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German Pages 427 Year 1994
HORST HEGMANN
Politischer Individualismus
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 76
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Politischer Individualismus Die Rekonstruktion einer Sozialtheorie unter Bezugnahme auf Machiavelli, Bodin und Hobbes
Von
Horst Hegmann
DUßcker & Humblot . Berliß
Frontispiz: Drawing by Tony Hall, One of a set of ni ne postcards available from Bookmarks, London.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Hegmann, Horst: Politischer Individualismus: die Rekonstruktion einer Sozialtheorie unter Bezugnahme auf Machiavelli, Bodin und Hobbes / von Horst Hegmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Beiträge zur politischen Wissenschaft; Bd. 76) Zugl.: Freiburg/Schweiz, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08138-2 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wem er Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08138-2
Für meine Eltern, ohne die diese Arbeit aus vielerlei Gründen nicht zustande gekommen wäre.
Vorwort Die hiermit vorgelegte Arbeit ist in der Schnittmenge von Politischer Theorie, Ideengeschichte und Ökonomischer Analyse der Politik angesiedelt. Ihre Grundkonzeption entstand an der Gesamthochschule Duisburg, wo sie in Prof. Hans J. Hummell, unterstützt von Prof. Marie-Luise Christadler und Prof. Hartrnut Kliemt engagierte Förderer fand. Vor allem Prof. Hummell hat die Arbeit bis zu ihrem Abschluß mit Rat und Kritik begleitet. Ein vom Land Nordrhein-Westfalen und vom Deutschen Akademischen Austauschdienst geförderter Studienaufenthalt brachte mich ans "Center for Study of Public Choice" der George Mason University in FairfaxNirginia, wo mich Prof. Viktor Vanberg und Prof. James M. Buchanan mit der faszinierenden Welt verfassungsökonomischer Analyse vertraut machten. Der Austausch mit Ihnen und ihren Kollegen hat mich zwar nicht in politischer, aber in methodischer Hinsicht entscheidend geprägt. Zurück in Europa fand die Arbeit an der Universität Freiburg im Üchtland ihre endgültige Heimat, wo sie in Prof. Guy Kirsch einen aufgeschlossenen Doktorvater fand. Unterstützt von meinen Doktorandenkollegen Ruedi von Rotz und Jens Schadendorf, schuf Prof. Kirsch mit vielen offenen und kontroversen Gesprächen eine Atmosphäre, in der das Projekt rasch Gestalt annehmen konnte. Auch meine Studienkollegen Wolfgang Köpke und Anne van Aaken haben in langen Diskussionen dazu beigetragen, die Argumentation zu klären und zu strukturieren. Mit gutem Rat sind mir zudem Prof. Mancur Olson und Prof. Peter Comelius Mayer-Tasch beigesprungen. Betreut und begutachtet von Prof. Guy Kirsch und Prof. Heinrich Bortis, wurde die Arbeit im November 1993 in Freiburg als Dissertation angenommen. Bei den Vorbereitungen zum Druck haben mir Christine Bukold, Dr. Susanne Parlaska, Karin Reese, Manfred Baldus und Ralf Oberheide beigestanden. Ihnen allen, wie auch jenen, die an dieser Stelle nicht ausdrücklich genannt werden konnten, sei noch einmal herzlich gedankt, allen voran natürlich meiner Frau, die energisch verhindert hat, daß mir bei der Beschäftigung mit einem so theoretischen Thema die reale Welt abhanden kam.
Horst Hegmann
Inhaltsverzeichnis 1.
Einleitung ........................................................................................................................
13
1.1.
21
Derlndividualismus als Handlungsanleitung
..................................................
1.1.1. Das Individuum und seine Sicht von der Welt
.........................................
22
1.1.2. Das Individuum und sein Bedarf an Vermögen
.........................................
31 33
1.1.2.1.
Vermögen ist subjektiv ............................................................
1.1.2.2.
Vermögen hat eine objektive Basis .........................................
36
1.1.2.3.
Vermögenserwerb setzt Menschenkenntnis voraus
39
1.1.3. Vermögenserwerb im Umgang mit anderen .................................................. 1.1.3.1.
1.2.
Gewaltandrohung und Vermögensbildung .............. ......... ........
1.1.3.2.
Tausch als Mittel der Vermögensbildung
...............................
49
1.1.3.3.
Tausch im Schutz begrenzter Gewaltandrohung .................... .
53 57 60
Die Erfindung des politischen Individualismus 1.2.1. Machiavelli: Sicherheit durch strategisches Denken
1.3. 2.
3.
44 46
...............................
1.2.2. Bodin: Harmonie durch Rechtschaffenheit ......................... ... ... ... ................
64
1.2.3. Hobbes: Friede durch aufgeklärten Gehorsam
70
Die Struktur der Arbeit ..........................................................................................
74
Vorspiel: Die Sophisten ....................................................................................................
77
2.1.
Die Sophisten als Techniker der Menschenführung
.........................................
77
2.2.
Platon als Kritiker der Sophisten
......................................................................
83
2.3.
Die Sophisten als Wegbereiter Machiavellis
..................................................
88
Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
91
3.1.
Die Politik als Technik für den Umgang mit Menschen .........................................
93
3.1.1. Machiavelli als Politikberater ...................................................................... 3.2.
3.3.
101
Der Machiavellistische Unternehmer .....................................................................
106
3.2.1. Der politische Unternehmer in seiner Welt ................................................ .
108
3.2.2. Der Erwerb von Gewaltmittel zur Vermögensbildung
113
3.2.3. Der Einsatz von GewaltmitteIn zum Machtgewinn
122
Die Abwehr politischer Unternehmer in der Republik
........................................
131
.................................................
134
3.3.1. Die Existenzbedingungen der Republik 3.3.2. Die Selbstverteidigung der Republikaner 3.4.
94
3.1.2. Die Politik als Veränderung relativer Preise
137
3.3.3. Die Förderung der "Tugend" zur Stabilisierung der Republik ....................
144
Zusammenfassung und Kritik ...............................................................................
148
10 4.
Inhaltsverzeichnis Jean Bodin: Eigennützige Individuen und ihre Beeinflussung ........................................ 4.1.
4.2.
Der humanistische Pragmatiker in Recht und Politik ............................. ... ........ 4.1.1. Die menschlichen Bedürfnisse als Ausgangspunkt 4.1.2. Die Autonomisierung des Rechts von Religion und Tradition .................... 4.1.3. Religion und Tradition als Prüfstein für Politik ........................................ Der Appell Bodins an die Untertanen 4.2.1. Konsens läßt sich nicht über Kompromisse erzielen
4.3.
179
4.2.2. Konsens erfordert einen Fürsten als letzte Instanz........................................ 4.2.3. Der Fürst hat immer Anspruch auf Gehorsam und Hilfe ..............................
180 189 195
Der Appell Bodins an den König
.....................................................................
209 210 222
Zusammenfassung und Kritik ...............................................................................
231
Thonlas Hobbes: Schwache Menschen und die Erzwingung von Zusammenarbeit
239
5.1.
Der Maschinenbauer der Macht 5.1.1. Die neue Moralphilosophie
241 242
5.1.2. Die Adressaten von Hobbes' Appell .......................................................... . Die Staats maschine als Machtgenerator ......................................................... .. 5.2.1. Das Recht als Vereinbarung zwischen Gleichen ....................................... .
259
5.2.
5.2.2. Die Notwendigkeit staatlicher Rechtsgarantie 5.2.3. Die Konzentration der Staatsgewalt auf den Souverän ............................. . 5.2.3.1. Souveräne Herrschaft aus fürstlichem Eigennutz ................... .
5.3.
269 269 279 286
Gehorsam als Strategie der Untertanen Vereinzelung zur Stärkung des Souveräns ..............................
291 302 306
Zusammenfassung und Kritik ...............................................................................
310
5.2.3.2. 5.2.3.3.
6.
154 157 165 176
4.3.1. Die Tyrannei ist nicht im Interesse des Tyrannen ........................................ ............................. 4.3.2. Der Despot geht in der Herrschaft nicht weit genug 4.4. 5.
150
Was bleibt? .......................................................................................................................
321
6.1.
323 324
Die Bedeutung derfrühen Modemen heute ........................................................... 6.1.1. Die Lehren von Machiavelli, Bodin und Hobbes ........................................ 6.1.1.1.
Machiavelli: Sei klug und sorge dafür, daß auch die anderen 324
es sind 6.1.1.2.
Bodin: Sei gerecht und sorge dafür, daß die anderen es sein
6.1.1.3.
können Hobbes: Sei bescheiden und sorge dafür, daß auch die anderen es sein müssen
6.1.2. Die aktuelle Bedeutung der drei Autoren
325 327
.................................................
328
6.1.2.1.
Die Minimierung des Bedarfs an Zwang
..............................
328
6.1.2.2. 6.1.2.3.
Die Minimierung des Bedarfs an Moral Die Minimierung des Bedarfs an Verständigung ....................
329 331
11
Inhaltsverzeichnis 6.2.
6.3.
Ansätze zur Lösung der dreifachen Minimierungsaufgabe
..............................
332
6.2.1. Das libertäre Reich der Freiheit als Utopie ........................................
332
6.2.2. Der Minimalstaat als unzureichende Annäherung ..............................
335
6.2.2.1.
Plutokratie als Degenerierungserscheinung .............. ......
341
6.2.2.2.
Der Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung ....................
361
6.2.3. Vermögensmißbrauch als Folge von Vermögensvorspriingen ..........
364
Gleichheit als Basis eines stabilen Gesellschaftssystems........................................ 6.3.1. Der egalitäre und demokratische Minimalstaat
................ ...... ........
371 377
6.3.2. Die Schaffung einer stabilen Ordnung über "Schleier des NichtWissens"
6.4.
Fazit .......................................................................................................................
386 391
Zusammenfassung
398
Abstract
399
Resume
400
Literaturverzeichnis
401
1. Einleitung Wir leben in einer Welt, in der wir mehr und mehr mit Unbekannten zu tun haben, mit Menschen, an denen wir persönlich nur sehr begrenzt Anteil nehmen und mit denen wir nur deshalb in Kontakt treten, weil, wie Thomas Hobbes schreibt, uns "die gemeinsamen Bedürfnisse oder die Ehrsucht" 1 dazu treiben. Der freundliche Verkäufer im Supermarkt, die Zahnärztin, die uns die Plomben erneuert oder der Passant, den wir nach dem Weg fragen, sind uns vor allem deshalb wichtig, weil wir uns vom Umgang mit ihnen einen Vorteil erhoffen; als Menschen berühren sie uns, von unverbindlich freundlichen Gesprächen einmal abgesehen, kaum. Auch die erhofften Bewunderer unseres neuen Outfits, unserer Eloquenz oder unseres Erfolges sind uns nur deshalb wichtig, weil sie unserem Selbstbewußtsein gut tun. Natürlich haben wir neben oberflächlichen Kontakten auch Beziehungen, die uns tiefer berühren, zu Freunden und Verwandten, und solche, die unser ganzes Leben bestimmen, wie die zu engen Familienangehörigen. Aber die Gruppe der Menschen, denen wir uns verbunden fühlen, ist notwendigerweise klein. Zwar mögen wir auch am Schicksal Außenstehender Anteil nehmen, selbst die Hungernden in der Dritten Welt mögen unser Seelenleben durcheinanderbringen, wenn sie uns durch psychologisch sorgfältig vorbereitete Plakate oder Werbespots nahe gebracht werden und moralische oder religiöse Überzeugungen die so erzeugte Betroffenheit u. U. noch verstärken. Aber prinzipiell gilt, daß unser Interesse am Schicksal der anderen mit der Distanz abnimmt, die wir zu ihnen einnehmen. Vor der Entwicklung der Massenkommunikations- und Transportmittel war der Umgang mit Unbekannten weniger häufig als heute. Man verkehrte meist mit Menschen, zu denen man durch stetigen Kontakt schon eine, wie auch immer geartete, gefühlsmäßige Bindung hatte. Man wußte, was von ihnen zu erwarten war, und selbst wo keine persönliche Beziehung bestand, war leicht etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Wich jemand dauernd von den Erwartungen seiner Mitmenschen ab, konnte man davon wissen und sich darauf einstellen, und wo es vorkam, gab es Mechanismen, um den möglichen Schaden gering zu halten. Mit zunehmender Mobilität sind wir freier geworden von den ungeschriebenen Anforderungen unserer stark aufeinander bezogenen Kleingruppen. Wir können uns jetzt selbst unsere Ziele stecken, können handeln, ohne daß gleich das ganze Dorf Bescheid weiß und möglicherweise Druck auf uns ausübt. Andererseits haben wir mehr mit Menschen zu tun, die uns unver1 Th. Hobbes: Vom Menschen - Vom Bürger. - Berlin: 1959. - Vom Bürger. -112.
14
1. Einleitung
traut sind und im wesentlichen auch bleiben müssen. Selbst die Daheimgeblieben sind nicht mehr unter sich, auch ihr Lebensbereich ist mehr und mehr mit Unbekannten durchsetzt, während sich immer mehr vertraute Gesichter aus ihm verabschieden. Der Umgang mit Unbekannten wird so für jeden von uns zu einem immer normaleren Bestandteil des täglichen Lebens. Wir können nun neugierig, offen und interessiert auf jedes neue Gesicht zugehen, können uns mit aller Menschlichkeit, Verständnisbereitschaft und einem großen Vertrauensvorschuß auf sie einlassen und sie uns so vertraut machen, wie dies in relativ kurzer Zeit möglich ist. Da der so zustandekommende Kontakt nicht auf beiden Seiten Vorteile bringen muß, da wir vielleicht dem anderen aus Zuneigung, Solidarität oder Nächstenliebe helfen wollen, stellt sich die Frage, ob eine solche Hilfe angebracht ist. Menschen können lügen, und wenn uns Unbekannte ihre Lage schildern, haben wir wenig mehr als ihr bloßes Wort, keinen Bestand an Erfahrungen, mit dem wir es in Beziehung setzen können. In der Kleingruppe war jede Hilfeleistung in einen größeren Zusammenhang eingebettet, in eine Form langfristigen Zusammenlebens, in der einzelne Leistungen mit vergangenen oder zukünftigen "verrechnet" wurden. Auf die direkte Gegenleistung kam es schon deshalb nicht so sehr an, weil der andere ja nicht weglief. Bei großer Mobilität kann er dagegen relativ schnell aus unserem Blickfeld verschwinden, was die Frage aufwirft, ob er wirklich Hilfe brauchte, oder nur eine Masche gefunden hat, unsere uneigennützigen Gefühle auszubeuten. Je mehr wir mit Unbekannten konfrontiert werden und je geringer die Wahrscheinlichkeit wird, daß wir auf Dauer mit ihnen zu tun haben, desto größer wird die Gefahr, ausgenutzt zu werden. Wir werden deshalb mehr und mehr dazu übergehen müssen, unsere Beziehungen zu Unbekannten in reine Tauschbeziehungen umzugestalten und werden mit ihnen nur noch Kontakte aufnehmen, wenn es zumindest nichts kostet. Wenn wir keinen Nutzen mehr aus einer Beziehung ziehen, brechen wir sie ab. Die damit verbundene Abkühlung des Verhältnisses folgt nicht aus der Vorstellung, daß alle Fremden nur auf Beute lauem und sich nichts sehnlicher wünschen, als ihre Mitmenschen aufs Kreuz zu legen. Da uns aber die Informationen fehlen, berechtigte von unberechtigten Appellen an unser Mitgefühl zu unterscheiden, können wir Ausbeutung nur verhindern, wenn wir solche Appelle mehr oder weniger prinzipiell abschlägig bescheiden. Fühlen wir uns dennoch verpflichtet, Unbekannten etwas Gutes zu tun, können wir Experten einschalten, Hilfsorganisationen beispielsweise, die für uns sicherstellen, daß nur diejenigen von einer Gabe profitieren, denen sie zugedacht ist. Wo wir menschlichen Kontakt mit ihnen wollen, suchen wir ihn in einem institutionellen Rahmen, in Solidaritätsgruppen beispielsweise, in Clubs, Vereinen oder ähnlichem.
1. Einleitung
15
Bis hierher ist noch nicht viel verloren. Wir sind (hoffentlich) nach wie vor in einer Gruppe von Freunden und Verwandten verankert, und außerhalb institutioneller Bindungen beschränken wir uns im Umgang mit Fremden auf Tauschbeziehungen. Wie in einem Supermarkt wählen wir diejenigen unter ihnen aus, von denen wir uns für uns selbst etwas versprechen und bieten ihnen etwas an, um sie zu Entgegenkommen zu bewegen. 2 Die anderen ignorieren wir und werden von ihnen ignoriert, so daß niemand in eine Beziehung gezwungen wird, die er nicht will. Unsere soziale Welt teilt sich damit in Menschen, deren Schicksal uns individuell nahegeht, in solche, deren Bedürfnisse wir befriedigen, weil wir im Tausch etwas dafür zu bekommen hoffen und schließlich in solche, denen wir wohlwollend unverbindlich gegenüberstehen. Auch zu Menschen aus der zweiten oder dritten Gruppe können wir natürlich intensivere Beziehungen aufbauen, wenn ihnen und uns daran gelegen ist, genauso wie wir Kontakte abbrechen können, wenn uns die gefühlsmäßige Unsicherheit zu groß wird. Nichts hindert uns daran, mehr für unsere Mitmenschen zu fühlen und mit möglichst vielen von ihnen verbindlichere Beziehungen einzugehen. Die wohlwollende Gleichgültigkeit aller Teilnehmer am Markt ist nur der fruchtbare Boden, auf dem intensivere menschliche Beziehungen wachsen können. Sie verbindet ein Maximum an individueller Freiheit mit der Offenheit, freiwillig alle weitergehenden Beziehungen einzugehen, an denen uns gelegen ist. Unter diesen Umständen können wir uns eigentlich nur einen möglichst großen Markt wünschen, möglichst viele verschiedenartige Fremde, weil damit die Chance größer wird, jemanden zu finden, der etwas uns Interessierendes anzubieten hat. Das Idealbild harmonischer Tauschbeziehungen als Ergänzung zur Geborgenheit der Kleingruppe ist problematischer als es scheint. Können wir Betrüger im Extremfall noch abwehren, indem wir nur mit Menschen verkehren, die wir gut genug zu kennen glauben, um von ihnen nichts Böses befürchten zu müssen, so sind wir möglicherweise auch solchen Menschen ausgesetzt, die uns zu etwas zwingen oder uns gegen unseren Willen etwas nehmen wollen. 3 Wo wir Fremde aber nicht mehr an uns heranlassen, weil wir fürchten, von ihnen geschädigt zu werden, ja wo wir sie im Gegenteil möglicherweise vorbeugend unschädlich machen müssen, ist der Hobbessche Naturzustand nicht mehr weit. Dann nämlich stehen wir auch solchen Menschen mißtrauisch gegenüber, 2 P. H. Wicksteed bringt diese Beziehung auf den Punkt: "If you and I are conducting a transaction which on my side is purely economic, I am furthering your purposes, partly or wholly perhaps for my own sake, perhaps entirely for the sake of others, but certainly not for your sake." (P. H. Wicksteed: The Common Sense of Political Economy. - London: 1967. - S. 174; und er schließt: "The specific characteristic of an economic relation is not its "egoism" but its "non-tuism" (ehenda S. 180). 3 Siehe hierzu auch: G. Kirsch: "Von der Schwierigkeit in der Wirtschaftsgesellschaft seinen Nächsten zu lieben" in: C. Rinderer (Hrsg.): Finanzwissenschaftliche Aspekte von Religionsgemeinschaften. - Baden Baden: 1985. - S. 59 f.
16
1. Einleitung
die sich, wie wir selbst, nichts sehnlicher wünschen, als mit aller Welt auf freundschaftlichem Fuße zu leben. 4 Müssen wir, ob berechtigt oder nicht, mit Erpressung, Einbruch, Diebstahl oder Raub rechnen, reichen individuelle Vorsichtsmaßnahmen nicht mehr aus. Dann müssen wir gemeinsam mit anderen unseren Schutz organisieren, müssen den Zwang der uns droht, im Vorfeld verhindern, oder durch Gegendrohungen so teuer machen, daß er sich nicht mehr lohnt. Zu diesem Zweck brauchen wir wiederum die Hilfe von Unbekannten, denn verlassen wir uns nur auf unseren engeren Freundes- und Familienkreis, ziehen wir in der Auseinandersetzung mit gleichstarken oder stärkeren Gruppen allzuleicht den Kürzeren. Um uns deshalb gegen mögliche Übergriffe wehren zu können, müssen wir uns mit genau den Fremden einlassen, von denen wir möglicherweise Übergriffe zu befürchten haben. Um der Sicherheit vor Gewalt und Ausbeutung willen, können wir uns also der Zusammenarbeit mit Unbekannten auch dann nicht entziehen, wenn uns eine solche Kooperation durch die Unkenntnis der Motive der anderen riskant erscheint. Wie wir mit Menschen zusammenarbeiten können, von deren Bedürfnissen, Wünschen und Wertvorstellungen wir nichts wissen und deren Auskünften wir nicht immer trauen dürfen, wird das Thema der folgenden Ausführungen sein. Sie sind sozusagen der Versuch, Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur durch Sozialtechnologie auszugleichen. So wie wir unfähig sind, ohne Kleidung den Unannehmlichkeiten eines rauhen Klimas zu trotzen, so sind wir nicht in der Lage, ohne institutionelle Hilfsmittel in großen, von Mobilität gekennzeichneten Gruppen zu leben. Wir benötigen Institutionen, die unserer beschränkten Fähigkeit zu Mitgefühl und Wissen im Umgang mit anderen Rechnung tragen. 5 Wenn bei der Analyse gerade die möglicherweise vorhandenen unkooperativen Interessen unserer Mitmenschen im Vordergrund stehen, so deshalb, weil anders die negativen Folgen für die Atmosphäre, in der Zusammenarbeit wachsen kann, nicht wirksam beseitigt werden können. Keiner würde beispielsweise einer Hilfsorganisation spenden, wenn er fürchten müßte, daß sein Geld in dunklen Kanälen verschwindet. Wenn sich deshalb der Ge4 Ein typisches Beispiel für einen solchemlaßen verhinderten, freilich eher oberllächlichen Kontakt, ist das Tramper-Problem. Viele Autofahrer haben Angst vor Trampern und umgekehrt. So muß der ganz ungefährliche und gesprächsfreudige Geschäftsreisende allein fahren, während der ebenso ungefährliche und vielleicht unterhaltsame Tramper nicht von der Stelle kommt. 5 Die Neue Institutionenökonomik arbeitet an diesem Thema. Einen guten Überblick zum Stand der Forschung gibt u. a.: G. M. Hodgson: Economies and Institutions - A Manifesto for a modem Institutional Econornics. - Philadephia: 1988. - 365 S.) Zentral ist hier immer noch das Werk von O. E. Williamson: The Economic Institutions of Capitalism. - New York: 1985. - 450 S.; Für einen Überblick zum Stand der Forschung siehe auch: P. Milgrom & J. Roberts: "Economic Theories of the Firm: past, present, and future" in: Canadian Journal of Economics. - 21/3 (August 1988) S. 444-458; sowie: O. E. Williamson: "A Comparison of Alternative Approaches to Economic Organization" in: JITE. - 146 (1990). - S. 61-71.) Zum verwandten Thema "Informationskostenökonomie" siehe auch: Kenneth J. Arrow (K. Arrow: "Organization and Infomlation" in ders.: The Limits of Organization. - New York: 1974. S. 31-43. - 87 S. - S. 43; sowie J. Hirshleifer: "Where are we in the Theory ofInformation" in: American Economic Journal. - 63{2 (Mai 1973). S. 31-39).
1. Einleitung
17
setzgeber darum bemüht, solche Kanäle durch ein geeignetes Vereinsrecht zu stopfen, so geht er dabei vor, als säßen in den entsprechenden Organisationen überall Menschen, die nur darauf warten, sich unbemerkt die Taschen zu füllen. Das entspricht zwar sicher nicht den Tatsachen; die Arbeitshypothese ermöglicht es aber, zielstrebig auf die Verhinderung von Unterschlagungen hinzuarbeiten. 6 Auf dieselbe Art und Weise läßt sich auch über eine Gesellschaftsordnung diskutieren. 7 Machiavelli beispielsweise ist der Auffassung: ..... daß wer einer Republik Verfassung und Gesetze gibt, alle Menschen als böse voraussetzen muß ..... g Als Arbeitshypothese ist es durchaus sinnvoll, anzunehmen, daß alle Menschen in Versuchung geführt werden können, ihre Möglichkeiten in der WeIt zu mißbrauchen.9 Um diese Versuchung zu vermindern, kann man sich dann bemühen, für alle, unabhängig von ihrem tatsächlichen Charakter, die gemeinschaftsschädigenden Handlungsalternativen so teuer wie möglich zu machen. Nur so kann denen, die nichts Böses wollen, das Zusammenleben ermöglicht oder verein-
6 Vergl. zu diesem Problem in bezug auf Firmen und Venräge: O. E. Williamson: The Econo· mic Institutions of Capitalism .. New York: 1985. - S. 67. 7 Innerhalb der Winschaftswissenschaften sind für den vorli'::llenden Zusammenhang vor allem Arbeiten interessant, die in den letzten Jahren zunehmend als "Okonomischer Imperialismus" von sich reden gemacht haben und das ökonomische Instrumentarien auf andere sozial wissenschaftliche Themen anwenden wollen. (Vergl. z. B.: G. Radnitzky: & P. Bernholz: Economic Imperialism. New York: 1987. - 421 S.; sowie B. Frey: "Ökonomie als Verhaltenswissenschaft" in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft. - 31 (1980). - S. 21-35; siehe auch: G. Trapp: "Utilitaristische Konzepte in der Soziologie - Eine soziologische Kritik von Homans bis zur Neuen Politischen Ökonomie" in: Zeitschrift für Soziologie. - 15/5 (1986). - S. 324-340; H.B. Schäfer & K. Wehn (Hrsg.): Die Ökonomisierung der Sozialwissenschaften. - FrankfunIM: 1989. - 182 S.; ein gelunges Beispiel für die Anwendung des ökonomischen Werkzeugs auf politische Probleme ist auch: K. Homann: Rationalität und Demokratie. - Tübingen: 1988. - 318 S.). g N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " in ders.: Sämtliche Werke. - S. 1-394. - Bd. 1. - Buch I. Kap. 3. - S. 17 [So 137]; In seiner Interpretation dieser Stelle schreibt Allen zu Recht: "He means apparently that every man is always ready to act in a manner detrimental to the community if he sees any advantage to himself from doing so. Good is that which in my own interest, I wish my neighbour to do; but my neighbour and I, in our own interest, are always ready to do evil. (1. W. Allen: A History of Political Thought .... - S. 453); vergl auch D. Hume: "In constraining any system of govemment and fixing the several checks and controls of the constitution, every man ought to be supposed a knave and to have no OIher end, in all his actions, than private interest" (0. Hume: "Of the Independency of Parliament," in: Essays, Moral, Political and Literary. Vol.1. Oxford: 1963. - zil. in: G. Brennan & J. M. Buchanan: The Reason of Rules. - Cambridge: 1985. S.59).
9 Hier ist vor allem die ökonomische Analyse der Politik einschlägig. Siehe vor allem D. Mueller: Public Choice 11. - Cambridge: 1979. Von ihm stammt auch die knappeste Definition der Disziplin: "I regard public choice as the economics of politics" (0. Mueller: "The 'Virginia Schoo)' and Public Choice" Virginia Political Economy Leclure held on April 24, 1985). Siehe ferner: A. A. Schmid: Propeny, Power, and Public Choice. - N~w York: 1987. - 347 S.) Als deutschsprachige Einführung vor allem: G. Kirsch: Neue Politische Okonomie. - Düsseldorf: 1983. - 225 S.; sO';ie: F. Lehner: Einführung in die Neue Politische Ökonomie. - Königsteinrraunus: 1981. - 170 ~ ). 2 Hegmann
18
I. Einleitung
facht werden.l° Um zur Verhinderung von Übergriffen Empfehlungen genereller Art geben zu können, ist es freilich notwendig, einen Anhaltspunkt dafür zu haben, was den Unbekannten tatsächlich teuer ist, womit wir also ihr Handeln am ehesten im erwünschten Sinne beeinflussen können. Mögen sich im direkten Kontakt mit ihnen ganz eigentümliche Werte und Vorlieben zeigen, so ist es in bezug auf die Allgemeinheit allenfalls möglich, bei dem anzusetzen, was alle mehr oder weniger dringend brauchen, wie persönliche Handlungsfreiheit oder Dinge, die sie zur Realisierung möglichst vieler verschiedenartiger Ziele verwenden können, wie Geld oder Macht. Selbst wenn es kaum einen Menschen gibt, der rückhaltlos geld- oder machtgierig ist, so trifft doch auf alle zu, daß sie in einem gewissen Grade schon deshalb an individuellem Vermögen interessiert sein müssen, weil sie sonst nichts für die von ihnen angestrebten Ziele tun können. Wenn wir also von einer Verminderung individueller Ressourcen glauben, daß sie abschreckend wirkt und das Angebot ihrer Vermehrung für einen Anreiz halten, so ist der dabei zugrunde gelegte Ressourcenmaximierer als Modellmensch in derselben Weise eine Arbeitshypothese wie es der stets zu ungerechtem Verhalten bereite Normalbürger war. 11 Wie sich Unbekannte dazu bestimmen lassen, im Interesse eines Akteurs zu handeln, ist die Frage, die sich auch Machiavelli, Bodin und Hobbes stellen. Der politische Individualismus, den sie als Antwort auf ihr Problem entwikkeIn, wurzelt, wie so viele andere Konzepte der politischen Theorie, in den philosophischen Streitgesprächen des klassischen Altertums. Die Sophisten, 10 Vergl auch: G. Brennan & J. M. Buchanan: The Reason ofRules .... S, 52 ff. 11 So gelangen wir geradewegs zur umstrittener Hauptfigur einer ökonomischen Sicht der Welt, zum homo oeconomicus. Für einen guten Überblick zum Stand der diesbezüglichen Diskussion siehe: M. Tietzel: "Die Rationalitätsannahme in den Wirtschaftswissenschaften oder Der homo oeconomicus und seine Verwandten" in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft. - (32) (1981). - S. 115138; sowie ausführlich: S. Hargreaves-Heap: Rationality in Economics. - Oxford: 1989. - 238 S. Vor allem die Vorstellung. alles menschliche Handeln auf Eigennutz zurückführen zu wollen (Siehe hierzu auch: G. S. Becker: "Altruism, Egoism and Genetic Fitness" in: Journal of Economic Literature. - 14 (Sept. 1976). - S. 817-826; sowie ders.: "Eine Theorie sozialer Wechselwirkungen" in: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. - Tübingen: 1982. - 351 S. - S. 282-317). stößt außerhalb der Wirtschaftswissenschaften in der Regel auf Unverständnis. Warum sie dennoch unter bestimmten Umständen sinnvoll ist, wird noch zu zeigen sein. In jedem Falle ist von einer ihrer Eigenschaften Abstand zu nehmen, der der Allwissenheit. Vor allem Herbert A. Simon hat auf diesen Punkt hingewiesen (H. A. Simon: Models of Man - Social and Rational. - New York: 1987. - 287 S). Was übrig bleibt, ist das Konzept eines Nutzen- oder Ressourcenmaximierers, das sich übrigens auch in der Psychologie findet (Hier ist vor allem Abraham H. Maslows These vom Vorliegen einer Hierarchie der Bedürfnisse interessant. Vergl hierzu: A. H. Maslow: Motivation und Persönlichkeit. - Reinbek: 1989. - 396 S.). Wie schon ausgeführt, gibt es, unabhängig von persönlichen Präferenzen des einzdnen, Dinge, an deren Ansammlung ihm schon deshalb gelegen sein muß, weil sie ihm zur Realisierung seiner Ziele dienlich sein können, Geld ist für ein solches Mittel ein gutes Beispiel. aber auch Bildung, die in der Ökonomie unter dem Begriff des HumanKapitals diskutiert wird (Für einen ersten Einblick in dieses Konzept vergl.: G. S. Becker: Human Capital and the Personal Distribution of Income. - Ann ArOOr: 1980. - 49 S.; F. Machlup: Lecture on Theory of Human Capital. - Islamabad: 1982. - 59 S.; sowie L Thurow: Investment in Human Capital. - Belmont: 1970. - 145 S.).
1. Einleitung
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lange als bloße Taschenspieler der wissenschaftliche Auseinandersetzung geschmäht, entwickelten schon im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung Methoden, die darauf zielten, eigene Interessen gegen den möglicherweise entgegengesetzen Willen unbekannter anderer durchzusetzen. Sie benutzten dazu vor allem sprachliche Mittel und setzten, wie Anwälte oder Parlamentsredner, die Logik der Beweisführung mit dem Ziel ein, andere von der Berechtigung ihrer Anspruche zu überzeugen. In der fruhen Neuzeit findet MachiaveIli für dasselbe Anliegen neue Mittel, Mechanismen, die über die Veränderung der äußeren Umstände der Menschen ihr Wollen beeinflussen. In beiden Fällen geht es letztlich um Macht, d. h. darum, unterstützt durch andere, handeln zu können. Machiavelli, der die Erfolglosigkeit des Redners an Savonarola hat studieren können, fragt bei der Suche nach den Instrumenten zum Machterwerb nicht mehr nach Methoden, um Menschen überzeugen oder überreden zu können, er sucht statt dessen nach Möglichkeiten, ihr Sein zu verändern, um damit eine Veränderung ihres Bewußtseins zu bewirken. Fünfzig Jahre später entwickelt der französische Jurist Jean Bodin ein System des NatlUTechts, das implizit beide Ansätze, den rhetorischen der Sophisten und den "realpolitischen" des Machiavelli verbindet, um neben der politischen Erzwingung von Konsens, auch die Überzeugung der Untertanen zur Stabilisierung staatlicher Macht zu nutzen. Bodin nimmt allerdings zwei wichtige Akzentverschiebungen vor. Zum einen argumentiert er betont konservativ und bemüht sich, seinem Fürsten zum Machterhalt und so zur Verteidigung einer bestehenden Ordnung zu raten. Zum anderen richtet er seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Innenpolitik, rät also zur Schaffung und Erhaltung handlungsfähiger Kollektive. Machiavelli geht dagegen von bestehenden Mächten aus und faßt vor allem deren Kämpfe untereinander ins Auge. Der englische Philosoph Thomas Hobbes, der dritte, der im folgenden diskutierten Autoren übernimmt diese Strategie im wesentlichen, ersetzt aber seine als unbefriedigend erkannte theologisch-juristische Legitimation durch eine dezidiert philosophische. Mit seinem Plädoyer für eine kluge Innenpolitik wendet er sich weniger an den Fürsten oder andere Mächtige im Staate, sondern direkt an die Untertanen, um ihnen die Unterwerfung als individuell nützlichste Strategie nahezubringen. Während sich Machiavelli und Bodin also vor allem denjenigen widmen, die Macht ausüben, fragt Hobbes schwerpunktmäßig nach denen, die mit ihrer freiwilligen Unterwerfung die Bedingung für die Möglichkeit von Macht überhaupt erst schaffen. Alle drei Autoren beleuchten das eingangs skizzierte Problem in einer Weise, die einige heute leicht übersehene Aspekte deutlich hervortreten läßt. Machiavelli fordert, daß man seine Mitmenschen nach Möglichkeit vermittels positiver Sanktionen zu einem gewünschtem Handeln bewegt. Er empfiehlt dies im Eigeninteresse des Akteurs, da diesem daran gelegen sein muß, mit den eigenen knappen Gewaltmittel so sparsam wie möglich umzugehen.
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l. Einleitung
Da er sich als Praktiker nur allzu bewußt ist, daß bloßes Vertrauen zur Ausbeutung einlädt, empfiehlt er nur dann die Zusammenarbeit, wenn vorher jede Gefahr ausgeschaltet ist, über den Tisch gezogen zu werden. Bodin seinerseits betont, daß Herrschaft nur dann auf Unterstützung rechnen kann, wenn sie dem einzelnen die, zumindest in Grenzen freie Verfügung über einen Bestand an Ressourcen garantiert. Moral und Glaube sind für ihn zwar wertvolle Güter, bei der praktischen Politik aber solle man sich möglichst wenig auf ihr Vorhandensein verlassen. Der Bedarf an erforderlicher Moral zum Funktionieren eines Gemeinwesens ist so gering wie möglich zu halten. Hobbes schließlich weist darauf hin, daß jede Verständigung über den besten Kurs gemeinschaftlichen HandeIns prinzipiell gefährdet ist, wo sich Betrug auszahlen kann. Seine Hauptforderung ist deshalb die Minimierung des Bedarfs an notwendiger Verständigung für das Funktionieren eines Gemeinwesens. Für moderne ordnungstheoretische Probleme läßt sich aus den Theorien der drei Autoren im wesentlichen folgendes lernen: Machiavelli folgend, muß ein gesellschaftlicher Ordnungsentwurf darauf ausgerichtet sein, Gewalt und Betrug nach Möglichkeit zu minimieren. Nur so kann ein politischer Akteur mit seiner Politik unabhängig von den ihm unbekannten Interessen und Zielen seiner Mitmenschen ein Höchstmaß an Zufriedenheit und damit auch ein Höchstmaß an Sicherheit für sich selbst erreichen. Zweitens, und hier ist Bodins Argumentation instruktiv, kann der Versuchung, auf Kosten seiner Mitmenschen Gewinne zu erzielen, nur sehr bedingt über Appelle entgegengewirkt werden, da Appelle immer gerade denjenigen besonders nutzen, die sich nicht an sie halten. Verhaltensveränderungen sind also dort am erfolgversprechendsten, wo sie bei der Veränderung der Ressourcenbasis der Menschen ansetzen. Hobbes liefert den dritten Punkt: Politik wie Ökonomie dürfen so wenig wie möglich von kurzfristiger Meinungsmanipulation abhängen, wenn sie nicht Demagogen das Feld bereiten sollen. Um zu Konsens zu finden, ist es vielmehr nötig, Entscheidungen soweit wie möglich von den persönlichen Interessen derer unabhängig zu machen, die an ihnen teilhaben. Es wird sich zeigen, daß der Nachtwächterstaat klassisch liberaler Prägung ein Schritt in Richtung auf die Lösung dieser dreifachen Aufgabe ist. Mit langfristig festgelegten Regeln, über die im Einzelfall nicht diskutiert werden kann, hält er die Notwendigkeit konsensstiftender Verhandlungen so gering wie möglich. Mit der polizeilichen Verhinderung bestimmter Arten unkooperativen Verhaltens zwischen den Bürgern reduziert er das Maß an notwendiger Moral im zwischenmenschlichen Verkehr nach Kräften, und macht so das allgemein Erwünschte zur individuell vorteilhaftesten Option. Mit der Beschränkung staatlicher Einflußnahme auf das Verbot, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, reduziert er darüber hinaus das zur Aufrechterhaltung eines friedlichen Zusammenlebens erforderliche Gewaltpotential auf ein absolutes Minimum. Allerdings geht der Nachtwächterstaat nicht weit genug. Weil, wie der berühmte
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Satz von Lord Acton es will, Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert, und weil dies sowohl für private, als auch für institutionell verliehene Macht gilt, bedarf es einer egalitären Ergänzung der herkömmlichen Idee des Nachtwächterstaats. Nur damit nämlich läßt sich der Anspruch der klassisch liberalen Tradition realisieren, bestehende Privilegien durch die Verwirklichung der Rechts- und Chancengleichheit abzubauen. 12 Bevor im folgenden zur Diskussion der behandelten Autoren und im Anschluß daran zur Begründung der aus ihren Konzepten abgeleiteten ordnungstheoretischen These übergegangen werden kann, soll der verbleibende Teil der Einleitung zeigen, warum die Ratschläge von Machiavelli, Bodin und Hobbes nach wie vor aktuell sind und warum die Perspektive, aus der sie schreiben, mehr Erfolg verspricht als alternative Ansätze.
1.1. Der Individualismus als Handlungsanleitung Der einzelne, der sich im eigenen Interesse und zu seinem eigenen Schutz darum sorgt, gemeinsam mit Unbekannten die Bedingungen für Zusammenarbeit zu sichern, sieht sich dem Problem gegenüber, diese anderen zur Mitarbeit zu bewegen, obwohl er ihre Ziele und Interessen nur in begrenztem Umfang kennen kann. Um dennoch erfolgreich zu sein, kann er sich Klugheitsregeln zunutze machen, d. h. Regeln, die ihm auch dann ein halbwegs angemessenes Handeln erlauben, wenn er nicht über alle dazu notwendigen Informationen verfügt. Wichtige Entdecker solcher Klugheitsregeln sind die drei Autoren, um die es im folgenden gehen soll. Machiavelli, Bodin und Hobbes sind weder an einer rein empirischen Beschreibung der Wirklichkeit interessiert, noch daran, aus einem wie auch immer gearteten Wertekanon Regeln des Handeins abzuleiten. In ihrer Eigenschaft als politische Ratgeber versuchen sie vielmehr, Mechanismen zu erläutern, nach denen soziale Prozesse ablaufen. Die dazu aufgestellten Klugheitsregeln gehen das oben skizzierte Problem in dreierlei Hinsicht an. Sie bestimmen, worauf der Handelnde in der ihn umgebenden komplexen sozialen WeIt sein Hauptaugenmerk richten und was er anstreben soll; sie zeigen ihm zum zweiten, wie er trotz der Gefahr, belogen zu werden, etwas über 12 F. A. von Hayek hat das historische Anliegen des Liberalismus wie folgt beschrieben: "... though there are strict limits to the degree of material equality which can be achieved by liberal methods, the struggle for fOffilal equality; i.e. against all discrimination based on social origin, nationality, race, creed, sex, etc., remained one of the strongest characteristics of the liberal tradition. Though it did not believe that it was possible to avoid great differences in material positions, it hoped to remove their sting by a progressive increase of vertical mobility. The chief instrument by which this was to be secured was the provision (where necessary out of public funds) of a universal system of education which would at least place all the young at the foot of the ladder on which they would be able to rise in accordance with their abilities." (F. A. von Hayek: "Liberalism" in ders.: New Studies in Philosophy, Politics, Economics and the History of Ideas. - London & HenIey: 1978. - S. 142).
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die Ziele und Interessen seiner Mitmenschen erfahren und wie er mit übrig bleibenden Defiziten umgehen kann, und zum dritten empfehlen sie ihm Wege, auf denen die anderen im eigenen Interesse beeinflußt werden können. 13 Mit allen drei Aspekten sind Probleme verbunden, die auf den nächsten Seiten kurz angerissen werden sollen. 1.1.1. Das Individuum und seine Sicht von der Welt
Politische Theorien, die aus der Ratgeberperspektive geschrieben werden, betrachten die Welt nicht aus der Vogelschau, sondern mit den Augen derer, die in ihr leben. Von Partikularinteressen ausgehend und einen notwendigerweise begrenzten Kenntnisstand in Rechnung stellend, wollen sie zeigen, wie einzelne Menschen effizient ihre individuellen Ziele realisieren können. Dieser Ansatz bedarf der Begründung,14 er versteht sich ebensowenig von selbst wie der Versuch Menschen von vorneherein in Klassen oder Gruppen einzuteilen, um dann zu zeigen, wie diese am besten ihre Kollektivinteressen verwirklichen können. 15 Es widerspricht der alltäglichen Erfahrung, von Menschen als Einzelwesen auszugehen. In der Regel gehören sie immer schon Familien und anderen Kleingruppen an, sie organisieren sich in Parteien, Staaten oder Religionsgemeinschaften und fühlen sich Verwandten, Freunden, Genossen und Glaubensbrüdern verbunden. In ihrem Handeln sind sie so immer schon durch die Erwartungen anderer und durch die Pflichten eingeschränkt, die sich aus ihren Werthaltungen ergeben. Welcher Gruppe sich der einzelne allerdings zugehörig fühlt, mag unklar sein und ist mit der Zeit Veränderungen ausgesetzt. In einem beeindruckenden Artikel über Bildungschancen hat Coleman gezeigt, 13 Damit verstehen sie Klugheitsregeln in einer rein weltlichen Weise. Selbst Cicero, der sehr diesseitig argumentiert, bringt Klugheitsregeln mit der Erkenntnis des "Guten" in Verbindung, auch wenn ihm das Nützliche durchaus wichtig ist: "(wenn der Mensch) wie die Sehkraft des Auges so die des Geistes geschärft hat, um das Gute auszuwählen und das Gegenteil zu verwerfen, eine Tugend, die auf Grund des 'Sich-Vorsehens' (providere) Klugheit (prudentia) genarmt wurde ..... (Cicero: Über die Gesetze. - Reinbek: 1969. - S. 31 (XXIlI/60». 14 Für einen Überblick zum Stand der individualistischen Sozialwissenschaft siehe beispielsweise: K. Heinemann: (Hrsg.) Soziologie wirtschaftlichen HandeIns. - Opladen: 1987; sowie: H. Todt (Hrsg.): Normengeleitetes Verhalten in den Sozialwissenschaften. - Berlin: 1984. - 170 S .. In die deutsche Soziologie haben den Ansatz vor allem H. J. Hummell, K. D. Opp und Viktor Vanberg eingeführt. Siehe u. a.: H. 1. Hummell & K.D. Opp: Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie. - Braunschweig: 1971; H. J. Hummell: "Psychologische Ansätze zu einer 1l1eorie sozialen Verhaltens" in: R. König: Handbuch der empirischen Sozialforschung. - Bd. 2. - Stuttgart, 1969. - S. 1157-1277; K. D. Opp: "Das "ökonomische Programm in der Soziologie" in: Soziale Welt. - 29 (1978). - S. 129-154.; V. Vanberg: Die zwei Soziologien - Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie. - Tübingen: 1975. 15 Daß Kollektive nicht nur ohne Individuen sondern auch ohne Kollektivziele auskommen können, daß es vielmehr allein darum gehen kann, die Organisation des eigenen Kollektivs an sich verändernde Gegebenheiten anzupassen, dazu siehe: G. Kirsch & K. Mackscheid: China - Ordnungspolitik in einem konfuzianischen Land. - Baden-Baden: 1988. - 188 S.
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wie die Bindung des einzelnen an seine Gruppe gedacht werden kann. Zuerst beschreibt er die vorbürgerliche, von Großfamilien bestimmte Welt, in der jede Familie sowohl für aUe Sozialleistungen als auch für die Ausbildung der Kinder Sorge trägt. Im Vergleich zu heute sind in dieser Welt die Transaktionen zwischen den Familien, von nur geringem Umfang, so daß sich die Familienmitglieder für den ökonomischen Erfolg oder Mißerfolg Außenstehender nur mäßig interessieren. 16 Mit dem Aufbrechen der familiären Solidargemeinschaften durch die zunehmende Mobilität der Familienangehörigen schwindet dieses Desinteresse zunehmend: With the industrial revolution, changes occured in both the family's function as a self-perpetuating economic unit and as a training ground. As economic organizations developed outside the household, children began to be occupationally mobile outside their families. As families lost their economic production activities, they also began to lose their welfare functions, and the poor or ill or incapacitated became more nearly a cornmunity responsibility. Thus the training which a child received came to be of interest to all in the community, either as his potential employers or as his potential econornic supports if he became dependent. ... Further, as men came to employ their own labor outside the family in the new factories, their families became less useful as econornic training grounds for their children. These changes paved the way for public education. l1
Die Ausbildung und Versorgung der Individuen verliert also mit zunehmender Mobilität ihre traditionelle Basis. 18 Man könnte Coleman noch dahingehend ergänzen, daß auch die Sanktionierung kriminellen Verhaltens durch die Kleingruppe an Bedeutung verliert. Mit zunehmender Mobilität können sich einzelne dem Gruppendruck von Verwandten, Freunde oder Bekannten besser entziehen und auch die Gruppe als Ganzes kann weniger für Handlungen ihrer Mitglieder verantwortlich gemacht werden. In Großstädten ist es inzwischen so, daß Individuen Straftaten begehen können und schon in der vollständigen Anonymität untergetaucht sind, bevor sie zwei oder drei Straßenzüge zwischen sich und das Opfer gebracht haben. Die erwarteten Kosten von Straftaten werden so zunehmend geringer, eine Tendenz, die durch zentralisierte Strafverfolgung allenfalls abgeschwächt werden kann. Mit der zunehmenden Verwobenheit der Interessen, mit der generellen Zunahme der Beziehungen zwischen anonymen Menschen nehmen auch die sogenannten "externen Effekte" zu, d. h. die Auswirkungen des eigenen HandeIns auf andere, die nicht in die eigene Nutzenkalkulation eingehen. Wenn also einerseits die Bereitschaft abnimmt, das Schicksal von Familienangehörigen zum eigenen zu machen, nimmt gleichzeitig allge16 J. s. Coleman: "The Concept of Equality of Educational Opportunity". - in: Harvard Educational Review. - 38 (1968). - S. 7-22. - S. 8.
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J. S. Coleman: "The Concept of Equality ... S. 8.
18 Daß dieser Prozeß sich immer noch fortsetzt, zeigt beispielsweise die Diskussion um die
Pflegeversicherung. Die Versorgung pflegebedürftiger Familienmitglieder ist mit starken Emotionen besetzt und hat so länger funktioniert, als die familieninteme Sicherung gegen Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Aber auch hier dürfte die zunehmende Mobilität und damit verbunden das Aufbrechen der Familie in immer kleinere Einheiten das Verantwortungsgefühl auf Dauer aushöhlen und so andere institutionelle Arrangements erforderlich machen.
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mein das Interesse am Schicksal der Mitmenschen zu. In einer Subsistenzwirtschaft mag Colemans Beschreibung des vorindustriellen Zustandes nach wie vor zutreffen, eine Großstadt dürfte die von ihm geschilderten Folgen der industriellen Revolution eher noch übertreffen. Ist im einen Fall der einzelne Bauer schon deshalb nicht gezwungen, sich um seine Nachbarn zu kümmern (im positiven wie im negativen Sinne), weil sie relativ weit weg sind und er den Kontakt mit ihnen nötigenfalls minimieren kann, so ist der Stadtmensch im anderen Fall, externen Effekte viel zu sehr ausgeliefert, als daß er seine Mitmenschen ungestraft ignorieren könnte. Je moderner die Gesellschaft also wird, je mehr ihre Glieder aufeinander bezogen sind, desto weniger Funktionen bleiben auch aus der Sicht des einzelnen bei der Familie und desto mehr müssen im Interesse aller Beteiligten durch die Allgemeinheit wahrgenommen werden. 19 Machiavelli, Bodin und Hobbes sind Zeitgenossen der Auflösung traditioneller politischer Ordnungen. Sie sind Zeugen, wie die Kollektivinteressen immer häufiger zum Vorwand genommen werden, die eigene Position anderen Mitgliedern der Gruppe gegenüber zu verbessern. Solcherart handelnde "Bösewichte", realisieren solange auf Kosten ihrer Genossen individuelle Sonderprofite, wie diese bei der Stange bleiben. Damit sind die Übervorteilten den Profiteuren gegenüber im Nachteil, sie werden individuell schwächer und verlieren im Kollektiv an Bedeutung. Auf Dauer werden gerade diejenigen auf die weniger wichtigen Plätze verbannt, die sich mit ihrem Kollektiv und dem Kollektivziel identifizieren, sie werden irgendwann aussterben, wenn sie nicht ihrerseits dazu übergehen, nur noch ihre individuellen Ziele zu verfolgen. Ist das Ganze auf diese Weise erst einmal korrumpiert, müssen sich alle Mitglieder vor möglicher Untreue schützen, indem sie auch ihren Freunden zunehmend vorsichtiger gegenüberstehen. Sie unterscheiden dann immer weniger zwischen den Mitgliedern des Kollektivs und anderen, um am Ende nur noch eine Grenze zwischen sich selbst als Einzelperson und dem Rest ihrer sozialen Umwelt zu ziehen. 2o Dabei bleibt unbestritten, daß der Mensch Gesellschaft braucht. Weder Machiavelli, noch Bodin oder Hobbes sehen in einem robinsonschen Einsiedlerleben eine Alternative zur potentiellen Bedrohung durch die Mitmenschen. Nur wird das Kollektiv, dem sich ihre Zeitgenossen zugehörig fühlen, mit zunehmenden Wahlmöglichkeiten immer ungewisser. Weil auch die anderen die Möglichkeit haben, auszusteigen, muß man ständig darauf gefaßt 19 Für eine Gegenüberstellung von Familie und anonymer Marktgesellschaft, die dieses steigende Interesse am anonymen anderen außer acht läßt vergl. beispielsweise: F. A. v. Hayek: Demokratie, Gerechtigkeit und Sozialismus. - Tübingen: 1977. - S. 23 ff. 20 Danlit sind auch sie permanent der Gefahr lukrativerer Angebote aus anderen Gruppen ausgesetzt. Da der ständige Wechsel Mißtrauen erzeugt und das Bestreben, den möglicherweise untreuen anderen zuvorzukommen, ist das Bestehen von Kollektiven nur noch davon abhängig, wie teuer es ist, von einem ins andere zu wechseln. Hier sind natürlich Infomlations- und Transaktionskosten gemeint. Wo diese bestehen, werden sich kurzfristig eingegangene Koalitionen verkrusten und so zeitliche Dauer bekommen.
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sein, von ihnen im entscheidenden Moment verraten zu werden und muß seinen individuellen Vermögensbestand, auch um der Gemeinschaft willen, immer im Auge behalten. Mit anderen Worten könnte man sagen, Individuen entstehen, weil das Vertrauen zwischen den Menschen verloren geht. 21 Neben dem Zerfall vertrauter Sozialverbände durch befürchteten "Verrat" spielt noch ein zweiter Faktor bei der Individualisierung der Menschen eine Rolle, der freilich eng mit dem ersten verwoben ist: Auch in einer sozial höchst unsicheren Weit wäre es schließlich denkbar, daß sich der einzelne als Bestandteil einer ihn transzendierenden, möglicherweise religiösen Weltordnung fühlt. Bodin und Hobbes weisen nachdrücklich darauf hin, daß ein solcher Glaube leidet, wo die ihn tragenden Gruppen auseinanderbrechen. 22 Beginnt der einzelne dann, an seinen Wertvorstellungen zu zweifeln, wird er sicherheitshalber nicht mehr bereit sein, große Opfer für sie zu bringen. Bevor er den Sinn seines Lebens gänzlich aus den Augen verliert, mag er zu dem Standpunkt kommen, daß individuelles Vermögen für die Realisierung ganz unterschiedlicher Ziele taugt und seine vorbeugende Anhäufung deshalb sozusagen als Ausweichziel anzustreben sei. Sicher wird er nicht mehr zu Kamikaze-Aktionen bereit sein und er wird je weniger bereit sein, seiner Sache zu dienen, desto mehr ein solcher Dienst im Widerspruch zu seinen individuellen Interessen steht. Dieser Rückzug auf individuellen Vermögenserwerb gilt nicht nur beim Verblassen religiöser Überzeugungen. Jedes Ziel, das durch den Vergleich mit möglichen anderen Zielen relativiert wird, das so für den einzelnen seine Ausschließlichkeit verliert, fillit als alleiniger Lebensinhalt aus und macht einer distanzierteren Berechnung Platz. Man könnte diese Distanzierung als den "Preis der Freiheit" bezeichnen, als Folge der Tatsache, daß der einzelne zwischen immer mehr Lebensentwürfen wählen kann und sich möglicherweise die Entscheidung so lange wie möglich vorbehalten will. 23 Auch diese zweite Tendenz 21 K. J. Arrow schreibt in bezug auf öffentliche Güter: "Consider what is thought of as a higher or more elusive value than pollution or roads: trust among people. Now trust has a very important pragmatic value, if nothing else. Trust is an important lubricant of a social system. It is extremely efficient; it saves a lot of trouble to have a fair degree of reliance on other people's word. Unfortunately this is not a commodity which can be bought very easily. If you have to buy it, you already have some doubts about what you've bought. Trust and similar values, loyality or truthtelling, are examples of what the economist would call "extemalities". They are goods, they are commodities; they have real, practical, economic value; they increase the efficiency of the system, enable you to produce more goods or more of whatever values you hold in high esteem. But they are not commodities for which trade on the open market is technically possible or even meaningful. (K. Arrow: "Rationality: Individual and Social" in: The Limits ofOrganization. - New York: 1974. - S. 43. 22 Damit sehen Bodin und Hobbes durchaus den Trend der Zeit, da nicht nur bestehende Kollektive immer fragwürdiger werden, sondern die Vorstellung von der Weltordnung als solcher. Wo vorher die Kenntnis dieser Ordnung die Fähigkeit versprach, in ihr seinen Platz zu finden, so muß man sich jetzt darauf beschränken, sich mit Hilfe isolierter Mechanismen in einer offenen Welt zu behaupten. (vergl. hierzu A. Koyre: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum. FrankfurtIM.: 1969. - 256 S.; siehe auch: R. Schnur: Individualismus wld Absolutismus. - Berlin: 1963. - S. 40 ff. 23 Den Werteverfall statt dessen auf den Irrtum von Intellektuellen zu schieben, wie es vor al-
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bricht Zusammenarbeit auf, indem sie den Menschen Gemeinsamkeiten nimmt, nur beginnt der Zerfall hier nicht bei der Solidarität innerhalb der Gruppe, es ist vielmehr die Gleichgerichtetheit des Handeins, die verloren geht. Aristoteles ist in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel. 24 Für ihn ist die Polis eine Gemeinschaft von Menschen, die auf der Suche nach dem guten Leben, d. h. auf der Suche nach ihrem Platz in der göttlichen Harmonie, die Zugehörigkeit zu einer funktionierenden Gemeinschaft ebenso notwendig brauchen, wie einen gesunden Körper. Zwar haben kluge Staatsmänner darauf zu achten, daß die Gemeinschaft nicht durch den kurzsichtigen Egoismus einzelner in Gefahr gerät, aber deren technisches Wissen ist sekundär im Vergleich zum Wissen über das Gute und Richtige, über das gemeinsame Ziel aller also, das die Polis in erster Linie zusammenhält. In dem Augenblick, in dem dieses gemeinsame Ziel nicht mehr ungeteilte Zustimmung findet, geht, wieder ganz nebenbei, auch die Bedingung für die Gleichgerichtetheit der individuellen Anstrengungen verloren. Die anderen Polisbürger werden mehr und mehr zu möglichen Hindernissen auf dem Weg zum eigenen Glück. War vorher der politische Erfolg eines Gruppenmitgliedes immer gut für alle anderen, weil er sie dem erfüllten Leben in einer harmonisch geordneten Polis näherbrachte, und hatte man sich nur gegen solche vorzusehen, die den Weg zu ihrem eigenen Besten nicht klar erkannten und deshalb kurzsichtig egoistisch dachten, realisierte also jeder auf dem Weg zu individueller Erfüllung auch optimale Bedingungen für Zusammenarbeit, so sind mit der Ersetzung des Strebens nach dem "guten Leben" durch das nach individuellem Vermögen, Gräben auch zwischen solchen Menschen aufgerissen, die sich vorher als Genossen sahen. Zwar mag es immer noch zweckmäßig sein, emotional, traditional oder wertrational zu handeln und bestehende Loyalitäten weiter aufrechtzuerhalten. Aber immer wird es nützlich sein, wenn sich der einzelne die Inhalte seiner Handlungsantriebe explizit machen und sie auf ihren Wert hin überprüfen kann. Widerspricht die so geprüfte Einstellung seinen Zielen, kann er sie aufgeben. Er wird also langfristig nur denjenigen Kollektiven angehören bzw. Weltanschauungen anhängen, die ihm nützen, und nicht denen, denen er gefühls- oder traditionsgemäß verbunden ist. Keimt in einem Kollektiv erst der Verdacht, daß Angehörige jederzeit bereit sind, aus der Gruppensolidarität auszusteigen, wenn ihnen dies nützt, ja daß sie die Solidarität ihrer Genossen auch zu mißbrauchen bereit sind, so setzt möglicherweise ein Prozeß der Individualisierung lern bei Konservativen verbreitet ist und wie selbst Hayek es tut (vergl. beispielsweise F. A. v. Hayek: Die Intümer des Konstruktivismus. - Tübingen: 1975. - S. 16 + 24) ist wenig hilfreich. Betrachtet man die Protagonisten sozialreformerischer Theorien, mögen sich gelegentlich Belege für eine solche Intums-These finden. Die Massenwirlcung ließe sich so aber nur erklären, wenn man annähme, daß sich die "Massen" von den irregeleiteten Angehörigen einer "Elite" verführen ließen. 24 Vergl zu dieser Frage auch: A. Pieper: "Ethik und Ökonomie" in: B. Biervert et al.: Sozialphilosophische Grundlagen ökonomischen Handeins. Frankfurt: 1990. - S. 90.
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ein, der mit zunehmender Geschwindigkeit die gemeinsamen Ziele zerstört und mit der Konzentration eines jeden einzelnen auf die Ansammlung privaten Vermögens endet. 25 Mit dem Zerfallen der politischen Kollektive ist freilich nicht nicht in Frage gestellt, daß der einzelne überhaupt Kollektiven angehört. Die Menschen können, ihrer natürlichen Neigung folgend, durchaus in Kleingruppen solidarisch und hilfsbereit zusammenleben und sich dennoch in Staaten oder andere Großgruppen mißtrauisch gegenüberstehen. 26 Umgekehrt ist es denkbar, daß man innerhalb einer Gruppe Positionskämpfe austrägt, gegen einen gemeinsamen Feind aber zusammensteht. Es schadet also nichts anzunehmen, daß der einzelne im Privatbereich einer glücklichen Familie, einem vertrauten Freundeskreis oder einer harmonischen Dorfgemeinschaft angehört. In seiner Eigenschaft als politisch Handelnder, d. h. als jemand, der auf überregionalem, nationalem oder gar internationalem Niveau agieren will,27 steht er nach wie vor im wesentlichen Unbekannten gegenüber, die möglicherweise nur mit ihm verkehren, um ihn bei passender Gelegenheit über den Tisch zu ziehen. 28 Versu25 Die Wahrscheinlich eines solchen Verfalls hängt natürlich entscheidend davon ab, ob eine Trittbrettfahrer ungestraft seinen Beitrag unterschlagen kann, was seinerseits von der Gruppengröße abhängig ist. Zum Verhältnis von Gruppengröße und der Wahl individueller Verhaltensmaximen vergl. auch: 1. M. Buchanan: Freedom in Constitutional Contracl. - College Station: 1977. - S. 151 ff. 26 Aristoteles deutet das Verhältnis von Kollektiv und Individuum auf seine Weise: "Darum ist denn auch der Staat der Natur nach früher als die Familie und der einzelne Mensch, weil das Ganze früher sein muß als der Teil. ... Man sieht also, daß der Staat sowohl von Natur besteht, wie auch früher ist als der einzelne. Denn wenn sich der einzelne in seiner Isolierung nicht selbst genügt, so muß er sich zum Staate ebenso verlla1ten wie andere Teile zu dem Ganzen dem sie angehören." (Aristoteies: Politik. - Stullgart: 1989. - 1253 a.) Aber auch diese Definition ist mit dem oben Ausgeführten vereinbar: Wenn der einzelne aller Bedürftigkeit des Lebens im Kollektiv zum Trotz nicht mehr sagen kann, wer "seinem" Kollektiv noch angehört, wo sie Grenzen des Ganzen verlaufen, so bleibt ihm nichts anderes, als individuell Vermögen anzusammeln, um bei der Definition, dem Aufbau und der Verteidigung seines Gemeinwesens "mitreden" zu können.
27 Diese Konstellation wird auch "layered prisonner's dilemma" genannt. Vergl hierzu: S. Schwarz-Shea & R. T. Simmons: "The layered prisoner's dilemma: Ingroup versus Macro-Efficiency" in: Public Choice. - 65 (1990). - S. 61-83. 28 Webers vier Handlungstypen sind in diesem Zusammenhang interessant. Sie stellen eine zunehmende Abstraktion bei der Definition der eigenen Gruppe dar: affektiv Zusammengehörigkeitsgefühl KIeingruppe traditionell Geschichte/Sitten & Gebräuche Großgruppe wertrational Ideologie/Weltanschauung Partei zweckrational Nutzen Individuum Das, was die Welt zusammenhält wird zunehmend abstrakter. Von der umfassenden Gemeinschaft der Kleingruppe, die alle Lebensäußerungen der Mitglieder umfaßt, über die Tradition, die gutes Verhalten der Mitglieder von Schlechtem unterscheidet, über die Partei, die das Verhalten selbst zum Kriterium der Zugehörigkeit erhebt hin zur eigennützigen Welt schau der einzelnen. War für die Unterscheidung von In- und Outgroup zuerst nur die Zugehörigkeit zur eigenen Familie oder Sippe entscheiden.~, so wurde es später das "richtige" Verhalten der Familienmitglieder, "richtig" als im Sinne des Uberkommenen verstanden. Mit der Wertrationalität wurde richtig dann als konform mit dem eigenen Wertsystem definiert und im letzten Stadium handelt nur der noch derjenige "richtig", der meine Interessen fördert. Alle diese Ebenen können nebeneinander existieren, und in der Regel ist das auch der Fall. In großen Zusammenhängen zeichnet sich aber, der zunehmenden
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ehen sie dies, ist es empfehlenswert, ihnen zuvorzukommen und bleiben sie loyal, läßt sich individuell ein Profit erzielen, der in der nächsten Begegnung vielleicht dringend gebraucht wird. 29 In jedem Falle ist es sinnvoll, zynischer zu sein, als seine Mitmenschen, was Kooperation zwischen Unbekannten zu einem unmöglichen Unternehmen zu machen scheint. Daß angesichts der Möglichkeit von Verrätern der eigene Verrat individuell sinnvoll ist, bedeutet übrigens nicht, daß dies eine Strategie ist, mit der der einzelne notwendig besser fährt. In einem stabilen Kollektiv kann der einzelne in der Regel darauf vertrauen, daß ihm seine Position in der Gruppe sicher ist, eine Position, die sich nur dann verschlechtert, wenn es dem größeren Ganzen selber schlechtergeht. Diese relative Sicherheit verschafft ihm Abrüstungsvorteile seinen Genossen gegenüber und ermöglicht es ihm, sein ganzes Vermögen auf die Auseinandersetzung mit der Außenwelt zu richten, auf seine Arbeit als Auseinandersetzung mit der Natur, oder auf Verteidigungsanstrengungen als Auseinandersetzung mit Gruppenfremden. Kann er sich auf die Solidarität seiner Genossen nicht mehr bedingungslos verlassen, muß er auch ihnen gegenüber wachsam werden. Jetzt reicht es ihm nicht mehr, die eigene Gruppe als Ganzes zu stärken,30 jetzt muß er auch auf die gruppeninterne Machtverteilung acht geben, wenn er ihr nicht irgendwann zum Opfer fallen will. Hat er damit zu rechnen, daß er auch innerhalb seiner Großgruppe auf Menschen trifft, die Loyalität nur vortäuschen, um die eigene Position zu verbessern, so wird er sich auch ihnen gegenüber zunehmend auf direkt vollziehbare Tauschaktionen beschränken müssen.3 1 Er darf, möglicherweise bei Strafe des eigenen VerMobilität wegen, ein Prozeß zu abstrakteren Identifikationen ab: In einer Welt, die sich so wenig ändert, daß traditionelle Handlungsmuster zweckmäßig sind, weil sie Erfahrungen einbeziehen, die Generationen vorher gesammelt haben und die die Aufnahmefähigkeit des einzelnen übersteigen, mag das fraglose Akzeptieren nicht durchschauter Regeln zweckrational sein. Hier reduziert die Tradition genauso die Komplexität der Welt, wie die gefühlsmäßige Bindung oder das Wertsystem Komplexität für denjenigen reduziert, der "affektuell oder wertrational" handelt (siehe hierzu Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. - Berlin: 1982. - S. 12). Mit der Wirklichkeit wandelt sich auch der Handlungstyp, der dem einzelnen die optimale Anpassung an seine Welt ermöglicht. Derjenige, der im richtigen Augenblick auf den zweckmäßigeren Handlungstyp umsteigt, wird erfolgreicher sein als seine Mitmenschen und je mehr Menschen auf diese Weise erfolgreich sind, desto mehr löst der neuer Handlungstyp den alten ab und sorgt so dafür, daß langfristig auch moralisch sanktioniert wird, was den veränderten materiellen Gegebenheiten entspricht. Vergl hierzu auch: U. di Fabio: Offener Diskurs und geschlossene Systeme - Zur systemtheoretischen Rekonstruktion der Relation von Individuum und Gesellschaft. - Berlin: Duncker & Humblot, 1992. - S. 72 f. 29 Daß dies übrigens auch in Familien oder Dorfgemeinschaften der Fall sein kann, wissen wir spätestens seit Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. - Zürich: 1956. - 150 S.
30 Einmal von dem Ausnahmefall abgesehen, daß sein Kollektiv nur durch sein persönliches Opfer stärker werden kann. 31 Das "müssen" in diesem Satz ist nur insofern normativ, als vorausgesetzt wird, daß der Beratene ein Interesse an seinem Wohl hat. Dies ließe sich auch in die Foml einer Wenn-Dann-Beziehung bringen. Wenn du dich in Auseinandersetzung mit Unbekannten erhalten willst, mußt du auf Reziprozität achten. Y. NG unterscheidet drei mögliche Gründe für Abweichungen von dieser Empfehlung: "concem for others, ignorance and irrationality" (Y. NG: "Some broader Issues of Socia! Choice" in: P. K. Pattaniak & M. Salles: Social Choice and Welfare. - Amsterdam: 1983. - S.
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schwindens, nichts mehr ohne sichere Gegenleistung gewähren. 32 Wenn er zudem damit rechnen muß, daß der andere ihn möglicherweise zwingen will, muß er überdies danach streben, individuell so stark zu werden, daß entsprechende Versuche auch innerhalb der Gruppe notwendig fehlschlagen. Sein Vermögen wird so auch gruppenintem zum Positionsgut, d. h. zu einem Gut, das nur relativ zu denen der anderen einen Wert hat. War jeder Zuwachs beim äußeren Feinde schon immer notwendig schlecht, weil er die Chancen der eigenen Gruppe in einem möglichen Konflikt reduzierte, so kann dies nun auch innerhalb der Gruppe der Fall sein. War vorher der Gewinn eines Freundes notwendig auch für den Handelnden ein Zuwachs, so schmälert er jetzt dessen Aussichten auf Erfolg, falls er mit ihm in Konflikt gerät. 33 Daß Loyalität unter diesem Gesichtspunkt sinnvoll sein kann, zeigt sich besonders deutlich am Ausnahmefall der Bedrohung durch einen äußeren Feind. Handelt die Gruppe dann geschlossen, führt dies vielleicht zur Abwehr des Aggressors und ist so möglicherweise auch individuell von Vorteil. Beginnen die Mitglieder aber erst einmal, sich als Individuen zu fühlen, bricht das Kollektiv in Einzelpersonen auseinander, von denen jeder darauf hinarbeitet, daß sein Nachbar statt seiner "an die Front geht". Die kollektive Verteidigungsanstrengung ist dann notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. 34 Auch dem individuellen Wohl läßt sich also u. U. besser dienen, wenn man "irrational" bereit ist, "fürs Vaterland zu sterben", vorausgesetzt natürlich, daß die anderen ebenso verfahren. 35 Die Korruption von Kollektiven mag so zwar durchaus zu ihrer Er151) In jedem drei Fälle handelt es sich um einen, die Erreichung des gesteckten Ziels möglicherweise gefährdenden "Konsum". 32 Es ist kein Zufall, daß in Axelrods Computertumier mit Rapoports "Tit-for-Tat-Strategie ein Programm erfolgreich war, daß ein langes "Zusammenleben" in kleine, vollständig von Reziprozität bestimmte Einheiten aufspaltete. Tit-for-Tat repräsentiert gen au diese Dimension von Marktbeziehungen. 33 Das Spiel ist nicht einmal ein Nullswnmenspiel, weil im Machtkampf Macht verloren geht, der Kuchen also durch die Tatsache kleiner wird, daß überhaupt gestritten wird. 34 Olson faßt das Kollektivgutproblem wie folgt zusammen: ..... The larger the number of indivi duals or finns that would benefit from a collective good, the smaller the share of gains from action in the group interest that will accrue to the individual or finn that undertakes the action. Thus, in the absence of selective incentives, the incentives for group actions diminishes as group size increases, so that large groups are less able to act in their common interest than small ones." (M. 01· son: The Rise and Decline of Nations. - New Haven: 1982. - S. 31). Überhaupt ist Olson, der 1965 mit einer Studie zur Logik von Kartellbildungen Aufsehen erregte (M. Olson: The Logic of Collective Action. - Cambridge (Mass.): 1971. - 186 S.; sowie ders.: The Rise and Decline of Nations. - New Haven: 1982. - 273 S.), einer der Autoren, der die vorliegende Arbeit in besonderem Maße verbunden ist. In einem Ende 1989 am Center for Study of Public Choice in Fairfax gehaltenen Vortrag mit dem Titel Anarchy, Autocracy, and Democracy fragt 01SOll ganz im Sinne der vorliegenden Arbeit, nach den eigennützigen Interessen von Menschen an ihrem Staat, seien sie absolute Fürsten oder Bürger in einer Demokratie. 35 Daß "Irrationalität", also die Unfähigkeit in jeder Situation opportunistisch den Nutzen eines "Verrats" abzuwägen und entsprechend zu handeln, dem Menschen zu seinem eigenen Vorteil angeboren ist, hat Robert H. Frank in einer eindrucksvollen Studie nachgewiesen. Siehe hierzu: Ro-
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I. Einleitung
setzung durch "gesündere" führen, d. h. durch solche, deren Zusammenhalt noch nicht von Individualismus "angekränkelt" ist, aber auch wenn damit die individuelle Nutzenkalkulation nicht notwendig zu einer Art sozialer Entropie führt, zu einem Prozeß der Auflösung von Kollektiven also, ist dem einzelnen in der korrupten Gemeinschaft nicht geholfen. Wenn er die Sicherheit der Großgruppe braucht, muß er Mittel und Wege finden, eine solche Gruppe trotz allgemeinen Mißtrauens und Werteverfalls zustande zu bekommen und er muß dafür sorgen, daß sie auch auf Dauer seinen Interessen entspricht. Das Dilemma, das jeden dazu verdammt, individuelles Vermögen zu maximieren und dabei möglicherweise genau die Kollektive zugrunde zu richten, die ihm die Erreichung seiner Ziele garantieren könnten, läßt sich nur lösen, wenn der einzelne sein Vermögen nur in die Erhaltung oder Schaffung von Kollektiven steckt, die seinen Interessen dienen und nur insoweit als sie dies tun. Ökonomisch ausgedrückt heißt das, er muß in den Ausbau von Kollektiven investieren, solange sich eine solche Investition für ihn lohnt. Es geht also nicht mehr darum, sich, koste es was es wolle, den "Pflichten" des Kollektivs zu stellen und die eigene Person dem größeren Ganzen anzupassen, sondern umgekehrt: Das größere Ganze muß nach Kräften für die Befriedigung der eigenen Interessen umgebaut werden. Inwieweit jemand hierzu in der Lage ist, hängt entscheidend von seinem Vermögen ab, seine soziale Umwelt zu verändern und sich dieser Umwelt möglichst optimal zu bedienen. Für das Kollektiv andererseits gilt: Nur wo die individuelle Interessenbefriedigung und die Stärkung des Kollektivs parallel laufen, wo einzelne nichts verlieren sondern etwas gewinnen, wenn sie das Gemeinwohl fördern, nur dort hat eine bestehende Gruppe die Chance, langfristig zu überleben. 36 Da Kollektive also ihre Stärke zum guten Teil der Stärke ihrer Mitglieder verdanken, werden sich nur diejenigen Gruppen auf Dauer durchsetzen können, die für ihre Mitglieder bestimmte Funktionen erfüllen, sie vor Bedrohungen von außen schützen und ihre Position innerhalb des Sozialverbandes sichern. Im Gegenzug verinnerlichen die Mitglieder das gemeinsame Ziel. Die dabei ganz nebenbei zustandekommende Zusammenarbeit verschafft ihnen, wiederum ganz nebenbei, einen Wettbewerbsvorteil weniger integrierten Gruppen oder einzelnen gegenüber. 37 bert H. Frank: Passions within Reason - The Strategie Role of the Emotions. - New York & London: 1988. - 317 S. 36 Um es in einer spieltheoretischen Matrix auszudrucken wandelt sich die Situation von einer Gefangenendilemma-Situation zu einer Situation, in der reine Kooperation die dominante Strategie ist.
37 Es ist auch möglich, bestimmte Vorstellungen von Property Rights zu verinnerlichen. Geschieht dies bei allen Mitgliedern eines Kollektivs, so mag der daraus resultierende Konsens auf die soziale Zusammenarbeit dieselbe Wirkung haben (Vergl. hierzu: M. Silver: Foundations of Economic Justice. - Oxford: 1989. - S. 13 ff.) Natürlich schützt ein solches Rechtsgefühl nur dann vor machiavellistischen Unternehmern, wenn es in allen Menschen ausgeprägt ist.
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Dagegen ist der Versuch kontraproduktiv, Kollektive zusammenzuschweißen, indem man die Genossen von der Nützlichkeit selbstlosen Handeins überzeugt. Dies gilt selbst dort, wo das gemeinsame Ziel der Menschen lediglich die Aufrechterhaltung der Bedingungen für Kooperation ist. Sogar jemand wie Gauthier,38 der sich in seinen normativen Ausagen auf die Minimalvoraussetzungen sozialer Ordnung beschränkt, steht vor demselben Problem wie die Verteidiger idealerer Gesellschaftsordnungen,39 wenn er schreibt: "Co-operation is the second best form of interaction, requiring concessions and constraints that each person would prefer to avoid. Indeed, each has the secret hope that she can be sucessfully unjust ... "40 Aus einem pragmatischen Blickwinkel ist die philosophische Überzeugungsarbeit gerade die Haltung, auf die der amoralische Egoist wartet. Wenn der Philosoph bei einer aufgeschlossenen Audienz Gehör findet und sein Auditorium dazu bringt, sich freiwillig die Hände zu binden, sei es auch aus so einleuchtenden Gründen wie Gauthier sie darlegt, ist der machiavellistische Unternehmer der lachende Dritte. Er wird, Moral heuchelnd, erfolgreicher sein, als seine moralischen Mitmenschen, und, Einfluß gewinnend, die Gemeinschaft, der er nach außen hin angehört. langsam aber sicher korrumpieren. 41 1.1.2. Das Individuum und sein Bedarf an Vermögen
Da die Einforderung von Recht und Freiheit angesichts der Möglichkeit skrupelloser Machiavellisten langfristig kontraproduktiv ist, lassen sich Mitmenschen von potentiellen Übergriffen nur abhalten, wenn man selbst so stark ist, daß sie praktisch nicht mehr zu solchen Übergriffen in der Lage sind. Hohbes faßt das Verhältnis von Freiheit und Vermögen exakt, wenn er in bezug auf die Bewegungsfreiheit schreibt: "Liegt ... das Bewegungshindernis in der Beschaffenheit des Dings selbst, so sagen wir nicht, daß ihm die Bewegungsfrei38 D. Gauthier: Morals by Agreement. - Oxford: 1986. - 367 S.; sowie ders.: "The Incompleat Egoist" in: S. M. McMurrin (ed.) The Tanner Lectures on Human VaIues. - V 1984). - Cambridge: 1984. - S. 65-119. 39 Zu der Frage des philosophischen Diskurses in seiner Bedeutung für die politische Praxis vergl auch: D. D. Raphael: Hobbes - Morals and Politics. - London: 1977. - S. 69 f. 40 D. Gauthier: Morals by Agreement. - Oxford: 1986. - S. 19. 41 Natürlich läßt sich denken daß eine gerechtere Gesellschaft das Aufspüren der Ungerechten einfacher macht und ihnen damit das Spiel verdirbt. Ab~r dann ist es das effizientere Arbeiten einer Ordnungsrnacht, das diesen Effekt ermöglicht und nicht in erster Linie die angehobenen moralischen Standards. Andererseits wird bei höheren moralischen Standards ihr Bruch unwahrscheinlicher, weshalb die einzelnen dann nicht mehr auf sie vorbereitet sind. In New York mag es gefährlicher sein, einen Laden zu überfallen, als in einem deutschen Landstädtchen, weil man damit rechnen muß, daß der Besitzer einec Schrotflinte unter dem Tresen hervorholt.
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1. Einleitung
heit fehle, sondern das Vennögen dazu ... "42 Die Beschränkung der eigenen Möglichkeiten anderen gegenüber, das "Bewegungshindernis" , wie Hobbes sagt, kann also auf zwei verschiedene Weise angegangen werden, je nachdem, ob wir den Grund im Handelnden selbst liegen sehen, oder ob wir ihn in seiner Umwelt suchen. Im ersten Fall sprechen wir vom Unvennögen oder von der Ohnmacht; im zweiten von Unfreiheit. Ist ein Mensch angekettet, können wir ihn unfrei nennen. Wir können aber auch sagen, er sei unfähig, seine Ketten zu sprengen. Welchen Standpunkt wir einnehmen, hängt davon ab, was wir erreichen wollen. Vertrauen wir nicht auf die Macht der Worte, um langfristig Einstellungen unserer Mitmenschen zu verändern, sondern können wir sie nur über eine Veränderung ihrer WeItsicht in ihrem Handeln beeinflussen, so müssen sich unsere Argumente an den Unvennögenden selbst richten, um ihm Ratschläge zur "Vennögensbildung" zu erteilen. 43 Um im Beispiel zu bleiben, dürfen wir nicht die Wächter auffordern, dem Gefangenen "aus humanitären Gründen" die Ketten zu lösen, wir müssen vielmehr diesem zeigen, wie er sich selbst befreien kann. 44 In sozialen Beziehungen, und nur von diesen soll im folgenden die Rede sein, besteht das Interesse des einzelnen also vor allem darin, seine Mitmenschen dazu zu bewegen, sein Leben nicht anzutasten, ihn nicht zu einem bestimmten Handeln zu zwingen und ihm nicht gegen seinen Willen Ressourcen zu entziehen. Noch besser wäre es freilich, wenn er sie seinerseits dazu bewegen könnte, in seinem Interesse zu handeln. Wenn er sie nötigenfalls zwingen könnte, hätte er in seiner sozialen Umwelt alles erreicht, was er sich wünschen kann. Damit ist nicht gesagt, daß er die anderen dann auch ausbeuten müßte. Er könnte sich mit der bloßen Option als Garantie für die eigene Sicherheit durchaus begnügen. Wieviel Wert er auf die freiwillige oder erzwungene Hilfe seiner Mitmenschen legt, hängt von der Lage ab, in der er sich befindet. Je aggressiver es in seiner Umwelt zugeht, desto mehr muß er an dem Vennögen interessiert sein, seine Mitmenschen in seinem Sinne beeinflussen 42 Th. Hobbes: Leviathan. - FrankfurtlM.: 1991. - Kap. XXI. - S. 163. 43 Es ist kein Zufall. daß ein Autor wie F. Knight, der Lehrer von Ökonomen wie Friedman und Buchanan, Hobbes' Idee wieder aufnimmt: "... it is a clear misuse of words to describe the wrong as adeprivation of freedorn. It is adeprivation of power. The "wrongs" on grounds of which social organization or policy is to be criticized undoubtedly have the character of inequitable distribution of power rather than unethical coercion or interference with the use of power." (F. Knight: "Freedom as Fact and Criterium" in ders.: Freedorn and Refonn. - New York: 1947. - S. 11). 44 Daß dies nicht immer möglich ist, steht auf einern anderen Blatt. Geistig Behinderte beispielsweise mögen nie in der Lage sein, angemessen auf Ausbeutungsversuche ihrer Umwelt zu reagieren. Wenn Buchanan und Brock beispielsweise Wege zeigen wollen, wie stellvertretend für diese zu entscheiden sei (A. E. Buchanan & D. Brock: Deciding for others: The Ethics of Surrogate Decisionmaking. - Cambridge, 1989. - 422 S.), so gilt auch hier, daß dort, wo eine solche Situation besteht, skrupellose Ausbeuter wirklich mitfühlende Helfer möglicherweise mit Erfolg aus dem Felde schlagen.
1.1. DerIndividualismus als Handlungsanleitung
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zu können. 45 Dabei muß Vermögen nicht notwendigerweise in reiner Körperkraft bestehen, auch rhetorische Fähigkeiten mögen den anderen u. U. sehr effizient von einem unerwünschten Tun abhalten können. In diesem Falle ist es aber nicht der Appell an Gläubigkeit, Rechtschaffenheit oder Güte, sondern die rein sophistische Ausnutzung von Schwächen, die den gewünschten Effekt erzielt. 46 Vermögen hängt damit entscheidend von der Einschätzung des anderen ab und so auch die Möglichkeit, dieses Vermögen mit seiner Hilfe zu vergrößern. Wichtig ist, herauszufmden, was der andere will und womit er beeinflußt werden kann. 1.1.2.1. Vermögen ist subjektiv Vermögen im sozialen Kontext ist die Fähigkeit, andere zu einem Tun oder Unterlassen zu bewegen. Das eigene Vermögen ist damit nichts, was dem einzelnen selbst angehört, es ist abhängig von den Dingen, durch die sich die Mitmenschen in ihrem Handeln beeinflussen lassen. Es ist damit im wesentlichen subjektiv. 47 Der amerikanische Ökonom J. M. Buchanan behandelt in seinem Buch Cost and Choice4 8 einige Probleme, die sich auf die Motivation menschlichen Handeins beziehen. Menschen, die vor Entscheidungen stehen, wägen die Vor- und Nachteile ihrer Entscheidung gegeneinander ab, sie stellen 45 Ökonomisch ausgedruckt könnte man sagen, der Grenznutzen seines Einflusses auf die Mitmenschen steigt. Ein Beispiel dafür ist der Mensch, der sich angesichts des drohenden Bürgerkriegs eine Waffe besorgt, was ihm im Friedenfalle vielleicht nie in den Sinn bekommen wäre. Der Grenznutzen des Geldes, einen Spezialfall des Grenznutzens von Vermögen hat M. Olson kürzlich in einem Aufsatz thematisiert: M. Olson: "Ein weniger ideologiegebwldenes Verfahren der Entscheidung über die Umverteilung zu den Armen" in: ders.: Umfassende Ökonomie. - Tübingen: 1991. - S. 363-389. 46 In Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Rationalitätsbegriffs von Hobbes-Interpreten wie Gauthier, Kavka und Hampton kommt Shaver zu der Einschätzung, daß die von ilull kritisierten Autoren eine solche Rationalitätskonzeption in Hobbes hineininterpretieren und sie dort nicht ursprunglich angelegt sind. (R. Shaver: "Leviathan, King of the Proud" in: Hobbes Studies. - III (1990). - S. 54-74. - S. 73) Auch wenn dies in bezug auf Hobbes' Menschenbild sicherlich richtig ist, verfehlt Shaver m. E. den Punkt, da im Umgang mit vielen anonymen anderen nur der homo oeconomicus auf Dauer seine Existenz sichern kann. Je unsicherer seine Welt ist, desto weniger kann er sich andere Leidenschaften leisten.
47 Der konsequenteste Vertreter des ökonomischen Subjektivismus ist der englische Ökonom George L. S. Shackle, der so vor allem der Zukunft zu Leibe ruckt (G. L. S. Shackle: Uncertainty in Economics and other Reflections. - Cambridge: 1955. - 281 S.) Mancur OIson wiederum setzt sich seit einiger Zeit mit Gütern auseinander, die die unangenehme Eigenschaft haben, nicht oder nur schwierig in kleine Portionen zerlegbar zu sein. (M. Olson: Beyond the Measuring rod of Money: The Unified Domain of Economics and the other Social Sciences. College Park: Unveröff. Manuskript, 1990. - 270 S.; einige Aufsätze zum Inhalt dieses Buches liegen inzwischen auch in deutscher Sprache vor: M. OIson: Umfassende Ökonomie. - Tübingen: 1991. - 415 S.). WO dies der Fall ist, läßt sich der Markt für ein Gut oder eine Dienstleistung nicht über Probeläufe testen. In der Diskussion um den Wert derartiger Güter ist ideologischen Auseinandersetzungen der breiteste Raum geöffnet. 48 J. M. Buchanan: Cost and Choice. Chicago: 1969. - S. 28 ff. 3 Hegmann
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dem voraussichtlichen Nutzen der Entscheidung die Kosten gegenüber, d. h. dem Nutzen, der ihnen entgeht, wenn sie ihre Ressourcen nicht anderweitig einsetzen können. 49 Wie ihr Nutzen, bestehen auch ihre Kosten nicht in Ressourcen, sondern im subjektiven Wert derjenigen Handlungsalternativen, die sie einbüßen, wenn sie die jeweils andere ergreifen. Kauft jemand beispielsweise ein Auto und fehlt ihm danach das Geld, für einige Wochen ans Meer zu fahren, bestehen seine Kosten nicht in dem Geldbetrag, den er ausgegeben hat und der ihm nun für andere Dinge nicht mehr zur Verfügung steht, sondern in dem subjektiven Gefühl, daß mit dem Verzicht auf seine Urlaubsreise (oder auf andere Dinge, die er mit dem Geld hätte tun können) verbunden ist. So wie nur er ganz allein und subjektiv den Nutzen einschätzen kann, den sein neues Autos für ihn hat, so kann auch nur er die dabei in Kauf genommenen Kosten, den Wert der entgangenen Reise bewerten. 50 Im Kreise der Familie oder unter engen Freunde mögen Außenstehende noch Anhaltspunkte dafür sammeln können, wie sehr er die jeweiligen Handlungsalternativen schätzt, sie mögen ihn als Autonarren kennen oder als jemanden, der nichts mehr liebt als zu verreisen. Bei Fremden aber wird dies zunehmend schwieriger, bis es irgendwann ganz unmöglich wird. Was für den Nutzen gilt, gilt in derselben Weise für das Vermögen. Es ist unmöglich, von vornherein sicher festzustellen, wie der andere Eintlußmöglichkeiten auf ihn einschätzt und wie er auf sie reagieren wird. Das hängt allein von dem subjektiven Wert ab, den die Konsequenzen dieses Handeins für ihn haben. Damit liegt der entscheidende Unterschied zwischen Nutzen und Vermögen in der Tatsache, daß im ersten Falle der Handelnde selbst den durch sein Handeln herbeigeführten Zustand bewertet, während es beim Vermögen der andere iSt. 51 Um ihn zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen zu bewegen, ist nicht die eigene Einschätzung erworbener Fähigkeiten von Bedeutung, sondern ihre Würdigung durch denjenigen, der bewegt werden soll. Es ist diese 49 In der Ökonomie wird dies unter dem Stichwort "Opportunitätskosten" diskutiert. 50 Was dies für das Nachdenken über Politik bedeutet, ist klar. Wenn Außenstehende nicht sagen können, was Menschen in welchem Maße schätzen, ist die einzige Möglichkeit, etwas über ihre Präferenzen in Erfahrung zu bringen, sie handeln zu lassen. Über den Unterschied subjektivistischer und objektivistischer Positionen vergl. auch den sehr anregenden Artikel von J. L Coleman: The Foundations of Constitutional Economies " in: ders.: Markets, Morals and the Law. - Cambridge: 1988. - S. 133-150. 51 Würde man Vermögen in einem weiteren, auch nicht-soziales Handeln umschließenden Sinne betrachten, käme ein ähnliches Bild zustande. Ob jemand es vermag einen Stein zu verschieben. hängt nicht nur von seiner Körperkraft ab, sondern auch von der Schwere des Steins. Es kommt also für ihn nur zum Teil darauf an, seine Körperkraft zu vergrößern, darüber hinaus muß er das Gewicht der Steine kennen, an denen er sich üben will. Vermögen in diesem Sinne kann freilich nach objektiven Kriterien beurteilt werden, es unterliegt nicht subjektiver Bewertung, was die Erklärung und Vorhersage menschlichen Handelns in der Natur einfacher macht. Nichtsdestoweniger sind auch hier die Vorstellungen. die sich der Handelnde von sich selber macht und seine Werte und Ziele gänzlich irrelevant. Wer den Stein verschieben will, muß über ein bestimmtes Vermögen verfügen und ob er darüber verfügt, zeigt sich im Erfolg seines HandeIns.
1.1. Der Individualismus als Handlungsanleitung
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Erkenntnis, die Machiavelli zu der in sophistischer Tradition stehenden Einsicht bewegt, daß für den Prinzen der Anschein von Rechtschaffenheit wichtiger sein muß, als der Besitz dieser Eigenschaft. Kennt sich beispielsweise jemand hervorragend in der Bibel aus und erweckt damit in einer Gemeinschaft gläubiger Christen den Anschein, selbst gläubig zu sein, kann dies durchaus ein Vermögen darstellen, auch wenn der Gelehrte selbst sein Wissen nur für das Ergebnis einer Fleißarbeit hält. 52 Hobbes stellt denn auch in bezug auf Menschen oder genauer in bezug auf deren Dienstleistungen fest, was für Güter und Dienstleistungen überhaupt gilt: "Die Geltung oder der Wert eines Menschen ist, wie der aller anderen Dinge, sein Preis. Das heißt, er richtet sich danach, wieviel man für die Benützung seiner Macht bezahlen würde und ist deshalb nicht absolut, sondern vom Bedarf und der Einschätzung eines anderen abhängig."53 Wo das Vermögen des einzelnen von der Einschätzung seiner Mitmenschen abhängt, er also gen au dann Einfluß auf sie hat, wenn sie ihm einen solchen zugestehen, ist der Begriff des Vermögens genauso subjektiv, wie der des Nutzens oder der Kosten. 54 Aber damit nicht genug, er ist zudem untrennbar mit dem Vermögen des zu Beeinflussenden verbunden, von dessen Fähigkeit beispielsweise, Alternativen zu dem zu sehen, was man ihm bieten kann. Die Größe des eigenen Vermögens drückt sich in der Unterstützung des eigenen HandeIns durch andere aus, so wie Wohlstand in einem auf Tauschbeziehungen konzentrierten Sinne die Summe der Dienstleistungen ist, die ich von meinen Mitmenschen erwarten kann. Damit sind Vermögen wie Wohlstand nicht etwas, das ich besitze, sondern etwas, das meine relative Position in der Gesellschaft ausdrückt, den Grad der Wertschätzung durch andere also. Der Besitzer eines Brunnens mag bei großer Trockenheit als wohlhabend angesehen werden, da er seine Mitmenschen in großem Maße zu einem ihm genehmen Handeln veranlassen kann. Sobald der einsetzende Regen die Knappheit aber behoben hat, verschwindet dieser Einfluß, auch wenn der Brunnen derselbe bleibt. Sogar wenn das Wetter gleich bleibt, mag sich der Wert des Brunnens ändern, wenn sich die Präferenzen der potentiellen Kunden wandeln. Diese mögen beispielsweise zu der Überzeugung kommen, es reiche, sich nur einmal am Tag zu wa52 Ein aktuelleres Beispiel für eine derartige Aeißaufgabe sind die nun glücklicherweise überflüssig gewordenen Lippenbekenntnisse zum Marxismus-Leninismus im realsozialistischen Mittelund Osteuropa, die dem Reißigen, wenn er sie überzeugend genug vortrug. auch dann Wege öffneten, wenn er sie sich nur zu diesem Zweck angeeignet hatte. 53 Th. Hobbes: Leviathan. - Frankfurt/M.: 1991. - Kap. 10. - S. 67. 54 Danlit unterscheidet er sich deutlich vom Begriff des "Human Capital", wie ihn beispielsweise S. Rosen zusammenfaßt. (S. Rosen: "Human Capital" in: John Eatwell, Murray Milgate und Peter Newman: Allocation, Information, and the Market. - (Subject-Volume with reprints from: The New PaIgrave). - New York: 1987. - S. 136-155) Während dieser auf "objektive" Produktivität abhebt, ist der Begriff des Vermögens untrennbar sowohl mit der Kreativität des Beeinflussenden, als auch mit der seines Adressaten verknüpft und entzieht sich so jeder genauen Quantifizierung.
