Schlechte Unendlichkeit: Zu einer Schlüsselfigur und ihrer Kritik in der Philosophie des Deutschen Idealismus 9783495808238, 9783495487129


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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
I. Hegel
I.1. Die Entwicklung des Begriffs der schlechten Unendlichkeit im frühen Denken Hegels der Jenaer Zeit
I.1.1. Traditionslinien
I.1.1.1. Versuch einer ersten allgemeinen Einordnung: Aktual wirkliche und potentielle Unendlichkeit
I.1.1.2. Hegels kritische Auseinandersetzung mit Spinoza
I.1.1.3. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen
I.1.2. Die Differenzschrift Hegels
I.1.2.1. Entstehung des unendlichen Progresses schlechter Unendlichkeit aus einem inneren Widerspruch der Reflexion
I.1.2.2. Kritik der fichteschen Philosophie
I.1.2.3. Fortsetzung der Fichtekritik im Naturrechts-Aufsatz im Hinblick auf Hegels Tragödienmodell
I.2. Die Phänomenologie des Geistes
I.2.1. Einheit der Widersprüche im System
I.2.2. Der &s_a1l;sich vollbringende Skeptizismus&s_a1r; als Movens und Form einer Geschichte des Selbstbewusstseins
I.2.2.1. Zweifel und Verzweiflung
I.2.2.2. Erste Stufe des Selbstbewusstseins: Herrschaft und Knechtschaft
I.2.2.3. Der antike Skeptizismus
I.2.3. Die vergessene Vorgeschichte des Ich = Ich im unglücklichen Bewusstsein
I.2.3.1. Das unglückliche Bewusstsein und seine vorläufige Versöhnung im abstrakten Begriff der Vernunft
I.2.3.2. Erfüllung des abstrakten Vernunftbegriffs in der Sittlichkeit
I.2.3.3. Urszene der Moralität: Der tragische Gegensatz in der Antigone im Unterschied zu Ödipus
I.2.3.4. Höhepunkt und Krisis des moralischen Selbstbewusstseins im Gewissen
I.2.3.4.1. Selbstermächtigung des einzelnen Subjekts als alleiniger Wesenheit
I.2.3.4.2. Ich = Ich als Wechsel des unglücklichen Bewusstseins mit sich selbst
I.3. Die Wissenschaft der Logik
I.3.1. Der Anfang mit dem reinen Sein
I.3.2. Unterscheidung von Verstand und Vernunft in der Logik des Daseins (im Kontext der hegelschen Spinozakritik)
I.3.3. Endlichkeit und Unendlichkeit
I.3.3.1. Ewige Vergänglichkeit des &s_a1l;Etwas&s_a1r; in seiner Bestimmung als Seiendes
I.3.3.2. Wahre und schlechte Unendlichkeit
I.3.3.3. Hegels Kritik an Kant und Fichte
I.4. Das Sollen und das Erhabene
I.4.1. Das Erhabene als Pathos der Gegenwartslosigkeit
I.4.2. Überwindung des Symbolisch-Erhabenen in der klassischen Antike
I.4.2.1. Das Schöne als Ideal
I.4.2.2. Unendlicher Anspruch christlicher Einzelheit
I.4.3. Die schlechte Wiederholung des Erhabenen in der Neuzeit
I.4.3.1. Prosa der Welt
I.4.3.2. Verfehlung der Einzelheit in der Romantik
II. Schelling
II.1. Die Weltalter
II.1.1. Erschließung der Welt und des Willens als ihrer inneren Wirklichkeit aus der Tatsache der Freiheit
II.1.2. Wahre und scheinbare Zeit
II.2. Die Geschichte der neueren Philosophie
II.2.1 Dialektischer Fortschritt im Scheitern der Philosophie als Wissenschaft
II.2.2. Hegel als Episode
II.2.3. Unmöglichkeit einer Vermittlung der Positionen Hegels und Schellings
II.3. Positive und negative Philosophie
II.3.1. Dialektik des Seins als Wille
II.3.2. Potenzenlehre
II.3.3. Die Philosophie der Offenbarung 1841/42
II.3.4. Die Überwindung der scheinbaren Zeit des Kronos als erzählte Vergangenheit im Mythos
III. Kierkegaard
III.1. Der Gegensatz von Zweifel und Verzweiflung
III.1.1. Kierkegaards Position zu Hegel
III.1.2. Die Philosophischen Brocken
III.2. Ethisches Interesse und ästhetisch-philosophische Gleichgültigkeit
III.2.1. Die Hegelkritik der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift
III.2.2. Das Problem des Übergangs in Der Begriff Angst
III.2.3. Ästhetisches Existieren
III.3. Die Wiederholung
III.4. Exkurs: Vergleich der Wiederholung Kierkegaards mit der ewigen Wiederkunft Nietzsches (als gelingender Wiederholung im Ästhetischen)
IV. Das Problem der Kontinuität in der dialektischen Geschichtsphilosophie am Beispiel Marx’ und Benjamins
IV.1. Dialektische Logik des Kapitals
IV.2. Die List der Vernunft in der marxschen Geschichtsphilosophie (am Beispiel des 24. Kapitels des Kapitals)
IV.3. Wiederholung der Hegelkritik Schellings und Kierkegaards (nach ihrer praktischen Seite) in der Marxkritik Benjamins
IV.4. Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
a) Hegel:
b) Kant:
c) Kierkegaard:
d) Nietzsche:
e) Schelling:
f) Weitere Siglen:
g) Weitere Quellen:
2. Sekundärliteratur
Namensregister
Sachregister
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Schlechte Unendlichkeit: Zu einer Schlüsselfigur und ihrer Kritik in der Philosophie des Deutschen Idealismus
 9783495808238, 9783495487129

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6

BEITRÄGE ZUR SCHELLING-FORSCHUNG

Daniel Unger

Schlechte Unendlichkeit Zu einer Schlüsselfigur und ihrer Kritik in der Philosophie des Deutschen Idealismus

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495808238

.

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Das systematische Problem »schlechter Unendlichkeit«, als dessen Überwindung die hegelsche Philosophie angetreten ist und das als solches weit über seinen Ursprung im Deutschen Idealismus hinausgeht, wird in dieser Arbeit rekonstruiert. Bereits bei Hegel bleibt die Beschreibung dieser Figur eines scheiternden affirmativen Selbstbezugs im Verstandesdenken nicht auf ihre logische Struktur beschränkt, ihre ganze Tragweite zeigt sich erst in der kritischen Anwendung auf die ethische Dimension des moralischen Sollens und die ästhetische Tradition des Erhabenen. In der Kritik Schellings und Kierkegaards findet jene Figur wiederum eine Anwendung auf ihren Urheber: Nicht nur würde Hegel an einer wirklichen Lösung dieses Problems scheitern; sein Modell einer wahren Unendlichkeit, damit auch sein geschichtliches Denken als solches, sei das Ende einer wahren Ethik und der eigenen Berechtigung des Einzelnen in seiner wirklichen Existenz.

Der Autor: Daniel Unger, geb. 1982, wurde 2014 in Freiburg promoviert. Seit 2014 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission zur Herausgabe der Schriften Schellings an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München.

https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Daniel Unger Schlechte Unendlichkeit

https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

6

BEITRÄGE ZUR SCHELLING-FORSCHUNG

Herausgegeben von Lore Hühn (Freiburg) Paul Ziche (Utrecht) Philipp Schwab (München)

https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Daniel Unger

Schlechte Unendlichkeit Zu einer Schlüsselfigur und ihrer Kritik in der Philosophie des Deutschen Idealismus

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48712-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80823-8

https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Vorwort

Der vorliegende Band gibt den geringfügig überarbeiteten Text einer Arbeit wieder, die im Frühjahr 2013 als Dissertation mit dem Titel Schlechte Unendlichkeit als Figur der Hegelschen Philosophie und ihrer Kritik durch Schelling und Kierkegaard im Fachbereich Philosophie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. angenommen wurde. Bedanken möchte ich mich zunächst bei der Betreuerin meiner Dissertation Frau Prof. Dr. Lore Hühn, deren Ansporn und konstruktive Kritik maßgeblich zum Gelingen meiner Promotion beigetragen hat, zudem bei meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Andreas Urs Sommer, dessen wohlwollende Begleitung gerade gegen Ende meiner Promotion eine große Hilfe war. Auch möchte ich mich bei meinen Freunden im und aus dem schönen Badener Land bedanken, auf die ich mich immer verlassen konnte – ebenso, last but not least, bei meinen Eltern, denen ich diese Arbeit widme.

VII https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Inhalt

Einleitung

I.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Hegel

I.1. Die Entwicklung des Begriffs der schlechten Unendlichkeit im frühen Denken Hegels der Jenaer Zeit . . . . . . I.1.1. Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1.1.1. Versuch einer ersten allgemeinen Einordnung: Aktual wirkliche und potentielle Unendlichkeit . I.1.1.2. Hegels kritische Auseinandersetzung mit Spinoza I.1.1.3. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1.2. Die Differenzschrift Hegels . . . . . . . . . . . . I.1.2.1. Entstehung des unendlichen Progresses schlechter Unendlichkeit aus einem inneren Widerspruch der Reflexion . . . . . . . . . . . I.1.2.2. Kritik der fichteschen Philosophie . . . . . . . . I.1.2.3. Fortsetzung der Fichtekritik im NaturrechtsAufsatz im Hinblick auf Hegels Tragödienmodell I.2. Die Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . I.2.1. Einheit der Widersprüche im System . . . . . . . I.2.2. Der ›sich vollbringende Skeptizismus‹ als Movens und Form einer Geschichte des Selbstbewusstseins . I.2.2.1. Zweifel und Verzweiflung . . . . . . . . . . . . I.2.2.2. Erste Stufe des Selbstbewusstseins: Herrschaft und Knechtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . I.2.2.3. Der antike Skeptizismus . . . . . . . . . . . . . I.2.3. Die vergessene Vorgeschichte des Ich = Ich im unglücklichen Bewusstsein . . . . . . . . . . . .

13 13 13 17 25 39

39 46 53 56 56 59 59 61 64 66 IX

https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Inhalt

I.2.3.1. Das unglückliche Bewusstsein und seine vorläufige Versöhnung im abstrakten Begriff der Vernunft . . . . . . . I.2.3.2. Erfüllung des abstrakten Vernunftbegriffs in der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2.3.3. Urszene der Moralität: Der tragische Gegensatz in der Antigone im Unterschied zu Ödipus . . . I.2.3.4. Höhepunkt und Krisis des moralischen Selbstbewusstseins im Gewissen . . . . . . . . . . . I.2.3.4.1. Selbstermächtigung des einzelnen Subjekts als alleiniger Wesenheit . . . I.2.3.4.2. Ich = Ich als Wechsel des unglücklichen Bewusstseins mit sich selbst . . . . . I.3. Die Wissenschaft der Logik . . . . . . . . . . . . . . . I.3.1. Der Anfang mit dem reinen Sein . . . . . . . . . I.3.2. Unterscheidung von Verstand und Vernunft in der Logik des Daseins (im Kontext der hegelschen Spinozakritik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3.3. Endlichkeit und Unendlichkeit . . . . . . . . . . I.3.3.1. Ewige Vergänglichkeit des ›Etwas‹ in seiner Bestimmung als Seiendes . . . . . . . . . . . . I.3.3.2. Wahre und schlechte Unendlichkeit . . . . . . . I.3.3.3. Hegels Kritik an Kant und Fichte . . . . . . . . I.4. Das Sollen und das Erhabene . . . . . . . . . . . . . I.4.1. Das Erhabene als Pathos der Gegenwartslosigkeit I.4.2. Überwindung des Symbolisch-Erhabenen in der klassischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . I.4.2.1. Das Schöne als Ideal . . . . . . . . . . . . . . I.4.2.2. Unendlicher Anspruch christlicher Einzelheit . I.4.3. Die schlechte Wiederholung des Erhabenen in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.4.3.1. Prosa der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . I.4.3.2. Verfehlung der Einzelheit in der Romantik . .

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66 70 73 83 83 89 100 100

107 112 112 117 124

. 129 . 129 . 138 . 138 . 141 . 145 . 145 . 147

Inhalt

II.

Schelling

II.1. Die Weltalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.1. Erschließung der Welt und des Willens als ihrer inneren Wirklichkeit aus der Tatsache der Freiheit II.1.2. Wahre und scheinbare Zeit . . . . . . . . . . .

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II.2. Die Geschichte der neueren Philosophie . . . . . . . . . II.2.1. Dialektischer Fortschritt im Scheitern der Philosophie als Wissenschaft . . . . . . . . II.2.2. Hegel als Episode . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.3. Unmöglichkeit einer Vermittlung der Positionen Hegels und Schellings . . . . . . . . . . . . . .

169

II.3. Positive und negative Philosophie . . . . . . . . . . II.3.1. Dialektik des Seins als Wille . . . . . . . . . II.3.2. Potenzenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.3. Die Philosophie der Offenbarung 1841/42 . . II.3.4. Die Überwindung der scheinbaren Zeit des Kronos als erzählte Vergangenheit im Mythos

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. . . .

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. 197

III. Kierkegaard III.1. Der Gegensatz von Zweifel und Verzweiflung . . . . . . III.1.1. Kierkegaards Position zu Hegel . . . . . . . . . III.1.2. Die Philosophischen Brocken . . . . . . . . . . III.2. Ethisches Interesse und ästhetisch-philosophische Gleichgültigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.1. Die Hegelkritik der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift . . . . . . . . III.2.2. Das Problem des Übergangs in Der Begriff Angst . III.2.3. Ästhetisches Existieren . . . . . . . . . . . . . III.3. Die Wiederholung

203 203 208 212 212 223 227

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

III.4. Exkurs: Vergleich der Wiederholung Kierkegaards mit der ewigen Wiederkunft Nietzsches (als gelingender Wiederholung im Ästhetischen) . . . . . . . . . . . .

237

XI https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Inhalt

IV. Das Problem der Kontinuität in der dialektischen Geschichtsphilosophie am Beispiel Marx’ und Benjamins IV.1. Dialektische Logik des Kapitals . . . . . . . . . . . . .

247

IV.2. Die List der Vernunft in der marxschen Geschichtsphilosophie (am Beispiel des 24. Kapitels des Kapitals) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

252

IV.3. Wiederholung der Hegelkritik Schellings und Kierkegaards (nach ihrer praktischen Seite) in der Marxkritik Benjamins . . . . . . . . . . . . . .

259

IV.4. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271 271 275

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Sachregister

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XII https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Einleitung

Als Schelling 1795 in seinen Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus den Übergang von der Unendlichkeit zur Endlichkeit als Problem aller Philosophie beschrieb (vgl. AA I,3, 82), 1 lag dieser Fragestellung (hier an Spinoza orientiert) bereits ein philosophischer Streit zugrunde, der bis zur Unterscheidung einer potentiellen Unendlichkeit als endloser Progress nach Aristoteles von einer für sich seienden Unendlichkeit als aktual wirklicher im Sinne Platons in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Endlichkeit zurückreicht. 2 – Eine derart weit zurückreichende Tradition, auf welche Hegel in seiner Unterscheidung wahrer und schlechter Unendlichkeit auch antwortet (die allerdings keineswegs darauf beschränkt werden darf), 3 muss nicht unbedingt für eine aktuelle Relevanz des Themas sprechen, im Gegenteil: Folgt man dem gängigen common sense einer heutigen Unzeitgemäßheit der hegelschen Philosophie als des letzten großen Versuchs ganzheitlich-systematischer Spekulation, so scheint die Frage wahrer und schlechter Unendlichkeit mitsamt der metaphysischen Tradition doch eigentlich obsolet geworden zu sein. 4 Sicherlich hat 1 Sechs Jahre später schreibt auch Hegel in seiner 1801 erschienen Differenzschrift: »Die Aufgabe der Philosophie besteht aber darinn, diese Voraussetzungen zu vereinen, das Seyn in das Nichtseyn – als Werden, die Entzweyung in das Absolute – als seine Erscheinung, – das Endliche in das Unendliche – als Leben zu setzen« (DS, GW 4, 16). 2 Die Tradition dieses Streits ist Gegenstand des ersten Kapitels I.1.1.1. dieser Abhandlung. 3 In jenem Sinne hat etwa 2001 Rüdiger Bubner die logische Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit in Hegels dialektischer Figur wahrer Unendlichkeit als Lösung eines letzten »verbliebenen Rätsels der Metaphysik« bezeichnet, vgl. Bubner 2004, 17. 4 1999 schreibt Rolf-Peter Horstmann mit dankenswerter Klarheit: »Now, ›SystemPhilosophie‹ in Hegel’s sense has been out of fashion from his day on, and I take it that nobody nowadays really wants to give the ›System‹-version of a holistic approach in philosophy a second chance. If, however, there are good reasons to suppose that for

1 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Einleitung

eine Erörterung des Problems der schlechten Unendlichkeit vor diesem Hintergrund eine gewisse philosophiegeschichtliche Relevanz (schließlich liegt hierin ein entscheidendes Moment der kritischen Auseinandersetzung Schellings und Kierkegaards mit Hegel), eine konkrete praktische Bedeutung jener logischen Frage erschließt sich jedoch nicht so bald. Tatsächlich erscheint der unendliche Progress, als welcher die schlechte Unendlichkeit gemeinhin verstanden wird, kaum noch als ein eigentliches Problem der Philosophie: Gadamer etwa lehnte im Zuge seiner hermeneutischen Methode, aus naheliegenden Gründen, die Kritik eines endlosen Progresses im Denken ab und sprach sich für eine genau entgegengesetzte Wertung aus; 5 ebenso muss etwa auch einem dekonstruktivistischen Ansatz eine solche Kritik fremd bleiben. 6 Mit der Absage an die hegelsche Systemphilosophie hat sich auf diese Weise nicht nur die Lösung, sondern auch das Problem schlechter Unendlichkeit selbst erledigt. Für diese philosophiegeschichtliche Entwicklung trägt auch die im 19. Jahrhundert ungemein einflussreiche Hegelkritik des späten Schelling (und in ihrem Ausgang diejenige Kierkegaards) ihre Verantwortung; 7 dass hier die Hegel the idea of a system was constitutive of a philosophical theory, then one wonders how it is possible to think of Hegel as a philosopher whose legacy is of some value for us« (Horstmann 1999, 276). Horstmann reagiert hier nicht zuletzt auf das in den 90ern wieder erwachte Interesse an Hegel seitens der analytischen Philosophie, welche im Zuge ihrer »neopragmatischen Aneignung« (Horstmann 2004, 83) die Logik als Fundament des Systems konsequent ausblendet. Auffällig ist, dass stattdessen durchgehend das eigentlich propädeutische Werk der Phänomenologie ins Zentrum rückt, ja geradezu als Steinbruch behandelt wird, dessen separierte Einzelteile in aktuellere Bezüge gesetzt werden können. Dies lässt sich gerade an den Vertretern jener »neopragmatischen Aneignung« feststellen, ganz gleich, ob die Dialogpotenziale der Phänomenologie mit der Gegenwart in ihrem (durchaus anschlussfähigen) Aufzeigen der intersubjektiv-vermittelten Konstitution unmittelbar im Subjekt erscheinender Selbst- und Weltbezüge (R. Pippin, R. Brandom, T. Pinkard) oder in der Überwindung szientistischer Traditionen im Aufzeigen sich gegenseitig vermitteltender Bezüge zwischen »Geist« und »Natur« (R. Brandom und J. McDowell als Vertreter des sogenannten »Pittsburgh-Neo-Hegelianism«) gesucht werden. Repräsentativ für diese moderne Auslegung sei hier Pinkard 1994 angeführt; zur Bedeutung jener genannten Richtungen vgl. Halbig/Quante/Siep 2004, 10–13 (deren Einschätzung hier übernommen und bestätigt wird). 5 Vgl. Gadamer 1972, 432–449. 6 Vgl. etwa Philipsen 2000, 186–201. 7 Wenngleich die Kritik Kierkegaards dort ausgespart bleibt, zeigt Burkhardt 1993 jene Kontinuität der schellingschen Vorwürfe in den Hegelkritiken der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu nennen ist aber v. a. auch Manfred Frank, welcher den An-

2 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Einleitung

Figur der schlechten Unendlichkeit eine entscheidende Rolle gespielt hat, muss aber doch verwundern, jedenfalls dann, wenn man, wie dies zumeist geschieht, schlechte Unendlichkeit einfach als unendlichen Progress übersetzt (dem gegenüber wahre Unendlichkeit die Geschlossenheit eines Systems voraussetze). Es liegt auf der Hand, dass die Debatte um die schlechte Unendlichkeit (wie die Figur einer ›scheinbaren Zeit‹ in der Weltalter- und Spätphilosophie Schellings) sich in einem eigentümlichen Problemhorizont abgespielt hat, der sich grundsätzlich vom heutigen Verständnis des Problems unterscheidet. Walter Jaeschke wies 2001 in die richtige Richtung, als er daran erinnerte, dass der heute zu den »Reizwörten« 8 des sogenannten ›Deutschen Idealismus‹ zählende Begriff der ›Unendlichkeit‹ stets auf eine Grundstruktur von Subjektivität überhaupt verwies; tatsächlich lässt sich feststellen, dass das dialektische Problem eines affirmativen Selbstbezugs (wie es einer gelingenden Form der Subjektivität als unendlicher zukommt) 9 seit der Jenaer Zeit eine durchgehende Fragestellung der hegelschen Philosophie bezeichnet. Vor diesem Hintergrund bekommt die Figur des unendlichen Progresses doch eine gewisse Brisanz; allerdings greift auch hier die Gleichsetzung mit schlechter Unendlichkeit noch zu kurz: Was in dieser nämlich eigentlich geschieht, ist stets derselbe dialektische Umschlag von Unendlichkeit in ihrem Gegensatz zur Endlichkeit zur schlechten Unendlichkeit als Gegenwartslosigkeit eines endlosen Hinaus, und zwar auf allen Ebenen des menschlichen Geistes. 10 Dieser dialektische Umschlag geschieht dem Verstandesdenken unweigerlich dort, wo ein einseitiges Ausgehen von Unmittelbarkeit sich (mit unendlichem Anspruch) in der allseitigen Negativität der Verstandesbestimmungen wiedereinholen soll, ebenso aber dort, wo gegen die allseitige Negativität des gegebenen Daseins in seiner Mannigfaltigkeit ein an sich Un-Endliches gesetzt wird – auch und gerade dann, wenn es das Selbst des Einzelnen ist. Dass hier aber satz der positiven Philosophie Schellings in ihrer antihegelschen Tradition über Feuerbach bis Marx verfolgt (Frank 1992, ferner Frank 1993). 8 Vgl. hierzu Jaeschke 2004. 9 Aus genau diesem Grund spielt Spinoza gleichermaßen für Hegel, Schelling und Kierkegaard als zwar anerkanntes, aber doch negatives Beispiel eine so entscheidende Rolle. 10 Ludwig Siep etwa weist ebenfalls darauf hin, dass die schlechte Unendlichkeit als Kritikfigur in gleicher Weise maßgeblich für die hegelsche Moral-, Rechts-, Kunstund Religionsphilosophie ist (vgl. Siep 2004, 157).

3 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Einleitung

dem Selbst stets ein solcher Umschlag des eigenen Bestrebens ins Gegenteil geschieht (wofür Hegel nicht zuletzt die griechische Tragödie Pate steht), verweist zugleich auf eine solche Ebene, welche die einseitige Reflexion des Verstandes in seiner linearen Sukzessivität nicht nur übergreift, sondern ihr immer schon zuvorgekommen ist und von Hegel als Ebene der eigentlichen Vernunft beschrieben wird (wobei die dialektische Methode als Denken der negativ aufeinander bezogenen Gegensätze in ihrem Zugleich gleichsam den Verstand zur Vernunft überlistet). Was nach Hegel die neuzeitliche Vorstellung des einzelnen Subjekts wiederum für die Figur der schlechten Unendlichkeit prädestiniert, ist das eigentümliche Beharren auf seiner Unmittelbarkeit vor einer Negativität, in die alle Bestimmungen des Seins, als in ihre Wahrheit, notwendig übergehen müssen (und sich nur in ihrer allseitigen Vermittlung als Seiende wiedereinholen lassen); – dies gilt sowohl im Bereich des rein Logischen, im Hinblick auf die vorausgehende negative Vermittlung aller Unmittelbarkeit, als auch auf der Ebene des menschlichen Geistes, wo sich jenes fortgesetzte Vermittlungsgeschehen als Geschichte darstellt. Der moralische Gegensatz des Subjekts gegenüber einer kontingenten Mannigfaltigkeit endlicher Bestimmungen in der objektiven Erscheinung blendet nicht nur dessen Vermittlung aus eben diesem Gegensatz aus, er verdrängt den eigenen Resultatscharakter aus einer langen Vorgeschichte (denn in der Antike war mit »Ich« etwas anderes gemeint als in der Neuzeit). Der Selbstbezug des Subjekts muss in einem solchen Verhältnis notwendig in eben jenen unendlichen Progress hinausgehen, der das gemeine Verständnis der schlechten Unendlichkeit geprägt hat, aber nur die resultierende Bewegung und nicht das eigentliche Problem, den eigentlichen Grundwiderspruch der schlechten Unendlichkeit auf der Ebene des menschlichen Geistes bezeichnet: der Anspruch des Fürsichseins eines un-endlichen Ausgangspunkts, dessen Selbstbestimmung ins Endlose hinausgehen muss, da sich einerseits seine Unmittelbarkeit nur im ständigen Verweis auf ein Überzeitliches schlechthin gegenüber der Negativität aller endlichen Bestimmungen aufrechterhalten lässt, andererseits aber sowohl der unendliche Anfangs- wie auch der Endpunkt durch genau diesen Gegensatz zur Endlichkeit vermittelt sind und bleiben. Jener vorhin erwähnte dialektische Umschlag von Unendlichkeit (in ihrem Gegensatz zur Endlichkeit) zur schlechten Unendlichkeit als Gegenwartslosigkeit eines endlosen Hinaus, die dem bloßen Verstandesdenken nur geschieht, 4 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Einleitung

liegt in der Bestimmung der Sache selbst; diese Einsicht kann aber bei Hegel nur einem solchen dialektischen Denken zukommen, das logisch jede einseitige Stellung in ihrem systematischen Vermittlungszusammenhang, historisch jede als unmittelbar gesetzte Gegenwart in ihrem Werden aufzuheben vermag. Erst im Vollzug dieses notwendigen Denkens, das zugleich den Charakter eines sich vollbringenden Skeptizismus wie den einer sich selbst überwindenden vollständigen Reflexion trägt, kann in Hegels System eigentliche Gegenwart im Werden und gelingender Selbstbezug als affirmative Unendlichkeit sein. Insbesondere der Gang durch die Phänomenologie zeigt: Der eigentliche Abgrund eines unglücklichen Bewusstseins als eines solchen, das sich allein im beständigen Wechsel gleichgültiger Momente aufrechterhält, ist dort erreicht, wo sich ein moralisches Selbst gegen eine als wesenlos erklärte Welt der Endlichkeit, Mannigfaltigkeit und Relativität mit sich zusamenschließt. Nach diesem völligen Herausfallen aus jeglichem logischen wie historischen Vermittlungszusammenhang könne kein Pathos des Erhabenen oder eines moralischen Sollens je wieder diesseitige Gegenwart verleihen – nur die geschichtlich-systematische Perspektive vermöge es, dieses Selbst wiedereinzuholen; dies heißt aber auch: eine allseitige, sich als Ganzes mit sich selbst zusammenschließende Negativität, damit auch die ›Prosa der Welt‹ anzuerkennen (wofür etwa das Ende der Rechtsphilosophie ein anschauliches Beispiel gibt) und die vergangenen Ansprüche einer ästhetischen Weltsicht in der Kunst oder einer ehrhabenen Tradition im Religiösen Vergangenheit sein zu lassen. Richtete sich diese Kritikfigur Hegels nicht allein in logischer Weise, sondern gerade auch in Hinblick auf die praktische Philosophie vor allem gegen Fichte und gegen Kant, 11 findet sie nun im Horizont der Hegelkritik Schellings und Kierkegaards wiederum ihre Anwendung auf den Urheber. Aus ihrer Akzentuierung des Selbst in seiner Existenz resultiert der Vorwurf, in der Immanenz des hegelschen Systems als eines vernünftigen habe sich gerade diejenige Figur schlechter Unendlichkeit in die dialektische Bewegung eingeschlichen, als deren Lösung und Überwindung es angetreten war. Auch hier bleibt das Problem der schlechten Unendlichkeit keineswegs auf die Rolle der Kritikfigur beschränkt (ob als scheinbare Zeit SchelAuf die Kritik Kants beziehen sich insbesondere die Kapitel I.3.3.3. und I.4.1. Soweit ich sehe, ist auch die Richtung der Figur schlechter Unendlichkeit als Kantkritik bisher kaum beachtet worden.

11

5 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Einleitung

lings 12 oder im Verhältnis von Zweifel und Verzweiflung bei Kierkegaard), sondern wird auf das Ganze der menschlichen Existenz in seinem dialektischen Verhältnis zu sich und der Welt ausgeweitet. Allerdings ist hier festzustellen, dass die logischen Angriffe Schellings und Kierkegaards gegen den eigentlichen Begründer des Problems nicht greifen. Der Grund dafür, dass ihre Kritik sich aber mit solch einem Nachdruck genau auf diesen Komplex richtet, ist wiederum ein anderer: Die Lösung Hegels erscheint ihnen in ethischer Hinsicht als schlechthin katastrophal. Das eigentliche Problem eines affirmativen Selbstbezugs werde nicht gelöst, sondern nur hinausgeschoben, wenn der Denkende selbst die Perspektive eines unbeteiligten und objektiven Betrachters einnimmt, der am Ende der Geschichte stehend seinem ganzheitlichen System nur Vergangenes (und damit scheinbar notwendig Geschehenes) zu integrieren vermag – gleichgültig gegenüber sich selbst wie gegenüber der Abfolge des betrachteten Geschehens, und gegenwärtig nur im fortgesetzten Nachvollziehen eben dieser einen und ewig sich selbst gleichen Folge gleichgültiger Momente. Im selben Zuge aber leben auch ihre Ansätze von uneinholbaren Voraussetzungen, die wiederum in der hegelschen Fassung der schlechten Unendlichkeit als Kritikfigur durchaus miteinbegriffen sind und sich in einer konsequenten Anwendung derselben als höchst problematisch zeigen. – Und so ist auch nicht zu verwundern, dass die schlechte Unendlichkeit als systematisches Problem der Philosophie keineswegs auf den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang Hegels und seiner beiden wichtigsten Kritiker beschränkt bleibt, sondern auch in der Folgezeit wieder aufbricht, ohne dass ein direkter Zusammenhang mit jenem Streit zu bestehen scheint. Dies gilt nicht nur für Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkunft, 13 sondern auch an einer doch nicht unbedingt zu erwartenden Stelle der Philosophiegeschichte: nämlich der marxschen Dialektik in ihrer Umkehr der hegelschen, an welcher Walter Benjamin in struktureller Parallelität zur Debatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweist, dass hier tatsächlich ein solches Einschleichen schlechter Unendlichkeit in die dialek-

Wie sich herausstellen wird, legt die scheinbare Zeit Schellings im Verhältnis zur schlechten Unendlichkeit Hegels den Akzent auf eine ihr eigentümliche Herrschaftsdialektik, die bei Hegel wohl nicht zuletzt auf Schiller zurückgeht. 13 Diese wird hier vor allem in ihrem strukturellen Zusammenhang zur kierkegaardschen Wiederholung betrachtet (Kap. III.4.). 12

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tische Methode stattgefunden hat, welche allerdings, so eine These dieser Arbeit, nicht in der hegelschen Methode selbst, sondern in ihrer ungeschützten Wende zugunsten einer praktischen Absicht durch Marx begründet liegt. – Wenngleich aber auch durch die benjaminsche Philosophie eine abschließende Lösung des Problems nicht gegeben werden kann (denn auch hier schlagen die Voraussetzungen der Kritik auf den Anwender zurück), spricht sie doch für die ungebrochene Aktualität desselben. Die Marxkritik Benjamins bietet hier mitsamt der Problematik seines eigenen Ansatzes gleichsam eine konzentrierte Wiederholung der vorangegangenen Entwicklung, welche in ihrer Bedeutung sicherlich ebensowenig auf das 20. Jahrhundert beschränkt bleibt wie jene ursprüngliche Formulierung auf den Höhepunkt und Ausgang des ›Deutschen Idealismus‹. * * * Die vorliegende Untersuchung der Figur schlechter Unendlichkeit beginnt mit der Analyse jenes spezifischen Problemhorizonts im Kontext des Deutschen Idealismus, den es gegenüber heute üblichen philosophiegeschichtlichen Einordnungen (namentlich in eine sich aus der Antike herschreibende Tradition eines Gegensatzes von aktualer und potentieller Unendlichkeit) wieder aufzudecken gilt, und zwar so, wie es sich erstmalig als zentrales Problem beim früheren Hegel in Jena im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Spinoza und Schiller stellt (Kap. I.1.1.). Die eigene Richtung, welche Hegel gegenüber der Flucht in die absolute Abstraktion einer objektiven Substanz und ebenso gegenüber einem ephemeren Ideal des ästhetisch Schönen einschlägt, beginnt mit dem Modell einer sich selbst überwindenden Reflexion in der Differenzschrift (Kap. I.1.2.), das sowohl das Grundmuster für den ›sich vollbringenden Skeptizismus‹ der Phänomenologie als auch für das Überwundensein der schlechten Unendlichkeit in der wahren im Sinne der Logik stellt. – So, wie die schlechte Unendlichkeit nicht eine notwendige Zwischenstufe zur wahren Unendlichkeit, vielmehr einen Abweg und ein Herausfallen aus der wahren Geschichtlichkeit derselben darstellt, verfährt die Analyse des Problems schlechter Unendlichkeit und seiner Lösung in der Phänomenologie zweigleisig (Kap. I.2.): Einerseits wird anhand der Methode des sich vollbringenden Skeptizismus als Radikalisierung seines Jenaer Reflexionsbegriffs (sofern es nun alle Unmittelbarkeit in einem ganzheitlichen und negativ fortschreitenden Vermittlungsgeschehen 7 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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verflüssigt) das dialektische Geschichtsmodell Hegels als in aller Negativität bei sich bleibende Bewegung wahrer Unendlichkeit erörtert, andererseits jener merkwürdige Abgrund geschichts- und gegenwartslosen Fortwährens im unglücklichen Bewusstsein beschrieben, der in der Phänomenologie zweimal erscheint: vor seiner ersten Lösung im Ergreifen eines abstrakten Begriffs der Venunft und dann wieder auf der Spitze derjenigen Moralität, die im selbstbewussten Aufbegehren Antigones gegen das profane Recht Kreons ihren ersten Anfang nimmt: im Ich = Ich als Wechsel des unglücklichen Bewusstseins mit sich selbst, dessen schlechte Unendlichkeit wiederum nur rückwärts überwunden werden kann – im Einholen seiner immanenten Vermittlung in jener Geschichtlichkeit, welche die erste Richtung beschreibt. Als angestrebter Selbstbezug einer anfänglichen Unmittelbarkeit, die nicht losgelassen wird, kann die schlechte Unendlichkeit in der Logik ihren eigentlichen Ort nur in der Seinslogik erhalten, nämlich im Zuge einer fehlerhaften (da einseitigen, undialektischen) Bestimmung des Verhältnisses von Endlichkeit und Unendlichkeit (Kap. I.3.). Hier, aus der wahren Perspektive des reinen Denkens heraus, das den Gegensatz des erscheinenden Bewusstseins in der Phänomenologie hinter sich gelassen hat, bekommt die schlechte Unendlichkeit bei Hegel ihre eigentliche Formulierung als Kritikfigur gegen das Denken Fichtes und der Romantik, vor allem aber gegen Kant: Es ist dessen eigentümliche Verquickung von praktischem Sollen und der ästhetischen Tradition des Erhabenen, die bei Hegel charakteristisch ist für den Höhepunkt jener Moralität, die in der Phänomenlogie in letzter Konsequenz zum Zusammenschluss des unglücklichen Bewusstseins mit sich selbst führte, nun aber auf allen Ebenen des menschlichen Geistes als kraftloses Aufbegehren gegen eine allseitige ›Prosa der Welt‹ erscheint, das in schlechter Unendlichkeit aus der Geschichte herausstürzt, indem es eine anfängliche Unmittelbarkeit des Einzelnen im schwebenden Verweis auf ein Überzeitliches schlechthin zu retten sucht (Kap. I.4.). Die hegelsche Vorstellung einer geschichtlichen Überwindung schlechter Unendlichkeit im Wiedereinholen seiner Vermittlung im Ganzen bezeichnet nun den Punkt, an dem Schelling und Kierkegaard in ihrer Hegelkritik ansetzen: Beide teilen das hegelsche Problembewusstsein schlechter Unendlichkeit in ihren jeweils eigentümlichen Modellen eines verfehlten Selbstbezugs im geschichts- und gegenwartslosen Hinaus einer rotatorischen Bewegung ›scheinbarer Zeit‹ 8 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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bzw. der völligen Gleichgültigkeit ›ästhetischen Existierens‹, jedoch bestreiten sie (aus ihrer oben bereits angedeuteten ethischen Akzentuierung des Problems heraus), dass Hegel je zu einem eigentlichen Verständnis dessen gelangt ist, was Geschichte eigentlich bedeuten muss, wenn in ihr der dialektische Selbstbezug wahrer Unendlichkeit gelingen soll, bzw. was Geschichte keinesfalls bedeuten darf: die bloße Wiederholung ein und desselben Ist ins Endlose, wie sie nur einem gleichgültigen Betrachter erscheinen könne, dem hegelschen Philosophen am Ende der Geschichte. – Die Darstellung der eigentümlichen Gegenposition des späten Schellings zu Hegel setzt in dieser Untersuchung bei den Weltaltern ein, zunächst in der Erörterung ihres Fundaments in der Tatsache und dem Seinsollen der Freiheit sowie dem daraus resultierenden methodischen Ansatz (Kap. II.1.1.), dann in der Beschreibung des Gegensatzes wahrer und scheinbarer Zeit als Grundlage des schellingschen Geschichtsmodells (Kap. II.1.2.). Die eigentliche Kritik an Hegel ist Gegenstand des Kapitels II.2., nämlich im Rahmen jener zuvor konstruierten Geschichtsauffassung, bis hin zur Klärung ihres Grundunterschieds zur hegelschen im Gegensatz von ›Vermittlung‹ und ›Vergangenheit‹ (Kap. II.2.3.). In einem dritten Teil (Kap. II.3.) wird schließlich der eigentliche Lösungsansatz Schellings im Zuge seiner Unterscheidung positiver und negativer Philosophie angezeigt. Die Darstellung der Opposition Kierkegaards zu Hegel bietet in mehrfacher Hinsicht eine Konkretisierung des Problems schlechter Unendlichkeit und der Schwierigkeiten seiner Lösung. Während Kierkegaard einerseits den starken ethischen Widerspruch Schellings zum hegelschen Geschichtsverständnis als einem linearen Vermittlungsgeschehen teilt, ist seine Argumentation derart eng an die Philosophie Hegels geknüpft, dass sein Vorwurf, die Methode Hegels sei selbst schlechte Unendlichkeit, durchaus eine direkte Auseinandersetzung mit Hegel bedeutet. Daher lässt sich die Position Kierkegaards hier in konkreten Begriffsgegensätzen erörtern, zunächst von ›Zweifel‹ und ›Verzweiflung‹ (Kap. III.1.), dann von ›ethischem Interesse‹ und ›ästhetisch-philosophischer Gleichgültigkeit‹ (Kap. III.2.) – bis hin zu demjenigen Begriff, der Kierkegaards eigentümlichen Versuch einer geschichtlichen Überwindung schlechter Unendlichkeit gegenüber dem hegelschen Modell beschreibt: der ›Wiederholung‹ (Kap. III.3.). Nun konkretisiert sich an dieser Position aber nicht nur die praktische Kritik an Hegel im Sinne Schellings und Kierkegaards, es deutet sich auch eine Grundproblematik derselben an, sofern diese 9 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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Opposition an ihrem letzten Ende wieder nur durch unhintergehbare Postulate zu halten ist, die sich dem ganzheitlichen Vermittlungsgeschehen des hegelschen Systems entziehen müssen – und damit auf gewisse Weise in Hegels Kritik einer schlechten Unendlichkeit eines solchen affirmativen Selbstbezugs inbegriffen sind, der sich im Verweis einer anfänglichen Unmittelbarkeit auf ein Überzeitliches schlechthin zu halten sucht (und, nach Hegel, letztlich nur die Negation von Negativität überhaupt sein kann). Dieses systematische Problem hält über Hegel, Schelling und Kierkegaard hinaus weiter an, wenngleich die Grundopposition in dieser Konstellation festgelegt und ausbuchstabiert worden ist: Sowohl ein Exkurs zu Nietzsches Figur der ›ewigen Wiederkunft‹ (Kap. III.4.) als auch ein abschließendes Kapitel zum Problem der Kontinuität in der dialektischen Geschichtsphilosophie (am Beispiel Marx’ und Benjamins; Kap. IV.) und die daran anschließenden Schlussbemerkungen (Kap. IV.4.) mögen dies zeigen.

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I.1. Die Entwicklung des Begriffs der schlechten Unendlichkeit im frühen Denken Hegels der Jenaer Zeit

I.1.1. Traditionslinien I.1.1.1. Versuch einer ersten allgemeinen Einordnung: Aktual wirkliche und potentielle Unendlichkeit Jeder Versuch, ein philosophisches Problem aus seiner Tradition her zu verstehen, läuft aus naheliegenden Gründen Gefahr, es durch seinen ersten Anfang vereinnahmen zu lassen, – auch und gerade dann, wenn hier, wie im Problem der schlechten Unendlichkeit, ein unentschiedener Streit in deutlich abgezeichneter Frontstellung zugrunde liegt, der denkbar weit in die Philosophiegeschichte zurückreicht. – In der Tat verweist Hegel im Zuge seiner Entgegensetzung von wahrer und schlechter Unendlichkeit gelegentlich selbst auf eine bis in die Antike zurückreichende Problemstellung, deren philosophiegeschichtliche Bedeutung offen zutage liegt. In der Forschung ist diese Linie, als eine auf die hegelsche Philosophie zusteuernde, eingehend behandelt worden: Ich verweise hier etwa, um nur einige zu nennen, auf den Aufsatz Manfred Baums: »Zur Vorgeschichte des hegelschen Unendlichkeitsbegriffs«, 1 daran anschließend Peter-Ulrich Philipsen: »Nichts als Kontexte. Dekonstruktion als schlechte Unendlichkeit?« 2 sowie, für einen allgemeinen Überblick, auf den von Wolfhart Pannenberg verfassten Artikel zum Stichwort »Unendlichkeit« im Historischen Wörterbuch der Philosophie. 3 Das Problem gehe, so die einhellige Meinung der genannten Autoren, 4 ursprünglich von Aristoteles aus, Vgl. Baum 1976. Vgl. Philipsen 2000. 3 Vgl. Pannenberg 2001, 140–146. 4 Gemeint sind solche Autoren, die, völlig berechtigt, das Problem in erster Linie philosophiegeschichtlich lesen. Dass es hingegen auch eine ganze Reihe anderer Autoren gibt, welche das Problem hegelimmanent zu lösen suchen (und m. E. dadurch notwendig der Sache sehr viel näher kommen), ist völlig klar, jedoch vertrete ich auch 1 2

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welcher den Begriff einer substantiell für sich bestehenden Unendlichkeit gegenüber der pythagoreisch-platonischen Tradition des apeiron bestreitet: Unendlichkeit könne in der Wirklichkeit nur als potentielle sein, nämlich als Progress stets möglichen Hinzufügens und Teilens ins Unendliche fort. 5 Von diesem philosophiegeschichtlichen Punkt der Entgegensetzung einer aktual wirklichen zu einer potentiellen Unendlichkeit an ließe sich, so etwa bei Philipsen, eine Linie ziehen »von Aristoteles über Plotin, Cusanus, Spinoza und Leibniz bis zu Kant und von dort über Fichte zu Schelling und Hegel«. 6 Dieser Richtung als Trennlinie folgend würde sich Hegel nun ebenfalls auf der Seite derer einfügen, welche gegen die aristotelische Figur des unendlichen Progresses opponieren (und tatsächlich: Jenes »und so fort ins Unendliche« zeichnet nach Hegel eine Bewegung schlechter Unendlichkeit aus, vgl. Enz. III, GW 20, 130 (§ 93)) und an einem Begriff aktualer Unendlichkeit festhalten, welche sich als Un-Endliches schlechthin endlichen Bestimmungen entziehe. Demgemäß heißt es auch bei Pannenberg, Hegel selbst halte dem aristotelischen, durch das Fehlen eines Endes definierten, ›privativen‹ Unendlichen (im Sinne euklidscher Geometrie) ein ›wahrhaft‹ Unendliches entgegen: Dieses wahrhaft Unendliche sei das Nicht-Endliche schlechthin, eine »Weiterbildung des seit Thomas von Aquin so ge-

diesen Ansätzen gegenüber eine andere Interpretation, die sich aber erst aus der Untersuchung der Logik ergeben wird. Zu nennen sind hier vor allem, als zwei entgegengesetzte Positionen, Iber 1999, dessen Hinweis auf die Bedeutung Spinozas für die Seinslogik noch von Bedeutung sein wird, und Theunissen 1978, welcher, in einer gerade zum Anfang der Logik dem Ansatz der vorliegenden Arbeit entgegengesetzten Position, die Bewegung der Logik als Einheit von Kritik und Darstellung (so Theunissen) gerade am Übergang von schlechter zu wahrer Unendlichkeit scheitern lässt, da genau hier Hegel an den Punkt komme, ab welchem er »den Schein in der Kritik reproduziert und für Wahrheit ausgibt, was im Grunde bloß ein Widerschein des Scheins ist« (Theunissen 1978, 279). 5 Vgl. dazu das dritte Buch der Physik des Aristoteles, hier insbesondere die Kapitel 4–8. 6 Philipsen 2000, 187. Ähnlich beschreibt auch Baekers 1995 das Problem schlechter Unendlichkeit als Resultat unendlicher, linearer Aufeinanderfolge (wie etwa in Zahlenreihen) in der Tradition des Aristoteles, während Hegel in seinem Begriff wahrer Unendlichkeit in der Tradition Thomas v. Aquins stehe (vgl. Baekers 1995, 122 u. 128 f.); auf zeitlicher Ebene sei demnach Hegels schlechte Unendlichkeit in der Tradition der sempiternitas, wahre Unendlichkeit als aeternitas zu verstehen (vgl. Baekers 1995, 132).

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nannten ›negativ‹ Unendlichen […], das nur durch den Gegensatz zum Endlichen (als Negation des Endlichen) bestimmt ist.« 7 Diese runde Lösung der Schwierigkeiten, welche der hegelsche Begriff der Unendlichkeit in seinen komplexen Formulierungen bereitet, kann aber offensichtlich nicht aufgehen. Das wird bereits augenfällig, hält man der gerade zitierten Formel des (angeblich hegelschen) ›wahrhaft Unendlichen‹ die einführende Definition schlechter Unendlichkeit aus der hegelschen Logik entgegen: So das Unendliche gegen das Endliche in qualitativer Beziehung von Andern zu einander gesetzt, ist es das Schlecht-Unendliche, das Unendliche des Verstandes zu nennen, dem es für die höchste, für die absolute Wahrheit gilt; ihn zum Bewußtseyn darüber zu bringen, daß, indem er seine Befriedigung in der Versöhnung der Wahrheit erreicht zu haben meynt, er in dem unversöhnten, unaufgelößten, absoluten Widerspruche sich befindet, müßten die Widersprüche bewirken, in die er nach allen Seiten verfällt, so wie er sich auf die Anwendung und Explication dieser seiner Kategorien einläßt. (WdL, GW 21, 127)

Jene Unendlichkeit also, welche sich gegen das Endliche definiert und oben Hegel zugeschrieben wurde, ist selbst die schlechte Unendlichkeit, sofern auch diese eine durch den Verstand gesetzte ist und darum denselben logischen Regeln folgt, wie jener unendliche Progress im Sinne Euklids und Aristoteles’; – deutlicher könnte Hegel sich nicht gegen die hier vorgeschlagene Einordnung auf eine bestimmte Seite jenes Streits verwahren: Denn beide verteidigen aus entgegengesetzten Perspektiven denselben falschen Begriff (der eine schlägt in den anderen um: ein Verhältnis, das nur aus einer dialektischen Perspektive, nicht von einer Seite aus eingesehen werden kann – und daher auch nie am Anfang einer Entwicklung stehen kann). Das Problem liegt bei Hegel also an einer anderen Stelle, als es eine erste philosophiegeschichtliche Einordnung zunächst vermuten ließe, tiefer aber wohl auch, als vor Hegel nach dem Wesen der Unendlichkeit und seiner verfehlten Form in der Geschichte des menschlichen Geistes gefragt wurde. Es ist eben nicht eine der endlichen Bewegung entgegengesetzte, in der Negation des Anderen für sich seiende Unendlichkeit, welche die wahre bezeichnet. Ihre in sich ruhende Jenseitigkeit als vermeintlich einzige Möglichkeit, sie gegen die Bestimmtheit und dialektische Vergänglichkeit alles Endlichen zu bewahren, lässt sie in der Forderung ihrer Verwirklichung als schlechte Unend7

Pannenberg 2001, 142; Herv. v. Verf.

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lichkeit gerade derjenigen Bewegung des unendlichen Progresses anheimfallen, welche das Denken einer aktualen Unendlichkeit doch zu vermeiden suchte. Dennoch bleibt unbestritten, dass Hegel in der Wahl seiner Begriffe ein zeitgenössisches Publikum anspricht, dem jene von der Forschung ins Gedächtnis gerufene Tradition wohl durchaus geläufig sein konnte. Wie eingangs erwähnt, nimmt Hegel selbst an verschiedenen Stellen explizit Bezug auf jenen traditionellen Unendlichkeitsstreit, dessen ausführlichste Auseinandersetzung er bei Spinoza verhandelt sieht; ein Blick auf die philosophiegeschichtliche Konstellation, in welcher Hegel sich bewegt, ist daher unumgänglich (und Spinoza unser erster Anhaltspunkt). Der oben aufgezeigten Gefahr aber, darüber das spezifisch Neue der hegelschen Problemstellung zu verdecken und ihr damit die eigentliche Spitze zu nehmen, sollte Rechnung getragen werden: Es gilt daher auch, zwischen der Vielzahl an möglichen Traditionsbezügen eine wesentliche Auswahl zu treffen, und zwar eine solche, welche nicht wahllos allen von Hegel implizit und explizit gesetzten Bezügen folgt, mit denen er den Begriff seinem Publikum zu erläutern sucht, sondern sich auf diejenigen direkten Einflüsse konzentriert, welche bereits die frühesten Ausformungen jenes merkwürdigen Problems bei Hegel prägen, das im Kern unverändert, von der Fichtekritik der Differenzschrift an, die zentrale Figur seiner Romantikkritik der Neuzeit bezeichnet. Zunächst wenden wir uns also Spinoza zu, den Hegel, insbesondere auf Grundlage seiner Briefe (weniger seiner Ethik), bereits in frühen Jahren intensiv erforschte, wohingegen die gesicherte argumentative Auseinandersetzung Hegels mit Spinoza und die öffentliche Darstellung seiner Bedeutung für die eigene und die Philosophie überhaupt erst in spätere Jahre fällt. Von Anfang an zieht sich aber ein roter Faden durch Hegels Auseinandersetzung mit Spinoza im Allgemeinen und dessen Problemstellung wahrer Unendlichkeit im Besonderen: Jede Kritik Spinozas – in dessen Philosophie die Tradition des Gegensatzes aktualer und potentieller Unendlichkeit auf dessen äußerster Zuspitzung reflektiert wird – muss mit der Wahrheit und Notwendigkeit seines Ausgangspunkts beginnen.

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I.1.1.2. Hegels kritische Auseinandersetzung mit Spinoza Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn ausserhalb seiner selbst angreiffen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht. Die einzige Widerlegung des Spinozismus kann daher nur darin bestehen, daß sein Standpunkt zuerst als wesentlich und nothwendig anerkannt werde, daß aber zweytens dieser Standpunkt aus sich selbst auf den höhern gehoben werde. (WdL, GW 12, 15) 8

In der Zeit der Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, lange also, nachdem er in der ersten Ausgabe der Logik der Figur schlechter Unendlichkeit ihre letztgültige Formulierung gegeben hat, erklärt Hegel: Spinoza sei in der Frage nach dem Begriff der Unendlichkeit nur einen Schritt von der Wahrheit entfernt geblieben – wenngleich gerade dieser fehlende Schritt entscheidend sei für das Wesen seines (Spinozas) Systems. Hegel zentriert hier seine Ausführungen über das Wesen der Philosophie Spinozas auf einen Brief desselben an Ludwig Meyer vom 20. April 1663, 9 in welchem er diesem seinen eigenen Begriff von Unendlichkeit erläutert. Spinoza unterscheidet hier eine Unendlichkeit der Natur nach von einer Unendlichkeit als bloßer Grenzenlosigkeit, einer solchen also, die nicht kraft ihres Wesens (also immanent), sondern kraft ihrer Ursache, d. h. in (negativer) Abhängigkeit von einem der Bewegung Äußerlichen unendlich ist. 10 Zwischen beiden sei zunächst eine strikte Trennung gegeben: Jene bezeichne die Unendlichkeit der Substanz als unteilbare Ewigkeit, diese hingegen die Unendlichkeit ihrer Modi als stets teilbare Dauer. Die Unendlichkeit letzterer sei als Unendlichkeit keine wirkliche, sondern nur eine imaginäre des Maßes, der Zeit oder der Zahl – als Modi des Denkens nur »Hilfsmittel des Vorstellungsvermögens« 11 – aber nie actu unendlich: Diese Unendlichkeit besteht immer nur in der bloßen Möglichkeit des unbegrenzten Fortschreitens. Ich möchte im Hinblick auf die folgenden Ausführungen darauf hinweisen, dass die hier im Rahmen der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie vollzogene Überwindung Spinozas, dem spezifischen Ort der eben zitierten Stelle entsprechend, zugleich in seiner logischen Form den Übergang der objektiven Logik des Wesens zur subjektiven Logik des Begriffs ausmacht. 9 Vgl. B. d. Spinoza an L. Meyer, 20. April 1663, ep. XII, SSW 6, 47–53. 10 Vgl. B. d. Spinoza an L. Meyer, 20. April 1663, ep. XII, SSW 6, 47 f. 11 B. d. Spinoza an L. Meyer, 20. April 1663, ep. XII, SSW 6, 50. 8

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Die Unendlichkeit der Imagination ist Hegels Vorlesungen zufolge nun als die schlechte zu bezeichnen, sofern man bei ihr sage: »und so fort ins Unendliche« (GeschPh III, TWA 20, 171). Mathematisch komme diese Figur Spinozas dem Problem gleich, bei zwei Kreisen, von denen der eine innerhalb des anderen liegt, beide aber nicht konzentrisch sind, die Ebene zwischen beiden Kreisen zu bestimmen, welche zwar tatsächlich ›da‹ und begrenzt ist, jedoch nur in unendlicher Reihe einer nie auflösbaren Annäherung, als ewig mangelhaftes Hinaus zu bestimmen sei. Dies ist aber die Unendlichkeit, die man gewöhnlich vor sich hat, wenn von Unendlichkeit gesprochen wird; und mag man es auch als erhaben 12 ansehen, so ist sie nichts Gegenwärtiges, geht immer hinaus ins Negative, ist nicht actu. Die philosophische Unendlichkeit, das, was actu unendlich ist, ist die Affirmation seiner selbst; das Unendliche des Intellekts nennt Spinoza die absolute Affirmation. Ganz richtig! Nur hätte es besser ausgedrückt werden können: »Es ist die Negation der Negation«. (GeschPh III, TWA 20, 171)

Hätte Spinoza es aber so ausgedrückt, dann wäre seine Philosophie eine andere gewesen; sie wäre nicht die »Objektivierung der Cartesischen« (GeschPh III, TWA 20, 164) geblieben, als welche sie Hegel und mit ihm Andere in die Philosophiegeschichte einordnen. 13 Für Spinozas Philosophie sei nämlich ein Gedankengang konstitutiv, 14 wieder nur einen Schritt von der Wahrheit entfernt: Spinoza hat den großen Satz: Alle Bestimmung ist eine Negation. 15 Das Bestimmte ist das Endliche; nun kann von allem, auch vom Denken […] gezeigt werden, daß es ein Bestimmtes ist, also Negation in sich schließt; sein Wesentliches beruht auf Negation. […] Der Gang Spinozas ist richtig; doch ist der einzelne Satz falsch, indem er nur eine Seite der Negation ausdrückt. Nach der anderen Seite ist die Negation Negation der Negation und dadurch Affirmation. (GeschPh III, TWA 20, 162) Hegel spielt hier auf den kantischen Begriff des Mathematisch-Erhabenen aus der Critik der Urtheilskraft an. Diese Anspielung ist durchaus von Bedeutung, bezieht Hegel doch im Zuge der schlechten Unendlichkeit Kant nicht nur mit ein, sondern zentriert diese als Sollenskritik auf die Bindung der Kritik der praktischen Vernunft (über die Achtung vor dem Gesetz) an das Erhabene – worauf im entsprechenden Kapitel näher eingegangen werden wird. 13 Auch Schelling wird in seiner Münchner Vorlesungsreihe zur Geschichte der Philosophie sehr ähnliche Formulierungen verwenden, vgl. Kap. II.2.1. 14 Dieser Gedankengang wird an einer entscheidenden Stelle der Logik wieder auftauchen, vgl. WdL, GW 21, 101. 15 Vgl. B. d. Spinoza an J. Jelles, ep. L, SSW 6, 210. 12

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Jene einseitige Negativität des Denkens kommt nie zur Selbstbezüglichkeit doppelter Negation als Grundfigur aller Subjektivität. Die Konsequenz des spinozistischen Gedankengangs führt notwendig dahin, dass kein Endliches in seinem bestimmten Dasein ein Fürsichseiendes ist; alle endlichen Dinge bestimmen sich allein negativ zu ihrer Grenze, nämlich zu dem, was sie nicht sind. 16 Die Frage nach dem Sein von Etwas geht fort ins Unendliche, ohne dass auf dieser Ebene je ein Dasein affirmativ in seinem eigenen Fürsichsein bestimmt werden kann, da diese Bewegung nie aus sich heraus ein absolut Unbestimmtes generieren könnte. Es gibt keine Stelle im System, an dem das Prinzip der Subjektivität als selbstbezügliche Struktur zu dem für ihr Dasein notwendigen Abschluss der Selbstaffirmation gelangen könnte, sofern jede Bestimmtheit linear ein ebenso Bestimmtes nach sich zieht, welches wiederum durch ein anderes Endliches bestimmt wird, und so fort ins Unendliche. Daher könne Spinoza keine Individualität, keine Persönlichkeit denken, da diese sich notwendig im Gang einfacher Negation verflüchtigen. Nur das Nichtbesondere schlechthin, das sich aller Bestimmtheit Entziehende, könne hier, dem Gedankengang Spinozas folgend, in absoluter Selbstbezüglichkeit wahrhaft wirklich sein und den Punkt im System bezeichnen, wo das Ganze seinen Halt finden soll: die Substanz als causa sui, der gegenüber die endlichen Dinge als nicht selbst seiend, als Modifikationen der einen Substanz bestimmt werden. Dieser abstrakte Zusammenhalt des Systems sei aber in Wahrheit nichts anderes als das ὄν der Eleaten, ein reines Abstraktum in Negation Nebenbei: Dieser Satz »omnis determinatio negatio est« darf natürlich nicht so verstanden werden, als bestimme ein Gegenstand sich logisch durch all das, was er nicht ist; vielmehr funktioniert dieses Modell nur in der Bewegung bestimmter Negation, welche später noch näher erläutert wird. Ein einfaches Beispiel mag hier vorläufig als Erläuterung hinreichen: Es wäre unsinnig, den Begriff eines Tisches dadurch zu bestimmen, indem man aufzählte, was er nicht ist. Ohne mit Sicherheit sagen zu können, ob die Reihe der Möglichkeiten endlich oder unendlich sei – einmal angenommen, sie sei endlich und man ginge alle diese Bestimmungen der Reihe nach durch, so würde man am Ende immer noch nicht wissen, was ein Tisch sei (wäre sie unendlich, würde man sich ebenso wenig im Fortgang der Aufzählung der Bestimmung des Tisches annähern). Erst im bestimmten Verhältnis zu anderen, von ihm unterschiedenen Bestimmungen ergibt sich eine konkrete Bestimmung des Tisches: Er ist nämlich nicht dieses andere Objekt (Buch, Blatt Papier etc.), dem er als feste Unterlage für einen sitzenden Menschen dient (der ebenso von diesem Tisch unterschieden ist; dies Beispiel ist natürlich besonders einfach zu konstruieren, da es sich um einen künstlichen, d. h. einem bestimmten menschlichen, darin einheitsstiftenden Zweck dienlichen Gegenstand handelt).

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aller Besonderheit: ein antiker Reflex im Denken Spinozas, welcher nach Hegel sein System dem modernen Denken so fremd erscheinen lasse, da die christliche Prägung letzterer die unendliche Forderung in die Welt gesetzt habe, dass jedes Individuum zur Seligkeit bestimmt sei, welches sich als solches – das doch den hier in der Form der geometrischen Darstellung geführten Gedankengang überhaupt erst leistet – nirgends im abstrakten System Spinozas wiederfinden könnte, weil das letzte, tragende Prinzip als das (durch negative Abstraktion gewonnene) Unbestimmte schlechthin leer bleibt (vgl. GeschPh III, TWA 20, 165 u. 193). Jene Forderung verflüchtigt sich im spinozistischen Gedankengang in Nichts, in die bloß abstrakte Allgemeinheit der monistischen Substanz, da alle Bestimmtheit im Hinblick auf die Substanz immer nur den »Abgrund [ihrer] Vernichtung« (GeschPh III, TWA 20, 166) 17 findet – daher die eigentümliche ›Schwindsucht‹ der spinozistischen Philosophie als solcher (vgl. GeschPh III, TWA 20, 160, 167 u. 189). 18 Individualität erweist sich stets nur als (auf dem Dies sei, so Hegel, die eigentümliche ›Schwindsucht‹ der spinozistischen Philosophie in dem Streben nach Auflösung des Subjekts in der abstrakten Unendlichkeit der Substanz: ein Gedanke, der in seinen Formulierungen womöglich auf den frühen Schelling zurückgeht, mit welchem Hegel sich seinerzeit im regen Austausch befand, sofern jener in seinen Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus im Hinblick auf die Philosophie Spinozas formulierte: »Er glaubte, daß er selbst mit dem absoluten Object identisch sei, er glaubte sich selbst in seiner Unendlichkeit verloren. Er täuschte sich, indem er dies glaubte. Nicht er war in der Anschauung des absoluten Objects, sondern umgekehrt, für ihn war alles, was objectiv heißt, in der Anschauung seiner selbst verschwunden. Aber jener Gedanke – im absoluten Object untergegangen zu sein – war ihm eben deßwegen erträglich, weil er falsch und durch Täuschung entstanden war, um so erträglicher, da diese Täuschung unzerstörbar ist, weil man, um sie zu zerstören, sich selbst zerstören müßte« (AA I,3, 88). 18 Diese ›Schwindsüchtigkeit‹ wird von Hegel auch als Beschreibung der ›schönen Seele‹ und insbesondere des Denkens Novalis’ benutzt (vgl. Ästh. I, TWA 13, 211): Beide, Spinoza und Novalis, starben bekanntermaßen an der Tuberkulose, allerdings nutzt Hegel diese (nicht wenig zynische) allegorische Anspielung auf die tatsächliche Krankheitsgeschichte, um eine besondere Gemeinsamkeit ihres Denkens zu veranschaulichen: Obwohl die eine Richtung Ausdruck höchster Objektivität, die andere eine auf die Spitze getriebene Subjektivität ist, gleichen sich doch beide in ihrem ›unglücklichen Bewusstsein‹, einem solchen nämlich, das als Bewusstsein nur im fortdauernden Versinken (›Schwindsucht‹), dem haltlosen Wechsel und Untergang seiner Bestimmungen Bestand hat. Zu Novalis lauten die Ausführungen in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: »Die Subjektivität besteht im Mangel, aber Triebe nach einem Festen [!], und bleibt so Sehnsucht. Diese Sehnsucht einer schönen Seele stellt sich in Novalis’ Schriften dar. Diese Subjektivität bleibt Sehnsucht, kommt nicht zum Substantiellen, verglimmt in sich und hält sich auf diesem Standpunkt fest, 17

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Die Entwicklung des Begriffs der schlechten Unendlichkeit

Wege linearer Negation) aus Anderem Zusammengesetztes, nie als »Selbheit« im Sinne Böhmes als des, so Hegel, Antipoden zur spinozistischen Philosophie (vgl. GeschPh III, TWA 20, 182); daher lösen sich alle Bestimmungen der Geistigkeit, Freiheit – und nicht zuletzt der Frage nach dem Bösen als wirklich Existierendem zur Nichtigkeit auf (vgl. GeschPh III, TWA 20, 194). Alle Negativität bezieht sich immer nur auf den Zusammenhang der endlichen Modi untereinander, die Substanz selbst als den Zusammenhalt stiftendes Zentrum bleibt davon unberührt. Ihr selbst fehlt als bloßes Abstraktum das Moment der Negativität, damit wiederum der Negativität alle Substantialität: So bleibt auch das Böse privatio boni 19 und hat als bloße Modifikation keine Wirklichkeit, ist nicht eigendynamischer Separator. 20 Die Ausführungen Hegels über die Philosophie Spinozas in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie haben die merkwürdige Eigenschaft, gegen Spinozas Philosophie all diejenigen Vorwürfe zu richten, welche in der Folge doch traditionell auf Hegel selbst angewendet werden. Dieser Abschnitt bietet geradezu eine Zusammenfassung der späteren Hegelkritik Kierkegaards (dem diese Vorlesungsreihe bekannt war): 21 In Hegels abstraktem System könne keine konkrete Individualität gedacht werden und es vergesse im Denken den Denkenden, er reetabliere antikes Denken auf christlichem Boden und könne auch das Böse (in seiner Eigendynamik des ›Dämonischen‹) nicht fassen. – Der entscheidende Wendepunkt, wo Hegel Spinoza überwunden glaubt und selbst von all jenen Vorwür– das Weben und Linienziehen in sich selbst; es ist inneres Leben und Umständigkeit aller Wahrheit. – Die Extravaganz der Subjektivität wird häufig Verrücktheit; bleibt sie im Gedanken, so ist sie im Wirbel des reflektierenden Verstandes befangen, der immer gegen sich negativ ist« (GeschPh III, TWA 20, 418). – Dazu in der Phänomenologie: »Die wirklichkeitslose schöne Seele, in dem Widerspruche ihres reinen Selbst und der Nothwendigkeit desselben, sich zum Seyn zu entäussern und in Wirklichkeit umzuschlagen, in der Unmittelbarkeit dieses festgehaltnen Gegensatzes […], ist also, als Bewußtseyn dieses Widerspruches in seiner unversöhnten Unmittelbarkeit, zur Verrüktheit zerrüttet, und zerfließt in sehnsüchtiger Schwindsucht« (Phän., GW 9, 360). 19 Hegel bezieht sich hier insbesondere auf den Brief Spinozas an Wilhelm von Blyenbergh vom 27. März 1665, (B. d. Spinoza an W. v. Blyenbergh, 27. März 1665, ep. XXIV, SSW 6, 128–131). 20 Auch hier wird wieder ein Begriff aus der böhmeschen Philosophie verwendet, vgl. GeschPh III, TWA 20, 196. 21 Vgl. Kap. III.2.1. Anm. 63.

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fen an ein bloß abstraktes Denken unberührt zu bleiben meint, ist der Begriff wahrer Unendlichkeit als Gelingen einer selbstbezüglichen Affirmation, welche nicht ein bloß abstrakt Gedachtes und damit leerer Abgrund reiner Allgemeinheit ist, der bei Spinoza bloß in demonstrativer Methode bewiesen und damit unabhängig vom konkreten Selbstbewusstsein belassen wird. Dagegen ist jene Selbstbezüglichkeit in ihrer Wahrheit gerade nicht die in sich ruhende Jenseitigkeit einer allein in sich selbst seienden und begriffenen Substanz unterschieden von ihren Modi (als bloße Negation von Negativität), sondern die Bewegung des absoluten Begriffs in seiner immanenten Selbstbezüglichkeit selbst. In einem Satz: Die wahre Unendlichkeit ist nicht nur gedachtes Objekt als Substanz, sondern zugleich Subjekt des Denkens im Begriff: 22 Spinoza hat in dem Unendlichen näher den Begriff des Begriffes bezeichnet als sonstwo. Das Unendliche ist ihm nicht dies Setzen und dies Hinausgehen über das Setzen, die sinnliche Unendlichkeit, sondern die absolute Unendlichkeit, das Positive, das eine absolute Vielheit hier, gegenwärtig in sich vollendet hat. Z. B. die Linie besteht aus unendlich vielen Punkten; sie ist unendlich – sie, eine begrenzte Linie ist, positiv, hier, ohne Jenseits gegenwärtig. Das Jenseits der unendlich vielen Punkte, die nicht vollendet sind, ist in ihr vollendet; es ist zurückgerufen in die Einheit. Ebenso haben auch seine Definitionen das Unendliche an ihnen, z. B. »die Ursache seiner selbst« als »das, dessen Begriff die Existenz in sich schließt«. Begriff und Existenz sind eins das Jenseits des anderen; aber Ursache seiner selbst, dies Einschließen, ist eben die Zurücknahme dieses Jenseits in die Einheit. Oder: »Die Substanz ist, was in sich ist und aus sich begriffen wird«; das ist dasselbe. Begriff und Existenz sind in Einheit; es ist in sich, hat auch seinen Begriff in sich selbst: sein Begriff ist sein Sein und sein Sein sein Begriff. Dies ist die wahrhafte Unendlichkeit; sie ist so vorhanden. Aber Spinoza hat kein Bewußtsein darüber, hat diesen Begriff nicht erkannt als absoluten Begriff, nicht so als Moment des Wesens selbst ausgesprochen; sondern er fällt außerhalb des Wesens, in das Denken vom Wesen. (GeschPh III, TWA 20, 186 f.)

Diese Einheit im absoluten Begriff ist aber nicht einfach und unmittelbar gegeben (sie wäre, als punktueller Anfang, wieder nur bloße Abstraktion und käme nie aus dieser heraus). Die Schwierigkeiten, welche der Begriff der Unendlichkeit mit sich bringt, stellen sich noch einmal gänzlich anders, sofern die Einheit von Denken und Gedach22

Vgl. hierzu auch Phän., GW 9, 18.

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tem von Seiten des fürsichseienden Subjekts, im Prozess seines eigenen Bewusstseins hergestellt werden soll: desselben Subjekts, von welchem das objektive System Spinozas absehen musste, um sich einen substantiellen Anfang zu geben. Bisher wurde der Gegensatz im Unendlichkeitsbegriff nur abstrakt dargestellt, als die Unterscheidung Spinozas zwischen aktualer und imaginärer Unendlichkeit, jene aber nur als substantielles Objekt des Denkens: Die Endlichkeit ist bekannt (wir erfahren sie nämlich ständig), ein Unendliches wird gedacht, welches jene bedingt – nicht als endliches Unendliches der Dauer im Und-so-fort-ins-Unendliche (an den jeweils bloß negativen Bestimmtheiten der endlichen Modi untereinander entlang), sondern als in sich selbst seiend und durch sich selbst begriffen. – Im zweiten Band des ersten Stücks des von Hegel zusammen mit F. W. J. Schelling herausgegebenen Kritischen Journals mit dem Titel Glauben und Wissen von 1802 hat der frühe Hegel bereits diese Unterscheidung mit dem Namen Spinozas verbunden. Er entgegnet mit der auch hier aus dem Brief an Meyer hergeleiteten Unterscheidung dem Vorwurf Jacobis an Spinoza, dieser bewege sich in der unendlichen Reihe endlicher Dinge im Paradox einer ›ewigen Zeit‹ (vgl. GuW, GW 4, 354). Im Rückgriff auf die Ethik Spinozas 23 verweist Hegel bereits hier auf den jener imaginären Unendlichkeit entgegengesetzten Begriff einer affirmativen Unendlichkeit aus den Briefen, genauer: die absolute Affirmation der tatsächliche Existenz irgendeiner Natur, der gegenüber das Endliche stets durch eine teilweise Verneinung bestimmt ist und sich im Bereich des Endlichen ins Endlose der imaginären Unendlichkeit fortbestimmt. Die (notwendige) Forderung eines Zusammenhangs beider Seiten führt hingegen zu einem Problem, weil das Unendliche, im Gegensatz zur Endlichkeit gehalten, selbst zu einem solchen teils Negierten gerät. Der Gegensatz zwischen beiden hebt sich nur dann auf, wenn beide Seiten zugleich in eine ewige Einheit gebracht werden, in welcher sich jener Gegensatz selbst vernichtet. In vielen Teilen dieser Schrift ist die Nähe zum später (in der »Vorrede« zur Phänomenologie) scharf kritisierten Schelling, etwa in den Begriffen jener Einheit als ›absoluter Identität‹ und des Ergreifens des Begriffes jener affirmativen Unendlichkeit in der ›intellektuellen Anschauung‹ noch deutlich hörbar. – An einer Stelle, in der Erörterung dieser Einheit des Gegensatzes von Endlichkeit und Unendlichkeit 23

Vgl. SSW 2, 7–10 (pars I, prop. 8, schol. 1).

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gegenüber Jacobis Spinozakritik, zeigt sich aber etwas Neues, nämlich jener unaufgelöste absolute Widerspruch jeglichen Versuchs einer einseitigen Lösung des Gegensatzes, dem Hegel später in der Logik den Namen der schlechten Unendlichkeit gegeben hat. Diese wird hier als unablässige dialektische Wiederkehr der imaginären Unendlichkeit in den Begriff der affirmativen Unendlichkeit gefasst: 24 Ein anderes aber [sc. als die wahre Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit aus der Bewegung ihres dialektischen Gegensatz heraus, D. U.] ist es, wenn das Abstrahirte, Endliche oder Unendliche bleibt, was es ist, und jedes in die Form des Entgegengesetzten aufgenommen werden soll; hier ist eins bestimmt als nicht seyend, was das andere ist, und jedes als gesetzt, und nicht gesetzt, als dieß bestimmte seyend, und als seyend ein anderes; und ein so Gesetztes läuft in die empirische Unendlichkeit hinaus; die Dauer als allein durch die Einbildung gesetzt, ist ein Zeitmoment, ein Endliches und als solcher fixirt ein zum Theil Negirtes, an und für sich zugleich bestimmt als seyend ein anderer; dieser andere, der eben so durch die Einbildung seine Wirklichkeit erhält, ist eben so ein anderer; diese Negation, die bleibt was sie ist, durch die Einbildung positiv gemacht, gibt das empirisch Unendliche das heißt einen absoluten, unaufgelösten Widerspruch. (GuW, GW 4, 355)

Eine solche Entgegensetzung bleibt beim Aussprechen des Widerspruchs, dem ›und‹ beider Seiten stehen, welches zwar die Forderung einer Vereinigung und Aufhebung des Widerspruchs stellt, zugleich aber diese Forderung, als im bloßen Hin und Her der Wechselbestimmung beider Seiten unerfüllbare, in den unendlichen Progress, d. h. ›und so fort ins Unendliche‹ ausdehnt: Jeder Schritt spricht denselben fortwährenden Widerspruch aus und die ganze Bewegung kreist in sich selbst (hier entsprechen sich die negierte imaginäre Unendlichkeit und der Fortgang des Wechselspiels: Beide verlaufen sich in die endlose Dauer und sind überhaupt nur als diese – das ewig Unzureichende ihrer Unerfüllbarkeit ist zugleich Antrieb ihres Fortgangs). Für dieses hier nur angedeutete Problem reicht das traditionsreiche Begriffspaar von affirmativer und imaginärer Unendlichkeit nicht mehr aus, zumindest nicht, wenn man im Sinne Spinozas das eine Vgl. dazu das bereits im Kapitel I.1.1.1. angeführte Zitat aus WdL, GW 21, 127. Festzustellen ist auch, dass Hegel hier, in Glauben und Wissen, denselben Gedankengang, mit dem er hier als Fürsprecher Spinozas gegen Jacobis Vorwurf der ›ewigen Zeit‹ seines Systems auftritt, in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie wieder gegen dessen Substanzbegriff einer bloßen Abstraktion aller Negativität ausspielen wird.

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als den wahren Begriff fasst, das andere als bloße Täuschung vernachlässigen zu können meint, geht doch jene ›richtige‹ Form in ihrem Festhalten an sich gegen die Endlichkeit von selbst in die ›schlechte‹ Form über, sobald es an die Bestimmung seiner selbst geht: Die schlechte Unendlichkeit erweist sich als ein strukturelles Problem jeglicher Bestimmung von Unendlichkeit überhaupt, welches im Wesen der nur in bestimmter Negation sukzessiv fortschreiten könnenden Reflexion begründet liegt. Sie ist hier der Widerspruch eines positiv gesetzten Gegensatzes von Endlichkeit und Unendlichkeit, der beide Seiten selbst zu Teil-Negierten, in ihrem Setzen jeweils zugleich zu einem Nicht-Gesetzten macht, weil jede Bestimmung einer Seite als seiende in ihr Gegenteil umschlägt, da wiederum beide sich nur negativ bestimmen lassen: endlich sind. Bis hierhin bleibt das Problem aber noch völlig abstrakt. Auch eine hieran direkt anschließende Erörterung des genauen logischen Problems, welches sich im bestimmten Gegensatz von Endlichkeit und Unendlichkeit abspielt, könnte der Figur der schlechten Unendlichkeit noch nicht mehr als nur einen abstrakten, aber nicht mit den Inhalten der Erfahrungen menschlicher Existenz verbundenen Charakter geben – also genau denjenigen, die der hegelschen Deutung zufolge dem objektiven System Spinozas notwendig entgehen müssen. Daher muss – vor der logischen Erörterung des Problems, damit auch der Chronologie der Entwicklung im hegelschen Denken folgend – noch ein zweiter Weg eingeschlagen werden, welcher erklärt, warum gerade diese logische Figur schlechter Unendlichkeit das Grundproblem moderner Selbstentfremdung darstellen soll – ein Problem, wofür die Philosophie Spinozas keinen Boden bieten kann, da sie, nach Hegel im Zuge eines ›antiken Reflexes‹, den Anspruch subjektiver Selbstaffirmation in der Bestimmung des Einzelnen in seinem Verhältnis zur Welt in seinem System weder verhandeln kann noch will.

I.1.1.3. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen Es liegt ein Brief Hegels an Schelling vom 16. April 1795 (Bern) vor, in welchem er ihm zunächst seine Anerkennung für dessen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus ausdrückt und sein Vorhaben ankündigt, die Wissenschaftslehre Fichtes zu studieren; nebenbei be25 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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richtet er von der gerade abgeschlossenen Lektüre der zwei ersten Stücke der Horen Schillers – insbesondere der Aufsatz Über die ästhetische Erziehung des Menschen sei ein wahres »Meisterstück«. 25 – Diese Anerkennung Hegels will etwas bedeuten: Es wird sich zeigen, dass diese Schrift einen entscheidenden Einfluss auf das Denken Hegels hatte, sowohl in ihrer dialektischen Methode, der kritischen Analyse der Gegenwart im Hinblick auf ihre innere Zwiespältigkeit, wie auch nicht zuletzt in seiner eigenen Version des Problems der schlechten Unendlichkeit, die auch hier weit über die traditionelle Definition Spinozas hinausgeht. Die Verstandesherrschaft des aufgeklärten Menschen über die Natur, und damit auch über die natürlichen Bedingungen seines eigenen Wesens, generiert, so Schiller, aus sich selbst heraus einen Widerspruch, welcher den ureigensten Freiheitsanspruch der Aufklärung untergräbt: »das Werk der Not in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen, und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu G. W. F. Hegel an F. W. J. Schelling, 16. April 1795, Hoffmeister 1961, 25. Hierbei muss noch erwähnt werden, dass die ersten beiden Stücke nur die Briefe 1–16 enthalten, die Briefe 17–27 dann aber bereits im Juni desselben Jahres veröffentlicht wurden. Dass Hegel auch den dritten Teil gelesen haben wird, mag nach der eingangs erwähnten positiven (geradezu begeisterten) Aufnahme der ersten beiden vorausgesetzt werden; es gibt für diese Behauptung aber noch andere Gründe: Das Werk Hegels gibt selbst genügend Hinweise auf eine eingehende und weitreichende Auseinandersetzung mit Schiller, sowohl in positiver (man vergleiche etwa die wiederholte Auseinandersetzung mit Schillers theoretischen wie poetischen Werken in den Vorlesungen über die Ästhetik), als auch in negativer Hinsicht (so hat etwa der Wallenstein beim frühen Hegel nicht weniger als Entsetzen über die darin ausgedrückte Grundhaltung zum Verhältnis des Menschen zur Geschichte ausgelöst (vgl. Kap. I.1.1.3. Anm. 47)); ebenso fand die Schrift Über Anmuth und Würde in theoretischer Hinsicht Hegels Ablehnung, wofür v. a. die Phänomenologie des Geistes und die dortige Auseinandersetzung mit dem Begriff der ›schönen Seele‹ ein Beispiel bietet. Ebenso entspricht es sicherlich einer im Allgemeinen hohen Wertung Schillers durch Hegel, dass eben jene Phänomenologie des Geistes mit zwei (anscheinend nach Gedächtnis paraphrasierten) Zeilen aus Schillers Gedicht »Die Freundschaft« endet. Den Einfluss der Ästhetischen Briefe auf Hegels Denken nachzuweisen ist v. a. ein Verdienst Günter Rohrmosers (vgl. Rohrmoser 1984), wenngleich bereits Theodor L. Haering in seinem umfassenden Werk über den frühen Hegel (welches trotz seines Alters m. E. an Aktualität nichts verloren hat) eine Verbindung zwischen dem hegelschen Unendlichkeitsbegriff und den Ästhetischen Briefen vermutete (vgl. Haering 1929, 464–468); diese Vermutung wird von mir im Folgenden zwar grundsätzlich bestätigt, aber dahingehend korrigiert, dass nicht der dortige Begriff einer leeren Unendlichkeit die hegelsche schlechte Unendlichkeit vorgebildet hat, sondern vielmehr der Begriff der andauernden Gegenwartslosigkeit (als dialektischer Umschlag im Verhältnis eines Strebens nach Ewigkeit in der Zeit) den entsprechenden Bezug herstellt.

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26 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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erheben.« 26 Die unmittelbare Naturhörigkeit des Wilden werde im Fortgang der Geschichte nach und nach überwunden durch die fortgesetzte Verdrängung und Zerstörung der Natur durch den modernen Barbaren: Die Herrschaft der Gefühle über die Grundsätze wird durch die Herrschaft der Grundsätze über die Gefühle ersetzt; 27 das Grundmuster einer das Wesen des Menschen verfremdenden und unterjochenden Tyrannei bleibt aber dasselbe, sofern der dialektische Widerspruch als solcher ungelöst bestehen bleibt und der Aneignungsprozess des einseitigen Herrschaftsverhältnisses den Menschen daher nicht freisetzt, sondern vereinnahmt. Der die Natur nach seinem Verstand umbildende und unterwerfende Mensch verwirklicht nie seine positive Freiheit, er verfällt einem sich stets fortsetzen-müssenden Herrschaftszwang gegenüber der zurückgedrängten, aber nie gänzlich überwundenen Natur: Er kann sich selbst nur negativ, im Gegensatz zur widerständigen und stets als das Andere des Verstandes wiederaufkeimenden Natur verwirklichen, er wird »Sklave seines Sklaven«, 28 indem die Unselbstständigkeit der Natur auf den Menschen selbst zurückschlägt; denn in seiner Willkür spiegelt sich die Zufälligkeit der Natur wider, an der er selbst jeglichen inneren Zusammenhalt verliert: Wir verleugnen die Natur auf ihrem rechtmäßigen Felde, um auf dem moralischen ihre Tyrannei zu erfahren, und indem wir ihren Eindrücken widerstreben, nehmen wir unsere Grundsätze von ihr an. […] Die Kultur, weit entfernt uns in Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfnis, die Bande des physischen schnüren sich immer beängstigender zu, so daß die Furcht, zu verlieren, selbst den feurigsten Trieb nach Verbesserung erstickt, und die Maxime des leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des Lebens gilt. So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt. 29 SWB 8, 561. Vgl. SWB 8, 567. 28 SWB 8, 567. 29 SWB 8, 569. Ich verweise hier bereits auf eine auffällige Parallele zur Zeitdiagnose Hegels in den Vorlesungen über die Ästhetik hinsichtlich des neuzeitlichen Gegensatzes von Mensch und Natur und dem Beharren auf seiner inneren Freiheit gegenüber einer äußerlichen Naturnotwendigkeit, welche zu einem späteren Zeitpunkt ins Zentrum unserer Erörterungen rücken wird: »Dies sind Gegensätze, die nicht etwa der Witz der Reflexion oder die Schulansicht der Philosophie sich erfunden, sondern 26 27

27 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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Dieser tiefgreifende Antagonismus ist, nach Schiller, ein Spezifikum der Neuzeit, dem ›trennenden‹, auf Gegensatz angewiesenen (und darin seinen Gegenstand in seiner negativen Bestimmtheit greifbar machenden) Verstand des neuzeitlichen Menschen geschuldet, welcher sich damit in direkten Gegensatz zum ganzheitlichen Menschenbild der Griechen stellt. 30 Allerdings ist diese in sich ruhende Totalität in ihrer Unmittelbarkeit ein Zustand, zu dem das Bewusstsein des neuzeitlichen Menschen nicht mehr zurückkehren könnte, ebensowenig wie jener vergangene Zustand als idealer ein auf Dauer anhaltender sein konnte 31 (denn jedes Ideal, so wird auch Hegel später betonen, ist nur im Moment und vergeht im nächsten). Der Zwiespalt des Menschen in seinem Verhältnis zur Natur, und damit auch der hier entspringende Gegensatz von spekulativem Idealismus und Empirie, 32 treibe aber, sofern er die Selbstüberwindung nicht im Fortschreiben einer Seite und damit in der Vertiefung des Gegensatzes anstrebt, aus sich heraus zur Versöhnung, und zwar zu einer solchen, die von jeher in mannigfaltiger Form das menschliche Bewusstsein beschäftigt und beunruhigt haben, wenn sie auch am schärfsten durch die neuere Bildung erst ausgeführt und auf die Spitze des härtesten Widerspruch hinaufgetrieben sind. Die geistige Bildung, der moderne Verstand bringt im Menschen diesen Gegensatz hervor, der ihn zur Amphibie macht, indem er nun in zwei Welten zu leben hat, die sich widersprechen, so daß in diesem Widerspruch nun auch das Bewußtsein sich umhertreibt und, von der einen Seite herübergeworfen zu der anderen, unfähig ist, sich für sich in der einen wie in der anderen zu befriedigen. Denn einerseits sehen wir den Menschen in der gemeinen Wirklichkeit und irdischen Zeitlichkeit befangen, von Bedürfnis und der Not bedrückt, von der Natur bedrängt, in die Materie, sinnlichen Zwecke und deren Genuß verstrickt, von Naturtrieben und Leidenschaften beherrscht und fortgerissen; andererseits erhebt er sich zu den ewigen Ideen, zu einem Reiche des Gedankens und der Freiheit, gibt sich als Wille allgemeine Gesetze und Bestimmungen, entkleidet die Welt von ihrer belebten, blühenden Wirklichkeit und löst sie zu Abstraktionen auf, indem der Geist sein Recht und seine Würde nur allein in der Rechtlosigkeit und Mißhandlung der Natur behauptet, der er die Not und Gewalt heimgibt, welche er von ihr erfahren hat. Mit dieser Zwiespältigkeit des Lebens und Bewußtseins ist nun aber für die moderne Bildung und ihren Verstand die Forderung vorhanden, daß solch ein Widerspruch sich auflöse. Der Verstand jedoch kann sich von der Festigkeit der Gegensätze nicht lossagen; die Lösung bleibt deshalb für das Bewußtsein ein bloßes Sollen, und die Gegenwart und Wirklichkeit bewegt sich nur in der Unruhe des Herüber und Hinüber, das eine Versöhnung sucht, ohne sie zu finden« (Hegel, Ästh. I, TWA 13, 80 f.; erste Herv. v. Verf.). 30 Vgl. SWB 8, 571. 31 Vgl. etwa das Ende der Götter Griechenlands (2. Fassung): »Was unsterblich im Gesang soll leben / Muß im Leben untergehn« (SWB 1, 165; vgl. hierzu auch Kap. I.1.2.1. Anm. 63 u. Kap. I.4.1. Anm. 138). 32 Vgl. SWB 8, 574.

