. S. 402f.: Bezug auf Vives und Erasmus im Streit gegen den Ciceronianismus des Longolius; S. 407f.: die klassischen Autoren gegen die Muster der Silbernen Latinität; 410f.: Cicero gegen die neulateinischen »Modernen« (Barclay, ebenso S. 408: Heinsius, Casaubonus, Grotius u.a.); der Schluß der Abhandlung vergleicht die »gründliche und vernünftige Schreibart« der »heutigen Franzosen« mit jener Art von »Wohlredenheit«, »welche in Griechenland zu des Demosthenes und in Rom zu des Cicero Zeiten im Flor gewesen« (S. 443f.): hier unausgesprochen auch die Synopse von Staatsverfassung und Beredsamkeit impliziert. A.a.O., S. 403.

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Sprachgewohnheit und Verständlichkeit angegriffen, sondern einem verfehlten »Streben nach Hoheit« zugeordnet, das mit dem Verzicht auf Klarheit der Sprache zugleich die subjektive Einbildungskraft auf Kosten realistischer Bezeichnung nicht zuletzt der sozialen Wirklichkeit hypertrophiert. 71 Die Abrechnung mit der »pedantischen« Beredsamkeit wird parallel zur sozialkritischen Ebene der Argumentation in ideologischer Hinsicht zum Abgesang auf eine sich im humanistischen Wissenschaftssystem organisierenden Rhetorik. Bei Friedrich Andreas Hallbauer steht ähnlich wie bei Gottsched die Notwendigkeit der »eigenen Meditation« im Vordergrund: auch die Spätformen der barocken Redelehre, die galant-curieuse Rhetorik in der Art eines Johann Christoph Männling etwa, verfallen einem Verdikt, das sie als kindisches Spielwerk einer auf Collektaneen angewiesenen Stubengelehrsamkeit brandmarkt; Redekunst versteht sich hier trotz aller tradierten Techniken wesentlich als die Produktion von »Eigenem«, setzt die Gewißheit einer kraft eigener Vernunft begriffenen Sache voraus. 72 D a hier nur die Einbindung auch der stilkritischen Diskussion in den argumentativen Kontext der Gelehrtenkritik behandelt werden soll, muß der von Werenfels exemplarisch zu Gottsched verweisende Gesamtzusammenhang der Auflösung des humanistisch-rhetorischen Systems außer Betracht bleiben. Ich möchte vielmehr noch zurückkommen auf die spezielle Problematisierung des Lateins als Gelehrten- und Wissenschaftssprache, die bei Weise, bei Thomasius, später auch bei den galanten Theoretikern 7 3 als zentraler Punkt der Polemik in Erscheinung tritt. Hubers Pedantismus-Rede vertritt eine ambivalente Sicht. Abgelehnt wird die lateinische Sprache, wenn sie als Symptom einer »gravis aut molesta eruditio« ohne Notwendigkeit in der Gesellschaft gebraucht wird, d . h . im außerscholastischen Bereich. Beklagt wird allerdings der Verlust des »commune gentium Christianarum vinculum« - Huber scheint die drohende Provinzialisierung gerade der kleineren Nationalsprachen und Nationalkulturen zu bedenken - , die Gefahr erscheint jedoch nur als Endresultat eines langen Prozesses, der von Italien, 71

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Vgl. S. 396f. Eine eindeutige Polemik gegen die Servilität barocker Rhetorik und zugleich ein Rückgriff auf die verbindliche Koppelung von orator und vir bonus, d.h. aber auf die Entsprechung von Stil und Sprecher. Die politisch-soziale Semantik der stilkritischen Terminologie ist unüberhörbar: »So malt er sich aber in der ganzen Beschaffenheit seiner Rede ab, wenn sie nicht nach dem stinkenden Fleiß und den Schulen der Rhetoren riecht, denn dieses sind Eigenschaften niedriger Seelen: Sondern wenn eine männliche, natürliche und ungezwungene Beredsamkeit darinnen zu bemerken ist. Diese befindet sich bey denen, welche sagen, was sie meynen; die sich mehr um das bekümmert, was sie sagen, als wie sie es sagen; Welche endlich wohl reden, nicht weil sie wohl reden wollen, sondern weil sie es nicht anders sagen können. Er giebt sich als einen solchen Mann durch eine edle Freymüthigkeit und Unerschrockenheit im Reden zu erkennen, welche durchgehende in einer Rede herrscht, die von einer kindischen Scham, knechtischen Furcht und schändlichen Schmeicheley (Hervorhebung von m i r - W. K.) entfernet ist, doch aber auch nichts Unverschämtes und Bäuerisches an sich hat.« Vgl. die ausführliche Charakterisierung der »pedantische(n) oder schulfüchsische(n) Reden« bei F. A. Hallbauer: Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie. Jena 1725, S. 235ff. Zur Polemik gegen das Latein bei den Galanten vgl. Wendtland, u.a. 84f., 154.