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schen oder gar irrtümlich glauben, bei den Preisen ganz ohne Wasser auskommen zu können. 1.1.2.2. Vermögen hat eine objektive Basis Um dennoch Verläßliches über die eigene Fähigkeit zur Beeinflussung Unbekannter sagen zu können, ist es nützlich, den Begriff des Vermögens in seine Bestandteile zu zerlegen. Vermögen besteht nicht nur aus der Einschätzung dessen, demgegenüber man etwas vermag, sondern auch aus dem, womit man ihn zu beeinflussen gedenkt. Das setzt Ressourcen 55 voraus und individuelles Talent, sie möglichst nutzbringend einzusetzen. Die Ressourcen wiederum teilen sich in Mittel, über die man verfügt, sowie in Informationen über ihre Einsatzmöglichkeiten. 56 Damit hat aber Vermögen eine reale Basis in der Welt. Wer beispielsweise über Reserven verfügt und so nicht seine ganze Zeit auf der Suche nach Lebensmitteln verbrauchen muß, kann diese Zeit darauf verwenden, seinen Horizont zu erweitern, neue Ressourcen aufzutun oder Informationen zu sammeln, um sein Vermögen den anderen gegenüber zu vergrößern. Wer die Mittel zu einer Exkursion aufbringen kann, mag an unerwarteter Stelle auf neue Möglichkeiten stoßen, und wer entsprechende Techniken erlernt, mag seine tägliche Arbeit mit einem Bruchteil der Kraft bestehen können, die er in "Rohform" einsetzen müßte. Auch Kenntnisse über die Ressourcen der anderen werden nun wichtig, weil nur sie Vermutungen über deren wahrscheinliches Vermögen zulassen. Der einzelne muß, mit dem Blick auf die potentielle Gefahrlichkeit der anderen für die eigene Existenz, immer auch darauf achten, über wieviel Ressourcen sie im Vergleich zu ihm verfügen. Genau wie die Ökonomen unabhängig von den Zielen der Menschen mit gutem Grund annehmen können, daß jeder eine Steigerung seiner Ressourcen begrüßt, da es ihm die Befriedigung von mehr Wünschen ermöglicht, kann er annehmen, daß mit der Vergrößerung der Ressourcenbasis der anderen auch ihr Vermögen wächst. Wie im Falle unternehmerischer Cleverness in der Wirtschaft57, sind Ressourcen zwar nicht die notwen55 Diese wiederum bestehen aus Lebensmitteln im weitesten Sinne, sowie aus individuellen Eigenschaften, die durch bestimmte Präferenzen noch verstärkt werden können. Keinen teuren Ge· schmack zu haben beispielsweise oder beim Arbeiten Glück zu empfinden, mag die individuelle Position auf dem Markt deutlich verbessern. siehe hierzu auch: J. M. Buchanan: "Political Equality and Private Property: The Distributional Paradox" in: G. Dworkin, G. Bennant & P. Brown (eds.): Markets and Morals. - New York: 1977. - S. 73. 56 WeIche Bedeutung Informationen für unser Handeln inzwischen bereits gewonnen haben, geht aus der bereits 1962 erschienenen Studie von Fritz Machlup hervor. Er unterscheidet fünf Bestandteile der Infomlationsindustrie: Bildung, Forschung und Entwicklung, Medien, EDV und Informationsdienstleistungen. (F. Machlup: The Production and Distribution of Knowledge in the United States. - Princeton: 1962. - 416 S.). 57 Für einen Überblick zum Konzept des Unternehmers siehe vor allem: I. M. Kirzner: "The
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dige Bedingung für unternehmerischen Erfolg und noch weniger hinreichend für ihn, aber je mehr Ressourcen jemand zur Verfügung hat, desto wahrscheinlicher ist es, daß er Vermögen anhäufen kann. Ressourcen und Informationen müssen allerdings in Vermögen investiert werden, denn nur im Hinblick auf solche Investitionen haben sie ihren Sinn. 58 Wenn Machiavelli den Satz formuliert, ein unbewaffneter Reicher sei eine leichte Beute für einen armen Soldaten,59 so bringt er genau diese Erkenntnis zum Ausdruck. Es sind nicht die Ressourcen an sich, sondern das Vermögen, das man mit ihnen erwirbt, das über den Erfolg des einzelnen in seiner Umwelt entscheidet. Zwar mag der arme Soldat gegen ein entsprechendes Entgelt bereit sein, den Reichen gegen Dritte zu schützen, es liegt aber ausschließlich in seinem eigenen Ermessen, ob er im geeigneten Augenblick zur Ausbeutung seines Geschäftspartners übergeht. In einer gewaltloseren Welt ist der unvermögende Reiche in derselben Weise dem cleveren Habenichts ausgeliefert. Er kann zwar von dessen Cleverness profitieren, aber letztlich liegt es allein in der Hand des Vermögenderen, den Deal auf Gegenseitigkeit in die Übervorteilung des "Dümmeren" umzuwandeln. 6o Es geht also um Vermögen, nicht um Besitz. Menschen benötigen Ressourcen, um sich in ihrer Welt durchzusetzen. Zwischen diesen Ressourcen und der tatsächlichen Befriedigung ihrer subjektiven Interessen liegt die Bildung von Vermögen als selbstproduzierte Ressource besonderer Art.61 Auch wenn dieses Vermögen von der subjektiven Einschätzung der Beteiligten abhängt, haben wir mit dem Blick auf die Ressourcen doch einen, wenn auch unvollkommenen Anhaltspunkt, um das Vermögen der anderen einzuschätzen. Wenn in bezug auf den subjektiven Charakter des Nutzens gilt, daß es keine Möglichkeit gibt, zu entscheiden, wer aus einer bestimmten Ressourcenausstattung das meiste machen kann, ist dies auch für das Vermögen richtig. Freilich liegt ein wesentlicher Unterschied darin, daß im ersten Falle die Entscheidung des Problems prinzipiell unmöglich ist, während im theOlY of entrepreneurship in economic growth in: C.A. Kent, D.L. Sexton & K.H. Vesper (ed.): EncycJopedia of Entrepreneurship. - Englewood Cliffs: 1982. - 425 S. und H. Kleinewefers: Der Unternehmer. - Freiburg/Ü: 1986. - 26 S.; ausführlicher ist: M. Casson: The Entrepreneur. - Totowa: 1982. - 434 S.; zur historischen Entwicklung des Begriffs vergl. überdies: R. Hebert & A. N. Link: The Entrepreneur. - New York: 1982. - 136 S.
58 Zum Zusammenhang von Reichtum und produktivem Kapital vergl. auch: (J. A. Schumpeter The Theory of Economic Development. - Oxford: 1961. - S. 68 f.). 59 N. Machiavelli: "Die Kunst des Krieges" in ders.: Sii"ltliche Werke. - (aus (i;m Italienischen übersetzt v. Johann Ziegler). - Karlsruhe: 1832-38. - Bd. 3. - Buch 1. - S. 184. 60 Schadenfrohe Geschichten über die verschiedenen Möglichkeiten, Neureiche auszunehmen, sind hierfür ein gutes Beispiel. 61 Damit weist sie Parallelen zur "New Theory of Consumer Behaviour" auf. Vergl hierzu: G. S. Becker & R. T. Michael: "On the New Theory of Consumer Behaviour" in: Swedish Joumal of Economics. - 75 (1973). - S. 378-395.
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zweiten der Konfliktfall zeigen kann, wer über das größere Vermögen verfügt. Wenn auch im Einzelfall eine Aussage darüber unmöglich ist, wer einen Konflikt für sich entscheidet, so läßt sich bei der Beobachtung großer Zahlen daher ohne großes Risiko feststellen, daß die Wahrscheinlichkeit, im Konflikt zu obsiegen, mit dem Vorsprung an Ressourcen zunimmt. Diese Feststellung wäre nur dann falsch, wenn man davon ausgehen müßte, daß, aus welchen Gründen auch immer, diejenigen, die über weniger Ressourcen verfügen, das größere unternehmerische Geschick mitbringen und so ihren Nachteil ausgleichen können. Aus diesem Grunde ist es nicht nur wichtig, so viel Ressourcen anzuhäufen, wie möglich, man muß auch stets über die Ressourcenbasis seiner Mitmenschen informiert sein und sich bemühen, einen Vorsprung ihnen gegenüber zu wahren und auszubauen. Die Ressourcen der anderen sind der einzige Anhaltspunkt den man hat, um etwas über ihr voraussichtliches Vermögen und damit über einen wichtigen Faktor in der Einschätzung seiner Umwelt aussagen können. 62 Die Annahme, daß der Erwerb individuellen Vermögens eine große Wahrscheinlichkeit hat, von Menschen mit ganz unterschiedlichen Zielen verfolgt zu werden, führt zu einer sozialen Version der utilitaristischen Grundannahme, daß der Mensch an der Vermehrung seines Nutzens interessiert ist. 63 Läßt sich die ins Negative gewendete utilitaristische Formel auch in dem Satz ausdrücken, ein jeder befinde sich im ständigen Kampf gegen den Mangel, so läßt sich nun für den zwischenmenschlichen Bereich ein ähnliches Paar von Sätzen bilden. Die Menschen sind hier an dem Vermögen interessiert, ihre Mitmenschen zum Handeln in ihrem eigenen Interesse zu bewegen und umgekehrt muß ihnen daran gelegen sein, nicht an der Realisierung ihrer eigenen Ziele gehindert zu werden. Individuelles Vermögen ist im einen wie im anderen Falle das geeignete Mittel. Da dies eine ausreichende Ressourcenbasis voraussetzt, ist eine Vergrößerung dieser Basis sehr wahrscheinlich erwünscht. Bei einer Reduzierung ist es umgekehrt. Woraus Vermögen sich zusammensetzt, ist nicht nur in unterschiedlichen Situationen verschieden, es verändert sich auch mit der Zeit. Mit zunehmender Mobilität und immer schnellerem Wandel verschiebt sich die relative Bedeutung der Komponenten. War es in vorbürgerlicher Zeit vor allem die durch 62 Auch dieser Aspekt des Vennögens ist analog zu dem des Nutzens zu sehen. M. Silver schreibt: "How happy is "very happy?" Since an individual does not know his happiness "capacity," he cannot. as would be appropriate, reporte his happiness reating as: actual happinesslhappiness capacity. The best the individual can do at reasonable cost is to estimate the happiness of others by their consumption levels and, in effect, rate his happiness as own consumption/others' consumption." (M. Silver: Foundations of Economic Justice. - Oxford: 1989. - S. 178) Was für Glück im Allgemeinen gilt, gilt auch für den Genuß, den man aus einzelnen Gütern zieht. Je weniger man sich seiner selbst sicher ist, desto mehr orientiert man sich an dem, was andere tun. D. h. nicht, daß diese Kalkulation richtig wäre, sie erleichtert nur die Orientierung in der Welt. 63 Zur Diskussion der utilitaristischen Wertlehre, siehe vor allem: R. Hardin: Morality within the Limits of Reason. - Chicago & London: 1988. - S. 167 Cf.
1.1. Der Individualismus als Handlungsanleitung
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Tradition abgesicherte Stellung des einzelnen in Familie, Clan, Dorfgemeinschaft oder Großgruppe, die über sein Vermögen anderen gegenüber entschied, so wurde mit der Ausbreitung des bürgerlichen Denkens Wohlstand zunehmend wichtiger. Es kam immer weniger darauf an, woher man kam, wenn man nur über die Mittel verfügte, die Lebenssituation der Mitenschen positiv oder negativ zu beeinflussen. Mittlerweile hat sich der soziale Wandel so sehr beschleunigt, daß traditioneller Status und Wohlstand zwar als Vermögensbestandteile noch bedeutsam sind, sie aber zunehmend von Bildung verdrängt werden. Kenntnisse über die Welt und die Bedingungen ihrer Beeinflussung werden im Verhältnis zu Herkunft oder Besitz immer bedeutsamer. Mittlerweile sind es nicht einmal mehr bestimmte Wissensinhalte, die über die Position in der Gesellschaft entscheiden, es ist vielmehr die Fähigkeit, sich solche in dem Maße aneignen zu können, wie es gerade nötig ist. So wie das Geldvermögen die ererbte Stellung des Menschen als Kriterium seines Kredits, bei anderen abgelöst hat, so ersetzt jetzt die Fähigkeit zum schnellen Wissenserwerb, zur cleveren Anpassung an neue Anforderungen, die Verfügung über bestimmte Inhalte. War bei der Ablösung der Herkunft durch den Wohlstand zur Bestimmung des individuellen Status, die rechte Herkunft lange Zeit zwar nicht mehr notwendig für den Erwerb von Kapital, aber doch ausgesprochen hilfreich, so gilt für die Tendenz vom Wohlstand zur Bildung dasselbe. Geld ist zwar nützlich, aber nicht mehr unabdingbar für den Erwerb von Wissen. In heiden Fällen allerdings ist ein Minimum erforderlich, ein Grundstock, der dem einzelnen die Entwicklung und Verfolgung seiner Projekte überhaupt erst ermöglicht. 1.1.2.3. Vermögenserwerb setzt Menschenkenntnis voraus Um im Umgang mit Unbekannten Vermögen ansammeln zu können, kommt es für den einzelnen vor allem darauf an herauszufinden, was seine Mitmenschen wollen, welche Ziele sie haben und wovon sie sich in ihrem Handeln möglicherweise beeinflussen lassen. Nur wenn er weiß, ob und inwieweit ihre Ziele seinen eigenen widersprechen, und nur wenn er weiß, womit er sie nötigenfalls umstimmen kann, kann er die eigene Situation verbessern. Der gleiche Individualismus aber, der dem einzelnen den Handlungsspielraum zur Realisierung eigener Interessen vergrößert, fordert da, wo er um sich greift, in Form von Informationsverlusten über die Motive, Intentionen und Ziele der anderen, einen hohen Preis. Um sich dennoch erfolgreich behaupten zu können, ist es von entscheidender Bedeutung, die Informationsverluste auszugleichen. Dies kann zum einen über die empirische Beobachtung des Handeins der anderen geschehen, und zum zweiten über eine allgemeine Hierarchisierung menschlicher Bedürfnisse und zwar nicht in bezug auf ihren Wert, sondern in bezug auf
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l. Einleitung
die Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens. Nur wer beides zusammen versucht, vermag sich ein einigermaßen brauchbaren Bild von der Vielzahl ihm unbekannter Mitmenschen zu bilden. Kann man einerseits über die Intentionen seiner Mitmenschen nichts aussagen, ohne sie zu fragen, und sie andererseits nicht fragen, ohne das Risiko einzugehen, belogen zu werden, so verfügt man über keinen sicheren Zugang zu ihrer inneren Welt. Wo sie individuell zweckrational ihre Loyalitäten und Weltanschauungen überprüfen und wechseln können, macht es keinen Sinn, sie den Klassen und Gruppen zuzurechnen, denen sie traditionell angehören, oder denen anzugehören sie vorgeben. Um der dadurch gewaltig vergrößerten Fülle erforderlicher Daten zur eigenen Orientierung in der Welt Herr zu werden, wäre zwar die Heranziehung einer allgemeinen Theorie menschlichen Verhaltens denkbar.64 Angesichts der Vielfalt real zu beobachtender Phänomene aber kann es eine solche Theorie kaum geben. Sie müßte Machiavellis Zeitgenossen beispielsweise die Ziele und Ideen eines ehrgeizigen Florentiner Kaufmanns ebenso erklären und vorhersagbar machen, wie die eines Cesare Borgia, eines Franz von Assisi oder eines Savonarola. 65 Selbst wenn eine solche Theorie entdeckt würde, müßten Anwender, um handeln zu können, die Objekte ihrer Beobachtung wiederum in Klassen oder Gruppen einteilen, wofür dann dasselbe gälte wie für die überkommenen Einteilungen. 66 Aber schon wenn mit scheinbaren Selbstverständlichkeiten begonnen wird, ist die Entdeckung einer allgemeinen Theorie unwahrscheinlich. Bereits die auf den ersten Blick so unproblematische Annahme, daß alle Menschen alles daran setzen, möglichst lange 64 Mit seiner Klimatheorie versucht 1. Bodin beispielsweise, regionale Unterschiede in der Natur des Menschen auszumachen. McRae schreibt dazu: "Though (Bodin) insisted ... that climate produces only tendencies and inclinations of various kinds, and that nature could be overcome by discipline and training, it is clear that by the time he wrote the Republique he was thoroughly convinced, that the natural tendencies of a people are strong forces to reckon with - stronger under most circumstances, than the uncertain vaccilations of the human will. And hence a knowledge of these forces is of particular advantage to the political scientist, because the human will is variable and unpredictable, while the natural forces which help to shape man 's history are constant and intelligible." (1 Wohlwollen der Medici zu sichern. 11 Der Wissenserwerb soll im Umgang mit anderen nützen und nicht Selbstzweck gedankenverlorener Schreibstubengelehrter sein. Das macht Machiavelli auch in einem Brief an seinen Sohn Guido deutlich, in dem er die Vorstellung vertritt, daß individuelle Fähigkeit und die Bereitschaft zu lernen das einzige Kapital darstellen, das er oder seinesgleichen in die Erringung sozialer Positionen investieren kann: "... bemühe Dich, die Wissenschaften und die Musik zu lernen; Du siehst ja, welche Ehre mein geringes Verdienst mir bringt ... halte Dich gut und lerne, denn wenn Du Dir hilfst, werden Dir alle helfen."12 die Außerachtlassung des größten Teils der amtlichen Briefe damit rechtfertigt, daß die theoretische Essenz der diplomatischen Missionen in den großen Büchern Machiavellis konzentriert sei und die Briefe deshalb allenfalls Hintergrundinfonllationen liefern könnten. (N. Machiavelli: The chief works and others. - Bd. I S. 120) Dasselbe gilt im vorliegenden Zusammenhang auch für die privaten Briefe. Ich habe sie nur genutzt, wo sie einen Gedanken Machiavellis besonders deutlich wiedergeben. IO Barincou schreibt dazu: "Leonardo (da Vinci) vergeht sich schwer gegen sich selbst, trifft aber das Wesen Machiavellis genau, wenn er schreibt, die Mechanik sei das Paradies der Mathematik, denn durch sie gelange man zur Frucht derselben. Leonardo schritt immer von einer Erfindung zur anderen vor, ohne sich viel um ihren Nutzen zu kümmern. Machiavelli hingegen interessierte sich für die politische Philosophie, die Geschichte, ja, selbst für die Ideen nur, insoweit sie zur Aktion führen." (E. Barincou: Machiavelli. - Reinbek: Rowohlt (Bildmonographie), 1988. - S. 57 f.). 11 J. W. Allen: A History of Political Thought .... - S. 448. 12 N. Machiavelli: "Brief Nr. 80" (An seinen Sohn Guido vom 2.4.1527)" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 8 - S. 186.
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
Über wieviel Kapital der einzelne aber auch verfügt, immer ist entscheidend, wie er damit umgeht, wie er es investiert, um eventuell sich bietende Gelegenheiten bestmöglich ausschöpfen zu können. Reichtum und die Herrschaft über andere sind nur das Rohmaterial, das clevere Unternehmer kenntnisreich zu benutzen haben, wenn sie sich in ihrer sozialen Umwelt behaupten wollen. Eine der wichtigsten Fähigkeiten, die ein politischer Unternehmer im Italien des 16. Jahrhunderts erwerben muß, ist die Kunst Kriege zu führen, denn wer sich als Herrscher nicht auf diese versteht, ist immer davon bedroht, sein Reich schnell an einen Fähigeren zu verlieren: "Dadurch, daß Franz Sforza ein Kriegsmann war," so schreibt Machiavelli "wurde er vom Privatmann zum Herzog von Mailand; dadurch, daß seine Söhne die Mühen und Arbeiten des Waffenhandwerks flohen, sanken sie von Herzögen in den Privatstand hinab.")3 Umgekehrt kann ein guter Soldat, wenn er klug und umsichtig die sich ihm bietenden Möglichkeiten ausnutzt, Macht und Reichtum erwerben und andere in seine Gewalt bringen. Machiavelli ist in dieser Hinsicht alles andere als konservativ. Traditionell legitimierte Herrschaft gilt ihm nicht mehr als Reichtum. Beide sind in der Politik nicht an sich gut, sie sind lediglich Formen von Kapital, das vernünftig investiert und so vermehrt werden muß, wenn es nicht verloren gehen soll. Nicht den tatsächlichen Herrschern zollt er seinen Respekt, sondern denen, die sich auf Herrschaft verstünden, wenn ihnen nur die Möglichkeit geboten würde, ihr Talent auch anzuwenden.I 4 Das Talent zu politischem Unternehmertum zu entwickeln und Unternehmern die Mechanismen aufzuzeigen, die ihnen seinen optimalen Einsatz ermöglichen, ist Machiavellis zentrales Anliegen. Wie er es umsetzt, wird Thema der folgenden Ausführungen sein. 3.1.1. Machiavelli als Politikberater
Machiavelli will Politikern die Regeln nahebringen, die sie einzuhalten haben, wenn sie im Umgang mit ihresgleichen erfolgreich sein wollen. Damit ist er eher Techniker als Wissenschaftler im eigentlichen Sinne. Wie die Sophisten argumentiert er im wesentlichen a-moralisch und a-religiös. Zu den "Sinnstiftern" seiner Zeit verhält er sich damit, wie sich diese zu Sokrates und Platon verhalten hatten. Der Ex-Sekretär der Stadtregierung von Florenz ist von seiner Ausbildung her Berufspolitiker. Wo er selbst schon nicht praktisch tätig sein kann, will er wenigstens Ratschläge zu praktischem Handeln geben. Es ist denn auch bezeichnend, daß er an den philosophischen Entwicklungen seiner Zeit keinerlei Anteil hat. Die gute Ordnung "an sich" interessiert ihn nicht 13 N. Machiavelli: "Der Fürst" S. 115-207 in: ders. Sämtliche Werke. - Bd. 2. , Kap 14. - S.
165 [So 89).
14 N. MachiaveUi: "Betrachtungen ... " S. 1-394 in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. I - Widmung. - S. 4.
3.1. Die Politik als Technik für den Umgang mit Menschen
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weiter, und was aus der Sicht des einzelnen an einer gegebenen Situation verbesserungswürdig ist, läßt sich auch ohne theologische oder philosophische Spekulation recht leicht beurteilen. Ob diese Wertungen dann ihrerseits "gut" sind oder vielleicht nur "böse" Leidenschaften zum Ausdruck bringen, spielt in der Praxis ohnehin kaum eine Rolle. 15 Machiavelli schreibt statt dessen, daß es in der Natur der Dinge liege, "daß man nie einen Übelstand zu vermeiden sucht, ohne sich in einen anderen zu begeben. Allein darin besteht die Klugheit, daß man die Beschaffenheit der Übelstände zu erkennen versteht, und den wenigst schlimmen für gut annimmt." 16 Es versteht sich von selbst, daß er von dieser Warte aus auch Utopien ablehnt. 17 Er geht vielmehr vor wie ein Ingenieur, der sich in dieser Eigenschaft nicht von ästhetischen, sondern von praktischen Erwägungen leiten läßt, und seinen Sinn für Schönheit nur dort in sein Werk eingehen läßt, wo er es sich leisten kann. Auf dieselbe Weise legt Machiavelli seinen Adressaten nahe, sich nur dann um das "Gute" oder "Gottgefällige" zu kümmern, wenn sie die Muße dazu haben. 1& So ist er also nicht notwendigerweise Atheist, er konstatiert nur in drastischen Worten, daß Politik und Ethik nichts miteinander zu tun haben und Mittel ethisch verwerflich und trotzdem zweckmäßig sein können. 19 Daß ein gläubiges Leben allein im Diesseits Erfolg bringen könne, ist für ihn jedenfalls eine gefährliche Illusion:
15 Allen faßt Machiavellis Position treffend zusammen: "Machiavelli was utterly unconcerned with the justification of desire to reason. It is useless to ask whether men's desires are rational or are what they should be, it will not alter anything." (1. W. Allen: A History of Political Thought .... - S. 480). 16 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 21. - S. 194 [So 113). 17 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 15. - S. 167 [So 91) ; S. Wolin zitiert Machiavelli mit den Worten "I believe that the true means of understanding the road to paradise is to know that of hell in order to avoid the latter" (N. Machiavelli: Letter to Guicciardini 17.5.1521 - zit. in: S. Wolin: Politics and Vision. - London: LittIe, Brown, 1961. - S. 209). 18 Vergl. hierzl! auch: "lf the political good and religious/moral good dash, as they sometirnes do, Machiavelli the scientific writer is obliged to favour the former. From the theological and moralistic point of view this amounts to favouring sin or moral evil. But Machiavelli sees no logical alternative. All he caJ1 caution is that such occasions should be reduced to a minimum ... " (A. Parel: "Introduction: Machillvelli's Method and his Interpreters" in ders: The Political Calculus. - Toronto: 1972. - S. 6). 19 In einem Artikel zu Machiavellis Stellung zur Religion schreibt J. S. Preus: "Leo Strauss echoes rnany of Machiavelli's critics with his complaint aboot the FIorentine's "utter indifference to the truth of religion." (L Strauss Thoughts on Machiavelli. - S. 12) But the complaint is really irrelevant sinre the thruth of religion has no demonstrable connection with its power, which was the object of Machiavelli's inquiery ... (J. S. Preus: "Machiavelli's Functional Analysis of Religion: Context and Object" in: Joumal of the History of Ideas. - XU2 (1979). - S. 171-190.
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle Die Meinung, daß Gott für uns streitet, wenn wir müßig auf unseren Knien liegen, hat viele Throne umgestürzt und Staaten.... zeige sich niemand so Verstandes arm, daß er bei seines Hauses Einsturz glaubt, Gott werd' ihn retten ohne andre Stütze. Denn unter seinen Trümmer wird es ihn begraben. 20
Statt dessen schlägt Machiavelli vor, sich die Gesetzmäßigkeiten menschlichen HandeIns nutzbar zu machen. 21 Nur ein derartiges Wissen könne effiziente Rezepte liefern und auch nur dort, wo es von externen Einflüssen gereinigt sei. In diesem Sinne betreibt auch Machiavelli "reine Wissenschaft". 22 Wie bei den Sophisten sollen Regeln dem einzelnen helfen, in konkreten Entscheidungssituationen die jeweils erfolgversprechenste Alternative erkennen und ergreifen zu können. Aber auch als ein reiner Techniker der Herrschaft ist Machiavelli nicht notwendigerweise so kühl und unbeteiligt, wie er manchmal in seinen Schriften scheint. Auch wenn sich sein Ansatz deutlich von der engen Familienpolitik der großen florentinischen Familien seiner Zeit absetzt,23 versucht er als Politiker wie als SchriftstelIer doch immer, sich wendig allen Wechselfällen des Schicksals anzupassen, so daß das Bekenntnis, es habe ihn immer schon dazu getrieben, "das Gemeinnützige ohne alle Rücksicht zu tun"24, etwas großspurig klingt. Wenn es ihm manchmal nicht gelingt, sein individuelles Wohl mit dem Wohl seiner Adressaten zu koppeln, hat das eher mit einem Mangel an "Fortuna" zu tun, als mit dem selbstlosen Eintreten für "höhere" Werte. Man könnte im Gegenteil versucht sein, auch die politischen Forderungen Machiavellis als weitsichtigen Nepotismus zu interpretieren, hatte doch gerade das Schicksal Cesare Borgias gezeigt, daß nicht einmal ein Papst 20 N. Machiavelli: "Der goldne Esel" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - 5. Gesang. - S. 200225. - S. 215; Felix Gilbert zeigt die Konsequenz dieser Haltung, wenn er schreibt: "Machiavelli ... could no longer believe that events are controlled by God or Providence; but if it was left to man. how could man achieve control? ... " (F. Gilbert: "Machiavelli in Modem Historical Scholarship" in: Italian Quarterly. 16 (1970). - S. 22). 21 Noch D. Hume vermischt die Idee von Regelmäßigkeiten im Handeln der anderen mit der von Gesetzen im normativen Sinne, wenn er schreibt: "Sagt ein Mensch, daß er irgendetwas verspricht, so drückt er in der Tat den Entschluß aus, das Versprochene zu leisten; gleichzeitig unterwirft er sich durch den Gebrauch dieser Wortformel für den Fall, daß er die Leistung unterläßt, einer Strafe, nämlich der Strafe, die darin besteht, daß ihm nicht wieder getraut wird." (David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch III (Über Moral). Hamburg: 1978. S. 269). 22 Parel fasst das treffend zusammen: "... so far as possible, the study of the political phenomenon must be scientific. It must find its inner laws, and free itself from methodological dependence on theology, metaphysics, and moral philosophy. lts methodology is analogous to that of medicine and civil law rather than to that of the aforementioned disciplines."(A. Pare!: "Introduction: Machiavelli's Method and His Interpreters". - in: A. Parel (Hrsg.): The Political Ca\culus. - Toronto: 1972. - 224 S. - S. 5). 23 Mounin scheint mir den uneigennützigen Aspekt in Machiavellis Charakter allerdings überzubetonen, wenn er schreibt: "A la difference de toutes les grandes familIes bourgeoises florentines, il y ades choses auxquelles Machiavel tient plus qu'au patrimoine de sa familIe, et qu'a la carriere matrimoniale et sociale de ses descendants. Le Secretaire florentin ne pratique pas la politique du particulare, si bien definie par Guichardin, qui subordonne toutes choses a l'interet de la familie. (G. Mounin: Machiavel. Paris: 1958. - S. 222). 24 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Einleitung. - S. 5 [So 127).
3.1. Die Politik als Technik für den Umgang mit Menschen
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wie Alexander VI in der Lage war, das Wohlergehen seines Sohnes auf Dauer zu sichern, daß also mehr zur Förderung des eigenen Nachwuchses gehört als kurzsichtige Vorteilsgewährung. Aber Machiavelli war nicht nur am eigenen Wohle oder an dem seiner Familie interessiert,25 sondern ein durch und durch politisch denkender Mensch. Verspricht er dabei im Principe noch, dem Vollender der Einigung Italiens selbst die Hand zu leihen, so versteht er die Abfassung der Discorsi schon resignierter als wohlmeinende Empfehlung an andere. 26 So sehr Machiavelli aber auch persönlich an einem starken Frieden und Ordnung garantierenden Staat gelegen sein mag, so wenig läßt sich daraus ableiten, er habe seine Bücher mit dem Ziel geschrieben, Menschen Wege aufzuzeigen, um "das größte Glück der größten Zahl" realisieren zu kÖnnen 27. Machiavelli argumentiert nicht utilitaristisch, selbst in dem so berühmten Endkapitel des Principe verläßt er sich nicht darauf, den potentiellen Einiger Italiens mit dem Glück seiner Untertanen zu ködern. Er macht ihn vielmehr auch auf den möglichen persönlichen Gewinn aufmerksam, wenn er fragt, ob die politische Situation in Italien einen vorsichtigen Akteur zu einer Tat befähigen könne, "... die dem Manne selbst Ehre brächte und der Masse der Bewohner Italiens zum Heile gereichte ... "28 Machiavelli weiß, daß er bei den Aspiranten auf Herrschaft nur sehr bedingt auf uneigennützige Gefühle rechnen kann. In einem Kapitel der Discorsi, das mit dem klaren Satz überschrieben ist, "Ein guter Bürger soll aus Vaterlandsliebe persönliche Beleidigungen vergessen!", schildert er einen Fall patriotischer Tugend aus der römischen Geschichte und schließt mit der bemerkenswerten Empfehlung: "An ihm (dem römischen Patrioten; H. H.) muß sich jeder spiegeln, der für einen guten Bürger geIten will"29. Die Distanz zu ethischen Forderungen, die in dieser Formulierung liegt, und die bei Machiavelli des öfteren vorkommt 30, läßt keine Art von überindividuellem Pathos aufkommen. Im allgemeinen werden die Interessen anderer vor 25 J. W. Allen schreibt dazu: "... even Machiavelli could not escape the idealism that besets us all. He desired above all things to find a remedy for the chaotic confusion and distress of lta1y, ... He desired to see his FIorence once again free and glorious; and glorious at least if she could not be free. He dreamed of seeing her take the lead in the liberation of Italy from the foreigner. He must have desired, even if he did not actually hope, to see Italy united politically." (J. W. Allen: A History of Political Thought .... - S. 449). 26 Er schreibt: "Es ist die Pflicht eines tugendhaften Mannes, das Gute, was er durch die Tücke der Zeiten und des Geschickes nicht selbst ausführen konnte, andere zu lehren, damit es aus den vielen Fähigen einer, den der Himmel mehr begünstigt, ins Werk setzen könne. " (N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch 11. - Einleitung. - S. 156 [So 214 f.]. 27 Siehe beispielsweise die Position von Allen, der Machiavelli für eine Art Krypto-Utilitaristen zu halten scheint: J. W. Allen: A History of Political Thought .... - S. 471. 28 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 26. - S. 203; [So 120]. 29 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch III. - Kap. 47. - S. 393. 30 Siehe z. B.: N. Machiavelli: "Denkschrift über die Reform des Staates von Aorenz" S. 93108 in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 2. - S. 99 [So 351]; ; sowie N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 25. - S. 75 [So 177]. 7 Hegmann
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3. Machiavelli: Politische Untemehmerund ihre Kontrolle
allem dann gefördert, wenn dies der Erreichung der eigenen Ziele dient. Auf dieser Grundlage stellt sich für Machiavelli auch das Problem nicht, ob einzelne für das Wohl des Ganzen geopfert werden dürfe. Aus der Sicht des Ratgebers bejaht sich die Frage von selbst,3l und zwar nicht nur für den an effizienter Herrschaft interessierten Fürsten, sondern auch für den Bürger einer Republik. 32 Nur weil das Wohl der Gemeinschaft auch dem einzelnen Sicherheit und Wohlstand verspricht, wird er die Republik verteidigen, nicht weil es an sich etwas Gutes wäre. 33 "Kein Wunder," schreibt Machiavelli denn auch an anderer Stelle, "daß die alten Völker die Tyrannen mit so großem Hasse verfolgten, freie Verfassungen liebten, und daß der Name der Freiheit so hoch von ihnen gehalten wurde."34 Ein Indiz für die Annahme, daß Machiavelli kein ProtoUtilitarismus ist, findet sich auch in der Mandragola, der berühmtesten seiner Kommödien. In ihr versucht ein cleverer Taugenichts den Pfarrer davon zu überzeugen, daß es im Interesse nahezu aller Beteiligten sei, jemanden zu einem Ehebruch zu bewegen. Machiavelli läßt ihn das Argument mit den Worten schließen: "Ich halte das für ein gutes Werk, was vielen zu gute kommt und womit vielen ein Gefallen geschieht."35 Vor allem dem so Argumentierenden selbst wäre hier natürlich geholfen, das utilitaristische Argument dient also in bester sophistischer Manier dazu, andere für die Realisierung der eigenen Ziele einzuspannen. Als historische Person mag Machiavelli zwar durchaus auch utilitaristische Gefühle gehegt haben, seine Texte aber gewinnen eine größere Plausibilität, wenn man sie strikt als Ratgeber liest. Dabei gehen manche Stellen sogar weiter als die aufgezeigten Zusammenhänge es zulassen. In den Discorsi wird die Tyrannei mehrfach als mögliche Alternative neben den konstitutionell 36 organisierten Staat gestellt37 , obwohl Machiavelli an anderer Stelle betont, die Ty31 Inwieweit Menschen bereit sind, sich ohne eine Rechtsgarantie, die genau solche Opfer verbietet, an Macht zu beteiligen, wird im folgenden noch ausführlicher zu behandeln sein. 32 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch Ir. - Kap. 2. - S. 161 f. 33 Wenn Allen deshalb schreibt, "Goodness is simply that which serves, on the average or in the long run, the interests of the masses of the individuals" (J. W. Allen: A History of Political Thought .... - S. 453), so ist dies nur richtig, wenn man unter Goodness das politisch Sinnvolle versteht. Was aber sinnvoll ist, hängt auch von den Zielen dessen ab, an den Machiavelli sich wendet. 34 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch 11. - Kap. 2. - S. 162. 35 N. Machiavelli: "Die Mandragora" in ders.: Sämtliche Wen:e. - Bd. 7. - S. 2-52. - S. 27. 36 Der Begriff konstitutionell ist in diesem Zusammenhang allerdings mit Vorsicht zu genießen, er meint nicht, daß es eine Verfassung gibt, die von der Untertanen auch gegen den Willen des Fürsten durchgesetzt werden kann. Ein solches "zur Ordnung rufen" wäre für Machiavelli ein reines Messen der Kräfte, indem der Verweis auf Recht kaum viel bewegen dürfte. 37 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch r. - Kap. 25. - S. 75 f. sowie Kap. 26. - S. 76 [So 177).
3.1. Die Politik als Technik für den Umgang mit Menschen
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rannei sei auch für den Tyrannen weniger effIzient als die monarchische Staatsform. 38 Wenn der Tyrann sich also in einen konstitutionellen Herrscher wandelt, sobald es ihm möglich ist, geschieht dies im Einklang mit seinem langfristig kalkuliertem Eigennutz. Bleibt er Tyrann, geht er unnütze Risiken ein, denn für Machiavelli ist klar: "(Es) gibt wenige (Tyrannen), die nicht ein schlimmes Ende nehmen" 39. Es klingt Enttäuschung an, wenn der sonst so kühle Analytiker über diejenigen klagt, die dennoch Tyrannen bleiben oder es gar werden: ... (es) folgen fast alle, durch eitlen Glanz und falschen Ruhm verblendet, mit Willen oder unwissend, den Fußstapfen derer, die eher Tadel als Lob verdienen. Während sie durch Gründung einer Republik oder eines Reiches Unsterblichkeit erringen könnten, wenden sie sich zur Tyrannei und gewahren nicht, welchen Ruhm, welche Ehre, Sicherbeit und Ruhe, welche innere Zufriedenheit sie fliehen, um sich der Schmach, der Verachtung, dem Tadel, der Gefahr und Unruhe in die Arme zu werfen.40
Ob die hier ausgedrückte Enttäuschung allerdings der moralischen Verwerflichkeit der solcherart Verblendeten gilt, oder nicht viel mehr dem politischen Banausentum, das sie durch ihr Verhalten demonstrieren, läßt sich nur vermuten.41 Wie geschickt Machiavelli jedenfalls immer wieder darauf hinweist, daß es in ihrem eigenen Interesse ist, die Interessen anderer in die eigenen Überlegungen einzubeziehen, wo immer es möglich ist, zeigt sich besonders deutlich an einer kleinen Auftragsarbeit für Papst Leo X. Es handelt sich dabei um einen Verfassungsentwurf für Florenz, von dem A. Gilbert zu Recht schreibt, sie demonstriere die Flexibilität und gleichzeitige Festigkeit der Konzeptionen Machiavellis42• Der Autor entwirft hier eine Ordnung die "zu Lebzeiten des heißgeliebten Fürsten durchaus monarchisch anmutet, sich aber als durchaus demokratisch herausstellt, sobald die Toten beweint sind" wie Barincou es ausdrückt43 • Machiavelli verkauft dem Papst diese Ordnung mit dem Hinweis, daß anders die verschiedenen Fraktionen der Stadt auf Dauer nicht zu befrieden seien, es also durchaus im Interesse der Medici liege, auf seinen Vorschlag einzugehen: "Ihr werdet sehen, daß in dieser meiner Republik Eure Gewalt nicht allein erhalten, sondern vermehrt wird, und daß Eure Freunde geehrt und sicher bleiben, während die übrigen Bürger die augenscheinlichste Ursache haben, zufrieden zu sein."44 38 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 16. - S. 57; [So 168] vergl. auch: N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 19. - S. 178 ff. [So 98 ff.]. 39 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch III. - Kap. 6. - S. 277 [So 242]. 40 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 10. - S. 39 [So 153 f.]. 41 Es ließe sich ein analoges Gefühl bei professionellen Ökonomen denken, die damit leben müssen, daß sich Individuen in der Regel nicht optimal verhalten, sich beispielsweise ohne Rücksicht auf die Zukunft hoffnungslos verschulden. 42 N. Machiavelli: The chief works and others. - Bd. I. - S. 101). 43 E. Barincou: Machiavelli. - Reinbek: 1988. - S. 71.
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
Ob der historische Machiavelli hier machiavellistisch argumentiert,45 ob er also den Papst zu einem, aus dessen Sicht falschen Handeln überreden will, ist schwierig zu ermitteln und in diesem Zusammenhang ohnehin von eher untergeordneter Bedeutung. Da die Verfassung in der Lage ist, sowohl der Interessen des Fürsten als auch den republikanischen Neigungen Machiavellis entgegenkommt, kann durchaus davon ausgegangen werden, daß es sich auch bei dieser Abhandlung um eine "ehrliche" Ratgeberschrift handelt. Beim Principe scheint die Sache schwieriger. Die oft skrupellosen Empfehlungen an "neue Fürsten" stehen in allzu krassem Widerspruch zu Machiavellis republikanischen Überzeugungen. Aber auch wenn der Autor der Discorsi die Vorzüge der Republik preist und derjenige des Principe im Schlußkapitel ein von starker Hand geeinigtes, großes und von Barbaren befreites Italien ersehnt,46 muß dies kein Widerspruch sein. Die Empfehlungen im Principe sind an den potentiellen Einiger Italiens gerichtet und nicht in erster Linie an einen Bürger der Stadt Florenz. In Italien aber gibt es keine Institutionen mehr, die man stärken könnte, um das Gemeinwesen zu stabilisieren. Auf nationaler Ebene, wenn man von einer solchen überhaupt noch sprechen kann, gibt es nur unzusammenhängende Reste anderer Ordnungen, die der Kirche dienen oder dem Reich, nie aber einem Nationalstaat Italien. Um hier Einheit zu schaffen, ist erst einmal eine Zentralgewali erforderlich, und um diese zu installieren, müssen, wenn nötig, alle Mittel erlaubt sein. 47 Zwar wäre es denkbar, daß der Fürst der Bevölkerung eine republikanische Verfassung aufzwingt. Machiavelli hält das aber für unwahrscheinlich: Es läßt sich ... der Schluß ziehen, daß, wo die Sitten ... schlecht sind, gute Gesetze nichts helfen, sie müßten denn von einem Mann solange mit äußerster Kraft gehandhabt werden, bis die Sitten wieder gut werden. Ob dies jedoch jemals geschehen ist oder nur möglicherweise geschehen kann, weiß ich nicht ...48
Ob Machiavelli nur im Principe seine Vorstellungen einer idealen Republik der Einheit Italiens opfert,49 oder ob ihm auch als Person die Einigung Italiens 44 N. Machiavelli: "Denkschrift über die Refonn des Staates von Florenz" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 2. - S. 93-108. - S. 99 f. [So 351]. 45 So vermutet es Barincou: E. Barincou: Machiavelli. - Reinbek: 1988. - S. 71. 46 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 26. - S. 203 ff. [So 120 ff.]. 47 Vergl. hierzu auch: S. Wolin: Politics and Vision. - London: 1961. - S. 219. 48 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 17. - S. 60 [So 171]. Meinecke schreibt hierzu zu Recht: "Der Gegensatz zwischen dem monarchisch gerichteten Principe und den republikanisch gefärbten Discorsi ist nur scheinbar. Das Maß von virtii das in einem Volke lebte, entschied darüber, ob die Monarchie oder die Republik am Platze war. So war es nur konsequent, daß er für eine aus den Fugen geratene Zeit einen monarchischen Zwingherren forderte und als eine Staatsnotwendigkeit ansah." F. Meinecke: Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte. München: 1925. - S. 54. 49 So vermutet es Mounin: G. Mounin: Machiavel. Paris: 1958. - S. 203.
3.1. Die Politik als Technik für den Umgang mit Menschen
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so am Herzen liegt, daß er dafür seine republikanischen Überzeugungen aufzugeben bereit wäre, läßt sich im Rahmen dieser Arbeit nicht entscheiden. Betrachtet man die Discorsi und den Principe aber als Ratgeber für unabhängig voneinander legitime Projekte, so ist die Verknüpfung der Interessen des Autors mit denen seiner Adressaten in beiden Fällen gelungen. So, wie die Medici sich mit der Einheit Italiens Herrschaft und Ruhm sichern können, wozu sie als Tyrannen beginnen müssen und Machiavelli als klugen Berater durchaus brauchen können, so muß Leo X im eigenen Interesse ein starkes und einiges aber gerade deshalb weitgehend republikanisches Florenz wollen, was dann wieder einer politischen Fraktion entgegenkommt, der sich der arbeitslose Sekretär im Laufe seines Lebens auch einmal andient: den potentiellen Machthabern einer neuen Republik Florenz. Als Techniker der Herrschaft kann Machiavelli Mächtigen mit ganz unterschiedlichen Interessen dienen. Insofern ist er einem Militärstrategen ähnlicher als einem loyalen Untertanen. Daß er sich dabei korrumpieren läßt, ist unnötig, solange es genug politische Mächte gibt, die, richtig kalkulierend, mit ihren eigenen auch seine Ziele und diejenigen ihm wichtigen Gemeinschaft realisieren können, und denen er so guten Gewissens seine Dienste anbieten kann. 3.1.2. Die Politik als Veränderung relativer Preise
Wenn sich Machiavelli an einzelne wendet, um sie politisch zu beraten, muß er diese "abholen, wo sie stehen", er muß von ihnen und ihren individuellen Bedürfnissen ausgehen, um ihnen Rezepte an die Hand zu geben, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Das Italien, in dem sich seine Adressaten bewegen, ist gekennzeichnet von der Auflösung traditioneller politischer Zusammenhänge. 50 Der Katholizismus ist längst zum Steinbruch ideologischer Kriegsführung verkommen, und die Städte, die noch im Mittelalter den Stadtstaaten der Griechen nicht unähnlich waren, verlieren mehr und mehr ihre auf gemeinsamen Werten beruhende Basis. Machiavelli bedauert diese Entwicklung zutiefst. 51 An die Stelle traditioneller Ordnung ist ein hemmungsloser Nepotismus getreten, eine
50 Vergl. hierzu auch: H. Münkler: "Staatsraison und politische Klugheitslehre" in: I. Fetscher & H. Münkler: Pipers Handbuch der Politischen Ideen. - Bd. 3 (Neuzeit: Von den Konfessionskriegen zur Aufklärung). - München: 1985; Gerade weil es die Reakt ion auf eine in Unordnung geratene Welt ist, wirtt Machiavellis Denken, wie das seiner Zeitgenossen Guicciardini und Castiglione, erstaunlich modem. Allen trifft hier den Kern, wenn er schreibt: "Any political thought in this Italy was likely to be completely detached from the thought of medieval schoolmen. The Protestant Refonnation had yet to come; but Italy had already gone beyond." (1. W. AUen: A History of Political Thought .... - S. 446). 51 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch II. - Einleitung. - S. 155; vergl. hierzu auch: G. Mounin: Machiavel. Paris: 1958. - S. 75.
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3. Machiavelli: Politische Untemehmerund ihre Kontrolle
an Banfields süditalienische Egoisten S2 erinnernde Unfähigkeit zu langfristiger Kooperation. Gerissene Politiker wechseln Überzeugungen wie Loyalitäten nach dem Opportunitätsprinzip, um im permanenten Kampf um die Herrschaft, die Oberhand zu behalten. s3 Dieser beständige Kampf ist nicht einmal die Folge von Mangel. Es würde nicht reichen, wenn die Menschen ihren Wohlstand in Sicherheit genießen können, denn: "(da) nun immer das Verlangen, zu erwerben größer ist, als die Macht dazu, so entsteht daraus die Unzufriedenheit mit dem was man besitzt, und die geringe Befriedigung, welche der Besitz gewährt." S4• Wer nicht mehr ums Überleben streiten muß, wird nach nach Dominanz streben und sich aufmachen, andere zu unterwerfen ss . In einem Gedicht über den Ehrgeiz faßt Machiavelli dies in deutliche Bilder. Dort wandeln die Furien "Ehrgeiz" und "Habsucht" auf der Welt und leiten die Menschen direkt in den Krieg. Ihre Begleiter sind, "Grausamkeit", "Stolz" und "Betrug" und ..... sie tragen eine bodenlose Urne, um ihre unermeßliche Gier zu zeigen." S6 Aber die Menschen sind nicht nur ehrgeizig und habgierig, sie sind zudem unberechenbar.57 Wäre es noch möglich, sich auf ihre Rationalität in bezug auf ihre Sicherheit und ihr individuelles Wohlergehen zu verlassen, bliebe noch ein Rest von Berechenbarkeit erhalten, wo aber selbst dies nicht der Fall ist, kann niemandem getraut werden. 58 Angesichts dieser Lage ist es für den einzelnen sinnvoller, gleich von einem a-sozialen Menschenbild auszugehen und nicht von einem solchen, das das Leben in der Gemeinschaft "von Natur aus" in die Reihe individueller Ziele aufnimmt. Das gilt natürlich nicht nur für Staatsmänner. Jeder, der aus der Vertrautheit seines engsten Familien- und Freundeskreises heraustritt und sich kein genaues Bild von denjenigen machen kann, mit 52 E. C. Banfield: The Moral Basis of a Backward Society. - New York: 1958. - 188 S. 53 Daß Machiavelli auch und gerade in seiner amoralischen Politikberatung durchaus ein Kind seiner Zeit war, zeigt 1. Burckhardt in seiner klassischen Studie zur Renaissance. Es geht auch aus der Tatsache hervor, daß der Principe auf seine Zeitgenossen mit Abstand nicht den skandalisierenden Eindruck macht, den er bei nachfolgenden Generationen hervorrief. (vergl. hieri:u: Georges Mounin: Machiavel. Paris: 1958. - S. 152). 54 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch 1. - Kap 37. - S. 97 f. sowie Buch II. - Einleitung. S.156. 55 "Betrachtet ... wie insbesondere die Republiken wachsen. Ihr werdet sehen, daß es den Menschen anfangs genügt, sich selbst verteidigen zu können, und nicht von anderen beherrscht zu werden. Von da an steigt man später zum Angriff, zum Wunsche, andere zu beherrschen." N. Machiavelli: "Brief Nr. 23" (An Francesco Vettori vom 10.8.1513)" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 8 - S. 58 [So 431).
56 N. Machiavelli: "Der Ehrgeiz" S. in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 236. 57 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 17. - S. 172 [So 94 f.).; Zu diesem Konlplex vergl. auch: W. Kersting: Niccolo Machiavelli. - München: 1988. - 187 S. - S. 39. 58 Das gilt selbst für die eigene Familie. Die Renaissance war eine Zeit ausgesprochen blutiger Erbschaftsstreitigkeiten. (Vergl. hierzu: J. Burkckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Stuttgart: 1987, - S. 53 ff.).
3.1. Die Politik als Technik für den Umgang mit Menschen
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denen er zu tun bekommt, muß in seine Rechnung einbeziehen, daß die anderen an seinen Zielen nur dann ein Interesse haben, wenn ihnen das bei der Realisierung ihrer eigenen Bedürfnisse hilft. Die Finsternis des machiavellistischen Menschenbildes ist damit nicht notwendigerweise eine anthropologische Aussage (das mag sie zudem sein), sie ist rein instrumentell und gleicht etwa dem Menschenbild, das sich die Polizei von ihren Mitmenschen macht, wenn sie vor Alkohol am Steuer warnt. Machiavelli beschränkt den praktischen Nutzen seines Ansatzes aber nicht auf die "anonymen" Vielen, denen sich der Fürst gegenüber sieht, auch für den engeren Beraterkreis leitet er daraus Ratschläge ab. Er schreibt: (Der Fürst soll) ... wn ihn gut zu emalten, an den Minister denken, indem er ihn ehrt, reich macht, ihn sich verpflichtet, ihn an Ehre und Schuld teilnehmen läßt, damit die viele Ehre Ursache sei, daß er nicht andere Ehren, die vielen Reichtümer, daß er nicht andere Reichtümer wünsche, und damit die viele Schuld ihm eine Umwälzung furchtbar macht, und er einsieht, daß er ohne den Fürsten sich nicht emalten könne. 59
Wenn Machiavelli überhaupt Ratschläge allgemeiner Natur für den Umgang mit Vertrauten gibt und sich nicht auf den Tip beschränkt, Mitarbeiter gründlich kennenzulernen und auf ihre individuellen Bedürfnisse optimal eingehen zu können, so deshalb, weil sein Fürst selbst diese Mitarbeiter immer nur unzureichend kennen kann. Da er sich in ihnen irren oder von ihnen getäuscht werden kann, ist es allemal vorsichtiger, sich auch derjenigen Gesetzmäßigkeiten zu bedienen, die den meisten Menschen gemeinsam sind. Daß der Fürst seine Mitarbeiter darüberhinaus genauestens studieren muß, versteht sich von selbst. Nur soll er sich immer bewußt bleiben, daß sein Wissen prinzipiell unzureichend bleibt. Wer jemandem etwas bieten will, der mit einer Umwelt konfrontiert ist, die er nur unzureichend kennt, muß sich ganz von den traditionellen Bestimmungen von gut und böse lösen. Wer nie mit Sicherheit wissen kann, wer gut oder wer böse ist, weil er beständig fürchten muß, betrogen, mißbraucht, ausgebeutet, oder gar getötet zu werden, kann nicht mehr einfach überkommenen Regeln folgen. Er muß vielmehr aktiv für seine Sicherheit sorgen, muß Ressourcen anhäufen und es in Vermögen, in die Befestigung seiner sozialen Situation investieren. Dabei wird er nur dann erfolgreich sein, wenn er nicht beim Wollen der Mitmenschen ansetzt. Dies ist zum einen kaum langfristig zu beeinflussen und zum andern in seiner Wirkung schlecht zu überprüfen. Deshalb muß der einzelne statt dessen die äußere Situation seiner Mitmenschen verändern. Machiavelli geht implizit von der These aus, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt und deshalb das Sein beeinflußt werden muß, bevor man überhaupt daran den59 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 22. - S. 196 [So 115].; allerdings reicht Ehrung allein nicht, denn Menschen schätzen Vennögen mehr als Ehrungen ("Betrachtungen ..... - Buch J. - Kap. 37. S. 98 ff.), weshalb individuelle Vennögensanreize der sicherste Hebel ist, andere auf "die eigene Linie" zu bringen.
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
ken kann, wirksam auf das Bewußtsein Einfluß zu nehmen. Rhetorische Mittel taugen allenfalls zu kurzfristiger Manipulation. 6o Um die Ziele und Interessen der Menschen langfristig zu verändern, bedarf es mehr als aufgepeitscher Leidenschaften. Den Hebel bei den "objektiven" Interessen der Menschen anzusetzen und sich nicht auf rhetorisches oder missionarisches Geschick zu verlassen, schließt übrigens nicht aus, daß man letztendlich missionarische Ziele verfolgt: "... die Natur der Völker (ist) veränderlich, und leicht ist es, sie von etwas überreden, aber schwer, sie in diesem Glauben fest zu halten. Man muß sich daher in einer solchen Verfassung befinden, daß wenn sie nicht mehr glauben, man sie zum Glauben zwingen kann. "61 Diese Stelle weist noch auf einen weiteren Aspekt politischer Einflußnahme hin. Nicht nur, daß das Inaussichtstellen himmlischer Güter nur kurzfristig Wirkung zeigt, Menschen reagieren zudem eher auf ein angedrohtes Übel, als auf ein in Aussicht gestelltes Gut. Außerdem kommt das Geld, das sich im Diesseits als positiver Anreiz anbieten ließe, durch Gewaltanwendung allzuleicht abhanden. 62 Müssen aber zum Schutze des eigenen Wohlstands ohnehin Gewaltmittel vorhanden sein, führt ihr Einsatz bei der Erzwingung von Kooperation mit größerer Sicherheit zum Erfolg. Ohne Zwang ist Gefolgschaft kaum zu erringen, und wo sie tatsächlich erworben wird, ist sie unsicher. Der gerechte römische König Numa, meint Machiavelli, habe einfach Glück gehabt, wenn er sich im Einklang mit seiner Zeit befand 63, Savonarola ist ein Gegen beispiel. Aus diesem Grunde entscheidet Machiavelli die Frage, ob ein Fürst eher geliebt oder gefürchtet sein sollte, relativ schnell: "Die Menschen scheuen weniger, einen geliebten Fürsten zu beleidigen als einen gefürchteten. Denn die Liebe wird durch das Band der Pflicht erhalten, und weil die Menschen schlecht sind, zerreißt dieses Band bei jeder Aussicht auf eigenen Vorteil. Die Furcht hingegen wird durch die drohende Strafe erhalten, die die Men60 N. Machiavelli: "Die Kunst des Krieges". - in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 4. - Buch 1. - S. 1-198. - S. 116. 61 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 6. - S. 135 [5. 64] Diese Stelle könnte als das Credo der Fundamentalisten jeder Couleur gelesen werden, die alle bereit wären, die Ungäubigen "zu ihrem Glück zu zwingen und damit meilenweit vom sokratischem Optimismus in bezug auf die Lehrbarkeit der Tugend entfernt sind. 62 N. Machiavelli: "Die Kunst des Krieges" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 3. - Buch 1. - S. 184 Das ganze Zitat lautet: "Männer, Eisen, Geld und Brot sind der Nerv des Krieges. Von diesen vier jedoch sind die zwei ersten am notwendigsten, denn Männer und Eisen finden Geld, aber Brot und Geld finden nicht Männer und Eisen." (ebenda) siehe auch: "Es ist zwischen einem Bewaffneten und einem Unbewaffneten durchaus kein Verhältnis und es läßt sich nicht annehmen, daß der Bewaffnete gerne dem Waffenlosen gehorcht, und daß der Waffenlose unter seinen bewaffneten Dienern sicher ist. Denn da der eine Unwillen, der andere Argwohn fühlt, so ist es unmöglich, daß sie gut miteinander auskommen."{N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 14. - S. 165) [5. 89]. 63 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 19. - 5.65 ff. [5. 176].
3.1. Die Politik als Technik für den Umgang mit Menschen
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sehen nie zu fürchten aufhören."64 Im "Idealfall" schafft sich der einzelne durch Zwang ein Kollektiv, daß er derart unter Kontrolle hat, daß es ihm nicht gefährlich werden kann, sondern im Gegenteil optimal zur Befriedigung seiner Bedürfnisse beiträgt. Auf politischer Ebene ist damit ganz wie bei den Sophisten der Staat Folge der Erkenntnis, daß anders individuelle Sicherheit nicht zu gewährleisten ist, so daß der Ursprung des Staates im Sicherheitsbedürfnis des einzelnen liegt. 65 Allerdings hängt es nicht nur von der Klugkeit und Tatkraft des einzelnen ab, ob er in seiner Welt Erfolg hat. Das Kapitel über die Göttin "Fortuna" im Fürsten und das kurze Terzett über das Glück 66 zeigen, wie wenig Machiavelli an die "Machbarkeit" der Weit glaubt. Fortuna verkörpert für ihn alles Unberechenbare in der Umwelt des Handelnden,67 sie ist eine Metapher für die prinzipielle Unmöglichkeit der perfekten Steuerung der Welt. So clever der einzelne seine Barke auch steuern, so sehr er auch flexibel auf alle Erfordernisse der Zeit eingehen mag, ganz kann er seine Umwelt nie bezwingen. Gerade die Hälfte seiner Erfolge kann er auf eigene Fähigkeiten zurückführen, die andere bleibt Fortuna vorbehalten. 68 Aber selbst die beeinflußbare Hälfte ist nur zu kontrollieren, wenn er das große Beispiel der Antike beherzigt und den Spielraum des Glückes einschränkt, so " ... daß es nicht bei jedem Umschwung der Sonne zu zeigen Gelegenheit hat, wie viel es vermag."69 Der Handelnde hat sich eben so gut wie möglich auf ihre Launen vorzubereiten. Machiavelli schreibt dazu: Ich vergleiche das Glück mit einem jener zerstörenden Bergströme, die, in Wut geratend, die Ebenen überschwemmen, die Bäume und Häuser umreißen, und Land von einem Ufer wegfüh· ren und an das andere anflößen. Jeder flieht vor ihnen, Jeder weicht ihrem Ungestüm, ohne im Geringsten widerstehen zu können. Obgleich aber dies ihre Natur ist, so ist es deshalb doch nicht unmöglich, daß die Menschen in ruhigen Zeiten durch Wehre und Dämme Vorkehrungen treffen könnten, so daß beim Anwachsen die Wässer durch einen Kanal strömen, oder ihre Wut nicht so zügellos und verderblich ist. 70
64 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 17.· S. 172 [So 95). 65 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. . Kap. 2. - S. 13 [So 133). 66 N. Machiavelli: "Das Glück" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 126-230. 67 Es ist kein Zufall, daß sich Machiavelli, wie die Sophisten vor ihm, unter den wenigen befindet, die sich mit dem Problem von Risiko und Unsicherheit befaßt, und damit die gleiche Perspektive auf soziale Zusammenhänge einnimmt wie beispielsweise die Theoretiker der östereichisehen Schule der Nationalökonomie. 68 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 25. - S. 200 [So 118] ; für eine Einschätzung vergl. auch: Oded Balaban: "The Human Origins of Fortuna" in: History of Political Thought. - Vol XI/I (1990). - S. 21-37. 69 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch H. - Kap. 30. - S. 254 [So 233]. 70 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 25. - S. 200 [So 118).
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
Nur der Tüchtige wird Fortuna auf seiner Seite haben, er muß allerdings kräftig zupacken und zwar eher leidenschaftlich als kühl berechnend. 71 Aber selbst wenn er allen Empfehlungen Machiavellis folgt, mag er scheitern, weil sich im Laufe der Zeit ändert, was Fortuna schätzt, und er sich so möglicherweise nicht im Einklang mit seiner Zeit befmdet. 72 Aber so unerbittlich das Schicksal auch ist, so wenig die Natur und mit ihr "... die Neigungen, die dir der Himmel gab ... "73 zu ändern sind, so wenig ist dieses Schicksal nur Grund zur Verzweiflung. Gerade weil man die "verschlungenen Wege" der Fortuna nicht kennen kann, besteht immer Anlaß zur Hoffnung,74 lassen sich selbst fatale Stöße einstecken. Durch das Wissen um diese Grenzen der eigenen Möglichkeiten vorbereitet, kann sich der Adressat von Machiavellis Ratgebern nun der Politik zuwenden. Wie er dabei im einzelnen vorgeht, soll nun näher betrachtet werden.
3.2. Der Machiavellistische Unternehmer Aus der Naturrechtstrndition sind Ratgeber für "gute" Herrschaft hervorgegangen, die mehr oder weniger christliche Gebote mit Klugheitsregeln verbinden, um den Fürsten ein ebenso effizientes wie gottgefälliges Regieren ans Herz zu legen. 75 Machiavelli bewegt sich in dieser Tradition und bringt sie zu einem Ende. indem er den außerweltlichen Aspekt gänzlich ausblendet. Ihm geht es um nichts anderes mehr, als um Macht, um die Errichtung eines starken Staates, der dem Fürsten optimal nützen kann, indem er die Mitmenschen systematisch daran hindert, den fürstlichen Interessen zuwiderzuhandeln. Zur Durchsetzung eines solchen Vorhabens auf nationaler Ebene kann ein Fürst im Italien des 16. Jahrhunderts nicht auf die patriotischen Gefühle seiner Unterta71 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 25. - S. 203 [So 120); vergl. auch: N. Machiavelli: "Das Glüclc" S. in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 230. 72 Machiavelli schreibt: "Wer durch schlechte Wahl oder durch seine Natur nicht mit der Zeit übereinstimmt, in der er lebt, ist größtenteils unglücklich, sieht seine Unternehmungen scheitern und nimmt ein schlimmes Ende; umgekehrt ist es bei denen der Fall, die mit der Zeit übereinstimmen." N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch III. - Kap. 8. - S. 299 f.; vergl. auch: N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 25. - S. 203 [So 120); vergi. auch: "DeM stimmt die Leidenschaft, die dich zum Handeln treibt, mit ihrem Willen überein, so bist du glücklich, wo nicht, so ist dein Unglück gewiss. (N. Machiavelli: "Das Glück" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 228). 73 N. Machiavelli: "Das Glück" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 228 f. 74 " ... die Menschen (können) das Schicksal unterstützen, nicht aber sich ihm widersetzen ... Sie können seine Fäden zusammenweben, nicht sie zerreißen. Sie dürfen sich indes nie selbst verlassen. Da sie die Zwecke der Göttin nicht kennen, und Fortuna auf krummen und unbekannten Pfaden wandelt, so sollen sie immer hoffen, und hoffend, in keiner Lage, in keiner Not noch Mühsal sich selbst verlieren." (N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch 11. - Kap. 29 - S. 250) [So 230). 75 Vergl. hierzu vor allem: W. Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. Göttingen: 1952. - 364 S.
3.2. Der Machiavellistische Unternehmer
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nen hoffen. Niemandem scheint ein italienischer Nationalstaat ein Wert zu sein und Reste überregionaler Institutionen, sofern sie überhaupt noch bestehen, sind nicht dazu geeignet, Orientierungspunkte einer Sammlungsbewegung zu werden. Der Principe ist deshalb ein im wesentlichen außenpolitischer Traktat, eine Schrift, die von untereinander unverbundenen einzelnen ausgeht, die der Fürst nur dann dazu bewegen kann, koordiniert seinen Interessen zu dienen, wenn es ihm gelingt, sie seiner Herrschaft zu unterwerfen. Daß dieses Interesse des Fürsten mit dem seiner Untertanen übereinstimmt, ist für Machiavelli offensichtlich. Gerade im Principe wird das ganze Unbehagen an den anarchischen Verhältnissen seiner Zeit deutlich. Der Ruf nach einem starken Mann scheint durch, nach jemandem, der das Land nach innen organisiert, um zerstörerischen Ehrgeiz nach außen abzuleiten 76• Daß ein solcher bei seiner gefährlichen Aufgabe nicht immer den Kanon der Menschenrechte im Auge haben kann, hängt damit zusammen, daß er sich weitgehende Handlungsfreiheit bewahren muß. Machiavelli schreibt: Cäsa:r Borgia wurde für grausam gehalten; allein seine Grausamkeit stellte in der Romagna die Ordnung wieder her, machte dieses Land einig und brachte es zu Ruhe und Gehorsam zuriick. Erwägt man dies wohl, wird man sehen, daß der Herzog viel mitleidiger war, als das florentinische Volk, das, um den Namen der Grausamkeit zu vermeiden, Pistoia sich verwüsten ließ.77
Da der starke Staat sowohl im Interesse des Fürsten, als auch in dem seiner Untertanen liegt, und da seine Errichtung des Einsatzes aller wirksamen Mittel bedarf, ist "Machiavellismus", richtig verstanden, durchaus auch im Interesse der Untertanen. 78 Gerade auf nationaler Ebene kann ein starker Staat nur Wirklichkeit werden, wo sich ein politischer Unternehmer unter Einsatz aller Kräfte und Fähigkeiten bemüht, jede sich ihm bietende Möglichkeit des Machterwerbs auszunutzen. Die WeIt ist einfach nicht so, daß sich die Menschen Italiens freiwillig zu einem republikanischen Nationalstaat zusammenschließen würden, es kommt darauf an, sie unter die Herrschaft eines einzelnen zu zwingen. Wie dieser einzelne beschaffen sein muß, und wie er vorzugehen hat, darauf richtet sich im Principe Machiavellis ganzes Interesse. Er faßt die zentralen Eigenschaften in einem Bild aus dem Tierreich zusammen. Sein Fürst muß klug und stark sein, er muß ..... Fuchs sein, um die Schlingen zu erkennen, und Löwe, um die Wölfe abzuschrecken." 79 • Von beiden Eigenschaften wird im folgenden ausführlicher die Rede sein. 76 VergI. hierzu: N. Machiavelli: "Der Ehrgeiz" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 235239. - S. 237. 77 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 17. - S. 171 [So 94]. 78 Es ist deshalb nicht notwendig, anzunehmen, daß es sich bei dem Fürsten um ein "machiavellistisches" Buch handelt, ein Traktat, das Tyrannen in den Untergang treiben soll, um den Weg für Machiavellis eigentlich angestrebte Staatsform, die Republik möglich zu machen. VergI. hierzu auch: Georges Mounin: Machiavel. Paris: 1958. - S. 148 ff. u. vor allem S. 169. 79 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 18. - S. 175 [So 97].
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
3.2.1. Der politische Unternehmer in seiner Welt
Der Fürst, der nach Machiavellis Anleitung ein einiges Italien schaffen will, muß sich völlig auf seine Aufgabe konzentrieren. Jedes andere Ziel muß für ihn zweitrangig werden und er muß genau die Eigenschaften an den Tag legen, die Schumpeter für erfolgreiches Unternehmern konstatiert: "Apart from energy ... that special kind of "vision" that marks the family entrepreneur also plays an important part - concentration on business to the exclusion of other interests, cool and hard-headed shrewdness, by no means irreconcilable with passion."so Dieses Talent muß er nutzen, um sich in seiner Umwelt einen Platz zu schaffen. er muß ihr gegenüber die "alertness to opportunities" beweisen, die allen Theoretikern zum Unternehmerbegriff so am Herzen liegt: "Der Mann, welcher eine Unternehmung im Sinne hat, muß sich zuerst sorgfältig darauf vorbereiten, damit er bei günstiger Gelegenheit bereit ist, seinen Plan auszuführen."Sl Zu diesem Zweck braucht es vor allem dreierlei. Zum einen muß er seine eigene Person in den Stand setzen, erfolgreich unternehmerisch tätig zu werden. Er muß sich anpassen und lernen. Zum zweiten muß er sich, wenn nötig durch Täuschung, die Hilfe der anderen sichern. Er muß ihre Bereitschaft erhöhen, ihm im ErnstfaIl bei der Ausführung seiner Projekte zu helfen. Zum dritten muß er die so gewonnene Hilfe dazu nutzen, die anderen längerfristig auf seine Seite zu bekommen, d. h. er muß eine dauerhafte Parallelität zwischen ihren und seinen Interessen herstellen. Wichtig ist vor allem, daß der Fürst Fähigkeiten erwirbt, mit denen er im Ernstfall bestehen kann. Dies ist zuerst das Erlernen der Kriegskunst, aber auch das Gespür dafür, mit Menschen umzugehen und die Bereitschaft, flexibel auf sie einzugehen. Könnte er dann auf jede sich ihm bietende Situation optimal reagieren, würde er schnell die nötigen Gewaltmittel zur Schaffung von Macht akkumulieren. Leider ist ihm das unmöglich, denn zum einen verfügt er nicht über alle dazu notwendigen Informationen, und zum zweiten kann er seinen Charakter nicht beliebig manipulieren. Daher muß er zuerst einmal sich und seine Fähigkeiten einzuschätzen lernen, dasjenige, was er als kreatives "Humankapital" ins Spiel einbringen kann. Die handlungsbestimmenden Momente der menschlichen Natur sind dabei so vielfältig wie die Elemente des menschlichen Erscheinungsbildes: "Ich glaube, so wie die Natur jedem Menschen ein eigenes Gesicht gegeben hat, so hat sie ihm auch individuelle Neigungen und Anschauungen gegeben. Daher kommt es, daß jeder sich entsprechend seiner Neigungen und Anschauungen verhält"S2, schreibt Machiavelli. 80 J. Schurnpeter: "Social Oasses ..." in: Imperialism & Social Oasses. - New York 1955. - S. 99-168; vergl. 211m seihen Thema auch: Yorarn Barzel: "The Entrepreneur's Reward for Self-Policing" in: Econornic Inquiry. - 25 (1987). - S. 103-120. 81 N. Machiavelli: "Die Kunst des Krieges" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 1. - Buch 1. - S. 9. 82 "Credo ehe come la natura ha fatto all'huomo diverso volto,
COSI
gli habbia fatto diverso in-
3.2. Der Machiavellistische Unternehmer
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Zu der Menschennatur gehört auch der in seiner Wirkung so leicht sozialzerstörerische Ehrgeiz, der, wie alle anderen Leidenschaften auch, gezähmt und zum eigenen Besten kontrolliert und gesteuert werden muß. "Da ihn der Mensch nicht von sich verjagen kann, soll gesundes Urteil und Verstand ihm Tapferkeit und Ordnung beigesellen."83 Zudem kann der einzelne versuchen, sein Betätigungsfeld den eigenen Fähigkeiten anzupassen. Machiavelli legt Castruccio Castracani, einem politischen self-made-man aus Lucca folgende Worte in den Mund, als der sich auf dem Totenbett ein letztes Mal an seinen Stiefsohn wendet: "Es ist in der Welt von großer Wichtigkeit, sich selbst zu kennen und zu wissen, die Kraft seines Geistes und Staates zu messen. Wer sich nicht tauglich zum Kriege weiß, muß bestrebt sein, durch die Künste des Friedens zu regieren."84 Neben der Formung des eigenen Charakters und der Auswahl einer ihm gemäßen Strategie bleiben dem Fürsten noch die Möglichkeit, innerlich unkontrollierbare Leidenschaften von außen zu steuern. Wie Odysseus soll er sich in weiser Voraussicht selbst binden, um den verderblichen Neigungen in der eigenen Brust einen Riegel vorzuschieben. 85 Machiavelli entwickelt die Idee der Selbstbindung, die uns im Verlauf der Untersuchung noch öfter begegnen wird, besonders deutlich im Rahmen seiner militärischen Überlegungen: Um deine Bürger im Zaume zu halten, kann es nichts unnützeres geben, als eine ... Zitadelle ... sie macht dich geneigter und rücksichtsloser die Bürger zu unterdrücken, und diese Unterdrükkung erzeugt eine solche Sehnsucht nach deinem Sturze, und entflammt sie zu solcher Wut gegen dich, daß die Zitadelle, die Ursache dieses Hasses, dich dann nicht mehr schützen kann. Ein weiser und guter Fürst wird daher nie eine Zitadelle bauen, sowohl damit er sich selbst gut erhalte, als auch damit er seinen Söhnen keinen Anlaß gebe und sie sich nicht erkühnen können, böse zu werden, und damit sie sich nicht auf die Zitadelle, sondern auf die Liebe der Bürger verlassen. 86
Über die optimale Vorbereitung der eigenen Person hinaus muß der einzelne im Umgang mit seiner Umwelt zu allem bereit sein, was ihm Zwangsmittel zu gegno et diversa fantasia. Da questo nasce ehe ciascuno secondo 10 ingegno et fantasia." (Niccolo Machiavelli: "Iettere no. 119 a Piero Soderini" in: Niccolo Machiavelli: Lettere. - (a cura di F. Gaeta). - Milano, Feltrinelli, 1961. - S. 230. 83 N. Machiavelli: "Der Ehrgeiz" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 239. 84 N. Machiavelli: "Das Leben des Castruccio Castraccani" in: Niccolo Machiavelli: Politische Schriften. - (Hrsg. von H. Münkler). - FrankfurtlM.: 1990. - S. 416. 85 Zum Neid schreibt Machiavelli beispielsweise: "Hierzu treibt uns natürlicher Instinkt, der eigene Antrieb, die eigene Leidenschaft, wenn nicht das Gesetz uns zähmt oder eine größere Stärke." (N. Machiavelli: "Der Ehrgeiz" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 237). 86 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch 1I. - Kap. 24 - S. 233; vergl. auch: "Der Fürst" Kap. 20; Machiavellis Behandlung dieses Themas gibt beispielhaft die gesamte Herangehensweise der modemen Moralphilosophie wieder. Nicht nur im Umgang mit anderen, auch im Umgang mit sich selbst ist es die Welt, die als veränderbar angesehen wird, nicht das eigene Ego. David Hume baut, expliziter noch als Hobbes, genau darauf sein Gesellschaftssystem: "Und da es unmöglich ist, etwas wesentliches in unserer Natur zu ändern oder abzustellen, so können wir nichts anderes tun, als unsere Lage und Umstände so zu verändern, daß die Einhaltung der Rechtsnormen unser nächstes und ihre Übertretung unser entfernteres Interesse wird." (0. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. - Hamburg: 1978. - Buch III (Über Moral). - S. 286).
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
weiterer Verwendung eintragen kann. Wenn ein solches Vorgehen dazu führt, daß die Reputation zerbricht, muß er sorgfältig Kosten und Nutzen gegeneinanderstellen, um dann die Handlungsweise zu wählen, die per saldo den größeren Nutzen verspricht. Nur diese Kalkulation darf ihn leiten und nicht etwa Überlegungen philosophischer oder theologischer Natur. Wer nur, den Nonnen mittelalterlicher Fürstenspiegel gemäß, Macht anhäufen will, wird vennutlich nicht weit kommen. Derjenige, der Erfolg haben will, muß bereit sein, alle effizienten Techniken zu nutzen. 87 Das zentrale 7. Kapitel des Principe hat die Beschreibung des Machterwerbs "aus dem Nichts" zum Thema. Es ist gleichzeitig einer der Orte an dem Machiavelli die Ratschläge gibt, die ihm über die Jahrhunderte seine finstere Reputation eingetragen haben. Er zeigt darin, wie sich Fürsten durch unternehmerisches Geschick die Macht sichern können, die ihnen durch einen glücklichen Zufall in die Hände gefallen ist. Solche Fürsten stehen ganz ohne eigenes Kapital da und nur diejenigen werden sich auf Dauer behaupten können, die" ... die Grundlagen noch nach ihrer Thronbesteigung ... legen, die andere sich gelegt haben, ehe sie Fürsten wurden. "88 Nur von dieser Extremsituation her sind Machiavellis drastische Ratschläge verständlich. In dem Maße, in dem die Herrschaft seines Fürsten sicherer wird, wird er sein Handeln schon im eigenen Interesse dem eines "guten" Regenten angleichen. Er wird "nicht vom Guten abgehen, so lange er kann, allein zum Übel zu schreiten wissen, wenn er genötigt ist."89 Dies gilt natürlich nicht nur für die Innenpolitik. In seiner Geschichte von Florenz legt MachiaveIli einem Florentiner Emigranten am Mailänder Hof die Worte in den Mund: "Nur die Kriege sind gerecht, welche notwendig sind, und die Waffen sind fromm, wo keine Hoffnung ist außer ihnen."9o Und an anderer Stelle macht er die darin implizit ausgedrückte Beschränkung des gerechten Kriegs auf den Notfall explizit: "Es soll jedoch ... nicht gesagt sein, daß man Waffen und Gewalt gar nicht anwenden dürfe, ich sage nur, man soll sie bis zuletzt aufsparen, wenn alle anderen Mittel nicht mehr hinreichen."91 Wo die Welt besser ist, d.h. wo die Menschen sich nicht einzig von kurzsichtigem Egoismus leiten lassen, werden auch die radikalen Maßnahmen in ihrer Bedeutung abnehmen, wird man mehr dazu übergehen können "nach Menschen87 Platon hatte statt dessen postuliert: "... es gilt für mich wie für jeden anderen, daß man weder vor Gericht noch im Kriege alles Denkbare anstellen darf um nur ja dem Tode zu entkommen."Platon: "Apologie" in: Platon: Apologie, Kriton. - S. 19; vergI. auch: N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 18. - S. 175 [So 96]. 88 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 7. - S. 137 [So 66]. 89 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 18. - S. 176 [So 97f.]. 90 N. Machiavelli: "Florentinische Geschichte" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 4. - Buch 5. S. 222 [So 320); vergl. auch: N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 26. - S. 204; [So 120). 91 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch 11. - Kap. 21 - S. 223.
3.2. Der Machiavellistische Unternehmer
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art" zu kämpfen und das tierische aus den sozialen Beziehungen herauszulassen. Wer aber glaubt, dies schon in einer Welt der Anarchie tun zu können, wird untergehen, denn es bestehe, so schreibt Machiavelli "... zwischen dem Menschen, wie er ist, und dem Menschen, wie er sein soll, ein so großer Unterschied, daß, wer nicht achtet, was man tut, um sich allein damit zu beschäftigen, was man tun sollte, eher sein Verderben lernt, als seine Erhaltung. In der Tat" so fahrt er fort "müßte ein Mann, der sich in allen Stücken stets tugendhaft zeigen wollte, in der Mitte so Vieler, die es nicht sind, zu Grunde gehen."92 Wer sich weigert, blind den "Sachzwängen" zu gehorchen, verzichtet auf politischen Einfluß. Daß ihm auch diese Alternative offensteht, spricht Machiavelli erst in den Discorsi deutlich aus: Dies sind grausame Mittel. Sie widersprechen nicht nur den Lehren des Christentums, sondern die Menschheit schaudert davor zurück. Wer ein Mensch ist, soll sie fliehen und lieber im Dunkel des Bürgerstandes leben, als die Krone zu tragen zum Verderben so vieler ihm gleich geschaffener Wesen. Gleichwohl muß der, welcher den oben genannten Weg zum Guten nicht gehen will, will er sich erhalten, zu diesem Übel schreiten.93
Warum er in den Discorsi eine derart klare Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Nützlichen einführt, im Principe aber diesbezüglich schweigt, kann seinen Grund darin haben, daß er im Principe bestimmte Implikationen unausgesprochen läßt, um den dramatischen Effekt des Werkes nicht zu gefährden. Will der Fürst an der Macht bleiben, darf er jedenfalls vor keinem Mittel zurückzuweichen, das seinen Zweck erfüllt. Andererseits aber soll er sich auch nicht zu unnötigen Grausamkeiten hinreißen lassen, ein Fehler, den Machiavellis eigene Vorliebe für drastische Lösungen nur allzu nahelegt. 94 Gewaltsamkeit ist so wenig ein Wert an sich, wie Friedfertigkeit einer wäre. Auf den Erfolg kommt es an. So wie Machiavelli fordert, kein Mittel von vorneherein auszuschließen, nur weil es verboten ist, so fordert er mit derselben Konsequenz, die negativen Folgen des eigenen Handeins für die Mitmenschen so gering wie möglich zu halten. Der einzelne muß sich soweit beherrschen, daß er sich und seine Umwelt unvoreingenommen sieht, daß er seine persönlichen Vorlieben und Leidenschaften vom politisch Gebotenen zu trennen weiß und ersterem nur dort Raum gibt, wo er es "sich leisten" kann. Neben der Vorbereitung der eigenen Person auf die Erfordernisse der Welt muß der Fürst den Blick für diese Welt schärfen. Er muß alles studieren. was 92 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 15. - S. 167 [So 91]. 93 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 26 - S. 77 [So 178]. 94 Vergl. hierzu auch Mounin: "... c'est certain que l'oevre de Machiave1 est marquee par la personalite meme de celui-ci. Nous avons vu le jugement de Guichardin, qui dit de lui que "Ies remedes extraordinaires et violents lui plaisaienttoujours outre mesure". Et Quinet releve le fait lorsqu'il note: "Un point que 1'0n a trop oublie en jugeant Machiavel est l'influence de son talent dramatique sur rexpression de ses theories." Mais les commentateurs modemes n'oublient plus jamais de souligner que Machiavel est "un temperament d'extremiste". comme dit Russo. hardi par gout et par passion ..." (G. Mounin: Machiavel. - Paris: 1958. - S. 177).
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
ihm in seinem Kampf um die Herrschaft dienlich sein kann. An mehreren SteIlen weist Machiavelli auf die Nützlichkeit der Jagd für den Fürsten hin 95 • Diese mache ihn mit topographischen Eigenheiten des Landes vertraut und ermögliche es ihm im Kriegsfall, schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen. Natürlich enthebe ihn dies nicht der Notwendigkeit, die Regeln der Kriegsführung zu kennen, aber nur im ständigen Umgang mit der Vielfalt der realen Welt bekommt er das notwendige "Gespür" für die Dinge. Im selben Kapitel des Principe empfiehlt Machiavelli seinem Fürsten, die Klassiker zu lesen 96, was kein Zufall ist, da diese für ihn vor allem eine Sammlung von Fallstudien darstellen, von Problemen, mit denen ein Politiker in der Vergangenhei konfrontiert wurden. 97 Wie für den Kriegsherrn, reicht es auch für den Staatsmannn nicht aus, die abstrakten Grundgesetze menschlichen Zusammenlebens zu kennen, auch er muß sich mit der Komplexität seiner sozialen Welt vertraut machen, wenn er im praktischen Entscheidungsprozeß erfolgreich sein will. Gegründet auf die Überzeugung, daß die menschliche Natur über die Zeiten immer die gleiche bleibe98 , sie deshalb in ähnlichen äußeren Situationen auch zu ähnlichen Resultaten führen werde,99 kann Machiavellis Fürst sich Anschauungsmaterial aus der gesamten Geschichte holen. Er sollte sich dabei aber vorrangig an jenen "Großen der Vergangenheit" orientieren, die früher schon in schwierigen Lagen haben Auswege finden können. Auch wenn er ihre "Größe" nicht werde erreichen können, so falle ein Abglanz der Vorbilder doch auch auf sein Handeln.\Oo Der wichtigste "Fundort" von Berichten über solch "große Männer der Geschichte" ist die Antike und hier vor allem das antike Rom. 101 95 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch III. - Kap. 39 - S. 378; und N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 14. - S. 165 f. [So 89 f.]. 96 "So also soll ein weiser Fürst handeln, und niemals zur Zeit des Friedens müßig sein. Er soll hingegen sorgfältig diese Zeit benutzen, um sich des Gesammelten im Mißgeschicke bedienen zu können, damit ihn das wechselnde Glück bereit findet, seinen Schlägen zu widerstehen." (N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 14. - S. 167 f. [So 90].). 97 VergJ. hierzu auch: H. Butterfield: The Statecraft of Machiavelli. - S. 24 f. 98 "Wenn man die alten und neuen Begebenheiten betrachtet, erkennt man leicht, daß alle Städte und alle Völker von jeher dieselben Wünsche und Launen hatten. Untersucht man daher sorfältig die Vergangenheit, so ist es ein leichtes, die zukünftigen Ereignisse vorherzusehen und dieselben Hilfsmittel anzuwenden, welche von den Alten angewendet worden sind, oder finden sich nicht gerade solche, neue, der Ähnlichkeit der Vorfälle angemessene zu ersilUlen." (N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 39 - S. 104; vergl. auch: N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 11. - S. 45 [So 159]). 99 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch III. - Kap. 43 - S. 383 f. 100 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 6. - S. 133 [So 63]. 101 In bezug auf die Discorsi betont Allen zu Recht: "Not Athens but Rome was, to Machiavelli, the eminently successful State of antiquity.... We must study Roman history and see what profit can be made of it for our own use. So he called his book Discourses upon Livy. Actually there is not very much of Livy in it, and it seems clear that it was from Italy and not from Livy or Polybius, Plutarch or Cicero, Aristotle or Xenophon, Machiavelli derived his main concepts and conclusions. (J. W. Allen: A History of PoliticalTbought .... - S. 451).
3.2. Der Machiavellistische Unternehmer
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Hat der Fürst sich durch empirische Studien über die ganze Weite des Spektrums menschlicher Möglichkeiten informiert, muß er versuchen, klug vorausschauend, eventuell sich bietende günstige Gelegenheiten sofort beim Schopfe zu fassen. Vor allem muß er "... auf ein Mittel sinnen, wodurch seine Bürger immer, in jeder Lage und in allen Zeitverhältnissen, seine Regierung nötig haben ... "102, damit sie ihm immer treu bleiben. Wie er dabei vorgeht, insbesondere eingedenk der Tatsache, daß er über die Meinungen seiner Mitmenschen nicht allzu viel weiß und so nie sagen kann, wie sie wirklich zu ihm und seiner Herrschaft stehen, wird Thema der folgenden Seiten sein. 3.2.2. Der Erwerb von Gewaltmittel zur Vermögensbildung
Um "die Wölfe zu schrecken", braucht Machiavellis Fürst die Fähigkeit, Gewalt anzudrohen und im Notfall auch einzusetzen. 103 "Die größte menschliche Macht", wird Hobbes über hundert Jahre später schreiben, "ist diejenige, welche aus der Macht sehr vieler Menschen zusammengesetzt ist 104• Zum Erwerb einer solchen Macht, der Fähigkeit also, seinen Gegnern die Stirn zu bieten, muß es auch Machiavellis Fürsten darum gehen, sich die Unterstützung möglichst vieler Menschen zu sichern. Mit diesem Ziel im Auge, muß er versuchen, stets denjenigen Kurs zu steuern, der ihm per Saldo den größten Zugewinn an Zwangsmitteln einbringt, um mit der Hilfe dieser Mittel wiederum andere zur Kooperation zu zwingen. Dabei muß er seine Mitmenschen als Individuen behandeln, muß ihr individuelles Handeln kontrollieren und ihnen bei unerwünschten Aktivitäten Sanktionen androhen, die sie direkt treffen. Verfährt er so, erreicht seine Politik auch dann einen hohen Wirkungsgrad, wenn er die tatsächlichen Bedürfnisse nur unzureichend kennt oder gar über sie getäuscht wird. Da "die Menschen, wo es um Leib und Vermögen geht, nicht ganz unsinnig sind ..... 105, wird ihr Interesse an persönlicher Integrität und individuell verfügbaren Ressourcen für den Fürsten zum Fokus des handlungsrelevanten Wissens über sie. Dabei behandelt er seine Mitmenschen als Individuen, nicht als Angehörige sozialer Klassen. 106 In einer Welt, in der "Weltanschauungen" 102 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 9. - S. 151 [S.78). 103 Sie ist sozusagen die "Kaufkraft", mit der er seine Mitmenschen dazu bewegen kann. an der Realisierung seine Projekts mitzuwirken. Hier ist Kaufkraft freilich in einem sehr spezifischen Sinne zu verstehen: Es handelt sich nicht um die Fähigkeit, positive Sanktionen für Kooperation. also Bezahlung, anzubieten, sondern um ein Zwangspotential, das durch die Androhung negativer Sanktionen Kooperation erzwingt. 104 Th. Hobbes: Leviathan: Kap. XXI. - S. 163. 105 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch III. - Kap. 6. - S. 278. 106 Was unter anderen Mounin bemängelt. Vergl. hierzu: G. Mounin: Machiavel. Paris: 1958. - S. 154. 8 Hegmann
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
kaum noch ihren instrumentellen Charakter verbergen, können solche Klassen ohnehin nicht mehr sein als konkrete Gruppen mit gemeinsamen, sehr diesseitigen Interessen. Wenn diese Gruppen dann auch noch durch soziale Mobilität löchrig werden, ist es sinnvoll, ihre Grenzen nur sehr vage zu definieren und sich auf die materiellen Interessen ihrer Mitglieder zu konzentrieren. Genau das führt Machiavelli durch. Er spricht zwar von den "Reichen", von der "armen Landbevölkerung" oder den "Soldaten", setzt aber in jedem Falle nicht bei einem eventuell vorhandenen "Klassenbewußtsein" dieser Gruppen an, sondern bei ihren unmittelbar individuellen Bedürfnissen. Wie der Fürst im einzelnen vorgeht, wird vom Vermögen bestimmt, über das er verfügt. Bei der Gewinnung von Verbündeten kann er sich weder auf die Dankbarkeit seiner Mitmenschen verlassen, noch auf ihre Rationalität in bezug auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse. Schafft er sich deshalb verläßliche Mitarbeiter nur durch Zwang, so schafft er sich damit keine Freunde. Die eigene Sicherheit durch die Kontrolle anderer zu gewährleisten, geht immer auf deren Kosten. Entweder der Fürst kontrolliert seine Untertanen und realisiert so seine Ziele, oder es ist umgekehrt. Wenn der Fürst schon nicht verhindern kann, Menschen gegen sich aufzubringen, wenn er in jedem Fall Haß erzeugt, eine Leidenschaft, die er an sich scheuen soll wie der Teufel das Weihwasser, so soll er dies zumindest nur dann tun, wenn es sich lohnt. Machiavelli schließt denn auch seine Ermahnung zu Rücksichtnahme mit dem bemerkenswerten Satz: "... denn sich unnützerweise Haß auf den Nacken laden, ist völlig tollkühn und unklug."107 Wenn die Mächtigen es aber schon nicht vermeiden können, gehaßt zu werden, "... so müssen sie sich zuerst anstrengen, daß sie von der Masse nicht gehaßt sind; können sie dies aber nicht erreichen, so müssen sie sich mit allem Fleiße bestreben, den Haß derjenigen Körperschaften zu vermeiden, die am mächtigsten sind."108 Wo sie diese Wahl nicht haben, sollen sie sich die am wenigsten gefährliche Gruppe suchen, sollen sie ausbeuten, um die anderen zufriedenzustellen und ihr dann auf Dauer die Möglichkeit nehmen, gefährlich zu werden: "... man (muß) den Menschen schmeicheln oder sie vernichten ... , denn für leichte Unbilden rächen sie sich, für schwere können sie es nicht ... "109 Wichtig ist also die Minimierung des Schadens, den der Einsatz von Zwangsmitteln hervorruft, sowie die äußerste Zurückhaltung bei der Anwendung von Zwangsmitteln überhaupt. Wo aber Menschen nur durch Zwang gewonnen werden können, werden sie, sobald sie es können, das Joch ihrer Zwingherren 107 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch III. - Kap. 23 - S. 340 [So 265). 108 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 19. - S. 181 [So 101 f.). 109 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 3. - S. 123 [So 55).