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auf deren Wege sich die Anlagen des Menschen in der Zeit vollständig entwickeln, unter der Voraussetzung, dass der Konflikt als solcher nicht Selbstzweck wird. Der »Antagonismus der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber auch nur das Instrument«; 33 weiter heißt es auch: »Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt das Individuum unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit.« 34 Es läge nahe, hierin eine Vorform der hegelschen Formel der »List der Vernunft« zu sehen; 35 dies wäre aber – in diesem Punkt – ein SWB 8, 576. SWB 8, 576. 35 Gemeint ist die weitläufig rezipierte Stelle aus der Einleitung zur Philosophie der Geschichte Hegels: »Das besondere Interesse der Leidenschaften ist […] unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen, denn es ist aus dem Besonderen und Bestimmten und aus dessen Negation, daß das Allgemeine resultiert. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft und wovon ein Teil zu Grunde gerichtet werden wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begiebt, sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund. Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, was durch sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es ist die Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ. Das Partikulare ist meistens zu gering gegen das Allgemeine: Die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus der Leidenschaft der Individuen« (PhGesch, TWA 12, 49). An anderer Stelle heißt es auch: »Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten, und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken nothwendig auch die Frage, wem, welchem Endzweck diese ungeheursten Opfer gebracht wurden« (PhGesch, TWA 12, 35), vgl. dazu ferner PhGesch, TWA 12, 33. – Es geht hier um nicht weniger als die Frage nach der Vernunft in der Geschichte als ganzer (die ja schließlich doch die Gesamtheit bewusst handelnder Menschen umgreift), bei dem es nur die grundsätzliche Entscheidnng zwischen Ja und Nein geben kann – und nicht zuletzt um die abgründige Frage nach der Berechtigung der individuellen Opfer in der vernünftigen Bewegung des Ganzen. Das »Entsetzen«, das der frühe Hegel angesichts der Tendenz des späteren Schillers zu einer Deutung der Geschichte als blindes Schicksal (ausgerechnet Schiller!) beschrieb, dürfte wohl nicht zu gering einzuschätzen sein. So heißt es in Hegels Aufsatz Über Wallenstein (TWA 1, 618–620): »Der unmittelbare Eindruck nach der Lesung Wallensteins ist trauriges Verstummen über den Fall eines mächtigen Menschen unter einem schweigenden und tauben, toten Schicksal. Wenn das Stück endigt, so ist alles aus, das Reich des Nichts, des Todes hat den Sieg behalten« (Über Wallenstein, TWA 1, 618). Gegen Ende heißt es schließlich: »[E]s steht nur Tod gegen Leben auf, und unglaublich! abscheulich! der Tod siegt über das Leben! Das ist nicht tragisch, sondern entsetzlich!« (Über Wallenstein, TWA 1, 619 f.) Ob dieser Lektüre-Eindruck Hegels nun berechtigt sei und Schiller wirklich am Ende zu einer Deutung der Geschichte als blindes Schicksal gekommen sei (das Demetrius-Fragment mag so etwas nahelegen), mag fragwürdig erscheinen, geht aber 33 34

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Missverständnis. Schiller selbst wehrt sich vehement dagegen, jenes Prinzip des Fortschritts des Ganzen durch den Kampf der individuellen Einzelinteressen hindurch zu einem Prinzip zu erheben, bei dem der Mensch sich im Hinblick auf das Ganze beruhigen könnte, wenn gleichzeitig ihn und jedes andere Individuum der »Fluch dieses Weltzwecks« 36 trifft, als Individuum nie gegenwärtig, sondern immer nur Vorläufer zu sein. 37 Die Totalität muss im Individuum selbst, gegenwärtig und aus seinem eigenen Antrieb heraus wiederhergestellt werden, und zwar nicht auf dem (unmöglichen) Wege zurück in die durch die Kunst des Menschen zerstörte Unmittelbarkeit der Natur (hierin gleichen sich Hegel und Schiller), sondern im Zuge einer höheren Kunst, der schönen Kunst, welche den Stoff aus der Gegenwart, die Form aber aus der unwandelbaren Einheit des Wesens der Menschheit nimmt und darin zum Gegenstand des Triebes eines jeden einzelnen Menschen hin zum Guten, Notwendigen und Ewigen macht (diesen Weg einer letztgültigen Ausrichtung am Maßstab des Schönen als Ideal wird Hegel aber bereits in der Differenzschrift zu überwinden beginnen und ab der Phänomenologie endgültig verwerfen). 38 In seinem Zustand, so Schiller, mag der Mensch veränderlich sein, in seiner Person ist er aber das Unveränderliche – diese göttliche Anlage zu verwirklichen sei die unendliche Aufgabe und Bestimmung des Individuums: über unsere Fragestellung hinaus. Eine durchaus treffende Kritik des hegelschen Aufsatzes (er verkenne Schillers Wirkungsabsicht in Richtung auf das Erhabene) findet sich in Barone 2004, 286–295. 36 SWB 8, 577. 37 Vgl. hierzu auch Kittsteiner 2007: Auch Kittsteiner bestreitet den strukturellen Zusammenhang zur ›List der Vernunft‹ und weist überdies darauf hin, dass hier bei Schiller, im Begriff des ›Antagonismus der Kräfte‹, eine Kritik an Kant zugrundeliegt (vgl. Kittsteiner 2007, 45 f.). 38 Vgl. SWB 8, 578, 584 u. 587, v. a. aber SWB 8, 585 f.: »Der reine moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, für ihn gibt es keine Zeit, und die Zukunft wird ihm zur Gegenwart, sobald sie sich aus der Gegenwart notwendig entwickeln muß. Vor einer Vernunft ohne Schranken ist die Richtung zugleich die Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist. Gib also, werde ich dem jungen Freund der Wahrheit und Schönheit zur Antwort geben, der von mir wissen will, wie er dem edelsten Trieb in seiner Brust, bei allem Widerstande des Jahrhunderts, Genüge zu tun habe, gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten, so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen. Diese Richtung hast du ihr gegeben, wenn du, lehrend, ihre Gedanken zum Notwendigen und Ewigen erhebst, wenn du, handelnd oder bildend, das Notwendige und Ewige in einen Gegenstand ihrer Triebe verwandelst.«

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Ob nun gleich ein unendliches Wesen, eine Gottheit, nicht werden kann, so muß man doch eine Tendenz göttlich nennen, die das eigentlichste Merkmal der Gottheit absolute Verkündigung des Vermögens (Wirklichkeit alles Möglichen) und absolute Einheit des Erscheinens (Notwendigkeit alles Wirklichen) zu ihrer unendlichen Aufgabe hat. Die Anlage zu der Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in seiner Persönlichkeit in sich, der Weg zu der Gottheit, wenn man einen Weg nennen kann, was niemals zum Ziele führt, ist ihm aufgetan in den Sinnen. […] Solange [der Mensch, D. U.] bloß empfindet, bloß begehrt und aus bloßer Begierde wirkt, ist er noch weiter nichts als Welt, wenn wir unter diesem Namen bloß den formlosen Inhalt der Zeit verstehen. Seine Sinnlichkeit ist es zwar allein, die sein Vermögen zur wirkenden Kraft macht, aber nur seine Persönlichkeit ist es, die sein Wirken zu dem seinigen macht. […] Er verwirklicht die Form, wenn er die Zeit erschafft und dem Beharrlichen die Veränderung, der ewigen Einheit seines Ichs die Mannigfaltigkeit der Welt gegenüber stellt; er formt die Materie, wenn er die Zeit wieder aufhebt, Beharrlichkeit im Wechsel behauptet, und die Mannigfaltigkeit der Welt der Einheit seines Ichs unterwürfig macht. 39

Wir folgen Schillers Gedankengang noch etwas weiter: Gemäß der Unterscheidung von Zustand und Person ergeben sich zwei Triebe, die sich hier gegenüberstehen und sich gleichzeitig im Hinblick auf die Totalität des Menschen gegenseitig bedingen und ausschließen. Einerseits soll Veränderung sein, damit die Zeit einen Inhalt habe (›Sachtrieb‹ : Das Notwendige soll Wirklichkeit haben), andererseits soll, um des ewigen Inhalts willen, die Zeit aufgehoben und keine Veränderung sein (›Formtrieb‹ : Das Wirkliche soll der Notwendigkeit unterworfen werden). 40 Das gleichzeitige Wechselverhältnis beider ist »im eigentlichsten Sinne des Worts die Idee seiner Menschheit, mithin ein unendliches, dem er sich im Laufe der Zeit immer mehr nähern kann, aber ohne es jemals zu erreichen.« 41 Die bloß aufeinander folgende Abwechslung beider je für sich einseitigen Triebe, das beständige Hin und Her, würde zu keinem Zeitpunkt Totalität erzeugen: Diese bleibt das stets Erstrebte, aber nie Erreichte. Nur in einem im dialektischen Zugleich beider Seiten gegenwärtigen Dritten, dem freien Spiel in der lebendigen Gestalt der Schönheit, kann im Zustand SWB 8, 594 f. Vgl. SWB 8, 596 f. 41 SWB 8, 606. Diese Stelle sei im Hinblick auf das »perennierende Sollen« bei Hegel in seiner Kritik an Kant und Fichte zu merken – gerade im Zusammenhang mit dem hier bezeichneten Wechselspiel beider Seiten. 39 40

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einer in der Zeit aufgehobenen Zeit 42 die Spitze des Gleichgewichts zwischen beiden Extremen gehalten werden. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. 43 Folgt man den weiteren Ausführungen der Ästhetischen Briefe, muss jener Begriff der lebendigen Schönheit zwei Seiten haben: eine ›schmelzende‹ (die entgegengesetzten Triebe in ihren Grenzen haltend) und eine ›energische‹ (beide in ihrer Kraft erhaltend). Der letzte Teil der Briefe, 44 welcher den zentralen Bezugspunkt zur hegelschen Figur der schlechten Unendlichkeit herstellt, befasst sich ausschließlich mit der ersteren; dies entspricht auch der anfänglichen Problemstellung des modernen Menschen. Beide Triebe in ihren jeweiligen Grenzen und damit das Gleichgewicht zu halten heißt, der Versuchung der Herrschaft des einen über den anderen zu widerstehen, damit den unausweichlichen Zwang jeglicher Einseitigkeit in einem von Grund auf dialektischen Verhältnis gegenseitigen Bedingens und Ausschließens in jedem Moment zu vermeiden. 45 Das Problem, ein solches Gleichgewicht herzustellen, das den in sich beständigen Zusammenhalt der auseinandertreibenden Extreme stiften kann, ist für den Verstand unmittelbar nicht lösbar, weil der Widerspruch zwischen Materie und Form, Leiden und Tätigkeit, Empfinden und Denken durch kein Drittes vermittelt werden kann, da ihre Entgegensetzung ewig bestehen bleibt, sobald eine Seite gesetzt ist – sie müssen daher jeweils für sich aufgehoben werden. 46 Aus der Perspektive des Menschen in seiner Zeitlichkeit stellt sich das Problem folgendermaßen dar: In der unmittelbaren Freiheit des bloßen Vermögens ist er Vgl. SWB 8, 607, ferner SWB 8, 608: »[D]er Spieltrieb wird […] damit umgehen, die Einheit der Idee in der Zeit zu vervielfältigen; das Gesetz zum Gefühl zu machen; oder was eben so viel ist, die Vielheit der Zeit in der Idee zu vereinigen: das Gefühl zum Gesetz zu machen.« Darauf, dass der Schnittpunkt einer in der Zeit aufgehobenen Zeit in der Tradition des Augenblicks zu verstehen ist, hat Wolfgang Janke hingewiesen, ebenso auf einen wahrscheinlichen Einfluss auf Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker (Janke 1984, 252–260). 43 Vgl. SWB 8, 614. 44 Wie eingangs angeführt, erwähnt Hegel in seinem Brief an Schelling vom 16. April 1795 zwar nur die ersten beiden Teile, aber neben der einfachen Vermutung, dass Hegel nach den derart gelobten ersten Teilen sich auch den dritten besorgt haben wird, lassen jetzt auch die begrifflichen Nähen dieses dritten Teils zur hegelschen Philosophie (die folgenden Ausführungen werden dies schnell deutlich werden lassen) den Schluss zu, dass Hegel sich auch mit diesem Teil eingehend beschäftigt haben wird. 45 Vgl. hierzu auch SWB 8, 621. 46 Vgl. SWB 8, 622. 42

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selbst zwar unendlich, sie ist aber so nur die »leere Unendlichkeit reiner Bestimmungslosigkeit.« 47 Diese Unmittelbarkeit ist ohne Wirklichkeit, da ohne konkretisierende Positivität. Setzt der Mensch sich aber nun einen bestimmten Inhalt als daseiend, ist jene Unendlichkeit der Bestimmungslosigkeit unwiderruflich verloren: Er gibt sich auf dem Weg zur Selbstbestimmung unweigerlich dem endlosen Fluss bestimmter Negation anheim: Um eine Gestalt im Raum zu beschreiben, müssen wir den endlosen Raum begrenzen; um uns eine Veränderung in der Zeit vorzustellen, müssen wir das Zeitganze teilen. Wir gelangen also nur durch Schranken zur Realität, nur durch Negation oder Ausschließung zur Position oder wirklichen Setzung, nur durch Aufheben unserer freien Bestimmbarkeit zur Bestimmung. Aber aus einer bloßen Ausschließung würde in Ewigkeit keine Realität und aus einer bloßen Sinnenempfindung in Ewigkeit keine Vorstellung werden, wenn nicht etwas vorhanden wäre, von welchem ausgeschlossen wird, wenn nicht durch eine absolute Tathandlung des Geistes die Negation auf ein positives bezogen, und aus Nichtsetzung Entgegensetzung würde; diese Handlung des Gemüts heißt urteilen oder denken, und das Resultat derselben der Gedanke. 48

Den ersten Absatz dieser Passage würde Hegel sicherlich unterstreichen, wie aber steht es mit dem zweiten? – Es ist vor allem die an Fichte erinnernde »absolute Tathandlung« des Geistes, welche mit einem ganzheitlichen System im hegelschen Sinne unvereinbar scheint, jedoch ist hier mit diesem Ausdruck bei Schiller etwas Anderes gemeint, als zunächst im Hinblick auf Fichte zu vermuten ist: Es ist die Gegenseitigkeit von Unmittelbarkeit und Vermittlung als dialektische Einheit, welche sich in der konkreten Tat verwirklicht (eine solche wird uns später auf gewisse Weise, nämlich in ihrem tragischen Scheitern, in der Tat Antigones in der Phänomenologie wiederbegegnen). So wie nur vom Teil zum Ganzen, durch die Grenze zum Unbegrenzten gelangt werden kann, kann man ebenso nur vom Ganzen zum Teil, vom Unbegrenzten zum Begrenzten gelangen. 49 Ein Vgl. SWB 8, 626. Diese leere Unendlichkeit darf aber, wie in Kap. I.1.1.3. Anm. 25 vorausgeschickt, nicht verwechselt werden mit der schlechten Unendlichkeit Hegels. Dem Gegensatz zwischen leerer und erfüllter Unendlichkeit in den Ästhetischen Briefen würde im hegelschen Sinne eher die Unterscheidung einer Unendlichkeit an sich von einer an und für sich seienden Unendlichkeit entsprechen. 48 SWB 8, 626. 49 Vgl. SWB 8, 626. 47

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Zustand, der beiden Bewegungen entspricht, mit dem ihnen je innewohnenden Ziel, als Ganzes in Freiheit das zu sein, was der Mensch von Beginn an sein soll – in Rückgewinnung der ursprünglichen Freiheit, aber als reelle und erfüllte –, kann in seiner Gleichzeitigkeit weder in Abwechslung, noch in je einseitigem Verfolgen der Triebe erlangt werden (beides wäre die bloß scheinbare Bewegung einer Linie, in welcher jeder Moment nur den vorhergehenden fortsetzt; aber nie die angestrebte Totalität erreicht) – er muss als ästhetischer der Sukzession der Zeit enthoben sein: Jeder andere Zustand, in den wir kommen können, weist uns auf einen vorhergehenden zurück und bedarf zu seiner Auflösung eines folgenden; nur der ästhetische ist ein Ganzes in sich selbst, da er alle Bedingungen seines Ursprungs und seiner Fortdauer in sich vereinigt. Hier allein fühlen wir uns aus der Zeit gerissen; und unsere Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußerer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren. 50

Das ganze Verhältnis ist im Menschen aber nur denkbar, wenn diesem eine Welt gegenübersteht. Ist der ästhetische Zustand ein mittlerer zwischen dem leidenden der Empfindung und dem tätigen des Denkens und Wollens, so ist diese Tätigkeit keine anfängliche, sondern hat eine notwendige Vorgeschichte. Dem Menschen ist die Welt am Anfang bloßes Schicksal, nicht Gegenstand seines Denkens und Wollens (»weil er selbst bloß Welt ist, so ist für ihn noch keine Welt«), 51 daher ist er bereits in seiner bloßen Natürlichkeit ein Getriebener: Das, was dem Barbaren später an Empfindung fehlt, ist in der Begierde des Wilden im Übermaß vorhanden, denn in der verstandeslosen Sinnlichkeit findet der Mensch »nirgends Ruhe als in der Ermattung«, und »nirgends Grenzen als im erschöpften Begehren«. 52 – Erst aus dem Zwangsverhältnis dieser ursprünglichen Bewegung ist die (wie im Anfang einseitige, jetzt aber auf den Kopf gestellte) Herrschaftsdialektik der Neuzeit in der Selbstbestimmung des Menschen gegen die Natur zu verstehen, denn der Mensch kann seine Freiheit zunächst nur in der Überwindung der zusammenhangslosen, zufälligen Natur erlangen – dies ist aber noch bloße, nicht die höhere, schöne Kunst. Nur im Rückbezug seiner eigenen denkenden und tätigen Durchdringung der Welt auf sich selbst ist es 50 51 52

Vgl. SWB 8, 638. SWB 8, 655. SWB 8, 649.

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ihm hier möglich, seine ihm als ursprüngliche Möglichkeit innewohnende freie Bestimmbarkeit zurückzuerlangen und damit zu realisieren. Wie aber die eingangs angeführte Analyse des modernen Verhältnisses des Menschen zur Natur zeigte, setzt sich der ursprünglich von der Natur ausgehende Zwang dialektisch noch in ihrer Bezwingung fort. Das erste Aufscheinen der Vernunft im Menschen – als Forderung nach dem Absoluten und Bleibenden gegenüber der Zufälligkeit der Natur – ist noch nicht der Beginn seiner Menschheit; sie führt nur dahin, dass die Begierde des Menschen, seine sinnliche Abhängigkeit grenzenlos wird, da der Forderung nach dem Absoluten, dem imaginären Bild von grenzenloser Unendlichkeit (dem Ausgangspunkt der leeren Unendlichkeit entsprechend), kein gegenwärtiger physischer Zustand genügen kann, während gleichzeitig jeder endliche Moment, so auch das eigene Individuum, die Möglichkeit bietet, von der Einbildung in die Unendlichkeit grenzenloser Dauer ausgedehnt zu werden. Dies verführerische Wechselspiel eines fortwährenden Ungenügens, welches die imaginäre Erfüllung in jedem wirklichen Schritt einen weiteren in die Zukunft versetzt, zieht hier den nach Freiheit strebenden Menschen unablässig hinan: Auf den Flügeln der Einbildungskraft verläßt der Mensch die engen Schranken der Gegenwart, in welche die bloße Thierheit sich einschließt, um vorwärts nach einer unbeschränkten Zukunft zu streben; aber indem vor seiner schwindelnden Imagination das Unendliche aufgeht, hat sein Herz noch nicht aufgehört im Einzelnen zu leben, und dem Augenblick zu dienen. Mitten in seiner Tierheit überrascht ihn der Trieb zum Absoluten und da in diesem dumpfen Zustande alle seine Bestrebungen bloß auf das Materielle und Zeitliche gehen, und bloß auf sein Individuum sich begrenzen, so wird er durch jene Forderung bloß veranlaßt, sein Individuum, anstatt von demselben zu abstrahieren, ins Endlose auszudehnen, anstatt nach Form nach einem unversiegenden Stoff, anstatt nach dem Unendlichen nach einer ewig dauernden Veränderung 53 und nach einer absoluten Versicherung seines zeitlichen Daseins zu streben. Der nemliche Trieb, der ihm auf sein Denken und Tun angewendet zur Wahrheit und zur Moralität führen sollte, bringt jetzt, auf sein Leiden und Empfinden bezogen, nichts als ein unbegrenztes Verlangen, als ein absolutes Bedürfnis hervor. Die ersten Früchte, die er in dem Geisterreiche erntet, sind also Sorge und Furcht; beides Wirkungen der Vernunft, nicht der Sinnlichkeit, aber einer Vernunft, die Hier ist vielleicht auch der Begriff des ›unglücklichen Bewusstseins‹ der hegelschen Phänomenologie vorgebildet, vgl. Kap. I.2.3.

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sich in ihrem Gegenstand vergreift, und ihren Imperativ unmittelbar auf den Stoff anwendet. […] Ohne also durch eine Vernunftäußerung dieser Art etwas für seine Menschheit zu gewinnen, verliert er dadurch bloß die glückliche Beschränktheit des Tiers, vor welchem er nun bloß den unbeneidenswerten Vorzug besitzt, über dem Streben in die Ferne den Besitz der Gegenwart zu verlieren, ohne doch in der ganzen grenzenlosen Ferne je etwas anderes als die Gegenwart zu suchen. 54

Hierin ist die Formel der schlechten Unendlichkeit in ihrer zeitlichen Form auf der Ebene des menschlichen Geistes gegeben: Der zur Vernunft erwachte Mensch stellt mit der Forderung nach unendlicher Gegenwart in der Welt seine Gegenwartslosigkeit auf Dauer; ebenso ist hierin genau jener dialektische Umschlag der Unendlichkeit in ihrem Gegensatz zur Endlichkeit hin zur verendlichten Unendlichkeit – als dialektische Wiederkehr des Endlichen im Unendlichen – vorgebildet, welcher später in Hegels Glauben und Wissen (in der Auseinandersetzung mit Spinoza) mit dem fortgesetzten und auf demselben Weg nicht aufzulösenden Widerspruch einer empirischen Unendlichkeit der Einbildung bezeichnet wird. 55 Damit aber diese andauernde Gegenwartslosigkeit überwunden werden kann, muss bei Schiller die Zeit selbst durch ein Bleibendes, Kronos durch Zeus über-

SWB 8, 651 f.; Herv. v. Verf. Vgl. Kap. I.1.1.2.; hier noch einmal, zum direkten Vergleich, die entsprechende Passage aus Hegels Glauben und Wissen: »Ein anderes aber ist es, wenn das Abstrahirte, Endliche oder Unendliche bleibt, was es ist, und jedes in die Form des Entgegengesetzten aufgenommen werden soll; hier ist eins bestimmt als nicht seyend, was das andere ist, und jedes als gesetzt und nicht gesetzt, als dieß bestimmte seyend, und als seyend ein anderes; und ein so Gesetztes läuft in die empirische Unendlichkeit hinaus; die Dauer als allein durch die Einbildung gesetzt, ist ein Zeitmoment, ein Endliches und als solches fixirt ein zum Theil Negirtes, an und für sich zugleich bestimmt als seyend ein anderer; dieser andere, der ebenso durch die Einbildung seine Wirklichkeit erhält, ist eben so ein anderer; diese Negation, die bleibt was sie ist, durch die Einbildung positiv gemacht, gibt das empirisch Unendliche das heißt einen absoluten unaufgelösten Widerspruch« (GuW, GW 355). In diesem Zusammenhang wäre natürlich auch die Frage interessant (gerade im Hinblick auf die Unterscheidung wahrer und scheinbarer Zeit in den Weltaltern), inwiefern Schillers Ästhetische Briefe auch Schelling beeinflusst haben könnten. – Sicher ist nur, dass Schelling 1801 dieselben von Schiller persönlich zugesandt bekam, indem dieser ihn um eine Begutachtung dahingehend bat, wie sie sich zur gegenwärtigen Philosophie verhielten (Caroline Schelling, damals noch Schlegel, soll allerdings jenem als Antwort ›Verhalten sich gar nicht‹ vorgeschlagen haben – welche er natürlich nicht gab; vgl. Anm. 4 zum Brief F. Schiller an F. W. J. Schelling, 12. Mai 1801, Fuhrmans, Briefe II, 322).

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wunden werden, 56 und zwar in der schönen Kunst als Werk der freien Betrachtung, damit in der Verwirklichung der Reflexion als das erste bleibende Verhältnis des Menschen zur Welt. 57 Als Resultat und Bürge dieses ersten Halts, den der Mensch in der Welt gewinnt, sei die Schönheit zugleich Zustand und Tat des Menschen, vereine damit Materie und Form gleichermaßen in sich und sei der daseiende Beweis dafür, dass Beschränkung und Unendlichkeit sich nicht ausschließen, für die »Ausführbarkeit des Unendlichen in der Endlichkeit«. 58 Nimmt man beide Linien zusammen: die kritische Auseinandersetzung mit Spinoza und die Beeinflussung Hegels durch die Ästhetischen Briefe Schillers, so ergibt sich nun ein konkretes Bild des Problems der schlechten Unendlichkeit, nicht aber seiner Lösung. Bereits über die frühe Schrift Glauben und Wissen lässt sich das logische Problem herleiten, sofern hier, wie auch an zentralen Stellen der späteren Philosophie Hegels üblich, Spinoza gegen Spinoza gewendet wird: Der Satz, dass alle Bestimmung Negation sei, muss auch für die affirmative, selbstbezügliche Unendlichkeit in ihrem bestimmten Gegensatz zur Endlichkeit gelten; die konkrete Bestimmung jener gerät in einen endlosen Wechsel mit ihrer Negation und in diesem Widerspruch einer fortwährenden Vermittlung des Unmittelbarsein-Sollenden schlägt sie in eben jene imaginäre Unendlichkeit eines endlosen Hinaus um, die doch das ausgeschlossene Andere der affirmativen sein sollte (denn einzuholen ist dieser Anspruch auf Selbstbezüglichkeit gewissermaßen erst am Ende aller Zeit). Die imaginäre Unendlichkeit erweist sich als die Wahrheit einer affirmativen Unendlichkeit, die sich über ihren Gegensatz zur Endlichkeit definiert. Man könnte zunächst meinen, dass die Einsicht in die Unmöglichkeit, ein Unendliches im Gegensatz zu einer Sphäre von Endlichkeit zu halten, deren negative Bestimmtheit ins Endlose doch selbst das

Vgl. SWB 8, 656. Vgl. SWB 8, 655–659. 58 SWB 8, 659. Vgl. hierzu auch SWB 8, 668: »Indem er bloß für einen künftigen Gebrauch Vorräte sammelt und in der Einbildung dieselbe vorausgenießt, so überschreitet er zwar den jetzigen Augenblick, aber ohne die Zeit zu überschreiten; er genießt mehr aber er genießt nicht anders. Indem er aber zugleich die Gestalt in seinen Genuß zieht und auf die Formen der Gegenstände merkt, die seine Begierden befriedigen, ist er über die Zeit selbst hinausgeschritten, und hat seinen Genuß nicht bloß dem Umfang und dem Grad nach erhöht, sondern auch der Art nach veredelt.« 56 57

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Gesetz jeder Reflexion des Verstandes ist, eine bloß begriffliche Schwierigkeit und nur eine Frage richtiger und falscher logischer Definition beschreibt. In der Philosophie Spinozas kann dieser Gedanke nicht einmal als eigentliches Problem auftauchen, da die unendliche Substanz gar keinen Anspruch auf ein Wiedereinholen in seinem Anderen, also auf eine kreisförmigen Selbstbezüglichkeit hat, denn sie ist selbst bloß objektiver Gegenstand des Denkens, bloß der Gedanke eines Nicht-Besonderen schlechthin (wenngleich Hegel nachweist, dass sie als Un-Endliches keineswegs anfänglich sein kann). – Die Ernsthaftigkeit dieses logischen Problems zeigt sich erst auf der Ebene eines Subjekts, das ein Selbst sein soll im bestimmten Gegensatz zu einer objektiven endlichen Welt allseitiger Negativität: nämlich im unendlichen Hinaus einer Selbstbestimmung des Subjekts, das, wie in Schillers Unterscheidung von überzeitlicher Person und veränderlichem Zustand, an der Unmittelbarkeit seiner Unendlichkeit festhält und seine Negativität bloß als Äußerlichkeit versteht. Die Unendlichkeit einer Bewegung aber, die sich auf der Spitze beider Seiten, im dialektischen Zugleich des schönen Spiels hält, bleibt, im Gegensatz zur affirmativen Unendlichkeit Spinozas, auch in seiner eigenen Bestimmung stets bei sich, gegenwärtig und frei. – Dieses Modell Schillers einer Vollendung der Reflexion in der Ästhetik des Schönen wird bei Hegel in Jena noch auf gewisse Weise anerkannt bleiben. Der dort entwickelte Begriff einer Reflexion aber, die sich allein in ihrem konsequenten Fortgang, damit der Anerkennung einer allseitigen Negativität selbst überwindet (und damit den Weg zur Figur des sich vollbringenden Skeptizismus der Phänomenologie weist und ihre Wiederholung in der Logik des Wesens findet), muss dieses Vorbild hinter sich lassen: Das ästhetische Zugleich des Schönen kann immer nur idealer Moment sein, der im nächsten Moment seiner Verwirklichung untergehen muss – und darin seine Wahrheit findet. Die Harmonie des Klassisch-Schönen in ihrem in sich ruhenden Verhältnis von wesentlichem Inhalt und Gestalt mag zwar als ein Ideal der Vernunft in der hegelschen Philosophie stehen bleiben, nach ihm hat sich aber das Denken nicht auszurichten: Die eigentliche Bewegung der Vernunft als eine lebendige vollzieht sich in der Tragödie.

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I.1.2. Die Differenzschrift Hegels I.1.2.1. Entstehung des unendlichen Progresses schlechter Unendlichkeit aus einem inneren Widerspruch der Reflexion Wie die Reflexion in den Ästhetischen Briefen sich selbst, zur Wiedergewinnung der anfänglich bestimmungslosen Unendlichkeit, am Ende in der schönen Kunst als ihrer höchsten Verwirklichung selbst überwindet, hebt sich die an sich selbst festhaltende Reflexion in Hegels Differenzschrift zur in der Notwendigkeit ihres Fortgangs immer schon gegenwärtigen Vernunft auf. – Alles Bedürfnis zur Philosophie, so Hegel in seiner (gegen Fichte gerichteten) Differenzschrift (vgl. DS, GW 4, 12 f.), hat seinen letzten Ursprung in einer Entzweiung, in welcher der menschliche Geist sich auf einer höheren Stufe notwendig wiederfindet. In seinem absoluten Anspruch nach Ganzheit erschließt sich nun dem reflektierenden Menschen nach und nach eine objektive Welt durch seinen Verstand als Kraft des Beschränkens (als negative Bestimmung seines Gegenstands: omnis determinatio negatio est). Der Zusammenhang der Bestimmtheiten folgt einer Notwendigkeit derselben Reflexionstätigkeit und erschließt in der Immanenz seiner Bewegung eine Totalität aus der unendlichen Entwicklung aller Mannigfaltigkeit und scheint sich dabei, in seinem unendlichen Streben, dem Absoluten fortwährend anzunähern – während gerade die Notwendigkeit des Zusammenhangs und der Trieb zur Totalität hierin von dem »Anteil und [der] geheimen Wirksamkeit der Vernunft« (DS, GW 4, 17) zeugen. Aber: Die Verstandestätigkeit fährt in ihrem immanenten Totalitätsanspruch fort, ins Endlose stets nur sich selbst als ewig Unzureichendes in die Länge zu ziehen; sie konstituiert eine (objektive) Totalität von Beschränkungen, findet darin aber das Absolute, das Unendliche nie (vgl. DS, GW 4, 13). Der fortgesetzte Mangel (gegenüber einem unendlichen Anspruch) ist Movens im immanenten Fortgang der Verstandesbestimmungen, gleichzeitig der Ausdruck des Scheiterns und einer mit wachsender Bestimmtheit dringlicheren Forderung nach einer Überwindung des sich zur ganzheitlichen Immanenz des Unzureichenden ausdehnenden Zusammenhangs der endlichen Bestimmungen untereinander: »[J]e fester und glänzender das Gebäude des Verstandes ist, desto unruhiger wird das Bestreben des Lebens, das in ihm als Theil befangen ist, aus ihm sich heraus in die Freyheit zu ziehen« (DS, GW 4, 13). 39 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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Da der Widerspruch von unendlichem Anspruch und der Unmöglichkeit, am notwendigen Fortgang von einer endlichen Bestimmtheit zur nächsten entlang je auf ein Nicht-Endliches, Unendliches zu stoßen, in jedem Moment der Bewegung bestehen bleibt, wird dieser Widerspruch – sobald der Verstand versucht, von sich selbst zu abstrahieren und auf sich zu reflektieren – als feststehender Gegensatz zwischen dem Zusammenhang endlicher Bestimmungen in ihrer Beschränktheit einerseits und einem von diesem in seiner Unbestimmtheit unberührten Absoluten andererseits gefasst. In diesem abstrakt ruhenden Bild verliert der Zusammenhang endlicher Bestimmungen untereinander seine bedrückende Totalität, da das Absolute jenen immer noch in sich begreifen muss und daher die Endlichkeit zur bloßen Erscheinung desselben in der Mannigfaltigkeit herabgesetzt wird. Im selben Zug gerät aber das Absolute notwendig in die dialektische Abhängigkeit zur Endlichkeit, denn was hier passiert ist Folgendes: Der Verstand setzt einerseits eine Sphäre der allseitig abhängigen Endlichkeit als solche und andererseits, aus der Einsicht in dessen Unzulänglichkeit, aus dem Fehlen eines Affirmativen in der Sphäre der Endlichkeit heraus, ein Absolutes als Un-Endliches. Mit derselben Tätigkeit also, mit welcher der Verstand Bestimmtheit gegen Bestimmtheit ins Endlose setzte, setzt er ebenso, indem er einmalig das ganze Verhältnis auf eine höhere Ebene abstrahiert, das Absolute gegen die Bestimmtheit als solche und bestimmt es als Unendlichkeit. Der Verstand ahmt die Vernunft im absoluten Setzen nach, und giebt sich durch diese Form selbst den Schein der Vernunft, wenn gleich die Gesetzten an sich entgegengesetzte also endliche sind; er thut dieß mit so viel größerem Schein, wenn er das vernünftige Negiren in ein Produkt verwandelt und fixirt; das Unendliche, insofern es dem Endlichen entgegengesetzt wird, ist ein solches vom Verstand gesetztes Vernünftiges; es drükt für sich als Vernünftiges nur das Negiren des Endlichen aus; indem der Verstand es fixirt, setzt er es dem Endlichen absolut entgegen, und die Reflexion, die sich zur Vernunft erhoben hatte, indem sie das Endliche aufhob, hat sich wieder zum Verstand erniedrigt, indem sie das Thun der Vernunft in Entgegensetzung fixirte; überdem macht sie nun die Prätention, auch in diesem Rükfall vernünftig zu seyn. (DS, GW 4, 13) 59

Auch Christian Iber weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass seit der Differenzschrift und Glauben und Wissen das Problem der Dialektik von Endlichkeit und

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Wie eingangs erwähnt ist diese Bewegung eine solche, die der inneren Widersprüchlichkeit des menschlichen Geistes selbst entspringt und daher, Hegel zufolge, die Geschichte des Geistes in den verschiedensten Varianten desselben Gegensatzes durchzieht, ob nun in der Entgegensetzung von Geist und Materie, Seele und Leib, Glauben und Verstand, Freiheit und Notwendigkeit, oder – auf einer höheren Stufe menschlicher Bildung – in der Entgegensetzung von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur, oder zuletzt, in seinem höchsten Ausdruck: der Entgegensetzung von absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität. Dadurch ist die Entzweiung auf ihren Höhepunkt getrieben und ihre Seiten sind zur fürsichseienden Selbstständigkeit fixiert. Das Bedürfnis der Philosophie nach Versöhnung des Zwiespalts in einer Bewegung hat sich auf dieser Höhe zugleich konkretisiert als der nothwendige Versuch, die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben, und das Gewordenseyn der intellektuellen und reellen Welt, als ein Werden, ihr Seyn als Produkte, als ein Produciren zu begreiffen; in der unendlichen Thätigkeit des Werdens und Producirens hat die Vernunft das, was getrennt war, vereinigt, und die absolute Entzweyung zu einer relativen heruntergesetzt, welche durch die ursprüngliche Identität bedingt [ist]. (DS, GW 4, 14)

Aber: Jeder Versuch, dieses Verhältnis einseitig aufzuheben, verfällt notwendig der Herrschaftsdialektik eines Vernunftstrebens, das von einem festen Verstandesgegensatz ausgeht. Dagegen verweist Hegel, als Gegenmodell, auf die »ernste Beziehung lebendiger Kunst« (DS, GW 4, 14; nach Schiller: die Gestalt gewordene Ausführung des Unendlichen im Endlichen), 60 welche in ihrem Verhältnis der schönen Harmonie den größten Gegensatz zur sich fortwährend weiter verfestigenden Entzweiung des Geistes in der Gegenwart vor Augen führt, und darin von einer ursprünglichen Identität kündet, welche erst auf einer höheren, für sich konkret gewordenen Stufe zu sich zurückkehren kann. Auch wenn Hegel die Ästhetik in der Differenzschrift nicht in den Vordergrund stellt, steht sie doch in der Harmonie des Schönen als Ideal und Einspruch gegen jeglichen Versuch ein, den Zwiespalt in einem einseitigen Herrschaftsspruch gewaltsam zu überwinden: Was dort unendliche Aufgabe des Sollens ist (welches stets Unendlichkeit ein durchgängiges Problem der hegelschen Philosophie sei, vgl. Iber 1999, 155 f. 60 Vgl. Kap. I.1.1.3.

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von einem nicht Gegenwärtigen, Nicht-Seienden zeugt), ist in der schönen Kunst (als Ideal) immer schon – wenn auch für den nach konkreter Durchsichtigkeit strebenden Geist unzulänglich – vereinigt und damit dort bereits gegenwärtig, wo die einseitige Herrschaftsbewegung das nie erreichbare Ziel des Sollens im unendlichen Progress fortgesetzter Assimilation seines Anderen verortet. 61 Ebenso verfällt auf der Ebene des Rechts die vermeintlich auf sich gestellte Verstandesherrschaft über die Natur unweigerlich der leeren Fortdauer des Bestimmens ins Unendliche (damit genau in die empirische Unendlichkeit, die eigentlich der Sphäre absoluter Objektivität in ihrer Mangelhaftigkeit angehören sollte) und die Knechtung der Natur wird als absolute nicht unendlich, sondern nur ins Unendliche ausgedehnt (vgl. DS, GW 4, 61 f.). 62 Auch hier in der Differenzschrift gibt das ästhetische Ideal des Schönen den Maßstab für das Gelingen, denn nur »in der wahren Unendlichkeit einer schönen Gemeinschaft« (DS, GW 4, 55) wäre der Anspruch des Absoluten praktisch zu erfüllen: wenngleich sich spätestens in der Phänomenologie zeigen wird, dass die in sich ruhende Schönheit (sowohl in der Kunst als auch in der Sittlichkeit) ohne Bestand ist und sich im nächsten Moment ihrer Realisierung verflüchtigt – ihr ephemerer Charakter kann dem menschlichen Geist auf Dauer keinen Halt gewähren. Schlimmer noch: In ihrer Vergänglichkeit zeugt sie von ihrer eigenen Endlichkeit und ist eben darin, gemessen am Maßstab ihrer selbst als Ideal, auch wert unterzugehen. 63 Vgl. DS, GW 4, 61 (hier als Einwand gegen die Auffassung der Kunst bei Fichte formuliert): »[D]ie Anerkennung der ästhetischen Vereinigung des Producirens und des Produkts ist etwas ganz anderes als das Setzen des absoluten Sollens und Strebens, und des unendlichen Progresses, Begriffe, die sich, so wie jene höchste Vereinigung anerkannt wird, als Antithesen, oder nur als Synthesen subalterner Sphären, und damit als einer höhern bedürftig ankündigen.« 62 Vgl. hierzu auch DS, GW 4, 8: »Wenn Erscheinungen wie die Reden über die Religion, – das spekulative Bedürfniß nicht unmittelbar angehen, so deuten sie und ihre Aufnahme, noch mehr aber die Würde, welche mit dunklerem oder bewußterem Gefühl, Pöesie und Kunst überhaupt in ihrem wahren Umfange, zu erhalten anfängt, auf das Bedürfniß nach einer Philosophie hin, von welcher die Natur für die Mishandlungen, die sie in dem Kantischen und Fichte’schen Systeme leidet, versöhnt, und die Vernunft selbst in eine Übereinstimmung mit der Natur gesetzt wird, nicht in eine solche, worin sie auf sich Verzicht thut oder eine schaale Nachahmerin derselben werden müßte, sondern eine Einstimmung dadurch, daß sie sich selbst zur Natur aus innerer Kraft gestaltet.« 63 Zwar beschreibt Schiller ebenfalls den notwendigen Untergang des Schönen in seiner endlichen Verwirklichung, dieser Widerspruch erzeugt aber einen tragischen 61

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Das Problem aber, ein Absolutes aus der Immanenz des Denkens selbst zu konstituieren, in welchem (auf der höchsten Stufe des Geistes) der Gegensatz von absoluter Objektivität und Subjektivität – wie dies im schönen Ideal der Kunst in einem Moment geschieht – aufgehoben ist, scheitert unmittelbar am inneren Widerspruch einer das Absolute setzenden Reflexion. Für sich isoliert ist die Reflexion »Vermögen des Seyns und der Beschränkung« (DS, GW 4, 16); demnach hebt sich das reflektierte Absolute als Absolutes auf, da es, indem es durch die Reflexion als daseiend gesetzt wurde, bereits beschränkt worden ist und als bestimmte in die dialektische Abhängigkeit zu seinem Entgegengesetzten gerät: Denn alles durch die Reflexion Gesetzte ist ein Entgegengesetztes. – Der Weg zurück in eine anfängliche Bestimmungslosigkeit, in welcher jene Widersprüche des Zwiespalts im menschlichen Geist noch vereint sind, ist verbaut (wie später zu sehen seien wird, führt der Abbruch der Reflexion statt zurück zur anfänglichen Unendlichkeit fort in die schlechte); es bleibt nur, den mühsamen Weg der Reflexion als Bewegung fortgesetzter Negation weiterzugehen. Wie zuvor gesehen, geht die Setzung der Reflexion in der Reihe endlicher Bedingungen ins Endlose, da nie ein Punkt erreicht werden könnte, der selbst nicht bedingt und wieder bedingend wäre. Die unaufhaltsame Auflösung alles Seienden in der negativen Bewegung der Reflexion offenbart aber, sowohl in der zugrunde liegenden Unendlichkeit der Forderung nach absoluter Bestimmung wie auch in der einen Notwendigkeit der Bewegung im Fortgang bestimmter Negation, die Präsenz der Vernunft und die Reflexion als verwirklichende, konkretisierende Tätigkeit derselben. Kein Sein und keine Grenze haben für sich Bestand und die Kraft der Negation zeigt sich selbst als absolut. Zwar scheint die Reflexion damit zunächst nur verständig, aber diese Leitung zur Totalität der Nothwendigkeit ist der Antheil und die geheime Wirksamkeit der Vernunft; 64 indem sie den Verstand grenMoment, worin sich die Berechtigung des Ideals der Schönheit noch in ihrem Untergang bestätigt (man vergleiche etwa die Götter Griechenlands, v. a. aber Nänie) – dieses tragische Moment hat das Schöne bei Hegel nicht. – Dass Hegel bereits in Jena (wie später in Berlin) den Topos des Vergangenheitscharakters der Kunst beschrieb, wies Bienenstock 2010, 223 an verschiedenen Fragmenten aus den Vorlesungsmanuskripten 1803 nach (sie verweist hier auf GW 5, 372 f. u. 377). 64 Es gibt also tatsächlich bereits in der Differenzschrift eine Anwesenheit der Vernunft in der Notwendigkeit der Reflexion, sofern an dieser Notwendigkeit festgehalten wird. – Daher ist m. E. die These Walter Jaeschkes, es gebe einen Bruch zwischen

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zenlos macht, findet er und seine objektive Welt in dem unendlichen Reichthum den Untergang; denn jedes Seyn das der Verstand producirt, ist ein Bestimmtes, und das Bestimmte hat ein Unbestimmtes vor sich und hinter sich, und die Mannigfaltigkeit des Seyns liegt zwischen zwey Nächten, haltungslos, sie ruht auf dem Nichts, denn das Unbestimmte ist Nichts für den Verstand und endet im Nichts. (DS, GW 4, 17) 65

Die Gegenwart der Vernunft im Gang der Reflexion steht und fällt so aber mit der Konsequenz, in welcher sie als negative vollzogen wird und sich im an sich festhaltenden Vollzug selbst aufhebt. Die bestimmende Tätigkeit des Verstandes als beschränkende kann aber, wie gesehen, auch dahin gehen, in Abstraktion vom Gang der Reflexion Unbestimmtheit und Bestimmtheit gegeneinander zu fixieren und je für sich zu bestimmen, worin Endlichkeit und Unendlichkeit schlechthin entgegengesetzt bleiben (vgl. DS, GW 4, 17). Auf dieser abstrakten Ebene setzt sich der Widerspruch zwischen unendlicher Aufgabe absoluter Bestimmung und der fortgesetzten Negativität aller Reflexion fort. Bleiben diese Bestimmungen gegeneinander fixiert, d. h. wird das Verhältnis nur im Hinblick auf eine jenseits aller Endlichkeit zu erfüllenden Vernunft im Gegensatz zur Tätigkeit des Verstandes bestimmt und beide voneinander unterschieden, konstituieren sich zwei verschiedene Welten des Subjekts des Denkens und der Mannigfaltigkeit der Objekte: eine Sphäre subjektiver Unendlichkeit der bei sich bleibenden Einheit und Freiheit gegenüber einer objektiven Unendlichkeit der Welt in ihrer beschränkten Mannigfaltigkeit, anders ausgedrückt – sofern man die zeitliche Dimension des Geistes einbezieht – die subjektive Unendlichkeit als geschichtslos-ewige und dem Reflexionsbegriff der Differenzschrift und der Phänomenologie, nicht durchzuhalten (es sei denn, man würde der Differenzschrift selbst eine Inkonsequenz in diesem Punkt vorwerfen, was ich selbst aber nicht sehe). Nach Jaeschke sei die spätere Vorrede der Phänomenologie zum Teil auch eine Selbstkorrektur der Jenaer Jahre, da hier noch ein strikter Gegensatz zwischen ›Leben‹ und ›Verstand‹ zugunsten der lebendigen Vernunft vorherrsche, während die Reflexion stets in der ›Nacht des räsonnierenden Verstandes‹ befangen bleibe. Vgl. hierzu Jaeschke 2010, 113, ferner Jaeschke 1978, 96–98. Demgegenüber vertritt auch Otto Pöggeler die Ansicht, dass sich die hegelsche Figur der absoluten Negativität als reflektierte Wiederherstellung des Positiven bereits in der Differenzschrift konstituiert, vgl. Pöggeler 1995, 156. 65 Diese Bewegung von Nichts zu Nichts der reinen, allein auf sich gestellten Reflexion entspricht übrigens der späteren Wesenslogik Hegels (vgl. WdL, GW 11, 250 – im Gegensatz zur vorangegangenen Daseinslogik, deren Bewegung vom Sein aus beginnt), ganz in dem Sinne, wie Christian Iber sie als ›Metaphysik absoluter Relationalität‹ bezeichnet hat (vgl. Iber 1990).

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stillstehende gegenüber einer objektiven Unendlichkeit der zeitlichen Dauer als Progress in infinitum, in welcher kein Moment für sich besteht, sondern immer nur auf den nächsten verweist (vgl. DS, GW 4, 6 u. 17 f.). In dem Versuch, die Vernunft gleichzeitig in der Reinheit ihrer unmittelbaren Unbestimmtheit zu fassen und als solche zu verwirklichen, hebt sie sich selbst auf (sie geht darin von selbst über sich selbst hinaus), da sie nur in der bewussten Synthese beider Welten sich selbst als konkrete Tätigkeit fassen kann, indem sie Sinnlichkeit und Intellektualität wie Notwendigkeit und Freiheit in sich vereinigt und sich selbst als Wissen begreift. Nur in dieser dialektischen Bewegung sind Unendlichkeit und Endlichkeit nicht getrennt; hier verwirklicht sich das Unendliche in der Tätigkeit der Reflexion als »Vermögen des Endlichen« (DS, GW 4, 18). Dieser letzte Schritt, den notwendigen Gang der Reflexion in seiner Selbstaufhebung als Verwirklichung und Konkretisierung der Vernunft zu begreifen, ist entscheidend im Hinblick auf ein gelingendes Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität. Jeder andere, abstrakte Ausweg (die Konstruktion eines festen Bildes) aus dem Widerspruch von unendlicher Forderung nach absoluter Bestimmung und der fortgesetzten Negativität aller Endlichkeit in seiner Beschränktheit führt unweigerlich zu einer Fixierung des Gegensatzes zweier Welten und damit zur Verendlichung der Unendlichkeit zur schlechten in seinem bestimmten Gegensatz zur Endlichkeit (auch wenn diese Unendlichkeit hier noch nicht als die ›schlechte‹ bezeichnet wird). 66 Auf diese Weise kann die Verwirklichung des Unendlichen, seiner absoluten Forderung gemäß, immer nur den Weg des unendlichen Progresses nehmen, dem das Ziel, die synthetische Vereinigung, stets unerreichbarer Fluchtpunkt und in jedem Moment der Bewegung gleich weit entfernt bleibt. Damit nimmt die Bewegung aber zugleich einen Verlauf, der die strikte Trennung zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit unterwandert, denn der unendliche Progress ist selbst nichts anderes als eine »Vermischung von Empirischem und Vernünftigem; jenes ist die Anschauung der Zeit, dies die Aufhebung aller Zeit, die Verunendlichung derselben« (DS, GW 4, 29). Da die absolute Forderung stets Movens der Bewegung bleibt, kann die Flucht aus der Endlichkeit zur leeren Bestimmung einer reiDie erste Formulierung dieser Unendlichkeit als schlechte findet sich im Fragment Logik, Metaphysik, Naturphilosophie aus den Jahren 1804/05, vgl. hierzu Kap. I.4.1. Anm. 132.

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nen, jenseitigen Unendlichkeit keinen Bestand haben – sie genügt sich nie. Verbindet sich aber diese Unendlichkeit auf Seiten einer absoluten Subjektivität nun mit dem Anspruch, sich in ihrer Reinheit in der Welt zu verwirklichen, die endliche Mannigfaltigkeit nach ihrem imaginären Bilde umzuformen (im Imaginären ist jeder endliche Moment zur leeren Grenzenlosigkeit fähig), ergibt sich jenes einseitige Herrschaftsverhältnis zwischen Geist und Natur, welches zwar vordergründig unter der Dominanz der lebendigen Subjektivität gegenüber einer toten und gleichgültigen Welt steht, dialektisch aber auf das herrschende Subjekt zurückschlägt, indem das vor der nie bei sich selbst seienden Linearität der Zeit zu rettende Ewige selbst zur empirischen Unendlichkeit der Dauer verzeitlicht wird. Dies Verhältnis äußert sich auf der praktischen Ebene im Begriff des Sollens: Die angestrebte Synthese ist nicht, sie ist als darüber erhabene in keinem Moment der negativen Bewegung gegenwärtig, soll aber verwirklicht werden, d. h. sie ist nie gegenwärtig, aber Zielpunkt einer Bewegung, die sich selbst nie überwinden kann (dies ist wiederum der einseitigen Positionierung im dialektischen Verhältnis geschuldet: Nur eine Seite soll aufgehoben werden).

I.1.2.2. Kritik der fichteschen Philosophie Die Identität von Subjekt und Objekt, so Hegel in der Differenzschrift, sei von Fichte zurecht zum Prinzip der Spekulation als reines Denken seiner selbst in abgeschlossener Selbstbezüglichkeit, Ich = Ich, gemacht worden (vgl. DS, GW 4, 6); – eben darin weist die spekulative Philosophie aus dem inneren Widerspruch der Reflexion und dem Zwiespalt des Geistes hinaus, dass sie die Trennung von Subjekt und Objekt im Absoluten aufhebt (anders als bei Spinoza, dem die Substanz seiner Methode gemäß absolutes Objekt bleiben musste, in welchem alle Subjektivität verschwindet). Da das Prinzip aber unmittelbar an den Anfang gesetzt wird, entsteht im Übergang vom Prinzip zum System mit dem Gegensatz dieser reinen Identität der Vernunft in seiner Unbestimmtheit zur bestimmten Mannigfaltigkeit des Endlichen als Boden und Material für die Reflexion ein unüberbrückbares Problem: So wie […] die Spekulation, aus dem Begriff, den sie von sich selbst aufstellt, heraustritt, und sich zum System bildet, so verläßt sie sich

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und ihr Princip und kommt nicht in dasselbe zurück; sie übergibt die Vernunft dem Verstand, und geht in die Kette der Endlichkeiten des Bewußtseyns über, aus welchen sie sich zur Identität und zur wahren Unendlichkeit nicht wieder rekonstruiert. (DS, GW 4, 6)

Das abstrakte Prinzip reiner Identität im absoluten Selbstbewusstsein Ich = Ich impliziert bereits den Gegensatz zu einer objektiven Welt endlicher Mannigfaltigkeit. Durch die einseitige Akzentuierung des Ichs als Prinzip des Ganzen in gleichzeitiger negativer Bestimmtheit zur Objektivität bleiben beide Seiten in vollständiger Entgegensetzung: Das Ich bleibt in seiner abstrakten Freiheit stets das, was es schon ist, und wird sich nie im eigentlichen Sinne objektiv, da Subjekt und Objekt sich in der Ausgestaltung des Prinzips zum System stets ungleich bleiben (vgl. DS, GW 4, 32 f.). 67 Zwar ist das Ich = Ich Prinzip der Spekulation, unvermittelt an den Anfang gestellt kann diese Identität aber durch das von ihm ausgehende System nicht wieder eingeholt werden (vgl. DS, GW 4, 42 f.). Das System hat also seinen punktuellen Anfang im Ich, welches sich als solches nie in der Erscheinung wiederfinden wird (da es sich in der Beschränktheit des An dieser Stelle kann man vermuten, dass auch die Grundlagen der Fichte-Kritik durch den frühen Schelling angestoßen sein könnten, zumindest ergibt sich eine offenkundige Verwandtschaft etwa zu den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus, wo es heißt: »Aber mit absoluter Freiheit ist auch kein Selbstbewußtsein mehr denkbar. Eine Thätigkeit, für die es kein Object, keinen Widerstand mehr giebt, kehrt niemals in sich zurück. Nur durch Rückkehr zu sich selbst entsteht Bewußtsein. Nur beschränkte Realität ist Wirklichkeit für uns« (AA I,3, 94). Gemäß der schellingschen Unterscheidung von Dogmatismus und Kritizismus (als Bezeichnung der spinozistischen Philosophie einerseits, der fichteschen andererseits) entwickelt Hegel in der Differenzschrift auch eine eigene Unterscheidung von Dogmatismus und Idealismus, vgl. DS, GW 4, 32 (dabei sei hier auch insbesondere auf die hegelsche Deutung der Verhältnisse als Herrschaftsdialektik im Sinne Schillers hingewiesen): »Das Absolute muß sich […] in der Erscheinung selbst setzen, d. h. diese nicht vernichten, sondern zur Identität konstruiren. Eine falsche Identität ist das Kausal-Verhältniß zwischen dem Absoluten und seiner Erscheinung, denn diesem Verhältniß liegt die absolute Entgegensetzung zum Grunde; in ihm bestehen beyde Entgegengesetzten aber in verschiedenem Rang; die Vereinigung ist gewaltsam, das eine bekommt das andere unter sich; das eine herrscht, das andere wird bottmäßig; die Einheit ist in einer nur relativen Einheit erzwungen, die Identität, die eine absolute sein soll, ist eine unvollständige [dies ist allerdings eine zutiefst hegelsche Argumentation, die sich bei ihm auch weiterhin durchhalten wird, D. U.]; das System ist zu einem Dogmatismus – zu einem Realismus, der die Objektivität, – oder zu einem Idealismus, der die Subjektivität absolut setzt, – wider seine Philosophie geworden, wenn beyde, was bei jenem zweideutiger ist, als bei diesem, aus wahrer Spekulation hervorgegangen sind.« 67

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Endlichen nicht wiederfinden kann), sodass notwendig die höchste Synthese, einseitig als Forderung erhoben, stets eine bloß Gesollte bleiben muss, während dieses Streben selbst die Bewegung des Fortgangs im System ausmacht, welche aber als linear fortschreitende sich nie selbst überwinden und damit nie mit sich selbst zusammenschließen kann: »Ich gleich Ich verwandelt sich in: Ich soll gleich Ich sein; das Resultat des Systems kehrt nicht in seinen Anfang zurük« (DS, GW 4, 45). Das Denken kommt immer wieder auf denselben inneren Widerspruch der Reflexion zurück, aus dessen Ausflucht sich die schlechte Unendlichkeit entwickelte, während doch gerade das Prinzip der Identität in der spekulativen Philosophie den Widerspruch auf der höheren Ebene der Vernunft zunächst hinter sich zu lassen schien. Das Sollen ist hier wieder der praktische Ausdruck der schlechten (verendlichten) Unendlichkeit als unendlicher Progress einer Forderung, die sich nicht nur nie erfüllen kann, sondern selbst auch nicht erfüllen soll: Auf der einen Seite bedarf das Ich in seinem Gegensatz zum Nicht-Ich zu seiner nach und nach vonstattengehenden Verwirklichung stets eines nicht aus ihm abgeleiteten Anstoßes, andererseits muss die Entgegensetzung um der unabhängigen Reinheit des Ichs willen eine absolute bleiben und der unendliche Progress des andauernden Strebens in der Selbstzweck gewordenen Herrschaftsbeziehung zwischen Ich und Nicht-Ich wird als Dauer zum schlechten Abbild und Statthalter der wahren Unendlichkeit. Die Unendlichkeit ist in der Bewegung nicht gegenwärtig, aber das Streben nach ihr ist ohne Ende: Sie geht in ein »Endloses von Endlichkeiten« (DS, GW 4, 44) hinaus, ohne sich je wiederherstellen zu können. – Die Unendlichkeit unbestimmter Dauer (im abstrakten Gegensatz zur Bestimmtheit der Reflexion), die Vermischung von Empirischem und Vernünftigem in der Dimension der Zeit wird zum Ersatz der wahren Unendlichkeit im zur ewigen Dauer ausgedehnten Streben nach ihr: Das in die Ewigkeit verlängerte Daseyn schließt beydes, Unendlichkeit der Idee und Anschauung in sich, aber beydes in solchen Formen, die ihre Synthese unmöglich macht. Die Unendlichkeit der Idee schließt alle Mannigfaltigkeit aus; die Zeit hingegen schließt unmittelbar Entgegensetzung, ein Aussereinander in sich; und das Dasein in der Zeit ist ein entgegengesetztes, mannichfaltiges; und die Unendlichkeit ist ausser ihr. (DS, GW 4, 46)

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Auf diese Weise steht die wahre Unendlichkeit und das Wiedereinholen der vermeintlichen reinen Selbstbezüglichkeit des Anfangs nur im beständigen Aufschub, so wie diese Form einer leeren, geschichtslosen Zeit ohne eigentlichen Fortschritt in der ständigen Reproduktion ihrer selbst nur für die andauernde Ferne der wahren Unendlichkeit und das vergebliche, aber fortgesetzte Streben nach ihr einsteht. Dieser Zustand muss weiter andauern, sofern die bei sich selbst seiende Synthese nur das stets hinausgeschobene Ende der Bewegung ist – denn die Bewegung des einseitigen Herrschaftsverhältnis ist nur in der Entgegensetzung; sie ist gerade dadurch bedingt, dass die Synthese noch nicht ist –, nicht aber die Bewegung selbst in jedem ihrer Momente ausmacht. Dagegen ist das »wahre Aufheben der Zeit […] zeitlose Gegenwart, d. i. Ewigkeit; und in dieser fällt das Streben und das Bestehen absoluter Entgegensetzung weg« (DS, GW 4, 47). Gegenüber dieser Idee einer Aufhebung des eingangs erwähnten Gegensatzes von absoluter Objektivität und absoluter Subjektivität im menschlichen Geist setzt die fichtesche Philosophie jenen Gegensatz auf der Höhe der spekulativen, vermeintlich den Grundwiderspruch der Reflexion hinter sich lassenden Philosophie in theoretischer wie praktischer Hinsicht fort, allerdings in einer auf fatale Weise gesteigerten Form: Die Fremdheit des in seinem Anspruch unendlichen Subjekts gegenüber der objektiven, sich in der Reflexion konstituierenden Erscheinung wird nicht nur mit einer Flucht aus der Sphäre der Endlichkeit in Richtung auf eine jenseitige Unendlichkeit beantwortet, sondern geht mit der Forderung einher, diese leere Unendlichkeit einer unbestimmten Freiheit des Ich-Subjekts in der Erscheinung hin zu einer vollständigen Assimilation derselben zu verwirklichen: Um sich als Ich in der Erscheinung zu finden und zu setzen, muss das Ich »seine Erscheinung zernichten« (DS, GW 4, 37). Die objektive Sphäre der Natur als das Andere des denkenden Subjekts wird zur bloßen Negation, zur Schranke des eigenen Sollens herabgesetzt und die Tätigkeit der Reflexion mit dem Anspruch, das Identitäts-Prinzip wiederherzustellen, wird zur »todte[n] und tötende[n] Regel formaler Einheit, in die Hand der Reflexion gegeben« (DS, GW 4, 52). Dasjenige, was als Mangelhaftigkeit der Reflexion im Hinblick auf die Totalität von Bestimmtheiten empfunden und ausgesprochen wurde: das ewig mangelhafte Fortschreiten in der Immanenz zeitlicher Linearität als nie bei sich selbst seiendes Abbild der angestrebten Unendlichkeit, kehrt als schlechte Unendlichkeit in der dialektischen Formel einer verendlichten Unendlichkeit in Fichtes Be49 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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griff des perennierenden Sollens wieder, welches in seiner Verhältnisbestimmung von Freiheit und Natur genau die Herrschaftsdialektik des schillerschen Barbaren an den Tag legt und damit zugleich die fatale Selbstverfehlung des neuzeitlichen Menschen in der Verwirklichung einer leeren (in seinem Grunde ausschließlich negativen) Freiheit auf den Punkt bringt. Der zur Vernunft erwachte Mensch, welcher, indem er nach absoluter Gegenwart in der Welt strebt, seine Gegenwartslosigkeit auf Dauer stellt (welche für die zur empirischen verendlichte Unendlichkeit einsteht), hat nach Hegels Differenzschrift in Prinzip und System der fichteschen Philosophie sein philosophisches Programm gefunden: [Die] Synthese des Beherrschens ergiebt sich auf folgende Art; dem reinen Triebe der auf absolutes Selbstbestimmen zur Thätigkeit um der Thätigkeit willen geht, ist entgegen ein objektiver Trieb, ein System von Beschränkungen; 68 indem sich Freyheit und Natur vereinigen, giebt jene von ihrer Reinheit, diese von ihrer Unreinheit auf; die synthetische Thätigkeit, damit sie doch rein und unendlich sey, muß gedacht werden als eine objektive Thätigkeit, deren Endzweck absolute Freyheit, absolute Unabhängigkeit von aller Natur ist, ein nie zu erreichender Endzwek; eine unendliche Reihe, durch deren Fortsetzung das Ich absolut = Ich würde; d. h. Ich hebt sich als Objekt selbst auf, und damit auch als Subjekt; aber es soll sich nicht aufheben; so gibt es für Ich nur eine mit Beschränkungen, Quantitäten erfüllte, unbestimmbar verlängerte Zeit, und der bekannte Progreß soll aushelfen; wo die höchste Synthese erwartet wird, bleibt immer dieselbe Antithese der beschränkten Gegenwart, und einer ausser ihr liegenden Unendlichkeit. Ich = Ich ist das Absolute, die Totalität, ausser Ich nichts; aber so weit bringt es Ich im System nicht, und wenn die Zeit eingemischt werden soll, nie; es ist absolut mit einem Nicht-Ich afficirt, und vermag sich immer nur als Quantum von Ich zu setzen. (DS, GW 4, 50)

Nicht jede Einseitigkeit in einem dialektischen Verhältnis – auch dann nicht unbedingt, wenn sie der Dialektik der Herrschaft verfällt – geht in die schlechte Unendlichkeit über. Sie wird dort zum Problem, wo es in der Reflexion gewissermaßen vorzeitig ums Ganze geht: Der unendliche Progress bezeichnet hier den notwendigen Verlauf eines Denkens, in welchem ein Unendliches in seiner abgeschlossenen Selbstbezüglichkeit unmittelbar, ohne die Vorgeschichte, des-

Der Begriff des ›Triebs‹ scheint sich hier direkt an Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I,2, 418 f. zu orientieren.

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sen vermitteltes Resultat sie ist, am Anfang steht (das fichtesche Ich = Ich), und in der konkreten Mannigfaltigkeit der Endlichkeit sich in seinem absoluten Anspruch wieder einholen und kreisförmig mit sich zusammenschließen soll, als vermittelte Unmittelbarkeit also, die nie erreicht werden kann, da eine selbst nicht vermittelte Unmittelbarkeit den Anfang macht (der negative Gang der Reflexion gerät selbst nie auf einen unvermittelten Punkt, kann also keine anfängliche Unmittelbarkeit aus sich wieder einholen; daher die Trennlinie zwischen Ich und der Endlichkeit der Natur, die aber auf jenes zurückschlägt). Beide Programme, das fichtesche und das hegelsche, stehen sich im Hinblick auf die Reflexion genau entgegen: Das Prinzip der Spekulation als reines Denken seiner selbst in abgeschlossener Selbstbezüglichkeit ist Fichte Anfang, Hegel aber Resultat einer sich in seiner Bewegung selbst zum Unendlichen aufhebenden Reflexion, der die Unendlichkeit der Vernunft in ihrem absoluten Anspruch und der Notwendigkeit ihrer Bewegung bereits innewohnt, wenn auch als zunächst noch verborgene, da es in seiner anfänglichen Leere noch nicht als konkretes Bewusstsein auf sich bezogen ist. In diesem Sinne ist die schlechte Unendlichkeit immer das notwendige Resultat eines vorzeitigen Abbruchs der Reflexion, bevor sich in ihr die Unendlichkeit der Vernunft als solche wiederherstellen konnte. Muss dann aber das Problem Fichtes nicht auch bei Spinoza auftauchen? Wie gesehen wird Hegel später, in seiner Spinozakritik der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, auch diesem vorwerfen, das Absolute unmittelbar, im Vergessen der vorangegangenen Abstraktionsleistung, an den Anfang gestellt zu haben, – allerdings nicht als absolutes Subjekt, sondern als absolutes Objekt (so, wie sich die Vorrede der Phänomenologie – eigentlich die Vorrede zum System der Wissenschaft, dessen Propädeutik die Phänomenologie darstellen sollte – gegen den frühen Schelling wendet, der in seiner Identitätsphilosophie ein unmittelbares Subjekt-Objekt an den Anfang stellte). Allerdings entsteht doch dadurch, dass hier nicht ein Subjekt, sondern ein Objekt am Anfang steht, ein entscheidender Unterschied, nämlich, dass hier vollkommen das Interesse des Subjekts nach unendlichem Selbstbezug als sich in seinem Gegenüber wiedereinholendes fehlt (wovon nämlich bei Spinoza abstrahiert wurde), welches bei Fichte die ganze Bewegung antreibt. Daher kann nicht gesagt werden, dass Spinoza der schlechten Unendlichkeit unterläge: Schlechte Unendlichkeit beschreibt immer den dialektischen Umschlag der Unendlichkeit aus ihrem Gegensatz zur Endlichkeit in 51 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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dieselbe. Bei Spinoza besteht überhaupt kein Anspruch der Substanz, sich aus ihrer leeren Abstraktheit fortzubewegen, sie ruht in sich und kann daher auch nicht weiter fortschreiten und umschlagen. – Eine absolute Substanz ist nicht genötigt, sich in ihrem Anderen (als ihren endlichen Modi) wiedereinzuholen, sie bleibt, was sie ist; das Ich hingegen muss sich wiederherstellen, um Ich zu sein. Wenn nun aber die Reflexion (in ihrer negativen Bewegung an einer endlosen ›Kette der Endlichkeiten‹ ; vgl. DS, GW 4, 6) nie auf einen Punkt kommt, der nicht negativ vermittelt ist, wie ist dann ein Selbstbezug auf die in ihrer Notwendigkeit sich unbewusst vollziehende, selbst unendliche und seiende 69 Vernunft möglich? Ein Vorbild für eine gelingende, sich in ihrer Negativität selbst zur Unendlichkeit aufhebende endliche Reflexion sieht Hegel bereits in der Jenaer Zeit (später noch sehr viel deutlicher) im antiken Skeptizismus, den er in seinem Aufsatz über das Verhältniss des Skepticismus zur Philosophie aus dem Jahre 1802 deutlich gegen ein neuzeitliches Wiederaufkeimen des theoretischen Skeptizismus abzugrenzen sucht – hier gegen G. E. Schulze, 70 in späteren Jahren vor allem gegen Friedrich Schlegel gerichtet. Im antiken Sinn sei, nach Hegel, der Skeptizismus Ausdruck der Einsicht, dass alles, was der Verstand oder die Erscheinung gibt, ein Wankendes, also in seiner negativen Bestimmtheit ein Vergängliches ist (vgl. VSP, GW 4, 214). Dieser Skeptizimus ist darin aber nicht Selbstzweck, er erweist vielmehr im Gang des Zweifels (aber nicht ohne ihn) die bei sich bleibende Freiheit des Zweifelnden gegenüber der fortgesetzten Vergänglichkeit der Gegenstände des Bewusstseins. Er richte sich seinem ganzen Anspruch nach gegen den Dogmatismus des gemeinen Bewusstseins, welcher ein Endliches (d. h. mit Negation Behaftetes) als absolut setzt, und bezeugt im Aufzeigen des dialektischen Verschwindens aller Endlichkeiten die positive Freiheit der Vernunft über die NaturnotwendigDenn wenn die Vernunft als Notwendigkeit in der Reflexion anwesend ist, dann ist die Vernunft auch, solange reflektiert wird (›Sein‹, so Hegel später in der Logik, ist Unmittelbarkeit; daher kann man wohl sagen, dass bereits dieses Sein der Vernunft der dortigen Formel vermittelter Unmittelbarkeit entspricht – so, wie sie auch im umgedrehten kosmologischen Gottesbeweis Hegels als seiend erscheint: das Nichtsein der Endlichkeit ist das Sein der Vernunft). 70 Nach Ella Csikós setzt die Kritik an Schulze die Einheit von Dogmatismus- und Dualismuskritik beim Jenaer Hegel (hier: gegen die Gewissheit der inneren Welt im neuen Skeptizismus) – die sich ja, nach unserer Interpretation, bereits in der Differenzschrift findet; vgl. Csikós 2002, 88. 69

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keit, indem er diese in ihrer Gesamtheit für Nichts erkennt (vgl. VSP, GW 4, 215 f.): [Der Skepticismus] anticipirt in dem Individuum dasjenige, was die in der Endlichkeit der Zeit auseinander gezogene Nothwendigkeit an dem bewußtlosen Geschlechte bewußtlos ausführt; was diesem für absolut Eines und ebendasselbe und für fest, ewig und überall gleich so beschaffen gilt, entreißt ihm die Zeit […]. (VSP, GW 4, 216)

Die Selbstwiderlegung jedes endlichen Bewusstseins in der Zeit, überhaupt die Dominanz des Geschichtlichen im endlichen Bewusstsein und der Fortschritt der Geschichte als sich selbst in der Erinnerung ihres Weges konkretisierender Selbstdarstellung der Vernunft durch die Stufen der fortgesetzten Vergänglichkeit ihrer endlichen Bestimmungen hindurch, deutet bereits hier direkt auf die Methodik der Phänomenologie hin (die schlechte Unendlichkeit als Resultat eines vorzeitigen Abbruchs der Reflexion ist selbst Inbegriff einer in sich kreisenden Geschichtslosigkeit, welche aus jener wahren Geschichte herausgefallen ist und aus ihrer eigenen Immanenz heraus den Anschluss nicht wiederzufinden vermag). Zunächst aber wird dieses Modell von Hegel im selben Jahre noch einmal gegen Fichte angewandt, nämlich unter dem Gesichtspunkt des Tragischen.

I.1.2.3. Fortsetzung der Fichtekritik im Naturrechts-Aufsatz im Hinblick auf Hegels Tragödienmodell In seinen beiden Aufsätzen über das Naturrecht aus den Jahren 1802/ 03 beschreibt Hegel Fichtes Grundlagen des Naturrechts als Theorie der Möglichkeit eines an sich seienden, absolut bestimmten Rechts, dem geschichtlichen Paradigma des hegelschen Skeptizismus-Begriffs (der Vernunft als nur im Werden seiend) also genau entgegengesetzt. Der Fehler zeige sich sogleich darin, dass dieses Naturrecht in letzter Konsequenz nur Abstraktion von aller Bestimmtheit, leere Un-Endlichkeit sein könne, die als Negativ-Absolutes zum wahren Absoluten erklärt werde (vgl. NR, GW 4, 433). Dieses wird also nicht in seiner Negativität, sondern als fixierte Einheit gegen die Differenz der Endlichkeit gefasst, verfällt damit aber, der Allgemeinheit des Gesetzes absoluter Negativität gemäß, selbst dem Übergang in sein Entgegengesetztes:

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[Wenn] die Unendlichkeit fixirt und vom Absoluten [sc. dem ›absoluten Begriff‹ als ›Prinzip der Entgegensetzung und die Entgegensetzung selbst‹, D. U.] abgesondert wird, so zeigt sie sich in ihrem Wesen, das Gegentheil ihrer selbst zu seyn, und äfft die Reflexion, die sie festhalten, und eine absolute Einheit in ihr ergreiffen will, dadurch, daß sie schlechthin auch das Gegentheil davon, eine Differenz und Vielheit herbeyführt und so zwischen diesem Gegensatz, der sich unendlich reproducirt, nur eine relative Identität erlaubt und also selbst als Unendlichkeit das Gegentheil ihrer selbst, absolute Endlichkeit ist. Und indem sie so isolirt wird, ist sie selbst nur die kraftlose, von der wahrhaft vernichtenden Macht der Vernunft verlassene Form, welche die Bestimmtheiten in sich aufnimmt, und beherbergt, ohne sie zu vernichten, sondern sie im Gegentheil verewigt. (NR, GW 4, 441)

Wenn aber das Unendliche auch bei Hegel als in absoluter Selbstbezüglichkeit unverlierbar bei sich bleibend gefasst wird, wie ist dann im Bereich des Sittlichen das Verhältnis des absoluten Begriffs zur Geschichtlichkeit des endlichen Bewusstseins und damit der augenscheinlichen Positivität des Rechts in seiner Vergänglichkeit zu verstehen? – Das Paradigma für dieses Geschehen ist die klassische Tragödie, dergestalt, dass der absolute Begriff die Rolle des Dichters und Zuschauers zugleich einnimmt, welcher nicht in seiner unmittelbaren Entäußerung, dem Standbild seiner endlichen und darin gegensätzlichen Erscheinungen auf der Bühne, sondern in ihrem notwendigen Untergang aus der Eigengesetzlichkeit des dramatischen Fortgangs ihrer konkreten Widersprüche die Erkenntnis über sich selbst erlangt: Die Stufen des endlichen Bewusstseins werden also als das Drama eines in der endlichen Objektivität (als seine Erscheinung) nach und nach Gestalt gewinnenden Absoluten gefasst (und zwar im Untergang der je einzelnen Gestalten), welches sich im Zuge der Bestimmung seiner selbst in seine endlichen Gestalten entäußert hat und in deren notwendigem Vergehen, im Widerstreit der endlichen Bestimmtheiten untereinander, sich auf sich als nunmehr wissendes zurückbezieht: Es ist dieß nichts anders als die Aufführung der Tragödie im sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt, daß es sich ewig in die Objectivität gebiert, in dieser seiner Gestalt hiemit sich dem Leiden und dem Tode übergibt, und sich aus seiner Asche in die Herrlichkeit erhebt. (NR, GW 4, 458 f.) 71 71 Zum engen Zusammenhang des Naturrechts-Aufsatzes mit dem Tragödienverständnis der Phänomenologie, dort vor allem im Gegensatz zur späteren Auslegung

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In seiner Objektivität muss das Göttliche als Widerstreit zweier Naturen erscheinen, nämlich in der differenzierten Endlichkeit der Natur und der indifferenten Einheit des sich im Widerspruch der endlichen Bestimmtheiten durchgängig erhaltenden Göttlichen. – Es sind zuallernächst die Eumeniden aus der Orestie des Aischylos, welche das Tragödienmodell für diesen Widerstreit des Göttlichen mit sich selbst in Gestalt des differenzierten Rechts der Eumeniden und dem indifferenten Licht Apolls geben, welcher dort seine Versöhnung durch Athene als selbst ›in die Differenz verwickelten‹ Gott findet (vgl. NR, GW 4, 459), indem sie die Eumeniden ebenfalls zur göttlichen Macht verklärt und in ihrer ausgesöhnten Form als lebendigen Leib des Geistes anerkennt: einstehend für das Einssein von Unendlichkeit und seiner Realität (als das Andere seiner selbst) in der sittlichen Natur (vgl. NR, GW 4, 462). Der Geist wird sich auf diese Weise im Gang durch die Endlichkeit und seiner Zurücknahme in sich selbst seiner eigenen Einheit bewusst und konkret; er ist in jedem Moment seiner Bewegung das nie erreichte Ideal der fichteschen Philosophie, der, sofern er das Anschauen seiner als seiner selbst oder das absolute Erkennen ist, in dem Zurücknehmen des Universums in sich selbst, sowohl die auseinandergeworfene Totalität dieser Vielheit, über welche er übergreift, als auch die absolute Idealität derselben [ist], in der er dieß Außereinander vernichtet, und in sich als den unvermittelten Einheitspunkt des unendlichen Begriffs reflectirt. (NR, GW 4, 464)

in den Vorlesungen Hegels der Berliner Zeit gefasst, vgl. Schulte 1992. Dagegen plädiert die vorliegende Arbeit allerdings für einen bruchlosen Zusammenhang der verschiedenen Tragödienmodelle, sofern dasselbe Problem wahrer und schlechter Unendlichkeit sowie derselbe Gedanke der Unendlichkeit des absoluten Begriffs (als in der Negativität der Endlichkeit sich wiederum negativ auf sich beziehend) seit der Jenaer Zeit zugrundeliegt und im Wesen unverändert bleibt. Gerade der Vergleich der Antigone-Modelle wird zeigen, dass sowohl dasjenige der Phänomenologie als auch das der Berliner Vorlesungen (eine angemessene Edition Heinrich Gustav Hothos vorausgesetzt) übereinstimmen und als dasselbe Modell verhandelt werden können.

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I.2. Die Phänomenologie des Geistes

I.2.1. Einheit der Widersprüche im System Die Forderung, anders als Spinoza, das Wahre nicht bloß objektiv als abstrakte Substanz in Negation aller Endlichkeit, sondern ebensosehr als Subjekt zu fassen (vgl. Phän., GW 9, 18), ist die direkte Konsequenz aus den kritischen Schriften der Jenaer Zeit, sofern dieser Satz nichts anderes als die zuletzt in der Tragödie im Sittlichen aufgezeigte Bewegung des Sichselbstsetzens des Absoluten (als seiend) in der Vermittlung seines Sichanderswerdens mit sich selbst in doppelter Negation bedeutet (als sich in der Endlichkeit als seinem Anderen entäußernde und in dessen immanenter Selbstvernichtung wiedereinholende Selbstbezüglichkeit). Ein solches Absolutes kann nicht unter Verdrängung seiner Vorgeschichte als unmittelbares Prinzip an den Anfang gesetzt werden, wie dies bei Fichte der Fall war, wodurch sich die unendliche Bewegung des Sich-Wiedereinholens zur empirischen Unendlichkeit der Dauer verendlichte; vielmehr muß das Absolute sich als auf sich in seinem Anderen bezogene Einheit im geschlossenen System einer sich vollendenden Bewegung der Endlichkeit erweisen, als Resultat der an sich festhaltenden und sich ihres zurückgelegten Weges stets erinnernden Reflexion. – Die Wahrheit muss Gestalt erlangen, und dies kann sie nur im wissenschaftlichen System als organische Einheit der Widersprüche (vgl. Phän., GW 9, 11), 72 in welchem sich der reflektierende Geist als tragischer wiederfindet, sobald er sich in seinen ersten Schritten im Zweifel von der unmittelbaren Sicherheit von Glauben und Gewissheit entfremdet hat und sich des Verlustes dieser abstrakten Einheit und der Endlich-

Der hegelsche Widerspruchsbegriff hat daher eine ganz andere Funktion als die kantischen Antinomien der reinen Vernunft: Was bei diesem ein Grenzbegriff des Denkens war, rückt bei jenem ins Zentrum (vgl. Arndt 2004, 116–120).

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Die Phänomenologie des Geistes

keit aller Inhalte seines Bewusstseins gewahr wird (vgl. Phän., GW 9, 12). Diese bereits in der Differenzschrift formulierte Selbstüberwindung des Verstandes zur Vernunft (hier: »So ist also die Verständigkeit ein Werden, und als diß Werden ist sie die Vernünftigkeit«; Phän., GW 9, 40) durch die Reflexion der Stufen des endlichen Bewusstseins hindurch bezeichnet das Programm der Phänomenologie, wie es in der Vorrede zum System der Wissenschaft formuliert wird, als dessen erster, in die reine Wissenschaft einführender Teil sie konzipiert ist. Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder sich selbst Werden, zu seyn. (Phän., GW 9, 19) 73

Jeder Anfang ist nur ein Allgemeines, jeder Schritt darüber hinaus ein negativer und darin ein Sichanderswerden des Allgemeinen, eine Besonderung also, die zurückgenommen werden muss, wohingegen dieses Wiedereinholen seiner selbst in seinem Anderen keine Rückkehr zur noch abstrakten Leere der unmittelbaren Allgemeinheit ist, sondern eine Rückkehr als Wissendes, als sich in seinem Anderssein erkannt Habendes und bewusst Gewordenes (vgl. Phän., GW 9, 19 f. u. 22 f.). Das Resultat ist als Wissen vermittelte Unmittelbarkeit (darin seiend) 74 im Gegensatz zur anfänglichen abstrakten Unmittelbarkeit, sofern es seine Vermittlung nicht, wie alles endliche Dasein, außer sich hat, sondern selbst die Einheit der Bewegung in der Reflexion des Endlichen ist. Das Selbstbewusstsein hat nun diese Einheit in sich zu verwirklichen, indem es sich, seine Spaltung in Bewusstsein und seinen Gegenstand Stufe für Stufe überwindend, in eins mit sich setzt: Zu eben diesem Standpunkt der Wissenschaft habe die Phänomenologie propädeutisch dem Individuum die ›Leiter‹ zu reichen (vgl. Phän., GW 9, 23). Sie selbst bewegt sich im Element des unmittelbaren Daseins (dies unterscheidet sie von der wahren Wissenschaft im Sinne Hegels; vgl. Phän., GW 9, 24 u. 29 f.) und durchläuft die geschichtlichen Gestalten des Bewusstseins in ihrer notwendigen Folge, wie sie dem konsequent Reflektierenden nacheinander entstehen muss, sofern der Walter Jaeschke weist hier zu Recht darauf hin, dass dieser Gedanke (das Wahre sei das Ganze) bereits in der Differenzschrift ausgedrückt wurde, vgl. Jaeschke 2010, 111. 74 Vgl. Kap. I.1.2.2. Anm. 69. 73

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dem unmittelbaren Bewusstsein erscheinende Verstandeswiderspruch eines fortgesetzten Gegensatzes von dem Ich als Selbst des Bewusstseins und dem ihm negativen Gegenstand beibehalten wird; anders gesagt: Das Element der Phänomenologie ist das der unmittelbaren Erfahrung, in welchem sich der seiner selbst unbewusste Geist in der Sphäre seiner Entfremdung Gegenstand wird, einer Bewegung also, an deren Ende sich die Ungleichheit des Ichs zu seinem Gegenstand zugleich als Ungleichheit der Substanz zu sich selbst erweist (und sich damit die Vernunft in der Tätigkeit des Verstandes verwirklicht hat). Der Anfang im erscheinenden Bewusstsein, in seiner Trennung von Selbst und Gegenstand, steht bereits unter dem Vorzeichen der Entfremdung des absoluten Geistes von sich; die Einsicht, dass beide Trennungen derselben Negation unterliegen, erfasst aber nur dort die wahre Einheit, wo sie, als Resultat, zu sich zurückgekehrt ist. Der Geist wird […] Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein anderes, d. h. Gegenstand seiner Selbst zu werden und dieses Andersseyn aufzuheben. Und die Erfahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrene, d. h. das abstracte, es sey des sinnlichen Seyns oder des nur gedachten Einfachen, sich entfremdet, und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückgeht, und hiemit itzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt, wie auch Eigenthum des Bewußtseyns ist. (Phän., GW 9, 29)

Der Gang des Bewusstseins endet somit im Wissen. Die Reflexion im Element des unmittelbaren Daseins hat sich dann überwunden zur Form der Einfachheit (bzw. reinen Selbstbezüglichkeit) im Denken des Denkens als Element der Logik, die hier ihren Anfang nehmen wird. Die Konsequenz, mit der dieser Weg zur Einfachheit aus dem Zwiespalt des Bewusstseins heraus gegangen wird, ist aber wieder die Voraussetzung für das Gelingen dieser Selbstüberwindung, sofern der Verstand als bestimmende Tätigkeit des fortgesetzten Scheidens (vgl. Phän., GW 9, 27) sich nur aufhebt, wenn sie als solche in der ihr innewohnenden Notwendigkeit durchgehalten wird, welche die verborgene Anwesenheit der Vernunft bezeugt: Das Ich des Bewusstseins muss regelrecht gezwungen werden, im ›Angesicht des Negativen‹ (vgl. Phän., GW 9, 27), der restlosen Verflüssigung aller Unmittelbarkeit im Gang absoluter Negativität zu verweilen, da jeder Abbruch der Reflexion den Zwiespalt bestehen lässt und zu jener Unvollkommenheit derselben führt, welche das Ich in seinem unend-

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lichen Anspruch der schlechten Unendlichkeit verfallen lässt. Dagegen bezeugt das Ich in seiner rückhaltlosen Selbstaufgabe seine Einheit mit dem Absoluten wie dessen Phönixleben einer tragischen Selbstentäußerung 75 und Wiedergewinnung als Wissendes: [N]icht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt, und in ihm sich erhält, 76 ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerissenheit sich selbst findet. (Phän., GW 9, 27)

I.2.2. Der ›sich vollbringende Skeptizismus‹ als Movens und Form einer Geschichte des Selbstbewusstseins I.2.2.1. Zweifel und Verzweiflung Der vorhin beschriebene Weg wird in der Einleitung der Phänomenologie unter dem Titel des ›sich vollbringenden Skeptizismus‹ verhandelt, als Weg des Zweifels also, oder eigentlicher (im Hinblick auf das rückhaltlose Sichverlieren des Ichs in der absoluten Negativität): der Verzweiflung (vgl. Phän., GW 9, 56). Das, was dem bewussten Ich zunächst das unmittelbar Gewisse ist, nämlich das natürliche Bewusstsein in seinem Gegensatz von Selbst und Gegenstand, verliert auf dem Wege der skeptischen Reflexion nicht nur seine Unmittelbarkeit, sondern auch seine Wahrheit: Sie ist die bewusste Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens (vgl. Phän., GW 9, 56). Dieses restlose Anheimgeben an die alle unmittelbare Gewissheit aufhebende Negativität ist deshalb Verzweiflung zu nennen, weil sie nicht nur ein Zweifel an einzelnen verstreuten Erscheinungen ist Vgl. Kap. I.1.2.3. Das ›in ihm‹ (auch: »in der absoluten Zerissenheit«) sei hier nochmal betont: Der Tod ist nicht Grenzbegriff, vor dem sich das Leben in negativer Absetzung mit sich vermitteln könnte, sondern die absolute Vergänglichkeit selbst – das notwendige Vergehen aller Unmittelbarkeiten in ihre Negation – ist die Wirklichkeit des Geistes. Das Festhalten am Leben ist vergebliches Festhalten an der Unmittelbarkeit. – Ich verweise hier, für eine weiterführende Lektüre, auf Kühn 2004. – Wenngleich aus gänzlich anderer Perspektive und anderem Interesse (schon der Titel seiner Untersuchung zeigt die spezifisch phänomenologische Lektüre an), meine ich Kühns Hegelinterpretation (im Kapitel »Entfremdung als ›Tod‹«) in Einklang mit der obigen lesen zu können (Tod als »einzige Erscheinung des Lebens«; Kühn 2004, 359 – ich verweise hier auch auf den umgekehrten kosmologischen Gottesbeweis Hegels, wie er in Kap. I.3.3.3. behandelt wird).

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(und darin derselben Zufälligkeit unterworfen wäre), sondern an den ganzen Umfang des erscheinenden Bewusstseins ansetzt (während sich in der uneingeschränkten – bzw. alle Schranken in sich begreifenden und einschließenden – Ganzheitlichkeit und Immanenz absoluter Negativität zugleich ein in sich geschlossenes und allseitig vermitteltes absolutes System realisiert). 77 Dass dieses Wagnis allerdings nicht im bloßen, auf Glauben basierenden Vertrauen in die Vernünftigkeit der Welt unternommen wird, welche sich am Ende schon erweisen werde, tritt bereits in den ersten Schritten zutage: Die skeptische Reflexion kann im Zuge ihrer inneren Gesetzmäßigkeit niemals nur negativ sein, da jedes Bezweifeln (als Bestimmen) einer unmittelbaren Gewissheit dieselbe zwar, als Unmittelbarkeit, in Nichts aufhebt, aber in ein ebenso bestimmtes Nichts, da es immer durch dasjenige bestimmt ist, dessen negatives Resultat es ist (damit trägt es auch die Erinnerung an das Negierte in sich: als aufgehobene). Zwar ist dieses bestimmte Resultat selbst wiederum in seinem unmittelbaren endlichen Dasein der Dialektik des Vergehens und damit dem Zweifel unterworfen, geht aber wieder ebenso in seinem Aufheben in ein bestimmtes Resultat über, wodurch sich im Ganzen eine in ihrer Notwendigkeit bei sich selbst bleibende Bewegung konstituiert (und somit den Reflexionsbegriff der Differenzschrift vollendet), die nach und nach durch die vollständige Reihe ihrer sich mit Notwendigkeit ergebenden und als Vergangenheit in ihr aufgehobenen Gestalten einen immer konkreter werdenden Inhalt gewinnt, dessen Allgemeinheit zwar an sich gegeben sein muss, der sich aber nur in dieser geschichtlichen Gestalt verwirklicht, worin jede Negation zugleich ein Übergang ist. 78 Vgl. Phän., GW 9, 56. Klaus Vieweg verweist in seiner Analyse des hegelschen Skeptizismus-Aufsatzes zu Recht darauf, dass Hegels Aufwertung des antiken Skeptizismus in seiner Jenaer Zeit (im Zusammenspiel mit der Gegenwartskritik in Glauben und Wissen) als kritische Waffe gegen alle zeitgenössischen (dogmatizistischen) Strömungen philosophischer Grenzziehungen und unreflektierten Sich-Berufens auf eine Unmittelbarkeit des Wissen dient; vgl. Vieweg 2002, 22 f. – Übrigens scheint auch hier bereits eine Kritik an Kant zugrundezuliegen, zentriert auf die Critik der Urtheilskraft. Ich verweise hierzu auf eine These Martin Bondelis, »daß alle Ideen, auch jene, für die eine Legitimation gleichzeitig im Bereich der theoretischen Vernunft erforderlich ist, ihren letzten Grund in der praktischen Vernunft, im Sittengesetz haben« (Bondeli 2002, 108). – Die nochmalige Unterminierung der kantischen Postulats-Lehre durch ihre ästhetische Grundlage beim späteren Hegel ist hier Gegenstand von Kap. I.4. 78 Vgl. die Darstellung des antiken Skeptizismus in der GeschPh II, TWA 19, 359 f.: 77

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Damit aber der Weg des sich vollbringenden Skeptizismus sich zu einer Geschichte des Selbstbewusstseins gestalten kann, muss dasselbe aus seiner Unmittelbarkeit heraus in seinem Anderen (seiner eigenen negativen Bestimmtheit) einen Haltepunkt finden, über den es sich auf sich selbst zurückbezieht und konkret wird; jenes darf also nicht ein bloß gleichgültiges Anderes schlechthin sein, das ihm nur Grenze wäre (worüber sich alles endliche Dasein abstrakt negativ bestimmt und darin vergeht). Es findet sich daher eigentlich erst in seinem Anundfürsichsein auf der Stufe der Sittlichkeit, indem das Andere selbst ebenso ein Selbstbewusstsein ist, für das es ist und darin für sich ist: durch das es als Selbstbewusstsein in der affirmativen Struktur doppelter Negation anerkannt ist (Phän., GW 9, 109). 79

I.2.2.2. Erste Stufe des Selbstbewusstseins: Herrschaft und Knechtschaft Das Selbstbewusstsein, das nur an und für sich ist, indem es für ein anderes an und für sich (d. i. anerkannt) ist, beginnt zwar, wie alle Bestimmung eines endlichen Daseins, mit der leeren Forderung der »[Der denkende Skeptizismus ist dieses], von allen Bestimmten und Endlichen aufzuzeigen, daß es ein Wankendes ist. […] Näher ist nun das Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie dies, daß derselbe die Dialektik alles Bestimmten ist. Von allen Vorstellungen vom Wahren kann die Endlichkeit aufgezeigt werden, da sie eine Negation, somit einen Widerspruch in sich enthalten. Und das gewöhnliche Allgemeine, Unendliche ist hierüber nicht erhaben; denn das Allgemeine, was dem Besonderen, das Unbestimmte, was dem Bestimmten, das Unendliche, was dem Endlichen gegenübersteht, ist eben auch nur bestimmt, – es ist nur die eine Seite, und, als solche, bestimmt. So ist denn der Skeptizismus gegen das verständige Denken gerichtet, welches die bestimmten Unterschiede als letzte, als seiende gelten läßt. Der logische Begriff ist ebenso selbst diese Dialektik; denn die wahrhafte Kenntnis der Idee ist diese Negativität, die im Skeptizismus ebenso einheimisch ist. Und der Unterschied liegt nur darin, daß die Skeptiker bei dem Resultat als einem Negativen stehen bleiben: dies und dies hat einen Widerspruch in sich, also löst es sich auf, also ist es nicht. Dies Resultat ist so das Negative; aber das Negative selbst ist wieder eine einseitige Bestimmtheit gegen das Positive; d. h. der Skeptizismus verhält sich nur als Verstand. Er verkennt, daß diese Negation ebenso affirmativ ist, ein bestimmter Inhalt in sich; denn es ist Negation der Negation, näher die unendliche Affirmation, die sich auf sich beziehende Negativität.« 79 Zu Recht weist in diesem Zusammenhang George Armstrong Kelly darauf hin, dass Hegel hier parallel zu Fichtes Naturrechtslehre (mit der er sich in Jena kritisch auseinandersetzte) ein zweites Ich, damit die Gesellschaft an den Aufgang des Selbstbewusstseins setzt (vgl. Kelly 1973, 194 f.).

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Selbstaffirmation als einfachen Fürsichseins (der bloß negativen Sichselbstgleichheit durch Ausschluss des Anderen); indem aber der Andere ebenso ein Selbstbewusstsein mit derselben Forderung nach Selbstaffirmation ist, zeichnet sich diese erste Stufe des Sittlichen durch die Dynamik eines Kampfes um Anerkennung aus, 80 in welchem beide Seiten durch den Gang der Sache selbst gezwungen werden, zur Erlangung ihres Fürsichseins das Wagnis der Verzweiflung einzugehen: nämlich das eigene Selbst zum Pfand zu geben, damit es sich im tatsächlichen Kampf auf Leben und Tod gegen ein anderes Selbst bewähre (vgl. Phän., GW 9, 111), 81 nach dessen realem Geschehen beide Seiten nicht mehr dieselben sein werden wie zuvor, – wenngleich das aus dieser Bewegung der beiderseitigen Verachtung des eigenen wie des fremden Lebens resultierende Anerkennungsverhältnis zunächst die Form höchster Entfremdung zweier entgegengesetzter Gestalten des selbstständigen und unselbstständigen Bewusstseins annimmt, worin sich das reale Wechselverhältnis des Kampfes um Anerkennung aufgehoben hat: in dem Verhältnis von Herr und Knecht bzw. der selbstständigen Gestalt des Bewusstseins als Fürsichsein (›Herr‹), das mit sich selbst wiederum durch ein anderes Bewusstsein vermittelt ist, nämlich einem unselbstständigen, dem das Sein für Anderes Wesen ist (›Knecht‹ ; vgl. Phän., GW 9, 112 f.). Da aber das Andere, über das sich der Herr mit sich vermittelt, nicht selbstständig ist, verkehrt sich im Herrn das Gewollte (die Selbstaffirmation über die Anerkennung durch den Anderen) in sein Gegenteil: Beiden Seiten fehlt das erstrebte Moment der Anerkennung durch den Anderen; während aber der Knecht in seinem Zwang zur Arbeit einer selbst- und widerständigen objektiven Welt gegenübersteht, ist dem die Arbeit nur delegierenden Herren die objektive Welt bloß unselbstständiger Gegenstand des Genusses (und der Moment des Genusses ist immer Stehenbleiben in der Unmittelbarkeit, auch wenn diese im nächsten Moment wieder vergeht, nur um wieder und wieder erstrebt zu werden); damit bleibt sein ganzes Tun ein unaufhörMan darf diese Stufe wohl nicht historisch lesen, etwa als eine Art ›Kampf aller gegen aller‹, der tatsächlich einen gewesenen Urzustand der Menschen beschriebe – vielmehr wird hier ein logisch vorgängiger, darin überzeitlicher Zustand einer Begegnung verschiedener Selbste beschrieben, die noch in keinem beide Seiten übergreifenden objektiven Bewusstsein (wie es die Sittlichkeit ist) aufgehoben sind. 81 In dieser Bewegung vollzieht sich auf erzwungene Weise die anfänglich geforderte Verzweiflung des Selbst (welches als Pfand aufgegeben wird), wenngleich im beschränkten Horizont der Nötigung zum Kampf. 80

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liches Nachaußentreten in eine für ihn vollkommen durchlässige Welt, ohne dass je ein Widerhall zu ihm zurückkehren könnte. Gegenüber dem bloßen Nachaußentreten des Herren liegt die Wahrheit des selbstständigen Bewusstseins also im knechtischen Bewusstsein: Ihm ist sein Bewusstsein kein Fixes, sondern als Dienendes und in der Furcht vor dem Herren in sich Zurückgedrängtes flüssig geworden, darin absolute Negativität (vgl. Phän., GW 9, 114). In der Arbeit aus Zwang dient der Knecht zwar einem Anderen, kommt aber darin zu sich selbst. Sein Handeln ist nicht das widerstandslose Nachaußentreten des Herrn in den leeren Raum, sondern in Bezug auf den selbstständigen Gegenstand seiner Tätigkeit ein aufgehaltenes Verschwinden – sein Bewusstsein bildet sich, indem der Knecht sich in seinem Tun gegenständlich wird: [D]as formierende Thun ist zugleich die Einzelnheit oder das reine Fürsichseyn des Bewußtseyns, welches nun in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtseyn kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seyns, als seiner selbst. (Phän., GW 9, 115)

Dieses formierende Tun hat nun einen anderen Charakter als der einseitige Formtrieb im Sinne der Briefe Schillers, denn die Bildung des Knechtes ist eine aus Furcht, und zwar aus der absoluten Furcht des sein Selbst rückhaltlos der Negativität preisgebenden Bewusstseins (dies die Voraussetzung für seine dialektische Verflüssigung), also der äußersten Form des Zweifels als Verzweiflung des ganzen erscheinenden Bewusstseins: Formirt das Bewußtseyn ohne die erste absolute Furcht, so ist es nur ein eitler eigener Sinn; denn seine Form oder Negativität ist nicht die Negativität an sich; und sein Formiren kann ihm daher nicht das Bewußtseyn seiner als des Wesens geben. Hat es nicht die absolute Furcht, sondern nur einige Angst ausgestanden, so ist das negative Wesen ihm ein äußerliches geblieben, seine Substanz ist von ihm nicht durch und durch angesteckt. Indem nicht alle Erfüllungen seines natürlichen Bewußtseyns wankend geworden, gehört es an sich noch bestimmtem Seyn an; der eigne Sinn ist Eigensinn, eine Freyheit, welche noch innerhalb der Knechtschafft stehenbleibt. So wenig ihm die reine Form zum Wesen werden kann, so wenig ist sie, als Ausbreitung über das einzelne betrachtet, allgemeines Bilden, absoluter Begriff, sondern eine Geschicklichkeit, welche nur über einiges, nicht über die allgemeine Macht und das ganze gegenständliche Wesen mächtig ist. (Phän., GW 9, 115 f.)

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I.2.2.3. Der antike Skeptizismus In der erzwungenen Preisgabe und Verflüssigung des Selbst in die Negativität scheint die Freiheit des Denkens auf, indem der Gegenstand dem Bewusstsein nun nicht mehr ein Anderes ist, vielmehr das Denken im Anderen stets bei sich selbst bleibt: In der dienenden Bemächtigung der gegenständlichen Welt als solcher verschwindet nach und nach jegliche Abhängigkeit von einem schlechthin Anderen. Ist der antike Stoizismus im bewusstseinsgeschichtlichen Gang der Phänomenologie als abstrakter Begriff dieser Freiheit des Denkens zu verstehen, so ist der Skeptizismus die Darstellung und tatsächliche Realisierung dieser Freiheit, damit auch Verwirklichung des selbstständigen Bewusstseins, das sich zuerst im Verhältnis von Herr und Knecht darstellte, und sich nun in seiner Vollendung als freies Selbstbewusstsein gegen die vielfache Selbstständigkeit der Dinge stellt und sich als von deren Endlichkeit und Mannigfaltigkeit unberührt zeigt (vgl. Phän., GW 9, 118 f.). Damit ist das zunächst preisgegebene Selbst nun als Unendliches wiedergewonnen und die dialektische Bewegung der Vergänglichkeit alles Endlichen in den Binnenhaushalt des Selbstbewusstseins zurückgebogen und ihr anscheinend, als das in aller Vergänglichkeit bei sich Bleibende und Bestehende, selbst nicht mehr unterworfen: Der Skeptizismus ist bewusste Verzweiflung am erscheinenden Bewusstsein um der Freiheit des Denkens willen: Als Skepticismus […] ist sie [sc. die negative Bewegung des Dialektischen, D. U.] Moment des Selbstbewußtseyns, welchem es nicht geschieht, daß ihm, ohne zu wissen wie, sein Wahres und Reelles verschwindet, sondern welches in der Gewißheit seiner Freyheit diß andere für reell sich gebende selbst verschwinden läßt […]. Was verschwindet, ist das Bestimmte, oder der Unterschied, der auf welche Weise, und woher es sey, als fester und unwandelbarer sich aufstellt. Er hat nichts bleibendes an ihm und muß dem Denken verschwinden, weil das unterschiedne eben diß ist, nicht an ihm selbst zu seyn, sondern seine Wesenheit nur in einem Andern zu haben; das Denken aber ist die Einsicht in diese Natur des Unterschiednen, es ist das negative Wesen als einfaches. (Phän., GW 9, 119 f.)