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Frankreich, Deutschland nun auch nach Friesland, der »moris antiqui tenacissima«, übergreift. 74 Die Konfrontation mit dem Französischen als neuer europäischer Universalsprache 75 wird ausgesprochen, jedoch das Festhalten am Lateinischen als Gelehrtensprache gerade in Anbetracht des um sich greifenden »gallicismus« zum Signum einer humanistischen Kontinuität stilisiert, die sich gegen den ungelehrten »Pöbel« nach oben und unten behauptet. Latein ist dabei nicht nur Standesidiom, sondern zugleich gleichsam Arche Noah der »humanitas« und der »bonae res« in Anbetracht allgemeiner Nivellierung. 76 Sowohl bei Thomasius wie bei Huber wird die Pedantismus-Problematik zum Motiv einer Selbstbefragung und Selbstverständigung der akademischen Welt. Was sich in anderen Textsorten (Satire, Komödie, politische Pädagogik und Gesellschaftslehre) lange angebahnt hatte, wird nun endlich integriert in die zum traditionellen Themenvorrat der Schuloratorie zählenden deklamatorischen Fragen nach Sinn, Zweck und Anlage der Studien. J e nach Interessenlage entwickeln sich aus der »Materie« weiterführende Aufrufe zur Universitätsreform, wie etwa in der 1720 gehaltenen Inauguralrede des Tübinger Kanzlers Chr. M. Pfaffius »De Universitatibus Scholasticis Emendandis E t Paedantismo Literario ex Iisdem Eliminando«, 77 aber auch konservativ, ja bitter gefärbte Bilanzen, wie in der 1708 in Kiel gehaltenen Rede von G. Chr. Schelhamerus »De Augmentis & Decrementis Scientiarum, superiori praesentique saeculo«, in der u. a. im althumanistischen Sinne gegen das »neue Schimpfwort« (»novum convicium«) des Pedantismus Front gemacht und jene »Barbarei« beklagt wird, die sich unter dem »Deckmantel einer an den Geschmack des neuen Saeculums angepaßten« Gelehrsamkeit und Bildung breit macht. 78 Bereits die gedankliche Form dieser Diagnose - das 74 75 76

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Huber a . a . O . , S. 90f. Ibid. S. 91 (»lingua universalis dominansque«). Ibid. S. 92: »Neque profecto faciendum, Auditores, ut nos privari patiamur ejusque linguae privilegio, quod Studiosos a profana plebe distinguit, & quod Gallicismus nemini vestrum praestare potest, quo foeminae, milites aulicique bonarum ignorantes rerum facile vobis antecellent. Demus hoc socordiae seculi & tralatitiae humanitati, ut eorum, qui Latina reformidant pudori ignoscamus; sed nunquam inter nos invicem illam gentis gentium dominae linguam cessemus reddere nobis familiarem.« Vgl. dazu die Bemerkungen bei W. Jens, Universität Tübingen, 160ff.; Böhm, Sokrates, S. 10. Ich kenne die Rede nur aus dem ausführlichen Auszug in Jacob Burckhardt: De Fatis Linguae Latinae in Germania... Hannover 1713, S. 558-60. Burckhardt weist ausdrücklich darauf hin, daß die Klagen nicht von einem Philologen oder Schulmann, sondern von einem »Clarissimus medicus« stammen. Bei Burckhardt wird S. 564ff. die gesamte Tradition des Humanismus (Agricola, Reuchlin, Hofmannswaldau) zur Verteidigung der Lat. Sprache aufgeboten, um den fatalen Titel des »Pedantismus« zu widerlegen. Daß übrigens in Frankfurt 1719 von ebendemselben Burckhardt (Professor am Gymnasium von Hildburghausen) die berühmte Verteidigungsschrift des Frühhumanismus, Hermann Busches »Valium Humanitatis«, wiederaufgelegt wurde, ist ein Symptom für den Zwang zur Apologie des hum. Systems, für die Rückerinnerung an die ungetrübten Anfänge. Busches »Wall« - so der Herausgeber am Ende des beigebundenen Lebensbildes (S. 112) - sei »so befestigt, daß er auch heute noch nicht selbst von den unverschämtesten Feinden der >humanitas< überwunden werden könne.«