3.2. Der Machiavellistische Unternehmer
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abschütteln. Da dies aber gerade dann aussichtsreich erscheint, wenn der Herr zu Gewaltaktionen gegen Dritte schreitet, wenn sie also die Chance haben, die Seite zu wechseln, um in Kooperation mit den Feinden den ungeliebten Herrn zu besiegen, so kann er sich nie auf gepresste Verbündeten verlassen. Der Fürst befindet sich in einer Art Hobbesschem Urzustand in dem er nie hoffen kann, im anderen auf Dauer einen Verbündeten zu haben. Vor allem wenn er einem Opponenten gegenüber steht, der selbst mächtig und möglicherweise zum Vertrauensbruch bereit ist, kann er auf dessen Kooperation nur solange hoffen, wie seine Interessen mit denen seines Gegenüber vollständig parallel laufen, solange also keiner ein persönliches Interesse am Wortbruch hat. In den Discorsi schildert Machiavelli eine bemerkenswerte Konfliktsituation: Nachdem er darauf hingewiesen hat, daß Macht, die ein Untergebener durch Erfolg im Kriege auf sich konzentriert hat, für den Fürsten geHihrlich ist, rät er diesem, entweder die Macht für sich zu erwerben, indem er selbst ins Feld zieht, oder aber denjenigen umzubringen, der ihm einen solchen Dienst geleistet hat. Danach wendet er sich an den General, um ihm dazu zu raten, sich entweder, jedes Mittel zur Rebellion selbst zu nehmen, oder aber alles zu tun, "... damit die Eroberung sein eigen sei, und nicht des Fürsten." Auf diese Weise solle er versuchen, "seinen Herrn für die Undankbarkeit zu strafen, die dieser gezeigt haben würde. "I \0 Machiavelli beschreibt hier die perverse Situation, daß der Fürst, wie der General, prinzipiell durchaus an Kooperation interessiert sein mögen, sie aber nicht verwirklichen können, weil jeder präventiv dem möglichen Verrat des anderen zuvorkommen muß. Diesem Dilemma sehen sich alle Menschen ausgesetzt, die die Ziele und Vorlieben potentiell gefährlicher Mitmenschen nicht kennen. Es kann nur entschärft werden, wenn entweder die Beteiligten einander vertrauen können, oder aber faktisch nicht in der Lage ist, einen solchen Verrat zu begehen. Wo Vertrauen Leichtsinn wäre, muß man mächtig sein, um sich Güte leisten zu können. Wer hierzu Zwang androhen und wo nötig auch ausüben muß, muß von Verbündeten ermächtigt sein, muß auch in ihrem Namen sprechen können, um glaubhaft zu sein. Er braucht also einen Kredit an Zwangspotential, den er zur Stärkung der eigenen Basis einsetzen kann. Dieser Kredit kann nicht ohne weiteres selbst eine Folge von Zwang sein. Ein Minimum muß vielmehr auf freiwilliger Ermächtigung beruhen. Macht wird je stabiler sein, desto mehr Menschen den Herrschenden ermächtigen, desto mehr ihm ihren Arm bei der Durchsetzung seiner Ziele leihen. Auf die freiwillige Übertragung von Macht kann Machiavellis Fürst dabei aber nur bei solchen Menschen hoffen, die unwillens oder unfaltig sind, ihren Herrn bei der erstbesten Gelegenheit zu verraten, die also seine Herrschaft passiv hinnehmen und 110 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 30. - S. 83 f.
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer Wld ihre Kontrolle
sie so implizit akzeptieren. Er muß sich auf Leute stützen, die berechenbarer sind als die Menschen im allgemeinen und diese dann dazu einsetzen, andere zur Kooperation zu zwingen. Da Machiavelli die opportunistische Flexibilität und die Weitsicht, die er von seinen Fürsten fordert, bei den meisten anderen Menschen vennißt, bieten sich dem klugen Fürsten viele Möglichkeiten, sich solcherart das notwendige Machtminimum zu sichern. Verhalten sich Menschen nicht wie reine Machtmaximierer, kann der Fürst dieses Manko ausbeuten. Er widmet sich dabei solange Geschäften, die seinen Ressourcen entsprechen, bis diese eine Größenordnung erreicht haben, die es ihm erlauben, das ganz große Geschäft der Staasgründung anzugehen. D. h. er beginnt bei der Bereitschaft von einzelnen, sich erpressen oder kaufen zu lassen. Das so in seine Verfügungsrnacht übergegangene Zwangspotential, den Profit aus diesem Geschäft, investiert er in ähnliche Geschäfte, wenn möglich größerer Ordnung. Wie ein Unternehmer im engeren ökonomischen Sinne erwirbt er sich im Laufe der Zeit größeren Kredite, indem er über kleinere "Geschäfte" seine unternehmerischen Fähigkeiten unter Beweis stellt. Die Erfolgsaussichten des Fürsten als politischer Unternehmer hängen dabei entscheidend davon ab, wie unfähig seine Mitmenschen sind.!!! Allerdings geht es nicht um Unfähigkeit im Sinne eines absoluten Fehlens, sondern darum, daß sie, relativ zu ihm, unfähiger sind. Wie ein Spieler um so sicherer gewinnt, je schlechter sein Gegner relativ zu ihm ist, so wird der Fürst je leichter Macht anhäufen können, desto weniger seine Mitmenschen bereit sind ihrerseits Machtmaximierung zum zentralen Ziel zu machen. In der Ausbeutung dieser Schwächen muß er die Fähigkeiten des Fuchses nutzen um die eines Löwen zu erwerben. Bei der Beurteilung des Vennögens seiner Mitmenschen muß der Fürst vor allem diejenigen ihrer Handlungsrestriktionen im Auge behalten, die aus ihrer Unfähigkeit entspringen, optimal auf ihre Umwelt zu reagieren. Wer nicht weiß, wann es für ihn besonders erfolgversprechend ist, eigene Wege zu gehen, wird im Ernstfall nicht abspringen. Wichtiger noch als die fehlende Bereitschaft der Menschen, ihre Loyalitäten nach dem Opportunitätsprinzip zu verraten, ist also ihre tatsächliche Unfähigkeit dazu. Sie ist eine entscheidende Landmarke in der Topographie des fürstlichen Handlungsspielraums. Die verlässlichsten Partner zur Zusammenarbeit sind ännere Bevölkerungsschichten, sind diejenigen, die weder über die Mittel noch über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, optimal im eigenen Interesse aktiv zu werden. Bedient sich der Fürst dieser Gruppen, muß er sich weniger vorsehen als bei den Mächtigen: 111 Hier drängt sich die Analogie zu Kirzners Idee des Unternehmers in der Ökonomie schon auf. Je ignoranter die Mitmenschen in bezug auf die Marktpreise sind, je weiter die Preise für ein Wld dasselbe Gut auseinanderklaffen können, desto größer wird der Spielraum für Arbitrage, und desto mehr Kapital zu weiterer Investition hat der Unternehmer für die Zukunft zur Verfügung.
3.2. Der Machiavellistische Unternehmer
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Das schlimmste, worauf sich ein Fürst von feindlich gesinntem Volk gefaßt machen muß, ist, von ihm verlassen zu werden. Von den feindlich gesinnten Großen hingegen muß er nicht nur fürchten verlassen zu werden, sondern, daß sie gegen ihn auftreten. Da sie weiter sehen und mehr Schlauheit besitzen, sind sie bei Zeiten darauf bedacht, sich sicher zu stellen, und suchen sich um den verdient zu machen, von dem sie glauben, daß er siegen wird. 112
Verbündet sich der Fürst also nicht mit den Reichen, sondern mit der einfachen Bevölkerung,ll3 so hat er eine relativ sichere Grundlage für politisches Handeln. Er muß nicht einmal immer ihren Interessen gemäß handeln, wichtig ist nur, ihnen den Eindruck zu vermitteln, daß er es täte. Indem er ihre Wissensdefizite ausbeutet, ihre Unfähigkeit, auf ihre Umwelt angemessen zu reagieren, macht er sie sich zunutze, ohne den Preis zahlen zu müssen, den voll informierte, bewegliche, ihre Alternativen kennende Partner fordern würden. Wie ein Kaufmann, der die Ignoranz seiner Kunden ausbeutet, um ihnen ein Gut teurer zu verkaufen, als es anderswo zu haben wäre, hat der Fürst Spielraum, aus dem anderen mehr herauszuholen, als dieser "objektiv" zu geben gezwungen wäre. Natürlich wird er seine Untertanen tatsächlich schützen, wenn er klug ist, aber er braucht im Umgang mit ihnen nicht so sehr acht zu geben wie im Umgang mit Menschen größerer unternehmerischer Kapazität. Damit stellt sich der Fürst zwar in Opposition zu den Reichen, die ihrerseits hoffen, die Armen ausbeuten zu können ll4 , aber wenn überhaupt ausgebeutet und damit böses Blut geschaffen werden soll, so nur im Interesse des Fürsten und auch dann nur im Notfall. Sind ihm die "kleinen Leute" wohlgesonnen, hat der Fürst eine verläßliche Grundlage für den Aufbau einer Miliz, die aus Bevölkerungsteilen zusammengesetzt ist, denen die Mittel fehlen, selbst unternehmerisch tätig und damit für den Fürsten unberechenbar zu werden. Wenn Machiavelli deshalb für die Miliz nur kleine Leute vom Lande rekrutieren wiII und nicht die Bürger der Städte oder zumindest die Bewohner der größeren Ortschaften der Umgebung 115, die viel mehr Grund haben sollten, ihr Gemeinwesen zu verteidigen, wenn sich der gewöhnlich so scharfsichtige MachiaveJli also kaum um die Anreizstrukturen seiner Milzionäre zu kümmern scheint, so aus dem genannten Grund: Landbewohner sind nicht nur an Härten gewohnt und so die besseren Krieger, sie sind auch berechenbarer als die Stadtbewohner, die jeden Erwerb militärischer Macht gleich in politisches Kapital für individualistische oder nepotistische Ziele umzusetzen drohen. 116 Schafft sich Ma112 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 9. - S. 149 [So 77). 113 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 9. - S. 149 f. [So 77). 114 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 9. - S. 148 f. [So 77). 115 G. Mounin: Machiavel. Paris: 1958. - S. 156. 116 Vergl. auch: "S'il (Machiavelli H.H.) choisit les paysans (pour fonner la milice H.H.), ce n'est pas dans l'intention jacobine de faire naitre une nation fIorentine une et indivisible; c'est tout simplement que les citoyens sont hostiles a ce service militaire pour eux-memes, hostiles a
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
chiavellis Fürst auf diese Art und Weise eine Machtbasis, so kann er "seine Leute" damit beauftragen, andere zum Wohlverhalten zu zwingen und dieses Wohlverhalten als Zwang von wiederum anderen zu defmieren. Um Macht anzuhäufen, kann der Fürst aber neben der Schwäche seiner Mitmenschen auch ihren Unwillen ausbeuten, alles in den Dienst der Machtanhäufung zu stellen. Bestimmte Menschen verfügen beispielsweise über nützliche Fähigkeiten, die sie nicht ohne weiteres in politische Macht umsetzen können oder wollen. Wenn der Fürst beispielsweise Wissenschaftler und Techniker nach Kräften fördert,117 um sich die Früchte ihrer Arbeit für sein Projekt zu sichern, kann er dies tun, ohne befürchten zu müssen, daß sie die Vorteile, die sie daraus ziehen, gegen ihn nutzen werden. Aber nicht nur das Fehlen politischen Ehrgeizes bei den Mitmenschen bietet ihm die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe Macht zu erwerben, auch ihre Kurzsichtigkeit eröffnet Möglichkeiten: Gut angewandt lassen sich (diejenigen Grausamkeiten; H.H.) ... nennen (wenn es erlaubt ist, vom Bösen sich des Wortes gut zu bedienen), die ein einziges Mal, aus der Notwendigkeit, sich zu sichern, geschehen, und mit denen man nicht fortfährt, sondern sie zum größtmöglichen Wohl der Untertanen benutzt. Die übel angewandten sind die, welche, obgleich im Anfang in geringer Anzahl, mit der Zahl eher anwachsen, als daß sie aufhören. Wer auf die erste Weise handelt, mag durch die Hilfe Gottes und der Menschen seinen Thron erhalten ... für die anderen ist es unmöglich ... Grausamkeiten ... muß er alle auf einmal zufügen, damit er sie nicht jeden Tag zu erneuern hat, und damit er, sie nicht erneuernd, die Menschen beruhigen und durch Wohltaten gewinnen kann. 1l8
Wie ein Unternehmer, der seine Profite macht, indem er die Wissensdefizite seiner Mitmenschen zu seinen Gunsten ausbeutet, soll Machiavellis Fürst die notwendigen Schnitte erträglicher machen, indem er der Beschränktheit seiner Mitmenschen Rechnung trägt. Da kein Handeln nur Vorteile bringt und es nur darum gehen kann, Nachteile zu minimieren, muß er sein Handeln, sofern es für seine Mitmenschen nachteilig ist, nach Kräften zu verbergen suchen. Aber der Fürst kann nicht nur vorhandene "irrationale" Haltungen zu seiner Machtanhäufung ausbeuten, er kann sie durch Täuschung aktiv hervorrufen. Je weniger seine Mitmenschen ihrerseits dem Ideal des machiavellistischen Unternehmers entsprechen, desto leichter werden sie seinen Täuschungsmanövern zum Opfer fallen. In der Auseinandersetzung mit solchen Menschen realisiert der Fürst einen Vorteil, der dem eines Schachspielers ähnelt, wenn er gegen einen möglicherweise starken aber irrationalen Gegner spielt. Wie dem Schachspieler während einer Partie jeder Fehler des anderen gelegen kommt, wird dem Fürsten jede "Dummheit" seines Gegners willkommener Anlaß sein, die eigene Position zu stärken. Da es für ihn nicht nur darauf ankommt, wie die l'arrnement des citadins non-citoyens pour des raisons politiques evidentes - et que les paysans sujets des citadins devront, eux, obeir." (G. Mounin: Machiavel. Paris: 1958. - S. 197). 117 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 21. - S. 194 [So 113). 118 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 8. - S. 147 [So 75 f.).
3.2. Der Machiavellistische Unternehmer
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Welt tatsächlich beschaffen ist, sondern zudem darauf, wie seine Mitmenschen sie einschätzen, kann es profitabel sein zu lügen. Machiavelli schreibt dazu: Man könnte ... zeigen, wie mancher Friede, wie viele Versprechungen durch die Treulosigkeit der Fürsten verlacht wurden, und eitel waren; wer am besten den Fuchs zu spielen wußte, kam am besten dabei weg. Es ist jedoch notwendig, daß man diese Natur wohl zu beschönigen weiß, und in der Verstellung und Heuchelei Meister ist. Die Menschen sind so einfältig, sie gehorchen den Bedürfnissen des Augenblicks so sehr, daß der, welcher hintergeht, immer jemand finden wird, der sich hintergehen läßt. 11 9
Lügt der Fürst geschickt genug, kann er auch das Bild, das sich seine Mitmenschen von ihm bilden, zu seinem eigenen Vorteil manipulieren. 120 Er kann so zusätzliches "Kapital" für seine Unternehmungen gewinnen, etwas, auf das er kaum verzichten kann, wenn er in seiner gefährlichen Umwelt überleben will. Wichtig ist dabei vor allem, daß er bei seiner Täuschungsaktion nicht in den Ruf kommt, ein Lügner zu sein. Denn dann findet sich immer seltener jemand, den er hintergehen kann und selbst ehrlich gemeinte Kooperationsangebote werden von den anderen nur noch mit Unglauben quittiert.1 21 Ganz im Sinne der Sophisten argumentiert Machiavelli denn auch, daß es effizienter sei, die Reputation der Tugendhaftigkeit zu erwerben als wirklich tugendhaft zu sein, da man so die Vorteile der Reputation einfahren könne, ohne im Gegenzug dafür auf Handlungsoptionen verzichten zu müssen. 122 Respektiert Machiavellis Fürst also nach außen hin besehende Bindungen, so tut er dies, weil er damit seine Mitmenschen veranlassen kann, in einer von ihm gewünschten 119 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 18. - S. 175 [So 97). 120 Auch hier ist Machiavelli den Sophisten näher als Platon. Interessiert an diesseitigem Erfolg ist es für ihn entscheidend, was die Leute meinen, nicht ob das, was sie denken "wahr" oder "richtig" ist. Meinungen lassen sich manipulieren und der Erfolg dieser Manipulation ist unabhängig von Wahrheit oder Gerechtigkeit. 121 So trifft für den Fürsten zu, was Machiavelli an anderer Stelle als Eigenschaft eines guten Botschafters preist: "Vor allem muß sich ein Gesandter bestreben, Ansehen zu erwerben. Man erwirht es dadurch, daß man sich als Ehrenmann zeigt, daß man für freigebig und bieder, nicht für habsüchtig und falsch gehalten wird, und daß die Leute nicht glauben, man spreche gegen seine Überzeugung. Dieser Punkt ist sehr wichtig. Ich habe manche gekannt, die durch ihre Hinterlist und Doppelzüngigkeit beim Fürsten so sehr allen Glauben verloren, daß sie später nie wieder mit ihm unterhandeln konnten. Wenn es auch manchmal nötig ist, eine Sache durch Worte zu verbergen, so muß man es doch so tun, daß es entweder nicht entdeckt wird, oder wenn es entdeckt wird, daß die Verteidigung sogleich bereit ist." (Machiavelli: "Instruktion für Rafaello Girolami, Gesandter bei Karl V" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 2. - S. 109-113. - S. 111 f.); vergI. auch: "Wie löblich es für einen Fürsten ist, sein Wort zu halten, stets Redlichkeit nicht Arglist zu üben, begreift jeder. Gleichwohl sieht man aus der Erfahrung unserer Zeit, daß diejenigen Fürsten große Dinge getan, die wenig auf ihr gegebenes Wort geachtet haben, und durch Arglist die Köpfe der Menschen zu berücken wußten. Diese Fürsten haben am Ende diejenigen überwunden, die auf Biederkeit bauten." (N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 18. - S. 174 [So 96). 122 Es ist ... für einen Fürsten nicht nötig, alle oben genannten Eigenschaften zu haben aber wohl ist es nötig, daß er sie zu haben scheint. Mehr noch, ich wage zu sagen: hat er sie und bleibt ihnen immer treu, so sind sie schädlich; scheint er sie zu haben, so sind sie nützlich. Scheine mitleidig, treu, menschlich, gottesfürchtig, redlich, wld sei es; bleibe aber stets in deinem Sinne auf solche Weise vorbereitet, daß du zum Gegenteil übergehen kannst, wenn nötig wird, es nicht zu sein." (N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 18. - S. 176 [So 97)).
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
Weise zu handeln. 123 Daß er auch mit System lügen könnte und so zum Ideologen wird, arbeitet Machiavelli noch nicht deutlich heraus. Über die Wirkung solcher Ideologiegebäude ist er sich dennoch sehr wohl im Klaren, was immer dann deutlich wird, wenn er sich mit der Macht der Kirche befaßt. In den Discorsi vertritt er diesbezüglich dieselbe Argumentation wie sie schon der Sophist Kritias formuliert hatte: ... (es) gab ... niemals ein Mann, ohne zur Gottheit seine Zuflucht zu nehmen, einem Volk außerordentliche Gesetze, da sie sonst nicht angenommen worden wären; denn es gibt vieles Gute und in der Folge Wohlthätige, das ein weiser Mann erkennt, das aber keine so augenscheinlichen Gründe hat, um andere davon überzeugen zu können. Kluge Männer nehmen daher zur Gottheit Zuflucht, um diese Schwierigkeit zu heben. 124
Besonders dankbare Opfer sind auch hier natürlich wieder die einfachen Leute, diejenigen, die nicht hinter den Sinn der rein instrumentellen Benutzung der Religion kommen: "Wer in unseren Tagen eine Republik gründen wollte, würde auch ohne Zweifel viel leichter bei den Bewohnern der Gebirge, wo noch keine Gesellschaft besteht, seinen Zweck erreichen, als bei den Städtebewohnern, wo die Gesellschaft verdorben ist ..... 125 Wenn Machiavelli dieser Komponente von Herrschaftslegitimation allerdings relativ wenig Bedeutung für die konkrete Politik zum ißt, so, weil er für Menschen in einer höchst korrupten Umgebung schreibt, für Menschen also, die mit einer religiösen Argumentation kaum auf glaubensbereite "Opfer" stoßen würden. Der bekannte Satz des Nazi-Staatsrechtlers earl Schmitt l26, daß der Florentiner "wenn er Macchiavellist gewesen wäre, statt des Principe wohl eher ein aus rührenden Sentenzen zusammengesetztes Buch geschrieben" hätte,127 verfehlt den entscheidenden Punkt. Wäre Machiavelli tatsächlich überzeugt gewesen, mit Traktaten die Wirkung entfalten zu können, auf die es ihm ankam, hätte er sein schriftstellerisches Talent sicherlich ganz in dieses Unternehmen gesteckt. Wenn er statt dessen auf eine kühle Analyse der Machtverhältnisse setzt, so weil er an123 Meinecke schreibt hierzu: ..... Religion und Moral sanken ... von dem Range der Eigenwerte zu bloßen Mitteln für den Zweck des von virtu belebten Staates herab. Darum konnte er den zweischneidigen Rat geben ... daß man auch die mit Irrtum und Täuschung versetzte Religion stützen müsse, und um so mehr, je klüger man sei ... Wer so dachte, war religiös selber schon entwurzelt. Wo blieb da der letzte, innerste Halt des Lebens, wenn auch die ungeglaubte, die falsche Religion als zweckmäßig gelten konnte und das sittlich Gute zugleich als Produkt der Furcht und der Gewöhnung erschien? In dieser entgötterten Natur blieb der Mensch allein auf sich und die Kräfte, die ihm die Natur verliehen, angewiesen, um den Kampf mit allen Schicksalsgewalten dieser Natur aufzunehmen. So empfand auch Machiavelli seine Lage." (F. Meinecke: Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte. - München: 1925. - S. 44 f.). 124 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 11 - S. 43 f.[S. 157]. 125 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 11 - S. 44 [So 157 f.]. 126 Immer wieder wird zu Recht darauf hingewiesen, daß Schmitts politische Schriften nicht direkt der Nazi-Ideologie zuzurechnen sind. Wer daraus aber den Schluß ableitet, der Verfasser von "Der Führer schützt das Recht" sei kein Nazi gewesen, könnte auch einen sadistischen, an jeder Ideologie uninteressierten KZ-Wärter keinen solchen nennen. 127 C. Schmitt: Der Begriff des Politischen. - Berlin: 1963. - S. 65.
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gesichts des allgemeinen Moralverfalls die Wirkungslosigkeit moralischer Traktate einsah. Wo aber noch Reste von Religion oder staatsbürgerlicher Tugend vorhanden sind, lassen sie sich nach Kräften ausbeuten. Auch sie stellen schließlich für die Mitmenschen Handlungsrestriktionen dar und machen sie so für den Fürsten berechenbarer. Handelt der Fürst deshalb im Einklang mit ihnen, spart er einmal mehr am Einsatz von Zwangsmittel. Machiavelli ist deshalb aus sehr instrumentalistischen Erwägungen auch konservativen Überlegungen nicht abgeneigt. Wie wenig er sich auf den radikalen Putschisten des 7. Kapitels seines Principe festlegen läßt, zeigt seine Bewunderung für die machtstabilisierenden Traditionen auf denen die französische Monarchie ruht. 128 Für wie stark Machiavelli die Wirkung solcher Traditionen hält, zeigt sich vor allem an seiner Einschätzung des Kirchenstaats. Hier seien die überkommenen Regeln und Gebräuche so alt und verwurzelt, schreibt er, daß sie einem Kirchenfürsten die Macht sichern, wie immer er sich auch verhalte. 129 Aber machtstabilisierende Traditionen lassen sich nicht durch clevere Politik herstellen. Der Fürst kann nur die Bedingungen verbessern, unter denen langfristig traditionsbestimmtes Verhalten seiner Untertanen wachsen kann. Zu diesem Zweck muß er, wenn er mit Traditionen bricht, ausgesprochen vorsichtig vorgehen. Erkennen seine Untertanen nämlich sein instrumentelles Verhältnis zur Tradition und sehen sie ein, daß sie nicht auf seinen Schutz vertrauen können, wenn es ihm geraten erscheint, sie der Staatsraison zu opfern, so werden sie beginnen, verstärkt eigennützig zu denken. Sicherlich, sie werden ihm nicht immer auf die Schliche kommen und werden vieles gar nicht erst erfahren. 130 Aber auf Dauer werden sie, wenn der Fürst bei seiner "Realpolitik" nicht vorsichtig verfahrt, die Freiheit, die er sich nimmt, auch für sich beanspruchen. Wenn es deshalb schon unumgänglich ist, Veränderungen vorzunehmen, muß der Fürst versuchen, so weit wie möglich den Anschein von Kontinuität zu wahren: "Da alles Neue die Gemüter der Menschen erschüttert, so muß man sich bemühen, den Veränderungen so viel als möglich vom alten zu lassen, und wenn die Zahl die Machtvollkommenheit und Amtsdauer der Regierungsmit128 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 19.· 5.180 [5.100 f.); ; siehe auch: "Die Fürsten mögen ... wissen, daß sie in der Stunde beginnen, ihren Thron zu verlieren, in der sie anfangen, die Gesetze und die alten Institutionen und Herkommen, unter denen ihr Volk lange Zeit gelebt hat, zu brechen." (N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch 111. - Kap. 5. - S. 57; siehe auch: N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 2. - S. 120 [5. 52 f.)) Das Tradition dem einzelnen nützlich ist, ja es ihm selbst u. U. gut ansteht, traditional zu handeln, ist ein Dauerthema in der Politischen Theorie. Vergl. beispielsweise F. A. HA YEK: "Why I am not a Conservative" in: ders.: The Constitution of Liberty. - London: 1976. - 5.397-414. 129 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 11. - S. 153 [5. 80 f.).; siehe auch: Kap. 19 - S. 186. 130 Siehe auch: ..... die Menschen urteilen im Allgemeinen mehr durch die Augen, als durch die Hände, weil jedermann in der Lage ist, zu sehen, wenige aber in der Lage sind, zu greifen. Jedermann sieht, was du scheinst, wenige durchschauen, was du bist und diese wenigen wagen es nicht, sich der Meinung der Vielen zu widersetzen, die für sich die Majestät des Thrones haben, der sie schützt." (N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 18. - 5.176 [5. 98).
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
glieder geändert wird, wenigstens die Titel beibehalten."131 Aber aller Vorsicht zum Trotz bleibt die traditionell oder religiös begründete Loyalität ein ausgesprochen knappes Gut, mit dem der Fürst genauso haushalten muß wie mit der aus Unwissenheit herrührenden Loyalität seiner Untertanen. Da er mit jedem Traditionsbruch, mit jeder Grausamkeit und mit jedem Bauernopfer für die eigenen Interessen, den gewachsenen Strukturen etwas von ihrer Glaubwürdigkeit nimmt und sich so unter den Zwang setzt, sie durch offene Gewalt zu ersetzen, wird er bei jeder Schwächung der "guten" Ordnung sorgsam Kosten und Nutzen gegeneinander abwägen müssen. Langfristig wird er sich nur behaupten können, wenn er das soziale Kapital, das er auf Kredit erwirbt, in die Schaffung wirklicher Macht investiert, d. h. einsetzt, um die Interessen der Menschen wirklich zu den eigenen parallel laufen zu lassen. 3.2.3. Der Einsatz von Gewaltmitteln zum Machtgewinn
Jeder kleinste Profit in Form von Verfügung über Gewaltmittel, der durch die Benutzung der anderen gemacht werden kann, ist zu reinvestieren, um zufällige Parallelen zwischen den eigenen Interessen und denen der Untertanen auszubauen. Will der Fürst langfristig an der Macht bleiben, hat er also keine andere Wahl, als "sein" Kollektiv in Ordnung zu halten. Im Prinzip kann er zwei alternative Wege einschlagen, um seine Untertanen daran zu hindern, ihm zu schaden: "(Dies ... ; H. H.) erreichst du entweder dadurch, daß du dich ihrer vollkommen versicherst, indem du ihnen die Möglichkeit zu schaden entziehst; oder dadurch, daß du ihnen so viel Gutes erzeigst, daß sie keine gegründete Ursache haben, eine Änderung ihres Zustandes zu wünschen."132 Bei der Organisation seines Gemeinwesens hat der Fürst ebenso zu verfahren wie bei der Erringung individueller Macht, nur daß er diesmal die Umwelt seiner Mitmenschen als Gesamtheit in seinem Sinne zu verändern sucht. Er verändert nicht mehr die Kostenstruktur für einzelne Individuen, sondern für die Gruppe insgesamt, indem er allgemein den Preis für unerwünschtes Verhalten erhöht und den für erwünschtes subventioniert. Wie weit er dabei geht, wie sehr er seine Untertanen kontrolliert oder wieviel Freiheiten er ihnen läßt, die sie möglicherweise gegen ihn nutzen könnten, hängt davon ab, in welcher äußeren Situation er sich befindet. Reicht es ihm seine Position in relativer äußerer Sicherheit zu konsolidieren, kann er seine Untertanen an der kurzen Leine halten, da er auf ihre eigenen unternehmerischen Fähigkeiten nicht angewiesen ist. Braucht er, angesichts starker äußerer Feinde, einen mächtigen expansiven Staat, so muß er unternehmerische Fähigkeiten freisetzen, auch wenn er damit auf Kontrolle verzichtet: 131 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch J. - Kap. 25 - S. 76 f. [So 177]. 132 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch II. - Kap. 23 - S. 228.
3.2. Der Machiavellistische Unternehmer
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... nie kann man einen Übelstand vermeiden, ohne daß ein anderer daraus entstünde. Willst du daher ein zahlreiches bewaffnetes Volk, um ein mächtiges Reich zu gründen, so kannst du es nicht nach deinem Willen lenken; willst du es klein oder waffenlos, um es lenken zu können, so kannst du es, wenn es sich vergrößert, nicht im Zaume halten, oder es sinkt so tief, daß es Beute eines Angriffes wird. Wir müssen also ... erwägen, auf welcher Seite die wenigsten Übelstände sind .... 133
Handel beispielsweise korrumpiert ein Gemeinwesen,l34 andererseits aber bringt der Umgang mit Fremden Wohlstand, neue Siedler und damit mehr Macht ins Land.\35 Welches der mit beiden Alternativen verbundenen Übel er in Kauf nimmt, läßt sich nur bei Würdigung des konkreten Einzelfalles entscheiden. Wichtig ist jedenfalls, keinem Mächtigen im Inneren die Chance zu einem Aufstand zu lassen, ihm die Macht streitig zu machen. Vor allem wenn er Kriege führen will, d. h. wenn er seinen Machtbereich durch profitable Unternehmen auswärts vergrößern will, um Kapital für neue Investitionen zu erwerben,136 bzw. wenn er entsprechende Versuche seiner Nachbarn abwehren muß (und an der Notwendigkeit dazu läßt Machiavelli keinen Zweifel), hat er sich gleichzeitig vor einem Machtgewinn einzelner Untertanen in acht nehmen. Vor allem Söldner sind gefährlich, deren Macht man stärkt, indem man sie für ihre Dienste bezahlt und ihnen außerdem die Gelegenheit gibt, sich im Kampf Ansehen zu verschaffen. Gewaltmittel in den Händen von Söldnern bilden leicht eine Macht im Staate, die man nicht kontrollieren kann. Machiavelli wird nicht müde, auf diese Tatsache hinzuweisen. I 37 Militärische Macht in den Händen von Menschen, die selbst ehrgeizige Ziele haben, ist immer gefährlich, denn "... die fremden Waffen fallen dir entweder vom Leibe, oder sie sind dir zu schwer oder sie zwängen dich ein."138 Die einzige Möglichkeit, dieser Gefahr zu entgehen, ist es, wie gesagt, selbst und mit eigenen Truppen in den Krieg zu ziehen, wo es notwendig ist.\39 Aber nicht nur Soldaten können dem Fürsten gefährlich werden. Auch Untertanen, die über Reichtum und damit über das Vennögen verfügen, Menschen an sich zu binden, können gefährlich werden. Gerade wenn der Fürst ihren Besitz garantiert, können sie Reichtum als Mittel zum Machterwerb anhäufen, womit ihr Reichtum, wie die militärischen Erfolge der Generale zu einer durchaus zwiespältigen Sache werden. Ei133 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 6 - S. 26 [5. 144). 134 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 55 - S. 138 [5. 206). 135 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch 11. - Kap. 3 - S. 167. 136 Auch für diese Strategie führt Machiavelli als Beispiel die Römer an, die systematisch dafür sorgten, daß ihre Kriege Machtgewinn zur Folge hatten und so Investitionen in die Zukunft waren. Vergl. hierzu: N. Machiavelli: "Betrachtungen ..." Buch 11. - Kap. 6 - 5.175 ff. [5. 217 ff.). 137 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 12. - S. 157 [5. 82 f.). 138 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 13. - S. 163 [5. 88]. 139 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 30 - S. 83.
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
nerseits ist es wichtig für den Fürsten, daß sein Staat reich und mächtig ist, andererseits kann sich genau dies gegen ihn richten, wenn einflußreiche Untertanen seiner Kontrolle entgleiten. Er muß deshalb gerade bei den Reichen sorgfaltig zu unterscheiden lernen: Die Großen sind hauptsächlich in zweierlei Hinsicht zu betrachten. d. h. sie richten entweder ihre Handlungsweise so ein. daß sie sich dir und deinem Glück völlig anschließen oder nicht. Die. welche sich dir anschließen und nicht raubgierig sind. mußt du ehren und lieben. Die. welche sich dir nicht anschließen. sind wieder in zweierlei Hinsicht zu betrachten. Entweder. sie handeln so aus Zaghaftigkeit und natürlichem Mangel an Mut. und dann mußt du dich ihrer bedienen. und besonders derer. die gute Ratgeber sind. denn im Glücke bringen sie Dir Ehre und im Unglück hast du sie nicht zu fürchten. Wenn sie sich dir aber absichtlich und aus ehrgeizigen Ursachen nicht anschließen. dann ist es ein Zeichen. daß sie mehr an sich als an dich denken. Vor diesen muß der Fürst sich hüten. und sie fürchten. wie wenn es offene Feinde wären. denn im Unglück werden sie ihn immer stürzen helfen. 140
Aber nicht nur mächtige einzelne bedrohen möglicherweise die Stellung des Fürsten, er muß sich auch vorsehen, daß sich keine Koalitionen gegen ihn bilden. Zu diesem Zwecke kann er versuchen, seine Untertanen uneins zu halten, sie gegeneinander auszuspielen und sie isoliert zur Kooperation zu zwingen, da sie dann gar nicht auf die Idee kommen, sie könnten zusammen den Eingriff abwehren. So läßt Machiavelli den Protagonisten seiner Kunst des Krieges raten: Fabrizio Colonna: ... Wenn ihr haben wollt. daß viele Menschen oder Völker etwas tun. was euch nützlich ist. und ihnen zum großen Schaden gereicht. als. die Mauem niederreißen oder viele Bürger aus der Stadt verweisen. so müßt Ihr sie so täuschen. daß eine jede Stadt glaubt. es gehe sie nichts an. damit sie sich einander nicht unterstützen und dann alle ohne Rettung unterjocht sind. Oder ihr müßt alles was sie tun sollen an demselben Tag befehlen. damit jede im Glauben. ihr allein sei es befohlen worden. an Gehorsam. nicht an Widerstand denkt; so werden. ohne Aufstand. von einer jeden eure Befehle ausgeführt werden.l 41
Aber die Isolierung der einzelnen kann natürlich nur eine kurzfristige Lösung sein. Isoliert der Fürst langfristig seine Untertanen voneinander, um sie leichter in Schach halten zu können, wird ihr Nutzen bei der Abwehr innerer oder äußerer Feinde entsprechend geringer werden. Gerade die Reinvestition ihrer Macht in zusätzliche Gewaltmittel würde behindert. Die Parole teile und herrsche kann deshalb nur in bezug auf Feinde gelten l42 und selbst dort nur solange, wo diese sich nicht auf Dauer in Verbündete verwandeln lassen. Im Principe l43 wie in den Discorsi l44 lehnt Machiavelli die These ab, daß die Stadt 140 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 9. - S. 149 [5. 77).
141 N. Machiavelli: "Die Kunst des Krieges". - in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 3. - Buch 6. S.155. 142 "Unter allen seinen anderen Handlungen muß ein Feldherr mit aller Kunst auf Mittel sinnen. die Streitkräfte des Feindes zu teilen. entweder indem er ihm die Männer. in die er Vertrauen setzt. verdächtig macht. oder indem er ihm Ursache gibt. seine Truppen zu teilen. und sich durch diese Teilung zu schwächen." (N. Machiavelli: "Die Kunst des Krieges". - 5.1-198 in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 3. - Buch 6. - S. 157). 143 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 20. - 5.188 [5. 107).
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Pistoia am sichersten durch das Schüren von Parteistreitigkeiten zu halten sei. Wo Parteienhader die Einmütigkeit der Bürgerschaft zerstöre, sei kaum zu erwarten, daß man im Notfall auf ihre rechnen könne. Allzuleicht werde der Fürst nämlich selbst zur Partei und verliere so die Unterstützung eines Teils seiner Untertanen. Besser sei es deshalb, stets ausreichende Gewaltrnittel in Bereitschaft zu halten, um alle wo nötig unter Kontrolle zu halten. 145 Die Bereitschaft Zwang zu üben, verbunden mit dem Ruf, entschlossen gegen alle feindlichen Akte vorzugehen und nur gegen diese, macht diese Akte teurer und so weniger wahrscheinlich. Anders ist es, wenn sich die Untertanen von ihrem Fürsten befreien wollen. In diesem Falle muß er Zwietracht sähen, wenn er sie an einer koordinierten Aktion gegen ihn hindern will. Allerdings schwächt er so auch seine eigene Basis, und wird sich auf diese Weise kaum lange an der Macht halten. Es ist nur mit einem sehr kurzsichtigen Nutzenkalkül vereinbar, wenn Machiavelli an einer Stelle seiner Discorsi schreibt: ... (wenn) eine Tyrannei auf die Freiheit folgt, (ist) das geringste Übel, ... nicht mehr fortzuschreiten. nicht mehr an Macht und Reichtum zuzunehmen.... Wollte auch das Geschick, daß sich ein tapferer Tyrann erhöbe. der durch Mut und Waffen ruhm sein Gebiet vergrößerte, so würde daraus der Republik kein Vorteil entspringen, sondern nur ihm allein. Er kann den Verdienstvollen und Tugendhaften unter seinen Mitbürgern, die er in unrechtmäßiger Weise beherrscht, keine Staatsämter erteilen, wenn er nicht in ständigem Argwohn und Mißtrauen gegen sie leben will ... (die) Hauptstadt mächtig zu machen, liegt nicht in seinem Interesse. sondern sein Interesse fordert, daß er den Staat zersplittert erhalte, und das jede Stadt und jede Provinz ihn allein als Herrn anerkenne .... 146
Die Differenz, die Machiavelli hier zwischen dem Wohl des Tyrannen und dem seiner Untertanen einführt, hebt er jedesmal dann auf, wenn er betont, daß Tyrannen unsicher leben und in der Regel schnell ihre Macht verlieren, wenn sie sich nicht zu wirklichen Fürsten wandeln. 147 Die Ausnutzung der Schwächen der Mitmenschen zur Schaffung einer eigenen Machtbasis, und die Erzwingung von Gehorsam mit Hilfe der so gewonnenen Macht ist schließlich ein gefährliches Unterfangen. Nicht nur können die Verblendeten irgendwann klarer sehen, die Schwachen sich andere Verteidiger suchen, und die Unterdrückten Gegenkoalitionen bilden, auch mögen sich die unternehmerischen Kapazitäten des Fürsten selbst als zu begrenzt erweisen 148, um die labile auf Furcht 144 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch lIl. - Kap. 27 - S. 347. 145 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch II. - Kap. 24 - S. 233. 146 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch II. - Kap. 2 - S. 162. 147 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 16. - S. 57 [So 168]; vergl. auch: N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 19. - S. 178 f. [So 100]. 148 Vermutlich hätte Machiavelli die Formulierung Schumpeters problemlos auf seine politischen Unternehmer anwenden können, welm dieser schreibt: ..... one may say with Marshall, that the size of an entreprise ... tends to adapt itself to the ability of the entrepreneur. If he exceeds his personallimitations, resultant failure will trim the size of his enterprise; if he lacks the capital to exploit such personal ressources as he does possess, he is likely to find the necessary credit." (J. Schumpeter: "Social Classes ..... S. 121) Freilich gilt dies nur dort, wo die Ressourcen für unternehmerische Aktivität gegeben sind. Ein Bergmann im Vereinigten Königreich des 19. Jhds. mag
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
und kurzfristigem Vorteil beruhende Ballance der politischen Kräfte aufrecht zu erhalten. 149 Um sich zu entlasten, muß der Fürst deshalb versuchen, die Bedürfnisse seiner Untertanen so weit wie möglich zu befriedigen. Auch wenn er sich dann immer noch nicht auf ihre Loyalität verlassen kann, nimmt er ihnen doch Gründe zur Rebellion. Indem er versucht den Abstand zwischen ihren Interessen und den seinen so klein wie möglich zu halten, minimiert er die notwendige "irrationale" Loyalität seiner Untertanen und den für den Machterhalt notwendigen Einsatz von Zwangsmitteln. Gelingt es ihm, die Interessen seiner Untertanen zu befriedigen, entzieht er Aufrührern den Boden und zwar auch solchen, die nicht vor allem ihre individuellen Interessen im Auge haben, sondern ihr "Vaterland" befreien wollen. ISO Was dabei für die Befriedung eroberten Territoriums gilt, ist ebenso gültig für die Verwaltung des eigenen: Ein Fürst, der ein feindlich gesinntes Volk gewinnen will (ich spreche hier von den Fürsten, die Tyrannen ihres Vaterlandes geworden sind), muß zuerst untersuchen, was das Volk wünscht. Immer wird er finden, daß es zwei Dinge wünscht, erstens Rache an denen, die Ursache seiner Knechtschaft sind, zweitens Wiedererlangung seiner Freiheit. Dem ersten Wunsch kann der Fürst ganz, dem zweiten zum Teil Genüge leisten .... Was den ... Wunsch des Volkes, seine Freiheit wieder 111 erlangen, betrifft, so muß der Fürst, da er ihn nicht gewähren kann, untersuchen, aus welchen Gründen es frei zu sein verlangt. Er wird finden, daß ein kleiner Teil frei zu sein wünscht, um zu befehlen, alle anderen aber, die unverhältnismäßig größere Zahl, die Freiheit wünschen, um sicher zu leben .... (diejenigen denen es hinreicht), in Sicherheit zu leben, werden leicht zufriedengestellt, wenn man Einrichtungen macht und Gesetze gibt, wodurch im Einklang mit der eignen Macht, die öffentliche Sicherheit erhalten wird. Tut dies ein Fürst, und sieht das Volk, daß er bei keiner Gelegenheit diese Gesetze bricht, so wird es bald sicher und zufrieden zu leben anfangen.l Sl
Die wenigen, die dennoch den Tod des Fürsten wollen, die ihn hassen oder in ihm ein Hindernis ihrer eigenen Ambitionen sehen, können leicht unschädlich gemacht werden. Dann muß der Fürst nur noch darauf achten, daß er sich im engeren Umfeld keinen neuen Haß zuzieht. 1S2 Die aufsehenerregendsten, weil "bösen", Ratschläge an den Fürsten waren Ratschläge für den Notfall. Sie waren das kleinere Übel, mit dem der Fürst zwar seine Mitmenschen vor den Kopf stieß, mit dem er aber, klug vorgegangen, genau die Gewaltmittel erwarb, die er brauchte, um sie im eigenen Interesse zu "bessern". Indem er ihre unerbemerkenswertes untemehmerisches Geschick sein eigen genannt haben, aber allzuwenig Möglichkeiten, sie auch zu entwickeln. 149 Hier nimmt Machiavelli eine altes Thema der politischen Theorie auf. Schon Th. v. Aquin hatte geschrieben: "Die Furcht ... ist eine hinfällige Grundlage. (Untertane) (d)ie sich nur aus Furcht unterwerfen, erheben sich, sobald sich ihnen eine Gelegenheit bietet, bei der sie Straflosigkeit erhoffen dürfen, um so leidenschaftlicher gegen ihre Führer, je mehr sie früher gegen ihren innersten Willen allein durch die Furcht niedergehalten wurden. Es ist wie beim Wasser, das, sobald es einen Ausgang gefunden hat, nur um so heftiger ausfließt, wenn es vorher mit Gewalt eingeschlossen wurde." (Tb. von Aquin: Ober die Herrschaft der Fürsten. - Stuttgart: 1981. - S. 42. f). 150 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch III. - Kap. 6. - S. 276 [So 241 f.). 151 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 16. - S. 57 f. [So 168 f.]; siehe auch: N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 19. -S.178 [So 1(0). 152 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 19. - S. 177 f. [So 99).
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wünschten Handlungsaltemativen verteuerte, handelten sie eher in seinem Sinne, wurden aus seiner Sicht "besser", da es auf ihre Intentionen ja nicht ankam. Wenn er nun im eigenen Interesse seinen Untertanen gegenüber sein Wort hält, kann er es sich leisten, kann "auf menschliche Art kämpfen", weil er sie ihrerseits gegebenenfalls zur Gegenleistung zwingen könnte. In der Form eines Vertrages kann er nun ihre freiwillige Zustimmung zu Handlungen erringen, die er vorher mit Gewalt hätte erzwingen müssen. Er nötigt also seine Mitmenschen in seinem wie ihrem Interesse zu einer "menschlichen Kampfesweise",153 die die Verschwendung, die mit dem Konflikt verbunden ist, auf ein Minimum reduziert. Die "zivilisierteren" Methoden, einen Staat zu führen, sind so zu den effizienteren geworden. Jeder "Rückfall in die Barbarei" kann die Stellung des Fürsten nur unsicherer machen. 154 Hat er sich erst wirksam vor Betrug oder Verrat geschützt, kann er sich im eigenen Interesse mit ganzem Herzen der Besserung des Loses seiner Untertanen widmen. Deren vorrangiges Interesse ist die Sicherheit von Leib und Leben, deshalb achtet er es, wo immer er kann. 155 Neben ihrem Leben ist ihr Eigentum das wichtigste Gut, das er achten und schützen muß. Deshalb muß ein kluger Fürst bei den Staatsausgaben so sparsam wie möglich sein, weil er nur so immer ein ausreichendes Einkommen haben wird, ohne den Besitz seiner Untertanen über Gebühr zu strapazieren. 156 Überhaupt müssen die Untertanen so weit wie möglich sicher sein können, vom Fürsten nicht ausgenommen zu werden, "... denn leichter vergißt der Mensch die Ermordung seines Vaters, als daß er den Raub oder Verlust seines Erbteils verzeiht."157 An anderer Stelle weist Machiavelli darauf hin, daß sich Gründe für 153 Ein kluger Herrscher also kann weder, noch soll er sein Wort halten, wenn ihm dies Nachteil bringt, und wenn die Ursachen, die ihn zum Versprechen bewogen hallen, nicht mehr bestehen. Wären die Menschen alle gut, so würde diese Vorschrift nicht gut sein; da sie aber böse sind, und dir nicht Wort halten würden, so brauchst Du sie auch nicht zu halten." (N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 18. - S. 175 [So 97]). 154 Auch hier ist die Differenz zur Tradition nicht so bedeutsam wie es scheint. Wenn auch mit anderer Begründung kommt auch Cicero zu diesem Schluß: "(Für Verhandlungen mit dem Volk lautet) der erste und wichtigste Grundsatz. .. : "Gewalt soll nicht angewandt werden." Denn nichts ist verderblicher für die Staaten, nichts so sehr dem Recht und den Gesetzen zuwider. nichts barbarischer und unmenschlicher, als wenn in einem wohlgeordneten Staat etwas mit Gewalt durchgesetzt wird." (Cicero: Über die Gesetze. - Reinbek: 1969. - Buch III. - S. 88 (Buch III. XVIII/42»; auch das hat Machiavelli im Auge, wenn er in der Kunst des Krieges den Feldherrn Fabrizio Colonna ausrufen läßt: " Meine Römer dienen mir immer zum Muster. Wenn man ihre Verfassung und die Ordnung ihres Gemeinwesens untersucht, so la~sen sich eine Menge Gebräuche finden, die in einem Staat, wo noch ein Rest von Guten übrig ist, einzuführen nicht unmöglich wäre." N. Machiavelli: "Die Kunst des Krieges" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 3. - Buch 1. - S. 8. 155 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 17. - S. 173 [So 95); vergl. auch: N. Machiavelli: "Betrachtungen ..." Buch 111. - Kap. 23. - S. 340 [So 265). 156 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 16. - S. 169 f. [So 92 f.). 157 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 17. - S. 169 [So 95); vergl. auch: N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch III. - Kap. 23. - S. 340 [So 265); sowie die Fußnote von Gilbert in seiner englischen Ubersetzung mit einem Machiavelli-Zitat aus Tommasini: "Men feel more sorrow for a
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
eine Enteignung immer finden ließen,158 wobei er wohl auch den Sachverhalt im Auge hat, daß die Untertanen jeden solchen Akt ohnehin fürstlicher Habsucht zuschreiben werden. Die empfohlene Zurückhaltung gilt natürlich nur bei Leuten, von deren Wohlwollen sich der Fürst etwas verspricht. Die anderen sind zur Ausbeutung freigegeben: Der Fürst gibt entweder sein und seiner Untertanen Eigentum aus, oder fremdes. Im ersten Falle soll er karg sein, im zweiten soll er mit vollen Händen geben. Der Fürst, der Eroberungskriege führt, deren Beute, Plünderung und Brandschanzung die Kasse füllen, der mit fremdem Eigenturne schaltet, für diesen ist diese Freigebigkeit notwendig, sonst würden ihm die Soldaten nicht folgen ... das Verschwenden fremden Eigentums (benimmt) deinem Rufe nichts, ... Nur das Verschwenden deines Eigentums ist's, was dir schadet. 159
Dies trifft nur dann nicht zu, mag man im Sinne des Autors hinzufügen, wenn man sich die Bevölkerung des eroberten Landes zu Freunden machen möchte. Wenn Machiavelli seinem Fürsten rät, die Interessen seiner Untertanen in die eigene Kalkulation einzubeziehen, so beschränkt er übrigens sich nicht auf materielle Interessen. Nachdem er erläutert hat, warum sich der Fürst keinen Haß zuziehen soll, indem er seinen Untertanen die Möglichkeit nimmt, Geld zu verdienen, fährt er fort: "An zweiter Stelle kommt der Schein des Hochmuts und der Aufgeblasenheit; das Gehässigste, was es für Völker, und besonders für freie Völker, geben kann. Obgleich ihnen aus diesem Stolz und Prunk kein Schaden erwächst, so hassen sie doch den Mann, der ihn zeigt."l60. Diese Empfehlung zur Zurückhaltung mag ihren Grund darin haben, daß der Stolze zeigt, daß er auf die Interessen seiner Umgebung keine Rücksicht zu nehmen braucht, womit er seine Untertanen in Unsicherheit versetzt. Die kurzfristige Förderung der Interessen seiner Untertanen ist für den Fürsten zwar notwendig, aber nicht hinreichend, um sich ihre Ermächtigung zu sichern. Wenn sie nicht auf lange Sicht die Hoffnung haben können, in Sicherheit zu leben, werden sie sich nach einer Ordnung sehnen, die die Befriedigung ihrer individuellen Interessen auch langfristig sichert. 161 Der kluge Fürst muß ihnen deshalb durch eine stetige Politik Sicherheit bieten, er soll ihnen zeigen "... daß sie ruhig ihr Handwerk treiben können, sei es Handel, Ackerbau, oder jedes andere menschliche Geschäft, damit sich nicht der eine enthalte seine Besitzungen auszuschmücken aus Furcht, sie möchten ihm genommen werden, fann laken away from them than for a brother or a father put to death, because sometimes death is forgotten, but property never. The reason is dose to the surface, for everyone knows that a brother cannot rise up again because of a change in government, but there is a possibility of getting a farnl back" (N. Machiavelli: The chief works and others. - Bd. I. - S. 63 Anm.) siehe hierzu auch: A. H. Maslow: Motivation und Persönlichkeit. - Reinbek: 1989. - S. 59. 158 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 17. - S. 173 [So 95). 159 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 16. - S. 170 (S. 93). 160 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch III. - Kap. 23. - S. 340 [So 265). 161 Vergl. auch: N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 45. - S. 116.
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der andere einen Handel anzufangen aus Furcht vor den Auflagen."162 Im Gegenteil soll der Fürst Preise für diejenigen aussetzen, die "auf irgendeine Art" ihr Gemeinwesen "zu verherrlichen gedenken. 163 Dem Ziel, den Bürgern Sicherheit zu gewähren, dient auch der Erlaß positiver Gesetze. Auch hier wieder geht es nicht um "Gerechtigkeit", sondern nur darum, daß der Fürst im eigenen Interesse versucht, eventuell anfallende Konflikte und damit Reibungsverluste im Umgang seiner Untertanen miteinander, nach Möglichkeit zu minimieren. Machiavelli versteht also unter Gesetzgebung nicht mehr als die Normierung der Anwendung fürstlicher Gewalt, um diese für die Untertanen berechenbar zu machen. Damit ist positives Recht einfach das effektivste Mittel, die eigene Position zu stärken. Jeder Bruch des so erzeugten Vertrauens verunsichert die Untertanen und reduziert seine Macht. Wenn der Fürst bei all dem in den Ruf der Rechtschaffenheit gerät und sich bei seinen Untertanen beliebt macht, so stärkt das nur seine Position. Daß er sich dabei für den Notfall die Hände frei halten muß, versteht sich. Verfährt er geschickt, läßt die Politik, die Machiavelli ihm ans Herz legt" ... einen neuen Fürsten als einen alten erscheinen; sie macht ihn sogleich sicherer und fester in seinem Staate, als wenn er ihn durch seine Voreltern besäße."I64 Hat der Fürst die Verhältnisse seiner Untertanen zueinander effizient geregelt und ihnen die Sorge vor Übergriffen durch andere weitgehend genommen, so bleibt es eine Frage vertrauensbildender Maßnahmen, inwieweit ihm die Untertanen die so zur Schau gestellte Rechtschaffenheit abnehmen. Zu diesen Maßnahmen kann es gehören, sie an der Staatsverwaltung teilhaben zu lassen. 165 Diese Idee findet praktische Anwendung in Machiavellis Vorschlägen an Leo X bezüglich der Verfassungsreform für Florenz. 166 An Mitsprachemöglichkeiten ist besonders nützlich, daß sich der Fürst hinter ihnen verbergen kann, wenn er unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen hat. Frankreich ist für Machiavelli ein Staat, in dem diese Aufgabe beispielhaft gelöst wurde: (In Frankreich gibt es) ... eine Menge guter Institutionen, wovon die Freiheit und Sicherheit des Königs abhängt. Die erste davon ist das Par1ament 167 und seine Machtvollkommenheit. Der,
162 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 21. - S. 170 [So 113). 163 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 21. - S. 170 [So 113]. 164 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 24. - S. 198 [So 116]. 165 Auch hier befindet sich Machiavelli auf vertrautem Grund. Schon Cicero verteidigte die Einsetzung von Volkstribunen zur Aussöhnung des Volkes mit der Herrschaft. (siehe hierzu: Cicero: Über die Gesetze. - Reinbek: 1%9. - Buch III. - S. 79 f. (Buch III. X/23 f.». 166 N. Machiavelli: "Denkschrift über die Reform des Staates von Aorenz" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 2. - S. 108 [So 357]. 167 Womit nach heutigem Sprachgebrauch eher ein oberster Gerichtshof gemeint ist. 9 Hegmann
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
welcher diesem Reiche seine Vetfassung gab, kannte den Ehrgeiz der Großen und ihren Übermut, und hielt deshalb einen Zügel in ihrem Munde für notwendig, sie zu bändigen. Auf der anderen Seite kannte er den Haß der Massen gegen die Großen, der aus Furcht henührt, und wollte sie beruhigen. Dies sollte jedoch nicht die persönliche Sorge des Königs sein, damit er sich nicht die Vorwütfe der Großen zuzöge, wenn er das Volk begünstigte, und die Vorwütfe des Volkes, wenn er die Großen begünstigte, er setzte daher einen dritten Richter ein (das Parlament; H. H.), damit dieser es sei, der, ohne daß es dem König zur Last falle, die Großen züchtige und die Kleinen begünstige. Dies konnte nicht besser, noch klüger, noch eine kräftigere Ursache der Sichemeit des Königs und des Reiches sein.1 68
Solange der Fürst von außen und innen permanent bedroht ist, ist die stabilste Ordnung und damit auch die beste Ordnung für ihn eine Mischform aus den klassischen Grundformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Mit Aristoteles l69 und Cicero l7o spricht sich denn auch Machiavelli für eine solche Mischform aus, denn "(d)iese hielten sie ... für die festeste und dauerhafteste, da Monarchie, Aristokratie und Demokratie in einem und demselben Staate vereinigt, sich gegenseitig bewachen."171 Der Tyrann war auf ein straff hierarchisches System angewiesen, auf Vasallen, die ihrerseits über Gewaltmittel verfügten und von ihm vollständig kontrolliert wurden. Je weiter der Fürst sich von dieser auch für ihn gefährlichen Staatsform entfernt, desto demokratischer muß er den Staat gestalten, desto mehr Rechte muß er seinen Untertanen einräumen. Bis hierher ist die Gewaltenteilung ein Vorschlag an den Fürsten, seine Herrschaft durch die Ersetzung von Gewalt durch Macht zu stabilisieren, was in seinem eigenen Interesse liegt, um langfristig seine Herrschaft abzusichern. 172 Nun aber empfiehlt Machiavelli seinem Fürsten, noch einen Schritt weiterzugehen, wenn er als gut und gerecht in die Geschichte eingehen will. Dann nämlich muß er langfristig die Kontrolle über die GewaItmittel in die Hände des Volkes zurückzulegen. Mit diesem Schritt verläßt Machiavelli die Ratgeberschiene seiner übrigen Argumentation. Er schreibt im Zusammenhang mit den Schöpfungen wirklich "utilitaristischer" Staatsgründer:
168 N. Machiavelli: "Der Fürst" Kap 19. - S. 180 [So 100 f.]; vergl. auch: N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch J. - Kap. 16. - S. 58 [So 169]. 169 Aristoteles: Politik. - Stuttgart: 1989. - S. 224 ff. [1295a (25)]. 170 Cicero: "Über den Staat" in: Staatslehre, Staatsverwaltung. - (Oe Republica). - (Übers. u. hrsg. v. Karl Atzert). - München: o. J. - Buch J. S. 41 ff. 171 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch 1. - Kap. 2. - S. 15 [So 135]. 172 Sind die Verhältnisse entsprechend, nähert sich Machiavellis Fürst im Handeln, wenn auch nicht in den eigenen Überzeugungen dem Bild des guten Fürsten an, daß die mittelalterliche Fürstenspiegelliteratur entwickelte. Born faßt diese wie folgt zusammen: In summary we may say that the petfect prince of the thirteenth and fourteenth centuries must be wise, self-restrained, just; devoted to the welfare of his people; a pattern in virtues for his subjects; interested in economic developments, an educational program, and the true religion of God; surrounded by efficient ministers and able advisers; opposed to aggressive war, and, in the realization that even he is subject to law, and through the mutual need of the prince and his subjects, zealous for the attainment of peace and unity. (L K. Born: "The Petfect Prince... " S. 503 f.).
3.3. Die Abwehr politischer Unternehmer in der Republik
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(Der weise Staatsgriinder H. H.) muß jedoch so weise und wohlmeinend sein, daß er die Gewalt, die er sich genommen hat, nicht einem anderen erblich hinterläßt; denn da die Menschen viel geneigter zum Bösen als zum Guten sind, so könnte sein Nachfolger die Gewalt zu herrschsüchtigen Zwecken benutzen, die er zu edlen Zwecken benutzte. Wenn ferner auch ein einzelner Mann geschickt ist, eine Verfassung zu geben, so ist doch diese nicht von langer Dauer, wenn ihre Erhaltung auf den Schultern eines einzelnen Mannes ruht; wohl aber, wenn Viele dafür Sorge tragen. So nämlich wie Viele nicht geeignet sind, ein Staatswesen zu ordnen, weil sie bei ihrer Meinungsverschiedenheit das beste desselben nicht erlcennen, eben so wenig vereinigen sie sich dazu, es wieder fahren zu lassen, wenn sie es einmal erlcannt haben. 173
Diese Stelle findet sich nicht zufällig in den Discorsi und nicht im Principe. Wenn man sie nicht als Ausdruck Proto-utilitaristischen Denkens begreift und statt dessen berücksichtigt, daß sich die Discorsi an Bürger einer Republik richten, könnte man sagen, daß Machiavelli selber und die Bürger des Gemeinwesens als seine Adressaten besser fahren, wenn der Staatsgründer edel handelt. In diesem Falle argumentierte der Florentiner möglicherweise in der Tat machiavellistisch, wenn er an die "guten" Seiten des Staatsgründers appelliert. Ob das in der Tat der Fall ist, läßt sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung allerdings nicht klären, läßt sich aber als biographische Frage in einem systematischen Kontext auch eher vernachlässigen. Sowohl die Alleinherrschaft, als auch die Republik sind für Machiavelli jedenfalls fast vollständig Ausfluß sorgsam kalkulierten Eigeninteresses. Der Republik werden wir uns im folgenden zuwenden.
3.3. Die Abwehr politischer Unternehmer in der Republik War es dem Machiavelli des Principe darum gegangen, Empfehlungen zum sozialen Aufstieg zu liefern, so schickt er sich in den Discorsi an, Ratschläge zu erteilen, wie ein solcher Aufstieg durch koordinierte Anstrengung verhindert werden kann. Näherte er sich im Laufe seiner ersten Argumentation einer Monarchie, in der der Fürst im eigenen Interesse die Belange seiner Untertanen fördert, so geht er nun davon aus, daß ein Bürger "seine" Republik im eigenen Interesse stärken wird, um sich mit ihrer Hilfe vor der möglichen Ausbeutung durch skrupelloser Machiavellisten zu schützen. Beschrieb Machiavelli also im Fürsten die Offensive, so wendet er sich nun der Defensive zu. Bisher war der Staat durch den Ehrgeiz eines cleveren Unternehmers zustande gekommen. Dieser versuchte durch das Ausbalancieren kurzfristiger Interessenparallelen, soviel Gewaltmittel zu erwerben, daß es seinen Mitmenschen vorteilhaft erschien, mit ihm zu kooperieren. Jetzt argumentiert Machiavelli aus der Sicht derer, die möglicherweise von Unternehmern derart benutzt werden sollen. Für diese mag es vorteilhafter sein, sich koordiniert gegen den Manipulator zu 173 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 9. - S. 36 [So 151 f.).
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3. Machiavelli: Politische Untelnehmer und ihre Kontrolle
wehren, als sich ihm auszuliefern. Erhellend für Machiavellis, auf koordinierte Verteidigung gerichtetes, Bild von der Republik ist seine Vorstellung vom Ursprung des Staates überhaupt: ... als im Anfang der Welt die Menschen noch selten waren, lebten sie zerstreut, den wilden Tieren ähnlich. Als sich nachher ihr Geschlecht vermehrte, rotteten sie sich zusammen, und begannen, um sich besser verteidigen zu können, den unter ihnen, der am stärksten und beherztesten war, auszuzeichnen, machten ihn gleichsam zu ihrem Haupte und gehorchten ihm. Hieraus entstand die Kenntnis des Edlen und Guten, im Gegensatz mit dem Verderblichen und Schuldvollen,I74 denn da sie sahen, daß es Haß und Mitleid hervOlbrachte, wenn einer seinen Wohltäter verletzte, da sie die Undankbaren tadelten, und die Dankbaren ehrten, und da sie überdies dachten, es könnten ihnen dieselben Beleidigungen selbst zugefügt werden, so entschloßen sie sich, um ähnliches Übel zu vermeiden, Gesetze einzuführen und Strafen gegen die DawiderhandeInden festzusetzen; wovon sich der Begriff der Gerechtigkeit herleitet. Dies bewirkte dann, bei einer späteren Fürstenwahl, daß sie nicht geraden Wegs zum Stärksten gingen, sondern zum Verständigsten und Gerechtesten. 175
Bezugnehmend auf das vorherige Kapitel ließe sich die Geschichte dahingehend fortspinnen, daß die so versammelten Menschen irgendwann einsahen, daß ihnen die Unterwerfung des Königs unter die Rechtsordnung und letztlich seine Umwandlung in einen bloßen Exekutor des Volkswillens noch mehr Sicherheit bringen kann. Wichtig an dieser Begründung für die Errichtung eines Staates ist es, daß auch aus der Perspektive des einfachen Bürgers Gerechtigkeit an sich in der Politik keine Rolle spielt. Wie für den Fürsten ist auch für den Bürger vor allem die Fähigkeit zu koordinierter Gewaltausübung wichtig, um andere wo nötig von feindlichen Aktivitäten abhalten zu können. Damit sind auch die Ratschläge MachiaveIlis, die sich auf die Republik beziehen, amoralisch. Im Notfall ist alles erlaubt,176 und jenseits des Notfalles verbieten sich extreme Maßnahmen nur deshalb, weil sie kontraproduktiv sind. Wenn Machiavelli zeigt, wie man effizient die Füchse und Löwen in Zaum halten kann, denen er vorher Ratschläge für ihre Raubzüge gegeben hatte 177, so deshalb, weil sich der Bürger einer Republik vor allem gegen genau solche schützen muß. Ein Savonarola mag das Gemeinwesen kurzfristig in Unordnung bringen, langfristig aber wird er stürzen, wenn er nicht Fortuna auf seiner Seite hat. Die wirkliche Gefahr für die Republik geht von Leuten aus, die die Gesetze der Politik kennen und sie optimal anzuwenden wissen, liegt also eher bei 174 Vergl. auch Hobbes' Erklärung der Enstehung eines intersubjektiven Begriffs von "Gut" und "Böse". Man könnte hier geradezu eine der Wurzeln dieser Idee sehen. 175 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch 1. - Kap. 2. - S. 13 [So 133 f.]. 176 "Wo es sich um Sein oder Nichtsein des Vaterlandes handelt, ... (muß man) mit Hintansetzung jeder Rücksicht, die Maßregel ergreifen, die ihm das Leben rettet und die Freiheit erhält." (N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch III. - Kap. 41. - S. 382). 177 Mounin schreibt hierzu: "le long debat sur le machiavelisme est, pour une part essentielle, un va-et-vient continu du Prince aux Discours, et des Discours au Prince." (G. Mounin: Machiavel. Paris: 1958. - S. 125) Allerdings scheint er mir die Bedeutung der Kunst des Krieges überzubewerten, wenn sie im selben Absatz zum dritten Flügel eines Tryptichons von Machiavellis politischem Denken macht.
3.3. Die Abwehr politischer Unternehmer in der Republik
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Leuten vom Schlage eines Cesare Borgia oder eines Castruccio Castraccani, wenn diese denn den Schilderungen Machiavellis entsprechen. Aus der Sicht des einzelnen wäre die Gefahr noch relativ gering, wenn ein Unternehmer dem Idealbild Machiavellis tatsächlich entspräche. Dann nämlich verlöre der Usurpator nur im Falle des Staatsnotstandes die Interessen seines Untertanen aus den Augen. In der Regel aber würde er ihn schützen, wenn möglich gar an der Herrschaft beteiligen. Da auch Republiken aus Staatsraison Individuen zu opfern bereit sind, gäbe es in bezug auf die Lebensumstände der Untertanen kaum einen Unterschied. Wenn Machiavellis Individuen die Republik dennoch der Monarchie vorziehen,178 so weil der Fürst, von Ausnahmen einmal abgesehen, oft seinerseits seine langfristigen Interessen aus dem Auge verliert. 179 Das erklärt auch, warum weitsichtige Untertanen selbst im Angesicht des Naturzustandes nicht bereit sein werden, einem aussichtsreichen Kandidaten "rational" Kredit einzuräumen, um ihm die Machtbasis zu verschaffen, in ihrem Interesse zu herrschen. Die einzelnen, selbst wenn sie denn in der Lage wären, langfristig zu kalkulieren, könnten nie sicher sein, nicht einem verrückten Tyrannen zur Herrschaft zu verhelfen. Rationale Loyalität, wie später Bodin und Hobbes sie fordern werden, ist für Machiavelli zutiefst unvernünftig, weil die Natur die Fürsten zumeist genauso kurzsichtig geschaffen hat, wie ihre Untertanen. lso Das bedeutet freilich nicht, daß das Volk an sich weitsichtig wäre. Nur wo es von guten Gesetzen und einer ausgeprägten Moral zusammengehalten werde, könne es diese Eigenschaft entwickeln. 181 Die ungeordete Masse dagegen sei nicht besonders berechenbar,182 allerdings lasse sie sich leichter von ihren Fehlern überzeugen als ein uneinsichtiger Fürst. Selbst in ihren entarteten Formen sei die Volksherrschaft deshalb der Monokratie überlegen: "Zu einem zügellosen aufrührerischen Volke kann ein wohlmeinender Mann sprechen und es leicht wieder auf den rechten Weg führen; bei einem schlechten Fürsten sind Worte unmöglich, gegen ihn gibt es kein Mittel als das Eisen."183 Wo aber gute Gesetze das Zusammenleben regeln. und wo. wenn nötig, koordiniert Gewalt gegen innere wie äußere Feinde geübt werden kann, ist die Republik der Monarchie immer überlegen, dies um so mehr, als sie eher in der Lage ist, sich fähige Führer zu wählen und so weniger der Gefahr von 178 Vergl. hierzu auch J. W. Allen: A History of Political Thought .... - S. 459 ff. 179 Seine Unternehmer müssen sich wie self-made-men verhalten. die sich in Emlangelung des für größere Projekte nötigen Kapitals dieses durch kleinere, profitabeIe Unternehmen erst erwerben müssen. Ein plastisches Beispiel für einen Unternehmer diesen Schlages zitiert: M. Casson: Entrepreneurship. - Totowa (NJ): 1982. - S. 1-6. 180 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 58. - S. 146 [So 211 f.]. 181 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 58. - S. 144 ff. S. 211 ff. 182 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 53. - S. 132 [So 199 ff.]. 183 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 58. - S. 148; [So 213].
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
Inkompetenz ausgesetzt iSt. I84 Machiavelli zieht denn auch prinzipiell die Republik der Monarchie vor; unter welchen Bedingungen, wird im folgenden zu zeigen sein. 3.3.1. Die Existenzbedingungen der Republik
Damit ein einzelner im eigenen Interesse darauf verzichtet, als machiavellistischer Unternehmer aktiv zu werden und statt dessen mit anderen zusammen versucht, Dritte an der Übernahme des Gewaltmonopols zu hindern, ist zweierlei notwendig. Zum einen muß er einsehen, daß ihm die Mittel fehlen, als Unternehmer selbst die vorhandenen Zwangsmittel unter seiner Kontrolle zu vereinigen. Dies mag der Fall sein, wenn sich seine Umwelt für entsprechende Aktivitäten nicht eignet, wenn seine Mitmenschen selbst über unternehmerische Kapazitäten verfügen oder wenn sie ausreichend aufgeklärt sein, um alle Tarnung seiner egoistischen Ziele zu durchschauen. Ist dies der Fall, ist absehbar, daß machiavellistisches Unternehmertum direkt in den Krieg aller gegen alle führt, keineswegs aber zu Macht und schon gar nicht zu Macht unter eigener Kontrolle. Allenfalls eine direkte Bedrohung von außen, mag ausreichen, wenn sie denn groß genug ist, um auch solche Menschen zusammenzutreiben, die ansonsten aus Mißtrauen voreinander zur Zusammenarbeit unfähig wären. Machiavelli schreibt hierzu: "Die Ursache der Zwietracht in Republiken ist größtenteils Muße und Friede, die Ursache der Einigkeit Furcht und Krieg."18S Aus der Sicht des einzelnen zielt die Zähmung von Füchsen und Löwen im Rahmen einer Republik auf die Verhinderung der eigenen Ausbeutung ab, ob diese von anderen Mitmenschen droht wie im Falle der Anarchie oder nur von einzelnen Herrschern. Niemand befindet sich also in einer starken Position, wie dies bei einem erfolgreichen Fürsten der Fall war, sondern jeder verfügt im wesentlichen über die gleichen Möglichkeiten. Wo sich nicht mehr genug Schwache oder Gläubige zur Ausbeutung fmden, wo der machiavellistische Unternehmer nicht mehr genug "Kredit" erhält, um das Gewaltpotential zu erringen, das er braucht, um seine Mitmenschen in Schach zu halten, bleibt ihm die Zusammenarbeit mit seinesgleichen als einzige Möglichkeit der Gemeinschaftsbildung. Diese wird dann nur von denjenigen bedroht, die über große Vermögensvorsprünge verfügen. Hier sind vor allem die Großgrundbesitzer gefährlich:
184 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 20. - S. 68; siehe auch: Kap. 58 S. 147
[S.212).
185 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch 11. - Kap. 25. - S. 239 f.
3.3. Die Abwehr politischer Unternehmer in der Republik
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(Man nennt) ... diejenigen Edelleute ... welche müßig vom Ertrage ihrer Besitzungen im Überfluß leben, ohne irgendeine Sorge zu haben, Ackerbau zu treiben, oder sich mit irgend einem anderen zum Leben nötigen Geschäft zu befassen. Solche Leute sind jeder Republik und jedem Lande verderblich; am verderblichsten aber sind diejenigen, welche außer dem Besitz von Gütern noch Burgen und Untertanen haben, die ihnen gehorchen .... Denn diese Menschenklasse ist der ärgste Feind der bürgerlichen Gesellschaft. 186
Wie im Principe, ist es also weniger die bloße Tatsache, reich zu sein, als mehr die Fähigkeit, ein Heer aufzustellen und es wo möglich auch einzusetzen,187 das bei den Reichen nicht zu ausgeprägt sein darf. Aber Gleichheit muß auch auf einer anderen Ebene bestehen. Ein wichtiges Potential für unternehmerische Aktivitäten ist die Ignoranz der Mitmenschen. Haben diese irgendwann den Vorsprung der Unternehmer eingeholt, sehen sie irgendwann ein, daß für sie in der Nutzenkalkulation des Fürsten kein Platz ist, werden sie ihrerseits die Loyalität zu ihm dem eigenen Nutzen unterordnen. Sind alle Koalitionen dann lediglich Ausfluß individuellen Nutzenkalküls und als solche permanent der Gefahr lukrativerer Angebote aus anderen Gruppen ausgesetzt, so ist das Bestehen von Kollektiven überhaupt, nur noch davon abhängig, wie teuer es ist, von einem Kollektiv ins andere zu wechseln. Im Extremfall finden wir uns im Naturzustand wieder, in einer Situation, in der keiner mehr Vertrauen in irgendein Kollektiv haben kann, aus Angst, im falschen Augenblick verraten zu werden. Gibt es dagegen Reste republikanischen Bewußtseins, mag sich ein cleverer Unternehmer als Freund der Republik präsentieren und in einer Krisensituation "im Interesse aller" die Macht an sich reißen. Die Reste von Tugend böten dann dieselben Spielräume zur Ausbeutung, wie andere religiös oder philosophisch motivierte Beschränkungen des Eigennutzes auch. Wäre dem so, stünde man vor dem Widerspruch, daß Machiavelli einerseits für die Heilung der hoffnungslos korrupten Gesellschaft seiner Zeit einen Fürsten für möglich hält, obwohl dieser angesichts der allgemeinen Desillusionierung kaum Profit aus den Idealen seiner Mitmenschen zu ziehen in der Lage ist, daß er andererseits aber in der Republik die Machtergreifung eines Fürsten für unwahrscheinlich hillt, obwohl dort die Mitmenschen an überindividuelle Werte glauben und so aus186 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 55. - S. 138 f. [So 206); an anderer Stelle macht Machiavelli explizit, welche Sozialstrnktur einer Gesellschaft mit welcher Staatsform korrespondiert. Er schreibt: "Wer, wo es viele Edelleute gibt, eine Republik errichten will, kann nur dann zum Ziele kommen, wenn er sie zuerst alle vertilgt. Wer hingegen, wo große Gleichheit hemcht, eine Monarchie oder ein Fürstentum errichten will, wird nie zum Ziele kommen, wenn er nicht viele Ehrgeizige und unruhige Köpfe aus der Gleichheit hervorzieht und sie zu Edelleuten macht; doch nicht dem Namen nach, sondern indem er ihnen Burgen und Besitzungen gibt und sie mit Geld und Leuten beschenkt, damit er in ihrer Mitte durch sie seine Macht erhält, sie durch ihn ihren Ehrgeiz befriedigt sehen, ..... (N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 55. - S. 139 f. [So 207).). 187 Man fühlt sich hier an die Freikorps erinnert, die in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg auf ostdeutschen Gutshöfen als "Landarbeitertrupps" versorgt wurden, um zur Niederschlagung von Arbeiteraufständen bereitzustehen.
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer W1d ihre Kontrolle
beutbar sein müßten. Dieses scheinbare Paradox führt zum Wesenskern der Republik, wie Machiavelli sie versteht. Für ihn ist auch hier das Entscheidende nicht das Vorhanden sein republikanischer Überzeugungen, sondern die Fähigkeit, koordiniert die eigenen Interessen gegen innere wie äußere Feinde zu vertreten. So wie der Fürst die innere Ordnung seines Staates braucht, um Bürgerkrieg und Überfalle von außen abzuwehren, so braucht die Republik Gesetze, um zu einer handlungsfahigen Einheit zu werden, die machthungrigen Unternehmern frühzeitig das Handwerk: legen kann. Auch hier wird das Kollektiv also ausschließlich von seiner Funktion für den einzelnen her legitimiert und nicht von seiner Bedeutung für die Verwirklichung eines harmonischen Weltganzen. Machiavelli hat die Möglichkeit des Gesellschaftsvertrages noch nicht gesehen. Für ihn setzt eine republikanische Ordnung Reste von Recht und Moral voraus, die es den vielen Individuen ermöglichen, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Traditionen nehmen hier die Stellung markanter Punkte ein, denen der amerikanische Ökonom Thomas C. Schelling eine konsensstiftende Wirkung bei der Lösung von Koordinationsproblemen zuschreibt. 188 Man könnte solche Punkte mit einem Fluß zwischen zwei Staaten vergleichen, an dessen Verlauf man sich bei der Grenzziehung nicht deshalb orientiert, weil das "gerecht" wäre, sondern weil er sich als "natürliche Grenze" zur Konsensfindung anbietet. Machiavellis Republikaner befinden sich in derselben Situation wie die Grenzzieher. Da sie bei Verhandlungen immer damit rechnen müssen, daß jemand versuchen könnte, die zukünftige Verfassung der Republik seinen individuellen Interessen anzupassen, besteht die Gefahr, daß sie aus Mißtrauen nicht zum Konsens kommen können. Sind dagegen Reste von Institutionen vorhanden, eine alte Verfassung beispielsweise, so mag diese zum Kristallisationspunkt der Zusammenarbeit werden, zum kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die Handelnden gerade noch einigen können. Zwar werden, auch wo solche Reste noch existieren, Interpretationsschwierigkeiten bleiben, sie werden aber leichter zu lösen sein, als jene, die bei der Schaffung einer Verfassung "aus dem Nichts" entstünden. ls9 Wo also derartige politische Traditionen auf eine von Vermögensgleichheit geprägte Gesellschaft treffen, wird die Entwicklung und Verteidigung eines republikanischen Gemeinwesens möglich und seine Stärkung für den einzelnen eine vielversprechende Alternative zum einsamen Kampf gegen einen potentiell omnipräsenten Feind. 188 Schelling spricht in diesem Zusammenhang von "Focal Points" ([.e. Schelling: The StrategiyofConflict. -NewYoric: 1970. -S.lll ff.). 189 Vergl. hierzu auch die Diskussion um den Inkrementalismus: Siehe hierzu: C. E. LindbIom: "Inkrementalismus: Die Lehre vom 'Sich-Durchwursteln'" in: W.D. Narr und C. Offe, (Hrsg.): Wohlfahrtsstaat und Massenloyalität. - Köln: 1975. - S. 161 ff.; sowie: G. Engelhardt: "Synoptic versus Incremental Scholarly Advice in Econornic Policy: Some Implications of So-called "Rational" Tax Systems" in: Finanzarehiv. - N. F. Bd. 29 (1970). - S. 381 ff.
3.3. Die Abwehr politischer Unterneluner in der Republik
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3.3.2. Die Selbstverteidigung der Republikaner
Damit die Republik die Sicherheit garantiert, um derentwillen der einzelne sie stützen soll, muß sie zwei eng miteinander verbundene Aufgaben bewältigen. Zum einen muß sie dem Bürger hinreichende Sicherheit gewähren, so daß sich das Gewaltpotential, an dessen Bildung er sich beteiligen möchte, nicht gegen ihn selber richtet. Diese Aufgabe muß durch eine entsprechende Gestaltung der Rechtsordnung gelöst werden. Zum zweiten muß die Republik ihn gegen Dritte verteidigen und muß hierzu wo nötig von ihren GewaItmitteln Gebrauch machen. Für die Republik ist die Rechtsordnung damit viel bedeutsamer als für den Fürsten. Für diesen hatten Gesetze einfachen Befehlen gegenüber den Vorteil, daß sie seinen Untertanen ein Mindestmaß von Sicherheit boten und ihn selbst von der Regelung unzähliger Einzelfällen entlasteten. Die Untertanen hatten weder die Möglichkeit, das positive Recht gegen ihre Obrigkeit geltend zu machen, noch war die Einheit des Staates gefährdet, wenn der Fürst sich die läßliche Sünde durchgehen ließ, widersprüchliche Gesetze zu erlassen. Daraus entstehende Streitigkeiten konnte er leicht durch Befehl beenden, wenn es auch durchaus in seinem Interesse lag, dies in einer Weise zu tun, die alle Beteiligten von der Rechtmäßigkeit der Entscheidung überzeugte. Für die Untertanen garantierte der Fürst so den Frieden, die Einheit des Staates nach innen und außen. In der Republik fehlt eine solche einheitsstiftende Instanz. Wenn nicht mit Hilfe des Gesetzes Konsens erzielt werden kann, ist Zusammenarbeit unmöglich. In bezug auf die Vertreibung der römischen Könige und das Vakuum, das sie zurückließen, schreibt Machiavelli, daß ... ... die Menschen niemals etwas Gutes tun wenn sie nicht dazu gezwungen sind; sondern daß al· les in Verwirrung und Unordnung gerät, sobald ihnen freie Wahl bleibt und sie sich gehen lassen können. Man sagt daher, Hunger und Armut machen die Menschen betriebsam, die Gesetze machen sie gut. Wo von selbst ohne Gesetz gut gehandelt wird, ist das Gesetz nicht nötig; wenn aber diese gute Gewohnheit aufhört, dann ist sogleich das Gesetz notwendig. I 90
Um über Grundregeln Konsens herbeizuführen, ist es nicht entscheidend, daß die Verfassung irgendeinem Ideal von Gerechtigkeit entspricht, sie muß nur erfolgreich Konflikte kanalisieren und lösen helfen. Damit sie diese Funktion erfüllt, muß sie ein in sich widerspruchsfreies System bilden. Machiavelli fordert deshalb, daß die Verfassung von einem einzelnen entworfen und durchgesetzt werden soll. Über die weisen Staatsgründer der Antike schreibt er in diesem Zusammenhang: "Ein weiser Gesetzgeber einer Republik, der die Absicht hat, nicht sich, sondern dem gemeinschaftlichen Vaterlande zu nützen, muß sich ... bestreben, die Gewalt allein zu haben ...... 191 Bestehen noch Reste einer traditionellen Ordnung, mag die Republik zwar weniger auf einen weisen Organisator angewiesen sein, und sind Reste republikanischer Tugend vorhan190 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..." Buch I. - Kap. 3. - S. 18 [So 137]. 191 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 9. - S. 36 [So 151].
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer W1d ihre Kontrolle
den, mögen Beratungen der Bürger auch ohne letzte Entscheidungsinstanz zum gewünschten Resultat führen, aber so viele günstige Faktoren scheinen Machiavelli selbst im Angesicht des Naturzustandes utopisch. Immer meint er, jemanden nötig zu haben, der Inhalt und Ausführung des Gesetzes vereinheitlicht. 192 Die Fixierung auf den Gesetzgeber macht Machiavellis Konzeption an dieser Stelle problematisch, weil er hier wiederum einen Akteur benötigt, der nicht rein eigennützig handelt. Staaten werden für ihn von Individuen gegründet, die in dieser Funktion uneigennützig handeln, wenn sie die Macht, die sie erwerben, abgeben. Wie der Fürst, der zum Wohle der Gemeinschaft auf seine Macht verzichtet, ist also auch der Gründer einer Republik nur durch einen Bruch mit der ansonsten individualistischen Argumentationsstruktur begründbar. Erst nach dem Gründungsakt kann das Gemeinwesen vom Volk in die eigenen Hände genommen werden. Angesichts dieser Vorstellung gewinnt das Verhältnis von Republik und politischem Unternehmertum neben der von Verteidigung und Angriff noch eine zweite Dimension. Die Republik ist nicht mehr nur die Abwehrorganisation von Menschen, die wissen, daß sie die Herrschaft allein nicht erringen können, sie ist auch die Fortentwicklung der Alleinherrschaft im Interesse der Untertanen. Ist die Einheit des Staates und damit in der Republik auch diejenige des Rechts erst hergestellt, so sind die Untertanen, wie bereits angedeutet, allemal besser in der Lage, diese Einheit zu wahren. 193 Es ist aus der Perspektive der Untertanen also besser, einem Fürsten die Leitung des Staates aus den Händen zu nehmen, sofern dies nicht zur Zerstörung des Gemeinwesens führt. Hat der einzelne an der Spitze des Staates nämlich viele Möglichkeiten zum "Konsum" von Gewaltmitteln, kann er also zeitweise relativ unbeschadet die Interessen seiner Untertanen mit Füßen treten, so werden diese in der Republik gleich aufstehen und ihre Recht einklagen. Da diejenigen, die an der Macht nur teilhaben, jederzeit damit rechnen müssen, daß sich das Gewaltpotential ihres Kollektivs auch gegen sie selber richtet, werden sie die Einhaltung der Gesetze sehr viel gründlicher überwachen als ein Fürst,194 Um ihre konsensstiftende Wirkung voll entfalten zu können, muß die Rechtsordnung für möglichst viele potentielle Konflikte einen institutionalisierten Lösungsweg anbieten. Nur so können Konflikte dem Grundkonsens der Republik nicht gefährlich werden. 195 Wo ungesetzlich vorgegangen wird, wer192 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 9. - S. 36 (S. 151]. 193 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 58. - S. 147 (S. 212]. 194 Siehe auch: N. Machiavelli: "BetrachtWlgen ..... Buch l. - Kap. 58. - S. 146 [So 211]Siehe auch: N. Machiavelli: "Florentinische Geschichte" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 4. - S. 1-428. Buch 3 - S. 120 [So 301].
3.3. Die Abwehr politischer Untemeluner in der Republik
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den sich die, die durch dieses Vorgehen geschädigt werden, ihrerseits zu Fraktionen verbinden und wo nötig das Gesetz in die eigenen Hände nehmen. In einem solchen Falle bräche der Konsens, der sich um das Gestz herum bildet, schnell auseinander. Es entstehen" ... Angriffe einzelner auf einander," schreibt Machiavelli, "diese Angriffe erzeugen Furcht, die Furcht sucht Schutz, zum Schutz werden Verbindungen geschlossen, aus den Verbindungen werden Parteien, und die Parteien führen den Untergang des Staates herbei."196 Die Organisatoren der Republik haben also der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, daß sich aufgestaute Agressionen innerhalb des Staates auf geordnete Weise entladen können. Diesem Übel werde gänzlich abgeholfen, schreibt Machiavelli, wenn man Anklagen vor vielen Richtern anordne und letztere mit gehörigem Ansehen umgebe. 197 Umfassende Klagemöglichkeiten können nicht nur Konflikte in Bahnen lenken, die ungeordnet den republikanischen Konsens in Frage stellen würden. Sie helfen zudem, Bestrebungen aufzudecken, die sich tatsächlich gegen die bestehende Ordnung richten. Nicht nur die aus Neid und Mißgunst entspringenden Aktivitäten können so kontrolliert werden, sondern auch solche, die zum Schaden der Republik auf individuelle Machtanhäufung zielen. Ein entscheidendes Problem der Bürger ist es nämlich herauszufinden, wer von zwei streitenden Parteien tatsächlich das Gemeinwohl verteidigt, und wer nur in seine private Tasche zu wirtschaften beabsichtigt. 198 Vor allem wo die republikanischen Überzeugungen bereits weitgehend egoistischen oder nepotistischen Privatinteressen gewichen sind, wo also keiner Interpretation des Gesetzes durch andere mehr ohne weiteres getraut werden darf, geht die konsensstiftende Wirkung der Verfassung zunehmend verloren. Wo ordnungsgemäße Verfahren Rechtsbrüche noch nicht allzu profitabel werden lassen, besteht al195 "Nie ... sollte in der Republik etwas vorkommen können, wobei man sich ungesetzlicher Mittel bedienen muß. Ist auch das ungesetzliche Mittel für den Augenblick vorteilhaft, so schadet doch das Beispiel, weil man dadurch, daß die Verfassung zu guten Zwecken gebrochen wird, einen Vorwand gibt, sie zu bösen zu brechen." (N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch J. - Kap. 34. - S. 185). 196 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch J. - Kap. 7. - S. 30 [So 147]; siehe auch: "Oh Geist des Menschen, unersättlich, hochmütig, arglistig, wankelmütig und über alles boshaft, ungerecht, ungestüm und grimmig, durch deine ehrgeizigen Wünsche sah den ersten gewaltsamen Tod die Welt (den des Abel; H. H.) Als dieser schlimme Same aufgegangen war, als des Bösen Ursach' sich vennehrt hatte, so war kein Grund mehr, warum das Unrecht meiden." (N. Machiavelli: "Der Ehrgeiz" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 236). 197 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch J. - Kap. 7. - S. 31 [So 148]. 198 In der Geschichte von Florenz läßt Machiavelli den florentinischen Aristokraten Niccolo da Uzzano zu Wort kommen, der für den Kampf gegen den Aufstieg der Medicis gewonnen werden soll: "Wenn Du sagen solltest, unser gerechter Beweggrund werde unseren Einfluß vemlehren und ihnen den ihrigen entziehen, so antworte ich, daß diese Gerechtigkeit von den anderen eingesehen und geglaubt sein müßte. Dies ist aber gerade umgekehrt der Fall. Denn unser Beweggrund ist allein der Argwohn, Cosimo möge sich zum Fürsten machen. Und diesen Argwohn hegen wir, nicht die anderen; ja was noch schlimmer ist, sie geben uns daran die Schuld, woran wir ihm Schuld geben. (N. Machiavelli: "Florentinische Geschichte" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 4. - Buch 4 - S. 198).
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3. MachiavelJi: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
lenfalls die Hoffnung, den Verfall wirksamer aufhalten zu können, als durch spontane und ungeregelte Verständigungsversuche. Wozu der erstrebte Konsens dient und wofür die mit seiner Hilfe gebildete Macht eingesetzt werden soll, faßt der Machiavelli-Experte Alfredo Bonadeo treffend zusammen: Machiavelli ... believed that healthy public life based on freedom and the pursuit of the common good depends to a large extend on the prevention and control of corruption and faction .... (Therefore) it is essential to establish good laws and institutions and. if necessary. to resort to force to implement them."199
Um den gemeinschaftszersetzenden Phänomenen zu begegnen, ist es vor allem wichtig, politisches Unternehmertum zu verhindern. Die Ausbeutung der verfassungsmäßigen Ordnung für individuelle Zwecke muß vereitelt werden. Die Füchse und Löwen lassen sich aber nicht im Zaum halten, indem man sie zur Rechtschaffenheit ermahnt. Man muß sie, wo nötig, aktiv an ihrem potentiell gemeinschaftszerstörerischen Werk hindert. Auch in diesem Zusammenhang ist letzten Endes die Militärmacht entscheidend. Auch für den Machiavelli der Discorsi gilt, "... daß der Grundpfeiler aller Staaten ein gutes Kriegswesen ist, und daß, wo dieses fehlt, weder gute Gesetze noch überhaupt etwas gutes bestehen kann."2oo Da der Einsatz von Militär aber den einzelnen etwas kosten und da Gewaltmittel in einer Welt allgemeiner Unsicherheit kostbar sind, muß sparsam und im Rahmen des Gesetzes mit ihnen umgegangen werden. Um diejenigen nicht zu verschrecken, die die Basis der Macht ausmachen, muß die konkrete Gewaltausübung der Republik weitgehend der einer geordneten Monarchie entsprechen. War der weitsichtige Fürst im eigenen Interesse bereit, die Ausübung seiner Herrschaft Regeln zu unterwerfen, so fordern in einer Republik die Untertanen im eigenen Interesse genau dies von ihren gewählten Repräsentanten. Auch außenpolitisch gleichen sich die Interessen an. War der Fürst in eigenem Interesse stets bereit, Kriege zu führen, wenn sie per saldo einen Vermögensgewinn zur Sicherung seiner Herrschaft abwarfen, so ist das Volk ebenso zum Krieg bereit, wenn es damit, nach Abzug aller Kosten, sein Gewaltpotential und damit die individuelle Sicherheit eines jedes einzelnen erhöhen kann. Wichtigstes Ziel beim Einsatz des koordinierten Gewaltpotentials einer Republik ist die Abwehr von gegen das Gemeinwesen und seine Bürger gerichteter untemehmerischer Aktivitäten. Zu diesem Zwecke müssen "Staatsfeinde" nicht nur entdeckt und bekämpft werden. Ihr Handeln muß schon im Vorfeld so unwahrscheinlich wie möglich gemacht werden. Eines der zentralen Mittel hierzu ist die Verhinderung von Kapitalanhäufungen, die genau dafür benutzt 199 A. Bonadeo: Corruption, Conflict, and Power in the Works and Times of Nicollo Machia· velli. - Berkeley: 1973.· S. 121. 200 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch 1II .. Kap. 31. . S. 358; sowie: Buch I. . Kap. 4. S. 19; siehe auch: Der Fürst. - Kap. 12. - S. 156 f.