Auf der anderen Seite aber schlägt diese reine Negativität, die absolute dialektische Unruhe auch auf das denkende Selbst zurück: Zwar ist es selbst als Bewusstsein dasjenige, welches den »Schwindel einer sich immer erzeugenden Unordnung« (Phän., GW 9, 120) hervor64 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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bringt und als Negativität in ihm sich erhält, jedoch fällt es darin, als Gegenüber der bezweifelten Welt, derselben haltlosen Zufälligkeit anheim und muss sich im konsequent durchgehaltenen Zweifel bekennen, ebenso ein zufälliges, einzelnes Bewusstsein zu sein (vgl. Phän., GW 9, 120); – das skeptische Bewusstsein verflüssigt nicht nur alle daseienden Bestimmtheiten in der an ihnen selbst stattfindenden Dialektik der Endlichkeit, es lässt sich selbst in dieser absoluten Nichtigkeit treiben, mit dem ständigen Widerspruch als Begleiter, trotz alledem als das durchgängig Tätige selbst zu sein (während es sich als diese Unmittelbarkeit, sobald sie ergriffen wird, gleichsam unter der Hand verflüssigt). Der Skeptizismus erweist sich im Rückschluss auf sich selbst und das ihn tragende Subjekt als Selbstwiderspruch und ist nur im bloßen Wechsel der auseinandergehaltenen Gegensätze aufrechtzuerhalten. Diejenige Freiheit, die das Selbstbewusstsein im Skeptizismus zu ergreifen suchte, erweist sich als leer, nichtig und ohne Wirklichkeit und die Kontingenz der verstreuten natürlichen Erscheinungen, derer es sich enthoben wähnte, spiegelt sich im Zweifelnden selbst wieder. Diß Bewußtseyn ist also die bewußtlose Faseley, von dem einen Extreme des sichselbstgleichen Selbstbewußtseyns zum andern des zufälligen, verworrenen, und verwirrenden Bewußtseyns hinüber und herüberzugehen. Es selbst bringt diese beyden Gedanken seiner selbst nicht zusammen; es erkennt seine Freiheit einmal als Erhebung über alle Verwirrung und alle Zufälligkeit des Daseyns, und bekennt sich ebenso das andremal wieder als ein Zurückfallen in die Unwesentlichkeit und als ein Herumtreiben in ihr. Es läßt den unwesentlichen Inhalt in seinem Denken verschwinden, aber eben darin ist es das Bewußtseyn eines unwesentlichen; es spricht das absolute Verschwinden aus, aber das Aussprechen ist, und diß Bewußtseyn ist das ausgesprochne Verschwinden; es spricht die Nichtigkeit des Sehens, Hörens und sofort aus, und es sieht, hört und sofort selbst; es spricht die Nichtigkeit der sittlichen Wesenheiten aus, und macht sie selbst zu den Mächten seines Handelns. Sein Thun und seine Worte widersprechen sich immer, und ebenso hat es selbst das gedoppelte widersprechende Bewußtseyn der Unwandelbarkeit und Gleichheit, und der völligen Zufälligkeit und Ungleichheit mit sich. Aber es hält diesen Widerspruch seiner selbst auseinander; und verhält sich darüber wie in seiner rein negativen Bewegung überhaupt. (Phän., GW 9, 120 f.)

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I.2.3. Die vergessene Vorgeschichte des Ich = Ich im unglücklichen Bewusstsein I.2.3.1. Das unglückliche Bewusstsein und seine vorläufige Versöhnung im abstrakten Begriff der Vernunft Das in die Verzweiflung des sich vollbringenden Skeptizismus gegangene Selbstbewusstseins erfährt sich also in konsequenter Anwendung seines Zweifels, sowohl im Hinblick auf den Gegenstand wie auf das Subjekt des Zweifels selbst, als ein sich widersprechendes Bewusstsein. Es bleibt aber gerade in dieser Einheit seiner inneren Dopplung Bewusstsein (ebenso wie das anfänglich erscheinende Bewusstsein nur ein Bewusstsein durch den Gegensatz von Selbst und Gegenstand war), und zwar nicht mehr als das je einseitige Hin und Her des antiken Skeptizismus, sondern als ›unglückliches Bewusstsein‹, das jene Gegensätze als sich widersprechende in sich vereinigt (vgl., Phän., GW 9, 121). Die schwebende Willkür der negativen skeptischen Freiheit und das damit zusammenhängende Fehlen eines die Freiheit realisierenden festen Moments trägt sich auch hier aus dem Skeptizismus, welcher bereits die dialektische Vergänglichkeit allen Endlichen in den eigenen Selbstvollzug invertierte, in das unglückliche Bewusstsein als in sich kreisendes Geschehen fort, das nur mit sich selbst zu tun hat und im Bewusstsein seiner eigenen Unwesentlichkeit seine Erlösung nur in einem unwandelbaren Ansich der Welt finden könnte, welches aber aus dieser Perspektive immer nur ein ungreifbares Jenseits dieser Welt sein kann, in jedem Moment also gleich unerreichbar bleibt, da keine Gegenwart dem unglücklichen Bewusstsein genügen könnte. Das Problem des unglücklichen Bewusstseins besteht nämlich darin, dass nun, wo der Zweifel den Zweifelnden selbst aufzehrt, alle Beständigkeit verloren ist: Es ist nur noch die substanzlose Bewegung des Bewusstseins selbst (vgl. Phän., GW 9, 287). Die Sicherheit des Selbst, wie sie etwa im Stoizismus als geistige Vorstufe des Skeptizismus gegenüber der Wandelbarkeit aller Endlichkeit noch fraglos gegeben war, hat sich im auf sich selbst angewandten Skeptizismus als Schein verflüchtigt; die Substanz ist zerrissen und das unglückliche Bewusstsein erhält sich allein im beständigen Wechsel lose aufeinanderfolgender Bestimmungen aufrecht, der fortgesetzten Gegenwartslosigkeit eines schwebenden Bewusstseins, das seinen zusammenhaltenden Mittelpunkt im Selbst verloren hat (gleichsam ein Vorgriff auf das ›unrettbare Ich‹ am Ende 66 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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des 19. Jahrhunderts. – hier hat die anfängliche Forderung an das Subjekt, sich der absoluten Negativität der Verzweiflung hinzugeben, in der Anwendung des Zweifels auf den Zweifelnden einen Abgrund erreicht). Die skeptische Verachtung der eigenen sinnlichen Einzelheit in seiner augenscheinlichen Kontingenz und Unwesentlichkeit beinhaltet aber im Blick auf diese endliche Einzelheit – ohne dass dies zunächst bewusst ist – das Einnehmen einer solchen Perspektive, welche selbst ein Allgemeines ist, dem die eigene Einzelheit Gegenstand ist. Das Verlassen der endlichen Einzelheit und Einsicht in seine Unwesentlichkeit geschieht selbst vermittels eines Gedankens der Unwandelbarkeit, welcher gegenüber dem Sein des einzelnen Selbst Negativität ist, als diese sich aber erhält und bei sich bleibt, damit in einem anderen, eigentlicheren Sinne als das sich verflüchtigende einzelne Selbstbewusstsein ist und sich als solches erhält. Die Lösung liegt demnach im Ergreifen eines Begriffs des Selbstbewusstseins als Vernunft, dem das Unwandelbare kein Jenseits, sondern selbst die Wirklichkeit ist: der Gewissheit des logos (welche in ihrer Unmittelbarkeit aber nicht mehr als bloße Annahme sein kann), dass alle Wirklichkeit Vernunft, und daher das vernünftige Selbstbewusstsein in der Welt immer nur sich selbst erfährt (vgl. Phän., GW 9, 132). Die Freiheit des Selbst ist nun eine positive: Während der Skeptizismus auf dem Weg zu seiner Einheit im unglücklichen Bewusstsein die eigene Selbstständigkeit als negative Freiheit auf Kosten der Welt als des schlechthin Anderen behauptete, ist die Realität jetzt dem sich als Vernunft verstehenden Bewusstsein nichts Fremdes mehr, vielmehr alle Realität in ihrem Wesen Bewusstsein. Dies entspricht, wenngleich auf einer anderen geschichtlichen Stufe des Bewusstseins, in seinem Inhalt demnach genau dem spekulativen Prinzip des den fortgesetzten Gegensatz der Reflexion überwindenden und in seiner Einheit versöhnenden Idealismus, nämlich als das reine Denken seiner selbst in abgeschlossener Selbstbezüglichkeit, dem die Lösung keine jenseitige mehr ist, sondern im Ich = Ich eine als Selbstbewusstsein in der Welt vollkommen gegenwärtige. Das Problem liegt aber hier, wie auch bereits in der Differenzschrift, in der Unmittelbarkeit, mit welcher diese Gewissheit im Idealismus wie auch im unmittelbar aus der inneren Widersprüchlichkeit des unglücklichen Bewusstseins entspringenden abstrakten Vernunftbegriff ausgesprochen wird: Der Satz, dass das Bewusstsein alle Realität sei, ist hier wie dort nur eine abstrakte Gewissheit und in seinem 67 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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Ausgang vom unglücklichen Bewusstsein auch nur eine Ahnung der Einheit, ohne dass sich aber das Bewusstsein als Reales erwiesen, darin überhaupt erst als Konkretes und Unverlierbares konstituiert hätte. Während nun aber dem unglücklichen Bewusstsein die Wahrheit der Vernunft aufgeht, habe der spätere spekulative Idealismus Fichtes in seiner bloßen Behauptung der Einheit den Weg, der zu ihr führte, und damit auch die Möglichkeit, ihn zu begreifen und den Widerspruch und endlosen Wechsel des unglückliche Bewusstseins tatsächlich hinter sich zu lassen, vergessen (vgl. Phän., GW 9, 132 f.): Die erste Regung der Gewissheit, dass die Vernunft alle Realität sei, hat noch die offene Zukunft seiner Verwirklichung vor sich; die Erhebung desselben zum absoluten Prinzip in all seiner abstrakten Unmittelbarkeit wird hingegen dasjenige als Anfang nehmen, was erst als Resultat sein kann, oder anders ausgedrückt: Was dort Konsequenz eines Skeptizismus antiker Prägung in der abstrakten Einheit seiner Negativität war, demnach im Ausgang desselben noch nicht zum Prinzip erhoben werden konnte, sondern nur die Gewissheit einer Ahnung hatte, hat im Idealismus als absoluter Anfang im Abbruch seines Gewordenseins keine Zukunft mehr. Die erste Regung der Vernunft ist also ebenso wie die Erhebung des Ich = Ich zum spekulativen Prinzip nur die bloße Gewissheit einer abstrakten Einheit, nicht das in seiner Konkretheit gewordene Wissen dieser Einheit; und da jene Gewissheit zunächst nur eine Behauptung ist (wenn sie auch einen Ausblick auf die Versöhnung des unglücklichen, sich in sich widersprechenden Bewusstseins gibt), wird die Einheit des Bewusstseins mit der Realität zunächst nicht dadurch hergestellt, dass sich das Bewusstsein realisiert und vergegenständlicht, sondern dadurch, dass es sich in der Welt als diese abstrakte unendliche Einheit wiederzufinden sucht: Die Vernunft hat daher itzt ein allgemeines Interesse an der Welt, weil sie die Gewißheit ist, Gegenwart in ihr zu haben, oder daß die Gegenwart vernünftig ist. Sie sucht ihr Anderes, indem sie weiß, daran nichts Anders als sich selbst zu besitzen; sie sucht nur ihre eigene Unendlichkeit. […] Die Vernunft ahndet sich als ein tieferes Wesen, denn das reine Ich ist und muß fodern, daß der Unterschied, das mannigfaltige Seyn, ihm als das seinige selbst werde, daß es sich als die Wirklichkeit anschaue und sich als Gestalt und Ding gegenwärtig finde. Aber wenn die Vernunft alle Eingeweide der Dinge durchwühlt, und ihnen alle Adern öffnet, daß sie sich daraus entgegenspringen möge, so wird sie nicht zu

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Die Phänomenologie des Geistes

diesem Glücke gelangen, sondern muß an ihr selbst vorher sich vollendet haben, um dann ihre Vollendung erfahren zu können. (Phän., GW 9, 137 f.)

Der Fortgang dieser Bewegung der Vernunft, die sich eine ihm gemäße gegenständliche Wirklichkeit sucht, kann hier wie dort zunächst nur derjenige des oberflächlichen »Meins« sein: der Inbesitznahme der Welt im Zeichen der Souveränität des Ichs, mitsamt dem Widerspruch als ständigem Begleiter, dass an seinem Eigentum immer noch das fremde Andere bleiben muss, damit die Bewegung aufrechterhalten werden kann (vgl. Phän., GW 9, 138) – eingedenk dessen, dass bei allseitiger Negativität jedes tatsächliche Stehenbleiben (sei es auch als endgültiger Abschluss einer Bewegung) als Unmittelbarkeit in Nichts umschlagen müsste. 82 Die Gewissheit des abstrakten Begriffs der Vernunft verkehrt sich aber nun im Idealismus Fichtes, dort als absolutes Prinzip erhoben, bereits am Anfang seiner Verwirklichung wieder in ein unglückliches Bewusstsein (dem Resultat des konsequenten Skeptizismus in seiner Widersprüchlichkeit, nun aber mit dem Anspruch nach positiver Freiheit), da ihm bereits im ersten Schritt, der Besonderung jener leeren Allgemeinheit, eine Realität entsteht, die in ihrer Mannigfaltigkeit nicht abstrakte Vernunft ist, aber »vernünftig«, d. h. in diesem Sinne der leeren Form einer abstrakten Vernunft, in einseitiger Herrschaftsbeziehung botmäßig werden soll. Ein derart gebildetes Bewusstsein bedarf nun zu seiner Verwirklichung, dem Aufzeigen des ›Meins‹ in allem Sein, des beständigen fremden Anstoßes, über den es erst eine eigene Mannigfaltigkeit des Vorstellens und Empfindens gewinnt. Dem die abstrakte Vernunft an den unmittelbaren Anfang stellenden Idealismus erscheint somit keineswegs alle Wirklichkeit als vernünftig (sie soll es nur werden), vielmehr hat nur das ›Meins‹ Realität und Wert, alles Fremde ist gleichgültig. Das Wiedereinholen der abstrakten Vernunft in der Mannigfaltigkeit der Welt gerät in ein sich selbst nie übersteigen könnendes Streben nach Selbstüberwindung der abstrakten Leere auf dem linearen Wege des eigenen Selbstvollzugs und der Assimilation des mannigfaltigen Anderen an die fortgesetzte, unstillbare Leere desselben, dessen Misslingen im ständigen Eingestehenmüssen der fortgesetzten Gegenwartslosigkeit des Erstrebten (wie auch der unruhigen und sehnsüchtigen Gegenwarts82 Auf gewisse Weise geschieht dies auch dem Resultat der Phänomenologie am Anfang der Logik.

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losigkeit des Strebenden in der Welt – beides sind zwei Seiten derselben Sache) zwar offensichtlich ist, jedoch erhält der Strebende für die Unendlichkeit des Anspruchs der abstrakten Vernunft einen Ersatz in der endlosen Dauer seiner Unerfüllbarkeit: dem perennierenden Sollen (denn beide Unendlichkeiten gleichen sich: Sie sind leer). Ist die anfängliche Gewissheit der Vernunft eine solche, die ihre gegenständliche Wirklichkeit in der Welt sucht, in diesem unmittelbaren Verhältnis aber zum Scheitern verurteilt ist (denn sie ist nirgends in der noch als ein Fremdes verstandenen Natur in ihrer allgemeinen Unselbstständigkeit zu ergreifen), wird hier in seiner unberechtigten Wiederholung über die Entwicklung der Geschichte des Selbstbewusstseins hinweg die schlechte Unendlichkeit eines fortwährend misslingenden Suchens selbst zur Erfüllung seines Strebens, denn als in seiner Tiefe unversöhntes unglückliches Bewusstsein hat dieses Selbst sein Dasein überhaupt nur im beständigen Wechsel seiner fortgesetzten Gegenwartslosigkeit ohne den inneren Zusammenhalt, welcher Geschichtlichkeit als solche überhaupt erst ermöglicht: Dieser Idealismus wird […] eine ebensolche sich widersprechende Doppelsinnigkeit, als der Skepticismus, nur daß wie dieser sich negativ, jener sich positiv ausdrückt, aber ebensowenig seine widersprechenden Gedanken des reinen Bewußtseyns als aller Realität, und ebenso des fremden Anstoßes oder des sinnlichen Empfindens und Vorstellens, als einer gleichen Realität, zusammenbringt, sondern von dem einen zu dem andern sich herüber- und hinüberwirft und in die schlechte, nämlich in die sinnliche Unendlichkeit gerathen ist […]. Dieser Idealismus ist in diesem Widerspruche, weil er den abstrakten Begriff der Vernunft als das Wahre behauptet; daher ihm unmittelbar ebensosehr die Realität, als eine solche entsteht, welche vielmehr nicht die Realität der Vernunft ist, während die Vernunft zugleich alle Realität seyn sollte; diese bleibt ein unruhiges Suchen, welches in dem Suchen selbst die Befriedigung des Findens für schlechthin unmöglich erklärt. (Phän., GW 9, 136 f.; erste Herv. v. Verf.)

I.2.3.2. Erfüllung des abstrakten Vernunftbegriffs in der Sittlichkeit Der Widerspruch des aus dem ersten unglücklichen Bewusstsein heraus den Begriff der Vernunft ergreifenden Geistes, dem einerseits die Wahrheit der Vernunft aufgegangen ist, dass alle Wirklichkeit vernünftig ist, dem sich andererseits die unselbstständige und ewig vergehende Natur als ein Fremdes darstellt, löst sich auf der höheren 70 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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Stufe im Begriff der Sittlichkeit auf, sofern hier die fremd bleibende Gegenständlichkeit nur noch als oberflächliche Erscheinung angeschaut wird, demgegenüber sich das Selbstbewusstsein in seiner selbstständigen Einheit mit sich als inneres Wesen aller Dinge weiß (vgl. Phän., GW 9, 193). An und für sich ist auch dieses Selbstbewusstsein nur als Anerkanntes, d. h. als für ein Anderes an und für sich seiend; es hat also die Gewissheit seiner selbst nur in einem anderen Selbstbewusstsein, aber nicht mehr im Verhältnis von Herr und Knecht (denn das Movens zur Gewissheit ist nicht mehr die bloße Begierde), sondern in dem nun eröffneten Reich der Sittlichkeit als allgemeinen Selbstbewusstseins, der selbstständigen Wirklichkeit einer Gemeinschaft von Einzelnen in der geistigen Einheit ihres Wesens (vgl. Phän., GW 9, 194), welches ihnen zugleich das innere Wesen aller Wirklichkeit bedeutet: Die Vernunft ist Geist geworden, »indem die Gewißheit, alle Realität zu seyn, zur Wahrheit erhoben, und sie sich ihrer selbst als ihrer Welt, und der Welt als ihrer selbst bewußt ist« (Phän., GW 9, 238). Im Geist als »sittliche[m] Leben eines Volks« (Phän., GW 9, 240) ist das zuvor nur als Innerlichkeit erfasste Wesen der Welt hinter ihrer Erscheinung selbst zur Wirklichkeit geworden: War die Vernünftigkeit aller Wirklichkeit zunächst nur sittliche Substanz, ist sie nun im Geist für sich geworden, in welchem sich die Individuen zum allgemeinen, sich selbst tragenden und in sich lebendigen Selbstbewusstsein vereinigten und aus dem heraus sie sich nunmehr selbst je in ihrem Wesen verstehen. Sie handeln nun nicht mehr aus der Willkür ihrer Einzelheit, sondern die in sich beständige Substanz der Welt ist nun allgemeines Werk der von einer gemeinsamen Sittlichkeit durchdrungenen Individuen; sie erzeugt sich selbst in ihrer Einheit und Gleichheit im Handeln der (sich von ihr her verstehenden) Einzelnen und in ihr gewinnen sie als Geist ihre konkrete Wirklichkeit und die Realisierung ihrer Freiheit (im Gegensatz zur Kontingenz aller endlichen Erscheinungen der Natur, damit eins mit der bewusst durchdrungenen und das sittliche Bewusstsein ans Tageslicht der Wirklichkeit führenden klassischen Kunst). Darin ist die Vernunft nicht mehr eine nur Erahnte und in der Wirklichkeit vergeblich Gesuchte, sondern als sich im Handeln und Tun der Einzelnen Erzeugende selbst Wirklichkeit geworden, in welcher Innen und Außen, wenngleich zunächst noch in Form der Unmittelbarkeit, vereinigt sind:

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Als die Substanz ist der Geist die unwankende, gerechte Sichselbstgleichheit; aber als Fürsichsein ist sie das aufgelöste, das sich aufopfernde gütige Wesen, an dem jeder sein eigenes Werk, das allgemeine Seyn und sich seinen Theil davon nimmt. Diese Auflösung und Vereinzelung des Wesens ist eben das Moment des Tuns und Selbsts Aller; es ist die Bewegung und Seele der Substanz und das bewirkte allgemeine Wesen. Gerade darin daß sie das im Selbst aufgelöste Seyn ist, ist sie nicht das todte Wesen, sondern wirklich und lebendig. (Phän., GW 9, 239)

Die Unmittelbarkeit dieser Einheit von Innerem und Äußeren im sittlichen Leben besteht aber nur für einen Moment; in der Notwendigkeit ihrer konkreten Erfüllung liegt zugleich der Anfangspunkt einer Dynamik, im Zuge dessen der Geist sich nicht auf der Spitze dieses idealen Gleichgewichts des »schöne[n] sittlichen Lebens« (Phän., GW 9, 240) halten kann. Der Geist ist noch nicht zum Wissen seiner selbst gelangt, denn die Lebendigkeit der Sittlichkeit vollführt sich nur in einer Reihe von Gestalten ihrer selbst (wie in der Kunst), nicht aber in der gegenüberliegenden Wirklichkeit der Welt als solcher (vgl. Phän., GW 9, 240). Die Geister, in denen sich die Sittlichkeit verwirklicht, müssen sich von ihr entfremdet haben, um selbst wirkliche zu sein; 83 erst dann kann sich in den tragischen Selbstverfehlungen dieser ihrer Idealität im Schönen verlustig gegangenen, aber als Einzelne wirklich gewordenen Geister jenes Phönixleben der Vernunft vollziehen – und zwar in ihrem jeweiligen Untergang. An diesem Punkt der Geschichte des Selbstbewusstseins (dem Zerbrechen der schönen Einheit der Sittlichkeit) setzt also die eigentliche Tragödie im Sittlichen ein, welche sich als solche bis in die Moderne fortsetzt: Die Sittlichkeit verliert in ihrer Abgeschlossenheit zuletzt jegliche Lebendigkeit in der bloß formalen, in seiner reinen Allgemeinheit entleerten Einheit des Rechts und der Geist entzweit sich abermals, und zwar in seinem gegenständlichen Element der konkreten Auseinandersetzung mit der realen, diesseitigen Welt in ein Reich der Bildung einerseits, einem hiervon geschiedenen Reich des untergründigen Wesens als Welt des Glaubens andererseits (vgl. Phän., GW 9, 240). Aus dieser tiefgreifenden Entzweiung ergeben sich fortan alle weiteren Stufen des Selbstbewusstseins im Modus der Spaltung in verschiedene Welten bis hin zu ihrer endgültigen Versöh-

83 Dieser Punkt erhält im nächsten Kapitel seine weitere Ausführung: Es ist die Tat, durch die der Einzelne sich verwirklicht, und an dessen Negativität er selbst als Daseinder wie ebenso die unmittelbare Einheit der Sittlichkeit zerbricht.

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nung im absoluten Geist, während die Stufe der Moralität, in welcher sich der Idealismus Fichtes und die Romantik nach Hegel befindet, in der erneuten Invertierung des Zwiespalts in das Selbstbewusstsein hinein (so wie dies zuvor im unglücklichen Bewusstsein geschah) nur scheinbar einen versöhnenden Endpunkt darstellt, in ihrer Wahrheit aber noch jenem Zwiespalt in seiner nicht durchleuchteten Tiefe verhaftet bleibt und damit im Modus der Entfremdung sich als Prinzip vervollständigend der schlechten Unendlichkeit der vorzeitig abgebrochenen Reflexion anheimfällt. Ihre Überwindung ist der entscheidende Schritt hin zur Versöhnung des Diesseits und Jenseits im absoluten Geist: Beyde Welten aber, von dem Geiste, der aus diesem Verluste seiner selbst in sich geht, von dem Begriffe erfaßt, werden durch die Einsicht und ihre Verbreitung, die Aufklärung, verwirrt und revolutionirt, und das in das Disseits und Jenseits vertheilte und ausgebreitete Reich kehrt in das Selbstbewusstsein zurück, das nun in der Moralität sich als die Wesenheit, und das Wesen als wirkliches Selbst erfaßt, seine Welt und ihren Grund nicht mehr aus sich heraussetzt, sondern alles in sich verglimmen läßt, und als Gewissen der seiner selbst gewisse Geist ist. Die sittliche Welt, die in das Disseits und Jenseits zerrissene Welt und die moralische Weltanschauung sind also die Geister, deren Bewegung und Rückgang in das einfache fürsichseyende Selbst des Geistes sich entwickeln, und als deren Ziel und Resultat das wirkliche Selbstbewußtseyn des absoluten Geistes hervortreten wird. (Phän., GW 9, 240)

I.2.3.3. Urszene der Moralität: Der tragische Gegensatz in der Antigone im Unterschied zu Ödipus Noch aber liegt das Selbstbewusstsein in der Sittlichkeit als solcher und der Einzelne versteht sich selbst allein aus diesem in sich geschlossenen allgemeinen Horizont des Geistes (abstrakt: Er ist nur Besonderheit am Allgemeinen) – noch gibt es also kein individuelles Selbstbewusstsein in seiner Partikularität, überhaupt kein Selbstverständnis des Einzelnen als Person im modernen Sinn. Dieses individuelle Selbstbewusstsein entsteht dem Einzelnen nur in der eigenständigen Tat als Übergang des abstrakten Gedankens in die konkrete Wirklichkeit. Im Verhältnis zur reinen Allgemeinheit der Sittlichkeit kann diese Tat des Einzelnen aber nur Frevel sein und nur in ihm wird sich der Einzelne seiner selbst gewahr (wenngleich zunächst im Modus der Entfremdung, sofern der Zusammenhalt der Einzelnen im 73 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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Ganzen der sittlichen Allgemeinheit verloren geht; vgl. auch Phän., GW 9, 251–254). Aber nicht jeder Frevel gegen die gegebene sittliche Ordnung wirft den Einzelnen aus dieser heraus auf sich selbst als Individuum zurück: Die sophokleische Tragödie des König Ödipus etwa nimmt, der späteren Ästhetik Hegels zufolge, den Weg einer bewussten Affirmation der Sittlichkeit im Einzelnen in der Anerkennung seiner Schuld. Die ganze Figur des Ödipus (als König wie auf Kolonos) steht hier noch für die klassische Selbstgewissheit der griechischen Sittlichkeit ein, ganz im Einklang mit ihrem Begriff in der Phänomenologie. 84 In Ödipus als Löser des Rätsels der Sphinx erfüllt sich der zunächst noch blind suchende Drang nach selbstständiger Geistigkeit in der Welt – welcher in der symbolischen (darin stets noch auf ein Unaufgedecktes verweisenden), den Menschen noch halb mit der Natur verschwisternden und die erstrebte Selbstgewissheit nur als Ahnung fassenden Kunst des alten Ägyptens ihren Ausdruck findet, indem jener auf die Frage der Sphinx – halb Mensch, halb Tier – den auf sich selbst gestellten menschlichen Geist in all seinen verschiedenen Gestalten zur Antwort gibt: 85 Das Gesuchte und Erstrebte, der wahre Ausdruck des freien und bei sich bleibenden Absoluten in der Welt war immer nur der Mensch selbst, sofern er Geist (und darin allgemein) ist. 86 Als solcher findet er seine Ruhe in der schönen Sittlichkeit des klassischen Griechenlands, erkennt sich in ihr selbst wieder und in dieser Selbsterkenntnis soll sich zugleich die Erkenntnis der Welt erfüllen. Vor diesem Hintergrund der Selbstgewissheit des Einzelnen als Repräsentant des sittlichen Bewusstsein ist auch die spätere Verfehlung Allerdings steht dort die kurze Erwähnung des Ödipus in einem anderen Zusammenhang: In der Phänomenologie besteht dessen Tragik gerade darin, dass das absolute Wissenwollen des großen Rätsellösers ihn ins Verderben führt, vgl. Phän., GW 9, 394. 85 Das Rätsel der Sphinx beginnt mit dem Satz: »Zweifüßig, dreifüßig, vierfüßig lebt es auf Erden, und eine / Stimme nur hat es« (Sophokles, König Ödipus IV. »Das Rätsel der Sphinx«, vv. 1 f. (Sophokles 1985, 281)). 86 Vgl. Ästh. I, TWA 13, 465: »Aus der dumpfen Stärke und Kraft des Tierischen will der menschliche Geist sich hervordrängen, ohne zur vollendeten Darstellung seiner eigenen Freiheit und bewegten Gestalt zu kommen, da er noch vermischt und vergesellschaftet mit dem Anderen seiner selber bleiben muß. Dieser Drang nach selbstbewußter Geistigkeit, die sich nicht aus sich in der ihr allein gemäßen Realität erfaßt, sondern nur in dem ihr Verwandten anschaut und in dem ihr ebenso Fremden zum Bewußtsein bringt, ist das Symbolische überhaupt, das auf dieser Spitze zum Räthsel wird.« 84

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und Schuld des Ödipus zu verstehen: Zwar war er sich nicht bewusst, dass es sein Vater war, den er (aus der Perspektive griechischer Sittlichkeit auf durchaus nachvollziehbare Weise) erschlug, ebensowenig, dass er seine Mutter ehelichte; die wirkliche Tat als solche aber macht ihn zum Blutschänder und Vatermörder und in Anerkennung dieser Schuld, obwohl sie weder in seinem Wissen noch in seinem Wollen gelegen hat, blendet er sich und geht ins Exil. 87 Ödipus nimmt in vollständigem Einverständnis mit der gegebenen sittlichen Ordnung seine Strafe an und weigert sich auch noch auf Kolonos seine Verbannung aufzuheben und nach Theben zurückzukehren, weder in Folge eines Gnadenerlasses der Stadt, noch an der Spitze eines feindlichen Heeres. 88 Unsere Verwunderung über den Umstand, dass Ödipus sich selbst so konsequent zu seiner Schuld bekennt, obwohl er doch nicht wusste, was er tat (und wenn er es gewusst hätte, die Tat unterlassen haben würde), ist nicht diejenige eines griechischen Publikums zur Zeit des Sophokles. Nach Hegels Ästhetik sind die Figuren der griechischen Tragödie (ab Euripides beginne sich dies bereits zu ändern; vgl. Ästh. III, TWA 15, 546) noch ebenso wie diejenigen des homerischen Epos als Subjekt im Zustande und Selbstverständnis des Heroen, dem sein gesamtes Wollen, Tun und Vollbringen in unmittelbarer Einheit von Innen und Außen ein einziger Zusammenhang ist (vgl. Ästh. I, TWA 13, 246), – dem man nichts Schlimmeres nachsagen könnte, als dass er unschuldig gehandelt oder seine Tat nicht gewollt hätte. Als Charakter der griechischen Poesie hat er gar keine andere Wahl (vgl. Ästh. III, TWA 15, 546): Er ist, was er will und was er tut (man halte gegen Ödipus etwa nur die neuzeitliche Unschlüssigkeit und inneren Vorbehalte eines Hamlet). Wie in der klassischen Plastik ist ebenso in der Gestalt des Ödipus kein Unterschied zwischen Subjektivität und dem bestimmten Inhalt des Wollens, beide Formen sind Verkörperung der griechischen Sittlichkeit in ihrem in sich ruhenden Ideal der Schönheit (vgl. Ästh. III, TWA 15, 546); als Besonderheit am Allgemeinen ist das Subjekt in seinem konkreten Dasein nichts anderes

Vgl. hierzu Ästh. I, TWA 13, 246–248 u. Ästh. III, TWA 15, 545–549. Dabei bedeutet diese Verbannung keine Kleinigkeit, meint sie doch, fernab der eigenen Polis leben und sterben zu müssen – dadurch aber, dass Ödipus dieses für einen Griechen furchtbare Urteil annimmt, trägt er doch noch die Gewissheit des sittlichen Fundaments in sich.

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als eine Explikation desselben (neben anderen). Nicht so im modernen Selbst: Wenn wir dagegen handeln oder Handlungen beurteilen, so fordern wir, um dem Individuum eine Handlung imputieren zu können, daß es die Art seiner Handlung und die Umstände, unter welchen dieselbe vollbracht ist, gewußt und erkannt habe. Ist der Inhalt der Umstände von anderer Art und trägt die Objektivität insofern andere Bestimmungen in sich als diejenigen, welche in das Bewußtsein des Handelnden getreten sind, so nimmt der heutige Mensch nicht den gesamten Umfang dessen, was er getan hat, auf sich, sondern er weist den Teil seiner Tat von sich ab, welcher durch ein Nichtwissen oder Verkennen der Umstände selber anders geworden ist, als er im Willen lag, und rechnet sich nur das zu, was er gewußt und in Beziehung auf dieses Wissen mit Vorsicht und Absicht vollbracht hat. Der heroische Charakter aber macht diese Unterscheidung nicht, sondern steht für das Ganze seiner Tat mit seiner ganzen Individualität ein. […] In der Heroenzeit […], in welcher das Individuum wesentlich Eines und das Objektive als von ihm ausgehend das Seinige ist und bleibt, will das Subjekt nun auch, was es getan hat, ganz und allein getan haben und das Geschehene vollständig in sich hineinverlegen. (Ästh. I, TWA 13, 246 f.)

In dem ungebrochenen wechselseitigen Anerkennungsverhältnis des besonderen Individuums zur Sittlichkeit weiß es sich eins mit dem inneren Wesen der Welt: Die Spitze, welche die Kunst in ihrer klassischen Phase im antiken Griechenland in Bezug auf ihr Ideal, die Wirklichkeit der Idee des Schönen (vgl. Ästh. I, TWA 13, 389; darin Einheit von Inhalt und Form), erreicht hat, ist auf der geschichtlichen Stufenfolge des Bewusstseins zeitgleich mit dem Höhepunkt der schönen Sittlichkeit (deren Vergegenwärtigung im selbst geschaffenen Gegenstand die klassische Kunst ja ist), worin der Mensch als Einzelner, seither letztmalig, fraglos des Diesseits der Welt als seiner Heimat gewiss ist. 89 Das heroische Individuum des antiken Griechenlands hat zwar ein Bewusstsein von sich als diesem Einzelnen, der verantwortlich ist für seine Taten (er sieht sich auch nicht als unwesentliches und seiner selbst unmächtiges Objekt eines blinden Fatums); er hat dieses Selbstbewusstsein aber nur in seiner ungetrenn-

In der romantischen Kunst, welche nach Hegel in seinem Umfang von Beginn des Christentums an bis in die Gegenwart reicht, ist gerade diese unmittelbare Gewissheit der Welt als Heimat des einzelnen Subjekts aufgehoben. Vgl. dazu Kap. I.4.3. dieser Arbeit.

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ten Einheit mit dem sittlichen Ganzen – wieder anders das auf sich gestellte moderne Selbst: Wir dagegen nach unserer heutigen Vorstellung scheiden uns als Personen mit unseren persönlichen Zwecken und Verhältnissen von den Zwecken solcher Gesamtheit ab; das Individuum tut, was es tut, aus seiner Persönlichkeit heraus für sich als Person und steht deshalb auch nur für sein eigenes Handeln, nicht aber für das Tun des substantiellen Ganzen ein, dem es angehört. Daher machen wir den Unterschied z. B. von Person und Familie. Solch eine Scheidung kennt das Heroenzeitalter nicht. Die Schuld des Ahnherrn kommt dort auf den Enkel, und ein ganzes Geschlecht duldet für den ersten Verbrecher; das Schicksal der Schuld und des Vergehens erbt sich fort. […] Uns gilt dies als Härte, aber das Nur-für-sich-Einstehen und die dadurch gewonnene subjektivere Selbständigkeit ist von der andern Seite her auch nur die abstrakte Selbständigkeit der Person – während dagegen die heroische Individualität idealer ist, weil sie sich nicht in der formellen Freiheit und Unendlichkeit in sich genügt, sondern mit allem Substantiellen der geistigen Verhältnisse, welche sie zu lebendiger Wirklichkeit bringt, in steter unmittelbarer Identität zusammengeschlossen bleibt. Das Substantielle ist in ihr unmittelbar individuell und das Individuum dadurch in sich selber substantiell. (Ästh. I, TWA 13, 247 f.)

Hier muss ein Bruch in der Geschichte des Bewusstseins geschehen sein, mit dem das einzelne Selbst der Einheit in sich und mit der Wirklichkeit (sowohl seiner eigenen wie derjenigen der ihm gegebenen Welt), deren inneres Wesen als logos ja das Bewusstsein selbst war, verlustig ging und der in ihm jene innere Divergenz der Person in seiner abgründigen Partikularität unter den Maßstäben der Moralität erzeugte. Dieser Bruch, welcher das Ende der schönen Sittlichkeit im klassischen Zeitalter der Griechen bezeichnet, findet seine Darstellung in der abschließenden Tragödie der Thebanischen Trilogie des Sophokles: Antigone. Die weithin bekannte hegelsche Deutung des tragischen Konflikts der Antigone in der Ästhetik wie der Phänomenologie als Kollision zweier gleichberechtigter sittlicher Mächte, 90 die Eins das Andere negierend sich in ihrer jeweiligen Einseitigkeit je selbst zugrunde richten, beschreibt zunächst nur die formale Seite, welche diesen Konflikt eines Gegensatzes, der jede Seite in den eigenen Selbstwiderspruch führt, zu einem Paradebeispiel für eine tragische Konstellation macht, da hier (anders als bei Ödipus) Vgl. v. a. Ästh. I, TWA 13, 287; Ästh. II, TWA 14, 60; Ästh. III, TWA 15, 544; dazu Phän., GW 9, 394.

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beide Figuren ihren Frevel aus Sittlichkeit begehen, sich der Gegensatz beider Hauptfiguren also auf dem Boden der griechischen Sittlichkeit selbst abspielt, die nun aus ihrem klassischen Insichruhen zum Selbstwiderspruch in ihrer konkreten Verwirklichung auf die Bühne gezwungen wird. Der hier ausgetragene Konflikt zwischen Familie (Antigone) und Staat (Kreon) ist aber keineswegs beliebigen Inhalts: In ihm zerreißt sich die Ganzheit der schönen Sittlichkeit in die Welten ihrer Dies- und Jenseitigkeit, nach deren Polarität sich alle Mannigfaltigkeit ausrichtet; 91 so heißt es in der Phänomenologie (und in der Darstellung des Konflikts parallel dazu in der Ästhetik): 92 In ähnlicher Weise wird in der Ästhetik der Gegensatz von Familie und Staat (bzw. öffentlichem Leben), wenngleich in einer Form, die sich zeitweilig noch auf griechischem Boden versöhnt, auch in Bezug auf die Eumeniden des Aischylos gedeutet (durchaus im Anschluss an die Deutung im Aufsatz über das Naturrecht, vgl. Kap. I.1.2.3. dieser Arbeit): »Die furchtbaren Jungfrauen verfolgen den Orest um des Muttermordes willen, den ihm Apollo, der neue Gott, geboten, damit Agamemnon, der erschlagene Gatte und König, nicht ungerächt bleibe. Das ganze Drama gestaltet sich dadurch zu einem Kampfe zwischen diesen göttlichen Mächten, welche in Person gegeneinander auftreten. Einerseits sind die Eumeniden Rachegöttinnen, aber sie heißen die Wohlmeinenden, […] [d]enn zu ihrer Verfolgung haben sie ein wesentliches Recht […]. Der innigste Zusammenhang von Sohn und Mutter, welchen Orest zerrissen, ist die Substanz, die sie vertreten. Apollo stellt der natürlichen, schon sinnlich im Blute begründeten und empfundenen Sittlichkeit das Recht des in seinem tieferen Rechte verletzten Ehegatten und Fürsten entgegen. […] Der Begriff und das Wissen von der Substantialität des ehelichen Lebens ist etwas Späteres und Tieferes als der natürliche Zusammenhalt von Sohn und Mutter und macht den Beginn des Staats als der Realisation des freien, vernünftigen Wollens aus. In der gleichen Weise liegt auch in dem Verhältnis des Fürsten zu den Bürgern der politische Zusammenhang des gleichen Rechts, der Gesetze, der selbstbewußten Freiheit und Geistigkeit der Zwecke. Dies ist der Grund, weshalb die Eumeniden, die alten Göttinnen, den Orestes zu strafen trachten, während Apollo die klare, wissende und sich wissende Sittlichkeit, das Recht des Gatten und Fürsten verteidigt« (Ästh. II, TWA 14, 58–60). 92 Vgl. hierzu Ästh. I, TWA 13, 60: »Alles in dieser Tragödie ist konsequent; das öffentliche Gesetz des Staats und die innere Familienliebe und Pflicht gegen den Bruder stehen einander streitend gegenüber, das Familieninteresse hat das Weib, Antigone, die Wohlfahrt des Gemeinwesens Kreon, der Mann, zum Pathos. Polyneikes, die eigene Vaterstadt bekämpfend, war vor Thebens Toren gefallen, und Kreon, der Herrscher, durch ein öffentlich verkündetes Gesetz droht jedem den Tod, der jenem Feinde der Stadt die Ehre des Begräbnisses zuteil werden ließe. Diesen Befehl aber, der nur das öffentliche Wohl des Staats betrifft, läßt sich Antigone nichts angehen, sie vollbringt als Schwester die heilige Pflicht der Bestattung, nach der Pietät ihrer Liebe zum Bruder. Dabei beruft sie sich auf das Gesetz der Götter; die Götter aber, die sie verehrt, sind die unteren Götter des Hades (Sophokles, Antigone, V. 451, ἡ ξύνοικος τῶν κάτω θεῶν Δίκη [nach Hölderlin: ›Hier im Haus das Recht der Todesgötter‹, D. U.]), die inneren der Empfindung, der Liebe, des Blutes, nicht die Tagesgötter des freien, 91

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Wenn also die sittliche Substanz sich durch ihren Begriff, ihrem Inhalte nach, in die beyden Mächte entzweyte, die als göttliches und menschliches oder unterirdisches und oberes Recht bestimmt wurden, – jenes die Familie, diß die Staatsmacht, – […] so schränkt sich der vorher vielformige und in seinen Bestimmungen schwankende Götterkreis auf diese Mächte ein, die durch diese Bestimmung der eigentlichen Individualität genähert sind. (Phän., GW 9, 393 f.)

Die abstrakte Identität der schönen Sittlichkeit gerät zwar erst mit dem Gegensatz von Antigone und Kreon in einen offenen Widerspruch, der Gesetzesspruch Kreons aber zeigt bereits die zunächst noch latent vorhandene Spannung, welche das Sittengesetz im tatsächlichen Vollzug seiner Besonderung in der Wirklichkeit erfährt: im Widerspruch von göttlichewigem und menschlichem Gesetz. Solange noch keine Tat im eigentlichen Sinne begangen ist, bleibt die ruhige Organisation und Bewegung der sittlichen Welt ungestört, dergegenüber, als allgemeiner Wille im noch ruhenden Gegensatz zum »Blut der Familie«, der Einzelne nur ein »unwirkliche[r] Schatten« (Phän., GW 9, 251) bleibt. Mit der konkreten (sich damit der Dialektik der Endlichkeit preisgebenden) Verwirklichung der Sittlichkeit im menschlichen Gesetz geschieht es diesem, dass es sich als Recht nur im Gegensatz zum bekämpften Unrecht, somit in seiner Gewalttätigkeit bezeugt, welche sich darin einerseits in einen Gegensatz zum nur auf sich beruhenden, stillen göttlichen Recht stellt, andererseits aber das innerliche Fürsichsein nur im Modus des Ungehorsams erkennt, welches damit unvermerkt, in seinem Gegensatz zum öffentlichen Recht des menschlichen Gesetzes, wiederum auf dieselbe Seite wie das göttliche Recht gerät, nämlich als dessen Verwirklichung in der Tat des aus innerer Überzeugung und unmittelbarer Gewissheit des Rechten gegen das öffentliche Gesetz frevelnden Einzelnen:

selbstbewußten Volks- und Staatslebens.« (alle Herv. v. Verf.) Das Zitat lautet übrigens im Zusammenhang in der (Hegels Übersetzungen, aus welchen Gründen auch immer, stets recht nahe stehenden) Übersetzung Hölderlins: »Mein Zeus berichtete mirs nicht; / Noch hier im Haus das Recht der Totengötter, / Die unter Menschen das Gesez begrenzet; / Auch dacht’ ich nicht, es sey dein Ausgebot so sehr viel. / Dass eins, das sterben muß, die ungeschriebnen drüber, / Die festen Sazungen im Himmel brechen sollte. / Nicht heut’ und gestern nur, die leben immer, / Und niemand weiss, woher sie sind gekommen.« (Hölderlin 1804, 31) Auf die letzten beiden Verse bei Sophokles verweist Hegel auch in der Phän., GW 9, 236.

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[D]ie Befehle der Regierung sind der allgemeine, am Tag liegende öffentliche Sinn; der Wille des andern Gesetzes aber ist, der unterirrdische, ins Innre verschlossne Sinn, der in seinem Daseyn als Wille der Einzelnheit erscheint, und im Widerspruche mit der ersten der Frevel ist. (Phän., GW 9, 252)

Beide Taten – das Verbot Kreons, den toten Polyneikes als Feind Thebens zu bestatten, wie ebenso Antigones Übertretung des Verbots – setzen eine Trennung zur gegenüberstehenden negativen Wirklichkeit (als das Unrecht) und verlassen damit die abstrakte Bestimmtheit der Sittlichkeit, einfache Gewissheit der unmittelbaren Wahrheit zu sein. Indem beide sich für die eine Seite gegen die andere entscheiden, ist die jeweilige Tat Schuld gegenüber der aufgehobenen Unmittelbarkeit schöner Sittlichkeit, wie auch Verbrechen gegenüber dem ausgeschlossenen Anderen (vgl. Phän., GW 9, 254). Antigone aber setzt sich in ihrer Tat nicht nur über ein menschliches Gesetz unter anderen hinweg, sie setzt in der Bestattung des Polyneikes eine Entzweiung der aus innerer Überzeugung Tätigen von einer ihr nunmehr fremden äußerlichen Wirklichkeit: Kreons Macht, der aus Sittlichkeit zum Tyrann wurde, hat für Antigone seine Geltung nur an der Oberfläche der äußerlichen Erscheinung der Welt, ihr zugrunde liegendes Wesen aber bliebe ihm entzogen. Sie erklärt mit ihrer Tat das menschliche Gesetz für eine sittliche Zufälligkeit und Unrecht gegenüber den ungeschriebenen und ewigen Gesetzen der Götter (vgl. Phän., GW 9, 255). 93 Nun aber geschieht Folgendes: In der Tat selbst verkehrt sich dieser Gedanke in sein Gegenteil, denn hiermit steht Antigone dafür ein, dass auch für sie die Sittlichkeit wirklich sein muss, dass also die Wirklichkeit dem Wesen gegenüber nicht zufällig ist. In diesem Widerspruch geht das die göttlichen Gesetze verwirklichende Individuum zugrunde und erreicht statt der Verwirklichung nur die Rückkehr zur Unwirklichkeit der Gesinnung: Das sittliche Bewußtseyn muß sein Entgegengesetztes um dieser Wirklichkeit willen, und um seines Thuns willen, als die seinige, es muß seine Schuld anerkennen;

Es sei noch einmal unterstrichen: Antigone empört sich nicht gegen die schöne Sittlichkeit, sondern aus Sittlichkeit gegen das öffentliche Gesetz – die Unterscheidung von innerer Vernünftigkeit aller Wirklichkeit gegenüber ihrem äußerlichen Schein geht auf das Grundverhältnis der Sittlichkeit zur Zufälligkeit der Natur zurück (vgl. Kap. I.2.3.2.).

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weil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt – Diß Anerkennen drückt den aufgehobenen Zwiespalt des sittlichen Zweckes und der Wirklichkeit, es drückt die Rückkehr zur sittlichen Gesinnung aus, die weiß, daß nichts gilt als das Rechte. 94 Damit aber gibt das Handelnde seinen Charakter und die Wirklichkeit seines Selbsts auf, und ist zu Grunde gegangen. Sein Seyn ist dieses, seinem sittlichen Gesetze als seiner Substanz anzugehören; in dem Anerkennen des Entgegengesetzten hat diß aber aufgehört, ihm Substanz zu seyn; und statt seiner Wirklichkeit hat es die Unwirklichkeit, die Gesinnung, erreicht. (Phän., GW 9, 255 f.)

Beide Seiten gehen gleichermaßen im Zuge ihrer Verwirklichung zugrunde, die Zersplitterung der schönen Sittlichkeit als in sich ruhende Einheit ist damit aber vollbracht und in ihrer Unmittelbarkeit nicht wiederherzustellen. Was sich im Untergang der Einzelnen vollzieht, ist nurmehr die sittliche Substanz als negative Macht des unerbittlichen Schicksals (als absolute Negativität), das als abstrakte Gerechtigkeit der Geschichte allen Taten des Einzelnen in ihrer einseitigen Verwirklichung den notwendigen Untergang im ausgeschlossenen Anderen erweckt; denn Kreon wie Antigone setzen in ihrer Tat eine Verschiedenheit, in welcher sie der Einheit ihres eigenen Selbst verlustig gehen, welche sich nur wieder in der Gerechtigkeit ihres beiderseitigen Untergangs wiederherstellt. In diesem objektiven, dem Subjekt scheinbar verschlossenen Schicksal ist weder Sinn noch Bewusstsein – sie ist die sich stets aufs Neue vollziehende Wiederlegung jeder einseitigen Verwirklichung eines unendlichen Anspruchs. Zwar ist somit die Substantialität des Bewusstseins gewahrt, der stets dem zweifelnden Selbstbewusstsein drohende Rückfall ins unglückliche Bewusstsein also noch einmal verhindert, eine VersöhDies der Sinn der Entgegnung Antigones auf Kreons Frage, wie sie es wagen konnte, sein Gebot zu übertreten, wenn es ihr doch bekannt gewesen ist, ebenso, dass ihr Tod die Folge sein würde, woraufhin sie auf das untrügliche und ungeschriebene Gesetz der Götter verweist; vgl. Phän., GW 9, 236: »nicht etwa jetzt und gestern, sondern immerdar / lebt es, und keiner weiß, von wannen es erschien. / Sie sind. Wenn ich nach ihrer Entstehung frage, und sie auf den Punkt ihres Ursprungs einenge, so bin ich darüber hinausgegangen; denn ich bin nunmehr das Allgemeine, sie aber das bedingte und beschränkte. Wenn sie sich meiner Einsicht legitimiren sollen, so habe ich schon ihr unwankendes Ansichseyn bewegt, und betrachte sie als etwas, das vielleicht wahr, vielleicht auch nicht wahr für mich sey. Die sittliche Gesinnung besteht eben darin, unverrückt in dem fest zu beharren, was das Rechte ist, und sich alles Bewegens, Rüttelns und Zurückführens desselben zu enthalten. […] Nicht darum […], weil ich etwas nicht widersprechend finde, ist es Recht; sondern weil es das Rechte ist, ist es Recht.« 94

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nung der Gegensätze ist aber durch diese sich allein in ihrer Negativität erweisende Substanz des Bewusstseins nicht gegeben, denn die sittliche Tat Antigones, in der sie aus innerer Gewissheit die gegebene Wirklichkeit zur äußerlichen Oberfläche erklärt hat, wie auch der Wandel des um die Staatswohlfahrt besorgten Kreons zum sich selbst verleugnenden Tyrannen, haben eine tiefe Fremdheit zwischen Selbst und Welt gesetzt, 95 wonach der Mensch als Einzelner aus dem Ganzen der gegebenen Wirklichkeit herausgefallen ist. – Wie in der eigenen Tat der Einzelne seinen Status einer akzidentiellen Besonderheit an der Substanz verließ, ist ihm nunmehr als ausschließendes Selbst das Recht der einzelnen Individualität aufgegangen, das, nach dem Verlust des Vertrauens in eine feste in sich ruhende und schöne sittliche Substantialität, die Versöhnung mit der Welt in seinem eigenen Inneren herstellen muss. In seiner Negativität gegenüber der als Oberfläche aufgefassten Welt nimmt das einzelne Subjekt in seinem absoluten Fürsichsein die Bewegung der negativen Substantialität des Schicksals in sich auf (vgl. Phän., GW 9, 251): Es ist ihm zunächst als allgemeiner Wille der Einzelnen, dann endlich dem Einzelnen selbst in seiner Individualität zum Eigentum geworden (vgl. Phän., GW 9, 323), denn es ist Negativität von allem Besonderen und hat sich diesem fortgesetzten Verzehren und Bilden zur fürsichseieden Freiheit und Selbstständigkeit, zur Unendlichkeit in sich zusammengeschlossen (die unendliche Negativität ist ihm so nicht mehr Zwang eines dunklen Schicksals, sondern Selbstvollzug in doppelter Negation). 96 Auch der Weg des Glaubens, welcher neben dem Reich der Bildung (an der konkreten Wirklichkeit endlichen Daseins) zunächst seinen eigenen Weg beschritt, mündet mit diesem zusammen in die Moralität ein; zwar setzt der Glaube seine Substanz nicht in sich selbst, sondern in ein Jenseits, allerdings vollzieht sich auch in ihm das Schicksal Antigones, denn diese Substantialität wird ebenfalls als negativer Gegensatz zu einer oberflächlichen Wirklichkeit gesetzt, die eigene Wirklichkeit des Jenseits aber hält wiederum der Bildung auf seiner höchsten Stufe der Aufklärung (»seyd für euch selbst, was ihr Alle an euch selbst seyd, – vernünftig«; Phän., GW 9, 292) nicht

95 Dies heißt nun natürlich nicht, dass die Antigone des Sophokles der Anlass für das Zerbrechen der schönen Sittlichkeit war, vielmehr ist hier dieser Bruch aus seiner inneren Dynamik heraus in dramatischer Notwendigkeit auf die Bühne gebracht worden; vgl. zum Verhältnis des Dramas zur Philosophie auch Kap. 1.4.3.2. 96 Vgl. hierzu auch Ästh. II, TWA 14, 130.

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stand: Das Himmelreich des Gläubigen wird als sinnliche Vorstellung entlarvt, und zurück bleibt nur die Sehnsucht nach der verlorenen Fülle, die auch den Gläubigen auf sich selbst zurückverweist. 97 Die alleinige Wesenheit wird durch den Menschen als Selbstbewusstsein ausgefüllt, demgegenüber die Natur in ihrer Unselbstständigkeit als das Unwesentliche stehen bleibt: Er wird sich selbst nur in seiner eigenen Tätigkeit und in dem selbst erzeugten Gegenstand gewahr, und zwar ausschließlich nach dem Maßstab seiner eigenen innerlichen Pflicht, unabhängig von der ihm gegenüber gleichgültigen Natur (vgl. Phän., GW 9, 325).

I.2.3.4. Höhepunkt und Krisis des moralischen Selbstbewusstseins im Gewissen I.2.3.4.1. Selbstermächtigung des einzelnen Subjekts als alleiniger Wesenheit War die Substanz dem Menschen in der Sittlichkeit noch allgemeiner Willen und gemeinsames Werk, ist nun dem einzelnen Selbstbewusstsein die Substanz zu seinem Eigentum geworden (vgl. Phän., GW 9, 323). Er selbst ist jetzt ›Meister des Gegensatzes im natürlichen Bewusstsein‹, da seine Selbstgewissheit, der hier die alleinige Wahrheit und Wesenheit der Welt zukommt, ihm zugleich Gegenstand ist (vgl. Phän., GW 9, 323 f.); d. h. im Selbstbewusstsein ist kein Fremdes mehr. Gewissermaßen hat sich hier noch einmal die Erkenntnis des Ödipus vor der Sphinx wiederholt, jedoch auf einer Vgl. Phän., GW 9, 310: »Der Glauben hat hiedurch den Inhalt, der sein Element erfüllte, verloren, und sinkt in ein dumpfes Weben des Geistes in ihm selbst zusammen. Er ist aus seinem Reiche vertrieben, oder diß Reich ist ausgeplündert, indem alle Unterscheidung und Ausbreitung desselben das wache Bewußtseyn an sich riß, und seine Theile alle der Erde als ihr Eigentum vindicirte und zurückgab. Aber befriedigt ist er darum nicht, denn durch diese Beleuchtung ist allenthalben nur einzelnes Wesen entstanden, so daß den Geist nur wesenlose Wirklichkeit und von ihm verlassene Endlichkeit anspricht. – Indem er ohne Inhalt ist und in dieser Leere nicht bleiben kann, oder indem er über das Endliche, das der einzige Inhalt ist, hinausgehend nur das Leere findet, ist er ein reines Sehnen; seine Wahrheit ein leeres Jenseits, dem sich kein gemäßer Inhalt mehr finden läßt, denn alles ist anders verwandt. – Der Glauben ist in der That hiemit dasselbe geworden, was die Aufklärung, nemlich das Bewußtseyn der Beziehung des ansichseyenden Endlichen auf das prädicatlose, unerkannte und unerkennbare Absolute; nur daß sie die befriedigte, er aber die unbefriedigte Aufklärung ist.«

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höheren Stufe: Nicht der Mensch als Gattung, sondern das individuelle Selbst ist nun die letzte Antwort auf alle Fragen nach dem bleibenden Wesen und Wert der Welt; nicht so, dass der Geist nur wieder dort sei, wo er im Ergreifen der abstrakten Vernunft, dessen Repräsentant er als Mensch ist, schon einmal stand, sondern als unverlierbare Gewissheit seiner selbst, der sich aus seiner höchsten Entfremdung wieder mit sich zusammengeschlossen hat, somit als Wissen vollendet und unmittelbar (als ruhendes Bild festgehalten) in jedem Punkt seiner Bewegung gegenwärtig ist – zumindest, was die Wahrheit und Freiheit des Selbstbewusstseins angeht (denn über diesen Punkt der alleinigen Wesenheit geht es nicht weiter hinaus). Auch als Tätiges geht dies Selbstbewusstsein nicht über sich hinaus, denn es weiß sein gegenständliches Wesen als sich selbst und sich selbst als das Tätige, das jenes erzeugt. Die Bewahrung der Reinheit dieses Wesens ist ihm als Pflicht 98 alleiniger Maßstab des Handelns: Es ist nicht mehr das von der verwirklichten Sittlichkeit ausgeschlossene göttliche Recht (wie es in der Gemeinschaft der Familie ein letztes Residuum hatte), auf dessen Fordern sich die innere Überzeugung der Moralität Antigones berief, sondern allein die eigene, durch nichts widerlegbare innere Überzeugung des einzelnen Selbst in seinem Einssein mit dem Wesen der Welt. Eine Handlung ist dann moralisch gerechtfertigt, wenn die Absicht des einzelnen Selbstbewusstseins seine Absicht ist, ganz unabhängig von der Frage, welche Sedimente vergangener Sittlichkeit jene Pflicht als ihre konkreten Inhalte in sich enthalten mag. Keineswegs kann nämlich die Einzelheit des Selbst unmittelbar und anfänglich sein, auch wenn das Vergessen seiner Vorgeschichte zu dieser Täuschung führen mag. Wie ist aber nun der Selbstbezug des Einzelnen aus seiner Geschichte heraus (denn die Vorstellung des antiken Heros kannte dieses in seiner Einzelheit berechtigte Individuum nicht) zu verstehen? – Es sei noch einmal an jenes Phönixleben des Absoluten im Modell der Tragödie im Sittlichen erinnert, welches sich noch in seiner Entäußerung erhält, auf dieses als sein (geschichtliches) Anderes übergreift, und im Fortgang desselben als sich zunächst nur negativ äußernde Macht seine Entfremdung von sich selbst wieder aufhebt und sich als konkrete und bewusste auf sich selbst zurückbezieht. Wird das Absolute als Begriff gefasst, stellt sich dieses Modell in den MomenDie Ausführungen Hegels lassen keinen Zweifel daran, dass hiermit die kantische Pflicht gemeint ist.

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ten der Allgemeinheit, Besonderheit und, als Drittes, der Einzelheit (bzw. Einzelnheit) 99 dar: Der Begriff ist […] das Allgemeine, das sich einerseits durch sich selbst zur Bestimmtheit und Besonderung negiert, andererseits aber diese Besonderheit, als Negation des Allgemeinen, ebensosehr wieder aufhebt. Denn das Allgemeine kommt in dem Besonderen, welches nur die besonderen Seiten des Allgemeinen selber ist, zu keinem absolut Anderen und stellt deshalb im Besonderen seine Einheit mit sich als Allgemeinem wieder her. In dieser Rückkehr zu sich ist der Begriff unendliche Negation; Negation nicht gegen Anderes, sondern Selbstbestimmung, in welcher er sich nur auf sich beziehende affirmative Einheit bleibt. So ist er die wahrhafte Einzelheit als die in ihren Besonderheiten sich nur mit sich selber zusammenschließende Allgemeinheit. (Ästh. I., TWA 13, 148 f.) 100

Daher die Unendlichkeit der Subjektivität des Einzelnen, welche, als Negation der Negation sich auf sich selbst zurückbeziehend, dem objektiven System Spinozas fehlte. Ebenso erklärt sich auf dieser Stufe des Geistes die Abgeschlossenheit der inneren Subjektivität gegenüber einer bloß negierten äußeren Welt ohne jegliche eigene Positivität: In dieser fortgesetzten Negation erhält sich das Subjekt als frei und unendlich. Das Moment der Allgemeinheit geht hier nicht verloren, denn die Einzelheit ist ja nichts anderes als die sich auf sich selbst aus seiner Entäußerung zurückbeziehende Allgemeinheit; als Zu diesem Begriff ist noch zu sagen, dass Hegel im Original der Phänomenologie, der Philosophie des Rechts, der Enzyklopädie wie auch der Logik durchweg ›Einzelnheit‹ schreibt. Wenngleich diese orthographische Verbesserung nach TWA an jener zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch gebräuchlichen Variante am Sinn des Wortes selbst nichts ändert (beides bedeutet Singularität), sei darauf hingewiesen, dass Hegel diesen Begriff durchaus in Richtung auf ›das Einzelne‹ oder gar ›den Einzelnen‹ versteht (nicht etwa so, wie man vor einem Vertragsabschluss nach allgemeiner Einigung noch die vertraglichen ›Einzelheiten‹ zu klären hat), nämlich als mit sich zusammengeschlossene Einheit des Fürsichseins. Zur Etymologie beider Begriffe vgl. Grimm/ Grimm 1862, 350 u. 352. 100 Zur Begriffslogik dieses Schlusses A-B-E verweise ich auf die ausführlichere (und sichere) Interpretation bei Iber 1999, 175–190, insbes. 182 f.: »Die Bewegung des Schlusses führt dahin, daß sich die Subjektivität des Begriffs innerhalb eines Zyklus durch die Vermittlung der Besonderheit und der Negativität mit seiner Realität zusammenschließt und dadurch in einen neuen Zyklus eintritt. Die logische Struktur des Schlusses ist: A-B-E. Ausgangspunkt ist das Allgemeine, sein Mittleres – Vermitteltes und Vermittelndes zugleich, das Besondere – und sein anderes Extrem – das durch die Vermittlung mit sich zusammengeschlossene Subjekt, das Einzelne.« Vgl. hierzu auch Rph, GW 14,1, 34 f.; ferner PhRel I, TWA 16, 64 f. 99

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unmittelbare aber, im Abbruch ihrer vermittelnden Vergangenheit, schwebt die Einzelheit in der Luft: Das Bewusstsein der Wesentlichkeit verliert der Einzelne zwar nicht, ohne Rückbezug auf seine Genese bleibt es aber abstrakt (und als nicht gerechtfertigt: Willkür, daher die bloße Überzeugung als Basis der Pflicht). Der überwundenen Stufe der Sittlichkeit, in welcher der Mensch als Gattung seiner selbst bewusst wurde, ist sich der von seiner Wesentlichkeit überzeugte Einzelne auf der Stufe der Moralität in seiner Unmittelbarkeit nicht mehr bewusst. Hier gibt es keinen Widerstand mehr, der die einzelne Tat zum Frevel am in sich ruhenden Ganzen machen würde; ebenso bleibt die Übereinstimmung der Pflicht mit sich selbst von der Frage der tatsächlichen Erfüllung unberührt. Hier allerdings tut sich zunächst ein Graben auf: Während die moralischen Zwecke und Tätigkeiten selbstgenügsam in sich kreisen, bleibt die sinnliche Natur als unselbstständige und unwesentliche auf der anderen Seite liegen, während doch gerade diese fremde Zusammenhangs- und Zwecklosigkeit der äußeren Wirklichkeit, sofern sie eine Wertung durch das moralische Selbst erfährt, Bedingung für das Gelingen und den Lohn jeder moralischen Tat ist – und oft genug nicht nur die Verwirklichung der moralischen Zwecke vereitelt, sondern auch in schlagender Ungerechtigkeit den moralisch handelnden Menschen ins Unglück stürzt. Der Gegensatz, der in der klassischen Zeit im idealen Moment der schönen Sittlichkeit, in der fraglosen Heimat des Menschen in der Welt aufgehoben war, ist wieder aufgebrochen und die Grenze wird einseitig vom Standpunkt des sich gegen die sinnliche Welt konstituierenden Selbst gezogen. Zwar muss auch dieser Gegensatz, der Dynamik der Subjektivität gemäß, aufgehoben werden, aber (unter dem Maßstab der Moralität) nicht als Versöhnung des Gegensatzes, sondern als Überwindung seines Anderen. Gegenwärtig ist nur die Grenze: Das Andere soll überwunden werden, worüber sich erst das eigene Selbst negativ konstituiert. Die […] Einheit ist […] ein postulirtes Seyn, sie ist nicht da; denn was da ist, ist das Bewußtseyn, oder der Gegensatz der Sinnlichkeit und des reinen Bewußtseyns. […] [D]as Bewußtseyn hat sie daher selbst zustande zu bringen, und in der Moralität immer Fortschritte zu machen. Die Vollendung derselben aber ins unendliche hinauszuschieben; denn wenn sie wirklich einträte, so höbe sich das moralische Bewußtseyn auf. Denn die Moralität ist nur moralisches Bewußtseyn als das negative Wesen, für dessen reine Pflicht die Sinnlichkeit nur eine negative Bedeutung, nur nicht gemäß ist. […] Die Vollendung ist […] nicht wirklich zu er-

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reichen, sondern nur als eine absolute Aufgabe zu denken, das heißt als eine solche, welche schlechthin Aufgabe bleibt. Zugleich ist jedoch ihr Inhalt als ein solcher zu denken, der schlechthin seyn müsse und nicht Aufgabe bleibe; es sey nun, daß man sich in diesem Ziele das Bewußtseyn ganz aufgehoben, oder auch nicht, vorstelle; wie es eigentlich damit zu halten, läßt sich in der dunkeln Ferne der Unendlichkeit, wohin eben deßwegen die Erreichung des Ziels zu schieben ist, nicht mehr deutlich unterscheiden. (Phän., GW 9, 327)

Auf diesem Wege müssen notwendig alle konkreten eigenen Inhalte des Selbst verschwinden, ob nun als Bruchstücke der Sittlichkeit oder als Motive der eigenen sinnlichen Begierde (sofern es auch natürliches Lebewesen ist); das eine hat mit dem Verlust der Harmonie seinen Sinn verloren, das andere hingegen gehört eindeutig denjenigen Gesetzmäßigkeiten zu, die als blinder Zwang der negierten Außenwelt zugehören. Demgemäß bleibt die Glückseligkeit des Selbst in seiner Gegenwart zufällig, ebenso Wissen und Überzeugung des moralischen Selbst, solange es mit dem sinnlichen Wollen affiziert bleibt (vgl. Phän., GW 9, 330). Vollkommen bleibt das moralische Selbstbewusstsein daher nur dort, wo es sich rein im Gedanken gegen die Kontingenz der Realität als solcher konstituiert: Es ergreift seine Freiheit nur im Gedanken, der als unendliches Jenseits aller Realität postuliert wird (vgl. Phän., GW 9, 331). – Dieses Jenseits kann sich also nicht aus der konkreten Eigentümlichkeit der äußerlichen Realität ergeben, ebensowenig aus einem Begriff abstrakter Vernunft, welche die Gegensätze als gleichberechtigt in sich vereinigt, sondern ist wieder das Selbst, als absolutes gefasst. Während das moralische Bewusstsein sich anfänglich noch bloß als Wesen und Ansich der Welt fasste, so ergreift es sich als Gewissen in seinem Fürsichsein, in dem sich alle Elemente der Moralität in der immanenten Abgeschlossenheit des Selbstbezugs vereinigen (vgl. Phän., GW 9, 343 f.). Als Gewissheit ist in diesem nichts mehr von jener hin- und hergehende[n] Ungewißheit des Bewusstseyns vorhanden, welches bald die sogenannte reine Moralität ausser sich in ein anderes heiliges Wesen setzt, und sich selbst als das unheilige gilt, bald aber auch wieder die moralische Reinheit in sich, und die Verknüpfung des Sinnlichen mit dem Moralischen in das andere Wesen setzt. Es entsagt allen diesen Stellungen und Verstellungen der moralischen Weltanschauung, indem es dem Bewußtseyn entsagt, das die Pflicht und die Wirklichkeit als widersprechend faßt. […] Das Gewissen

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hat für sich selbst seine Wahrheit an der unmittelbaren Gewißheit seiner selbst. Diese unmittelbare concrete Gewißheit seiner selbst ist das Wesen; sie nach dem Gegensatze des Bewußtseyns betrachtet, so ist die eigne unmittelbare Einzelnheit der Inhalt des moralischen Thuns; und die Form desselben ist eben dieses Selbst als reine Bewegung, nemlich als das Wissen oder die eigne Überzeugung. (Phän., GW 9, 343)

In dieser unmittelbaren Gewissheit seiner selbst hat sich das Moment der Allgemeinheit zur reinen Abstraktion verflüchtigt; sie ist nur noch reine Pflicht als reine Überzeugung von der Pflicht, aus dessen letztlich tautologischer Abstraktheit beider Seiten sich in der Immanenz des Verhältnisses keinerlei berechtigte konkrete Inhalte ergeben könnten (vgl. Phän., GW 9, 346 f.). Dennoch konstituiert sich das Selbst allein in der Tätigkeit des Bestimmens – ein konkreter Inhalt muss also gegeben sein, und diesen vermag der Einzelne nur in sich selbst als Individualität, als auf sich selbst zurückgewiesene Partikularität zu finden: Es ist die reine, an nichts mehr gebundene Willkür des Einzelnen und die Zufälligkeit seiner eigenen individuellen Natur mit seinen bestimmten Trieben und Neigungen, welche nunmehr die Absolution durch die Pflicht erhalten, da sie stets die eigene Partikularität bezeichnen und das Selbstbewusstsein in dieser Hinsicht ein geschlossenes und freies bleibt (vgl. Phän., GW 9, 347); – und zwar in einem so absoluten Sinne frei, dass das Selbst als solches frei gegenüber allen diesen Bestimmtheiten bleibt, da ihm gegenüber alle konkreten Inhalten gleichgültig sind (solange sich nur der Selbstbezug herstellt). Es ist daher nicht so, dass das individuelle Selbst hier unter dem Zwang einer natürlichen Bestimmung stünde. War vorher noch die Sinnlichkeit des einzelnen Selbst als Natur zugunsten eines jenseits gelegenen Ansichs der Pflicht zu negieren, ist jetzt, wo sich das Selbstverhältnis in der Individualität vollständig zu sich zurückgebogen hat, die Selbstgewissheit nicht nur die Wahrheit dieses einen, sondern aller Individuen, gleichgültig gegenüber allen je eigenen Inhalten – wenngleich als subjektives Bewusstsein immer nur auf die eigene Partikularität zurückbezogen. Diese Freiheit bezeichnet die höchste Spitze der Moralität: kraft der Freiheit der Selbstgewissheit, als der »Majestät der absoluten Autarkie, zu binden und zu lösen« (Phän., GW 9, 349), über die eigene Bestimmtheit zu herrschen – sich selbst zu bestimmen.

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I.2.3.4.2. Ich = Ich als Wechsel des unglücklichen Bewusstseins mit sich selbst Wie weiter oben, im Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft weiter ausgeführt, ist das Selbstbewusstsein seiner inneren Struktur gemäß nur an und für sich, indem es für ein anderes an und für sich: anerkannt ist. Das Selbstbewusstsein, das jedem einzelnen Selbst als solchem eignet, ist zugleich das allgemeine Medium, in welchem jedes zugleich auch für anderes ist. Das einzelne Ich weist nur als vermitteltes auf sich selbst zurück, es muss sich äußern, um da zu sein. Dieses Ich wird sich also dort als Ich = Ich gegenständlich, wo es sich in seiner Gegenständlichkeit, im Verkehr mit einem anderen Selbstbewusstsein, noch als dieses Ich erhält, sich ebenso vernimmt, als es von den anderen vernommen wird (vgl. Phän., GW 9, 351). Hier tritt die Sprache als Dasein des Geistes in ihr volles Recht: Die Überzeugung des Gewissens muss ausgesprochen werden, um als allgemeingültig anerkannt zu sein. Der bestimmte Inhalt ist dabei gleichgültig, es kommt allein auf die Form der Allgemeinheit an, in der sich das Selbst in seiner Überzeugung als Selbst ausspricht. 101 In der ›Gemeinde‹, in der sich das Selbst unter seinesgleichen als alleiniger Herr über seine Bestimmtheit ausspricht, bestätigt sich das Selbst in der Sprache, im Medium des allgemeinen Selbstbewusstseins, als alleiniges und freies Wesen der Welt, welche in ihrem Innersten nichts Anderes als sein Wissen und Wille ist – in diesem in sich geschlossenen Horizont sich gegenseitig anerkennender selbstbewusster Einheiten bedarf der Einzelne zur Selbstgewissheit keiner ihm äußerlichen konkreten Wirklichkeit als eigenständiger mehr (an der sich noch der Knecht bildete und geschichtlich wurde). 102 Wie der 101 Hegels Ausführungen über das Gewissen spielen wahrscheinlich auf den Ausspruch Luthers zu Worms: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« an: Die Frage nach der Berechtigung der Überzeugung ist mit dem Selbst als allgemein anerkanntem ausgesprochen (die situative Parallelität zwischen Luther und Antigone vor Karl V. bzw. Kreon liegt natürlich nahe). Philosophiegeschichtlich lehnen sich diese Passagen allerdings an Fichtes Lehre vom Gewissensurteil (daneben vielleicht auch an Jacobi), aber auch und gerade an die letzten Seiten von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen an – eine Entdeckung (mitsamt der anderen philosophischen Bezüge) Emanuel Hirschs (Hirsch 1973, 255–263). 102 Später wird Schelling wiederum Hegel vorwerfen, dass sich bei ihm der Geist gegen die Natur mit sich zusammengeschlossen habe und damit zur Ungeschichtlichkeit scheinbarer Zeit verurteilt sei, da sich in seiner Bewegung die blinde Selbstwiederholung der in ihrem Wesen unerkannten Natur (›nichts Neues unter der Sonne‹) negativ widerspiegeln müsse (vgl. Kap. II.2.2.); – was sich hier, in der Phänomenolo-

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bestimmte Inhalt ist die konkrete Wirklichkeit als solche gleichgültig geworden, wo das Selbst sogleich und unter seinesgleichen im sprachlichen Einverständnis anerkannt ist und alle äußerlichen Widerstände unwesentlich bleiben. 103 Das Gewissen also, in der Majestät seiner Erhabenheit über das bestimmte Gesetz und jeden Inhalt der Pflicht, legt den beliebigen Inhalt in sein Wissen und Wollen; es ist die moralische Genialität, welche die innere Stimme ihres unmittelbaren Wissens als göttliche Stimme weiß, und indem sie an diesem Wissen ebenso unmittelbar das Daseyn weiß, ist sie die göttliche Schöpferkrafft, die in ihrem Begriffe die Lebendigkeit hat. Sie ist ebenso der Gottesdienst in sich selbst; denn ihr Handeln ist das Anschauen dieser ihrer eignen Göttlichkeit. (Phän., GW 9, 352)

Wesen und Selbst sind nun also in der höchsten Vollendung des Gewissens zur Einheit gelangt, alle Unterschiede haben sich in der in sich kreisenden Geschlossenheit des Selbstbewusstseins aufgelöst; in dieser immanenten Beziehung ist keine Äußerlichkeit mehr, denn das Ich ist alle Wesenheit und alles Dasein: Ich = Ich (vgl. Phän., GW 9, 353 f.). Das heißt aber auch, dass es nun kein eigenständiges Drittes mehr geben kann, über welches sich das Ich mit sich selbst vermittelt; daher muss die Antwort auf die Frage: wovon dies Selbstbewusstsein eigentlich Bewusstsein sei? lauten: nur von der leeren Gleichheit mit sich selbst, denn es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Bewusstsein und Gegenstand. Dadurch, dass nun das Ansich vollständig in die Selbstgewissheit zurückgebogen ist, löst sich alle Substantialität des Ichs in leere Abstraktion, in Nichts auf: »[E]s ist das absolute Selbstbewußtseyn, in dem das Bewußtseyn versinkt« (Phän., GW 9, 354). – Und diese Art Versinken ist keine Bewegung, die irgendwann auf gie, auf der Seite der Subjektivität mit zunehmender Selbstsicherheit gegen eine gleichgültige Objektivität verfestigt, führt aus demselben Grund zur schlechten Unendlichkeit, wie später Schelling aus dem Vorwurf eines Abschlusses der Logik vor der Natur in der Wiedereinholung derselben im Geist an Hegel folgert, dass diese Bewegung sich endlos in scheinbarer Zeit selbst wiederholen müsse. 103 Gerade in den ›prosaischen Verhältnissen‹ (vgl. Kap. 1.4.3.1.) einer bürgerlichen Ordnung mitsamt ihrer detaillierten rechtlichen Ordnung und sprachlich-reflektierten Durchdringung der Wirklichkeit gelangt die Bewegung dahin, dass diese Widerstände und Abhängigkeiten des einzelnen Selbst zwar immer noch da sind, aber als Familie, Beruf, rechtliche Pflichten etc. einer gänzlich reflektierten Sphäre angehören (wenngleich der Einzelne in seiner allseitigen Abhängigkeit die vollständige Reflexion dieser Sphäre nie leisten kann – in dieser vielmehr das Selbst des Einzelnen in seiner gänzlichen Relativität verloren geht).

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einem Boden angelangt; das Versinken ist nämlich selbst die Form, in der sich das Ich fort und fort erhält (und um seiner Reinheit willen muss es immer weiter sinken). Beide Momente im Ich = Ich sind nur in Wechselbeziehung, da sie für sich nicht bestehen können (woran sollten sie sich auch halten?) und das Ganze hält sich nur im beständigen Erzeugen und Sichverlieren in seine Bestimmungen, zwar in sich kreisend, aber ohne den stets in sich gegenwärtigen Selbstbezug des Anundfürsichseins, denn das Ich selbst ist das Wesen, und es hat kein festes Dasein, da seine Gegenständlichkeit sich nie von der Reinheit des Ichs löst – es fehlt das Moment einer tatsächlichen und ernstgenommenen Negation seiner selbst als letzter Gewissheit, daher es sich nicht mehr zu entäußern vermag: Es ist der Wechsel des unglücklichen Bewußtseyns mit sich, der aber für es selbst innerhalb seiner vorgeht, und der Begriff der Vernunft zu seyn sich bewußt ist, der jenes nur an sich ist. Die absolute Gewißheit seiner selbst schlägt ihr also als Bewußtsein unmittelbar in ein Austönen, in Gegenständlichkeit seines Fürsichseyns um; aber diese erschaffne Welt ist seine Rede, die es ebenso unmittelbar vernommen und deren Echo nur zu ihm zurückkommt. […] Es lebt in der Angst die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Daseyn zu beflecken, und um die Reinheit des Herzens zu bewahren, flieht es die Berührung der Wirklichkeit, und beharrt in der eigensinnigen Kraftlosigkeit, seinem zur letzten Abstraction zugespitzten Selbst zu entsagen, und sich Substantialität zu geben, oder sein Denken in Seyn zu verwandeln, und sich dem absoluten Unterschiede anzuvertrauen. Der hohle Gegenstand, den es sich erzeugt, erfüllt es daher nun mit dem Bewußtseyn der Leerheit; sein Thun ist das Sehnen, das in dem Werden seiner selbst zum wesenlosen Gegenstande sich nur verliert, und über diesen Verlust hinaus und zurück zu sich fallend, sich nur als verlornes findet; – in dieser durchsichtigen Reinheit seiner Momente eine unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich, und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst. (Phän., GW 9, 354)

Zum Wissen abgeschlossen ist das Gewissen hier an das Ende der Geschichte des Selbstbewusstseins gelangt, das als stufenweise Überwindung des Gegensatzes von Bewusstsein und Gegenstand, an deren Ende dieser in eins mit dem Selbstbewusstsein gesetzt werden soll, ja das Movens der Phänomenologie ausmacht – nur ist dieses Ende nicht die Vollendung, sondern, nach Verlust aller Negativität (in welche das Ich zu Anfang der Phänomenologie noch einging und sich verflüssigte) eine Sackgasse in sich kreisender Geschichtslosigkeit. Noch einmal, wie im Ausgang vom Skeptizismus, sind die Wider91 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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sprüche des natürlichen Bewusstseins zuletzt im Selbst vereinigt, indem es beginnt, sich selbst aufzuzehren: als unglückliches Bewusstsein also, dem substanzlosen Kreisen des Bewusstseins in sich selbst, das sich nur in der fortdauernden und gegenwartslosen Bewegung seines Verschwindens und im zusammenhangs- und geschichtslosen Wechsel seiner Bestimmungen aufrechterhält – mit dem entscheidenden Unterschied aber zur früheren Form, dass nun nicht mehr dem durch Zweifel untergrabenen unwesentlichen Selbst ein Jenseits des Ansichs vorschwebt, sondern die ganze Bewegung jetzt in sich selbst zurückgebogen ist und jenes Ansich eins geworden ist mit dem leeren Selbst: Das unglückliche Bewusstsein, das anfänglich noch einen Ausweg im abstrakten Vernunftbegriff und dessen Verwirklichung in der Welt gefunden hatte, hat sich nun mit sich selbst zusammengeschlossen. Jede Bewegung des Geistes, die von hier aus ihren Ausgangspunkt nimmt, muss notwendig in die schlechte Unendlichkeit hinausgehen. Jener Abbruch der Reflexion, welcher in der Differenzschrift beschrieben wurde, findet hier seine Entsprechung im einzelnen Subjekt, das die Brücken zu seiner Vorgeschichte der Stufen seiner Allgemeinheit und Besonderung, gegen welche der Einzelne für sich geworden ist, hinter sich abgebrochen hat. Die einfache Negativität Spinozas brachte es noch mit sich, dass die Reflexion – auf der Ebene der bestimmten Modi – als Linearität ins Endlose fortschritt, so dass jeder Moment nur den vorherigen ablöste, ohne dass hier die geschichtliche Bewegung einer Entwicklung des Ganzen stattfand, da sich jene Linearität nicht auf sich selbst (als Negation der Negation) zurückbezog (sie sollte es auch gar nicht) – weswegen Spinoza auch keine Einzelheit denken konnte: 104 Das Selbstbewusstsein wurde dort vom Wesen vertilgt (die ›Schwindsucht‹ Spinozas; vgl. GeschPh III, TWA 20, 185). Die Substanz als letztes Abstraktum des bestimmten Denkens konnte jene Bewegung nicht halten: Sie blieb als Jenseits der Bewegung völlig unberührt von ihr. Hier aber, im Wechsel des unVgl. GeschPh III, TWA 20, 170: »Der Mangel des Spinoza ist, daß er das Dritte nur als Modus faßt, als schlechte Einzelheit. Die wahrhafte Einzelheit, Individualität, wahrhafte Subjektivität, ist nicht nur Entfernung vom Allgemeinen, das schlechthin Bestimmte; sondern es ist, als schlechthin bestimmt, das Fürsichseiende, nur sich selbst Bestimmende. Das Subjektive ist so ebenso die Rückkehr zum Allgemeinen; das Einzelne ist das bei sich Seiende und so das Allgemeine. Die Rückkehr besteht darin, daß es an ihm selbst das Allgemeine ist, zu dieser Rückkehr ist Spinoza nicht fortgegangen.« 104

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glücklichen Bewusstseins mit sich selbst, gibt es nicht einmal mehr jenen abstrakten Fluchtpunkt eines Anderen als Ansich der Bewegung; – verschwand dort das eigene, als Besonderheit negierte Selbst im abstrakten Sein der Substanz (das für die Vorstellung noch einen Halt bieten mochte), verschwindet es hier als unmittelbar seiend gesetzt fortwährend ins abstrakte Nichts. Auch die fichtesche Philosophie kann an diesem in sich kreisenden Geschehen nicht stehen bleiben; hier aber, im Fortgang, zeigt sich vollends die schlechte Unendlichkeit, in welche dieses Denken nach Abbruch seiner Geschichte geraten ist, nachdem es das Ich auf sich selbst gestellt hat und darin dem unglücklichen Bewusstsein preisgab: mit dem Unterschied, dass dieses unglückliche Bewusstsein nicht mehr weiß, dass es eines ist. Der Begriff der Pflicht, welchen Hegel in der Phänomenologie deutlich an Kant anlehnt, war erster Ausdruck eines Selbstbewusstseins, in welches alle Wesenheit fällt; in praktischer Hinsicht musste das Streben dieses Selbstbewusstsein nach dem Jenseits vollendeter Moralität stets ein gegenwartsloses bleiben: Die Einheit ist nicht, sie soll hergestellt werden, was nur in Form eines unendlichen Progresses stattfinden konnte. Sofern aber auf der nächsten Stufe (Fichte) das mit sich zusammengeschlossene Ich (ohne Jenseits) einen Inhalt haben soll, muss sich das Ich im nächsten Schritt selbst als begrenzt setzen, nämlich als Nicht-Ich. Sobald aber dieses Anderssein ausgesprochen wird, beruht die Bewegung doch wieder auf einem Dualismus, der nicht aufgehoben werden kann, aber zur Einheit gebracht werden soll – die Rückkehr des unmittelbar an den Anfang gesetzten Ichs zu sich selbst ist nie zu vervollständigen. Dieses bleibt zwar in der leeren Substantialität des Selbstbewusstseins, in welchem alles Bewusstsein letzthin verschwinden muss, als durchgehender Zusammenhalt des Ganzen erhalten – das hierin ausgetragene unglückliche Bewusstsein vermag sich aber nicht zu überwinden, es verlagert sich nur in praktischer Hinsicht in das Wechselspiel (und erhält sich als Bewegung eben nur, so die Definition des unglücklichen Bewusstseins, in diesem fortgesetzten Wechsel) von Ich und Nicht-Ich als Anstoß eines werdenden Selbstbewusstseins. So heißt es dann auch später in der Geschichte der Philosophie: So findet die ins Unendliche gehende Tätigkeit einen Anstoß, durch den sie zurückgedrängt wird in sich, gegen den sie dann aber wieder reagiert. Indem ich nun das NichtIch setze, muss das affirmative Ich sich selbst

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beschränken. Diesen Widerspruch sucht Fichte zu vereinigen, aber dessenungeachtet läßt er den Grundschaden des Dualismus bestehen; so ist er nicht aufgelöst, und das letzte ist nur ein Sollen, Bestreben, Sehnen. […] Was vorhanden ist, ist nur eine Abwechslung des Selbstbewußtseins und des Bewußtseins eines Anderen und das unendliche Fortgehen dieses Abwechselns, das kein Ende findet. […] Ich ist unendlich, ist denkend, findet sich aber mit einem Nicht-Ich; dies ist ein Widerspruch. Das Ich, das schlechthin bei sich selbst sein soll, soll nun bei einem anderen sein, – das Ich, das schlechthin frei ist. Die Forderung, diesen Widerspruch aufzulösen, hat nun bei Fichte die Stellung, dass sie nur eine geforderte Auflösung ist, daß ich die Schranke immerfort aufzuheben, über die Grenze immer fortzugehen habe ins Unendliche, in die schlechte Unendlichkeit hinaus, und immer eine neue Grenze finde. Mit dem Aufheben einer Grenze zeigt sich immer eine neue; es ist die fortgesetzte Abwechslung von Negation und Affirmation, eine Identität mit sich, die wieder in die Negation verfällt und daraus immer wieder hergestellt wird. (GeschPh III, TWA 20, 399 u. 403)

Dieses Denken ist schlechte Unendlichkeit, denn es ist nicht einfach nur ein negativer Zwischenschritt, der aus sich selbst zum nächsten führt, sondern bezeichnet einen in der hegelschen Philosophie sehr merkwürdigen Fall einer Sackgasse des Denkens, sofern der Geist hier aus seiner eigenen Geschichte herausgefallen ist und unmittelbar den Anschluss nicht mehr zu finden vermag (sondern nur im Bewusstsein der Abwesenheit des Wahren, in der Sehnsucht Zeugnis für seine Verfehlung abgibt – »das letzte ist nur ein Sollen, Bestreben, Sehnen«, s. o.): Er hat sich verfrüht als Ganzes mit sich zu einer vermeintlich wahren Unendlichkeit zusammengeschlossen und kreist fort und fort als leere Dauer in sich selbst. Erst die Phänomenologie, welche die Entwicklung des Selbstbewusstseins von seinem ersten Gegensatz bis zu diesem Punkt systematisch nachvollzieht, vermag, indem sie im Aufzeigen seiner Geschichtlichkeit jenem Ich die Unmittelbarkeit nimmt, den Schritt aus dieser Sackgasse hinauszutun. Jene wirklichkeitslose schöne Seele des unglücklichen Bewusstseins, welche in der Phänomenologie die Konsequenz der fichteschen Philosophie darstellt (und hier wohl vor allem auf Novalis anspielt), geht in sich an jenem fortgesetzten Dualismus zugrunde, sofern es sich dieses Widerspruchs seines reinen Selbst und der Notwendigkeit zur Entäußerung in die Wirklichkeit bewusst wird und im Fortgang doch nur sich selbst aufzehren kann (die schöne Seele ›verglimmt in sich‹ ; vgl. Phän., GW 9, 355): Dies Bewusstsein »zerfließt in sehnsüchtiger Schwindsucht. Es gibt damit 94 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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in der That das harte Festhalten seines Fürsichseins auf, bringt aber nur die geistlose Einheit des Seins hervor [die als reine Abstraktion dasselbe ist wie Nichts, D. U.]« (Phän., GW 9, 360). – Es ist sich nämlich zugleich des Verlustes aller Wesenheit in der Selbstgewissheit bewusst, weder Substanz noch Selbst sind hierin aufrechtzuerhalten (vgl. Phän., GW 9, 401). Beide Seiten können aber nur dann wieder aus der Versenkung auftauchen, wenn das Ich seine fürsichseiende Einseitigkeit aufgibt und den Dialog mit der Wirklichkeit wiederaufnimmt – ebenso wie zuvorletzt das Selbst sich nur in der Gemeinde mit anderen seiner selbst als Wesen vergewissert sein konnte –, und zwar einer solchen, die eine eigene Geschichte und Entwicklung des zu sich selbst kommenden menschlichen Geistes in sich trägt und an dem sich jenes auf sich selbst gestellte und mit sich zusammengeschlossene unglückliche Bewusstsein in seiner schlechten Unendlichkeit wiederaufrichten könnte: nämlich über die Zwischenstufen der Kunst (worin sich der Geist als von ihm selbst hervorgebrachte Wirklichkeit gegenständlich wird) 105 und der Religion (im Modus der Vorstellung hin zum menschgewordenen Gott) – beide, wie gesagt, nicht als Sphären, die von der hier beschriebenen fatalen Entwicklung des Selbstbewusstsein getrennt und unterschieden wären, sondern als solche, die ihre vergangenen (damit vermittelnden) Stufen als Geschichte in sich tragen und zur konkreten Anschauung bringen: Das Wort der Versöhnung ist der daseyende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegentheile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seyenden Einzelnheit anschaut, – ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist. (Phän., GW 9, 361)

Erst dort nämlich, wo die Entäußerung des Selbst nicht nur negative (wie im Modell von Ich und Nicht-Ich), sondern auch positive Bedeutung hat als Moment eines Bewusstseins, in welchem das Selbst in seinem Anderssein bei sich ist (vgl. Phän., GW 9, 428), versöhnt sich das Selbstbewusstsein mit seiner eigenen Geschichte – in einem solchen Anderssein nämlich, das nicht, wie die Gegenständlichkeit im

105 Dieser Übergang wird im Kap. I.4.3.2. anhand des Schritts von Lyrik zum Drama in der Ästhetik näher dargestellt. Dort begegnen wir einer Selbstaufhebung der Kunst zur Philosophie von der bloßen Selbstaussprache ohne Widerhall der Lyrik zum realen Dialog des Dramas – ein Schritt, der auch die Methode Schellings berührt.