446

Festhalten a m kulturzyklischen D e n k e n der humanistischen R e n a i s s a n c e ,

die

Frage nach A u f s t i e g und N i e d e r g a n g , der sich vor allem sprachlich-literarisch kundtut - erinnert an B e r n e g g e r s T h e m a der »senectas studiorum« v o n 1622. W a r e n dort G e f ä h r d u n g und Isolation d e s a k a d e m i s c h e n H u m a n i s m u s in ambivalenter B e w e r t u n g bereits deutlich umrissen, scheint nun für Konservative die » V e r a c h t u n g der Studien« allgemein g e w o r d e n . D i e Furcht, daß mit der nötigen ö f f e n t l i c h e n V e r a n t w o r t u n g der a k a d e m i s c h e n Wissenschaft die »solida eruditio« überhaupt v e r s c h w i n d e , bestimmt allerdings w i e bei H u b e r auch j e n e R e d e n , die sich nicht nur in R ü c k s c h a u u n d A p o l o g i e e r s c h ö p f e n . Justus Christoph B ö h m e r ( 1 6 7 1 - 1 7 3 2 ) z.B.,

Professor für Politik und E l o q u e n z

in H e l m s t e d t , setzt sich 1709 mit d e m bereits »vertraut« g e w o r d e n e n PedantismusV o r w u r f im e i n z e l n e n auseinander: mit M o n t a i g n e , mit H u b e r , aber auch mit d e n P e d a n t e n g e s t a l t e n d e s » I o a n n e s Baptista Poquelinus Molerius« und »J. L. Balzacius«. 7 9 Z u g e s t a n d e n wird der berechtigte Widerwillen g e g e n j e d e Art

von

G e l e h r t e n z ä n k e r e i e n u n d gesellig-gesellschaftlicher U n h ö f l i c h k e i t . J e d o c h gelte e s zu b e d e n k e n , d a ß (sehr viele in unserer Zeit) auf elegante Weise gelehrt sein und gelten wollen, aber nicht genau wissen oder wissen wollen, worin dies eigentlich besteht. Nicht deswegen wird heute jemand schneller aufsteigen, wenn er heiter und urban im Gespräch ist und nach Art unserer Zeit gelernt hat, das Decorum im bürgerlichen Leben zu wahren: wenn er nur glänzend gekleidet ist, der übrigen notwendigen Voraussetzungen aber ermangelt. Nicht der ist >elegantDoktor Faust«. Zur Sozialgeschichte des deutschen Intellektuellen zwischen frühbürgerlicher Revolution und Reichsgründung (1525-1871). Kronberg/Ts. 1976 Dreitzel, Hans-Peter: Die Gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens. Stuttgart 1968 (= Göttinger Abhandlungen zur Soziologie und ihrer Grenzgebiete, 14. Band) - Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse. Stuttgart 1962 (= Göttinger Abh. zur Soziologie Bd. 6) Dreitzel, Horst: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die >Politica< des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636). Wiesbaden 1970 (= Veröffentlichungen des Institus für Europäische Geschichte, Mainz, Bd. 55) Drux, Rudolf: Martin Opitz und sein poetisches Regelsystem. Bonn 1976 (= Literatur und Wirklichkeit, Bd. 18) van Dülmen, Richard: Die Gesellschaft Jesu und der bayrische Späthumanismus. Ein Überblick. Mit dem Briefwechsel von J. Bidermann, in: Zts. f. Bayr. Landesgeschichte 37 (1974), S. 358-415 Dürrwächter, Anton: Jacon Gretser und seine Dramen. Ein Beitrag zur Geschichte des Jesuitendramas in Deutschland. Freiburg 1912 (= Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des Deutschen Volkes IX 1/2) Duhr, Bernhard: Die Studienordnung der Gesellschaft Jesu. Freiburg 1896 ( = Bibliothek der katholischen Pädagogik 9) Dunn, Catherine E.: Lipsius and the Art of Letter-Writing, in: Studies in the Renaissance III (1956), S. 145-156 Durzak, Manfred: Von der Typenkomödie zum ersten Lustspiel. Zur Interpretation des Jungen Gelehrten«, in: ders.: Poesie und Ratio. Vier Lessing-Studien. Frankfurt 1970 S. 9-43 Dyck, Joachim: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg v.d.H. u.a., 2. Aufl. 1969 (= Ars Poetica. Bd. 1) - Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977 - Philosoph, Historiker, Orator und Poet. Rhetorik als Verständnishorizont der Literaturtheorie des XVII. Jahrhunderts, in: arcadia 4 (1969), S. 1-15

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