3.3. Die Abwehr politischer Unternehmer in der Republik
141
werden können. War Gleichheit eine Voraussetzung für das Zustandekommen der Republik, so ist beständige "Gleichmacherei" zentral für ihre Erhaltung. In seiner Auseinandersetzung mit der römischen Republik betont Machiavelli mehrfach, daß die Bürger arm waren und der Staat reich. Die Größe Roms begründet er dann auf eine bemerkenswerte Art und Weise: "Es läßt sich nicht glauben, daß irgend etwas anderes mehr dazu betrug, als daß die Armut den Weg zu keinem Amte, zu keiner Ehrenstelle versperrte, ... Dieser Umstand machte Reichtümer weniger wünschenswert;"201 Die römische Republik bot Menschen also auch dann Aufstiegschancen, wenn sie nicht über viel individuelles Vermögen verfügten. Sie mußten sich nur hinreichend mit "ihrem" Staatswesen identifizierten. Dann standen ihnen innerhalb der Republik dieselben Möglichkeiten offen, wie mit größerem Reichtum Ausgestatteten. Eine ganz ähnliche Funktion erfüllt für Machiavelli die Gleichheit vor dem Gesetz: ... niemals (gleicht) eine wohlgeordnete Republik die Vergehen ihrer Bürger durch ihre Verdienste aus ... Im Gegenteil, wenn sie Belohnungen für eine gute und Strafen für eine böse Handlung festsetzt, und einen Mann weil er gut gehandelt, belohnt hat, so soll sie denselben Mann, beträgt er sich nachher schlecht, ohne irgendeine Rücksicht auf seine guten Handlungen bestrafen .... Denn kommt bei einem Bürger, der etwas Großes für die Stadt vollbracht hat, zu dem Ansehen, das ihm dies erwirbt, noch die Kühnheit und das Vertrauen, ohne Strafe ... eine nicht gute Tat vollbringen zu können, so wird er bald so übermütig werden, daß sich jedes Gemeinwesen dadurch auflösen muß.202
Da die Mißachtung bestehender Gesetze immer auch die Verletzung von Rechten anderer ist, könnte auch in einem solchen Fall niemand seiner Rechte sicher sein, wenn er nicht individuell über das Vermögen verfügte, sie zu verteidigen. Besteht hingegen zumindest Gleichheit vor dem Gesetz, kann der Bürger also darauf vertrauen, nicht aus Mangel an Vermögen in seinen Rechten verletzt zu werden, so wird die Ansammlung individueller Machtmittel an Bedeutung verlieren und der einzelne es sich eher leisten, "patriotische", also nicht-egoistische Gefühle", zu entwickeln. Die Forderung nach der Armut der Bürger einer Republik scheint allerdings im Widerspruch zu einer anderen Empfehlung Machiavellis zu stehen. Sowohl die Fürsten in einer Monokratie, als auch die Herrschenden in einer Republik sollen Sorge dafür tragen, daß die Untertanen ihren Besitz wahren und in Ruhe vermehren können. Dies soll Unzufriedenheit mit dem System reduzieren und es so im Interesse der Regenten stabilisieren. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man den Reichtum nicht als absoluten Wert versteht, sondern als den Bestandteil von Vermögen, der einem ein relatives Übergewicht verschaffen kann, die Fähigkeit also, andere auch gegen ihren Willen zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen zu bewegen. Implizit nimmt Machiavelli hier Hobbes' Definition vorweg, daß individuelle Stärke nur im Vergleich mit der Stärke anderer gemessen werden kann. Aus 201 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch IlI. - Kap. 25. - S. 342. 202 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 24. - S. 73 f.
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
dieser Perspektive ist individuelles Kapital nur dann gefährlich, wenn es das der Mitbürger wesentlich übersteigt. Die Steigerung des allgemeinen Reichtums ist dagegen nicht nur zulässig, sondern erwünscht, weil es die Zufriedenheit mit dem Bestehenden steigert. Tatsächlich leistet auch hier die Republik mehr als die Monokratie: In der Tat machen alle Städte und Länder, die frei sind von innerer und äußerer Sklaverei, die größten Fortschritte. Hier sieht man eine größere Volksmenge, weil die Ehen freier und wünschenswerter sind. Jeder zeugt gern Söhne, wenn er sie glaubt erziehen zu können, da er nicht fürchten muß, sein Vermögen werde ihm genommen, wenn er weiß, daß sie ihm frei, nicht als Sklaven geboren werden, ja daß sie sich durch ihre Verdienste zu den Ersten emporschwingen können. Hier vermehren sich die Reichtümer, die Früchte des Ackerbaus, der Künste und Handwerke in größerem Maße. Jeder vervielfacht gern seinen Besitz und sucht sich Güter zu erwerben, wenn er sich seines Erwerbs erfreuen zu können glaubt. Die Bürger wetteifern in der Vermehrung des eigenen und öffentlichen Vermögens, und beides wächst zu erstaunlicher Größe heran. 203
Aber Machiavelli versteht ohnehin unter dem potentiell gefährlichem Reichtum nicht vorrangig Geld, sondern Waffen und Soldaten. Analog zur Argumentation im Principe, daß nicht Geld die wichtigste Sehne des Krieges sei, sondern Waffen und Soldaten, und daß diese sich nicht ohne Risiko kaufen lassen, weist er auch in den Discorsi den Kapitalisten im modemen Sinne des Wortes eine eher untergeordnete Rolle ZU. 204 Zwar bleibt Reichtum eines der Mittel zu unternehmerischer Aktivität, es muß aber erst in politische Macht umgesetzt werden. Da dies allerdings immer möglich ist, entscheidet MachiaveIIi die Frage, ob der Republik von den Armen mehr Gefahr drohe als von den Reichen, mit dem Hinweis auf die Möglichkeiten der Reichen. Nachdem er ausgeführt hat, daß Reichtum, schon um die eigene Position auf Dauer zu sichern, keineswegs zu Zufriedenheit führe, sondern zu dem Bedürfnis nach mehr, fahrt er fort: "Meistenteils werden die Revolutionen 205 von denen verursacht, weIche besitzen, weil die Furcht, zu verlieren dasselbe Verlangen in ihnen erzeugt, wie in denen, weIche zu erwerben streben. Überdies können sie, weil sie Viel besitzen, mit größerer Macht und Gewalt Umwälzungen hervorbringen." 206 Die Taten der Reichen bleiben nicht ohne Rüchwirkung auf die Ziele der Armen. Wenn diese schlecht behandelt und ausgebeutet werden, streben sie selbst nach individuellem Vennögen ..... teils um sich ... zu rächen, teils um auch ihrerseits die Reichtümer erwerben und Ämter bekleiden zu können. die sie von jenen mißbraucht sehen. "207 203 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch 11. - Kap. 2. - S. 165. 204 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 55. - S. 140 [So 208). 205 Im Original gebraucht Machiavelli den Begriff "Revolution" nicht. Aber selbst wenn er ihn gebraucht hätte. stünde "Revolution" für etwas, daß vielleicht allgemeiner mit Umsturz oder Staatsstreich übersetzt werden kann. Erst die französische Revolution gab dem Begriff seine modeme Bedeutung. 206 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch I. - Kap. 5. - S. 23 [So 141).
3.3. Die Abwehr politischer Untemeluner in der Republik
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Auch hier ist also Gleichheit in bezug auf das individuell kontrollierte Gewaltpotential eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren der Republik. 208 Arbeiten die Institutionen einwandfrei, werden die Bürger ihre vorhandenen Spielräume weniger intensiv nutzen (müssen), da sie wissen, daß sie zum einen individueller Kapazitäten zu ihrer Sicherheit nicht bedürfen und daß es zum anderen aussichtslos ist, damit die Vorherrschaft im Staate anstreben zu wollen. Andererseits werden die Starken nicht in Versuchung geführt, was wichtig ist, denn "(d)ie Ehrsucht der Großen ist so unbegrenzt, daß, wird sie in einer Republik nicht durch verschiedene Mittel niedergetreten, sie bald dieser Republik den Untergang bereitet ... "209 Um den einzelnen an der Anhäufung individueller Übermacht zu hindern, reicht es aber nicht aus, das Kapital der Bürger einander anzugleichen. Die Bürger müssen sich bewußt an staatsfeindlichen Aktivitäten hindern. Nur wenn dies gelingt, wenn der einzelne mit dem Bestand der Republik seine eigene Sicherheit gewährleistet weiß, ist er nicht genötigt, um jeden Preis seinen individuellen Möglichkeitsraum zu auszuschöpfen. Andernfalls würden sich die einzelnen auf dem geraden Weg in den Naturzustand befinden, denn "... während die Menschen dahin streben, nicht fürchten zu müssen, ... fangen (sie an,) den anderen Furcht einzuflößen; und ... die Unbilden, die sie von sich abwehren, dem anderen zu(zu)fügen; als ob es notwendig wäre, entweder zu beleidigen, oder beleidigt zu werden .... "210 Aber nicht nur die Bürger müssen dazu gezwungen werden, in ihrem Umgang miteinander die Gesetze einzuhalten, auch die Funktionäre müssen einer Kontrolle unterworfen sein,211 damit sie die Möglichkeiten, die ihre Position mit sich bringt nicht dazu mißbrauchen, ihrerseits unternehmerisch tätig zu werden. 212
207 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 5. - S. 23 [So 141]. 208 "Um in Mailand, wo große Ungleichheit der Bürger ist, eine Republik einzuführen. müßte man den ganzen Adel vernichten und ihn zur Gleichheit mit den anderen herabbringen, denn es gibt darunter so außerordentlich Mächtige, daß die Gesetze nicht hinreichen, sie im Zaum zu halten, sondern es bedarf dort einer lebendigen Stimme und einer königlichen Gewalt, sie im Zaum zu halten." (N. Machiavelli: "Denkschrift über die Reform des Staates von Florenz" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 2. - S. 99 [So 350 f.)). 209 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 37. - S. 98 ff. 210 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 46. - S. 118 f. 211 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 40. - S. 111. 212 Die mangelhaften Zustände der Republik Florenz beschreibend, kritisiert Machiavelli neben der Unfähigkeit, die Mächtigen unter Kontrolle zu halten, vor allem die Signoria, die Regierung der Stadt: "Die Signoria hatte wenig Ansehen, und zu große Gewalt, da sie ohne Appellation über Leben und Vermögen der Bürger entscheiden und das Volk zur Versammlung berufen konnte. Sie war so nicht die Beschützerin der Verfassung, sondern das Werkzeug ihres Unterganges, so oft ein angesehener Bürger ihr befehlen konnte oder sie zu gewinnen wußte." (N. Machiavelli: "Denkschrift über die Reform des Staates von Florenz" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 2. - S. 94 [S.347)).
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
Beamte der Republik sind genauso zu kontrollieren wie die Diktatoren des antiken Rom Ihre Aufgaben sind genau zu bestimmen, und sobald sie die ihnen gesetzten Grenzen überschreiten, sind sie in einer koordinierten Aktion der Bürger aus dem Amt zu entfemen. 213 Daß die Institution der Diktatur in Rom nicht zur sofortigen Machtergreifung des Diktators geführt hat, führt Machiavelli auf drei Faktoren zurück: "... die kurze Dauer seiner Diktatur, damit vereint, daß seine Machtvollkommenheit beschränkt und das römische Volk nicht verderbt war."214 Vor allem auf diesen letzten Punkt kommt Machiavelli immer wieder zurück. Je stabiler die republikanische Ordnung sei, desto weniger Spielraum habe der einzelne, gegen sie aktiv zu werden: Damit ... ein Bürger schaden und sich eine ungesetzliche Gewalt anmaßen könne, muß er im Besitz vieler Vorzüge sein, die er in einer unverderbten Republik nicht haben kann. Er müßte sehr reich sein, viele Anhänger und eine starke Partei haben, und dies ist, wo die Gesetze beobachtet werden, nicht wohl möglich; hätte er sie aber dennoch, so sind solche Männer so gefürchtet, daß eine freie Stimmenwahl nicht auf sie fällt. 215
Um Korruption zu vermeiden, ist Machiavellis zentrales Rezept also auch hier die Veränderung der äußeren Anreizstruktur für den einzelnen. Besteht ein Gewaltmonopol, das ihn mit negativen Sanktionen belegt, wenn er sich gegen das Interesse des Kollektivs vergeht und wird ihm gleichzeitig garantiert, daß er als "guter Staatsbürger" Übergriffe durch andere nicht zu fürchten hat, so ist die entscheidende Hürde für die Verltinderung der Korruption genommen. Dann nämlich liegt der Schutz der Republik im Interesse seiner Bürger und ist nicht nur eine Frage republikanischer Ideale. 3.3.3. Die Förderung der "Tugend" zur Stabilisierung der Republik
Um einer Republik Dauer zu verleihen, muß eine Interaktion von Sein und Bewußtsein bei den Bürgern in Gang gesetzt werden. Auf der Grundlage einer funktionierenden Gesetzesordnung sollen sie sich gegenseitig zu staatsbürgerlicher Tugend anhalten, um mit Hilfe der so wachsenden Tugend wiederum die Gesetze zu verbessern. Eine solche Erziehung wird möglich, wo durch die Vortäuschung von Tugendhaftigkeit keine Sonderprofite mehr eingefahren werden können. Die von Machiavelli im Principe vorgestellten skrupellosen Mittel in der Politik verlieren mit der zunehmenden "Besserung" des Kollektivs ihre Wirksamkeit. Aus der Politik werden sie so zwar nicht völlig verbannt, 213 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 34. - S. 92 [So 184]. 214 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 34. - S. 92 [So 184]. 215 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 34. - S. 92 [So 184].
3.3. Die Abwehr politischer Unternehmer in der Republik
145
aber sie werden seltener benutzt, weil sie sich immer seltener auszahlen. Wenn dagegen die Verbesserung der Republik in ein individuell lukratives Unternehmen verwandelt werden kann, in etwas, daß zumindest kein teurer Luxus ist, läßt sich erwarten, daß sie möglicherweise gemeinschaftsgefährdenden Unternehmungen vorgezogen wird. Ein solcher Zustand ist zwar nicht vollständig zu erreichen, auf ihn hinzuzielen, weist aber in die richtige Richtung. Damit die verfassungsmäßige Ordnung allen Machtgelüsten privater wie beamteter Bürger die Stirn bieten kann, ist es wichtig, daß die Bürger ihre Ordnung immer wieder einmal einer gründlichen Untersuchung unterziehen. Nur so können sie sicher sein, daß nicht durch allzu lockere Handhabung der Gesetze Spielräume entstehen, die von politischen Unternehmern ausgebeutet werden können. Nützlich wäre hierzu eine konstitutionelle Verpflichtung zu einer periodisch wiederkehrenden Prüfung der gesellschaftlichen Zustände. Diejenigen, die sich allzuviele Freiheiten genommen haben, sind möglichst frühzeitig an die Bedeutung einer funktionierenden Republik zu erinnern, bevor sie jeden Respekt vor ihr verlieren. 216 Da die routinemäßige Selbst-Vergewisserung der Republik aber einigen Aufwand erfordert, wird sie kaum genügend Befürworter finden,217 wenn nicht ihre äußere Umstände ihre Notwendigkeit unmittelbar einsichtig machen. 218 Wenn Machiavelli die von der äußeren Bedrohung hervorgerufenen "Selbstreinigung" der Republik nicht auch für die Alleinherrschaft begründet, so vermutlich deshalb, weil dort bei Gefahr das Eigeninteresse des Fürsten mit der Stabilität seiner Herrschaft identisch ist. Der Fürst muß sich, wenn er seine eigene Sache fördern will, um den Zustand seines Staates sorgen und kann nicht darauf hoffen, beim Patriotismus der anderen Trittbrett· zu fahren. Die Republik benötigt mehr staatsbürgerliches Bewußtsein, wenn sie die egoistischen oder nepotistischen Interessen ihrer Bürger im Zaume halten Will. 219 216 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch III. - Kap. 1. - S. 265 [So 235 f.]. 217 Vergl. auch: "Es ist ... notwendig. daß die Menschen. gleichviel unter welchen Fonnen sie miteinander leben, häufig entweder durch ... äußere oder durch innere Ereignisse zur Selbsterkenntnisse gebracht werden. Dies letzte muß entweder durch ein Gesetz bewirkt werden, das häufig den Gliedern dieses Körpers die Rechnungen nachsieht. oder durch einen vorzüglichen Mann, der durch sein Beispiel und seine tugendhaften Handlungen dieselbe Wirkung hervorbringt, wie das Gesetz." (N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... Buch IIl. - Kap. I. - S. 265) [So 235]. 218 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..." Buch I. - Kap. 2. - S. 12 f. [S 132]. 219 In seinem Buch zur Staatraison unterscheidet Meinecke bei Machiavelli zwei Fonnen der virtil, die erste ist die angeborene der großen Staatsgründer, sie ist es, die die zweite Fonn erst schafft, "... aus dem schlechten und traurigen Material der durchschnittlichen Menschheit die virIl) im Sinne von Bürgertugend herausdestilliert durch zweckmäßige "Ordnungen" - gewissennaßen als eine virlu zweiter Güte und darum, weil sie auf Organisation, nicht auf Naturanlage beruhte, auch nicht so dauerhaft und gediegen ist wie die angeborene und schöpferische virlu der einzelnen großen Männer." (F. Meinecke: Die Idee der Staats raison in der neueren Geschichte. - München: 1925. - S. 40). \0 Hegmann
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3. Machiavelli: Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
Hatte schon die Gründung der Republik solches Bewußtsein zur Voraussetzung gehabt, wenn nicht gar einen weisen Gesetzgeber, so ist ihr Fortbestand anders kaum zu gewährleisten, denn "wie ... gute Sitten zu ihrer Erhaltung der Gesetze bedürfen, ebenso sind zur Beobachtung der Gesetze gute Sitten erforderlich."22o Haben die Bürger der Republik schon im Vorfeld Unternehmern die Möglichkeit entzogen, sich mit staatsfeindlichen Aktivitäten die eigenen Taschen zu füllen, haben sie darüber hinaus die Bedeutung individueller Machtmittel reduziert und so zumindest den nicht überehrgeizigen "Guten" die Notwendigkeit genommen, sich am Kampf der Parteien zu beteiligen, haben sie also kurz gesagt die Verlockung und die Notwendigkeit zur Korruption reduziert, so ist das Terrain geklärt, für die Lehre staatsbürgerlicher "Tugend".221 Ohne die Einwirkung auf Leistungsanreize dagegen wäre sie freilich von vorneherein zum Scheitern verurteilt, denn "... (es ist) ... zu bemerken, wie leicht man die Menschen verdirbt und ihnen ganz entgegengesetzte Gesinnungen beibringt, obschon sie gut und wohlerzogen sind.... Dies wohl erwogen, wird die Gesetzgeber der Republiken und Reiche antreiben, die Gelüste der Menschen zu zügeln, und ihnen alle Hoffnung, sich ungestraft vergehen zu können, zu entziehen."222 Langfristig ist neben der Strafe die Förderung der Religion das wichtigste Mittel zur Stärkung der Tugend. Auch hier geht Machiavelli vor, wie die Sophisten, allen voran Kritias, vorgegangen waren, die der Religion eine staatserhaltende Funktion zuwiesen. Neben den mythischen Staatsgründern Theseus und Moses ist sein großes Vorbild in diesem Kontext Numa, der mythische Nachfolger des Romulus: Numa fand ein unbändiges Volk, und wollte es an bürgerlichen Gehorsam und die Künste des Friedens gewöhnen. Um sein Ziel zu erreichen nahm er zur Religion, als einer zur Erhaltung der Gesellschaft unentbehrlichen Sache seine Zuflucht ... Man sieht aus einer Menge von Handlungen des ganzen Volkes oder einzelner Römer, daß die Bürger viel mehr ihren Schwur zu brechen fürchteten, als die Gesetze zu überschreiten, weil sie die Gewalt der Götter höher als die der Menschen achteten .... Liest man die römische Geschichte aufmerlcsam, so wird man sehen, wie viel die Religion dazu beitrug, die Heere im Gehorsam, das Volk in Einigkeit, die Menschen gut zu erhalten, und die Bösen zu beschämen.223 220 Vergl. auch: N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 18. - S. 62 [So 172]. 221 Vergl. hierzu auch: S. Wolin: Politics and Vision. - London: 1961. - S. 228 ff.; Über A. Smith hat diese Vorstellung auch in der Ökonomie Fuß gefaßt. E. G. West schreibt dazu: "It is not so weIl known ... that Smith had considerable respect for Jean Jacques Rousseau's worlc The Sociol Conlracl . ... Adam Smith and Rousseau shared a characteristic that distinguished them from Hume. Hume was mainly concemed with predicting a long-run system that suited individuals who were characterized by selfishness and limited generosity. Smith and Rousseau, in contrast, emphasized that the balance of these characteristics or pass ions is changed by the very experience of living in a stable society. Men cannot be virtuous in astate of nature; only in a society based upon law do they become virtuous, and the nonselfish virtues can increase with time. (E. G. West "Adam Smith's Economics of Politics" in: G. S. O'Driscoll: Adam Smith and Modem Political Economy. - Ames: 1979. - S. 135). 222 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..." Buch I. - Kap. 42 - S. 113 [So 188 f.]. 223 N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch I. - Kap. 11. - S. 42 Cf. [So 156 f.); ; siehe auch: N. Machiavelli: "Die Kunst des Krieges". - S. 1-198 in ders.: Sämtliche Werlce. - Bd. 3. - Buch 4. -
3.3. Die Abwehr politischer Unterneluner in der Republik
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Wie bei der Stärkung des Staates durch seine Wandlung von der Tyrannei zur konstitutionellen Ordnung, führt die Stärkung der moralischen Basis der Gesellschaft zu einem Zustand, in der es mehr Potential für koordiniertes Handeln gibt und gleichzeitig weniger Notwendigkeit, es zu nutzen. Die Kontrolle der potentiellen politischer Unternehmer kann in einem gewissen Grade mit dem neuen Bewußtsein verrechnet werden. Je mehr Bewußtsein in der Bevölkerung besteht, je besser die Gesetze werden, und je einiger die Bürger im Notfall handeln können, desto weniger brauchen sie einzelne Unternehmer zu fürchten, desto mehr Spielraum können sie ihnen lassen. Aus den Ergebnissen solcher Anstrengungen lassen sich die regionalen Unterschiede in der Entwicklung der Moral erklären, von denen Machiavelli an anderer Stelle schreibt, daß sie Folge langfristiger Erziehungsanstrengungen seien. 224 Moral setzt Generationen guter Gesetze und stabiler Macht voraus und kann so nicht Ergebnis einer kurz- oder mittelfristigen Politik sein. Auch langfristig werden die Effekte eines solchen Trainings erst spürbar, wenn ihre Intitiatoren längst keinen Nutzen mehr davon haben. "Staatsbürgerliche Erziehung" setzt so auch hier ein Interesse bei den Initiatoren voraus, das über das normalerweise angenommene Eigennutzmotiv hinausgeht. Zumindest Nachruhm muß derjenige wollen, der sie organisiert, als "gut und gerecht" muß er "in die Geschichte eingehen wollen", um die Mühsal auf sich zu nehmen, zur Moral anzuleiten. Allenfalls noch die Sorge um den eigenen Nachwuchs, eine sozusagen veredelte Version des Nepotismus kann ihn sonst noch motivieren. Da aber die Kosten solcher Anstrengungen geringer sind als im Naturzustand, sie im Gegenteil oft genug auch seine momentane Position verbessern, wird ihm der erzieherische Auftrag mehr und mehr zur akzeptablen Handlungsoption.
S. 116 f.; sowie: "Notwendig ist das Beten wohl, und völlig töricht, wer dem Volk Zeremonien und seine Frömmigkeit verbietet. Denn in der Tat scheint man daraus die Einigkeit und gute Ordnung zu ernten, und hiervon hängt wiederum das gute Glück ab. (N. Machiavelli: "Der goldne Esel" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 200-225. - 5. Gesang. - S. 215); eindrucksvoll ist die Klage eines Aorentiner Bürger aus der Geschichte der Stadt Florenz: "Religion und Gottesfurcht ist in allen erloschen, der Schwur und das gegebene Wort währt so lange, als der Vorteil. Des Schwures bedienen sich die Menschen, nicht um ihn zu halten, sondern als Mittel, leichter zu betrügen, und je besser und sicherer der Betrug gelingt, desto mehr Lob und Ruhm erwirbt man. Die Bösen werden wegen ihrer Geschicklichkeit gelobt, die Guten wegen ihrer Einfalt getadelt. (N. Machiavelli: "Aorentinische Geschichte" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 4. - Buch 4 - S. 120 [So 301]). 224 " ... die handelnden Personen auf der großen Bühne der Welt, die Menschen, (haben) stets dieselben Leidenschaften ... (weshalb) dieselbe Ursache stets dieselbe Wirkung hervorbringen muß. Wahr ist, daß die Handlungen der Menschen bald in dem einen bald in dem anderen Lande kräftiger und tugendhafter sind, je nach Form der Erziehung, welche den Völkern ihre Eigentümlichkeit gibt." (N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " Buch III. - Kap. 43. - S. 384.
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3. Machiavelli : Politische Unternehmer und ihre Kontrolle
3.4. Zusammenfassung und Kritik Auf zwei, sich aufeinander zubewegenden Argumentationsschienen beweist Machiavelli, daß es in der Regel dem Wohle des einzelnen dient, die Interessen seiner Mitmenschen so weit wie möglich in die eigene Nutzenkalkulation einzubeziehen. Sowohl derjenige, der versucht, die Herrschaft an sich zu reißen, als auch derjenige, der sich nur gemeinsam mit anderen vor Ausbeutung schützen will, muß an Macht interessiert sein und zwecks Machterwerb die Bedürfnisse seiner Mitmenschen nach Möglichkeit befriedigen. 225 Nur wo er sich den Luxus leisten kann, auf die Unterstützung der anderen zu verzichten,226 wo ihre Beraubung ihm mehr einbringt als die Kooperation mit ihnen, wird die Situation für die anderen gefährlich. 227 Mit S. Wolin läßt sich Machiavellis Einsicht wie folgt formulieren: Machiavelli's most important insight into the problem of intemal power politics came when he began to explore the implications of a political system based on the active support of its members. He grasped the fact that popular consent represented a sort of social power wh ich, if properly exploited, reduced the amount of violence directed to society as a whole. One reason for the superiority of the republican system consisted in its beeing maintained by the force of the populace, rather than by force over the populace. 228
Zum Entwurf einer entsprechenden Ordnung leistet das Kunstbild des machiavellistische Unternehmers einiges. Dieser Charakter, der in der Realität ebensowenig vorkommt, wie physikalische Kunstgebilde nach Art des vollkommen leeren Raums oder des idealen Gases, verweist auf all jene, die von einer unangemessenen Gesellschaftsorganisation am ehesten profitieren. Machiavelli selbst entwickelt seine Ratschläge nicht, um einen "homo politicus" zu perfektionieren, sondern um zu zeigen, in welche Richtung sich der einzelne entwickeln muß, wenn er politisch erfolgreich sein will. Inwieweit der einzelne "mit menschlichen" und inwieweit er "mit tierischen Mitteln" arbeiten muß, hängt entscheidend vom moralischen Zustand seiner Umwelt ab. Da der Einsatz "tierischer Mittel" aber allzuleicht Eskalationseffekte zur Folge hat, muß jeder mit ihnen so sparsam wie möglich umgehen. Damit ist der Weg zu Hob225 Der externe Effekt Kirznerschen Unternehmertums ist im Idealfall die Koordination des vorhandenen Kapitals zur optimalen Befriedigung individueller Bedürfnisse. Verschwendung durch einen Mangel an Koordination und Dynamik wird minimiert. Machiavellis Unternehmer erreichen unter optimalen Bedingungen dasselbe. Ob es einer ist, der die Herrschaft über alle an sich reißt oder ob viele sich einer republikanischen Verfassung bedienen, um ihr Handeln zu koordinieren, immer ist der koordinierte Einsatz der vorhandenen Zwangspotentials zur optimalen Befriedigung aller individuellen Sicherheitsbedürfnisse die Folge. 226 Analog dazu hört der Unternehmer in der Ökonomie genau dann auf, unternehmerisch tätig zu sein, wenn er sein Kapital konsumiert, anstatt es zu investieren. Diejenigen, die ihm Kredit eingeräumt haben, werden dann in ihren Gewinnerwartungen enttäuscht. 227 Auch hier ist die Analogie offensichtlich. WeIln sich ein Wirtschaftssubjekt in einer Zwangslage befindet, mag es für den Unternehmer profitabler sein, ihn auszubeuten, als seine Kooperation zu erkaufen. 228 S. Wolin: Politics and Vision. - London: 1961. - S. 222 f.
3.4. Zusammenfassung und Kritik
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bes Naturgesetzen "in fOTO interno" vorgezeichnet. Wo es dem einzelnen nicht reicht, List und Gewalt effizient anzuwenden, um andere zur Kooperation zu bewegen, hat er gemeinsam mit ihnen Institutionen zu errichten und zu erhalten, die die Ziele eines jeden auf ihre Gemeinwohlverträglichkeit hin überprüfen und die Realisierung als schädlich erkannter Ziele verhindern. Da die hierzu Ennächtigten allzuleicht der Versuchung erliegen, das ihnen übertragene Gewaltpotential zu mißbrauchen, müssen möglichst alle Bürger an solchen Institutionen beteiligt werden. Dazu ist die relative Gleichheit sowohl des privaten, als auch des institutionell verliehenen Vennögens eine der wichtigsten Voraussetzungen. Das Problem, das sich stellt, und das Bodin zu lösen sich anschickt, ist die Frage, ob sich der einzelne auch dann an der Bildung staatlicher Macht beteiligen soll, wenn er nicht selbst mitregiert und so Gefahr läuft, irgendwann der Staatsraison zum Opfer zu fallen.
Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben Und Sünd und Missetat vermeiden kann Zuerst müßt ihr uns was zu fressen geben Dann könnt ihr reden, damit fangt es an. Ihr, die ihr euren Wanst und unsre Bravheit liebt Das eine wisset ein für allemal: Wie ihr es immer dreht und wie ihr's immer schiebt Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.' (B. Brecht)
4. Jean Bodin: Eigennützige Individuen und ihre Beeinflussung Jean Bodin, um 1530 im westfranzösischen Angers geboren, ist gelernter Jurist. Nach dem Studium an der renommierten juristischen Fakultät der Universität Toulouse. an der er auch für einige Jahre lehrt, geht er nach Paris, um sich am Parlament von Paris, dem obersten Gerichtshof des Landes, der praktischen Ausübung seines Berufs zu widmen. Nach einem Zwischenspiel in der Gunst Heinrichs des Dritten zieht er sich im Jahre 1577 als Staatsanwalt nach Laon zurück, wo er mit längeren Unterbrechungen bis zu seinem Tode im Jahr 1596 lebt. 2 In den Wirren der konfessionellen Auseinandersetzungen, die ihm offenbar sogar eine Gefängnisstrafe wegen Häresie eingebracht haben, 3 wird Bodin zum Politique, das heißt zum Verfechter eines auf Frieden und Ausgleich gerichteten Kurses, der die Duldung konkurrierender religiöser Bekenntnisse aus Opportunitätsgründen befürwortet. Der Verteidigung und Durchsetzung dieses Kurses ist der Großteil seiner politischen und juristischen Arbeit gewidmet. 4 1 B. Brecht: Die Dreigroschenoper. - Frankfurt!M: 1968. - S. 69 (2. Dreigroschen-Finale). 2 Biographisch ist immer noch die große Studie von Chauvire (R. Chauvire: Jean Bodin. Auteur de la Republique. - Paris: 1914. - 543 S.) wesentlich. auch wenn Goyard·Fabre in einer neue ren Arbeit (S. Goyard-Fabre: Jean Bodin et le Droit de la Republique. - Paris: 1989. - 310 S.) die Akzente etwas anders set21. Bodins flÜhe Studien- und Lehrjahre in Toulouse beschreibt Mesnard in einer kurzen aber eindrucksvollen Skizze (p. Mesnard: Jean Bodin et Toulouse. - Toulouse: 1961. - 71 S.). Für einen ersten Blick auf Bodins Leben und Werlc in deutscher Sprache ist die Einleitung von P. C. Mayer-Tasch zur deutschen Übersetzung der Republique maßgebend. (p. C. Mayer-Tasch: "Einführung des Herausgebers in Jean Bodins Leben und Werk" in: J. Bodin: Sechs Bücher ... (übersetzt von B. Wimmer). - München: 1981. - Bd. I. - S. 11-51}. 3 K. D. McRae: "Introduction" in: J. Bodin: The six books of the commonweale. - Cambridge: 1962. -794 S. A7. 4 Bibliographische Angaben zur Bodin-Forschung hat u. a. G. Roellenbleck zusammengetragen (G. Roellenbleck: "Zum Schrifttum über Jean Bodin seit 1963" S. 339 ff in: Der Staat. - 2 (1963)
4. Jean BOOin
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Bodin wirbt dafür, den religiösen Konflikten, die Frankreich erschüttern, durch eine Stärkung der Staatsgewalt zu begegnen und diese Stärkung dadurch herbeizuführen, daß unterschiedliche religiöse Bekenntnisse nebeneinander zugelassen werden. Können die einzelnen dann darauf rechnen, im Rahmen staatlicher Ordnung "nach ihrer Facon seelig" zu werden, so dürfte die Mehrheit unter ihnen dem Staat, der dies möglich macht, ihre Unterstützung nicht versagen. Auf diesem Kurs sieht sich Bodin vor allem zwei Gruppen von Gegnern gegenüber: den "Machiavellisten" im Dienste der Krone und den konstitutionalistischen "Monarchomachen". Die erste dieser Gruppen setzt sich vor allem aus dem Beraterkreis der Catharina de Medici zusammen, der mit dem Principe in der Hand die Bartholomäusnacht vorbereitet habe,s wie Bodin im Einklang mit vielen Zeitgenossen vermutet. Seiner vehementen Angriffe auf Machiavelli zum Trotz argumentiert Bodin selbst in einer Weise, die Machiavelli zumindest sehr nahesteht. Lediglich in der Beurteilung entsprechenden Handeins ist er uneins mit dem Florentiner. Aus diesem Grunde sind seine Hauptgegner auch nicht die machiavellistischen Fürstenberater, sondern die Monarchomaehen, die hugenottischen Kritiker des entstehenden Absolutismus. Diese Fraktion, die den König der Ständeversammlung unterordnen will, wird von Bodin zwar nirgendwo explizit genannt, aber die gesamte Argumentation der Republique scheint sich gegen sie zu richten. 6 Mit ihrer Verteidigung eines legitimen Widerstands gegen den König provozieren sie in seinen Augen den Bürgerkrieg und nehmen so bewußt die Zerstörung des Staates in Kauf. Sie untergraben damit nicht nur die Macht des augenblicklichen Königs, sondern königliche Macht überhaupt. In seinem politischen Kampf streitet Bodin mit allen Waffen des universal gebildeten Gelehrten. Er ist nichts weniger als ein "Schmalspurfachmann", vielmehr außerordentlich belesen und mit allem befaßt, was einem Gelehrten der Renaissance eine Erweiterung des geistigen Horizonts zu versprechen und S. 277 ff. in: 3 (1964» Ansonsten enthalten die Übersetzungen nützliche Infonnationen. Wimmer beispielsweise versteht die Bibliographien im ersten wie im zweiten Band seiner Übersetzung der Republique ausdrücklich als Fortschreibung derjenigen in der von Horst Denzer herausgegebenen und nach wie vor grundlegenden Artikelsammlung der internationalen BOOin-Tagung in München von 1973 (H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin - Verhandlungen der internationalen BOOin Tagung in München. - München: 1973. - 547 S.) Den aktuellen Forschungsstand zu BOOin geben inzwischen verschiedene Kongreß-Dokumentationen wieder. Wichtig bleibt nach wie vor der bereits erwähnte Sammelband von Denzer, sowie die umfangreiche Dokumentation eines interdisziplinären Kolloquiums der Universität Angers vom Mai 1984 (Universite d'Angers: Jean Bodin - Actes du Colloque Interdisciplinaire d'Angers 24 au 27 Mai 1984. - Angers: 1985. - 2 Bde. - 633 S.). 5 Der Vorwurf des Machiavellismus trifft sie freilich nicht allein. Selbst Politiques blieben von ihm nicht verschont (vergI. hierzu auch: M. E. Beaume: "The Use and Abuse of Machiavelli: The Sixteenth-Century French Adaption" in: Journal of the History of Ideas. - XLII/I (1982). - S. 33-54. 6 Hier vor allem: J. BOOin: Sechs Bücher über den Staat. - Vorwort - S. 96; vergl. auch: J. H. M. Salmon: "BOOin and the Monarchomachs" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 361 ff.
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scheint. Physik, Geographie und Medizin gehören ebenso dazu wie Theologie, Geschichte und Philosophie, wie Astrologie, Esoterik und Magie. 7 Darüber hinaus arbeitet er interdisziplinär und versucht sich an einer allumfassenden Synthese seines Wissens zum Wohle der Menschen und des Landes, in dem sie leben.8 Das Ergebnis seiner intellektuellen Neugierde bringt er leidenschaftlich in die politische Auseinandersetzung ein. Er ist an allem interessiert, was die Verfassung "seines" Gemeinwesens verbessern könnte und schreibt zu ökonomischen und politischen ebenso wie zu juristischen Fragen. 9 Weil er bei aller Praxisorientierung aber nie die theoretische Fundierung vergiBt 10, soll dieser Perspektive unser ganzes Interesse gelten. 11 7 Diesem Aspekt seines Denkens, der in unserem Zusammenhang vernachlässigt wird, entspringt ein Buch über die Geisterwelt, die Demonomanie des Sorciers. Daß Bodins diesbezügliche Interessen sich nicht auf die Theorie beschränkten, vermerkt M. Leathers Daniels Kuntz in ihrer Einleitung zum Heptaplomeres. Sie schreibt: "In 1578 Bodin presided as judge in a case of witchcraft brought against Joanna Harvilleria. Bodin found the woman guilty as charged and condemned her to death. In the praefatio of De la demonomanie (1580) Bodin explains the charge and the penalty, and with the witchcraft case as a starting point, Bodin unfolds in the rest of the book his concept of the world of spirits." J. Bodin: Colloquium ... (trans!. and edited by M. Leathers Daniels Kuntz). - Princeton: 1975. - Introduction. - S. XXXIV. 8 D. R. Kelley "The DeveJopment and Context of Bodin's Method" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 124 f. 9 Dennert betont zu recht, daß der Praktiker Bodin auch ein begeisterter Theoretiker war.(1. Dennert: "Bemerkungen zum politischen Denken Jean Bodins" - in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 215) Nichtsdestoweniger scheint mir im vorliegenden Zusammenhang sein praktisches Anliegen wesentlicher zu sein. Zur Menschheitsgeschichte, unter die Bodin den gesamten Schatz menschlicher Erfahrung faßt, schreibt der Gelehrte: "Et cette histoire, il nous a semble qu'il convenait surtout d'y travailler non pas lant poor les solitaires que pour ceux que se melent au siede et qui participent a la vie sociale. C'est poorquoi, parmi les trois genres envisages, nous avons abandonne lant soit peu l'histoire sacree aux theologiens et l'histoire naturelle aux philosophes en attendant le jour oii nous aurons ete suffisamment formes par les actions humaines et les le~ons qu'elles comportent." (J. Bodin "La Methode de I'Histoire" in: P. Mesnard: Oeuvres Politiques de Jean Bodin. - Paris: 1951. - Kap. 1 - S. 282) Bodins Definitionen spiegeln denn auch die politischen Probleme seiner Zeit. In bezug auf den Inhalt, wenn auch nicht in bezug auf die Form, gilt auch für ihn, was Hans Maier für Thomas Hobbes geschrieben hat: "Aber wie im Werk des Thukydides, den er über alles liebte, der Schrecken einer revolutionären Wende in Sätzen von marmorner Kühle festgehalten ist, so bewahren die strengen und festen Perioden des Hobbes das Entsetzen einer in Auflösung befindlichen religiösen und politischen Ordnung - ähnlich wie in der geschlossenen Muschel die Bewegung des Ozeans zittert und dröhnt." (Hans Maier: "Hobbes" in: ders. (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens. - Bd. 1 (Plato bis Hobbes). - München: 1968. - S. 375). 10 Mesnard schreibt in seiner Einführung zur französischen Übersetzung von Bodins philosophischen Schriften: "L'ouvrage comprend, notre avis, deux fa~ades. L'une donne sur la science desinteressee et objective [... ] Mais l'oovrage s'ouvre non moins largement sur les difficuJtes contemporaines, sur la crise tragique oii se dehattent nos institutions , en apparence depassees par le courant de I'Histoire." (p. Mesnard: "Vers un Portrait de Jean Bodin" in: P. Mesnard: Oeuvres Politiques de Jean Bodin. - Paris: 1951. - S. XVII f.).
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11 Bodins Stellung zwischen Mittelalter und Neuzeit, auf die Autoren wie Dennert und Gisey zu Recht nachdrücklich hinweisen,(J. Dennert: "Bemerkungen zum politischen Denken Jean Bodins" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 215: R. E. Gisey: "Medieval Jurisprudence in Bodin's Concept of Sovereignty" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 167-186. - S. 183) bleibt deshalb etwas unterbelichtet.
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Hauptquelle der beabsichtigten Rekonstruktion des Bodinschen Politikverständnisses ist das wichtigste seiner Bücher, das den Titel trägt: Les Six Livres de la R~pub/ique (im folgenden: Republique).I 2 Daneben werde ich seine erste Veröffentlichung verwenden, eine Schrift über die geeignete Methode zum Studium der Geschichte 13 (im folgenden: Methodus). Bodin, der das Verständnis der Geschichte für die Kenntnis der Mechanismen von Politik und Recht für wesentlich hält, legt in diesem Lehrbuch die Grundlagen der Disziplin. Erwähnung finden wird zudem ein Buch zu ökonomischen Fragen, die R~ponse au Paradoxe de Monsieur de Malestroict (im folgenden: R~ponse),14 eines frühen Beitrags zur Nationalökonomie, sowie das Tableau du Droit universei (im folgenden Tableau))5 Wie Allen zu Recht feststellt, können beide Werke als Vorarbeiten zur R~publique verstanden werden,16 auf die ich mich deshalb vor allem beziehen werde. Von Bodins späteren Werken ist in unserem Zusammenhang noch das erst 1841 erstmalig veröffentlichte Heptaplomeres 17 interessant, 12 In bezug auf die Six Livres de la Republique kann sich der Forscher vor allem auf die Faksimile-Ausgabe von 1583 (J. Bodin: Les six Livres de la Republique. - (Faksimile Reprint). - Aalen: 1977. - 660 S.) stützen. Seine Arbeit wird außerordentlich erleichtert durch eine Reihe sorgfältig edierter moderner Übersetzungen. Die englische Übersetzung, die Richard Knolles bereits 1686 angefertigt hat und die 1962 von Kenneth D. McRae (1 Bodin: The six books of the commonweale. (Faksimile Reprint der englischen Übersetzung von R. Knolles aus dem Jahre 1686; annot, ergänzt und hrsg. von K. D. McRae. - Cambridge: 1962. - 794 S.) wieder herausgegeben wurde. wird dabei seit kurzem durch die deutsche Übersetzung Bemd Wimmers ergänzt (1 Bodin: Sechs Bücher über den Staat. - (übersetzt von B. Wimmer). - München: 1981-86. - 2 Bde.), aus der ich im folgenden auch zitiere. 13 Den Methodus habe ich in der französischen Übersetzung von Pierre Mesnard benutzt (1. Bodin "La Methode de I'Histoire" in: P. Mesnard (Hrsg.): Oeuvres Politiques de Jean Bodin. - Paris: 1951. - S. 271-473). Wo er im Text zitiert wird, habe ich ihn selbst übersetzt. 14 Das Expose du Droit Universelliegt seit 1985 in einer französischen Übersetzung von Lucien Jerphagnon vor (1. Bodin: Expose du Droit UniverseI. - (übersetzt von L. Jerphagon und kommentiert von S. Goyard-Fabre). - Paris: 1985. - 172 S.). 15 J. Bodin: "Tableau du Droit universei" in: Mesnard, P. (Hrsg.): Oeuvres Politiques de Jean Bodin. - (Band V, 3 des Corpus General des Philosophes Fran~ais. hrsg. von R. Bayer). - Paris: 1951. - S. 81-97. 16 J. W. Allen: A History of Political Thought ... - S. 395. 17 Das Colloquium Heptaplonleres, daß lange nur in Auszügen zugänglich war (J. Bodin: Colloque de Jean Bodin des secrets cachez des choses sublimes entre sept s~avants 'Colloquium Heptaplomeres'. - (In Auszügen übersetzt und hrsg. von Roger OJauvire). - Paris: 1914. - 212 S.), ist in einer englischen Ausgabe erschienen (1. Bodin: Colloquium of the Seven about Secrets of the Sublime. - (übers., annot. und hrsg. von M Leathers Daniels Kuntz). - Princeton: 1975. - 590 S.) und wie die anderen sorgfältig annotiert, was gerade bei einem Autor wie Bodin eine bewundernswerte Leistung ist. Es handelt sich dabei um ein fiktives Gespräch von sieben Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen. Die Herausgeberin der englischen Übersetzung faßt die Positionen wie folgt zusammen: "Coronaeus the Catholic, the gentle peacemaker who does not want to offend anyone, represents authority and tradition. SalOlnon the Jew, who commands respect by his erudition and his advanced age, displays a vast knowledge of the Cabala and the Old Testament .... Octavius, a convert from Catholicism to Islam, points out that Muslims have ideas common to both, the Jewish and Christian religions. He believes that many religions can be received by astate .... Curtius, the Calvinist represents the Reformed religion with its emphasis on inner piety .... he is not nearly so dogmatic as the Lutheran Fridericus, a mathematician who ... is the least tolerant of the seven. Senamus is the skeptic who questions the beliefs of all but says that all religions are good .... Toralba believes
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ein außergewöhnliches Buch, in dem es um das ftktive Streitgespräch von sieben Angehörigen verschiedener Religionen und Weltanschauungen geht. Dieses Buch enthält wichtige Hinweise auf Bodins Vorstellung vom Verhältnis zwischen Religion und Politik. Die anderen nach der Republique enstandenen Werke sind für unser Thema nur von untergeordneter Bedeutung,18 ich werde sie deshalb unberücksichtigt lassen. 19
4.1. Der humanistische Pragmatiker in Recht und Politik Bodin ist Jurist, er will dem Problem zerfallender staatlicher Einheit begegnen, indem er über das aufklärt, was gerecht ist. Die den Staat gefährdenden Ansichten der Machiavellisten und Monarchomaehen sind seiner Meinung nach nicht Folge bösen Willens, sondern entspringen der Unfähigkeit, die staatlichen Belange richtig zu sehen. 2o Kann der Autor hier falschen Anschauungen begegnen, werden die Zerstörer des Staates im eigenen Interesse zur "rechten" Sicht der Dinge und damit zum Gehorsam gegen das Naturrecht bzw. ihren Souverän zurückkehren. Bodin will so als Jurist seinen Beitrag leisten, um das schlingernde Staatsschiff vor dem Untergang zu bewahren. 21 Auch hier sind die staatliche Einheit und damit die Verhinderung des Bürgerkriegs das Wesentliche. Es muß Frieden herrschen, bevor ein wirkliches soziales Leben überhaupt möglich werden kann.22 Zur ersten, in französischer Sprache erthat true religion consists in the simple adoration of GOO and following the laws of nature. He thinks rites and ceremonies are unnecessary."(J. Bodin: Colloquium ... - Introduction. - S. XLIVXLV). 18 VergI. dazu J. W. Allen: A History of Political Thought. .. - S. 398 f. 19 Da es mir weniger darauf ankommt, die Entwicklung des Bodinschen Denkens in der Zeit nachzuzeichnen, habe ich im Vertrauen auf die detailierte Darstellung der Unterschiede bei McRae (1(. D. McRae: "Introduction" in: J. Bodin: The six books of the commonweale. - Cambridge: 1962. - S. A31) auf einen genauen Vergleich der Editionen verzichtet. 20 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Vorwort - S. 96. 21 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Vorwort - S. 93. 22 Im Bild des Staatsschiffes ausgedrückt faßt Bodin die Souveränität als Garanten der Einheit: "Wie aber ein Schiff nicht mehr als ein Haufen Holz ohne die Form eines Schiffes ist, wenn man den Kiel, der die Spanten trägt, den Bug, das Heck und die Takelage entfernt, so ist auch der Staat ohne souveräne Gewalt, die alle seine Glieder und Teile ... zu einem einzigen Körper verbindet, kein Staat mehr.... weder seine Wohn stätten noch seine Bevölkerung machen das Gemeinwesen aus, sondern die Vereinigung eines Volkes - mag es auch nur drei Familien umfassen - unter einer souveränen Herrschaft." (J. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd 1. - Buch I - Kap. 2 - S. 109 (F. 12); siehe auch ebenda: Kap. 7 - S. 198 (F 113 f.»; auch diese These hat übrigens Vorgänger. So schreibt Thomas v. Aquin: "Die Wohlfahrt und das Heil einer zu höherer Gemeinschaft verbundenen Menge ist es aber, jene Einigkeit zu erhalten, die man Friede nennt; ohne sie geht aller Nutzen, der aus dem Leben der Gemeinschaft erwächst, zugrunde, und die entzweite Menge wird sich selbst zur Last." (Ib. von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. - Stuttgart: 1981. - S. 11); Dante erlclärte die Erhaltung des Friedens gar zur einzigen Aufgabe des Staates (vergl. hierzu: D. J. Wilcox: In Search of God and Self. - Boston: 1975. - S. 48), und Erasmus, der Zeitgenosse Bodins, widmet dieser These seine Querela Pacis, ein leidenschaftlicher Aufruf an die Parteien, den Religionskrieg, der auch den
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schienenen Ausgabe der Republique erklärt Bodin, daß er für seine Ausführungen nicht die Gelehrtensprache Latein gewählt habe, um all jene zu erreichen, "die den Wunsch und den Willen haben, daß unser Königreich wieder im alten Glanz erstrahlen und eine neue Blütezeit in Krieg und Frieden erleben möge."23 Seiner patriotischen Wortwahl zum Trotz setzt er allerdings weniger auf die Vaterlandsliebe des französischen Adels, er appelliert vielmehr an ein Rechtsbewußtsein, das seine Kraft vor allem daraus bezieht, weitgehend mit Nützlichkeitserwägungen übereinzustimmen. In seiner Diskussion von Recht und Politik geht es Bodin also weniger um gelehrte Abhandlungen als vielmehr darum, praktisch zu wirken. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß er sich, wie schon Machiavelli, deutlich von Utopien und anderen philosophischen und theologischen Weltentwürfen absetzt. 24 Derselben Konzentration auf das praktisch Relevante ist es zuzuschreiben, wenn Bodin sich relativ wenig um Geschichtsspekulation kümmert. Zwar teilt er die klassische Auffassung, daß die Geschichte sich im Kreise bewege, und steht so der teleologischen Idee des Abfalls von einem goldenen Zeitalter ablehnend gegenüber. 25 Für die praktische Politik aber sind ihm diese großen Zusammenhänge relativ unerheblich, da sich der Ablauf des Prozesses
Glauben zerstöre, endlich zu beenden. (Vergl. zur Notwendigkeit des Friedens vor allem den Schluß von Erasmus: Klage des Friedens. - Klosterberg: 1945. - S. 102). 23 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Vorwort - S. 93; dieses Bestreben hat der wissenschaftlichen Seite von Bodins Werk nicht immer genützt. K. D. McRae schreibt dazu: "It can hardly be disputed that {Bodin's) capacity for dispassionate analysis varies in proportion to distance from his own country and French interests ... In analysing France he was undoubtedly strongly influenced by the constitutionaIism of his predecessors and contemporaries. His own delicate political position was also an important factor and unconscious bias also appears from time to time. Beyond this we should remember the very strong programmatic elements in the Republiqlle. It was not only a general treatise on politics but a political programme of the Politiques, a remedy for the contemporary crisis of authority in France." (K. D. McRae: "Bodin and the Developrnent of Empirical Political Science" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 341). 24 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 1 - S. 101 (F. 4); vergl. hierzu auch E. Hinrichs: "Das Fürstenbild Bodins und die Krise der französischen Renaissancemonarchie" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 286; auch was die Mittel betrifft, auf die Bodin setzt, ist er eher Politiker als Prediger. Nichts könnte ihm fremder sein als der Aufruf des Erasmus: "Alle müssen sich gegen den Krieg verschwören und ihn gemeinsam verlästern. Den Frieden aber sollen sie im öffentlichen Leben und im privaten Kreise predigen, rühmen und einhämmern. Wenn sie nicht verhindern können, daß die Entscheidungen mit dem Schwert ausgetragen werden, so sollen sie wenigstens nicht beistimmen und mitmachen, damit nicht ihre Autorität eine so gottlose oder sicherlich zweifelhafte Angelegenheit gutzuheißen scheint." Erasmus: Klage des Friedens. - Klosterberg: 1945. - S. 66 f. 25 1. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 7 - S. 424 ff.; vergI. auch seine Idee vom Aufstieg und Fall der Staaten: "... ins Leben getreten, beginnt ein gut bestellter Staat, sich gegen äußere Mächte und innere Krankheiten zur Wehr zu setzen und nimmt dann allmählich an Macht zu, bis er den Gipfel der Vollkommenheit, also den Zustand der Blüte erreicht hat, der wegen der Unbeständigkeit der menschlichen Dinge nur von kurzer Dauer sein kann." (J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. I - S. 25 (F 504».
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durch kluge Politik durchaus herausschieben lasse. 26 Seinem Pragmatismus zum Trotz teilt Bodin aber keineswegs vorbehaltlos die kaltschnäuzige Machtmechaniker-Perspektive Machiavellis.27 So sehr er wirkungsvolle Ratschläge geben will, so wenig will er sich einer rein weltimmanenten Erklärung von Politik ausliefern. Nicht nur, daß er diese, ob ihrer bedingungslosen Diesseitigkeit, für atheistisch hält, er hält sie zudem für unzureichend, um den Staat zu stärken. Im Zusammenhang mit der richtigen Besetzung eines Senats, d. h. eines Beratungsgremiums für den Souverän, schreibt er: Wenn ich von Weisheit spreche (die die Senatoren mitbringen sollten H. H.), so ist damit immer Weisheit, verbunden mit Gerechtigkeit und treuer Ergebenheit, gemeint. Denn Schurken als Senatoren sind, auch wenn sie mit List und Erfahrung gewappnet sind, nicht minder gefährlich, wenn nicht noch gefährlicher, als ungebildete schwerfällige Menschen, weil es sie nicht anficht, ein ganzes Gemeinwesen zu zerstören, solange nur ihr Haus inmitten der TJÜmmer erhalten bleibt. 28
Für Machiavelli machte diese Unterscheidung noch keinen Sinn. Inmitten einer Welt ohne staatsbürgerliche Tugend empfahl der Florentiner seinen Adressaten schon deshalb "schurkische" Mittel, weil sie andernfalls schnell von der politischen Bühne verschwänden. Wo dies nicht mehr der Fall ist, wäre auch er der Ansicht gewesen, daß in einer solcherart "besseren Welt" schurkische Mittel nur die Basis des noch vorhandenen Konsenses zerstören. Wenn Bodin seinen Adressaten deshalb Tugend anrät, hat dies weniger damit zu tun, daß er machiavellistische Methoden prinzipiell ablehnt. Es ist auch darauf zurückzuführen, daß diese Methoden der politischen Lage nicht mehr angemessen sind. Da Bodin davon ausgehen kann, daß seine Zeitgenossen auch noch andere Interessen haben als die, ihre individuellen Machtmittel zu steigern, und man an diese überindividuellen Interessen mit der Hoffnung auf einigen Erfolg appellieren kann, ist er sensibler für die Möglichkeiten der Einflußnahme durch Argumentation. 29 Wie wir noch sehen werden, rechnet aber auch er nicht da26 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 3 - S. 81
CF 572).
27 Es sind vermutlich weniger Machiavellis Thesen, die schockieren, als mehr die Tatsache, daß jemand sie ausspricht. Meinecke schreibt zu diesem Thema: "Es war etwas wesentlich anderes, ob man das Sittengesetz in der Politik nun tatsächlich übertrat oder ob man sich, wie es fortan nUll möglich wurde und mehr und mehr geschah, rechtfertigen konnte mit einer unausweichlichen "Notwendigkeit". Im ersten Falle blieb das Sittengesetz in seiner absoluten Heiligkeit selber unversehrt als eine überempirische Notwendigkeit. Jetzt aber wurde diese überempirische Notwendigkeit durchbrachen durch eine empirische Notwendigkeit, und das Böse erstritt sich einen Platz neben dem Guten." F. Meinecke: Die Idee der Staats raison in der neueren Geschichte. - München: 1925. S.49). 28 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 1 - S. 405
CF 346).
29 "So komint es, daß sich unsere Vorväter der Antike Herkules Celticus als einen alten Mann vorstellten, der hinter sich die Völker mit an ihre Ohren geschmiedeten Ketten einherzog, die aus seinem Munde kamen, womit sie zum Ausdruck brachten, daß die Heere und die Macht der Könige weniger ausrichten als die feurige Glut eines redegewandten Menschen, ... da es sich ... dabei un1 die Kunst handelt, trefflich zu lügen, unterliegt es keinem Zweifel, daß auf einen, der von dieser Kunst den rechten Gebrauch macht, 50 andere kommen, die sie mißbrauchen." (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 7 - S. 157 CF 660».
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mit, daß man Menschen dazu bewegen kann, langfristig gegen ihre eigenen Interessen zu handeln, bestenfalls lassen sich die daraus resultierenden Konsequenzen abschwächen oder verstärken. 4.1.1. Die menschlichen Bedürfnisse als Ausgangspunkt
Unbenommen wichtiger Unterschiede baut Bodin sein Argument auf den Erkenntnissen Machiavellis auf. Dieser war zu dem Schluß gekommen, daß Menschen auch dann zur Kooperation in der Lage sind, wenn sie nur ihre individuellen Interessen realisieren wollen, d. h. der Befolgung überindividuell legitimierter Normen im wesentlichen gleichgültig gegenüberstehen. Wichtig war nur, zu verhindern, daß einige von ihnen auf Kosten von Bescheideneren Sonderprofite einfahren. Dazu war ein Gewaltmonopol nötig, das denjenigen Sanktionen androhte, die bereit waren, die Bedingung der Kooperation zu zerstören. Der Fürst, der eine geordnete Gesellschaft zur Stabilisierung der eigenen Macht benötigte, war gern bereit, diese gemeinnützige Aufgabe im eigenen Interesse auszuführen. Bodin will mit seiner juristischen Argumentation die Wirkung von Machiavellis GewaItmonopol noch verstärken. Wenn sein Appell Erfolg hat, handeln die Untertanen des französischen Königs nicht mehr nur gemeinschaftskonform, weil sie durch die Zentralgewalt dazu gezwungen werden, sondern weil sie sich freiwillig nur auf das ihnen Zustehende beschränken. Damit hat Bodins Rechtskonzeption aller philosophisch theologischen Absicherung zum Trotz eine durch und durch sozialtechnische Stoßrichtung. Daß sie mehr ist als das, wird im folgenden nur am Rande diskutiert werden können. 3o Wenn Bodin glauben kann, mit seiner Forderung nach Einhaltung von Rechtsnormen dem Ruf zu entgehen, nur in sophistischer Manier für die Partikularinteressen seines Fürsten zu streiten, einzig darauf gerichtet, "Dumme" zu fangen, so deshalb, weil er im Unterschied zu Machiavelli bei seinem Versuch, den Staat zu stärken, von einer etablierten Ordnung ausgehen kann. Sein Fürst ist der Notwendigkeit enthoben, mit flüchtigen Interessenparallelen zu jonglieren, um sich "aus dem nichts" ein Gewaltpotential zu schaffen. Er ist vielmehr seit langem an der Macht, und sein Staat ruht auf Traditionen und altehrwürdigen Gesetzen. 3l Wo seit langer Zeit ein, wenn auch angefochtenes, GewaItmo30 Schon im Tableau jedenfalls faßt Bodin den Sinn der Rechtsprechung in ganz eindeutiger Weise: "La Jurisprudence est l'art de rendre a chacun son du, de maniere a conserver la societe entre les hommes, et comme c'est une vertu de I'esprit, on la rencontre jusque chez les seele rats. qui jugent avec prudence de quelle maniere il convient de fonder leur association et ce qu'il convient a chaque membre de donner ou de faire." (J. Bodin "Tableau du Droit universei" in: P. Mesnard: Oeuvres Politiques de Jean Bodin .. Paris: 1951. . S. 84). 31 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 . Buch I . Kap. 2 . S. 107 ff (F 10 ff.); siehe auch: Bd. 2 Buch IV Kap. 3 . S. 83 (F 575 ff.).
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nopol besteht, wo über Jahrhunderte die Respektierung von Gesetzen erzwungen wurde und so im Vergleich zu Machiavellis Italien Gewalt in der Innenpolitik eine eher geringe Bedeutung hat, gewinnt Recht in der Politik eine größere Bedeutung. Die Menschen in Bodins Welt sind weniger korrupt als Machiavellis Zeitgenossen und so einer juristischen Argumentation zugänglicher als diese. Sie sehen Gerechtigkeit eher als etwas Wünschenswertes an und lassen sich gemeinhin durch eine Demonstration der Rechtmäßigkeit eines Sachverhalts in ihrem Handeln beeinflussen. Nicht der sozialen Konsequenzen des "gerecht" oder "ungerecht seins" wegen reagieren sie, sondern um einem genuinen Interesse an Gerechtigkeit Rechnung zu tragen. Auch wenn sich in bezug auf einzelne Menschen nicht sagen läßt, ob sie im Laufe der Zeit "besser" geworden sind als Machiavellis italienische Zeitgenossen, läßt sich doch für die Gesamtheit sagen, daß eine juristische oder theologische Argumentation bei ihnen eher auf fruchtbaren Boden fällt. Wo dies der Fall ist, kann der "Ruf zur (gesetzmäßigen) Ordnung" genauso konsensstiftend wirken wie Machiavellis Aufforderung zu rationaler Interessenkalkulation. Bodin kehrt denn auch MachiavelIis Satz vom Verhältnis von Recht und Waffen genau um: "Die wahre Kunst des Fürsten besteht darin, über sein Volk Gericht zu halten. Gegen den Feind mögen ihm zwar Waffen gut anstehen. Gerechtigkeit aber braucht er überall und jederzeit."32 Bodin ist also weit entfernt von dem politischen Nullpunkt MachiaveIIis, an dem ein skrupelloser Fürst in einer korrupten Welt versucht, seinem mit fremden Waffen und Glück eroberten Fürstentum nachträglich Fundamente zu geben. Das Problem bleibt freilich, daß Recht nur eine mögliche Präferenz der Menschen ist, die mit anderen in Konflikt geraten kann. Um die Wirksamkeit von Bodins Appell abschätzen zu können, ist es deshalb wesentlich, etwas über die Bedürfnisstruktur der Menschen zu wissen. Bevor also auf seine Argumentation im einzelnen eingegangen werden kann, ist es notwendig, Bodins Menschenbild zu kennen. Bodin sieht die menschlichen Bedürfnisse hierarchisch geordnet. Jedes höhere Bedürfnis hat die Befriedigung der niedrigeren zur Voraussetzung, und während selbst die Tiere die Selbsterhaltung als wichtigstes Gut erachten, erreichen längst nicht alle die Spitze der Hierarchie:
32 J. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 6 - S. 116 (F 612).
4.1. Der hwnanistische Pragmatiker in Recht und Politik
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... da der Selbsterhaltungstrieb zutiefst in unseren Herzen verankert ist, sind die ersten menschlichen Akte auf die Sicherung des eigenen Überlebens gerichtet, erst danach erstreben die Menschen Hilfen, ohne die das Dasein allzu hart wäre. Es folgt die Suche nach einfachem Komfort und später die nach Annehmlichkeiten, die aIlerdings noch weit von der Raffinesse entfernt sind, die unsere Sinne so angenehm berühren. Auf diese Weise entsteht das Bedürfnis, Reich· turn aufzuhäufen. Aber da die Vergnügungssucht, der Menschen und Tiere gleichermaßen fröhnen, kein Ende findet, wird sich ein Mensch um so stärker von der Gemeinsamkeit mit den Raubtieren abheben, je großzügiger er sich zeigt, wn den Vorrang verheißenden Forderungen der Größe zu genügen. Hieraus erwächst die Leidenschaft zu hemchen und die Gewalttätigkeit den Schwächeren gegenüber. Streitigkeiten, Kriege, Versklavung und Gemetzel sind die Folge. Aber weil diese Art zu leben nur Unruhe und Gefahr erzeugt, ist die damit erworbene Größe eitler Schein. Einem feineren Geist kann sie kaum genügen. Aus diesem Grunde neigt sich jeder rechte Mensch mehr und mehr tugendhaften Handlungen zu, die allein wahres Lob und sichere Ehre einbringen. Sie sind für viele das höchste Gut.33
Die Idee, daß die Menschen erst ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen, bevor sie sich, unabhängig vom Nutzen, Rechtsüberlegungen und später auch solchen theologischer Natur zuwenden, findet sich schon in Platons Bild vom "Staat der Schweine".34 Auch Aristoteles nimmt diesen Gedanken auf, aber in beiden Fällen geht es um die Überwindung der irdischen Ordnung auf dem Weg zum Guten. Für Platon vor allem sollen die wenigen Edlen an der Spitze die anderen zum "Heil" bekehren, nicht etwa sie politisch anführen. Geht man aber davon aus, daß man einzelnen nicht von außen ansehen kann, auf welcher Stufe der Entwicklung sie stehen, und fragt man nach der Wirksamkeit politischer Maßnahmen auf eine Menschenmenge, in der sowohl "edlere" als auch "gemeine" Menschen vorkommen, so kehrt sich die Bedeutung der Ebenen um. Von der ethischen Bewertung her mögen die edlen Menschen zwar immer noch das höchste Lob verdienen, aus pragmatischer Sicht sind sie als Minderheit nahezu irrelevant. Damit ist für Bodin in der praktischen Politik die Ebene der Bedürfnisbefriedigung zwar die wertmäßig niedrigste, aber die für das praktische Handeln verläßlichste. Hier kann er noch mit relativ sicheren Erfolgen rechnen, während anderenfalls alles davon abhängt, ob die Adressaten "edel" genug sind oder einen genügend "feinen Geist" ihr eigen nennen. Dabei ist gar nicht ausgeschlossen, daß " ... ein tapferer und edler Mensch die Ehre mehr schätzt als alle Güter der Welt, ... daß er bereitwillig Leben und Besitz aufopfert für die Ehre, die er sich dadurch erhofft",35 und es mag immer noch zutreffen, daß "Je größer die Ehren, desto größer ... die Zahl derer, die sie verdienen".36 Aber da mit größerer Wahrscheinlichkeit die "Barbaren" unterschied33 J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 3 - S. 287 f.; (Übersetzung von mir, H. H.); vergl. hierzu auch die entsprechenden Formulierung eines wichtigen Vertreters der modemen Psychologie: A. H. MASLOW: Motivation und Persönlichkeit. - Reinbek: 1989. - S. 51; sowie: "Es stimmt zwar, daß der Mensch vom Brot allein lebt - wenn es keines gibt. Aber was geschieht mit menschlichen Wünschen, wenn es Brot genug ist und wenn der Magen chronisch voll ist? Sofort tauchen andere (und höhere) Bedürfnisse auf ... Und wenn diese befriedigt sind , kommen neue (und wiederum höhere) Bedürfnisse zum Vorschein, und so weiter. (ebenda. S. 65). 34 Platon: Der Staat. . Stuttgart: 1982. - S. 144 (Buch 11, 372 d). 35 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch V - Kap. 1 - S. 216 (F 732).
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lichsten Grades die Menge ausmachen, ist es vermutlich sinnvoller, ganz im Sinne Machiavellis die Drohung der Ehrung vorzuziehen. Welche Bedeutung die Hierarchie der Interessen für die Politik hat, läßt sich am ehesten erkennen, wenn man sich Bodins Vorstellung von der Entstehung von Staaten zuwendet. Er entwickelt eine Theorie des Zustandekommens menschlicher Gemeinschaften um des gegenseitigen Vorteils willen. Langsam wächst aus Familie, Dorf, Stadt und Landstrich der Staat. 37 Mit der Vorstellung, daß die menschliche Gemeinschaft in den ersten Stadien noch keine staatliche Organisation benötigt,38 nimmt er D. Hume vorweg 39 und setzt sich von den ausschließlich auf Verteidigung ausgerichteten Erklärungen für Kooperation ab, die die Sophisten, Machiavelli und Hobbes für besonders wichtig halten. Verteidigung wird erst in größeren Gruppen relevant. Um sie zu koordinieren, unterwerfen sich die Menschen einem einzelnen. Im eigenen Interesse gehorchen sie ihm, um einheitlich handeln zu können. Bodin fährt fort: ... seit Macht. Gewalt, Geltungsdrang, Geiz und Rachsucht dazu führten, daß die Menschen mit Waffen über einander herfielen, schieden Kriege und Kämpfe an ihrem Ende die Menschen jeweils in Sieger und Sklaven. DeJjenige unter den Siegern, den sie zu ihrem Anführer und Feldhenn gemacht und unter dessen Führung sie den Sieg enungen hatten, herrschte nunmehr über die einen wie über loyal ergebene Untertanen, über die anderen wie über Sklaven .... während die Besiegten ihre Freiheit völlig verloren, wurde diejenige der Sieger insofern eingeschränkt, als sie sich ihrem souveränen Oberhaupt zum Gehorsam verpflichteten. Wer nicht bereit war, einen Teil seiner Freiheit aufzugeben und unter Gesetz und Gebot anderer zu leben, der verlor sie gänzlich.40
Bei dieser Vorstellung von der Staatsgründung ist zu beachten, daß, wie bei den Sophisten oder Machiavelli auch, bisher nur vom Eigennutz die Rede war. Die Unterwerfung kommt ganz ohne ein den individuellen Nutzen transzendierendes Motiv bei den Untertanen aus. Die einzelnen unterwerfen sich aus Selbsterhaltungstrieb. Solange sie überhaupt von Raub und Plünderung bedroht sind, wäre diese Alternative auch dann die beste, wenn der Staat schon seit langer Zeit bestünde. Ihre individuelle Interessenlage stellt so die Basis jeder Aus36 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch V - Kap. I - S. 216 (F 732). 37 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch III - Kap. 7 - S. 521 f. (F 474 f.). 38 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch III - Kap. 7 - S. 521 (F 474 f.). 39 In einer gegen die Vorstellung des goldenen Zeitalters gerichteten Stelle steigen Bodin die Vorstellung des rechtlosen Naturzustandes in einer Weise, die so auch bei Hobbes stehen könnte. Seine sonstigen Bemerkungen zum Thema zeigen aber, daß man diese Stelle mit Vorsicht genießen sollte: "Et voilll donc ces fameux siecles d'or et d'argent! Les hommes y vivaient disperses dans les champs et dans les bois comme de vraies betes sauvages, et ne possedaient en propre que ce qu'ils pouvaient conserver par la force et par le crime." (1. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 7 - S. 428). 40 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 6 - S. 158 (F 14); vergl. auch: J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. I - S. 383; sowie: Vergl. auch: "[ ... )la pleine libene de tous, c'est-adire le pouvoir de vivre a sa guise sans loi ni auto rite, fut transfere de l'ensemble des citoyens consideres isolement 11 l'un d'entre eux. J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. I - S. 382; siehe auch: J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. I - S. 25 (F 504).
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fonnung staatlichen Lebens dar, und kein Staat, der diese Interessenlage ignoriert, wird lange bestehen bleiben. Die Menschen flüchten sich zu den Starken oder Weisen unter ihnen,41 jedenfalls zu denjenigen, die am ehesten fähig scheinen, ihre Verteidigung effizient zu koordinieren. Da dies ohne Recht auf Dauer nicht zu realisieren ist, finden selbst Tyrannen zur Gerechtigkeit: "... nicht weil es so schön wäre, sondern weil es in ihrem Interesse liegt,42 wie Bodin schon im Methodus schreibt. Damit ist nicht nur die Unterwerfung unter einen Fürsten, sondern auch die unter das Recht der reinen Notwendigkeit entsprungen. Wenn Recht in der politischen Welt wirkt, ist das also nicht Folge seiner Bedeutung innerhalb der göttlichen Weltordnung, sondern entspringt menschlichen Bedürfnissen,43 und zwar nicht einem Bedürfnis nach Gerechtigkeit, sondern einem solchen an individueller Sicherheit. Daß das irdische Sicherheitsstreben mit dem himmlischen Recht übereinstimmt, ist Ergebnis göttlicher Vorsehung. Auch dies ist ein Gedanke, den Hobbes aufnehmen und weiterführen wird. Die Hierarchie der menschlichen Präferenzen macht eine Beeinflussung des Handeins von Menschen auf mehreren Ebenen möglich. Neben die für Machiavelli charakteristischen, rein technischen Empfehlungen zur Mehrung oder Verteidigung individuellen Vermögens kann durchaus ein Appell an den Gerechtigkeitssinn oder das christliche Gewissen treten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Bodin an Machiavelli nicht nur einige Ergebnisse kritisiert, sondern vor allem die mangelnde philosophische Belesenheit des Florentiners. 44 Machiavelli "hat ... nie ein gutes Buch gelesen"45, wirft er ihm vor, eine Kritik, die nun nicht nur aus der unterschiedlichen Arbeitsweise der beiden Autoren verständlich wird, sondern die durchaus pragmatische Konsequenzen hat.46 Durch die Lektüre "guter" Bücher erwirbt sich der Fürst neben der Fähigkeit, seine Untergebenen zu zwingen, auch die Autorität,47 sie führen zu dürfen. Im Methodus schreibt Bodin dazu: 41 J. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. I - S. 382. 42 J. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 1 - S. 382. 43 "Le droil humain esl celui que Ies hommes ont inslitue confomlement de leur ulilite."J. Bodin ''Tableau du Droit universeI" ... S. 85.
a la nature et en vue
44 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Vorwort - S. 95. 45 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch V - Kap. 1 - S. 178 (F 686). 46 Bodins Urteil über Machiavelli ist übrigens nicht immer negativ. Im Melhodlls findet er durchaus auch gute Worte: ''[. .. ) MachiaveI, le premier a notre avis qui ait ecrit sur ce sujet apres douze cents ans environ de barbarie universelle." Aber auch hier schränkt er ein: "eI sans doute eGtiI expose de nombreux points avec plus de veracite et de comprehension siI avait uni a l'experience la connaissance des philosophes et des historiens de l'antiquite." (J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 4 - S. 300 ) VemlUtlich wäre Bodin auch in der Ripllblique mit Machiavelli schonender umgegangen, wenn er nicht ohnehin hälle befürchten müssen, mit dem Florentiner in dieselbe tyrannenfreundliche Ecke gestellt zu werden. 47 H. Arendt faßt den Begriff wie folgt: "Autorität ... kann sowohl eine Eigenschaft einzelner 11 Hegmann
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4. lean Bodin
... wir haben dem Recht zu befehlen, zu richten, zu verlautbaren und religiöse Ämter auszuüben, die größte Bedeutung beizumessen. Während sich die beiden ersten auf den Zwang beziehen, zielen die beiden letzten darauf zu überreden, was sie freilich nicht unwichtiger sondern eher bedeutsamer macht. Durch die Kraft der Waffen und Gesetze halten die ersten vom Verbrechen ab, während die letzten durch Vernunft und Frömmigkeit zu tugend- und ehrenhaftem Handeln anleiten. In der Tat bedarf es der bewaffneten Macht, um Menschen, die wie Raubtiere sind, von Grausamkeiten und Gewalttaten abzuhalten. Danach können Recht und Billigkeit ihre Wirkung entfalten und dann erst die vernünftige Rede und die Furcht vor Gott.48
Daß die nicht auf Zwang beruhenden Mittel zur Beeinflussung der Untertanen möglicherweise eine größere Wirkung haben als die Anwendung von Gewalt. setzt wie gesagt "bessere" Menschen im Sinne von Machiavelli voraus. Allerdings haben Einwirkungen auf den höheren Ebenen allemal eine größere Chance. erfolgreich zu sein, wenn sie den jeweils unter ihnen liegenden Niveaus nicht allzusehr widersprechen. Das heißt, ein theologisches Argument wird am ehesten dann akzeptiert werden, wenn es nicht mit einer unverhältnismäßigen Aufgabe von Rechten verbunden ist, und ein juristisches Argument wird eine um so größere Chance haben, Gehör zu finden, je weniger dabei auf die Nutzung verfügbaren Vermögens verzichtet werden muß. Nicht überlebensnotwendige Werte werden je weniger handlungsbestimmend, desto teurer ihre Berücksichtigung wird; nicht nur weil man sich von einem teuren Gut leichter abwendet, sondern auch weil man die eigenen Ressourcen beim Streben nach diesem Gut schneller erschöpft. D. h. nicht. daß alle Menschen alles der Selbsterhaltung unterordnen, sondern nur, daß die Tendenz dahin gehen wird, daß Märtyrer auf Dauer von der WeIt verschwinden und diejenigen gewinnen, die sorgsam die Kosten und den Nutzen ihrer nicht-egoistischen Aktivitäten abwägen. Damit Recht "gesellschaftsverändernd" wirksam werden kann, muß es real das Handeln der Menschen beeinflussen. 49 Dies wäre am sichersten der Fall, Personen sein ... als einem Amt zugehören .... Ihr Kennzeichen ist die fraglose Anerkennung, seitens derer denen Gehorsam abverlangt wird; sie bedarf weder des Zwanges noch der Überredung. (So kann ein Vater seine Autorität entweder dadurch verlieren, daß er das Kind durch Schläge zwingt, oder dadurch, daß er versucht, es durch Argumente zu überzeugen. In beiden Fällen handelt er nicht mehr autoritär, in dem einen Fall tyrannisch, in dem anderen demokratisch." (H. Arendt: Macht und Gewalt. - München: 1975. - S. 46); für eine ausführlichere Betrachtun.g dieser Art, das Handeln der Mitmenschen zu beeinflussen, vergl. vor allem: Th Eschenburg: Uber Autorität. FrankfurtIM: 1965. - 181 S. 48 1. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 3 - S. 289; (Übersetzung von mir, H. H.). 49 Daß Bodins Rechtskonzeption darauf angelegt ist, praktisch wirksam zu werden, gilt nicht uneingeschränkt. Wo er zur Außenpolitik Frankreichs Stellung nimmt und vor allem zu den einzelnen Lehensverhältnissen (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 9 - S. 240 ff. (P 161 ff.», haben seine juristischen Interpretationen alle praktische Relevanz verloren. Der Nachweis beispielsweise, daß Kaiser Karl V "nicht ein Stück Land verblieben ist, von dem er sagen könnte, dort sei er souverän" (ebenda. S. 255 (p. 178), zeigt, daß Bodin hier das Recht lediglich als Waffe in außenpolitischen Auseinandersetzungen benutzt. Zudem widerspricht er hier seiner eigenen Vorstellung von den Möglichkeiten faktisch souveräner Fürsten. Weil sie aus pragmatischer Sicht nicht viel hergeben, werde ich mich mit den außenpolitischen Vorstellungen Bodins deshalb nicht weiter auseinandersetzen.
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wenn der strafende Gott eines moralischen Universums jeden Verstoß gegen seine Weisungen derart sanktionierte, daß die einzelnen schon im eigenen Interesse rechtschaffen blieben. Bodin nimmt diese Position nicht ein. 50 Da so aber ein Konflikt des Guten mit dem Nützlichen immer möglich bleibt, wird auf lange Sicht immer derjenige besser fahren, der sich im Konfliktfalle konsequent gegen das gottgewoUte Handeln entscheidet. Je rechtschaffener die Mehrheit der Menschen sein wird, desto größere Wettbewerbsvorteile realisiert der Rechtsbrecher. Er wird mächtiger als seine ehrlichen Mitmenschen und sie auf lange Sicht aus dem Felde schlagen. Das Recht wird einem immer schneller werdenden Korrosionsprozeß zum Opfer fallen, an dessen Ende der Naturzustand steht.51 Es gibt im Prinzip zwei Möglichkeiten, diesen Prozeß aufzuhalten. Zum einen läßt sich der Sanktionsmechanismus derart perfektionieren, daß Rechtsbrechern wenig Spielraum bleibt, von Ungerechtigkeit zu profitieren. Dieser Alternative sind praktische Grenzen gesetzt, da sich einem findigen Kopf mit einigen Ressourcen immer Gelegenheiten bieten werden, das System zu unterlaufen. Zum anderen läßt sich der Versuch denken, die Rechtsordnung fugenlos den tatsächlichen Machtverhältnissen anzupassen. Recht wäre dann automatisch das, was sich in der Realität durchsetzen läßt. Dann aber wäre die juristische Argumentation lediglich ein neues Gewand für die alten machiavellistischen Ratschläge. Wer sich durch diese Verkleidung von irgendeiner Handlungsoption abhalten ließe, nur weil sie den Status quo zu legitimieren scheint, wäre einer der Dummen, die schon den Sophisten die dankbarsten Opfer waren. Soll das Rechtsargument nicht nur der Ausbeutung "dummedler Gutmütigkeit" dienen, sondern ein "ehrliches Angebot" zur Kooperation sein, muß es Normen aufstellen, die von den tatsächlichen Möglichkeiten der Menschen zumindest ein Stück weit unabhängig sind, so daß den Schwächeren ein Mindestmaß an Sicherheit vor den Stärkeren glaubwürdig zugesichert werden kann. Das Problem bei der systematischen Konstruktion des Rechts ist es also, den Normenkatalog einerseits so deutlich von der Realität abzuheben, daß er konsensstiftende Wirkung entfalten kann, ihn aber andererseits so an die tatsächlichen Verhältnisse anzupassen, daß Rechtsbrüche selten bleiben. Neben der Anpassung des Rechts an die Realität bleibt natürlich nach wie vor die Sanktion als Mittel übrig, die Rechtsebene mit der Interessenebene des einzelnen in Einklang zu bringen. Auch für Bodin sind Belohung und Strafe wichtige Mittel, Menschen zur Gerechtigkeit anzuhalten. 52 Auch für Bodin gilt 50 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Buch I - Kap. 8 - S. 231 (F 151). 51 Daß dies nicht notwendig ein Automatismus ist, sondern durch Gottes direkten Eingriff angehalten werden kann, wird noch zu zeigen sein. 52 Spalmend ist, daß Bodin ganz offenbar auch die Macht Gottes nicht für ausreichend hält. die Menschen ohne Appell an ihren Eigennutz zum Glauben zu bewegen. So läßt er im Heplaplomeres den Katholiken Coronaeus sagen: "Surely all divine and human laws would perish if there were no
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also, daß es Sinn macht, die relativen Preise von Handlungsoptionen zu verändern, um Menschen zu einem erwünschten, in diesem Falle rechtmäßigen, Handeln anzuhalten. Weil wir, anders ausgedrückt, nie sagen können, wo der eigennützige Kern bei einem andern aufhört und wo sein "rechtschaffener" oder "gläubiger" Außenring beginnt, sind wir gezwungen, die Welt der Gerechten wie der Ungerechten so zu gestalten, daß auch der die Gesetze einhält, der ihnen völlig gleichgültig gegenübersteht. Gehen wir so vor, "minimieren" wir den Bedarf an Rechtschaffenheit, an nicht-egoistischer Bereitschaft, sich regelkonform zu verhalten. Wie Machiavelli legt Bodin dabei das Schwergewicht auf negative Sanktionen, denn "... ein weiser und vollkommener Mensch erstrebt für sein tugendhaftes Verhalten keine andere Belohnung als Tugendhaftigkeit an sich, was sich weder vom Laster noch von lasterhaften Menschen sagen läßt. Daher haben die göttlichen und menschlichen Gesetze vom ersten bis zum letzten nichts wärmer empfohlen als die Bestrafung des Schlechten."53 Die Fähigkeit zur Sanktion aber ist wie gesagt prinzipiell begrenzt. Weder kann ein Fürst reich genug sein, seinen Untertanen die Einhaltung seiner Gesetze abzukaufen, noch kann er mächtig oder informiert genug sein, sie völlig dazu zu zwingen. Je mächtiger, reicher und besser informiert ein Fürst aber ist, desto "unrealistischer" können seine Gesetze sein, desto weiter können sie sich von der vorstaatlichen Interessenlage der einzelnen entfernen. Nur in dem Maße, in dem die Fähigkeit zur Sanktionierung nicht ausreicht, muß er seine Forderungen der Welt anpassen. So wie Machiavellis Fürst es sich schlicht nicht leisten konnte, grausam oder habgierig zu sein, weil er sich damit den Haß seiner Untertanen zuzog, kann Bodins gerechter König gar nicht anders, als das Normensystem, das er seinen Untertanen vorschreibt, möglichst weitgehend den tatsächlichen Verhältnissen anzupassen. Die Sanktions- und damit vor allem die Strafgewalt des Fürsten ist allerdings ihrerseits wiederum keine gegebene Größe. Sie hängt entscheidend von der Ermächtigung des Fürsten durch die Untertanen ab und damit maßgeblich von einem Gemisch aus "egoistischer" Interessenlage und dem nicht klar abgrenzbaren Teil der sonstigen Präferenzen eines jeden einzelnen. Je mehr das Recht die Interessen der Menschen fördert, desto sicherer kann der Gesetzgeber sein, daß es von den Untertanen eingehalten und auch durchgesetzt wird. Neben der Autorität des Gesetzgebers, der religiösen und traditionellen Fundierung eines Gesetze tritt damit als wichtigste Legitimationsgrundlage die Nützrewards for deeds performed weil and no punishments for sins." (1. Bodin: Colloquium ... - Buch IV. - S. 426 (Orig. S. 324». 53 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 4 - S. 90 (F 583); siehe auch: "... eine Vorladung. ein Urteil, eine Verurteilung zu einer Geldstrafe gingen ins Leere, stünde ihnen nicht der unmittelbare Zwang zur Seite, um auf Personen und Sachen desjenigen, der den Gehorsam verweigert, Zugriff nehmen zu können." (J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch 111 - Kap. 5 - S. 481 (F 431)).
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lichkeit einer Regelung für die vielen, die von ihr betroffen sind. Wie zu zeigen sein wird, setzt Bodin vor allem auf letzteres. Wo Nützlichkeit mit religiöser oder politischer Überlieferung kollidiert, entscheidet er systematisch gegen Religion und Tradition. Natürlich ergäbe eine festgefügte Glaubensgemeinschaft, verbunden durch gemeinsame Überzeugungen, eine noch stabilere Ordnung (wenn auch zu fragen bliebe, ob eine solche Gemeinschaft nicht zu statisch würde), wo Friede und die umfassende "Gemeinschaft der Gläubigen" aber nicht gleichzeitig zu haben sind, muß der Friede der Durchsetzung der "besseren" religiösen Überzeugung vorgezogen werden. Zwar nimmt für Bodin auch in der Politik die theologische Auseinandersetzung die wertmäßig höchste Stelle ein, da sie aber in der Realität den Konsens gefahrden kann und der Konsens die Grundlage für jede Art religiöser Gemeinschaft ist, interpretiert er den religiösen Naturrechtsbegriff gründlich neu. Wie er dabei im einzelnen verfährt und zu welchem Ergebnis er kommt, ist Gegenstand der folgenden Seiten.
4.1.2. Die Autonomisierung des Rechts von Religion und Tradition
Damit Recht Autorität erzeugt und die Bereitschaft der Menschen fördert, es auch dann als gut anzuerkennen, wenn es nicht direkt ihren eigenen Interessen dient, muß es zusätzlich legitimiert werden. Der Weg, den Bodin hierbei einschlägt, ist schon durch seine Person vorherbestimmt. Peter Cornelius MayerTasch unterscheidet neben dem "monarchistisch gesinnten und zur konfessionellen Neutralität tendierenden Politique" den tiefreligiösen Theologen und den "an der Rechtstradition seines Landes geschulten, praktizierenden Juristen Bodin, der über den Schatten gewisser konstitutioneller Gegebenheiten weder springen konnte noch wollte."54 Alle drei Aspekte dieser so reichen Persönlichkeit finden sich in Bodins juristischer Argumentation wieder, freilich in einer sehr spezifischen Weise: Wo Recht durch göttliche Offenbarung, durch Tradition oder durch den Verweis auf seine Natürlichkeit oder Vernünftigkeit legitimiert wird, besteht die Gefahr, daß es möglicherweise gegen die staatliche Einheit gewandt werden kann. Fraktionen oder Einzelpersonen mögen die Behauptung aufstellen, daß das Staatsoberhaupt gottlos sei, die Traditionen mit den Füßen trete, gegen die Gesetze der Natur verstoße oder schlicht unvernünftig handele. Bodin nutzt deshalb zwar alle vier Legitimationsmechanismen nebeneinander (mit einer starken Präferenz für den Appell an die Vernunft), er verknüpft sie aber in einer Weise, die die jeweilige Regierung weitgehend vor Kritik und Widerstand schützt. Während er zu diesem Zweck das Natürliche und Vernünftige mit leichter Hand philosophisch umformulieren kann, bedarf es einer besonderen Anstrengung, Religion und Tradition "auf Linie zu brin54 P. C. Mayer-Tasch: "Einführung des Herausgebers ... S. 39.
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4. Jean Bodin
gen". Bodin geht hier radikal vor, er entleert beide Stränge der historischen Überlieferung nahezu jedes konkreten Inhalts, um sie dann ihrer neuen Funktion gemäß mit anderem Inhalt zu füllen. Um sein System zu flexibilisieren, hat Bodin vor allem die Aufgabe zu lösen, es von den bestehenden Bindungen durch die überlieferte Religion zu befreien. Dabei ist weniger die Argumentation selbst von Bedeutung, die er ins Feld führt, als mehr die Art und Weise, in der er zu seinen Ergebnissen kommt. 55 Von seiner wissenschaftlichen Ausrichtung her ist Bodin Empiriker. "Die Erfahrung", so schreibt er, "ist nun einmal in allen Dingen die [beste] Lehrmeisterin, sie gleicht einem Prüfstein, der für alle erdenklichen Auseinandersetzungen die Lösung birgt. "56 Ohne Erfahrung lassen sich seiner Meinung nach weder theologische noch ethische oder moralische Probleme auch nur adäquat stellen, geschweige denn entscheiden. Die Geschichte, aus der uns die Erfahrungen unserer Vorfahren konzentriert entgegentreten, leistet uns die größten Dienste. 57 Ohne die "heilige Quelle",58 die sie darstellt, wäre jede philosophische Spekulation sinnentleert. 59 Mit der Menschheits, der Natur- und der Heilsgeschichte speist diese Quelle drei Wissensformen, die Klugheitslehre, durch die Wahrscheinlichkeiten ermittelt werden können, die Wissenschaft, die logische Gewißheit liefert und die Religion, die zum Glauben führt.6° Entscheidend für Bodins Vorgehensweise beim Begreifen der Welt ist die Reihenfolge, mit der er sich diesen drei Gebieten zuwendet. Er schlägt vor, sich zuerst mit den Menschen und ihren Beziehungen zueinander zu befassen, weil dies dem einzelnen am nächsten sei. Erst wenn man sich dort heimisch gemacht habe, solle man sich den abstrakteren Zusammenhängen der Natur zuwenden. Die schwierigste Disziplin sei die Theologie, in sie könne man erst eindringen, wenn man die Schönheit der kosmischen Ordnung zu schätzen gelernt habe. 61 Diese Vorgehensweise, die das Gegenteil dessen ist, was der Platon des Höh55 Diese Art und Weise ist das eigentlich außergewöhnliche an Bodin. Ihre Unzeitgemäßheit bringt Kelley zum Ausdruck, wenn er schreibt: "A man with a passion for the past and designs upon the future, Bodin does not seem to have been much at horne in his own time ... For in an age of academic inhibition he was a boldly speculative thinker, in an age of doctrinaI fashion a philosophical syncretist, in an age of discriminating criticism a compulsive and rather credulous eclectic." (D. R. Kelley: "The Development and Context of Bodin's Method" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. München: 1973. - S. 124). 56 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 421 (F 969). 57 1. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Avant-propos. - S. 279. 58 J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Avant-propos. - S. 279. 59 1. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Avant-propos. - S. 278. 60 J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 1 - S. 281. 61 J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 1 - S. 282.