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natürlichen Bewusstsein, ein Fremdes und Zufälliges, sondern geistgeborene Vorstellung und Wirklichkeit ist und darin die Geschichte des Selbstbewusstseins anschaulich werden lässt. Gleichzeitig gibt in diesem Verhältnis das Ich seine Unmittelbarkeit auf, denn es unterscheidet von sich einen Inhalt und ist als Bewusstsein selbst ein vermitteltes, so wie ja auch der denkende Nachvollzug der Geschichte des Selbstbewusstseins, welche in der Unmittelbarkeit des Ich = Ich zunächst seine höchste Spitze erreichte, dessen eigene Vermittlung zur Darstellung brachte. An dieser Stelle, wo die Unmittelbarkeit des Ich = Ich aufgehoben und der Weg seiner Entäußerung über Kunst und Religion beschritten wird, ist das Verhältnis des Bewusstseins zu seinem Gegenstand, sofern es ihn als sich selbst weiß, ein doppeltes und sich mit sich in wahrer Unendlichkeit zusammenschließendes geworden: Der Gegenstand ist nunmehr, »als Ganzes, der Schluß oder die Bewegung des Allgemeinen durch die Bestimmung zur Einzelnheit, wie die umgekehrte, von der Einzelnheit durch sie als aufgehobne oder die Bestimmung zum Allgemeinen« (Phän., GW 9, 423). Der Geist als der »sich in Geistsgestalt wissende Geist oder das begreiffende Wissen« (Phän., GW 9, 427) ist nun als absolutes Wissen zu sich selbst zurückgekehrt. Das Absolute, dessen Werden am Ende des Naturrecht-Aufsatzes beschrieben wurde, hat seine Entäußerung in die Dimension der Zeit (dem Nacheinander seiner auseinandergefallenen Momente) überwunden, indem es sich als das insgeheim stets Anwesende und in der negativen Vermittlung seines Werdens Offenbarende, als Vernunft im Verstande gezeigt hat. Hiermit ist aber erst jene Stufe des absoluten Wissens erreicht, zu dem die Phänomenologie vom natürlichen Bewusstsein ausgehend die Leiter reichen sollte, denn in diesem Abschluss hat es zugleich seine Vermittlung aufgehoben und eine neue Unmittelbarkeit gewonnen, durch welche für den weiteren Fortgang ein neuer Anfang gesetzt ist (denn sein konkretes Dasein in seiner Entäußerung und seinem Werden als Rückkehr zu sich selbst hat das absolute Wissen nun aufgehoben und hinter sich gelassen). Jedes Fortschreiten von dieser Unmittelbarkeit kann allerdings nicht mehr in der Trennung von Bewusstsein und einem ihm fremden und zufälligen Gegenstand stattfinden, sondern nur im mit sich selbst zusammengeschlossenen Denken des Denkens selbst als Resultat des erscheinenden Bewusstseins. Nicht so also, dass der Gang der Phänomenologie Bedingung für den konkreten Gang der Logik wäre, die von hier ihren Ausgangspunkt nehmen wird – vielmehr ist die Phänomenologie als propädeu96 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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tisches Werk die Voraussetzung dafür, dass mit der Logik ein Anfang gemacht werden kann: Indem seine [des Geistes, D. U.] Vollendung darin besteht, das, was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist diß Wissen sein Insichgehen, in welchem er sein Daseyn verläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt. In seinem Insichgehen ist er in der Nacht seines Selbstbewußtseyns versunken, sein verschwundnes Daseyn aber ist in ihr aufbewahrt, und diß aufgehobene Daseyn, – das vorige, aber aus dem Wissen neugeborene, – ist das neue Daseyn, eine neue Welt und Geistesgestalt. In ihr hat er ebenso unbefangen von vornen bey ihrer Unmittelbarkeit anzufangen und sich von ihr auf wieder groß zu ziehen, als ob alles vorhergehende für ihn verloren wäre, und er aus der Erfahrung der frühern Geister nichts gelernt hätte. Aber die Er-Innerung hat sie aufbewahrt und ist das Innre und die in der That höhere Form der Substanz. Wenn also dieser Geist seine Bildung von sich nur auszugehend scheinend wieder von vorn anfängt, so ist es zugleich auf einer höhern Stuffe daß er anfängt. (Phän., GW 9, 433)

Hier also beginnt die eigentliche philosophische Wissenschaft Hegels, die mit der Logik gleichzeitig auch die Bedingungen ihres eigenen Werdens hinter sich gelassen hat. Das negative Vorzeichen der Phänomenologie, die Trennung des erscheinenden Bewusstseins, ist in der Logik aufgehoben. Die Unmittelbarkeit des Anfangs jenes erscheinenden Bewusstseins ist zugleich der Beginn seiner Entfremdung von der Wahrheit (einer Unwahrheit also, in der wir uns unmittelbar wiederfinden müssen). Das Reflexionsmodell der Differenzschrift gibt auch hier das Schema vor: Die Einseitigkeit der Verstandesreflexion kommt nie über die Grenze jener ersten Unterscheidung zwischen Selbst und Gegenstand, damit nie über eine bloße Wechselbestimmung hinaus, wenn sie noch den Anfang als solchen bewahren will und diesen nicht mit sich fortträgt, d. h. ihn einer allseitigen Negativität unterwirft, in der die Reflexion sich Schritt für Schritt bewegt und sich als solche aufrecht erhält. Der sich vollbringende Skeptizismus der Phänomenologie fordert das Selbst des einzelnen Subjekts in seinem erscheinenden Bewusstsein auf, gleichsam seinen Tod anzuerkennen, um sich in ihm zu erhalten: 106 Die Radikalität der Skepsis, zu dem der hegelsche Ansatz hier auffordert, macht vor keiner Positivität (auch nicht vor dem Subjekt des Bewusstseins)

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Vgl. hierzu wieder Phän., GW 9, 27 u. Kap. I.2.1. Anm. 76.

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halt, die nicht die Vermittlung einer Bewegung allseitiger Negativität hinter sich hat, wodurch sie wiedergewonnen wurde. Der Untergang aller einzelnen, in ihrer unmittelbaren Einseitigkeit für sich stehenden Bestimmungen (die aber als Bestimmungen dem Fluss der Negation anheimfallen müssen, wenn sie nicht leerer Ausschluss des Anderen schlechthin bleiben sollen) bezeichnet aber wiederum jenes Tragödienmodell des Absoluten, wie es ebenfalls zuerst in Jena entworfen wurde, in der Phänomenologie aber erneut konsequenter, radikaler fortgedacht wird: Richten sich die Eumeniden noch am idealen Moment des Schönen wieder auf, nämlich in der schönen Sittlichkeit der alten Griechen, geht dieses Ideal in der Antigone seiner Bestimmung entgegen: nämlich zugrunde. Gerade im fortgesetzten Untergang seiner einzelnen Bestimmungen erhält und konkretisiert sich aber das Absolute, nämlich als dessen bei sich bleibende und gegenwärtige Geschichte – so, wie auf der Gegenseite das einzelne Selbst dort geschichtlich wird, wo es seine Unmittelbarkeit aufgeben muss: in der Wahrheit des knechtischen Bewusstseins und seiner Bildung am Anderen als aufgehaltenes Verschwinden. Der Einzelne kann sich nur im Allgemeinen (das ihm zunächst als alles Bedeutende vernichtendes, blindes Schicksal erscheint), 107 das Allgemeine sich nur im Einzelnen wiedergewinnen (welches der Untergang seiner Idealität ist). Beides ist Rückschluss aus seiner Bestimmung auf sich in doppelter Negation, damit aber Aufgeben der Unmittelbarkeit und völliges Anheimgeben an die Negativität; und so, wie später in der Rechtsphilosophie die Sittlichkeit als geschichtliche (darin sich erhaltende) wiederaufscheint, gewinnt das Selbst des Bewusstseins sich erst dort wieder, wo es sich seiner Allgemeinheit bewusst wird, im Wiederaufrichten an seiner in Kunst und Religion gegenständlich gewordenen Geschichte als Vermittlung seines unmittelbaren Fürsichseins. Die Alternative ist Festhalten an der Unmittelbarkeit und damit Verlust aller Gegenwart und Wirklichkeit, die Trauer um das Vergangensein des Schönen oder der Abgrund des Selbstbewusstsein in der Moralität, dessen bestimmter Selbstbezug notwendig dort in die schlechte Unendlichkeit hinausgehen muss, wo es noch auf die Erfüllbarkeit seines Anspruchs hofft (nämlich, wie sich später zeigt, im Begriff des Sollens und der Ästhetik des Erhabenen), sich aber in

107

Vgl. Kap. I.2.2.3.

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Die Phänomenologie des Geistes

Wahrheit als unglückliches Bewusstsein, das sich nur im fortwährenden, gleichgültigen Wechsel seiner Bestimmungen aufrechterhält, mit sich selbst zusammengeschlossen hat und gegenwartslos in sich fortkreist.

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I.3. Die Wissenschaft der Logik

I.3.1. Der Anfang mit dem reinen Sein Was durch die Phänomenologie erfolgte und die Logik ermöglichte, ist die Befreiung vom Gegensatz des erscheinenden Bewusstseins (vgl. WdL, GW 21, 8), – dies die einzige, aber notwendige Voraussetzung, um in reiner Selbstbezüglichkeit das Denken selbst denken zu können. Zwar beginnt die Logik dort, wo die Phänomenologie ihr Ende fand, indem das erscheinende Bewusstseins in seinem Resultat sich selbst aufhob, jedoch hat der Gang der Phänomenologie keinen Einfluss mehr auf die immanente Bewegung der Logik: Das Ergebnis der Phänomenologie, dass mit der Logik der Anfang gemacht werden müsse, bezeichnet eine Vermittlung derselben, die sich selbst aufgehoben hat (vgl. WdL, GW 21, 54 f.) – jene stellt den durchaus merkwürdigen Fall eines philosophischen Werks dar, welches am Ende den Nachweis erbringt, dass mit einem anderen notwendig der Anfang gemacht werden müsse. 108 Dennoch musste für uns jener Gang durch die früheren Werke Hegels und zuletzt durch die Phänomenologie unerlässlich sein: Nur hier konnte das Problem der schlechten Unendlichkeit sich voll und in aller Dringlichkeit entfalten, denn in der Logik ist es, wie wir sehen werden, eigentlich keines mehr: Sie hebt sich schon im ersten Schritt ihrer logischen Durchdringung selbst auf und nur die umfangreichen Anmerkungen und Querverweise geben noch Zeugnis davon, dass die Logik selbst einen Ausweg aus jenem Dilemma der Unendlichkeit auf der Ebene des Geistes darstellt, worin sich die Geschichte des Selbst108 Vgl. Enz. III, GW 20, 117 f. (§ 78, Anm.): »Die Foderung eines […] vollbrachten Skepticismus [als Movens einer Geschichte des Selbstbewusstseins, vgl. Kap. I.2.2.1 dieser Arbeit, D. U.] ist dieselbe mit der, daß der Wissenschaft das Zweifeln an allem, d. i. die gänzliche Voraussetzungslosigkeit an Allem vorangehen solle. Sie ist eigentlich in dem Entschluß, rein denken zu wollen, durch die Freiheit vollbracht, welche von allem abstrahirt und ihre reine Abstraction, die Einfachheit des Denkens, erfaßt.«

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bewusstseins an seiner höchsten Stelle notwendig wiederfinden muss (und worin die Zeitgenossen der Romantik noch immer befangen seien); – die Thematisierung der schlechten Unendlichkeit ergibt sich, wie wir sehen werden, nur aus einem Umweg, einem Räsonnement an der Schnittstelle des logischen Verhältnisses von Endlichkeit und Unendlichkeit darüber, wie dieses Verhältnis auch denkbar sei, sofern man hier nur den Verstand walten lässt und die logische Vorgeschichte, deren Resultat das wahre Verhältnis darstellt, für einen Moment ausblendet. Solange die Logik in der reinen, in sich kreisenden Immanenz eines Denkens des Denkens stets bei sich und darin vollkommen gegenwärtig bleibt, ist sie vor der gegenwartslosen Dauer eines Denkens der Unendlichkeit in seiner schlechten Gestalt in jedem Moment bewahrt – sofern es gelingt, aus der höchsten Abstraktheit, die am Ende der Phänomenologie stehen bleibt, eine sich selbst bestimmende (und darin bei sich bleibende, in sich gegenwärtige) Bewegung abzuleiten. Diese Bewegung wäre nicht eine solche, die vom SubjektObjekt-Gegensatz fortwährend weitergetrieben würde, sondern die Bewegung der Sache selbst und ihre Darstellung (im Denken des Denkens) die Artikulation des in der Negativität unseres erscheinenden Bewusstseins ›bewusstlos Geschäftigen‹ (vgl. WdL, GW 21, 15). Die skeptische Methode der Phänomenologie in der Überwindung des Gegensatzes des erscheinenden Bewusstseins entspricht zwar auf gewisse Weise der Negativität aller Bestimmung in der Seinslogik, aber: Die reine Unmittelbarkeit des Seins, an der sich die Bewegung schlechter Unendlichkeit festhält, ist hier bereits im ersten Schritt aufgehoben. Die schlechte Unendlichkeit ist, anders als der erste Gegensatz von Unendlichkeit und Endlichkeit, in der Logik kein notwendiger Zwischenschritt zur wahren, vielmehr verfällt der absolute Anspruch einer gegen die Endlichkeit als schlechthin Anderes festgehaltenen Unendlichkeit, wie bereits im ersten Kapitel (I.1.1.1.) erwähnt, bereits dann seinen Widersprüchen, »so wie er sich auf die Anwendung und Explication […] seiner Kategorien einläßt« (WdL, GW 21, 127). Für uns wiederum gilt es, in der Betrachtung des Gangs der Logik bis zum verfehlten und wahren Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit, zum einen die Notwendigkeit jener Bewegung in den einzelnen Schritten der Seinslogik (worin sie verortet ist) zu verfolgen, andererseits aber auch stets die Möglichkeiten des Ausscherens dieses als vernünftigen wesentlich geschichtlichen Denkens in jene Sackgassen zu betrachten, welche schließlich in der Rotation schlech101 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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ter Unendlichkeit in ein Modell einmünden, das im einmal eingeschlagenen Weg aus der auf sich selbst gestellten Selbstverfehlung auf immanenten Wege nicht mehr den Anschluss an die Geschichte zu finden vermag (insbesondere dort, wo sie sich auf der Ebene des Geistes als unglückliches Bewusstsein im Wechsel mit sich selbst zusammengeschlossen hat und somit keine Vergangenheit mehr hat – die Anmerkungen der Logik verweisen hier in derselben Argumentationsrichtung wie die Phänomenologie auf Kant und Fichte). Warum aber der Anfang der Logik mit dem Sein (»reines Seyn, – ohne alle weitere Bestimmung«; WdL, GW 21, 68)? Jene ›Nacht [des] Selbstbewusstseins‹ (vgl. Phän., GW 9, 433), in welches das reine Wissen am Ende der Phänomenologie in sich gegangen ist (d. h. seinen Gegenstand verinnerlicht hat), ist selbst reine Unmittelbarkeit (wenngleich vermittelt durch den notwendigen Gang des erscheinenden Bewusstseins – dieses war noch selbst, im Gegensatz zu seinem Resultat, unmittelbares Bewusstsein, das sich im Anfang seiner Vermittlung noch nicht bewusst war). Hierin ist keine Bestimmtheit mehr, denn die Einheit dieses reinen Wissens ist nicht mehr zu unterscheiden von einem Anderen außerhalb seiner, wie es noch in der Trennung von Bewusstsein und seinem Gegenstand der Fall war: Der Verstand hat für die negative Bestimmung eines mannigfaltigen Bezuges keine Angriffsfläche mehr, denn hier ist kein Inhalt, sondern nur Unendlichkeit in höchster Abstraktion. Während die Phänomenologie den aus der ersten Erfahrung genommenen Satz: Ich weiß, dass etwas ist noch als konkrete Aussage über ein Vorgefundenes im Modus des erscheinenden Bewusstseins entfalten konnte (denn in dieser Aussage ist bereits ein Ich bezogen auf ein schlechthin Anderes und dieses Andere wiederum als Gegenstand bezogen auf ein Ich; vgl. WdL, GW 21, 34), 109 beginnt die Logik mit dem Sein als Unmittel109 Interessant an diesen Vorbemerkungen Hegels zum Anfang der Wissenschaft in dieser ersten Fassung ist auch, dass hier der Übergang der Logik in die Natur die Bedeutung einer gegenläufigen Bewegung zu jener des Bewusstseins zum reinen Wissen bekommt: »So wird das Bewußtseyn auf seinem Wege von der Unmittelbarkeit aus, mit der es anfängt, zum absoluten Wissen, als seiner Wahrheit zurückgeführt. Diß letzte, der Grund, ist denn auch dasjenige, aus welchem das Erste hervorgeht, das zuerst als Unmittelbares auftrat. – So wird auch der Geist am Ende der Entwicklung des reinen Wissens, sich mit Freyheit entäussern und sich in die Gestalt eines unmittelbaren Bewußtseyns, als Bewußtseyn eines Seyns, das ihm als ein Anderes gegenüber steht, entlassen. Das Wesentliche ist eigentlich, nicht daß ein rein Unmittelbares der Anfang sey, sondern daß das Ganze ein Kreislauf in sich selbst ist, worin das Erste auch das Letzte, und das Letzte auch das Erste wird« (WdL, GW 11,

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barkeit schlechthin. Damit hört jenes Wissen, das eins geworden ist mit seinem Objekt, auf, Wissen zu sein: Wissen ist dieser Punkt nur als Resultat der Phänomenologie (also aus der Perspektive seiner Vermittlung), rein für sich genommen ist dieser Punkt als solcher nur reine Unmittelbarkeit, ohne Erinnerung an seine Vorgeschichte: Nur der Entschluß, den man auch für eine Willkühr ansehen kann, nemlich daß man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden. So muß der Anfang absoluter oder was hier gleichbedeutend ist, abstracter Anfang seyn; er darf so nichts voraussetzen, muß durch nichts vermittelt seyn, noch einen Grund haben; er soll vielmehr selbst Grund der ganzen Wissenschaft seyn. Er muß daher schlechthin ein Unmittelbares seyn, oder vielmehr nur das Unmittelbare selbst. Wie er nicht gegen Anderes eine Bestimmung haben kann, so kann er auch keine in sich, keinen Inhalt enthalten, denn dergleichen wäre Unterscheidung und Beziehung von Verschiedenem aufeinander, somit eine Vermittelung. Der Anfang ist also das reine Seyn. (WdL, GW 21, 56)

Bis zum Übergang in die Natur, der Entäußerung des Denkens in die Gestalt des unmittelbaren Seins, bleibt diese reine Immanenz des reinen Wissens als Denken des Denkens erhalten, und zwar bruchlos vom Anfang des reinen Seins fortschreitend: Der Satz »Seyn, reines Seyn, – ohne alle weitere Bestimmung« ist kein »einstweilen angenommenes«, noch »bittweise vorausgesetztes« (WdL, GW 21, 58), sondern sowohl als Anfang notwendig wie im Hinblick auf den Fortgang einziger Ausgangspunkt, ohne dass ein äußerliches Räsonnement nötig wäre, das Denken voranzutreiben; dem stets und eindringlich wiederholten Anspruch der Logik gemäß ist es allein Negation und die dialektische Tätigkeit der Vernunft, welche von jener höchsten Abstraktion zur Konkretion fortschreitet: Der Fortgang […] von dem, was den Anfang macht, ist nur als eine weitere Bestimmung desselben zu betrachten, so daß das Anfangende allem Folgenden zu Grunde liegen bleibt, und nicht daraus verschwindet. […] So ist der Anfang der Philosophie die in allen folgenden Entwicklungen

34). In der verkürzten Form der zweiten Fassung von 1832 (vgl. WdL, GW 21, 57) ist dieser Zusammenhang mit der Phänomenologie nur noch schwer ersichtlich (aber immerhin noch vorhanden). Erwähnt sei, dass diese erste Fassung auch dem Stand des Endes der Begriffslogik in seiner allgemein gebräuchlichen (da einzigen) Fassung entspricht: Die Neuausgabe der Logik (1832) erstreckt sich nur auf die Seinslogik, zu einer Überarbeitung der Wesens- (1813) und Begriffslogik (1816) kam Hegel nicht mehr.

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I. Hegel

gegenwärtige und sich erhaltende Grundlage, das seinen weiteren Bestimmungen durchaus immanent bleibende. (WdL, GW 21, 58)

Den Anfang macht also das Sein, reines Sein – ohne alle weitere Bestimmung. Als unbestimmte Unmittelbarkeit ist das Sein dasselbe wie seine Negation, das reine Nichts als, ebenso wie das reine Sein, »einfache Gleichheit mit sich selbst, vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit; Ununterschiedenheit in ihm selbst« (WdL, GW 21, 69). Reines Sein und reines Nichts ist also dasselbe; dies bezeichnet die »erste Wahrheit« (WdL, GW 21, 72) als Grundlage für alles Folgende – denn hier haben wir nun, im Gegensatz zum unmittelbaren Anfang, einen Satz, der keineswegs tautologisch ist: Denn ebenso wahr, wie die Ununterschiedenheit von reinem Sein und reinem Nichts, ist, »daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegentheil verschwindet« (WdL, GW 21, 69). Zu der Feststellung der Ununterschiedenheit gelangt man nur über einen ersten negativen Schritt (der an der Bestimmung des Seins selbst geschieht), nämlich des Seins in der Bestimmung desselben als reines Sein, dessen Verneinung schlechthin eben das Nichts ist. Man kann noch nicht sagen, dass hierin bereits beide in Beziehung zueinander gesetzt seien (dazu müssten sie schon je selbst in sich bestimmt sein: Das Sein wäre Etwas, das Nichts ein Anderes), aber dennoch ist das Nichts überhaupt die Verneinung des Seins überhaupt, die »beziehungslose Verneinung« (WdL, GW 21, 70) selbst. 110 Beides, Sein und Nichts als unterschiedene, verschwinden aber, sobald eine der Seiten gesetzt wird, augenblicklich ineinander (Sein in Nichts und Nichts in Sein), weil der Unterschied ebenso unmittelbar, wie er ausgesprochen wird, sich aufgelöst hat. Jenes Verschwinden ist also nicht etwas, das erst allmählich geschieht; es ist immer schon geschehen, wenn Sein oder Nichts gesetzt werden: »Was die Wahrheit ist, ist weder das Seyn noch das Nichts, sondern daß das Seyn in Nichts und Nichts in Seyn, – nicht übergeht, –sondern übergegangen ist« (WdL, GW 21, 69): Diese Bewegung ist ein ihnen vorausgehendes Drittes, das Werden. 111 – Dies Werden ist nicht eine von 110 Darin, dass das reine Sein das reine Nichts ist, scheint auch die aufgehobene Vermittlung seiner Vorgeschichte durch: Reines Sein ist nämlich, schaut man zurück, reine Abstraktion und als dies absolut Negative Nichts; vgl. hierzu Hegel Enz. III, GW 20, 123 f. (§ 87). 111 Dies sollte nun nicht so aufgefasst werden, als wenn die Logik hier zunächst einen

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fern aufgegriffene Lösung eines problematischen Anfangs, dies Dritte ist vielmehr Resultat von Sein und Nichts als das in dem Satz ›Sein und Nichts ist dasselbe‹ (der gleichzeitig ihre Identität und NichtidenSchritt zurückgeht, um dann in einem zweiten Ansatz fortschreiten zu können (was im ersten nicht möglich wäre): Jeder Schritt, den die Logik geht, ist ebenso wie dieser erste ein Schritt in das jeweils schon Zugrundeliegende; »Man muß zugeben, daß es eine wesentliche Betrachtung ist […], daß das Vorwärtsgehen ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften ist, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt, und in der That hervorgebracht wird. […] Daher ergibt sich auf der andern Seite als ebenso nothwendig, dasjenige, in welches die Bewegung als in seinen Grund zurückgeht, als Resultat zu betrachten. Nach dieser Rücksicht ist das Erste eben so sehr der Grund, und das Letzte ein Abgeleitetes; indem von dem Ersten ausgegangen und durch richtige Folgerungen auf das Letzte, als auf den Grund, gekommen wird, ist dieser Resultat. Der Fortgang ferner von dem, was den Anfang macht, ist nur als weitere Bestimmung desselben zu betrachten, so daß das Anfangende allem Folgenden zu Grunde liegen bleibt und nicht daraus verschwindet.« (WdL, GW 21, 70) Gerade Theunissen (vor ihm auch, wenngleich aus anderen Gründen, Henrich und Gadamer), unterscheidet (zu Recht) strikt zwischen dem Übergehen von Sein in Nichts und Nichts in Sein einerseits und dem Übergegangensein von Sein in Nichts und Nichts in Sein im Werden andererseits. Heißt dies aber nun auch, dass mit dem Werden ein ›zweiter Anfang‹ beginnen würde, der sich aus dem Scheitern des ersten ergebe – und wäre ein solcher Anfang nicht ein ›problematischer‹, den Hegel zuvor deutlich von sich wies? – So, wie ich im Folgenden die Methode der Logik lese, ist zwar jene Unterscheidung durchaus zu unterstreichen, jedoch immanent, aus der Folge erster (einseitiger) Negation und dem zweiten dialektischen Schritt des Zugleichs des aus dem ersten Schritt entstehenden Gegensatzes, zu verstehen; – nicht als von außen herangezogene und dann angewendete Methode, sondern aus dem Gang der Sache selbst entspringend (wie im Folgenden ausgeführt, ist jener Übergang von Sein in Nichts und Nichts in Sein als Unmittelbarkeit überhaupt der Hintergrund aller Negation – und nicht umgekehrt –, sowie der Widerspruch in der Gleichzeitigkeit des Satzes: »Sein und Nichts ist dasselbe« der Ursprung aller Dialektik ist). – Man mag dies als Kompromiss lesen, jedoch würde ich mich gegen die Lesart eines ersten und zweiten Anfangs doch wehren, da sonst genauso im gesamten Gang der Logik, gleichsam in jedem zweiten Schritt, auch wieder ein neuer Anfang gesetzt werden müsste. Ist der erste Schritt einfache Negation, der zweite hingegen doppelte Negation im dialektischen Zugleich der Vernunft, so ist hier zwar eine methodische Unterscheidung gegeben, welche aber aus der Immanenz und Notwendigkeit der Sache selbst ineinander übergeht, daher weder Bruch noch Grenzerfahrung des Denkens im Anfang der Logik verhandelt wird. – Einen solchen Zweitakt der dialektischen Bewegung der Logik deutete übrigens auch Fulda 1978 in der (am Begriff des Urteils orientierten) Skizze einer Folge von Besonderung des Allgemeinen und der Einheit der je für sich seienden Seiten im Widerspruch (als Wendepunkt) an. Demgegenüber scheint Charles Taylor in seiner sehr umfassenden und noch einflussreicheren Hegelmonographie (vgl. Taylor 1978) gänzlich von einer hegelschen Intention eines problematischen Anfangs auszugehen, sofern das erste Sein sogleich

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tität ausdrückt) bereits enthaltene (vgl. WdL, GW 21, 77 f.). Die abstrakten Bestimmungen Sein und Nichts sind als solche nur im Werden, d. h. im Verschwinden des Einen in sein Anderes als einer Bewegung, die an ihnen selbst geschieht. Man kann daher auch nicht sagen, die erste Negation, die im Schritt vom Sein zum Nichts geschieht, sei eine durch bloß subjektive Reflexion geschehene, vielmehr entspricht sie der Bewegung der Sache selbst: Dasjenige, was Spinoza im Satz ›omnis determinatio est negatio‹ als Negativität aller Bestimmungen ausgesprochen hat, und dasjenige, worin Hegel über Spinoza hinausgeht, nimmt bereits hier seinen Anfang: Kein Sein besteht für sich; 112 es ist immer schon im Werden vermittelt durch sein Anderes: das Nichts, und zwar nicht so, dass, wenn ein Sein besteht, sogleich neben ihm seine Negation erscheine, sondern so, dass jedes Sein an ihm selbst in seine Verneinung übergeht und nur im Vergehen überhaupt ist (auf Seiten des Nichts geschieht dasselbe; beide sind, als vermittelt im Werden, nie ohne das Andere). Das Übergehen von Sein in Nichts einerseits (Vergehen), von Nichts in Sein andererseits (Entstehen), ist je einfache Negation und beide für den Verstand im Wechselspiel unterschieden voneinander, das Übergegangensein beider ineinander im Werden aber ist Dialektik (erst in ihr ist jene doppelte Negation des sich bestimmenden Selbstbezugs in der Gleichzeitigkeit seiner Momente möglich), man zeige, dass »mit ihm allein […] die Wirklichkeit nicht zu erfassen ist« (Taylor 1978, 306) und der Denker dadurch die Notwendigkeit erblickt, einen Begriff bestimmten Seins zu entwickeln (daher kommt Taylor zu dem Schluss, dass nicht das Werden, sondern das Dasein die Synthese von Sein und Nichts sei; in der ›nicht stichhaltigen‹ (Taylor 1978, 307) Herleitung des Werdens aber verfalle Hegel der »Suggestion seiner Ontologie«, ebd.). Zur Diskussion vgl. Theunissen 1978, insbes. 130 f. Theunissen verweist hier auf eine bereits angestoßene Debatte, geführt durch Hans-Georg Gadamer (vgl. Gadamer 1971, insbes. 59–63), Ruth-Eva Schulz, Wolfgang Wieland und Dieter Henrich. – Dieter Henrich scheint mir diese immer noch anhaltende Debatte über die Lesart des Anfangs angestoßen zu haben, nämlich in dem (am Problem selbst orientierten) zuerst 1962 vorgertragenen, ab 1963 mehrmals veröffentlichten Aufsatz »Anfang und Methode der Logik« (Henrich 1981). – Jedenfalls kann man sagen, dass seitdem unvermeidlich mit der Entscheidung über den Anfang der Logik zugleich eine solche über dessen Methode als Ganze getroffen wird. 112 Die Bedeutung des logischen Umschlagens des Seins in seiner Unmittelbarkeit in Nichts für das Ganze des hegelschen Systems hat John Laughland in schöner Prägnanz auf den Punkt gebracht: »If pure being disappeared into nothing, then the idea must be abandoned that everything is what it is and not another thing« (Laughland 2007, 112).

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kann sogar sagen: Dies Übergegangensein ist der Ursprung der Dialektik alles Seienden: Dialektik aber nennen wir die höhere vernünftige Bewegung, in welche solche schlechthin getrennt scheinende durch sich selbst, durch das, was sie sind, in einander übergehen, die Voraussetzung [ihrer Getrenntheit, D. U.] sich aufhebt. Es ist die dialektische immanente Natur des Seyns und Nichts selbst, daß sie ihre Einheit, das Werden, als ihre Wahrheit zeigen. (WdL, GW 21, 92) 113

I.3.2. Unterscheidung von Verstand und Vernunft in der Logik des Daseins (im Kontext der hegelschen Spinozakritik) 114 Erst im Werden sind beide Seiten in Beziehung zueinander gesetzt: das Sein als unmittelbar und in Beziehung auf das Nichts, dasselbe ebenso unmittelbar und in Beziehung auf das Sein (vgl. WdL, GW 21, 92 f.); in dieser unverlierbaren Beziehung zum Nichts ist das Sein als gewordenes ein bestimmtes Sein: Dasein (vgl. WdL, GW 21, 97). – Im unruhigen Zusammenhalt des Werdens mussten sich beide Seiten, Sein und Nichts, in ihrem Vergehen und Entstehen an sich selbst aufheben, das Dasein ist nun in seinem Gewordensein aus dieser Ver113 In der Enzyklopädie wird hier zugleich der Bezug zum Skeptizismus hergestellt: »Das Dialektische vom Verstande für sich abgesondert genommen, macht insbesondere in wissenschaftlichen Begriffen aufgezeigt den Skepticismus aus; er enthält die bloße Negation als Resultat des Dialektischen. […] In ihrer eigenthümlichen Bestimmtheit ist die Dialektik vielmehr die eigene, wahrhafte Natur der Verstandesbestimmungen, der Dinge und des Endlichen überhaupt. Die Reflexion ist zunächst das Hinausgehen über die isolirte Bestimmtheit und ein Beziehen derselben [merke: Dies ist bei reinem Sein und reinem Nichts nicht möglich, D. U.], wodurch diese in Verhältniß gesetzt, übrigens in ihrem isolirten Gelten erhalten wird. Die Dialektik dagegen ist diß immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich, als das was sie ist, nämlich als ihre Negation, darstellt. Alles Endliche ist diß, sich selbst aufzuheben« (Enz. III, GW 20, 119 (§ 81, Anm.). 114 Diese Kontextualisierung darf aber keineswegs so aufgefasst werden, als sei die hegelsche Methodik in der Logik nicht aus dem immanenten Gang der Sache selbst, sondern aus äußerlichen Rücksichten auf andere philosophische Debatten und Probleme zu verstehen (ein solcher Ansatz in der Interpretation der Logik wird etwa durch Walter Jaeschke und Andreas Arndt vertreten, vgl. Jaeschke/Arndt 2012, 608– 610). Vielmehr ist die Argumentation umgekehrt: In der Philosophiegeschichte brechen sich, in ihrer zeitlichen Dimension ausgebreitet und entwickelt, jene an sich bestehenden Strukturen in der Bewegung des Geistes, wie sie sich in der immanenten Notwendigkeit im Denken des Denkens selbst konstituieren.

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mittlung heraus seiend und als solches unmittelbar da (vgl. WdL, GW 21, 94). Als durch sein Werden vermittelt ist es aber nun nicht mehr reines Sein, sondern bestimmtes Sein, das, insofern es seiend ist, zugleich Nichtsein ist, also stets ein Sein mit einem Nichtsein: bestimmtes Sein. Dieses Nichtsein entspricht dem Moment des Nichts im Werden, ist aber selbst ebenfalls nicht mehr reines Nichts, sondern als Verneinung des Daseins ebenso konkret; der Zusammenhang beider macht die Bestimmtheit des Daseins aus. Dabei ist festzuhalten, dass der Gang dieser Bewegung der Daseinslogik vom Sein, und nicht vom Nichts ausgeht: Eine solche kann erst in der Wesenslogik, in der Bewegung von Nichts zu Nichts als Gegenstück zur Seinslogik ansetzen; es ist also noch eine einseitige, vom Sein als Unmittelbarkeit ausgehende Bewegung, in der Sein und seine Bestimmtheit noch in unmittelbarer Einheit sind, weswegen hier noch nicht, wie in der (im Anderen stets bei sich seienden) Bewegung des Begriffs, das Sein als das Allgemeine, die Bestimmtheit als seine Besonderheit, das Ganze als ein Schluss bezeichnet werden könnte. Als seiende ist die Qualität des Daseins Realität, ihr gegenüber steht die Negation überhaupt, die ebenfalls seiend und somit Qualität ist (vgl. WdL, GW 21, 98). Auch hier, wie im Anfang, ist ein Verhältnis von Identität und Nichtidentität in einem: Waren dort Sein und Nichts als jeweilige Verneinung des anderen doch dieselbe Unmittelbarkeit, trägt sich dies Verhältnis, das im Werden ja noch fortbesteht, durch die gesamte Daseinslogik fort – allerdings, wie gesagt, in der Weise, dass stets der Akzent auf das Sein gelegt wird (d. h. mit ihm stets der – einseitige – Anfang gemacht wird, der als solcher in seine Negation übergeht), an dem seine Negation, als nunmehr bestimmter Übergang von Sein in Nichts, immer wieder neu entsteht. Dieser Einseitigkeit im Ausgehen vom Moment des Seins im Dasein, wie es ja auch der Erfahrung im erscheinenden Bewusstsein entspräche, bleibt es hier wie dort geschuldet, dass das Dasein in seiner bestimmten Qualität zunächst als seiende Realität aufgefasst werden muss, gegen die die Negation seiner Bestimmtheit als Verneinung wie ein Mangel erscheint, welcher gleichwohl nicht aus der Bestimmung eines Daseins wegzudenken ist (vgl. WdL, GW 21, 98); was eine Qualität ist, ist sie nämlich allein durch das Moment ihrer Negation als ihre Bestimmtheit (zur Erinnerung: Das Dasein ist geworden, also Resultat des Übergegangenseins von Sein in Nichts und Nichts in Sein, hier nun mit dem Akzent auf dem Sein). Allein von diesem Satz ausgehend, dessen Vorgeschichte einmal 108 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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ausgeblendet, stehen wir wieder auf der Stufe Spinozas. Dadurch, dass mit dem Sein im Dasein der Anfang gemacht wird, bekommt jede Frage nach der Qualität eines Daseins dessen bestimmtes Nichtsein zur Antwort: und zwar jedes Mal aufs Neue. Beides, die durch subjektive Reflexion gestellte Frage nach der bestimmten Qualität, dem Was eines Daseins, wie dessen ganz eigene Bewegung aus der Unmittelbarkeit seines konkreten Seins in dessen Nichtsein, sind ein und dasselbe, denn die Endlichkeit bzw. Vergänglichkeit allen Daseins ist nicht etwas, was ihm von außen geschieht, sondern dessen eigene Bestimmung, so wie jenes Dasein auf der anderen Seite das, was es ist, nur im Zuge seiner Negation, also seines Vergehens in ein nunmehr bestimmtes Nichts ist. Nähme man diese Bestimmtheit im Versuch fort, die Realität selbst als Sein in allem Dasein zu denken, käme man nur wieder auf jene höchste Abstraktion ohne Werden (in welchem, anders als hier, sowohl das Übergegangensein von Sein in Nichts wie von Nichts in Sein enthalten war), die dasselbe wie das Nichts ist (vgl. WdL, GW 21, 100). Beide Konsequenzen aus der einseitigen Akzentuierung des Seins im Dasein: seine ewige Vergänglichkeit als bestimmtes (als Umschlag vom bestimmten Sein in bestimmtes Nichtsein) wie auch der Umschlag vom Inbegriff der Realität als seiender in das abstrakte Nichts (wie in der Substanz Spinozas), zeichnen Hegels Bild der spinozistischen Philosophie. 115 Zunächst zu der ersten Bewegung allen Daseins in seine Verneinung und der entsprechenden Einsicht, dass alle Bestimmtheit Negation ist: Die Bestimmtheit ist die Negation als affirmativ gesetzt, ist der Satz des Spinoza: Omnis determinatio est negatio, dieser Satz ist von unendlicher Wichtigkeit; nur ist die Negation als solche die formlose Abstraction; der speculativen Philosophie muß aber nicht Schuld gegeben werden, daß ihr die Negation oder das Nichts ein Letztes sey; dies ist es ihr sowenig als die Realität das Wahrhafte. (WdL, GW 21, 101)

Nun ist die Substanz bei Spinoza, wie Hegel auch in der Geschichte der Philosophie dargelegt hat, keineswegs der Anfang seines Denkens, 116 sondern als das Nichtbestimmte schlechthin nur die Abstrak115 Diese Bewegungen geschehen plötzlich, als Umschlagen, da hier Sein und Dasein unmittelbar genommen werden. 116 Hegel dreht hier die Argumentation Spinozas in der Darstellung seines Systems in der Ethik vom Kopf auf die Füße: Der Anfang mit der Substanz kann unmöglich das erste Gedachte sein.

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tion (das eleatische ὄν) jener allseitigen Bestimmtheit der endlichen Modi und ihrer Realitäten als seiender nach verschiedener Hinsicht subjektiver Reflexion (den Attributen), welche als unendliche Affirmation in sich selbst das Ganze tragen soll – und doch wieder dasselbe wie das Nichts ist. Von diesem Satze, daß die Bestimmtheit Negation ist, ist die Einheit der Spinozistischen Substanz, oder daß nur eine Substanz ist, – die nothwendige Consequenz. Denken und Seyn oder Ausdehnung, die zwey Bestimmungen, die Spinoza nemlich vor sich hat, mußte er in dieser Einheit in eins setzen, denn als bestimmte Realitäten, sind sie Negationen, deren Unendlichkeit ihre Einheit ist; nach Spinozas Definition […] ist die Unendlichkeit von Etwas seine Affirmation. Er begriff sie daher als Attribute, d. h. als solche, die nicht ein besonderes Bestehen, ein Anund-für-sich-Seyn haben, sondern nur als aufgehobene, als Momente sind; oder vielmehr sind sie ihm nicht einmal Momente, denn die Substanz ist das in ihr selbst ganz bestimmungslose, und die Attribute sind, wie auch die Modi, Unterscheidungen, die ein äußerer Verstand macht. (WdL, GW 21, 101)

Zwar käme Spinoza aus der durchgängigen Negativität alles bestimmten Daseins zu dem richtigen Urteil, dass die Endlosigkeit des ständigen Verweises jeglichen Daseins als eines bestimmten auf sein Nichtsein nicht wahrhaft (bzw. aktual) unendlich sein kann: Denn wo es nirgends einen zusammenhaltenden Punkt der Affirmation gibt, kann das Ganze sich auch nicht selbst tragen. Allein der Zwischenschritt der Attribute zeigt das Fluchtartige, mit dem die subjektive Reflexion aus dem endlosen Verweisungszusammenhang des Daseins herausspringt: Um zu einer unendlichen Affirmation zu gelangen, wird das (ausgedehnte) Sein aus allem Seienden und das Denken aus allem Gedachten abstrahiert und beide als Attribute derselben leeren (da ohne Bestimmtheit inhaltslosen) Substanz begriffen. Daher entstehen zwei Sphären 117 eines Kausalnexus der Modi und einer Sphäre ihrer leeren Affirmation, mit der uns aus der Geschichte der Philosophie bekannten Konsequenz, dass kein Daseiendes sein Dasein in sich selbst haben kann, da der Selbstbezug jeglicher Individualität als bestimmter in den endlosen Verweisungszusammenhang der Modi fortgeht und sich andererseits, sozusagen auf der Vertikalen, in seinem Ansich in die leere Abstraktion der Substanz verliert. Dies ist, Die Scheidewand beider Sphären wird bereits im ersten Axiom der Ethik festgesetzt, demnach ›alles, was ist, entweder in sich oder in einem Andern sei‹ (Vgl. SSW 2, 4 (pars I, ax. 1)).

117

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unter diesen Voraussetzungen, kein Fehlschluss Spinozas, sondern Konsequenz einer Daseinslogik, die von der Unmittelbarkeit des Seins im Dasein ihren Ausgang nimmt, ohne zugleich sein Gewordensein mitzudenken: Das Individuum ist Beziehung auf sich dadurch, daß es allem Andern Grenzen setzt; aber diese Grenzen sind damit auch Grenzen seiner selbst, Beziehungen auf Anderes, es hat sein Daseyn nicht in ihm selbst. 118 Das Individuum ist wohl mehr als nur das nach allen Seiten beschränkte, aber diß Mehr gehört in eine andere Sphäre des Begriffs; in der Metaphysik des Seyns ist es ein schlechthin bestimmtes; und daß ein solches, daß das Endliche als solches an und für sich sey, dagegen macht sich die Bestimmtheit wesentlich als Negation geltend, und reißt es in dieselbe negative Bewegung des Verstandes, welche alles in der abstracten Einheit, der Substanz, verschwinden läßt. (WdL, GW 21, 101)

Nun ist jener Ausgang von der Unmittelbarkeit des Seins im Dasein aber bereits durch den Anfang der Logik überholt: Die Bestimmtheit allen Daseins entsteht hier nicht einfach aus der Frage nach dem Was desselben, vielmehr hat sich am Sein als unmittelbarem selbst gezeigt, dass es einseitig genommen in Nichts umschlägt, dialektisch aber ebenso übergegangen ist aus dem Nichts, weshalb alles Sein nur im Verhältnis zum Nichts ist und alles Dasein ein bestimmtes ist. Wird das Dasein selbst wieder dialektisch genommen, dann sind in ihm selbst, als gewordenem, die Momente seiner als Realität und seiner Negation zu unterscheiden, wobei aber jedes Moment an sich selbst sein Anderes ist, denn die Realität enthält als bestimmte ihre Negation, die Negation wiederum ist selbst wieder seiend und Dasein (vgl. WdL, GW 21, 102 f.) – das Dasein bestimmt sich also aus einem Unterschied, der in ihm selbst aufgehoben ist und dies Aufgehobensein seines Unterschieds ist seine Bestimmtheit: Das Dasein ist nur seiend als Vermitteltes, es ist Etwas als Negation der Negation, »als einfache seyende Beziehung auf sich« (WdL, GW 21, 103). Dieser Schritt einer Negation der Negation im Etwas, der in seinem dialektischen Dasein immer schon enthalten ist, ist in seinem Vollzug der Schritt der Daseinslogik über Spinoza hinaus, denn jene Figur ist der Anfang des (von Spinoza nicht denkbaren) Subjekts, wenngleich nur der Anfang, da das Etwas als Insichsein hier noch ganz unbestimmt ist (vgl. WdL, GW 21, 103). Die Dynamik des Wer118

Vgl. SSW 2, 3 (pars 1, def. 2).

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dens, das Übergegangensein von Sein in Nichts und Nichts in Sein wie auch das Übergehen jeglichen als Unmittelbarkeit genommenen Seins in seine Verneinung, ist aber in diesem Etwas als Verweis auf seine Negation noch unvermindert präsent: Zwar ist es als Negation der Negation zunächst auf sich selbst zurückgewiesen, darin »Daseyn und weiter Daseyendes« (WdL, GW 21, 104), jedoch hat dies Dasein im Etwas, als Werden, zugleich an sich selbst sein Negatives, das Andere, in das es wiederum, als unmittelbares genommen, übergehen muss, d. h. sich verändert. – Wieder muss man eine dialektische und eine verständige Hinsicht dieses Verhältnisses unterscheiden: Nach jener sind beide an sich das jeweils Andere, das Etwas ein Anderes, das Andere ein Etwas; nimmt man jedoch das Etwas als Unmittelbares, mit dem Akzent auf seinem Sein, geht die Richtung der Bewegung in einfacher Negation ins Endlose hinaus: Etwas wird ein Anderes, dieses ist selbst wieder ein Etwas, dies wird wieder ein Anderes usw. (vgl. Enz. III, GW 20, 130 (§ 93)). Jenes Verhältnis entspringt dem eigenen Begriff des Etwas als aus seiner Vorgeschichte im Denken des Denkens als Sein, Werden und Dasein Resultierendes, dieses aber beschreibt eine Bewegung, die dem Denken des Etwas bloß unweigerlich geschieht und dasselbe hinaus in die Endlosigkeit des Verweisungszusammenhang bloßer Bestimmtheiten hinausführt.

I.3.3. Endlichkeit und Unendlichkeit I.3.3.1. Ewige Vergänglichkeit des ›Etwas‹ in seiner Bestimmung als Seiendes Jene (potentiell) ins Unendliche fortgehende Bewegung im endlosen Verweisungsfortgang von Etwas in Anderes und von diesem als Etwas wieder in Anderes usw. ist zwar im beständigen Fluss, aber keineswegs die Bewegung eines bloßen Verfließens, in welchem jedes Etwas zugleich im Moment seines Erfassens in Nichts verschwinden würde. Es gilt auch hier die Erkenntnis aus dem sich vollbringenden Skeptizismus: dass jedes Resultat einer bestimmten Negation das Negierte in sich fortträgt; und nun lässt sich sogar sagen: Der Weg der Bestimmung eines Etwas als solches und die Bewegung seines eigenen Daseins als Vergehen in sein Nichtdasein sind ein- und dasselbe. Nun ist aber dieses Etwas in der an ihm selbst als Seiendem geschehenden Negation sowohl identisch mit sich und in seiner Negation als Etwas 112 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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sich erhaltend (es geht in seiner Veränderung mit sich zusammen), zugleich aber auch getrennt von seinem Nichtdasein, auf das es sich in der Identität mit sich negativ bezieht (vgl. WdL, GW 21, 106 f.). Etwas ist also zugleich Ansich und Sein-für-Anderes: Das eine in der Bestimmung seiner selbst als Sein, das andere in der Bestimmung als Nichts – beides in der Gleichzeitigkeit der dialektischen Beziehung des Werdens betrachtet. Ansich und Sein-für-Anderes ersetzen hier die Begriffe Etwas und Anderes: Während an diesem der Verstand noch in den endlosen Wechsel der Folge Etwas-Anderes-Etwas-… usw. fortschreiten konnte, ohne je auf einen Punkt des Selbstbezugs zu gelangen, ist die dialektische Betrachtung des Etwas in der Identität von Ansich und Sein-für-Anderes in jedem Moment bei sich und auf sich selbst in seinem Anderen zurückweisend. 119 Was sich hier artikuliert, ist ja nun auf den ersten Blick ein paradoxer Gedanke: Etwas bleibt gerade darin, dass es vergeht, bei sich. Paradox erscheint es aber nur für den Verstand, der beide Seiten auseinanderhält und das Etwas als seiend zunächst auf sich beruhen lässt, während dieses Verhältnis doch nur der inneren Dynamik des Etwas entspricht, in dem zugleich mit der Akzentuierung desselben als seiend das Nichtsein als dialektisches Moment inbegriffen ist. In seiner Identität als dieses Seiende ist Etwas negative Beziehung auf sich, unterscheidet aber in dieser Bewegung einer Negation der Negation zugleich von sich als seiend seine Negativität von sich, welche ihm, in dieser Hinsicht, Grenze ist. Diese ist wiederum, nach der vorher beschriebenen Unterscheidung, eine doppelte Bestimmtheit: Bestimmung als an sich seiend, Beschaffenheit als Sein-für-Anderes (was etwas an sich ist, ist dieses auch an ihm; vgl. WdL, GW 21, 111). Dynamisch ist dies doppelte Verhältnis des Etwas zu seiner Grenze, sofern beide voneinander unterschieden werden, nun dadurch, dass das vom Etwas Unterschiedene zugleich dasjenige ist, wodurch das Etwas es selbst ist: Die Bestimmung des Etwas schickt dieses daher über sich selbst hinaus, und zwar immer und immer wieder, da der zur Bestimmung des Etwas nötige Abschluss des Selbstbezugs sich mit jedem negativen Schritt einen weiteren in die Zukunft versetzt: 119 Hiermit spricht Hegel sein Urteil über das kantische Ding-an-sich. Ebenso, wie jedes Setzen einer solchen Grenze zugleich sein Jenseits bestimmt, ist mit jedem Ansich zugleich sein Sein-für-Anderes gesetzt. Isoliert für sich ist das Ding-an-sich tatsächlich ohne alle Bestimmungen, aber eben nur deswegen, weil es vollständige Abstraktion, daher dieselbe Leere wie reines Sein oder die Substanz Spinozas ist; vgl. WdL, GW 21, 108 f.

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Das Daseyn ist bestimmt; Etwas hat eine Qualität und ist in ihr nicht nur bestimmt, sondern begrenzt; seine Qualität ist seine Grenze, mit welcher behaftet es zunächst affirmatives, ruhiges Dasein bleibt. Aber diese Negation entwickelt, so daß der Gegensatz seines Daseins und der Negation als ihm immanenter Grenze selbst das Insichsein des Etwas und dieses somit nur Werden an ihm selbst sei, macht seine Endlichkeit aus. Die endlichen Dinge sind, aber ihre Beziehung auf sich selbst ist, daß sie als negativ sich auf sich selbst beziehen, eben in dieser Beziehung auf sich selbst sich über sich, über ihr Sein, hinauszuschicken. Sie sind, aber die Wahrheit dieses Seins ist ihr Ende. Das Endliche verändert sich nicht nur, wie Etwas überhaupt, sondern es vergeht, und es ist nicht bloß möglich, daß es vergeht, so daß es sein könnte, ohne zu vergehen. Sondern das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben; die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes. (WdL, GW 21, 116)

Auf diese Weise scheint die endlose Kette der Veränderung von Etwas in Anderes nur ersetzt durch die ewige Vergänglichkeit alles Daseienden aus seiner eigenen Bestimmung heraus. Der eigentlich schon im Etwas beschlossene Selbstbezug auf sich in seinem Anderen verlegt sich erneut in den endlosen Verweisungszusammenhang seiner Grenzbestimmung: Wieder verweist jedes Erreichte auf das Nochnicht-Erreichte und kein Moment ist Gegenwart. Zwar waren wir bereits zu dem Punkt gekommen, in welchem das Etwas als affirmiertes tatsächlich ist und da ist, jedoch ist es gerade dieses wieder unmittelbar gesetzte Sein des Etwas, das in sein Vergehen umschlägt: Einmal in den Fluss der vom Sein im Etwas ausgehenden Bewegung gebracht, ist es verloren und die Endlichkeit überhaupt, das ewige Vergehen alles Seienden, stünde als das Letzte der Seinslogik fest – wenn denn allein vom Sein ausgegangen werden könnte, von wo aus es dann auch nur die Bewegung einer einfachen (und darin einseitigen) Negation gibt, die notwendig, anstatt sich zum Kreis zusammenzuschließen, als Linie ins Endlose fortschreiten muss. Die Bestimmung der endlichen Dinge ist nicht eine weitere als ihr Ende. Der Verstand verharrt in dieser Trauer der Endlichkeit, indem er das Nichtseyn zur Bestimmung der Dinge, es zugleich unvergänglich und absolut macht. Ihre Vergänglichkeit könnte nur in ihrem Andern, dem Affirmativen, vergehen; so trennte sich ihre Endlichkeit von ihnen ab; aber sie ist ihre unveränderliche, d. i. nicht in ihr Anderes d. i. nicht in ihr Affirmatives übergehende Qualität, so ist sie ewig. (WdL, GW 21, 117)

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Wenn das Vergehen aber das Letzte alles Endlichen sein soll (vgl. WdL, GW 21, 117), was ist dann das Tragende, Affirmierende dieser Bewegung? – Eine hier ansetzende Reflexion des bloßen Verstandes, welcher naturgemäß stets nur den ersten, negativen Schritt der Unterscheidung und Trennung tätigt und daraufhin von diesem in einseitiger, einfacher Negation linear fortzuknüpfen vermag, müsste urteilen: im Unendlichen als selbstständig Seiendem im Unterschied zu (und unabhängig von) der Negativität des Endlichen, dessen letzte Wahrheit das Nichts sein müsse (ganz wie in der Gegenwartskritik der Differenzschrift). Das Unendliche wäre in dieser Bewegung des Endlichen zwar die stehende Affirmation seines Ansichs – so, wie die Substanz Spinozas das Sein der Modi trägt –, eine tatsächliche Vereinigung müsse aber in jedem Moment gleich unmöglich bleiben (denn die Bewegung dieser Endlichkeit endet niemals in Sein; vgl. WdL, GW 21, 117). Bevor Hegel zum entscheidenden dialektischen Begriff des Verhältnisses von Endlichkeit und Unendlichkeit kommt, geht er noch einmal einen Umweg, in dem er jene Verstandesunterscheidung einer schlechthinnigen Trennung nach Sein und Nichts, welche hier in zeitweiligem Ausblenden der Vorgeschichte des Etwas wieder aufgebrochen zu sein scheint, in aller Konsequenz weiter verfolgt. Das einzige Denken, welches die Bestimmung im Etwas unter jenen einstweilen angenommenen Voraussetzungen zu fassen und in sein Recht zu setzen vermag, ist das aus der bisherigen Kritik an Kant und v. a. Fichte bekannte Modell des perennierenden Sollens. Die seiner Bestimmung gemäße angestrebte Einheit des Etwas mit sich ist, sofern es als Endliches gefasst wird, nur als Negation der Negation zu begreifen. Die Dynamik dieses Verhältnisses ist aus dem Vorhergehenden ersichtlich: Das Etwas liegt so nicht gleichgültig neben seiner Grenze, sondern bestimmt sich über diese – »[d]as Endliche hat sich so als die Beziehung seiner Bestimmung auf seine Grenze bestimmt; jene ist in dieser Beziehung Sollen, diese ist Schranke« (WdL, GW 21, 119) – Und jetzt kommt es darauf an: Wird bloß die Schranke als endlich gesetzt, wie es einer unmittelbar beginnenden Bewegung zu einem gelingenden Selbstbezug des Etwas entspräche, oder wird, wie der bisherige Gang der Logik gezeigt hat, ebenso das Sollen wie die Schranke als Moment des Endlichen begriffen (so wie zuvor sowohl Bestimmung und Beschaffenheit, Sein-an-sich und Sein-für-Anderes als gleichberechtigte Momente der Grenze begriffen wurden)? – Hier greifen wir in die Tiefe einer Unterscheidung, über welche sich das 115 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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hegelsche Denken als Geschichtliches von solchen Philosophien abzugrenzen sucht, die im Kappen der Geschichte des eigenen Gewordenseins, im Versuch, sich als schlechthin Anfangende auf sich selbst zu stellen, dem fortdauernden Kreisen und Wechselspiel der schlechten Unendlichkeit notwendig anheimfallen müssen. Die Einheit des Etwas ist, wie aus dem Vorherigen hervorgeht, seine gegen sich selbst gekehrte Beziehung, indem es seine immanente, das heißt seiner Bestimmung entsprechende, Grenze negiert. Als Schranke meint die Grenze nun Folgendes: Etwas geht an sich selbst über sich hinaus, da es sich an ihr auf sich als ein Nichtseiendes bezieht. Die Bestimmung als Sollen wiederum hat demnach zwei Seiten: Es ist einerseits an sich seiende Bestimmung gegen die Negation, welche hier als Schranke von der Bestimmung unterschieden wird, die andererseits selbst eine an sich seiende Bestimmung darstellt. Hieraus ergibt sich der Begriff des Endlichen überhaupt als Beziehung der Bestimmung auf seine Grenze im Sinne eines Sollens auf seine Schranke: Beide sind die sich gegenseitig bedingenden Momente des Endlichen. Demnach ist dies Verhältnis in seinem Zugleich der Momente ein von Grund auf dialektisches, da sich beide gegenseitig voraussetzen; wird aber – und dies ist der erste notwendige Schritt – das Sollen gegen die Schranke als Ansichsein gesetzt, bleibt diese für den Verstand dem seiend gesetzten Endlichen bloß entgegengesetzt und ein schlechthin Fremdes. Dialektisch betrachtet bleibt aber dem Sollen die Schranke wesentlich (diese kann daher auch nie endgültig überwunden werden); auch hier setzt sich die Einheit von Sein und Nichts aus dem Anfang der Logik fort, so dass man sagen kann: Was sein soll, ist und ist zugleich nicht (vgl. WdL, GW 21, 120). Die Einheit des Etwas als gegen sich selbst gekehrte Beziehung hat zur Folge, dass die Schranke dem Endlichen tatsächlich kein Äußeres sein kann, sondern seine eigene Bestimmung zugleich auch seine Schranke ist, die wiederum sowohl sie selbst als auch ein Sollen ist – weshalb das anfangs als unmittelbar seiend gesetzte Endliche im Einholen seiner Bestimmung immer weiter im Wechsel vom Sollen und Schranke hinaus geschickt wird. Als Sollen geht […] das Endliche über seine Schranke hinaus; dieselbe Bestimmtheit, welche seine Negation ist, ist auch aufgehoben und ist so sein Ansichseyn. Als Sollen ist somit Etwas über seine Schranke erhaben, umgekehrt aber hat es nur als Sollen seine Schranke. (WdL, GW 21, 120)

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Auf diese Weise bleiben Sollen und Schranke zwar aufeinander bezogen, aber ebenso, wie dieselbe Unterscheidung beider Momente stets fortbesteht, hebt sich der Widerspruch nie auf, und die Bewegung des Endlichen bleibt eine ständige Abwechslung ins Endlose hinaus, da die Aufhebung des Widerspruchs zwar in jedem Moment gefordert wird, aber nie erreicht werden kann (es ist nur Abwechslung, kein Zugleich der Momente). Jene Forderung entspricht dem Ansichsein des Sollens als identischer Beziehung auf sich, das daher stets über die Schranke hinaus ist, aber da in der Bestimmung des Sollens ebensosehr die Schranke liegt, stößt sich die Bewegung als Ganzes immer wieder an derselben Unmöglichkeit einer Erfüllung des Sollens und beschreibt als stets unvollkommenes Hinausgehen einen Progress ins Unendliche (vgl. WdL, GW 21, 122). Das Sollen […] ist Hinausgehen über die Schranke, aber ein selbst nur endliches Hinausgehen. Es hat daher seine Stelle und sein Gelten im Felde der Endlichkeit, wo es das Ansichseyn gegen das Beschränkte festhält und es als die Regel und das Wesentliche gegen das Nichtige behauptet. […] Aber in der Wirklichkeit selbst steht es nicht so traurig um Vernünftigkeit und Gesetz, daß sie nur seyn sollten – dabey bleibt nur das Abstractum des Ansichseyns [stehen], – sowenig als daß das Sollen an ihm selbst perennirend und, was dasselbe ist, die Endlichkeit absolut wäre. Die Kantische und Fichtesche Philosophie gibt als den höchsten Punkt der Auflösung der Widersprüche der Vernunft das Sollen an, was aber vielmehr nur der Standpunkt des Beharrens in der Endlichkeit und damit im Widerspruche ist. (WdL, GW 21, 123)

I.3.3.2. Wahre und schlechte Unendlichkeit Das Verhältnis von Schranke und Sollen ist ein Widerspruch in sich: Das Eine bestimmt sich jeweils als die Negation des Anderen. Dies hat einerseits zur Folge, dass das einseitig gesetzte Endliche nicht vergeht, das heißt sein Sein nie endgültig in Nichts umschlägt, sondern stattdessen immer nur in ein anderes Endliches übergeht, dieses wieder in ein Anderes und so weiter. Andererseits, dialektisch betrachtet, erreicht das Endliche in seinem Vergehen als Negation seiner selbst sein Ansichsein und geht darin mit sich selbst zusammen. Das Endliche wird nur dann als ewige Vergänglichkeit angesehen, wenn es als seiend unmittelbar festgehalten werden soll, und doch in jedem Ergreifen ebenso unmittelbar zerfließt. Dabei zeigt das Endliche in der 117 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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Notwendigkeit seines Vergehens das Erreichen seiner Bestimmung, da, wie wir am Anfang der Logik sahen, jedes Sein im Werden nur als durch das Nichts vermittelt ist. Sollen und Schranke sind als Momente des Endlichen nichts anderes als dessen Entzweiung in Ansichsein des Endlichen auf der einen, seinem konkreten Dasein auf der andern Seite; über sich selbst hinaus gehen beide Seiten in ihrem Anderen nur mit sich selbst zusammen (vgl. WdL, GW 21, 123). In dieser Selbstaffirmation (als Selbstbezüglichkeit der Bewegung im Ganzen) hebt sich das Endliche, dessen unmittelbare und daher einseitige Bestimmung nur ins Endlose fortschreiten kann, zur in jedem Moment bei sich bleibenden Unendlichkeit auf. Dagegen beschreibt jenes ewige Fortschreiten im Wechselspiel beider Seiten in je einfacher Negation wieder die uns aus der Phänomenologie bereits bekannte Sackgasse des Denkens, die dort notwendig entstehen muss, wo ein Seiendes als unmittelbar an den Anfang gesetzt wird und aus seiner negativen Bewegung heraus wiedereingeholt werden soll, ohne dass seine immer schon vorausgehende Vermittlung (und damit die Dialektik seiner anfänglichen Unmittelbarkeit) erinnert wird. Von jedem einseitig gesetzten Anfang wird zwar mit Notwendigkeit fortgeschritten, die Bewegung kehrt aber nie auf ihren Anfang zurück und ist somit in keinem Punkt bei sich selbst. Statt des unendlichen Selbstbezugs der Affirmation kommt es auf diese Weise stets nur zum unendlichen Progress, in welchem jenes Hinaussein über sich auch ein endloses Hinaus bleiben wird; zwar bestätigt sich auch hier in der Notwendigkeit des Übergangs der einen Seite in die jeweils andere ihre Wahrheit, in ihrem Anderen mit sich zusammenzugehen, jedoch setzt die Bewegung jedes Mal wieder neu an, so dass die einander herbeiführenden Bestimmungen sich immer nur abwechseln können, ohne dass je ein eigentlicher Fortschritt stattfindet. – Jene Unendlichkeit des affirmativen Selbstbezugs gilt es nun näher zu betrachten. [D]ie Hauptsache ist, den wahrhaften Begriff der Unendlichkeit von der schlechten Unendlichkeit, das Unendliche der Vernunft von dem Unendlichen des Verstandes zu unterscheiden; doch letzteres ist das verendlichte Unendliche, und es wird sich ergeben, daß eben indem das Unendliche vom Endlichen rein und entfernt gehalten werden soll, es nur verendlicht wird. (WdL, GW 21, 124)

Die Unendlichkeit ist in ihrer Wahrheit Resultat der vorherigen Bewegung der Endlichkeit als Negation der Negation, das heißt vermit118 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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telte Unmittelbarkeit, ist also einerseits zwar wieder das Sein vom Anfang der Logik, allerdings nicht mehr nur abstraktes Sein, sondern das aus seiner Beschränktheit wiederhergestellte Sein, das seine Vergangenheit als Resultat in sich trägt (vgl. WdL, GW 21, 125). 120 Die Unendlichkeit ist daher kein Begriff, welcher unmittelbar genommen in seiner Wahrheit erkannt werden kann: Wenn wir fragen, was Unendlichkeit sei, ist sie nur das Nichtsein ihres Anderen – der Endlichkeit; das eine ist hier wieder Sollen, das andere dessen Schranke. Das Ausblenden der Vorgeschichte hat also wieder zur Folge, dass dieselbe Endlichkeit, wenngleich nicht als sich selbst überwindende, sondern als unbewältigte, im feststehenden Gegensatz zur erstrebten Unendlichkeit wieder auftaucht, und zwar im Verhältnis eines unauflöslichen Widerspruchs, dessen Auflösung in den unendlichen Progress hinausgeht. Somit fällt die Unendlichkeit in die Bestimmung der Qualität zurück und ist wieder nur ein Etwas mit einer Grenze. Dies entspricht aber ganz der allgemeinen Auffassung von Unendlichkeit als Un-Endlichkeit schlechthin. 121 Das Unendliche ist auf diese Weise mit dem Gegensatze gegen das Endliche behaftet, welches, als Anderes, das bestimmte, reale Daseyn zugleich bleibt, obschon es in seinem Ansichseyn, dem Unendlichen, zugleich als aufgehoben gesetzt ist; dieses ist das Nicht-endliche; – ein Seyn in der Bestimmtheit der Negation. Gegen das Endliche, den Kreis der seienden Bestimmtheiten, der Realitäten, ist das Unendliche das unbestimmte Leere, das Jenseits des Endlichen, welches sein Ansichseyn nicht an seinem Daseyn, das ein bestimmtes ist, hat. So das Unendliche gegen das Endliche in qualitativer Beziehung von Andern zu einander gesetzt, ist es das Schlecht-Unendliche, das Unendliche des Verstandes zu nennen, dem es für die höchste, für die absolute Wahrheit gilt […]. (WdL, GW 21, 126 f.)

120 Die hier vorgeschlagene Lesart unterscheidet sich von derjenigen (wenngleich hoch reflektierten und eng an der hegelschen Argumentation ausgerichteten) Christian Ibers, der zum einen dem ganzen Komplex eine gewisse Programmatik, nämlich eines Beweises der eigenen Vernunftkonzeption gegenüber seinen Zeitgenossen und Vorgängern zugrunde legt (was doch eigentlich einer äußerlichen Rücksichtnahme gleichkommt), zum anderen statt der hier vorgeschlagenen Unterscheidung von Verstand und Vernunft im Gang der Logik stets denselben Gang der Negation sieht, der sich zu doppelter und sogar zu dreifacher Negation (dies der Fortgang von der letzten Einheit) fort- und fortentwickelt (vgl. Iber 1999, 155–174). Diese Lesarten müssen sich aber nicht unbedingt widersprechen – man kommt auf beide Weisen zu sehr ähnlichen Resultaten. 121 Vgl. den Begriff des aktual Unendlichen der Tradition in Kap. I.1.1.1.

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Ein Verstand, der sich über die endlichen Dinge und ihren immanenten Zusammenhang hinweg zur Unendlichkeit zu erheben sucht, ergreift immer nur die Grenze des Endlichen, also ein Unendliches, das durch die Endlichkeit bestimmt wird und darin selbst endlich ist. Das Endliche bleibt unverändert als diesseitiger Ausgangspunkt stehen, und eine imaginäre Unendlichkeit wird ihm als unveränderliches Jenseits gegenübergestellt; in diesem statischen Bild bleibt die zugrunde liegende Einheit verborgen (vgl. WdL, GW 21, 128), tritt aber in ihrer entfremdeten Form eines immer wieder eintretenden Umschlags einer Seite in ihrer jeweiligen Bestimmung in die andere zutage (dies die Anwesenheit der Vernunft in der Verstandestätigkeit: Es ist die immer schon zugrunde liegende Dialektik, welche im Festhalten einer Seite den stets aufs Neue einsetzenden – und nicht vorhergesehenen – Umschlag in die andere herbeiführt). Da beide Seiten nur in ihrem Sein und nicht als Werden gefasst werden, sind sie, als sich gegenseitig bedingend, nur im Verhältnis einer Wechselbestimmung zueinander: An der Endlichkeit entsteht die Unendlichkeit, an dieser wieder dieselbe Endlichkeit – und so fort ins Unendliche. Anstatt die wahre Unendlichkeit zu erreichen, entsteht nur die Endlosigkeit leerer Dauer, ohne dass je eine wirkliche Veränderung stattfindet, da der Widerspruch stets derselbe bleibt. Es wird nicht gesehen, dass jede Seite an sich selbst die Einheit der Gegensätze bereits in sich enthält, vielmehr gelangt die fortschreitende Reflexion des Verstandes immer nur von einer Negation zur nächsten und springt dabei stets nur von einer Einseitigkeit in die andere und wieder zurück (vgl. WdL, GW 21, 129 f.). Dabei ist die Triebfeder dieser in einseitiger Negation fortschreitenden Reflexion selbst die zugrunde liegende Einheit, welche aber nicht ans Tageslicht tritt, sofern der Widerspruch beider Seiten nicht als gegenseitige Bedingung im Zugleich beider Seiten gefasst, sondern als Unterschied schlechthin betrachtet wird. Das versöhnende Resultat wird schließlich dadurch fortgehalten, dass der Unterschied als solcher auch bestehen bleiben, perennierend sein soll: Es gibt zwei schlechthin unterschiedene Ausgangspunkte, das Endliche und das Unendliche, und demnach zwei Resultate, die ebenso schlechthin unterschieden sein sollen, während doch gerade ihr jeweiliges Umschlagen in die andere Seite die Wahrheit ihrer Einheit im Werden bezeugt. Während also das als unmittelbar gedachte Unendliche immer nur, als Negation des daseienden Endlichen, Jenseits sein kann, ist die wahre Unendlichkeit als Einheit in der Bewegung, das heißt als Wer120 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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den, stets bei sich, da und gegenwärtig. 122 Das heißt aber auch, dass nicht das Endliche, sondern das Unendliche das wahrhaft Reale ist und dies Unendliche wiederum nur als Rückkehr in sich, als Beziehung auf sich selbst wirklich ist (vgl. WdL, GW 21, 137). Die schlechte Unendlichkeit entsteht also, ebenso wie das Sollen (und sein Progress ins Unendliche), aus einer bloßen Erhebung über das als Diesseits gefasste Endliche ins Unendliche als ein bloß Imaginiertes, der Realität entgegengesetztes. Diese Erhebung ist nichts anderes als eine Flucht des Sollens aus allen Beschränkungen und aller Vergänglichkeit des Endlichen. Aber ist dies noch die These der Differenzschrift, dass das Streben nach wahrer Unendlichkeit sich dort zum unendlichen Progress verkehrt, wo die Reflexion abgebrochen wird und vorzeitig, daher einseitig, das Ganze ergriffen wird, bevor sich die Reflexion an sich selbst vollendet (wenn es doch hier gelegentlich so scheinen mag, als wenn die Reflexionskette des Verstandes selbst das Problem sei, aus welcher der Sprung ins Jenseits nur ein verfehlter Ausweg wäre)? – Hegel selbst macht in der Logik deutlich, dass er an diesem Modell einer Vollendung der Reflexion in wahrer Unendlichkeit durchaus festhält: Das Unendliche, – nach dem gewöhnlichen Sinne der schlechten Unendlichkeit, – und der Progreß ins Unendliche, wie das Sollen, sind der Ausdruck eines Widerspruchs, der sich selbst für die Auflösung und für das Letzte gibt. Diß Unendliche ist eine erste Erhebung des sinnlichen Vorstellens über das Endliche in den Gedanken, der nur den Inhalt von Nichts, dem ausdrücklich als Nichtseyend gesetzten hat, – eine Flucht über das Beschränkte, die sich nicht in sich sammelt, und das Negative nicht zum Positiven zurückzubringen weiß. Diese unvollendete Reflektion hat die beyden Bestimmungen des wahrhaft Unendlichen: den Gegensatz des Endlichen und Unendlichen, und die Einheit des Endlichen und Unendlichen, vollständig vor sich, aber bringt diese beyden Gedanken nicht zusammen; der eine führt untrennbar den anderen herbey, aber sie läßt sie nur abwechseln. (WdL, GW 21, 138)

122 Vgl. WdL, GW 21, 136: »Das Bild des Progresses ins Unendliche ist die gerade Linie, an deren beyden Grenzen nur, das Unendliche und immer nur ist, wo sie, – und sie ist Daseyn – nicht ist, und die zu diesem ihrem Nichtdaseyn, d. i. ins unbestimmte hinausgeht; als wahrhafte Unendlichkeit, in sich zurückgebogen, wird deren Bild der Kreis, die sich erreicht habende Linie, die geschlossen und ganz gegenwärtig ist, ohne Anfangspunkt und Ende.«

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In Wahrheit ist es nämlich so, dass auch in der Logik die Reflexion eine sich selbst überwindende ist (ebenso wie der sich vollbringende Skeptizismus in der Phänomenologie), sofern sie stets an sich festhält und sich in jedem Schritt (deren erster immer der unterscheidende des Verstandes sein muss) ihrer Vergangenheit als Geschichte vergegenwärtigt. Jeder Schritt der Logik ist Negation des Vorherigen, aber eben eine bestimmte Negation, die das Negierte noch in sich enthält und mit sich fortführt. Ein unendlicher Progress wird nun dadurch verhindert, dass in jedem Schritt zugleich die Erinnerung an seine Vergangenheit gegenwärtig gehalten wird und dadurch jede Einseitigkeit eines negativen Schritts durch den dialektischen zweiten (der wieder ein negativer ist) überwunden wird, der die Erinnerung des negierten Vergangenen im Zugleich mit dessen Negation in die Gegenwart holt. Der erste Schritt ist immer nur verständig, der zweite aber dialektisch und vernünftig: So, wie das Sein sich in seiner Unmittelbarkeit als Nichts bestimmt oder auch das Etwas als Anderes, dies als seiend wieder ein Etwas ist usw., und schließlich das an sich festhaltende Sollen stets nur in ein- und demselben Widerspruch zur Schranke bleibt, kann jede Bestimmung eines einseitig-unmittelbaren Ausgangspunkts nur dessen Negation zur Antwort erhalten (denn reine Unmittelbarkeit ist selbst das reine Nichts); die Einsicht aber, dass in jeder gegenseitigen Verneinung das eine nicht ohne das andere ist, beide Seiten sich also gegenseitig vermitteln und damit Momente ein- und derselben Bewegung sind, kann nur im Erinnern dieses Vermittlungsgeschehens gelingen, dem Aufgeben jener Unmittelbarkeit also, welche in der Seinslogik stets der erste Schritt ist (und nur im Sollen zunächst den Weg einer Sackgasse nimmt, da hier an der anfänglichen Unmittelbarkeit in der Bestimmung festgehalten werden soll). Jene Bewegung eines negativen Aufhebens aller anfänglichen Unmittelbarkeit und des Wiedereinholens des Seins im dialektischen Zugleich der Gegensätze als Momente ein- und derselben notwendigen und fortschreitenden Bewegung ist hier das Pendant zur Bewegung einer vollständigen Reflexion (wie auch, auf anderer Ebene, zum sich vollbringenden Skeptizismus der Phänomenologie): Der wahre Begriff der Unendlichkeit stellt sich nicht im Gegensatz, sondern in der notwendigen Bewegung der Endlichkeit selbst dar, ebenso, wie in der Differenzschrift in dem einen Zusammenhang der aufeinanderfolgenden Verstandesbestimmungen am Ende die immer schon zugrunde liegende, wenn auch anfangs noch verborgene Ein122 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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heit der Vernunft zutage tritt. Die erste Bewegung einer bloß einseitigen Negation im Bestimmen des Endlichen allein für sich genommen ergäbe die Philosophie Spinozas, sofern der Verstand auf der Ebene der Modi in der Folge von Ursache und Wirkung ins Endlose fortschreitet und zugleich das Ansich jedes Modus, im Überspringen der Sphäre der Endlichkeit, in der leeren Unendlichkeit der Substanz begründet sein lässt und den Unterschied absolut setzt. Jedoch würde sich der Kausalzusammenhang der Modi untereinander von selbst (ohne den Ausweg in eine Substanz) aufheben, sofern man ihn dialektisch denkt: Zwar geht die Folge der Modi im Verhältnis von Ursache und Wirkung, als bestehende Realitäten, in die endlose Dauer des unendlichen Progresses hinaus, allerdings sind beide Seiten als Werden betrachtet an sich selbst Einheit mit sich und seinem Anderen (vgl. WdL, GW 21, 138 f.). Das hier aufgenommene Reflexionsmodell beinhaltet aber noch mehr: Zwar ist der zweite, dialektische Schritt stets derjenige einer doppelten Negation, aber nicht jede doppelte Negation ist dialektisch. Die schlechte Unendlichkeit entsteht überhaupt nur durch doppelte Negation, nämlich (der logischen Argumentation folgend) durch Negation der Negativität aller Endlichkeit als solcher, welche einen perennierenden Gegensatz zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit setzt. Es ist gleichsam die Scheu vor jener Erschütterung aller Unmittelbarkeit, welche am Anfang der Phänomenologie stand, und auch in der Logik als Forderung, rein zu denken, beim Leser vorausgesetzt wird. Alles Sollen entspringt nur dem Wunsch, etwas, das nicht festgehalten werden kann, als dieselbe Unmittelbarkeit wiederzugewinnen, die im ersten negativen Schritt verloren ging – was in einem System allseitiger Negativität unmöglich ist; denn jede Entgegensetzung ist ebenso Negation und jedes Vergessen des Negierten, jedes Abschließen von Unendlichkeit gegen seine vorausgegangene und vermittelnde Endlichkeit, lässt jene von selbst wieder in die Endlichkeit umschlagen – wenngleich in eine vollkommen unüberwundene. Anstatt die Endlichkeit sich an sich selbst (bzw. in ihrer konsequenten Reflexion) zur seienden Unendlichkeit, die sich in ihrer Negativität vollzieht, aufheben zu lassen, geschieht es der schlechten Unendlichkeit nur (und zwar unweigerlich), stets wieder aufs Neue in bloße Endlichkeit umzuschlagen.

123 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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I.3.3.3. Hegels Kritik an Kant und Fichte Jedes unmittelbare Ausgehen von Faktizität verliert sich in der Bewegung seiner eigenen Bestimmung, welche sich nie wieder einholen lässt, sofern an der Unmittelbarkeit des Ausgangspunktes noch festgehalten wird. Wird dieser aber losgelassen, dem Fluss der notwendigen Bewegung anheimgegeben, so offenbart sich von selbst der negative Charakter des Endlichen, nämlich in seiner sich nie verlierenden Negativität Erscheinung (bzw. Element) des Unendlichen zu sein. Hegel selbst drückt dieses Verhältnis an einer Stelle der Wesenslogik, wie auch ausführlicher in den der Logik zugehörigen Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, als Umkehrung des kosmologischen Gottesbeweises aus: Dessen Fehler bestünde darin, vom zufälligen Sein des Endlichen auf das Sein eines absolut notwendigen Wesens zu schließen; die Wahrheit aber sei, dass das Nichtsein des Endlichen das Sein des Unendlichen ist. 123 Diese Einsicht sei überhaupt der Anfang aller Religion und des Idealismus: Das Endliche ist nicht das wahrhaft Seiende (vgl. WdL, GW 21, 142). Diese Aussage kann nur von einem bereits für sich gewordenen Selbstbewusstsein getroffen werden, das sich als negative Beziehung auf sich zur Unendlichkeit zusammengeschlossen hat und sich gegenüber eine mannigfaltige Welt der endlichen Bestimmungen betrachtet, und diese als seinem Wesen fremd erkennt. Als Bewusstsein stünde dieses also auf derselben Stufe, die wir zuvor in der Logik am Ende erreicht haben: die für sich gewordene Unendlichkeit. 124 Diese ist zwar durch die an sich selbst aufgehobene Endlichkeit vermittelt, jedoch auch beständig in Gefahr, in die schlechte zurückzufallen – was eigentlich schon im ersten Schritt geschehen ist, sofern diese Unendlichkeit, als Selbst an einen Anfang gestellt, nur gegen die Endlichkeit ihrer selbst bewusst werden könnte. Wieder ist eine Grenze gesetzt,

123 Vgl. hierzu Hegel, PhRel II, TWA 17, 412–421, dazu WdL, GW 11, 290. Für eine umfassendere Darstellung des Zusammenhangs zwischen der hegelschen Methode und dem kosmologischen Gottesbeweis (wenngleich die dortigen Folgerungen zum Übergang von Endlichkeit und Unendlichkeit – welche anstelle eines logischen Übergangs ein problematisches Räsonnement setzt, das sich nicht aus dem notwendigen Gang, sondern aufgrund eines Rückgriffs auf eben diesen Beweis ergibt – nicht mit der hier vorgeschlagenen Lesart übereinstimmen) vgl. Hösle 1998, 188–197. 124 Der Unterschied besteht allein darin, dass das Selbstbewusstsein das ›vollbrachte und gesetzte‹ Fürsichsein ist (vgl. WdL, GW 21, 145).

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nur dass diesmal entschieden die Unendlichkeit (die sich als Sein in aller Negativität der Endlichkeit mit sich vermittelt hatte) als Diesseits gesetzt wird. Dieses für sich seiende Selbstbewusstsein steht bei Kant und Fichte als Subjekt des Ichs am Anfang, dem stets ein Dasein als Ding an sich bzw. unendlicher Anstoß entgegensteht (vgl. WdL, GW 21, 150). Indem hier aber das Selbstbewusstsein als fürsichseiendes zwar in seiner Wahrheit erkannt wurde, jedoch als Unmittelbares an den Anfang gestellt wird, entsteht erneut ein Dualismus, der dem bekannten Schema des Sollens in seinem Gegensatz zur Schranke und des unendlichen Progresses verfällt. Das Andere des Ichs perenniert als dessen negatives Ansichsein, da es zwar noch ein vom Selbst absolut Unterschiedenes ist, aber nach und nach ein »Für-dasselbe« (WdL, GW 21, 150) werden soll; das heißt: Der qualitative Gegensatz von Etwas und Anderes wird keineswegs aufgelöst, seine Aufhebung vielmehr in ein nie zu erreichendes Jenseits hinausgeschoben und nur dadurch überdeckt, dass der qualitative Gegensatz im Hinblick auf das Sollen in seiner Dauer zugleich als quantitativer vorgestellt wird. Diese Täuschung ist deswegen möglich, weil das (unendliche) Fürsichsein als Einssein mit sich gegenüber seiner Bestimmtheit gleichgültig ist und die Quantität, im Gegensatz zur qualitativen Beziehung von Etwas und Anderes, sich wiederum gerade durch die Gleichgültigkeit der Bestimmungen untereinander auszeichnet. Die quantitative Sphäre soll sich aber allein auf die Mannigfaltigkeit der Welt und der endlichen Dinge untereinander beziehen, dergegenüber ein qualitativer Gegensatz zum Selbst (dem Unendlichen) bestehen bleibt, der wiederum quantitativ nicht überwunden werden kann, aber überwunden werden soll: Ich in dieser Einsamkeit mit sich ist zwar das erreichte Jenseits, es ist zu sich selbst gekommen, ist bey sich, diesseits; im reinen Selbstbewußtseyn ist die absolute Negativität zur Affirmation und Gegenwart gebracht, welche in jenem Fortgehen über das sinnliche Quantum nur flieht. Aber indem diß reine Ich in seiner Abstraction und Inhaltslosigkeit sich fixirt, hat es das Daseyn überhaupt, die Fülle des natürlichen und geistigen Universums, als ein Jenseits sich gegenüber. Es stellt sich derselbe Widerspruch dar, der dem unendlichen Progresse zu Grunde liegt; nemlich ein Zurückgekehrtseyn in sich, das unmittelbar zugleich Aussersichseyn, Beziehung auf sein Anderes als auf sein Nichtseyn, ist; welche Beziehung eine Sehnsucht bleibt, weil Ich sich seine gehaltlose und unhaltbare Leere einerseits und die in der Nega-

125 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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tion doch präsent bleibende Fülle als sein Jenseits fixirt hat. (WdL, GW 21, 224 f.) 125

Eine Sollensethik kantischer und fichtescher Prägung unterliegt also nach Hegel der Illusion, dass sich das moralische Gesetz des autonomen Ichs in seinem Gegensatz zum Endlichen nach und nach (im Sinne einer quantitativen Steigerung) in der Welt verwirklichen könnte. Das ideale Ende bliebe ein absolut unerreichbares Jenseits, welches auch dadurch nicht ins Affirmative gewendet werden könnte, wenn es wie bei Kant als ein Ringen und ein Kampf verstanden werde; 126 die Herrschaft des Selbst über die Natur offenbart in Wahrheit stets nur die höchste Ohnmacht des Selbst, da der unaufgelöste Ge125 Hegel bezieht sich hier auf den Beschluss der Critik der practischen Vernunft wenn auch, wie so oft, im Zuge eines recht grob zugespitzten Zitats – so lautet die Stelle bei Hegel: »Der Unendlichkeit, die sich auf die äussere sinnliche Anschauung bezieht, setzt Kant die andere Unendlichkeit gegenüber, wenn ›das Individuum auf sein unsichtbares Ich zurückgeht, und die absolute Freyheit seines Willens als ein reines Ich allen Schrecken des Schicksals und der Tyranney entgegenstellt, von seinen nächsten Umgebungen anfangend, sie für sich verschwinden, eben so das, was als dauernd erscheint, Welten über Welten in Trümmer zusammenstürzen läßt, und einsam sich als sich selbst gleich erkennt‹« (WdL, GW 21, 224). Bei Kant (KpV, A 289 f.) wiederum heißt es (ausgehend vom Satz »der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir«): »Das zweite [sc. das moralische Gesetz in mir, D. U.] fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher […] ich mich nicht wie dort in blos zufälliger, sondern allgemeiner und nothwendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblick [sc. der berstirnte Himmel über mir, D. U.] einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines thierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß […]. Der zweite erhebt dagegen meinen Werth, als einer Intelligenz, unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Thierheit und selbst von der Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen läßt.« – Nun mag man zwar feststellen, dass Hegel hier nicht nur dem ›unsichtbaren Selbst‹ Kants ein fichtesches ›Ich‹ unterstellt, sondern die Ebenen des moralischen Gesetzes und der Erfahrung des Erhabenen, die hier unterschieden werden, völlig unterschiedslos in eins setzt. Dennoch muss man, wie näher im nächsten Kapitel ausgeführt, Hegel zugutehalten, dass er hier auf einen Punkt bei Kant hinweist, der eine tatsächliche Verbindung beider Ebenen bezeichnet, der sich für Hegel als entlarvend und vor dem Hintergrund des Problems schlechter Unendlichkeit als fatal erweist. Gerade dieser Punkt sei es gewesen, den Fichte zu seiner spekulativen Philosophie veranlasst habe. 126 Vgl. WdL, GW 21, 225.

126 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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gensatz die eigentlich treibende Kraft ist. 127 In der Sphäre der Quantität ist jede Veränderung nur die eines gleichgültigen Mehr oder Weniger, während der absolute Unterschied stets derselbe und von aller Veränderung unberührt bleibt. In der fichteschen Philosophie als Beginn des spekulativen Idealismus stellt sich das Ganze noch einmal zwar abstrakter, aber im abgeschlossenen System umso konsequenter dar. Der erste Grundsatz ist das absolute Fürsichsein des Selbstbewusstseins: Ich = Ich; der zweite setzt dem Ich sein Anderes als Nicht-Ich gegenüber. Die Beziehung beider wird ausdrücklich als quantitativ gesetzt: Das Nicht-Ich ist immer nur zum Teil durch das Ich bestimmt, zum anderen Teil auch nicht, da das Nicht-Ich zur Verwirklichung des Ichs stets ein unendlicher Anstoß, ein absolut Anderes bleiben muss (vgl. WdL, GW 21, 227). Da die angestrebte Einheit des qualitativen Widerspruchs nie da, d. h. gegenwärtig sein kann (da das Ansich der Realität immer nur sein Jenseits ist), aber in einer endlos hinausgeschobenen Zukunft wirklich und gegenwärtig werden soll, ist die Gegenwartslosigkeit auf Dauer gestellt, und das Letzte bleibt stets die Sehnsucht und das Streben nach dem Unerfüllbaren. Für ein unendliches (fürsichseiendes – auf der Ebene des Geistes: moralisches) 128 Subjekt muss die von ihm qualitativ unterschiedene Mannigfaltigkeit der Welt (in der Logik schließt das Fürsichsein als Einheit die Vielheit von sich aus und bestimmt sich über diesen Ausschluss als Eins) notwendig als unzusammenhängendes, untereinander und gegenüber dem Subjekt gleichgültiges quantitatives Nebeneinander erscheinen: die unVgl. WdL, GW 21, 226. In der Logik geht die Unendlichkeit als wahre unmittelbar ins Fürsichsein über. Dieses Fürsichgewordensein aber bezeichnet exakt die Stelle, in der das Subjekt des Bewusstseins in der Phänomenologie sich zur Moralität erhebt. Vgl. hierzu auch Rph, GW 14,1, 99 (§ 105): »Der moralische Standpunkt ist der Standpunkt des Willens, insofern er nicht bloß an sich, sondern für sich unendlich ist […]. Diese Reflexion des Willens in sich und seine für sich seyende Identität gegen das Ansichseyn und die Unmittelbarkeit und die darin sich entwickelnden Bestimmtheiten bestimmt die Person zum Subjecte.« Als weiteren Nachweis dafür, das Einsetzen der Moralität mit Antigones Auftritt vor Kreon (innere Gewissheit des Rechten versus objektives Recht) ausgedrückt zu sehen, sei hier auf die Vorlesungsnotate Hegels zu diesem Paragraphen verwiesen (Rph, TWA 7, 203): »Ich bin für mich als als für mich seiender Wille, weiß von mir als dem fürmichseienden – bin bestimmt als subjektiver, bestimmt, subjektiver Wille zu sein – als für mich – ausschließend – unterschieden vom Objektiven überhaupt«. (Auch Christian Iber vermutet, dass der hegelsche Subjektivitätsbegriff eine kritische Antwort auf Kant und Fichte darstellt, vgl. Iber 2000, 58 f.). 127 128

127 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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geschichtliche Natur. Diese, als von der Unendlichkeit des Subjekts qualitativ unterschiedene Endlichkeit kann sich nie zur Unendlichkeit überwinden, da in ihr selbst gar keine tatsächliche Bewegung stattfindet, der Zusammenhang vielmehr allein durch das Ich-Subjekt erst hergestellt werden soll. Gleichzeitig schlägt diese Zusammenhangslosigkeit auf das leere Ich-Subjekt zurück, welches mit einem unmittelbar gesetzten unendlichen Anspruch an die Welt herantritt, sich aber in seinem ›Material‹ allein in quantitativen Verhältnissen bewegt, aus denen heraus der ursprünglich gesetzte qualitative Unterschied niemals überwunden werden kann. – Die erste Negation, von der Unmittelbarkeit des Ich = Ich des Anfangs ausgehend, setzt eine Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich, deren zweite dialektische Negation nicht als Zugleich, sondern als am Ende der Zeit zu Erfüllendes vorgestellt und einseitig durch das Ich wiedereingeholt werden soll. Auf diese Weise ist es nie gegenwärtig in der Welt, vielmehr schlägt die unmittelbar gesetzte Unendlichkeit, als Ziel einer quantitativen Bewegung gesetzt, in die verendlichte Unendlichkeit der leeren Dauer um: in die schlechte Unendlichkeit desjenigen unglücklichen, sich allein im zusammenhangslosen Wechsel der Bestimmungen erhaltenden Bewusstseins, das mit der qualitativ gesetzten Differenz (als notwendigem ersten negativen Schritt des Verstandes, hinter den aber nicht mehr zurückgegriffen wird), als einmal aus der Geschichte herausgefallen und diese vollständig hinter sich lassend, den Anschluss an die wahre, sich im notwendigen Gang der Endlichkeit verwirklichende Unendlichkeit niemals wiederfinden kann.

128 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

I.4. Das Sollen und das Erhabene

I.4.1. Das Erhabene als Pathos der Gegenwartslosigkeit Als Sollen ist die Unendlichkeit über die Endlichkeit als ihre Schranke erhaben; sie muss hierin zur schlechten werden, weil sie sich als Gegensatz zur Endlichkeit in ihrer Mannigfaltigkeit stets nur als Unbeschränktheit schlechthin bestimmen lässt, deren abstrakte Leere sich in der Dauer des Sollens wiederspiegelt. Das Problem des Sollens, aus dem das endlose Wechselspiel mit der Schranke folgt, ergiebt sich aus dem Anspruch des Sollens als ansichseiender Bestimmung gegenüber der daseinden Grenze als Schranke, sich als solches wiedereinzuholen (also trotz seines Vergehens so zu bleiben, wie es ist) und dergestalt im bleibenden Widerspruch zu verharren, als sein-sollend nie dazusein. 129 Als Forderung der Unendlichkeit bezeichnet dies Sollen eine Flucht aus der diesseitigen Endlichkeit in ihrer endlosen Negativität, in der das unbegriffene Ganze vorzeitig ergriffen wird und das Endliche als Unüberwundenes in Form der Schranke stets als dessen Gegensatz wiederaufkeimt – insbesondere dort, wo sich das Unendliche als fürsichseiendes Selbst zunächst aus der Endlichkeit selbst entwickelte und auf sich selbst bezog, am Ende aber diese Brücke hinter sich abbricht und sich (nunmehr selbst als Diesseits) im Gegensatz zur fremd gewordenen Endlichkeit seiner selbst bewusst zu werden sucht. Es ist, wie Schillers Ausführungen in den Ästhetischen Briefen zur Erfahrung der dauernden Gegenwartslosigkeit bereits nahelegten, durchaus Vernunft in der schlechten Unendlichkeit; genauer: Erst für den zur Vernunft erwachten Menschen kann sie ein Problem werden. Ein bereits mit sich zusammengeschlossenes unendliches 129 Vgl. dagegen Rph, GW 14,1, 42 (§ 22): »Der an und für sich seyende Wille ist wahrhaft unendlich, weil sein Gegenstand er selbst, hiemit derselbe für ihn nicht ein Anderes noch Schranke, sondern er darinn vielmehr nur in sich zurückgekehrt ist.«

129 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

I. Hegel

Subjekt (merke: Erst die Moralität in der Phänomenologie hat diesen Punkt erreicht) scheidet sich im Zuge seiner Verwirklichung von sich in erster Negation (entfremdet sich), setzt aber, im Vergessen der eigenen Vorgeschichte, diesen Unterschied als absolut und unaufhebbar, wonach alle weiteren Negationen, stets nur wieder an derselben grundsätzlichen Unterscheidung ansetzend, nur linear ins Endlose hinausschreiten können. Das hier einsetzende Wechselspiel von Sollen und Schranke wurde nunmehr hinlänglich beschrieben, dennoch bleibt die Frage offen, was das Ganze, auf der Ebene des Geistes, wo das bloß logische Wort »Bestimmung« doch unterbestimmt bleiben muss, eigentlich antreibt. Der Begriff des Sollens enthält die Gegenwartslosigkeit seiner Bewegung bereits in sich: Was sein soll, ist und ist zugleich nicht (das Sollen ist nur als an sich, sein Dasein ist ihm stets nur Schranke, dasselbe Verhältnis galt auch für das Unendliche und das Endliche als Gegensatz 130). Das Gefühl aber, was dieser in sich widersprüchlichen Bewegung entspricht, ist für denjenigen, der die ständige Abwechslung in seiner leeren Dauer zu überschauen vermag, die Langeweile (vgl. WdL, GW 21, 130 u. 223) – für den Strebenden aber, der hierin die vom endlichen Diesseits unberührte Heiligkeit des seinem Anspruch nach unendlichen Subjekts bewahrt und bestätigt sieht (»Gottesdienst in sich selbst«; Phän., GW 9, 352), ist es das Erhabene: Die schlechte Unendlichkeit pflegt vornehmlich in der Form des Progreßes des Quantitativen ins Unendliche – diß fortgehende Ueberfliegen der Grenze, das die Ohnmacht ist, sie aufzuheben, und der perennirende Rückfall in dieselbe, – für etwas Erhabenes und für eine Art von Gottesdienst gehalten zu werden, so wie derselbe in der Philosophie als ein Letztes angesehen worden ist. Dieser Progreß hat vielfach zu Tiraden gedient, die als erhabene Produktionen bewundert worden sind. In der That aber macht diese moderne Erhabenheit nicht den Gegenstand groß, welcher vielmehr entflieht, sondern nur das Subject, das so große Quantitäten in sich verschlingt. Die Dürftigkeit dieser subjectiv bleibenden Erhebung, die an der Leiter des Quantitativen hinaufsteigt, thut sich selbst damit kund, daß sie in vergeblicher Arbeit dem unendlichen Ziele nicht näher zu kommen eingesteht, welches zu erreichen freilich ganz anders anzugreifen ist. (WdL, GW 21, 222)

130 Vgl. WdL, GW 21, 130: »Es [das schlecht-Unendliche, D. U.] hat […] das Endliche als ein Diesseits sich gegenüber, das sich ebensowenig ins Unendliche erheben kann, darum weil es diese Determination eines Andern, hiemit eines perennierenden, sich in seinem Jenseits wieder und zwar als davon verschieden, erzeugenden Daseyns hat.«

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Das Sollen und das Erhabene

Hegel verweist hier vorgeblich direkt auf Kants Beschluss der Critik der practischen Vernunft, den er allerdings in einer stark überzeichneten Form zitiert 131 – das Urteil Hegels lässt dabei an Schärfe nichts zu wünschen übrig, ebensowenig aber an Klarheit, was den Zusammenhang von Erhabenen und (perennierenden) Sollen angeht: Diese Darstellung […] verdient wegen der Wahrhaftigkeit vornehmlich Lob, mit der sie es angibt, wie es dieser Erhebung am Ende ergeht: der Gedanke erliegt, das Ende ist Fallen und Schwindel. Was den Gedanken erliegen macht, und das Fallen desselben und den Schwindel hervorbringt, ist nichts anderes als die Langeweile der Wiederholung, welche eine Grenze verschwinden und wieder auftreten und wieder verschwinden, so immer das eine um das andere, und eins im andern, in dem JenIm Wortlaut der Logik heißt die Stelle: »Kant z. B. führt es als erhaben auf, (Kr. d. pract. V. Schl.) ›wenn das Subject mit dem Gedanken sich über den Platz erhebt, den es in der Sinnenwelt einnimmt, und die Verknüpfung ins unendlich Große erweitert, eine Verknüpfung mit Sternen über Sternen, mit Welten über Welten, Systemen über Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. – Das Vorstellen erliegt diesem Fortgehen ins UnermeßlichFerne, wo die fernste Welt immer noch eine fernere hat, die so weit zurückgeführte Vergangenheit noch eine weitere hinter sich, die noch so weit hinausgeführte Zukunft immer noch eine andere vor sich; der Gedanke erliegt dieser Vorstellung des Unermeßlichen; wie ein Traum, daß einer einen langen Gang immer weiter und unabsehbar weiter fortgehe, ohne ein Ende abzusehen, mit Fallen oder mit Schwindel endet.‹« Gemeint ist der »Beschluß« aus der KpV, A 288 f. (demnach nur die erste Hälfte dieses Kant-Zitats – bis zum Gedankenstrich – auf diese Stelle verweist): »Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und blos vermuthen; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht wie dort in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne.« Die zweite Hälfte des Zitats in der Logik (also nach dem Gedankenstrich) spielt womöglich auf die Critik der reinen Vernunft an (vgl. KrV, B 641), zumindest wird hier (im Verweis auf Haller) der eigentümliche Schwindel in der Erfahrung des Erhabenen angesichts der Ewigkeit beschrieben; eine andere Möglichkeit ist aber die Beschreibung der Gleichzeitigkeit von Anziehung und Abstoßung im Gefühl des Erhabenen vor dem »Abgrund, worin sie [sc. die Einbildungskraft, D. U.] sich selbst zu verlieren fürchtet« (KU, B 98).