4.1. Der hwnanistische Pragmatiker in Recht und Politik
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lengleichnisses vorschlug, ist Folge der geringen Erkenntnisfähigkeit der Menschen. Die bedeutenderen Wahrheiten bleiben zwar in der Natur- und vor allem der Heilsgeschichte angesiedelt, aber diejenigen, die uns mit größerer Verläßlichkeit zugänglich sind, sind die der sozialen Welt, die der Menschheitsgeschichte also. Damit ist analog zum praktischen Vorgehen Bodins auch seine Theorie so konzipiert, daß es angesichts der menschlichen Unwissenheit nicht die wertmäßig höchsten Forschungsgegenstände sind, die vorrangig unsere Aufmerksamkeit verdienen, sondern diejenigen, die unseren Kapazitäten am ehesten entsprechen. Für die Religion folgt aus diesem Wissenschaftsverständnis vor allem eine Konzentration auf religionssoziologische Fragen. Nicht umsonst überläßt er in seinen politischen Arbeiten die Theologie den Theologen und wendet sich den konkreten sozialen Wirkungen religiösen Handeins zu. Anders als Calvin oder Luther beispielsweise, formuliert oder übernimmt Bodin nur zögerlich positive religiöse Normen. 62 Der Heptaplomeres, in dem er erstmals seine eigene Meinung zu religiösen Fragen deutlich macht und der nicht umsonst erst mit zweihundertjähriger Verspätung in Druck gegangen ist, zeigt exemplarisch sein Vorgehen. Hier läßt er sieben Weise über Religion diskutieren, ohne einen oder einige als im Besitz der absoluten Wahrheit auszuweisen. 63 McRae faßt seine Position so zusammen:"True religion, he proclaims several tim es, is strictIy a personal affair, the turning of an individual mi nd to62 Der Naturphilosoph Toralba und der Jude Salomon kommen im Hl'plaploml'rl's wesentlich in Übereinstimmung mit den anderen ohnehin zu der Überzeugung, daß die Gesetze Gottes eine Re· formulierung der Naturgesetze sind: "Toralba: What is the covenant which was perceived on two tablets and under ten headings except the very law of nature? Indeed, we have snatched this law from nature; we have drunk it in, we have imitated it. In consequence of this law we were not instructed but made, not tought but imbued with the knowledge that eternal God, the first cause, is not only the effector of all things but also the preserver." (B. IV S. 192 (Orig. S. 148) ... "Salomon: I do not disagree with you (concerning a similar statement as above; H.H.). For when we read that Abraham cherished the law of the most high, what does this mean except that he followed the example of the law of nature? ... However, in Moses' time the law of nature had been so defiled by the shameful crimes of men that it seerned to be completly obliterated from men's souls and antiquated, as it were because of its duration. For this reason God ... wished to renew the same law of nature by His own word and decalogue which he had incised on stone tablets; and especially the prohibitions which prevent us from violating nature .... (J. Bodin: Colloquium ... - Buch IV. - S. 249 (Orig. S. 191» Toralba und Salomon umreißen hier eine Position, der auch Octavius zustinunt. Die offenbarten Gesetze orientieren sich an den Naturgesetzen (man könnte sich an "Die Biologie der zehn Gebote" erinnert fühlen". Hobbes wird sich diese Idee zu eigen machen und sie systematisch entwickeln. 63 Roellenbleck schreibt dazu: "Im Hl'plaplomeres (sind die) Personen ... nicht sozusagen vertikal angeordnet. sondern horizontal, und es gibt keinen archimedischen Punkt außerhalb der Ebene, auf der sich die Debattierenden bewegen, von dem aus der Widerstreit der Kräfte in Wahr und Falsch sich auflösen ließe. Bedenkt man dies, wird man ... Bedenken tragen, den Autor mit einer oder zwei seiner Personen derart zu identifizieren, daß damit behauptet wird, seine "eigentliche" Meinung entspreche nicht der dogmatischen Offenheit des Endes." (G. Roellenbleck: "Der Schluß des "Heptaplomeres" und die Begründung der Toleranz bei Bodin" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 58); kurz vorher vermerkt er allerdings, daß der Naturphilosoph Toralba und der Jude Salomon am ehesten eine Position vertreten, die mit der in Bodins übrigen Werken übereinstimmt. (ebenda. S. 56) Auch Allen plädiert für Toralba, stellt ihm aber den Skeptiker Senamus an die Seite. (1. W. Allen: A History of Political Thought ... - S. 401) Wie dem auch sei, kann ich Kuntz nur zustimmen, wenn sie schreibt: "... all speakers represent Bodin's thinking at one time
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4. Jean BOOin
wards God. It is best practiced in solitude, requires no outward church, and by its very nature cannot be interfered with by the state. 64 Eine derart individualistische Stellung zur Religion schließt systematisch jede Möglichkeit aus, die überlieferten Normen der Religionsgemeinschaften fraglos zur Gesellschaftsorganisation zu nutzen. Indem Bodin dann die Forderungen der verschiedenen Kirchen miteinander vergleicht, verliert jeder Katalog für sich genommen seine absolute Bedeutung. Was als Restbestand religiös legitimiterten Naturrechts übrig bleibt, läßt sich in wenige Wort fassen: Das Naturrecht, das so genannt wird, weil es jedem von uns seit der Entstehung des Menschengeschlechts innewohnt, ist aus eben diesem Grunde immer recht und billig, ... so wenn es Frömmigkeit vor Gott befiehlt, Ehrfurcht vor der Familie, Achtung den Verdienstvollen gegenüber, Härte gegen die Schurken und Gerechtigkeit gegen jedermann.65
Die Unbestimmtheit dieses Naturrechtskatalogs und die systematische Relativierung aller überlieferten "Gesetze Gottes"66 macht den Weg frei für Bodins ganz eigene Interpretation des natürlichen und damit göttlichen Rechts. Auch wenn Allen deshalb mit seiner Feststellung recht hat, daß es unmöglich sei, Bodins politisches von seinem religiösen Denken zu trennen,67 ist doch eher Friedrich zuzustimmen, wenn dieser konstatiert, daß es Bodin sei, der die Trennung des Rechts von seinen religiösen Wurzeln am entschiedensten durchgeführt habe. 68 Dabei hängt Bodin weder dem Agnostizismus noch dem Atheismus an, was angesichts des fürchterlichen religiösen Bürgerkriegs eine zwar gefährliche, aber verständliche intellektuelle Position wäre. Er ist im Gegenteil durch und durch religiös. Politik spielt sich für ihn nicht in einem amoralischen Raum ab, wie dies für Machiavelli der Fall war. Bodins Welt wird von Gott regiert, wie der gut geführte Staat von seinem König. McRae schreibt dazu: "(Bodin) firmly believed that the sovereign is directly responsible to God, and he had an unquestioning faith in divine retribution for actions which contravened higher law. Political sovereignty operated within the wider framework of an ordered universe govemed by God."69 Für den unorthodoxen Katholiken or another. No one represents his thinking exciusively, but Bodin is sympathetic to some views of each as the dialogue develops." (J. Bodin: Colloquium ... -lntrOOuction. - S. XLIV-XLV). 64 K. D. McRae: "Introduction" ... S. A12. 65 J. Bodin "Tableau du Droit universeI" S. 84 (Übersetzung von mir, H. H.). 66 Wenn Bodin vom Gesetz Gottes spricht, ist gelegentlich auch das Gesetz des Volkes Israel gemeint. (so z. B. J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd 2 - Buch IV - Kap. 1 - S. 25 (F 504) sowie: Bd. 2 - Buch VI - Kap 6 - S. 491 (F. 1049 f) Allerdings geht er mit diesem Gesetz auch nicht unkritischer um als mit den anderen. So lehnt er einen periodisch wiederkehrenden Schuldenerlaß mit dem Hinweis ab, daß ein solcher Erlaß "das Vertrauen auf rechtsgültig geschlossene Verträge nachhaltig erschüttern würde ... " (Bd. 2 - Buch V - Kap. 2 - S. 195 (F. 707). 67 J. W. Allen: A History of Political Thought ... - S. 401. 68 C. J. Friedrich: The Philosophy of Law in Historical Perspective. - Chicago: 1963. - S. 57. 69 K. D. McRae: "Introduction" ... S. A15.
4.1. Der hwnanistische Pragmatiker in Recht und Politik
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Bodin ist Gott immer in der Welt präsent. Er belohnt und straft wie ein guter König, und wenn irdische Autoritäten beispielsweise ungerechtfertigt Verbrecher begnadigen, vermindern sie damit nicht nur den Abschreckungseffekt von Strafen, sondern beschwören als göttliche Sanktion "Seuchen, Hungersnöte, Kriege, ja den Untergang ganzer Staaten"70 herauf. Bodin glaubt fest an die direkte Beeinflussung der menschlichen Geschicke durch Gott, die allerdings neben dem natürlichen und damit in Grenzen vorhersagbaren Ablauf der Ereignisse wirkt. 7l Besonders deutlich wird seine Vorstellung vom göttlichen Einfluß auf die Welt in der Behandlung der Frage, ob politische Ereignisse per Astrologie und Zahlenmystik vorhersagbar seien. Dazu sei vorweggeschickend erwähnt, daß für den Gelehrten des 16. Jahrhunderts weder Zahlenmystik noch Astrologie, Magie oder Esoterik notwendigerweise mit der christlichen Religion im Widerspruch stehen. Wie bei der Medizin oder der Physik lassen sich auch ihre Regelmäßigkeiten als Form göttlicher Herrschaftsausübung interpretieren. Damit gilt: Die Astrologen sind sich ... darüber einig, daß der Weise nicht den Gestirnen unterworfen ist, daß vielmehr alle jene, die ungezügelten Gelüsten und animalischen Trieben freien Lauf lassen. den Einflüssen der Gestime nicht zu entrinnen vennögen ... Wenn man also herausgefunden hat, daß die venneintlich unausweichliche Kraft der Gestirne sich abschwächen läßt, wenn weise Ärzte Mittel gefunden haben, Krankheit und Fieber gegen ihren naturgegebenen Verlauf zu beeinflussen, um sie so leichter zu heilen, warum sollte dann ein weiser Politiker, der Veränderungen voraussieht, denen die Staaten von Natur aus unterliegen, nicht ihrem Untergang durch entsprechende Ratschläge und Remedien vorzubeugen versuchen?72
Bodin kommt also in seiner Beurteilung göttlicher Fügung zu einer christlichen Version des Fortuna-Gedankens,73 wobei freilich zu beachten ist, daß Fortuna in ihrer unbeeinflußbaren Hälfte auch unberechenbar war, während Gottes Wille im Prinzip bekannt ist. In beiden Fällen läuft die Welt jedenfalls zu einem guten Teil nach Gesetzmäßigkeiten ab, die der einzelne nutzen kann. Wo es einen solchen nicht direkt durch göttliche Eingriffe bestimmten Raum gibt, läßt sich auch Nützliches denken, das zumindest kurzfristig gegen Gottes 70 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Buch I - Kap. 10 - S. 309 (F 240 f.); zwn Thema Abschreckung fähn Bodin fon: "Dies um so mehr, als von hunden Verbrechen kawn zwei vor den Richter kommen und auch davon die Hälfte nicht bewiesen werden kann. Wenn aber einmal der Beweis gelingt und denn auch noch Gnade gewähn wird, welche Strafe bliebe dann noch als abschreckendes Beispiel für Verbrecher." (ebenda.); siehe auch: K. D. McRae zum sei ben Thema: (In 1594, Bodin; H.H.) " ... had come to believe that the days of Henry III were numbered on account of the coldblooded murder of his subjects, the Guises; that God would intervene directly to strike down the house of Valois and establish a new line of kings in France; that the League, though evil in itself, was God's chosen instrument for the execution of His purpose; and that the ultimate result of this divine action was far beyond hwnan understanding." (K. D. McRae: "Introduction" ... S. All f.). 71 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 2 - S. 57 (F 542). 72 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 3 - S. 81 (F 572). 73 Machiavelli schreibt dazu: "Unwürdige häufig setzt die unbeständige Göttin, die launenhafte Gottheit auf ihren Thron ... Über die Zeit verfügt sie nach Gefallen, hier erhöhend, don verlöschend, ohne Mitleid, ohne Gesetz, ohne Ursache." (N. Machiavelli: "Das Glück" in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 227).
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Willen verstößt. Damit erkennt auch Bodin eine Handlungsfreiheit des "Klugen" an, die von der des "Guten" oder "Edlen" grundsätzlich unterschieden ist. Im Unterschied zu Machiavelli freilich besteht er darauf, daß im Konflikt zwischen Nutzen und Ehre, dem letzteren der Vorzug zu geben sei.74 Unehrenhaftes, d.h. gegen das Naturrecht verstoßendes Handeln, wird bei Bodin durch die Hand Gottes nur verteuert, womit es für den einzelnen auch erträglicher wird, Unrecht zu leiden, und "billiger", sich selbst des Unrechts zu enthalten. Diese Tendenz ist ein Grund dafür, daß Bodin auch dann Gehorsam anraten kann, wenn ein Souverän offen tyrannisch auftritt. Die gerechte Strafe wird ihn schon ereilen, während das Leid des Opfers spätestens im Jenseits ausgeglichen wird. Aber der Ausgleich ist nicht aufs Jenseits beschränkt. Gott agiert auch im Diesseits, was aber auch zu der Konsequenz führt, daß eine lange Regentschaft nicht nur auf Cleverness im Umgang mit den Spielregeln der Politik schließen läßt, sondern auch auf die Tugendhaftigkeit des Regenten. 75 Die Idee des moralischen Universums erklärt auch, warum Bodin vorsichtiger als Machiavelli sein kann, wenn er seinen sozialen Gesetzen zwischenmenschliche Sanktionen anhängt. Da diese allzuleicht für andere Zwecke mißbraucht werden können als dazu, den Staat aufrecht zu erhalten, kommt es bei ihm öfter vor, daß er eine Handjungsalternative des Fürsten in scharfen Worten verurteilt, sich aber nicht dazu durchringen kann, für dieses Verhalten den Untertanen ein Sanktionsrecht einzuräumen. Für den modemen Leser erscheint dies allzuleicht als wohlfeile Rhetorik. Für Bodin ist das nicht notwendigerweise der Fall. In einem moralischen Kosmos ist nur derjenige auf Dauer erfolgreich, der auch tugendsam ist. Zwar sollte man sich auf die göttliche Sanktionsgewalt nicht verlassen, ignorieren darf man sie aber auch nicht. Analog zur Pascalschen Wette ist es allemal sinnvoll, tugendhaft zu sein, dies umsomehr, als das Gute zumeist mit dem Nützlichen übereinstimmt. 76 Wenn Bodin denn auch im Zusammenhang mit der Besteuerung der Untertanen schreibt: "Nichts ... ist in höherem Maß gerechtfertigt als das, was die Not gebietet", 77 so befindet er sich mit diesem Wort zwar vollständig im Einklang mit Machiavelli; da 74 J. BOOin: Sechs Bücher ... - Buch I - Kap. 8 - S. 231 (F 151); wenn dem aber so ist, wenn es einen geordneten Bereich in der Welt gibt, dessen Gesetze man sich zunutze machen kann, dann hat Euchner nur zum Teil recht, wenn er schreibt: "Die auf menschlichen Willen beruhenden Gründe des sozialen Wandels sind für (BOOin) prinzipiell muable et incertaine", kosmischen und göttlichen Einflüssen unterworfen, so daß sie die Fonnulierung von soziologischen Gesetzmäßigkeiten kaum zulassen .... In seinem zum Teil von magischen Vorstellungen behemchten Renaissance-Weltbild hatte der Gedanke einer weltimmanenten, allein auf den ökonomischen und moralischen Triebkräften der Gesellschaft beruhende Gesetzmäßigkeit ... noch keinen Platz." (W. Euchner: "Eigentum und Hemchaft bei Jean Bodin" in: ders.: Egoismus und Gemeinwohl. - Frankfurt/M.: 1973. - S. 72 f. 75 Vergl. hierzu auch J. W. Allen: A History of Political Thought ... - S. 402. 76 J. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 3 - S. 291. 77 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 2 - S. 343 (F 877 f.).
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seine Menschen aber nicht innerhalb eines gleichgültigen Universums leben, ist die Notlage weniger radikal defmiert als bei dem Florentiner. Zusammenfassen läßt sich Bodins Verhältnis zur Religion mit einem Satz, den Gibbon auf die Haltung zur Religion in der späten römische Kaiserzeit gemünzt hat: "... the various modes of worship ... were all considered by the people as equally true; by the philosophers as equally false; and by the magistrates as equally usefull."78 Für Bodin gelten alle drei Einschätzungen nebeneinander. Als Glaubender haben für ihn alle Religionen einen wahren Kern, als quellenkritischer Historiker und Exeget gesteht er keiner aus dem Glauben abgeleiteten Norm absolute Gültigkeit zu. Für den Politiker Bodin endlich helfen alle Religionen, die Menschen von Opportunismus und Eigennutz fern zu halten. Mit welchen neuen Normen Bodin seinen nach wie vor theologisch legitimierten 79 Naturrechtsbegriff füllt, wird Gegenstand des zweiten und dritten Teils des Bodin-Kapitels sein. Der Rest dieses ersten Teils soll zeigen, daß Bodin mit der nationalen juristischen Tradition ebenso verfährt wie mit der religiösen. Die Monarchomachen, allen voran der angesehene Jurist F. Hotman, ziehen die französische Rechtstradition heran, um eine Begrenzung der Macht des Königs zu begründen,so Schon wenn Bodin dieser Verwendung des Rechts begegnen will, geschweige denn, wenn er die Tradition für eigene Zwecke nutzen will, muß er auch ihr die Beweiskraft enziehen. Auch hier wendet er das Mittel des erudierten, quellenkritischen Gelehrten an. Indem er den Datenschatz, aus dem er seine Rechtsprinzipien ableitet, deutlich erweitert, relativiert er die Bedeutung der einzelnen historisch legitimierten Quelle. 81 Darüber hinaus geht er mehr und mehr dazu über, nicht nur die einzelne Norm zu betrachten, sondern sie in den historischen Kontext einzubetten, auf den sie zugeschnitten war. Das römische Recht, bis in die Renaissance hinein die Rechtsquelle der französischen Monarchie, war das Ergebnis historischer Kontingenzen, es hatte sich zudem mit der Zeit und den Umständen gründlich verändert. 82 Statt das Ergebnis einer historischen Entwicklung dogmatisch zum universal gültigen Rechts78 Zit. in: S. Wolin: "America's Civil Religion". in: Democracy. - April 1982. - S. 7. 79 Recht bleibt schließlich für Bodin "un rayon de la bonte et de la prudence divine que les hommes ont re~ues pour I'employer au profit de la societe humaine." (1. Bodin "Tableau du Droit universei" S. 85); vergI. auch: C. J. Friedrich: The Philosophy of Law in Historical Perspective. Chicago, 1963. - S. 61. 80 VergI. hienu J. Franklin: Jean Bodin and the 16th-Century Revolution in the Methodology of Law and History. - New York: 1966. - S. 38 f. 81 Julian Franklin schreibt hienu: "After four centuries or more of exegesis the system of the medieval Romanists had been destroyed by historical research. And after some sixty years of philological corrections and logical reworkings of the whole, it was finally feIt that the legislation of Justinian was incomplete and historically particular." (J. Franklin: Bodin ... Methodology ... S 79; vergl. auch S. 38 ff. sowie P. Mesnard: "Vers un Portrait de Jean Bodin" ... Kap. 1 - S. XVI. 82 J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Epitre dedicatoire - S. 273.
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kanon zu erklären, stellt Bodin es deshalb neben andere vergleichbare Rechtstraditionen, um aus dem Vergleich Schlüsse ziehen zu können. Der Weg, den nicht nur er einschlägt, ist die systematische Sammlung von Rechtsquellen, um der vorbehaltlosen Erforschung dessen, was recht ist, die empirische Basis zu geben. Dabei interessiert er sich freilich nicht für die Rekonstruktion historischer Ereignisse in ihrer chronologischen Folge,83 er benutzt die Geschichte vielmehr wie eine Sammlung von Fallstudien. Ganz der Einsicht folgend, daß die Geschichte die Schatztruhe menschlicher Erfahrung sei, bedient er sich der in ihr vorfindbaren Kleinodien, um "sein" Ordnungsproblem anzugehen. 84 Natürlich beschränkt sich Bodin bei der Ausweitung der empirischen Basis seiner Forschung nicht auf die Geschichte. Er liest alles, was er über die politischen und ökonomischen Verhältnisse anderer Länder in die Hand bekommen kann, fragt ausländische Gesandte aus und ist stets bemüht, sein Bild von der Welt so komplett wie möglich zu machen. Aber zentral bleibt ihm die historische Forschung. Nirgends sonst liegen die Erfahrungen anderer in so konzentrierter und unverfälschter Form vor unseren Augen, nirgendwo lassen sie sich so einfach studieren und nutzbringend auf die eigenen Probleme hin untersuchen: Es ist die Geschichte, die uns nicht nur die notwendigen Techniken zu unserer Selbsterhaltung vermittelt, sondern uns auch die Ge- und Verbote des moralischen Lebens, das Ehrenhafte und Verabscheuenswerte, die Stellung, die uns von Rechts wegen zukommt, die beste Form des Staates und die Wege zur Glückseligkeit. Wenn wir die Geschichte beseitigen, überantworten wir letztendlich den Gotteskult, die Religion und die Weissagungen, dem Strom der Zeiten.85
Im folgenden soll auch die historische Forschung Bodins ganz im Lichte seiner praktischen Interessen beleuchtet werden. Dabei mag der Eindruck entstehen, als begreife Bodin Wissenschaft bewußt als Vorbereitung auf eine ideologische Nutzung der Ergebnisse. Es liegt mir fern, eine solche These aufstellen zu wollen. Bodin ist ein viel zu begeisterter Historiker, als daß sich seine Geschichtsstudien als bloße Materialsammlung zur Abstützung eines Plädoyers für die absolute Monarchie abtun ließen. Nichtsdestoweniger ist die Art und Weise, in der er sie präsentiert, aller Genauigkeit im Detail zum Trotz, der83 Siehe hierzu: D. R. Kelley "The Development and Context of BOOin's Method" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 130. 84 McRae faßt die Intention von Bodins historischer Arbeit treffend zusammen, wenn er schreibt: " ... the systematical arrangement of historical materials outlined in the Melhodus was intended only as a means to a more general end, the formulation of a comprehensive seien ce of society. For Bodin, history was only raw data, not a discipline in itself." (K. D. McRae: "Introduction" ... S. A6) Hinrichs bemerkt dazu: "BOOin sammelt ... im Rahmen einer ganz konkreten Argumentation eine Fülle von Beobachtungen, die den in seiner Zeit einsetzenden Prozeß der "Verobjektivierung der Fürstenrolle zum "Staat" (M. Draht: "Staat" Sp. 2120 in Evangelisches Staatslexikon) und damit eine Aufgabe des personalistischen Herrschaftsprinzips der Renaissancemonarchie erkennen lassen." (E. Hinrichs: "Das Fürstenbild Bodins und die Krise der französischen Renaissancemonarchie" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. S. 298).
85 J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Avant-propos. - S. 280 (Übersetzung von mir; H. H.).
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art auf sein praktisches Ziel hin zugeschnitten, daß der desinteressierte und objektive Wissenschaftler hinter dem Vertreter einer neuen, staatsstärkenden Rechtskonzeption zurückbleibt. Kelley faßt Bodins Anliegen zutreffend zusammen, wenn er schreibt: "Not satisfied with the past, (Bodin) ... sought to extract from it principles of universal and eternal import; not satisfied merely with determining rules of human behaviour, he wanted to arrange them into a coherent system; not satisfied with analysing society in rational terms, he wanted to uncover the arcana of nature as weIl as of the imperium."s6 In der Widmung zum Methodus bestimmt Bodin mit Bezug auf Platons Norrwi auch seine eigene Methode: "... es gab für ihn (platon; H. H.) nur eine Möglichkeit, die zur Regierung der Polis erforderlichen Gesetze zu bestimmen. Diese bestand darin, die Gesetze aller (oder doch der bekanntesten) Republiken zusammenzutragen, um sie klugen Männern vorzulegen, die im Vergleich die beste Form herauszufinden hatten. Genau dieser Aufgabe habe ich all meine Studien und Überlegungen gewidmet. "87 Das Studium der Vielfalt der Welt allein schafft aber noch keine Basis zum Handeln. Erst der Vergleich der verschiedenen Ordnungen und der mit ihrer Hilfe gelösten Probleme kann zeigen, welche allgemeinen Gesetzmäßigkeiten bei der Konstruktion einer effizienten Rechtsordnung zu berücksichtigen sind. Erst nachdem der Vergleich solche Grundsätze an die Oberfläche gebracht hat, lassen sich die aus der Situation heraus gewachsenen Lösungsansätze kritisch überprüfen. Im Idealfall, bei Kenntnis der gesamten Universalgeschichte, muß es dann möglich sein, mit Sicherheit die allgemeinen Regeln der Politik zu kennen. Dann bedarf es nur noch der Würdigung der konkreten Situation, um angemessene Entscheidungen zu treffen. Der Vergleich verschiedener Rechtsnormen und die Einbeuung dieser Normen in die Geschichte offenbart aber nicht nur Gemeinsamkeiten, nicht nur empirisch abgesicherte Erkenntnisse über die "conditio humana" , sondern auch Unterschiede in den Lebensbedingungen der verschiedenen Völker. Bodins zu Recht berühmte Klima-Theorie ist nur ein Bestandteil einer Theorie der Umweltfaktoren, die menschliches Verhalten beeinflussen. 88 Dabei geht es ihm als Fürstenberater weniger um die Einflüsse auf individuelles Verhalten als mehr um bestimmende Faktoren eines 86 D. R. Kelley: "The Development and Context of Bodin's Method" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 124; McRae ergänzt: "The Republique ... is in a very real sense an attempt at a general system of politics ... As soon as one appreciates its fundamental duality. its endeavor to combine a prescription for the needs of the moment with universal principles - and to justify the specific programm by presenting it as an integral part of the general theory - the significance of the Republique becomes much clearer. (K. D. McRae: "Introduction" ... S. A9). 87 J. Bodin: "La Methode de I'Histoire" ... S. 274 (Übersetzung von mir; H. H.). Allerdings muß das Studium der Welt durch eine theoretische Position untermauert werden. wenn die allgemeinen Schlußfolgerungen nicht rein intuitiv vorgenommen werden sollen. 88 K. D. McRae: "Introduction" ... S. A22 f.
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"Volkscharakters",89 ohne dessen Kenntnis die Politik an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeigehen muß. Die Erforschung eines solchen Charakters ist dabei allemal eher dazu angetan, Recht auf eine sicherere Basis zu stellen, als sonstige, eher allgemeine psychologische Überlegungen. 90 Die Betonung von Unterschieden in den Lebensbedingungen der Menschen kann zudem verhindern, daß sich Menschen in der Kritik ihrer Regierung auf andere Systeme berufen, um zu zeigen, daß das eigene nicht das beste oder einzig mögliche ist. Es ist McRae, der m.E. den Punkt trifft, wenn er darauf hinweist: "The whole tenor of the theory of c1imate was to justify existing forms of government, to promote broad tolerance for the world as it is, and to cast doubt upon the wisdom of deli berate political change."91 Die Welt ist, so könnte man Bodins Position umreißen, viel zu kompliziert, als daß man einfache Regeln aufstellen könnte, nach denen jeder Staat funktionieren kann. Immer ist die genaue Erforschung der Umwelteinflüsse notwendig, immer also die Befragung der Gelehrten, bevor Entscheidungen getroffen werden können. Wenn er im Laufe seiner Untersuchung nichtsdestoweniger zu allgemeinen Gesetzmäßigkeiten kommt, so sind diese doch vor allem auf seine eigene Umwelt, auf Frankreich zugeschnitten. Allen regionalen Differenzen zum Trotz aber lassen sich im Vergleich der Ordnungen verschiedene Gemeinsamkeiten herauskristallisieren, die in jedem Staat geregelt sein müssen, damit er funktionieren kann. Es entsteht so eine Hierarchie der Normen, auf deren unterstem Niveau diejenigen angesiedelt sind, die sich auf die Lösung konkreter, auf den Einzelfall bezogener Probleme beziehen. Darüber angeordnet sind mit zunehmendem Allgemeinheitsgrad solche Normen, die mehr und mehr für alle möglichen Staaten gelten. Die Gültigkeit der herausgefundenen Normen selbst ist dabei nicht aus der Geschichte ableitbar. Auch wo sie in vielen Gesellschaften galten oder gelten, ist dies kein Beweis für ihre Richtigkeit. Auf das mögliche Argument, was lange bestanden habe, könne kaum falsch sein, antwortet Bodin: ... da dem Menschen nun einmal die Wahl zwischen Gut und Böse freigestellt ist, setzt er sich zwneist über Verbote hinweg und entscheidet sich gegen das Gesetz Gottes und der Natur für das Schlechtere. Diese verderbliche innere Entscheidung hat solche Macht, daß sie [schließlich) die Geltungskraft eines Gesetzes annimmt, das höher steht als die Natur und dazu führt, daß selbst die ruchlosesten Freveltaten und Gemeinheiten als tugendhaft und gottgefällig ausgegeben werden. Ein Beispiel hierfür möge genügen. Es ist sattsam bekannt, daß nichts grausamer und verabscheuenswürdiger ist als Menschenopfer. Trotzdem hat es praktisch kein Volk gegeben, das sie nicht dargebracht hätte.92
89 K. D. McRae: "lntroduction" ... S. A23. 90 K. D. McRae: "Introduction" ... S. A23; vergl. hierzu auch: J. Franklin: Bodin ... Methodology ... S 78. 91 K. D. McRae: "Introduction" ... S. A23. 92 1. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 5 - S. 143 f. (F 51 f.).
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Nicht nur die einzelne Quelle verliert also in Bodins Umgang mit der Überlieferung ihre Bedeutung, selbst empirische Häufigkeit von Regelungen in der Geschichte ist an sich noch kein Indiz dafür, daß sie zu Recht bestehen. Reicht die Unabhängigkeit des Experten von seinem historischen Material damit aber immer noch nicht aus, schreckt Bodin auch nicht davor zurück, Fakten in seinem Sinne umzudeuten. Seine juristische Argumentation hat stellenweise durchaus sophistische Züge. Dabei bedient er sich vor allem seiner eigentümlichen Definition von Souveränität, auf die im folgenden noch ausführlicher eingegangen werden soll. Nie macht er wirklich klar, ob er mit Souveränität nun die höchste legale Autorität meint oder die tatsächliche Gewalt im Staate. 93 Es ist 'gerade diese Unklarheit, die es ihm ermöglicht, ganz unterschiedliche Fakten in seinem Sinne zu interpretieren. So weigert er sich beispielsweise einerseits, die Staatsform "nach Gewändern und äußerem Gehabe einzustufen",94 andererseits aber legt er nur einige Seiten später großes Gewicht auf die äußeren Umgangsformen des Parlaments mit dem König, um zu belegen, daß der König dem Parlament übergeordnet sei und nicht umgekehrt. 95 Selbst wenn man annimmt, daß der Jurist Bodin sprachliche Formeln für wichtiger hält als Gewänder, ist der Unterschied nicht leicht einzusehen. Franklin zeigt auf, daß dies durchaus kein Einzelfall ist. Indem Bodin gelegentlich Ausnahmen zur Regel erklärt und die gewöhnliche Praxis von diesen Ausnahmen her interpretiert,96 kann er die juristische Tradition konsequent in seinem Sinne interpretieren. Vor allem bei seinen Kommentaren zur Außenpolitik Frankreichs deutet er sein Material systematisch in einer Weise, die auf die Stärkung der französischen Monarchie abzielt. 97 Zusammenfassen läßt sich Bodins Position zu Religion und Tradition wie folgt: Als quellenkritischer Historiker glaubt er, daß der Mensch den tatsächlichen Gehalt historischer Überlieferung weniger sicher kennen kann 98 als die Weisungen der Natur. Er interpretiert deshalb die wesentlichen Teile der Überlieferung in einer Weise, die sie optimal in das einpaßt, was er für politisch ge93 Siehe hierzu: K. D. McRae: "Introduction" ... S. A20. 94 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch II - Kap. I - S. 328 (F 262). 95 ..... (es) verwendet der Parlamentsgerichtshof wenn er dem König schreibt noch heute die ... Überschrift 'An den König, unseren höchsten Gebieter' und die Anrede 'Unser höchster Herr! In aller Untenänigkeit empfehlen wir uns Eurer Gnade' ... So drücken sich weder Herren mit aristokratischen Machtbefugnissen, noch an der Herrschaft Beteiligte, sondern schlichte, demütige Untenanen aus."J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch 11 - Kap. 2 - S. 329 (F 264). 96 J. Franklin: Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory. - Cambridge: 1973. - S. 63 f. 97 Dabei schreckt er auch nicht davor zurück, abweichende Meinungen als möglicherweise bestochen hinzustellen. Siehe hierzu: J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 9 - S. 264 (F 189 ff). 98 Auch hiermit nimmt Bodin implizit eine Position vorweg, die Hobbes später explizit zum Fundament seines Umgangs mit religiöser Offenbarung machen wird.
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boten hält. Damit benutzt er Tradition und Religion nicht als Wegweiser zu richtiger Politik, sondern faßt sie so, daß sie seine bereits ge faßte Meinung unterstützen. Bodins Methode im Umgang mit historischen wie theologischen Quellen verschafft ihm einen erstaunlichen Spielraum. Kein positives Zeugnis göttlicher Offenbarung, das sich nicht im Vergleich mit anderen relativieren ließe, und keine Forderung einer historischen Autorität, die nicht als Fehler, als parteüsch oder als auf eine partikulare historische Situation zugeschnitten interpretierbar ist. Selbst verbreitete Rechtsnonnen lassen sich mit Hinweis auf ein vage gehaltenes Naturrecht kritisieren, und jedes Gegenargument läßt sich notfalls mit dem Hinweis abgelehnen, die Frage bedürfe eines eingehenderen Studiums. Will man deshalb die positive Theorie Bodins verstehen, scheint es sinnvoller, nach den Problemen zu fragen, die er lösen will, als danach, aus welchen ideen geschichtlichen Traditionen sich sein Denken speist. 99 Nichtsdestoweniger ist Bodins theologische und juristische Argumentation mehr als nur ein sophistischer Trick, weil er anders als Machiavelli die Sinnfrage offenhält. Wie und warum er so verfährt, soll im folgenden kurz dargestellt werden, weil es die Voraussetzung für das Verständnis seiner Empfehlungen an die politischen Akteure ist. Mit diesem Abschnitt soll der erste Teil des Kapitels über Bodin enden. 4.1.3. Religion und Tradition als Prüfstein für Politik
Die unterschiedliche Behandlung der Frage nach dem Zweck individuellen wie kollektiven HandeIns durch Machiavelli und Bodin und die daraus folgenden praktischen Konsequenzen, werden in dem von beiden benutzten Bild des Bogenschützen besonders deutlich. Im Zusammenhang mit dem Vorbildcharakter der römischen Klassik schreibt Machiavelli: "Ein kluger Mann soll handeln wie der geschickte Bogenschütze. Wenn ihm der Punkt, den er treffen will, zu fern scheint, so zielt er, mit der Kraft seines Bogens bekannt, viel höher. Nicht damit der Pfeil zu großer Höhe getrieben werde, sondern damit er mit Hilfe eines so hohen Zieles seine Absicht erreicht." 100 Auch Bodin nutzt das Beispiel des Schützen, als er im Zusammenhang mit der Erörterung wissenschaftlichen Arbeitens die Notwendigkeit hervorhebt, Forschungsgegenstände sauber zu definieren. Danach meint er: Es kann zwar sein. daß jemand das Ziel der Betrachtung erkannt hat, nicht immer aber auch die Mittel findet, es zu verwirklichen; daß es ihm also ergeht wie einem schlechten Schützen, der
99 Vergl. hierzu auch: E. Hinrichs: "Das Fürstenbild Bodins ..... in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 291. 100 N. Machiavelli: "Der Fürst" in: ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 2. - Kap 6. - S. 133.
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zwar die Scheibe sieht, aber nicht darauf zielt. Je mehr er sich aber bemüht und anstrengt, desto größer ist auch die Möglichkeit, daß er trifft ... Wer sich aber über sein Ziel und die Definition des ihm unterbreiteten Gegenstandes nicht im klaren ist, darf nicht mehr Hoffnung hegen, je auch die Mittel seiner Verwirklichung zu finden, als einer, der einfach in die Luft hineinschießt, ohne das Ziel zu sehen. 10 1
Die Benutzung dieser Illustration ist aus mehreren Gründen aufschlußreich. Zum einen ist in beiden Fällen der Erfolg in der Welt der Beweggrund des Zielens und damit der eigenen Orientierung. Zum anderen aber steht für Machiavelli dieses Ziel fest, sein Bogenschütze perfektioniert nur seine Technik. Für Bodin dagegen ist das Ziel noch offen, ist selbst Gegenstand der Bemühungen. Die Frage, wie man leben soll und wozu, kann für ihn überhaupt nicht definitiv entschieden werden, denn, so schreibt er, "[ ...] la nature contient dans son seine un tel tresor de sciences cachees qu'aucun siecle ne parviendra sans doute l'epuiser entierement" .102 Was für die Natur gilt, gilt in noch viel größerem Maße für die göttliche Weltordnung, nie läßt sich die Forschung als abgeschlossen betrachten, immer wird sich der Handelnde auch der Kontemplation hingeben müssen. Während Machiavelli also die Frage nach dem Sinn für offensichtlich beantwortet hält, zumindest insofern sie praxisrelevant sein könnte, sieht sich Bodin nicht nur Irrtümern in Bezug auf den Ist-Zustand der Welt ausgesetzt, sondern zudem Fragen nach dem, was man in der Welt anstreben soll: "... solange wir Opfer unserer Behinderungen und Sinnestäuschungen bleiben, werden wir nicht in der Lage sein, das Nützliche vom Unnützen, das Wahre vom Falschen, daß Schändliche vom Ehrenhaften zu unterscheiden. Nur durch einen Mißbrauch des Wortes benennen wir mit Klugheit die Tatsache, möglichst wenige Fehler zu machen." 103
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Was für das Individuum gilt, gilt in derselben Weise für das Kollektiv. Bodin hält auch das Gemeinwesen für "überirdische" Zwecke offen. Anders als Machiavelli und später Hobbes geht es ihm nicht um Sicherheit und Frieden um jeden Preis. Sein Ziel ist der wohlgeordnete Staat, der dem einzelnen, ganz im Sinne des Aristoteles, den Freiraum zur Kontemplation über die höchsten Dinge schafft. 104 Solange aber die Bedingungen dazu nicht geschaffen sind, darf der Souverän die Belange der Staatsraison nicht aus den Augen verlieren: "Sowenig man daran denkt, mit der Erziehung des Kindes zu beginnen, ehe man es genährt und großgezogen hat und sich sein Verstand ausgebildet hat, sowenig verwenden auch die Staaten große Mühe auf die sittlichen Tugenden, die freien Künste oder gar auf die Erforschung der Natur und des Göttlichen, ehe sie nicht mit dem Notwendigsten, dessen sie bedürfen, versehen sind ... " 105 101 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 1 - S. 98 (PI). 102 J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 7 - S. 430. 103 J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 1 - S. 282 (Übersetzung von mir; H. H.). 104 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 1 - S. 105 (p. 9). 12 Hegmann
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Sicher hat der Staat die Aufgabe, die Tugend zu fördern, aber wo er dazu nicht in der Lage ist, muß er sich auf die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dazu beschränken, darauf nämlich, Frieden und Eintracht zu wahren. Wenn Bodin den Staatszweck nicht rein diesseitig definiert, kann er den Fürsten gegebenenfalls von rein machiavellistischer Nutzenkalkulation abhalten. Für ihn besteht nämlich kein Zweifel, "... daß bei einem Fürsten Wissen, das nicht einhergeht mit ... Tugendhaftigkeit, vergleichbar ist mit einem scharfen Messer in der Hand eines Wahnsinnigen; nichts ... ist schrecklicher als Wissen verbunden mit Ungerechtigkeit und bewaffnet mit Macht."I06 Entsprechend ist für Bodin ein Kollektiv, das sich nicht an das Naturrecht hält, von einer Räuberbande nicht zu unterscheiden. 107 Die Öffnung des Individuellen wie des Sozialen zum Jenseitigen hin erfüllt in Bodins System eine genau umreißbare Funktion. Gelingt ihm der Nachweis, daß die machiavellistische Nutzenkalkulation zur Orientierung in der Politik nicht ausreicht, weil keiner in der Lage ist, die Situation vollständig zu überblicken, so kann er damit möglicherweise den Fürsten dazu veranlassen, sich über die so komplexe Materie mit seinen humanistisch gebildeten Juristen zu beraten statt mit Gewalttechnikern vom Schlage eines Machiavelli. Andererseits stattet er die Gelehrten nicht mit so viel Autorität aus, daß sie der staatlichen Ordnung gefährlich werden können. Die Öffnung "nach oben" ist einerseits gerade weit genug, daß die Ohnmächtigen wie die Mächtigen sich sagen müssen, daß ihnen der Rechtsstandpunkt nicht egal sein darf. Andererseits ist sie zu eng, als daß sich die Untertanen, auf ein "Wort" berufend, gegen ihre Fürsten erheben könnten. Übrig bleibt die Aufforderung an humanistische Gelehrte, im Einzelfall zu bestimmen, was zu tun ist, und die Aufforderung an Fürsten wie Untertane, diesem Urteil entsprechend zu handeln. Damit ist sowohl dem Juristen Bodin geholfen als auch dem Königreich, für das er schreibt. Er wird als Experte wichtig genommen, und das Königreich wird vor abrupten Brüchen bewahrt, die zwar aus der augenblicklichen Analyse heraus zweckmäßig erscheinen mögen, sich aber auf lange Sicht u. U. als destabilisierend erweisen. Dabei hat die fürstliche Konsultation der Gelehrten vor derjenigen der Untertanen noch einen anderen Vorteil. Die Untertanen sind Interessierte, die Gelehrten hingegen relativ neutral. Sofern sie Staatsangestellte sind, werden sie zwar dazu tendieren, die Königsrnacht gegen die Stände zu stärken, aber das schließlich ist durchaus erwünscht. Bodin hat mit seiner spezifischen Behandlung der religiösen und säkularen Überlieferung das Feld frei gemacht, weitestgehend ungehindert seine persönli105 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - S. 103 (F. 6). 106 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch 111 - Kap. 2 - S. 403 (F 344). 107 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 1 - S. 100 (F 3n).
4.2. Der Appell BOOins an die Untertanen
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che Interpretation des politisch Gebotenen mit der Legitimation eben dieser Überlieferung zu versehen. Wenn er nun diesen Raum füllt, gruppiert er seine Argumente um zwei zentrale Begriffe. Hinrichs verweist zu Recht auf die sprachliche Parallelität zwischen den "vrayes marques de souverainere" und den "vrayes marques d'un grand Roy" .108 Preist Bodin seinen Untertanen auf der einen Seite die nahezu vollständige Unterwerfung unter den souveränen Monarchen an, so ermahnt er andererseits den König dazu, rechtschaffen zu sein. 'In bei den Fällen setzt er bei individuellen Interessen an und versucht, den Adressaten klar zu machen, daß sie im Verweigerungsfalle nicht nur ihr Seelenheil aufs Spiel setzen, sondern auch die Bedingungen ihres eigenen diesseitigen Wohllebens. Welcher Argumentation er sich dabei in jedem Fall bedient, wird Thema der folgenden Abschnitte sein.
4.2. Der Appell Bodins an die Untertanen In einem von zwei Argumentationssträngen wendet sich Bodin mit seiner hochflexiblen Rechtskonstruktion an die französischen Adeligen seiner Zeit. Er will ihnen beweisen, daß es gut und recht ist, wenn sie ihrem König auch dann gehorchen, wenn sie seine Politik für falsch oder gar für ungerecht halten. Zeigen will er, daß die nahezu unbedingte Anerkennung des Königs als oberster Herr nicht nur die notwendige Bedingung für die Erreichung der gerechten Staatsziele ist, sondern zudem das beste Mittel, auf lange Sicht den Frieden und damit ihre eigenen Interessen zu fördern. Für die Realisierung beider Ziele ist es erforderlich, im Kollektiv handeln zu können, um denen, die konkurrierende und möglicherweise den eigenen Zielen zuwiderlaufende Projekte verfolgen, wirksam entgegentreten zu können. Analog zu der Überzeugung, daß der Mensch erst einmal seine individuelle Selbsterhaltung sichern muß, bevor er sich "Höherem" zuwenden kann, nimmt Bodin auch für den Staat die Notwendigkeit der Existenzsicherung als Voraussetzung für alle weiteren Aktivitäten an. Zwar geht er nicht so weit wie Hobbes, der argumentieren wird, daß das soziale Leben ohne den Staat sofort in den Naturzustand zurückfällt, aber bei der Größe, die das Gemeinwesen Frankreich inzwischen erreicht hat, kann auch Bodin zufolge kein Individuum mehr hoffen, friedlich leben zu können, wenn der Staat aufhört, seine Funktionen für das Zusammenleben aller zu erfüllen. 109 108 E. Hinrichs: "Das Fürstenbild Bodins ... S. 283. 109 Auch der theoretische Ausweg einer Verkleinerung der Gemeinwesen auf ein spontan organisierbares Maß stellt sich nicht, da der einzelne um so sicherer ist, desto mehr Verbündete er auf seiner Seite hat. Im Metluxius schreibt Bodin: "[ ... ] il n'en va pas de meme de I'amitie et des biens temporeIs, car alors que ceux-ci diminuent dans la mesure meme oll I'on en fait part a un plus grand nombre, I'amitie au contraire, comme la lumiere, rayonne d'autant plus qu'eUe est partagee davantage." (1. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 6 - S. 382) Dabei gilt natürlich auch, daß mit
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MachiaveUi wäre es kaum in den Sinn gekommen, die Notwendigkeit staatlicher Einheit so nachhaltig zu betonen. Sein Fürst trachtete schon im eigenen Interesse danach, alle Zwistigkeiten in seinem Herrschaftsbereich zu beenden. Auch die im Abwehrkampf ihr Handeln koordinierenden Republikaner Machiavellis setzten Einheit als etwas unhinterfragt Gutes bereits voraus. Wenn sich das für Bodins Adressaten nicht mehr von selbst versteht, so deshalb, weil sie anders als diejenigen Machiavellis in einem Staatswesen leben, das zumindest nach außen hin relativ sicher ist. Entsprechend können sie sich den Luxus leisten, ihren kurzsichtigen Eigennutz über das Interesse an der Einheit des Staates zu stellen. Dieser Tendenz entgegenzuwirken, ist Bodins Ziel. Es läßt sich in drei Bestandteile zerlegen. Zum einen will er nachweisen, daß Konsensfindungsprobleme kollektive oder konstitutionelle Formen der Herrschaft langfristig unmöglich machen. Zum zweiten empfiehlt er seinen Adressaten aus diesem Grunde die Errichtung einer starken Zentralgewalt, und zum dritten versucht er zu belegen, daß Gehorsam dieser Gewalt gegenüber auch dann angebracht ist, wenn sie die Interessen der Untertanen und die Forderungen des Rechts aus den Augen verliert. 4.2.1. Konsens läßt sich nicht über Kompromisse erzielen
Bodin will zeigen, daß der einzige angemessene Weg zur politischen Einheit die Konzentration der Entscheidungsbefugnisse auf eine Instanz ist. Nur wenn die Bestimmung eines in sich widerspruchsfreien Normensystems sowie die Kontrolle des zu seiner Durchsetzung notwendigen Gewaltpotentials in einer Hand vereinigt wird, lassen sich potentielle Konflikte auf ein Minimum reduzieren. Zu diesem Zweck kritisiert er die verschiedenen Formen kollektiven Handeins, eine Kritik, die ihre Bedeutung bis heute nicht eingebüßt hat. Entscheidend für seine Argumentation ist die Feststellung, daß die Erkenntnis der Wahrheit keinen Weg zum Konsens öffnet. Was in Wahrheit gut, gerecht oder nützlich ist, ist schon für den relativ unbefangenen Gelehrten schwierig zu beantworten. Um wieviel mehr drohen unlösbare Konflikte, wenn sie beantwortet werden sollen, um praktische Probleme zu lösen. Dann nämlich ist es nicht die Liebe zur Wahrheit, die bei den Beteiligten die Entscheidung über das als wahr Erkannte bestimmt, sondern möglicherweise ganz andere, einem "niedrigeren" Niveau des menschlichen Lebens entspringende Interessen. Nicht einmal die Exegese eines autoritativen Textes verspricht einen Ausweg aus der Sackgasse sophistischer Kunstfechtereien. Überkommene Schriften sind schon für Experzunehmender Größe des Kollektivs die Intensität der Beziehungen nachläßt. Bodin schreibt dazu: "11 ressort. [... ] que toute union et toute communaute s'affaiblit d'autant plus qu'elle s'eloigne davantage de l'union de lbomme et de la fernrne." (1. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 6 - s. 382).
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ten schwer zu interpretieren, wo aber mit ihrer Hilfe Praktiker mit ganz unterschiedlichen Interessen zu gemeinsamem Handeln finden sollen, muß das Unterfangen schnell scheitern. Wenn ein Staat nichtsdestoweniger mit Hilfe des Rechts geordnet werden soll, muß entschieden werden, wie der dazu erforderliche Normenkatalog konkret aussehen soll. Angesichts der Schwierigkeiten, zweifelsfrei und intersubjektiv vermittelbar festzustellen, was Recht überhaupt ist, wird die Konsensfindung darüber im Kollektiv sehr unwahrscheinlich. Während sich ein Fürst der Mehrheit seiner Berater anschließen, ja diese nach Effizienzkriterien vorab bestimmen kann, sind die Regierenden in einer Demokratie und Aristokratie dazu gezwungen, "in den Rats- und Ständeversammlungen zugleich mit den Weisen auch die Toren zuzulassen."110 Und was Bodin im gleichen Zusammenhang für jede Form der Entscheidungsfindung konstatiert, gilt für alle kollektiven Entscheidungsgremien: "... es setzt sich ... immer die zahlen mäßige Mehrheit durch, nachdem die Weisen und Tugendhaften überall in der Minderheit sind, so daß zumeist die Gruppe der Vernünftigeren und Anständigeren gezwungen ist, sich ganz nach der Willkür eines dreisten Tribunen oder eines unverschämten Demagogen der Mehrheit zu beugen."lll Aber nicht nur, daß die kollektive Entscheidung keine Garantie dafür bietet, daß man der Wahrheit näher kommt, als es ein einzelner könnte, sie birgt vor allem die Gefahr von Disputen in sich, die allzuleicht in Konflikte ausarten können und so die staatliche Ordnung, wenn nicht zerstören, so doch zumindest zeitweise handlungsunfähig machen. Im letzten Buch der Republique, bei der Behandlung der Frage, weIches denn nun die beste Staatsform sei, kommt Bodin deshalb zu dem Schluß: Ein von mehreren klugen Köpfen ersonnener Rat mag zwar besser sein als einer, der nur einem einzigen Gehim entspringt, man sagt ja auch, mehr Augen sehen besser als zwei. Doch Entscheidungen zu fällen, Beschlüsse zu fassen und Befehle zu erteilen wird einem einzelnen immer leichter fallen als mehreren .... Dazu kommt, daß unter einander gleichgestellten Teilhabem an der Macht Ehrgeiz etwas so natürliches ist, daß mancher lieber zuschaut, wie der Staat zugrundegeht, bevor er zugäbe, daß jemand anderer klüger ist. Andere sehen dies zwar ein, genieren sich aber! ihre Meinung zu ändem, aus Angst, ihr Ansehen könnte noch so geringen Schaden nehmen. 12
Dazu kommt noch, daß zur Ausführung des kollektiven Willens Magistrate ermächtigt werden müssen. Da aber eine Ermächtigung auch für andere als staatstragende Zwecke benutzt werden kann, sind Demokratien und Aristokratien eher als Monokratien dazu gezwungen, ihre Magistrate regelmäßig auszutauschen, ein Verfahren, daß es nicht erlaubt, fähige Beamte auf Dauer zu bestellen. 1l3 Es ist somit der Nachweis der Ineffizienz, der es Bodin ermöglicht, 110 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 415 (F 962). 111 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 415 (F 962). 112 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd 2 - Buch V - Kap. 4 - S. 418 (F966). 113 "Nun aber steht fest, daß gegensätzlich strukturierte Staaten durch konträre Mittel zu regie-
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dem französischen Adel die absolute Souveränität als wünschenswert zu verkaufen. Dabei argumentiert er in zwei Schritten. Zum einen versucht er nachzuweisen, daß kollektive Entscheidungsfmdung an sich schon leicht zu Konflikten führt, weshalb er die Herrschaft eines einzelnen favorisiert. Zum zweiten will er zeigen, daß eine durch positives Recht in Schranken gehaltene Herrschaft keine Alternative zur absoluten Monarchie ist, weil sich die Beteiligten über den Gehalt einer Verfassung, über die genaue Grenzziehung zwischen Recht und Unrecht noch weniger werden einigen können. Wo schon die einfache Mehrheitsentscheidung Konflikte nicht verhindern kann, wird sich die Interpretation einer Verfassung noch weniger dazu eignen. Wenn F. Hotman also schreibt, daß ein Volk wohl ohne König bestehen könne, wie im Falle einer Aristokratie, einer Demokratie oder einer Interimssituation, daß ein König ohne Volk aber nicht einmal vorstellbar sei,114 so ist es genau der erste Teil dieser These, den Bodin und später auch Hobbes nachdrücklich zurückweisen. Bodins Präferenz für die Monarchie als Gegensatz zu Formen kollektiver Herrschaft ist eine Folge von Effizienzüberlegungen, sie ist nicht prinzipieller Natur, und vor allem ist sie nicht ausführlich entwickelt, da er es in den praktischen Auseinandersetzungen weniger mit Republikanern als mit Verteidigern der konstitutionellen Monarchie zu tun hat. Zumindest im Methodus 1l5 hält er eine demokratische Verfassung noch im Prinzip für arbeitsfähig; so hebt er die Stabilität und die Leistungen des politischen Systems der demokratischen Schweiz ausdrücklich hervor. Allerdings nennt er Bedingungen für ihr Funktionieren, die die demokratische Herrschaft zu einer eher selten realisierbaren Staatsform machen: Die Volks regierung in der Schweiz verdankt ihren Fortbestand zwei Faktoren: Der Einführung des egalitären Prinzips und der Häufigkeit öffentlicher Festmähler. Was den ersten Punkt betrifft, so gibt es bei den Schweiz keine Aristokratie ... In Bezug auf die öffentlichen Feiern gilt, daß sie sehr häufig stattfinden. Nicht nur tragen sie dazu bei, Vetternwirtschaft und Streitereien fernzuhalten, sie fördern außerdem eine unglaubliche Zuneigung der Bürger zueinander und zu ihrem Gemeinwesen. 11 6 ren sind und daß dieselben Regeln, welche geeignet sind, Volksherrschaften bei Bestand zu erhalten, Monarchien zum Untergang gereichen. Volksherrschaften schützen sich durch ständiges Auswechseln der Beamten, damit ein jeder nach seinen Fähigkeiten an den Ämtern genauso teilhabe, wie er an der Souveränität teilhat, damit die Gleichheit, die Nährmutter der Demokratie, durch alljährliche Ablösung der Magistrate aufs bestmögliche gewährleistet ist und die Gewöhnung, über lange Zeit Befehl auszuüben, in niemandem die Lust aufkommen läßt, die Souveränität an sich zu reißen." (1. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 4 - S. 99 (F 593». 114 F. Hotrnan: "Francogallia" in: J. Dennert: Beza, Brutus, Hotman - Calvinistische Monarchornachen. - Opladen: 1968. - S. 285 (Kap. 19). 115 In der Republique sieht seine Einschätzung auch der Schweiz ganz anders aus, siehe hierzu: J. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 1 - S. 42 f. (F 525); die zitierte Stelle hält BOOin allerdings nicht davon ab, die Volksherrschaft auch im Methodus für normalerweise chaotisch zu halten: s.a.: J. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 6 - S. 412). 116 J. BOOin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 6 - S. 397 (Übersetzung von mir; H. H.).
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Zum einen deutet sein Argument darauf hin, daß das Entscheidungsverfahren per schlichter Mehrheit die Willensbildung von Ambiguitäten befreit und so Konsens erieichtert,1I7 und zum anderen, daß die Größe und die föderalistische Struktur der Schweiz häufige Zusammenkünfte und damit die Verständigung erleichtem. 118 Bodin selbst ist aber mit der politischen Organisation Frankreichs befaßt, eines großräumigen Staates also, der zu seiner Zeit durch eher spärliche Informationsströme gekennzeichnet ist. In einem solchen Flächenstaat hat eine gesetzgebende Versammlung entweder das Problem, sich nicht leicht versammeln zu können, oder aber nicht das ganze Land zu repräsentieren (die Landesherren befinden sich bei Hofe und nicht auf ihren Besitzungen). Es ist kein Zufall, daß die Republiken der Zeit meist Stadtstaaten sind, in denen sich solche Schwierigkeiten nicht stellen. Die Ablehnung kollektiver Entscheidungsprozesse gilt bei Bodin im wesentlichen sowohl für die Demokratie als auch für die Aristokratie. Während das Volk wankelmütig sei und wenig Interesse an der Aufrechterhaltung einer bestimmten Staatsform habe,1l9 seien die Aristokraten mehr an der Umwandlung des Staates in eine Monokratie unter ihrer individuellen Kontrolle interessiert als am Fortbestand der kollektiven Herrschaft. l20 Aber selbst wenn alle an der richtigen Führung des Staates interessiert seien, ließe die Effizienz kollektiver Herrschaft im Vergleich zur Monokratie zu wünschen übrig: ... wie einern Heer, das, mehreren Generalen unterstellt, schlecht geführt ist und meistens Niederlagen einstecken muß, ergeht es auch einem Staat, in dem mehrere [zugleich) herrschen. Ursache kann entweder sein, daß das Land in Spaltung verfällt, daß Meinungsverschiedenheiten auftreten, die Macht durch Aufteilung auf mehrere geschwächt wird, Schwierigkeiten auftreten, Uneinigkeit zu überwinden und Beschlüsse zu fassen, die Untertanen nicht [mehr) wissen, wem sie gehorchen sollen2Dinge ausgeplaudert werden, die geheim bleiben sollten, oder daß dies alles zusammentrifft. l 1 117 Ich kann Franklin nicht zustimmen, wenn er argumentiert, daß Bodin kollektive Herrschaft für unmöglich hält, weil er sich keine juristische Person im Besitz der Souveränität denken kann. (1. Franklin: BOOin ... Absolutism ... S. 27) Bodins Unterscheidung scheint mir vielmehr diktiert von der Komplexität des Willensbildungsprozesses. Der Mehmeitsentscheid ist einfach. Solange gesichert ist, daß er von allen akzeptiert wird, kann es kaum Meinungsverschiedenheiten über den einzuschlagenden Weg geben. Eine Verfassung, die Gewaltenteilung fordert, ist dagegen stets interpretationsbedürftig und öffnet so selbst bei Bürgern guten Willens unzählige Anlässe zu Konflikten. 118 Vergl. hierzu auch: Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. - Stuttgart: 1989. - S. 192 ff. 119 1. Bodin: Sechs Bücher. .. - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 406 (F 951 f.). 120 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 408 (F 954); vergl. auch: "... keine Ursache ist dafür (für die großen und bemerkenswerten Veränderungen in Adels- und Volksherrschaften; H. H.) alltäglicher als der Ehrgeiz besonders hochmütiger Menschen, die sich als Freund des Volkes und Feind des Adels ausgeben, wenn es ihnen nicht gelingt, die von ihnen erstrebten Ämter zu erlangen .... Noch leichter kommt es dazu, wenn Unwürdige die hohen Ämter erhalten und diejenigen, die sie an sich verdienen würden, davon ausgeschlossen werden, was rechtschaffenen Menschen am meisten am Herzen liegt." (1. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV Kap. 1 - S. 48 (F 532». 121 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 417 f. (F 965); sowie: Buch VI Kap. 4 - S. 414 f. (F 961).
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Wie Machiavelli zieht auch Bodin die Institution der Diktatur in der römischen Republik als Beispiel heran. Die Adligen Frankreichs sollen im eigenen Interesse auf Mitbestimmungsmöglichkeiten verzichten, sollen sich, angesichts der religiösen Konflikte, einem einzigen Führer unterwerfen. Mitbestimmung sollen sie nur fordern, wenn der Staat bereits gesichert ist, und auch dann sollen sie sie im Notfall der Handlungsfähigkeit des Souveräns opfern. Im Zusammenhang mit der Behandlung der historischen Beispiele für die freiwillige Einsetzung eines Diktators urteilt Bodin, daß die in der Person eines einzigen Oberhaupts konzentrierte souveräne Gewalt wirkungsvoll sei, während sie sich, "auf zwei, drei oder noch mehr Machthaber verteilt", auflöse und ihre Wirkung einbüße. 122 Einige Seiten später kommt er gar zu dem Schluß, daß die Souveränität streng genommen nur in Monarchien existiere: "Man mag sich zwar den Verband mehrerer Regierender oder eines [ganzen] Volkes als Inhaber der Souveränität vorstellen können. Ohne ein Oberhaupt mit souveräner Gewalt, das sie alle miteinander eint, ... gebricht es ihr jedoch an ihrem eigentlichen Inhalt und Träger."123 Wo schon die einfache kollektive Herrschaft den zu kollektivem Handeln erforderlichen Konsens nicht sichern kann, muß dies in noch viel größerem Maße für ein konstitutionelles System geIten. Wo schon der Mehrheitsentscheid nicht reicht, um schnell und wirkungsvoll Meinungsverschiedenheiten über den "rechten Weg" zu beenden, öffnen sich bei der Interpretation einer Verfassung ganz neue ungeahnte Möglichkeiten des Konflikts. Zu dieser kritischen Einstellung der konstitutionellen Monarchie gegenüber kommt Bodin allerdings erst im Laufe seiner juristischen Karriere. Noch im Methodus zitiert er zustimmend: Aristoteles ... hat der Frage die größte Aufmerksamkeit geschenkt, ob es besser sei, einen Menschen oder das Gesetz mit Autorität auszustatten. Zwar gelangte er zu der Überzeugung, daß die beste Regierung die eines guten Menschen sei, wenn sich denn einer in der Republik fände, allerdings fügt er hinzu: "die Autorität dem Gesetz zu überantworten bedeutet, sie Gott anzuvertrauen, sie aber in die Hände der Menschen zu legen heißt, eine Bestie zu schaffen, da die Menschen normalerweise von den verschiedensten Leidenschaften beherrscht werden wld so vom rechten Wege abgeleitet werden. l24
Zwar ist Bodin auch im Methodus daran interessiert, daß der König handeln kann, ohne die Einmischung anderer fürchten zu müssen. Aber um ihn vom Fall in die Tyrannis abzuhalten, stellt er die Verfassung des Staates unter den Schutz der Ständeversammlung. Damit hat der König zwar bei der Abwicklung der normalen Regierungsgeschäfte freie Hand, braucht aber für Verfassungsän-
122 J. Bodin: Sechs Bücher. .. - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 416 (F 964). 123 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 414 f. (F 961 f.). 124 J. Bodin"La Methode de l'Histoire" ... Kap. 6 - S. 376.
4.2. Der Appell Bodins an die Untertanen
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derungen die Zustimmung der Stände. 125 Da solche Änderungen nur in Notfällen geschehen sollten, glaubt Bodin, seinem Fürsten alles an die Hand gegeben zu haben, was der zur Erhaltung des Staates benötigt und was er, wie wir schon bei Machiavelli gesehen haben, schon im eigenen Interesse nicht mißbrauchen sollte. Vor diesem Hintergrund sieht Bodin nicht einmal Probleme, den Fürsten an seine eigenen Gesetze zu binden.J26 Wichtig ist nur, daß Autorität nicht vom bloßen Willen der anderen abhängig wird. 127 Wenn Nonnen aber interpretationsbedürftig sind, werden sich die Stände und der König in einer gegebenen Situation kaum darauf einigen können, was gerecht ist. Selbst wenn sie alle im Prinzip nur an Gerechtigkeit interessiert wären,ließen sich Konflikte nicht endgültig entscheiden. Wo jeder mit dem Zweifel leben muß, daß sein Gegenüber möglicherweise mit dem Verweis auf das Recht ganz andere Interessen durchsetzen will, stehen abweichende Meinungen immer unter dem Verdacht, diesen anderen Motiven zugrunde zu liegen. Man bekommt es dann mit einem Friedfertigendilemma großen Stils zu tun, das trotz allgemeiner Kooperationsbereitschaft Differenzen verstärkt und die Beteiligten früher oder später zur reinen Machtpolitik zurücktreibt. Bodin selbst liefert in seiner Arbeit als praktizierender Jurist ein Beispiel für diese Benutzung des Rechts für politische Ziele. Auf dem Ständetag von Blois argumentiert er mit aller Kraft gegen die Veräußerung von Krongut durch den König. Dabei ist seine Argumentation zwar durch Tradition und die eigene Verfassungsinterpretation gedeckt, nichtsdestoweniger ist aber das eigentliche Ziel seines Plädoyers, dem König die finanziellen Mittel für den Krieg gegen die Protestanten vorzuenthalten. Eine solche Rede, die als Ennahnung des Fürsten zu rechtmäßiger und kluger Politik den Untertanen nicht nur erlaubt, sondern von ihnen gefordert wird, könnte von anderen zum Grund für eine eigennützige Gehorsamsverweigerung, ja zu offenem Widerstand genutzt werden. Zehn Jahre nach dem Methodus gibt Bodin in der Republique denn auch die Vorstellung von der begrenzten Autorität auf. Seit mit Zuspitzung des Religionskonfliktes einflußreiche protestantische Kollegen sich hinter der historisch ge125 VergJ. auch: J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 39. 126 J. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 6 - S. 376; Franklin kommentiert hierzu: "... a king's superiority to law is properly restricted to those occasions on which he has the consent of the community to change it. Since the ultimate sanction for an act of legislation is the general consent of the community. when that consent has been accomplished, the king is subject to his own enactments. In this sense a proper sovereign is supreme and limited at onee." (J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 35). 127 Siehe auch: "Limited authority cannot be supreme if it is held at the pleasure of another ... Hence the complete definition of a limited supreme authority is one that is not responsible to any human agent for the use of its discretionary power, so long at it remains within the bounds of settled law, and it is this definition of supremacy that is implied by Bodin's usage." (J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 39); der Wert, den Bodin auf die Unabhängigkeit des Souveräns vom Willen anderer legt, bleibt auch in der Republique erhalten. VergJ. hierzu: 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 Buch I - Kap. 10 - S. 292 (F 221).
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wachsenen oder religiös legitimierten Rechtsordnung verschanzen, um ihre Partikularinteressen gegen die Zentralgewalt zu verteidigen, sieht er, daß jedes festgeschriebene Grundgesetz, das den Untertanen unter bestimmten Bedingungen ein Widerstandsrecht einräumt, diesen Deckung für die Durchsetzung anderer als staatsfördernder Ziele gewährt. Damit muß sich irgendwann der latent in der Rechtsordnung angelegte Konflikt in einen offenen Konflikt verwandeln, " ... bis endlich die Souveränität entweder einem [einzigen] Fürsten oder einer Minderheit des Volkes oder dem ganzen Volk gehören würde. 128 Wenn aber weder kollektive noch konstitutionell bezähmte Herrschaftsformen langfristig Stabilität versprechen, ist es das beste, die Gewalt gleich in den Händen eines einzelnen Fürsten zu konzentrieren. Indem Bodin radikal alle Möglichkeiten legitimen Widerstands gegen diesen Fürsten aus seiner Rechtskonzeption verbannt, kommt er zur Idee der absoluten Souveränität: "An absolute king", so faßt FrankIin Bodins Konzept zusammen, "had full possession of all the powers that astate could legitimately exercise, and even if he overstepped the bound of higher law, he could not be lawfully resisted or deposed".129 Da sich der Begriff der Souveränität genauso als Vorwand zur Legitimation der Tyrannei mißbrauchen läßt wie das der konstitutionellen Kontrolle als Argument zur Legitimierung einer ungerechtfertigten Rebellion, hängt die Wahl des Rechtskonzepts entscheidend davon ab, von woher man die größeren Gefahren fürchtet. 130 Zur Beantwortung dieser Frage ist eine Neuerung besonders wichtig, die Bodin bereits im Methodus formuliert. Dort, als es um die Glaubwürdigkeit von Historikern geht, ist er der erste, der von der Interessenlage der Autoren auf die mögliche Tendenziösität ihrer WeItsicht schließt. In seiner Studie über Bodins Rechts- und Geschichtsverständnis faßt FrankIin zusammen:
128 ]. BOOin: Sechs Büeher ... - Bd. 1 - Buch II - Kap. 1 - S. 332 (F 266 f.). 129 ]. Franklin: BOOin ... Absolutism ... S. 92; siehe auch S. 50. 130 Siehe hier auch: "... if the ultimate choice had to be made, tyranny was preferable to anarehy. lt was a choice to whieh not everyone tOOay would assent, but in the France of Henry III it found many willing adherents."K. D. McRae: "Introduction" ... S. A21.
4.2. Der Appell Bodins an die Untertanen
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... the most far-reaching and decisive innovation is the recognition by Bodin that an author's will to teil the truth will tend to vary with the hearing of his interests. This view depends upon the insight that there are a variety of circumstances in which even good historians are likely to be
biased. The love of country, for example, is ... pervasive and profound ... Similar biases, moreover, must be expected from the ties of interests, as when the author is hirnself an actor or is writing of his party or his friends. And where religious differences are present the likelihood is even stronger. On almost any topic, fmally, the truthfulness of history is suspect if the author had reason to be fearful. The publication of the truth, for instance, may be offensive to powerful contemporaries .... BOOin accordingly, is willing to concede to scepticism a variety of common circumstances in which bias may almost always be expected ... The difference now, however, is that these biases are no longer understood as indications of complete depravity and as the sole motivations from which history is wrinen, but are psychologically interpreted as normal and discountable. 131
Überträgt man dieses Verfahren auf die Politik, so kann man vermuten, daß diejenigen dem Gemeinwohl am ehesten ehrlich dienen werden, deren individuelle Interessenlage ein Abweichen von einem solchen Dienst am unwahrscheinlichsten macht. Je näher dieses Ziel an den Kern individueller Interessen des oder der Souveräne riihrt, je fundamentaler also die in Frage kommenden Präferenzen sind, desto wahrscheinlicher wird es, daß der Souverän das Staatswohl zu seinem eigenen Anliegen macht. In einer Demokratie oder Aristokratie ist es immer möglich, daß einer der Regierenden im Vertrauen auf die "dummedle Gutmütigkeit" seiner Mitregenten sein privates Süppchen kocht, und wo die anderen es ihm gleichtun, wäre er erst recht dumm, "besser" sein zu wollen. Weil ihr Verhalten wenig unmittelbaren Einfluß auf das Wohl des Staates hat und sie dariiber hinaus, wie R. Boldts Man tor all Seasons, unter wechselnden Herren leben können, sind sie von ihrer individuellen Interessenstruktur her unzuverlässige Partner. Im Gegensatz dazu ist der Alleinherrscher, dessen privates Wohl unmittelbar mit der Stabilität seiner Herrschaft verknüpft ist,132 der beste Sachwalter des Gemeininteresses. Ein einzelner Fürst, der langfristig gegen das Gemeinwohl handelt, wird schnell seinen Job und damit allzuleicht auch sein Leben los. 133 Wenn Bodin BI J. Franklin: Bodin ... MethOOology ... S 145 ff. 132 Es ist kein Zufall, daß gerade Schumpeter diese Idee in bezug auf Aufstieg und Fall sozialer Klassen formuliert: "What interests us in such an upheaval (the forcible subjugation of one social entity by another that is politically alien) is the fact that dasses that appear as "upper" or "ruling" even to superficial observation - especially the "ruling dass" - are much more deeply affected than the lower dasses, and in an alltogether different way .... the position (of the lower dass), their relative social rating, is affected only slightly or not at all, usually remaining essentially unchanged under the new overlord. The upper dasses on the other hand, are likely to lose the very core of their position - the more so, the nearer they are to the top of the social pyramid." (J. A. Schwnpeter: "Social Gasses ... S. 135). 133 Es ist bezeichnend, daß der Autor von The Logic of Collective Action, Mancur Olson, vor kurzem einen Vortrag mit dem folgenden Zitat des amerikanische Anthropologen E. Banfield eröffnete. Banfield, in seiner berühmten Studie über ein Dorf im Mezzogiomo, gibt die politische Überzeugung des monarchistischen Partei sekretärs des Ortes wieder: "A monarchy is the best kind of govemment because the king is then the owner of the country. Like the owner of a house, when the wiring is wrong, he fixes it. He looks after his people like a father. If you have a child, always you love hirn more and you do more for hirn than you would do for others. It is in this way that a king looks after his people. He wants them to love hirn. He loves them. In a republic, the country is
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deshalb rechtmäßigen Widerstand unter allen Umständen verhindert und damit die einzige legitime zwischenmenschliche Sanktion für tyrannisches Handeln bannt, so deshalb, weil er das Risiko eines Falls in die Tyrannei für geringer hält als dasjenige, das sich bei allen Arten kollektiven Handelns einstellt, nämlich das der Unfahigkeit zum Konsens. Wenn sich auch Bodin die alte Ansicht von der Ineffizienz der Tyrannis zu eigen macht, so deshalb, weil er sich der Fragilität einer Rechtsargumentation durchaus bewußt ist. Rechtsschranken allein können kaum das Übel verhindern, gegen das sie errichtet werden, sie entziehen lediglich den Übeltätern die Legitimation des Rechts und stärken damit diejenigen, die die Übeltat verhindern sollen. Recht kann allenfalls auf der Oberfläche realer Kräfteverhältnisse kleine Korrekturen bewirken. Vergrößert tyrannische Herrschaft die Differenz zwischen der Gehorsamsforderung des Rechts und den Bedürfnissen der Untertanen allzusehr, werden diese das Recht irgendwann ihren fundamentaleren Interessen opfern und rebellieren. Es ist noch wichtig festzuhalten, daß Bodin in der Republique keine wesentlichen Veränderungen an den Verpflichtungen des Souveräns vornimmt. Dieser ist nach wie vor gehalten, im Einverständnis mit den Untertanen zu herrschen, solange nicht eine Notsituation anderes erfordert. Eine Abweichung von dieser Norm ist lediglich nicht mehr mit der Sanktion des legitimen Ungehorsams durch die Untertanen verbunden. Gerade diese Akzentverschiebung in Bodins Denken ist beispielhaft für die Art und Weise, in der er die Idee der Gerechtigkeit derjenigen der Zweckmäßigkeit anpaßt. Gerecht ist, was dem Staat nützt, und Normen sind dort mit zwischenmenschlichen Sanktionen zu versehen, wo dies den Staat stärkt. Können Sanktionsrechte dem Staat gefährlich werden, muß auf sie verzichtet werden. Bodin verändert also nicht das, was er für gerecht hält, sondern die Art und Weise, in der es in der Welt durchzusetzen ist, was weniger von theologischen, philosophischen oder juristischen Überlegungen abhängt, sondern allein von machiavellistischer Macht- und Interessenkalkulation. Wie das Konstrukt letztendlich aussehen soll, das Bodin auf der Grundlage dieser Sicht vom Verhältnis zwischen Rechtsstandpunkt und politischen Erfordernissen den Adeligen empfiehlt, soll im weiteren noch etwas deutlicher herausgearbeitet werden. Erst dann kann dazu übergegangen werden, sein Argument an den König ausführlicher in den Blick zu nehmen.
like a house that is rented. If the light go out, weil, that's all right ... it's not his house. If the wall chips, weil, it's not his house. The renter does not fIX it. So with the men who govem a republic. They are not interested in fixing things. If something is not quite right and if they are tumed out for it, weil, meanwhile they have filled there pocketbooks." (E. C. Banfield: The Moral Basis of a Backward Society. - New York: 1967. - S. 27).
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4.2.2. Konsens erfordert einen Fürsten als letzte Instanz
Das Instrument. das Bodin den Adeligen zur Organisation des sozialen Lebens anempfiehlt. ist eine einheitlich strukturierte. in sich widerspruchsfreie Staatsmaschine. die die Setzung und Interpretation zwischenmenschlichen Rechts. seine Durchsetzung und die Rechtssprechung in der Hand eines souveränen Fürsten vereinigt. l34 Damit macht er diesen zum alleinigen Herrscher über alles. was über den unmittelbaren Privatbereich der Familie hinausgeht. Er läßt ihn den Staat verkörpern. die auf Handlungsfähigkeit orientierte Einheit all dessen. "... was der Allgemeinheit gehört und öffentlich ist. etwa öffentliche Güter. ein Staatsschatz. städtische Weichbilder. Befestigungsmauem. Plätze. Kirchen. Märkte. Gebräuche. Gesetze und Gewohnheitsrecht. ein Gerichtswesen. Lohn und Strafe und ähnliche Dinge •... "135 Dieser Idee entspricht im Frankreich des 16. Jahrhunderts nichts weniger als die Wirklichkeit. Unter dem Eindruck steigender sozialer wie territorialer Mobilität ist das mittelalterliche Lehenssystem in voller Auflösung begriffen. Eine große Menge wohIerworbener und durch Tradition legitimierter Privilegien schränkten den Handlungsspielraum des Königs ein. 136 Gegen dieses immer undurchsichtiger und dichter werdende Gewirr von Sonderrechten und altersschweren Bräuchen stellt Badin die juristische Allmacht des Souveräns in allen außerfamiliären Sozialbeziehungen. Es ist nicht weniger als die ganze Sphäre des Gemeinschaftlichen. die Bodin seinem Souverän zuordnet. Wie diese Sphäre organisiert werden soll und weIche Funktionen der Souverän im einzelnen zu erfüllen hat. geht aus einer Aufzählung der Bestandteile von Souveränität hervor. die sich im schon Methodus findet und sich in Abwandlungen durch Bodins ganzes Werk zieht. Zentral sei das Recht. Beamte zu ernennen. Gesetze zu erlassen und abzuändern. Krieg zu erklären sowie Belohnungen und Strafen zu verteilen. 137 An anderer Stelle. ebenfalls im Methodus, fügt Bodin noch ein fünftes Attribut hinzu. dasjenige. letzte Berufungsinstanz für alle Entscheidungen der Magistrate zu sein. 138 Betrachtet man die Attribute der Souveränität aus der Perspektive der seit Montesquieu geläufigen Unterscheidung von Legislative, Exekutive und Judikative, so fällt auf. daß Bodin nicht die Legislative für den wichtigsten Bestandteil der Souveränität hält. sondern der zweiten. der ausübenden Gewalt die 134 Für diesen Versuch hat es auch im Mittelalter durchaus Vorläufer gegeben. Siehe beispielsweise: Th. von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. - Stuttgart: 1981. - S. 19 f.; freilich gingen diese Vorläufer nie soweit, den Fürsten vollständig von den Ständen unabhängig zu machen. Vergl. hierzu: C. J. Friedrich: The Philosophy of Law ... S. 43; sowie: P. N. Riesenberg: Inalienability of Sovereignty. - New York: Columbia Press, 1956. - 204 S. 135 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch' - Kap. 2 - S. 107 (F 14). 136 Vergl. hierzu auch: K. D. McRae: "'ntroduction" ... S. A13. 137 1. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 3 - S. 289. 138 J. Bodin "La Methode de I'Hisloire" ... Kap. 6 - S. 359.
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größte Aufmerksamkeit schenkt. Das macht Sinn, denn zum einen hat die Gesetzgebung noch nicht so flexibel wie heute auf Veränderungen in der Lebensweise der Menschen zu reagieren, wie dies zu Montesquieus Zeiten oder gar heute der Fall ist, und zum anderen ist die Legislative weniger wichtig, wenn Normen interpretierbar und ihre Einhaltung schlecht kontrollierbar ist. Dann kommt es weniger darauf an, den Regierungsbeamten gute Richtlinien an die Hand zu geben, es ist viel wichtiger, Magistrate einzusetzen, die die Gewähr bieten, im Sinne des Souveräns zu handeln. Wenn im folgenden die übliche Unterteilung benutzt und mit der Legislative begonnen werden soll, so geschieht dies also nicht, weil Bodin die gesetzgebende Funktion die wichtigste wäre, sondern weil sie in ihrer spezifischen Behandlung durch den Juristen ein besonderes Licht auf seine Anschauungen zu den anderen Bereichen wirft. Die Bestimmung des Rechts 139 wird am besten von einem einzelnen vorgenommen, der durch seine Person die innere Widerspruchsfreiheit des Gesetzeswerks sicherstellt und so Konflikte minimiert. Das schließt nicht aus, daß sich der oberste Legislator einen Beraterstab hält, um das Recht so optimal wie möglich zu gestalten, wichtig ist nur, daß er in Person letztinstanzlieh entscheidet. Anders als Machiavelli reicht es Bodin nicht, wenn die Schöpfung des Gesetzeswerks in der Hand eines einzelnen liegt. Vielmehr entscheidet er sich, wie Thomas Hobbes ein halbes Jahrhundert später, für die Institution eines permanenten obersten Schlichters, eines Gerichtsherrn, der die Einheit des Rechts permanent sicherstellt. Darüber hinaus, und dies entspricht dem sich beschleunigenden Wandel seiner Zeit, interpretiert Bodins Schiedsrichter nicht nur einen unveränderlichen Rechtskanon, er entwickelt ihn fort und paßt ihn an sich wandelnde Gegebenheiten an. l40 Mit der Zuweisung der Befugnis an den Souverän, selbst Recht setzen zu dürfen, und der Weisung an die Untertanen, Gesetzen nicht deshalb zu folgen, weil sie gerecht sind, sondern weil sie vom Souverän kommen, mit der Trennung von Recht und Gesetz also,141 rückt Bodin deutlich in die Nähe Machia139 Hinrichs weist zu Recht darauf hin, daß Bodin nicht von Legislative im modemen Sinne spricht, sondern lediglich davon, inadäquat gewordene Gesetze bei Bedarf abzuändern. (E. Hinrichs: "Das Fürstenbild Bodins ... S. 291) Der Fürst ist also nicht dazu da, "alles neu zu machen", er soll nur die Hände frei haben, bei Bedarf Veränderungen vorzunehmen. 140 Vergl. hierzu auch McRae: ... the concept of social change was virtually absent from medieval thought, but in the sixteenth century, when society was changing visibly and rapidly, it was vitally important for the ruler to be able to meet rapidly changing situations. The political thought of Bodin and others recognizes and attempts to meet this need.(K. D. McRae: "Introduction" ... S. AI4). 141 Friedrich interpretiert diesen Unterschied ganz in dem hier gemeinten Sinne, wenn er schreibt: "... law as positive statutory law must be clearly distinguished from any kind of law derived from morals and equity. This tearing apart of the two sides of law, which until then had always been considered intimately related and together constituting a unity, parallels in its historical impact the analogous separation of power politics and morals by Machiavelli. And although Bodin sharply rejects Machiavelli, it is undeniable that his precise argument in support of statutory law as the
4.2. Der Appell Bodins an die Untertanen
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vellis. Recht, so schreibt er, sei lediglich ein Ausdruck der Billigkeit, während das Gesetz nichts anderes sei als der Befehl des Souveräns.142 Wo der Fürst aber die Eigenschaft der Souveränität nicht einem überindividuellen Recht verdankt und selbst Tyrannen souverän sind,143 ist für das Vorliegen der Souveränität nicht Rechtmäßigkeit entscheidend, sondern die Fähigkeit, für die eigenen Befehle Gehorsam zu finden. l44 Bezeichnenderweise vergleicht Bodin die Tyrannen herrschaft "mit dem aus Gewalt rührenden Besitz des Räubers, der ja auch echter, tatsächlicher Besitz ist, obwohl er gegen das Gesetz verstößt und der Räuber die Vorgänger im Besitz verdrängt."145 Es ist damit nicht eine von oben legitimierte Gerechtigkeit, die dazu zwingt, den Befehlen des Souveräns nachzukommen, sondern eine tatsächliche Gewalt. 146 In diesen Kontext paßt es auch, wenn Bodin ganz im Einklang mit Machiavelli an mehreren Stellen versichert, daß derjenige, der über die Streitkräfte gebiete, der Herr im Staate sei. 147 Das solcherart zustandekommende zwischenmenschliche Recht braucht nicht nur nicht notwendigerweise gerecht sein, um Gehorsam beanspruchen zu können, es muß nicht einmal Gesetzesform haben. Bodin verweist hierzu auf die Türkei, die nur vom ausgesprochenen Willen des Souveräns, direkt umgesetzt von seinen Beamten, zusammengehalten werde. 148 Die Regierung durch Gesetz, statt durch einfachen Befehl, ist letztlich eine aus der Zweckmäßigkeit geborene Forderung: command of the sovereign is just as important a step in the direction of the doctrine of the modem state as that of Machiavelli." (c. J. Friedrich: The Philosophy of Law ... S. 61). 142 J. Bodin: Sechs Bücher .... Bd. I - Buch I - Kap. 8 - S. 234 (F 155); siehe auch: J. Bodin "Tableau du Droit universeI" ... S. 85; sowie: J. Bodin: Sechs Bücher .. , - Bd. 1 - Buch I - Kap. iO . S. 288 (F 216) Vergl. zu diesem Thema auch: C. J. Friedrich: The Philosophy of Law ... S. 58. 143 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 8 - S. 209 (F 126). 144 Es scheint mir deshalb nur die halbe Wahrheit zu sein, wenn Allen in bezug auf die im wesentlichen analoge Ordnung in der Familie schreibt: "Man, wornan and child being what they are, the man must and ought to be the master. It is not a mere matter of force. Bodin might have said that because man has force he has authority and that this is natural and unavoidable. But to say this would have been to fall into fallacy; since it is a question of right, not of mere power, and a question of will, not of mere force." (1. W. Allen: A History of Political Thought ... - S. 408) Es ist nicht nur eine Frage der Zwangsgewalt, da hat Allen Recht, aber genauso wenig ist es eine reine Rechtsfrage. Gehorsam folgt aus Zwang Wld Autorität. In welchem Verhältnis sich beide zueinan· der verhalten, zeigt sich jeweils im konkreten Fall. 145 J. Bodin: Sechs Bücher .... Bd. 1 - Buch I - Kap. 8 - S. 209 (F 126). 146 Bodin zeigt mehnach implizit, daß ihm die machiavellistische Vorstellung durchaus ver· traut ist, daß für einen Staat vor allem die Zwangsgewalt entscheidend ist, so wenn er schreibt: "So wie das FWldament ohne Gebäude zu bestehen vermag, kann auch die Familie ohne Gemeinwesen oder Staat existieren und kann auch das Familienoberhaupt das Recht der Souveränität über die Seinen ausüben, ohne außer von Gott von etwas anderem abhängig m sein als von seinem Schwert (Hervorhebung von mir H.H.)." (J. Bodin: Sechs Bücher .... Bd. 2 - Buch IV - Kap. 7 - S. 98 (Fl». 147 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV . Kap. 1 - S. 56 (F 541); sowie: Kap. 1 - S. 40
(F 521) und: Buch V - Kap. 5 - S. 255 (F 778).
148 Vergl. hierzu: J. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 6 - S. 352.
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Wenn ein im Besitz der Souveränität befindlicher Fürst, ein Volk oder der Adel ohne jedes Gesetz regiert, wenn sie entweder alle Entscheidungen dem Ermessen der Magistrate überlassen oder eigenmächtig je nach Rang und Stand des einzelnen Lohn und Strafe austeilen, dann mag sich das zwar ganz gut ausnehmen. Aber auch wenn dabei (was freilich ein Ding der Unmöglichkeit ist) Betrug und Bevorzugung keine Rolle spielten, wäre eine solche Art von Regierung nicht von Bestand und langer Dauer. Es würde nämlich zwischen den §ro8en und den kleinen Leuten an einem einigenden Band und damit an jedem Einklang fehlen. 1 9
Das einigende Band, von dem Bodin hier spricht, ist letztlich das Vorhandensein von Interessenparallelen, auf die auch Machiavelli den Konsens aufbaute. Gesetze machen die Befehle des Souveräns für die Untertanen langfristig berechenbar und erhöhen damit das Vertrauen der Untertanen in ihren Fürsten. Sie ermöglichen ihnen eine langfristige Lebensplanung. Bei der Behandlung der Frage, was Gesetze sind und welchen Stellenwert sie haben, merkt man Bodin an, daß er zwischen zwei Gefahren durchzulavieren versucht. Auf der einen Seite will er den Fürsten so fest wie möglich an sein eigenes Wort binden, um den Untertanen ein Höchstmaß an Sicherheit vor seinen Übergriffen einzuräumen. Auf der anderen Seite will er ihm ein Höchstmaß an Flexibilität sichern, ohne ihn dem legitimen Widerstand seiner Untertanen auszusetzen. Auf der einen Seite konstatiert er, daß der Fürst, um den Gesetzen seines Vorgängers 150 und dem Gewohnheitsrecht 151 Geltung zu verschaffen, diese erst ausdrücklich anerkennen muß und daß er sie damit, wie seine eigenen Gesetze, jederzeit ändern und widerrufen kann,152 auf der anderen Seite, von der später noch ausführlicher die Rede sein soll, bindet er den Souverän vermittels des Naturrechts an die Grundgesetze seines Landes, um ihn von Willkür abzuhalten. Gesetze an sich dienen aber der Orientierung der Untertanen und sind deshalb erwünscht. In seiner Auseinandersetzung mit der Rolle der Magistrate, "deren Blick allzu oft von Leidenschaft, Eigennutz und Unwissenheit so sehr getrübt ist, daß sie keinen blassen Schimmer von der Schönheit der Gerechtigkeit haben"153, weist Bodin auf die Notwendigkeit der Orientierung schon zur Verhinderung von Korruption und Amtsmißbrauch hin: Selbst wenn die Magistrate Engel wären oder gänzlich unfehlbar, bedürften die Untertanen des Gesetzes als einer Fackel, die sie durch das Dunkel menschlichen Tuns geleitet und gerade die schlechtesten Menschen aufrüttelt. Sie könnten nämlich sonst wahrheitsgemäß oder vorge-
149 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 6 - S. 466 (F 1021). 150 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 8 - S. 215 (F 134). 151 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 10 - S. 293 (F 222); vergl. hierzu auch: "All customs and customary law become valid only by the command of the sovereign who confinns them. Thus Bodin c1early states ... that laws and customs depend upon the arbitrary will of hirn who pos ses ses the highest power." (c. J. Friedrich: The Philosophy of Law ... S. 59). 152 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 8 - S. 231 (F 151). 153 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 6 - S. 467 (F 1021).
4.2. Der Appell Bodins an die Untertanen
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täuscht man§elnde Kenntnis ihres Fehlverhaltens, mindestens aber der darauf stehenden Strafe einwenden.] 4
Diese Ausführung darf nicht in dem Sinne mißverstanden werden, daß Bodin von Philosophenkönigen ausgeht, die ihren Untertanen den Weg zum Guten zeigen sollen. Er will - wie Machiavelli - lediglich unnötige Friktionen vermeiden. Der Fürst könnte zwar auch ausschließlich durch direkte Weisungen herrschen, aber nur wenn er seinen Untertanen Spielräume zur eigenen Ausgestaltung läßt, können diese ihre eigenen Interessen mit denen des Fürsten versöhnen. Gesetze, die in der Praxis wirksam werden, d.h. tatsächlich das Handeln der Menschen beeinflussen sollen, haben allerdings zur Voraussetzung, daß ihre Durchsetzung von einem starken Sanktionsmechanismus garantiert wird. Wie diese Befehlsgewalt ausgeübt wird und von wem, davon vor allem hängt es ab, ob Recht überhaupt irgendeine Wirkung entfalten kann. In seiner Beschreibung der Rolle der Magistrate faßt Bodin die Aufgabe der Rechtsdurchsetzung treffend zusammen: Die Regel, wonach die Macht der Gesetze darin besteht, daß sie befehlen. verhieten, gestatten und strafen [können], trifft viel eher auf die Magistrate zu als auf Gesetzesvorschriften, die [für sich allein) stumm sind. Der Magistrat dagegen ist [sozusagen) das lebendige Gesetz, das a11 dieses in die Tat umsetzt; denn das Gesetz als solches kann nur Befehle und Verhote vorschreiben, die [jedoch] wirkungslos wären, wenn einem Verstoß gegen sie nicht die Strafe auf dem Fuß folgte und der Magistrat nicht sofort einzugreifen bereit wäre .... "Gesetz" (bedeutet) ... nichts anderes, als einen Befehl des Souveräns. Welche Strafe oder Drohung jedoch ein Gesetz auch vorsehen mag, der Ungehorsame erfährt Strafe immer nur auf Geheiß des Magistrats. Infolgedessen beruht alle Macht der Gesetze auf denjenigen, die, ob souveräner Fürst oder Magistrat, die Befehlsgewalt, also die Befugnis haben, die Untertanen zum Gehorsanl zu zwingen oder sie zu bestrafen. 155
Freilich darf man es mit dem Bestreben, per Gesetz zu regieren, nicht zu weit treiben. Nachdem Bodin darauf hingewiesen hat, wie sinnvoll es sei, Gesetze zu erlassen, schränkt er ein, daß sich eine Regierung kaum lange werde halten können, "die ohne gerechte Berücksichtigung der unterschiedlichen örtlichen, zeitlichen und persönlichen Verhältnisse des Einzelfalles schematisch in allem unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit und nach strikten Gesetzen vorginge. "156 Statt dessen schlägt er eine Mischung aus beiden Strategien vor, soviel allgemeine Regelung, wie die Ungleichheit der Verhältnisse gerade noch zulasse. Mit der Anerkennung der Notwendigkeit einer fallweisen Regelung von Einzelfällen, tritt neben die Durchsetzung von Gesetzen noch eine zweite Aufgabe für die Regierung, die des Regierens im engeren Sinne. Um beide Aufgaben adäquat erfüllen zu können, autorisiert der Souverän einen Teil sei154 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI- Kap. 6 - S. 467 (F 1021). 155 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 5 - S. 480 (F 429 f.); vergl. hierzu schon Cicero: "Ihr seht also, daß das Wesen der staatlichen Obrigkeit darin besteht, daß sie die Führung innehat und das Rechte, Nützliche und mit den Gesetzen Übereinstimmende vorschreibt. Denn wie über den Behörden die Gesetze stehen, so stehen über dem Volk die Behörden, und man kann wallrheitsgemäß behaupten, daß die Obrigkeit das redende Gesetz, das Gesetz aber die stumme Obrigkeit ist." (Cicero: Über die Gesetze. - Reinbek: 1969. - S. 69 f. (Buch III. lVII 0». 156 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 6 - S. 466 (F 1021). 13 Hegmann
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ner Untertanen, in seinem Namen und wo nötig mit Hilfe des in ihm vereinigten Gewaltpotentials, hoheitliche Aufgaben auszuführen, also Befehle zu erteilen und durchzusetzen. Die Autorisierung der Aktivitäten dieser Beamten, 157 der Magistrate,15S unterliegt allerdings genau definierten Schranken, innerhalb derer sie nach eigenem Ermessen entscheiden können. Die Erhebung des Prinzips der letztinstanzlichen Überprüfung der Entscheidungen der Beamten zu einem Attribut der Souveränität stellt sicher, daß die so zustandekommende Beamtenhierarchie ihre Macht im Sinne des Fürsten ausübt: Der souveräne Fürst erkennt außer Gott keinen höheren neben sich an. Der Magistrat verdankt seine Gewalt nächst Gott dem souveränen Fürsten und bleibt diesem und seinen Gesetzen im· mer unterworfen. Der einzelne Private [schließlich] erkennt außer Gott, ... seinen souveränen Fürsten, dessen Gesetze und seine Magistrate im Rahmen des diesen jeweils zugewiesenen Tätigkeitskreises [als über ihm stehend] an.l 59
Auch im Zusammenhang mit der Rolle der Magistrate sieht Bodin übrigens, wie Machiavelli auch, die Monokratie der KoUektivherrschaft als überlegen an. Sehr hohe Magistrate oder Sonderbeauftragte werden dem Souverän allzuleicht gefährlich. 160 Ist er ein einzelner und keine Gruppe, wird er besser in der Lage sein, Staatsstreichpläne zu durchkreuzen, als sein kollektives Gegenstück mit all den Konsensfindungsproblemen, die es zu bewältigen hat. 161 Sofern er es kann, verhält sich der Souverän also zu seinen Beamten, wie Gott sich zum Souverän verhält, er setzt den Rahmen, den diese im eigenen Ermessen auszufüllen haben. Die dritte Funktion, die der Souverän neben Gesetzgebung und Rechtsdurchsetzung zu erfüllen hat, ist die der Rechtsprechung. Das beste wäre auch hier, wenn der Fürst selbst über seine Untertanen zu Gericht säße. Dann sprä157 Der Unterscheidung würde im Deutschen in etwa die Unterscheidung zwischen Beamten und Angestellten entsprechen, die ersteren per Definition mit hoheitlichen Aufgaben befaßt und die anderen mit dem normalen Verwaltungsablauf. 158 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch 1II - Kap. 5 - S. 480 (F 429 f.); vergJ. hierzu auch die zusätzliche Spezifizierung eine Seite zuvor: "Der Beamte ist eine öffentliche Person, bekleidet mit einem ordentlichen, durch Edikte umschriebenen Amt, während der Kommissar eine öffentliche Person ist, bekleidet mit einem außerordentlichen, durch einfache Ermächtigung umrissenen Amt. Es gibt zwei Spielarten von Beamten und Kommissaren, solche, die Befehlsbefugnisse haben. die sogenannten Magistrate, und solche, die Untersuchungen zu führen oder Weisungen auszuführen haben." (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 2 - S. 428 (F 372); sowie: Buch III Kap. 3 - S. 448 (F 392». 159 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 5 - S. 482 (F 431). 160 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 6 - S. 500 (F 451). 161 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 2 - S. 432 (F 377); vergJ. auch den Juden Salomon im Heplaplomeres: " ... in a royal tyranny, nothing prevents two adversaries from joining the same office, since they are easily bound by royal power ... Indeed this becomes more obvious in nature herself, wh ich is the most ancient exemplar for a weIl ordered state. Not only the contrary elements, but even the stars themseJves, and also the powers of angels are subject to the powerof one divine majesty. (1. Bodin: Colloquium ... Buch IV. - S. 150 (Orig. S. 117).
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4.2. Der Appell Bodins an die Unlenanen
che er "als das lebendige über allen positiven Gesetzen stehende Gesetz. von seinem Rat begleitet. gut und schnell Recht ...• indem er auf den Kern der Sache einginge. ohne sich viel mit Formalitäten aufzuhalten".1 62 Da dies aber schon der Komplexität juristischer Streitigkeiten wegen kaum in befriedigender Weise möglich ist. 163 ist es für den Fürsten wichtig. auch bei der Rechtsprechung Beamte seines Vertrauens einzusetzen. Auch hier gilt also. daß alle Autorität unmittelbar vom Fürsten kommt und ruht. wenn der Fürst selbst anwesend iSt. I64 An dieser Stelle sieht sich Bodin einem Dilemma gegenüber. das analog zu dem oben genannten zwischen der Rechtssicherheit und der Verhinderung legitimen Widerstands angesiedelt ist. Einerseits will er Richter wie Magistrate so unabhängig vom König machen. wie es nur möglich ist. um diesen zu zwingen. sich mit ihrer Expertenmeinung in Sachen Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. 165 Andererseits will er damit keinen Vorwand zur Revolte schaffen. Franklin faßt Bodins Lösungsstrategie für das Problem in die Worte: "Short of an outright veto ... the courts had considerable power to resist. and they were institutionally protected in their powers since judges. according to Bodin. were virtually irremovable except for cause. Given his absolutist principles. his version of this guarantee could not be quite as ironclad as it was in the doctrine of the Huguenots .... (but; H.H.) ... the only proper way to get rid of a dutiful official was to repeal the law on which his office was established."I66 4.2.3. Der Fürst hat immer Anspruch auf Gehorsam und Hilfe
Mit der Interpretation allen zwischenmenschlichen Rechts als Befehl und der gleichzeitigen Konzentration der legitimen Zwangsausübung auf den Fürsten erreicht Bodin zweierlei. Zum einen stattet er das Recht mit den nötigen Gewaltmitteln aus. um auch gegen den Willen der Untertanen in der Realität Wirkung zu zeigen. Zum anderen versieht er den Fürsten mit der Legitimation durch das Recht und verstärkt so seine Position. Bodins Entwurf sorgt also dafür. daß Rechtsbrecher jederzeit mit einer Strafgewalt rechnen müssen. und erreicht gleichzeitig. daß Aufständischen bei ihrem Tun der Segen des Rechts 162 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 6 - S. 115
CF 612).
163 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 6 - S. 130 CF 629). 164 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 6 - S. 504
CF 456).
165 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 . Buch III - Kap. 2 . S. 433 (F 377 f.); sowie Buch III Kap. 2 - S. 441 (F 387). 166 J. Franldin: Bodin ... Absolutism ... S. 99.
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versagt bleibt. Wie für Machiavelli steht für Bodin damit das mächtige Individuum an der Wiege staatlicher Gemeinschaft. Anders als für Machiavelli aber bleibt dieses Individuum als ständiger Garant der Einheit immer hinter dem Staat sichtbar, und anders als bei Machiavelli kann es sich Macht nicht nur erschleichen, um sie durch kluge Investition zu vermehren und so nachträglich zu "verdienen", sondern es kann Macht auch durch diejenigen übertragen bekommen, die dem Recht aufgeschlossen gegenüberstehen. Auch Bodin hält zwar Machiavellis Weg zur Begründung von Macht für gangbar, zumindest wenn der Fürst gründlich seinen Principe gelesen hat. Der zweite Weg aber, der sich erst öffnet, wenn viele Untertanen die Republique studiert haben, ist der, der für ihn im Mittelpunkt politischer Betrachtung steht. Wenn es denn auch stimmt, daß der "Souveränität ... jede Begrenzung hinsichtlich der Machtbefugnis, der AufgabensteIlung oder ihrer Dauer fremd" ist,167 daß es also keine rechtlichen Schranken der Souveränität geben kann, so ist der Grad der Souveränität in der realen Welt doch bestimmt durch den Grad des Gehorsams, auf den ein Fürst rechnen kann. Wenn Bodin demnach feststellt, "daß das Wesen der souveränen Macht und absoluter Gewa1t vor allem darin besteht, den Untertanen in ihrer Gesamtheit ohne ihre Zustimmung das Gesetz vorzuschreiben",168 so gilt dies nur mit der Einschränkung, daß der Gehorsam, der hier gemeint ist, sowohl Folge von Sanktionen und Sanktionsandrohung sein kann a1s auch Folge des Rechtsbewußtseins der Untertanen. 169 Auch wenn dieses Rechtsbewußtsein maßgeblich durch Nutzenkalkulation bestimmt ist, ist es doch etwas qualitativ anderes als das, was Machiavelli darunter verstand. Diesem stand der Appell an ein wenn auch zweckrationales Rechtsbewußtsein noch nicht offen. Seine Welt war zu chaotisch, als daß längerfristiges Vertrauen in einen anderen zu verantworten gewesen wäre. Weder war der Fürst in der Lage, sich auf die Loyalität seiner Untertanen zu verlassen, noch konnten diese ihrem Fürsten ihr Schwert leihen in der Hoffnung, er werde sich dafür irgendwann erkenntlich zeigen. Aber auch Bodin ist nicht so optimistisch zu glauben, daß Fürsten notwendi167 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 8 - S. 206 (F 124). 168 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 8 - S. 222 (F 142). 169 Interpretiert man Souveränität aus der Perspektive des Gehorsams und führt diesen auf eine Kombination von Zwangsmitteln und Rechtsbewußtsein der Untertanen zurück, so löst sich ein Problem, das McRae in Bodins Auseinandersetzung mit dem Römischen Reich deutscher Nation ausmacht: ... there was a ... question as to whether the empire was one state or many, and here Bodin makes the comment that in times of intemal strife among factions, the individual cities and principalities behave like so many aristocracies and monarchies, and every member itself becomes a souvereign state. This remark is interesting. Although Bodin values stability, and although he does not elsewhere seriously criticize the Empire as unstable ... yet he c\early recognizes an important dt' facta change of sovereignly as taking place in limes of stress. The analysis does not proceed further, but in this brief comment his concem for empirical reality becomes stronger Ihan his sense of theoretical tidiness" (K. D. McRae: "Bodin and Ihe Developrnent of Empirical Political Science" S. 333342 in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 338 f.).
4.2. Der Appell Bodins an die Untertanen
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gerweise rational ihr Eigeninteresse verfolgen und damit en passant das ihrer Untertanen realisieren. Dies mag zwar so sein, aber gegen die Qualifikation der Fürsten spricht einiges. Bodin schreibt dazu: Es darf ... nicht Wunder nehmen, wenn es nur wenige tugendhafte Fürsten l70 gibt. Denn wenn es schon nur wenige tugendhafte Menschen gibt, die Fürsten aber erfahrungsgemäß nicht aus der kleinen Schar ausgesucht werden, dann ist es schon ein großes Wunder, wenn sich unter ihrer großen Zahl doch manch herausragender Fürst fmdet. Wenn dieser sich so hoch erhoben sieht, daß er außer sich selbst nichts höheres kennt als Gott, wenn er von all den Versuchungen umlauert wird. die selbst den Standhaftesten straucheln lassen, dann ist es schon ein Wunder, wenn er seine Tugend bewahrt. l7l
Daß diesem Problem angesichts vielfältiger Konsensfindungsprobleme auch durch Fürstenwahl nicht beizukommen ist, liegt in der Logik der Argumentation. Die Qualität von Bewerbern um das höchste Amt ist so schwer zu beurteilen, daß die Wählenden sie möglicherweise nur zum Vorwand nehmen, um in Wirklichkeit ganz andere Ziele zu verfolgen. Das salische Gesetz dagegen stellt einen markanten Punkt im Verhandlungsraum dar. Hier wird Konsens möglich, nicht weil das Ergebnis den Bedürfnissen der Beteiligten optimal entspräche, sondern weil es sich durch seine herausgehobene Stellung zur Einigung anbietet. 172 So wird die Erbfolge in einer Weise geregelt, die vielleicht nicht die besten Herrscher hervorbringt, wohl Erbfolgekriege unwahrscheinlicher macht. 173 Jedoch ist die Qualität eines Fürsten ohnehin nicht so entscheidend für das Bestehen der Herrschaft. Auch wo er ungerecht ist, garantiert er durch seine Person die Einheit des positiven Rechts wie die Einheit der Herrschaft, d.h. der Durchsetzung dieses Rechts. Für Bodin ist eine eventuelle Tyrannei nie von Dauer. Auf einen Fürsten, der die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt, der sein Reich in Unordnung bringt und irgendwann stürzt, wird einer folgen, der, drastisch über die Notwendigkeiten effizienter Staatsführung 170 Wimmer übersetzt hier versehentlich "Menschen". 171 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 1 - S. 33 f. (F 514). 172 Pascal wird für die Vernunft hinter dieser Irrationalität den schönen Ausdruck finden: "Les choses du monde les plus deraisonable deviennent les plus raisonnables a cause du dereglement des hommes ... " (B. Pascal: Pensees. Paris: 1972. - S. 151 (Aph. Nr. 320 [page du manuscrit 85(2))); vergl. auch die entgegengesetzte Position des französischen StaatsrechtIers M Duverger: "Sous toutes ses formes, 1'autocratie suppose pour naltre et se maintenir, une conception quasi religieuse du pouvoir. Comment justifier, en effet, que certains hommes commandent aleurs semblables, sans que ceux-ci soient intervenus dans leur investiture, si 1'on ne considere point ces gouvemants comme 1'emanation de Dieu, ou des forces magiques qui ont precede, dans la conscience de l'humanite primitive 1'elaboration de l'idee de Dieu, ou des mythes laiques (race, nation, classe, etc.), qui remplacent l'idee de Dieu dans la conscience de l'humanire contemporaine? - Les regimes autocratiques reposent sur 1'irrationel." (Maurice Duverger: Les Regimes Politiques. - Paris: 1960. S. 14) Ganz offenbar gibt es eine rationale Begründung für Autokratie. Ob sie freilich das Problem angemessen zu lösen vermag, wird noch zu untersuchen sein. 173 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 5 - S. 425 ff. (F 973 ff.); das salische Gesetz, daß weibliche Nachkommen von der Thronfolge ausschließt, scheint ihm zudem durch die Natur gerechtfertigt. Frauen seinen eben nicht zur Hemchaft geeignet (ebenda: Bd. 2 - Buch VI Kap. 5 - S. 449 ff. (F 1001 ff.» Dies ist eine immerhin erstaunliche Feststellung für einen Zeitgenossen von Elisabeth l.
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belehrt, wieder angemessener regieren wird.l 74 Ein Erbfolge- oder sonstiger Bürgerkrieg dagegen zerstört mit der politischen Einheit auch das über lange Zeit gewachsene Rechtsbewußtsein der Untertanen. Die politische Einheit ist eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung für die Entstehung von Recht, und ihr ununterbrochenes Vorliegen die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für das Wachsen staatserhaltender Tugend. Natürlich kann man argumentieren, daß der Fürst, wenn er angemessen kontrolliert und so daran gehindert wird, tyrannisch zu werden, die Gefahr eines Bürgerkriegs gar nicht erst heraufbeschwört. Da aber eine angemessene Kontrolle schon deshalb unmöglich ist, weil die Untertanen genausowenig für tugendhaft gehalten werden können wie er selbst, wird die Institution der Kontrolle die Gefahr des Bürgerkriegs heraufbeschwören, ohne dabei eine bessere Regierung gewährleisten zu können. "Welche Unzahl von Tyrannen gäbe es [erst], wenn es erlaubt wäre, sie zu töten!" 175 schreibt Bodin und betont damit, daß sich die Untertanen bei der Behandlung politischer Fragen genauso von eigennützigen, die Staatsraison ignorierenden Interessen leiten lassen wie ein Fürst, und daß der Fürst nur deshalb angemessener regieren wird, weil bei ihm privates und öffentliches Interesse in größerem Maße parallel laufen. Bodins gesamter Souveränitätsgedanke kreist darum, den Untertanen alle Möglichkeiten zu rechtmäßigem Widerstand zu nehmen, und sein Absolutismus ist die Folge dieses Bestrebens. 176 Zwar teilt er die Vorstellung, daß man seinem Fürsten Gehorsam schuldig sei und sich im Ungehorsam gegen Gott versündige, durchaus mit anderen Autoren seiner Zeit,177 im Unterschied zu diesen aber interpretiert er die Bedingungen für den Gehorsam neu. Während die Monarchomaehen beispielsweise die Gehorsamspflicht an ein bestimmtes Verhalten des Fürsten binden, nimmt Bodin das Recht der Untertanen, ihren Fürsten zur Verantwortung zu ziehen, nahezu vollständig aus dem Zuständigkeitsbereich der Untertanen heraus. In bezug auf die Frage, ob ein Magistrat gegen einen Bruch des Krönungseides Widerstand leisten dürfe, schreibt er: "... 174 J. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 1 - S. 383 f.; mit dieser Konzeption kann Bodin die Kontinuität von Monarchien erklären. Er setzt sich damit explizit von Platon, Po1ybius und Cicero ab, die annahmen, daß auf eine Periode der Tyrannei notwendig ein Wechsel in der Staatsform folgen müsse. Diese konventionelle Vorstellung hatte Bodin im Methodus noch selbst vertreten. Siehe hierzu: J. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 6 - S. 384. 175 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch 11 - Kap. 5 - S. 369 (F 307). 176 Vergl. hierzu vor allem: J. Franklin: Bodin ... Abso1utism ... S. 50. 177 Siehe hierzu J. W. Allen: A History of Po1itical Thought ... - S. 315; und nicht nur mit denen: Schon Th. von Aquin hatte geschrieben: "... (es) wäre für das Volk und seine Führer voll Gefahr, wenn bloß aufgrund einer persönlichen Erwägung irgendwelche Leute einen tödlic~en Anschlag auf die. Regierenden planen würden, auch wenn es Tyrannen sind." (Ib. von Aquin: Über die Hemchaft der Fürsten. - Stuttgart: 1981. - S. 24) Freilich gibt es bei Aquin ein, wenn auch sehr vorsichtig umgrenztes, kollektives Widerstandsrecht, das wiederum an Bodins Recht zur Absetzung von Usurpatoren erinnert. (eben da. S. 25) Ansonsten soll man freilich auf die Hilfe Gottes vertrauen (ebenda S. 26 C.). Ein Vorschlag, den der gottesfürchtige Bodin erstaunlich selten macht.
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es ist nicht seines Amtes, darüber zu rechten oder in irgendeiner Weise dem in den irdischen Gesetzen zum Ausdruck gebrachten Willen seines Fürsten, der von ihnen abweichen kann, zuwiderzuhandeln."178 Man merkt der Behandlung dieses Problems an, wie wenig die Zuständigkeitsverteilung Bodins theoretischem Weltbild entstammt. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer Abwägung der Folgen alternativer institutioneller Arrangements. Analog zur Frage der Erbfolge ist Bodin nicht prinzipiell gegen eine Qualitätskontrolle von Herrschaft, er stellt nur in Frage, daß diese Kontrolle wirksam durchgeführt werden kann, daß zum einen tatsächlich der "Bessere" gewinnt und zum anderen eine Einigung über strittige Punkte überhaupt zustandekommt. Bevor deshalb der Staat im Bürgerkrieg versinkt, sollten die Beteiligten den gegebenen Zustand festschreiben, nicht weil er an sich gut wäre, sondern weil er der bestmögliche ist. 179 Wenn Bodin diese radikale Position zur Widerstandsfrage einnimmt, hat er zwei mögliche Legitimationsgrundlagen von Widerstand auszuschalten, die der Religion und die des überlieferten Rechts. Es war bereits die Rede davon, wie Bodin mit beidem umgeht, um sein System abzusichern. Auf den nächsten Seiten soll der Frage nachgegangen werden, wie er das, was er übrig behält, mit den Erfordernissen eines starken Staates in Einklang bringt. Im Zeitalter der Reformation ist es eine heiß diskutierte Frage, ob ein Untertan berechtigt sei, gegen einen Fürsten Widerstand zu leisten, der die "wahre Religion" bekämpft. Wir haben gesehen, daß Bodin aufgrund der Schwierigkeiten mit der Bestimmung der "wahren Religion" zu dem Schluß kommt, daß keine dieser Religionen sinnvolle Normen zur Organisation eines Gemeinwesens liefern kann. Auch meint er, etwa wie Lessings Nathan der Weise, daß alle Religionen etwas Wahres in sich tragen und so nicht zu bekämpfen,18o sondern in einen aktiven Dialog miteinander zu bringen seien. Er hält zudem alle Formen des Gebets für gottgefällig, solange sie nicht in einfachen Aberglauben abdriften. Es läge deshalb nahe, wenn er auch zu dem Schluß käme, daß dem Staat sowohl die Kompetenz als auch die Handlungsbefugnis für die Entscheidung religiöser Fragen fehlt. 181 Aber ganz in der Tradition Machiavellis ist der Praktiker Bodin von der Nützlichkeit einer einheitlichen Staatskirche viel zu überzeugt, als daß er auf sie verzichten wollte. 182 Vermutlich auch mit Blick auf Machiavelli oder auf Positionen wie die eingangs erwähnte des Kritias,183 schreibt er: 178 J. Bodin: Sechs Bücher ... Bd. 1 - Buch III - Kap. 4 - S. 466 (F 414 f.). 179 K. D. McRae: "Introduction" ... S. A21. 180 Vergl. auch: J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 48. 181 Vergl. hierzu beispielsweise die Position des Skeptikers Senamus im Heptaplomeres: J. Bodin: Colloquium ... - Buch IV. - S. 152 (Orig. S. 118». 182 Vergl. hierzu auch: J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 48; selbst wenn die religiöse Uniformität nicht dem Gottesdienst nutzen würde, ließe es sich argumentieren, daß "um des lieben
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Nachdem sogar die Atheisten zugeben. daß nichts mehr zum Bestand von Herrschaft und Staat beiträgt als die Religion und daß sie die wichtigste Grundlage der Macht der Monarchien und Herrschaften. der Befolgung der Gesetze. des Gehorsams der Untertanen. der Achtung der Magistrate. der Furcht vor Ubeltätem und der Nächstenliebe ist. sollte man sorgfältig darauf achten. daß etwas so Heiliges nicht verächtlich gemacht oder durch Dispute in Zweifel gezogen wird. Denn dies zöge den Untergang eines jeden Staates nach sich. l84
Um Religiösität und Staatsraison in Einklang zu bringen, geht Bodin denselben Wege wie Thomas Robbes ein halbes Jahrhundert später. Entscheidend sei nicht was, sondern daß gebetet werde. und vor allem, daß möglichst alle dasselbe beten. 185 Konformität in der Religionsausübung dient so nicht nur der ideologischen Einheit des Staates, sondern auch der Förderung der Religion. Ein starker Staat wird zur Bedingung für eine mächtige Religion. 186 Analog zur Idee, daß es unter Stabilitätsgesichtspunkten wichtiger ist, altbewährte Gesetze zu erhalten. als neue, vielleicht bessere, einzuführen, gilt auch in bezug auf die Religion, daß Streitigkeiten über den besten Weg des Glaubens nur die Religiösität der Menschen überhaupt erschüttern und so kaum dazu angetan sind, ihr Friedens willen", der ja auch Voraussetzung für das Beten ist. unterschiedliche Auffassungen von richtiger Religionsausübung hintanzustehen hätten. Diese Idee ist nicht neu. In der Querela Pacis des Erasmus von Rotterdam fragt der Frieden. warum die Menschen den Krieg wählen ...... wenn ich wirklich der von Götter- und Menschenstimmen gleichennaßen gepriesene Friede. der Quell. Schöpfer. Ernährer. Mehrer und Beschützer alles Guten im Himmel und auf Erden bin. wenn ohne mich nichts ersprießlich. sicher. rein oder heilig, nichts den Menschen angenehm oder dem Himmel wohlgefällig ist; wenn hingegen der Krieg einen wahren Ozean aller erdenklichen Übel darstellt .... wenn der Krieg sich so satanisch auswirkt. daß er für jede Frömmigkeit und Religion zur alles verzehrenden Pest wird .. ." Erasmus: Klage des Friedens. - Klosterberg: 1945. - S. 10. 183 Auch in seiner Zeit steht Bodin nicht allein. Nachdem der im gleichen Jahr geborene E. de la Boetie noch in seinem berühmten Jugendwerk. dem Discours de la servitude volontaire. der Freiheit das Wort geredet hatte (vergl. hierzu auch: E. de La Boetie: Oeuvres Politiques. Paris: Ed. Sociales. 1971. - 93 S.). reagiert er knapp zehn Jahre danach in einem kurzen Essay folgendennaBen auf die religiösen Konflikte: "De ce mal (de la diversite de la religion) en sortent deux autres: l'un est une haine et malveillance quasi universelle entre les sujets du Roi. [... ll'autre est que peu a peu le peuple s'accoutume a une irreverence envers le magistrat. et. avec le temps. apprend a desobeir volontiers et se lai sse mener aux appats de la liberte. ou plutot licence qui est la plus douce et friande poison du monde." (E. de La Boetie: "Memoire touchant l'Mit de janvier" in: ders.: Oeuvres Politiques. - Paris: 1971. - 93S. - S. 82). 184 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 7 - S. 151 (F 653 0; vergl. hierzu auch die nahezu vollständig mit der zitierten Äußerung des Kritias übereinstimmende Meinung des Deisten Toralba im Heptaplomeres: "For when the hope of rewards and the fear of divine punishment are removed. no society of men can endure. Indeed what place can faith and justice hold anlOng those who fear nothing except a witness or a judge? Therefore, Epicurus' integrity was false, since he was so unjust toward immortal God that he snatched all justice from hirn; that is the power of rewards and punishments" (1. Bodin: Colloquium ... - Buch I. - S. 6 f. (Orig. S. 4». 185 Zur Unterordnung der Religionsstreitigkeiten unter die Erfordernisse der Staatsraison vergl. auch die Diskussion zum Thema in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 430 ff. 186 In der Meinung des Lutheraners Fridericus kommt etwas von Machiavellis Vorstellung zum Vorschein. daß waffenlose Propheten keine Chance haben. wenn sie nicht unmittelbar von Gott gesandt sind. Er meint: .. It is both dangerous and destructive for the masses to engage in discussions about the accepted and approved religion unless one can control the resisting cOinmon people by divine power as Moses did or by anns. as Mohammed did." (1. Rodin: Colloquium ... Buch IV. - S. 164 f. (Orig. S. 126); sowie zum selben Thema: B. IV. - S. 162 f. (Orig. S. 124).
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einen Dienst zu erweisen. Besser jedenfalls, als sich über Dogmen und Gebetsfonneln zu streiten, sei es, dem Frieden und damit der Religion überhaupt Vorschub zu leisten. 187 Die Bedeutung dieser Überlegung für das Widerstandsrecht liegt auf der Hand. Wo konkrete Rituale weniger wichtig sind als die staatlich garantierte, einheitliche Religionsausübung, ist Widerstand gegen denjenigen, der diese Einheit garantiert, ein Akt gegen die Religion und damit gegen Gott. Die Idee zu einer einigen Staatskirche entwickelt Bodin schon in einer Rede zu Fragen der Bildung und Erziehung, die er 1559 sinnigerweise in Toulouse hält. 188 Eine Staatskirche sei als staatsstärkendes Element zwar wünschenswert, das bedeute aber nicht, daß der Souverän die Untertanen in eine einige Kirche zwingen solle. Wenn mit dem Ziel der Realisierung einer Staatskirche der ihr zugrunde liegende Staat zerstört werde, sei das Ziel verfehlt. Man solle deshalb zwar die einheitliche Staatskirche anstreben und sie gegebenenfalls durch entsprechende Sanktionen fördern, hüten solle man sich aber davor, so schreibt er in der Republique, den Menschen eine bestimmte Religion aufzuzwingen: Andernfalls kommt es soweit, daß ... jene, die an der Ausübung ihres Glaubens gehindert und von den anderen abgelehnt werden, gänzlich zu Atheisten werden und, wenn sie (einmal) ihre Gottesfurcht eingebüßt haben, Gesetze und Magistrate mit Füßen treten und sich in jeglicher Art von Ruchlosigkeiten und Schlechtigkeiten ergehen werden, denen man mit menschlichen Gesetzen nicht beikommen kann.l 89
Eines der Instrumente für die Durchsetzung des rechten Glaubens ist die Zensur. 190 Der Zensor hat nicht nur die EinkommensverhäItnisse der Untertanen zu kennen, er hat auch auf ihren Lebenswandel zu achten,191 eine Aufgabe, die früher die Kirche innehatte, die ihr aber mehr und mehr entgleitet. 192 Las187 So gilt für Bodin das, was er den Skeptiker Senamus im Heptaplomeres aussprechen läßt: "Even if a new religion is better or truer than an old religion I think it should not be proclaimed. I think a new religion offers not so great an advantage, as its novelty may draw men away from old piety and necessary fear of deity. If anyone should wish to change the comerstones of a building shaking with age, he would be acting foolishly. A change in religion has more dangerous consequences, namely upheaval in public affairs, destructive wars, even more deadly calamities from plagues and torments of demons ... " J. Bodin: Colloquium ... - Buch IV. - S. 165 (Orig. S. 126); vergl. hierzu auch die Meinung des Juden Salomon: "Conversation about religion has always seemed dangerous to me. In the first place, it is a serious offen se to speak about God in any way other than with dignity. Next, it is wrong to uproot anyone's opinion of piety, of whatever sort it may be, or cast doubt by argwnents on anyone's religion unless you believe you will persuade him of something better, Many have fallen into the deadly trap of trying to disturb others in their accepted religion but were not able to accomplish this." (ebenda: B. IV S. 164 (Orig. S. 126); sowie: 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 7 - S. 150 (F 652». 188 J. Bodin "Le Discours au Senat et au Peuple de Toulouse" S. 1-65 in: P. Mesnard: Oeuvres Politiques de Jean Bodin. - Paris: 1951. - Kap. 1 - S. 57 f.; siehe hierzu auch: J. Bodin: Colloquium ... - Introduction. - S. XLIV. 189 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 1 - S. 152f (F 655). 190 Siehe hierzu auch: M. Reulos: "Une institution romaine vue par un auteur du XVle siede 1a censure' dans Jean Bodin" in: Etudes offertes a Jean Macqueron. - Aix en Provence: 1970. - S. 585- 590.
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sen sich die Menschen auch durch eine vorsichtige Favorisierung der Staatsreligion auf Dauer nicht bekehren, bleibt nur, die daraus resultierende Spaltung hinzunehmen. 193 Die Idee der religiösen Toleranz, für die Bodin zu Recht berühmt ist, erstreckt sich damit nicht eigentlich auf sein politisches Denken. Die gewaltsame Durchsetzung der Einheitskirche wird nicht aus prinzipiellen Erwägungen abgelehnt, sondern deshalb, weil sie möglicherweise allzu viel politisches Porzellan zerschlägt. l94 Damit ist Toleranz für Bodin allein Folge der Unfähigkeit, in der religiösen Auseinandersetzung eine Entscheidung herbeiführen zu können.I 95 So wie für Individuen gilt, daß sie erst ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen müssen, bevor sie sich moralisches Handeln leisten können, so muß im Staat erst Frieden herrschen, bevor man sich der Pflege der Religion zuwenden kann. Das eingangs erwähnte Brecht-Zitat ließe sich damit in bezug auf den Staat umformulieren: Galt für das Individuum "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral", so gilt nun "Erst kommt der Frieden, dann kommt die Religion". Wenn Bodin ein religiös legitimiertes Widerstandsrecht ablehnt, so bleibt ihm nur noch die Behandlung der Frage, ob sich Widerstand mit Rechtsgründen legitimieren läßt. Diese Frage stellt sich auf zwei hierarchisch aufeinander aufbauenden Ebenen, der Ebene des Natur- und damit des Gottesrechts und der Ebene der gewachsenen Normen, seien sie Gewohnheitsrecht, Verfassungsrecht oder sonstige positive Gesetze. Vom vagen Inhalt Bodinscher Naturrechte war schon die Rede. Mit der Ausnahme des Eigentumsrechts und des Verbots, vom Schaden eines ungerecht Behandelten zu profitieren, sind seine Naturrechtsinhalte so beschaffen, daß sie einer effizienten Herrschaft kaum im Wege 191 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 1 - S. 316 (F 846); vergl. hierzu auch W. Euchner: nEigenturn und Herrschaft bei Jean Bodin n S. 47-73 in: ders.: Egoismus und Gemeinwohl. - Frankfurt/M.: 1973. - S. 68. 192 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 1 - S. 321 (F 852). 193 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch 1II - Kap. 7 - S. 542 (F 498); vergl. hierzu auch Octavius, den zum Islam bekehrten Katholiken im Heptaplomeres: nIt is not safe for princes or magistrates to try to uproot religions which have been received harmoniously for a long time and whose roots are deep.n (J. Bodin: Colloquium ... - Buch IV - S. 154 (Orig. S. 119). 194 Siehe hier auch den Wortwechsel zwischen Fridericus und Senamus: Fridericus fragt: nlf according to the ancient decree of the senate the task had been given to the holy aediles of the Romans to keep foreign religions from the city and to permit only the worship of patemal gods, how much greater must this be the concem of Christian princes?n, und Senamus antwortet darauf: nEven the Romans could not safeguard the constancy of their own edicts n ... (1. Bodin: Colloquium ... - Buch IV. - S. 155 (Orig. S. 119). 195 Im Heptaplomeres präsentiert Bodin noch ein weiteres Argument für Toleranz, verbunden mit souveräner Gewalt. Auf die Bemerkung des Lutheraners Fridericus, er könne sich nicht vorstellen, wie Freundschaft möglich sei, wenn die Weltanschauungen derart manigfaltig seien, antwortet Curtius, der Calvinist, daß Parteiungen, zumal wenn es viele sind, sich gegenseitig neutralisierten und kontrollierten. Deshalb sei es möglich, daß Freundschaft zwar nicht zu erreichen sei, wohl aber Frieden. Dem zustimmend ergänzt Salomon, der Jude: Um derart Harmonie erzeugen zu können, bedürfe es einer königlichen Zwangsgewalt, die die streitenden Fraktionen unter Kontrolle halte. (J. Bodin: Colloquiurn ... - Buch IV. - S. 148 (Orig. S. 116».
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stehen können, ganz im Gegenteil. Nichtsdestoweniger stellt sich die Frage, was Magistrate oder Untertanen tun dürfen oder sollen, wenn doch einmal die Herrschaft des Fürsten mit dem Naturrecht in Konflikt gerät. Natürlich kann Bodin nicht fordern, daß sie verbrecherische Akte unterstützen,196 aber das impliziert kein Recht zur Rebellion. Er räumt lediglich ein inhaltlich sehr eingeschränktes Recht zum zivilen Ungehorsam ein. 197 Ein solcher Ungehorsam mag in Ausnahmefällen geboten sein, so meint er, aber "...(man hat) achtzugeben; daß man nicht unter dem Mantel des Gewissenskonflikts oder eines abwegigen Aberglaubens den Aufstand herausfordert. Denn indem sich der Magistrat auf sein Gewissen beruft, um zu rechtfertigen, warum er sich Befehlen widersetzt, stellt er dem Gewissen seines Fürsten ein schlechtes Zeugnis aus."198 Die gewöhnlich immer greifende Gehorsamspflicht gilt nicht nur dem souveränen Fürsten, sondern auch seinen Stellvertretern gegenüber und umfaßt so die gesamte Staatsmaschine. 199 Wichtiger aber noch als die Beantwortung der Frage, ob Magistrate gegen einzelne Weisungen des Fürsten Widerstand leisten dürfen, ist diejenige, wie sie sich tyrannischen Herrschern gegenüber generell verhalten sollen. Zur Beantwortung dieser Frage nimmt Bodin zwei Unterscheidungen vor. Zum einen fragt er danach, ob der Tyrann souverän ist oder nicht. Ist er es nicht, sieht er kein Problem. Dann ist der Tyrann wie jeder untreue Magistrat vor Gericht zu stellen, "... wenn man sich damit gegen ihn durchsetzen kann, oder aber (es ist ... ; H.H.) ... im Wege der Selbsthilfe und offenen Gewalt gegen ihn vorzugehen, wenn andere Mittel nicht helfen."200 Da Souveränität für Bodin nichts anderes ist als die Fähigkeit, für die eigenen Befehle Gehör zu finden, und da so auch Tyrannen Souveräne sein können, orientiert er sich auch bei der Frage nach dem Recht zum Widerstand weder an den Taten des Fürsten noch an seinem Rechtsstatus. Wichtig ist nur, daß die Einheit des Staates auch nach dem Aufstand erhalten bleibt. Weil dies aber keine Frage kurzfristiger Übermacht ist, kann Bodin in bezug auf das Verbot von Rebellionen schreiben, daß die Frage hier nicht sei, wer der Stärkere sei, sondern allein die, ob die Untertanen das Recht und die Macht haben, über ihren eigenen Für196 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch III - Kap. 4 - S. 464 f. (F 313 f.); "Bodin ... was bound to adrnit the legitimacy of passive disobedience. It was a right that could hardly be denied, since it followed from the principle of conscience, according to the law of nature, and was axiomatic in the religious tradition. But this admission ... was theoretically compatible with absolutism .... What he meant by absolute authority was not that the ruler must always be obeyed, no matter what he ordered, but only that he could not be legitimately resisted." (J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S.96).
197 Siehe auch: "Es ist dem Staat viel mehr gedient und steht der Würde eines Magistrats besser an, ... lieber auf sein Amt zu verzichten als eine ungerechte Sache zu unterstützen!" (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 4 - S. 471 (F 420 C.». 198 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch III - Kap. 4 - S. 477 f. (F 427 f.). 199 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch 11 - Kap. 5 - S. 367 (F F304 f.). 200 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch 11 - Kap. 5 - S. 364 (F 301).
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sten zu richten. 201 Hätten sie aber diese Macht, d. h. wüßten sie sich mit ihren Mituntertanen einig, so hätten sie auch das Recht, denn in diesem Augenblick wäre es nicht der Fürst, der als Souverän die Einheit des Staates garantierte, sondern die Adeligen oder gar das ganze Volk. Allerdings ist die Entscheidung nicht leicht zu treffen, weil die staatliche Einheit nicht das einzige Staatsziel ist. Deshalb werden die Akteure auch nicht ohne Rechtsgutachten auskommen können, womit die letzte Entscheidung immer bei den juristischen Experten liegen wird und nicht bei den möglicherweise kurzsichtig eigennützigen Rebellen. Aber auch die Gelehrten werden ihr Wissen weniger dazu benutzen, den Fall der Tradition oder der Offenbarung gemäß zu entscheiden, sondern eher abwägen, von welcher Zukunft dem Gemeinwesen auf Dauer der größere Schaden droht, von der Erduldung des Tyrannen oder von der Rebellion. Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage wird es sein, ob die Tyrannenmörder wirklich ennächtigt sind, das heißt, ob ihre Tat tatsächlich von der ganzen Bevölkerung getragen wird. Nur dann nämlich führt sie nicht zum Bürgerkrieg. Dies zu ennitteln ist um bedeutsamer, als es vorkommen mag, daß sich ein Fürst einem Teil der Untertanen gegenüber als Tyrann gebärdet, einen anderen aber durchaus wie ein König regiert. Außerdem seien Abstufungen denkbar, denn" ... wie es keinen noch so guten Fürsten ohne irgendeinen deutlichen Mangel gibt, findet sich umgekehrt auch kein noch so grausamer Tyrann, der nicht gewisse Tugenden und lobenswerte Züge aufwiese. "202 Entscheidend ist es also, wie die Einheit des Staates aufrecht erhalten werden kann. Wenn jemand mit Gewalt die Macht an sich reißt und sie ausschließlich mit Gewalt hält, legitimiert dies an sich noch nicht seine Position (Machiavelli hätte lediglich darauf hingewiesen, daß sie schwach ist, für Bodin ist sie illegitim, weil sie schwach ist). Wenn sich eine solch illegitime Tyrannei allerdings etabliert, kann sie sich durch den Zeitablauf legitimieren; denn "... die Alleinherrscher sind nicht danach zu unterscheiden, wie sie zur Herrschaft gelangt sind, sondern nach der Art und Weise, in der sie regieren ... ".203 Überhaupt sei es nicht selten vorgekommen, daß sich ein Strauchdieb und Räuber zu einem ordentlichen Fürsten gemausert habe. 204 Aus diesem Grunde gilt generell: 201 J. Bodin: Sechs Bücher .... Bd. I . Buch II . Kap. 5 - S. 365 (F 303); vergl. auch: ... alle, die von einem anderen abhängig sind oder - sei es auf Grund von Gewalt oder Verpflichtung fremdem Gesetz oder Befehl unterstehen, (entbehren) der Souveränität ... (J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 9 - S. 286 (F 214». 202 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch Il - Kap. 4 - S. 352 (F 289). 203 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch Il - Kap. 3 - S. 347 (F 284); siehe auch: n ... die von den Tyrannen einem entmachteten Volk abgezwungenen Zugeständnisse (kann man) nicht Zugeständnisse nennen ...n (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch II - Kap. 5 - S. 362 (F 299». 204 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch Il - Kap. 3 - S. 344 f. (F 280 f.).
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Haben ... die Nachfolger des Tyrannen über einen langen Zeitraum ... hinweg die Souveränität innegehabt, so würde in einem solchen Fall der Zeitablauf so vieler Jahre, wie überall sonst auch, rechtsbegründend wirken ... Dies gilt besonders dann wenn die Untertanen keinen Widerstand leisten und auch keinen gegenteiligen Willen zum Ausdruck bringen.20S
Daß es weder die Qualität des Fürsten ist noch die Art und Weise, wie er zu Amt und Würden gekommen ist, sondern lediglich die Frage, ob seine Beseitigung die Einheit des Staates gefährdet, wird auch deutlich, wenn Bodin sich zu dem Recht eines fremden Fürsten äußert, einen Tyrannen zu entmachten. Da nämlich ist er deutlich: "(Es) ziert", so schreibt er, "in hohem Maße einen Fürsten, zu den Waffen zu greifen, um ein ganzes Volk aus der ungerechten Schreckensherrschaft eines Tyrannen zu befreien".2°6 Das macht Sinn, denn entweder ist der Tyrann souverän oder aber der fremde Fürst, so daß die Beseitigung des Tyrannen in keinem Fall den Anlaß zum Bürgerkrieg liefern kann. Wenn Bodin deshalb auf der anderen Seite den Untertanen kategorisch den Widerstand gegen ihren souveränen Fürsten verbietet, "sei er auch der abscheulichste und grausamste Tyrann", 207 und es ihm allenfalls beläßt, den Gehorsam zu verweigern, zu flüchten oder Notwehr zu leisten,208 so hat das weniger mit Kadavergehorsam zu tun als vielmehr mit der Überzeugung, daß die "chaotische Anarchie" schlimmer sei "als selbst die brutalste Tyrannei der Welt".209 Neben dem Naturrecht ist ein zweiter potentieller Bereich für Widerstand der Verstoß gegen grundlegende Verfassungsgesetze. Was das Völkerrecht als mögliches Konfliktfeld betrifft,210 so kann der Fürst selbstverstlindlich von ihnen abweichen, wenn dies seinem Staate nützt. Hier hat der Untertan in keinem Fall das Recht zu rebellieren. Das Verfassungsrecht wirft schwierigere Probleme auf. Franklin hat im spannendsten Kapitel seiner Studie über Bodins Absolutismus gezeigt, daß Bodin auch hier konsequent Widerstand für illegal erklärt. Die Position zum Bruch der Verfassung ist einfach und radikal. Sie schließt nicht nur jeden Widerstand gegen den Bruch der Verfassung aus,211 auch ziviler Ungehorsam kommt hier nicht mehr in Frage: 212 205 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch 11 - Kap. 5 - S. 362 CF 299). 206 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch 11 - Kap. 5 - S. 363 CF 300). 207 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch 11 - Kap. 5 - S. 369 CF 306 f.); siehe auch: "Ist ... der Fürst ... absolut souverän. dann hat weder der einzelne Untertan noch die Gesamtheit der Untertanen das Recht, die Ehre oder das Leben des Alleinherrschers anzutasten, gleichgültig ob dies im Wege der Gewaltanwendung oder auf dem Rechtswege geschähe, und dies selbst dann nicht. wenn er die unbeschreiblichsten Schandtaten, Frevel und Grausamkeiten begangen hätte." (J. Bodin: Sechs Bücher ... - Buch 11 - Kap. 5 - S. 365 (F 302». 208 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch 11 - Kap. 5 - S. 369 (F 306 f.). 209 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Vorwort - S. 96 (F recto). 210 D. h. die Normen, die im allgemeinen zwischen Staaten üblich sind. Vergl. hierzu: J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch 111 - Kap. 4 - S. 466 CF 414).
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Nun haben wir gesagt. der Fürst ist an einen seinem Volk einmal geleisteten Eid gebunden und hat selbst dann. wenn er durch keinen Eid dazu verpflichtet ist. die Verfassungsgesetze des Landes zu achten. in dem er Souverän ist. Hieraus darf man aber nicht den Schluß ziehen. daß der Magistrat im Falle eines derartigen Pflichtverstoßes des Fürsten nicht zu gehorchen braucht. Denn es ist nicht seines Amtes. darüber zu rechten oder in irgendeiner Weise dem in den irdischen Gesetzen zum Ausdruck gebrachten Willen seines Fürsten. der von ihnen abweichen kann. zuwiderzuhandeln. 213
Auch für den Fürsten selbst ändert der geleistete Eid nichts. Wo der Nutzen. den der Eid stiften soll. fortfällt. verliert der Eid selbst seine GÜltigkeit. 214 Im Notfall ist der Fürst möglicherweise sogar verpflichtet. zum Wohle seiner Untertanen das Grundgesetz außer Kraft zu setzen. Aber der Grundgesetzkatalog ist bei Bodin überhaupt eher dürftig ausgefallen. Er enthält im wesentlichen zwei Normen, die nicht nur einer effizienten Staatsführung kaum im Wege stehen können, sondern vielmehr eine solche Staatsführung fördern. 215 Zum einen ist dies das salische Gesetz zur Regelung der Erbfolge, zu dem J. Franklin herausgearbeitet hat, daß es keinen Anlaß zum Widerstand bieten könne. Der König sei frei, zum Nachfolger zu bestimmen, wen immer er wolle, hier brauche man nur abzuwarten. Die zweite Regelung ist unter dem Widerstandsgesichtspunkt schon interessanter. Es geht dabei um das Verbot, Güter zu veräußern, die der Krone gehören, um das Recht eines jeden neuen Königs also. sein Amt in voller Machtfülle antreten zu können. Bodin schreibt hier schlicht: Von den Gesetzen ...• die die Verfassung und den Aufbau des Königreichs angehen ...• kann der Fürst nicht abweichen. weil sie unauflöslich mit der Krone verbunden sind. Was immer er auch unternähme. immer ist sein Nachfolger frei. alle Maßnahmen aufzuheben. die zum Nachteil der verfassungsmäßigen Rechte des Königtums gereichen würden. auf denen seine Stellung als souveräne Majestät beruht. 216
Damit mag der Fürst zu Lebzeiten tun, was er will. 217 Auch hier reicht es abzuwarten, da jeder illegitime Günstling des Königs weiß, daß die Nutzung 211 Vergl. hierzu auch: C. J. Friedrich: The Philosophy of Law in Historical Perspective. Chicago: 1963. - S. 60. 212 J. Bodin: Sechs Bücher. .. - Bd. 1 - Buch III - Kap. 4 - S. 469 (F 418 f.). 213 J. Bodin: Sechs Bücher ... Bd. I - Buch 1II - Kap. 4 - S. 466 (F 414 f.). 214 Vergl. hierzu auch: J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 8 - S. 215 f. (F 134. f.); zu Bodins Lösung eines möglichen Konflikts mit dem Krönungseid schreibt Franklill: "His solution (conceming the binding force of a coronation oath H.H.). very sirnply. is that the prornise of a king. like the promise of any individual. ceases to be binding by the law of nature once the reasons for keeping it have ceased to operate. In the case of royal prornises to rnaintain specific laws. the reason for maintaining them is the interest of the community in the utility or justice of the laws. If this utility and justice cease with a change in circumstances. the king's obligation ceases also. A valid promise to maintain the law is thus cornpatible with absolute authority. As long as the community retains an interest. the promise is cornpletely binding. But the king can always change the law on his finding that this interest has lapsed." (J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 55). 215 J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 70. 216 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Buch I - Kap. 8 - S. 218 (F 137).
217. Franklin führt hierzu aus: "Even on a strictly absolutist version of the rule. a king was not prevented from entire use of the domain as long as he rernained in office. and. as long as he rernai-
4.2. Der Appell Bodins an die Untertanen
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des erworbenen Kronguts keinerlei legalen Schutz genießt, daß mit dem Tode des Königs vermutlich auch der widerrechtlich erworbene Besitz verloren geht. 218 Mit Franklin läßt sich diese Version absoluter Souveränität treffend als "kingship as a life estate" bezeichnen. 219 Daß die vom Souverän selbst gesetzten Normen dem Fürsten keine Schranken auferlegen, davon war schon die Rede. Zwar soll der König mit diesen Normen sehr behutsam umgehen. Aber vorausgesetzt, er bleibt im Rahmen des Naturrechts, so hindert ihn nichts daran, die Gesetze zu verändern, wann immer ihm dies sinnvoll erscheint, schon gar nicht die mangelnde Zustimmung seiner Untertanen. Natürlich soll er seine Untertanen fragen und versuchen, sich ihre Zustimmung zu sichern, aber es sei notwendig, dem Souverän die volle Handlungsfreiheit zu wahren, "... wie nach dem Rechtsgelehrten Sextus Caecilius der erste Steuermann das Steuer halten und nach seinem Gutdünken lenken können muß, wenn das Schiff nicht schon gescheitert sein soll, noch ehe der Rat derer eingeholt ist, die es birgt. 22o Auch der Bruch eingegangener Verträge berechtigt niemanden zum Widerstand, da nur der Fürst entscheiden kann, wann die Grundlage für die Vertragserfüllung nicht mehr gegeben ist. 221 Mit Franklin läßt sich also schließen: "This, then, is what he (Bodin; H.H.) meant by absolute authority. An absolute king had full possession of all the powers that astate could legitimately exereise. and even if he overstepped the bound of higher law, he could not be lawfully resisted or deposed. "222 Aber die Untertanen sollen ihrem Fürsten nicht nur keinen Widerstand entgegensetzen, sie sollen ihm nach Kräften dienen und ihn aktiv gegen seine Feinde verteidigen. Umstürzler haben den Tod verdient. 223 Diese Position steht ned king, he could leave possession of the domain in the hands of anyone he wished. The only thing he could not do was to transfer a right to the domain that would endure beyond his lifetime and bind his successors in the kingship .... this defect in the right of the incumbent was not, technically speaking, a limitation on absolute authority. It simply followed from his temporary possession of that absolute authority." (1. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 73 f.). 218 1. FrankIin: Bodin ... Absolutism ... S. 71. 219 1. FrankIin: Bodin ... Absolutism ... S. 79. 220 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 8 - S. 223 (F 142). 221 Da es immer der Fürst bleibt, der darüber entscheidet, ob ein Vertrag hinfällig geworden ist, ist nie ein Untertan in der Lage, legitim Widerstand zu leisten. Siehe auch: "Aus den gleichen Gründen, aus denen auch der einzelne von einem ungerechten oder unvernünftigen Versprechen, etwa wegen unzumutbarer Härte, arglistiger Täuschung, Betrugs, Irrtums, Gewaltanwendung, verständlicher Angst oder schwerster Verletzung, entbunden werden kann, kann auch der Fürst, wenn er souveräner Fürst ist, von allem wieder freigestellt werden, was eine Beeinträchtigung seiner Hoheitsrechte bedeuten würde. Es verbleibt also bei dem Grundsatz, daß der Fürst zwar nicht an seine eigenen Gesetze oder die seiner Vorgänger, wohl aber an rechtmäßige und vernünftige Verträge gebunden ist, an deren Einhaltung die Untertanen in ihrer Gesamtheit oder als einzelne ein Interesse haben." (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 8 - S. 215 (F 134». 222 1. FrankIin: Bodin ... Absolutism ... S. 92. 223 1. Bodin: Sechs Bücher '" - Bd. I - Buch 11 - Kap. 5 - S. 361 (F 298); vergl. hierzu auch: 1.
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4. Jean BOOin
zwar im deutlichen Widerspruch zu der Feststellung, daß der Grund der Machtergreifung für die Legitimität eines Fürsten keine Rolle spielt, aus praktischer Sicht aber läßt sich mit ihr die Schwelle zum Umsturz erhöhen. Was nach erfolgter Machtübernahme irgend wann als Grund zum Widerstand wegfallt, kann im Vorfeld abschreckend wirken und so eine bestehende Herrschaft zusätzlich stärken. Neben der Verweigerung eines Rechts auf Widerstand und der Aufforderung, den regierenden Fürsten nach Kräften gegen seine Feinde zu verteidigen steht als drittes der Appell an die Untertanen, ihrem König nicht nur mit Tat, sondern auch mit Rat zur Seite zu stehen. Mit den Rechtsforderungen, die Bodin aufstellt, macht er es jedem Untertanen zur Pflicht, den Fürsten zur Rechtschaffenheit zu ermahnen und ihm den besten Weg des Regierens ans Herz zu legen. 224 Unrecht ist nirgends hinnehmbar, auch wenn es nicht erlaubt sein mag, gewaltsam dagegen vorzugehen. Die Untertanen sollen nötigenfalls alle Mittel des Protestes ausschöpfen, um den Fürsten auf dem rechten Weg zu halten. Die humanistischen Juristen erfüllen hier ihre wichtigste Funktion. 225 All das, sowohl der nahezu unbedingte Gehorsam dem Souverän gegenüber als auch seine Verteidigung und Beratung, ist nicht nur rechtens, sie ist auch im Interesse der Untertanen. Bodin faßt dies im letzten Buch der Republique noch einmal zusammen:
Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 95; damit ist von einem Markt für Management nicht die Rede. Unfähige Fürsten mögen zwar ihre Stellung einbüßen, als positiv will Bodin dies aber doch nicht bewertet wissen. Um die Schwelle für Putschisten oder Revolutionäre so hoch wie möglich zu ma· chen, verbietet er den gewaltsamen Umsturz kategorisch. 224 Siehe z. B.: J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 4 - S. 467 (F 415); mit dieser Vorstellung von der Aufgabe der Magistrate, den Fürsten zur Gerechtigkeit 7lI ermahnen, bleibt Bodin offenbar durchaus im Rahmen des ohnehin Üblichen. Franklin schreibt dazu: "By the fifteenth century it was weIl established that the Parlement of Paris had the right to remonstrate, or protest, against any enactment of the king found incompatible with common law or local custom, unless the alteration could be justified by strong considerations of public utility or equity." (J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 5). 225 Friedrich schreibt dazu: "(Bodin) attributes to the judges as the custodian of true law a very great role. The exceptions to the competence of the sovereign, such as his obligations under private law, are tied to actions of judges and courts. In such judges and courts there is embodied the Bodinian conception of a sphere of law which is to a degree autonomous vis-a-vis the state. There is no question that we have here distinctly medieval thought elements. But whereas in the Middle Ages the law of the govemment as the enforcer of the law was seen as separate and unalterable, we now find that this presumably unalterable law has taken refuge with the judges, while the ruler has become the legislator."(C. J. Friedrich: The Philosophy of Law in Historical Perspective. - Chicago: 1963. - S. 62); damit stand Bodin übrigens keineswegs allein. Die Idee, daß die königliche Gewalt wo nicht durch die Stände, so doch durch die Beamtenschaft kontrolliert werden soll, ist allen Politiques eigen. Vergl. hierzu auch: J. Franklin: Bodin ... Methodology ... S 41.
4.3. Der Appell Bodins an den König
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... wenn ich geschrieben habe, alle klugen Politiker, Philosophen, Theologen und Geschichtsschreiber hätten die Monarchie allen anderen Staatsformen klar vorgezogen, so habe ich diesen Standpunkt nicht eingenommen, um den Fürsten zu gefallen, sondern mit Blick auf den Schutz und das glückliche Leben der Untertanen. Mit der Beschneidung der Macht des Monarchen und seiner Unterwerfung unter die Ständeversammlung des Volkes oder unter einen Senat entzöge man der Souveränität nur jeden sicheren Boden und würde einen demokratischen Wirrwarr oder eine elende Anarchie heraufbeschwören, beides die größten Übel für jeden Staat.226
Bisher war oft von den Aufgaben des Souveräns die Rede. Wenig wurde darüber gesagt, warum ein Fürst dieser Funktion entsprechend handeln soll. Ein zweiter Strang der Bodinschen Argumentation befaßt sich genau mit dieser Frage. Er wendet sich an den König, um auch ihm mit der für Bodin typischen Mischung aus Rechts- und Nützlichkeitserwägungen staats förderlich es Verhalten anzuempfehlen. Hiervon soll im folgenden die Rede sein.
4.3. Der Appell Bodins an den König Wenn Bodin seinen Fürsten von jeder Art legitimen Drucks von Seiten seiner Untertanen freimachen kann, so weil er hofft, daß dieser durch andere Eigenschaften seiner sozialen wie religiösen Umwelt im Zaum gehalten wird. Der Argumentationsstrang, der sich an den König wendet, setzt beim Eigeninteresse des Fürsten an und faßt die Ratschläge zur Staatsraison vor allem deshalb in die Form von Naturgesetzen,227 weil ihnen so mehr Gewicht zukommt. Um diese Argumentation nachzuzeichnen, scheint es sinnvoll, Bodins Reinterpretation der alten Unterscheidung von tyrannischer und legitimer Herrschaft aufzunehmen, die er um die Kategorie der "despotischen Herrschaft" ergänzt. Er definiert: Eine königliche Monokratie oder auch legitime Monarchie ist ... eine Alleinherrschaft, wo die Untertanen den Gesetzen des Monarchen gehorchen, dieser das Naturrecht achtet und die natürliche Freiheit und das Eigentum der Untertanen unangetastet bleiben. Die despotische Monokratie ist gekennzeichnet dadurch, daß sich der Fürst mit Waffengewalt in einem gerechten Krieg zum Herrn über Person und Eigentum der Untertanen gemacht hat, sie aber so regiert. wie ein Hausvater seine Sklaven behandelt. Die tyrannische Monokratie ist jene. in der der Alleinherrscher unter Mißachtung des Naturrechts Freie wie Sklaven behandelt und das Eigentum der Untertanen als sein eigenes betrachtet. Diese Unterscheidung gilt auch für Aristokratie und Demokratie.228
Die despotische, aber im eigenen Interesse vernünftige Herrschaft entspricht am ehesten der Politik, die Machiavelli im Principe formulierte. Dort gab es keinerlei Rechtsgarantien an die Untertanen. Ob Gesetze erlassen wurden, wie 226 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 418 (F 965); vergl. überhaupt Buch VI. - Kap. 4. - S. 414 ff. (F961 ff.). 227 Chanteur weist zu Recht darauf hin. daß für Bodin der Begriff des Naturrechts wesentlich ist. auch wenn er nirgendwo explizit definiert ist. (J. Chanteur: "L'Idee de Loi Naturelle dans Ia Republique de Jean Bodin" S. 195-212 in: H. Denzer: Jean Bodin. - München: 1973. - S. 196 f.). 228 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch II - Kap. 2 - S. 337 (F 272 f.). 14 Hegmann
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4. Jean Bodin
lange sie galten und ob sie widerrufen wurden, wurde einzig und allein von der Staatsraison diktiert. Indem sich Bodin nicht nur von der Tyrannis absetzt, sondern auch von dieser Form der Herrschaft, zeigt er in zusammenhängender Form, wo er sich von Machiavelli unterscheidet, auch wenn er dabei nicht ausdrücklich auf diesen eingeht. Im folgenden wird deshalb Bodins Bild einer nicht-tyrannischen Herrschaft skizziert, um dann in einem zweiten Teil darzustellen, wie er die gute Herrschaft von der Despotie abgrenzt. Damit hoffe ich, in der Lage zu sein, genauer aufzeigen zu können, worin legitimes Königtum im Sinne Bodins besteht und wieso der Autor hoffen kann, daß sich ein König die damit verbundenen Handlungsrestriktionen zu eigen macht. 229 Man lese den folgenden Abschnitt also wie ein Plädoyer an den König, um ihn davon zu überzeugen, daß es in seinem eigenen Interesse liegt, klug, gut und gottesfürchtig zu herrschen. 4.3.1. Die Tyrannei ist nicht im Interesse des Tyrannen
Bodins Ermahnung an die Untertanen, ihrem souveränen Fürsten keinen Widerstand zu leisten, kann nur in beschränktem Maße auf Gehör rechnen. Wo die Lebensumstände der Menschen zu drückend werden, werden sie irgendwann die Wahrung ihrer (vermeintlichen oder wirklichen) Interessen höher bewerten als ihre Rechtschaffenheit. Als mögliche Gründe für einen Aufstand zählt Bodin auf: ..... die Verweigerung von Gerechtigkeit, die Unterdrückung des niederen Volkes. Ungleichbehandlung bei Strafe und Anerkennung. der übertriebene Reichtum einiger weniger einerseits. die äußerste Armut der Masse andererseits, allzu großer Müßiggang der Untertanen und die Nichtahndung von Verbrechen." 23o Wie bei Machiavelli ist der Fürst also im eigenen Interesse gut beraten. wenn er diese Ursachen beseitigt. wenn er also klug versucht. die Interessen seiner Untertanen möglichst langfristig mit den seinen in Einklang zu bringen. 231 Der Begriff Tyrannei umfaßt bei Bodin. wie bei Machiavelli, genau die Antithese einer solchen Herrschaft. Um überhaupt bestehen zu können. muß der Tyrann seine Untertanen systematisch voneinander isolie229 Hinrichs unterscheidet drei unterschiedliche Fürstenbilder bei Bodin, den guten und gerechten König, den machiavellistischen Fürsten und den absoluten Souverän. Der erste entspricht meinem dritten und der zweite meinem Despoten. Die Souveränität als Unterscheidungsmerkmal für ein weiteres Konzept vom Fürsten heranzuziehen, scheint mir dagegen nicht sinnvoll, weil damit nicht eine bestimmte Art zu handeln bezeichnet wird, sondern ein Verhältnis des Fürsten zu seinen Untertanen. (E. Hinrichs: "Das Fürstenbild Bodins ... S. 286). 230 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 7 - S. 156 (F 659). 231 Wenn deshalb Bodin im Methodus schreibt, "(un roi) cherche le bien et Oe tyrant) la volupte" (1. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 1 - S. 375; so ist dies weniger eine Tatsachenbehauptung als mehr eine Definiton der Begriffe. Anders als beispielsweise die "Vorhut der Arbeiterklasse" ist Bodin sich dabei durchaus bewußt, daß eine entsprechende Definition das damit angegangene Problem noch nicht löst.
4.3. Der Appell Bodins an den König
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ren. Er muß die vorhandenen Kollektive und Institutionen zerschlagen, um sie allein auf sich hin auszurichten, und er darf seinen Spießgesellen nichts gönnen, was nicht unmittelbar von seiner Gnade abhängt. 232 Über die Ineffizienz einer solchen Politik sind MachiaveIIi und Bodin nicht nur unter sich einig, sie befinden sich auch im Einklang mit der Tradition des politischen Denkens bis zurück auf Platon und Aristoteles. 233 Allerdings unterscheidet sich ihre Begründung von der der Klassiker. Tyrannei ist für sie das typische Beispiel für das Verspielen des eigenen sozialen Vermögens. Ein Mensch, so schreibt Bodin, " ... der seine Untertanen nur fürchtet und haßt und selbst Furcht und Haß bei allen verbreitet, würde auf Dauer einfach nicht leben können. Schon beim geringsten Angriff durch Fremde würden sich seine eigenen Leute auf ihn stürzen:"234 Zwar mögen verschiedene Faktoren die Stabilität des tyrannischen Regimes stabilisieren, so die geographische Lage (im Norden sei man freiheitsliebender als im Süden, meint Bodin), entscheidend für das langfristige politische Überleben des Fürsten ist es aber, daß er eine Politik macht, die möglichst optimal die Interessen der Untertanen befriedigt. Wie Machiavelli legt Bodin deshalb Wert darauf, daß sein Fürst richtig, das heißt den Umständen entsprechend handelt. Um so handeln zu können, muß sich der König vor allem die Mittel zur Politik bewahren. Da Steuern böses Blut machen und die traditionelle Haupteinnahmequelle des Königs ohnehin sein eigener Besitz ist, erhebt Bodin die Forderung nach der Unveräußerlichkeit des Kronguts in den Rang eines auch vom König nicht zu verletzenden Rechtssatzes. 235 Eine zweite Voraussetzung für vernünftige Politik ist es, sich durch Experten beraten zu lassen. 236 Diese 232 Bodins Beschreibung, wie Tyrannen ihre Herrschaft ausüben, liest sich wie eine Anleitung zur Tyrannei: "Et tout d'abord ces tyrans prennent comme gardes du corps des mercenaires barbares et etrangers, ils etablissent des retranchements, occupent des citadelles; ils abattent les plus fiers des citoyens et decapitent, comme les plus hauts des pavots, les plus puissants entre eux: ils distribuent les honneurs et les recompenses aux etrangers, suppriment les communautes et les colleges, detruisent completement tout lien de solidarite entre les citoyens, ils attisent en cachette la discorde entre les nobles et le peuple, enfin ils emplissent leur tresor du fruit des violences et des meurtres qui s'ensuivent; ils placent partout des indicateurs et des espions, [...] " (J. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 6 - S. 385) Er fährt noch einige Zeit so fort und schließt: "Mais celui-ci Oe tyran H. H.) pousse encore plus loin l'indignite et la sceleratesse en recouvrant son impiete d'un voile de religion, en portant aux temples des dieux une reverence feinte qui peint sur ses levres et sur son visage le masque de la vertu" (ebenda.); vergl. auch Bodins Stellung zur Funktion von Korporationen überhaupt: 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 7 - S. 543 (F. 499). 233 Auch Thomas von Aquin hatte sich in diesem Sinne geäußert: "... alle, die mehr danach streben, andere zu beherrschen, als ihnen wirklich nützlich zu sein, sind allem Fortschritt ihrer Untertanen im Wege. Sie müssen ja befürchten, daß alles, was unter den Beherrschten an Bedeutung hervorragt, eine Verurteilung ihres ungerechten Regiments bedeutet. So sind dem Tyrannen immer die Tüchtigen verdächtiger als die Untüchtigen, jede fremde Tugend ist ihm ein Grund zur Furcht. Es gehen also die Tyrannen darauf aus, daß sich unter ihren eigenen Untertanen keine große Begabung entwickle, daß sie etwa den Geist zu großen Taten fassen und das Joch ihrer ungerechten Herrschaft nicht länger ertragen." (Th. von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. - Stuttgart: 1981. - S. 15). 234 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch II - Kap. 4 - S. 355 (F 292).
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4. Jean Bodin
Funktion ist für Bodin deshalb von ganz besonderer Bedeutung, weil er ständig die empirische Vielfalt der Welt vor Augen hat. Wer hier angemessen handeln will, muß die spezifischen Charakteristika seines Volkes kennen, und zwar sowohl die äußeren Lebensumstände, die vermittels regelmäßiger Volkszählungen zu erheben sind,237 als auch die umlaufenden Anschauungen und Meinungen, denn: "... wenn irgendwo, dann haben [gerade] in den staatlichen Angelegenheiten Meinungen keine geringere, ja sogar oft größere Wirkung als die Wahrheit",238 eine Feststellung, die auch von Machiavelli hätte stammen können. Humanistisch gebildete Experten stellen mit ihrer Arbeit sicher, daß der Souverän sich mit seiner Politik nicht allzuweit von seinem Volke entfernt. Aber auch aus anderen Gründen sind institutionalisierte Beratergremien, möglichst ein Ältestenrat, eine nützliche Einrichtung, denn mit ihrem Prestige helfen sie, die Durchsetzung hoheitlicher Maßnahmen sicherzustellen. 239 Die Experten und unter ihnen vor allem die Juristen erfüllen also im wesentlichen zwei Aufgaben. Einerseits ermahnen sie den Fürsten zu richtigem Handeln, und andererseits "verkaufen" sie den Untertanen dieses Handeln. Mit ihrer Autorität240 garantieren sie ihnen, daß der Fürst in ihrem Interesse regiert und nicht in die Tyrannei abrutscht. Da sie aber wie alle anderen Magistrate keinen Widerstand leisten dürfen, müssen sie, um glaubwürdig zu bleiben, im Notfall zurücktreten. Ob sie dies wirklich tun werden, ist freilich eine andere Frage. In jedem Fall sind sie dem König verläßliche Gefolgsleute im Kampf gegen den auf seine Privilegien bedachten Adel. 241 Gut beraten zu sein ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein vernünftiges Regieren. Der beste Rat gilt nichts, wenn der Fürst 235 R. Polin: "L'Idee de Republique selon Jean Bodin" - in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. München: 1973. - S. 355 f. 236 1. Bodin "La Methode de I'Histoire" ... Kap. 3 - S. 289. 237 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 1 - S. 311 (F 839 f.). 238 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 1 - S. 404 (F 345). 239 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 1 - S. 402 (F 343). 240 In seiner Untersuchung Über Autorität arbeitet T. Eschenburg diesen Charakter von Autorität als ein aus der römischen Verfassung entsprungenes Konzept heraus. Autorität bewegt sich demnach zwischen Rat und Befehl, sie legt ein bestimmtes Handeln nahe, weil es im Interesse desjenigen ist, der sich von ihr leiten läßt. Th. Eschenburg: Über Autorität. Frankfurt: 1965. - S. 12 ff. 241 Es ist kein Zufall, daß F. Hotman, der Verteidiger einer ständischen Ordnung, das Überhandnehmen der Juristen beklagt: "Zu unserer Zeit hat in Frankreich die An Menschen die Oberhand gewonnen, die von einigen als Rechtskundige, von anderen als Juristen oder auch als Rabulisten bezeichnet wird. In den letzten drei Jahrhunderten war deren Erfindungsgabe aber so groß, daß sie nicht nur die Macht der allgemeinen Ständeversammlung ... beinahe völlig beseitigt haben, sondern auch alle Großen des Reiches, ja sogar die königliche Majestät zwangen, sich ihrem Einfluß zu fügen." (F. Hotman: "Francogallia" in: J. Dennert: Beza, Brutus, Hotman - Calvinistische Monarchornachen. - Opladen: 1968. - S. 319 (Kap. 27); vergl. auch: J. W. Allen: A History of Political Thought ... - S. 282 ff.).
4.3. Der Appell Bodins an den König
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nicht bereit oder in der Lage ist, diesem Rat auch zu folgen. Bodin fordert deshalb seinen Fürsten auf, Selbstbeherrschung zu pflegen. 242 Ausschweifung, so schreibt er, habe mehr Fürsten ins Verderben geführt als jede andere Ursache. Auch sei sie für den Fürsten und seine Herrschaft gefährlicher als Grausamkeit, da diese die Untertanen in Furchtsamkeit halte, wogegen Ausschweifung zu Verachtung führe. 243 Ohne einen guten Teil der Tugenden, die auch Machiavelli am klugen Fürsten pries, wird sich auch Bodins Souverän nicht lange an der Macht halten können. 244 Zu diesen Tugenden gehört auch die Entschlossenheit, wo nötig mit Gewalt Ordnung zu schaffen. Bodin meint hierzu: ... je nach Zeit, Ort, den Beteiligten und Umständen einer gegebenen Situation sind Fürsten oftmals genötigt, Dinge zu tun, die manchen tyrannisch, anderen billigenswert vorkommen .... (Es ist ... ; H.H.) ... dem Fehler vorzubeugen, Strenge, die für den Fürsten unentbehrlich ist, oder Leibwachen und Festungen oder gar die Absolutheit aus der Not geborener Befehle ... als Zeichen der Tyrannei zu werten .... Als Tyrannei darf man auch nicht die Morde, Verbannungen, Beschlagnahmungen und anderen Zwangsmaßnahmen oder die bewaffneten Aktionen bezeichnen, die in Staaten bei Umstürzen oder bei ihrem Wiederaufbau vorzukommen pflegen. Denn sowas ist noch nie anders vonstatten gegangen und bei einem gewaltsamen Umsturz auch gar nicht anders möglich ...245
Daß Gewaltherrschaft bei neuen Fürsten gerechtfertigt sein kann,246 gesteht also auch Bodin zu, wenn er auch dort eine Linie zieht, wo zur (kurzfristigen) Staatsstabilisierung Verbrechen nützlich wären. Es wäre zwar theoretisch denkbar, daß ein kluger, guter und gottesfürchtiger König Unrecht beginge, um ein größeres Unheil von seinem Volk abzuwenden, daß er sich aus patriotischer Gesinnung in religiös-moralischer Hinsicht "die Hände schmutzig macht" und sein Seelenheil riskiert, um "dem Vaterlande zu dienen", aber praktisch muß 242 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 3 - S. 115 (F 19). 243 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 1 - S. 35 f. (F 516). 244 Siehe beispielsweise: "Die Nachgiebigkeit und dümmliche Einfalt eines allzu gütigen Königs führen dazu, daß die Speichellecker, Hofschranzen und verderbtesten Menschen ... die Staatsfinanzen aufzehren ... Kurzum, unter einem solchen Fürsten würde der gemeine Nutzen in privaten Nutzen verkehrt, und das arme Volk hätte alle Lasten zu tragen." (1. Bodin: Sechs Bücher .. , - Buch " - Kap. 4 - S. 358 (F 295). 245 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch" - Kap. 4 - S. 357 (F 294); vergl. auch: Buch IIJ - Kap. 5 - S. 497 (F 449); eine bemerkenswerte Stellung zur Frage der Legitimität "ruchloser" Mittel nimmt M. de Montaigne ein: "So müssen in allem Staatsleben Dienste verrichtet werden, die notwendig sind, aber nicht bloß verächtlich, sondern sogar ruchlos. Diese Ruchlosigkeiten spielen hier dieselbe Rolle wie die Gifte, deren wir uns zur Erhaltung unserer Gesundheit bedienen. Soweit sie unumgänglich nötig sind, mag man sie entschuldigen ... Aber man muß (die Rolle des Arztes; H. H.) den rücksichtsloseren, weniger bedenklichen Bürgern überlassen." (M. de Montaigne: Die Essais und das Reisetagebuch. - Stuttgart: 1937. - S. 268 f.). Wenn mit der Bereitschaft, "sich die Hände schmutzig zu machen", Machtgewinn verbunden ist, läßt sich die Folge eines solchen "Drückebergertums" denken. 246 Er schreibt: "Wenn man mir entgegenhält, Gewalt und Furcht seien beide schlechte Garantien zur Erhaltung der Herrschaft, so ist dies durchaus richtig. Ein neuer Fürst, der mit Gewalt eine Demokratie in eine Monarchie umwandelt, ist jedoch auf sie angewiesen. Beides ist der königlichen Monarchie ganz und gar wesensfremd. Sie genießt um so größere Sicherheit, je weniger Aufpasser es in ihr gibt." (J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. I - S. 38 (F 519».
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4.1ean BOOin
ihn das überfordern. Analog zu MachiaveUis Ablehnung des Festungsbaus, die Bodin übrigens mit Einschränkungen übernimmt,247 entwickelt der Mann aus Angers die Idee, daß die diesseitige a-moralische Nutzenkalkulation den Fürsten schnell verderben könne: ... wenn Ungerechtigkeit, mit der Waffe der Gewalt ausgerüstet, erst einmal mit unwiderstehlicher Gewalt ihren Lauf nimmt, dann erhalten die wilden Leidenschaften der Seele Auftrieb und bewirken, daß der Neid mit einem Mal in Konfiskation, die Liebe in Ehebruch, Zorn in Wut und Beleidigung in Mord ausartet. So wie der Donner, obwohl es genau umgekehrt zu sein scheint, dem Blitz vorauseilt, so verhängt auch der von tyrannischen Ideen angesteckte Fürst Strafe, ehe Anklage erhoben ist, und fällt das Urteil, ehe noch der Beweis erbracht ist. Es läßt sich nichts Schlimmeres ausdenken, um Fürst und Staat zugrunde zu richten.248
Die Benutzung tyrannischer Mittel wird sich also nicht auf den Notfall beschränken lassen, wie Machiavelli es fordert, sie wird nach Bodin den tyrannisch Handelnden infizieren und ihn dazu treiben, irgendwann alle Hemmungen fallen zu lassen. Was Machiavelli als partielle Strategieanpassung an erkannte individuelle Schwächen des Fürsten anrät, wird für Bodin also allgemeingültig. Im Bewußtsein der Unfahigkeit, langfristig a-moralisch zu denken, ohne korrumpiert zu werden, soll es sich der Fürst zur Gewohnheit machen, das Recht zu achten. Angesichts der Tatsache, daß Bodin seinen Fürsten nicht mit der Situation konfrontiert sieht, einem mit Glück und fremden Waffen erworbenen Staatswesen nachträglich Fundamente geben zu müssen, kann er sich ganz darauf konzentrieren, gestützt auf das bereits vorhandene Gewaltpotential, systematisch die Basis für Konsens zu erweitern. Er sieht dabei für seinen Fürsten dieselbe Aufgabe wie Machiavelli für den seinen: Da Gewaltmittel knappe Güter sind. müssen sie, wo immer dies ohne das Risiko von Vertrauensbruch möglich ist, durch Konsens substituiert werden. Wichtigster Weg hierzu ist es, glaubhaft machen zu können, daß man beständig am "Wohle des Volkes" arbeitet. "Der König soll", so schreibt Bodin, ..... von seinen Untertanen geliebt werden ... Um dies zu erreichen, gilt es jeden Grund zur Unzufriedenheit mit ihm auszuräumen. "249 Eine wichtige Möglichkeit hierzu ist der privatrechtliche Umgang des Königs mit seinen Untertanen. Kann er mit ihnen Verträge schließen, so braucht er lediglich deren Einhaltung mit seinem Gewaltmonopol zu sichern. Voraussetzung dafür, daß aus den Reihen der Untertanen überhaupt Interesse an solchen Verträgen besteht, ist natürlich, daß der Fürst seinerseits an die Ein247 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch V - Kap. 5 - S. 235 f. (F 754 Cf.). 248 J. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Vorwort - S. 96; vergl. auch: ..... das Recht zur Konfiskation (ist) eines der wirksamsten Mittel ... die je erfunden wurden, um aus einem guten Fürsten einen Tyrannen zu machen. Denn wer keinen [echten] Grund hat, seinem Untertanen das Leben zu nehmen, dem wird es, wenn er sich bei dessen Hinrichtung Hoffnung auf sein Vermögen machen kann. dazu nie an [erfundenen] Verbrechen, an Anklägern und Zuträgern fehlen." (1. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch V - Kap. 3 - S. 210 f. (F726». 249 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 4 - S. 103 (F 599).
4.3. Der Appell BOOins an den König
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haltung der Verträge gebunden ist. Da er nicht, wo nötig, mit Gewalt zur Einhaltung von Verträgen gezwungen werden kann, versucht Bodin, diese Verpflichtung des Fürsten so stark wie möglich zu machen, ohne freilich damit ein Widerstandsrecht zu begrunden. (Ein Fürst) unterliegt einer doppelten Verpflichtung: Die eine folgt aus der natürlichen Gerechtigkeit, die verlangt, Verträge und Versprechen zu halten. Die andere folgt aus dem Vertrauen in den Fürsten, das er auch nicht enttäuschen darf, wenn er davon Nachteil hätte. Denn er ist für alle seine Untertanen das Symbol für dasjenige Vertrauen, das sie untereinander üben und kein Verbrechen ist für einen Fürsten verabscheuungswürdiger als der Wortbruch. Bei Wortbrüchen ist deshalb der souveräne Fürst vor Gericht250 mit größerer Strenge zu beurteilen als der Untertan.251
Was die Bindung der Nachfolger angeht, so fordert Bodin ein Zustimmungsverfahren durch die Stände, um den Nachfolger von leichtsinnig eingegangenen Verpflichtungen seines Vorgängers freizuhalten, ohne andererseits langfristige, über das Leben des Königs hinausgehende Verpflichtungen völlig unmöglich zu machen. 252 Eine besonders ausgeprägte Rolle spielt beim Aufbau einer Reputation für Verläßlichkeit der Respekt für die Tradition. Hält sich der Fürst an die althergebrachten Weisen, Dinge zu tun, so werden die Untertanen die relative Stabilität ihres Staatswesens in der Vergangenheit auch auf die augenblickliche Politik des Fürsten übertragen. 253 Damit ist auch Bodins Fürst nur deshalb möglicherweise Traditionalist, weil die Tradition seinen Zielen zuträglich ist,254 nicht aber, weil sie ihm an sich etwas bedeutete. Alte Gesetze 250 Die Möglichkeit, dem Fürsten ein Verfahren anzuhängen, beinhaltet natürlich nicht, daß man ihn im Falle eines Schuldspruchs zur Änderung seines Verhaltens zwingen könnte. Da in seiner Anwesenheit die Amtsgewalt aller Magistrate einschließlich die der Juristen ruht, wäre er nicht einmal genötigt, sich einem solchen Verfahren auszusetzen, ja er könnte sich zum Richter in eigener Sache machen. 251 J. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 8 - S. 232 (F 153). 252 Vergl. hierzu: J. Franklin: BOOin ... Absolutism ... S. 80 ff. Zur Frage, ob die Zustimmung durch die Stände die königliche Souveränität einschränkt, schreibt Franklin: ..... none of these rules ... is incompatible with absolute authority as Bodin understoOO it. Engagements ente red into by incumbents are binding solely through the law of nature and not by consent of the community. Where consent is used to ensure the obligation of successors, it is pennissive and corroborative rather than restrictive, and the right corroborated is that of the creditor, not of the community. The successor finally, is not directiy or immediately obligated by any act of the community or even by the act of his predecessor. He is obligated only indirectiy by his "natural" duty to do justice and maintain the public credit. At no point, therefore, does the public have a right to act against hirn." (ebenda, S. 84). 253 Wie nahe BOOin hier Machiavelli kommt, zeigt auch seine These über die Bedeutung der Familienreputation für den einzelnen: ..... (Staaten) ändern sich ... durch die Tyrannenherrschaft des Fürsten dann nicht, wenn er der Sohn eines tugendhaften Vaters ist. Denn seine Herrschaft gleicht einem mächtigen Baum, der ebensoviele Wurzeln wie Zweige hat. Ein neuer Fürst ohne Vorgänger dagegen gleicht einem ohne Wurzeln in die Höhe geschossenen Baum, der dem ersten ungestümen Windstoß zum Opfer fällt, so daß, wenn der Nachfolger und Sohn eines Tyrannen in die Fußstapfen des Vaters tritt, er selbst und seine Herrschaft große Gefahr laufen, sich zu verändern. Denn sein Sohn besitzt keinen Garanten und ist gleichennaßen wegen seines eigenen schlechten Lebenswandels wie wegen desjenigen seines Vaters unbeliebt." (J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV Kap. 1 - S. 34 (F 515». 254 Mit R. Polin läßt sich sagen: "(Les) coutumes fondamentales imposent au Souverain des obligations que les lois positives ne sont pas capables, en tant que telles, de lui imposer. C'est le but
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beispielsweise erhalten sich nahezu von selbst, während sich neue oft nur mit großer Mühe durchsetzen lassen. 255 Wenn Bodin das komplizierte Geflecht historisch gewachsener Rechte so weit ummodeln will, daß es von einem Hindernis zu einem Instrument souveräner Herrschaft wird, konzentriert er sich auf die Institutionen, die der souveränen Herrschaft gefährlich werden können, das heißt, auf die ständischen oder regionalen Sonderrechte. Das Gewohnheitsrecht dagegen kann ihm nur nutzen, da es die Substitution von Zwang durch Konsens in vorbildhafter Weise ermöglicht: "Gewohnheitsrecht breitet sich ... ganz gemächlich und ohne Zwang aus, während das Gesetz auf Grund von Macht und oftmals gegen den Willen der Untertanen befohlen und verkündet wird, weshalb Dionysius Christosomus einmal das Gewohnheitsrecht mit einem König, das Gesetz mit einem Tyrannen verglichen hat. "256 Es ist natürlich zu fragen, ob das Gewohnheitsrecht tatsächlich ganz ohne Sanktionen auskommt. Da diese aber von der Gemeinschaft ausgeübt werden, kann es den Fürsten allemal entlasten. 257 Ein anderer Rechtsbereich, in dem es nützlich ist, konservativ den Regeln zu folgen, solange diese der Souveränität nicht gefährlich werden, ist der Bereich des Verfassungsrechts. Dort seien Änderungen ebenso gefährlich wie der Versuch, "an den Grundfesten oder Eckpfeilern zu rütteln, die die Last eines Bauwerkes tragen". Das Bauwerk leide in einem solchen Falle größeren Schaden, als ihm der neue Bauteil nützt. 258 Was für die Verfassungsgesetze gilt, ist in abgeschwächter Form für alle überkommenen Normen gültig, je länger sie in Kraft sind, desto weniger Aufwand ist erforderlich, ihre Einhaltung durchzusetzen. Deshalb wird der kluge Fürst allem Alten mit dem größten Respekt gegenüberstehen, und er wird die meme de la Rlpub/ique c'est-a-dire sa propre conservation, qui oblige le Souverain et fait de luimeme moyen propre de son accomplissement. Pour se conserver, il doit conserver." (R. Polin: "L'ldee de Republique selon Jean Bodin" - in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. -
S.355).
255 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 3 - S. 83 (F 574 f.). 256 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 10 - S. 293 (F 222); vergl. hierzu auch: "All customs and customary law becorne valid only by the command of the sovereign who confinns them. Thus Bodin dearly states ... that laws and custorns depend upon the arbitrary will of hirn who possesses the highest power." (e. J. Friedrich: The Philosophy of Law in Historical Perspective. Chicago: 1963. - S. 59). 257 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 10 - S. 293 (F 222). 258 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 1 - S. 83 f. (F 575); Achille de Harlay, Präsident des Pariser Parlaments, ennahnt 1586 Heinrich den Drillen: "Nous avons, Sire, deux sortes de loix, les unes sont les loix et ordonnances des rois, les autres SOllt les ordonnances du royaume, qui sont immuables et inviolables, par lesquelles vous etes monte au throsne royal. Si devez-vous observer les loix de l'Estat du royaume, qui ne peuvent estres violes sans revoquer en doute votre propre puissance et souverainere." (zit. in: Denis Richet: La France Modeme: L'Esprit des Institutions. - S. 28) Interpretiert man diese Aussage nicht juristisch, wie sie gemeint ist, sondern pragmatisch, so steht Bodin durchaus nicht allein.
4.3. Der Appell Bodins an den König
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bestehende Ordnung nur ändern, wenn diese Änderung dem Gemeinwesen mehr nützt als schadet. Immer gelte jedenfalls, daß das Wohl des Volkes höchstes Gesetz sei. 259 Neben der Beherzigung der Tradition ist die Anpassung der eigenen Politik an in der Gesellschaft bereits vorhandene Unterschiede in Macht und Einkommen, eine weitere wichtige Möglichkeit zur Minimierung notwendigen Zwanges. Ganz im Sinne Machiavellis kommt auch Bodin zu der Überzeugung, daß Monokratien Ungleichheit brauchen, während Demokratien ein großes Maß an Gleichheit zur Voraussetzung haben. Da es Unterschiede in den realen Fähigkeiten der Menschen gibt, auf das Staatswesen Einfluß zu nehmen, ist der Fürst gut beraten, denjenigen weiter entgegenzukommen, die mehr Macht haben, ihm zu schaden, und sie diese Macht auf Kosten jener ausüben zu lassen, die sich mangels Kapital nicht wehren können. Damit wird er, sofern sie nicht zu Blutsaugern werden, umso besser fahren, als das individuelle Interesse von Untertanen um so mehr mit der Staatsraison zusammenfällt, je höher sie in der Hierarchie angesiedelt sind. Bodin meint: Vertretbar ist '" der Standpunkt, die Souveränität nur den besonders Wohlhabenden, als den anl meisten an der Erhaltung des Staates als solchen Interessierten, anzuvertrauen. Ohne Zweifel haben die besonders Reichen daran größeres Interesse; hinzu kommt auch, daß sie eine größere Last tragen als die Armen, die, weil sie ja nichts zu verlieren habe, die Regierenden notfalls im Stich lassen.260
Was der konservative Jurist hier nur als ein Argument für die Aristokratie formuliert, nimmt er später als Empfehlung an den König wieder auf: "Ein weiser König muß ... bei der Regierung seines Reiches auf Harmonie achten und mit Feingefühl eine Mischung aus Adeligen und Nichtadeligen, Reichen und Armen anstreben, bei der dennoch der Adelige gegenüber dem Nichtadeligen leicht im Vorteil sein sollte .... "261 Der Souverän ist also gerecht, wenn er den "Großen" mehr einräumt, ohne dabei aber die "Kleinen" gegen sich aufzubrin259 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. I - S. 25 (F 504). 260 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd 2. - Buch VI - Kap. 4 - S. 406 (F 951 f.). 261 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 6 - S. 495 (F 1054); zu der Frage, wer
im Staate die höchsten Ämter unter dem Souverän einnehmen soll, vergi. vor allem: Jose Manuel de
Bemardo Ares: "Les Corps Politiques dans la "Republique" de Jean Bodin". - S. 31-41 in: Jean Bodin - Actes du Colloque Interdisciplinaire d'Angers 24-27 Mai 1984. - Angers: 1985.2 Bde. - Bd. 1; in der Diskussion zu seinem Beitrag spezifiziert Bemardo Ares zudem: "[ ... ) pour le penseur angevin, le mot 'aristocracie' est plus ample que le terme de 'noblesse', car il englobe non seulement la naissance mais aussi les richesses et les qualites des hommes les plus illustres. Mais ce concept d"aristocracie' comme 'pouvoir des meilleurs' doit etre compris dans le cadre de son propre contexte historique et dans ce cas,les 'meilleurs' sont tous les 'puissants socio-economiques parlant', qui. bien qu'ayant perdu leur autonomie politique - la souverainete est detenue exc1usivement par le prince utiliseront le pouvoir public pour la defense de leur situation economique privilegiee et de leur incontestable preeminence sociale." (ebenda, Bd. 2. - S. 543) Damit ist der Platz, den der Souverän seinen verschiedenen Untertanen in einer "harmonischen Ordnung" zuweist, ziemlich exakt an Vermögen im eingangs defmierten Sinne geknüpft. Ein Vorgehen, das in bezug auf die Aristokratie dieses Vermögen noch steigert.
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gen. 262 Dies kann er gefahrlos tun, wo die Kleinen für eine Mißachtung ihrer Rechte weniger sensibel sind oder doch zumindest weniger gut in der Lage, sie abzuwehren. So wie Machiavellis "pseudo-utilitaristische" Politik nur die Interessen derer berücksichtigte, die seinem Fürsten nutzen oder schaden konnten, so schreibt Bodin diese Schieflage im Rechtssystem fest und verstärkt die ohnehin vorhandene Tendenz in der aktuellen Kräftetopographie. Bodin schlägt im wesentlichen drei Strategien vor, um offenen Zwang durch Konsens zu ersetzen. Zum einen rät er seinem Fürsten, an Traditionen festzuhalten, wo immer dies der staatlichen Einheit nicht schadet. Zum zweiten fordert er seinen Fürsten auf, sich den tatsächlichen Kräfteverhältnissen anzupassen, um die "Akzeptanz" von Herrschaft zu erhöhen. Der dritte Weg ist der, die Untertanen, so weit es geht, an der Regierung zu beteiligen. 263 So soll ihnen die Sicherheit vermittelt werden, daß der Staat tatsächlich für ihre Interessen arbeite. Solange der Souverän sich die letztinstanzliche Entscheidung vorbehält und dies seinen Untertanen hinreichend klar macht, kann es nur nutzen, möglichst aus allen Bevölkerungskreisen die Fähigsten auszuwählen, um mit ihrer Hilfe zu herrschen.2 64 Um die Untertanen mit der Staatsgewalt zu versöhnen und so die eigene Sicherheit zu steigern, ist die Optimierung der Herrschaft aber nur ein Weg. Neben der Beeinflussung der Meinung der Untertanen über ihren Staat macht es Sinn, auch andere Bestandteile ihrer Umwelt in einer Weise zu verändern, die die Bereitschaft zum Gehorsam fördert. Davon soll im folgenden die Rede sein. Zwangsmittel sind knapp. Aber selbst wenn man versucht, so sparsam wie möglich mit ihnen umzugehen, wird man nicht ganz ohne sie auskommen. Wichtiger ist es aber, die Menschen systematisch in Situationen zu bringen, daß ihnen Handlungen, die der staatlichen Ordnung schaden, gar nicht erst in den Sinn kommen. Auch hier ist Bodin ausgesprochen realistisch. Wenn er beispielsweise beklagt, daß Soldaten "die armen Untertanen mit zügelloser Will262 Dies war olmehin gängige Praxis. Vergl: E. Hinrichs: "Das Fürstenbild BOOins ... S. 294; außerdem schließt sich Bodin mit dieser Idee durchaus an klassische Modelle an. So läßt Cicero Scipio das von Servius eingeführte Klassenwahlrecht mit den Worten kommentieren: "So wurde keiner vom Stimmrecht ausgeschlossen, aber deJjenige galt doch bei der Abstimmung am meisten, der am denkbar besten Zustand der Staates (als Besitzender) das größte Interesse hatte. (Cicero: "Über den Staat" in: Staatslehre, Staatsverwaltung. - Buch H. S. 65. 263 Bodin schreibt: " ... nichts (hat) Staaten so sehr in den Untergang getrieben ... wie die Entkleidung von Senat und Magistrat von ihrer ordentlichen gesetlnläßigen Gewalt, um alle Macht in die Hände der Inhaber der Souveränität zu legen. Denn je beschränkter (abgesehen von den wahren Merkmalen der Souveränität) souveräne Macht ist. desto beständiger ist sie." (1. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 6 - S. 132 (F 632». 264 Franklin schreibt dazu: "For Bodin, therefore, the Estates are a desirable and even indispensable institution. So long as it is understood that they do not have to be assembled in order for the king to act, and that there is no obligation on the king to give a satisfactory reply to thei r petiti· ons, there is no reason for a king to overlook them, and he does so only at his peril." (J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 101).
4.3. Der Appell Bodins an den König
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kür plündern, ausrauben und brandschatzen", so bricht er nicht in moralische Entrüstung aus, sondern kommt schlicht zu dem Schluß: "Um ... diesen Übelständen zu begegnen und die militärische Disziplin einigennaßen wiederherzustellen, hilft nichts anderes, als das Heer zu bezahlen. "265 Auch bei der Frage, ob das Eigentum von Verurteilten vom Staat eingezogen werden soll oder nicht, fragt Bodin ausschließlich danach, was zweckmäßig ist, und nicht danach, was irgendeinem Rechtskanon entspräche. Einerseits meint er, daß "der stärkste Beweggrund, der schlechte Menschen von der Begehung von Schandtaten abhält, die Angst (ist), ihre Kinder könnten an den Bettelstab kommen, wenn ihr Vennögen beschlagnahmt wÜfde."266 Andererseits aber werden die Nachkommen solcher Verbrecher aus Perspektivlosigkeit leicht selbst zu welchen. "So kommt es," schließt er, "daß die Strafe, die nicht allein dazu dient, Verbrechen zu rächen, sondern auch die Zahl der Rechtsbrecher zu verringern und die Guten zu schützen, das genaue Gegenteil bewirkt",267 und er empfiehlt, aus dem Vennögen des Übeltäters die Opfer zu entschädigen und die Gerichtskosten zu bezahlen, Erbgüter aber nicht anzutasten. 268 In einem anderen Zusammenhang wieder rät er dem Fürsten, lieber wohlhabende Bürger zur Übernahme von Ämtern und Würden zu bewegen, da diese ihres Wohlstandes wegen vennutlich weniger bestechlich seien. 269 Wichtiger aber als diese einzelfallbezogenen Vorschläge zum Umgang mit der latenten Bereitschaft der Menschen zum Regelverstoß ist die Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse in großem Stil. In diesem Zusammenhang spricht Bodin vor allem zwei Bereiche an. Zum einen rät er seinem Fürsten, Parteiungen in seinem Staat nach Möglichkeit zu verhindern, und zum andern empfiehlt er, die gesamte Gesellschaft sozial ungleich zu gestalten. Beide Strategien sollen in eine Ordnung einmünden, die durch "harmonische Gerechtigkeit" gekennzeichnet ist, einen Zustand, in dem jeder bekommt, was ihm zusteht. Vom wichtigsten Instrument zur Erfüllung der ersten Aufgabe, von der Einheitskirche, war schon die Rede. Aber auch im säkularen Bereich ist es wichtig, daß die Gesellschaft nicht in Fraktionen auseinanderfällt, nicht nur, weil diese allzuleicht in Bürgerkriegsparteien pervertieren, sondern auch, weil Diskrimination oft die Folge ist. 27o Wenn aber Fraktionsbildung nicht zu verhindern ist, so sollte der König zumindest darauf achten, die Spaltung in zwei Blöcke zu verhindern. 271 265 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 2 - S. 361 (F 898 f.). 266 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 1 - S. 208 f (F. F723); und in einer deutlich an Machiavelli erinnernden Wendung fährt er fort: "Für die Behauptung, daß Kinder, die um das ganze [elterliche] Vennögen gebracht werden, nach Rache dürsten, spricht weniger dagegen als dafür, daß sie es noch schlimmer treiben werden, wenn sie Vennögen, Mittel und Macht besitzen, sich zu rächen. (ebenda). 267 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch V - Kap. 3 - S. 207 (F 721). 268 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch V - Kap. 3 - S. 209 (F 724). 269 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 8 - S. 566 (in L aber nicht in F.).