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seits das Disseits, in dem Disseits das Jenseits perennirend entstehen und vergehen läßt, und nur das Gefühl der Ohnmacht dieses Unendlichen oder dieses Sollens gibt, das über das Endliche Meister werden will und nicht kann. (WdL, GW 21, 223)

Hegels Ausführungen mögen Kant zwar in seinem Wortlaut verfälschen, worauf es aber ankommt, ist die hierin ausgesprochene Tragweite des Vorwurfs: Es geht nämlich nicht nur um eine Kritik des Erhabenen in seinem angestammten Bereich der Ästhetik, sondern um die Entlarvung der Sollensethik auf ihren verdeckten Grund in der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen: 132 der Lust an der imaginären Unendlichkeit, dem eigentümlichen Schwindel vor dem Fall ins 132 Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang in Hegels erster logischer Erfassung des Begriffs schlechter Unendlichkeit im Fragment Logik, Metaphysik, Naturphilosophie aus den Jahren 1804/05 (GW 7, 32 f.) – eine Stelle, die in ihrer Gedrängtheit doch bereits alles hier über die entsprechenden Stellen der Logik Gesagte auf den Punkt bringt: »Die schlechte Unendlichkeit ist die letzte Stuffe, zu welcher die Unfähigkeit, den Gegensatz auf eine absolute Weise zu vereinigen und aufzuheben fortgeht, indem sie nur die Foderung dieses Aufhebens aufstellt, und sich an der Darstellung der Foderung begnügt, statt sie zu erfüllen; sie meynt sich am Ende, indem sie im Anschauen über das beschränkte hinausgeht, und über das unermeßliche zahllose etwa der Gestirne, oder der mannigfaltigen Organisation in ein vernunftloses Staunen geräth, oder indem sie in der Rückkehr aus der Anschauung, die Thätigkeit, als reine Einheit gegen das beschränckte, in einem unendlichen Progresse rettet, in beydem ohne Gegenwart ist, dort das positive, seyende Quantum erweitert, es als beschränktes erkennt, und in dem hinausgehen darüber nur bis zur Foderung des Aufgehobenseyns seiner Beschränkung, oder in dem Aufheben desselben ebenso nur zum leeren Nichts, und wieder nur zur Foderung der Erfüllung des Nichts gelangt; beydes das Beschränkte, und das Leere aussereinanderliegen hat, eins als das Jenseits des anderen; im Setzen noch so vieler Beschränckten noch eine Leere ausser sich hat, in welchem noch das Beschränkte nicht gesetzt ist, und in das Beschränkte selbst durch seine Erweiterung doch die Unbeschränktheit nicht hereinbringt. – Hier ist jene Unfähigkeit ebenso ohne Gegenwart, indem sie das negative Quantum erweitert; die Negation ist schlechthin nur Negation dieses bestimmten; oder die absolute Negation ist eben jene Leerheit selbst, der gegenüber die absolute Menge der Bestimmtheit ist; indem diese Negation, Leerheit oder Freyheit zum positiven gemacht ist, so ist die der vorigen umgekehrte Foderung vorhanden, dort wird die Erfüllung des Leeren, Seyn des Beschränkten im noch vorhandenen Nichts, hier das Seyn des Leeren, und das Aufgehobenwerden des immer noch vorhandenen Beschränkten gefodert, und indem diese Leerheit für sich ist, so ist nur die leere Möglichkeit, daß das beschränkte ausserhalb der ideellen Thätigkeit vorhandene aufgenommen werden könne und das Aufgehobenseyn ist der unendliche Progreß, d. i. ein Aufgehobenseyn, das schlechthin nicht realisirt ist, und die Erhabenheit dieser Thätigkeit ist ebenso vernunftlos als jene Erhabenheit jenes Seyns, und begnügt [sich] ebenso an der Darstellung der nicherfüllten Foderung.«

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Bodenlose – der sich aus der dialektischen Sicht der Logik doch nur als die Langeweile einer endlosen Wiederholung desselben Wechsels von Sein und Nichtsein, Dasein und Ansich, Diesseits und Jenseits erweisen muss, und doch mit demselben Pathos auftritt, mit welchem Antigone vor Kreon auf den Boden zeigend auf ihre Götter unter der Erde verweist und das profane Recht Kreons für Schein und Oberfläche erklärt – und auf sich gestellt wiederum doch nur die schlechte doppelte Negation einer einfachen Negation von Negativität überhaupt beschreibt, die sich in scheinbarer Autonomie bloß im Hinblick auf ihre leere Unendlichkeit als Schrankenlosigkeit in ihrer Bestimmung erhält. 133 133 Tatsächlich besteht bei Kant ein enger Zusammenhang zwischen dem ›Erhabenen‹ (in der Critik der Urtheilskraft) und der ›Achtung vor dem moralischen Gesetz‹ (in der Critik der practischen Vernunft). So, wie dieses die eigentliche positive Triebfeder der reinen praktischen Vernunft, als von ihrer subjektiven Seite genommen, bezeichnet (vgl. KpV, A 156 f.), zeigt sich im Erhabenen dasselbe Sittengesetz auf negativem Wege (vgl. KU, B 96–102). Wie eng der hier von Hegel angesprochene Zusammenhang von ästhetischem Gefühl und Sollensethik im kantischen Sinne tatsächlich ist, ergibt sich aus zwei zentralen Textstellen, die auch für das Folgende möglichst im Auge behalten werden sollten (ebenso aber sei hier, von der anderen Seite her, an das Verhältnis von Sollen und Schranke als ewig unzureichendes Wechselspiel der Bestimmung in Bezug auf seine Grenze erinnert); zunächst KpV, A 156: »Die […] Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit, welche uns die Erhabenheit unserer Natur (ihrer Bestimmung nach) vor Augen stellt, indem sie uns zugleich den Mangel der Angemessenheit unseres Verhaltens in Ansehung derselben bemerken läßt und dadurch den Eigendünkel niederschlägt, ist selbst der gemeinsten Menschenvernunft natürlich und leicht bemerklich. […] [S]ie [sc. die Triebfeder der reinen praktischen Vernunft, D. U.] ist keine andere als das reine moralische Gesetz selber, so fern es uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren läßt und subjectiv in Menschen, die sich zugleich ihres sinnlichen Daseins und der damit verbundenen Abhängigkeit vor ihrer sofern pathologisch affizierten Natur bewußt sind, Achtung für ihre höhere Bestimmung wirkt.« Das Pendant hierzu findet sich in KU, B 96 f.: »Das Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist, ist Achtung. […] Unsere Einbildungskraft […] beweiset selbst in ihrer größten Anstrengung in Ansehung der von ihr verlangten Zusammenfassung eines gegebenen Gegenstandes in ein Ganzes der Anschauung (mithin zur Darstellung der Idee der Vernunft) ihre Schranken und Unangemessenheit, doch aber zugleich ihre Bestimmung zur Bewirkung der Angemessenheit mit derselben als einem Gesetze. Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung, die wir einem Objekte der Natur durch eine gewisse Subreption […] beweisen, welches uns die Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht.

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I. Hegel

Wir erinnern uns: Die oben beschriebene Ohnmacht (eines Sollens, das über das Endliche Meister werden will und nicht kann) ist Ausdruck einer Herrschaft, welche als dialektische, in der Grenzziehung zu seinem Anderen, als dem zu Überwindenden, auf das Subjekt der Herrschaft selbst zurückschlägt und ihn zum Knecht seines Knechtes macht, da der Aneignungsprozess das Selbst nicht freisetzt, sondern vereinnahmt und dem Zwang seines eigenen Vollzugs unterwirft (ebenso, wie die Forderung nach der Verwirklichung der Unendlichkeit diese zur unwirklichen verendlicht, oder auch die Forderung nach absoluter Gegenwart in der Welt die Gegenwartslosigkeit auf Dauer stellt). Es ist wieder das Verhältnis von Sollen und Schranke, in welcher jede Seite mit Notwendigkeit die andere herbeiführt, ohne dass in dieser Notwendigkeit beide als Momente einer Bewegung in ihrem Zugleich erkannt werden; sie können sich so nur immerfort abwechseln – denn Herrschaft ist per se einseitige Setzung und Ausschluss des Zugleichs. Hier im Rückblick auf die Ästhetischen Briefe und die Gegenwartskritik der Differenzschrift von einer Verstandesherrschaft zu sprechen, zeigt sich nunmehr sogar als tautologisch: Der Verstand unterscheidet, setzt eine bestimmte Negation und schreitet von dieser ausgehend in einseitiger Reflexion fort, ohne dass je ein unbestimmtes Ende abzusehen wäre; er unterwirft seine Gegenstände als gleichgültige Anstöße einem selbstgenügsamen Fortschritt und gleicht sich ihrer Kontingenz, im Fehlen eines eigenen inneren Zusammenhangs, zugleich an, ohne dass ihm dies je ins Bewusstsein rücken könnte; die Dialektik denkt das Zugleich in der Reflexion, das Erhabene aber bricht ab, fällt heraus und verharrt im schwebenden Verweis auf ein Unbestimmtes schlechthin: die schlechte Unendlichkeit als verfehlter Selbstbezug. 134 Das Gefühl des Erhabenen ist also ein Gefühl der Unlust aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung zu der Schätzung durch die Vernunft und eine dabei zugleich erweckte Lust aus der Übereinstimmung eben dieses Urteils der Unangemessenheit des größten sinnlichen Vermögens mit Vernunftideen, sofern die Bestrebung zu denselben doch für uns Gesetz ist.« Vgl. hierzu auch die Parallelsetzung von Achtung und dem Erhabenen (im Gegensatz zum Schönen) in einer Erwiderung Kants auf Schillers Kritik (in Über Anmut und Würde) in einer Anmerkung zu Die Religion innerhalb der Grenzen der bloße Vernunft (vgl. Rel., AA 4, 23). 134 Dies wird bereits in der Differenzschrift (DS, GW 4, 17) ausgeführt, nämlich als Rückfall der Vernunft in die Entgegensetzung eines reinen Setzens der Vernunft ohne Entgegensetzung gegen (dies der Selbstwiderspruch) die objektive Unendlichkeit

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Das Sollen und das Erhabene

Aber: Auch das Erhabene Kants als, nach Hegel, ästhetisches Inzitament der Ethik (wie auch das ästhetische Ideal Schillers) kennt ein eigenes Zugleich der Gegensätze, die unmittelbar nur einseitig gesetzt werden können: nämlich die durch das Erhabene hervorgerufene plötzliche Erfahrung ästhetischer Simultanität, wie sie im § 27 der KdU beschrieben wird (dort, wo in der Unangemessenheit der ästhetischen Größenschätzung zur Schätzung der Vernunft dessen Übersinnlichkeit momenthaft aufscheint): Messung eines Raumes (als Auffassung) ist zugleich Beschreibung desselben, mithin objective Bewegung in der Einbildung und ein Progressus; die Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit, nicht des Gedankens, sondern der Anschauung, mithin des Successiv-Aufgefaßten in einem Augenblick, ist dagegen ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht. (KU, B 99 f.) 135

Das Erhabene hat seine eigene Dialektik und seine eigene immanente Logik. Ein solches plötzliches (›in einem Augenblick‹) 136 Übersteigen linearer Sukzession (die immanent ins Endlose hinausgehen würde) auf eine stets präsente Ebene der Simultanität ersetzt die immanente Selbstüberwindung der Reflexion auf die in ihren Gegensätzen als ihr Zugleich präsente Vernunft. 137 einer endlosen und notwendigen Vergänglichkeit allen Daseins als »die subjektive Unendlichkeit – das der objektiven Welt entgegengesetzte Reich der Freiheit«. 135 Den Hinweis auf diesen Passus und dessen Einordnung verdanke ich Hühn 2009, 33 f. 136 Interessanterweise scheint diese nach Kant zitierte Stelle durchaus Einfluss auf die schellingsche Zeitkonzeption gehabt zu haben, vgl. Hühn 2009, 33 f. 137 Es geht hier nicht um eine rein immanente Interpretation Kants – für Hegel wie auch für unsere eigene Diskussion des Problems schlechter Unendlichkeit sind es primär die Folgen dieses kantischen Modells des Erhabenen für Konzeptionen einer Präsenz des wahren Unendlichen im Bruch linearer Sukzession in der Philosophie, welches im Fokus des Interesses steht. Den Problemhorizont schlechter Unendlichkeit für die Philosophie, unter welchen wir Hegel, Schelling und Kierkegaard fassen, teilte Kant nicht. Für den Umstand aber, dass bei Kant tatsächlich die Ästhetik eine nicht unerhebliche Rolle in der Vermittlung von Verstand und Vernunft spielte (was Hegel hier in seiner Kantinterpretation nahelegt), sprechen auch kantimmanente Analysen: Odo Marquard spricht etwa von der Critik der Urtheilskraft als Kants »Wende zur Ästhetik«, sofern der spätere Kant vor dem Problem gestanden habe, dass eine moralische Vernunft nicht durch Geschichte vermittelt sein könne, dieser aber damit, ohne einen ansprechenden Mittler, ohnmächtig gegenüberstehen müsse (vgl. Marquard 1962, 363–374). Ihm folgt Bernhard Lypp in seiner These, dass die ästhetische Einheit der Urteilskraft eine gleichsam unerwartete Vermittlung der beiden schlechthin ge-

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I. Hegel

Hegel löst diese immanente Logik des Erhabenen in seine geschichtliche Vermittlung auf: Zu fragen ist, warum gerade hier, zu dieser Zeit, das Erhabene eine solche philosophische Anziehungskraft bekommt. Zu unterscheiden ist hier vor dem Maßstab einer Geschichte des Bewusstseins eine berechtigte Form des Erhabenen von einer unberechtigten im engen Zusammenhang mit dem Modell des unglücklichen Bewusstseins – wobei man bei den beiden Formen des unglücklichen Bewusstseins in der Phänomenologie, obwohl sie dem Erhabenen auf gewisse Weise entsprechen, nicht von derselben Unterscheidung (berechtigt/unberechtigt) sprechen kann: Die erste Form des unglücklichen Bewusstseins bleibt vielmehr in seiner Überwindung als latente Gefährdung des Bewusstseins in seinem Zusammenhalt zugegen, in dessen Abgrund am Ende das moralische Bewusstsein an seiner letzten Spitze fällt. Wir erinnern uns: In der Phänomenologie richtete sich das unglückliche Bewusstsein an der Gewissheit des logos als Ansich der Welt wieder auf. Dort aber, wo sich dieses vorgestellte Ansich der Welt (in auf sich bezogener Subjektivität) in der Religion als monotheistischer Gott mit sich zusammenschließt, bezieht sich das menschliche Subjekt auf diesen durch die Welt hindurch als ein berechtigt Erhabenes. Gott ist hier als unendliche Macht der Subjektivität causa sui, Anfang und Ende schlechthin (im Gegensatz zum Hervorgegangensein etwa der griechischen Götter; vgl. hierzu PhRel II, TWA 17, 57). Als subjektives Ansich der Welt steht Gott, wie auch der Mensch, im Gegensatz zur prosaischen Welt: der unselbstständigen Ansammlung von Dingen, in die sich Gott in der Schöpfung frei entlassen habe. Es ist hier also nicht die Subjektivität selbst, die als solche erhaben ist:

trennten Erfahrungsbereiche der dritten Antinomie (Kausalität der Freiheit vs. Kausalität der Natur) zumindest in Aussicht stellt (vgl. Lypp 1972, 11 f.). – Kant selbst sprach schließlich von der Urteilskraft als Bindeglied zwischen Verstand und Vernunft, sofern sie das Vermögen bezeichne, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren wie auch zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden, und es ist sicherlich bezeichnend, dass Kant in genau diesem Zusammenhang auf einen Übergang der Sphäre der Naturbegriffe zu derjenigen der Freiheitsbegriffe (nach deren Unterscheidung sich hier die Philosophie in theoretische und praktische unterscheidet!) zu sprechen kommt, vgl. KU, B XX–XXV). – Eine ganz andere Frage aber wäre, inwieweit Kant selbst der Erfahrung des Erhabenen hier eine wirklich entscheidende Rolle zumisst. Die oben angezeigte Verbindung zwischen dem Erhabenen und der für die praktische Philosophie so wichtigen Achtung vor dem moralischen Gesetz, die Hegel Kant vorwirft, ist jedenfalls da.

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Das Sollen und das Erhabene

Die Erhabenheit ist erst die Erscheinung und Beziehung dieses Subjekts auf die Welt, daß diese als Manifestation desselben gefaßt wird, aber als Manifestation, die nicht affirmativ ist oder die, indem sie zwar ist, doch den Hauptcharakter hat, daß das Natürliche, Weltliche als ein Unangemessenes negiert und als solches gewußt wird. (PhRel II, TWA 7, 64)

Was dem Menschen als Diesseits gegenüber stehen bleibt, untersteht dem mannigfachen und allseitigen linearen und endlosen Zusammenhang des Verstandes: Als ›entgötterte endliche Welt‹ 138 fehlt ihr jeglicher affirmativer Selbstbezug. Die Erhabenheit ist insofern tatsächlich Manifestation Gottes in der Welt, als die Natur in ihrer Endlichkeit negiert, unterworfen und als vorübergehend vorgestellt wird (vgl. PhRel II, TWA 7, 65). Diese Negation des unmittelbaren Daseins vor dem Maßstab Gottes als jenseitiger Subjektivität entspricht dem Sollen; es ist auch der Austritt aus der Natürlichkeit im Bewusstsein über Gut und Böse, wie sie in der Parabel des Sündenfalls dargelegt ist. Gott selbst ist Manifestation dieses Kampfes mit dem Bösen, das er als das Nichtseinsollende bestraft, und er gebietet das Gute, das für den Menschen aber ein Nichtseiendes, ein bloßes Sollen und nichts anderes ist (vgl. PhRel II, TWA 7, 91). Die Gegenwartslosigkeit des auf ein Jenseits bezogenen Sollens entspricht der Unmöglichkeit, den Gegenstand des Erhabenen in einem endlichen Dasein zureichend auszudrücken. Daher steht die Religion des Erhabenen parallel zur Symbolik des Erhabenen in der Kunst, und zwar dort, wo dieselbe über bloß phantastische Andeutungen des an sich Wahren im Rätsel hinausgeht (vgl. Ästh. I, TWA 13, 415). Diese Stufe ist dort erreicht, wo eine absolute Bedeutung des Daseins durch die konkrete (religiöse) Vorstellung einer allgemeinen, alles in sich begreifenden Substanz gewährleistet ist. Auch hier hat sich die Substanz gegen das Endliche verselbstständigt und fordert ebenso auf der Spitze des Rätsels (in der Sphinx als Symbol des Symbolischem schlechthin) den Drang nach selbstbewusster Geistigkeit im Menschen. So wie die Modi im System Spinozas in ihrem Sein immer nur auf ein anderes verweisen, also, im Gegensatz zur Substanz, nie sie selbst sind (daher omnis determinatio negatio est), ist in der Kunst des Erhabenen, dem ein Bewusstsein von einer jenseitigen Substanz zugrunde liegt, das Wahre nie gänzlich im daseinden Ge138 Diese Überschrift aus der Ästhetik (zum dortigen Kap. II.I.II.B.2) spielt übrigens auf Schillers Ausdruck der »entgötterte[n] Natur« aus den Göttern Griechenlands an (1. Fassung: Vers 168, 2. Fassung: Vers 112).

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genstand auszudrücken, sondern immer nur im Verweis (im Zeigen des Rätsels) zugegen. Das Erhabene überhaupt ist der Versuch das Unendliche auszudrücken, ohne in dem Bereich der Erscheinungen einen Gegenstand zu finden, welcher sich für diese Darstellung passend erwiese. Das Unendliche, eben weil es aus dem gesamten Komplex der Gegenständlichkeit für sich als unsichtbare, gestaltlose Bedeutung herausgesetzt und innerlich gemacht wird, bleibt seiner Unendlichkeit nach unaussprechbar und über jeden Ausdruck durch Endliches erhaben. (Ästh. I, TWA 13, 467) 139

Jedoch gibt es einen Moment in der Kunst, wo doch ein Gegenstand gefunden wird (der im Rätsel und Symbol noch gesucht wurde – man vergleiche die Geschichte von Ödipus und der Sphinx), welcher in seiner Idealgestalt einen unabhängigen, selbstständigen und bei sich selbst seienden Inhalt restlos auszudrücken vermag: die klassische Kunst der Antike in ihrer geschlossenen Darstellung des Ideals des Menschen als Menschheit.

I.4.2. Überwindung des Symbolisch-Erhabenen in der klassischen Antike I.4.2.1. Das Schöne als Ideal Ebenso wie das Erhabene bezeichnet das Schöne die Idealität des Natürlichen (vgl. PhRel II, TWA 17, 50); in jenem verweist die Natur als nicht selbst seiende auf ein ihr Zugrundeliegendes (als Vorstellung einer letzten affirmativen Selbstbezüglichkeit, die jedem reflektierten Dasein fehlt); das Schöne hingegen fasst Hegel als das sinnliche Scheinen der Idee, d. i. die (daseiende) Einheit von Begriff und äußerer Erscheinung (vgl. Ästh. I, TWA 13, 151). Da die Idee aber als unendlich und frei für den Verstand nicht zu fassen ist – dieser kann immer nur die Trennung setzen und festhalten –, kann sie sich nur in einem solchen Gegenstand darstellen, in welchem sie in ihrer gegenständlichen Gegenwart als frei erscheinen kann: in der griechischen Hegel verweist hier auf § 23 der Critik der Urtheilskraft: »[D]as eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüth gerufen werden« (KU, B 77).

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Kunst (insbesondere der Skulptur) als Darstellung des Menschen in seiner freien und unabhängigen Idealität. Das Ideal der Kunst als solcher misst sich wiederum an der Wirklichkeit der Idee des Schönen und unterscheidet sich vor diesem Maßstab in drei verschiedenen Stufen (vgl. Ästh. I, TWA 13, 389–392): In der symbolischen Kunst sucht die Idee nach ihrem echten Ausdruck in der Kunst – sie ist stets nur im Anklang, in der Ahnung gegenwärtig. Form und Inhalt der Kunst scheiden sich hier als Gestalt und Bedeutung (dem entspricht als Kunstform v. a. die vorklassische Architektur). Die klassische Kunst findet die Einheit von Inhalt und Form; hier ist kein Verweis mehr auf ein Jenseitiges, das noch nicht seinen adäquaten Ausdruck gefunden hätte. Aber es ist nicht der absolute Geist, der hier seinen wahren Ausdruck findet, sondern nur der besondere, der in einer ebenso besonderen Gestalt seinen adäquaten Ausdruck findet. Die romantische Kunst als dritte Stufe überschreitet die Einheit von Inhalt und Form, da hier die Idee des Schönen den absoluten, für sich selbst freien Geist zum Inhalt hat, und sich daher in der Sphäre der Äußerlichkeit (dem gleichgültigen Nebeneinander der Quantität im qualitativen Gegensatz zum Fürsichsein) nie zureichend realisieren könnte. Die Idee ist wieder nur im indirekten Verweis zugegen und gelangt nur in der Bewegung einer Flucht aus der äußeren Erscheinung zu einem ewig unzureichenden Ausdruck (als Kunstform entspricht dieser Bewegung v. a. die Musik). Die Verwirklichung des Ideals des Schönen ist in der klassischen Antike daher möglich, weil das Absolute nicht als Jenseits des Daseins gefasst wird, diese vielmehr in ihrer Mannigfaltigkeit die Besonderung des Allgemeinen darstellt (im Einklang mit der Sittlichkeit der Phänomenologie als Verwirklichung der ersten Gewissheit, dass alle Realität an sich vernünftig sei). Die Götter auf der einen Seite sind geworden, vielfältig und sinnlich, die Menschen auf der anderen Seite verstehen sich aus der sie übergreifenden Substantialität der Sittlichkeit, ohne dass ihnen selbst das Fürsichsein einzelner Subjektivität zukäme: Auf dem Fundament der Sittlichkeit finden sich die klassisch-antiken Menschen im Hier und Jetzt mit der Welt versöhnt und in ihr heimisch. Dieses Sich-heimisch-Fühlen in der Welt ist keineswegs unmittelbar gegeben: In der Darstellung Hegels steht es als Versöhnung am Ende einer Reihe von inneren Kämpfen in der Geschichte des Bewusstseins, welche ihre Darstellung im griechischen Mythos in den letztendlich siegreichen Kämpfen der Götter gegen die Titanen fänden. Was hier stattfindet, ist die Überwindung der un139 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

I. Hegel

geschichtlichen Zeit der Titanen (kronische Zeit als die verschlingende Zeit ohne Geschichte – jeder Moment vertilgt den vorherigen) durch die griechische Sittlichkeit als bleibendes Gesetz im Wechsel der Geschlechter (vgl. Ästh. II, TWA 14, 53 f.). Was in der Überwindung jener ungeschichtlichen Zeit aber ebenso aufgehoben wird, ist die unstillbare Begierde der Natur und die Sehnsucht des Sollens: Die Titanen werden in das Innere der Erde verbannt (wie auch die Götter, auf die Antigone sich beruft), wo ihr endloses Streben sich in alle Ewigkeit fortsetzt: Prometheus z. B. wird an das skythische Gebirge geschmiedet, wo der Adler unersättlich an der immer wieder wachsenden Leber nagt; in der ähnlichen Weise quält in der Unterwelt den Tantalus ein unendlicher, nie gelöschter Durst, und Sisyphos muß den stets wieder herabrollenden Felsblock vergeblich immer von neuem emporwälzen. Diese Strafen sind, wie die titanischen Naturgewalten selber, das in sich Maßlose, die schlechte Unendlichkeit, die Sehnsucht des Sollens oder das Ungesättigte der subjektiven Naturbegier, welche in ihrer dauernden Wiederholung zu keiner letzten Ruhe der Befriedigung gelangt. Denn der richtige göttliche Sinn der Griechen hat das Hinausgehen ins Weite und Unbestimmte nicht nach Art der modernen Sehnsucht als ein Höchstes für den Menschen, sondern als Verdammnis angesehen und in den Tartaros verwiesen. (Ästh. II, TWA 14, 63) 140

In der unbewegten Schönheit der klassisch-antiken Kunst und Sittlichkeit hingegen ist das Diesseits in seiner Idealität die Verwirklichung der Idee als ihr dargestellter Inhalt und so der Mensch in ihr, als Besonderung des Allgemeinen, ganz und ohne Verweis auf ein noch ausbleibendes Anderes bei sich selbst und in jedem Moment gegenwärtig (die griechische Skulptur wie auch der homerische Heros sind stets ganz sie selbst und bedeuten auch nur sie selbst). Dennoch sind sie nicht für sich seiende Einzelheit: Die griechischen Skulpturen und Heroen verstehen sich nicht als konkrete Individuen, sondern aus dem festumrissenen Horizont griechischer Sittlichkeit – sie sind, wie gesagt, Repräsentanten einer von sich unentfremdeten Allgemeinheit in ihrer Besonderheit (die Klugheit des Odysseus, der Zorn Achills etc., – auch Hektor ist eigentlich griechischer Heros). Auf diese Weise erscheinen sie zwar als frei (weil unabhängig), in

140 Ob diese Interpretation schief sein mag, sei dahingestellt – weder Sisyphos noch Tantalos gehörten dem Geschlecht der Titanen an.

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Das Sollen und das Erhabene

ihnen hat sich aber die Allgemeinheit nicht im unendlichen Selbstbezug mit sich zusammengeschlossen, sie hat sich nur »ergossen in die bunte Mannigfaltigkeit der Erscheinung« (Ästh. II, TWA 14, 15). Das Besondere tritt nicht aus dem geschlossenen und ganzheitlichen Zusammenhang des Allgemeinen heraus, sondern expliziert es nur. Ein solches Ausblenden und Bewahren des Allgemeinen vor der Negativität bringt diese aber (als bloß äußerliche Wahrheit) schon im nächsten Moment ihrer Verwirklichung dem Untergang entgegen – wie an Kreon und der Verwirklichung der Sittlichkeit im Staatsrecht unter Ausschluss älterer Blutsrechte vor Augen geführt wurde. – Was sich hierin verwirklicht, ist wieder die Bewegung des absoluten Begriffs, der sich als Allgemeinheit in seine Besonderheit begibt, sich in ihr als seiner Endlichkeit entfremdet, darin aber über sich und sein anderes übergreift und im unendlichen Zusammenschluss mit sich selbst als konkretes Einzelnes jene Entfremdung in sich begreift und überwindet. 141 Dort, wo diese Bewegung hin zur Einzelheit (als doppelte Negation des Allgemeinen in einfacher Negation seiner bloßen Besonderheit) treibt, geht die innere Dynamik des Verhältnisses von Inhalt und Form über den momentanen Punkt seiner Gleichung hinaus und die Schönheit als Ideal ist unwiederbringlich verloren.

I.4.2.2. Unendlicher Anspruch christlicher Einzelheit Das Christentum ist nach Hegel die notwendige Konsequenz einer Bewegung des Geistes aus seiner Versöhnung im Leiblichen heraus zur unendlichen Versöhnung in sich selbst: Der Geist, der die Angemessenheit seiner mit sich, die Einheit seines Begriffs und seiner Realität zum Prinzip hat, kann sein entsprechendes Dasein nur in seiner heimischen, eigenen geistigen Welt der Empfindung, des Gemüts, überhaupt der Innerlichkeit finden. Dadurch kommt der Geist zu dem Bewußtsein, sein Anderes, seine Existenz, als Geist an ihm und in ihm selber zu haben und damit erst seine Unendlichkeit und Freiheit zu genießen. (Ästh. II, TWA 14, 128)

Diese Entdeckung der Innerlichkeit, wie sie in der Moralität Antigones erstmalig erscheint, findet in der Religion des Christentums seine

141 Auch in der Ästhetik ist dieser Schluss A-B-E des Öfteren genannt, so in Ästh. I, TWA 13, 28 u. 148.

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I. Hegel

Entsprechung in dessen Vorstellung vom Absoluten: Gott erscheint nicht als Ideal des Menschseins, sondern als einzelnes Subjekt (vgl. Ästh. II, TWA 14, 23 f.). Das Besondere ist hier nicht Explikation des unzerteilten Allgemeinen, sondern tatsächliches Anheimgeben des Allgemeinen an die Zerrissenheit der absoluten Negativität (in Leiden und Vergänglichkeit), deren Rückkehr in sich aus seiner Äußerlichkeit (als Negation der Negation) die Unendlichkeit der Innerlichkeit im Gemüt des Einzelnen ist: Die Tiefe und Unendlichkeit, welche der Klassik in seiner Versöhnung im Leiblichen fehlte, wird hier geleistet durch die innere Versöhnung des einzelnen Menschen mit dem Absoluten (vgl. Ästh. II, TWA 14, 461). Die Kunst, welche auf dieser Grundlage entsteht, ist die Romantik. Das Schema von Inhalt und Form ist hier demnach folgendermaßen verteilt: Die absolute Innerlichkeit ist Inhalt, die geistige Subjektivität als Erfassen ihrer Selbstständigkeit und Freiheit die Form. – Dieser zweite Teil mag merkwürdig erscheinen, erklärt sich aber durch das negative Wesen der Form in der Romantik: 142 Der Inhalt stellt sich allein im Gegensatz zum objektiven Stoff als das ewig Unzureichende dar. Die Subjektivität des Gemüts und der Empfindung in ihrer Unendlichkeit und endlichen Partikularität ist zugleich Inhalt und Form (vgl. Ästh. II, TWA 14, 258); letztere wiederum ist die Weise ihres negativen Fortschreitens in der Darstellung. Hierin wird eine solche negative Bewegung vollzogen, in der sich der Einzelne gegen die Oberfläche seiner mannigfaltigen Äußerlichkeit (daher die eigene endliche Partikularität) als konkretes Individuum in seiner Innerlichkeit bewusst wird: Die Außengestalt verweist auf das Ideelle, indem es zeigt, dass es nur das Äußere eines innerlich für sich seienden Subjekts ist (vgl. Ästh. III, TWA 15, 13); – während in der Symbolik die Form auf das Noch-Nicht einer angemessenen Darstellung verwies,

142 Merke: Romantik meint bei Hegel nicht den engeren Begriff einer Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden (und in sich nach Zeit und Orten – Jena, Berlin, Heidelberg etc. – zu unterscheidenden) Epoche, sondern die abendländisch-christliche Kunst in ihrer Gesamtheit, welche in der »Romantik« ihre letzte Konsequenz und ihren höchsten Ausdruck erreicht. Selbst die frühchristlichen Heiligenlegenden gehören Hegel zur romantischen Epik. – In meinen folgenden Ausführungen stimme ich gänzlich mit der These Otto Pöggelers überein, dass diese denkbar weit gefasste Romantikkritik sich in ihrer Hauptstoßrichtung aber gegen die romantische Musik wendet (nämlich als Spitze der Romatik, die das Ganze mit aller Konsequenz der Entwicklung auf den letzten Punkt bringt; vgl. Pöggeler 1956, 337–357).

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Das Sollen und das Erhabene

zeigt die Form hier auf ihre ständige Unangemessenheit als solche und verweist negativ auf die Wahrheit der Innerlichkeit. Die Romantik als ästhetische Konsequenz des Christentums drückt das Absolute im Menschen daher nicht, wie die Klassik, im Idealbild seiner Menschheit, sondern im je Einzelnen in all seiner Negativität und beständigen Selbstverfehlung im mannigfaltigen und allseitig abhängigen äußerlichen Dasein der Welt aus. Dadurch erlangt die Romantik diejenige Tiefe im Menschen, welche die Klassik nie erreichte, sofern sie das Moment seiner subjektiven Einzelheit (seiner Schwäche, Sterblichkeit, der Zufälligkeit seiner Verhältnisse, der Willkür seiner Handlungen etc.) ausblendete, um die Menschheit in ihrer stillen Schönheit darstellen zu können. – Auf der anderen Seite gerät aber gerade diese Schönheit der romantischen Kunst für immer abhanden: Gerät die Negativität der Form einmal in Bewegung, geht die Gleichung mit dem Inhalt nie mehr auf – fortan kann es uns, so Hegel, ›mit dem Stoffe nicht mehr Ernst sein‹ (vgl. Ästh. II, TWA 14, 233). Damit löst sich aber die Kunst selbst am Ende auf: Die Romantik muss in ihrer Konsequenz zur völligen Auflösung in Willkür und dem freien Spiel der gleichberechtigter Ansichten gleichgültiger Formen tendieren; in allem bewahrheitet sich dieselbe produktive Macht der einzelnen Subjektivität (vgl. Ästh. II, TWA 14, 197 f.). Mit dem Ernst in der Darstellung des Absoluten (nicht als in seiner Abwesenheit, sondern in seiner Wahrheit) hat die Kunst ihren Sinn verloren. Wir selbst sind als Einzelne zu tief geworden, um in dem sinnlichen Dasein eine adäquate Erscheinung zu finden: Nur dieses Missverhältnis lässt sich noch ausdrücken; 143 – dies der Sinn des Endes der Kunst, den Hegel in seiner Ästhetik, unmissverständlich, konstatiert:

143 Vgl. hierzu etwa Ästh. I, TWA 13, 23 f.: »Nur ein gewisser Kreis und Stufe der Wahrheit ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dargestellt zu werden; es muß noch in ihrer eigenen Bestimmung liegen, zu dem Sinnlichen herauszugehen und in demselben sich adäquat sein zu können, um echter Inhalt für die Kunst zu sein, wie dies z. B. bei den griechischen Göttern der Fall ist. Dagegen gibt es eine tiefere Fassung der Wahrheit, in welcher sie nicht mehr dem Sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um von diesem Material in angemessener Weise aufgenommen und dargestellt zu werden. Von solcher Art ist die christliche Auffassung der Wahrheit, und vor allem erscheint der Geist unserer heutigen Welt, oder näher unserer Religion und unserer Vernunftbildung, als über die Stufe hinaus, auf welcher die Kunst die höchste Weise ausmacht, sich des Absoluten bewußt zu werden.«

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I. Hegel

Die Kunst in ihren Anfängen läßt noch Mysteriöses, ein geheimnisvolles Ahnen und eine Sehnsucht übrig, weil ihre Gebilde noch ihren vollen Gehalt nicht vollendet für die bildliche Anschauung herausgestellt haben. Ist aber der vollkommene Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten, so wendet sich der weiterblickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück und stößt sie von sich fort. Solch eine Zeit ist die unsrige. Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr. (Ästh. I, TWA 13, 142) 144

Der Verlust des Ernstes in der Kunst ist gleichbedeutend mit dem Verlust der Schönheit als Ideal: Der Sinn der Kunst in seiner Gegenständlichkeit (ob nun in konkretem Material oder abstrakter Objektivation in der Sprache) geht nun allein darin auf, im stets Unzureichenden seiner Darstellung auf das nicht im Gegenständlichen Aufgehende zu verweisen – die Einzelheit des individuellen Subjekts, welches die klassische Kunst (als antike) nicht nur verfehlte, sondern nicht einmal als solches anerkannte bzw. in seinem unendlichen Anspruch zu erkennen vermochte. Unendlich ist dieser Anspruch in zweierlei Hinsicht: einmal in der Bewegung des Schlusses Allgemeinheit – Besonderheit – Einzelheit, also im Zusammenschließen des Ganzen mit sich aus seiner Entfremdung (seinem Im-Anderen-beisich-Sein), auf der anderen Seite aber, als un-endlicher, im unmittelbaren Gegensatz zur endlichen Mannigfaltigkeit der Welt.

144 Vgl. dazu ferner Ästh. I, TWA 13, 25: »In allen diesen Beziehungen [sc. unserer Gegenwart in ihrem allgemeinen Zustand, D. U.] ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist nicht mehr in unsere Vorstellung verlegt, als daß sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höheren Geist Platz einnähme. Was durch Kunstwerke jetzt in uns erregt wird, ist außer dem unmittelbaren Genuß zugleich unser Urteil, indem wir den Inhalt, die Darstellungsmittel des Kunstwerks und die Angemessenheit und Unangemessenheit beider unserer denkenden Betrachtung unterwerfen.« – Daher sei der Zeitpunkt der Wissenschaft der Kunst gekommen – »die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« (Rph, GW 14,1, 16).

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I.4.3. Die schlechte Wiederholung des Erhabenen in der Neuzeit I.4.3.1. Prosa der Welt Warum aber erscheint die Einzelheit, als Ziel der Bewegung, allein im Gefühl und der Empfindung? – Die Antwort liegt in der Unmittelbarkeit jenes Einzelnen in seinem negativen Ausschluss der äußerlichen Welt in ihren mannigfaltigen Zusammenhängen (vgl. Ästh. I, TWA 13, 196), deren Relativität doch nur das Resultat ihrer verstandesmäßigen Betrachtung und Durchdringung ist (auch hier gilt: Zwar ist dieser Einzelne Resultat einer negativen Bewegung, aber er verschließt sich vor der daseinden Welt; das Resultat kappt seine Vermittlung und schließt sich als Unmittelbarkeit mit sich zusammen – mitsamt dem noch ausstehenden Widerspruch, dass diese Unmittelbarkeit in daseinder Gegenständlichkeit nur im Verweis, aber nie gegenwärtig sein kann). Die Idee bleibt somit gegen die Äußerlichkeit eine innere Macht, die sich nicht in der angeschauten Welt, sondern nur im inneren Bewusstsein ihrer Unangemessenheit zeigt. Gegenüber dieser Bedeutsamkeit des hierin für sich gewordenen Individuums in seiner Innerlichkeit bleibt eine unbedeutende Welt der Endlichkeit und Veränderlichkeit, Relativität und sinnlosen Notwendigkeit stehen, da ihre verstandesmäßige Durchdringung in der Kette einfacher Negativität nur eine Mannigfaltigkeit von Dingen und allgemeiner Vergänglichkeit erscheinen lässt, in der nichts es selbst und nur die kausale Notwendigkeit der gleichgültigen Natur von Dauer ist. Wieder ist die Unendlichkeit, wie in der Logik, das abgeschlossene Fürsichsein des Eins (daher Individuum) im Ausschluss der Vielheit. 145 Allerdings ist diese Art des Ausschlusses die einer einfachen negativen Bestimmung, somit Ausdruck einer Vielzahl von Abhängigkeiten, welche sich in der negativen Absetzung vom Dasein als Schranke unvermeidlich an das gesollte Eins des Individuums in seinem Fürsichsein knüpfen. Also ist jene Idee unendlicher, im Fürsichsein ebenso ansichseiender Einzelheit als innerer Macht keineswegs im Subjekt da und gegenwärtig, sondern ebenso nur im negativem Verweis zugegen; in seiner Innerlichkeit ist der Einzelne nicht nur erhaben über die Relativität der äußerlichen Welt, er wird aus seinem 145

Vgl. Kap. I.3.3.3.

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I. Hegel

tatsächlichen, ewig unzureichenden Dasein beständig über sich selbst hinausgewiesen. Die Relativität seines Daseins zeigt sich aber nun nicht allein in den natürlichen Bedürfnissen des Einzelnen, sondern auch, und sogar noch in einem sehr viel höheren Maße, in seinen geistigen Interessen. Hier tut sich die ganze Breite der Prosa im menschlichen Dasein auf. Schon der Kontrast der bloß physischen Lebenszwecke gegen die höheren des Geistes, indem sie sich wechselseitig hemmen, stören und auslöschen können, ist dieser Art. Sodann muß der einzelne Mensch, um sich in seiner Einzelheit zu erhalten, sich vielfach zum Mittel für andere machen, ihren beschränkten Zwecken dienen, und setzt die anderen, um seine eigenen engen Interessen zu befriedigen, ebenfalls zu bloßen Mitteln herab. Das Individuum wie es in dieser Welt des Alltäglichen und der Prosa erscheint ist deshalb nicht aus seiner eigenen Totalität tätig und nicht aus sich selbst, sondern aus anderen verständlich. (Ästh. I, TWA 13, 197)

Ebensowenig kann dies einzelne Subjekt in den gegenwärtigen prosaischen Verhältnissen einer Vielzahl von Abhängigkeiten für andere eine Totalität in sich sein, sondern ist auch in dieser Hinsicht nur als Mittel von ihren je eigenen Zwecken von Interesse, welche ebenso einer Vielzahl von Abhängigkeiten entsprechen (vgl. Ästh. I, TWA 13, 197 f.). Das Recht gewährt zwar Selbstständigkeit und Freiheit des Willens, im Hinblick auf die Wirklichkeit der prosaischen Verhältnisse bleiben sie aber nur formell; – es ist eine zutiefst bürgerliche Welt, vor deren Hintergrund erst eine Achtung vor dem Sittengesetz entsteht und ein kategorischer Imperativ, welcher den Menschen immer auch zugleich als Zweck anzusehen fordert, eine besondere Dringlichkeit bekommt. 146 Statt die Unendlichkeit wahrer Subjektivität als Gegenwart im 146 Genau diese prosaischen Verhältnisse sind bei Hegel Ausdruck des Rechts auf seiner höchsten Stufe, vgl. Rph, GW 14,1, 241–246 (§§ 287–297, insbesondere, da hier der Gegensatz zur Kunst ausgedrückt wird, § 292) sowie Rph, GW 14,1, 258 (§§ 314– 316, worin die Seite der durch das Recht gewährten formellen Freiheit beschrieben wird). Zwar wird bekanntermaßen der Staat hier am Ende als höchstes Bild der Wirklichkeit der Vernunft dargestellt, jedoch bleibt der Staat nur eine Manifestation derselben (höher als diese formelle Gewährung der Freiheit kann er nämlich nicht gehen) und bedarf der Ergänzung durch Natur und ideelle Welt, vgl. Rph, GW 14,1, 281 f. (§ 360). Die verschiedenen Ebenen des Geistes als sich ›ergänzende‹ Manifestationen dürfen keineswegs als Puzzleteile eines zuletzt vollendeten Bildes verstanden werden, sondern als im Widerspruch zueinander, in welchem sich der Geist aufrechterhält (denn er ist nur in dialektischer Bewegung).

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Einzelnen zu erreichen, strebt das Individuum aus seinen prosaischen Abhängigkeiten heraus wieder nur zur schlechten Un-Endlichkeit. Die Unendlichkeit ist nur im Sollen, d. h. im Verweis zugegen; sie ist der Fluchtpunkt aus dem unaufhörlichem Nicht-Entsprechen des Einzelnen in seiner Erhabenheit (der seiner Idee nach unendlich und frei ist) mit seinem endlichen Dasein (vgl. Ästh. I, TWA 13, 200). Die Ahnung der Unendlichkeit des Einzelnen hat hier eine doppelte Seite: Ebenso nämlich, wie die Versöhnung des Einzelnen mit seinem unendlichen Anspruch nur im beständigen Aufschub sein kann, ist auf der anderen Seite auch alle Schönheit im Verhältnis des Menschen zur Welt mit dem Ende des Ernstes in der Kunst verloren; alle objektive Einheit von Innerlichkeit mit und wahrer äußerer Form verliert sich in den allseitigen prosaischen Bedingungszusammenhang der Welt (vgl. Ästh., TWA 13, 142). – Die bereits in der Phänomenologie der Kritik unterworfene Figur der ›schönen Seele‹ bestimmt sich näher als dieses Paradox einer Sehnsucht nach der verlorenen Einheit des Schönen und der Unerreichbarkeit seines eigenen erhabenen Anspruchs. Ohne je zu einer Wirklichkeit in der Welt zu gelangen, ›verglimmt und erstickt sie in sich selbst‹. 147

I.4.3.2. Verfehlung der Einzelheit in der Romantik Jener Paradoxie entspricht die charakteristische »Amphibie« (Ästh. I, TWA 13, 80 f.) des Sollens in seiner Wirklichkeit, welche stets nur die unruhige Mitte von Sein und Nichtsein in ihrem Wechselspiel ist. Anstatt die unendliche Einheit mit sich zu erreichen, erweist sich der Einzelne nicht bloß in jedem Moment als beschränkt, sondern vollkommen partikularisiert in die disparaten Teile seiner prosaischen Verhältnisbestimmungen. Die angestrebte Singularität des individuellen Charakters – sofern sich das Selbst nicht einfach bewusstlos treiben lässt – ist zwar faktisch gegeben, allerdings nicht in seinem Selbstsein, vielmehr ergibt sie sich negativ aus der Zufälligkeit seiner äußerlichen Verhältnisse (Familienangelegenheiten, Beruf etc., sozio-

147 Hierauf zielt etwa Hegels Interpretation des goetheschen Erlkönigs: Das Kind als schöne Seele (im Gegensatz zu seinem prosaischen Vater) verschließt sich in seiner eigenen Innerlichkeit und geht in seiner Wirklichkeits- und Haltlosigkeit an seinen eigenen Schimären zugrunde; vgl. hierzu Ästh. III, TWA 15, 458, ferner Rph, 14,1, 134 (§ 140).

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logisch gesprochen: seines Milieus; vgl. Ästh. I, TWA 13, 200). Diese schlechte doppelte Negation, 148 aus der sich das einzelne Selbst in seinem unendlichen Anspruch ergibt (als einfache Negation seiner Negativität) ist keine dialektische, sondern das ins Endlose hinausgehende Wechselspiel von Sollen und Schranke, in welcher unablässig Negation auf Negation folgt und der unendliche Selbstbezug nur im Verweis zugegen ist. Ebenso, wie das unglückliche Bewusstsein der Phänomenologie (welches sich als Bewusstsein nur im beständigen Wechsel seiner Momente erhielt) in seiner ersten Manifestation noch durch das Ergreifen der Vernunft als Ansich der Welt (im logos) überwunden werden konnte, in seiner zweiten Erscheinung aber in eine Sackgasse einmünden musste, aus der es auf immanentem Wege nicht mehr herauszufinden vermochte, wird im Hinblick auf das Erhabene eine historisch gerechtfertigte Form von einer ungerechtfertigten Wiederholung unterschieden (wenngleich jenes erste unglückliche Bewusstsein, wie bereits erwähnt, nicht ›berechtigt‹ genannt werden kann). Das Symbolisch-Erhabene konnte noch durch das Ideal des Schönen überwunden werden, das Romantisch-Erhabene aber, als Flucht aus prosaischen Verhältnissen, ist auf immanentem Wege nicht zu versöhnen: Eine solche Innerlichkeit ist des Zusammenhalts schlechthin unfähig; 149 – die hierin wirkende doppelte Negation zerreißt den Einzelnen gleichermaßen nach objektiver wie subjektiver Hinsicht. Anstatt sich also in der konkreten Einzelheit mit sich als Allgemeinheit

148 Otto Pöggeler fasst die romantische Subjektivität in der Kritik Hegels als »schlechte Subjektivität« und beschreibt damit etwa dasselbe Phänomen (›schlechte‹ als Verfehlung der ›wahren‹), vgl. Pöggeler 1956, 94–102. Ein solcher Gegensatz von ›schlecht‹ und ›wahr‹ impliziert keine logische Folge (diese als Negation und dialektische Überwindung jener als Vorstufe), vielmehr zwei Alternativen: eine berechtigte, die weiterführt, und eine unberechtigte, die in einer Sackgasse endet. 149 Zwar wird Schiller in der Ästhetik als Überwinder Kants beschrieben, dem Natur und Wirklichkeit, Sinn und Empfindung nur Schranke gewesen seien (vgl. Ästh. I, TWA 13, 89), jedoch kann für Hegel das schillersche Ideal der Schönheit stets nur im Moment sein, da es im Augenblick seiner Verwirklichung der Endlichkeit anheimfällt; vgl. Kap. I.1.2.1. Gerade in der Ästhetik erscheint Fichte wiederum als derjenige Philosoph, der in aller Konsequenz Kant zum System fortgeführt hat: Ihm ist die Schranke nun (konkreter) Inhalt, Besonderheit und Bestimmtheit schlechthin – damit ist seine Philosophie für Hegel Inbegriff der Romantik, sofern hier die Gleichgültigkeit aller Form und aller konkreteren Inhalte (als Ansichten) dem freien Spiel des Künstlers unterworfen sind (und darin negativ auf die Freiheit des einzelnen Subjekts verweisen).

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zusammenzuschließen, verläuft der absolute Begriff hier endlos ins Leere. Die einzige Kunst, in welcher dieser Leerlauf des Begriffs als höchste Spitze der Romantik (im Wechsel des unglücklichen Bewusstseins mit sich selbst) ganz bei sich ist, ist die Kunst der Musik. 150 Nach hegelscher Definition ist der Ton als Element der Musik in seinem zeitlichen Erklingen und Verklingen selbst das Negativgesetztsein der räumlichen Materie: also das (einseitig) negative Insich-Zurückgehen aus der Räumlichkeit überhaupt (als mannigfaltiger Zusammenhang des Nebeneinanders gleichgültiger Dinge; vgl. Ästh. III., TWA 15, 133). Damit entspricht sie exakt der Innerlichkeit des Gemüts als Reflexion-in-sich in negativer Absetzung von der mannigfaltigen Äußerlichkeit der Welt – allerdings mit der Möglichkeit einer Verbindung beider Ebenen, sofern nämlich der Einzelne in der Musik durchaus seine (hörbare) Gegenwart findet und in dieser bei sich selbst ist: Musik ist dementsprechend in der zeitlichen Folge ihrer Momente der unmittelbare Ausdruck des Einzelnen in der bloß innerlich stattfindenden Bewegung seines Gemüts (als Empfindung, ›Herz‹ etc.); die Lust an der Musik ist das bloße Ergehen seiner in ihm selbst (vgl. Ästh. III, TWA 15, 141). 151 Zugleich ist sie ihrer Form nach die einzige Kunst, welche sich auch in ihrer Ausführung allein im Subjektiven bewegt, da in ihr keine Vermittlung durch eine Zwischenstufe der Objektivation stattfindet (vgl. Ästh. III, TWA 15, 133). 152 So, wie sich Fichtes Ich = Ich in der Phänomenologie als die philosophische Formel des mit sich selbst zusammengeschlossenen Wechsels des unglücklichen Bewussteins auf der höchsten Stufe der Moralität darstellte, findet es in der Ästhetik seinen adäquaten Ausdruck in der Musik. In ihr kommt die Romantik deswegen zur Ruhe, 150 Dies ist übrigens der Grund für die Ähnlichkeit des hegelschen unglücklichen Bewusstseins mit dem Ästhetiker der kierkegaardschen Philosophie: Es scheint so, als habe Kierkegaard die Phänomenologie weniger beachtet, die Vorlesungen über die Ästhetik kannte er allerdings sehr genau. 151 Damit entspricht sie (als »letzte Spitze der Freiheit«, Ästh. III, TWA 15, 141) dem ›Gottesdienst in sich selbst‹ der Moralität in ihrer letzten Spitze aus der Phänomenologie. 152 Dies ist ein Befund, der Hegel in seiner Kritik der Musik in eine überraschende Nähe zu Schopenhauer rückt, dem die Musik die einzige Kunst ist, welche, die Welt der Vorstellung unterlaufend, allein den Willen in seiner eigenen Bewegtheit unmittelbar wiedergibt. Aus demselben Grund ist dem einen die Musik die höchste, dem anderen die für die Bewegung des Geistes unergiebigste (um nicht zu sagen: gefährlichste) Kunst.

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I. Hegel

weil hier kein Verweis mehr auf ein Jenseitiges ist: In ihrer Tilgung des gleichgültigen (quantitativen) Nebeneinanders des Raums im Zeitpunkt des Tons, dem Jetzt der Zeit, ist sie Gegenwart schlechthin. Aber ebenso, wie das unglückliche Bewusstsein sich als Bewusstsein im beständigen Wechsel seiner Momente erhielt, ohne dass hier noch ein Subjekt das Ganze zusammenzuhalten vermochte, hält sich die Gegenwart der Musik nur im bloßem Verfließen der Zeit; es ist wieder nur eine kronische Zeit, in welcher jedes Jetzt die Tilgung des vorherigen ist (vgl. Ästh. III, TWA 15, 156). Die reine Negativität der Musik in ihrem Fortgang ist die Konsequenz der einfachen Negation der Negativität des Raumes, aus der sie resultiert: Obwohl in reiner Gegenwart, gibt es nirgends einen positiven Punkt in der Musik, in dem sich das Ganze der Bewegung mit sich zusammenschließen könnte. Auch hier ist die schlechte Unendlichkeit eine solche, die sich in ihrem negativen Gegensatz zur Endlichkeit (hier: der quantitativen Mannigfaltigkeit des Raumes) von dieser abhängig macht und zur leeren Dauer verendlicht. Die Musik ist der Inbegriff eines linearen Wechsels, der als bloßes Aufeinanderfolgen derselben Jetztpunkte stets nur die Wiederholung ihrer selbst bleibt (als unbestimmtes Fortbestehen und haltlose Dauer; vgl. Ästh. III, TWA 15, 156). Die schlechte Unendlichkeit ist aber nicht das Letzte der Kunst; es gibt durchaus einen Punkt, in dem sich die Kunst (obwohl eigentlich obsolet geworden) selbst zur Philosophie überwindet. Hierzu ist es aber zunächst vonnöten, sich die Struktur der Ästhetik (welche ja ebenso wie alle anderen Bereiche des Geistes einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen ist) als Ganzes ins Gedächtnis zu rufen. Wie zuvor gesehen, haben alle drei Stufen der Ästhetik ihren jeweils höchsten Ausdruck in einer bestimmten Kunst: die Symbolik in der Architektur, die Klassik in der Skulptur und die Romantik in der Musik. Demgegenüber steht die Ebene der sprachlichen Kunst in ihrem abstrakten Element der Sprache. Auch hier lässt sich eine Dreiteilung erkennen, welche aber nicht parallel zur vorherigen gesehen werden darf; hier herrscht nicht das Schema einer Peripetie in der Mitte, sondern das einer Synthese vor. Epik und Lyrik bilden die Extreme: Jene ist die in sich ruhende, objektive Darstellung eines geschlossenen Horizonts (wie das homerische Epos), diese hingegen bezeichnet ein unmittelbares Sichaussprechen des Subjekts. Somit ist die Epik nur in der klassischen Geschlossenheit (wie die griechische Sittlichkeit) in ihrer reinen Objektivität ganz bei sich, die Lyrik hingegen ist das sprachliche Äquivalent der Musik in ihrem Element der subjektiven 150 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Das Sollen und das Erhabene

Innerlichkeit. Beide sind ohne Entwicklung: Die Epik bringt im Präteritum ihrer Darstellung ein vergangenes, abgeschlossenes Geschehen zum Ausdruck, 153 im Gegensatz dazu bleibt die Lyrik zwar im Präsens (wie die Musik), aber verbleibt im bloßen Jetzt des Aussprechens, ohne dass es zu einem Echo in der gegenständlichen Wirklichkeit käme – nirgends ist der Selbstbezug wahrer Unendlichkeit verwirklicht. Das Drama hingegen ist die (widersprüchliche) Einheit aus den Extremen der Objektivität und Subjektivität (vgl. Ästh. III, TWA 15, 474). Zwar geht die antike Tragödie von einem objektiven Prinzip aus: dem Chor als Vertreter der in sich ruhenden sittlichen Substanz. Die einzelnen Figuren hingegen sind Besonderheiten am Allgemeinen; ihr tragischer Konflikt ist Kollision der Mächte (vgl. Ästh. III, TWA 15, 544). Allerdings entspringt aus einer solchen Kollision eine Eigendynamik, welche das Prinzip bloßer Darstellung in Bewegung versetzt und dadurch überwindet; – schließlich war die griechische Tragödie der Ort, an dem plötzlich ein Subjekt auf der Bühne erschien, das in selbstbewusste Opposition zum sittlichen Fundament trat (Antigone). Die romantische Tragödie nimmt nun genau hier ihren Anfang, nämlich im innerlich gewordenen (lyrischen) Subjekt (vgl. Ästh. III, TWA 15, 555). Während die klassische Tragödie in der Eigendynamik ihrer Kollision das Prinzip der Epik überwand, wird hier das widerstandlose Kreisen der Subjektivität durchbrochen. Im Gegensatz zu dem bloß sich selbst aussprechendem Subjekt in der Lyrik, stehen sich hier mehrere entgegengesetzte Subjekte gemeinsam und vor allem gleichzeitig auf der Bühne gegenüber, so dass sie zwingend miteinander in die dialektische Bewegung eines wirklichen Dialogs treten. Somit wird die Linerarität, welche sowohl Epik als auch Lyrik auszeichnet, aufgebrochen und durch eine Entwicklung im dialektischen Zugleich überwunden (wenngleich die Protagonisten in diesem, sofern die Handlung eine tragische ist, ihren berechtigten Untergang finden) – ebenso, wie auch die anderen Bereiche des Geistes im Recht, der Religion und des natürlichen Bewusstseins als Wissenschaft betrachtet in die dialektische Philosophie übergehen, welche in jedem Moment ihrer vernünftigen, die Einseitigkeit des Verstandes überwindenden Geschichtlichkeit – sofern sie das dialektische Zu-

153 Hier ist weiterhin das klassische Epos gemeint, nicht die nach allen Seiten ausfließende Form des modernen Romans.

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gleich zu halten versteht – ganz bei sich selbst, gegenwärtig und unendlich bleibt. Was hier gelingt, ist ein immanentes Überlisten der Reflexion in der Einseitigkeit des Verstandes – welcher stets nur von Negation zu Negation fortschreitet, ohne je auf den Punkt eines unendlichen Selbstbezugs zu gelangen –, ohne der Versuchung zu erliegen, in einfacher Negation jener Negativität zum Unendlichen gegenwartsloser Selbstbezüglichkeit zu springen. Erst im dialektischen Zugleich, ob im Mitdenken der sich in Gegensätzen entwickelnden Geschichte in der erinnernden Vernunft oder im steten Wiedereinholen der vermittelnden Negation (wie in der Logik), vollzieht sich eine Eigendynamik, die ihren Antrieb nicht aus dem ewig Mangelhaften des Jetzt im beständigen Hinaussein über sich selbst zehrt, sondern sich in der reinen Gegenwart eines anwesenden absoluten Begriffs selbst konkretisiert. Jeder reale und ernste Dialog wiederum, 154 auf der Bühne der Tragödie ebenso wie im Streit der Interessen in der Weltgeschichte, führt (der Logik immanenter Widersprüche gemäß) zu einer bewussten Rückkehr des Absoluten aus seiner Entfremdung im Dasein heraus zu sich selbst zurück, worin jede Einseitigkeit an sich selbst zugrunde geht und – in der durchgehaltenen Immanenz der Bewegung, wie sie sich dem vernünftigen Betrachter erschließt – das Ganze gegenwärtig bleibt. In der Musik als Spitze und Wahrheit der Romantik dagegen erlangt das substanzlose Insichkreisen eines mit sich selbst zusammengeschlossenen unglücklichen Bewusstseins seinen Ausdruck in der Kunst, ohne je als Gegenstand anschaulich und konkret zu werden. Der Abgrund der Moralität des Einzelnen zeigt sich in seiner Haltlosigkeit gerade dort, wo sie nicht mehr von der in sich abgeschlossenen Selbstvergewisserung der Sprache getragen wird (wie sie sich an einer bestimmten Stufe der Phänomenologie der Wirklichkeit enthoben hat): 155 Hier ist kein Übergang in ein Anderes mehr, die fortgesetzte Sukzession gleichgültiger Momente treibt aus sich selbst heraus ins Endlose; der schwebende Verweis vom leeren Einzelnen auf ein ebenso leeres Ewiges schlechthin, wie es im Erhabenen Kants erscheint, schließt auch hier in schlechter doppelter Negation auf sich 154 Dies heißt auch hier, wie zu Beginn der Phänomenologie, im vollen und rückhaltlosen Einsatz aller Kräfte ohne Vorbehalt oder Furcht vor dem gänzlichen Anheimgeben an die Negativität. 155 Vgl. Kap. I.2.3.4.2.

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und täuscht ein dialektisches Zugleich in jedem Moment vor, welcher doch nur ein ästhetischer Augenblick ist. Die Bewegung geht haltlos von einem Moment zum nächsten und erhält sich als solche nur im beständigen Untergehen: Sollen und Erhabenheit verbinden sich in sonderbarer Harmonie zu einem endlosen Fortschreiten in völliger Geschichtslosigkeit. Jener schwebende Verweis auf ein Überzeitliches schlechthin (in Negation einer prosaischen Welt allseitiger Relativität), den das Erhabene beschreibt, bewahrt den Einzelnen in seiner Unmittelbarkeit und schließt alle Vermittlung desselben aus. – Die dialektische Ironie bei dieser Konstellation aber ist, dass gerade dieses Bewahren der Unmittelbarkeit alle Gegenwart verhindert und der Selbstbezug zur schlechten Unendlichkeit hinausgeht. Der Übergang zu Schelling scheint zunächst in dieser Figur des Einzelnen, der in der Zeit das Ganze sein will, nicht weit. Zur schlechten Unendlichkeit wird bei Hegel diese Bewegung letztlich, weil das Fürsichsein des Einzelnen als Eins zwar, nach der Logik, der gleichgültigen Mannigfaltigkeit des Vielen unmittelbar entgegensteht, die gegenseitige Negation dieses Verhältnisses aber wieder gegenseitige Vermittlung ist, beide Seiten also bereits Resultat eines gemeinsamen Vorgeschehens sind, während der einseitige Selbstbezug des Fürsichseins aus der einfachen Negation des Vielen und Relativen wieder in die bereits überwundene endlose Wechselbestimmung von Sollen und Schranke zurückfallen muss, die nie zur Gegenwart des Zugleichs beider Seiten gelangt. – Beiden, Schelling und Hegel, ist die Gegenwartslosigkeit des Selbst in seinem endlosen Insichkreisen nur im Wiedereinholen seiner Vorgeschichte (welche an dem Punkt abgeschnitten wird, wo sich das Selbst als unmittelbar setzt), damit im Wiederaufnehmen des Dialogs mit der Wirklichkeit aufzubrechen. Im methodischen Zugang zu dieser eigentlichen Geschichte aber unterscheiden sie sich grundlegend, damit aber auch in der Beantwortung der Frage, was der wertende Begriff wahrer Geschichtlichkeit im Gegensatz zum gleichgültigen Dahinfließen der Zeit ins Endlose eigentlich bedeutet.

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II.1. Die Weltalter

II.1.1. Erschließung der Welt und des Willens als ihrer inneren Wirklichkeit aus der Tatsache der Freiheit Ebenso wie im System seines Gegners Hegel 1 ist das Absolute in der Philosophie des mittleren und späten Schellings geschichtlich gefasst. Hierin ist es, in seinem Selbstbezug, auch Geist: Bewusst wird Schelling später, kurz nach dessen Tod, die hegelschen Begriffe vom Ansichsein, Fürsichsein und Anundfürsichsein (letzteres bei Schelling: ›im Ansichsein für sich seiend, darin bei sich seiend‹) nennen, um die eigentümliche Bewegung eines Absoluten zu beschreiben, das sich in der Rückkehr aus seiner Entfremdung im Dasein heraus im Bewusstsein des Menschen als Geist wiederzugewinnen und seiner selbst bewusst zu werden strebt (vgl. Schelling 1831/32, 79). Allerdings ist diese Entwicklung nicht die des absoluten Begriffs, der in reiner Immanenz und der Notwendigkeit seiner inneren Logik als Allgemeines in seine Besonderung heraustritt und sich hieraus, im Selbstvollzug dialektisch-notwendiger Selbstkonkretisierung fortgesetzter Negativität, auf sich selbst als Einzelheit zurückbezieht, sondern wird mit starker Betonung als wirkliche Geschichte und tatsächliches Geschehen gefasst, die nicht in ihrer logisch-immanenten Notwendigkeit,

Schelling selbst erklärt an prominenter Stelle – am Ende seiner ersten Vorlesung in München im November 1827 – seine eigene Philosophie als Überwindung einer den gegenwärtigen Zeitgeist beherrschenden Philosophie, welche sich selbst als das Letzte und Ende aller Philosophie gebe – womit nur die hegelsche gemeint sein kann: »Auch jetzt wieder scheint sich die Philosophie an einem Punkt zu finden, über den sie nicht hinaus kann, indeß das, was ihr als das letzte und Aeußerste gegeben wird, in der Gesinnung aller Besseren einen allgemeinen und nicht wohl zu beseitigenden Widerspruch findet. Denn der unsichtbar über allem waltende Geist ruft in jedem Falle einer Hemmung zur rechten Zeit und Stunde die Gesinnungen hervor, welche die Kraft zur Ueberwindung steigern und die Gemüther für die Hülfe, wenn sie erscheint, empfänglich und gelehrig machen. – –« (SW IX, 366).

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sondern nur in ihrer Positivität als in ihrer Wahrheit erkannt werden kann: Die bisher geltende Vorstellung von der Wissenschaft war, daß sie eine bloße Folge und Entwicklung eigener Begriffe und Gedanken sey. Die wahre Vorstellung ist, daß es die Entwickelung eines lebendigen, wirklichen Wesens ist, die in ihr sich darstellt. (WA I, 3)

Jene Innerlichkeit, welche in Hegels Ästhetik Prinzip der Romantik war, das auf seiner Spitze in schlechter doppelter Negation aus der Geschichte herausfiel und, durch einseitige Negation immer weitergeführt, den Anschluss nicht mehr selbst zu finden vermochte, ist hier, im positiven Sinne, der eigentliche Ort, an welchem die zentralen Fragen der Philosophie ansetzen und das Ganze der Entwicklung des Absoluten als Geist zur Entscheidung kommt (denn hier wie dort ist in der Innerlichkeit des Einzelnen ein Gegensatz zur äußerlichen Gestalt der gegebenen und unmittelbar kontingenten Wirklichkeit). Was jenem eine Sackgasse sein muss, ist diesem der Ort, aus dem sich eine totale Verfehlungsstruktur (nicht die einer, aus der Perspektive des absoluten Begriffs betrachtet, harmlosen und vorübergehenden – da auf Versöhnung drängenden – Entfremdung) wieder zum Wahren verkehren könnte. Das Selbst ist methodischer, wenngleich nicht ursprünglicher Anfang 2 – und steht damit in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zum Absoluten wie auch zur Welt als Gegenüber: Was Hegel noch bloß prosaische Verhältnisse waren, in welcher die äußerliche Welt dem neuzeitlichen Einzelnen, welcher der Einheit des Schönen verlustig ging, durch ihre verstandesmäßige Erschließung erscheinen musste, ist Schelling eine als solche (durch die Schuld des Menschen) verfehlte Wirklichkeit im Ganzen, die in ihrer Zerrissenheit und der Wirklichkeit des Bösen (nicht als bloßes SichVerhausen vor dem Dialog mit der Welt, sondern als Böses aus Freiheit) von einem Scheitern jenes Selbstbezugs des Absoluten in seiner Äußerlichkeit zeugt, das weder in seinem Ursprung noch in seiner möglichen Überwindung durch ein logisch-immanentes System des Denkens aufgehoben werden könnte.

2 In diesem Sinne interpretiert auch Wolfgang Wieland Schellings Ansatz der Weltalter, indem er dieselben methodisch in Richtung auf eine Selbsterfahrung liest, wobei dieses Selbst sich in seiner eigenen Zeiterfahrung als in sich selbst über sich hinausweisend zeigt (eine These, der ich hier voll und ganz zustimme). Vgl. Wieland 1958, 28–37.

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Was hier aber den Menschen in seiner Stellung zum Ganzen konstituiert, ist nicht die bloße Abkehr von der Welt in schlechter doppelter Negation: Die philosophische Betrachtung der Innerlichkeit geht auf das Ganze; aus ihr erschließt sich zugleich das Wesen der Welt und gibt den Blick auf das Absolute frei. – Es ist die Freiheit, die sich in der Tat eines jeden Einzelnen unter dem Maßstab des Guten und des Bösen bezeugt und darin von einem tieferen Wesen der Welt kündet, als es ein System der Notwendigkeit, wie dasjenige Spinozas, begreifen könne (vgl. SW VII, 336). Dieser ›reale und lebendige Begriff der Freiheit‹ (vgl. SW VII 385 f.) als Vermögen zum Guten und zum Bösen, wie er in der Freiheitsschrift definiert wird, unterliegt selbst nicht der Negativität der Zeit, sondern greift durch alle Zeit hindurch auf eine ihrer Natur nach ewige Tat zurück. 3 Als weder im menschlichen Dasein selbst noch in der Welt in seiner Reinheit gegenwärtiges Prinzip, das doch dessen innerstes Wesen in seinem Ansich berührt, offenbart es in seiner Wirklichkeit aber auch die tiefe Verfehlung, welche sowohl die Natur als auch den Menschen gleichermaßen bestimmt und anfänglich einbegreift. Die Wirklichkeit jenes innersten Wesens, das sich immer noch unterhalb des Blickwinkels aller Systeme des immanenten Denkens und der Notwendigkeit äußert, ist der Wille; oder anders ausgedrückt: Die Welt, vom Grund der Tatsache der Freiheit aus betrachtet, drückt sich in ihrem Sein als Wille aus. 4 – So gefasst wohnt aber dieser wesentlichen Freiheit in ihrer Wirklichkeit eine innere Dynamik inne, die nicht in die leere Dauer jenes Unberechtigt-Erhabenen einmündet, das aus schlechter doppelter Negation resultierte, sondern selbst in sich widersprüchlich ist und damit die Möglichkeit einer dialektischen Geschichtlichkeit (ganz im hegelschen Sinne) birgt. Dass die Wirklichkeit der Freiheit aber immer nur als Erstrebtes, die Gegenwart in ihrem Sein aber stets als Wille erscheint, heißt allerdings noch nicht, dass Wille per se verfehlte Freiheit wäre; dieses Wollen jedoch, das sich, wie später das schopenhauersche, in der Welt und im Menschen immer nur als durch keine Gegenwart zu stillende Vgl. hierzu auch Hühn 1998, 58. Vgl. Schelling, SW VII, 350: »In dieser (der Freiheit) wurde behauptet, finde sich der letzte potenzirende Akt, wodurch sich die ganze Natur in Empfindung, in Intelligenz, endlich in Willen verkläre. – Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden.«

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Sucht und Begierde äußert, ist hier der Eigenwille eines partikularen Strebens (wie die Natur nur insofern als sinnlos und zufällig erscheint, wie sie in ihre gleichgültigen Einzelteile zerbrochen ist; vgl. SW VII, 363), der als blinder Wille sowohl im Widerspruch zu einem Universalwillen des Absoluten steht (welcher weiß, was er will), wie auch zur Tatsache und Gewissheit der Freiheit als innerstem Bedürfnis: Die Freiheit wird durch den blinden Willen nicht bloß verfehlt, er verhindert ihre Wirklichkeit. Im Menschen, der sich in seiner Freiheit bewusst wird, anfänglich Handlung und Tat zu sein (vgl. SW VII, 388), ist noch die Gewissheit vorhanden, das Ende einer unbewussten, ihn hintergreifenden Geschichte zu sein, in welcher das Ganze seiner selbst im Geist bewusst und in Freiheit gesetzt werden sollte: In der Freiheit des Einzelnen äußert sich noch die Erinnerung, selbst einmal das Wesen aller Dinge gewesen zu sein (in Gott als Absolutem), indem er dies aber für sich in seiner Einzelheit zu sein strebt, geht alle Einheit verloren und die Entfremdung ist mit einem Male, aus freier Entscheidung, gesetzt (vgl. SW VII, 390). 5 Sein Wille ist von dort an bloßer »Hunger der Selbstsucht« (SW VII, 390), sofern er in seiner Einzelheit die Bedingung seiner Existenz – die Natur in Gott als Grund von Existenz, welche die im Menschen aktuelle Freiheit zum Guten und zum Bösen ermöglicht – nicht mehr einholen kann, im Bösen aber fortgesetzt danach strebt (vgl. SW VII, 399). Die philosophische Wissenschaft – und hier setzt die eigene Methode der Weltalter ein – ist in ihrer Geschichte selbst Ausdruck jener fortgesetzten Suspension der letzten Verwirklichung des im Willen 5 Gerade diesen Punkt, welcher hier bereits in der Freiheitschrift formuliert wird, rückt Walter Schulz – zurecht – ins Zentrum der schellingschen Spätphilosophie, sofern hier in der Philosophiegeschichte erstmalig »die sich zu sich ermächtigen wollende Subjektivität gerade durch die Erfahrung der Ohnmacht zum eigentlichen Verständnis ihrer selbst kommt« (Schulz 1955, 6 f.). Dieser Punkt, dass jene Ohnmacht der Vernunft des wollenden Subjekts (dessen Wollen, wie später zu sehen sein wird, seinem Denken immer schon zuvorkommt) durch ein »Aufbrechen einer Ungesichertheit der Vernunft am Ausfall der Erfahrung« (Schulz 1955, 30), in der ausgezeichneten Erfahrung eines unvordenklichen Dass an einer Stelle aufscheint, auf welche die Spätphilosophie Schellings in ihrer Selbstbeschränkung als Vernunftwissenschaft (hin zu einer positiven Philosophie) hinzuführen hat, ist für diese Arbeit von ungemeiner Wichtigkeit. Die Figur einer ›vermittelten Selbstvermittlung‹ (vgl. Schulz 1955, 6) ist für Hegel und Schelling gleichermaßen Inbegriff wahrer Unendlichkeit (auch wenn Schulz diese Figur nur bei Schelling, nach ihm ebenso bei Kierkegaard, Nietzsche und Heidegger verortet), bekommt hier aber ihre scharf-antihegelianische Wendung dadurch, dass jene plötzliche Dassheit Voraussetzung für eine gelingende Selbstvermittlung wird.

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als innerem Wesen der Welt sich äußernden absoluten Anspruchs. Sei man sich (mit Schelling) darin einig, dass der Gegenstand der Wissenschaft mit jenem lebendigen und wirklichen Wesen nunmehr zutage getreten sei, welches allein aus eigenem Trieb und Wollen ist und sich entwickelt, so wäre die Frage nach der Form einer solchen Wissenschaft dieses Wesens eine andere und schwierigere: Dem sich seines unendlichen Anspruchs in seiner Freiheit bewussten Menschen liegt der Stoff dieser Wissenschaft klar vor Augen, er entzieht sich aber jeder systematischen Erfassung und objektiven Darstellung (wofür die Ergebnislosigkeit der philosophischen Wissenschaft das Zeugnis gibt) – und eben dass es sich entzieht, zeugt von der Verkehrung jenes Wesens in seinem Sein. Die positive Wirklichkeit der Freiheit darf nun aber nicht missverstanden werden, als sei sie ein bloßes Gefühl, in welchem ganz unmittelbar ausgebreitet alle Wahrheit zutage läge. Nur eine Wissenschaft, die sich gleichwohl dasjenige, was sich in der Freiheit als Wesen offenbart, zum Inhalt macht (die Grundbedingung aller lebendigen Wissenschaft; vgl. SW VII, 351), könne ihre Wahrheit und Verfehlung konkret und greifbar werden lassen. Gegen Jacobi gerichtet wird Schelling später, in seinen Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie, klar und deutlich Stellung gegen eine Philosophie unmittelbarer Gewissheit beziehen, wie sie sich in Gefühl und religiösem Glauben offenbart: »Jede Philosophie, die nicht im Negativen ihre Grundlage behält, und ohne dasselbe, also unmittelbar das Positive, das Göttliche erreichen will, stirbt zuletzt an geistiger Auszehrung« (SW X, 176). 6 Das Bewusstsein des Menschen ist der Ort, in dem sich das Göttliche seiner selbst bewusst werden und zu sich selbst kommen kann; dass es sich aber in ihm nicht in seiner Wahrheit weiß, zeugt von einem peripheren Charakter des Wissens im einzelnen Menschen, dessen Verfehlung aber auch nur in der Wissenschaft – die sich jenes göttliche Wesen, wie es sich in der Freiheit äußert, zum Inhalt macht – auf den Grund geführt werden kann und die nur als dialektische die Einseitigkeit des Einzelnen in seiner peripheren Perspektive auf das Ganze in seinem eigenen Wollen zu überwinden vermag. Dieser Satz könnte ebenso von Hegel stammen, erinnert vielleicht auch an die Kritik der ›schönen Seele‹ als in ihrer Wirklichkeitslosigkeit in sich verglimmender und erstickender Flamme, vgl. Phän., GW 9, 354; Ästh. III, TWA 15; GeschPh III, TWA 20, 418.

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Die wissenschaftliche Methode der Weltalter ist demzufolge in ihrem Anfang eine anthropozentrische: Die Tatsache der Freiheit zeugt von einem dem Menschen innewohnenden Prinzip, dass außer und über der Welt ist und den Blick auf das Absolute eröffnet – somit ist ihm eine nicht darstellbare Mitwisserschaft um die Schöpfung zueigen (vgl. WA I, 4). Die Gegenwart des Menschen bezeichnet die Perspektive, in der sich das Ganze in seiner Geschichtlichkeit darstellt. »Das Vergangene wird gewußt, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. Das Gewußte wird erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt« (WA I, 3 u. WA II, 111). Die Frage, warum jenes lebendige Wesen der Wissenschaft, obwohl seinem Inhalt nach bewusst, in ihr nicht zu einer angemessenen Darstellung gelangen kann, ist nun mit Schelling näher zu bestimmen als die Frage, warum das Gewusste der höchsten Wissenschaft nicht erzählt werden kann, die Entwicklung des Ganzen also noch nicht ihren letzten Punkt der selbstbewussten Darstellung (als Geist) erreicht (vgl. WA I, 4). Die letzte Erkenntnis bleibt für den Menschen in der zeitlichen Abwesenheit der Ahnung. Dasjenige Prinzip im Menschen, das ihm in der Freiheit bewusst wird und die Welt in ihrem Innersten als Wille erscheinen lässt, ist in seiner Wirklichkeit im Dasein des Menschen nämlich selbst nicht frei, sondern gebunden und verdunkelt (vgl. WA I, 4). Dem Menschen wohnt in seiner Freiheit die Gewissheit inne, dass die wahre Erkenntnis ihm einmal gegenwärtig gewesen ist, nunmehr aber durch ein Anderes überdeckt und vergessen wurde. Der Wille wiederum als je eigener, den der Mensch als Einzelner in sich und der auseinander gefallenen Natur erkennt, ist zugleich dasjenige, das nach der Wahrheit strebt, dieselbe aber in jedem Moment in eine endlose Zukunft hinausschiebt – in einem hegelschen Sinne formuliert: Sein unendlicher Anspruch führt ihn in einen endlosen Verweisungszusammenhang, der sich selbst nicht als Ganzes zu fassen bekommt und daher auch nicht überwinden kann; ihm kann keine endliche Gegenwart genügen, daher hat er auch keine Gegenwart im endlichen Dasein. Hier wie dort kann dieser Wiederholungszwang nur dann durchbrochen werden, wenn die Vergangenheit jenes in seiner Unmittelbarkeit bereits über sich hinausstrebenden Willens eingeholt wird (bei Hegel: über dessen Vermittlung). Die wahre Wissenschaft muss also den Weg eines geschichtlichen Wiederbewusstwerdens jenes Vergessenen gehen. Auch hier ist es eine dialektische Wissenschaft, das Zugleich der Widersprüche, die 162 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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den Raum freigibt, die Einseitigkeit des einzelnen Willens zu überwinden und das Erstrebte nach und nach in objektiver Darstellung zutage zu fördern. Gemäß der Akzentuierung der Wirklichkeit in der schellingschen Philosophie trägt diese Dialektik des Zugleichs noch sehr viel stärker den Charakter eines tatsächlich stattfindenden Dialogs als diejenige der logischen Wissenschaft Hegels (wenngleich sie der Bewegung des Dramas in der Ästhetik strukturell verwandt ist). 7 Die für den späten Schelling entscheidende Kritik an der Methode Hegels ist hier bereits vorgebildet: Die Dialektik ist eben nicht immanente Darstellung des Absoluten in seiner Geschichtlichkeit, sondern ein Ringen nach Wissen im Dialog von Frage und Antwort, das erst in die Gegenwart gebracht werden muss. [D]ie von Zeit zu Zeit gehegte Meinung, die Philosophie durch Dialektik endlich in wirkliche Wissenschaft verwandeln zu können, verräth nicht wenig Eingeschränktheit, da ja eben das Daseyn und die Nothwendigkeit der Dialektik beweißt, daß sie noch keineswegs wirkliche Wissenschaft ist. (WA I, 5)

Die Dialektik ist nur der Weg zur Wissenschaft, nicht die Wahrheit selbst; sie verliert an dem Punkt ihre Berechtigung, an dem ihr Gegenstand als gewusster erzählt werden kann, die Wissenschaft also ihre wahre Bedeutung als »Historie (ἱστορία)« (WA II, 111) erreicht hat. In ihrer Möglichkeit zur objektiven Darstellung ist die dialektische Methode in der Lage, den inneren Widerstreit des Menschen als Wollender auszudrücken und damit die Möglichkeit zu bereiten, sich von seiner unmittelbaren Gegenwart zu scheiden und sich eine wahre Vergangenheit zu geben (vgl. WA II, 119). Die Dialektik ermöglicht also eine Offenlegung der zeitlichen Struktur, in die der Wille unbewusst eingebunden ist, welche aber zugleich als Streben nach einer unerreichten Zukunft sein ganzes Wesen ausmacht: Der Wiederholungszwang im Willen erweist sich nicht nur als Struktur des menschlichen Willens, sondern der gesamten bewussten und unbewussten Natur (wie im salomonischen Satz »nichts neues unter der Sonne«; vgl. WA I, 11). In ihrer gleichgültigen Mannigfaltigkeit und dem kontinuierlichem VerweisungszusamHierbei spielt eine nicht unerhebliche Rolle, dass sowohl Hegel als auch Schelling die tragischen Elemente ihrer Philosophie – gerade in ihrer dialektischen Methodik – wohl in nicht unerheblichem Maße an die Tradition der griechischen Tragödien knüpfen. Orientierte sich die hegelsche Philosophie am Vorbild der Antigone (bzw. der Eumeniden), so gilt dies ebenso für Schelling in Bezug auf König Ödipus.

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menhang ihrer Abhängigkeiten herrscht nur eine Zeit, die in der ständigen Wiederholung ihrer selbst weder Vergangenheit noch Zukunft hat. Geschichtlichkeit würde sie allein durch den bewussten Menschen erfahren, der ihre Einzelheiten als »Denkmähler« (WA I, 6) einer einheitlichen Entwicklung des Ganzen aus ihrem innersten Wesen heraus (ihrem Willen) zu entziffern vermag. Erst in seiner dialektischen Reflexion, sofern sie nach dem Vergessenen, außer und über der Welt Seienden fragt, verleiht der Mensch der Natur, deren Ende er ist, einen Sinn. Um diese Frage aber offen stellen zu können, muss er selbst jene lautere Freiheit werden, die ihm in der Zeit nur als nie gegenwärtige Ahnung zugegen ist, im Augenblick der freien Tat jedoch auf ein Ewiges, von dieser Zeit Unberührtes zurückgeht.

II.1.2. Wahre und scheinbare Zeit Für Schelling schließen sich wahre Geschichtlichkeit und lineare Notwendigkeit gegenseitig aus. Im Modus der Zeit gedacht (welche selbst Ausdruck der inneren Dynamik des Willens ist), erscheint diese nur als die beständige Position ihrer selbst, während jene vom Punkt wirklicher und augenblicklicher Gegenwart ausgehend in sprunghafter Scheidung von sich wahre Vergangenheit und Zukunft setzt. Von Geschichtlichkeit im eigentlichen Sinne (als durch freie Tat gesetzter) ist also nur dort zu sprechen, wo eine Folge von Zeiten zu unterscheiden ist. Dagegen ist die lineare Zeit ohne Gegenwart, da sie die beständig verfehlte Objektivität eines in jedem Moment über sich hinausstrebenden Subjekts ist, worin dieses aber immer nur sich selbst wiederholen kann; erst der Punkt einer wirklichen Scheidung von sich schafft eine Gegenwart des Subjekts in der Zeit und setzt eine eigentliche Vergangenheit. 8 Aus diesem Grund ist es dem Menschen auch unmöglich, seine Vergangenheit erzählend darzustellen, solange er noch in der Notwendigkeit des eigenen Willens steht. Erst in der lauteren Freiheit eines Willens, der nichts will, (vgl. WA I, 15) ist es dem Menschen möglich, den Widerholungszwang seines Willens zu durchbrechen »Wie wenige kennen eigentliche Vergangenheit! Ohne kräftige, durch Scheidung von sich selbst entstandene, Gegenwart gibt es keine. Der Mensch, der sich seiner Vergangenheit nicht entgegenzusetzen fähig ist, hat keine, oder vielmehr er kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr« (WA I, 11).

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und ein Höchstes zu erreichen und als gegenwärtig zu setzen, das über aller Zeit und allem Sein ist (vgl. WA I, 14). Jener Wille, der nichts will, ist selbst gleichgültig gegenüber dem Widerspruch von Sein und Seiendem, aus dem die Bewegung der Zeit überhaupt erst zu verstehen ist; – das Ewige selbst, das in diesem Nicht-Wollen erschlossen wird, muss sich vor der Welt in einem Punkt der Entscheidung einmal in jenen Gegensatz begeben haben. Im Willen zur eigenen Existenz, als bestimmter Wille, der Etwas will, ging jene lautere Freiheit verloren, die am Anfang der Zeit stand und nach der jeder Wille in der Zeit zurückzukehren strebt, und sie doch als Seiende nicht erreichen kann. Ebenso sucht sich der bestimmte Wille beständig zum Objekt seiner selbst zu machen, das eigentlich Darzustellende bleibt aber als das stets Innerliche und Latente im Gegensatz zu seiner Objektivation. Der Widerspruch, in diesem Willen zugleich als Subjekt seiend zu sein und in seiner Objektivation sich als Sein zu erhalten, vermag sich nicht von der Stelle zu bewegen (vgl. WA II, 122 f.). Hier, in dieser unablässigen Wechselbestimmung (ganz im hegelschen Sinne, wie sie am Gegensatz von Sollen und Schranke dargestellt wurde) kann keine zeitliche Entwicklung stattfinden: Diese Bewegung ist Rotation, die beständig denselben Widerspruch setzt. Jenes Prinzip einer sich nicht selbst überwinden könnenden rotatorischen Bewegung, dass wir am Anfang im Menschen betrachtet haben, der sein innerstes Wesen zur Darstellung zu bringen sucht und beständig verfehlt, geht also auf das Absolute vor aller Zeit selbst zurück. Auch hier gilt: Erst in der Scheidung von sich als Vergangenheit löst sich die in sich verschlossene Rotation zu einer geschichtlichen Entwicklung, in welcher Selbstbewusstsein im eigentlichen Sinne überhaupt erst möglich ist. An dem Punkt, wo das Absolute sich in einem freien Akt eines Willens zur Welt dieselbe als eigenständiges und dem formenden (es ins Subjekt zu überführen suchende) Prinzip widerstrebendes Sein aus sich entlässt, ist die wahre Zeit einer stufenweisen Entwicklung und die Zukunft eines absoluten Selbstbewusstseins möglich – an deren Ende, als Spitze der Natur, der selbstbewusste Mensch steht. In jeder einzelnen Gestalt dieser Entwicklung bleibt das Ansich des Absoluten dasselbe; zugegen ist es allerdings nie als Ansich, sondern als Offenbarung in jedem Augenblick wahrer Gegenwart (vgl. WA I, 78). Das heißt also: Erst dort, wo der Mensch sich von seinem Wollen befreit und im Akt der Freiheit als Vergangenheit setzt, wird ihm im Moment des Augenblicks das Wesen des Absoluten offenbar und in ihm zugleich das Ganze 165 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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seiner selbst bewusst. An diesem Punkt ist der Mensch nicht mehr der scheinbaren Zeit unterworfen, die in ihrer Linearität stets nur ein Aufhalten der wahren ist, sondern selbst die Zeit setzend und darin gegenwärtig. Das Geheimniß alles gesunden und tüchtigen Lebens besteht unstreitig darinn, sich die Zeit nie äußerlich werden zu lassen und mit dem Zeiterzeugenden Princip in sich selber nie in Zwiespalt zu kommen. Denn der selbst Innige wird von der Zeit getragen; der äußerliche trägt sie, oder nach dem bekannten Wort, den Wollenden führt, den Nichtwollenden zieht sie. Wie Gott, so wird der Mensch nur durch Scheidung von seinem Seyn in die höchste Selbstgegenwärtigkeit und Geistigkeit erhöht. Frey ist nur der, dem sein ganzes Seyn bloßes Werkzeug geworden ist. Alles, was noch in der Ungeschiedenheit lebt und so weit es noch in ihr lebt, lebt in der Vergangenheit. Dem, der sich der Scheidung in sich widersetzt, erscheint die Zeit als strenge, ernste Nothwendigkeit. Für die aber, die, in immerwährender Selbstüberwindung begriffen, nicht nach dem sehen, was hinter, sondern was vor ihnen ist, wird ihre Macht unfühlbar. (WA I, 84 f.)

Der ganze Prozess wiederholt sich also noch einmal im Leben des Einzelnen selbst, wo er zu seinem eigentlichen Abschluss, dem wahren Beisichselbstsein des Geistes, gelangen soll. – Nicht in der äußerlichen Darstellung (im »tote[n] Besitzthum«; WA I, 102) dieses Prozesses, sondern allein im freien Vollzug des einzelnen Subjekts selbst kann diese Wahrheit gewonnen werden. 9 – Als Ende einer geschichtlichen Philosophie kann dies Ergebnis aber, in dem alle Systeme der Wissenschaft aufhören, wie bei Hegel nicht der Anfang, sondern nur als Resultat sein (vgl. WA I, 103). Auch hier ist die Dialektik (in der tiefsten Zerrissenheit realer, durch einen bloßen Begriff nicht aufzulösender Gegensätze gedacht) als Weg zur bewusst gewordenen Wahrheit notwendig, ebenso wie das Absolute nur in der Scheidung von sich seiner selbst gewahr werden konnte – allein mit einem großen Unterscheid: Der Mensch selbst ist weder als Menschheit noch als Einzelner selbst das Ganze. Vgl. auch SW VII, 385 f.: »Der Mensch, wenn er auch in der Zeit geboren wird, ist doch in den Anfang der Schöpfung (das Centrum) erschaffen. Die That, wodurch sein Leben in der Zeit bestimmt ist, gehört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an: sie geht dem Leben auch nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit (unergriffen von ihr) hindurch als eine der Natur nach ewige That. Durch sie reicht das Leben des Menschen bis an den Anfang der Schöpfung; daher er durch sie auch außer dem Erschaffenen, frei und selbst ewiger Anfang ist.« Vgl. hierzu ferner Hühn 2012, 168.

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Dieser letzte Übergang birgt daher ein Problem: Alle Wissenschaften führen nur zu dem Punkt, an dem die Notwendigkeit einer letzten Überwindung aufgezeigt wird, diese aber selbst vollzogen werden muss. Es ist also ein Bruch mit aller Immanenz vonnöten, nur ist der Wille des Menschen ein solcher, der gerade im Streben, sich selbst zu überwinden, immer nur wieder sich selbst setzt – und zwar nur sich selbst in seiner Entfremdung vom Ganzen. Der Mensch hat keine freie Wahl, in einer scheinbaren oder wahren Zeit zu existieren; als wollend daseiendes Einzelwesen ist er immer schon in die scheinbare Zeit hineingeboren. Was in den Weltalterfragmenten, die sich allein auf die Epoche der Vergangenheit der Welt erstrecken, nur ansatzweise zur Sprache kommt, ist ein existenzielles Herausfallen des Menschen aus dem Ganzen der Natur, dass mit seinem selbstbewussten Sein einsetzte und aus dem er allein den Weg nicht zurück finden kann. 10 Erst in der Spätphilosophie wird die Geschichte dieser einmaligen, aber dennoch fortwährenden Verfehlung als Philosophie der Mythologie ausführlich dargestellt werden. Aber bereits in den noch zur Weltalterphilosophie des mittleren Schelling gehörenden Vorlesungen unter dem Titel Initia philosopiae universae wird deutlich, dass jene scheinbare Zeit eben diejenige ist, in der wir notwendig existieren. Die scheinbare Zeit besteht in einer blos unablässigen Wiederholung einer und derselben Zeit. Man denke sich die Zeit = A, so wird diese Zeit, wenn sie nicht sogleich als Vergangenheit gesetzt werden kann, und wenn sie von der andern Seite auch nicht bleiben kann, nichts anders tun können als sich beständig wiederholen und selbst setzen. […] Es bleibt ihr also nichts übrig als eine Position ihrer selbst; und das Schema dieser scheinbaren Zeit ist also A + A + A …, und in einer solchen blos scheinbaren Zeit leben wir. In dieser blos scheinbaren Zeit, welche sich nur unabläßig wiederholt, konnte freilich die Welt nicht geschaffen werden, sondern sie ist [danach] erst mit der Welt entstanden. (Schelling 1820/21, 160 f.) 11 In der Freiheitsschrift ist diese Verfehlung der Schöpfung im Menschen an dem Punkt bezeichnet, wo der Mensch sich im Willen, das Ganze zu sein, an die Stelle setzt, da Gott sein sollte. Es ist zwar ein einmalig geschehener Akt, dem sich der Mensch jedoch nicht entziehen kann, vgl. SW VII, 389 f. 11 Vgl. hierzu insbesondere auch (als Nachweis für die noch in der Spätphilosophie Schellings anhaltende Bedeutung dieses Gedankens) SW XIV, 109 f.: »Diese arrêtirte Zeit, die nur immer wieder sich selbst setzen, nicht aber in die wahre Folge, in die dritte Zeit [als zukünftige Ewigkeit, D. U.] durchdringen kann, diese Zeit, die nur immer wieder sich selbst setzen kann, deren Schema die Reihe A + A + A ist, diese 10

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Jener Übergang kann nicht willentlich herbeigeführt werden, sondern nur in einem Sprung, der von Gnaden einer nicht selbst eingesetzten Macht, die sich dem Menschen am Grenzpunkt seines Wissens offenbart, getragen wird. Aus der schellingschen Perspektive muss eine solche Philosophie wie die hegelsche aber, die zwar den Entfremdungszusammenhang des Daseins auf eine vergessene Vergangenheit zurückzuführen vermag, beide aber in ein- und demselben ganzheitlich-immanenten Vermittlungszusammenhang begreift, jenen wirklichen Übergang verfehlen. Schlimmer noch: Der Schein der Bewegung im rein logischen System (der in Wahrheit, nach Schelling, nur eine wiederholte Position seiner selbst ist) verhindert in jedem Moment die wahre Zeit einer wirklichen Geschichte, da es nicht nur von dessen eigentlichem Subjekt (das nur in seiner positiven Wirklichkeit zu fassen sei) gerade absieht, vielmehr noch das Subjekt des Denkens mit seiner begrifflichen Darstellung gleichsetzt. Um zu zeigen, dass die hegelsche Philosophie nur eine »Episode« (SW IX, 366; SW X 125 u. 128; vgl. ferner SW X 213) 12 darstellt, also nicht Stufe, sondern Hemmnis und Aufhalten der Geschichte des Geistes ist, muss Schelling nachweisen, dass die Geschichtlichkeit der hegelschen Methode nur eine scheinbare ist, sich also noch in der Überwindung der Einseitigkeit des Verstandes durch die hegelsche Dialektik dessen Zwang zum sich beständig wiederholenden Selbstvollzug unvermerkt eingeschlichen habe.

bloß scheinbare Zeit, die nicht die wahre ist […], die, anstatt die wahre Zeit zu seyn, vielmehr nur ein Anhalten, eine ἐποχή der wahren Zeit ist, ist die Zeit dieser Welt, in der wir leben, und von der gewöhnlich allein in der Philosophie die Rede ist, und von der man allerdings Recht hat zu sagen, daß sie nicht über diese Welt hinausgehe […] – daher die alte Klage, daß unter der Sonne, d. h. in der Schöpfung, sich nichts Neues ereignet, ein Tag wie der andere, heute wie morgen, morgen wie heute ist, alles in einem traurigen Cirkel einförmig wiederkehrender Erscheinungen umläuft«. Vgl. hierzu auch Schelling 1831/32, 163. 12 »Episode« mag hier durchaus im wörtlichen Sinn (von ἐπεισόδιον) als »von außen hinzukommend«, »nicht zur Sache gehörig« verstanden werden; vgl. hierzu Passow 1847. September 1832 schreibt Schelling an Christian Hermann Weisse: »Die sogenannte Hegelsche Philosophie kann ich in dem, was ihr eigen ist [d. i. wohl das, was nicht Plagiat ist, D. U.], nur als eine Episode in der Geschichte der neuern Philosophie betrachten, und zwar nur als eine traurige. Nicht sie fortsetzen, sondern ganz von ihr abbrechen, sie als nicht vorhanden betrachten muß man, um wieder in die Linie des wahren Fortschritts zu kommen« (F. W. J. Schelling an C. H. Weisse, 6. September 1832, Plitt III, 63); vgl. hierzu auch Hermanni 2010, 243.

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II.2. Die Geschichte der neueren Philosophie

II.2.1. Dialektischer Fortschritt im Scheitern der Philosophie als Wissenschaft Zurück zur Frage der Weltalter, warum das Gewusste der (philosophischen) Wissenschaft nicht ›erzählt‹ werden kann: In auffallender Nähe zu Hegels Spinozakritik, worin eine dem Verstand gemäße Reflexion die Welt nur in ihrer fortwährenden negativen Endlichkeit erfasst und die Substanz des (im Gang einseitiger Negation unabschließbaren) Ganzen ebenso nur ex negativo zu konstruieren vermag, bleibt die Methode wissenschaftlicher Darstellung in den Augen des späten Schellings, sofern sie ihrem immanent-notwendigen Gang folgt, eine rein negative, ohne in sich je positive Wirklichkeit, wie sie sich in der Freiheit zeigt und im Willen äußert, vergegenwärtigen zu können. Erst eine positive Philosophie, welche die Welt in ihrer Wirklichkeit zur faktischen Voraussetzung hat, 13 könne diese in ihrem tatsächlichen Geschehen entschlüsseln (d. h. mit Bewusstsein die ›Denkmäler‹ der Natur entziffern) und in freier Tat eine Geschichtlichkeit des Ganzen ergreifen, die jenen Wiederholungszwang der scheinbaren Zeit aufhebt, in welcher sich der Mensch (und mit ihm die Natur) unmittelbar wiederfindet. Eine solche Wirklichkeit aber, die sich in der freien Tat offenbart, muss stets das Andere logisch-immanenter Wissenschaft bleiben. Dennoch bleibt dies Andere der Vernunft als ihr zugrunde liegend das stets Gesuchte. Erst im Scheitern seines logischen Begriffs ergibt sich die Möglichkeit, ihn in seiner unabweisbaren Faktizität in negativem Ausschluss einen Raum zu eröffnen, welcher der Anfang einer positiven Philosophie sein könnte: Dieser Ort muss Resultat sein. Vgl. Schelling 1830, 13: »Positive Philosophe […] nenne ich diejenige, die bei Erklärung der Welt etwas Positives, Willen, Freiheit, Tat, nicht etwas bloß Negatives, durch bloße Denknotwendigkeit Einzusehendes annimmt«.

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Jedes unmittelbare Ausgehen von einer irgendwie gearteten Positivität, wie sie sich etwa in der Zufälligkeit des Gefühls oder der Willkür des bloßen Glaubens bietet, geht an der Vergangenheit der gegebenen Wirklichkeit in ihrem tatsächlichen Geschehen vorbei; ebenso kann diese Vergangenheit nicht erreicht werden, indem bloß aufgenommen wird, was die unmittelbare Erfahrung hergibt – ein solches Denken bliebe notwendig jenem Entfremdungszusammenhang verhaftet, in dem die Gegenwart eingeschlossen ist. Eine Wissenschaft also, die jene Vergangenheit wieder einholen soll, muss das Paradox in sich aushalten, aus einer sich selbst aufhebenden Notwendigkeit des Denkens zu resultieren und in Freiheit ergriffen zu werden. Sie muss sich gleichsam, im hegelschen Sinne, selbst überlisten, um ihre eigene Grundlage einzuholen. Es ist nicht zu leugnen: Auch eine solche Geschichte des Scheiterns ist ein Vermittlungsgeschehen im Fortgang bestimmter Negation und der dialektischen Vergegenwärtigung einer in jedem Schritt mitgetragenen Erinnerung an das zuvor Negierte. Die Frage ist nur, welche Wahrheit in dieser Entwicklung Gestalt gewinnt – der aus seiner Besonderung zu sich zurückkehrende Begriff oder aber ein nie eingeholter Grund des Ganzen, der aber ex negativo, gleichsam als Idee, mehr und mehr aufscheinen wird. In seinen Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie aus dem WS 1827/28 entwickelt Schelling, wohl erstmalig, das hier beschriebene Verhältnis von negativer und positiver Philosophie, wie es sich aus der Geschichte der Philosophie in ihrem dialektischen Scheitern ergibt – dialektisch deshalb, weil auch hier jeder wissenschaftlich-notwendige Fortgang in seiner einseitigen Negativität zwar das Darzustellende verfehlt, in seinem Scheitern jedoch über sich hinausweist und, aus einer ganzheitlichen Perspektive der Philosophiegeschichte betrachtet, sich zur Stufe einer fortschreitenden Entwicklung macht. 14 Schelling setzt in dieser Darstellung der Entwicklung der neueren Philosophie mit Descartes ein: Er sei derjenige gewesen, der nach einer Episode scholastischer Erstarrung in abstrakter Prinzipienklauberei in der Philosophie den Mut und das Zutrauen hatte, wieder schlechthin von vorn anzufangen, gleichsam in eine »zweite Kindheit zurück[zutreten], eine Art von Unmündigkeit, über welche die griechische Philosophie fast schon mit ihren ersten Schritten hinaus war« (SW X, 4). Doch es hat sich etwas verändert – ohne, Schelling selbst spricht von einer »freien wissenschaftlichen Dialektik« der Philosophiegeschichte (SW X, 59).

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dass die Gründe hier weiter ausgeführt würden: 15 Thales suchte das erste Gewisse in der objektiven Natur der Dinge, Descartes hingegen fragt nach der ersten subjektiven Gewissheit, die er mit dem Ich einsetzen lässt, wie es sich in seinem Sein im unmittelbaren Bewusstsein darstellt. Von dieser unmittelbaren subjektiven Gewissheit ausgehend, hätte Descartes ebenso, wie später Fichte, zum subjektiven Idealismus fortschreiten können, dessen Einseitigkeit sich in linearer Logik von der Entscheidung des Anfangs herschreibt: Die Gewissheit des ›Ich bin‹ führt zur Annahme, dass ebenso gewiss auch A, B, C etc. seien, ohne, dass diese Logik sich je auf ein Anderes hin überschreiten oder, was dem gleichkommt, jene ursprüngliche Gewissheit einholen könnte (vgl. SW X, 5). Descartes sei es aber nicht darum gegangen, die objektiv gegebenen Dinge in ihrem Wesen zu begreifen (die subjektiv-idealistische Konsequenz wäre nämlich, nach Schelling, die Dinge in ihrer Notwendigkeit als Vorstellungen zu bestimmen; vgl. SW X, 13), vielmehr richtete er sich in seinem methodischen Zweifel allein auf die Existenz der Dinge, die sich eben nicht aus jener unmittelbaren Gewissheit des ›Ich bin‹ herleiten lassen. Die subjektive Gewissheit reicht hierfür nicht zu, sie erschließt nur das Wie der Dinge, nicht ihr Dass (und auch nicht das Was gemäß ihrer eigenen Notwendigkeit). Descartes, dem das bloße Insichkreisen subjektiver Vorstellung nicht genügt (»hier sucht er aus dem Subjektiven ins Objektive zu kommen (μετάβασις)«; SW X, 13), benötigt einen Bürgen für die Existenz der Dinge jenseits ihrer bloßen Vorstellung, den er im Gott des ontologischen Beweises findet: dem Schluss vom Begriff eines vollkommensten Wesens zu dessen notwendiger Existenz. 16 Aber auch dieser Satz erschließt nur das Wie Gottes (notwendig), wenn er denn existiert (vgl. SW X, 15). – Dies alles mag einen Fehler im cartesischen Gottesbeweis anzeigen, der leicht zu korrigieren wäre, woEs wäre interessant zu sehen, wie Schelling diese neue Akzentuierung des einzelnen Subjekts, die Hegel so ausgiebig aus seinem Begriffsschema herleitete, erklären würde – man darf aber natürlich auch hier nicht vergessen, dass uns mit der Geschichte der neueren Philosophie keine veröffentlichte Schrift Schellings vorliegt, sondern eine nicht autorisierte Zusammenstellung aus Handschriften und Vorlesungsnachschriften seines Sohnes. 16 Man ziehe zum Vergleich den für Hegel so entscheidenden, wenngleich umgekehrten, kosmologischen Gottesbeweis heran (vgl. I.3.3.2.), demnach das Nichtsein des Endlichen (denn es ist nie das wahrhaft Seiende) nicht nur das Sein eines Unendlichen fordert, sondern das Sein des Unendlichen selbst ist. 15

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rauf es aber ankommt, ist Folgendes: Gott in seiner Notwendigkeit gedacht ist immer Resultat des Denkens (ganz gleich, ob nun von subjektiver oder objektiver Gewissheit her gedacht), ohne dass das Denken je auf seine Existenz schließen könnte; das Sein Gottes wird als feststehend vorausgesetzt – damit wird Gott aber nur in seiner Notwendigkeit, nicht aber in seiner Freiheit erfasst, da die Entscheidung zur Existenz hier immer schon geschehen ist. Die Grundlage einer solchen Logik ist demnach das blindlings Seiende (ebenso wie das ›Ich bin‹ eine bloß unmittelbare Gewissheit ist, deren Vergangenheit beiseitegelegt wird), dem die Möglichkeit, nicht zu sein, – die Freiheit gegen das Sein – nicht mehr zukommt, vor dem also das Denken, welches jenes als Bürgen seiner Wirklichkeit setzt, alle Freiheit verliert (vgl. SW X, 19) und die es aus sich selbst heraus (da es die Vergangenheit seiner Voraussetzung nicht einholen kann) nicht wiederherzustellen vermag. – Wie eine als in ihrer Subjektivität an sich festhaltende Logik von der unmittelbaren Gewissheit des ›Ich bin‹ notwendig zum ebenso gewissen Wie der Dinge in der Vorstellung fortschreitet, kann von einem blind Seienden am Anfang nie auf etwas anderes geschlossen werden als auf ein ebenso blind Seiendes – dem eigentlichen Gegenstand jeder Erkenntnis in der Wissenschaft als Darstellung ihrer Gegenwart. Die Methodik Descartes’, die in ihrer Einseitigkeit die vorausliegende Vergangenheit nicht mehr einzuholen vermag, schreibe sich auch in der nachfolgenden Philosophiegeschichte fort, ganz gleich, ob nun der jeweilige Anfang in der Unmittelbarkeit objektiver oder subjektiver Gewissheit genommen wird. Diese Geschichte beschreibt also keineswegs eine nach und nach vonstattengehende Entwicklung der zugrunde liegenden Wahrheit, sondern verfestigt die Unfreiheit im Denken. In ihrem Resultat, dem notwendigen Gott des ontologischen Beweises, führt sie aber auf eine Schicht zurück, die dem Bewusstsein längst vergessen ist: Der blinde Gott verweist auf eine vom Denken nicht mehr zu hintergreifende Tat ursprünglicher Verfehlung zurück, also durch alle Zeit hindurch auf den nicht überwundenen Punkt, an welchem im Absoluten die freieste Tat im Willen zur Existenz seine ursprüngliche Freiheit verdarb. Auch der Neuanfang der Philosophie gelangt nicht weiter zurück als zum Beginn aller Entfremdung. Dieses Resultat der cartesischen Philosophie als notwendig existierendes Wesen, das ohne Widerspruch nicht als nicht seiend gedacht werden kann, bildet das Fundament des Systems Spinozas in der Deu172 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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tung Schellings (welche an dieser Stelle, im Gegensatz zu Hegel, die Substanz als Anfang wirklich ernstnimmt; vgl. SW X, 33). Die Möglichkeit (bzw. die Freiheit; vgl. SW X, 34), nicht zu sein, ist hier von vornherein ausgeschlossen. Das System Spinozas stellt die Welt gewissermaßen als vollendete Tatsache her: In der Substanz als vollständig ins Sein übergegangener ist alle Subjektivität, die Descartes noch im Zweifelnden zugegen war, verloren; mit derselben Gewissheit, mit der diese Substanz als Gegegebenes hingenommen wird, und mit derselben stillen Notwendigkeit, in der sie als blind Seiendes existiert, wird aus ihr die Mannigfaltigkeit der Welt als Modalitäten an der Substanz – ordine geometrico – abgeleitet. Ein Problem aber bleibt bestehen: Die Mannigfaltigkeit selbst lässt sich aus dem NurSeienden nicht deduzieren, die Negativität der endlichen Dinge wird nicht systemimmanent hergeleitet, sondern a posteriori der Erfahrung entnommen und nachträglich in das System integriert; zwischen Unendlichem und Endlichem aber kann nach Schelling kein Übergang sein (vgl. SW X, 43 f.). So bleibt alles Verhältnisbestimmung, denn es gibt kein Subjekt mehr, dass diese Bewegung trägt – dies die höchste Konsequenz einer vom rein Objektiven ausgehenden darstellenden Wissenschaft, die in ihrem Mangel doch auf ein Anderes verweist, dass sich der Darstellbarkeit entzieht und dem immanenten System nicht integrierbar ist, wenngleich dies Andere überhaupt nur als Verfehltes, als Ahnung bewusst werden kann – womit wir aber, das sollte nicht vergessen werden, wieder der kritischen Kategorie des Erhabenen nahekommen, welches nur im negativen Verweis, nie als gegenwärtig gefasst werden kann. Ein Blick auf die Freiheitsschrift wird dies noch verdeutlichen: Es wurde bereits bezüglich der Weltalter auf jene ›Verklärung der Welt als Wille im Akt der Freiheit‹ hingewiesen. 17 Auch dort entsprang diese Perspektive dem aufgezeigten Mangel Spinozas, der im unendlichen Hinaus objektiver Verhältnisbestimmungen nie auf das Subjekt des Ganzen gelangen kann: Der Fehler seines [Spinozas, D. U.] Systems liegt keineswegs darin, daß er die Dinge in Gott setzt, sondern darin, daß es Dinge sind – in dem abstrakten Begriff der Weltwesen, ja der unendlichen Substanz selber, Vgl. Kap. II.1.1. Es sei noch gesagt, dass es Fichte war, der erstmalig, die praktische Philosophie Kants radikalisierend, den Willen als die ursprüngliche Form, in der das Ich sich selbst erfährt, einführte: »Ich finde mich selbst, als mich selbst, nur wollend« (GA I,5, 37).

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die ihm eben auch ein Ding ist. […] Er behandelt auch den Willen als eine Sache und beweist dann sehr natürlich, dass er in jedem Fall des Wirkens durch eine andere Sache bestimmt seyn müsse, die wieder durch eine andere bestimmt ist u. s. f. ins Unendliche [!]. Daher die Leblosigkeit seines Systems, die Gemüthlosigkeit der Form, die Dürftigkeit der Begriffe und Ausdrücke, das unerbittlich Herbe der Bestimmungen, das sich mit der abstrakten Betrachtungsweise vortrefflich verträgt; daher auch ganz folgerichtig seine mechanische Natursicht. […] In dieser (der Freiheit) wurde behauptet, finde sich der letzte potenzierende Akt, wodurch sich die ganze Natur in Empfindung, in Intelligenz, endlich in Willen verkläre. – Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden. (SW VII, 349 f.)

Es sei aber noch einmal betont: Es ist nicht die erstrebte Freiheit, die als un-endliche in schlechter doppelter Negation aus dieser Mangelhaftigkeit der spinozistischen Notwendigkeit im endlosen Hinaus der Modi entspringt (eine solche Freiheit käme aus dieser Wechselbestimmung schlechter Unendlichkeit nie mehr hinaus). Vielmehr ist es erst die freie Tat selbst, wie sie sich in der moralischen Freiheit zum Guten und zum Bösen äußert, die dem Mangel dieses Systems einen Ausdruck gibt: dem Fehlen eines inneren Prinzips im Willen, das etwa jenen Übergang zur Begrenztheit eines anfänglich Nur-Seienden erklärbar machen könnte. – Allerdings zeigt sich ebenso – und dies zu erläutern leistet in der Geschichte der neueren Philosophie die Fichte-Kritik –, dass jene freie Tat keineswegs im einzelnen Subjekt, das sie tätigt, beginnt: Sie stünde weder unter moralischen Kategorien (welche das Subjekt unweigerlich in seiner Rolle als Wollendes trifft und verantwortlich macht), noch wäre es möglich, in ihr den Blick auf das Innere der Wirklichkeit zu öffnen – und zwar eines solchen Inneren, das über das Blindseiende ihrer Gegenständlichkeit hinausgeht; ebensowenig aber wäre möglich, dass im endlosen Insichkreisen der Wirklichkeit und ihrer Darstellung in der philosophischen Wissenschaft überhaupt so etwas wie eine Vergangenheit hindurchscheinen könnte, die jenem Blindseienden vorausging und, sofern sie in der Spannung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehalten wird, auch nie in diesem aufgeht. Kant habe nun, in einer ersten Scheidung negativer von positiver Philosophie (vgl. SW X, 75), der Philosophie die Richtung auf das Subjektive zurückgegeben, die sie in Spinoza verloren zu haben 174 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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schien (vgl. SW X, 89). Habe er auf der einen Seite in seiner kritischen Methode der vorherigen Metaphysik ein Ende bereiten wollen, hielt er doch in praktischer Absicht an ihren Prinzipien (Gott, Unsterblichkeit und moralische Freiheit) fest. Die Inkonsequenzen, denen er sich aber in seiner Kritik schuldig gemacht habe – v. a. dort, wo er das Objekt des Dings-an-sich in völliger Unbestimmtheit beließ –, haben zu Fichte geführt, der gleichsam als Antipode Spinozas das Ich als sich selbst setzend an den Anfang seines idealistischen Systems stellte – ein zeitloser Anfang im Selbstbewusstsein, womit zugleich die Welt ihr Dasein nur im Bewusstsein habe und alle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des einzelnen Ichs von dieser Tathandlung ausgehe (vgl. SW X, 90). Solchermaßen gesetzt kreisen diese Zeitebenen aber nur um diesen einen Punkt; das Ich selbst hat keine Vergangenheit vor seinem Bewusstsein. Auch hier, wie in der Fichtekritik der Phänomenologie, ist keine wirkliche Geschichtlichkeit mehr möglich, weil mit der Unmittelbarkeit des Anfangs alle Vergangenheit (hier: die unbewusste Vergangenheit des Bewusstseins in seiner Natürlichkeit) abgeschnitten und verdrängt wurde, aber als Schranke wieder auftauchen muss und sich in jeder Gegenwart dem Subjekt entgegensetzt und immer wieder überwunden werden soll (vgl. SW X, 90 u. 94). 18 Diese unbewusste Vergangenheit zu erzählen, d. h. die Erfahrung der Natur in ihrer Gegenwart als Denkmäler jenes zurückgelegten Weges zu begreifen und in einer Philosophie der anamnesis jene vergessene Vorgeschichte wieder einzuholen, sei die Aufgabe der schellingschen Naturphilosophie gewesen (vgl. SW X, 95). Dasjenige, was in der Spinozakritik als dem Blindseienden Vorausgehendes und nie in ihm Aufgehendes angedeutet wurde, steht im Modell der Naturphilosophie als unendliches Subjekt seiner Objektivität gegenüber, in der es nie aufhört, Subjekt zu sein; jene Objektivität wiederum ist Resultat einer ursprünglichen ›Selbstanziehung‹, eines Willens zum endlichen Sein, wodurch es gegenüber seiner vorgängigen Unendlichkeit ein Anderes wurde, daher seiner selbst, obwohl dies gerade in seinem Willen lag, nicht habhaft werden kann. Dieser Wider-

Die Fichtekritik Hegels wiederholt sich hier nicht nur in denselben Argumenten, sondern zum Teil auch in denselben Begriffen. Dasjenige aber, was nach der jeweiligen Perspektive auf Fichte im Ich als dessen Vergangenheit vergessen worden sei, beinhaltet in sich schon den unversöhnlichen Gegensatz zwischen hegelscher und schellingscher Philosophie.

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spruch treibt zu einer notwendigen, stufenweise sich steigernden Überwindung seines Gegensatzes zum Endlichen (als widerständiges Sein) und damit der Verwirklichung seiner unendlichen Freiheit bis hin zum selbstbewussten Menschen, dem sich in der Geschichte seines Bewusstseins Gott als jenes unendliche, in der Endlichkeit nie aufgehende Subjekt konkretisiert. – Diese Unendlichkeit des Subjekts, so betont Schelling (vgl. SW X, 99 f.), ist keine Un-Endlichkeit im schlechten Sinne: – nicht in dem bloß negativen Sinn, daß es nur nicht endlich ist oder gar nicht endlich werden könnte, sondern in dem positiven, daß es sich verendlichen (sich zu Etwas machen) kann, aber aus jeder Endlichkeit, wieder als Subjekt, hervortritt […]. (SW X, 99)

Nirgends scheint Schelling zunächst Hegels Phönixleben wahrer Unendlichkeit – vornehmlich in dessen Jenenser Zeit, als sich in der Negativität des Endlichen verwirklichend – mehr zu entsprechen als hier. In Wahrheit aber wandert dieses Konzept, sofern wir für einen Moment die hegelsche Perspektive einnehmen, auf einem sehr schmalen Grat: Die Bewegung aus der Spaltung von unendlichem Subjekt und seiner Objektivität hin zur Selbsterkenntnis des Absoluten setzt eine quantitativ voranschreitende Aneignung voraus, die Unterscheidung zwischen unendlicher Freiheit und endlichem Dasein aber ist eine qualitative, bei der die Frage gestellt werden muss, wie jene Freiheit je gegenwärtig sein kann, wenn sie doch ein Anderes jenes Daseins ist und immer nur als das in diesem nie Erreichte erscheint und damit nie anders als in negativer Abhängigkeit von ihr gefasst werden kann – als derart erhabenes Ansich der Bewegung wäre die Freiheit nie da. Die Positivität dieser Freiheit, wie im oben angeführten Zitat behauptet, muss ernst genommen werden und jene Entwicklung darf nicht als nach und nach (quantitativ) fortschreitende Verwirklichung (dann wäre sie keinen Schritt über das perennierende Sollen Fichtes hinaus), sondern im Zuge eines sich konkretisierenden Bewusstseins ex negativo verstanden werden – wie in der Philosophiegeschichte als dialektische in der Darstellung Schellings geschehend. Dass aber diese Freiheit, wie sie in dieser Form der Naturphilosophie gefasst wird, noch in der dialektischen Abhängigkeit von ihrem Gegensatz gedacht wurde, bestätigt Schelling hier selbst: Dieser Gott am Ende der Bewegung ist nicht er selbst in unendlicher Freiheit, sondern von sich selbst als Prozess unfreies Resultat seiner notwendigen Entwicklung 176 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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(vgl. SW X, 123). – Die Unmöglichkeit, aus einer reinen Wechselbestimmung jener vorliegenden Seiten auf ein Resultat zu gelangen, das beide als Einheit in sich begreift, wird Schelling später in Reinform an der kronischen Zeit in der Philosophie der Mythologie darstellen (die erst in einem in jedem Moment gegenwärtigen – nicht resultierenden – Dritten ihre unablässige Rotation auf eine wahre, d. h. geschichtliche Zeit hin zu durchbrechen vermag). Die Konsequenz, die der späte Schelling hieraus zieht, ist aber eine der hegelschen Methode immanenter Selbstüberwindung entgegengesetzte: Die gegenüber seinem eigenen Selbstvollzug unfreie Notwendigkeit dieses Gottes als Resultat entspringt seinem Gedachtsein. Die ganze Bewegung habe nur in Gedanken stattgefunden und die Naturphilosophie sich selbst in ihrer logischen Notwendigkeit als wirkliches Geschehen missverstanden, anstatt sich in der Immanenz ihres Selbstvollzugs in ein rein negatives Verhältnis zur Wirklichkeit zu setzen und damit den Raum für die Existenz als Nicht-Immanentes, damit die Positivität von Wille, Freiheit und Tat freizugeben (vgl. SW X, 125).

II.2.2. Hegel als Episode Die Kritik Hegels bildet in den Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie eine Ausnahme: 19 Zwar sei auch sie zum Scheitern verurteilt, jedoch fügt sie sich nicht in die Dialektik der philosophischen Ansätze, die im kritischen Dialog der Extreme doch die Entwicklung eines objektiven Geistes vorantreiben – die hegelsche Philosophie sei demgegenüber ein einziger Irrweg. Sie gebe sich, so Schelling, indem sie die Forderung des reinen Denkens stelle, anfangs durchaus den Anschein, den Fehler der Naturphilosophie dahingehend zu korrigieren, die Immanenz ihres logischen Systems in einem rein negativen Verhältnis zur Wirklichkeit zu entwickeln. Hegel aber habe die logische Immanenz zum Ganzen gemacht; Gott wurde Begriff, der sich stufenweise zur Idee entwickelt, sich in die Natur entlässt und als aus dieser zurückkehrend absoluter, sich seiner selbst bewusster Geist wird (vgl. SW X, 197). Die von Schelling entMan könnte auch noch Jacobi nennen, allerdings wird dieser nicht als ›Episode‹ beschrieben, sondern als verfehlte Gegenreaktion zu einer sich als reine Vernunftwissenschaft verstehenden zeitgenössischen Philosophie.

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wickelte Methode der Naturphilosophie sei plagiiert worden, aber in ihrem Sinn nicht verstanden: Hegel habe sie für ein reales Geschehen genommen, daher sei mit dem hegelschen System eine »Monströsität« (SW X, 198) entstanden, welche den Geist für längere Zeit gehemmt habe, nach einiger Besinnung aber als bloße Nebensache, als »Episode« (SW X, 198) zu begreifen sei, die nunmehr endlich ad acta gelegt werden könnte. Die hier von Schelling vorgenommene Kritik spart nicht mit Verzerrungen und Polemik, wenngleich sie gerade hierin die Hegelkritik der folgenden Jahrzehnte wohl nicht wenig beeinflusste. Dies ist wohl auch eine Frage des Publikums: In diesen Vorlesungen sucht Schelling als Lehrer junge Studenten (als ›bayrische Jugend‹ angesprochen; vgl. SW IX, 361) in die Philosophie einzuführen und nicht zuletzt gleich zu Beginn vom hegelschen Zeitgeist zu befreien 20 – später, im Wintersemester 1841/42 in Berlin (gewissermaßen in der Höhle des Löwen), ist die wissenschaftliche Kritik im Hinblick auf die eigene Unterscheidung positiver und negativer Philosophie wesentlich konzentrierter. Dennoch lohnt für unser Problem der schlechten Unendlichkeit ein tieferer Blick in jene Münchner Vorlesungen, liegt ihnen doch ein Generalvorwurf zugrunde: das Problem einer logisch-immanenten Dialektik, noch in der Selbstüberwindung aller Einseitigkeiten der Reflexion, welche im Hinblick auf Unendlichkeit notwendig in die schlechte führen würden, in ihrem Zugleich der Gegensätze einer linearen Notwendigkeit zu unterliegen, die sich selbst nicht mehr übersteigen bzw. sich nicht mehr anders werden kann und daher auch nie zu einem eigentlichen Selbstbezug kommen könne, sondern immer nur denselben festgeschriebenen Selbstvollzug wiederhole. Dieser Vorwurf hat Gewicht, wenngleich er doch nicht die hegelsche Philosophie als falsch erklären kann. Vielmehr wird hier eine grundsätzliche Entscheidung getroffen: Eine positive Philosophie, welche das Programm der Freiheitsschrift einzuholen vermag, muss notwendig die Konfrontation mit der hegelschen Philosophie Allerdings tat Schelling auch außerhalb seiner Professorentätigkeit Einiges, sich in der Öffentlichkeit als entschiedener Gegner Hegels zu positionieren, so vor allem (und schriftlich) in seiner 1834 erschienenen »Vorrede zu einer philosophischen Schrift des Hrn. Victor Cousin«, deren Ton gegenüber Hegel sogar noch schärfer gehalten ist als in den Münchner Vorlesungen, in stark geraffter Form aber dieselben Argumente vorbringt (vgl. SW X, 212 f.). Hinzu kommt, dass von Schellings Münchner Kolleg sehr bald Nachschriften kursierten, die sogar kommerziell vertrieben wurden; vgl. hierzu Schelling 1841/42, 17.

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des absoluten Begriffs suchen – wir werden im anschließenden Kapitel noch einmal hierauf zu sprechen kommen. Zunächst aber zur Argumentation Schellings in seinen Münchner Vorlesungen: Wie hat Hegel, so fragt jener, es geschafft, den Begriff, dem doch Anschauung (als nicht wegzudenkendes Gegenüber des Begriffs, seinem Wovon) 21 zugrunde liegen müsste, zum Ganzen machen können? – Indem er, als habe es die Geschichte der neueren Philosophie seit Descartes nicht gegeben, auf den abstrakten Gattungsbegriff der Scholastik eines reinen Seins zurückgriff (sozusagen als den kleinsten gemeinsamen Nenner alles Seienden), freilich als ens commune die höchste objektive Allgemeinheit bezeichnend, aber nur als bloße Negation aller Zutaten der Subjektivität in der leersten Abstraktion aller konkreten Erfahrung (vgl. SW X, 129). 22 Damit habe er aber gleichsam das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn ohne Subjekt, das nach einem Fortschreiten verlangt, sei im Denken kein Übergang der Bestimmungen möglich. Dennoch gebe es durchaus ein treibendes Subjekt im hegelschen Denken, das dieser sich nur nicht eingestehe bzw., solange er seiner eigenen Logik folge, auch nicht in den Blick geraten könne: den Philosophen selbst, dem aus seiner Erfahrung die Existenz konkreten Seins bekannt und unabweisbar ist, weswegen er bei jenem leeren Anfang nicht stehen bleiben könne und die Bewegung (in zunehmender Differenzierung) auf eine konkrete Wirklichkeit hinauslaufen lasse (vgl. SW X, 132). Der Satz »das reine Sein ist das reine Nichts« (SW X, 134; bei Hegel eigentlich: Sein und Nichts ist dasselbe) drücke nur aus, dass ich, als Philosoph, in jener Man bewegt sich zweifellos im Ungewissen, wenn man auf das merkwürdige Zerwürfnis zwischen Hegel und Schelling um 1807 zurückgeht, interessant bleibt aber doch, dass im letzten – und freundlichen – Brief zwischen beiden (F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 3. November 1807, Fuhrmans, Briefe III, 471) von einer Grundopposition die Rede ist: »Das, worin wir wirklich verschiedener Ueberzeugung oder Ansicht sein mögen, würde sich zwischen uns ohne Aussöhnung kurz und klar ausfindig machen und entscheiden lassen; denn versöhnen läßt sich freilich Alles, Eines ausgenommen [!]. So bekenne ich, bis jetzt Deinen Sinn nicht zu begreifen, in dem Du den Begriff der Anschauung opponirst. Du kannst unter jenem doch nichts andres meinen, als was Du und ich Idee genannt haben, deren Natur es eben ist, eine Seite zu haben, von der sie Begriff, und eine, von der sie Anschauung ist.« 22 Vgl. ferner auch die Vorrede zu Cousin, SW X 213: »Dieser Versuch, mit Begriffen einer schon weit entwickelten Realphilosophie (an einer solchen war seit Cartesius gearbeitet worden) auf den Standpunkt der Scholastik zurückzugehen, und die Metaphysik mit einem rein rationalen, alles Empirische ausschließenden Begriff anzufangen«. 21

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höchsten Abstraktion keine Bestimmtheit mehr fände, die mir greifbar wäre, so dass Hegel, wenn denn hiervon noch ein Werden ausgehen sollte, eigentlich sagen wolle (so ›übersetzt‹ Schelling den bereits hier – ins Nichtdialektische, in eine bloße Aussage über das Sein – paraphrasierten Satz der Logik): Das reine Sein sei noch das reine Nichts (vgl. SW X, 135). Die Tautologie des Anfangs wird so zu einem bloßen Minus auf eine positive Wirklichkeit hin, welche nach und nach die Seinsweisen der schellingschen Naturphilosophie durchlaufe (vgl. SW X, 137), währenddessen doch das Durchdeklinieren dieser Stufen nur verberge, dass jeglicher Fortschritt in diesem Denken doch dem stets wieder scheiternden Versuch entspringe, in diesem tautologischen (und daher ›ewigen‹) Geschehen etwas Greifbares zu erhalten, »Wasser in der hohlen Hand« (SW X, 135) zu tragen. Dass aus dieser anfänglichen Tautologie jene ›Seinsweisen‹ (d. h. Qualität, Quantität etc.) hergeleitet werden konnten, sei nicht zu verwundern, da es hier nach keiner Richtung Widerstände zu überwinden gebe (alles ist nur eine Sache der Definition), eine tatsächliche ›Dissonanz‹ der Bestimmungen (und damit eine ›wirkliche‹ Dialektik) sei aber nirgends gegeben, stets gehe alles »ganz friedlich zu« (SW X, 137) – Sein und Nichts »thun einander nichts« (SW X, 137). Was hier, nach der schellingschen Darstellung, vom Begriff als »widerstandslose[r] Aether« (SW X, 141) eines Denkens des Denkens gleichsam offiziell ausgeschlossen, aber doch insgeheim untergeschoben wird, ist die Anschauung der konkreten Welt als teleologischer terminus ad quem (vgl. SW X, 141). Die Naturphilosophie habe die Natur (das Empirische, die Anschauung) an den Anfang gesetzt, um zum Begriff fortzuschreiten, Hegel aber habe diesen, der doch immer nur nach der Natur sein könne, in fragwürdiger Überbietung der Ansprüche einer Vernunftwissenschaft an den Anfang geschoben (vgl. SW X, 140). Hier spricht Schelling nun in eigener Sache; und ab hier wird die Auseinandersetzung mit Hegel ernst. Anschauung meint hier nicht diese oder jene zufällige Erfahrung, sondern die Erfahrung konkreter Existenz überhaupt. Wahr sei, dass nichts ohne das Logische existieren könne, darin erweise sich aber gerade die bloße Negativität des Logischen gegenüber dem Existierenden, denn dieses ›ohne‹ heißt gerade nicht, dass etwas durch seine logische Vermittlung existiert (vgl. SW X, 143). Populärer ausgedrückt: »Die ganze Welt liegt gleichsam in den Netzen des Verstandes oder der Vernunft, aber die Frage ist eben, wie sie in diese Netze gekommen sey« (SW X, 143). 180 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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Aus dieser Perspektive muss das Verhältnis einer auf sich selbst beruhenden Logik zur Natur zum Problem werden: Hegel benötige ein »doppeltes Werden« (SW X, 146), um die Natur nachträglich im Begriff einzuholen. Nachdem sich nämlich die Idee am Ende der Logik mit sich zusammengeschlossen habe, sei das Andere der Idee, das mannigfaltige und unmittelbar gleichgültige Nebeneinander der Natur, noch zu erklären – sie müsse sich noch einmal in der Wirklichkeit bewähren, damit das Absolute auch als existierend gefasst werden könne (vgl. SW X, 153). – Der Entschluss der Idee zur Natur (als Besonderung des Allgemeinen aus der immanenten Notwendigkeit des Begriffs, wie es bei Hegel verstanden worden war) wird zum Problem – dies sei nun »ein böser Punkt, bei welchem die Hegelsche Philosophie hier angelangt ist, und der beim Anfang der Logik nicht vorgesehen worden, ein garstiger breiter Graben« (SW X, 154). 23 Selbst wenn diesem Entschluss eine immanente Notwendigkeit zugrundeläge, so bliebe das Absolute, welches im selbstbewussten Geist zu sich aus der Natur zurückkehrt, doch eine von sich selbst unfreie Finalursache des Ganzen – derselbe Gott als Resultat seiner Entäußerung also, wie er in der schellingschen Naturphilosophie, ihrer Selbstkritik folgend, zum Problem wurde: als Gott der höchsten Unfreiheit gegen sich selbst als Prozess. Schlimmer noch: Gott als absoluter Begriff ist nicht ruhendes Resultat der Bewegung (und damit in offenem Widerspruch zu seiner angestrebten Lebendigkeit), sondern eine sich selbst beständig repetierende Prozessualität in ihrem bestimmenden Gegensatz zur blindlings existierenden, in ihrem Wesen unerkannten Natur: Denn der absolute Geist entäußert sich selbst zur Welt, er leidet in der Natur, er gibt sich einem Prozeß hin, von dem er nicht mehr loskommen kann, gegen den er keine Freiheit hat, in dem er gleichsam unrettbar verwickelt ist. (SW X, 159)

Die Tautologie des Anfangs der Logik als reinen Denkens des Denkens hat also noch einen tieferen Sinn, nämlich dort, wo die Hegelkritik Schellings (jenseits von allen Entstellungen ›eigentlicher‹ Paraphrasierung) als Selbstkritik im Hinblick auf seine spätere Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie gefasst wird – hier nimmt Schelling Hegel nämlich als Dialektiker ernst. Ebensowenig, wie jener ›Entschluss‹ ein wirklicher im Sinne einer Scheidung 23

Zum Lessing-Bezug dieser Stelle vgl. Kap. III.2.1. Anm. 49.

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von sich als Vergangenheit war, kann der absolute Geist je zu einem Ende kommen, da er zu keiner Zukunft fähig ist. Sein Phönixleben ist ein immerwährendes, damit in sich kreisendes Geschehen, das eben darum nie ein wirkliches sein kann (vgl. SW X, 160). – Seine logische Immanenz sei nur das Begrifflichwerden einer Natur, welches ihrer scheinbaren Zeit gemäß zwar unablässig geschäftig bleibt, aber sich doch nicht von sich auf eine wirkliche Geschichte wahrer Zeit hin lösen kann. [Der] Akt der freien Entäußerung ist zugleich das Grab seiner Freiheit; von nun ist er im Proceß oder selbst Proceß; er ist allerdings nicht der Gott, der nichts zu thun hat (wie er es wäre, wenn er als der wirkliche bloßes Ende wäre), er ist vielmehr der Gott des ewigen, immerwährenden Thuns, der unablässigen Unruhe, die nie Sabbath findet, er ist der Gott, der immer nur thut, was er immer gethan hat, und der daher nichts Neues schaffen kann; sein Leben ist ein Kreislauf von Gestalten, indem er sich immerwährend entäußert, um wieder zu sich zurückzukehren, und immer zu sich zurückkehrt, nur um sich aufs neue zu entäußern. (SW X, 160) 24 Vgl. hierzu auch eine – wohl von K. F. A. Schelling aus einer anderen Schrift herangezogene – Anmerkung zur Einleitung in die Philosophie der Offenbarung (SW XIII, 106 Anm.): »Indeß hat ein späterer Philosoph sich vorbehalten, für aristotelisch zu gelten. Diese Philosophie sprach von einem Kreislauf des göttlichen Lebens, indem nämlich Gott stets bis zum tiefsten, bewußtlosesten Seyn herabsteigt; da sey er zwar auch der Absolute, aber nur noch ein austernhaftes, d. h. blindes und taubes Absolutes; aber Gott steige immerwährend herab, nur um ebenso unablässig durch immer höhere Stufen, endlich zum menschlichen Bewußtseyn aufzusteigen, wo er seine Subjektivität ab- oder wegarbeitend, zum absoluten Geist, d. h. erst eigentlich Gott werde.« Auf sehr ähnliche Weise wie hier, in der Geschichte der neueren Philosophie, drückt Schelling sich auch in der Berliner Vorlesung zur Philosophie der Offenbarung aus (so zumindest in der Nachschrift Julius Frauenstädts): »Das Sichentschließen des absoluten Geistes zur Welt, zur Natur und dem endlichen Geist, kann bei Hegel nur den Sinn haben, daß Gott ewig denselben Prozeß, der er ist, wiederholt, ewig sich wieder in die Natur, aus der er herkommt, zurückwirft, um ewig wieder zu sich zurückzukehren, was in der Kunst, Religion und Philosophie geschieht. Es kommt also bei diesem Prozeß nichts Neues heraus, es ist kein Fortschritt. Wenn Hegel daher sagt, daß Gott sich frei entschließe, so heißt dies, daß er die Freiheit habe, in der Natur das Grab seiner Freiheit zu begraben. Gott ist also bei Hegel diese ewige Unruhe« (Schelling 1841/42, 359). Diese scheinbare Zeit einer ›zur positiven Philosophie aufgeblähten Logik‹ in ihrem Verhältnis zur unverstandenen Natur, aus der sie als Begriff zu sich zurückkehren soll, macht, wie gesagt, den eigentlichen und zutiefst ernst gemeinten Vorwurf an Hegel aus. Deswegen kann ich auch Manfred Frank in seiner Analyse nicht darin zustimmen, die Hegelkritik zentriere sich um einen Zirkel der Reflexion in der

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II.2.3. Unmöglichkeit einer Vermittlung der Positionen Hegels und Schellings An dem Satz, dass Sein und Nichts dasselbe ist, hängt viel. Der Dialektik, die sich aus diesem Satz entwickelt, kann nur gefolgt werden, wenn das Sein hier als Unmittelbarkeit allein in seinem Gedachtsein genommen und darin vom Nichts zunächst unterschieden wird, beide jedoch in ihrem Zugleich gedacht zu jener dialektischen Bewegung führen, die im Verstand immer schon als das in ihm bewusstlos Geschäftige (vgl. WdL, GW 21, 15) zugegen ist – und kein Sein außerhalb ihrer Immanenz zulässt, das schlechthin von seinem Gedachtsein unterschieden werden könnte. Diese Dialektik blendet Schelling, sofern er sich auf die Logik bezieht, konsequent aus, indem er ihre Bewegung, nach aristotelisch-teleologischen Prinzipien (vgl. SW X, 141), einseitig auf das Einholen konkreter Erfahrungen der Wirklichkeit zusteuern lässt. Dort aber, wo das Verhältnis der Logik als Vernunftwissenschaft zu einer Wirklichkeit bestimmt wird, die nach Schelling in ihrem Grunde nicht in die Immanenz notwendigen Denkens aufgehen darf (da sie dessen Unfreiheit an ihren Anfang setzt), wird die Auseinandersetzung mit Hegel ernst. Bezüglich der Frage nach Immanenz oder Nichtimmanenz der Wirklichkeit im logisch-notwendigen System (eine Entweder-OderFrage) kann es, naturgemäß, kein Wahr oder Falsch geben – eine solche Begründung wäre immer eine logische. 25 Allerdings muss man sich der Konsequenzen bewusst sein, die man sich mit der Entscheidung für die eine oder andere Seite vor dem Hintergrund des dialektischen Problems schlechter Unendlichkeit einhandelt, welches hier jeweils gegenseitig Anwendung findet. Wahr ist, dass Hegels Denken vom eigenen Selbstvollzug nicht frei sein kann. Schelling sieht klar, wenn er den Resultatcharakter der hegelschen Philosophie (in diesem hegelschen Methode (was ich ebenso bestreiten würde, sofern dies Argument logisch gegen Hegel zielt), die als Bewegung ihre Voraussetzungen aus der konkreten Wirklichkeit nicht einholen könne (vgl. insbes. Frank 1992, 159–163). Ein solches Insichkreisen wäre übrigens ebenso das Problem der negativen Philosophie – der Unterschied besteht aber nach Schelling eben darin, dass Hegel das Sein, d. i. das immer schon ins blinde Sein umgeschlagene Sein, an den Anfang stellte und von hier aus ein System konstruierte, das sich auch noch mit sich selbst zur vollständigen, für sich gewordenen Entfremdung zusammenschloss. 25 So kommt auch Tom Rockmore zu dem Schluss (vgl. Rockmore 2000, 361), dass der Streit zwischen Schelling und Hegel nicht rational entscheidbar sei, hier vielmehr ein Streit um das Wesen der Philosophie überhaupt ausgetragen werde.

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Fall als einer konsequenten Vernunftwissenschaft) hervorhebt, nämlich als auf ein solches Resultat hinführend, das von seinem Werden nicht zu unterscheiden ist und eins mit seiner Notwendigkeit ewig in sich kreist, ohne sich je, nach der schellingschen Kritik, als Vergangenheit setzen und damit eine Zukunft haben zu können. Indem sie, wie dieser später in Berlin ausführen wird, sich als Vernunftwissenschaft nicht beschränkt und die Wirklichkeit als ihre Voraussetzung frei lässt, sondern sich in Einheit von Sein und Denken zum Ganzen macht, kommt sie nirgends auf den Punkt, an dem ihre eigene Wirklichkeit greifbar würde und sie in freier Tat sich selbst überwinden und unter einen Maßstab setzen könnte, der nicht bloß der ihrer eigenen Notwendigkeit wäre; stattdessen käme sie in ihrem einseitigen Gegensatz zu einer als Besonderheit verstandenen Natur und ihrem Wiedereinholen im Geist nie darüber hinaus, sich in blinder Geschäftigkeit (in Widerspiegelung des blinden Seins ihres Gegenübers) stets wieder selbst zu setzen und in alle ungeschichtliche Ewigkeit zu wiederholen. Tatsächlich muss man feststellen (und Kierkegaard wird dies zum Kardinaleinwand machen): 26 Hegel hat keine Ethik im eigentlichen Sinn. Zwar hat die Figur der Gegenseitigkeit von Anerkennung und Anerkanntsein als Person (wo das Subjekt Selbstbeziehung seiner geistigen Allgemeinheit auf sich als Einzelnes ist; vgl. Rph, GW 14,1, 51 f. (§ 35)) ethischen Charakter; auch hat es – im Gegensatz zum allem Dialog sich verweigernden In-sich-Verhausen des Bösen – im Hinblick auf seine Geschichtlichkeit einen Maßstab für das Gute; ja, es findet sich in der Philosophie des Rechts sogar das ausdrückliche und klare Rechtsgebot »sey eine Person und respectire die anderen als Person« (Rph, GW 14,1, 52 (§ 36)) 27 – aber auch dies ist nur Definition des allgemeinen Rechtsgebots selbst (aus seiner begrifflichen NotEine konzentrierte Fassung dieses Grundvorwurfs Kierkegaards, der später in Kap. III. in seinen Argumenten und Konsequenzen ausführlich dargestellt wird, findet sich im Buch über Adler, BÜA, 145: »Die Hegelsche Philosophie hat keine Ethik; sie hat sich deshalb niemals mit dem Zukünftigen befaßt, welches namentlich die Lebensluft oder das Medium der Ethik ist. Die Hegelsche Philosophie betrachtet das Vergangene, die 6000 Jahre der Weltgeschichte, und ist nun geschäftig, jede einzelne Entwicklung als Glied des weltgeschichtlichen Ablaufs auszuweisen. Vortrefflich! Aber der selige Professor Hegel, als er lebte, – und jeder lebendige Mensch – hat auch wohl oder soll doch wohl ein ethisches Verhältnis zu dem Zukünftigen haben. Davon weiß die Hegelsche Philosophie nichts.« 27 Der Paragraph lautet im Ganzen: »Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit und macht den Begriff und die selbst abstracte Grundlage des abstracten und 26

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wendigkeit und der Voraussetzung seiner Geschichtlichkeit heraus), ein Sollen impliziert sie nicht. Die Philosophie habe nicht zur Aufgabe, der Welt ein Sollen vorzuschreiben, welches für Hegel auch nur im Erhabenen (Gott weiß wo) greifbar wäre, sondern die Welt in ihrer Wirklichkeit und der in ihr stets als Notwendigkeit gegenwärtigen Vernünftigkeit zu begreifen und anzuerkennen. 28 Hegel selbst spricht sich hierüber in der Vorrede zur Philosophie des Rechts in aller Deutlichkeit aus: So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft enthält, nichts anders seyn, als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon seyn, einen Staat, wie er seyn soll, construiren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt [!] werden soll. Ἰδοὺ Ρόδος, ἰδοὺ καὶ τὸ πήδημα. Hic Rhodus, hic saltus. Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist eben so thöricht zu wähnen, irgend eine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. Geht seine Theorie in der That drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie seyn soll, so existirt sie wohl, aber nur in seinem Meynen, – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt. (Rph, GW 14,1, 15)

daher formellen Rechtes aus. Das Rechtsgebot ist daher: sey eine Person und respectire die anderen als Personen.« 28 Dagegen trifft m. E. Manfred Franks Entgegenstellung der hegelschen und schellingschen Philosophie, indem er jener, ihrem logischen Charakter einer Identität von Realität und Begriff gemäß, in ihrer Dialektik einen ›Zwang zur Versöhnung‹ unterstellt, die Sache nicht in ihrem Kern (vgl. Frank 1992, 356) – die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit verneint vielmehr die Berechtigung der Konstruktion einer anderen Wirklichkeit, wie sie aus der Setzung der gegenwärtigen als nichtseinsollende entspringt – die sich in ihrem Fürsichsein doch nur wieder aus bestimmter Negation der nicht-sein-sollenden Gegenwart, damit in Abhängigkeit zu dieser konstituiert und gleichzeitig der Fähigkeit zur Wirklichkeit verlustig gegangen ist. – Es gehört zu den gängigen Missverständnissen, sich Hegels Begriff der ›Versöhnung‹ als unbewegte Harmonie vorzustellen, sofern das Streben nach Versöhnung (als Überwindung sich selbst repetierender Entfremdung durch Einseitigkeit) als Identitätszwang verstanden wird.

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Was hier über eine Philosophie des Rechts gesagt wird, gilt gleichermaßen für die Kunst, die Religion, die Geschichte, das erscheinende Bewusstsein wie auch für die Philosophie selbst: Hegels Philosophie hält Bilanz. Die Wirklichkeit wird dort in ihrer Notwendigkeit eingesehen, wo sie, (an ihrem Ende stehend) vom philosophischen Erkennen auf ihr Resultat hin betrachtet wird, ohne dass die Philosophie je selbst auf eine andere Wirklichkeit hinweisen oder gar eine zukünftige anzustoßen vermöchte (›die Eule der Minerva beginnt ihren Flug in der Dämmerung‹ ; vgl. Rph, GW 14,1, 16). 29 Gerade diese Unmöglichkeit, sich von der Gegenwart zu befreien, stattdessen immer nur dasselbe Ist in allen Veränderungen zu wiederholen, definiert die schellingsche scheinbare Zeit. Die hegelsche Vermittlung ist das unversöhnliche Gegenteil der schellingschen Vergangenheit. Auf der anderen Seite zielt die hegelsche Figur der schlechten Unendlichkeit gerade auf solche Modelle, die – wie in der Frage, wie die Wirklichkeit denn in die Netze der Vernunft gekommen sei – noch ein Jenseits logisch-notwendiger Wirklichkeit annehmen, wie sie in ausgezeichneten Momenten, im Abbruch selbstbezüglicher Notwendigkeit, erfahrbar werden – und dazu gehört auch die freie Tat und ihre Dialektik in der Wirklichkeit, welche den Maßstab ihrer moralischen Wertung in der Unterscheidung von Gut und Böse freilegt. Demgegenüber fördert die Dialektik der freien Tat bei Hegel etwas ganz anderes zutage: Antigones Tat etwa, die zugleich als in die Negativität der Wirklichkeit hinaustretend ihr eigener Untergang ist, zerstört die schöne griechische Sittlichkeit, die dialektische Geschichte des Bewusstseins macht in ihr aber nur einen weiteren – nur aus der Perspektive eines im gegenwärtigen Geschehen befangenen Bewusstseins einseitigen – Schritt nach vorn. Es ist nun keineswegs so, als sei die Geschichte des Bewusstseins eine rein lineare, ohne Binnendifferenzierung ihrer zeitlichen Dimensionen; schließlich ist Antigones Tat, im Rückblick, selbst Resultat einer Tektonik übereinander geschobener Ebenen im griechischen Bewusstsein, sofern ihr familiäres Blutrecht Kreon gegenüber anachronistisch bleibt, sich darin aber gegen die daseiende (in der Tat Kreons einseitig gewordene) Gegenwart des staatlichen Rechts griechischer Sittlichkeit Im Ganzen: »Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau mahlt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«

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zum überzeitlichen Göttlichen verklärt. Jeder vorgebliche Sprung aus der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit heraus ist immer schon im Ganzen einbegriffen: Als alleinige Wirklichkeit setzt sich die immanente Geschichte des Bewusstseins von allen Zerreißungen im Einzelnen unbekümmert durch, sofern, auf das Beispiel Antigones bezogen, gerade die Seite der Unwirklichkeit ihrer Moralität über diese selbst das Urteil spricht. Beiden Philosophen ist Geschichte Überwindung der schlechten Unendlichkeit bzw. der scheinbaren Zeit – nicht etwa deswegen, weil, wie Schelling gelegentlich nahelegt, der eine den anderen zu plagiieren suchte, sondern aus der inneren Struktur der dialektischen Methode heraus. Die Frage, ob nun die Dialektik im Zugleich der Gegensätze selbst die ganze Geschichte ist (ja überhaupt als Einziges ist) oder nur den Punkt herbeiführen soll, von dem her sie sich selbst als Vergangenheit zu setzen vermag, bezeichnet den entscheidenden Unterschied. Bevor wir nun aber auf diese schellingsche Geschichtlichkeit positiver Philosophie eingehender zu sprechen kommen, sei noch einmal zusammenfassend betont: Die hegelsche Kritik schärft zweifelsohne einen kritischen Blick auf philosophische Konzeptionen ›anderer‹ Wirklichkeiten. Dennoch darf man – bei allen Affinitäten zur hegelschen Philosophie, welche diese Arbeit eingestandenermaßen an den Tag legt – nicht übersehen, dass vom Standpunkt praktischer Ethik aus gesehen jene Erschütterung des Bewusstseins in der konsequenten Annahme seiner Negativität und dem restlosen Untergang aller positiven Unmittelbarkeit, wie sie am Anfang der Phänomenologie gefordert wurde, in seiner radikalen Gleichgültigkeit vom Nihilismus eigentlich nicht mehr zu unterscheiden ist.

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II.3. Positive und negative Philosophie

II.3.1. Dialektik des Seins als Wille Eine Philosophie, welche das aller Vernunft zu Grunde liegende Sein in seinem differenzierten Wesen zu fassen sucht, würde nach Schelling dieses als bloßes Objekt des Denkens notwendig verfehlen. In seiner Positivität könne es nur erschlossen werden, wenn die Philosophie selbst sich in ihrem Streben als Äußerung eines Willens, eines bestimmten Aktes versteht: die Erklärung der Welt durch Wille, Freiheit und Tun (vgl. Schelling 1830, 8). Demgegenüber unterscheidet Schelling in seiner Einleitung in die Philosophie von einer solchen positiven Philosophie eine negative, die sich jenes Aktes konsequent enthält und die Welt nur insofern zu erklären sucht, sofern sie durch Denknotwendigkeit einzusehen ist (vgl. Schelling 1830, 13). Hierfür sei aber eine Selbstbeschränkung des Denkens unabdingbar: Einer Erklärung der Wirklichkeit in ihrem Grunde habe sie sich zu enthalten. Daher sei sie scharf zu unterscheiden vom hegelschen System, welches – wie zuvor beschrieben – das »Kunststück« (Schelling 1830, 15 f.) vollbringe, durch einen einmaligen Entschluss von allem konkreten Sein zu abstrahieren, sich in ein reines Denken zu erheben, um dann wieder Etwas zu werden. Das von der positiven Philosophie angestrebte Begreifen der Welt aus einer freien Ursache entspräche dort nur dem Entschluss des Philosophen, mit einem leeren Anfang zu beginnen. Die Dialektik, welche diesem »Machwerk« (Schelling 1830, 16) als Bewegungsprinzip innewohne, entwickle nur die Absicht Hegels, auf ein konkretes Sein, dass ihm aus der Erfahrung bekannt ist, zuzusteuern; die eigentliche dialektische Geschichtlichkeit der wirklichen Welt aus ihrer freien Ursache berühre sie damit nicht. Die Tautologie des Anfangs und die Teleologie der Absicht vermögen es nicht, aus sich heraus einen tatsächlichen Dialog in sich widerständiger Gegensätze zu generieren, wie sie nur der Wirklichkeit der Welt als Wille und damit ihrer Geschichtlichkeit zukäme (vgl. Schelling 1830, 61). 188 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Positive und negative Philosophie

Im Gegensatz zu jenem abstrakten System der gegebenen Wirklichkeit, an welcher sich Hegel in der Ausdifferenzierung des leeren Anfangs in moralischer Indifferenz orientiere, hat die positive Philosophie Schellings den Anspruch, dass die dem Menschen innewohnende Freiheit sich in der Welt verwirklicht sieht und als solche wieder finden kann. Dies geschieht nicht aus Eigensinn: Vielmehr steht der Mensch in der Verantwortung, dass in ihm sich das freie Wesen der Welt mit Bewusstsein verwirklicht. – Umso unleidlicher muss dem Menschen die Welt in ihrer Gegenwart, wie sie sich der unmittelbaren Anschauung darbietet, erscheinen: Jenes blinde Sein, als welches die Wirklichkeit durchgehend im System Spinozas erschien, ist in der Erfahrung der Natur allgegenwärtig. Die Einheit ihres Wesens scheint in ihrer Objektivität verloren und in die Gleichgültigkeit eines bloß zufälligen Nebeneinanders zerfallen. Schlimmer noch: In der Natur ist durchaus Bewegung vorhanden, sie fährt aber nur fort, in ständiger Wiederholung sich selbst zu setzen (›nichts Neues unter der Sonne‹): [D]as Gefühl der angestammten Freiheit empört sich gegen den Gedanken, daß es von Ewigkeit her so gewesen sei; daß der traurige Ring nie durchbrochen werde. Man möchte wohl jene eintönige Philosophie, die alle Bestimmungen der gegenwärtigen Witterung als Kollorarium des immer seienden Begriffes erklärt, fragen, ob sie sich auch wohl scheue […]. (Schelling 1830, 135)

Dass diese Ungeschichtlichkeit und Gleichgültigkeit allen Geschehens nicht der ursprüngliche Zustand der Welt sein konnte, ist von der Warte jener unverfälschten Innerlichkeit offensichtlich. Wenn die Welt in ihrer Wirklichkeit ohne Vergangenheit und Zukunft erscheint, so spricht sich hierin eine Entfremdung von ihrem ursprünglichen Leben aus und die Verantwortung hierfür liegt im Menschen selbst und dem Missbrauch seiner Freiheit. 30 Auch hier, wie in Erlangen, wird diese scheinbare Zeit (A + A + A …) als Epoché, als Verhinderung der wahren Zeit gefasst, die in »Durch den Menschen sollte alles in ewiges Bewußtsein gebracht werden; statt dessen ist alles in der Zeit geblieben, ohne daß ein Fortschritt geschähe oder geschehen wäre. Seit der Mensch sich jener Bewegung, durch welche ein ewiger Bestand erstrebt werden sollte, entzog, ist die Natur ein stillstehendes Ganzes, das zwar in sich noch immer lebendig, aber wider seinen Willen zwecklos geschäftig ist. Wo eine Zeit ist, da sollte auch ein Fortschreiten sein, und wo kein Fortschreiten ist, da sollte auch keine Zeit mehr sein. Dies ist der Widerspruch der Natur, daß sie immer das selbe Gesicht zeigt« (Schelling 1830, 136).

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freier Tat jenes A als Vergangenheit setzen könnte (A + B + C … ; vgl. Schelling 1830, 137). Diese Setzung einer wahren Zeit kann aber nur in einer solchen Freiheit ergriffen werden, die sich im freien Wesen des Ganzen gründet, also in einer zweiten Ekstasis die Entfremdung, welche Konsequenz der freien Tat des Menschen in seinem partikulären Eigensinn war, überwindet und das Wesen der Welt in selbstbewusster Freiheit verwirklicht. Erst diese Unterscheidung von sich selbst, die nur positiv zu treffen ist, durchbricht den Satz, dass die Zeit nicht über die Welt hinausgehe (vgl. Schelling 1830, 137). 31 – Dieses Hinausgehen über die Welt ist aber nun gerade nicht eine Selbstbefreiung des Menschen von der erstarrten und in blinder Notwendigkeit kreisenden Natur; vielmehr ist jene Unterscheidung nur dort, wo er sich selbst als partikularer Wille in seinem Streben nach sich selbst aufgibt und in einer solchen Freiheit, die ihn selbst auf ein ihm zuvorkommendes Ewiges übergreift, zugleich das Ganze in Freiheit setzt. Ein Problem aber bleibt: Die scheinbare Zeit hat eine immanente Logik, die sich in der endlosen Wiederholung ihrer selbst beständig fortschreibt (auch hier ist die endlose Dauer die dialektische Entsprechung der Ewigkeit in ihrer Verkehrung – auch wenn Schelling diesen dialektischen Schritt, meines Wissens, nicht reflektiert). Die Ekstasis ist radikale Umkehr des ganzen Verhältnisses, die sich nicht aus der Linearität ihrer Vermittlung aus der scheinbaren Zeit herschreiben darf: Das Wahre muss in seiner Verkehrung noch anwesend sein – sowohl als Maßstab der Verkehrung (der die Ungeschichtlichkeit der menschlichen Existenz wie der Natur als ihr Gegenüber spürbar und unerträglich werden lässt), wie auch als negative Anzeige dessen, was hier verkehrt worden ist, worauf der Mensch sich als Einzelner gründen muss, um das negative Vorzeichen seiner eigenen Existenz in zweiter Verkehrung wieder ins Reine zu bringen – nicht als leere Wiederholung des Anfangs, sondern in geschichtlicher Rückkehr zu sich als konkretes Selbstbewusstsein. Nicht das Denken, sondern die Erfahrung greift hinter den ersten Anfang der Entfremdung zurück, aber nicht als unmittelbare, sondern im Bruch mit dem Gewohnten und Absehbaren. Es sind ausgezeichnete, für sich selbst stehende Erfahrungen, die an zwei entscheidenden Stellen: dem ersten BewusstWer diese, wie Hegel, nicht trifft, möge »immerhin den gegenwärtigen Zustand als einen ewigen darstellen, wir haben diese falsche Ewigkeit selbst überwunden« (Schelling 1830, 137).

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Positive und negative Philosophie

sein der eigenen Entfremdung und der letzten Selbstüberwindung den Ausschlag geben. Diese plötzliche Öffnung sich selbst repetierender Sukzession auf eine bleibende, auch in der Entfremdung noch negativ anwesende Ebene simultaner Präsenz 32 (die in der scheinbaren Zeit beständig erstrebt, aber nie erreicht wird) reicht bei Schelling noch weit hinter das Programm der Freiheitsschrift zurück: Im System des transscendentalen Idealismus war es noch die Kunst, die diese Rolle übernahm. 33 Bereits hier scheint ein Weg eingeschlagen worden zu sein, der, so darf man wohl mit einigem Recht vermuten, zur späteren positiven Philosophie in ihren (im zwiefachen Bruch) aufeinanderfolgenden Bereichen der Mythologie und Offenbarung führt. 34

II.3.2. Potenzenlehre Vom Wesen seiner eigenen Freiheit ausgehend eröffnet sich dem Menschen die Welt als Wille. Der Begriff des Willens ist der Schlüssel, die innere Dynamik der Wirklichkeit, als ihrem Gedachtsein vorausgehend, zu verstehen. Es ist unmöglich, ein Sein zu denken, ohne einen wirklichen Willen, ohne Wollen. Das Sein irgendeines Dinges erkenne ich nur dadurch, daß es sich behauptet, daß es etwas anderes – das Eindringen eines fremdartigen Gegenstandes – ausschließt. Wo wir auf keinen Widerstand stoßen, sagen wir: Da ist nichts; denn Widerstand ist ganz synoVgl. hierzu Hühn 2009, 32–36. Vgl. AA I,9,1, 328: »Die Kunst ist ebendeßwegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln ebenso wie im Denken ewig sich fliehen muß. Die Ansicht, welche der Philosoph von der Natur künstlich sich macht, ist für die Kunst die ursprüngliche und natürliche. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschloßen liegt. Doch könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyßee des Geister darinn erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht«. Vgl. dazu Hühn 2009, 33. – Auch hier mag ein Zusammenhang zur kantischen Critik der Urtheilskraft bestehen – folgt man der These Bernhard Lypps, dass diese vor dem Hintergrund der dritten Antinomie von Kausalität der Natur und Kausalität der Freiheit eine ästhetische Einheit beider strikt voneinander getrennten Erfahrungsbereiche in Aussicht stellt, vgl. Lypp 1972, 11 f. 34 Schon im System des transscendentalen Idealismus wird von der Mythologie gesagt, sie sei einst das Mittelglied zwischen Wissenschaft und Poesie gewesen und müsse es als neue Mythologie wieder werden (vgl. AA I,9,1, 329). 32 33

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nym mit Gegenstand, d. i., das reelle unserer Erkenntnis. Was Etwas ist, muß widerstehen; der Widerstand aber liegt im Wollen – ohne Wollen gibt es keinen Widerstand. (Schelling 1831/32, 24)

Dennoch muss unterschieden werden zwischen einem blindem Willen, der bloß zufällig und seiner nicht bewusst ist, und einem lebendigen Willen aus Freiheit (aus demselben Grund muss einem System logischer Notwendigkeit, wie dem spinozistischen, der Wille als notwendige Emanation eines höheren Prinzips erscheinen, welche stets nur dieselbe Notwendigkeit fortschreibt, einer Philosophie der Freiheit aber in seiner lebendigen Geschichtlichkeit; vgl. Schelling, 1831/ 32, 5). Nun besteht aber das Dilemma, dass jede Vernunftwissenschaft das Sein in seinem Grund als Gedachtes verfehlen muss (denn auch ihr liegt in ihrem Streben ein verfehlter Wille zugrunde, dem sich im Zugriff auf die Welt dieselbe stets nur in ihrem blinden Sein zeigt). Sie muss sich darauf beschränken, das Sein nicht in seiner gegebenen Wirklichkeit, sondern in den aus seinem Wesen mit Notwendigkeit sich ergebenden Möglichkeiten darzustellen. Eine solche Wissenschaft beginnt nicht mit dem Sein (wie die hegelsche Logik), sondern mit dem Seinkönnen und den sich hieraus ergebenden Potenzen. Jede Potenz beschreibt eine bestimmte Form des Seins gegen das Allgemeine überhaupt, genauer: eine »bestimmte quantitative Differenz der Subjektivität und Objektivität, wodurch ein Einzelnes als Endliches im Gegensatz gegen die Totalität des Universums« (Schelling 1831/32, 13) gesetzt wird. Nach dieser Definition wird jede Endlichkeit durch die Formel A (begründendes Subjekt als begrenzend) = B (ursprüngliches Objekt als unbegrenzt Seiendes) ausgedrückt (vgl. Schelling 1831/32, 13). Der erste Schritt vom Seinkönnen zum Sein (in seinem Wesen ein Übergang von Nichtwollen zum Wollen) ist notwendig eine Entfremdung von der ursprünglichen Freiheit (vgl. Schelling 1831/32, 29). Das angenommene Sein ist notwendig und damit seinem Wesen gegenüber zufällig geworden. Jedoch hört das Seinkönnende auch hier nicht auf, Subjekt des Seienden als Objekt bzw. Prädikat zu sein; das Zugleich des Gegensatzes kann aber nur in einem Drittem aufgehoben sein, das als SubjektObjekt frei ist, zu sein und nicht zu sein (vgl. Schelling 1831/32, 58 f.). Erst dieses Dritte ist wahrhaft unendlich, sofern es in sich selbst zugleich bestimmt und unbegrenzt ist (sofern es geschichtlich ist, d. h. Anfang, Mitte und Ende hat) – im Gegensatz zu einer leeren 192 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Positive und negative Philosophie

Unendlichkeit als bloßem Ausschluss aller Endlichkeit ohne Anfang und Ende (vgl. Schelling, 1831/32, 61). Auch hier gilt aber, dass diese Geschichtlichkeit als vom Seinkönnen ausgehend hypothetisch bleibt: Es wird von der Vorrausetzung ausgegangen, dass es eine erste Wirklichkeit gibt (vgl. Schelling 1831/32, 65 f.). Wirkliche und progressive Geschichtlichkeit wird dagegen dort ergriffen, wo jene erste Wirklichkeit als freier Akt (und in einem freien Akt) an den Anfang gesetzt wird. Dabei ist die Philosophie keineswegs willkürlich: Sie will die Welt als frei gesetztes Sein – und dies heißt zugleich, es als seiner selbst bewussten Geist zu wollen (vgl. Schelling 1831/32, 73). Erst durch einen solchen freien Anfang kann das Denken die in sich kreisende Wiederholung seiner selbst durchbrechen und damit auch zu einem wahren Ende führen. In der wirklichen Geschichte seines im Ansichsein Fürsichwerdens differenziert sich das Sein nach den in der negativen Philosophie erstellten drei Potenzen gegenüber der bloßen Objektivität des Seins als A1 (Seinkönnen), A2 (Seinmüssen, das heißt als in das Sein ergossen) und A3 (als – ›doppelt vermitteltes‹ – Seinsollen; vgl. Schelling 1831/ 32, 86). In dieser Bewegung kommt der Geist dort zu seinem Ende, wo er selbst frei ist, ohne ein Sein außerhalb seiner annehmen zu müssen (zu dem es dann noch qualitativ in einem bestimmten Wechselverhältnis stünde). Er ergreift sich aber nur dort in seiner eigenen Wirklichkeit, wo er sich als das durchgängige Zugleich seiner dialektischen Geschichtlichkeit als Anfang, Mitte und Ende festhält – wieder ganz im Gegensatz zur leeren Unendlichkeit ohne Anfang und Ende, das im Bestreben, sich selbst festzuhalten, notwendig, in seiner Unfähigkeit, einen wahren Anfang zu finden, in eine unaufhörliche Rotation münden muss (vgl. Schelling 1831/32, 92). Hierin bestimmt sich im Hinblick auf die positive Philosophie der Begriff der wahren Zeit näher als wirkliche Zeit in wirklicher Sukzession, sofern in der Folge der Potenzen wahre Zeit nur dort gesetzt wird, wo A sich selbst als Vergangenheit setzt (vgl. Schelling 1831/32, 136). Schelling knüpft hier in der Bestimmung wahrer und scheinbarer Zeit unmittelbar an die Weltalter an: Etwas, das ursprünglich nicht Zeit ist, muß zur Zeit werden, indem etwas schlechterdings als Vergangenheit gesetzt ist; denn die wahre Zeit ist selbst nur eine Folge verschiedener, abgesetzter Zeiten. Eine Zeit, wie die unsrige, in der immer nur die selbe Zeit wiederkehrt A + A + A, ist nicht wahre Zeit sondern Hemmung der wahren Zeit. Erst wenn A + B + C gesetzt ist, ist wahre Zeit. In jenem actus, der als etwas völlig

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II. Schelling

Neues, Niegewesenes einsetzt, wird, was er zuvor war, als Vergangenheit gesetzt. Das durch oder während des actus Geschehende ist die Gegenwart, und das eigentlich Gewollte ist die Zukunft. (Schelling 1831/ 32, 163 f.)

II.3.3. Die Philosophie der Offenbarung 1841/42 In seinen ersten Vorlesungen des Wintersemesters 1841/42 in Berlin, dem ›letzten großen Universitätsereignis‹ des 19. Jahrhunderts, 35 unterscheidet Schelling positive und negative Philosophie nach ihrer jeweiligen Weise, das Seiende (τὸ ὄν) zu betrachten: was dies Seiende (quid sit) und dass dies Seiende ist (quod sit), d. i. Begriff und Erkenntnis (als Wissen um die Existenz; vgl. Schelling 1841/42, 98 f.). Betrachten wir das Seiende in seiner Notwendigkeit, denken wir zwar seinen Inhalt, erkennen es aber nicht in seiner Existenz: »Wenn Dinge existieren, so werden sie in dieser Reihenfolge existieren; aber daß sie existieren, kann ich nur aus der Erfahrung wissen« (Schelling 1841/42, 99). Auf der anderen Seite kann ich Seiendes, das über die Erfahrung hinausgeht, nur durch die Notwendigkeit des Denkens in der Vernunft nachweisen, nämlich in seiner Potenzialität als der Möglichkeit seines Seinkönnens (vgl. Schelling 1841/42, 99 f.; daher auch die Forderung der negativen Philosophie, in ihrem Bestreben, hinter das blinde – seinem Wesen entfremdete – Sein zurückzugreifen, es in den apriorischen Möglichkeitsmodus der sich selbst beschränkenden Vernunft und die Dialektik seiner Potenzen aufzulösen). Die Übergänge, die das Denken hierin zur Darstellung bringt – und dies ist die Selbstkorrektur Schellings gegenüber seiner Naturphilosophie –, betreffen aber allein das Wesen im Seienden dessen Dieser Ausdruck wird gemeinhin auf Karl Jaspers (vgl. Jaspers 1955) zurückgeführt, findet sich dort aber nicht (vgl. hierzu den editorischen Bericht zur Deutschen Sören Kierkegaard Edition, Schwab 2011, 773). Dennoch hat dieser weithin zitierte Ausdruck seine völlige Berechtigung: Das Aufsehen, das Schelling mit seinem Antritt der seit nunmehr zehn Jahren vakanten Stelle Hegels in Berlin erregte, war gewaltig, ebenso die Erwartungen, die an seinen Vortrag geknüpft waren; zu den Hörern gehörten solche Namen wie Bakunin, Engels (der an Marx berichtete), J. Burckhardt, Savigny, Steffens, Trendelenburg, Ranke, A. v. Humboldt – und nicht zuletzt Kierkegaard, dazu die Riege der in Berlin vertretenen Hegelianer. Zur Wirkungsgeschichte und der Authentizität der in diesem Kapitel herangezogenen PaulusNachschrift vgl. die Einleitung Manfred Franks in Schelling 1841/42, 9–85, hier insbes. 46–52.

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Positive und negative Philosophie

quid nach, erzählen aber keineswegs ein wirkliches Geschehen (vgl. Schelling 1841/42, 101). Das blinde, schrankenlose Sein (ἄπειρον) ist hier wieder das erste Übergegangensein, die zweite Potenz dagegen die Möglichkeit überzugehen oder nicht. Die dritte, welche erst im Gegensatz der anderen beiden erscheint, ist als freischwebend zwischen Seinkönnen und Nichtseinkönnen gefasst; sie versetzt in erster Entscheidung (a potentia ad actum) das actu Übergegangene wieder (da widerständig: nach und nach) ins Nichts zurück und holt es so stufenweise ins Können als Macht über das Sein zurück und resultiert zuletzt im selbstbewussten Können als Ende und Höchstem der Natur, das in einer zweiten Geschichte (anamnetisch) die erste noch einmal mit Bewusstsein nachvollzieht und so, als zum Absoluten strebend, zuletzt zu diesem als Resultat gelangt (vgl. Schelling 1841/42, 102 f.). – Gott ist auch hier nur Finalursache (so, wie die konkrete Erfahrung Finalursache der hegelschen Logik und der absolute Geist Finalursache der Rückkehr des absoluten Geistes aus der Natur, aber auch der Gott der eigenen Naturphilosophie gewesen sei): 36 »[E]r ist das in der Vernunft stehen bleibende, nicht heraus könnende, der immanenteste Begriff der Vernunft« (Schelling 1841/42, 110). 37 Wurde Gott in der Freiheitsschrift noch in seiner spannungsvollen Differenz zwischen sich als existierend und als Grund von Existenz gefasst, ist dieser Gott unfrei gegenüber der Notwendigkeit seines Selbstvollzugs und eins mit seiner Prozessualität. Die positive Philosophie kann, um Gott als existierend zu erkennen, nicht mit dem Seinkönnen, ebenso wenig mit ihm selbst beginnen (so wäre er nicht erkannt), sondern mit »dem, was außer der Vernunft ist, um von diesem zu dem zu gelangen, was über dem Sein ist« (Schelling 1841/42; i. Orig. Herv.): dem blinden Sein selbst – nicht zu verwechseln mit dem reinen Sein Hegels, das als unmittelbare Gewissheit eines actus purus (vgl. Schelling 1841/42, 126) am Anfang seiner Vernunftwissenschaft sich bereits in der ersten Setzung zur positiven Philosophie ›aufgebläht‹ (vgl. Schelling 1841/42, 137) habe. Die positive Philosophie schreitet also vom Sein als absolutem

Der zweite Punkt wird hier in Berlin ausführlicher dargestellt, vgl. Schelling 1841/ 42, 132. 37 Schelling verweist hier übrigens auch auf den – in unserem Zusammenhang aus den Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie bekannten – cartesischen notwendig existierenden Gott des ontologischen Beweises. 36

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Prius zum Begriff als diesem zuvorkommend fort; jedoch kann vom Sein zur Potenz kein notwendiger Übergang sein: Was aus dem Sein folgt, kann nur aus freier, das blinde und sinnlose Sein überwindender Tat sein, die wiederum nur a posteriori zu erkennen ist (vgl. Schelling 1841/42, 147). Dort aber, wo diese im Wesen des Seins liegende Möglichkeit, ein Anderes seiner selbst zu sein, ergriffen wird, wird jenes unvordenkliche Sein gegenständlich und in seiner Blindheit zweifelhaft – Gott setzt sich in Freiheit gegen sein unmittelbar vorgefundenes Sein (vgl. Schelling 1841/42, 168). 38 Das Dritte von Seinmüssen und Seinkönnen, worin sich diese dialektische Bewegung aufhebt (und wodurch sie getragen wird), verwirklicht sich im Geist als das Seinsollende (vgl. Schelling 1841/42, 174). Der Sinn der ganzen Bewegung liegt in der Suspension des unvordenklichen Seins, dass aus ihm, durch einen notwendigen, inhaltlich-konkreten Prozess, ein gewolltes Sein werde (vgl. Schelling 1841/42, 176). Während dieses Seinsollen die Bewegung bis zum selbstbewussten Menschen zusammenhält, ist dieser, im Missbrauch seiner Freiheit, Schöpfer einer außergöttlichen Welt, sofern er die Potenzen wieder in Spannung setzt, ohne selbst in seiner partikularen Freiheit noch dessen Einheit im Seinsollenden zu sein, welche er nur in der gelassenen Willenlosigkeit des Gleichgewichts jenes wesensgemäßen Resultats hätte bleiben können (vgl. Schelling 1841/42, 199 f.). Da er sich an die Stelle Gottes setzte, hat er diese Welt für sich aber außer Gott gesetzt. Diese Welt des Menschen ist ihrer Herrlichkeit entkleidet, hat keinen in ihr selbst liegenden Einheitspunkt mehr, welcher der Mensch sein sollte. Nachdem jene Innerlichkeit verfehlt worden, in die die Welt gelangen sollte, ist sie der Äußerlichkeit hingegeben, wo das Einzelne seine Stellung als Moment verloren hat, und zufällig, sinnlos, außer dem Andern erscheint. […] Von dieser Welt, die vergeblich ihr Endziel sucht, 39 und jene falsche Zeit hervorbringt, die nie endet sondern immer entsteht, kann sich der Eine Mensch, der in uns Allen fortlebt, mit Recht den Urheber nennt. (Schelling 1841/42, 202; i. Orig. herv.)

Vgl. ferner Schelling 1841/42, 170 (ohne Schellings Hervorhebungen): »Der wahre Gott ist der lebendige; lebendig ist, was über sein Sein verfügt; lebendig ist der Gott, der aus eigener Macht aus sich herausgeht, ein Anderes von sich in seinem unvordenklichen Sein wird, verschieden von dem Sein, das er a se ist. Gott ohne diese Macht denken, heißt ihn der Möglichkeit jeder Bewegung berauben.« 39 Vgl. den Begriff der Rotation, Kap. II.3.2. dieser Arbeit. 38

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Das Sein ist wieder blind und zufällig geworden und darin zweifelhaft. Aber es ist Bewusstsein in dieser auseinander gefallenen Wirklichkeit, wenngleich ein nur partikulares. – Sofern dem sich seinem einheitlichen Wesen entfremdeten Bewusstsein ein zweifelhaftes Sein gegenübersteht, eröffnet sich die Möglichkeit, im fortgesetzten und, als notwendiger Entwicklung, geschichtlichen Zweifel auf jene verlorene Einheit hinzuführen – nur wird diese, solange der Zweifel anhält, selbst nie Wirklichkeit. Das große Zugeständnis an die Phänomenologie, das sich in diesem Berliner Gedankengang zunächst äußert (vgl. Schelling 1841/42, 254), richtet sich am Ende erneut gegen Hegel: Die Dialektik ist in ihrer Notwendigkeit im sich vollbringenden Skeptizismus nicht die Sache selbst, sie darf nicht ins Unendliche fortgehen (sie schreitet nur so weit fort, wie ein zweifelhaftes Sein zum Nächsten führt), sondern muss an ihrem Ende in einem Ereignis zugrunde gehen, das den Zweifel überwindet und, im Christentum als Offenbarung jener Einheit, nur im Glauben gegenwärtig sein könne. 40 Ebenso, wie die negative Philosophie in ihrer notwendigen Prozessualität im Möglichkeitsmodus der Vernunft auf den freien Anfang der positiven Philosophie führt (wenngleich sie ihn selbst nicht notwendig herbeiführen kann), zeigt an ihrem Ende die Mythologie den Punkt – sofern sie die scheinbare Zeit der im Bewusstsein auseinander gefallenen Einheit zur inneren Geschichtlichkeit überwindet –, an der jene Wirklichkeit in ihrem (sich in der zusammenhängenden Erfahrung eines tatsächlichen Geschehens offenbarenden) Wesen erkannt und in freier Tat ergriffen wird.

II.3.4. Die Überwindung der scheinbaren Zeit des Kronos als erzählte Vergangenheit im Mythos Die Mythologie kann sich aber, wie die Geschichte der Philosophie, erst dort überwinden, wo sie bereits selbst geschichtlich wurde, 41 Vgl. Schelling 1841/42, 254: »Das Denken muß etwas erreichen, wodurch es in Ruhe gesetzt wird. Zweifel findet statt in der Bewegung. Was nur Moment ist, hat einen Zweifel in sich, und schreitet zum Weitern fort, aber nicht ins Unendliche; in einem letzten Gedanken oder Ereignis wird der Zweifel besiegt. […] Die allen Zweifel aufhebende Gewissheit ist Glaube, und dieser daher das Ende des Wissens. Zuerst das Gesetz und dann das Evangelium! So muß die strenge Zucht der Wissenschaft dem Glauben vorangehen.« 41 Der Mythos wird aus einer Perspektive erörtert, der jener schon Vergangenheit ist. 40

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denn erst in der überschauenden Rekapitulation auf das Zugleich in allen Gegensätzen (auf das Erstrebte, aber nie Erreichte hin) wird der ursprüngliche Missbrauch der Freiheit und die Selbstwiederholung scheinbarer Zeit gegenständlich. Einem Bewusstsein, das in der scheinbaren Zeit steht, kann diese nicht gegenständlich werden (ihm geht die Zeit nicht über die Welt hinaus), sondern erst dort, wo sie als Vergangenheit gesetzt wurde. In der geschichtlich gewordenen Mythologie wird diese Zeit im Kronos-Mythos erzählt, 42 der, so Schelling, als ausschließlich herrschender Gott stets bildlos blieb (für die Griechen sei er der höchste Gott der fremden Phönizier gewesen; außerhalb des griechischen Horizonts sei er als Baal und Moloch allein herrschender Gott; vgl. Schelling 1841, 99). Kronos ist für Schelling 43 Sinnbild des formellen Monotheismus, d. i. die falsche Einheit des Bewusstseins (vgl. SW XII, 292), sofern das Seinkönnen sich zur Alleinherrschaft über das Sein ermächtigt hat, ohne selbst die seinsolDaher würde ich etwa Karl-Heinz Volkmann-Schluck wiedersprechen, der, in eigener hermeneutischer Absicht, der schellingschen Herangehensweise an den Mythos einen ungebrochenen Willen des Menschen zur Wahrheit unterstellt, der im Mythos offenbar werde (vgl. Volkmann-Schluck 1969, 112). – Wäre diese Methode aber nicht selbst ein unhinterfragtes Wissenwollen (ohne Wissen, was es will), sofern man nicht das Seinsollen der Freiheit veranschlagt? Auch bei Dietmar Hübner meine ich, dass dieser Vergangenheitscharakter (ganz im Sinne der Weltalter) des Mythos zu wenig beachtet wird – auch wenn Hübners Ausdruck der schellingschen Mythologie als »erzählbare[n] Teil[s] der Entwicklung des Absoluten« (Hübner 2011, 133) diese Dimension vielleicht miteinschließt. – Stark ist hier aber die Entgegensetzung der schellingschen Mythologie-Auffassung zur hegelschen gezeichnet: Während Schellings Ende der Geschichte den Ausblick auf eine zukünftige, vom bisherigen Gang qualitativ unterschiedene Vervollkommnung freigibt, ist Hegel die Geschichte selbst der Gang der Vervollkommnung (vgl. Hübner 2011, 180). Geschichtlichkeit ist in ihrer Dialektik bei Schelling, so der bisherige Gang unserer Argumentation, immer unter dem Vorzeichen der Entfremdung, im Modus der Verkehrung des Wahren stehend – ganz im Gegensatz zur einen Vernunft und einen Wirklichkeit des hegelschen Systems absoluter, sich mit sich zusammenschließender Negativität. 42 Vgl. SW XII, 292: »Nämlich ist er nicht etwa, wie dieß insgemein verstanden wird, Gott der wirklichen Zeit, im Gegentheil ist er der die wirkliche Zeit verneinende, der für sich die Zeit abweisende, nicht in die Zeit wollende. Indem er selbst nicht zur Vergangenheit werden will, hindert er den Aufschluß in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, d. h. in wirkliche Zeit; denn wirkliche Zeit ist nur gesetzt, indem uno eodemque actu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesetzt werden, d. h. wirkliche Zeit gibt es erst indem irgend etwas als Vergangenheit gesetzt wird; er ist also nur der Gott der chaotischen, ihre Geburten immer wieder verschlingenden Zeit; er ist die mit der Zeit allerdings ringende, aber sie nicht zugebende Simultaneität«. 43 Man vergleiche dagegen die hegelsche Deutung des Mythos in Kap. I.4.2.1.

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Positive und negative Philosophie

lende Einheit zu sein, und daher ohne Anfang und Ende in beständiger Rotation sich selbst in seinem verborgenen Wesen als der verlorenen Einheit zu fassen sucht, aber nicht fassen kann (vgl. Schelling XII, 292). Das objektive Sein bleibt dem Bewusstsein wieder als blindes Sein gegenüber stehen, hinter welches die auf sich selbst gestellte Potenz in seinem Wollen nicht zurückgreifen kann. Das im Bewusstsein zum alleinigen Zweck aufgestiegene Seinkönnen bleibt im Zugriff seines Wollens in steter Wechselbestimmung zum Seinmüssen, das sich in jedem Schritt erneut setzt und wieder überwunden werden muss, ohne dass je eine wirkliche Einheit herbeigeführt werden könnte (denn in jener Bewegung wird sie nur einseitig hergestellt, ohne das Sein in seinem Wesen in den Blick zu bekommen), so dass die ganze Bewegung unablässig in sich kreist und sich selbst wiederholt: als Inbegriff hegelscher Wechselbestimmung. Den Griechen aber differenziert er sich nach seinen (den Potenzen Schellings parallelen) drei Söhnen Aides, Poseidon und schließlich Zeus, welcher als seiner selbst vollkommen mächtiges und reales, in aller Ungleichheit sich gleich bleibendes Wesen als Dritter die Einheit herstellt und den Progress zu seinem notwendigen Ende führt (vgl. SW XII, 589–606). Eine solche Überwindung der scheinbaren Zeit zur Geschichtlichkeit – die selbst noch keine wahre Zeit ist, aber bis zu ihrem letzten notwendigen Punkt auf ihre Verwirklichung hinführt – ist weder eine logische noch eine ästhetische, wie das Verhältnis zwischen griechischer Götterwelt und der Zeit des Kronos bei Hegel bestimmt wurde. Erst dadurch, dass ein freies Selbstbewusstsein sein soll, und zwar nicht nur im Menschen, sondern in der gesamten Natur, 44 kann Seinkönnen und Seinmüssen in eine Einheit gebracht werden. – Aus einer hegelschen Perspektive wiederum ist dies keine Lösung. Jenes Sollen könne entweder nur aus reiner Willkür entworfen werden, oder im Rückgriff auf eine unverwundene Vergangenheit als Pathos gegen die Vgl. SW VII, 351: »Der Gedanke, die Freiheit einmal zum Eins und Alles der Philosophie zu machen, hat den menschlichen Geist überhaupt, nicht bloß in Bezug auf sich selbst, in Freiheit gesetzt und der Wissenschaft in allen ihren Theilen einen kräftigern Umschwung gegeben als irgend eine frühere Revolution. Der idealistische Begriff ist die wahre Weihe für die höhere Philosophie unsrer Zeit und besonders den höheren Realismus derselben. Möchten doch die, welche diesen beurtheilen oder sich zueignen, bedenken, daß die Freiheit die innerste Voraussetzung desselben ist; in wie ganz anderm Licht würden sie ihn betrachten und auffassen! Nur wer Freiheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten.«

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wirkliche Gegenwart als Oberfläche und Schein aufstehen (die gegenüber Kreon zur Unterwelt hinab zeigende Antigone), welcher sich bereits im ersten Moment der Verwirklichung wiederaufhebt – beides nur den einen Schritt eines vollständigen Aufgebens des Dialogs vom Bösen entfernt. Tatsächlich kann die Frage nach der Berechtigung der schellingschen Gegenposition zu Hegel nur eine moralische sein, nämlich die nach der Wirklichkeit der Freiheit – welche sich des Vorwurfs zu erwehren hat, in ihrem Grunde bloß ästhetische, nur in der Flucht selbstbezügliche Erhabenheit gegen die allseitige Negativität allen Daseins zu sein.