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Überhaupt ist die Frage nach der Selbstorganisation der Untertanen bedeutsam. Der Tyrann isoliert seine Untertanen nach Kräften voneinander, die Demokratie läßt mit der Forderung nach Freiheit jeglichen Zusammenschluß zu. Ein legitimes Königtum, so folgert Bodin, bedarf also "zu (seiner) Stabilität eines ausgewogenen Verhältnisses sorgfältig durchorganisierter ständischer, korporativer und gemeinschaftsartiger Organisationen. "272 Mit der staatlichen Kontrolle der Gemeinschaften kann verhindert werden, daß aus ihnen staatsfeindliche Aktivitäten hervorgehen, ohne ihnen andererseits ihre notwendige Funktion für Kommunikation und Kooperation zu nehmen. 273 Bestes Mittel aber, die Spaltung der Gesellschaft zu verhindern, ist es für Bodin, sie konsequent hierarchisch zu gestalten. Auch hier scheint Machiavellis Vorbild durch. So sehr eine Demokratie Gleichheit braucht, um die Machtergreifung einzelner zu verhindern, so sehr ist ein einzelner Herrscher auf Ungleichheit angewiesen. Dies gilt um so mehr, da jeder Staat nur bedingt über Normen regiert werden kann. Damit die Befehle des Souveräns unverfälscht durch die Hierarchie bis unten gelangen, bedarf es einiger Zwischenstufen. Sähe sich der Souverän einer großen Zahl Gleicher gegenüber, müßte er alle persönlich anweisen. Jede Delegation von Macht an Gleiche, um ihresgleichen Befehle zu geben, wäre problematisch. Eingedenk der oben angedeuteten Schwierigkeiten, in einer solchen Gesellschaft zu einem Konsens zu kommen, ist es nicht überraschend, wenn Bodin konstatiert: Zu behaupten, Gleichheit sei der Nährboden der Freundschaft, hieße die Einfältigen hinters Licht führen. Denn es steht außer Zweifel, daß es nie größeren Haß und größere Feinschaft ge· ben wird als Haß und Feindschaft unter Gleichen .... Der Arme, der kleine Mann, der Schwache dagegen fügt sich und gehorcht aus freien Stücken dem Großen, Reichen und Mächtigen, weil er sich von ihnen Hilfe und Vorteile erhofft. 274
Wo die Untertanen sozial gestaffelt sind, verfügt der Mächtige zusätzlich zu der, ihm vom Fürsten übertragenen Befehlsgewalt über Autorität. Sei es, daß er besser ausgebildet ist, sei es, daß er mit Prachtentfaltung Eindruck schinden oder mit seinen Gewaltmitteln leise drohen kann. Hat der Fürst dann die wenigen Mächtigen gut unter Kontrolle, wird es ihm nicht schwer fallen, seinen Staat einig und geschlossen zu erhalten. Das schließt nicht aus, daß er auch die 270 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch 1II - Kap. 8 - S. 567 (in L aber nicht in F); siehe auch: "Curtius: Nothing is more destructive in astate than for citizens to be split in two factions, whether the conflict is about laws, honors, or religion. If however, there are many factions, there is no danger of civil war, since the groups, each acting as a check on the other, protect the stability and harmony ofthe state." (J. Bodin: Colloquium ... - Buch IV. - S. 151 (Orig. S. 118». 271 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 8 - S. 568 (in L aber nicht in F). 272 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 7 - S. 543 (F. 499). 273 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III . Kap. 7 - S. 540 (F. 495 f.). 274 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch V - Kap. 2 - S. 193 (F 704); vergI. hierzu auch: E. Hinrichs: "Das Fürstenbild Bodins ... S. 293 f.
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Kleinen schützt, wie es Machiavelli vorschlägt. Was es diesen bieten kann, wird noch zu zeigen sein. Hier geht es nur darum, daß soziale Ungleichheit die Herrschaft erleichtert. 275 Daß sie zudem durchaus gerecht sein kann, bedarf kaum noch der Erwähnung: ... (es) läßt sich sagen, daß das Recht bestimmen kann, daß gewisse Bürger von allen Lasten, Steuern und Abgaben befreit sind, die andere zu tragen haben, wofür unsere eigenen Gesetze eine Fülle von Beispielen bieten. So ist z. B. eine Gesellschaft ja auch dann rechtsgültig, wenn einer der Gesellschafter zwar am Gewinn teilhat, nicht aber auch am Verlust. Daher kommt die fast in ganz Europa übliche Einteilung der Bürger in drei Stände, nämlich in Geistlichkeit, Adel und Volk. 276
In jedem Falle ist die soziale Hierarchie vollständig unabhängig von den individuellen Qualifikationen der Inhaber der verschiedenen Ebenen. So wie die Souveränität an sich nützlich war, bevor noch nach der Qualität ihres Inhabers gefragt worden war, so ist jetzt die soziale Hierarchie an sich nützlich, unabhängig davon, ob in der Tat die "Edelsten" oder "Besten" ihre oberen Ränge füllen. Aber die real vorhandenen Unterschiede zwischen den Menschen liefern Bodin noch ein weiteres Argument für die Hierarchie: Nur wo die Menschen nicht im Wahn demokratischer Gleichmacherei alle Unterschiede verwischen, kann der Souverän Würden nach Verdienst verteilen und so vielleicht sogar den besonders Tugendsamen die materiellen Voraussetzungen zur Kontemplation des Guten und Gerechten ermöglichen. 277 Setzt man die Idee der Fähigkeit mit Bodins Konzept der harmonischen Gerechtigkeit in Beziehung, das heißt mit der Idee, daß der kluge Fürst die rechte Mischung aus "Edlen" und "Fähigen" anstreben solle, so hat man einen guten Ansatz, seine Übergangsposition zwischen bürgerlichem und feudalistischem Weltbild zu verdeutlichen. 278 Hilft Ungleichheit in der Monokratie auch, den Frieden zu erhalten, so dürfen doch keine Exzesse vorkommen. So nützlich die soziale Staffelung an sich ist, so klar ist für Bodin auch, daß "(die) Hauptursachen von Unruhen und für Veränderungen eines Staates ... übermäßiger Reichtum in den Händen einiger Unter275 Richelieu wird für diese Idee noch drastischere Worte finden: "Tous les politiques sont d'accord que, si les peuples etoient trop a leur aise, il seroit impossible de les contenir dans les regles de leur devoir. Leur fondement est qu'ayant moins de connaissance que des autres ordres de l'Etat, beaucoup plus cultives ou plus instruits, s'ils n'etoient retenus par quelque necessite, difficilernent demeureroient-ils dans les regles, qui leur sont prescrites par la raison et par les lois." (Richelieu: Testament Politique. - Paris: 1947. - Teil!. - Kap. 4/5. - S. 253). 276 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 6 - S. 186 (F 100). 277 Vergl. hierzu auch: J. Dennert: "Bemerkungen zum politischen Denken Jean Bodins" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 215. 278 Erst dann überzeugt ein Argument, daß Bodin im Methodus vorbringt: ''[ ... 1 si l'on considere l'extreme inegalite qui se rencontre entre les hommes, entre leurs facultes, on se demande qui pourrait bien realiser entre eux une repartition egale du pouvoir, des biens, des honneurs et des magistratures? Autant vaudrait donner meme nourriture et vetements identiques aux enfants, aux adultes, aux vieillards et aux athletes sous couleur de conserver entre eux l'egalite." (1. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 6 - S. 412).
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tanen und höchste Annut der Masse (sind)."279 Die Mittel, die ihm zu seiner Verhinderung geeignet erscheinen, sind zum einen die entsprechende Modifikation des Erbschaftsrechts,280 sowie das eher konventionelle Mittel der KontroUe von Zinswucher. 281 Um die aktive Unterstützung der "kleinen Leute" zu erwerben, hat der Fürst allerdings mehr zu tun. Worin dieses "Mehr" besteht, ist im wesentlichen der Gegenstand von Bodins Kritik an despotischer Herrschaft. 4.3.2. Der Despot geht in der Herrschaft nicht weit genug
Bodins Vorschläge an den Fürsten sind bis hierher ganz im Rahmen dessen geblieben, was auch Machiavelli im Principe empfiehlt. Wo er von positiven Gesetzen spricht, sind diese nicht mehr als langfristig angelegte Befehle, die der Fürst im eigenen Interesse nur sehr vorsichtig ändern sollte. Die Untertanen haben keinerlei Rechtsansprüche im eigentlichen Sinne des Wortes, immer müssen sie darauf gefaßt sein, daß Nützlichkeitserwägungen den Fürsten zum Umdenken bewegen. Er behandelt sie "wie Sklaven", d. h. ohne ihnen unantastbare Rechte zuzugestehen. Ihr Wohlergehen hängt ganz davon ab, ob es dem Fürsten nützt. Im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen Bürgern und Sklaven stellt Bodin schlicht und drastisch fest: "... (es) war ... schon immer gemeinsame Überzeugung aller Völker, daß der Sklave nicht Bürger ist und rechtlich als ein Nichts anzusehen ist."282 Es ist genau dieser Unterschied zwischen rechtlosen "Sklaven" und naturrechtlich individuell geschützten "Bürgern", der für Bodin die königliche von der despotischen Herrschaft trennt. 283 Damit ist die rechtliche Verpflichtung des Souverän seinen Untertanen als Individuen gegenüber das revolutionär Neue bei Bodin. Für Machiavelli ist die Gesellschaft noch derart von Gewalt durchsetzt, daß sein Fürst praktisch keine Möglichkeit hat, allen Untertanen individuelle Rechte zu garantieren. Erst mit der Schaffung eines funktionierenden GewaItmonopols und der Entwicklung einer effizienten Administration wird der Blick frei auf eine Gesellschaft, in der Gewalt nur noch im Ausnahmefall eine Rolle spielt und in der Bürger mit staatlicherseits garantierten Rechten aufeinandertreffen. Zwar ist auch Bodins Frankreich noch weit von einer solchen funktionierenden Staatsmaschine entfernt,284 aber der Advokat königlicher Zentralmacht kann sie zu279 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch V - Kap. 2 - S. 191 (F 702). 280 J. Bodin: Sechs Bücher. .. - Bd. 1 - Buch III - Kap. 2 - S. 202 (F 71Sff.». 281 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch V - Kap. 2 - S. 196 (F 707). 282 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 6 - S. 159 (F 70). 283 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch" - Kap. 2 - S. 337 (F 272 f.). 284 Hinrichs faßt zusammen: "Die französische Renaissancemonarchie war noch zur Zeit
4.3. Der Appell Bodins an den König
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mindest als Belohnung für die Stärkung der zentralistischen Staatsgewalt in Aussicht stellen. 28s Wenn er demnach in seinem Appell an den Adel argumentiert. man solle sich doch im eigenen Interesse dem König unterwerfen, so stellt er jetzt zusätzlich allgemeine Rechtssicherheit in Aussicht. mit allem, was an Abrüstungsvorteilen damit verbunden ist. In seinem Appell an den Fürsten wirbt Bodin für seine Idee wieder mit dem Eigennutz. Wenn der Despot über seine Untertanen wie über Sklaven herrsche, so gelte doch das Sprichwort "Soviele Sklaven - soviele Feinde"286, was Bodin für freilich nicht so absolut gilt, wie es hier scheint. In "seiner" Region mag der Despotismus ganz im Gegenteil ausgesprochen erfolgreich sein,287 für Frankreich, ein Land, das sich schon seiner geographischen Lage wegen für einen "Rechtsstaat" besonders eignet, sei es aber allemal zweckmäßiger, die Untertanen nicht wie Sklaven zu behandeln. Um die Monokratie vor diesem Hintergrund zu perfektionieren, nicht nur im Hinblick auf ihre Stabilität, sondern auch im Hinblick auf die möglichen höheren Ziele menschlicher Gemeinschaft, definiert Bodin das Naturrecht in einer Weise, die dem Herrscher, sofern er denn ein wirklicher König sein will, zusätzliche Beschränkungen auferlegt. Indem er die Interpretation einer "guten Ordnung" seiner doch sehr machiavellistischen Staatsphysik hinzufügt, will er zweierlei erreichen. Zum einen will er den Untertanen zusätzliche Bodins ein weitgehend dezentralisierter Staat. Die königliche Bürokratie wuchs zwar ständig, war aber nicht in der Lage, eine straff durchrationalisierte Verwaltung aufzubauen. Viele Beamte und Institutionen, besonders in den von Paris entfernt gelegenen Regionen, hatten zudem die Neigung, sich so weit wie möglich von der Krone zu lösen. Eine Fülle von Funktionen war vom König in der Form von Privilegien vergeben und in das Patrimonium ihrer Inhaber eingegangen. (E. Hinrichs: "Das Fürstenbild Bodins ... S. 292). 285 Es mußte Ersatz gefunden werden für die Vielzahl partikularer Verträge und Abmachun· gen, die der König mit den verschiedensten Städten, Regionen, Gemeinschaften oder Individuen getroffen hatte und die ernsthaft seine Bewegungsfreiheit beschränkten. Siehe hierzu: D. Richet: La France Modeme: L'Esprit des Institutions. - S. 34. 286 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I . Kap. 5 - S. 155 (F. 65); vergl. auch: Buch I Kap. 6 - S. 148 ff. (F 56fO; auch dieses Sprichwort ist ein gängiger Topos in der Auseinandersetzung der Zeit. So vergl. St. J. Brutus (p. du P1essis Momay): "Strafgericht gegen die Tyrannen" in: J. Dennert (Hrsg.): Beza, Brutus, Hotman - Calvinistische Monarchomaehen. - Opladen: 1968. - S. 143 (3. Untersuch.). 287 Einwohner verschiedener Breitengrade regeln ihre sozialen Belange auf unterschiedliche Weise_ Bodin meint dazu: "Bei sorgfältiger Betrachtung der Wesensart des Südländers, des Nordländers und der Bewohner der mittleren Regionen wird man feststellen, daß ihre jeweilige Gemütsart dem Menschen im jugendlichen Alter, im Greisenalter und in der Lebensmitte und den ihm jeweils zugeschriebenen Eigenschaften entspricht. Jeder der drei. Menschenschläge macht denn auch bei der Lenkung des Staatswesens [mit Vorliebe] von denjenigen Fähigkeiten Gebrauch, die ihm am meisten zu Gebote stehen: der Nordländer bedient sich der Gewalt, der Bewohner der mittleren Regionen folgt der Gerechtigkeit, der Südländer der Religion. (J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 Buch V - Kap. 1 - S. 178 (F 687)) Zur Frage der Stabilität von Despotien schreibt Bodin: ..... In der despotischen Monokratie beten ... die Untertanen als geborene Sklaven die Majestät ihres souveränen Herrn an und halten seinen Willen für ein Naturgesetz." (Bd. 2 - Buch IV - Kap. 4 - S. 103 (F 599)) Er widerspricht sich deshalb auch nicht, wenn er an verschiedenen Stellen seinen Respekt vor den stabilen Despotien des Orients bezeugt (Bd. 1 - Buch 11 - Kap. 2 - S. 342 (F 278 f.) sowie: Bd. 2 - Buch IV - Kap. 4 - S. 103 (F 599).
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4.1ean BOOin
Sicherheit gegen kurzsichtigen Machiavellismus vermitteln, und zum andern will er durch das Einführen überirdischer Ziele staatlicher Herrschaft die Legitimation des Staates bei ihnen stärken. Es ist wichtig, den Untertanen mit der Bereitstellung von Rechtsräumen dauerhaft Sicherheit zu garantieren. Bodin setzt wie Machiavelli den Hebel bei den unmittelbaren materiellen Interessen der Menschen an, er setzt ihn lediglich von der anderen Seite her an. Will Machiavelli seinen Mitmenschen durch Bedrohung ihrer individuellen Machtbasis Wohlverhalten abpressen, so will Bodin gerade diese Machtbasis schützen, um ihnen die Notwendigkeit zu nehmen, sich die völlige Handlungsfreiheit des Naturzustandes vorzubehalten. Sein König bietet ihnen im eigenen Interesse einen stabilen Handel von Schutz gegen Gehorsam an: Es ist ... die Dankbarkeit und der Gehorsam des freien Untertanen gegenüber seinem souveränen Fürsten [einerseits) und die Gewährung von Schutz, Gerechtigkeit und Verteidigung durch den Fürsten gegenüber den Untertanen [andererseits) das, was im Kern den Bürger vom Fremden unterscheidet. Alle übrigen Unterschiede sind zufällig und nebensächlich.288
Daß der Fürst im eigenen Interesse Frieden und Eintracht stiftet, wird bei Bodin zu einer vom Recht geforderten Aufgabe und kann so, als Argument an die Untertanen gerichtet, eine neue Quelle politischer Stabilität öffnen. Aber noch eine andere Parallele zu Machiavelli tut sich auf. Dieser empfahl dem Fürsten, sich mit den armen und für sich genommen relativ ungefährlichen Massen gegen die Reichen zu verbünden. Bodins Garantie individueller Freiheitsrechte verstärkt dieses Bündnis, indem er es auf juristischer Ebene wiederholt. Da er die Reichen aus OpportunitätsgTÜnden ohnehin bevorzugt, ist die Gewährung von Rechten, die individuelle Sicherheit bieten, ein wichtiges Mittel, um die Armen bei der Stange zu halten. Sie ist das "einigende Band", das auch die Schwachen mit dem Staat versöhnen kann. Machiavellis Zeitgenossen hätten ein entsprechendes Angebot noch als Versuch sophistischer Augenwischerei abgetan. Bodin, der wie gesagt in einer "tugendhafteren" Welt lebt, kann, zumindest in Grenzen, auf weniger ungläubige Reaktionen hoffen. Sein Fürst ist gut beraten, wenn er die Keime von Vertrauensbildung, die über die Jahrhunderte gewachsen sind, nicht mutwillig niedertritt. Zur Schaffung dieses Vertrauens soll er statt dessen dem einzelnen eine umfassende Privatsphäre zusichern, einen Bereich, in den er nur im Notfall eindringt. Mit der Unterscheidung von "Privat" und "Öffentlich", die er gleich zu Beginn der Republique einführt, befreit Bodin den Souverän zudem von der Aufgabe, den Interessen seiner Untertanen im einzelnen gerecht zu werden. Wichtigster Bestandteil der von Bodin konzipierten Privatsphäre ist die Unversehrtheit von Leib und Leben. Versichert der Souverän seinen Untertanen glaubhaft, daß er sie nicht der Staatsraison opfern wird, kann er sich zusätzliches Vertrauen sichern, zusätzliches Kapital, das ihm bei Bedrohungen von in288 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 6 - S. 180 (F 93).
4.3. Der Appell Bodins an den König
225
nen oder außen zustatten kommen kann. Da der Nutzen eines "Menschenopfers" für den Bestand der Herrschaft den Schaden nicht aufwiegt, den es im Bewußtsein der Untertanen anrichtet, ist es nur sinnvoll, ausdrücklich darauf zu verzichten. 289 Die Garantie körperlicher Unversehrtheit der Individuen ist aber nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Rechtsgarantie, die die Familie, das Atom, aus dem Bodins Staat zusammengesetzt ist, vor Beschädigungen schützen soll. Bodin entwickelt die zentrale Stellung der Familie 290 in seiner politischen Konzeption in Anlehnung an Aristoteles' Unterscheidung von Oikos und Polis und der Abgrenzung der privaten Haushaltsführung von der Politik. 291 Die hervorgehobene Stellung der Familie macht aus praktischer Sicht Sinn. Da der Fürst Familienmitglieder ohnehin nicht systematisch beeinflussen kann, ist es keine Einschränkung seiner im Prinzip unbeschränkten Gewalt, wenn er, abgesehen von Fragen des Staatschutzes,292 in die inneren Angelegenheiten der Familie nicht eingreifen darf. 293 Im Umgang mit seinen Untertanen hat es der Fürst letztlich immer nur mit Familienoberhäuptern zu tun. 294 Mit der Garantie eines individuellen Rechtsraums für das Familienoberhaupt schafft der Souverän seinen Bürgern einen Raum, der frei von der Drohung staatlicher Eingriffe ist. Mit der Ausübung der Polizeifunktion, die einen solchen Rechtsraum gegen die Eingriffe Dritter sichert, schafft er die Bedingungen dafür, daß die Beziehungen zwischen Bürgern deren freier Entscheidung überlassen bleiben. Um das Handeln der Mitbürger im eigenen Interesse zu beeinflussen, bleibt ihnen nur das Angebot positiver Handlungsanreize. 295 Mit 289 Hinrichs bemerkt zu Recht:" Der Gedanke der allgemeinen Rechtssicherheit und des sich daraus ergebenden Vertrauensverhältnisses zwischen dem Herrscher und den Untertanen ... ist .. . das Strukturprinzip der Monarchie Royale schlechthin." (E. Hinrichs: "Das Fürstenbild Bodins .. . 290; vergJ. hierzu auch: J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 85). 290 Allen schreibt dazu: "The "mesnage" • consisting essentially of man, wife and children together with such things as are necessary for its maintenance, is "une communaute naturelle". It is "natural" because it arises of necessity from the nature of man. It is not merely the primary but an inevitable form of human association .... it does involve property, since the family requires property to maintain its existence. Private property therefore or at least property attached to households, was to Bodin as primitive and natural as the family itself. This conception of the family is fundamental in his system."J. W. Allen: A History of Political Thought ... - S. 408. 291 Vergl. hierzu vor allem: 1. Dennert: "Bemerkungen zum politischen Denken Bodins" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. - München: 1973. - S. 215. 292 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 4 - S. 134 (F 40). 293 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 4 - S. 124 f. (F 29 f.). 294 Vergl. hierzu: "Verläßt das Familienoberhaupt die Familie, um sich öffentlichen Angelegenheiten zu widmen, so "heißt (er) nicht mehr Herr, sondern Bürger, worunter präzise gesagt nichts anderes zu verstehen ist als der freie Untertan, der der Souveränität eines anderen untersteht." 1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I - Kap. 6 - S. 158 (F 68). 295 Es ist kein Zufall, wenn Allen zu Bodins wirtschaftswissenschaftlicher Abhandlung, der Reponse au Paradox de Monsieur de Malestroiet, schreibt: "lt has been said that with this remarkable book Bodin founded political economy. It was perhaps the most original of all his contributi15 Hegmann
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4. Jean Bodin
dieser Konstruktion erreicht Bodin zweierlei. Zum einen entlastet er seinen Souverän von der Aufgabe, die LebensweIt seiner Untertanen im Detail zu beeinflussen. Zum anderen öffnet er sein System für ganz unterschiedliche Zielvorstellungen der Untertanen. Diese brauchen im Rahmen dessen, was zur Aufrechterhaltung des Staates notwendig ist, nicht mehr mit denen des Souveräns übereinzustimmen, um realisiert werden zu können. Letztlich wird das Eigentum nicht durch den Konsens zwischen Souverän und Untertan hervorgebracht, vielmehr macht es diesen Konsens erst möglich. 296 Auf diesem Hintergrund ist klar, warum Bodin das Gemeineigentum ablehnt. Man zerstöre, so schreibt er, mit der Ausrottung der Begriffe "mein" und "dein" die Grundlage jedes Staates. 297 Natürlich wäre es im Prinzip denkbar, daß sich ein Kollektiv per Mehrheitsbeschluß für die Nutzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen entscheidet, Aber zum einen brauchen die Bürger ein Mindestmaß an Ressourcen, um einigermaßen unabhängig in den entsprechenden Gremien mitreden zu können,298 und zum anderen wird Konsens über Fragen der Nutzung schwer zu erzielen sein, wo jede Nutzung des Gemeineigentums durch andere die eigenen Möglichkeiten direkt beschneidet. Auch hier ist die Frage, welche Nutzung gerecht, richtig, sinnvoll oder angemessen ist, derart schwierig zu beantworten, daß der Verdacht, der andere könne ganz andere Ziele verfolgen, Verständigung schnell unmöglich macht. Bodin schließt denn auch: Wenn man es für etwas Erstrebenswertes hält, Bürger und Gemeinwesen solchermaßen zu vereinen, daß daraus eine einzige Haushaltung und somit aus dem Staat eine einzige Familie wird, dann muß man ... die der Demokratie eigentümliche Pluralität der Oberhäupter beseitigen und einen Alleinhemcher wie ein echtes Familienoberhaupt einsetzen ...299
Gemeineigentum führt also direkt zur Despotie, wenn nicht gar zu Schlimmerem. Das Privateigentum dagegen und seine Garantie durch den Fürsten macht die Herrschaft für alle Untertanen zu einem positiven Faktor ihres Leons to the study of society.... No one, certainly, before hirn had seen so clearly the nature, or the importance, of economic processes or had dealt with them so definitely as a whole." (J. W. Allen: A History of Political Thought ... - S. 395). 296 Für die umgekehrte Sichtweise vergl.:W. Euchner: "Eigentum und Hemchaft bei Jean Bodin" in: ders.: Egoismus und Gemeinwohl. - Frankfurt/M.: 1973. - S. 62). 297 J. Bodin: Sechs Bücher. .. - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 403f. (F 948 f.). 298 " ... ein Sklave, der sich mit seiner Situation abfindet, wird untertänig und feige, weil er, wie man zu sagen pflegt, eine seNile Gesinnung hat. Freie Menschen dagegen, die Herr ihres Eigentums sind, wehren sich und sind schnell zum Aufstand bereit, wenn man sie unterdrücken oder ihnen ihr Eigentum nehmen will, denn sie sind mutig, in Freiheit aufgewachsen und nicht durch Knechtschaft verdorben." (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch 11 - Kap. 2 - S. 342 (F 278 f.» Diese Idee ist auch diejenige Ushers (0. Usher: Die ökonomischen Grundlagen der Demokratie. Frankfurt/M.: 1983. - 262 S.) sowie diejenige von Issing und Leisner: (0. Issing & W. Leisner: Kleineres Eigentum. - Göttingen: 1976. - 94 S.).
299 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 4 - S. 403 (F 948 f.).
4.3. Der Appell Bodins an den König
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bens. Das setzt allerdings voraus, daß die Untertanen ihres Eigentums tatsächlich sicher sein können. Der Fürst hat dazu nicht nur Raub und Diebstahl zu verhindern, auch er selbst hat sich vom Eigentum seiner Untertanen tunlichst fern zu halten. Vor diesem Hintergrund ist die aus heutiger Sicht erstaunlich anmutende Ansicht Bodins erklärlich, es lasse sich mit der Souveränität eines Königs vereinbaren, wenn es ihm untersagt sei, ohne die Zustimmung seiner Untertanen Steuern zu erheben. 300 Bodin sieht durchaus die Notwendigkeit einer soliden Finanzierung der öffentlichen Ausgaben. Allerdings unterscheidet er verschiedene EinnahmequeUen 301 und rät zur Erhebung von Steuern nur im Notfall. Da in der Regel gilt, daß der Fürst keine Steuern zu erheben braucht, wenn er sich der Einnahmen aus seinen Staatsdomänen zu bedienen weiß,302 kann er schreiben: Auf die ... Heranziehung der Untertanen sollte man niemals zurückgreifen, solange nicht alle anderen Methoden versagt haben und die Not drängt, dem Staat beizuspringen. Da Schutz und Verteidigung jedes einzelnen vom Wohlergehen der Allgemeinheit abhängen, hat jedermann allen Grund, sich dafür einzusetzen .. Zu diesem Zweck sind daher den Untertanen abverlangte Steuern und Abgaben völlig gerechtfertigt. 303
Da die Notstandsdefinition allerhand Mißbrauch erlaubt,304 soll der König sparsam sein, denn "... ein verschwenderischer Fürst muß zwangsläufig zum Unterdrücker und schließlich zum Tyrannen werden."305 Muß er dennoch einmal Steuern erheben, sollte er jene Dinge besteuern, "die nur dazu dienen, die Untertanen zu verwöhnen und zu verderben."306 Was die Ausgabenarten angeht, sieht Bodin keine prinzipiellen Grenzen. Alles, was dem Staat nützlich 300 ..... kein Fürst der Welt", so schreibt Bodin, "hat die Macht, dem Volk nach Belieben Abgaben aufzuerlegen. Er kann dies ebensowenig wie anderen ihr Eigentum nehmen." (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. I - Buch I . Kap. 8 - S. 221 (F 140». Allerdings schränkt er sofort ein: "Jedoch braucht ein Fürst, wenn die Not drängt, nicht erst die Versammlung der Stände oder die Zustimmung des Volkes abzuwarten, dessen Wohl von der Umsicht und Sorgfalt eines weisen Fürsten abhängt." (ebenda). 301 Es gibt nun sieben generelle Methoden der Erschließung von Finanzquellen .... Die erste Methode besteht in der Schaffung von Staatsdomänen. Die zweite besteht in Eroberungen, die dritte in Schenkungen von Freunden, die vierte in Tribut- oder Pensionsleistungen von Verbündeten, die fünfte stellt der Handel dar, die sechste besteht in der Heranziehung von Kaufleuten, die Waren einoder ausführen, die siebte besteht in Abgaben der Untertanen. (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 Buch VI - Kap. 2 - S. 324 (F 856». 302 J. Franklin: Bodin ... Absolutism ... S. 89 f. 303 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 . Buch VI . Kap. 2 - S. 343 (F 877 f.). 304 "So lesen wir z.B., daß der Tyrann Dionysius manchmal nur dazu nach einem Anlaß zum Krieg oder für Festungsbauten suchte, um sich einen Grund für die Auferlegung neuer Steuern zu verschaffen, die er dann, obwohl er sich mit dem Feind geeinigt oder die begonnenen Festungsbauten beendigt haUe, auch weiter erhob. Ginge es nach mir, so würde ich wünschen, dieser verabscheuenswürdige Einfall wäre zusammen mit seinem Etfinder begraben worden." (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 2 - S. 344 (F 878 f.». 305 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 2 - S. 363 f (F 901 f.). 306 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 2 - S. 352 (F 888 f.).
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4. Jean Bodin
sein kann, ist möglich, sofern Mittel dafür vorhanden sind: Die Finanzierung von Bildungseinrichtungen ebenso wie die Infrastrukturentwicklung, die Armenpflege 307 oder die staatliche Arbeitsbeschaffung. 308 Wichtigstes Mittel zur Machtstabilisierung ist also die Gerechtigkeit, eine Gerechtigkeit freilich, die durchsetzbar ist und nicht in guten Vorsätzen stecken bleibt. Nur Bodins spezifische Interpretation der "harmonischen Gerechtigkeit" wird beiden Erfordernissen gleichermaßen gerecht, sie besteht in einer Mischung aus den Transaktionen gleichberechtigter Tauschpartner und den nach den Verdiensten der einzelnen bemessenen Zuweisungen einer zentralen Autorität. 309 Was Bodin so unter arithmetischer und geometrischer Gerechtigkeit versteht, muß in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden, um eine stabile Ordnung herbeizuführen: Das göttliche Gesetz liefert uns ... den sicheren Beweis dafür, daß die wahre Gerechtigkeit und die beste Regierung diejenige ist, die sich von der hannonischen Gerechtigkeit leiten läßt. Zwar neigt die Demokratie mehr zur gesetzlichen Gleichbehandlung und damit zur arithmetischen Gerechtigkeit, während umgekehrt die Aristokratie mehr Züge der geometrischen Gerechtigkeit aufweist, doch sind alle beide, um bestehen zu können, gezwungen, Elemente des hannonischen Prinzips zu übernehmen. 310
Für Machiavelli hat, zumindest im Principe, der Begriff einer solchen Gerechtigkeit noch keinen Platz. Richtig ist es für ihn, den Untertanen gen au soviel und nicht mehr zu geben, als notwendig ist, um ihre Kooperation zu erkaufen. Was Bodin harmonische Gerechtigkeit nennt, ist letzten Endes ein Ausgleich zwischen dieser Sicht und derjenigen, die den einzelnen individuelle, 307 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 2 - S. 361 (F 899). 308 "Der noch größere und für die Erhaltung eines Staates allerwichtigste Nutzen dieses Vorgehens (öffentlicher Bautätigkeit H. H.) aber liegt darin, daß dadurch die beiden schlimmsten Übel in einem Staat, nämlich Beschäftigungslosigkeit und Annut, ausgemerzt werden" J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 2 - S. 362 (F 9(0); die Aufgabe des Staates ist durch seine Möglichkeiten begrenzt. nicht durch eine prinzipielle Beschränkung. Sofern der Souverän in der Lage dazu ist, soll er das Wohl seiner Untertanen nach Kräften fördern. Siehe auch: "Eine Freilassung aller Sklaven mit einem Schlag. wie sie der Kaiser in Peru angeordnet hat. lehne ich ... ab. Denn ohne Mittel zum Leben. ohne handwerkliches Können und verführt von den Bequemlichkeiten des Nichtstuns und der Freiheit weigerten sich die Sklaven zu arbeiten und verhungerten daher zum größten Teil. Daher gilt es. ihnen. bevor man sie in die Freiheit entläßt. ein Handwerk beizubringen." (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Buch I - Kap. 2 - S. 156 (F 67».
309 Dabei ist die hannonische Gerechtigkeit weder eine Erfindung Bodins. noch ist er in seiner Zeit der einzige, der sie vertritt. Sie geht vielmehr auf Plato und Cicero zurück und wird von F. Hotman zustimmend zitiert.: F. Hotman: "Francogallia" in: J. Dennert: Beza. Brutus. Hotman Calvinistische Monarchomachen. - Opladen: 1968. - S. 252 (Kap. 12) ; siehe auch Cicero: Staatslehre. Staatsverwaltung. - München: o. J. S. 77. 310 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 6 - S. 491 (F 1049); vergl. auch. was Bodin zur Frage schreibt. ob Strafen an das Einkommen angepaßt werden sollen oder nicht: "Die geometrische Gerechtigkeit bewirkt ... im Ergebnis. daß die Reichen ihre gegenüber den Annen privilegierte Stellung einbüßen. die arithmetische Gerechtigkeit hingegen gibt dem Reichen die Möglichkeit. den Annen unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit ins Verderben zu stürzen." (1. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 2 - S. 475 (F 1030 f.».
4.3. Der Appell Bodins an den König
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unverletzbare Rechte zuweist. 311 Unter pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet, erweitert Bodin mit dieser allgemeinen Garantie die Basis für den Konsens, indem er eine Art Versicherung anbietet: Wer mir im Alltag folgt, also regelmäßig seine Prämie bezahlt, wird von mir auch dann geschützt, wenn das einmal meinen Interessen entgegenläuft. Dieser Versicherungsaspekt ist der Vorbote der modemen Rechtsstaatsidee und darauf gerichtet, das Vertrauen der Untertanen in die den Frieden erhaltende Zentralgewalt zu steigern. Es ist nicht mehr notwendig, individuell reich und mächtig zu sein, um sich existentieller Rechte sicher zu sein, es reicht Gehorsam. Damit wird der individuelle Nutzen von Bodin als neue Quelle der Loyalität neben das feudalistische Prinzip der Loyalität aus Ehre gesetzt. Euchner schreibt dazu: Obwohl also gesellschaftliche Ungleichheit zu den Strukturprinzipien der Bodinschen Republik gehört, ist in den Six Livres die Tendenz zu erkennen, die Rolle der Privilegien innemalb des Rechtswesens abzuschwächen. Zwar spricht sich Bodin nicht gegen die patrimoniale Gerichtsbarkeit aus; doch sind die "seigneurs particuliers", ja der Souverän selbst, der strengen "voye de iustice" unterwotfen, vor allem was den Eigentumsverkehr betrifft ... Auch gegen den Fürsten muß der Rechtsweg offenstehen. 312
Der Souverän soll sich also im eigenen Interesse vor der Tyrannei hüten und auch die Despotie nur als die zweitbeste Lösung seiner Aufgabe begreifen. Wenn er weiß, was ihm bekommt, wird er dem Ideal Bodins entsprechen, wird sich zu einem König wandeln, ... ... (der) den natürlichen Gesetzen ebenso bereitwillig Gehorsam erweist, wie er es von seinen Untertanen verlangt. Das wird der Fall sein, wenn er Gott über alles fürchtet, Erbarmen mit den Heimgesuchten hat, Klugheit bei seinen Unternehmungen walten läßt, Kühnheit in seinen Taten beweist, Bescheidenheit in guten und Standhaftigkeit in schlechten Tagen zeigt, zu seinem Wort steht, ein weiser Ratgeber ist, den Untertanen Fürsorge, den Freunden Hilfe angedeihen läßt, furchtbar zu den Feinden, höflich zu den Rechtschaffenden und schrecklich mit den Schurken, aber gerecht gegenüber jedermann ist. Wo der Untertan die Gesetze des Königs und dieser diejenigen der Natur befolgt, wird das Gesetz bei bei den die Herrin ... sein.3 13 311 Euchner schreibt dazu: "Es muß ... ein Ausdruck von Gerechtigkeit gefunden werden, der den Gerechtigkeitsbegriff der beiden wesentlichen sozialen Gruppen, des Adels und des Bürgertums, vereint. Bodin erblickt ihn in seiner "proportion harmonique" - diese ist gewissermaßen die kürzeste Formel der Zwischenstellung Bodins zwischen Feudalismus und bürgerlicher Gesellschaft . ... Eine Republik, deren gesellschaftliche Glieder auf diese Weise zum harmonischen Zusammenklang gebracht werden, befinden sich in Übereinstimmung mit den Gesetzen des göttlichen Kosmos." (W. Euchner: "Eigentum und Herrschaft bei Jean Bodin" S. 47-73 in: ders.: Egoismus und Gemeinwohl. - Frankfurt/M.: 1973. - S. 69 f). 312 W. Euchner: "Eigentum und Herrschaft bei Jean Bodin" S. 47-73 in: ders.: Egoismus und Gemeinwohl. - Frankfurt/M.: 1973. - S. 65 f.; der Rechtsweg gegen den Fürsten steht natürlich nur solange offen, wie dieser sich im eigenen langfristigen Interesse seinen Rechtspflegebehörden beugt. 313 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch II - Kap. 3 - S. 344 (F 280 f.); allerdings schränkt er ein: "Unter einem guten und gerechten König verstehe ich das, was der gewöhnliche Sprachgebrauch darunter versteht, also nicht etwa einen besonders heldenhaften Fürsten oder ein Muster an Weisheit, Gerechtigkeit und Gottesfurcht ohne Fehl und Tadel; denn solche Vollkommenheit ist allzu selten. Gut und gerecht ist für mich ein König vielmehr dann, wenn er sich mit allen seinen Kräften darum bemüht, dies zu sein, und bereit ist, Hab und Gut und Leib und Leben für sein Volk zu opfern." (ebenda. Buch lI-Kap. 4 - S. 352 (F 289»; und schon im ersten Buch meint er: ..... wir wollen ... so eng wie möglich den Regeln der politischen Etfahrung folgen. Wer so vorgeht, kann
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4. Jean BOOin
In dieser Aufzählung finden sich alle drei Ebenen wieder, auf denen Bodin an den Eigennutz des Fürsten appelliert. Zum einen legt er ihm Klugheit ans Herz, empfiehlt ihm, den Staat "gekonnt" zu führen, in der Abwicklung der Staatsgeschäfte Effizienz zu zeigen. Zum zweiten will er ihn zum "ersten Diener seines Volkes" machen, der nach Kräften die Wohlfahrt seiner Untertanen fördert. Zum dritten fordert er ihn auf, "Gott über alles zu fürchten". Dabei setzt auch dieses letzte Argument bei höchst diesseitigem Eigennutz des Fürsten an. Hölle und Fegefeuer sind allzuweit weg, als daß Bodin auf eine Drohung mit ihnen viel Gewicht legen würde. Wichtiger ist es ihm zu zeigen, daß auch im Diesseits alles verliert, wer nicht vernünftig, gut und gottgefällig handelt. 314 Im Umgang mit den Mitmenschen führt glaubhafte Selbstbeschränkung und damit das Versprechen, die Bedürfnisse des anderen zu respektieren, mit größerer Sicherheit zur Realisierung der fürstlichen Interessen als alles, zugegeben notwendige, diplomatische Geschick. Gelingt es dem Fürsten nicht, seinen Untertanen den Eindruck zu vermitteln, unter seiner Herrschaft auch langfristig gut aufgehoben zu sein, wird ihm auch machiavellistische Virtuosität auf Dauer nichts nutzen. Bodins Kritik an Machiavelli und sein Gegenvorschlag ließen sich also auf die Formel bringen: "Kontrolle ist gut, gegenseitiges Vertrauen ist besser!" Der Fürst ist viel sicherer, wenn er auf die Liebe seiner Untertanen setzen kann und nicht allein auf ihre Angst vor seiner Sanktionsgewalt. 315 Deshalb müsse er, so schreibt Bodin, danach streben, von allen geliebt und von niemandem gehaßt und verachtet zu werden. Wenn Bodin davon ausgeht, daß ein Alleinherrscher zur harmonischen Gerechtigkeit "tendieren" wird, nimmt er an, daß der Monarch deshalb in größerem Maße am Gemeinwohl interessiert ist, als Aristokraten oder die Bürger einer Demokratie, weil ihm der Staat "gehört", oder viel mehr, weil sein persönliches Schicksal mit dem des Staates in weit größerem Maße verknüpft ist als das des Adels oder der einfachen Untertanen. Aber es ist nicht nur die Furcht vor der Reaktion der Mitmenschen, die den Fürsten "auf dem rechten Wege" schwerlich dafür getadelt werden, auch wenn das angestrebte Ziel nicht erreicht wurde. Auch einem helVorragenden Steuermann tut es ja keinen Abbruch, wenn er im Sturm vom Kurs abgetrieben wurde, und auch für den Arzt ist es keine Schande, wenn die Krankheit stärker war als er, vorausgesetzt, der eine hat sein Schiff gut geführt, der andere seinen Patienten sorgfältig betreut. (ebenda: Bd. I - Buch I - Kap. I - S. 101 (F. 4». 314 BOOin käme es kaum in den Sinn, wie du Plessis zu argumentieren: "Denken wir immer daran, ... daß die, die sich für das Gemeinwohl einsetzen, als Könige, die aber, die nur auf das eigene bedacht sind, als Tyrannen zu gelten haben." (St. J. Brutus (P. du Plessis Momay): "Strafgericht gegen die Tyrannen" in: J. Dennert (Hrsg.): Beza, Brutus, Hotman - Calvinistische Monarchomachen. - Opladen: 1968. - S. 144 (3. Untersuch.». 315 J. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 6 - S. 119 (F 616); sowie Bd. 1 - Buch II - Kap. 4 - S. 356 (F 293).
4.4. Zusammenfassung und Kritik
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hält, Gott wird den Übeltäter nicht nur im Jenseits zur Rechenschaft ziehen, er wird schon im Diesseits nicht mit Sanktionen geizen, sollte sich der Souverän allzu frech über die Normen des letzten, obersten Souveräns hinwegsetzen. Selbst wenn der Fürst also auf das Jenseits "pfeift", ist er schon aus ganz diesseitigen Gründen gut beraten, wenn er sich nicht gegen das Naturrecht vergeht. Der Verlust des Seelenheils ist zwar für ihn verheerender, aber das ist, Bodins ganzer Denkweise entsprechend, noch nicht notwendigerweise das stärkere Argument.
4.4. Zusammenfassung und Kritik Bodins Entwurf ist, aller Versunkenheit im historischen Detail zum Trotz, von erstaunlicher Geschlossenheit. Er schlägt Lösungen für die Staatskrise vor, mit der er das Frankreich seiner Zeit konfrontiert sieht, und seine theoretischen Einsichten sind durchaus auch heute noch von Bedeutung. Zentrales Element dieser Einsichten ist die Überzeugung, daß Traditionen nur bedingt zur Lösung aktueller Probleme taugen, daß andererseits aber auch eine geschichtslose Technik der Politik keinen Ausweg bietet. Normen, die mit der Autorität von Tradition und Religion versehen sind, haben eine Funktion für die Gesellschaft. Weil diejenige, für die Bodin schreibt, stabiler ist als diejenige Machiavellis, kann er fordern, nach Gesetzen zu leben, ohne diejenigen, die seinem Appell folgen, denjenigen auszuliefern, die sich davon nicht beeindrucken lassen. Man solle nicht den Spartanern nacheifern, schreibt er an einer Stelle, die den Nutzen der Allgemeinheit zum Maß der Gerechtigkeit erklärten und deshalb bereit gewesen seien, "jeden Eid, jede Vernunft, jegliche Gerechtigkeit und jegliches naturgegebene Gesetz aufzuopfern."3l6 Gesetze, die das Handeln aller Beteiligten verläßlich binden, schaffen dagegen ein Vertrauen, auf dem Loyalität wachsen kann. Wäre demnach Machiavellis Position eine Art Pseudo-Utilitarismus gewesen nach dem Motto: Fördere das Wohl der Allgemeinheit, weil es deinen Interessen dient, so könnte man Bodins Weiterentwicklung dieser Idee als eine individualistisch legitimierte Art von Normen-Utilitarismus auffassen. 3l7 Bodin sieht allzu deutlich, daß der Erwerb von Machtmitteln durch Zwang und Betrug nur ein schwaches Mittel ist, Mitmenschen auf Dauer zur Kooperation zu bewegen. Wichtiger, als sie erst mit allen Mitteln kontrollieren zu wol316 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch III - Kap. 4 - S. 471 (F 420 f.). 317 Dabei ist zu beachten, daß dies nur solange gilt, wie Bodin an eigennützige Interessen seiner Adressaten appelliert. In seiner philosophischen Grundeinstellung ist er alles andere als ein Utilitarist. Das Wohl seines Volkes liegt ihm zwar am Herzen, darüber hinaus nimmt er aber eine an Aristoteies erinnernde Harmonie der Weltordnung an.
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4. Jean BOOin
len, um dann im eigenen Interesse ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ist es, ihnen schon im Volfeld klar zu machen, daß man man ihre "vitalen Interessen" auf jeden Fall achten wird, daß man ihnen als Individuen Rechtsräume garantiert, sowohl in ihrer Auseinandersetzung mit ihresgleichen als auch in der Auseinandersetzung mit einem selbst. Sieht man Bodin in der Entwicklung von Machiavelli zu Hobbes, so ist er auf dem Weg zum methodologischen Individualismus ein ganzes Stück weiter gekommen. Für ihn sind nicht mehr nur die potentiell Mächtigen Ziel der politischen Beeinflussung, sondern alle Familienoberhäupter. Dabei beschränkt er, ganz wie Machiavelli, den Kreis derer, für die er sich interessiert, nach Praktikabilitätskriterien. So wie für den Florentiner nur die Menschen interessant waren, die größere Menschenzahlen unter ihrem Willen vereinigen konnten, so sind für Bodin nur diejenigen interessant, die im politischen Kontext selbständig handeln und so Menschengruppen führen, aber auch bilden können. Da Familienmitglieder noch nicht systematisch zu beeinflussen sind, kommen sie als Ansprechpartner von Fürsten noch nicht in Frage. Aber nicht nur der Adressatenkreis ist weiter geworden, auch die Art und Weise, in der Bodin verfährt, hat sich weiterentwickelt. Indem er Individuen nicht nur Interessen, sondern auch Rechte zuweist, öffnet er den Raum, den Hohbes einige Jahre später so großartig füllen wird. Bodin legt Fürsten wie Untertanen ans Herz, sich aus wohlverstandenem Eigennutz an das Recht zu halten. Das Recht selbst gestaltet er als Blaupause für eine reibungslos funktionierende Staatsmaschine, kontrolliert von Leuten, die ein Privatinteresse an ihrem Funktionieren haben und sie deshalb in Ordnung halten. Die Maschine garantiert den Frieden, die staatliche Einheit, die ihrerseits Voraussetzung dafür ist, andere Ziele sozialen Zusammenlebens realisieren zu können. Damit Recht in diesem Sinne seinen Zweck elfüllen kann, ist es wichtiger, daß sinnvolle Normen durchgesetzt werden, als daß ein "pelfektes" Rechtssystem besteht, Rechtsbrüche aber denen Sonderprofite verschaffen, die es zu umgehen wissen. "Gerechtigkeit", so schreibt Bodin, "ist für mich die gerechte Austeilung von Lohn und Strafe und dessen, was jedem einzelnen von Rechts wegen zusteht."318 Die "Austeilung", die Durchsetzung des Rechts ist ihm ebenso wichtig wie das "Gerechte", manchmal gar wichtiger. Angesichts einer schwachen SanktionsgewaIt kann das Recht der Gefahr lukrativen Rechtsbruchs nur entgehen, wenn es den konkreten Lebensumständen der Menschen optimal angepaßt iSt. 319 Nie dalf die Differenz zwischen Eigennutz und Staatsraison so groß werden, daß der einzelne sich gegen letztere entscheidet. 318 J. BOOin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch VI - Kap. 6 - S. 460 (F 1013 f.). 319 "The new monarchy of the later Middle Ages and the Renaissance thus presents a double aspect. One side of it was the gradual formation of a centralized administration which registers the triumph of the royal govemment over its older, feudal opposition. But the other side was institutionalization. within the same administration, of the medieval principle that the king must govem with consent." (1. Franklin: BOOin ... Absolutism ... S. 5 f.).
4.4. Zusammenfassung und Kritik
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Entweder müssen die Forderungen des Rechts den Realitäten angepaßt werden,320 oder es muß, sofern die Macht des Souveräns ausreicht, die Situation des einzelnen durch Sanktionsandrohung oder langfristige Strukturpolitik entsprechend verändert werden. Um die Distanz zwischen individuellem Interesse und Staatsinteresse zu minimieren, legt Bodin das Recht wie eine fragile dünne Schicht über die realen Kräfteverhältnisse in der Welt Er paßt es den Unebenheiten der gegebenen Verhältnisse meisterhaft an, so daß allzu scharfe Kanten und Spitzen abgerundet und offene Gewalt nach Möglichkeit verhindert werden. Indem er so vorgeht und damit im wesentlichen alles beim alten läßt, trägt er der Schwäche seines Instruments Rechnung, allein Konsens zu stiften. Was richtig ist und was als positives Gesetz zu gelten hat, sind für Bodin wie später für Hobbes - zwei unterschiedliche Dinge. Positives Recht ist nichts anderes als der Befehl einer Person oder Personengruppe, die für diesen Befehl auf Gehorsam rechnen kann. Daß sie dies umso mehr kann, desto gerechter der Befehl ist, hat schon Machiavelli gezeigt. Je stärker der Souverän ist, je effizienter er also das Verhalten der Untertanen sanktionieren kann, desto ungerechter, d. h. desto weiter entfernt vom Wohl seiner Untertanen, können die Weisungen des Souveräns sein. Damit ist der Souverän entweder mächtig genug, seine Herrschaft ohne Recht zu sichern, oder aber er ist genötigt, gerecht zu sein, auch wenn dies selbst nicht zu seinen Zielen gehört. 321 Das Eigeninteresse der Untertanen ersetzt für Bodin ihre systematische Täuschung als vorrangiges Substitut für Gewalt. Im Begriff der Souveränität gehen freiwillige Unterwerfung und erzwungener Gehorsam Hand in Hand, etwas, daß Machiavelli sich ohne ein Fehlverhalten sanktionierendes Gewaltpotential deshalb nicht denken konnte, weil es für den einzelnen Untertanen in höchstem Maße unvernünftig gewesen wäre, sich vertrauensvoll in die Hände des Fürsten zu begeben. Wo jeder dagegen bei nahezu jedem einen Rest von Rechtschaffenheit vermuten darf, ist dies nicht mehr notwendig der Fall. Indem Bodin einen Mächtigen herausgreift, zusätzlich mit der Legitimation des Rechts ausstattet und ihm ans Herz legt, seinen Staat hierarchisch so zu organisieren, daß das Konfliktpoten320 Damit wird die Aufgabe des Staates nicht danach definiert, was wünschenswert ist, sondern danach, was sich realisieren läßt. Im Heptaplomeres läßt Bodin den Skeptiker Senamus fragen, warum "in the final heading of the decalogue we are forbidden to strife after anothers possessions, since it is enough not to defraud anyone and not to practice those things which disturbe the public peace ..... Salomon, der weise Jude, antwortet darauf: "The fact that divine law forbids us to desire another's possessions is alien to all human laws, and in this especially, the excellence of divine law is manifest; divine law applies the ax not only to the trunk and branches but also to the roots and fibres to all sins .... In no way is it strange if men have not established laws for the lusts of men because they could not impose rewards nor punishments for those deserving them." (J. Bodin: Colloquium ... - Buch IV. - S. 194 (Orig. S. 149». 321 Daß der Unterschied zwischen Befehl und Gesetz nicht in der Zahl der Adressaten, sondern in der langfristigen Wirkung liegt, zeigt sich, wenn Bodin das Gesetz vorn Privileg abgrenzt, er defmiert: "Unter einem Privileg verstehe ich ein Gesetz, das nur für einen einzelnen oder eine kleine Zahl von Einzelpersonen geschaffen ist, unabhängig davon, ob es den Betroffenen Vorteil oder Nachteil bringt." J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 1 - Buch I - Kap. 10 - S. 292 (F 221 ).
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4. Jean Bodin
tial minimiert wird, entscheidet er die große staatsgefährdende Kontroverse zwischen den Starken, die uneingeschränkt herrschen wollen, und den Schwachen, die wollen, daß das Gesetz allen gleichermaßen Schranken auferlegt, 322 indem er die Ungleichheit soweit vergrößert, daß die Schwachen kaum noch die Möglichkeit zum Ungehorsam haben. Da er sich aber bewußt ist, daß die Schwachen niemals so schwach sind, daß sie nicht zur Revolution in der Lage wären, versüßt er ihnen die Position an der Basis der Hierarchie mit der Garantie individueller Rechte. Der Schutz vor ihresgleichen wie die Sicherheit vor dem Zugriff des Fürsten ermöglicht es ihnen, sich ihr Leben innerhalb der hierarchischen Ordnung relativ autonom zu gestalten. Die Freiheit, in den Grenzen des Rechts sein Eigentum zu genießen, wird damit der Gegenwert, den die Untertanen für ihren Gehorsam erhalten und der nur deshalb fällig ist, weil die staatliche Macht nicht aureicht, sie zu Wohlverhalten zu zwingen. So wichtig die einzelnen Bausteine in Bodins System auch heute noch sind, so schief steht doch der Bau, den er daraus errichtet. Wenn er sich mit dem Begriff der Souveränität einen bleibenden Platz in der Geschichte des politischen Denkens geschaffen hat, seine Idee der "harmonischen Gerechtigkeit" aber inzwischen vergessen ist, so zeigt dies deutlicher als alles andere die Disharmonie. Zwei Gründe lassen sich unschwer erkennen. Zum einen ist Bodins eigenwillige Interpretation der Überlieferung und seine eher willkürlich darauf gesetzte Interpretation des Naturrechts nicht dazu geeignet, Konsens zu stiften. Schon die bloße Existenz eines F. Hotman zeigt, daß mit derselben Methode auch ein gänzlich anderer Normenkanon legitimierbar ist. Salmon trifft den Kern des Problems, wenn er, eines der Hauptwerke Hotmans, den Antitribonian, mit Bodins Methodus vergleichend, schreibt: "Although the Antitribonian and the Methodus adopted identical viewpoints on the fallibility of Roman Law and the need to combine history and jurisprudence, the actual history written by their authors was in most respects mutually incompatible."323 So wie Bodin die Masse der historischen Informationen nutzt, um absolute Souveränität zu legitimieren, verteidigen seine Gegner unter Benutzung derselben Argumente die rechtliche Stellung regionaler oder ständischer Zusammenschlüsse. Gerade Bodin, dessen Ziel die Relativierung historisch gewachsener Rechte und Normen ist, macht sich unglaubwürdig, wenn er die Geschichte zur Stützung seines eigenen Konzepts heranzieht. Claude de luge, einer seiner Kritiker, wirft ihm denn auch vor, er habe in der Republique "manie son plaisir les historiens et IurisconsuItes", und sein Werk sei deshalb nicht mehr als eine Ansammlung höchst zweifelhafter Spekulationen. 324
a
322 J. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 6 - S. 376. 323 J. H. M. Salmon: "Bodin and the Monarchomachs" in: H. Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. München: 1973 .. S. 377.
4.4. Zusammenfassung und Kritik
235
Wir werden sehen, daß Robbes sich genau dieses Mankos annimmt und die Legitimationsgrundlage seines politischen Systems, das dem Bodins ansonsten sehr ähnlich ist, radikal neu formuliert. Aber es ist nicht nur die Legitimationsgrundlage, auf der Bodins Konzept angreifbar ist. Wichtiger noch ist die Kritik der Idee, daß die Rierarchisierung der Gesellschaft Frieden stifte. Angesichts der begrenzten Möglichkeiten des Staates ist es relativ unwahrscheinlich, daß in einer Gesellschaft, die von sozialen Unterschieden gekennzeichnet ist, der Souverän tatsächlich in der Lage ist, die individuellen Rechtsräume zu garantieren, die er seinen Untertanen verspricht. Wenn sein Sanktionspotential nicht ausreicht, oder er es nicht punktgenau einsetzen kann, ist er auf die Informationen seiner Untertanen angewiesen. Sie müssen ihm dann Rechtsbrüche anzeigen und ihm so die Möglichkeit geben, Übeltäter sowohl aus den Reihen seiner eigenen Staatsmaschine auszumachen als auch solche, die von außerhalb kommen. Sind einige seiner Untertanen bedeutend schwächer als andere, mögen sie nicht nur unfähig sein, sich selbst gegen die Übergriffe der Starken zur Wehr zu setzen, es mag ihnen zudem an Mitteln fehlen, zum Schutz vor derartigen Übergriffen den Staatsapparat zu mobilisieren. Selbst wenn also der Fürst die Intention hätte, die Rechtsräume tatsächlich zu garantieren, müßte er scheitern, was weniger eine Frage des vorhandenen Gewaltmonopols wäre, sondern vor allem eine Frage der verfügbaren Informationen. Ein machiavellistischer Unternehmer, der sich in Machiavellis Welt offen gegen einen Konkurrenten stellte, wird sich in Bodins Staatsmaschine in klassisch sophistischer Manier unter dem Denkmantel von Rechtschaffenheit und Regimetreue verbergen, um so legal oder illegal individuelles Vermögen anhäufen zu können. Er wird immer dann illegal in die Rechtsräume seiner Mitmenschen eingreifen, wenn er keinen Widerstand oder keine Klage zu fürchten braucht. was immer dort am wahrscheinlichsten sein wird, wo ihm der Geschädigte von seinem Vermögen her unterlegen ist. Je größer die Vermögensunterschiede in einer solchen Gesellschaft sein werden, desto mehr Raum wird sich machiavellistischen Unternehmern bieten. Je einfacher die rechtswidrige Ausbeutung damit wird, desto mehr Menschen werden sich diesem Geschäft zuwenden und so ihrerseits immer weniger in der Lage sein, ihresgleichen gerichtlich zu belangen, eine Situation, die Bodin selbst, in bezug auf mächtige Magistrate, beklagt:
324 Zil. in: J. H. M. Sabnon: "Bodin and the Monarchomachs" ... S. 362 f.
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4. Jean Bodin
Welcher Bestrafung ... sollte man Personen unterziehen, die [auf] immer so hoch aufgestiegen sind, daß es unmöglich ist, sie anzutasten? Wer wollte sie anklagen? Wer wollte sie ins Gefangnis werfen, wer sie verurteilen? Werden dies etwa ihre Amtsbrüder tun (7) ... Und fande sich ... einer, der den Mut hätte, Anklage zu erheben oder auch nur einen einzigen dieser "Götter" gerichtlich zu belangen, so würde es ihn Kopf und Kragen kosten, wenn er ihre im Dunkeln begangenen Schandtaten nicht heller als die Sonne an den Tag brächte. Aber auch wenn alles bewiesen, der schuldige Magistrat benachrichtigt, angeklagt und überführt wäre, würde doch die gebräuchliche Redensart "Frater noster est" genügen, alle Schandtaten, Falschheiten IDld Erpressungen selbst des ungerechtesten Magistrats, den man sich vorstellen kann, zu bemänteln und zu vertuschen ... 325
Gerade die soziale Hierarchisierung, die es dem Fürsten ennöglicht, Befehle konfliktfrei durch die gesamte Gesellschaft bis auf die unterste Ebene zu transportieren, schafft also den Mächtigen innerhalb dieser Hierarchie die Möglichkeit, die hinzugewonnene Stärke für eigene Zwecke auszunutzen. 326 Gelingt es, offenen Feinden des Königs mit Hilfe der loyalen, weil gerechten, Untertanen das Handwerk zu legen, so stehen den versteckt agierenden machiavellistischen Unternehmern innerhalb der Maschine alle Möglichkeiten offen, illegal Macht zu akkumulieren. Da sie über diese Möglichkeit ihren rechtschaffenen Kollegen gegenüber im Vorteil sind, werden sie es sein und nicht die Gesetzestreuen, die sich innerhalb der Herrschaftspyramide auf Dauer durchsetzen. 327 Dieses Problem stellt sich nicht nur auf der höchsten Ebene. Für den Schwachen ist der nächsthöhere Starke schon einer der "Götter". Die Einräumung von individuellen Rechtsräumen mag deshalb für den kleinen Adel oder das Bürgertum einige Sicherheit bieten, für diejenigen, die sich an der Basis der sozialen Pyramide befinden, dürfte es kaum etwas ändern. Es ist nicht einmal notwendig, daß der Fürst handelt, wie es Bodin im Methodus von den Tyrannen schreibt: "... i1s chargent des bandits ou des ecumeurs d'epagne de reciouvrer I'impöt et les contributions, afin de sucer, gräce a leur concours, jusqu'au sang du peuple."328 Dieser Effekt wird sich ganz von selbst einstellen, und zwar nicht einer 325 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch IV - Kap. 4 - S. 90 (F 583). 326 F. Hotman weist genau auf diesen Punkt hin, um daraus ein Argument für die Ständeversammlung zu machen. Er zitiert dazu den römischen Kaiser Aurelian mit dem Ausspruch: "Nichts ist schwieriger, als gut zu regieren. Wie leicht schließen sich vier oder fünf Männer zusammen mit dem Plan, den Herrscher zu hintergehen. Sie sagen ihm, was er für richtig befinden soll. Der Herrscher, der abgeschlossen in seinem Palast wohnt, kennt den Sachverhalt nicht. Er sieht sich gezwungen, nur das zur Kenntnis zu nehmen, was jene ihm sagen. Er macht die zu Richtern, die er nicht da7ll machen dürfte; er entfernt die aus dem öffentlichen Dienst, die er darin halten müßte. Und welches sind die Folgen? ... der gute vorsichtige und treffliche Kaiser wird verraten und verkauft. (F. Hotman: "Francogallia" in: J. Dennert: Beza, Brutus, Hotman - Calvinistische Monarchomaehen. - Opladen: 1968. - S. 255 (Kap. 12)). 327 Auch La Boetie hatte in seinem Discours auf diese Gefahr hingewiesen: "Certainement en si grand nombre de gens, qui ont ete jamais pres des mauvais rois, il en est peu, ou comme point, qui n'aient essaye quelquefois en eux-memes la cruaure du tyran qu'ils avaient devant attisee contre les autres. Le plus souvent s'etant enrichis, sous ombre de sa faveur, des depouilles d'autrui, ils ont eux-memes enrichis les autres de leurs depouilles." (E. de La Boetie: "Discours sur la servitude volontaire" in: ders.: Oeuvres Politiques. Paris: 1971. - S. 74). 328 J. Bodin "La Methode de l'Histoire" ... Kap. 6 - S. 385.
4.4. Zusammenfassung und Kritik
237
tyrannischen Neigung der Starken wegen, sondern weil für sie mit der, durch ihre Bevorzugung bei der Ausübung von Macht bedingten, Zunahme des sozialen Gefälles die Differenz zwischen ihrem individuellen Nutzen und dem Gemeinwohl größer wird und mit ihr die Versuchung, sich auf Kosten der Schwachen die Taschen zu füllen. Innerhalb der Staatsmaschine wird damit genau die Differenz größer, zu deren Kontrolle sie konzipiert wurde. Wenn Bodin, wie bereits zitiert, den rechtlich omnipotenten Fürsten großen Versuchungen ausgesetzt sieht, so gilt dies für jeden, der den Widerstand derer nicht zu fürchten braucht, die er auszubeuten sich anschickt. Zwar hat der Fürst nach wie vor wenig Anlaß, sich an der Ausbeutung seiner Untertanen zu beteiligen, jedenfalls solange seine Herrschaft beständig bedroht ist. Auch für seine Mitarbeiter mag bei steigender Bedrohung des Ganzen der Preis für ihr illegales Treiben ansteigen, so daß sie es ab einer bestimmten Schwelle unterlassen. Aber zum einen stellt sich ihnen das von Olson so klar formulierte Problem, daß sie bei Aufgabe ihrer illegalen Tätigkeit die Kosten dieses Verzichts zur Gänze zu tragen hätten, von dem Nutzen aber nur einen Bruchteil erhielten, und zum zweiten wird dieser Nutzen um so geringer werden, je tiefer sie in der Hierarchie stehen. Mag man bei einem Umsturz auch die Spitzen der Regierung ihre Köpfe berauben, die ganze Herrschaftspyramide wird sich nur unter Schwierigkeiten auswechseln lassen. Im Extrem ist ein "guter" König denkbar, der aufgrund der Wehrlosigkeit seiner Untertanen seine Beamten nicht zwingen kann, in seinem Sinne zu herrschen. Weil sich die Untertanen gegen die Rechtsbrüche von seiten der Mächtigen im Staate nicht wehren können und der Souverän seine Beamten nicht völlig kontrollieren kann, wird er, selbst wenn er seine Zeit nicht nur mit Feinmechanik zubringt, mehr und mehr einem Heer von Funktionären vorstehen, die im individuellen Interesse mehr aus den ihnen Unterlegenen herauspressen, als es für den Fortbestand des Gemeinwesens zuträglich ist. Wenn wir den Gedanken umkehren, daß die Benutzung der Armen am ehesten eine Steigerung des Zwangspotentials verspricht, und sagen, daß sich die Armen zum Konsum von Macht auf ihrem Rücken geradezu anbieten, weil sie nicht so gut in der Lage sind, dem gegenzusteuern, so ist eine Monarchie also um so gefährdeter, in Tyrannei abzugleiten, je größer die sozialen Unterschiede sind. Damit gilt in einem System, das von großer Ungleichheit gekennzeichnet ist, nicht nur in größerem Maße das Wort vom einheitsstiftenden äußeren Feind, das Bodin auf die Demokratie münzt,329 es wird dieser Feind auch auf Dauer das einzige erfolgversprechende Mittel sein, die eigenen Beamten von einem allzu großen Mißbrauch ihrer Stellung abzuhalten, da der innere Druck an Bedeutung verliert. In einem Staat, der dagegen von Gleichheit gekennzeichnet ist, wird Ausbeutung auch in Friedenszeiten selten sein, weil sich diejenigen wehren können, denen die Aus329 J. Bodin: Sechs Bücher ... - Bd. 2 - Buch V - Kap. 5 - S. 240 (F 760).
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4. Jean BOOin
beutung droht. Ihre Interessen müssen deshalb eher in die Überlegung der Mächtigen einbezogen werden. Sind sie zu schwach, sich zu wehren, muß der Fürst schon unter Druck stehen, wenn er auf die Bedürfnisse der Kleinen reagieren soll. Was Machiavelli zur Republik geschrieben hatte, gilt somit allgemein für das Recht. An Gesetze wird sich der einzelne nur halten, wenn die Differenz zwischen seiner materiellen Situation und seinen Verpflichtungen nicht zu groß ist. Wird aber die Stellung der Mächtigen durch Privilegien oder die Kontrolle des Rechts noch verstärkt, so bieten sich ihnen noch mehr Möglichkeiten zur Ausbeutung. Wenn K. D. McRae deshalb schreibt, Bodins Souveränitätslehre sei heutigen Souveränitätstheorien erstaunlich ähnlich, sei anspruchsvoller als die von Robbes und moderner als die John Austins,33o so mag dies zwar richtig sein, ist aber kein Grund zum Jubel, denn Bodins Problem ist auch heute noch lange nicht gelöst. Wir werden sehen, daß Robbes, selbst weit entfernt davon, es zu lösen, es in noch viel drastischerer Weise heraufbeschwört.
330 K. D. McRae: "Introduction" ... S. A19.
Sobald die Menschen vergesellschaftet sind, verlieren sie das Gefühl ihrer Schwäche. Die Gleichheit zwischen ihnen hört auf, und der Kriegszustand hebt an.! (Montesquieu)
5. Thomas Hobbes: Schwache Menschen und die Erzwingung von Zusammenarbeit Thomas Hobbes, der dritte der im vorliegenden Zusammenhang erörterten Autoren, setzt sich mit dem zentralen Problem des Bodinschen Ordnungsentwurfs auseinander.2 Er weiß, daß Recht, wenn es denn überhaupt etwas bewirken kann, skrupellosen Rechtsbrechem Gelegenheit zu Sonderprofiten einräumt. Beseitigt werden kann dieser rechtszersetzende Geburtsfehler einer Institutionenordnung nur dann, wenn die Beobachtung des Rechts mit dem Eigennutz in eins fallen, wenn also auch aus individueller Sicht die Rechtschaffenheit langfristig einem rechtsverachtenden Opportunismus überlegen ist. Hobbes führt den Nachweis, daß dies so ist, indem er von der Annahme elementarer Gleichheit ausgeht. Wenn die Menschen im Wesentlichen gleich sind, können sie nicht damit rechnen, ihre Mitmenschen auf Dauer beherrschen oder betrügen zu können. Irgendwann müssen auch die stärksten "Löwen" und die gerissensten "Füchse" für unfreundliches Verhalten einen derartigen Preis zahlen, daß es sich nicht mehr lohnt. Nur das Angebot zur Zusammenarbeit verspricht dann langfristig Erfolg vorausgesetzt, man macht sich damit nicht aus1 Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. - Stuttgart: 1965. - Buch I. - Kap. 3. - S. 100. 2 Die Hobbesforschung ist umfangreich und hervorragend dokumentiert. Inzwischen gibt es mehrere große Bibliographien, in denen mit unterschiedlichen Schwerpunkten die einschlägige Literatur zusammengetragen wurde (W. Sacksteder: Hobbes-Studies. - Ohio: 1982. - 194 S.; A. Garcia: Th. Hobbes - Bibliographie internationale de 1620 - 1986. - Caen: 1986. - 275 S.; B. Willms: Der Weg des Leviathan. - (Beiheft 3 zu Der Staat). - Berlin: 1979. - 238 S.; sowie ders.: "Tendencies of Recent Hobbes Research" in: J. G. van der Bend (Hrsg.): Thomas Hobhes - His View of Man. - Amsterdam: 1982. - 155 S. - S. 143-155; C. H. Hinant: Thomas Hobbes: A Reference Guide. - Boston: 1980. - 293 S.). Für den aktuellen Stand der Forschung siehe auch: Y. C. Zarka und J. Bemhardt (Hrsg.): Thornas Hobbes - Philosophie Premiere, Theorie de la Science et Polilique. - Paris: 1990. - 418 S., sowie: M. Bertman & M. Malherbe (Hrsg.): Thomas Hobbes - De la Metaphysique a la Politique. - Paris: 1989. - 253 S. Die deutsche Hobbes-Forschung wird dokumentiert in: U. Bermbach & K.M. Kodalle (Hrsg.): Furcht und Freiheit. - Opladen: 1982. - 259 S.), dem auch eine Bibliographie der Hobbes-Literatur im deutschen Sprachraum beigegeben ist. Zu einer Art Standardwerk der Forschung ist avanciert: R. Koselleck & R. Schnur (Hrsg.): Hobbes Forschungen. - Berlin: 1969. - 300 S., der ebenfalls eine Bibliographie über die Literatur im deutschen Sprachraum enthält.
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5. Thomas Hobbes
beutbar. Wie Hobbes die elementare Gleichheit begründet, wie er aus ihr die individuelle Nützlichkeit von Rechtschaffenheit ableitet und wie er durch sein Institutionenarrangement letztendlich die Gleichheit gerade aufhebt, auf der sein System basiert, wird das Thema des folgenden Kapitels sein. Thomas Hobbes ist der Sohn eines einfachen Landpfarrers. Der Musterschüler mit dem besonderen Talent für die klassischen Sprachen interessiert sich nicht nur für die Großen der Antike, er nimmt auch regen Anteil an den neuesten Entwicklungen der Wissenschaft seiner Zeit. Als Hauslehrer im Dienste des Earl of Devonshire pflegt er regen Kontakt mit den revolutionären wissenschaftlichen Neuerern seiner Zeit und ist wie diese weniger ein Gelehrter als mehr ein vorurteilsloser, nur Erfahrung und Logik verpflichteter Forscher. 3 Auch als Philosoph ist er dabei ein ausgesprochen politischer Mensch. Sehend, daß der zeitgenössische, auf die Exegese von Autoritäten bezogene Wissenschaftsbetrieb der Universitäten unfähig ist, die religiösen Konflikte der Zeit allgemeingültig zu entscheiden, und fasziniert von der Evidenz mathematischer und insbesondere geometrischer Beweise will er sich diese Wissenschaften zum Vorbild nehmen, um Gleiches für die soziale Welt zu leisten. 4 Von welchem Ausgangspunkt er genau dies angeht und was er seinen Zeitgenossen auf entsprechender Grundlage empfiehlt,5 wird im folgenden zu zeigen sein. Ich 3 Zu Hobbes' Leben und Werk liegen inzwischen verschiedene Einführungen vor, so der "Que sais-je" Band Hobbes von Jean Bernhardt (1. Bemhardt: Hobbes. - Paris: 1989. - 126 S.) und die gleichnamigen Bücher von Richard Tuck (R. Tuck: Hobbes. - Oxford: 1989. - 126 S.) und David D. Raphael (0. D. Raphael: Hobbes. - London: 1977. - 104 S; Im deutschen Sprachraum erfüllt B. Willms diese Funktion: B. Willms: Der Weg des Leviathan. - (Beiheft 3 von Der Staat). - Berlin: 1973. - 238 S.). Die beiden letzten empfehlen sich besonders, weil es die wichtigsten Diskussionen innerhalb der Hobbes-Forschung mit ihren Repräsentanten vorstellt. 4 Bei der Bearbeitung des Kapitels über Hobbes habe ich mich vor allem auf die von William Molesworth herausgegebene Gesamtausgabe des Hobbes'schen Werkes (Ibe English Works of Thonlas Hobbes of Malmesbury. - (Hrsg. von W. Molesworth) Aalen: 1966. - 11 Bde. (2. Nachdruck), insbesondere Bd. II "Philosophical Rudiments conceming Govemment and Society". - 319 S., Bd. III "Leviathan". - 714 S., Bd. IV, "De Corpore Politico, or The Elements of Law" S. 77-229 und Bd. VI "Behemoth". - S. 161-419) gestützt. Hinzugezogen habe ich die von Friedrich O. Wolf herausgegebenen Essays (Ib. Hobbes: "Essayes" in: F. O. Wolf: Hobbes' neue Wissenschaft. StuttgartlBad Cannstadt: S. 135-168), den von Macpherson herausgegebenen Leviathan (Ib. Hobbes: Leviathan. - (Hrsg. von C. B. Macpherson:). - New York: 1978. - 729 S.), den De Cive (Th. Hobbes: De Cive or The Citizen. - (Hrsg. von S. Lamprecht). - New York: 1949. - 211 S.) von Lamprecht und die Elements 0/ Law (Ib Hobbes: The Elements of Law. - Cambridge: 1928. - 195 S.) in der Ausgabe von Ferdinand Toennies. 5 Für Hobbes gilt wie für Bodin, daß die Unterschiede zwischen den einzelnen Ausgaben zwar eine innere Entwicklung des Philosophen wiederspiegeln, aber im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit vemachläßigt werden können. Folgt man Tricaud und Gawlick (F. Tricaud: "Quelques Questions Souleves par la COßlparaison du "Leviathan" Latin avec le "Leviathan" Anglais", in: HobbesStudien. - hrsg.: von R. Koselleck und R. Schnur. Berlin: 1969. - S. 237-244; G. Gawlick: Vorwort des Herausgebers zu: Th. Hobbes: VOßl Menschen - Vom Bürger. - Hamburg: 1959. - S. XXI; siehe ferner: J. Lips: Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution. - Darmstadt: 1970), scheinen auch hier Variationen im wesentlichen Reaktionen auf die politische Situation der Zeit, bzw. rein sprachlicher Natur zu sein. Sie sind so für meine Fragestellung weniger wichtig.
5.1. Der Maschinenbauer der Macht
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werde dabei zuerst den Wissenschaftler und Ideologen Hobbes vorstellen, um dann seine Empfehlungen darzustellen. Dabei werde ich weniger Wert auf die Darstellung des Konzeptes selber legen,6 als mehr darauf, warum für Hobbes andere Wege zur Befriedung der Menschen nicht gangbar erscheinen.
5.1. Der Maschinenbauer der Macht Thomas Hobbes lebt, wie Machiavelli und Bodin vor ihm, in einer Zeit politischer Unruhe. Wie diese leidet er am Bürgerkrieg und setzt seine wissenschaftlichen Fähigkeiten daran, Abhilfe zu schaffen. Auch für Hobbes sind es die Parteien, die mit ihren Versuchen, jeweils auf Kosten der anderen Gewinne zu machen, das Gemeinwesen durcheinander bringen. Damit folgt er aufs engste seinem französischen Vorgänger, den er offenbar gründlich studiert hat. 7 Auch er sieht ein, daß der Ansatz des Principe, politische Einheit sozusagen "von oben" herbeizuführen, zu kurz greift, daß neben den dfizienten Gebrauch von Zuckerbrot und Peitsche die Überzeugung der Untertanen treten muß, der Nachweis, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, Herrschaft mitzutragen. Andererseits will auch er verhindern, daß die Bescheidenen, die keine machiavellistischen Sonderprofite anstreben, denen gegenüber im Nachteil sind, die weniger Skrupel haben. Ein Problem, das für ihn besonders deshalb akut wird, weil er, anders als Bodin, nichts von der eingreifenden und korrigierenden Hand Gottes zu halten scheint. 8 Auf welche Art sich Hobbes seiner Aufgabe widmet, hängt vor allem von seiner Person ab. Ich werde deshalb in einem ersten Teil den Menschen vorstellen, um dann seine Sicht von den Menschen skizzieren zu können, denen er zur Lösung ihrer sozialen Probleme raten will.
6 Angefangen mit dem wegweisenden Buch von Gauthier über die ebenfalls spieltheoretisch argumentierenden Studien von Kavka und HampIon bis zu der eher politologisch ausgerichteten Arbeit von Baumgold und der ideengeschichtlichen von Goyard-Fabre sind gerade in den letzten Jahren eindrucksvolle Darstellungen über die Art und Weise entstanden, in der sich Hobbes an seine Leser wendet. Es wäre müßig, hier noch einmal etwas anhängen zu wollen. 7 Zum Einfluß Bodins auf die englische politiktheoretische Diskussion überhaupt verg!.: U. Krautheim: Die Souveränitätskonzeplion in den englischen Verfassungskonflikten des 17. Jhds .. FrankfurtIM.: 1977. - 601 S. 8 Mit Strauss ließe sich formulieren: "Einem um sein Wohl und Wehe völlig unbekümmerten Schicksal preisgegeben ... bleibt dem Menschen keine andere Wahl, als sich selbst zu helfen: er hat nicht dankbar, sondern im ernsten, niederdrückenden Selbstbewußtsein seiner Freiheit zu leben." (L Strauss: Hobbes' Politische Wissenschaft. - Neuwied: Luchterhand, 1966. - S. 122). 16 Hegmann
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5. Thomas Hobbes
5.1.1. Die neue Moralphilosophie
Hobbes ist stärker noch als Bodin Wissenschaftler und will als solcher praktisch wirken. Sein Werkzeug dazu ist eine Fonn von erkenntniskritischer Sozialwissenschaft mit aufklärerischem Charakter. Theorie ist ihm also weder Ersatzbefriedigung, wie dies für Machiavelli galt, noch ist sie ihm lediglich Ergänzung seiner praktischen Tätigkeit wie bei Bodin. Hobbes ist, im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern, nie aktiv in Politik involviert, auch wenn ihm seine Schriften immer wieder Schwierigkeiten mit den Mächtigen einbringen. Diese strikte Abstinenz ennöglicht es ihm, seine Prinzipien sehr grundsätzlich zu fonnulieren. Der Gewinn an theoretischer Konsistenz wird zwar mit einer Entfernung von der Realität erkauft, woraus allerdings nicht geschlossen werden darf, daß Hobbes an den praktischen Folgen seiner theoretischen Arbeit uninteressiert wäre. Man kann ihn vielmehr mit Sheldon Wolin als den Repräsentanten einer "epischen Tradition" der politischen Theorie begreifen, die Wolin wie folgt definiert: The phrase "epic tradition" refers to a type of political theory which is inspired mainly by the hope of achieving a great and memorable deed through the medium of thought. ... His (Hobbes'; H.H.) aim has been to make the world reflect a theory, not as the empirical theorist would have it, to make the theory corresponding to the world, and not as the philosopher would have it, to make the theory an eludication of meanings extracted from words about the world. In the structure of epical theory, concepts, symbols, and language are fused into a great political gesture towards the world, a thought-deed inspired by the hope that now or someday action will be joined to theory and become the means for making a great theoretical statement in the world.9
Bodins Rezepte scheinen Hobbes offenbar zu diesem Zweck erfolgversprechend. Auch er ist der Ansicht, daß Herrschaft sich auf Dauer nicht allein durch die individuelle Cleverness machiavellistischer Politiker erhalten läßt, sondern auf die Zustimmung der Untertanen angewiesen ist. Allerdings scheint ihm die Art und Weise falsch, mit der Bodin diese Zustimmung erreichen will. Hobbes wirbt statt dessen auf dreierlei Weise um die Menschen. Zum einen ist er Wissenschaftstheoretiker, der mit seinen Überlegungen zur menschlichen Erkenntnisfähigkeit Genauigkeit in bezug auf die anzuwendenden Methoden und Bescheidenheit bezüglich der zu erwartenden Resultate lehren will. Zum zweiten ist er ein Theoretiker sozialen Handeins, ein Sozialwissenschaftler im ganz modemen Sinne des Wortes; zum dritten schließlich ein leidenschaftlicher Prediger der Vernunft, d. h. der Protagonist eines Denkens, daß die diesseitigen Bedingungen eines friedlichen Lebens zum Ausgangspunkt nimmt, um all das als Irrlehre zu entlarven, was ihnen zuwiderläuft. Von allen drei Aspekten soll auf den nächsten Seiten die Rede sein.
9 S. Wolin: "Hobbes and the Epic Tradition of Political Theory" in ders.: Politics and Vision. London: 1961. - S. 8.
5.1. Der Maschinenbauer der Macht
243
Der Wissenschaftstheoretiker Menschen können irren und lügen. Da dieser Satz auch für wissenschaftliche Autoritäten gilt, nutzt es nichts, sich die nonnativen Statements von "Klassikern" zu eigen zu machen, wenn man eine verläßliche Basis für sein Handeln sucht. Hobbes fonnuliert sein Wissenschaftsverständnis in deutlicher Opposition zu Bodin. Was bei dessen Umgang mit den Klassikern nur implizit zu Tage trat, macht Hobbes zu einer zentralen Aussage: Lehnneinungen sind nur dann richtig, wenn sie durch eigenständiges Nachdenken als solche erkannt werden. Sie beziehen ihre Autorität nicht aus der Person dessen, der sie aufstellt, sondern sind "objektiv" richtig. Der Weg zu einer derart sicheren Erkenntnis ist freilich gerade für Hobbes weit. Der erste dazu ist die Forderung nach der Selbstvergewisserung des Forschenden. Wer den Forschungsprozeß in seinem Ablauf zu begreifen und seine Möglichkeiten und Grenzen zu fonnulieren sucht, wird irgendwann auf sicheren Grund gelangen. Wenn Wissenschaft die Tätigkeit einzelner Menschen ist, die von verschiedenen Erfahrungen ausgehend Regeln benutzen, um von Bekanntem auf Unbekanntes fortzuschreiten, so ist Wissen immer subjektiv und vorläufig, immer nur der augenblickliche Wissensstand des Forschenden. Um sich zu vergewissern, kann der allenfalls versuchen, durch Beobachtung so viele Einzelinfonnationen anzusammeln wie möglich. IO Mit Hilfe der Sprache kann er seine Gedanken und Erinnerungen codieren, aufzeichnen, ordnen und bei Bedarf mit anderen austauschen. I I Je größer der Wortschatz ist, den er zur Verfügung hat, desto genauer kann der Forscher seine Erfahrungen in Einzelaspekte zerlegen, desto größer ist aber auch die Gefahr, daß die Begriffe ein Eigenleben entwickeln, nicht mehr Gegenständen entsprechen, sondern nichtssagend oder schlicht falsch werden. 12 Um einer solchen Verselbständigung der Sprache zuvorzukommen, müssen die Begriffsschöpfungen stets an der Erfahrung gemessen werden. 13 Wo der For10 VergI. vor allem: Th. Hobbes: Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen. - Darrnstadt: 1983. - Teil 1.. Kap. IV. - S. 46. Im folgenden zitiere ich aus der von Toennies edierten und zum Teil auch von ihm übersetzten Ausgabe: Th. Hobbes: Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen. (hrsg. v. F. Toennies). - Berlin: 1926; siehe auch: Leviathan. Frankfurt/M.: : 1984. - Kap. III. - S. 21 f.); sowie VIII. - S. 55. 11 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. IV. - S. 24 ff. (Im folgenden zitiere ich nach der Übersetzung des Leviathan von Waller Euchner, die von Iring Fetscher herausgegeben wurde: Th. Hobbes: leviathan. - Frankfurt/M.: 1991. - 579 S.). 12 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. IV. - S. 28 f. 13 "Bewußtsein '" ist ... das Zusammenstimmen der Vorstellungen eines Menschen mit den Wörtern, die im Akte vernünftigen Schließens solche Vorstellungen bezeichnen ... Das Bewußtsein ist für die Wahrheit dasselbe, was der Saft für den Baum ist, der Saft hält soweit er in den Stamm und die Äste emporsteigt, diese am Leben, wenn er sie verläßt, sterben sie ab. Denn dies Bewußtsein, was so viel ist, als daß wir einen Sinn mit unseren Wörtern verbinden, ist das Leben der Wahrheit, ohne es ist die Wahrheit nichts wert." (Ib. Hobbes: Naturrecht ... - Teil!. - Kap. IV/3. S.57.
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5. Thomas Hohbes
scher Wörter als das nimmt, was sie sind, nämlich als Zeichen für Erfahrungen und nicht als etwas, das durch die Autorität eines Klassikers zum Dogma wird,14 wo er also alles zurückweist, das keine Entsprechung in der Realität hat, und wo er darüber hinaus seine Definitionen ständig auf ihren Realitätsbezug hin überprüft, betreibt er Wissenschaft. 15 Wo diese sich mit einem genügend großen Schatz empirischer Daten vereinigt, kann er auf eine relativ verläßliche Basis zur Lösung seiner Probleme zurückgreifen. Zwar weiß er dann immer noch nichts mit letzter Gewißheit, aber immerhin venneidet er Widersprüchlichkeiten und sinnlose Wortkombinationen in seinem Bild von der Welt. Da der Forscher sich also immer nur ein subjektives Bild von der Realität macht und zudem auch der Fähigste Irrtümern unterworfen ist,16 kann er sich seines Bild von der Welt nie sicher sein. Selbst unter Benutzung wissenschaftlicher Methoden kann er sich über den wirklichen Zustand der Welt immer nur eine "Meinung" bildenP Wissen ist aber nicht nur in bezug auf die Erkenntnismöglichkeiten stets an die Person gebunden, die es erwirbt, es wird auch nur mit dem Blick auf die Erreichung individueller Ziele angesammelt. Vor allem "die Besorgnis hinsichtlich der Zukunft", so schreibt Hobbes, "führt die Menschen dazu, die Ursachen von Dingen zu erforschen, da ihre Kenntnis sie besser dazu befähigt, die Gegenwart zu ihrem größeren Vorteil einzurichten."18 Indem er die Fähigkeit, Wissen zu erwerben, solcherart zu einem Werkzeug des Menschen macht, indem er gar die Begriffsbildung für von ihrer Auseinandersetzung mit Problemen abhängig erklärt,19 faßt er das Interesse an Wissen rein praktisch. Es ist 14 VergI.: "... Wörter sind die Rechensteinchen der Klugen, mit denen sie nur rechnen. Sie sind aber das Geld der Narren, die es nach der Autorität eines Aristoteles, Cicero, Thomas oder irgendeines anderen Gelehrten bewerten, weIlll es nur ein Mensch ist." (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. IV. - S. 29). 15 Siehe auch: "... Vernunft ... wird durch Fleiß erlangt: zuerst durch passendes Belegen mit Namen, zweitens durch Aneignung einer guten und systematischen Methode des Fortschreitens von den Elementen, den Namen zu Behauptungen, die dadurch entstehen, daß man einen Namen mit einem anderen verbindet, und ebenso zu Syllogismen, den Verbindungen einer Behauptung mit der anderen, bis wir alles keIlllen, was aus den Namen folgt, die dem in Frage stehenden Gegenstand zugehören. Und eben dies neIlllt man Wissenschaft." (In. Hobbes: Leviathan. - Kap. V. - S. 36). 16 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap .. - Kap. V. - S. 33. 17 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. VII. - S. 49. 18 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XI. - S. 80. 19 Vergl. auch: "Aber die ganze Sprache, die von Adam und seiner Nachkommenschaft erworben und vermehrt worden war, ging am Turm von Babel wieder verloren, als alle Menschen durch die Hand Gottes für ihren Abfall mit dem Vergessen ihrer früheren Sprache geschlagen wurden. Und da sie hierdurch gezwungen waren, sich in verschiedene Teile der Welt zu zerstreuen, mußte es notwendigerweise dazu kommen, daß die derzeitige Verscbiedenheit der Sprachen sich von ihnen aus so weiterentwickelte, wie es ihnen die Not, die Mutter aller Erfindungen, lehrte ... " (In. Hohbes: Leviathan. - Kap. IV. - S. 24 f.); diese Idee hat im 20. Jhd. mit dem späten Wittgenstein neuen Auftrieb erhalten. Sprache ist ein Werkzeugkasten, sie soll bei der Lösung praktischer Probleme helfen und läßt sich nur funktional von ihren Zwecken her erklären.
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ihm nicht Selbstzweck, sondern dient der Befriedigung von Bedürfnissen, seien es Leidenschaften oder Lebensnotwendigkeiten. Nicht die Wahrheit eines Weltbildes, sondern die Nützlichkeit für denjenigen, der mit seiner Hilfe Probleme lösen will, tritt in den Mittelpunkt des Interesses. 20 Da der Forschungsprozeß und seine Ergebnisse von individuellen Interessen bestimmt ist, steht ein möglicher Konsens über den Zustand der Welt prinzipiell auf schwachen Füßen. Da Sprache überdies falsch benutzt oder gar mißbraucht werden kann, kurz, da Menschen einander belügen können,21 ist der Konsens sogar äußerst prekär. Mögen kleine, oft miteinander agierende Grüppchen auch das nötige Vertrauen zueinander autbauen können, und mögen sich Forscher zumindest anhand ihrer Forschungsmethoden auf die Art und Weise einigen können, wie Probleme angegangen werden sollten, so kann bei großen Gruppen die Wahrheit von Aussagen oder die Realität von Sachverhalten nur sehr bedingt Einigkeit stiften. Da umgekehrt auch Konsens nichts Gewisses über die Qualität eines Gegenstandes aussagt,22 hat beides schlicht nichts miteinander zu tun. 23 Der Sozial wissenschaftler24 Die Überlegung, daß es prinzipiell unmöglich ist, sich zweifelsfrei auf das Vorliegen bestimmter Sachverhalte zu einigen, hat für den Sozialwissenschaftler Hobbes weitreichende Konsequenzen. Die Unfähigkeit, objektive Kriterien für die Bewertung individueller Ansprüche und damit einen Rahmen für Konsens abzuleiten, erklärt sein beharrliches Festhalten an einem Bild der sozialen Welt, das durch das Kräftespiel menschlicher Sozialatome bestimmt ist, die nicht oder nur unwesentlich miteinander kommunizieren können. Wo es nicht nur schwierig ist, sich mit dem anderen zweifelsfrei auf eine gemeinsame Wahrheit zu verständigen, sondern wo dieser andere überdies stets im Verdacht steht zu lügen, ist die Umwelt eines jeden mit Menschen bevölkert, die einander kaum kennen können und unfähig sind, die Bedürfnisse, Interessen und 20 "... nicht mehr die rationale Weltordnung, die es mit der menschlichen Vernunft zu erkennen gilt, sondern die autonome menschliche Vernunft, die sich ihre Welt organisiert, ist das zentrale Prinzip." (E. Reibstein (Hrsg.): Volkssouveränität und Freiheitsrechte. (fexte und Studien zur politischen Theorie des 14. - 18. Jahrhunderts) - Bd. 2. - Freiburg u. München: 1972. - S. 25). 21 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. IIl. - S. 24 f. 22 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. V. - S. 33. 23 Platons Philosoph ist unter Höhlenbewohnern nur ein Spinner. Käme es ihm eher auf den friedlichen Umgang mit ihnen an, als auf die Verbreitung seiner Wahrheit, wäre er zu Konzessionen und Kompromissen gezwungen. Müßte er sich überdies fragen, ob sein Erlebnis nicht vielleicht eine schlichte Halluzination war, so läge es für ihn nahe, im Konformismus den besseren Weg zu sehen. 24 Zum Verhältnis von Sozialwissenschaften und Politischer Philosophie vergl. auch: D. D. Raphael: Hobbes - Morals and Politics. London: 1977. - S. 61 f.