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III. Kierkegaard

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III.1. Der Gegensatz von Zweifel und Verzweiflung

III.1.1. Kierkegaards Position zu Hegel Im Gegensatz zu Schelling setzt Kierkegaards Hegelkritik zu einem Zeitpunkt ein, als Hegels Rolle in der zeitgenössischen Philosophie bereits im Schwinden war und Schellings Hegelkritik in der Öffentlichkeit bereits ihre Wirkung zeigte. Kierkegaard selbst nahm als junger Magister, zu Beginn seiner Arbeit an Entweder/Oder 1841/42, an den Berliner Vorlesungen Schellings zur Philosophie der Offenbarung teil. Obwohl er sich, nach anfänglicher Begeisterung (vgl. Schelling 1841/42, Anhang III, 530 f.), enttäuscht von Schelling abwandte und die Vorlesungen noch vor ihrem Ende abbrach, 1 hatte dessen dort vorgestellte Unterscheidung einer positiven Philosophie der Wirklichkeit von einer negativen im Möglichkeitsmodus der Vernunft großen Einfluss auf Kierkegaards Philosophie im Allgemeinen und seine Hegelkritik im Besonderen. 2 Dazu hatten auch andere von Schelling beeinflusste Hegelkritiker – hier ist insbesondere Trendelenburg zu nennen 3 – ihre Wirkung auf Kierkegaards Urteil, gerade im Hinblick auf seine umfassende Hegelkritik in der UnwissenschaftKierkegaards Mitschriften enden am 3. Februar 1842 mit der 41. Vorlesung – also mitten in Schellings Rekapitulation seiner Philosophie der Mythologie; vgl. Schelling 1841/42, 466 f. (Anhang II). Am 27. Februar kündigt er schließlich seine sofortige Abreise nach Kopenhagen an (vgl. Schelling 1841/42, 533 f.). 2 Kierkegaard besaß übrigens auch die bereits erwähnte Vorrede Schellings zu den Werken Cousins, ferner besaß er auch einige von Schelling publizierte Monographien, darunter auch die Freiheitsschrift, welche in der Forschung zum Verhältnis Kierkegaards zu Schelling (insbesondere im Hinblick auf Der Begriff Angst) eine zentrale Stelle einnimmt; vgl. Olsen 2003, 61–65. 3 Trendelenburg gehörte ebenso zu den Hörern Schellings in Berlin (vgl. Schelling 1841/42, 9). Kierkegaard selbst verweist auf seine Beeinflussung durch die Logischen Untersuchungen; vgl. AUN1, 102 f. (dazu Anm. 259 d. Hg., AUN1, 317). Allerdings nahm Kierkegaard Trendelenburgs Kritik erst nach der Wiederholung von 1843 zur Kenntnis; vgl. Papirer II., VIII A18. 1

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lichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken von 1846. Obwohl Kierkegaard sich bereits in seinem Studium intensiv mit dem Werk Hegels auseinandergesetzt hat, ist der Zugriff der Kritik in seinen veröffentlichten Schriften kein unmittelbarer mehr – und zwar gerade dort, wo er ihm logisch-immanente Fehler der Methode nachzuweisen sucht. Auch in der Polemik steht er seinen Vorgängern in nichts nach, wenngleich sich hier oft die Frage stellt, ob nicht eher deutsche und dänische Hegelianer (vor allem unter den Theologen) das vornehmliche Objekt der Kritik sind. 4 Was Kierkegaard aber an Hegel wie kein Zweiter eingesehen hat, ist die methodische Bedeutung des hegelschen Unendlichkeitsbegriffs als Figur eines gelingenden Selbstbezugs in einem dialektischen Verhältnis bzw. der schlechten Unendlichkeit als Gegenwartslosigkeit fortgesetzter Selbstverfehlung im Wiedereinholen seiner Unmittelbarkeit. In der synthetischen Struktur, die der Mensch als Geist bei Kierkegaard im Existieren bildet, 5 hat jede einseitige Verfehlung des dialektischen Zugleichs nicht nur Konsequenzen für die je indiviVgl. hierzu Stewart 2003. Stewart plädiert hier eindringlich für eine Neubewertung des Verhältnisses Kierkegaards zu Hegel in der Forschung. Lange wurde hier die Meinung vertreten, das Verhältnis sei dasjenige zweier Antipoden des 19. Jahrhunderts, die in absoluter Diskontinuität zueinander stünden, insbesondere vertreten durch Thulstrup 1972. – Eine Ansicht, gegen die sich auch die vorliegende Arbeit wendet (allerdings auch gegen Stewarts Hauptthese, dass sich Kierkegaards Hegelkritik, bei aller auch von Stewart bestätigten intensiven Kenntnisse der hegelschen Philosophie, in erster Linie nicht gegen diesen, sondern gegen die zeitgenössische Riege dänischer Hegelianer richtete). Als wichtige Ausnahmen zu jener Richtung sind hier vor allem zu nennen: Taylor 1980 sowie Theunissen 1991 u. Theunissen 1993. Die These Theunissens, dass Kierkegaards Analyse der Verzweiflung in ihrer Methode deutlich nach dem Vorbild hegelscher Dialektik gefasst ist, wird von mir grundsätzlich bestätigt, insbesondere im Hinblick auf die verschiedenen Formen der Verzweiflung in der Krankheit zum Tode. Allerdings kann man diese Verbindung noch enger sehen, wenn man nämlich auch das Verhältnis der Seiten in der scheiternden Synthese des Selbst (dadurch, dass es von einem Einzelnen notwendig einseitig gesetzt wird) in aller Konsequenz dialektisch denkt. Dies tut etwa Kaufmann 2002; – sie wendet zu Recht gegen Theunissen ein: »Die Totalisierung des Zweifels besteht […] nicht in einer symmetrischen Oszillation zwischen zwei Möglichkeiten, sondern darin, daß eine Festlegung versucht wird, obwohl eigentlich die Unmöglichkeit dieses Unterfangens erkannt ist. Der verbleibende Zweifel besteht in dem besagten dialektischen Rest, der den Menschen stets an einer eindeutigen Festlegung seiner selbst aus sich heraus hindert« (Kaufmann 2002, 128). – Dies eine ausgesprochen hegelsche Denkart, jegliche einseitige Setzung als Verfehlung eines übergreifenden dialektischen Verhältnisses zu begreifen, in der das Negierte und Ausgeschlossene stets anwesend bleibt. 5 Vgl. BA, 39–44, ferner KT, 8 f. 4

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Der Gegensatz von Zweifel und Verzweiflung

duelle Weise des Existierens: Sie stellt das Grundverhältnis dar, in welchem sich der Mensch als Existierender von Beginn an wiederfindet 6 (ebenso wie die scheinbare Zeit Schellings ist dieser Beginn selbst nicht unmittelbar, sondern Folge einer Tat – und liegt somit in der Schuld des Menschen –, welche der Gegenwart des Existierens als positiver Wirklichkeit immer schon zugrunde liegt). Gerade Hegel aber, der diese Figur in seiner Logik so prägnant formulierte, sei darin gescheitert, die schlechte Unendlichkeit in Abkehr von der in seinem Grunde paradoxen Struktur des Existierens in einem abstrakten System absoluter Immanenz des Denkens zu überwinden: Noch im dialektischen Zugleich der hegelschen Methode setze sich die fortgesetzte Gegenwartslosigkeit leerer Dauer fort, als deren Überwindung in selbstbezüglicher Geschichtlichkeit sie sich gebe. Die Kritik an der schlechten Unendlichkeit (für Kierkegaard bezeichnenderweise eine moralische Wertung innerhalb eines logischen Systems implizierend) sei das schlechte Gewissen des hegelschen Denkens in seinem vergeblichen Versuch, jenes Paradox im unendlichen Hinaus logischer Notwendigkeit zu überwinden: Die schlechte Unendlichkeit ist der Erbfeind der Methode, sie ist der Kobold, der mitzieht, sooft ein Umzug (ein Übergang) stattfindet, und den Übergang verhindert. Die schlechte Unendlichkeit hat ein unendlich zähes Leben; soll sie überwunden werden, so gehört ein Bruch, ein qualitativer Sprung dazu; und dann ist es aus mit der Methode, mit der Kunst der Immanenz, und der Notwendigkeit des Übergangs. Daraus ist zu erklären, daß die Methode so unerbittlich ist […]. Fehlt im übrigen dem System eine Ethik, so ist es dafür mit Hilfe der Kategorie »die schlechte Unendlichkeit« ganz und gar moralisch, und zwar so überspannt moralisch, daß es diese Kategorie sogar in der Logik gebracht. 7

Kierkegaards ureigenste Hegelkritik zielt auf die immanente Selbstüberwindung der hegelschen Reflexion zur wahren Unendlichkeit. Wie zuvor gesehen entspricht dies der Figur des sich vollbringenden Skeptizismus als Gang der Phänomenologie und Weg zur absoluten Wissenschaft. Erst der konsequenteste und stets an sich festhaltende Zweifel an allem Positiven bringt jene Erschütterung vor dem absolut Vgl. etwa die verschiedenen Kapitelüberschriften der KT zur Verzweiflung im synthetischen Verhältnis menschlichen Existierens, die jeweils den Akzent auf die Einseitigkeit der Verfehlung setzen (Verzweiflung an der Möglichkeit ist Mangel an Wirklichkeit und vice versa, Verzweiflung der Zeitlichkeit ist Mangel an Ewigkeit etc.). 7 AUN2, 41 f. 6

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III. Kierkegaard

Negativem mit sich, welches im geschichtlichen Fortgang der Methode die Gewissheit und wahre Unendlichkeit der zugrunde liegenden Vernunft in der fortgesetzten Negativität allen endlichen Daseins (als ihr eigener Vollzug) verwirklicht. 8 Diese Selbstüberwindung des Zweifels erklärt Kierkegaard für unmöglich. Schlimmer noch: Indem Hegel den sich vollbringenden Skeptizismus in seiner letzten Konsequenz als Verzweiflung fasst, gebe er durch eine Vermischung verschiedener Sphären 9 seiner Methode den Anschein, sie sei in der Lage durch logisches Denken eine existentielle Kategorie in ihrer Wirklichkeit nicht nur zu beschreiben, sondern herbeizuführen. 10 Zwar bestreitet Kierkegaard nicht, dass allem Zweifel eine Gewissheit zugrunde liege (er kritisiert gerade an Hegel, dass dieser sie methodisch nicht als etwas Positives einholen könne), jedoch hypostasiere sie sich niemals in der Immanenz des Zweifelns. – In erster Linie ist dieser Einwand aber selbst kein logischer, sondern ein christlicher: Das hegelsche Denken empört Kierkegaard gerade dort, wo es sich selbst als philosophischen Begriff christlicher Wahrheiten versteht. Ich kann nicht umhin, ich muß auf diesen Punkt zurückkommen, weil er so entscheidend ist; falls es so ist, daß der Zweifel sich selbst überwindet, daß man dadurch, daß man an allem zweifelt, in diesem Zweifeln gerade die Wahrheit gewinnt ohne einen Bruch und ohne einen absolut neuen

In seiner Kritik an der hegelschen Methode als sich vollbringendem Skeptizismus scheint Kierkegaard vor allem eine Stelle aus der Geschichte der Philosophie vor Augen zu haben: »[E]s ist Verwirrung, mit der die Philosophie überhaupt anfangen muß und die sie für sich hervorbringt; man muß an allem zweifeln, man muß alle Voraussetzungen aufgeben, um es als durch den Begriff Erzeugtes wiederzuerhalten« (GeschPh I, TWA 18, 466 f.). 9 Lore Hühn weist in diesem Zusammenhang der ›Sphärenunterscheidung‹ zwischen Zweifel und Verzweiflung zurecht darauf hin, dass hier »augenfällig [sei], wie sehr die Schellingsche Sphärenunterscheidung zwischen dem Möglichen und Wirklichen Kierkegaard quasi zur zweiten Natur geworden ist, ja wie selbstverständlich er von ihr Gebrauch macht, wo er doch erst gar nicht darauf verfällt, diese Unterscheidung als Hintergrund seiner Hegel-Kritik und Grundlegung seiner eigenen Existenzphilosophie offen zu legen« (Hühn 2009, 148). 10 Allerdings ist der hegelsche Begriff der Verzweiflung wohl nicht eindeutig festgelegt, jedenfalls dann, wenn man neben den Begriff aus der Phänomenologie denjenigen der (allerdings nicht seriös edierten) Einleitung zur PhRel I, TWA 16, 56 stellt, wo die Verzweiflung als »die einseitig durchgeführte Versöhnung« gefasst wird. – Ein Satz, der so auch in Kierkegaards Krankheit zum Tode stehen könnte, nur dass hier bei Hegel die Versöhnung (und so ist derselbe Gegensatz wieder zwischen beiden vorhanden) durch Erkenntnis gestiftet wird. 8

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Der Gegensatz von Zweifel und Verzweiflung

Ausgangspunkt, so läßt sich keine einzige christliche Bestimmung halten, dann ist das Christentum abgeschafft. 11

Bereits in Entweder/Oder setzt der Ethiker B diesbezüglich eine strikte Sphären-Trennung: Zweifel sei des Gedankens Verzweiflung, Verzweiflung hingegen der Persönlichkeit Zweifel. 12 Zwar ist auch im Zweifel ein Denkender anwesend, allerdings abstrahiert er im Zweifel gerade von seiner Persönlichkeit, um den in seinem endlichen Dasein zweifelhaften Gegenstand objektiv und in seiner Notwendigkeit denken zu können. Er selbst tritt im Zweifel niemals in seiner Wirklichkeit als Tätiger zutage. Selbst wenn der fortgesetzte Zweifel in seinem Resultat auf ein Absolutes schließen würde, so wäre dieses in seiner logischen Notwendigkeit nicht die Wiederherstellung des Denkenden in seinem Selbstbezug (dasselbe Ergebnis, zu dem Schelling in der Selbstkritik seiner Naturphilosophie kam – allerdings auf das Absolute bezogen). 13 Die Verzweiflung hingegen ist Entscheidung als Tat des Einzelnen, insofern mit ihr eine Wirklichkeit gesetzt wird, in der sich die Persönlichkeit gänzlich einbringt (gerade im Hinblick auf das synthetische Selbstverhältnis des Menschen, wie es später in den Schriften Der Begriff Angst und Die Krankheit zum Tode gefasst wird, ist jede Entscheidung, die das Selbst trifft, in seiner einseitigen und darin verfehlten Konkretion als Verzweiflung zu verstehen). Bei aller Vielfalt der Bestimmungen, welche der sich vollbringende Skeptizismus auch durchlaufen mag, lenkt diese bunte Mannigfaltigkeit von der Wirklichkeitslosigkeit und dem Fehlen eigentlicher (d. i. geschichtlicher) Bewegung ab: Denn es ist immer noch ein Zweifelnder, der das Zweifeln beginnt und gegebenenfalls in einem Resultat enden lässt, d. h. ab einem gewissen Punkt zu zweifeln aufhört. – Der Zweifler, so der Ästhetiker A, gleiche hierin im beständigen Wiederholen ein- und desselben (d. i. durchgehaltenen) Zweifels einem Kreisel, der nur durch fortgesetzte Schläge auf der Spitze bleibt, aber nicht selbst zu stehen in der Lage ist. 14 Jener ethischen Entschiedenheit, die in ihrer AUN2, 38 f. Anm. Vgl. EO2, 225. 13 Vgl. EO2, 225. 14 Das Bild des Kreisels findet bei Kierkegaard ebenfalls Anwendung auf das Dämonische (wenngleich ohne die Beigabe fortgesetzter Schläge); vgl. BA, 134. Hier wie dort bietet diese Bewegung in ihrer kreisenden Geschichtslosigkeit das Bild absoluter Langeweile. – Eigentlich ja ein wunderbares Bild für das unglückliche Bewusstsein (sofern hier auch tatsächlich eine Verbindung besteht – parallele Strukturen sind bei 11 12

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III. Kierkegaard

geschichtlichen und konkreten Wirklichkeit moralischer Wertung unterliegt – da sich hier ein Selbst als konkrete und verantwortliche Persönlichkeit in der Zeit eines Maßstabs des Ewigen gewärtig ist –, steht die Indifferenz und Ungeschichtlichkeit des Zweifels gegenüber, dessen Bewegung sowohl ästhetisch als auch abstrakt-vernünftig begründet sein kann. Während ein ästhetisches Bewusstsein sich zur Welt im Verhältnis des gleichgültigen Spiels bewegt, kennt die der Logik ihrer reflektierten Negativität folgende Vernunftphilosophie zwar eine Welt-Geschichte (zusammenhängender Momente), in ihrer Notwendigkeit dieselbe aber stets nur als Vergangene, deren Gegensätze sie im Hinblick auf ihr Resultat nachträglich zu vermitteln hat; – als Objektivität betrachtet sie die Welt auf eine Weise, in der es nirgends ein Entweder/Oder gegeben hat. 15

III.1.2. Die Philosophischen Brocken Sowohl der Zweifel als auch die Verzweiflung bezeichnen ein fortwährendes Missverhältnis zur Wahrheit: Der Zweifel im Gebiet des objektiven bzw. abstrakten Denkens, die Verzweiflung dort, wo das Subjekt in seiner Wirklichkeit akzentuiert wird. Unter dem Pseudonym des Zweiflers Johannes Climacus, der, im Gegensatz zu Anticlimacus, nicht von einer dogmatischen Wahrheit ausgeht, sondern philosophische Probleme als Denkprojekte stellt, verfasste Kierkegaard zwei Schriften, welche sich um dieses Problem drehen: die Philosophischen Brocken und die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift. Der erstgenannten steht eine fest umrissene Problemstellung voran: »Kann es einen geschichtlichen Ausgangspunkt geben für ein ewiges Bewußtsein; inwiefern vermag ein solcher mehr als bloß geschichtlich zu interessieren; kann man eine ewige Seligkeit gründen auf ein geschichtliches Wissen?« 16 Das ›Denkprojekt‹, das sich aus diesem Problem ergibt, führt im Hinblick auf das Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit auf die Frage, inwiefern die Wahrheit gelernt werden könne. 17 Die philosophische Schwierigkeit dieser Frage Kierkegaard jedenfalls, wie später gezeigt wird, nachweisbar): ein Kreisel, der sich nur in ständiger und immer derselben Bewegung auf seiner Mitte aufrechtzuhalten vermag. 15 Vgl. EO2, 181–185. 16 PB, 1. 17 Vgl. PB, 7.

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Der Gegensatz von Zweifel und Verzweiflung

habe Sokrates herausgestellt: Der Wahrheitssuchende könnte weder nach etwas streben, das er weiß, noch nach etwas, von dem er nichts weiß. Die Konsequenz, die er, und nach ihm die griechisch-platonische Tradition, gezogen habe, sei, dass alles Lernen ein Erinnern sei. 18 Obwohl logisch nicht widerlegbar, sei aber, so Climacus, auf diese Weise keine Geschichtlichkeit zu denken. Jeder Ausgangspunkt des Übergangs von Nichtwissen zum Wissen in der Zeit bleibt gegenüber der in ihm erlernten ewigen (objektiven) Wahrheit zufällig und als bloße Veranlassung ein Verschwindendes. Gegenüber der Ewigkeit ist jeder Augenblick ein Nichts, sodass, da jeder die Wahrheit habe, sich ihrer als Vergessener nur nicht bewusst sei, kein Entweder/Oder möglich ist, es also keine Entscheidung zur Wahrheit geben kann. 19 Gegenüber diesem geschichtslosen Regress im Denken, das in seiner Notwendigkeit auf die Wahrheit führe (so die an Sokrates anknüpfende Tradition), muss eine Philosophie, die das Subjekt als entscheidend für sein Verhältnis zur Wahrheit akzentuiert, den Punkt des Erkennens der Wahrheit als Augenblick fassen, in dem erst ein Ewiges entsteht, das vorher nicht war. Wenn dieser Augenblick Wirklichkeit haben soll, muss das Subjekt sich nicht allein in der Unwissenheit befinden (dann wäre der Augenblick nur zufällige Veranlassung zum Wissen), es muss zuvor der Bedingung zur Wahrheit durch eigene Tat verlustig gegangen sein und sich »polemisch« 20 zur Wahrheit verhalten. Die Entscheidung muss das Subjekt in seiner ganzen Wirklichkeit verändern, d. h. einen einmaligen Übergang von Nichtsein in Sein herbeiführen. 21 Der Augenblick als Entscheidung der Ewigkeit in der Zeit ist ein logisches Paradox. Die Geschichtlichkeit des Ewigen, wie sie der christlichen Wahrheit entspricht, kann daher nur in der Ungewissheit des Glaubens ergriffen werden. Aber erst in diesem Paradox kann sich jene Wirklichkeit des Subjekts in seiner individuellen Persönlichkeit und Verantwortlichkeit vor der ewigen Wahrheit im Bewusstsein hypostasieren. Solange der Denkende an der immanenten Kontinuität des Denkens in seiner Notwendigkeit festhält (wie es sowohl im ne-

Vgl. PB, 7. Vgl. PB, 9–11. 20 PB, 13. 21 Dies sei der Sinn des christlichen Augenblicks als »Fülle der Zeit« (Gal. 4,4) im Gegensatz zur griechischen Veranlassung, vgl. PB, 18 f. 18 19

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III. Kierkegaard

gativen Zweifel wie im auf eine positive Wahrheit gerichteten Erkennen als anamnesis der Fall ist), wird das Sein nur als Wesen, aber nicht in seine Wirklichkeit erfasst. 22 Warum ist dies so? – Wenn man im Hinblick auf die Zeit nach dem Wesen oder der Wirklichkeit des Seins fragt, erhält man nach Climacus zwei unterschiedliche Bewegungen: eine bloße Veränderung desselben Seins nach seiner Möglichkeit und, auf der anderen Seite, ein Werden als Übergang von Nichtsein in Sein, d. i. Übergang von Möglichkeit in Wirklichkeit. 23 Anders als in der aristotelisch(-hegelschen) Formel 24 sei nun die Notwendigkeit keineswegs Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit; denn das Notwendige verändert sich nicht, es verhält sich in seiner Immanenz stets nur zu sich selbst: Das Notwendige ist (dies ist sein Wesen). 25 Dies ist der Grund, warum das logische Denken am qualitativen Übergang scheitern muss – es erfasst das Sein stets nur in seinem Resultat, welches eins ist mit seiner Notwendigkeit. Hier kann nirgends ein Werden, also eine Geschichtlichkeit im eigentlichen Sinne sein, da ein Übergang nur in Freiheit gedacht werden kann, die für den Verstand ein Paradox darstellt. In Hegels systematischer Betrachtung der Geschichte werde diese Unmöglichkeit eines Übergangs dadurch überdeckt, dass die konkrete Fülle der Geschichte in ihrem Gewordensein in vielfältiger und zerstreuender Weise eine Vielzahl von (sokratischen) Anlässen zur Bestätigung ein und derselben Methode bietet. 26 Vgl. PB, 40 Anm.; i. Orig. Herv.: »[S]obald ich ideell von Sein spreche, spreche ich nicht mehr von Sein, sondern vom Wesen.« 23 Vgl. PB, 69 f. 24 Kierkegaard bezieht sich hier zwar vordergründig auf Aristoteles, allerdigs ist diese Interpretation stark durch Hegels Lesart des Aristoteles geprägt, vgl. hierzu Anm. 159 d. Hg., PB, 184. 25 Vgl. PB, 70. 26 Vgl. PB, 74 f. Anm.: »Die absolute Methode, welche Hegels Erfindung ist, ist schon in der Logik eine schwierige Sache, ja eine gleißende Tautologie, welche dem wissenschaftlichen Aberglauben zu Diensten gewesen ist mit mancherlei Zeichen und wunderlichen Taten. In den historischen Wissenschaften ist sie eine fixe Idee, und der Satz, die Methode beginne sogleich damit konkret zu werden, da die Geschichte ja die konkrete Fülle der Idee sei, hat Hegel zwar Veranlassung gegeben eine seltene Gelehrsamkeit zu zeigen, eine seltene Macht den Stoff zu gestalten, worin durch ihn reichliche Bewegung gekommen ist […]. Warum doch wurde man sogleich konkret, warum begann man sogleich in concreto zu experimentieren, oder ließe sich etwa in der leidenschaftslosen Kürze der Abstraktion […] die Frage noch nicht beantworten, was es heißen wolle, daß die Idee konkret wird, was Werden ist, wie man sich zu dem Gewordenen verhält usw., ebenso wie schon in der Logik es sich hätte beantworten 22

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Der Gegensatz von Zweifel und Verzweiflung

Eine Möglichkeit wird aber von Climacus offen gelassen: Das Werden kann selbst eine Verdopplung in sich enthalten, wenn es in sich noch eine weitere Möglichkeit des Werdens birgt. Dies sei Geschichtlichkeit im eigentlichen Sinne zu nennen, da das Werden hier in jedem Moment noch auf eine schlechthin freiwirkende Ursache verweist, die das Subjekt des Werdens in seiner Freiheit selbst noch bedingt. 27 Auf diese Weise hat alles Geschehen im Hinblick auf die Zeit in sich mehrere Ebenen – es ist nicht willkürliches Auseinanderfallen gleichgültiger Momente, aber ebensowenig eine ins Endlose fortgesetzte Wiederholung seiner selbst. In dieser Doppeltheit (als Mehrschichtigkeit) sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voneinander unterschieden, das in der Entscheidung gesetzte Vergangene aber noch als Wirklichkeit zugegen, sofern es für die Gegenwart bedeutsam ist. 28 – Objektiv betrachtet ist eine solche Unterscheidung nicht zu treffen, weil im Möglichkeitsmodus der Vernunft nur das Wesen erkannt wird, das Dass in allem Geschehen aber, wie es im Augenblick der Entscheidung gesetzt wird, ungewiss bleibt. 29 Die erinnernde (anamnetische) Betrachtung der Geschichte von ihrem Resultat her unterliegt der Illusion, dass das Vergangene von Ewigkeit her gewesen ist und so gewesen sein musste; 30 sie schließt von der Gewissheit des Gewordenen auf die Notwendigkeit des Vergangenen. Während ein Historiker, der alle Gegenwart in ihrem Gewordensein und damit ihrer Ungewissheit ernst nimmt, einem rückwärtsgewandten Propheten 31 gleicht, wiederholt die teleologische Betrachtung der Geschichte immer nur dasselbe Ist des Resultats: [A]ber in jedem solchen [teleologischen Voranschreiten] gibt es jeden Augenblick eine Pause (hier steht die Bewunderung in pausa und harrt des Werdens), die Pause des Werdens und der Möglichkeit, eben weil das Ziel außerhalb liegt. Ist nur ein Weg möglich, so ist das Ziel nicht außerhalb, sondern im Fortschreiten selbst, ja in seinem Rücken, so wie beim immanenten Fortschreiten. 32

lassen, was Übergang heißen will, ehedenn man dazu überging drei Bände zu schreiben, in denen man den Übergang nachwies an den kategorischen Bestimmungen«. 27 Vgl. PB, 72–74. 28 Auch das mag nebenbei, auf die Krankheit zum Tode angewandt, Kristin Kaufmanns Gegenthese zu Theunissen untermauern, vgl. Kap. III.1.1. Anm. 4. 29 Vgl. PB, 74 f. 30 Vgl. PB, 74. 31 Vgl. PB, 76; ferner dazu Anm. 171 d. Hg., PB, 186. 32 PB, 77.

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III.2. Ethisches Interesse und ästhetischphilosophische Gleichgültigkeit

III.2.1. Die Hegelkritik der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift Die nach Entweder/Oder umfangreichste Schrift Kierkegaards trägt den Untertitel »Existentieller Einspruch von Johannes Climacus«. 33 Sie nimmt den christlichen Anspruch Hegels beim Wort, wie er sich an erster Stelle in seiner Spinozakritik äußert: Spinozas System, so Hegel, sei antikes Denken geblieben, da es den Anspruch eines jeden Individuums als eines Einzelnen auf seine ewige Seligkeit nicht kenne, daher von selbstbezüglicher Einzelheit keinen Begriff habe und in der einseitigen Negativität seines Systems weder zur doppelten Negation gelingenden Selbstbezugs (d. h. unendlich auf sich selbst als Allgemeinheit bezogener Einzelheit) gelangt sei noch zur sich als Einzelnes verfehlenden doppelten Negation schlechter Unendlichkeit im gegenwartslosen Modus des Sollens auf dem ästhetischen Fundament des Erhabenen. 34 Diesen Anspruch eines unendlichen Interesses des Einzelnen, der durch das Christentum in die Welt gekommen sei, stellt Climacus als Problem an den Anfang der Nachschrift, allerdings nicht objektiv, sodass das Aufzeigen einer objektiven Wahrheit des Christentums für die Antwort entscheidend sein könne, sondern ganz subjektiv aus der Warte des – da auf sich selbst bezogen: ›unendlich‹ – Interessierten: »Wie ich, Johannes Climacus, der Seligkeit teilhaftig werden kann, die das Christentum verheißt.« 35 Dass die objektive LöDer vollständige Titel lautet: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Mimisch-pathetisch-dialektische Sammelschrift. Existentieller Einspruch von Johannes Climacus. Herausgegeben von S. Kierkegaard. 34 Vgl. hierzu Kap. I.1.1.2. 35 AUN1, 15. Vgl. hierzu GeschPh III, 165: »Dies ist im ganzen die spinozistische Idee. Es ist dasselbe, was bei den Eleaten das ὄν […]. Es ist die morgenländische Anschauung, die sich mit Spinoza zuerst im Abendlande ausgesprochen habe. […] Der Unterschied von der eleatischen Philosophie ist […] dieser, daß durch das Christen33

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Ethisches Interesse und ästhetisch-philosophische Gleichgültigkeit

sung vom Allgemeinen her gedacht – dessen Rückschluss in doppelter Negation aus der Besonderheit des Allgemeinen auf sich eben jene Einzelheit Hegels definierte – an dem Problem scheitern müsse, in entgegengesetzter Richtung vom Einzelnen her in seinem unendlichen Interesse das Verhältnis zum Ewigen herzustellen, bezeichnet den Vorwurf, um den sich dieser (nach den GW) knapp 640 Seiten starke ›existentielle Einspruch‹ dreht. Während die objektive Frage nach der Wahrheit des Christentums, nach Climacus, gegenüber dem Einzelnen gleichgültig ist (diese Wahrheit ist, der Moment des Erkennens dieser Wahrheit ist demgegenüber ein Verschwindender, ein Nichts in der Zeit), ist der Einzelne – vorausgesetzt die Wahrheit ist nicht einfach gegeben (dann stellte sich auch nicht die Frage nach ihr) – an seiner Seligkeit unendlich interessiert, und zwar in seiner Zeitlichkeit auf die Ewigkeit hin und nicht umgekehrt. Die spekulative, nichts voraussetzende (und darin auch nicht interessierte) Methode möge zwar dem Christentum, in dem sie es begrifflich durchdringt, ihr Einssein mit dem ewigen Gedanken der Methode attestieren (gleichgültig, ob diese objektiv dastehende Wahrheit von einem Existierenden angenommen wird oder nicht), 36 für das an seiner Seligkeit unendlich interessierte und in der Zeit existierende Individuum habe dies aber keinerlei Konsequenz: Von ihm müsse die Spekulation gerade absehen, um objektiv zu werden und das Problem sub specie aeterni 37 zu betrachten (als wenn der Existierende als interesseloser Betrachter selbst ewig wäre), während doch, vor dem Hintergrund des Problems der Philosophischen Brocken, dem Interessierten die Wahrheit des Christentums sich nur als verinnerlichte zeigen könne. 38 tum in der modernen Welt im Geiste durchaus die konkrete Individualität vorhanden ist. Bei dieser unendlichen Forderung des ganz Konkreten ist nun aber die Substanz nicht bestimmt als konkret in sich.« Vgl. ferner GeschPh III, 409: »Aber wohl ist an dieser Philosophie zu tadeln, daß Gott nur als Substanz, und nicht als Geist, nicht als konkret gefaßt wird. Somit wird auch die Selbstständigkeit der menschlichen Seele geläugnet, während in der christlichen Religion jedes Individuum als zur Seligkeit bestimmt erscheint. Hier dagegen ist das geistig Individuelle nur ein Modus, ein Accidenz, nicht aber ein Substantielles.« Übrigens wirft Kierkegaard Hegel gerade vor, dass in seiner Philosophie der Geschichte das Individuum doch ebenfalls nur Accidens sein könnte, worin immer erst die nächste Generation wüsste, ob man denn selbst glücklich gewesen sei; vgl. AUN1, 29 Anm. 36 Vgl. AUN1, 46 f. u. 48. 37 So die spinozistische Formel sub specie aeternitatis in AUN1, 73 (u. ö.). 38 Vgl. AUN1, 48. Vgl. hierzu ferner AUN1, 52 f.: »Aber für den Spekulierenden kann

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III. Kierkegaard

Die spekulative Vermittlung der Wahrheit kann so nur zwischen interesselosen Betrachtern stattfinden. Beide müssen hier davon abstrahieren, ihre Wirklichkeit in der Zeit zu haben, d. h. im Werden zu sein, um sich als Abstrakta gleich mit der Unendlichkeit bzw. Ewigkeit zu setzen, in der nur Gewissheit sein kann. 39 Diese Gleichsetzung spricht die Vernunft im Denkenden an, die eins sei mit der Notwendigkeit des Denkens: Sie ist das Ewige im Historischen 40 als Bestimmung ihrer Immanenz, die ihrer Wesensbetrachtung entspricht, sofern sie, so die Philosophischen Brocken, das Werden im Historischen ausblendet. – Das Wesen dieser Wahrheit des Historischen als Vergangenen (das ihm den Anschein des Notwendigen gibt) ist so eins mit der sokratischen Wahrheit, die nur als Erinnertes erkannt wird: Beide wiederholen stets nur sich selbst ohne Werden und ohne konkrete Geschichte als Voraussetzung ihres spekulativen Selbstbewusstseins. Der Unterschied aber ist der, dass gegenüber der Wahrheit Sokrates noch einen Lernenden veranschlagte, während die sich im Besitz der Wahrheit gefestigte Spekulation diese unmittelbar (in Paragraphen) mitteilen könne. 41 Dementgegen greift Climacus (und in ihm Kierkegaard in seinen pseudonymen Verschachtelungen) 42 auf die sokratische Maieutik zurück, sofern zwar jene Übersetzung in das Allgemeine, die jede Sprache mit sich bringt, den Angesprochenen als Denkenden einbezieht, dieser jedoch, sofern er die Wahrheit als Werdender verinnerlicht, angeleitet sein muss, sich selbst als Subjekt gedie Frage nach seiner persönlichen ewigen Seligkeit überhaupt nicht auftauchen, eben weil seine Aufgabe darin besteht, immer mehr von sich selbst wegzukommen und objektiv zu werden, indem er so vor sich verschwindet und das Schauvermögen der Spekulation wird. […] Aber sieh, die seligen Götter – das große Vorbild der Spekulanten – waren ja auch nicht besorgt um ihre ewige Seligkeit. Und so kam daher das Problem im Heidentum überhaupt nicht zum Vorschein. Das Christentum aber auf dieselbe Weise behandeln heißt ja bloß Vewirrung stiften. Da der Mensch eine Synthese des Zeitlichen und des Ewigen ist, ist ja die Seligkeit der Spekulation, die der Spekulant haben kann, eine Illusion, weil er in der Zeit nichts als ewig sein will.« 39 Vgl. AUN1, 73–76. 40 Vgl. AUN1, 90. 41 Vgl. AUN1, 64 f. Dies ist, wie in den Hegelkapiteln gezeigt, doch etwas kurz gegriffen: Die hegelsche Dialektik ist nicht etwas, das doziert und nachgesprochen werden kann, vielmehr muss das Verstandesdenken sich selbst überwinden, um dialektisch denken zu können – es würde ansonsten in seiner einseitigen Negation befangen bleiben und die hegelsche Philosophie etwa als eine Aneinanderreihung stehender Aussagen wahrnehmen. 42 Climacus spricht hier ebenfalls nicht von sich selbst, sondern von Lessing als Lehrer.

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Ethisches Interesse und ästhetisch-philosophische Gleichgültigkeit

gen diese Allgemeinheit zu isolieren. 43 In einem solchen Verhältnis zur Wahrheit aber kann es nirgends Gewissheit geben. Gewissheit kann nämlich nur im Modus der Ewigkeit gedacht werden, das einzelne Subjekt aber ist als Existierender werdend und als Lernender strebend, damit in der unablässigen Negativität seines Daseins. Der Einzelne sei zwar, als Selbst, dialektisch in der Negativität seines Daseins, aber gänzlich anders, als Hegel dies beschrieb: Der Existierende ist nun dialektisch als Selbst in seinem Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit bzw. Ewigkeit und Zeitlichkeit (sofern das eine eo ipso das andere nach sich ziehe) 44; als Existierender aber setzt er in seiner konkreten Wirklichkeit die ›Disjunktion‹ – der Verstand komme hintennach und setze aus der Einseitigkeit die Immanenz. 45 Diese zu überwinden tritt ja die hegelsche Dialektik des Zugleichs der Gegensätze tatsächlich an, nun sei aber, so Climacus, das Existieren vergessen worden und im reinen Sein die Versöhnung zwar tatsächlich herzustellen, nicht aber für den Existierenden. 46 Das Historische ist nur ewig als Notwendigkeit. Als Geschichte von Existierenden taugt die Weltgeschichte im Rückblick auf vergangenes Geschehen in teleologischer Vermittlung ihres gegenwärtigen Resultats für Climacus daher nicht. Und selbst wenn es eine objektive Wahrheit, sogar ein objektives System in ewiger Notwendigkeit gäbe, so sei der Übergang vom Historischen zum Ewigen, vom Existierenden zur Wahrheit doch immer ein Sprung und damit eine Kategorie der Entscheidung. 47 Dies ist jener ›garstige breite Graben‹ zwischen Vgl. AUN1, 65: »Die Reflexion der Innerlichkeit ist die Doppelreflexion des subjektiven Denkers. Denkend denkt er das Allgemeine, aber als existierend in diesem Denken und es erwerbend in seiner Innerlichkeit wird er immer mehr subjektiv isoliert.« 44 Vgl. AUN1, 86. Dieses dialektische Nachsichziehen des Anderen (das eine ist nicht ohne das Andere) entspricht dort dem Verhältnis von Positivität und Negativität, aber nicht etwa dem Verhältnis von Sein und Nichts (unmittelbar ist dort nämlich gar kein Verhältnis). 45 Vgl. AUN1, 87 f. 46 Vgl. AUN1, 85: »Der Denker, der das bei all seinem Denken mitzudenken vergessen kann, daß er existierend ist, erklärt das Dasein nicht, sondern er macht einen Versuch, damit aufzuhören, ein Mensch zu sein, einen Versuch, ein Buch zu werden oder ein objektives Etwas, was nur ein Münchhausen werden kann. Daß das objektive Denken seine Realität hat, leugne ich nicht, aber bei allem Denken, bei dem gerade die Subjektivität akzentuiert werden muß, ist es ein Mißverständnis. Ob ein Mann sich auch sein ganzes Leben lang nur mit Logik beschäftigt, so wird er deswegen doch nicht die Logik, so existiert er deshalb selbst doch in anderen Kategorien.« 47 Vgl. AUN1, 90 f. 43

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III. Kierkegaard

zufälligen Geschichtswahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten, 48 den auch Schelling bei Hegel zwischen Natur und Logik konstatierte – welcher wiederum bei Kierkegaard (wahrscheinlich auch bei Schelling, vgl. SW X, 154) auf Lessing zurückgeht. 49 Hier könne niemals ein logischer Übergang sein, sondern stets nur ein Sprung, der vom Subjekt des Denkenden selbst geleistet wird und, als Entscheidung, der Wirklichkeit angehört. Gegen die methodische Handhabung der verflüssigten Momente in der Logik kann von Climacus kein Einwand kommen, aber einen wirklichen Übergang zu denken, spricht er ihr ab – der Sprung ist »der entschiedenste Protest gegen den inversiven Gang der Methode«. 50 Wenn aber dem Einzelnen unmöglich ist, in jenem Zugleich der hegelschen Dialektik zu existieren, wie schafft es dann das Subjekt, jenes Ist der logischen Notwendigkeit doch als in sich bewegt zu denken? Trotz aller Anleihen von Trendelenburg (Unmöglichkeit eines Übergangs von Ruhe in Bewegung, vom reinen Sein zum Werden) und Schelling (teleologische Ausrichtung des abstrakten Anfangs der Logik auf die Konkretheit der erfahrenen Anschauung) geht der Kernvorwurf Climacus’ doch wieder auf die durch Hegel verwischte Unterscheidung von Zweifel und Verzweiflung zurück, wenngleich mithilfe der schellingschen Sphärentrennung von quid und quod in allem Sein: Möglich sei ein logisches System durchaus, aber kein System des Daseins. 51 Ein logisches System muss aber einen unmittelbaren Anfang haben (ganz gleich, ob dieser am Ende wieder eingeholt werden könne) – wie gelangt man nun zu einem solchen? Climacus durchdenkt beide Möglichkeiten, welche die Enzyklopädie § 78 bietet: die Selbstaufhebung des sich vollbringenden Skeptizismus (d. i. die sich selbst aufhebende Voraussetzung des Anfangs der Logik im reflektierten Gang des erscheinenden Bewusstseins der Phänomenologie) und, für Hegel aufs selbe hinauskommend, den Entschluss, rein denken zu wollen. Dass Hegel hier beides zu demselben Ergebnis kommen lässt, ist für Climacus (und Kierkegaard in allen seinen Vgl. AUN1, 90 f. WuB 8, 443 (Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft). Kierkegaard, der direkt aus der von Johann Friedrich Schink besorgten Berliner Ausgabe von 1825–1828 zitiert (vgl. Anm. 204 u. 213 d. Hg., AUN1, 315 zu AUN1, 88 u. 91), gibt folgende Passage auf deutsch wieder: »Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe« (AUN1, 91). 50 AUN1, 98. 51 Vgl. AUN1, 101. 48 49

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Ethisches Interesse und ästhetisch-philosophische Gleichgültigkeit

Schriften gleichermaßen) die Entlarvung des Wesens der hegelschen Methode. Der Entschluss zum reinen Denken, der Anfang mit dem abstrakten Selbstbezug des reinen Seins in seiner Unmittelbarkeit und das Umschlagen des fortgesetzten Zweifels in sein Gegenteil (Gewissheit) ist für Kierkegaard derselbe Versuch, die Endlosigkeit jeder einseitig gesetzten Reflexion des Verstandes an einem plötzlichen Punkt zum Stehen zu bringen – sonst wäre jene Unendlichkeit der Reflexion ja die ›schlechte‹ des endlosen Hinaus. 52 Ob Kierkegaard sich bewusst ist, dass der hegelsche Begriff schlechter Unendlichkeit gerade die logische Konsequenz jeglichen vorzeitigen Abbruchs der Reflexion ist? Zur Erinnerung: Jegliches Heraushalten einer Bestimmung aus der Negativität seines Daseins setzt zwar ein Sollen gegen das Sein, ist aber eben auch nur in diesem Gegensatzverhältnis und bleibt in seiner Wirklichkeits- und Gegenwartslosigkeit in beständiger Wechselbestimmung gegen sein Anderes, ohne sich je in seiner festgehaltenen Unmittelbarkeit selbstbezüglich wiederherzustellen. Dass hier, in der Frage nach der Selbstüberwindung der Reflexion in ihrer Negativität hin zu einer Positivität, der böse Punkt der schlechten Unendlichkeit als schlechtes Gewissen der Logik vorliege, deutet Climacus auch an dieser Stelle an, indem er auch hier den Finger auf die Vermischung eines logisches Begriffs mit ethischen Kategorien legt. 53 Worauf es aber ankommt, ist Folgendes: Vgl. AUN1, 106 f. Vgl. AUN1, 105 f.: »Wie bringe ich die Reflexion zum Stehen, die in Bewegung kam, um jenen Anfang zu erreichen? Die Reflexion hat nämlich die merkwürdige Eigenschaft, daß sie unendlich ist. […] Aber vielleicht ist diese Unendlichkeit der Reflexion die schlechte Unendlichkeit – dann sind wir ja bald fertig; denn die schlechte Unendlichkeit soll ein verächtliches Etwas sein, daß man je eher je lieber aufgeben muß. Dürfte ich aber nicht bei dieser Gelegenheit eine Frage aufwerfen? Woher kommt es wohl, daß Hegel und alle Hegelianer, die ja sonst Dialektiker sein sollen, in diesem Punkte böse, ja bitterböse werden? Oder ist das eine dialektische Bestimmung: die schlechte? Von woher kommt eine solche nähere Bestimmung in die Logik hinein? Wie erhalten Hohn und Verachtung und Schreckmittel in der Logik eine Stelle als erlaubte Mittel der Bewegung, so daß der absolute Anfang vom Einzelnen angenommen wird, weil er Angst hat davor, was Nachbar und Gegenüber von ihm denken werden, wenn er es nicht tut? Ist ›schlecht‹ nicht eine ethische Kategorie? Was sage ich damit, wenn ich von der schlechten Unendlichkeit spreche? Ich bezichtige das betreffende Individuum, daß es die Unendlichkeit der Reflexion nicht zum Stehen bringen will. Ich fordere also etwas von ihm? Aber echt spekulativ nehme ich andererseits an, daß die Reflexion sich selbst zum Stehen bringt. Weshalb fordere ich dann etwas von ihm? Und was fordere ich von ihm? Ich fordere einen Entschluß. Und daran tue ich recht, denn nur so kann die Reflexion zum Stillstand gebracht werden; da-

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III. Kierkegaard

Das dialektische Zugleich, in welchem sich die Reflexion und der Zweifel selbst überwinden sollen (dies können sie nur für einen Denkenden, der die Erinnerung an den vorherigen Gegensatz in die Gegenwart ruft), sei eins mit dem abstrakten Ist, zu dem sich der Denkende in der Logik entschließt. Dieses abstrakte Ist (ohne Werden) eröffne die Möglichkeit zum sich selbst abschließenden System; in ihm lässt sich alles Dasein aufnehmen, sofern es nur bereits Vergangenes ist und ihm damit den Anschein von Notwendigkeit gibt; es würde in eine Ewigkeit der Übereinstimmung des Denkens mit sich selbst aufgehoben, in der alles mit sich selbst gleich ist: Denken und Sein, Subjekt und Objekt. 54 Mit diesem Entschluss der Selbstgewissheit des Denkens in jener Gleichsetzung ist ein Anfang gemacht, 55 Sein und Nichts sind tautologisch und in seiner Abstraktion von allem konkreten Werden ist das System immer schon fertig (denn alle endlose Bewegung ist moralisch diskreditiert), bietet aber dem Betrachter Abwechslung in den Herleitungen der Kategorien und, auf der Ebene des Geistes, der methodischen Betrachtung des großen Schauspiels der Weltgeschichte in ihren realen und geistigen Gehalten – sofern sie nur vergangen sind. 56 Was aber unterscheidet jene ästhetische Haltung des Philosophen im Zuschauerraum auf das Weltgeschehen im Großen und Ganzen von einer ethischen Betrachtung im Sinne der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift? – So wie die ganze Schrift mit dem unendlichen Interesse des Johannes Climacus um die Seligkeit, die ihm als Einzelnem versprochen ist, anhebt, setzt das Ethische gegen die Neutralität der ästhetisch-philosophischen Betrachtung gegenüber dem Guten und dem Bösen die Positivität des Existierenden in seinem Wählen. 57 Climacus nimmt den Gegensatz auf, den der Ethiker B aus Entweder/Oder – auf die Unterscheidung von Verzweiflung (persönlich) und Zweifel (so unpersönlich wie möglich) hinfühgegen aber handelt ein Philosoph niemals recht, wenn er die Leute zum Narren hält und in dem einen Augenblick im absoluten Anfang die Reflexion sich selber zum Stehen bringen läßt und im nächsten Augenblick den Menschen verhöhnt, der nur den einen Fehler hat, so dumm zu sein, daß er ersteres glaubt; wenn er ihn verhöhnt, um ihm auf diese Weise zum absoluten Anfang zu verhelfen, der also auf zwei Weisen vollzogen wird. Wird aber ein Entschluß gefordert, so ist die Voraussetzungslosigkeit aufgegeben.« 54 Vgl. AUN1, 116. 55 Vgl. AUN1, 180. 56 Vgl. AUN1, 116 f. u. 144–149. 57 Vgl. AUN1, 122–124.

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Ethisches Interesse und ästhetisch-philosophische Gleichgültigkeit

rend 58 – zwischen ethischer Entschiedenheit und ästhetischer Indifferenz aufstellt: 59 Die positive Entscheidung des Entweder/Oder liegt nicht erst im Wählen des Guten oder des Bösen, sondern in der Entscheidung zur Wahl selbst, also entweder als Einzelner in seiner Existenz als gewählter und auf ihn selbst zurückweisender konkret zu werden, womit er zugleich ethischen Maßstäben unterliegt – oder aber sich diesem konkreten Werden und seinen Verbindlichkeiten ästhetisch zu entziehen. 60 Der Ausschluss der Möglichkeit des Andersseinkönnens aus dem Vergangenen 61 von der Warte des am Ende der Geschichte sitzenden Philosophen (man erinnere sich an die ›Eule der Minerva‹ und das ›Grau in Grau‹ aus der Philosophie des Rechts), die Behandlung der Geschichte, als gäbe es in ihr kein Entweder/ Oder, fällt auf den Betrachter selbst zurück: Er wählt die Ästhetik. Er gibt, nach Climacus, für seine ästhetische Wesensschau die eigene Wirklichkeit auf und schwebt in seinen Betrachtungen beständig über sich selbst und gibt sich der gleichgültigen Vielfalt des in der Gleichzeitigkeit des Ist ausgebreiteten Geschehens hin. 62 In der interesselosen Schau wird so das eigene Subjekt und Existieren ebenso wie jedes andere Individuum, ob als Protagonist der Geschichte oder als Lernender, gleichgültig und zufällig. Vgl. EO2, 225. Vgl. EO2, 178–180. 60 Vgl. EO2, 180: »Mein Entweder/Oder bezeichnet zuallernächst nicht die Wahl zwischen Gut und Böse, es bezeichnet jene Wahl, mit der man Gut und Böse wählt, oder Gut und Böse abtut. Die Frage geht hier darum, unter welchen Bestimmungen man das ganze Dasein betrachtet und selber leben will. Daß man das Gute wählt, wenn man Gut und Böse wählt, ist freilich wahr, jedoch es zeigt sich erst hinterdrein; denn das Aesthetische ist nicht das Böse, sondern die Indifferenz, und deshalb habe ich ja gesagt, daß das Ethische die Wahl gründet.« 61 Vgl. EO2, 185 f. 62 Vgl. EO2, 211 f. In der Krankheit zum Tode gibt Anti-Climacus das Missverhältnis des großen Systems zur Wirklichkeit des Philosophen der Lächerlichkeit preis (KT, 141): »Nein, in einem Irrtum zu sein, ist, ganz unsokratisch, dasjenige, was die Menschen am wenigsten fürchten. Man kann erstaunliche Beispiele hierfür sehen, die dies nach einem ungeheuerlichen Maßstab beleuchten. Ein Denker führt ein ungeheures Bauwerk auf, ein System, ein das gesamte Dasein und die ganze Weltgeschichte usw. umfassendes System – und betrachtet man sein persönliches Leben, so entdeckt man zu seinem Erstaunen das Entsetzliche und Lächerliche, daß er diesen ungeheueren, hoch sich wölbenden Palast nicht persönlich bewohnt, sondern einen Schuppen daneben, oder eine Hundehütte, oder zuhöchst das Pförtnerstübchen. Erlaubte man es sich auf diesen Widerspruch mit einem einzigen Wort aufmerksam zu machen, so wäre er beleidigt. Denn einem Irrtum verfallen zu sein fürchtet er nicht, wenn er nur das System fertig kriegt – vermöge dessen, daß er in einem Irrtum ist.« 58 59

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III. Kierkegaard

Dieser ästhetisch-philosophischen Indifferenz steht das Ethische also entgegen. Vom Sollen ist hier übrigens zunächst einmal nicht die Rede – das Existieren begibt sich allein dadurch unter ethische Kategorien, dass es interessiert ist, d. h. dass die Momente seines eigenen Existierens wie diejenigen seiner wahrgenommenen Wirklichkeit nicht gleichgültig auseinanderfallen, sondern als konkrete Geschichtlichkeit fassbar werden. 63 Climacus gibt hier mehrere Beispiele existentieller Probleme, die objektiv gleichgültig, subjektiv aber von entscheidender Bedeutung sein können (Sterben, die Frage nach der Unsterblichkeit, der Gnade Gottes, Heirat). 64 An der Gewissheit des Todes lässt sich vielleicht am besten darlegen, was Wirklichkeit des Subjektwerdens als ethische und persönlich interessierte Aufgabe im Gegensatz zur gleichgültigen Betrachtung des sich stets als ein- und dasselbe wiederholenden Wesens bedeutet: [D]aß das Subjekt seinen Tod denkt, ist eine Handlung. Daß ein Mensch überhaupt, ein distraiter Mann wie Buchhändler Soldin oder ein Systematiker, den Tod überhaupt denkt, das ist allerdings keine Handlung, das ist nur so etwas überhaupt, und was so etwas ist, das ist im Grunde genommen schwer zu sagen. Aber ist das Subjektwerden die Aufgabe, so ist für das einzelne Subjekt das Den-Tod-Denken nicht so etwas überhaupt, sondern eine Handlung; denn gerade darin liegt die Entwicklung der Subjektivität, daß der Mensch handelnd in seinem Denken über sei-

Im Hinblick auf das Kapitel III.2.3. sei bereits hier darin erinnert, dass diese Unterscheidung genau der Überwindung des unglücklichen Bewusstseins in der Phänomenologie entspricht – und zwar nicht, so die dort ausgeführte These, weil Kierkegaard sich intensiv mit der Phänomenologie auseinandergesetzt habe (hierfür fehlen, bis auf die Vorrede, merkwürdigerweise die Belege, ganz im Gegensatz zu konkreten Auseinandersetzungen mit der Logik, der Enzyklopädie, der Philosophie des Rechts wie auch den Vorlesungen zur Ästhetik, Religion, Philosophie und Geschichte), vielmehr entspringt diese Parallele der kierkegaardschen Auseinandersetzung mit der hegelschen Musiktheorie in der Ästhetik. – Folgt man der Einleitung Emanuel Hirschs zur 31. Abteilung der Gesammelten Werke (deren Thesen durch den Anmerkungsapparat nachgewiesen werden und für mich als sicher gelten können), »bekundet die Dissertation [Kierkegaards] ein umfassendes Studium Hegels. Die Philosophie der Geschichte, die Ästhetik, die Geschichte der Philosophie, die Grundlinien zur Philosophie des Rechts sind ihm von vorn bis hinten bekannt. Die Wissenschaft der Logik ist wenigstens in erheblichen Partien durchstudiert worden. Auch weniger leicht zu findende Dinge wie Hegels Anzeige von Solgers Nachgelassenen Schriften und Solgers Ästhetik« (Hirsch 1961, VIII). 64 Vgl. AUN1, 156–172. Das erste und vierte Beispiel behandelt Kierkegaard auch ausführlicher in den unter eigenem Namen herausgegebenen Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten (DRG, GW 8, 114–205). 63

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ne eigene Existenz sich durcharbeitet; daß er also wirklich das Gedachte denkt, indem er es verwirklicht; daß er also nicht nur einen einzelnen Augenblick denkt: nun mußt du jeden Augenblick darauf achten, sondern daß er eben jeden Augenblick darauf achtet. 65

Hier aber hebt sich die Ethik selbst auf. – Es geht nicht um den Tod überhaupt, auch nicht um den Tod eines nahe- oder fernstehenden Anderen oder auch der Menschen überhaupt, sondern um den des einzeln Existierenden selbst. Dessen Schwierigkeit ist nicht übersetzbar, daher auch nicht zu verallgemeinern und nicht direkt mitteilbar (es sei denn, man nimmt das persönliche Interesse heraus – dann ist die Aufgabe des Subjektwerdens aber nicht mehr als wirkliche gegenwärtig). Wenn nun aber das Handeln als entscheidend unter einer ewigen Verantwortung (also einem ewigen Maßstab) stehen muss, 66 um ethisch qualifiziert zu sein, stellt sich wieder das Problem des Einzelnen in der Zeit vor dem Ewigen als Wahrheit aus den Philosophischen Brocken, verschärft dadurch, dass der Einzelne hierin völlig auf sich gestellt ist. Zwar schafft der Einzelne sich im Handeln selbst um (in der Verzweiflung als Ganzes), dies bliebe aber ästhetische Rotation ohne geschichtlichen Zusammenhalt, wenn er nicht doch als Einzelner in ein irgendwie geartetes Verhältnis zum Allgemeinen tritt (das ihm als Objektivität nie Gewissheit sein kann). Der problematische Zweifler Climacus selbst macht deutlich, dass nur im Postulat Gottes 67 eine Ethik zu retten sei (und zwar eines Gottes, der sich selbst in zeitliche Existenz begeben hat und damit im Glauben an eine in der Zeit entstehende ewige Wahrheit angesprochen wird). 68 Weiter aber als die Forderung Gottes als ›Postulat aus Notwehr‹ 69 geht Climacus nicht – diesen Weg gehen andere Pseudonyme, auf die wir später zu sprechen kommen.

AUN1, 159 f. Vgl. AUN2, 4. 67 Vgl. AUN1, 191 Anm.: »Auf diese Weise wird Gott freilich ein Postulat, aber nicht in der unfruchtbaren Bedeutung, worin man dies Wort sonst nimmt. Vielmehr wird deutlich, daß die einzige Art, wie ein Existierender in ein Verhältnis zu Gott kommt, die ist, daß der dialektische Widerspruch die Leidenschaft zur Verzweiflung bringt und mithilft, mit der ›Kategorie der Verzweiflung‹ (Glauben) Gott zu erfassen; so daß das Postulat weit davon entfernt ist, das Willkürliche zu sein, sondern gerade Notwehr ist; so daß Gott nicht ein Postulat ist, sondern das, daß der Existierende Gott postuliert – eine Notwendigkeit ist.« 68 Vgl. AUN1, 200–202. 69 Vgl. AUN1, 191 Anm. 65 66

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III. Kierkegaard

Zunächst ist aber noch ein Problem der Hegelkritik zu klären: Abstraktes Denken ist Aufheben der Wirklichkeit in Möglichkeit, 70 also Absehen vom positiven quod des Existierenden zum quid des objektiven Wesens einer Sache. Nun zeichnet sich aber die objektive Betrachtung wirklichen Geschehens (als eines Vergangenen) dadurch aus, dass sie ihren Momenten vom Resultat her betrachtet die Möglichkeit des Andersseinkönnens raubt (Illusion der Notwendigkeit der Geschichte). Beide genannten Formen der Möglichkeit sind unterschieden nach der Perspektive: das eine als Möglichkeit für den Existierenden in seiner Wahl, das andere als objektiver Möglichkeitsmodus der Vernunft, demgenüber der Existierende ein Zufälliges und Gleichgültiges bleibt. Das Eigentliche, was hier in der objektiven Rückübersetzung der Wirklichkeit aus dem spekulativen System verloren gegangen ist, ist nicht die Wirklichkeit als solche, sondern die Wirklichkeit des Existierenden in seiner Einzelheit (die, hieran sei noch einmal erinnert, bei Hegel ja gerade Resultat des Rückschlusses der Allgemeinheit auf sich in seinem Selbstbezug aus seinem Anderen ist). Progressive Geschichtlichkeit ist, wie bei Schelling, nur von einem positiven Anfang aus möglich – zu einer solchen Bewegung kann das abstrakte Denken nie gelangen. 71 Teleologisch ist die positive Geschichtlichkeit stets in ethischer Hinsicht (dies unterscheidet sie bei Kierkegaard von der ästhetischen Bewegung) – bei Schelling in der Setzung einer Tatsächlichkeit der Freiheit (Freiheit, Tat und Wille muss sein), hier durch die (wieder dem Ästhetischen entgegengesetzte) Interessiertheit des Einzelnen, wie auch das unendliche Interesse um die eigene Seligkeit am Anfang die Richtung der Nachschrift vorgibt; sie ist dasjenige, was dem Existierenden Zusammenhang und Kontinuität gibt und als antizipierend die Bewegung beständig vorantreibt. 72

Vgl. u. a. AUN2, 15 f. Vgl. AUN2, 18: »Vom Denken aufs Dasein zu schließen, ist also ein Widerspruch; denn das Denken nimmt gerade umgekehrt vom Wirklichen das Dasein fort und denkt es, indem es das Wirkliche aufhebt, indem es das Wirkliche in die Möglichkeit übersetzt.« 72 Ein Beispiel für eine solche leidenschaftliche (da persönlich interessierte) Bewegung bietet das oben angeführte des Denkens der eigenen Sterblichkeit. 70 71

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Ethisches Interesse und ästhetisch-philosophische Gleichgültigkeit

III.2.2. Das Problem des Übergangs in Der Begriff Angst Diese Unterscheidung progressiver und regressiver Bewegung (in dieser gleichen sich Zweifel und Erinnerung) wurde von Kierkegaard zuvor aus einer anderen Perspektive näher betrachtet, die sich bereits aus dem umfangreichen Titel der Schrift ergibt: »Der Begriff Angst. Eine schlichte psychologisch-andeutende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde von Vigilius Haufniensis.« Sie gleicht der Nachschrift darin, als psychologische Abhandlung, nur auf die Dogmatik hinzudeuten, aber nicht positiv von der Dogmatik im Sinne einer zweiten Ethik auszugehen. 73 Die Einzelheit, die im unendlichen Interesse der Nachschrift ganz unmittelbar gegeben ist, wird hier in einer Psychologie der Angst in Richtung auf das Problem der Erbsünde selbst problematisch, sofern das Phänomen der Angst auf einen inneren Widerspruch der einzelnen Existenz verweist. Das Selbst ist hier, ähnlich dem Selbstbezug des Allgemeinen im Einzelnen bei Hegel, die als das Einzelne gesetzte Allgemeinheit. 74 In der Angst aber zeigt sich die Wahrheit dieser Einzelheit als Abstoßen vom Allgemeinen, gesetzt durch einen qualitativen Sprung. 75 Als durch einen Sprung positiv gesetzt, ist die Herleitung des Einzelnen aus seiner Vermittlung durch das Allgemeine abgebrochen. Die Sünde, in die der Einzelne sich wiederfindet und die ihm den Regress zum Allgemeinen verstellt (in den Philosophischen Brocken der Verlust der Bedingung zur Wahrheit durch eigene Tat, das polemische Verhalten zur Wahrheit), ist Folge jeder freien Selbstsetzung des Einzelnen in seinem Wesen als Geist, der Synthese von Leib und Seele ist. 76 So, wie dem Einzelnen nun der immanente Regress unmöglich geworden ist, ist er auch der objektiven Betrachtung verloren: In seiner Positivität gehört der Sprung der Selbstsetzung in die Sphäre geschichtlicher Freiheit. 77 Während er also durch reflektierte Herleitung in seiner Notwendigkeit verfehlt wird, ist die PosiVgl. BA, 18 f. Vgl. BA, 79. 75 Vgl. BA, 80. Die Einsicht, dass jene Sprungbewegung in ihrem Gegensatz zur Übergangskategorie Hegels den Kerneinwand Kierkegaards (im Ausgang der Spätphilosophie Schellings) gegen die Bewegung des Denkens in der Seinslogik darstellt, verdanke ich Hühn 2003. 76 Vgl. BA, 38–44. 77 Vgl. BA, 83. Haufniensis verweist auch hier auf die Definition des Werdens als Übergang von Möglichkeit in Wirklichkeit. 73 74

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tivität des Sprungs doch im Einzelnen selbst gegenwärtig, nämlich in der Stimmung der Angst als Verhältnis zum Abgrund, der sich ihm in jeder Entscheidung zu sich selbst öffnet (die Angst ist »Schwindel der Freiheit«). 78 Als Selbst sei der Mensch aber Geist, wenngleich im Modus der Verfehlung. Auch in dieser Beziehung ist er Synthese und zwar, als Selbst, Synthese von Zeitlichkeit und Ewigkeit – nur ohne ein Drittes, 79 d. h. der Widerspruch ist ein sich jedes Mal neu setzender: So gesehen ist es ganz die hegelsche Wechselbestimmung durch einseitige Setzung. 80 Und doch ist hierin ein Gegenwärtiges, nämlich der Einzelne selbst, der in jeder Entscheidung die Synthese seines Selbst erneut setzt und von diesem Punkt (seiner selbst als setzender Gegenwart) aus Vergangenheit und Zukunft unterscheidet. Hier, im Augenblick, berühren sich Zeit und Ewigkeit in der Plötzlichkeit des Übergangs (dem platonischen τὸ εξαιφνές). 81 Dies heißt aber auch: Geschichte kann nur für den Einzelnen sein. Auch die Vernunft, sofern sie metaphysisch wird, denkt ein Verhältnis von Zeit und Ewigkeit, das Ewige könne ihr aber nur das aufgehobene Aufeinanderfolgen, das nach vorn wie zurück ewig sich selbst gleichbleibende Ist ohne Vergangenheit und Zukunft sein. 82 Wie Schelling ist Haufniensis wahre Zeit eine Abfolge vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Zeit, 83 aber vielleicht noch radikaler als bei diesem bekommt hier die wahre Zeit erst im Einzelnen, in seinem ganz individuellen Missverhältnis zu sich selbst und seiner Allgemeinheit, einen Sinn. Dagegen setzt, so Haufniensis, etwa die sokratische Philosophie (von der die Spekulation Platons anhob) 84 das Ewige als Vergangenes. 85 Das Ewige wird auch hier zuletzt, in Vergessenheit der eigenen Existenz des Denkenden als Einzelnen, abstrakter Begriff, der rücklings wieder zur Gegenwart gemacht werden könnte. Das Christentum aber setzt die Sünde; der Weg zurück ist verstellt und das Versprechen der Seligkeit als ewiger nur vorlings in der Wiederholung 86 78 79 80 81 82 83 84 85 86

BA, 60. Vgl. BA, 86. Vgl. Kap. I.3.1. Vgl. BA, 89. Vgl. BA, 88. Vgl. BA, 91. Vgl. AUN1, 196. Vgl. BA, 91. Vgl. BA, 91.

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durch eine den Einzelnen selbst im Augenblick umschaffende Bewegung zu erreichen, nämlich im Hinblick auf das in ihm sich zeigende Ewige. Haufniensis setzt zwei Weisen, diesen Augenblick zu denken: jüdisch (nach dem Alten Testament) und christlich auf der einen, das Ausschließen des Augenblicks in der Antike und der neuen objektiven Spekulation Hegels durch das Gleichgültigsetzen des Einzelnen in seiner Individualität auf der andern Seite: Ist der Augenblick nicht, so kommt das Ewige hinterwärts zum Vorschein als das Vergangene. […] Ist der Augenblick gesetzt, aber lediglich als Grenzscheide (discrimen), so ist das Zukünftige das Ewige. Ist der Augenblick gesetzt, so ist das Ewige, ist aber zugleich das Zukünftige, welches wiederkommt als das Vergangene. Dies zeigt sich deutlich in der griechischen Anschauung. Der Begriff, um den alles im Christentum sich dreht, der alles neu gemacht hat, ist die Fülle der Zeit, aber die Fülle der Zeit ist der Augenblick als das Ewige und doch ist dies Ewige zugleich das Zukünftige und das Vergangene. Wenn man hierauf nicht achtet, so kann man keinen einzigen Begriff frei halten von ketzerischem und verräterischem Beisatz, der den Begriff zunichte macht. Man setzt das Vergangene nicht aus sich heraus, sondern in einem einfachen gleitenden Zusammenhang (Kontinuität) mit dem Zukünftigen (hierdurch verlieren sich die Begriffe Bekehrung, Versöhnung, Erlösung in das weltgeschichtlich Bedeutungsvolle und in die in die individuelle geschichtliche Entwicklung). Man setzt das Zukünftige nicht aus sich heraus, sondern in einem einfachen gleitenden Zusammenhang mit dem Gegenwärtigen (dadurch gehen die Begriffe Auferstehung und Gericht zugrunde). 87

Auch hier gilt: Die Methode des sich selbst überwindenden Zweifels ist der Tod aller christlichen Bestimmungen. Das »Aus-sich-heraus«Setzen von Vergangenheit und Zukunft ist der bestimmteste Einspruch gegen die in sich kreisende Immanenz der hegelschen Philosophie. Erst in diesen Setzungen von Vergangenheit und Zukunft im qualitativen Sprung des Augenblicks ist aber Ethik überhaupt zu denken, sofern der Einzelne sich hier nicht einfach jedes Mal neu erschafft, sondern in seiner Gegenwart verantwortlich ist vor dem Maßstab seiner Verfehlung im Hinblick auf Vergangenheit und Zukunft – nur hierin macht die Unterscheidung von Gut und Böse für Haufniensis Sinn. 88

87 88

BA, 91 f. Vgl. BA, 114 f.

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Hegel hingegen scheitere hieran, weil er nicht in der Lage sei, einen Übergang zu denken, überhaupt die Bewegungsprinzipien der Logik, als da wären Übergang, Negation und Vermittlung, zu erklären. – Er hätte Platons Parmenides besser lesen sollen, dann wäre ihm, so Haufniensis, die Schwierigkeit aufgefallen, die der Übergang dem metaphysischen Denken bereite. 89 Hegel benutze diese Begriffe in seiner Logik als stillschweigende Voraussetzung ihrer Beweglichkeit, ohne sie selbst, als positive, erklären zu können. Es gibt eine Kategorie, welche in der neueren Philosophie immerzu gebraucht wird, in logischen Untersuchungen ebenso gut wie in geschichtlich-philosophischen, und das ist: der Übergang. Eine nähere Erklärung erhält man jedoch nirgends. Man benutzt sie frisch drauf los, und während Hegel und seine Schule die Welt verdutzte, mit dem großen Gedanken, dem voraussetzungslosen Anfang der Philosophie, oder damit daß der Philosophie nichts anderes vorausgehen dürfe als die vollkommene alles betreffende Voraussetzungslosigkeit, geniert man sich keineswegs, den Übergang, die Negation, die Vermittlung, d. h. die Bewegungsprinzipien des Hegelschen Denkens auf die Art zu benutzen, daß sie nicht zugleich ihre Stelle erhalten im systematischen Voranschreiten. Wenn das keine Voraussetzung ist, so weiß ich nicht, was Voraussetzung ist; denn etwas benutzen, das man nirgends erklärt, heißt doch es voraussetzen. 90

Doch es bleibt dabei: Macht man das dialektische Zugleich im Satz, dass Sein und Nichts dasselbe ist, mit, erklärt sich die Bewegung im Gang der Methode. Der Vorwurf, dass Hegel in der Logik die Prinzipien der Negation, der Vermittlung und des Übergangs nur genannt, aber nirgends erklärt habe, ist kaum ernst zu nehmen 91 (auch Haufniensis’ Wiedergabe des Parmenides, den er hier gegen Hegel auszuspielen sucht, ist stark überzeichnet). 92 Die immanente Kritik Kierkegaards an Hegel hält einem direkten Vergleich nicht stand und man würde Kierkegaard selbst nicht gerecht werden, seine Invektiven logisch zu nehmen. Vielmehr ist es das, wenn man so will, erkenntnisleitende Interesse selbst, der ethisch-religiöse Einspruch des EinzelVgl. BA, 83 f. BA, 82. 91 »Übergang« ist übrigens als Bewegungsprinzip ein Spezifikum der Seinslogik, da diese stets vom Sein ausgeht, das einseitig in seiner Unmittelbarkeit genommen stets unweigerlich in sein Anderes übergeht, da Sein und Nichts im Werden immer schon übergegangen sind. Zur hegelschen Erklärung seiner Bewegungsprinzipien vgl. Kap. I.3.1 u. I.3.2. 92 Vgl. Hühn 2003, 139. 89 90

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Ethisches Interesse und ästhetisch-philosophische Gleichgültigkeit

nen gegen die Immanenz der Methode, die seine Stärke ausmacht. 93 Das Problem der schlechten Unendlichkeit als eines verfehlten Selbstbezugs des Subjekts in seiner Unendlichkeit (die in einseitiger Setzung des Subjekts an den Anfang zur endlosen Dauer umschlagen muss) hat Kierkegaard sehr genau verstanden – die Nachschrift in ihrem Ausgang vom unendlichen Interesse des einzelnen Subjekts für sich selbst zeigt dies (und gerade Kierkegaard weiß, dass es unter dieser Bestimmung des Unendlichen keine Approximation, sondern nur ein ›ganz oder gar nicht‹ geben kann). Nun stellt sich aber eine andere Frage: Wenn die immanente Methode der Selbstaufhebung der Reflexion im hegelschen Sinne am Ethischen scheitert (denn die Ganzheitlichkeit der in sich kreisenden Vermittlung schließt die Positivität jedweden Sollens als ohne eigene Gegenwart von sich aus), muss aber dann nicht notwendig jede Existenz sich in schlechter Unendlichkeit zu sich selbst verhalten?

III.2.3. Ästhetisches Existieren Die Nähe Kierkegaards zu Hegel ist vielleicht nirgends so greifbar wie in seinem Begriff des Ästhetischen. Zumindest ist festzuhalten, dass Kierkegaard ein aufmerksamer Leser der hegelschen Ästhetik war. Die Abhandlung des Ästhetikers A über Mozarts Don Giovanni in Entweder/Oder etwa (»Die unmittelbaren erotischen Stadien oder 93 In seinen Anmerkungen zu der Unwissenschaftlichen Nachschrift verweist Emanuel Hirsch auf eine Stelle in den Papirern (VI B 54, 12), die ursprünglich als eine Fußnote zur Nachschrift konzipiert war (hier in der Übersetzung Hirschs wiedergegeben, Anm. 66 d. Hg., AUN1, 304): »Ich nähre einen mir zuweilen rätselhaften Respekt vor Hegel; ich habe viel von ihm gelernt, und ich weiß sehr wohl, daß ich, wenn ich wieder zu ihm zurückkehre, noch immer mehr von ihm lernen kann. Das einzige, was ich mir zutraue, sind natürliche, gesunde Gaben, und dann eine gewisse Aufrichtigkeit, die mit einem scharfen Blick für das Komische gewappnet ist. Ich habe gelebt und bin vielleicht in ungewöhnlicher Weise in den casibus des Lebens geprüft worden; im Vertrauen darauf, daß ein Weg offen zu finden sein müsse, habe ich zu den Schriften der Philosophen, darunter denen Hegels, meine Zuflucht genommen. Aber hier geschieht es gerade, daß er einen im Stiche läßt. Sein philosophisches Wissen, seine erstaunliche Gelehrsamkeit, seinen genialen Blick und alles, was man sonst noch von einem Philosophen sagen kann, will ich mindestens ebenso willig wie irgendein Jünger anerkennen – doch nein, nicht anerkennen, das ist ein zu vornehmer Ausdruck: will ich bewundern, willig, mich von all dem belehren zu lassen. Aber daß desungeachtet ein recht im Leben Geprüfter, der in seiner Not seine Zuflucht zum Denken nimmt, ihn trotz all diesem Großen komisch findet, ist nicht weniger sicher.«

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das Musikalisch-Erotische«) schließt nicht nur unmittelbar an die hegelsche Formel der Klassik an (gefundene Einheit von Form und Inhalt), 94 auch die Musik in ihrem negativen Verhältnis zur Wirklichkeit und ihrer Ausbreitung in der Dimension der Zeit (in Negation des räumlichen Nebeneinanders) wie auch ihrer Nähe zur Lyrik entspricht genau den hegelschen Bestimmungen. Die Argumentation As macht aber nun eine überraschende – aus hegelianischer Sicht geradezu abenteuerliche – Wendung: Der Don Giovanni Mozarts sei als musikalisches Kunstwerk nicht romantisch, sondern schlechthin klassisch. In ihm werde die eigentlich nicht darstellbare, da unreflektierte, »sinnliche Genialität« 95 zur vollständigen Einheit mit ihrem entsprechenden Medium zusammengebracht, nämlich der Musik als fortgesetzter Unruhe des ständigen Verfließens von ein- und derselben Unmittelbarkeit – also in einer geschichtslosen »Zeit […] im uneigentlichen Sinn.« 96 In dieser Schwebe kann sich die Idee (wie die Musik bei Hegel) aber nur halten, weil sie Ausschluss aller Konkretion des Geistes in der Zeit als eigentlichem Medium des Geistes ist. 97 Wie die schlechte doppelte Negation des Einzelnen in der Romantik Hegels ist die sinnliche Genialität in ihrer Geschichtslosigkeit (und damit Selbstlosigkeit) keineswegs naiv – sie ist geschichtslos aus Trotz, ›dämonisch‹. Diese Anwendung des hegelschen Klassikbegriffs auf Don Giovanni hat Folgen. War bei Hegel die Klassik noch Peripetie in der Folge von Suchen, Finden und Überschreiten, ist die sinnliche Genialität, als sich im Medium der Musik haltend, Höhepunkt und Ende zugleich in der Folge von Träumen, Suchen und Begehren. 98 Das heißt: Diese Klassik geht nicht im nächsten Moment über sich hinaus, sondern ist am Ende ganz bei sich und selbstgenügsam in sich verschlossen. Die Gegenwarts- und Wirklichkeistlosigkeit ist in einer solchen ästhetischen Existenz, die ihre klassische Form gefunden hat, nicht ihr Mangel, sondern ihr Element. Was der Ästhetiker A hier nachweist, ist, dass die fortgesetzte Existenz in der gegenwartslosen Selbstverfehlung schlechter UnendVgl. EO1, 54–57. Bei EO1, 56 heißt es etwa, in direktem Verweis auf Hegel: »Allein da, wo die Idee zu Ruhe und Durchsichtigkeit in einer bestimmten Form gebracht worden ist, allein da kann von einem klassischen Kunstwerk die Rede sein«. 95 EO1, 59. 96 EO1, 60; vgl. hierzu auch Kap. I.4.3.2. 97 Vgl. EO1, 68 f. 98 Vgl. EO1, 85 f. 94

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Ethisches Interesse und ästhetisch-philosophische Gleichgültigkeit

lichkeit nicht einfach ›in sich verglimmt und erstickt‹, 99 sondern sich als ästhetische halten und bejahen kann. Zur Erinnerung: Die Musik der hegelschen Ästhetik entspricht als Kunst der Spitze der Moralität aus der Phänomenologie im Wechsel des unglücklichen Bewusstseins mit sich selbst (als sich im ständigen Wechsel seiner Momente erhaltend). Ebenso existiert Don Giovanni im beständigen Wechsel gleichgültiger Momente – »und so fort ins Unendliche« 100 –, parallel zum fortgesetzten Vergehen der Musik in der Zeit. 101 Als dieses Sich-Halten im beständigen Wechsel vergehender Momente gleicht er, so A, einem Stein, den man über die Wasseroberfläche schnellen lässt: Sobald er aufhört zu springen, geht er unter. 102 Aus der Perspektive des Ethikers B mag diese Wiederholung des Gleichen ins Unendliche als Inbegriff der Langeweile erscheinen; 103 für eine ästhetische Existenz, die aus Trotz geschichtslos ist, bleibt eine solche objektive und überschauende Perspektive unerheblich. – Und hierin liegt die Schwierigkeit: Der Übergang in sich kreisender schlechter Unendlichkeit zur Geschichtlichkeit wahrer Unendlichkeit kann für den Einzelnen kein logischer sein. Die Unterscheidung zwischen ästhetischer Indifferenz und ethischer Entschiedenheit hat keine fließenden Übergänge; die ethische Entschiedenheit ist erst mit der Entscheidung da und die ästhetische Indifferenz plötzlich, im selben Augenblick vergangen. Der Ästhetiker A ist sich dessen übrigens bewusst – mit jedwedem Entweder/Oder wäre seine Existenz, an die er festhält, aufgehoben. Für ihn ist die wahre Ewigkeit nicht hinter, sondern vor dem Entweder/Oder; sie ist reuelos und in jedem Moment aeterno modo. 104 Das heißt nicht nur, dass intellektuell keine Widerlegung möglich ist (im Gegensatz zu Don Giovanni ist A selbst wie auch der Verfasser des Tagebuchs durchaus reflektiert); das objektive Denken sub specie aeterni findet auf derselben Ebene des Ästhetischen statt, da es alle Entscheidung in der Zeit ausschließt und sich somit auch nirgends aus sich selbst heraus überwinden kann. Ebenso wenig kann diese Entscheidung vermittelt werden; sie kann nur der Leidenschaft des unendlichen Interesses für sich selbst entspringen:

Vgl. Phän., GW 9, 354; Ästh. III, TWA 15, 458; GeschPh III, TWA 20, 418. EO1, 105. 101 Vgl. EO1, 100–102. 102 Vgl. EO1, 140. 103 Vgl. etwa EO2, 211 f. Dazu auch BA, 137. 104 Vgl. EO1, 42. 99

100

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III. Kierkegaard

Jede Bewegung der Unendlichkeit geschieht in Leidenschaft, und keine Reflexion kann eine Bewegung zustande bringen. Leidenschaft ist der ewige Sprung in das Dasein, der die Bewegung erklärt, indes die Vermittlung ein Hirngespinst ist […]. 105

Das Ethische steht hier vor einem Problem: Eine solche Entscheidung des Einzelnen kann weder aus dem Allgemeingültigen des Ethischen heraus getroffen noch durch dieses abgenommen werden. Der unendliche Selbstbezug des Einzelnen in seinem Interesse für sich geht in Richtung auf die ethische Objektivität in der ruhenden Betrachtung desselben qua Mensch ins Leere. Furcht und Zittern setzt daher eine teleologische (interessierte) Suspendierung der Ethik hin zu einer zweiten Ethik, in welcher der Einzelne das Zentrum bildet. 106 Hier ist nirgends Gewissheit; die Entscheidung wird in Freiheit getroffen und richtet sich teleologisch im paradoxen Glauben (wie in der Nachschrift) hin zur wahren Unendlichkeit einer Rückgewinnung des Einzelnen in der Wendung zu Gott in seinem direkten, persönlichen Verhältnis zum Einzelnen. 107 Diese Wiederholung 108 lässt sich nicht unmittelbar vollziehen; das subjektive Verhältnis zu Gott scheint erst im Bruch und Gegensatz zur Allgemeinheit auf: dort, wo in der plötzlichen Erfahrung höchster Isolation (hier: die unethische Forderung an Abraham, seinen einzigen Sohn zu opfern) ›in Furcht und Zittern‹ das Allgemeine erschüttert wird. Aber auch dies ist noch nicht die Wiederholung wahrer Unendlichkeit, sie muss sich aus der Isolation auf ein Anderes beziehen (sonst wäre die Erschütterung ein vollständiger Abgrund), also im nämlichen interessierten Glauben an Gott als Paradox geschichtlicher Ewigkeit im Moment der Fülle der Zeit. So heißt es dann auch zusammenfassend in der Nachschrift:

FZ, 42 Anm.; i. Orig. Herv. Vgl. FZ, 42 f. u. 57 f. Der vollständige Titel lautet hier: Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio. – Ein merkwürdiger Titel, allerdings dadurch nun erklärlich, dass hier die direkte Mitteilung objektiver Ethik aufgehoben wird zugunsten der auf sich selbst bezogenen Subjektivität des Einzelnen (daher Lyrik; ganz wie in Hegels Ästhetik gefasst), dialektisch aber, da sie erst im Bruch mit dem Allgemeinen aufscheint, aber wiederum selbst nicht nach außen treten kann (sie ist konkret nur in sich verschlossenen Selbstgespräch). 107 Vgl. FZ, 66 f. 108 »[D]ergestalt, daß die Bewegung sich wiederholt, d. h. daß er, nachdem er im Allgemeinen gewesen ist, nun als der Einzelne sich isoliert als höher denn das Einzelne« (FZ, 58). 105 106

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Ethisches Interesse und ästhetisch-philosophische Gleichgültigkeit

Ästhetisch und intellektuell nach der Wirklichkeit zu fragen, ist ein Mißverständnis; ethisch nach eines anderen Menschen Wirklichkeit zu fragen, ist ein Mißverständnis, da nur nach der eigenen gefragt werden soll. Hier zeigt sich die Verschiedenheit des Glaubens (im strengsten Sinne – sensu strictissimo –, der sich auf etwas Historisches bezieht) vom Ästhetischen, Intellektuellen, Ethischen. Unendlich interessiert nach einer Wirklichkeit fragen, die nicht die eigene ist, heißt glauben wollen und drückt das paradoxe Verhältnis zum Paradox aus. 109

Die Nähe von der Erschütterung in Furcht und Zittern zu derjenigen vor der absoluten Negativität in der vollkommenen Skepsis ist kaum zu übersehen. Alle Gewissheit ist wankend, die Forderung einer Wiederherstellung in selbstbezüglicher wahrer Unendlichkeit aber umso dringlicher geworden. Die Richtungen Hegels und Kierkegaards sind entgegengesetzt: dort der Regress auf die immer schon in aller Negativität präsente und in ihr als Geschichte sich dialektisch auf sich selbst beziehende Vernunft, hier aber die progressive Entscheidung des Glaubens aus der Isolation des Einzelnen in Furcht und Zittern (dort war der Selbstbezug im Einzelnen Resultat einer Bewegung wahrer Unendlichkeit aus gelingender doppelter Negation, hier ist es der bereits konkrete Anfang).

109

AUN2, 25.

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III.3. Die Wiederholung

Die Wiederholung ist, so das Pseudonym Constantin Constantius in der gleichnamigen Schrift, 110 der »entscheidende […]« 111 Ausdruck für das, was die Griechen unter Erinnerung als anamnesis (alles Erkennen ist Erinnern) verstanden haben. Sie sei die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung: Diese wiederholt »rücklings«, 112 jene aber erinnert »vorlings«. Constantius selbst behandelt den Begriff problematisch, als experimentierender (darin spielerischer) Psychologe, der die Wiederholung zwar als Probe des Ernstes beschreibt (»Die Wiederholung […] ist die Wirklichkeit und des Daseins Ernst. Wer die Wiederholung will, er ist im Ernst gereift«), sie aber selbst nie anders als ästhetisch behandelt und daher den paradoxen Sprung des Glaubens unterlässt: Er gerät nie an den »archimedischen Punkt«, 113 an dem seine in sich kreisende Bewegung über sich hinaus zu sich selbst gelangen könnte. 114 Nachdem sein eigener Versuch einer Wiederholung also scheitern musste, richtet sich sein psychologisches Interesse auf einen anderen Einzelnen, einen jungen Mann, der sich unglücklich verlobte und darüber zum Dichter wurde. Was Constantius selbst nicht gelang: seine ästhetische Existenz zur wahren Unendlichkeit umzustülpen, soll nun an jenem Anderen beobachtet werden, indem er ihm in experimenteller Weise hier und da von außen die richtigen Anstöße zu geben sucht, aus sich selbst heraus Der Titel lautet: Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie von Constantin Constantius. 111 W, 3. 112 W, 3. Beide Ausdrücke stammen übrigens, nach dem dänischen Original, aus der Turnersprache (etwa in Bezug auf Drehungen am Reck); vgl. Anm. 193 d. Hg., PB, 188. 113 W, 59. 114 Vgl. W, 59. Auch hier ist wieder das alte Negativitätsproblem, in einseitiger Bewegung nie auf einen Punkt zu gelangen, der sich von der negativen Linearität lösen könnte und sich selbstbezüglich mit sich selbst zusammenschließen würde. 110

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Die Wiederholung

seinen früheren Zustand wiederherzustellen (am Ende ist es aber nicht Constantius, sondern eine kontingente Nebenhandlung, welche den Knoten löst: Irgendwann ist es die Frau, die von sich aus plötzlich die Verlobung löst). Die ästhetische Existenz Constantius’ ist selbst gänzlich lyrisch (sofern man ihn nach der hegelschen Ästhetik betrachtet): Dem isolierten, aber negativ freien Selbst ist die eigene Unwirklichkeit auf Dauer unerträglich, sobald er über sich reflektiert; die Schwebe in lauter (ironischen) Möglichkeiten treibt zur lyrischen Selbstaussprache, die sich ›pathetisch hör- und sehbar‹ machen will. 115 – Zur Wirklichkeit wird der Einzelne hier dennoch nicht, seine Selbstaussprache bleibt ohne Echo (er bewegt sich bewusst allein in der flüchtigen Welt gleichgültiger Momente). 116 Würde aber die Gleichgültigkeit aufgelöst, dann würde jene Schwebe sich plötzlich im Abgrund der Angst vor den Möglichkeiten in seiner eigenen Verantwortlichkeit wiederfinden und aus Trotz in sich verharren und dämonisch werden. 117 Auch hier kann die immanente Methode der skeptischen Selbstüberwindung keine Lösung herbeiführen (ebenso wenig der Entschluss, rein zu denken). Die progressive Wiederholung ist, im Gegensatz zur Vermittlungsbewegung wahrer Unendlichkeit im hegelschen Sinne, auf Selbsttranszendierung ausgerichtet – nicht als Aufheben der eigenen Individualität, sondern im Festhalten des eigenen unendlichen Interesses. Das Interesse am gelingenden Selbstbezug der Wiederholung sei zwar auch das der Metaphysik 118 (hier muss, nach allem bisherigen, die wahre Unendlichkeit gemeint sein), es sei aber gerade dasjenige, woran sie scheitert: Sie könne kein Werden im eigentlichen Sinn denken. Während nämlich die anamnetische Spekulation davon ausgehen muss, dass alles, was ist, schon dagewesen sein muss, tritt in der Wiederholung das Dagewesene jetzt (im Augenblick) ins Dasein. 119 Die Wissenschaft, so das immer wieder vorgebrachte Argument, kann das Dasein nur aeterno modo erklären; zwar stelle sie so den Einzelnen (als in der Ewigkeit aufgehoben) in ein Verhältnis zum Absoluten, aber nicht in ein solches, das um des

115 116 117 118 119

Vgl. W, 29. Vgl. W, 29. Vgl. W, 29. Vgl. W, 22. Vgl. W, 22.

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III. Kierkegaard

Einzelnen als dieses existierenden Individuums willen ist, in welchem er in ein persönliches Verhältnis zu Gott tritt. 120 Warum ist das so wichtig für die Wiederholung? Genauer: Warum sollte sich der Einzelne dagegen wehren, im Gang des Ganzen aufzugehen? 121 Der Einspruch ist wieder ein praktischer: Sub specie aeterni ist keine Verantwortung zu denken. 122 Das gesamte Dasein verliert dasjenige, was Hegel noch selbst gegen die Romantik in seiner Ästhetik einforderte (und mit dessen Verlust er auch das Ende der Kunst begründete – »es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr« 123) und an dem er nun selbst gemessen wird: den Ernst. Ohne Ernst hat Dasein nur ästhetischen Sinn, alle Momente sind gleichgültig, daher gibt es keine Geschichtlichkeit und daher auch keine Wiederholung. 124 Die Krankheit zum Tode verhandelt diesen Ernst der individuellen Verantwortung, in dem allein eine Wiederholung möglich sei, im erbaulichen und besorgten Gestus (so wie ein Arzt am Krankenbett) 125 Vgl. W, 79–81. Das Aufgehen im Ganzen kann ja durchaus etwas Beruhigendes haben. Es muss ja gar nicht unbedingt der abstrakt-systematische Weg Hegels sein; schließlich versteht sich beispielsweise die Aufhebung des principium individuationis bei Schopenhauer auf die Einheit des einen Willens in all seinen Erscheinungen durchaus als ein Weg zur Wahrheit, der den Menschen in seinem innersten Gefühl (als dessen letzte Erfüllung) anzusprechen sucht. 122 Auch in dieser psychologischen Schrift (wie Der Begriff Angst) ist es der Abgrund der Angst in der Freiheit, welche die Verantwortung fühlbar macht (vgl. W, 28 f.). 123 Ästh. I, TWA 13, 142.; vgl. auch Kap. I.4.2.2. 124 Vgl. BA, 154: »Ernst [ist] die erworbene Ursprünglichkeit des Gemüts […], dessen bewahrte Ursprünglichkeit in der Verantwortlichkeit der Freiheit, dessen aufrecht erhaltene Ursprünglichkeit im Genusse der Seligkeit. Des Gemütes Ursprünglichkeit in ihrer geschichtlichen Entwicklung zeigt gerade das Ewige am Ernst, weswegen der Ernst nie Gewohnheit werden kann. […] Wenn die Ursprünglichkeit im Ernst erworben und bewahrt wird, so ist da eine Abfolge und Wiederholung; sobald also die Ursprünglichkeit in der Wiederholung ausbleibt, ist die Gewohnheit da.« Dies ist nur anzeigend, keine Definition des Ernstes (denn ›Erwerben‹ und ›Bewahren‹ sind gegensätzliche Bewegungen). Näher bestimmen lässt sich der Ernst nur ex negativo, nämlich dort, wo er verloren ging; Haufniensis zitiert hier Macbeth nach dem vollbrachten Mord in seiner Isolation durch die nicht wieder gut zu machende Schuld: »Von jetzt gibt es nichts Ernstes mehr im Leben: / Alles ist Tand, gestorben Ruhm und Gnade! / Der Lebenswein ist ausgeschenkt!« (BA, 152). 125 Vgl. KT, 4: »Alles christliche Erkennen, wie streng seine Form im übrigen auch sei, muß besorgt sein; diese Besorgnis aber ist eben das Erbauliche. Die Besorgnis ist die Beziehung zum Leben, zur Wirklichkeit des Persönlichen und somit, christlich: der Ernst; die Erhabenheit des gleichgiltigen Wissens ist, christlich, weit davon, größerer Ernst zu sein, sie ist, christlich, Scherz und Eitelkeit. Aber der Ernst ist wiederum das 120 121

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Die Wiederholung

des Christen Anti-Climacus. 126 Wie in Der Begriff Angst wird die individuelle Existenz als Synthese gesetzt, sofern sie Selbst ist: ein Verhältnis also, das sich zu sich selbst verhält (und gerade dass sie sich in seiner Existenz zu sich selbst verhält, macht sie zum Selbst). 127 Die verschiedenen Weisen der Verzweiflung ergeben sich aus dem Missverhältnis im Zu-sich-selbst-Verhalten als Synthese, sofern jede Setzung eine Einseitigkeit ist und somit das Zugleich der Synthese verfehlen muss (Verzweiflung der Endlichkeit ist Mangel an Unendlichkeit usw.). Sofern der Mensch auf sich allein gestellt ist, muss jeder Selbstbezug als wirklicher, durch unwiederrufliche Tat gesetzter notwendig in Verzweiflung münden, denn jeder Schritt ist einseitig (wie jede erste Negation einseitig sein muss), und das kritische Gleichgewicht ist verloren; und je mehr das Selbst erstrebt wird, umso tiefer geht die Verzweiflung: Der einmal verfehlte Selbstbezug kann nicht aufhören zu verzweifeln 128 – und jede Selbstsetzung des auf sich selbst gestellten Einzelnen geht in eine schlechte Unendlichkeit. So, wie der bestimmte Zweifel nicht im Nichts mündet, sondern als seine Vergangenheit mit sich forttragend mit jedem Schritt konkreter wird, ist das Selbstwerden des Einzelnen als Geist ein Konkretwerden, 129 als verzweifeltes Selbstseinwollen aber eine immer tiefer fehlgehende Geschichtlichkeit, die sich als dieselbe weiter fortschreibt, ohne sich je immanent auf ein anderes hin überwinden zu können. 130

Erbauliche.« Dies richtet sich direkt gegen den hegelschen Ausspruch, die Philosophie habe sich davor zu hüten, ›erbaulich‹ zu sein, Phän., GW 9, 14. 126 Der vollständige Titel lautet: Die Krankheit zum Tode. Eine christliche psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus. Herausgegeben von S. Kierkegaard. 127 Vgl. KT, 8. 128 Vgl. KT, 9 f. 129 Vgl. KT, 26. 130 Günter Figal spricht dementsprechend vom ›defektiven Selbst‹ Kierkegaards, sofern die Möglichkeit des Gelingens des Selbst als Struktur des Sich-zu-sich-Verhaltens von vornherein ausgeschlossen wird und aus christlicher Perspektive das ganze Verhältnis als für sich seiend unter dem Vorzeichen der Sünde steht (vgl. Figal 2001, 11 u. 16). Vor diesem Hintergrund wird gerade die anfängliche Einseitigkeit und Eindeutigkeit kritisiert, auf die das kierkegaardsche Selbst-Modell ausgerichtet ist und dessen Scheitern notwendig macht (vgl. Figal 2001, 21) – was nicht von der Hand zu weisen ist, jedoch plädiere ich hier für eine (hegelsche) dialektische Lektüre der KT dahingehend, dass das Scheitern des Sich-zu-sich-Verhaltens in der Notwendigkeit des ersten Fehltritts, d. i. in der Einseitigkeit eines jeden ersten Schritts in einem nur

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III. Kierkegaard

Christlich gesehen, so Anti-Climacus, ist Verzweiflung Sünde vor Gott. 131 Da der Mensch sich nicht ursprünglich selbst gesetzt hat und als Selbst immer schon ein abgeleitetes ist, 132 steht er in seinem Verhalten zu sich selbst in der Verantwortung vor der Macht, die ihn gesetzt hat – dieses im Zu-sich-selbst-Verhalten Sich-zu-einem-Anderen-Verhalten ist die Definition des Glaubens in der Krankheit zum Tode: 133 »[I]ndem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat.« 134 Während sich die Selbstüberwindung der Verzweiflung als unmöglich herausstellte, ist der Glauben an ein Anderes, vor dem das Selbst verantwortlich ist, das Ende der Verzweiflung. Auch dieser Selbstbezug ist konkrete Geschichtlichkeit, aber als Geschichtlichkeit vor Gott eine in der fortgesetzten Konkretion sich mit sich selbst zusammenschließende: wahre Unendlichkeit also. Warum aber nun diese Nähe der konkreten Geschichtlichkeit des Selbst, sowohl in seiner gelingenden wie in der verfehlten Weise, zur Geschichtlichkeit des sich vollbringenden Skeptizismus, wenn doch Zweifel und Verzweiflung zwei gänzlich verschiedenen Sphären angehören sollen? – Tatsächlich vollführen beide dieselbe Bewegung (wenn auch, wie in der Wiederholung und in den Philosophischen Brocken beschrieben, in entgegengesetzter Richtung), nur ist der Zweifel eine ästhetisch-intellektuelle Kategorie, die Verzweiflung hingegen, als der Persönlichkeit Zweifel, eine ernste. Aeterno modo ist jeder Moment gleichgültig, in der Wirklichkeit des einzeln Existierenden aber ist jedes positive Dass von eigenem Gewicht – sofern es unter dem Maßstab einer Verantwortlichkeit für sich selbst vor einem Anderen steht.

dialektisch gelingenden Verhältnis begründet liegt, da jener dessen Zugleich verfehlt und immanent nicht wieder einholen kann. 131 Vgl. KT, 189. 132 Vgl. KT, 9. 133 Vgl. zum folgenden Zitat auch KT, 134. 134 KT, 10.

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III.4. Exkurs: Vergleich der Wiederholung Kierkegaards mit der ewigen Wiederkunft Nietzsches (als gelingender Wiederholung im Ästhetischen)

Doch zurück zur kierkegaardschen Wiederholung als Figur wahrer Unendlichkeit in der geschichtlichen Existenz jedes Einzelnen: Der Versuch des Constantius einer gelingenden Wiederholung erscheint auf den ersten Blick doch seltsam – zumindest erschließt sich der Sinn nicht unmittelbar: Seine eigene ästhetische Existenz reflektierend, empfindet Constantius die Langeweile und Schwermut seines Daseins. Das bloße Schweben in Möglichkeiten ist ihm auf Dauer unerträglich; er will als konkretes Individuum in seiner Geschichtlichkeit hörbar und sichtbar Gestalt annehmen. 135 – Nun erinnert er sich an die glückliche Erfahrung einer Reise nach Berlin, die er in seiner Jugend unternommen hat. Mit dem Ziel, eine gelingende Wiederholung zu erfahren, tritt er dieselbe Reise erneut an (er nimmt denselben Zug, wohnt im selben Appartement, er besucht dieselben Vorstellungen etc.) – eine Wiederholung jedoch bleibt aus; seine glückliche Jugenderfahrung, die nur für die Dauer seines ersten Berlinaufenthalts anhielt, ist nicht wiederherzustellen. Verwunderlich hieran ist weniger das Scheitern der Wiederholung, sondern der Versuch selbst. Die Frage ist nämlich, was für den Ästhetiker Constantius mit der exakten Wiederherstellung einer einmal gemachten Erfahrung gewonnen wäre? – Er selbst äußert sich zum Antritt der Reise folgendermaßen: Der Postillion blies, ich schloß meine Augen, gab mich der Verzweiflung hin, und dachte wie ich bei solchen Gelegenheiten pflege: Gott weiß, ob du es aushalten wirst, ob du wirklich nach Berlin kommen wirst und falls das geschieht, ob du je wieder ein Mensch wirst, der im Stande ist sich frei zu machen in der Einzelnheit der Isolierung, oder ob du ein Gedächtnis daran behältst, daß du Glied an einem größerem Leibe bist. 136 135 136

Vgl. W, 29. W, 24.

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III. Kierkegaard

Die Wiederholung soll also für Constantius bewirken, dass er entweder sich in seiner ästhetischen Existenz als Einzelner in abgeschlossener Selbstbezüglichkeit freisetzt, oder aber sich ethisch auf ein Anderes, ihn Übergreifendes überhöht. Beides aber ist aus der reinen Immanenz der ästhetischen Bewegung heraus unmöglich. Die Intention Constantius’ geht dahin – anstatt weiterhin, als unglückliches Bewusstsein, im bloßen Wechsel gleichgültiger Momente zu schweben –, in einer ausgezeichneten Erfahrung sich selbst als Einzelner konkret zu werden. Eine gelingende Wiederholung der Reise nach Berlin würde den Einzelnen in seiner Konkretheit insofern auf sich selbst zurück verweisen (eine Bewegung, die das unglückliche Bewusstsein nie leisten kann), als er eine solche bedeutsame Erfahrung gemacht hätte, die nicht in der Reihe gleichgültiger Momente aufgeht und darin die konkrete Einzelheit des Selbst widerspiegelt. Vor demselben Problem, den Einzelnen als konkreten und feststehenden Charakter 137 zu fassen, steht Nietzsche: In einem wohl ersten Entwurf zu einem Werk mit dem Titel »Die Wiederkunft des Gleichen« 138 folgt die Lehre der ewigen Wiederkunft aus der ›Unschuld des Einzelnen im Experiment‹ als Problem. Erst jene Lehre gibt dem Einzelnen (aus der schwebenden Willkür des Experiments heraus) ein neues »Schwergewicht«: die »[u]nendliche Wichtigkeit unseres Wissen’s, Irren’s, unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende.« 139 Das ästhetische Spiel und die Gleichgültigkeit seiner Momente (auch wenn Nietzsche diese Begriffe nicht benutzt) ist zunächst Befreiung aus dem religiös geprägten Ernst des Daseins, 140 aber in diesem Spiel kann es sich nicht halten. – Ebenso, wie Hegels Theorie der Musik die Entsprechung des unglücklichen Bewusstseins in der Kunst war, verweist auch Nietzsche (wohl aus struktureller Parallelität) 141 auf die Musik, welche sich nur in ständiDer Begriff ›Charakter‹ wird hier im Sinne einer festen Prägung (im Gegensatz zum ewigen Verfließen der Welt in ihrem Werden) verwendet, in welchem Nietzsche ihn etwa im NL 1886/87, KSA 12, 7[54], 312 verwendet: »Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht. Zwiefache Fälschung, von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwerthigen usw. Daß Alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: Gipfel der Betrachtung.« 138 NL 1881, KSA 9, 11[141], 494 f. 139 NL 1881, KSA 9, 11[141], 494. 140 Vgl. NL 1881, KSA 9, 11[141], 494. 141 Es gibt keinerlei Hinweise auf einen tatsächlichen Einfluss der hegelschen Schrif137

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Exkurs: Wiederholung Kierkegaards und ewige Wiederkunft Nietzsches

gen Abwechslungen und gelegentlich eingeworfenen scheinbaren Wiederholungen (gleichsam als schwermütige Reminiszenz) erhält; 142 – auf Dauer besehen ein beständiges Verfließen, das nur in einem plötzlichen Gewaltakt zu einem neuen Ernst zurückgebogen werden kann, der die Momente unter einen neuen Maßstab setzt, welcher ihnen nicht mehr fremd und äußerlich gegenübersteht, sondern der Perspektive des einzelnen Lebens entspringt. Was die prominentesten Interpreten der Wiederkunftslehre (namentlich Löwith und Heidegger) 143 oft übersehen haben, ist, dass der Blick dieser Lehre sich nicht auf das Ganze, sondern auf den Einzelnen selbst richtet, sie also keineswegs eine etwaige Sinnhaftigkeit des Ganzen und eine Einbettung des Einzelnen darin statuiert, 144 vielmehr den Akzent in der Wiederkunft auf das Possessivpronomen legt: »Diess Leben – dein ewiges Leben!« 145 In diesem Sinne trifft auch der Dämon aus der Fassung der Wiederkunftslehre in der Fröhlichen Wissenschaft den Einzelnen in seiner »einsamste[n] Einsamkeit« 146 an: »Dieses Leben wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und jeder Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihen und Folge […].« Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem »willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?« würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Hanten auf Nietzsches Werk (wenngleich er sich in seinen frühen Studentenjahren in Bonn wohl gelegentlich und beiläufig mit Hegel beschäftigt hat, vgl. Janz 1978, 66 u. 195). Ob Kierkegaard einen (höchstens geringen) Einfluss haben konnte, ist in der Forschung umstritten, vgl. zur Diskussion Sommer 2012, 227 f. (Stellenkommentar zu AC 48, KSA 6, 226.). 142 Vgl. NL 1881, KSA 9, 11[146], 497. »Der Widerwille gegen das Leben ist selten. Wir erhalten uns darin und sind selber am Ende und in schweren Lagen einverstanden damit, nicht aus Furcht vor Schlimmerem, nicht aus Hoffnung auf Besseres, nicht aus Gewohnheit (die Langeweile wäre) nicht wegen der gelegentlichen Lust – sondern wegen der Abwechslung und weil im Grunde nichts eine Wiederholung ist, aber an Erlebtes erinnert. Der Reiz des Neuen und doch an den alten Geschmack Anklingenden – wie eine Musik mit vielem Hässlichen.« 143 Vgl. Löwith 1956 bzw. Heidegger 1961. 144 Nietzsches Fragment im NL 1881, KSA 9, 11[157] 502 bestreitet gerade eine Teleologie des Ganzen in seiner ewigen Wiederkehr. 145 NL 1881, KSA 9, 11[183], 513; i. Orig. Herv. 146 FW 341, KSA 3, 570.

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III. Kierkegaard

deln liegen! Oder wie müsstest du dir selbst und dem Leben gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? 147

Der Maßstab des Ewigen vom Einzelnen her gedacht bewirkt eine Umwandlung aus der flüchtigen Existenz gleichgültiger Momente zu einem festen und diesem Selbst zuschreibbaren Charakter. Die Bedeutung, die der Wiederkunftsgedanke für den Einzelnen hat, erscheint zunächst paradox: Die ständige Wiederholung ein und desselben Lebens verbürgt gerade dessen eigentümliche Geschichtlichkeit. Dies Paradox löst sich aber dadurch auf, dass dies Leben sich in derselben Reihe und Folge wiederholt, also nicht nur der Gegenwart und den zukünftigen Handlungen eine ewige Bestätigung gibt, sondern auch alle die vergangenen Leidenschaften und Irrnisse in alle Ewigkeit festschreibt. Würde eine bloße Kausalität, als einmalig durchschrittene lineare Folge, aus einer Reihe gleichgültiger Momente keine Geschichte machen, stellt die ewige Wiederkunft dieselbe Reihe immer und immer wieder in derselben Reihenfolge her – mitsamt der Vergangenheit, welche in jener Reihe gleichgültiger Momente austauschbar bliebe. Hätte die ›große Unschuld‹, der Tod Gottes und der Verlust aller überkommenen Werte sonst zur Folge gehabt, dass im Verlust aller Maßstäbe und Substantialität die Momente des Lebens als gleichgültige auseinanderfallen und beliebig werden, so verbürgt die ewige Wiederkehr jedes einzelnen Moments wie auch der Reihenfolge dieser Momente die unendliche Wichtigkeit derselben wie ihres einen Zusammenhangs, der auf diese Weise überhaupt erst einem Subjekt als einem bestimmten Charakter zuschreibbar wird; 148 – alles aber unter der gegebenen Voraussetzung, dass es sich auch wirklich wiederholt. Die Wiederkunftslehre ist kein abgewandelter kategorischer Imperativ, ein bloßes Als-ob wäre hier zu wenig: Man würde zwar vielleicht in der Klammer des Hypothetischen lernen, »dem Leben gut [zu] werden«, die »ewige Bestätigung und Besiegelung« (s. o.) aber fiele weg. 149 FW 341, KSA 3, 570. Dies gewissermaßen der Umkehrschluss des 70. Aphorismus aus JGB: »Hat man Charakter, so hat man auch ein typisches Erlebniss, das immer wieder kommt« (JGB 70, KSA 5, 86). 149 Überhaupt setzt diese Lehre dem Einzelnen keine konkrete Ethik, sie überwindet nur die Gleichgültigkeit desselben: »Meine Lehre sagt: so leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe – du wirst es jedenfalls! Wem das Streben das höchste Gefühl giebt, der strebe: wem Ruhe das höchste Gefühl giebt, der ruhe; wem 147 148

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Exkurs: Wiederholung Kierkegaards und ewige Wiederkunft Nietzsches

Diese letzte unhintergehbare und für den Einzelnen unverfügbare Faktizität begegnet uns – in struktureller, sich aus dem Problem selbst ergebender Parallelität – in jedem Versuch, wahre Unendlichkeit von einer Unmittelbarkeit her zu denken, die es erlauben würde, den Einzelnen als solchen in seiner Selbstbezüglichkeit wiedereinholen zu können, ohne die Bedeutung der eigenen Existenz und vor allem seine Verantwortlichkeit in der allseitigen Negativität eines immanentdialektischen Systems zu verflüssigen (als Voraussetzung zur Wiedergewinnung durch doppelte Negation) – in einem solchen Anfang also, der, sofern nicht durch logische Vermittlung gerechtfertigt, nach Hegels Verständnis notwendig die unendliche Selbstbezüglichkeit als scheiternde Wiederholung der anfänglichen Unmittelbarkeit in die Bewegung schlechter Unendlichkeit versetzt. Berechtigt ist jener Einzelne als Anfang dort (dies gilt gleichermaßen für Nietzsche, Schelling, Kierkegaard und auch Benjamin), wo er in der Dassheit seiner Existenz in einem unmittelbaren Bezug zur Ewigkeit steht, die in ihr in jedem Moment präsent ist 150 – sofern dieses Verhältnis denn auch tatsächlich besteht. Eine solche wahre Unendlichkeit ist (ganz ähnlich wie die von Hegel kritisierte kantische Ethik) nur durch unhintergehbare Postulate zu retten, 151 teilweise mit solchen Konsequenzen, dass etwa Kierkegaard in seiner zweiten Ethik, um auch nur ein anderes Selbst als das eigene als ethisch bedeutsam denken zu können, den ständigen Rückgriff auf die christliche Dogmatik benötigt. 152 Einordnung Folgen Gehorsam das höchste Gefühl giebt, der gehorche. Nur möge er bewußt darüber werden, was ihm das höchste Gefühl giebt und kein Mittel scheuen! Es gilt die Ewigkeit!« (NL 1881, KSA 9, 11[163], 505). 150 Auch Zarathustra denkt übrigens das Verhältnis vom Einzelnen, der die ewige Wiederkunft denkt und annimmt, zur Ewigkeit über die Schnittstelle des Augenblicks: Dies sei der Name des »Thorwegs«, wo sich die endlosen Wege der Vergangenheit und Zukunft »gerade vor den Kopf« stoßen (Z III »Vom Gesicht und Räthsel 2«, KSA 4, 199 f.). 151 Klaus Düsing weist übrigens nach, dass Hegel in Tübingen die kantische Postulatenlehre (ebenso die Figur der ›Achtung vor dem Sittengesetz‹) noch völlig kritiklos affirmierte (vgl. Düsing 1973, 68 u. 72) – ganz im Gegensatz zu Schelling, der ja in seinen Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus sich vehement gegen den Tübinger Dogmatizismus aussprach, der sich in Berufung auf die kantischen Postulate als kritische Theologie ausgab (vgl. Düsing 1973, 59 f.). 152 Auf die Schwierigkeiten, von der existentiellen Verlassenheit des Einzelnen in seinem Streben nach Seligkeit eine Ethik zu denken, kamen wir bereits in Kap. III.2.1. in der Perspektive Climacus’ zu sprechen (Ethik sei nur im Postulat Gottes ›aus Notwehr‹ zu retten). Erst aus der Perspektive seiner christlich-dogmatisch fundierten Schriften findet dies Problem seine Lösung, wie etwa in »Der Liebe Tun«: »Es ist

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III. Kierkegaard

Die ethische Gleichgültigkeit des Vergangenen in der Notwendigkeit dessen, was so und nicht anders geschehen ist (und damit die Gegenwart linear vermittelt), ist für Kierkegaard wie zuvor auch für Schelling der charakteristische Wesenszug eines Denkens der Wirklichkeit in seiner Geschichtlichkeit, das aus der Perspektive eines objektiven Betrachters an ihrem Ende stehend zurückschaut und nur ein- und dasselbe Ist derselben Notwendigkeit wiederholen kann, der es selbst unterworfen ist. Die Interesselosigkeit der ästhetischphilosophischen Schau kennt kein Entweder/Oder, keinen entscheidenden Moment und keinen Maßstab des Guten oder Wahren, der nicht eins ist mit dem einzig notwendigen Selbstvollzug der Methode. Eine Selbstüberwindung schlechter Unendlichkeit aus dem geschichtlichen Wiedereinholen anfänglicher Entfremdung müsste so dieselbe geschichts- und gegenwartslose Aneinanderreihung gleichgültiger Momente fortschreiben – sofern man denn jene Entfremdung ethisch akzentuiert, nämlich am Maßstab eines überzeitlichen Seinsollenden, an dem sich verschiedene Zeiten überhaupt erst unterscheiden lassen. Die Frage, ob das Fehlen dieses Maßstabes eine geschichtliche Überwindung scheinbarer Zeit bzw. das Einholen ihrer Vergangenheit unmöglich macht (wie beispielhaft am Kronos-Mythos erzählt), oder nicht vielmehr ein solches sprunghaftes Ausscheren aus dem notwendigen Verlauf im schwebenden Verweis auf ein Überzeitliches schlechthin in eine schlechte Unendlichkeit umschlagen muss, ist, wie zuvor oft betont, keine logische Frage, sondern vielmehr die nach dem Interesse der Philosophie als solche. Der Vorwurf schlechter Unendlichkeit geht hier in beide Richtungen; logisch könnte er aber nur dort greifen, wo Ansatz und Methode der hier verhandelten Ansätze nicht mit aller Konsequenz ausgeführt und durchgehalten werden. Die hegelsche Dialektik ist jedenfalls nicht geeignet, das Sollen eines anfänglichen ethischen Standpunkts in seiner überzeitlichen Unmittelbarkeit wiedereinzuholen; im Feld der Geschichte müsste eine solche Vermischung tatsächlich in eine schlechte Unendlichkeit umschlagen, nämlich gerade dort, wo sie der Suggestionskraft einer Dialektik in ihrem linearen Fortschritt durch alle Gegensätze hin-

nämlich die christliche Liebe, welche entdeckt und weiß, daß der Nächste da ist, und, was dasselbe ist, daß jeder es ist. Wofern es nicht Pflicht wäre, zu lieben, so wäre der Begriff ›Nächster‹ auch nicht da; aber nur wenn man den Nächsten liebt, nur dann ist das Selbstische der Vorliebe ausgerottet, und die Gleichheit des Ewigen bewahrt« (LT, 51).

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Exkurs: Wiederholung Kierkegaards und ewige Wiederkunft Nietzsches

durch verfällt, dessen fortwährende Geschäftigkeit die unüberwindliche Gegenwartslosigkeit eines endlosen Progresses (welcher stets denselben Widerspruch setzt) nur überdeckt.

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IV. Das Problem der Kontinuität in der dialektischen Geschichtsphilosophie am Beispiel Marx’ und Benjamins

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IV.1. Dialektische Logik des Kapitals

Es waren die Linkshegelianer, an erster Stelle Marx und Engels, welche die hegelsche Dialektik in ihrer Anwendung auf die Geschichte noch über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinausgetragen haben, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Während Hegel sich, aus dem einen Grund der Immanenz seiner Methode, jegliche Spekulation über die Zukunft und alles zeitweilige Aushängen der Notwendigkeit zugunsten eines Verweilens in wertender Betrachtung verbot, knüpfen jene an den Fortgang des Widerspruchs noch die Hoffnung an eine Lösung in besserer Zukunft. Solange dieser Anspruch nicht besteht, mag man den Gang der Methode (und dies ist der eigentliche Haupteinwand Schellings und Kierkegaards) in seiner durchgehend affirmativen Betrachtung der Wirklichkeit (als vernünftige) als zynisch, ja den praktischen Maßstäben der Ethik gegenüber als gleichgültig ansehen; logisch jedoch ist ihm nicht beizukommen, sofern er sich allen Sollens, welches gerade bei Hegel in seinen desaströsen dialektischen Wechselbestimmungen zum negativ entgegengesetzten Dasein als Schranke vorgeführt wird, konsequent enthält. Marx jedoch übernimmt die hegelsche Dialektik in praktischer Absicht – und tut sich damit, wie aus dem Bisherigen schnell einzusehen ist, keinen Gefallen. Und so wiederholen sich die kritischen Argumente Schellings und Kierkegaards gegen Hegel in der Marxkritik Benjamins (wahrscheinlich ohne direkte Einflüsse der Diskussion um Hegel auf Benjamin), 1 mit dem Unterschied allerdings, dass Marx nunmehr in seinem praktischen Anspruch sich nicht auf die Selbstreferentialität eines logischen Systems der Wirklichkeit berufen kann, sondern – schutzlos – am tatsächlichen Einholen derselben in der logischen Konsequenz seiner Dialektik (in ihrer Umdeu-

In den Fußnoten zum Kapitel IV.3. werden mögliche Anknüpfungspunkte näher diskutiert.

1

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IV. Das Problem der Kontinuität am Beispiel Marx’ und Benjamins

tung als kritische und zur Selbstrevolution fähige Methode) gemessen werden kann. 2 Die dialektische Methode, so Marx im Nachwort zur zweiten Ausgabe des Kapitals, stehe in ihrer mystifizierten hegelschen Form auf dem Kopf, sofern das Denken, welches in seiner Wahrheit das ins Ideelle übersetzte Materielle sei, sich bei Hegel, in Umkehrung des tatsächlichen Verhältnisses, zum Demiurg des Wirklichen aufgeschwungen habe. Die Bewegung der Dialektik sei als Prinzip in ihrer Wahrheit erkannt worden, in ihrer Richtung aber als Ganzes nunmehr vom Kopf auf die Füße zu stellen: Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeine Bewegungsform zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in ihrer mystischen Hülle zu entdecken. In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis ihrer Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst. 3

Indem Marx, unter anderer Voraussetzung und mit anderem Ziel, die hegelsche Dialektik als kritische Methode übernimmt, steht er aber unmittelbar doch vor derselben Schwierigkeit wie der Skeptizismus im hegelschen Verständnis: Die Negation alles Bestehenden muss eine sich mit sich selbst zusammenschließende sein, die fortgesetzte Negation aller bestimmten Inhalte ist keine leere Bewegung, sondern sich selbst durch alle Momente hindurch nach und nach konkretisierender Inhalt (gewissermaßen wird die Form, welche verneinend die Inhalte in sich aufhebt, in dialektischer Bewegung selbst wieder zum Inhalt). Bei Marx soll diese Selbstaffirmation im Gang der bestimmten Negation nun aber nicht eine ganzheitliche Vermittlung als Explikation der Idee in den endlichen Erscheinungen generieren, sondern mit derselben Notwendigkeit ihrer kontinuierlichen Bewegung (entlang desselben Widerspruchs) am Ende eine Revolution des gan-

2 Für eine detaillierte Analyse der Parallelen der hegelschen Logik zum marxschen Kapital (wie auch der Vorarbeiten von 1857/58) vgl. Angehrn 1977, 31–35, 51–56 u. 82–86. 3 MEW 23, 27 f.; Herv. v. Verf.

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Dialektische Logik des Kapitals

zen Verhältnisses herbeiführen und in die klassenlose Gesellschaft einmünden. Materielle Voraussetzung und Ziel lösen als Bewegungsprinzipien die Selbstexplikation der Idee in der an sich selbst festhaltenden Negativität ab. Erstere, in ihrer bleibenden, die ganze Bewegung vorantreibenden Widersprüchlichkeit, wird erst im geschichtlichen 24. Kapitel in ihren Voraussetzungen eingeholt; die Grundlage aber für den Mehrwert, der im kapitalistischen Prozess entsteht und denselben beständig über sich hinaustreibt, liegt in der Trennung der Produzenten und den Verwirklichungsmitteln ihrer Arbeit. Hier liegt der Ursprung aller Dialektik der Kapitalwirtschaft, aber auch der Grund für einen Entfremdungsprozess des Menschen, der in seiner sich verfehlenden Vergegenständlichung seiner Tätigkeiten einer Bewegung anheimfällt, in deren gesellschaftlicher Tektonik es keine selbst und einzeln handelnden Personen mehr gibt, sondern nur noch die Eigendynamik des wirtschaftlichen Prozesses durch die Verschiedenheit der Einzelinteressen hindurch. Eigentlich, so Marx, bewegen sich wirtschaftliche Prozesse, sofern sie auf Warenaustausch beruhen, in Zirkeln. 4 Daran ändert weder der äußerliche Fetischcharakter der Produkte als Ware, die einen Unterschied zwischen eigentlichem Gebrauchswert und gesellschaftlichen Wert setzt, noch das Geld als einheitliches Tauschmittel etwas (letzteres verflüssigt vielmehr als ständiges Zirkulationsmittel die Bewegung). – Die Bewegung gleiche den Planetenbahnen, die, einmal in Gang gesetzt, nach und nach in eine feste, elliptische Form einmünden, in der sie sich gleichmäßig und ohne Zuwachs oder Verminderung der in ihnen widerstreitenden Kräfte bewegen können. 5 Es bleibt überall dasselbe: Zirkulation schafft keinen Mehrwert. Der Wert der Waren im bloßen Verhältnis von Angebot und Nachfrage gelangt nur zur stummen Dialektik bloßer Wechselbestimmungen (da der Wert sich so nur über Äquivalenzbestimmungen ergibt), nicht aber zum dynamischen Prozess des Kapitals. Diesen erklärt Marx nun ganz im Sinne Hegels: Es ist die Arbeit des knechtischen Bewusstseins, welche in der konkreten Formung widerständiger Natur höherwertige Produkte schafft und, darüber hinaus, einen selbstbewussten Bildungsprozess anstößt, sofern der Arbeiter in der individuellen Aneignung der Natur zu seinen eigenen 4 5

Vgl. MEW 23, 118 f. u. 178. Vgl. MEW 23, 119.

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IV. Das Problem der Kontinuität am Beispiel Marx’ und Benjamins

Lebenszwecken zugleich Kontrolle und Bewusstsein über sich als Tätigen gewinnt. 6 Nun aber geschieht Folgendes: Ab einem bestimmten Punkt der Geschichte wird dieser individuelle Arbeitsprozess abgelöst durch einen gesellschaftlichen, in welcher der Arbeiter nicht für sich selbst, auch nicht als Sklave oder Leibeigener für seinen Herrn, sondern für einen freien Markt produziert und seine eigene Arbeitskraft auf Zeit zum Verkauf anbietet. 7 Letztere Formel der Arbeit aus der hegelschen Rechtsphilosophie (§ 67) ist hier Inbegriff der Entfremdung als Loslösung von den eigenen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und -vergegenständlichung, damit aber auch eines restloses Preisgebenseins an einen übergeordneten und eigendynamischen gesellschaftlichen Prozess. Mit dieser Loslösung gerät das Kapital in Fahrt: Auf der einen Seite steht eine Reihe von Anbietern ihrer Arbeitskraft ohne eigene Möglichkeit ihrer Verwirklichung, auf der anderen Seite Eigentümer dieser Möglichkeiten, die einen freien Markt stets überzähliger Arbeitskräfte vorfinden, deren angebotener Überschuss an Arbeit gegenüber den als Lohn zurückgezahlten Lebensbedingungen den Mehrwert für das Kapital schafft, und zwar in sich stets steigernder Dynamik, sofern nicht nur absoluter Mehrwert durch die Differenz von tatsächlicher Produktion und dem Wert des Lohns erwirtschaftet wird, sondern auch durch technische Entwicklung und gesellschaftliche Veränderung der Produktionsweisen sich der relative Mehrwert ständig erhöht, da der Anteil der zur eigenen Lebenserhaltung notwendigen Arbeit beständig sinkt; 8 – eine Entwicklung, die zugleich dahin führt, dass für denselben Wert immer weniger Arbeit vonnöten ist, daher ein beständiger Überschuss an freien Verkäufern ihrer Arbeitskraft gewährleistet ist und der Entfremdungsgegensatz von Produktionsmitteln und Produzenten sich vervollständigt (Maschinensturm). 9 Diese Bewegung beschreibt aber bloß die Gesetze ihrer immanenten Aufrechterhaltung und die dynamische Steigerung in den Wechselbestimmungen des Warenaustauschs. Motor der Bewegung ist der Widerspruch einer Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln; als durch Widerspruch fortgetrieben ist die Geschichte dieser 6 7 8 9

Vgl. MEW 23, 531. Vgl. MEW 23, 182 u. 532. Vgl. MEW 23, 334. Vgl. MEW 23, 455.

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Dialektische Logik des Kapitals

Bewegung allerdings eine dialektische im Verhältnis ihrer Seiten (als da stehen: Eigentümer der Produktionsbedingungen und freie Anbieter ihrer Arbeitskraft auf Zeit). Aber, und dies ist ein wichtiger Unterschied: die Seiten bleiben in ihrer Wechselbestimmung stets dieselben (auch wenn sie individuell durchlässig sein mag: Die Trennlinie als solche bleibt immer dieselbe) – auf der einen Seite die Klasse profitierender Expropriateure, auf der anderen Seite die freien Arbeiter als sich ständig unter den Eigengesetzen des Kapitals reproduzierende Verlierer. Dialektisch wird dieses Verhältnis nach Marx aber nun dadurch, dass jeder Schritt auf der einen Seite einen entgegengesetzten auf der anderen nach sich zieht – zunächst rein quantitativ (nach und nach), an Ende aber qualitativ umschlagend. 10 An diesem Punkt sei die Einsicht in die dialektische Bewegung des Kapitals, wie in der oben zitierten Passage aus dem Nachwort, nicht mehr Verklärung des Bestehenden, sondern, als auf den Kopf gestellt, gleichzeitig kritische Methode gegenüber aller Positivität des Bestehenden (als Einsicht in ihre Negativität), wie auch Einsicht in die voraussagbare Notwendigkeit zu einem Umschlag ins Gegenteil. Aus der unbeteiligten Vogelperspektive, in welche die dialektische Betrachtungsweise hier springt, steht die gesamte Geschichte des Kapitals unter dem Vorzeichen der Negation: Sie basiert auf entfremdeter Arbeit. Was nun aber in der Kritik vorweggenommen werde, ist nichts anderes, als die zukünftige doppelte Negation in der Wirklichkeit. Damit jene aber vollständig sein könne, müsse sie ganz bis zur ersten, ursprünglichen Negation zurückschreiten, die für ein Bewusstsein, das in der Eigendynamik des Kapitals befangen bleibt, fortwährend verdeckt werden würde: auf den Gewaltakt der sogenannten ursprünglichen Akkumulation.

Marx kennt die hegelsche These von einem qualitativen Umschlag an einem bestimmten Punkt quantitativer Steigerung, vgl. MEW 23, 327. Allerdings wird dieser Knotenpunkt bei Hegel erst durch das Maß als Drittes von Quantität und Qualität gesetzt (sonst wäre nur quantitativer Progress) – wie sich dieses feste Maß aber, nach welchem sich der Umschlagspunkt bestimmt, bei Marx aus der Immanenz der Bewegung ergibt, ist eine gänzlich offengelassene Frage. Es ist nämlich, wie gleich zu sehen sein wird, am Ende nur der objektive und unbeteiligte Betrachter, der den Maßstab anlegt.

10

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IV.2. Die List der Vernunft in der marxschen Geschichtsphilosophie (am Beispiel des 24. Kapitels des Kapitals)

Zu diesem Punkt gelangt Marx im 24. Kapitel des Kapitals durch folgende Überlegung: Der Akkumulationsprozess des Kapitals gerät, seiner unmittelbaren Darstellung folgend, scheinbar in einen fehlerhaften Zirkel: Geld wird zu Kapital, durch Kapital wird Mehrwert und durch den Mehrwert wiederum mehr Kapital geschaffen. Zugleich setzt aber die Akkumulation des Kapitals den Mehrwert voraus, der wiederum nur unter der Voraussetzung einer kapitalistischen Produktion, dem Vorhandensein größerer Massen von Arbeitskraft und Kapital in den Händen der Warenproduzenten entsteht. Dem Ganzen des Kreislaufs muss also bereits eine ursprüngliche Akkumulation vorausgehen, die selbst nicht Resultat, sondern Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktionsweise ist: nämlich jene Polarität von Eignern der Produktionsmittel und formell freien, aber auf Lohn angewiesenen Arbeitern, entstanden in einem langwierigen historischen Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmitteln bzw. der Loslösung des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen. 11 Diese historische Entwicklung in ihrem dialektischen Fortschritt lässt sich bei Marx, in aller Kürze, folgendermaßen darstellen: Die notwendige Vorbedingung für ein Proletariat, das sich als freier Verkäufer seiner Arbeitskraft anbietet, sei eine gewaltsame Expropriation der ländlichen Bevölkerung, welche nach Marx bereits die Grundlage des Feudalwesens bildet. Aber erst durch die Aufhebung der Leibeigenschaft auf dem Land und des Zunftzwangs in der Stadt konnte einerseits eine Klasse von Lohnarbeitern entstehen, welche zwar nicht Eigentümer ihrer Subsistenzmittel sind, dafür aber frei über ihre Arbeitskraft verfügen; andererseits konnte sich nun ein freier Markt in den Städten und die kapitalistische Produktionsweise in den Manufakturen bilden. Damit geht aber noch eine zweite Ent11

Vgl. MEW 23, 741 f.

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Die List der Vernunft in der marxschen Geschichtsphilosophie

wicklung einher als Vorbedingung für die zur kapitalistischen Akkumulation notwendige Masse von Arbeitern in den Städten, nämlich die Vertreibung der Bauern vom Land durch die Pächter (und zwar selbst und gerade dort, wo die Auflösung des Feudalwesens soweit fortgeschritten war, dass eine freie Bauernschaft entstanden ist wie etwa in England). Beide Entwicklungen stehen in Wechselbestimmung zueinander, sofern etwa die Nachfrage nach Wolle eine Umwandlung der Ländereien in Viehweiden rentabel macht und gleichzeitig die bäuerlichen Kleinbetriebe bei wachsender Inflation und steigenden Steuern gegenüber den Manufakturen nicht mehr konkurrenzfähig sind, infolgedessen das Land wiederum zum Absatzmarkt der Manufakturgüter gerät. Die weiteren sich hieraus entwickelnden Stufen sind ebenso durch die vorherigen bedingt, wie sie die Gesamtbewegung in ihrer wechselseitigen Eigendynamik steigern: Zu nennen sind hier v. a. die Ausweitung der Rohstoffgebiete infolge der kolonialen Entwicklung und die wachsende Staatsverschuldung im Konkurrenzkampf der Nationen untereinander, welche wiederum einerseits eine weitere Erhöhung der Abgaben (und damit wachsende Proletarisierung), andererseits eine zunehmende Verlagerung der Macht vom Staat an die Banken als Kreditgeber zur Folge hat. Die große Linie, welche in dieser wechselseitigen Beziehung Gestalt gewinnt, nämlich die fließende Entwicklung von eigenständiger Arbeit in Kleinbetrieben zur industriellen Massenproduktion, hat wiederum eine dialektische Rückwirkung auf den Wandel in der Gesellschaft sowohl in ihren materiellen Grundlagen als auch in ihrem Bewusstsein. Am Anfang dieser Entwicklung steht der individuelle Kleinbetrieb, welcher nicht von Sklaven oder Leibeigenen, sondern von Privatleuten betrieben wird, dessen Produkte die Individualität seines Produzenten widerspiegeln, dem Gesamtbild einer allgemeinen Zersplitterung des Bodens und der Produktionsmittel entsprechend – auf die Dauer ein unhaltbarer Zustand allgemeiner Mittelmäßigkeit, dessen Produktionsweise nur in engen gesellschaftlichen und technischen Schranken bestehen kann. Auf einem gewissen Höhegrad bringt sie [sc. diese Produktionsweise, D. U.] die materiellen Mittel ihrer eigenen Vernichtung zur Welt. Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im Gesellschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen. Sie muß vernichtet werden, sie wird vernichtet. 12 12

MEW 23, 789.

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IV. Das Problem der Kontinuität am Beispiel Marx’ und Benjamins

Die Vernichtung dieser Produktionsweise hat zwei Gesichter: Einerseits verwandeln sich die individuellen, zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte und nur gemeinsam in Kooperation verwendbare, andererseits kehren sich die Eigentumsverhältnisse um: Das beschränkte, selbsterarbeitete Privateigentum vieler wird verdrängt durch das massenhafte, auf Exploitation fremder, aber formell freier Arbeit beruhende Privateigentum weniger. Die fortgesetzte Vergesellschaftung der Arbeit geht aber in ihrer sich beständig steigern müssenden Eigendynamik über diese Entwicklung hinaus: Sobald es keine selbstwirtschaftenden Arbeiter mehr gibt, setzt sich der Drang zur Zentralisation im Konkurrenzkampf der Eigentümer untereinander fort und führt zur weitergehenden Entwicklung bzw. Verzweigung des kooperativen Arbeitsprozesses, namentlich in der bewussten technischen Anwendung der Wissenschaft, der planmäßigen Ausbeutung der Natur, der Verwandlung aller Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare bei gleichzeitiger Ökonomisierung der Produktionsmittel, zuletzt in den zunehmenden internationalen Verzweigungen des Weltmarkts – und dies alles nach Marx einhergehend mit dem wachsenden Druck auf das Proletariat. Der entscheidende Punkt hieran ist nun, dass diese Entwicklung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses ebenso an seinem durch ihn selbst bestimmten Anderen den Keim des eigenen Untergangs mit sich führt und ausbildet. Die fortgesetzte Vergesellschaftung der Arbeit und die kooperative Exploitation der Erde hat in ihrer Eigendynamik eine dialektische Rückwirkung auf die Vergesellschaftung des Proletariats als selbstbewusster Klasse, welche ungewollt, im Rücken des Konkurrenzkampfes der Eigentümer, durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses geschult, vereint und organisiert werde. Nach Marx wird daher mit derselben Notwendigkeit, in welcher die Schranken der kleinbetrieblichen Privatproduktion durch die Interessen einzelner Privatunternehmer gesprengt wurden, das Proletariat sich gegen die überkommenden Verhältnisse empören und die Expropriateure expropriieren. Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der

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Die List der Vernunft in der marxschen Geschichtsphilosophie

kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel. 13

Die Negation der Negation ist kein Rückgang in den unmittelbaren Anfangszustand, sondern ein sich im Fortgang desselben Widerspruchs konkretisierender Fortschritt, dessen Ende die vorhergehenden Stufen in sich begreift (bzw. aufhebt). – Im Gegensatz zum langwierigen Prozess der ersten Negation geschehe die zweite plötzlich, da die Gegenseite an ihrem bestimmten Gegenüber gewachsen ist und sich in ihren eigenen Interessen konkretisiert hat. Daher sei das Proletariat, so Marx im Manifest der Kommunistischen Partei, auf welches er selbst in diesem Zusammenhang verweist, die einzige revolutionäre Klasse. Während der Mittelstand und die Aristokratie um der Wahrung ihres schwindenden Besitzes willen das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten, stehe das Proletariat als revolutionäre Klasse im Einklang mit der Geschichte, da ihr ureigenstes Interesse die Vollendung des unaufhaltsamen gesellschaftlichen Fortschritts hin zur klassenlosen Gesellschaft sei. 14 Gerade dieser Punkt zeigt nun die strukturelle Verwandtschaft Marx’ und Hegels in der Methode des dialektischen Fortschritts der Geschichte in aller Deutlichkeit und sie geht weit über die begrifflichen Anspielungen hinaus, welche Marx in Formulierungen wie der Negation der Negation bewusst einsetzt. Was hier stattfindet, ist nichts anderes als der unwillkürliche Vollzug der Geschichte in ihrer allgemeinen Notwendigkeit durch die jeweils entgegengesetzten Einzelinteressen und die Kollision ihrer Zwecke hindurch. Wenngleich die Geschichte hier nicht als Selbstexplikation der Idee im Geist als Rückkehr aus der Entäußerung zu sich verstanden werden darf, geht doch die Geschichte bei Marx zumindest mit dem ersten und selbst notwendig geschehenden Aufbrechen der Einheit von Produzent und Produktionsmittel ihren einmalig festgeschriebenen, mit der »Notwendigkeit eines Naturprozesses« fortführenden Weg zur klassenlosen Gesellschaft, und zwar gerade dadurch, dass die Menschen ihre je eigenen Interessen verfolgen, ganz gleichgültig, ob der sich in diesen Gegensätzen vollziehende eine Gang der Geschichte den jeweiligen individuellen Zielen Genüge leistet oder nicht. 15 Es ist die Formel MEW 23, 791; Herv. v. Verf. Vgl. MEW 4, 472. 15 Bereits Sydney Hook wies auf gewisse Parallelen von Marx und Hegel in ihrer Kritik an einer den Interessen des Einzelnen übergeordneten abstrakten Ethik hin, 13 14

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IV. Das Problem der Kontinuität am Beispiel Marx’ und Benjamins

der ›List der Vernunft‹ aus der Einleitung zur Geschichte der Philosophie Hegels, welche dieser marxschen Bewegung Pate steht, mit dem einzigen Unterschied, dass der notwendige Gang nicht aus einem vernünftigen Universalprinzip, sondern aus der einmal gegebenen materiellen Konstellation entspringt, die hier durch einen anfänglichen Gewaltakt in einen dynamischen Widerspruch gesetzt wurde. Dort heißt es: Das besondere Interesse der Leidenschaften ist […] unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen, denn es ist aus dem Besonderen und Bestimmten und aus dessen Negation, daß das Allgemeine resultiert. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft und wovon ein Teil zu Grunde gerichtet werden wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begiebt, sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund. Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, was durch sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es ist die Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ. Das Partikulare ist meistens zu gering gegen das Allgemeine: die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus der Leidenschaft der Individuen. (PhGesch, TWA 12, 49)

In dieser Theorie ist zugleich enthalten, weshalb es bei Hegel und Marx nur eine durchgehende Linie in dem einmal eingeschlagenen Weg geben kann: Jede Negation eines besonderen Inhalts ist nicht einfach Nichts, sondern selbst bestimmt durch dasjenige, was negiert wird: Auf diese Weise trägt jede Stufe die vorherigen Bestimmungen in sich, wie bei Marx – in der Selbstvernichtung der Partikularinteressen in den Kollisionen der allgemeinen Geschichte – die klassenlose Gesellschaft das individuelle (nicht private) Eigentum, die Einheit von Produzent und Produktionsmitteln auf Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Stufe wiederherstellt – nicht als Wiederholung eines unmittelbaren Anfangszustands, sondern als sich im Gang seiner Geschichte konkretisiert habendes Resultat. Damit ist in der Geschichte nicht nur eine bestimmte Richtung vorgegeben; es gibt nur eine kontinuierliche Linie ihrer Verwirklichung, indem jeder aber auch darauf, dass Marx Hegels (hier bis in seine Frühschriften zurückverfolgtes) »what did happen is what ought to have happened« (Hook 1994, 50) nicht mitgeht, vielmehr im Sinne einer »fighting ethics« (Hook 1994, 53) eine solche Gerechtigkeit im Interesse einer Klasse von Unterdrückten einfordert, wie sie sich aus ihren materiellen Gegebenheiten und ihrer Geschichte ergibt.

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Die List der Vernunft in der marxschen Geschichtsphilosophie

Moment mit derselben Notwendigkeit durch den vorherigen bedingt ist, wie er auf der anderen Seite den nachfolgenden bedingt. Dabei wird von Marx, neben den oft geäußerten Bedenken gegen eine Universalisierung der Dialektik als Prinzips der Welt als solcher, nicht verhehlt, dass die lineare Kontinuität der Entwicklung im Kapital nicht ohne retardierende Momente vonstattengeht, v. a. im Phänomen des allmählichen Vergessens der ursprünglichen Gewalt in der Trennung von Produzent und Produktionsmitteln auf Seiten der Arbeiter über die Generationen hinweg, welches im merkwürdigen Widerspruch zum marxschen Anspruch eines wachsenden Selbstbewusstseins des Proletariats steht, sowie in einer damit parallel verlaufenden gesellschaftlichen Sublimierung der anfangs noch offenen Gewalt der ursprünglichen Expropriation in den ›stummen Zwang‹ der ökonomischen Verhältnisse: Es ist nicht genug, daß die Arbeitsbedingungen auf den einen Pol als Kapital treten und auf den anderen Pol Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Es genügt auch nicht sie zu zwingen, sich freiwillig zu verkaufen. Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Überbevölkerung hält das Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit und daher den Arbeitslohn in einem den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den »Naturgesetzen der Produktion« überlassen bleiben, d. h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital. 16

Vor diesem Hintergrund bekommt die angestrebte Plötzlichkeit der zweiten Negation als endgültiger Rückschluss der Geschichte auf sich selbst gegenüber dem stetigen Verlauf seiner Bedingungen einen äußerst problematischen Charakter, besonders dann, wenn Marx dieser letzten Bewegung die tatsächliche Notwendigkeit eines wirklichen Naturgesetzes gibt, im Gegensatz zur auf Vergessen gegründeten Einbildung einer Naturgesetzlichkeit der kapitalistischen Verhältnis16

MEW 23, 765.

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IV. Das Problem der Kontinuität am Beispiel Marx’ und Benjamins

se als ewig fortbestehender – in einem Satz: Der letzte Schritt muss sich aus der Kontinuität der wirklichen Verhältnisse, aber zugleich im Bruch zur Einbildung eines ewigen Fortgangs der vorherigen, zu negierenden Stufe ergeben, die doch beide demselben eigendynamischen Prozess des einmal eingeschlagenen Wegs im Fortgang desselben sich stets neu setzenden Widerspruchs entspringen.

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IV.3. Wiederholung der Hegelkritik Schellings und Kierkegaards (nach ihrer praktischen Seite) in der Marxkritik Benjamins

Diese schwebende Doppeldeutigkeit des letzten Übergangs in seinem Bruchcharakter zu der Seite einer eingebildeten Kontinuität hin taucht in den Formulierungen der sich in die Nachfolge Marx’ stellenden Arbeiterbewegung der frühen deutschen Sozialdemokratie schon bald nicht mehr auf, welcher Marx übrigens, wie etwa in seinen Kommentaren zum Gothaer Programm zu sehen, äußerst kritisch gegenüberstand. Hier gestaltet sich der letzte Übergang vollends zu einem fließenden, bis hin zur Sicherheit des passiven Einklangs mit dem Fortschritt, so etwa bei Josef Dietzgen: »Wird doch unsere Sache alle Tage klarer und das Volk alle Tage klüger.« 17 In den Manuskripten zu den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« gibt Walter Benjamin dem Fortschrittsgedanken bei Marx selbst die Schuld an dieser Entwicklung und dem Scheitern der Sozialdemokratie: Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse. 18

Weiter heißt es: Bei Marx stellt sich die Struktur des Grundgedankens folgendermaßen dar: durch eine Reihe von Klassenkämpfen […] gelangt die […] Menschheit im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft. = Aber die klassenlose Gesellschaft ist nicht […] als Endpunkt einer historischen Entwicklung zu konzipieren. […] Aus dieser irrigen Konzeption ist unter anderm, bei den Epigonen die […] Vorstellung von der »revolutionären Situation« hervorgegangen, die bekanntlich nie kommen wollte. 19

17 18 19

Dietzgen 1920, 155; wird zitiert in KG 19, 144. KG 19, 153. KG 19, 154.

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IV. Das Problem der Kontinuität am Beispiel Marx’ und Benjamins

An den in keiner endgültigen Fassung überlieferten Thesen über den Begriff der Geschichte arbeitete Benjamin wahrscheinlich von Ende 1937 bis zu seinem Tod 1940; nach eigenen Angaben gegenüber Scholem und Adorno sollten sie für seine geplanten Baudelaire- und Passagenprojekte als erkenntnistheoretische Grundlage fungieren, 20 dessen Programm Benjamin in einem Brief an Horkheimer vom 24. Januar 1939 wie folgt beschreibt: Die Zerschlagung der Vorstellung von einem Kontinuum der Kultur […] muß erkenntnistheoretische Konsequenzen haben, unter denen mir eine der wichtigsten die Bestimmung der Grenzen scheint, die dem Gebrauch des Fortschrittsbegriffs in der Geschichte gezogen sind. 21

Unter diesem Blickwinkel habe etwa jener geschichtliche Fortschrittsgedanke in der Sozialdemokratie, wie er im Satz Josef Dietzgens formuliert wurde, grundsätzlich drei Prädikate: eines Fortschritts der Menschheit selbst (nicht nur in ihren Fertigkeiten und Kenntnissen), eines unabschließbaren Prozesses unendlicher Perfektibilität und drittens eines unaufhaltsamen Verlaufs der Geschichte als selbsttätiger. Jedes dieser Prädikate komme in der Vorstellung der Geschichte als einer homogenen, leeren Zeit überein, welche in ständiger Wiederholung ihrer selbst im Kausalnexus der Geschichte gleichgültig Begebenheit an Begebenheit reiht: 22 in der Vorstellung eines Fortschritts also, in welchem jeder Moment in der kontinuierlichen Richtung der Zeit auf die Zukunft hin ein fließender Übergang ist, ohne dass auch nur ein Punkt Aktualität und die Agierenden in dieser Geschichte je eine Gegenwart hätten. – Gerade durch die Ausrichtung eines jeden Moments auf die Zukunft hin entstehe die Täuschung in der Betrachtung der Geschichte, dass diese Bewegung eine tatsächlich fortschreitende sei, wenn in Wirklichkeit der einmal eingeschlagene Weg der Geschichte sich selbst immer weiter fortsetzt, und jeder Moment in der linearen Bewegung von seiner Aktualität gleich weit entfernt ist (in der Logik Hegels ausgedrückt: Die Selbstaffirmation doppelter Negation ist dann, wenn sie erst am Ende eingeholt werden soll, in der Bewegung selbst nie anwesend). Diese Figur einer ins Unendliche fortgesetzten Selbstverfehlung in der Geschichte aufzuweisen gelingt aber nur einem solchen Standpunkt, der den Maßstab des Gelingens nicht aus dem notwendigen 20 21 22

Vgl. Gérard Raulets Kommentar in KG 19, 188 f. W. Benjamin an M. Horkheimer, 24. Januar 1939, GB VI, 198. Vgl. GS I.2, 700 f. (XIII. These) u. 704 (Anlage A).

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Wiederholung der Hegelkritik bei Benjamin

Verlauf der Geschichte gewinnt, sondern aus einem solchen, welcher dem Fortschreiten der Geschichte als bleibender entgegengesetzt ist – wieder also eine unhintergehbare Faktizität, die sich nicht als Resultat aus dem Verlauf der Geschichte in ihrer Notwendigkeit ergibt. Dieser Hintergrund ist bei Benjamin zweifelsohne ein theologischer, sofern er gegenüber der Geschichte die Bestimmung des Menschen zur Erlösung beanstandet, die wir zwar auch aus der Spinozakritik Hegels kennen, welche aber hier nicht Ziel der Geschichte, sondern deren Ende sei. Ohne eine solche Vorstellung aber, welche sich der Methode der Dialektik in ihrem Interesse annimmt und frei anwendet – so das in der einleitenden These entworfene Bild vom türkischen Schachautomaten –, verfalle jegliche dialektische Geschichtsbetrachtung im Automatismus der bestimmten Negation selbst dem notwendigen linearen Verlauf der Geschichte (die Unfreiheit des Daseins als Gegenüber der Reflexion, an deren konkreter Wirklichkeit die Geschichte verläuft, spiegelt sich auch hier, wie in Schellings Hegelkritik, im Gang der bewussten Geschichte wider, nämlich in ihrer blinden Notwendigkeit). – Hegel selbst wäre sich mit seinen Kritikern gegen Marx in diesem Punkt einig: Die Darstellung der Geschichte in der Kontinuität ihrer notwendigen Folge ist zugleich Affirmation des Ist dieser Notwendigkeit, d. h. Affirmation ihres Seins – und jegliche kritische Abstandnahme muss in bestimmter Negation des bisherigen geschichtlichen Verlaufs unweigerlich derselben linearen Kontinuität unterliegen, ebenso wie die angestrebte Aufhebung der Widersprüche. Zu einer wahren Dialektik im benjaminschen Sinne gehört demnach nicht nur die bloße notwendige Bewegung des Denkens, sondern auch der momentane Stillstand, 23 sofern die geschichtliche Betrachtung nicht die fließende Linie nachzieht und fortführt, sondern die Jetztzeit im Vergangen zitiert. 24 Diese Figur findet ihre Erörterung in der XIV. These (eingeleitet mit dem Karl Kraus-Zitat: »Ursprung ist das Ziel«): Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie 23 24

Vgl. GS I.2, 702 (XVI. u. XVII. These). Vgl. GS I.2, 701 (XIV. These).

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IV. Das Problem der Kontinuität am Beispiel Marx’ und Benjamins

zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat. 25

Diese Jetztzeit in der Vergangenheit bezeichnet eine Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern einen Augenblick, in dem die Zeit stillsteht. 26 Die Geschichte als von Jetztzeit erfüllte zu betrachten heißt die Momente in ihrer Gegenwärtigkeit zu nehmen, nicht als ÜberGS I.2, 701 (XIV. These). Inwiefern spielt hier Benjamins Kierkegaardlektüre eine Rolle? – Inhaltlich stehen die Thesen über den Begriff der Geschichte in ihrem Anliegen, die Notwendigkeit in der Geschichte als Täuschung zu entlarven und »nach Maßgabe der Möglichkeit« (GS I.2, 696 f. (VII. These)) vom Prozess der Überlieferung wirklicher Ereignisse abzurücken, in größter Nähe zu den geschichtsphilosophischen Betrachtungen Kierkegaards im »Zwischenspiel« der Philosophischen Brocken. Inhaltliche wie begriffliche Nähen können aber auch auf gemeinsame Quellen statt auf eine Beschäftigung Benjamins mit diesem Text Kierkegaards schließen lassen: So ist der bei beiden auftauchende Begriff der Geschichte als Gegenstand einer »Konstruktion« (GS I.2, 701 (XIV. These)) wohl ein ursprünglich schellingscher (vgl. Thulstrup 2005, 914), während der für beide Theorien zentrale Begriff des Historikers als eines »rückwärts gewandte[n] Prophet[en]« (PB, GW 6, 76; ebenso in den Manuskripten Walter Benjamins nach KG 19, 112, 125 u. 127, vgl. dazu auch Thulstrup 2005, 915) auch auf die Beschäftigung beider mit der Philosophie der Frühromantik zurückzuführen sein mag, namentlich auf das 80. Athenaeumsfragment (vgl. Schlegel/Schlegel 1799, 80). Kierkegaard selbst verweist in diesem Zusammenhang auf Carl Daub, dessen Formulierungen aber anders lauten. Mit den direkten Verweisen auf Kierkegaards Werke steht es hingegen folgendermaßen: In dem von Walter Benjamin seit seinem Abitur geführten Verzeichnis gelesener Schriften findet sich nur eine Schrift Kierkegaards: Stadien auf dem Lebensweg mit dem Vermerk: »Schuldig-Nichtschuldig nur teilweise« (vgl. GS VII.1, 437). Darüber hinaus hat Benjamin nachweislich die Kierkegaard-Schrift Theodor W. Adornos gelesen (vgl. GS VII.1, 466) und eine öffentliche Rezension über dieselbe verfasst (vgl. GS III, 380–383). Bezüglich des Verzeichnisses gelesener Schriften müssen im Hinblick auf die Vollständigkeit allerdings zwei Einschränkungen gemacht werden: Zum einen hat Benjamin nur diejenigen Schriften aufgeführt, welche er vollständig oder zum größten Teil gelesen hat (in solchen Fällen fügte er einen Vermerk wie den obigen an), zum anderen sind diejenigen Seiten verschollen, welche Benjamin vor 1916/Anfang 1917 angefertigt hat, während die Briefe Walter Benjamins aus diesem Zeitraum nahelegen, dass gerade hier eine eingehendere Auseinandersetzung mit Kierkegaard stattgefunden hat: So erwähnt Benjamin in einem Brief an Carla Seligson vom 30. 4. 1913 die Lektüre von Entweder/Oder (vgl. W. Benjamin an C. Seligson, 30. April 1913, GB I, 92 f.), in zwei Briefen an Herbert Blumenthal vom 17. 7. 1913 und vom 17. 8. 1913 die Lektüre von Der Begriff Angst (vgl. W. Benjamin an H. Blu25 26

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Wiederholung der Hegelkritik bei Benjamin

gang in ihrem Verfallensein an die Zukunft. Erst unter der Voraussetzung einer entzauberten Zukunft 27 könne eine solche Dialektik des Stillstands 28 einen Haltepunkt in der Geschichte finden, von dem aus einerseits die Geschichte als stete Wiederholung ein und derselben leeren Kontinuität enthüllt wird, andererseits aber auch eine solche kritische Dialektik ihren Gang nehmen kann, welche das Andere eines jeden Moments nicht als dessen lineare Vermittlung herleitet oder als nächste Stufe setzt, sondern in ausgezeichneten Momenten des Zugleichs von vergangenem und gegenwärtigem Moment über den linearen Progress der leeren Zeit hinweg erfährt 29 (hat die kritische Abstandnahme von der linearen Kontinuität der Geschichte in diesem Bleibenden einen Haltepunkt, ist sie selbst nicht mehr nur ›Kind ihrer Zeit‹). – Auch hier sieht die dialektische Betrachtung das menthal, 17. Juli u. 17. August 1913, GB I, 148 u. 168: Kierkegaard sei »einer der größten Schriftsteller die ich je las«). 27 Vgl. GS I.2, 704 (Anlage B). 28 Richtet sich eine solche Methode womöglich direkt gegen Hegel (eine nähere Auseinandersetzung vorausgesetzt)? – Eine Notiz Benjamins zu seinem geplanten Passagen-Werk führt vielleicht in diese Richtung (GS V.2, 1037 f. (Q 0, 21)): »Zum dialektischen Bilde. In ihm steckt die Zeit. Sie steckt schon bei Hegel in der Dialektik. Diese Hegelsche Dialektik kennt aber die Zeit nur als eigentlich historische, wenn nicht psychologische, Denkzeit. Das Zeitdifferential, in dem allein das dialektische Bild wirklich ist, ist ihm noch nicht bekannt. Versuch, es an der Mode aufzuzeigen [vgl. die oben zitierte XIV. These, D. U.]. Die reale Zeit geht in das dialektische Bild nicht in natürlicher Größe – geschweige denn psychologisch – sondern in ihrer kleinsten Gestalt ein. – – Ganz läßt sich das Zeitmoment im dialektischen Bilde nur mittels der Konfrontation mit einem andern Begriffe ermitteln. Dieser Begriff ist das ›Jetzt der Erkennbarkeit‹.« – Tatsächlich ist eine eingehendere Beschäftigung Benjamins mit Hegel nicht nachzuweisen, obwohl eine sporadische und unzusammenhängende Lektüre einzelner Passagen wohl stattgefunden hat und es schließlich auch im nächsten Umfeld Benjamins mehrere Hegelkenner gab (v. a. Adorno, aber auch Brecht hat sich in den 30ern näher mit Hegel beschäftigt). Die gelegentlichen Anspielungen und Hegelzitate Benjamins (so wird etwa die IV. These durch ein solches eingeleitet: »Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen«, GS I.2, 694) lassen aber eher auf eine oberflächliche Kenntnis schließen. Vgl. zu diesem Zusammenhang Wagner 1999 (dem ich auch den obigen Hinweis auf die Passagen-Notiz verdanke, vgl. Wagner 1999, 1083 f.). 29 Vgl. GS V.1, 576 f. (N 2 a, 3): »Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf, sondern Bild[,] sprunghaft. […]« (vgl. auch GS V.1, 577 (N 3, 1) u. 577 f. (N 9, 7)).

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IV. Das Problem der Kontinuität am Beispiel Marx’ und Benjamins

Zugleich der Gegensätze, aber auf eine solche Weise, dass sie als kritische in plötzlichen Momenten unvorhergesehener Gleichzeitigkeit einzelne Phänomene aus der Kontinuität der Geschichte zu sprengen vermag und darin auf eine andere Geschichte verweist, als dessen Verfehlung jene sich darstellen lässt (während die bloße Nacherzählung in ›tatsächlicher‹ Reihenfolge stets auf der Seite der sich durchgesetzt habenden herrschenden Seite steht) 30 – weswegen etwa eine geschichtliche Betrachtung der Mode beim späten Benjamin, insbesondere im Passagen-Werk, philosophisch bedeutsam werden kann (gleichsam als ein unverdächtiger Ort, an dem sich sowohl die herrschenden Verhältnisse und der Fetischcharakter der Ware unverhohlen, da in einem nebensächlichen Bereich, ausdrücken, aber auch unverhoffte Brüche und Wiederholungen der Vergangenheit im Zitat). Die plötzliche Erfahrung eines solchen Stillstands bricht die Kontinuität im geschichtlichen Bewusstsein für einen Moment auf und ist zugleich Inzitament der kritischen Abstandnahme – nicht eines Unbeteiligten, sondern eines ethisch Interessierten: So wird etwa aus einer derart gewonnenen Perspektive das Glücksstreben eines jeden Menschen eingedenk seiner scheiternden Erfüllung in der Geschichte betrachtet, 31 werden die Dokumente der Kultur zugleich als Dokumente der Barbarei aufgewiesen, 32 nicht zuletzt aber auch der dialektische Schritt von der Ausbeutung der Natur zur Ausbeutung des Menschen angezeigt, nämlich als dialektische Rückbezüglichkeit des Fortschritts der Naturbeherrschung auf den Rückschritt in der Gesellschaft. 33 – Zumindest für eine dialektische Geschichtsphilosophie wie die marxsche, welche eine Verfehlungsstruktur in der Ge-

Vgl. GS II.2, 468: »Der historische Materialist muß das epische Element der Geschichte preisgeben. Sie wird ihm Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die leere Zeit, sondern die bestimmte Epoche, das bestimmte Leben, das bestimmte Werk bildet. Es sprengt die Epoche aus der dinghaften ›geschichtlichen Kontinuität‹ heraus, so auch das Leben aus der Epoche, so das Werk aus dem Lebenswerk. Doch der Ertrag dieser Konstruktion ist der, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben. Der Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit dar; der historische Materialismus eine jeweilige Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. […] Geschichtliches Verstehen faßt der historische Materialismus als ein Nachleben des Verstandenen auf, dessen Pulse bis in die Gegenwart spürbar sind« (Herv. v. Verf.). 31 Vgl. GS I.2, 693 (II. These). 32 Vgl. GS I.2, 696 (VII. These). 33 Vgl. GS I.2, 699 (XI. These). 30

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Wiederholung der Hegelkritik bei Benjamin

schichte im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Revolution aufzuzeigen sucht, erscheinen solche Figuren einer Dialektik des Stillstands, wie etwa am Beispiel des Verdrängungsprozesses der ursprünglichen Gewalt beschrieben, unumgänglich.

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IV.4. Schlussbemerkungen

Was Schelling mit allen logischen Mitteln vergeblich versucht hat der hegelschen Dialektik nachzuweisen: eine insgeheime Teleologie, welche die Bewegung vorantreibe, ohne dass diese je zur Reflexion auf den Treibenden selbst zurückgebogen werden könne, unterstellt Benjamin – zurecht – der marxschen Geschichtsphilosophie: die Hoffnung auf eine andere Zukunft, welche durch einen dialektischen Umschlag herbeigeführt werden würde. Was Benjamin an Marx gesehen hat, ist dies: Jegliche teleologische Ausrichtung eines dialektischen Prozesses mündet in den unendlichen Progress schlechter Unendlichkeit, da ein in der Bewegung der Dialektik noch nicht Gegenwärtiges auch niemals in ihr zur Gegenwart gebracht werden kann. Die Notwendigkeit bestimmter Negation, die Marx unbedacht auf eine Revolution hinsteuern lässt, in der jeder Schritt den vorherigen in sich aufnimmt (was im dialektischen Schritt doppelter Negation im Sinne Hegels gewissermaßen an jeder zweiten Stelle wiedereingeholt werden muss), ermöglicht aus ihrer Immanenz heraus weder einen neuen Anfang (denn jeder Schritt ist bestimmte Negation des Vorherigen) noch eine Wiederherstellung der Vergangenheit (denn das sich zuspitzende Fortschreiten der Bewegung verhindert jegliche Wiederholung – diesen zweiten Punkt hat Marx im Gegensatz zum ersten durchaus gesehen). Für Hegel ist dies alles kein Problem: Nur das Ist in seiner vermittelten Notwendigkeit hat Wirklichkeit und Vernunft; weder gibt es einen nichtimmanenten Maßstab des Sollens (ob als Jenseits oder als Zukunft), noch ein Einhalten oder Aussetzen des Fortschritts in seiner Negativität: Dass etwa das Schöne vergeht, zeigt eben damit, dass es auch wert ist unterzugehen; es ist, als momentanes Aufscheinen einer in sich ruhenden Idealität, unfähig zur Wirklichkeit – ebenso die Opfer auf der ›Schlachtbank der Geschichte‹ (vgl. PhGesch, TWA 12, 35), die in ihrer jeweils bloß individuellen Existenz unerheblich und gleichgültig, erst im Zusammenschluss mit ihrer All266 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Schlussbemerkungen

gemeinheit als Einzelne berechtigt sind – nämlich für den objektiven Betrachter der Geschichte als vernünftige. 34 Auch die hegelsche Dialektik ist Vergegenwärtigung des Vergangenen, nämlich als Vermittlung der Gegenwart; Vergangenheit im Sinne Schellings und nach ihm Benjamins 35 meint hingegen etwas ganz anderes: Geschichtlich ist es das Andere der Linie, die auf die Jetztzeit zuführt, es ist das sich nicht durchgesetzt Habende, Verdrängte oder Vergessene. Dies wieder ins Bewusstsein heraufzurufen und zur Artikulation zu bringen, ist Dialektik als ›realer Dialog‹. – Eine solche Philosophie lebt aber von enormen Voraussetzungen, die sie nie auf immanentem Wege einholen könnte: Einerseits benötigt sie zur Berührung mit der Vergangenheit ein plötzliches Aufbrechen der Gegenwart, d. i. ein solches Zustoßen von außen, wie es die schellingschen ›Denkmähler‹

Hier ist m. E. wenig Interpretationsspielraum. Zwar kann man, wie unlängst Walter Jaeschke, zugunsten Hegels anführen, dass die List der Vernunft die Individuen ja nicht zu fremden Zwecken instrumentalisiert, sondern gerade das unendliche Recht des Subjekts verwirklicht (vgl. Jaeschke 2008, 90) – nämlich auch dort, wo der Einzelne andere Zwecke verfolgt, ziele er doch auch in der Verfehlung immer auf seine Freiheit und das Wissen von seiner Freiheit (vgl. Jaeschke 2008, 98). – Es sollte aber doch bedenklich stimmen, wie wenig Probleme Hegel damit hat (ganz anders als noch Schiller; vgl. Kap. I.1.1.3), die vorangegangenen Individuen als bloße Vorläufer ihrer noch zu verwirklichenden Zwecke zu erklären: Sie werden erst durch das Resultat gerechtfertigt. Ihre eigene Rechtfertigung als Einzelne erfahren sie wiederum, wie jedes andere Individuum auch, nur im unendlichen Zusammenschluss mit ihrer Allgemeinheit, deren Wirklichkeit eins ist mit dem Ist der Geschichte in ihrer Notwendigkeit. 35 Wie steht es um eine mögliche Kenntnisnahme Schellings durch Benjamin? – Eine eingehendere Kenntnis Schellings ist bei Benjamin nicht nachzuweisen, dennoch gibt es eine Merkwürdigkeit: In den Manuskripten im Umkreis zu den Thesen über den Begriff der Geschichte findet sich in einer unkommentierten Literaturliste u. a. (neben Belletristik und philosophischer Fachliteratur) der Titel: »Schelling: Philosophie der Offenbarung« (KG 19, 154). Was heißt das nun? – Hat Benjamin die Schrift (nach SW?) gelesen, gehört diese Aufzeichnung zu jener Liste gelesener Bücher, oder ist dies bloß ein Vermerk zur Anschaffung? – Ein letztes Urteil hierüber ist (noch) nicht möglich, aber so viel kann man doch sagen: Ende der 30er Jahre gab es ein Interesse Benjamins für den späten Schelling (was in dieser Zeit doch eine Besonderheit darstellt). – Bei aller strukturellen Nähe, in welcher die Bewegung einer Erinnerung des Vergessenen im chochaften (vgl. GS I.2, 702 f. (XVII. These)) Stillstehen der leeren Zeit zu Schelling erscheint, muss aber bedacht werden, dass der benjaminsche Erinnerungsbegriff in erster Linie einer intensiven Auseinandersetzung mit Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit entspringt, ferner wohl auch mit dem Werk Siegmund Freuds (vgl. hierzu Gagnebin 2006, 291–300). 34

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IV. Das Problem der Kontinuität am Beispiel Marx’ und Benjamins

der Weltalter oder auch die ›Monumente‹ Benjamins 36 bewirken (womöglich auch jene weißen griechischen Skulpturen und Marienbildnisse der hegelschen Ästhetik, deren seltsame Traurigkeit, in der sie dem modernen Betrachter erscheinen müssen, von Hegel als ihr augenscheinlich gewordenes Vergangensein gedeutet wird). Ebenso unterstellen sie eine letzte Freiheit, die Dialektik als Mittler einzusetzen und auch wieder aufhören zu lassen: Sie dürfe nie Selbstzweck sein, Dialektik müsse auf ihr Wesen als kritische Methode beschränkt werden. 37 Eines ist nämlich Schelling und Benjamin gleichermaßen, aber auch und gerade Kierkegaard bewusst: Die dialektische Methode als Selbstläufer bringt den restlosen Untergang aller eigentlichen, auf eine letzte Beständigkeit zurückweisenden Positivität mit sich. ›Augenblick‹, ›Choc‹, ›Fülle der Zeit‹, ›Entscheidung‹ – all diese Begriffe bezeichnen ein positives Aufblitzen, das nicht aus der Immanenz einer gegenwartslosen Wirklichkeit, in der wir uns unmittelbar wiederfinden, hergeleitet werden darf; in ihnen soll überhaupt erst ein Maßstab für die ganzheitliche Entfremdung dieser Wirklichkeit, in der wir stehen, gewonnen werden (›im Augenblick der Freiheit verklärt sich die Welt als Wille‹). Wenn Hegel aber Recht haben sollte und eine allseitige Negativität sich mit sich selbst zusammenschließt und nur als Ganzes positiv ist – dann liegt auch all diesen positiven Figuren zuletzt ein negativer Schritt zugrunde, ein gleichsam entnervter Versuch, aus der Notwendigkeit einer konsequenten Dialektik auszuscheren, in einfacher Negation der Negativität überhaupt dem gleichgültigen Fortgang derselben zu entfliehen und einen unendlichen Selbstbezug im schwebenden, geschichtslosen Verweis auf ein Überzeitliches schlechthin herzustellen. Ein ästhetisches Aufblitzen würde so zum neuen, unvermittelten und darin haltlosen Anfang, während eine ebenso ästhetische Simultanität, welche den tatsächlichen Vermittlungszusammenhang in seiner Negativität überfliegt, eine dialektische Präsenz der Vernunft im Zugleich der Gegensätze vortäuscht (wie bereits im schönen Ideal Schillers, vorher im Erhabenen Kants). – Natürlich ist so ein Ausweg möglich, zuletzt kann durchaus, wie Hegel am Beispiel der Musik als Extrem der Kunst beobachten und beschreiben konnte, aller Dialog mit der geschichtlich-konkreten Wirklichkeit in der Selbstgenügsamkeit der Kunst gekappt werden. Aber ein ethischer 36 37

Vgl. GS I.2, 702 (XV. These). Vgl. auch hier das Kap. II.1. zu den Weltaltern, dazu GS I.2, 693 (I. These).

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Schlussbemerkungen

Anspruch nach Verwirklichung, ein Sollen, das aus diesem Erhabenen abgeleitet wird, müsste notwendig die angestrebte Unendlichkeit zur leeren Dauer schlechter Unendlichkeit umschlagen lassen, da positive Unmittelbarkeit sich als solche dialektisch niemals wiedereinholen lässt. Hier schließt sich der Kreis zur anfänglichen Genese des dialektischen Problems schlechter Unendlichkeit bei Hegel, wenngleich dessen Lösung in einem System allseitiger Vermittlung für einen ethischen Standpunkt, namentlich bei Schelling und Kierkegaard, mit Recht entschiedensten Protest hervorrufen musste. Der konsequente Fortschritt Hegels vom ersten Aufscheinen des Problems in Jena bis hin zum Programm eines sich vollbringenden Skeptizisimus in der Phänomenologie ermöglichte zwar das spätere in sich geschlossene System, das in jedem Moment stimmig und notwendig bleibt; jene dialektische Selbstüberwindung des Verstandesdenkens aber – dessen wesentliche Einseitigkeit jeden Selbstbezug zur schlechten Unendlichkeit hinausgehen lässt – musste nicht nur, nach und nach, das ästhetische Ideal des Schönen in Kunst und Sittlichkeit hinter sich lassen, sondern auch im unendlichen Anspruch der Moralität den Abgrund des unglücklichen Bewusstseins wiedererkennen. Den Anspruch der schellingschen Philosophie, nach welcher Freiheit, Wille und Tat wirklich sein sollen und welche als positive die Welt als frei gesetztes Sein will, ebenso das Interesse Kierkegaards an der wahren Unendlichkeit des Einzelnen und dem Gelingen seiner Wiederholung aus der fatalen Dialektik seiner unmittelbaren Existenz heraus – beides schließt der hegelsche Ansatz bereits in der ersten Forderung reiner Skepsis und der Hingabe an eine absolute Negativität aus (logisch unbeschadet gegenüber dem ethischen Vorwurf, dass die Gleichgültigkeit dieses Anfangs nie mehr zum Ernst zurückgebogen werden könnte). Eine Philosophie, in welcher die Dialektik nicht bloß Mittel eines Interesses, sondern selbst das Ganze ist, die jedes Sollen nur im Wechselspiel gegenseitiger Bedingung mit seiner Schranke kennt und demnach jedes unbedingte Sollen in die schlechte Unendlichkeit hinausgehen lässt – eine solche Philosophie muss in letzter Konsequenz jeden unabhängigen Standpunkt zur Geschichte aufgeben. Dem Philosophen bleibt nur das Erkennen und die Bilanz ihrer Notwendigkeit, die ihn selbst, als am Ende der Geschichte stehend, vermittelt und in sich begreift und die damit die einseitige Unmittelbarkeit seiner bloßen Einzelheit überwindet. Für Schelling und Kierke269 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

IV. Das Problem der Kontinuität am Beispiel Marx’ und Benjamins

gaard, die an einem wesentlichen Interesse der Philosophie festhalten, das nicht in der teilnahmslosen Schau eines objektiv-gleichgültigen Betrachters aufgehen kann, muss die Bewegung der hegelschen Methode (in ihrem Anspruch einer geschichtlichen Überwindung schlechter Unendlichkeit zur gelingenden Selbstbezüglichkeit), in der nie etwas Entscheidendes geschehen könnte, selbst einer scheinbaren Zeit bzw. der schlechten Unendlichkeit unterliegen: Der hegelsche Begriff kenne selbst kein Anderswerden, er bleibe ebenso geschichts- und gegenwartslos wie die Verstandesreflexion, deren Selbstüberwindung er sein soll. Wie gesagt: Die positiven Voraussetzungen ihres Standpunkts wiederum könnten der reinen Skepsis Hegels zu Beginn seiner Philosophie nicht standhalten; bei Schelling selbst lassen sich etwa am Anfang der positiven Philosophie wie am Übergang der Mythologie zur Offenbarung (die er selbst einmal als denjenigen vom Zweifel zum Glauben bezeichnete) 38 entscheidende Punkte ablesen, an denen gleichsam Wollen und moralische Verpflichtung eine logische Vermittlung ersetzen (und eine solche auch abweisen müssen: so, wie erst im Seinsollenden die Zeit des Kronos überwunden wird). Bei Kierkegaard selbst zeigt sich wiederum in seiner tiefen logischen Durchdringung des skeptischen Charakters der hegelschen Dialektik, dessen Folgerichtigkeit er anerkennen muss, wie das ethische Interesse am Anderen sich in letzter Konsequenz nur noch dogmatisch aufrechterhalten lässt: Denn allein aus der unmittelbaren Existenz des Einzelnen heraus ist weder Ethik noch objektive Wahrheit noch ein gelingender Selbstbezug zu konstruieren. 39 – Über ihre jeweilige Berechtigung oder Nichtberechtigung gegenüber Hegel lässt sich nur ganz am Anfang entscheiden, nämlich in der Frage nach dem eigentlichen Interesse der Philosophie als solcher. Ihre jeweilige Position hält sich aber nur, sofern sie sich des Problems schlechter Unendlichkeit als solcher klar bewusst ist und in ihrer Kritik an Hegel nicht hinter diesen zurückfällt.

38 39

Vgl hierzu Schelling 1841/42, 254 u. Kap. II.3.3. Anm. 40. Vgl. Kap. III.4.

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Namensregister

Achilles 140 Adorno, T. W. 260, 262 f. Aischylos 55, 78 Angehrn, E. 248 Antigone 8, 33, 55, 73, 77–82, 84, 89, 127, 133, 140 f., 151, 186 f., 200 Aristoteles 1, 13–15, 182 f., 210 Arndt, A. 56, 107 Ästhetiker A 149, 207, 227–229 Baal 198 Baekers, S. 14 Barone, P. 30 Baum, M. 13 Benjamin, W. 6 f., 10, 241, 247, 259– 268 Bienenstock, M. 43 Blumenthal, H. 262 van Blyenbergh, W. 21 Böhme, J. 21 Bondeli, M. 60 Brandom, R. 2 Brecht, B. 263 Bubner, R. 1 Burckhardt, J. 194 Burkhardt, B. 2 Csikós, E. 52 Cusanus, N. 14 Descartes, R. 18, 170–173, 179, 195 Dietzgen, J. 259 f. Düsing, K. 241 Engels, F. 194, 247

Ethiker B (Gerichtsrat Wilhelm) 207, 218, 229 Euripides 75 Fichte, J. G. 5, 8, 14, 16, 25, 31, 33, 39, 42, 46–51, 53, 55 f., 61, 68 f., 73, 89, 93 f., 102, 115, 117, 125–127, 148 f., 171, 173–176 Figal, G. 235 Frank, M. 2 f., 182 f., 185, 194 Freud, S. 267 Fulda, H. F. 105 Gadamer, H.-G. 2, 105 f. Gagnebin, J. M. 267 Goethe, J. W. 147 Grimm, J. 85 Grimm, W. 85 Haering, T. L. 26 Halbig, C. 2 Hamlet 75 Hegel, G. W. F. 1–10, 13–33, 35–128, 130–153, 157–163, 165 f., 168–171, 173, 175–190, 192, 194 f., 197–200, 203–206, 210, 212–217, 220, 222– 230, 232, 234 f., 238 f., 241–243, 247–251, 255 f., 260 f., 263, 267– 270 Heidegger, M. 160, 239 Hektor 140 Henrich, D. 105 f. Hermanni, F. 168 Hirsch, E. 89, 220, 226 Hölderlin, F. 78 f. Hook, S. 255 f.

281 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Namensregister Horkheimer, M. 260 Horstmann, R.-P. 1 f. Hösle, V. 124 Hotho, G. 55 Hübner, D. 198 Hühn, L. 135, 159, 166, 191, 206, 223, 226 von Humboldt, A. 194 Iber, C. 14, 40 f., 44, 85, 119, 127 Jacobi, F. H. 23 f., 89, 161, 177 Jaeschke, W. 3, 40, 44, 57, 107, 267 Janke, W. 32 Janz, C. P. 239 Jaspers, K. 194 Jelles, J. 18 Kant, I. 5, 8, 14, 18, 30 f., 42, 56, 60, 84, 93, 102, 113, 115, 117, 124–127, 131–136, 138, 148, 152, 173 f., 191, 194, 241, 268 Kaufmann, K. 204, 210 Kelly, G. A. 61 Kierkegaard, S. 2, 5–10, 21, 135, 149, 160, 184, 194, 203–239, 241–243, 247, 259, 262 f., 268–270 Kittsteiner, H. D. 30 Kraus, K. 261 Kreon 8, 78–82, 89, 127, 133, 141, 186, 200 Kronos 36, 197–199, 242, 270 Kühn, R. 59 Laughland, J. 106 Leibniz, G. W. 14 Lessing, G. E. 181, 214, 216 Löwith, K. 239 Lypp, B. 135 f., 191 Marquard, O. 135 Marx, K. 3, 6 f., 10, 194, 247–259, 261–266 McDowell, J. 2 Meyer, L. 17, 23 Minerva 144, 186, 218

Moloch 198 Mozart, W. A. 227 f. Nietzsche, F. 6, 10, 160, 237–241 Novalis 20, 89, 94 Ödipus 73–77, 83, 138, 163 Odysseus 140 Olsen, T. A. 203 Orest 55, 78 Pannenberg, W. 13–15 Passow, F. 168 Paulus, H. G. E. 194 Philipsen, P.-U. 2, 13 f. Pinkard, T. 2 Pippin, R. 2 Platon 1, 14, 209, 224, 226 Plotin 14 Pöggeler, O. 44, 142, 148 Polyneikes 78, 80 Prometheus 140 Proust, M. 267 Pythagoras 14 Quante, M. 2 von Ranke, L. 194 Rockmore, T. 183 Rohrmoser, G. 26 von Savigny, F. C. 194 Schelling, F. W. J. 1–3, 5–10, 14, 18, 20, 23, 25 f., 32, 36, 47, 51, 89 f., 95, 135, 153, 157–200, 203, 205–207, 216, 222–224, 241 f., 247, 259, 261 f., 266–270 Schiller, F. 6 f., 25–38, 41–43, 47, 50, 63, 129, 134 f., 137, 148, 267 f. Scholem, G. 260 Schopenhauer, A. 149, 159, 234 Schulte, M. 55 Schulz, W. 52, 106, 160 Schulze, G. E. 52 Schwab, P. 194 Seligson, C. 262 Siep, L. 2 f.

282 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Namensregister Sisyphos 140 Sokrates 209 f., 214, 219, 224 Sophokles 74 f., 77–79, 82 Sommer, A. U. 239 Sphinx 74, 83, 137 f. de Spinoza, B. 1, 3, 7, 14, 16–26, 36– 38, 46 f., 51 f., 56, 85, 92, 106 f., 109– 113, 115, 123, 137, 159, 169, 172– 175, 189, 192, 212 f., 261 Steffens, H. 194 Stewart, J. 204 Tantalus 140 Taylor, C. 105 f.

Taylor, M. C. 204 Theunissen, M. 14, 105 f., 204, 211 Thomas von Aquin 14 Thulstrup, N. 204, 262 Trendelenburg, F. 194, 203, 216 Vieweg, K. 60 Volkmann-Schluck, K.-H. 198 Wagner, F. D. 263 Wieland, W. 106, 158 Zeus 36, 79, 199

283 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

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Sachregister

Antike 4, 7, 13 f., 19–21, 25, 28, 64 f., 68, 71, 74–81, 84, 86, 98, 136, 138– 144, 150 f., 186, 198 f., 212, 225, 232 Arbeit 7, 62–64, 249–255, 257 Ästhetik 5, 8 f., 30, 34, 38 f., 41 f., 71, 74, 95 f., 98, 132–135, 137–144, 149–153, 186, 191, 199 f., 208, 212, 218–222, 227–234, 236–238, 242, 268 f. Augenblick 135, 153, 164 f., 209, 211, 221, 224 f., 229, 233, 241, 261–264, 267 f. Bewusstsein, unglückliches 5, 8, 65– 70, 73, 81, 90–94, 99, 102, 136, 148– 150, 152, 175, 207, 220, 229, 238, 269 Dauer 17, 35, 46, 48, 50, 56, 70, 120, 123, 125, 127–130, 134, 150, 190, 227, 237, 239 Dialektik 3–10, 15, 24, 27, 31 f., 34 f., 37 f., 40–43, 45 f., 49–51, 60 f., 63– 66, 103, 105–107, 111–113, 116, 118, 120, 122 f., 128, 133–135, 148, 151, 153, 157, 159, 161, 163, 166, 168–170, 176–178, 180 f., 183, 185– 188, 190, 193 f., 196–198, 204 f., 214–218, 221, 226, 230, 242, 247– 253, 255, 257, 261, 263–270 Einzelheit 3–5, 8, 30, 63–65, 67, 71– 74, 76, 79–82, 84–86, 88–90, 92, 95–98, 141, 144–148, 152, 157 f., 160–163, 166 f., 171, 174, 176, 190,

212 f., 215 f., 218 f., 221–226, 228, 230–234, 237–241, 266 f., 269 f. Endlichkeit 1, 3–5, 8, 14–15, 19, 21, 23, 36–38, 40 f., 44–57, 60 f., 65–67, 101, 107, 110–126, 128, 134, 137, 169, 173 f., 193, 215, 235, 248 Entfremdung 56 f., 72 f., 82–84, 116, 120, 129 f., 141, 144, 152, 157 f., 167 f., 170, 172, 183, 185, 189–191, 196–198, 242, 249–251, 268 Erhabenheit 5, 8, 18, 90, 98, 116, 126, 129–138, 145–148, 152 f., 173, 176, 185 f., 200, 212, 269 Ernst 143 f., 147, 232, 234, 238 f., 269 Ethik 6, 9, 30, 126, 129–138, 158, 160, 175, 184–187, 189, 199 f., 207, 217– 223, 225–227, 230 f., 234–236, 240– 242, 247, 264, 269 f. Ewigkeit 4, 8, 17, 30 f., 33, 44, 46, 48– 50, 70, 80 f., 109, 117 f., 140, 153, 159, 164–167, 174 f., 180, 182, 184, 190, 208 f., 211–215, 221, 224 f., 229, 230, 233, 239–242, 258 Freiheit 9, 21, 26 f., 31 f., 34 f., 37, 41, 44 f., 47, 49 f., 52, 63–67, 69, 71, 77, 82, 84 f., 87–89, 100, 102, 132, 139, 141–143, 146, 149, 157–165, 169, 172–176, 181–184, 186, 188–193, 196–200, 210 f., 222–224, 233 f., 261, 268 f. Gegenwart 3, 5, 8, 36, 42, 50, 66, 68– 70, 87, 92 f., 98–100, 104, 114, 121 f., 125, 127–129, 132, 134, 136– 138, 145 f., 149, 152 f., 159, 162–

285 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Sachregister 166, 174–177, 185 f., 194, 198, 200, 204, 211, 215, 217 f., 221, 224 f., 228, 242, 260 f., 263, 266 f., 270 Geschichte 4–5, 7–9, 15, 41, 44, 49– 51, 53–57, 60 f., 67, 70, 72, 76 f., 84, 89, 91–98, 100–103, 115 f., 128, 130, 135 f., 148, 151, 153, 157, 159 f., 162, 164–170, 172, 175, 177, 184, 186–188, 191–193, 195, 197– 199, 207–211, 214 f., 218–220, 222, 224–226, 228, 230, 234–237, 240, 242 f., 247, 249 f., 252 f., 255–258, 260–264, 266–270 Gewissheit, unmittelbare 56, 59 f., 68, 79 f., 82, 84, 86–91, 93, 95, 161, 171–173, 195 Glauben 56, 60, 72, 82 f., 161, 170, 197, 209, 221, 230–232, 234–236, 241, 270 Herrschaft 6, 27 f., 32, 34 f., 41 f., 46, 48–50, 62–64, 71, 86, 89, 98, 134, 249 f., 253 f., 257, 264 f. Innerlichkeit 71 f., 75, 78–88, 90 f., 141–145, 147–151, 157–166, 174, 196, 215 Interesse 9, 68, 213, 219–223, 226, 229–231, 233, 242, 255, 261, 264, 269 f. Logik 1, 4–8, 15, 17 f., 38, 58, 61 f., 67, 77, 85, 90, 96 f., 100–124, 127, 130, 132 f., 136, 148, 152, 157, 163, 168, 171 f., 177, 179–183, 185, 190, 192, 195, 199, 204–206, 208–210, 215– 218, 223, 226, 242, 247 f., 260, 266, 269 f. Moralität 4 f., 8, 26, 30, 73, 77, 82, 84–88, 90, 93, 98, 126 f., 130–136, 141, 146, 174 f., 186 f., 189, 200, 205, 208, 229, 269 Musik 139, 142, 149–152, 220, 227– 229, 238, 268 Mythologie 139, 167, 177, 191, 197 f., 203, 242, 270

Natur 26–28, 30, 34–37, 46, 49–52, 55, 68, 70 f., 74, 80, 83, 86, 88–90, 102–103, 125 f., 128, 133, 136–138, 140, 159 f., 162 f., 165, 169, 174 f., 177 f., 180–182, 184, 189–191, 195, 199, 216, 249, 257, 264 Negation, Negativität 3–5, 7, 9 f., 15, 17–23, 33, 36–40, 43, 46 f., 49–53, 56–70, 80–82, 85 f., 91–93, 94–98, 101–125, 127 f., 130, 132 f., 137, 141 f., 145, 148–153, 157–159, 161, 169–171, 176 f., 179 f., 187, 191, 198, 200, 204, 206, 208, 212–215, 217, 226, 228, 231–233, 235, 247 f., 251, 253, 255–257, 261, 266, 268 f. Neuzeit 4, 16, 26–28, 32, 34–36, 50, 72, 75 f., 82–88, 115, 136–139, 141– 148, 158, 193 Notwendigkeit 5 f., 16, 26, 30 f., 39 f., 43, 51 f., 54, 58, 61, 72, 82, 94, 102, 105, 107, 116, 118, 122, 124, 145, 157, 159, 163 f., 166 f., 169–174, 176–178, 181, 183–186, 188, 190, 192–199, 205, 207, 209–211, 214– 216, 221–223, 235, 242, 247 f., 253, 255, 257, 260 f., 265–267, 269 Philosophie, positive 9, 169, 174, 177 f., 181 f., 187–189, 191, 193– 195, 197–200, 203, 206, 216, 222, 260, 269 f. Progress, unendlicher 2–4, 13–16, 18 f., 21, 23 f., 39 f., 42, 45, 48, 50, 86 f., 92–94, 110, 112–123, 125– 127, 129–133, 135, 148 f., 152, 162, 174, 176, 197, 217, 229, 243, 266 Prosa der Welt 8, 136 f., 145–148, 153, 158, 200 Recht 5, 8, 42, 53 f., 72, 79–82, 84, 90, 98, 146, 184, 186 Reflexion 4, 7, 37–40, 43–58, 60, 90, 92, 97, 106, 110, 115, 120–123, 127, 134, 141, 149, 152, 169, 178, 208,

286 https://doi.org/10.5771/9783495808238 .

Sachregister 215–218, 227–230, 233, 237, 261, 266, 270 Religion 5, 20, 42, 79, 83, 90, 95 f., 98, 124, 136 f., 139, 141–143, 151, 161, 186, 212–214, 224–226, 230, 234– 236, 238, 240 f. Romantik 8, 16, 20, 73, 76, 101, 139– 152, 158, 228, 234, 262 Rotation 8, 66, 86, 92–94, 101 f., 151 f., 165, 167 f., 174–177, 181– 183, 186, 189 f., 193, 198 f., 207, 221 Schönheit 30–32, 34, 37, 41–42, 76, 78, 80, 82, 91, 98, 138–141, 143 f., 161, 266 Sein 100–115, 117–119, 121, 133, 159, 165, 172–174, 179, 184, 187 f., 191–199, 209–211, 216, 218, 223, 226, 269 – blindes 172–176, 181, 183 f., 189, 192, 195–199, 261 – Dasein 3, 37, 43–47, 57 f., 60 f., 65, 70, 80, 82, 86, 89–91, 95–97, 106, 108–114, 118 f., 125, 129 f., 133, 137 f., 142, 146, 152, 157, 159, 162, 175, 186, 200, 207, 215, 217 f., 222, 230, 232 f., 238, 261 – Existenz 9, 23, 167 f., 171, 177, 180 f., 190, 194 f., 204–206, 213, 215, 220–224, 227, 229, 232, 234– 238, 240 f., 256, 261, 266, 269 f. – als Unmittelbarkeit 4, 8, 21 f., 37, 51, 57, 59–61, 65, 67, 69, 71, 81, 93 f., 96–98, 101–108, 111 f., 114, 118 f., 121–125, 153, 158, 161 f., 170, 172, 179 f., 183, 187, 204 f., 217, 226, 241 f., 269 Selbst / Selbstbezug 3–6, 8, 10, 19– 22, 27, 34 f., 37 f., 46–52, 54–58, 61– 67, 70–74, 76–78, 81–99, 100–102, 106, 110, 118, 121, 124–127, 129– 131, 134, 141 f., 147 f., 152 f., 157, 159–161, 165–168, 174–176, 178, 181, 184, 186, 190, 193, 200, 204, 207, 212, 214, 217, 222–224, 227, 229–231, 233, 235 f., 238 f., 241 f., 249, 257, 260, 268–270

Sittlichkeit 54–56, 61, 71–84, 86 f., 91 f., 98, 133, 139–141, 146, 150 f., 185 f. Skepsis / Zweifel 5–7, 9, 38, 52 f., 59– 70, 81, 97, 100 f., 107, 112, 122, 171, 173, 187, 197, 203–208, 210, 216– 218, 221 f., 225, 231, 235 f., 248, 269 f. Sollen 8 f., 18, 28, 31, 37, 41, 46, 48– 50, 69 f., 86 f., 94, 98, 115–123, 125 f., 129–134, 137, 140, 147, 153, 160, 165, 176, 185–187, 196, 198 f., 212, 217, 220, 242, 247, 266, 269 Tod 59, 62, 78 f., 97, 114, 220–222 Tragik / Tragödie 38, 53–56, 59, 72, 74–82, 95, 98, 151 f., 163, 186 f., 200 Unendlichkeit 1, 13–15, 17, 21–23, 36, 38, 40–51, 53–56, 61, 68, 70, 77, 81 f., 85, 87, 101, 110, 115–122, 124–130, 132, 138, 141 f., 144, 147, 152, 161–163, 171, 173–176, 178, 204, 212–215, 222 f., 227, 229 f., 235, 238, 240–242, 260 – aktuale vs. potentielle / imaginäre 1, 7, 13–18, 23 f., 37 – leere 33–35, 49–51, 133, 152, 192 f. – schlechte vs. wahre 1–5, 7–9, 13, 17, 25 f., 37, 42 f., 45, 48–51, 53, 59, 70, 73, 92–96, 98, 100–102, 116– 124, 126–130, 132, 134 f., 140, 145– 153, 159 f., 174, 176, 178, 183, 186 f., 192, 200, 204–206, 212, 217, 227–233, 236 f., 241 f., 266, 268– 270 Vergangenheit 4, 6, 9, 60, 119, 122, 144, 153, 160, 162–167, 170, 172, 174 f., 182, 184, 186 f., 189 f., 193 f., 197–199, 211, 214 f., 218 f., 222, 224 f., 235, 242, 263, 266, 268 Vermittlung 4 f., 8–10, 33, 37, 51 f., 56 f., 62, 67, 86, 89 f., 95 f., 98, 100, 102–104, 106, 108, 111, 118 f., 122, 124, 135 f., 146, 149, 153, 160, 170,

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Sachregister 186, 190, 193, 208, 214 f., 226, 229 f., 242, 248, 263, 266, 269 f. Vernunft 4, 8, 15, 38–40, 43–48, 50, 52 f., 57 f., 60, 67–71, 82, 87, 91 f., 96, 103, 105, 107, 122, 129, 133– 136, 148, 151, 160, 169, 180, 183– 186, 188, 192, 194 f., 198, 203, 214, 222, 224, 266, 268 – List der Vernunft 29 f., 252–258 Verstand 3 f., 15, 26–28, 38–44, 47, 52, 57 f., 96, 106 f., 112 f., 115 f., 119–123, 126, 128, 134–136, 138, 151 f., 158, 169, 180, 183, 210, 214 f., 269 f. Widerspruch 26, 28, 31 f., 39–43, 46, 48–50, 54–56, 58, 61, 65–70, 77–82,

91 f., 94, 101, 105, 117, 120–122, 127, 129 f., 134, 151 f., 157, 162, 165, 172, 175 f., 189, 221–224, 243, 247–250, 255, 258, 261 Wille 79 f., 82 f., 87, 89, 127, 146, 157, 159–169, 173–175, 188, 190–194, 196, 198 f., 234 f., 268 f. Zeit 17, 31 f., 34, 38, 45 f., 48–51, 53, 96, 140, 149 f., 153, 159, 162–168, 172, 174 f., 185, 189 f., 193, 198, 208–211, 213–215, 221, 224 f., 228 f. – erfüllte vs. leere 260–264 – scheinbare vs. wahre 3, 5 f., 8–10, 164–169, 177, 181 f., 186 f., 189– 193, 196–198, 242, 270

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