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Wünsche ihrer Mitmenschen zweifelsfrei zu ermitteln. Der einzelne steht also, vor allem in großen Gruppen, vielen unberechenbaren Individuen gegenüber, die alle die unangenehme Fähigkeit haben, ihm schaden zu können, wenn sie es wollen. Hobbes' Ziel ist es, trotz der potentiellen Gefahrlichkeit dieser Unbekannten Zusammenarbeit und friedlichen Wettbewerb 2s zu realisieren. 26 Damit interessiert er sich nicht für den Menschen in seiner Auseinandersetzung mit der Natur, selbst dessen auf Güter bezogener Kontakt mit anderen wird auf die soziale Komponente reduziert,27 er beschäftigt sich vielmehr mit ihrer prekären Fähigkeit zur Zusammenarbeit. In diesem Sinne ist die Herstellung der Bedingungen für Kooperation ein "Kunstwerk" und wenn Hobbes hier von Kunst spricht, liegt das Besondere nicht in einer erlernten Kunstfertigkeit im Umgang mit der Welt an sich,28 sondern nur in einer solchen, die sich auf die Gestaltung sozialer Beziehungen richtet. 29 Wie dennoch ein friedliches Zusammenleben möglich ist, läßt sich für Hobbes aus der empirischen Wirklichkeit und insbesondere aus der Geschichte ablesen. Wie Machiavelli und mit Einschränkungen auch Bodin hat Hobbes auch ihr gegenüber ein vollständig instrumentelles Verhältnis. Geschichte dient ihm lediglich dazu, das Funktionieren sozialer Mechanismen zu beobachten und zu begreifen. Zu diesem Zweck sei Geschichte nützlich, "gleichviel ob sie wahr oder falsch ist, wenn sie nur nicht unmöglich ist. Denn in der Wissenschaft sucht man nicht so sehr die Ursachen dessen, was gewesen ist, als die Ursachen dessen, was sein könnte."3o Um zu entscheiden, was in der sozialen Welt mög25 Hier besteht die Zusammenarbeit lediglich in der Beschränkung auf friedliche Mittel des Wettbewerbs, was keineswegs ausschließt, daß sich die Konkurrenten ansonsten feindlich gegenüberstehen. 26 Damit ist klar, daß es nicht eine "böse" Menschennatur ist, die Hobbes' Naturzustand zugrundeliegt, sondern die Unfähigkeit, den anderen hinreichend kennenzulernen. (vergl. auch: P.l. lohnson: "Hobbes and the wolf-man" in: C. Walton & P.J. lohnson: Hobbes "Science of Natural lustice". - Dordrecht: 1987. - S. 139-151; selbst ein so systematisch argumentierender Autor wie McNeilly geht von "a very pessimistic view of human nature" aus F. S. McNeilly: The Anatomy of Leviathan. - London: 1968. - S. 95 ff. 27 Wenn man die Produktion und den Verieauf von Kartoffeln als die Bereitstellung dieser Kartoffeln auf dem Markt faßt, kann man von der Produktion ganz absehen und auch sie völlig als Dienstleistung ansehen. Auf dem Mariet wäre damit die Produktion nur noch durch den Schleier der Transaktion von Dienstleistungen präsent und die verfügbaren Produktionsmittel nur in Foml voraussichtlicher Angebote in der Zukunft. 28 Daller auch die von Strauss angezeigte Vernachlässigung der Medizin als Kunst der Lebensverlängerung (L. Strauss: Hobbes' Politische Wissenschaft. - Neuwied: 1966. - S. 26). 29 Hans Maier schreibt dazu: " ... die ältere ethische Lehre der Politik bricht hier in den Dualismus des "privat" gewordenen Individuums mit seinem Sekuritätsbedürfnis und die vom Menschen gelöste Technizität des Staatsapparates auseinander." (H. Maier: "Hobbes" in: ders. (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens. Bd. 1 (plato bis Hobbes). München: 1968. - S. 374). 30 Th. Hobbes: Vom Menschen - Vom Bürger. - "Vom Menschen". - XI/lO. Die Zitate aus dem De Cive entnehme ich der Übersetzung von Frischeisen-Köhler, die Günter Gawlick nach dem lateinischen Original berichtigt hat und die bei Meiner herausgekommen ist (Th. Hobbes: Vom Menschen - Vom Bürger. - Hamburg: 1959. - 337 S.).
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lich oder unmöglich ist, hat jeder einzelne zuerst einmal nur die eigenen, ganz persönlichen Erfahrungen. Will er über diese hinausgehend allgemeine Aussagen über die soziale Welt auf Erfahrung grunden, so ist eine andere Art von Erkenntnis gefragt, diejenige der Introspektion. Da die Welt auch für Hobbes' Individuen viel zu unübersichtlich geworden ist, als daß er es für zweckmäßig halten würde, die Menschen in Gruppen oder Klassen einzuteilen,31 ist es ihm allemal verläßlicher, wenn der einzelne in sich selbst nach allen Menschen gemeinsamen Charakterzügen sucht. Hobbes abstrahiert dazu von den möglichen Gegenständen menschlichen Strebens und hält nur das Streben selbst als Basis für sein Konstrukt zuIiick: ... jedennann, der in sich selbst blickt und darüber nachdenkt, (wird) aus seinem Denken, Meinen, Schließen, Hoffen, Fürchten, usw., und deren Gründen lesen und. erkennen, welches die Gedanken aller anderen Menschen bei den gleichen Anlässen sind; dies wegen der Ähnlichkeiten von Gedanken und Leidenschaften eines Menschen mit denen eines anderen. Ich sage, die Ähnlichkeit von Leidenschaften, welche in allen Menschen dieselben sind - Verlangen, Furcht, Hoffnung usw. - nicht die Ähnlichkeit der Objekte der Leidenschaften, ... Denn diese weichen durch die individuelle Veranlagung und verschiedene Erziehung soweit voneinander ab und können so leicht unserer Erkenntnis entzogen werden, daß die Inschriften des Menschlichen Herzens, befleckt und durcheinander wie sie durch Heucheln, Lügen, Nachahmen und Irrlehren sind, nur von demjenigen gelesen werden können, der die Herzen erforscht. 32
Damit der Forschende nicht eigene Sonderbarkeiten für allgemeingültig erklärt, macht Hobbes die Richtigkeit seiner Argumentation von der Resonanz abhängig, auf die er bei seinen Lesern trifft. Seine Art von Lehre, so schreibt er, lasse keine andere Beweisführung zu. 33 Je mehr Menschen sich in Hobbes' Aussagen widerfinden, desto sicherer kann er davon ausgehen, damit auf wesentliches gestoßen zu sein. Neben dem allgemein verbreiteten Mißtrauen und der Strebsamkeit der Menschennatur bestimmt allerdings noch ein dritter Faktor den sozialen Kosmos, aus dem Hobbes seine Naturgesetze ableiten kann. Dieser Faktor ist die reale Gleichheit der am sozialen Leben Beteiligten. 34 Nur Vergl. auch die Einleitung zur Thukydides Übersetzung: ..... the principal and proper work of history beine to instruct and enable men, by the knowledge of actions past, to bear themselvse prudently in the present and providently towards the future ..... Th. Hobbes: "To the Readers" in: The English Works. - London: Bohn, 1843. - Bd 3. - S. VII; sowie: L. Strauss: Hobbes' Politische Wissenschaft. - Neuwied: 1966. - S. 88 ff. 31 Wenn Hobbes deshalb soziale Klassen ignoriert, hat das weniger damit zu tun, daß er sich von der Bedeutung mitreißen ließ, die er der Gleichheit zwischen den Menschen zumißt, wie Macpherson schreibt (C.B. Macpherson: "Introduction" in: Th. Hobbes: Leviathan. - New York. Penguin: 1978. - S. 58), sondern damit, daß auch für ihn der Klassenbegriff angesichts steigender sozialer Mobilität nichts mehr taugt. 32 Th. Hobbes: Leviathan. - Vorwort zum 1. Teil. - S. 6 f.; siehe auch: Kap. XIII. - S. 96 f. 33 Th. Hobbes: Leviathan. - Vorwort zum 1. Teil. - S. 7. 34 Dem Phänomen der Gleichheit bei Hobbes haben in letzter Zeit vor allem zwei Autoren Aufsätze gewidmet. Da ist zum einen G. Nemey: "The Hobbesian Argument for Human Equality" in: The Southem Journal of Philosophy. - 24 (Wint. 1986). - S. 561-576; und zum anderen B. Baumrin: "Hobbes's Egalitarianism: The laws of natural equality". - S. 119-127 in: Martin Bertman & Michel Malherbe: Thomas Hobbes - De la MI~taphysique ala Politique. - Paris: 1989.
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wenn die Menschen einander als im wesentlichen Gleiche gegenüber stehen, nur wenn sie nicht von vomeherein in Starke und Schwache geteilt sind, also in solche, die sich gegen ihre Mitmenschen durchsetzen können, und solche, die Übergriffe mehr oder weniger widerstandslos hinzunehmen haben, macht es Sinn, allen die gleichen Ratschläge zu geben. Robbes schreibt dazu: Aristoteles ... machte einen ... starken Unterschied zwischen den uns Menschen von Natur aus innewohnenden Fähigkeiten, ... Wenn es auch von Natur aus solche Unterschiede gäbe ... so werden doch darüber, wer vor anderen durch Vortrefflichkeit hervorrage und wer so einfält~ sei, um sich nicht selbst regieren zu können, die Menschen niemals unter sich einig werden .. .3
Die Annahme, daß die Menschen nicht bereit seien, sich freiwillig "Fähigeren" zu unterwerfen, ergibt sich für Robbes wiederum aus der alltäglichen Erfahrung. Auch wenn er in diesem Fall seine Leser nicht explizit auffordert, ihr eigenes Verhalten zu beobachten, deutet er ein solches doch an, wenn er schreibt, daß die Menschen sich offenbar für berechtigt halten, all die Dinge zu erwerben, zu deren Erwerb sie das Vermögen haben, und deshalb unausweichlich miteinander in Konflikt geraten. 36 Die Tatsache des Konflikts selbst, die Tatsache, daß eine "naturgegebene" Rangordnung nicht mehr unbefragt hingenommen wird, ist für ihn und seine Zeitgenossen angesichts der Auseinandersetzungen des Königs mit dem Parlament, in denen schließlich auch die Thesen der Levellers eine Rolle spielen, offensichtlich. Robbes führt seine Gleichheitsvorstellung mit Hilfe einer zweifachen Reduktion ein. 37 Zwar seien die Fähigkeiten der Menschen durchaus verschieden, da sie einander aber mit Leichtigkeit töten könnten, seien diese Unterschiede aber relativ unwichtig. "Die einander Gleiches tun können," schreibt er, "sind gleich und die, die das Größte vermögen, nämlich einander zu töten, können auch Gleiches tun. Deshalb sind alle Menschen von Natur einander gleich; die jetzt bestehende Ungleichheit ist durch die bürgerlichen Gesetze eingeführt worden."38 Die Leichtigkeit, mit der jeder ein Opfer des anderen werden kann, nötigt jeden dazu, mit seinen Mitmenschen auf bestmöglichem Fuße zu leben. Sicherheit kann er nur erhoffen, wenn er die potentiellen Motive zu feindlichen Akten nach Kräften ausräumt. Man könnte die Konsequenzen Robbesscher Gleichheit in dem Satz zusammenfassen "Es kann der Stärkste nicht in Frieden leben, wenn es dem schwächsten Nachbarn nicht gefällt." Wo im wesentlichen alle gleich sind, ist der Anspruch auf die Position des "Besseren"39 ein sicheres Gift für das schwa35 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. - XVII/I. - S. I J3 f. 36 VergI.: Th. Hobbes: Vom Menschen - Vom Bürger. - Vom "Bürger". - 1/1. - S. 75 ff.; sowie: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIII. - S. 94. 37 P. Tort: Physique de rEtat - Examen du corps politique de Hobbes. - Paris: 1978. - S. 8. 38 VergI.: Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. I!3. - S. 80. 39 Die Frage, wer der Bessere ist, kann der einzelne schon für sich nicht entscheiden, geschweige denn gegen den anderen. Schon in den Frühschriften beginnt Hobbes einen Essay :rur Arroganz mit den Worten: "Arrogance is the assuminge to a mans seife the lilie of any vertue, withoul
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che Pflänzchen vertrauensvoller Zusammenarbeit. 40 Nur die Forderung, alle als Gleiche zu behandeln, kann zum Frieden führen. Gayne Nerney, der die Frage von Robbes' Egalitarismus thematisiert, kommt denn auch zu dem Schluß, daß es dem Autor weniger um die Feststellung realer Gleichheit geht, als vielmehr um die "Notwendigkeit, so zu handeln, als seien die Menschen gleich."41 Robbes lehrt also Bescheidenheit, er weist darauf hin, daß es ein Zeichen von Selbstüberschätzung sei, sich für besser, klüger oder stärker als die anderen zu halten,42 und dies nicht, weil es nicht in der Tat so wäre,43 sondern weil daraus keine reale Vorrangstellung anderen gegenüber abzuleiten ist. 44 Wo es unmöglich ist, sich zweifelsfrei auf die Vorzüge und Nachteile der Menschen verständigen zu können und wo niemand schon von seinem individuellen Vermögen her fähig dazu ist, sich gegen die Mitmenschen zu behaupten, ist Gleichheit eine notwendige Setzung, sie ist der einzige Punkt, an dem sich Kooperation herauskristallisieren kann.45 Die zweite Reduzierung, die Hobbes vornimmt, ist die Gleichsetzung unfreundlicher Beziehungen mit dem Vorgang des Tötens. 46 Dabei steht die the pos session , or (if with the possession) yet without the evidence. For not only he that speakes of hirnself more good then is true, bot he also that sayes more then he is sure will beleeved must deserve the name of Arrogant." (Th. Hobbes "Essaies". in: F. O. Wolf: Hobbes' neue Wissenschaft. StuttgartlBad Cannstadt: 1969. - S. 136 f.) Diese Charakterisierung ist bemerkenswert, weil sie den Schwerpunkt der sozialen Bedeutung von Wertschätzung an der Akzeptierung durch den anderen festmacht. Im Leviathan wird Hobbes diese Idee wieder aufnehmen. 40 Ein Beispiel mögen die Deutsch-Französischen Beziehungen sein. Ich weiß nicht, wie viele der dort Aktiven insgeheim die Überzeugung hegen, ihre Kultur sei der des Nachbarlandes überlegen. Im Umgang mit den anderen wird jedenfalls immer Gleichheit angenommen: "Ihr habt Eure Fehler, wir haben unsere; Ihr habt Eure Stärken und wir die unseren." Würde eine Seite ihre Überlegenheit betonen, wiche der Dialog schnell einer kühlen Konfrontation. WeIche Nation "objektiv" mehr für sich hat, muß dabei unentschieden bleiben, und dies nicht, weil es unmöglich wäre, daß Überlegenheit besteht, sondern weil darüber kein Konsens zu erzielen wäre. Wer die besseren Sportler ins Feld schickt, läßt sich noch objektiv klären, wer dem anderen kulturell überlegen ist, sicherlich nicht. 41 G. Nemey: "The Hobbesian Argument for Human Equality" in: The Southem Journal of Philosophy. - 24 (Wint. 1986). - S. 563. 42 Vergl. beispielsweise: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. V. - S. 33. 43 Hobbes selbst scheint anerkannte Größe dabei durchaus für möglich zu halten. Schon in den Essaies schreibt er: ... where vertue is really, her owne Light discovers the owner, so that he need not be his owne trumpet, that truely enjoyes her, but rather he that has her not, save onely in his owne opinion ... (Th. Hobbes: "Essayes". - S. 137). 44 Was dem republikanischen Machiavelli die Verfassung der Republik war, der Schellingsche topographische Punkt, an dem sich die gleich starken Republikaner finden können, ist damit für Hobbes das Prinzip der Gleichbehandlung. Hobbes ist nicht am realen Vorhandensein von Gleichheit interessiert, sondern an Konsens. Wenn ein "großer Mann" wirklich "groß" ist und als solcher auch anerkannt wird, gibt es kein Problem. Auch wenn er nur von den anderen für "groß" gehalten wird, ist der Konsens gewahrt. Ist dies freilich nicht der Fall, nutzt ihm weder seine subjektive Meinung von der eigenen Größe, noch ihr tatsächliches Vorhandensein. 45 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil I. - Kap. - XVII/I. - S. 115.
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Leichtigkeit des Tötens in keinem Verhältnis zu der Folge, die es für den anderen hat. Eliminiert die erste Reduktion mit der Annahme existentieller Gleichheit alle möglichen Formen dauerhafter Unterdrückung, so blendet die zweite alle Möglichkeiten aus, die eigene soziale Position durch begrenzte Drohung oder Täuschung zu verbessern. Da einerseits bei Gleichheit der Fähigkeiten jede Täuschung irgendwann auffliegt und zum Konflikt führt und da andererseits jede Drohung irgendwann eskaliert, läuft es immer auf die "ultima ratio" hinaus. Jeder Konflikt endet früher oder später in einem Kampf auf Leben und Tod. Mit der Reduzierung unkooperativen Verhaltens auf die Bedrohung mit dem Tode erreicht Hobbes aber noch ein weiteres. Er beschränkt den institutionellen Regelungsbedarf auf die Eliminierung der Tötungsoption. Die Erringung des Gewaltmonopols reicht, um in ausreichendem Maße Kooperation zu ermöglichen. Nur die Option, sich gegenseitig töten zu können, muß von den Untertanen aufgegeben werden, um genug Vertrauen für ein Minimum an Zusammenarbeit herzustellen. Die Aufgabe der Staatsgewalt ist damit sehr eng definiert, soziale Gerechtigkeit etwa oder die Bedingungen für einen "herrschaftsfreien Dialog" spielen für Hobbes keine Rolle. Wenn es möglich ist, allgemeingültig menschliche Charakterzüge zu ermitteln und bestimmte Rahmenaussagen über ihr mögliches Verhältnis zueinander zu machen, lassen sich für den so umschriebenen Kosmos Handlungsanleitungen formulieren, die weder theologisch, philosophisch oder historisch legitimiert sein müssen, noch empirischen Zufälligkeiten unterliegen. Hobbes schreibt: "... ich gründe das staatliche Recht der Souveräne und die Pflicht und Freiheit der Untertanen auf die bekannten natürlichen Triebe der Menschheit und auf die Grundsätze des Gesetzes der Natur ... "47 Von den natürlichen Trieben der Menschen und ihrem Verhältnis zueinander war schon die Rede, die "Grundsätze des Gesetzes der Natur" sind die Regeln, die aus diesen Rahmenbedingungen abgeleitet werden können. In der vereinfachten Welt unberechenbarer, aber im wesentlichen gleicher Energiebündel sind Regeln also nicht durch Gewohnheit legitimiert und damit mehr oder weniger historische Zufälligkeiten,48 sondern immer und in allen Lagen gültig. Sicherlich mögen empirische Studien und gewohnheitsmäßiges Handeln helfen, Fehler zu vermeiden, um aber sicher die Gründe für die "Krankheiten des Gemeinwesens" beseitigen zu können, bedarf es der Kenntnis der "Naturgesetze". Und so kann Hobbes zu der Überzeugung kommen: 46 Siehe auch hierzu: P. Tort: Physique de l'Etat - Examen du corps po1itique de Hobbes. - Paris: 1978. - S. 8. 47 Th. Hobbes: Leviathan. - Rückblick und Schluß. - S. 541. 48 Das Gewohnheit allein kein Recht setzt, dazu siehe auch: Th. Hobhes: Naturrecht ... - Teil I. - Kap. VII/lI. - S. 118 f.).
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... wenn auch an allen Orten der Welt die Menschen das Fundament ihrer Häuser auf Sand legen würden, so kiinnte daraus nicht geschlossen werden, dies müsse so sein. Die Kunst, Staaten zu schaffen und zu erhalten, besteht wie die Arithmetik und die Geometrie aus sicheren Regeln und nicht wie TeMisspielen aus bloßer Übung. Bisher besaßen weder arme Leute, denen die Muße dazu fehlt, noch Reiche, die diese Muße gehabt hätten, die Neugier oder die Methode, um diese Regeln ausfindig zu machen.49
Damit ist, wie Patrick Tort zu Recht bemerkt, das Verhältnis von Hobbes' Theorie zur politischen Praxis dem der Physik zur Tätigkeit des Ingenieurs zu analog. so Man könnte das, was er betreibt, als Machtphysik bezeichnen, als eine Tätigkeit, die Naturgesetzen folgend die Kräfte in der sozialen Welt möglichst optimal zu kombinieren trachtet. S1 Kennt man die Gesetze, kann man auf beliebige Konstellationen in der realen Welt angemessen reagieren. In diesem Sinne ist Hobbes System universal. s2 Zudem ist es einfach, andere von der Richtigkeit bestimmter Ge- oder Verbote zu überzeugen, wenn sie sich klar wie mathematische Lehrsätze ableiten lassen. Jeder hat ruhige Stunden, in denen die Leidenschaft ihn nicht daran hindert, ihre Wahrheit klar einzusehen. s3 Ist dies geschehen, läßt sich konsensfähig begründen, was richtig und falsch, gut und böse ist. Ein Jonglieren mit Dogmen verschiedener Herkunft, wie Bodin es beispielhaft vorexerzierte, wird als Taschenspielertrick durchschaubar,s4 wenn nicht die Köpfe der Adressaten mit "falschem en" zugestopft sind. Diesem zu begegnen und das richtige zu verbreiten, ist die dritte Aufgabe, die sich aus Hobbes' spezifischer Vorstellung von Moralphilosophie ergibt. Der Prediger der Vernunft Hobbes führt den Großteil der Ideologien, die die Einheit des Staates gefährden, auf falsch verstandenes Bücherwissen zurück. Das blinde Akzeptieren der Lehrmeinungen früherer Größen ist wie die kritiklose Hinnahme kirchlich verordneter Dogmen, etwas, das den Menschen eher den Blick auf die Wirk49 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XX. - S. 162; vergl. auch: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 256.
50 Siehe auch: P. Tort: Physique de l'Etat - Examen du corps politique de Hobbes. - Paris: 1978. - S. 70. 51 Hier liegt der Grund, aus dem gerade Hobbes für die Neue Politische Ökonomie so interessant ist, er nimmt im wesentlichen die Methode der klassischen Nationalökonomie vorweg und man kann Reibstein nur zustimmen, wenn er schreibt, daß ..... Hobbes nicht von dem humanistischen Menschenbild, sondern von der Konstruktion einer abstrakten Natur des Menschen ausgeht, einern schematischen homo politieus, dem älteren Bruder des homo oeeonomieus der englischen Begründer der Volkswirtschaftslehre. (E. Reibstein (Hrsg.): Volkssouveränität und Freiheitsrechte. (Texte und Studien zur politischen Theorie des 14. - 18. Jahrhunderts) Bd. 2. Freiburg u. München: 1972. -
S.37).
52 Hierzu vergl. auch: H. Hein: Subjektivität und Souveränität. - Frankfurt/M. 1986. - S. 132. 53 Th. Hobbes: "Vorn Bürger". - Kap. III/26. 54 Vergl. hierzu: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XI. - S. 79.
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lichkeit verstellt, als daß es ihm neue Perspektiven eröffnet. 55 Zudem bietet der Dogmendschungel in seiner anarchischen Vielfalt all jenen vorzügliche Dekkong, die ganz andere Interessen vertreten als dasjenige, die Wahrheit voranzubringen. Den Vorwurf von Zeitgenossen gegen Bodin erhebt Hobbes gegen die "bloße Büchergelehrsamkeit" insgesamt. Oft fehlt den Gelehrten,56 die über Gut und Böse noch am besten Bescheid wissen, der Sinn für das politisch Relevante. Schlimmer aber noch ist es, wenn Unternehmer, die die politische Wirksamkeit von Ideologien richtig erkannt haben, deren Autorität für ihre eigennützigen Zwecke mißbrauchen. Entspricht eine Ideologie nämlich den subjektiven Interessen und Meinungen von genügend Menschen, kann man sich in sophistischer Manier ihre Unterstützung sichern, um eine individuelle Machtbasis aufzubauen. Wenn man dann erfolgreich in der Lage ist, den regierenden Fürsten zu ersetzen, wäre das noch nicht so schlimm, da der Staat an sich dabei erhalten bliebe. Versuchen aber mehrere Unternehmer mit verschiedenen Ideologien das Gleiche, muß der Bürgerkrieg irgendwann die Folge sein. Wenn Hobbes deshalb überhaupt zu religiösen Fragen Stellung nimmt, so um dem Hauptübel auf dem Weg zum Frieden entgegenzuwirken, dem der privaten Definition des guten und gerechten Handelns. 57 Wo verschiedenen Instanzen die Klärung dieser Frage überlassen bleibt, muß es, der Unklarheit des Gegenstandes und der Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit wegen, zu Meinungs55 "Wer sich über die Ursachen der Dinge ausläßt, indem er nur den Schriften anderer folgt und fremde Meinungen, ohne selbst etwas zu entdecken, abschreibt, taugt gar nichts. Denn etwas Gesagtes zu wiederholen, hat nichts Gutes an sich, sondern im Gegenteil oft das Schlechte, daß es der Wahrheit den Weg verbaut, indem es die Irrtümer der Alten bekräftigt." (Ib. Hobbes: "Vom Menschen". - XI/9). 56 In einem Satz, der auch auf Bodin gemünzt sein könnte, schreibt Hobbes: ..... die Frage ist, wessen Vernunft als Gesetz aufgefaßt werden soll. Es ist nicht jede private Vernunft gemeint, denn sonst gäbe es bei den Gesetzen ebensoviel Widersprüche wie bei den Scholastikern, und auch nicht, wie Sir Edward Coke meint, "eine ausgebildete Vollkommenheit der Vernunft, erlangt durch lange Studien, Beobachtungen und Erfahrungen" wie die seine. Denn es ist möglich, daß ein langes Studiwo irrtümliche Urteile vennehrt und befestigt, und wo die Menschen auf schlechtem Grund bauen, da wird die Ruine nur wo so größer, je mehr sie bauen, und die Gründe und Ergebnisse derer, die in gleicher Zeit und mit gleichem Fleiß studieren, sind widersprüchlich und müssen es bleiben." (Ib. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVI. - S. 207). 57 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXIX. - S. 246 f.; auch La Boetie haUe in bezug auf die Gefährlichkeit unterschiedlicher religiöser Überzeugungen auf die friedensstörende Wirkung der privaten Entscheidung über Gut und Böse hingewiesen: "Cela se fait pour ce que le populaire, ayant connu qu'il n'est pas tenu d'obeir, fait mal son profit de ceUe regle, qui, de soi, n'est point mauvaise, et en tire une fausse consequence qu'il ne faut obeir aux superieurs qu'aux bonnes choses d'elles memes, et apres s'attribue le jugement de ce qui est bon ou mauvais ..... (E. de La Boetie: "Memoire touchant l'edit de janvier" in: ders.: Oeuvres Politiques. - Paris: 1971. - S. 82); ganz anders dagegen Th. de Beze: "Verordnet die Obrigkeit, etwas zu tun, was Gott verbietet ... dann wirst du deine Pflicht erst dann richtig erfüllen, wenn du einen solchen Befehl nicht ausführst ... Wenn der Tyrann aber verbietet, was Gott befiehlt, dann glaube nicht, deiner Pflicht dadurch ledig zu sein, daß du nur einfach dem Tyrannen den Gehorsam verweigerst, wenn du nicht zugleich auch Gottes Befehl befolgst." (lbeodor Beza: "Das Recht der Obrigkeiten gegenüber den Untertanen und die Pflicht der Untertanen gegenüber den Obrigkeiten" in: J. Dennert: Beza, Brutus, Hotman - Calvinistische Monarchomaehen. - Opladen: 1968. - S. 4 (3. Unters.).
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verschiedenheiten kommen. Das Mißtrauen gegen machiavellistische Unternehmer macht dann die Einigung über strittige Punkte vollends unmöglich. Was die Menschen tatsächlich glauben, ist Hobbes ziemlich gleichgültig, wichtig ist, welche Handlungen daraus folgen. 58 Schon Bodin legte Wert darauf, auf die soziale Dimension des Religiösen hinzuweisen, auf weltliche Faktoren, die das religiöse Bewußtsein beeinflussen. Für Hobbes ist es nur noch der handlungsrelevante und damit soziale Aspekt, der zählt. 59 Er habe sich, so schreibt er, "in keinen Streit über theologische Lehren einlassen wollen, diejenigen ausgenommen, welche den Gehorsam der Bürger aufheben und die Festigkeit des Staates erschüttern."6o Daß dies nicht nur für religiöse Überzeugungen gilt, sondern für "Weltanschauungen" im allgemeinen, versteht sich. 61 Selbst in den Naturwissenschaften auftretende Streitfragen müssen um des Konsenses willen vom Souverän entschieden werden. 62 Für einen derart an exakten Wissenschaften interessierten Philosophen ist Hobbes' Position immerhin bemerkenswert. 63 Die entscheidende Gefahr für den Frieden sieht Hobbes freilich in der Verquickung von Religion und Politik. Wo der Glaube zu einer Relativierung der diesseitigen Existenz führt, wo Märtyrertum und Todesverachtung möglich und mit einem Recht zum Widerstand gegen staatliche Autorität verbunden werden kann, muß seine, im wesentlichen auf kühl kalkuliertem, sehr diesseitigem Eigennutz aufbauende Argumentation zusammenbrechen. 64 58 Auch Hobbes sieht, was Allen mit Blick auf die Konflikte in Frankreich hundert Jahre zuvor konstatiert: "Since the Protestants appealed to the Bible, needs must the Catholics have done so; since the royalists appealed to them, rebels had to do the same. So both sides made all the use they could of Samuel and Saul and David and Daniel. One wonders a little, finding in pamphlet after pamphlet the same manifestly inconclusive arguments, why it was that neither saw the futility of it all. For, evidently, Saul and David were as much use to one side as to the other." (1. W. Allen: A History of Political Thought in the Sixteenth Century. - London: 1960. - S. 302). 59 ..... ein Teil der christlichen Lehre ist der Glaube, der nicht unter dem Gesetz mit befaßt ist. Denn die Gesetze werden für die Handlungen gegeben, die nach unserm Willen geschehen, aber nicht für Meinungen noch für den Glauben; diese sind nicht in unserer Gewalt und folgen nicht unserm Willen." (Ib. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. IVI24). 60 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Vorwort. - S. 73; vergI.: Leviathan. - Kap. XLIII. - S. 458 f. 61 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XVIl/12. 62 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XVIl/I2. 63 La Boetie hatte freilich eine noch drastischere Position als effizient, wenn auch verwerflich. vertreten, als er in bezug auf die Osmanenhemcher schrieb: "Le Grand Turc s'est bien avise de dela, que les livres et la doctrine donnent plus que tout autre chose, aux hommes, le sens de se reconnaitre et d'hair la tyrannie. 1'entends qu'il n'a en ses terres guere de plus savant qu'il n'en demande. Or communement, le bon zele et affection de ceux qui ont garde malgre le temps la devotion a la franchise, pour si grand nombre qu'il y en ait, en demeure sans effet pour ne s'entreconnaitre point." (E. de La Boetie: "Discours sur la servitude volootaire" in: ders.: Oeuvres Politiques. Paris: 1971. - S. 61). 64 "... (es) werden Menschen, die einmal von der Meinung besessen sind, daß es für sie schädlicher sei, der souveränen Gewalt zu gehorchen, als ihr nicht zu gehorchen, die Gesetze nicht befolgen, dadurch den Staat umstürzen und Unordnung und Bürgerkrieg hervorrufen, die zu vermeiden Zweck der Einsetzung jeder bürgerlichen Regierung war. Und deshalb hießen in allen heidnischen Staaten die Souveräne Priester des Volkes, da es keinen Untertanen gab, der ohne ihre Erlaubnis
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Natürlich könnte auch Hobbes seinen Rezepten eine über die diesseitige Nützlichkeit hinausgehende Autorität verschaffen, wenn er wie Bodin vor der strafenden Hand Gottes warnte. Da er dann aber vor demselben Problem stünde, wie die Priester und andere Autoritäten, die nur blinden Glauben fordern können, nicht aber vernünftige Prüfung, verzichtet er ganz darauf. Forderungen, die ihre Autorität dem "Klassiker" Hobbes verdanken, widersprächen seinem wissenschaftstheoretischem Grundverständnis völlig. Statt dessen tritt er mit seinem neuen Wissenschaftsbegriff zu einem Feldzug gegen gemeinschaftszersetzende Ideologien an, der im Laufe seines wissenschaftlichen Lebens ständig an Bedeutung gewinnt. 65 Wichtigstes Mittel dabei ist ihm die Identifikation der sozialen Naturgesetze mit dem Gesetz Gottes,66 mit einer Form göttlicher Herrschaft, die nicht Gehorsam fordert, sondern die Menschen mit der unwiderstehlichen Gewalt physikalischer Naturgesetze 67 zwingt. Die Gesetze der Natur strukturieren die soziale Welt in einer Weise, die man kennen und beachten muß, wenn man die eigenen Ziele erreichen wil1. 68 Wo Hobbes von der göttlichen Strafe für die Übertretung der Naturgesetze spricht, hat er denn auch nicht mehr Naturkatastrophen oder andere direkte Eingriffe Gottes im Auge, sondern die direkten negativen Auswirkungen, die ein solcher Verstoß hat: ... (es kommt dazu.) daß Unmäßigkeit von Natur aus mit Krankheiten. Voreiligkeit mit Mißgeschicken, Ungerechtigkeit mit der Gewalttätigkeit von Feinden, Stolz mit Zusammenbruch, Feigheit mit Unterdrückung, die nachlässige Regierung von Fürsten mit Aufstand und Aufstand mit Metzelei bestraft werden. Denn da Strafen die Folgen von Gesetzesübertretungen sind, sind die natürlichen Strafen von Natur aus die Konsequenz aus der Übertretung von natürlichen Gesetzen ... 69
Genauso, wie jemand die Freiheit hat, mit dem Essen aufzuhören, hat er die Freiheit, dem Souverän gegenüber ungehorsam zu sein, und der Souverän hat die Freiheit, seine Pflichten zu vernachlässigen. Der Hungertod wäre in demselben Sinne eine göttliche Strafe wie der Krieg, der den ungehorsamen Untertanen wie den tyrannischen Herrschern in ihrem Gemeinwesen droht. und Ermächtigung das Volk rechtmäßig lehren konnte.... " (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XLII. S.412). 65 Zu dieser Komponente der Lehre vom Leviathan vergl. vor allem: Mathie, William: "Reason and Rhetoric in Hobbes Leviathan" in: Interpretation. -14 (May-Summer 1986). - S. 281-298; siehe auch: Johnston, David: The Rhetoric of Leviathan. - Princeton: 1989. - 234 S., sowie: J. Bamouw: "Persuasion in Hobbes's Leviathan" in: Hobbes Studies. - I (1988). - S. 3-26. 66 "Die Gesetze Gottes sind deshalb keine anderen als die Gesetze der Natur. deren hauptsächlichstes ist, daß wir unsere Treuepflicht nicht verletzen sollen, d. h. das Gebot unseren bürgerlichen Souveränen zu gehorchen ... " (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XLIII. - S. 447); siehe auch: XXVI. S. 212 f.; sowie: "Vom Bürger". - Kap. IV/l. IIIf29 und XV/8. 67 Vergl. auch C. J. Friedrich: The Philosophy of Law .... - S. 87. 68 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXI. - S. 272. 69 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXI. - S. 280.
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Im Konflikt zwischen Naturgesetz und Tradition oder Offenbarung ist damit die Strategie vorgegeben: Da Gott den Menschen keine widersprüchlichen Befehle gibt, ist jede Weltanschauung dort falsch, wo sie gegen die Naturgesetze verstößt, "(es) können einem Menschen", so schreibt Hobbes, "viele Dinge offenbart werden, die die natürliche Vernunft übersteigen, aber nichts, was ihr widerspricht."7o Indem er damit systematisch jeder Ideologie das Recht abspricht, Ungehorsam auf der einen und Tyrannei auf der anderen 71 Seite zu legitimieren, kann er die staatszersetzenden Tendenzen der Ideologien neutralisieren. Er kann diejenigen Stellen der Bibel, die seine These stützen, beibehalten und jene, die ihr zuwiderlaufen, fallen lassen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, sie auszulegen, wie es ihm gerade paßt. Unabhängig davon, was die Interpreten sagen, kann die Offenbarung nur Forderungen enthalten, die im Einklang mit den Naturgesetzen und damit im Einklang mit dem Gehorsamsgebot stehen. Alles andere müssen Übertragungsfehler sein. 72 Hobbes Position zur Religion ist somit nur ein Spezialfall seiner Überzeugung, daß wir uns angesichts unserer beschränkten Fähigkeiten, die WeIt zweifelsfrei erkennen zu können, im Zweifelsfall auf Klugheitsregeln zurückziehen sollen, auf dasjenige, was unabhängig von der konkreten Situationseinschätzung ein erfolgreiches Handeln ermöglicht. Hobbes untermauert die Behauptung, daß die natürlichen Gesetze Gottes verpflichtender seien, als alle, die aus der Offenbarung hervorgehen, indem er zeigt, daß offenbarte Religion immer auf einem anfechtbaren Vertrauen in Autoritäten beruht. Seine für einen modemen Leser manchmal nur schwer nachvollziehbare Interpretation der heiligen Schrift mag theologisch vielleicht zweifelhaft sein, in ihrem zentralen Anliegen ist sie eindeutig. Wo es unmöglich ist, letzte Gewißheit über die Wahrheit offenbarter Glaubenssätze zu erhalten, und wo die Definition und Auslegung solcher Sätze dem individuellen Machterwerb ihrer Propheten dienen kann, muß jeder offenbarte Glaubenssatz an den natürlichen Gesetzen gemessen werden. Hobbes schreibt: Es ist wahr, daß Gott der Souverän aller Souveräne ist, und deshalb muß ihm gehorcht werden, wenn er m einem Untertanen spricht, welche entgegengesetzten Befehle auch immer ein irdischer Souverän erlassen mag. Hier steht aber nicht der Gehorsam gegen Gott in Frage, sondern wann und was er gesprochen hat. Untertanen, denen keine übernatürliche Offenbarung widerfuhr, können dies nur durch jene natürliche Vernunft erkennen, die sie dam bringt, der Gewalt ihrer jeweiligen Staaten1 d. h. ihren gesetzlichen Souveränen zu gehorchen, um Frieden und Gerechtigkeit zu erlangen. 3 70 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XII. - S. 90 f. 71 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 255 ff.
12 Damit hat Hood zwar recht, wenn er meint, daß zwischen Hobbes' religiöser und wissenschaftlicher Überzeugung kein Konflikt bestehe (F. C. Hood: The Divine Politics of Thomas Hobbes. - Oxford: 1964. - S. 37), allerdings gerade nicht aus den Gründen, die er dafür ausmacht. 73 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXIII. - S. 290; damit befindet sich Hobbes wohl in bezug auf die praktischen Folgen, nicht aber im Prinzip im Widerspruch zu T. de Beze, der schreibt: "Da allein der Wille des einzigen, höchsten und besten Gottes ewig ist und er die unabänderliche Richt-
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Gott spricht also zwar auch durch die prophetische Offenbarung zu den Menschen, aber da die Adressaten nicht in der Lage sind, die Richtigkeit einer solchen Offenbarung zu prüfen,74 und da auch hier falsche Propheten am Werk sein können, ist die Offenbarung schlicht nicht (oder besser nicht mehr) konsensfahig. Selbst wenn sie durch ein Wunder beglaubigt ist, ändert sich wenig. 75 Schon für jemanden, der leibhaftig Zeuge eines solchen Wunders wird, mag das Erlebnis auf einem Irrtum oder einer Sinnestäuschung beruhen. Wo ihm aber von Wundern nur berichtet wird, sind die Probleme offenkundig, denn seine Gewährsleute" ... können irren; sie können auch die Schrift ihrem Ehrgeiz entsprechend beugen und ihren Vorurteilen gewaltsam dienstbar machen."76 Individueller Widerstand mag so durch ein persönliches Offenbarungserlebnis legitimierbar sein, kollektiver Widerstand, der über die Gruppe derer hinausgeht, die das Wunder direkt erlebt haben, ist ausgeschlossen. Dasselbe Problem stellt sich bei der Interpretation der Heiligen Schrift. Auch hier ist der einzelne nicht in der Lage zu prüfen, inwieweit eine bestimmte Interpretation den Kern trifft oder nicht. Wo es also schon für den direkten Zeugen der Offenbarung im Zweifelsfalle besser ist, dem Souverän zu folgen, ist dies für alle, die nur mittelbar von ihr wissen, eine zwingende Notwendigkeit. Dies ist natürlich vor allem ein Angriff auf die Ansprüche der katholischen Kirche, aber nicht nur. Nachdem Hobbes diese auf plastische Art mit dem Reich der Geister verglichen hat, das nur durch die Unwissenheit der Menschen besteht, schließt er: Aber wer weiß, ob dieser Geist Roms, der nun gewichen ist und mit Hilfe von Missionen durch die trockenen Gebiete Chinas, Japans und Indiens zieht, die ihm wenig Fruchte einbringen, nicht zuruckkehrt, oder ob nicht sogar eine Versammlung von Geistern, schlimmer als jener, dieses saubergefegte Haus bezieht, und das Ende schlimmer als den Anfang macht? Denn nicht nur der römische Klerus behauptet, das Reich Gottes sei von dieser Welt und er habe darin eine Macht, die sich von der des bürgerlichen Staates unterscheide.77
Die Abwehr irriger Meinungen über dasjenige, was zum Heil der Menschen notwendig ist, ist allerdings nur ein Teil der "religionspolitischen" Überlegunschnur jeder Gerechtigkeit bildet, muß man ihm ohne Ausnahme gehorchen, so behaupte ich. Was den Gehorsam angeht, der den Fürsten gebührt, so müßte man ihnen auch wie Gott immer und ohne Ausnahme gehorchen, wenn ihre Befehle aus dem ewigen Munde Gottes kämen. Da aber oft auch das Gegenteil bei ihnen vorkommt, so muß man folgende Bedingung hinzufügen: 'Solange sie nichts Gottloses oder Ungerechtes vorschreiben'" (Theodor Beza: "Das Recht der Obrigkeiten gegenüber den Untertanen und die Pflicht der Untertanen gegenüber den Obrigkeiten" in: J. Dennert: Beza, Brutus, Hotman - Calvinistische Monarchomaehen. - Opladen: 1968. - S. 4 (3. Unters.). 74 "Spricht Gott zu den Menschen, so geschieht dies notwendig entweder unmittelbar oder durch Vermittlung eines anderen Menschen, zu dem er früher selbst unmittelbar gesprochen hatte. Wie Gott unmittelbar zu einem Menschen spricht, mag von dem, zu dem er so gesprochen hat, recht gut verstanden werden; wie dies aber von einem anderen verstanden werden kann ist schwer, wenn nicht unmöglich zu begreifen." (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXII. - S. 286; siehe auch: XXVI. - S. 218 f.); sowie: "Vorn Bürger". - Kap. XlV/4. 75 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXVII. - S. 337 ff. 76 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XVII/I 8, siehe auch: XVII/27. 77 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XLIV. - S. 533.
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gen des Hobbes. Wie schon Machiavelli und Bodin erlebt auch Hobbes die handlungsmotivierende Kraft der Religion viel zu sehr in der Praxis mit, als daß er seinem Souverän dieses Mittel der Herrschaft vorenthalten wollte. Wie die Sophisten, begreift er schon die Entstehung der Religion ausschließlich unter Nützlichkeitsgesichtspunkten. 78 Es ist die staatsstärkende Religion, die Hobbes wiederbeleben will, wenn er affirmativ über Glaubensfragen schreibt. Im Vergleich vor allem zu Bodin, schneidet er die Religion dabei viel radikaler auf ihren Zweck hin zu. Indem er dem Souverän das Recht überträgt, die allgemeingültigen GIaubensinhaite zu dekretieren, stärkt er dessen Position ungemein, würde ein anderer über diese Macht verfügen, wäre der Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit schon im Keim angelegt und nur der Grad der Religiösität bei den Untertanen entschiede dann darüber, wer siegte. 79 Der Souverän muß deshalb das Oberhaupt der Kirche seines Staates sein: 80 ... halten die Christen ihren christlichen Souverän nicht für einen Propheten Gottes, so müssen sie entweder ihre eigenen Träume für die Weissagung halten, von der sie ihrer Meinung nach geleitet werden. oder aber die Aufwallung ihres Herzens für den Geist Gottes. Oder aber sie müssen es ertragen. von einem ausländischen Fürsten oder einem ihrer Mit-Untertanen geführt zu werden, die sie durch Verleumdung der Regierung in einen Aufstand hineinhexen können. ohne ihre Berufung anders nachzuweisen als dadurch, daß sie bisweilen außerordentlich erfolgreich sind oder straflos ausgehen .. .8 1
Für Hobbes ist die Staatskirche damit nur derjenige Aspekt des Staates, der sich mit ideologischen Fragen befaßt. 82 Aber die Errichtung einer solchen In78 "Diese Keime (der Religion; H. H.) wurden ... von zwei Arten von Menschen gepflegt. Die eine Art bestand aus Leuten, die sie nach eigener Erfindung hegten und anordneten. Die andere handelte auf Grund göttlichen Befehls und göttlicher Weisung - aber beide Arten verfolgten dabei die Absicht, die Menschen, die sich ihnen anvertrauten, zu Gehorsam, Befolgung von Gesetzen, Frieden, Nächstenliebe und zur bürgerlichen Gesellschaft zu erziehen." (Th. Hobbes: Leviathan. Kap. XII. - S. 85). 79 Vergl. hierzu: ..... niemand kann zweien Herren dienen, und der, dem man bei Strafe der Verdammnis gehorchen zu müssen glaubt, ist nicht weniger, sondern eher mehr Herr als der, dem man aus Furcht vor dem zeitlichen Tode gehorcht. Also muß jener eine Mensch oder jene Versammlung, welche vom Staate die höchste Gewalt empfangen hat, auch das Recht haben zu beurteilen, welche Meinungen und Lehren für den Frieden gefährlich sind, und ihre Verbreitung dann zu verbieten." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. VI/li; siehe auch: XVII/27). 80 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXVIII. - S. 341; siehe auch: "So bleibt nur übrig, daß in jeder christlichen Kirche, d.h. in jedem christlichen Staate, die Auslegung der Heiligen Schrift, d.h. das Recht, alle Streitigkeiten zu entscheiden, von der Machtvollkommenheit (der) Staatsgewalt (ausgeht)." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XVII/27). 81 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXV. - S. 333. 82 ..... ein Staat christlicher Menschen und eine Kirche (ist) durchaus ein und dasselbe ... das nur aus zweifachen Ursachen zweifach benannt wird." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XVll/21); Toennies trifft den Sinn dieser Zusammenlegung von Staat und Kirche, wenn er schreibt: "Seine praktische Stellung zu den Problemen seiner Zeit charakterisiert die radikale Gegnerschaft gegen die Kirche. Er will eine reine, moralisch-politische Lehranstalt an ihre Stelle setzen: das ist der wahre Sinn seiner Identifikation von Staat und Kirche, ..... Ferdinand Toennies in seiner Einführung zu Julius Lips: Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution. Darmstadt: 1970. - S. 6; zur Aufgabenverteilung von Kirche und Staat vergl. auch: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXIX. - S. 357 f.; sowie: "Vom Bürger". - Kap. XVII/28. 17 Hegmann
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stitution ist nicht nur aus der weltlichen Perspektive bedeutsam. Auch die Religionsausübung kann davon nur profitieren. Auch hier argumentiert Hobbes ganz auf der Linie von Bodin. 83 Er fordert, daß die Verehrung Gottes nicht nur im Geheimen stattfinden dürfe, sondern auch und vor allem in der Öffentlichkeit, ..... (d)enn ohne dies geht der willkommene Effekt der Ehre, nämlich andere zur Verehrung anzuregen, verloren." 84 Um den gewollten Effekt erzielen zu können, ist es wichtig, sich über die Zeichen der Verehrung einig zu sein, und da diese Zeichen, von einigen Extremfällen abgesehen, auf Konvention beruhen, macht es Sinn, ihre Definition um der Einheit der Religionsausübung willen dem Souverän zu übertragen. 85 Wollte jemand darauf einwenden, diesem fehle es dazu an Kompetenz, "so würde dieser Einwand ebenso gegen die Priester und alle Menschen gelten; denn alle können irren." 86 Da es ohnehin nicht auf den theologischen Gehalt bestimmter Glaubenssätze ankommt, sondern auf "die fromme Absicht, (Gott) die größte Ehre zu bezeugen, derer wir fähig sind,"87 und da diese Ehre in einem einheitlichen Gottesdienst die größte Wirkung entfalten kann, ist das Schwert des Souveräns auch der religiösen Sache allemal dienlicher als die Feder des Theologen. Das gilt auch dann, wenn die souveräne Entscheidung den einzelnen nicht befriedigt, denn letztendlich ist der Glaube eine individuelle Angelegenheit und ein "Lippenbekenntnis ... nur eine äußere Sache und nicht mehr als jede andere Geste, mit der wir unseren Gehorsam andeuten. "88 Da mit dieser Behauptung der einzelne ohne Schaden 83 Allerdings legt er an anderer Stelle ein eher weltliches Verhältnis zur Religion an den Tag. So schreibt er: "Die Verehrung, die wir (Gott) ... bezeugen, entspringt unserer Pflicht und richtet sich, unserer Fähigkeit entsprechend, nach den Regeln der Verehrung, die den Vorschriften der Vernunft zufolge der schwächere Mensch einem Mächtigeren gegenüber zu befolgen hat, in der Hoffnung auf einen Vorteil, aus Furcht vor Schaden oder aus Dankbarkeit für eine schon erhaltene WohltaL" (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXI. - S. 276); vergl. auch: " ... die äußeren Zeichen (des) ... Ehrens ... werden Verehrung genannt, was zu einem Teil dem entspricht, was die Lateiner unter dem Wort Cu/tus verstehen. Denn Cu/tus bedeutet im eigentlichen Sinn stets die Arbeit, die ein Mensch zu dem Zweck, sich daraus einen Vorteil zu verschaffen, für ein Ding aufwendet." (ebenda: XXXI. - S. 274). 84 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXI. - S. 279; "Vom Bürger". - Kap. XV/15; vergl. auch: "... wenn jeder nur seiner eigenen Vernunft im Gottesdienst folgen wollte, (würde) bei der großen Verschiedenheit derer, die Gott verehren, einer den Gottesdienst des andern für ungebührlich oder gar unfromm halten, ... Es gäbe also dann keinen Gottesdienst, selbst wenn er noch so sehr der Vernunft entspräche." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XV/17; auf der anderen Seite gilt: " ... alles, was wir nach bestem Wissen zu Gottes Ehre tun, ist, wenn es nur von anderen dafür gehalten wird, wirklich ein Zeichen der Ehrerbietung; verweigert man deshalb dergleichen, so weigert man sich auch, die Ehre Gottes zu verbreiten." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XV /8). 85 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XV/17; siehe auch XV/18. 86 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XV1/16. 87 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXI. - S. 278 f. 88 Th. HOOhes: Leviathan. - Kap. XLII. - S. 381; einzige Ausnahme von dieser Befreiung des Individuums von aller Verantwortung für erzwungenes Handeln ist die Forderung eines Souveräns den fundamentalen Glaubenssatz "Jesus ist der Christus" zu verleugnen. In Vom Bürger fordert Hobbes, daß der Untertan in einer solchen Situation nötigenfalls den Märtyrertod auf sich nimmt ("Vom Bürger". - XVIII/13). Alle anderen dürfen Gott öffentlich verleugnen, sofern es der Souve-
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für sein Seelenheil tun und sagen darf. was der Staat befiehlt. fallt zumindest im Leviathan 89 der Glaube als Grenze staatlicher Gewalt aus. Jeder Fürst ist in Glaubensfragen nur Gott unterworfen "so unmittelbar wie die Apostel selbst". und jeder Untertan hat ihm sowohl zum Nutzen in seiner irdischen Existenz als auch zur Ehre Gottes zu gehorchen. 5.1.2. Die Adressaten von Hobbes' Appell
Wenn Hobbes Anhänger für seine neue Sicht der Politik gewinnen will. wendet er sich. anders als Machiavelli und Bodin. nicht hauptsächlich an die politische Elite seines Landes. sondern an alle. Nicht nur dem Souverän will er Ratschläge zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung seiner Herrschaft liefern. er will zudem radikaler noch als Bodin seinen Mitmenschen erklären. warum die nahezu totale Ermächtigung des Souveräns in ihrem Interesse liege. Auch hier sind es die "einfachen Leute". die mit einem solchen Argument am ehesten gewonnen werden können. denn ..... der Verstand des gemeinen Volkes. wenn es nicht durch die Abhängigkeit von den Mächtigen befleckt oder mit den Ansichten ihrer Doktoren vollgekritzelt ist. (gleicht) einem reinen Papier ...• dazu geeignet. alles aufzunehmen. was ihm von der öffentlichen Gewalt aufgedruckt wird." 90 Wie Machiavelli also seinem Fürsten rät. sich auf die einfachen Leute vom Lande zu stützen. weil diese nichts anderes wollen. als Schutz vor Ausbeutung. will Hobbes sich an diejenigen wenden. die schon von ihrer sozialen Position her nicht dazu neigen. ihren Wert zu überschätzen. Es ist die Überzeugung. daß niemand sich auf Dauer ohne die Zusammenarbeit mit anderen erhalten kann. daß es auch dem Cleversten kaum gelingen wird. sich sicher zu installieren. und daß. selbst wenn dies im Einzelfall möglich sein soll. es doch keinen Ausweg für die Vielen sein kann. die sich nach Sicherheit und Frieden sehnen. die Hobbes seinen Adressaten vermitteln will. Indem er ihnen zu zeigen versucht. daß sie nicht mehr werden erreichen können. will er ihnen Gehorsam nicht nur als gerecht und gottgewollt ans Herz legen. sondern demonstrieren. daß ein solcher vor allem ihren individuellen Interessen entspricht. Dabei skizziert er erst die Menschen in ihrem Wollen und Können. um dann zu zeigen. was geschieht. wenn zwei oder mehr dieser Menschen aufeinandertreffen. Auf diese Weise legt er ihnen nicht nur die Basis seiner Vorstellung von Politik dar. er betont auch bestimmte ihrer Ziele als besonders bedeutsam und bereitet den Grund für sein Konzept. wie diese Ziele zu erreichen sind. rän von ihnen verlangt. Im Leviathan schränkt er die Pflicht hiel7ll auf diejenigen ein, die gesandt sind, die christliche Lehre zu verbreiten. (Leviathan.. XLII .• S. 383). 89 Th. Hobbes: Leviathan .. Kap. XLII .. S. 400. 90 Th. Hobbes: Leviathan .. Kap. XXX .. S. 257.
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Die Menschen in Hobbes' Welt Hobbes nimmt den Menschen "an sich" zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Anders als Bodin ist er nicht an historischen oder regionalen Spezifika interessiert, sondern daran, was Menschen überhaupt wollen, denken und tun. Dabei bestreitet er nicht ihre unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse,91 aber er versucht, zu allgemeineren Schlüssen zu kommen, indem er von diesen Unterschieden abstrahiert. Er will beschreiben, wie sie sich im allgemeinen verhalten, um dann ihre Beziehungen zueinander zu analysieren und Vorschläge zu machen, wie man sie effizienter gestalten kann. Um mit diesen Vorschlägen Erfolg zu haben, müssen sich die einzelnen in seiner Beschreibung wiederfinden. Diente die Introspektion so im Rahmen der Wissenschaft zur Annahme der Hobbesschen Rahmenhypothesen durch seine Leser, so soll sie sie nun zu entsprechendem Handeln bewegen. Angesichts der Schwierigkeiten, sich im Austausch mit anderen auf das Vorliegen bestimmter Eigenschaften zu einigen, bestimmt Hobbes die Menschen nicht vorrangig als Träger von Eigenschaften, sondern als Kraftbündel,92 als mit Fähigkeiten und Zielen ausgestattete Atome der sozialen Welt, deren "Bewegungen" so zu koordinieren sind, daß sie sich möglichst wenig gegenseitig behindern. Die Richtung, in der sie sich bewegen, wird durch ihre Leidenschaften bestimmt. Was ihrem, aus diesen Leidenschaften resultierenden Wollen in der Welt entspricht, heißen sie gut und was ihm widerspricht, schlecht. 93 Da dies so ist, kann Hobbes, wenn er nicht in sophistischer Manier zur Manipulation der Meinungen über Gut und Böse übergehen will, nur dann seinem Ziel näher kommen, wenn er hinter der damit angenommenen Anarchie der Werte zumindest einen entdecken kann, der allen Menschen gemeinsam ist. Er ermittelt ihn, indem er sich ihrer Fähigkeit zuwendet vorauszuschauen. Der Mensch ist in der Lage, die Kette angenehmer und unangenehmer Folgen seiner Handlungen bis zu einem bestimmten Grade vorauszusehen. 94 Er kann sein Leben in Grenzen planen und so die Vielfalt seiner subjektiven Ziele 91 So siehe beispielsweise: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XV. - S. 122. 92 "Die menschliche Natur ist die Summe der Fähigkeiten und Kräfte des Menschen, als da sind die Fähigkeiten der Ernährung, Bewegung, Fortpflanzung, Sinnlichkeit und Vernunft usw. Diese Kräfte ist man allgemein einverstanden, natürliche Kräfte zu nennen und sie sind enthalten in der Definition des Menschen unter den Worten: lebendes Wesen und vernünftig." (Ib. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. 1/4. - S. 36) 93 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. VI. - S. 41.
94 "Es gibt in diesem Leben keine menschliche Handlung, die nicht der Anfang einer so langen Kette von Folgen ist, daß keine menschliche Vorsehung weit genug reicht, um das Ende erblicken zu können. Und in dieser Kette sind angenehme und unangenehme Ereignisse auf eine solche Weise miteinander verknüpft, daß derjenige, welcher etwas zu seinem Vergnügen unternehmen will, alle damit verbundenen Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen muß" (Ib. Hobbes: Leviathan. Kap. XXXI. - S. 280).
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in eine hierarchische Ordnung bringen. Er kann manche Ziele anderen unterordnen und neue definieren, wenn sie der Erreichung seiner ursprünglichen Ziele dienen können. Indem er die Folgen möglicher Handlungen in ihrer voraussichtlichen Wirkung auf sein Wohlbefinden aufsummiert, kann er die Bedeutung jeder einzelnen Folge relativieren. Die Vernunft, die ihn dazu befähigt, ist ein Rechnen mit den voraussichtlichen Vor- und Nachteilen einer projektierten Handlung, das auf die Minimierung unangenehmer Umweltzustände in der Zukunft bzw. die Maximierung angenehmer ausgerichtet ist. 95 Natürlich können Menschen auch in bezug auf das ihnen Nützliche irren. Aber selbst korrekt vorgenommen, kann das Ergebnis einer Nutzenkalkulation nicht anders als vorläufig sein. Das Abwägen des einzelnen muß irgendwann zu einem willkürlichen Ende kommen, zu einem Ende, das nicht durch Gewißheit gekennzeichnet ist, sondern durch die Begrenztheit der Zeit, sich mit einem Problem beschäftigen zu können: Insofern Wille etwas zu tun, Verlangen ist und Wille etwas zu unterlassen Furcht, sind die Beweggründe des Verlangens und der Furcht auch die Ursachen unseres Willens. Aber die Aussicht auf Nutzen oder Schaden, d. h. auf Lohn und Strafe, ist die Ursache unseres Verlangens und unserer Furcht ... infolgedessen sind unsere Willensäußerungen eine Folge unserer Meinungen und unsere Handlungen folgen auf diese. In diesem Sinne haben diejenigen recht, die da behaupten, daß die Welt durch Meinung regiert wird.96
Nichtsdestoweniger wird die Kalkulation der verschiedenen Handlungsoptionen und der Folgen, die mit ihnen verbunden sind, den einzelnen schnelI davon überzeugen, daß sein Leben und die Güter, die zu seiner Selbsterhaltung notwendig sind, einen besonders großen Wert haben. Zwar mag sich nach erfolgter Nutzenrechnung eine Leidenschaft so sehr in den Vordergrund schieben, daß sie diese zu bloßem Gedankenspiel macht, aber jeder hat doch ruhige Augenblicke, in denen er das ihm Nützliche unverzerrt wahrnehmen kann. So kommt er dazu, die Selbsterhaltung als das höchste Gut zu erkennen.9 7 95 Damit ist Hohbes praktische Philosophie analog zu seiner Vorstellung von Wissenschaft konstruiert: "Vernunft (als Fähigkeit des Geistes; RR) ist nichts anderes als Rechnen, d. h. Addieren und Subtrahieren, mit den Folgen aus den allgemeinen Namen, auf die man sich zum Kennzeichnen und Anzeigen unserer Gedanken geeinigt hat." (Ib. Hobbes: Leviathan. - Kap. V. - S. 32). 96 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teill. - Kap. VIII/6. - S. 90. 97 Th. Hobbes: "Vom Menschen". - XI/6; Richelieu, der große Praktiker unter Hobbes' Zeitgenossen weist auf einen Fall hin, indem diese Setzung nicht zutrifft, das Duell: "Les Fran~ais ... ont souvent estime qu'il y avoit d'autant plus de gloire a violer les edits (contre les duels; H. H.) qu'ils faisoient voir, par une teIle extravagance, que l'honneur leur etoit en bien plus grande recommondation que leur vie etant plus capables de perdre les commodites, sans lesquelles ils ne peuvent vivre heureux en ce monde, que de mourir hors de la grace de Dieu, sans laquelle ils seront malheureux dans l'autre. La crainte de perdre leurs charges, leurs biens et leur liberte a fait plus d'effet sur leurs esprits que celle de perdre la vie." (A. de Richelieu: Testament Politique. - (ed. par L. Andre) Paris: Laffont, 1947. - 524 S. - Teil!. - Kap. 3{2. - S. 224) Diese Einsicht hätte so auch von Machiavelli stammen können. Sie demonstriert den Unterschied zwischen den in der Vielfalt der täglichen politischen Realität wurzelnden politischen Ratschlägen Machiavellis und Richelieus einerseits und der philosophischen Reflexion praktischen HandeIns durch Hobbes andererseits. Vermutlich hätten sich die Autoren schnell einigen können. Sie argumentieren schlicht auf verschiedenen Ebenen der Verallgemeinerung. 1m Prinzip gilt: Solange man nichts genaueres über die Präferenzen von Menschen
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Freilich darf die Vorausschau nicht dazu führen, daß der Handelnde von der Aussicht auf alle möglichen Übel in seinem Handeln gelähmt wird. 98 Es ist zwar wichtig, daß ihn die Furcht vor der Zukunft dazu anhält, seinen langfristigen Nutzen und damit seine Überlebensinteressen nicht aus den Augen zu verlieren, genauso wichtig aber ist es, daß er sich von dieser Furcht nicht lähmen läßt. Mit der Todesfurcht verhält es sich deshalb wie mit der Furcht vor Gott. Wie dort ein zuviel zu Aberglauben führt, zu rituellen Versuchen, Gott freundlich zu stimmen, und ein zuwenig zum Desinteresse an den Bedingungen des eigenen Seelenheils, so führt es in bezug auf die Sicherung des eigenen Lebens zu ineffizienten Zwangshandlungen auf der einen und zu Desinteresse an den Bedingungen der eigenen Existenz auf der anderen Seite. 99 Tatkraft im möglichst aufgeklärten Bewußtsein der Zusammenhänge ist für Hobbes das Geforderte und es ist kein Zufall, daß dies an Machiavellis Tugend des überlegten und beherzten Zupackens erinnert. Gelingt die Kombination beim einzelnen, hat Hobbes einen Ansprechpartner für seinen Entwurf gefunden. Der einzelne kann sich auf die Zukunft am besten vorbereiten, indem er möglichst viele nützliche Dinge, möglichst viel Vermögen ansammelt. 100 Was ihm bei der Realisierung seiner Ziele nützt, zeigt ihm die Erfahrung lOl und ob sein Streben irgendwo eine Grenze hat, hängt nicht nur von seinen Wünschen und Bedürfnissen ab, sondern auch von seiner Umwelt. Ist zu befürchten, daß sie ihm große Hindernisse in den Weg legt, muß er entsprechend mehr Energie darauf verwenden, Vermögen anzusammeln, was im Extremfall durchaus dazu führen kann, daß er alle anderen Wünsche dem der Selbsterhaltung opfern muß. Auch wenn Hobbes also nicht der Ansicht wäre, ein beständiges Streben nach der Verwirklichung immer neuer Ziele sei das höchste menschliche Glück,102 wäre ein beständiges Streben nach individueller Macht schon durch die Sorge um die Zukunft gefordert. 103 Damit ist es nicht die Maßlosigkeit der Menweiß, hat die Hypothese, daß sie vor allem am eigenen Überleben interessiert sind, eine höhere Wahrscheinlichkeit handlungsmotivierend zu sein, als andere Annahmen. Für eine ausführlichere Diskussion eines Hobbes'schen Konzepts von Grundbedürfnissen vergl. auch G. S. Kavka: Hobbesian Moral and Political TheOlY. - Princeton: 1986. - S. 80 ff. 98 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XII. - S. 82 f. 99 "Deshalb war es den Menschen beinahe unmöglich, ohne die besondere Hilfe Golles die doppelte Klippe des Atheismus und des Aberglaubens zu vermeiden, denn dieser kommt von der Furcht, die von der rechten Vernunft sich getrennt hat, jener von einer Meinung der Vernunft, welcher die Furcht abgeht." (Ib. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XVI/I). 100 "Außerdem nennt man ein Ding, das, sofern es gewünscht ist, gut heißt angenehm, wenn es um seiner selbst willen begehrt wird, nützlich, wenn es um eines anderen willen begehrt wird." (Ib. Hobbes: "Vom Menschen". - XI/5. - S. 23). 101 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil I. - Kap. VIIJ/3. - S. 64. 102 Th. Hobbes: "Vom Menschen" XI/15; siehe auch: Leviathan. - Kap. XI. - S. 75. 103 "So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet. Und der
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schennatur an sich, die den Konflikt heraufbeschwört, sondern die Einsicht, daß unter bestimmten Umständen ohne ein verbissenes Anhäufen von immer mehr Vermögen das Leben dauerhaft nicht zu sichern ist. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum sich Hobbes für das Problem der Freiheit nicht weiter interessiert. Unfreiheit ist nichts weiter als ein Mangel an Vermögen. Ein Freier ist, so schreibt er "wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstandes tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen. "104 Ein kluger Mensch erweitert deshalb seinen Freiheitsraum, indem er so viel Vermögen ansammelt, wie er kann. Damit geht Hobbes freilich nicht notwendigerweise davon aus, daß die Selbsterhaltung normativ der höchste Wert ist, er fügt, wie Machiavelli, gelegentlich Bemerkungen über Güte, Ehre und GottgefaIligkeit ein, die sich zwar auch als Konzessionen an den Zeitgeist lesen lassen, die aber dem Grundgedanken seines Systems nicht widersprechen, da er, wie Machiavelli und Bodin auch, die Selbsterhaltung und den Frieden für die Voraussetzung der Praktizierung anderer Tugenden hält. I05 Hobbes behauptet auch nicht, daß die Selbsterhaltung in der empirischen Welt immer allen anderen Zielen vorgeordnet sei. 106 Natürlich gibt es auch in seiner Welt Edelmut oder Ehrenhaftigkeit, 107 nur sind diese zu selten, als daß man einen Staatsentwurf auf sie gründen sollte. Selbsterhaltung und das dazu nötige Vermögen sind deshalb allgemein etwas Gutes. IOS
Grund hierfür liegt nicht immer darin, daß sich ein Mensch einen größeren Genuß erhofft als den bereits erlangten, oder daß er mit einer bescheidenen Macht nicht zufrieden sein kann, sondern darin, daß er die gegenwärtige Macht und die Mittel zu einem angenehmen Leben ohne den Erwerb von zusätzlicher Macht nicht sicherstellen kann." (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. X. - S. 75). 104 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXI. - S. 163 f.; sowie: "Vom Bürger". - Kap. IX/9; vergl. auch: "... nicht nur Handlungen, die Habgier, Ehrgeiz, Lust oder anderen Neigungen zu dem in Frage stehenden Ding entspringen, (sind) willentliche Handlungen ... sondern auch diejenigen, welche aus Abneigung oder Furcht vor den Folgen der Unterlassung entstehen. (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. VI. - S. 47). 105 Es muß den Hobbes-Biographen vorbehalten bleiben, die Frage zu klären, ob es Taktik ist oder den Überzeugungen des Autors entspricht, wenn Hobbes nicht wie Platon Kallikles ausruft: "... Wohlleben, Ungebundenheit und Freiheit, wenn sie festen Rückhalt haben, das ist Tugend und GlückseligkeiL Das andere aber ist alles eitles Gepränge, widernatürliche Satzungen von Menschen, ist Geschwätz von Menschen und keinen Heller werL" (platon: "Gorgias". - S. 71. - (Kap. XLVI». 106 Siehe hierzu: Th. Hobbes: "Vom Menschen". - XI/6 sowie: "Vom Bürger" III/12 u. VI/13 und Leviathan. - Kap. VIII. - S. 59. 107 Vergl. z. B.: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVII. - S. 228. 108 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XVII/14. - S. 119.
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Das soziale Leben in Hobbes' Welt Hobbes ist, wie angedeutet, ein Sozialwissenschaftier reinsten Wassers. Die Ansammlung von Vermögen interessiert ihn nicht im Zusammenhang mit dem "Lebenskampf' gegen die Natur, sondern in bezug auf die Notwendigkeit, möglicherweise von anderen Menschen geschaffene Hindernisse auf dem Weg zum eigenen Glück auszuräumen. Angesichts der Tatsache, daß der einzelne anderen gegenübersteht, die Interessen und Bedürfnisse haben, von denen er nicht viel wissen kann, steht er vor dem Problem herauszufinden, mit wem er es zu tun hat, wenn er wissen will, inwieweit er seine Ziele wird verwirklichen können. Wenn er durch Introspektion weiß, daß alle anderen im wesentlichen wie er funktionieren, wenn er darüber hinaus weiß, daß auch sie mit der Fähigkeit ausgestattet sind, ihren Nutzen zu kalkulieren, so kann er sich zwar denken, daß sie an Vermögen interessiert sind, da er aber über ihre konkreten Ziele nichts weiß, wird er nichts über ihre potentielle Gefährlichkeit aussagen können. Natürlich kann er versuchen, sich in ihre Haut zu versetzen, um nachzuvollziehen, was in ihnen gerade vorgeht. Angesichts der Vielzahl möglicher Werte und Ziele aber bietet ein solches Vorgehen nur in Ausnahmefallen einen halbwegs sicheren Anhaltspunkt. Aus dieser Schwierigkeit bietet es keinen Ausweg, den anderen schlicht zu fragen, denn der könnte lügen,109 um seine eigenen Ziele danach um so leichter erreichen zu können. Anders als in Begriffen individuellen Vermögens dürfen sich Fremde also gar nicht wahrnehmen, wenn sie nicht schnell von der Bildfläche verschwinden wollen. Und da sie sich aufgrund des allgemeinen Mißtrauens nicht ohne weiteres über Interessenparallelen werden verständigen können, bleibt ihnen zur Entscheidung über die Realisierung ihrer Ziele nur, vom schlimmstmöglichen Falle auszugehen. Aus dieser unerfreulichen Lage schließt Hobbes jedoch keineswegs, daß es besser sei, wenn sich jeder Mensch auf eine Robinsonsche Insel zurückzöge oder nur mit solchen Menschen verkehrte, die er gut kennt. 110 Um der Ehre und des Vorteils willen streben für ihn auch Fremde nach Sozialkontakten. 111 Da das Verehrtwerden selbst das eigene Vermögen vergrößert,112 läßt sich letzt109 Vergl.: nNachdem wir von den Kräften und Handlungen des Geistes gesprochen haben, ... und bei einem jeden Menschen für sich ohne Beziehung auf andere betrachtet, so soll jetzt ... von der Wirkung derselben Kräfte aufeinander geredet werden. Diese Wirkungen sind auch die Merkmale, an denen man erkennt, was ein anderer sich vorstellt und beabsichtigt. Von diesen Zeichen können einige nur schwer nachgeahmt werden, z. B. Handlungen und Gebärden, zumal wenn sie plötzlich sind ... andere dagegen kölUJen nachgeahmt werden und das sind Rede und Sprache. (Ib. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. VIII/I. - S. 91 f.). 110 Vergl. auch: C. B. Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt!M: STW, 1967. - S. 35).
111 Siehe auch: Th. Hobbes: nVom Bürgern. - Kap. I{2. 112 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXXI. - S. 276 sowie: nVom Bürgern. - Kap. XV/13; vergl. auch: nEinen anderen um Hilfe irgendeiner Art bitten heißt ihn ehren, da dies ein Zeichen unserer
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endlich jeder Kontakt mit Fremden auf Nutzenüberlegungen zurückführen, auch wenn das Verlangen nach Ehre, wie andere Leidenschaften auch, an sich schon einen Grund für das Zusammensein abgeben mag. Wenn es demnach in jeder menschlichen Begegnung mit Fremden potentiell zwei Aspekte gibt, zum einen die Hoffnung, mit oder durch den anderen eigene Ziele durchsetzen zu können, und zum anderen die Befürchtung, durch ihn ausgebeutet zu werden,l13 nimmt der Begriff des Vermögens eine ganz neue Bedeutung an. Jetzt ist die Fähigkeit, sich gegen Widerstand durchzusetzen, auf diesen Widerstand und damit auf das Vermögen der anderen bezogen. Ein Zugewinn für den anderen bedeutet nun notwendigerweise einen Verlust an eigener Sicherheit. Das bedeutet nicht, daß sich die Beteiligten tatsächlich in einem antagonistischen Konflikt befinden müssen, aber solange keiner von ihnen sagen kann, ob nicht vom anderen möglicherweise Gefahr droht, reduziert jeder Zuwachs bei diesem anderen die eigenen Erfolgschancen, wenn die Ziele einmal in Konflikt geraten. Und so folgt für Hobbes: "Da ... die Macht 1l4 des einen den Auswirkungen der Macht der anderen Widerstand entgegensetzt und sie behindert, so kann Macht schlechthin nichts anderes sein als die Überlegenheit der Macht des einen über die anderen. Denn gleiche Quanten an Macht, einander gegenübergestellt, zerstören sich gegenseitig."1l5 Wäre Verständigung möglich, verlöre der Antagonismus an Bedeutung. Dann nämlich könnte es durchaus sein, daß ein Vermögenszuwachs beim anderen auch die eigene Position verbessert, wenn man beispielsweise Handel treiben kann. Ist dies nicht der Fall und hat man statt dessen mit Übergriffen zu rechnen, ist es im Gegenteil sinnvoll, dem anderen sogar vorbeugend Schaden zuzufügen. Hobbes schreibt dazu: Den Willen zu schaden haben im Naturzustande alle Menschen; er entspringt jedoch nicht immer aus demselben Grunde und ist nicht gleich tadelnswert. Denn nach der zwischen uns bestehenden natürlichen Gleichheit gestattet der eine den übrigen ebensoviel wie sich selbst; so der bescheidene Mensch, der seine Kraft richtig einschätzt. Der andere, der sich selbst für höher hält als die übrigen, will, daß ihm allein alles erlaubt sei, und maßt sich vor den anderen Ehre an; so der Unbändige. Bei diesem entsteht der Wille zu schaden aus eitler Ehrsucht und Überschätzung seiner Kraft; bei jenem aus der Notwendigkeit, seinen Besitz und seine Freiheit gegen den andem zu verteidigen. 116 Meinung ist, es stehe in seiner Macht zu helfen, und je schwieriger die Hilfe ist, desto größer ist die Ehre. Gehorchen heißt ehren, denn niemand gehorcht Leuten, von denen er annimmt, daß sie keine Macht haben, ihm zu helfen oder zu schaden. Und folglich heißt nicht gehorchen entehren" (Ib. Hobbes: Leviathan. - Kap. X. - S. 68). 113 Siehe hierzu auch: G. Kirsch: Unvorhersehbarkeit - Ein Ausdruck der Freiheit. - Freiburg/Schweiz: unveröffentl. Manuskript, 1991. - S. 4 f. 114 Hobbes gebraucht hier den Begriff Macht, wie in der vorliegenden Arbeit der Begriff Vermögen gebraucht wird. Da er an anderer Stelle den Begriff ganz im Sinne der bereits oben angeführten Definition von H. Arendt benutzt, möchte ich diese Unterscheidung beibehalten. 115 Th. Hobbes: Naturrecht .... - Teil I, Kap. 8, Abschn. 4, S. 26; vergl. auch: Leviathan. Kap. VIII. - S. 52 und Xl. - S. 76; sowie: "Vom Menschen". - X1/6. 116 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. 1/4.
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Dabei muß es nicht einmal notwendigerweise Unbändige geben. Allein der Verdacht, daß es sie geben könnte, reicht aus, selbst auf der Hut zu sein. ll7 Deshalb muß man, aller potentiellen Bescheidenheit und Friedfertigkeit zum Trotz, immer danach streben, relativ zu den anderen der Stärkste zu sein. H8 Auf diese Weise ist Neid oder Mißgunst keine bloß asoziale Eigenschaft von Menschen, sondern macht Sinn bei der Sicherung der eigenen Position. 119 Das Streben nach Vermögen und zwar nach einem Vorsprung an Vermögen im Vergleich mit anderen wird zum Hauptanliegen des Menschen. Wie wichtig Hobbes die Idee der Konkurrenz ist, drückt sich schon in den Elements aus, in denen er alle menschlichen Leidenschaften in seinem berühmten Bild vom Wettlauf zusammenfaßt. Stets besiegt werden, ist demnach Unglück, stets den nächsten zu besiegen, Glück und das Rennen aufzugeben, Sterben. 120 Daß es das Mißtrauen ist, das Konkurrenz hervorruft, wird auch deutlich, wenn man Hobbes' Argumentation mit der David Humes vergleicht, der von einem ähnlichen Menschenbild ausgehend zu ganz anderen Folgerungen kommt. Reinhard Brandt faßt die Konfliktursachen bei Hume treffend zusammen, wenn er schreibt:
117 Die verbreitete These, daß Hobbes einer bellizistischen Moral das Wort rede, hat vor kurzem L. May in einem interessanten Artikel noch einmal deutlich zurückgewiesen. Siehe hierzu: L May: "Hobbes on the Attitude of Pacifism" in: Martin Bertman & Michel Malherbe: Thomas Hobbes - De la Metaphysique ala Politique. - Paris: 1989. - S. 129-140. 118 Siehe auch: "... wenn es auch weniger böse als gute Menschen gäbe, so kann man doch die Guten von den Bösen nicht unterscheiden, und deshalb müssen auch die Guten und Bescheidenen fortwährend Mißtrauen hegen, sich vorsehen, anderen zuvorzukommen ... " (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Vorwort. - S. 68 ). 119 Siehe auch was Hobbes über den Naturzustand zwischen Staaten schreibt: " ... hier müssen selbst die Guten bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und die List, d.h. die Raubsucht der wilden Tiere zu Hilfe nehmen." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Widmung. - S 59). 120 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. 1X/21. - S. 77; vergl. auch den Wortwechsel zwischen Sokrates und Kallikles, dem Machtmenschen, der Macht und Recht gleichsetzt: "Sokrates: Also kann man von denen, die ohne Wunsch sind, nicht mit Recht behaupten, sie seien glücklich? Kallikles: Natürlich nicht, denn sonst wären ja Steine und Tote am glücklichsten." (PIaton: "Gorgias". - S. 71 (Kap. XLVII». In seiner Ablehnung eines höchsten Gutes ist vielleicht am ehesten ein Anhaltspunkt für Hobbes' Atheismus auszumachen, wenn es ihn gibt. Sein Argument richtet sich u. a. gegen Th. v. Aquin, der seinerseits schreibt: "Da ... die Sehnsucht jedes vernünftigen Wesens nach einem umfassenden Gut zielt, so wird jenes Gut allein wirklich glücklich machen können, nach dessen Erlangung kein weiteres zu wünschen bleibt. Und darum heißt die Glückseligkeit ein vollendetes Gut, weil sie alles Ersehnenswerte in sich schließt. Kein einziges irdisches Gut ist aber dieser Art; wer Reichtum hat, sehnt sich, noch mehr zu besitzen, und ähnliches ist bei allen übrigen zu sehen. Und wenn die Menschen auch nicht mehr zu erlangen suchen, so wünschen sie doch, daß ihr Besitz Dauer habe oder etwas anderes an seine Stelle tritt. Denn nichts bleibendes findet sich auf der Erde, und also gibt es nichts Irdisches, das die Sehnsucht ganz zur Ruhe bringen kann." (Th. von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. - Stuttgart: 1981. - S. 33) Während Thomas im Anschluß an diese Stelle die Forderung aufstellt, der Fürst solle nach dem Seelenheil streben, "verdammt" Hobbes seinen Menschen zu ewigem Streben im Diesseits.
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Wären der Mensch oder die Natur, sagt Hume, anders eingerichtet, gäbe es eine benevolentia nicht nur als Nahsinn, sondern als eine Art sozialistischer Gesinnung, oder wären die Konsumgüter nicht Mangelware, sondern in schlaraffenhaftem Überfluß vorhanden, so würde das Selbstinteresse eines jeden nicht dem der anderen ... widerstreiten.121
Wenn dieser Schluß für Hobbes nicht oder doch nur in sehr eingeschränktem Maße gilt, so deshalb, weil die Knappheit der Güter und das Desinteresse am Wohl der Fremden eine zwar notwendige Voraussetzung für Konflikt ist, keineswegs aber die Dramatik erklärt, mit der Hobbes ihn einführt. Erst durch die zusätzliche Annahme der Unberechenbarkeit des anderen wird sich ein Konflikt auch dort einstellen, wo dies "objektiv" nicht notwendig wäre. 122 Wo jeder damit rechnen muß, daß der andere aufgrund eines wirklichen oder angenommenen Bedarfs, aufgrund leidenschaftsbedingter Verblendung oder aufgrund der Befürchtung, man könne ihn seinerseits angreifen, zu Schädigung bereit ist, muß auch dann präventiv vorgegangen werden, wenn Kooperation "objektiv" die bessere Strategie wäre. 123 Hobbes faßt die Konfliktursachen denn auch wie folgt zusammen. "So liegen also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktursachen: Erstens Konkurrenz, zweitens Mißtrauen,124 drittens Ruhmsucht."125 Um seiner eigenen Sicherheit willen und nicht aus einer unbestimmten Herrschsucht heraus würde deshalb jeder herrschen wollen, wenn er dazu in der Lage wäre. 126 Er könnte sich schließlich als Herrscher bescheiden zurückhalten, wenn das seinem Naturell entspräche, und mit der Gewißheit zufrieden sein, von keinem anderen in seinen eigenen bescheidenen Interessen beein121 R. Brandt in seiner Einführung zu D. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Bd.l. - S. XLIV; siehe auch: "Die Rechtsordnung hat nur in der Selbstsucht und der beschränkten Großmut der Menschen, im Verein mit der knappen Fürsorge, die die Natur für ihre Bedürfnisse getragen hat, ihren Ursprung." (0. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. - Buch III (Über Moral). Hamburg: 1978. - S. 238). 122 So konstatiert D. Hume: "Die Sicherung der sogenannten äußeren Güter kann auf keine andere Weise geschehen, als durch eine Übereinkunft, die alle Mitglieder der Gesellschaft einge· hen, und durch welche dem Besitz jener äußeren Güter Sicherheit verliehen wird, so daß jedennann in dem friedlichen Genusse dessen, was er durch Glück und fleiß erwirbt, erhalten bleibt. Auf diese Art weiß jeder, was er sicher besitzen darf, ... " (0. Hume. Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch III (Über Moral). Hamburg: 1978. - S. 233) Diese Tbese könnte von Hobbes ohne Schwierigkeiten unterschrieben werden. Allerdings löst sie sein Problem nicht. Mit der Zuweisung von Rechten ist nichts gewonnen, wenn angesichts der Möglichkeit machiavellistischen Unternehmertums im Konfliktfall Einigkeit nicht herzustellen ist, Mißtrauen also jeden Konsens von vornherein unmöglich macht. Dann gilt für die Beurteilung der Rechte und der ihnen zugrundeliegenden Sachverhalte dasselbe, was für klassische Naturrechtskonzeptionen oder für religiöse Überzeugungen galt. Konsens läßt sich so nicht herstellen. 123 Vergl. hierzu: Tb. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIII. - S. 95. 124 Siehe hierzu auch: "Wegen (des) gegenseitigen Mißtrauens gibt es für niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung, d. h. mit Gewalt oder List nach Kräften jedennann zu unterwerfen, und zwar solange, bis er keine Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden." (Vergl. hierzu: Tb. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIII. - S. 95). 125 Tb. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIII. - S. 95; vergl. hierzu auch: L. Strauss: Hobbes' Politische Wissenschaft. - Neuwied: 1966. - S. 17. 126 Tb. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. 1/2. - S. 79.
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trächtigt zu werden. Sind die Menschen in ihrem individuellen Vermögen aber so gleich, daß es ihnen nicht gelingen kann, einander auf Dauer zu unterwerfen, ist Herrschaft unmöglich. Jeder Untertan, wenn ihm nicht durch Fesseln die objektive Fähigkeit zum Ungehorsam genommen wird, kann sich jederzeit eines anderen besinnen, kann jederzeit berechtigt oder unberechtigt zu dem Schluß kommen, daß es seiner Sicherheit dienlicher ist, gegen den Fürsten aufzubegehren. 127 Solchen Überlegungen wäre nur dann ein Riegel vorgeschoben, wenn der Fürst mächtig genug wäre, einen Aufstand nicht fürchten zu müssen. Gleichheit bleibt im Naturzustand, d. h. jenseits funktionierender Institutionen ein konstitutiver Bestandteil der Bedingungen menschlichen Lebens. Zwar stellen neben den individuellen Eigenschaften der Menschen, die durch Bildung in nur beschränktem Maße vergrößert werden können, auch akkumulierbare Güter eine Form von Vermögen dar. Will man sich aber nicht "dem Neid als Beute"l28 aussetzen, so muß alles in die Unterstützung durch andere Menschen investiert werden, was angesichts des immer möglichen Wortbruchs wenig aussichtsreich ist. Aus diesem Grunde bleibt nur der permanente Kampf aller gegen alle. Wo eine äußere Bedrohung stark genug ist, mag es für kurze Zeitperioden zu Zweckbündnissen kommen, diese aber werden auseinanderfallen, sobald mit dem Fortfall der Bedrohung die voraussichtlichen Kosten eines Vertrauensbruchs deutlich sinken. Da auch hier jeder fürchten muß, der andere könne aufgrund einer Fehleinschätzung, einer Leidenschaft oder der Angst vor Prävention früher das Stillhalteabkommen brechen, als es objektiv opportun wäre, wird er auch hier zur Prävention gedrängt. Nichtsdestoweniger ist langfristig l29 dem Sicherheitsbedürfnis des einzelnen nur dann Genüge getan, wenn er mit anderen kooperieren, wenn er kollektive Macht zu seinem Schutz aufbieten kann. I3O Wenn erzwungene Kooperation ausgeschlossen ist, bleibt nur die Möglichkeit freiwilliger Zusammenarbeit, eine Alternative freilich, die 127 Vergl auch: (Neben der Bedrohung des Lebens; H. H.) "... ist es die Beraubung des Vermögens und der Ehre. welche den Menschen mehr als alles andere verletzt. Der Fürst muß sich davor hüten, weil er nie einen Menschen so ganz ausplündern kann, daß ihm kein Messer bleibt, sich zu rächen. Eben so wenig kann er niemals einen Mann so sehr entehren, daß ihm nicht der unerschütterliche Entschluß bleibt, Rache zu üben." (N. Machiavelli: "Betrachtungen ... " in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. I. - Buch III. - Kap. 6. - S. 276 [So 241)). 128 Th. Hobbes: Leviathan.. Kap. X. - S. 66; vergl. auch: "Vom Menschen". - Xln; Macpherson hat recht, wenn er schreibt: "Alle erworbenen Machtmittel, die Hobbes beschreibt, sind ... Möglichkeiten anderen gegenüber. Und alle bestehen sie in der Befehlsgewalt über einen Teil der Machtmittel anderer Menschen; sie sind das Produkt der Transferierung von Macht. Hobbes definiert erworbene Macht letztlich als Fähigkeit, über die Dienste anderer Menschen zu verfügen." (C.B. Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. FrankfurtIM.: 1973. - S. 51). 129 "Im Kriegszustand, wo jedermann auf Grund des Fehlens einer allgemeinen, sie alle in Schranken haltenden Gewalt jedermanns Feind ist, kann niemand darauf hoffen, durch eigene Stärke oder eigenen Verstand ohne Hilfe von Verbündeten sich vor Vernichtung zu bewahren." (Ib. Hobbes: Leviathan. - Kap. XV. - S. 112). 130 Th. HOObes: Leviathan. - Kap. X. - S. 66.
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außerordentlich schwierig zu verwirklichen ist, wenn objektiv begründ bare Ansprüche der Beteiligten als Basis von Konsens ausscheiden. Wenn nichtsdestoweniger auf friedlichem Wege entschieden werden soll, wer welche seiner Ansprüche in welchem Maße realisieren darf, ist zum einen ein Mittel nötig, sich über konkurrierende Ansprüche zu verständigen, und zum anderen ein Schiedsrichter, der im Konfliktfalle verbindlich entscheidet und seine Entscheidung, falls nötig, auch durchsetzt. Diese Aufgabe hat der Souverän. Wie er zu Amt und Macht kommt und warum seine Einsetzung als absoluter Herrscher unabdingbar ist, wird Gegenstand der folgenden Seiten sein.
S.2. Die Staatsmaschine als Machtgenerator Angesichts des allgegenwärtigen Mißtrauens bedeutet die Tatsache, daß jeder von Kooperation profitieren würde, noch nicht, daß die Menschen ohne weiteres von einem Zustand in den anderen wechseln können. Da sie nur zu Kooperation gelangen können, wenn sie auf eigene Handlungsoptionen verzichten, hängt der Erfolg ihrer Bemühungen für sie selbst davon ab, ob sie die anderen zu Gleichem veranlassen können. Es sind also zwei Probleme zu lösen. Zum einen muß sichergestellt werden, daß die Friedfertigen nicht Opfer von Ausbeutung werden. Zum zweiten muß das Koordinationsproblem gelöst werden, muß sichergestellt werden, daß man sich unmißverständlich über den Umfang des gegenseitigen Verzichts einigen kann. Nur wenn heide Schwierigkeiten überwunden werden können, öffnet sich eine Pforte zum Frieden. Im Fortgang des Kapitels wird zuerst von der Definition zwischenmenschlicher Ansprüche die Rede sein, um dann ihre Garantierung durch die Zentralgewalt diskutieren zu können. 5.2.1. Das Recht als Vereinbarung zwischen Gleichen
Hobbes legt der Begründung zwischenmenschlichen Rechts das einzige menschliche Bedürfnis zugrunde, von dem er weiß, daß alle, die in die Zukunft blicken, es teilen: das Bedürfnis nach Vermögen. Um seine Adressaten zu seiner Sicht der Dinge zu bekehren, faßt er seine diesbezüglichen Klugheitsregeln in die Form naturwissenschaftlicher Gesetze. Er definiert: "Ein Gesetz der Natur ... ist eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es dem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch er seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann."l3l Diesen 131 111. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 99; siehe auch: "Vom Bürger". - Kap. 11/1 u. IV!2;
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Gesetzen entsprechen Rechte. Das erste Recht ist dasjenige zu individueller Selbstbehauptung,l32 sowie zu allen Mitteln, die der einzelne hierzu nötig hat "und weil es nichts gibt, das er nicht möglichelWeise zum Schutze seines Lebens gegen seine Feinde velWenden könnte, so folgt daraus, daß in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen."l33 Das Recht auf alles erklärt auch normativ das eigene Wohl zum höchsten Ziel und die Wirkung einer Handlung auf den anderen zum externen Effekt, d. h. zu etwas, das nicht als unabhängiger Wert in die eigene Nutzenkalkulation eingeht. Das heißt nicht, daß dem einzelnen nicht am Wohl seiner Mitmenschen gelegen sein kann, es heißt nur, daß er kein Unrecht begeht, wenn er ihre Bedürfnisse immer dann vernachlässigt, wenn das für seine individuelle Selbsterhaltung nötig ist. Was das eigene Vermögen vergrößern kann, ist für Hobbes nicht nur vernünftig, sondern auch rechtens. Ließe es sich durch die rücksichtslose Ausbeutung von Schwächeren auf Dauer akkumulieren, wäre Hobbes Argument an dieser Stelle zu Ende. Der einzelne müßte nur zur Herrschaft kommen, was als bestes Mittel zur Sicherung seines Lebens notwendig rechtmäßig wäre. Unrecht wäre nur der "Konsum" seiner Möglichkeiten, nachtragend zu sein beispielsweise l34 oder Rache zu üben 135, sofern damit keine Abschreckungseffekte erzielt werden können. Hobbes rückt so Machiavellis Ratschläge an den Fürsten in den Rang naturgesetzlicher Pflichten. l36 In den Elements stellt er klar: ... die Natur (hat) allen Menschen alles gegeben, so daß jus und utile, Recht und Nutzen dasselbe ist."l37 Daß die Auslegung dieses Rechts nur von jedem selbst vergJ. in diesem Zusammenhang auch: L. Strauss: HOObes' Politische Wissenschaft. - Neuwied: 1966. - S. 154. 132 Th. HOObes: "Vom Bürger". - Kap. In; "Der Bruch mit dem Rationalismus ist ... die entscheidende Voraussetzung sowohl des Souveränitätsbegriffs als auch der Verdrängung des "Gesetzes" durch das "Recht", d.h. der Verdrängung des Primats der Verpflichtung durch den Primat des Anspruchs. Der Bruch mit dem Rationalismus, der demnach die Möglichkeitsbedingung aller spezifisch modemen Politik ist, findet bei Hobbes seinen schärfsten Ausdruck darin, daß er die souveräne Gewalt, welche die von Natur fehlende allgemeine Vernunft ersetzt, nicht als Vernunft, sondern als Willen auffaßt." (L. Strauss: Hobbes' Politische Wissenschaft. - Neuwied: 1966. - S. 154). 133 Th. Hohbes: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 99; sowie: "Vom Bürger". - Kap. 1/8. 134 Th. Hobbes: "Vorn Bürger". - Kap. IIIIlO; sowie: Leviathan. - Kap. XV. - S. 117. 135 TI1. HOObes: Naturrecht ... - Teil I XVI/IO; siehe auch: "Vom Bürger". - Kap. IIIIl1. 136 lb. Hohbes: Leviathan. - Kap. XVII. - S. 131; siehe auch: "Gewalt und Betrug sind im Krieg die beiden Kardinaltugenden. Folge dieses Zustandes ist, daß es weder Eigentum noch Herrschaft, noch ein bestimmtes Mein und Dein gibt, so daß jedem nur das gehört, was er erlangen kann und zwar solange, wie er es zu behaupten vermag." (Ib. HOObes: Leviathan. - Kap. XIII. - S. 98). 137 Th. HOObes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XIV/lO. - S. 98; vergl auch: "Vom Bürger". Kap. 1/10); zum Thema Krieger- und Bürgertugend vergJ. auch: L. Strauss: Hobbes' Politische Wissenschaft. - Neuwied: 1966. - S. 113 ff.
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vorgenommen werden kann, versteht sich. l38 Da die Klugheit machiavellistischen Unternehmertums bei vorausgesetzter Vermögensgleichheit Herrschaft und damit ein Ende der Kämpfe nicht bringen kann,139 leben alle in einem Zustand, in dem "ein Mensch mit Recht vorgeht und ein anderer mit Recht widersteht, ... (so daß sie) daher in beständigem Mißtrauen gegeneinander leben und darüber nachdenken, wie sie einander zuvorkommen sollen, ... (ihr) Zustand (ist) in dieser natürlichen Freiheit der Kriegszustand ... " 140 In diesem Krieg, in dem sich der einzelne stets aufs Neue gegen potentielle Feinde wehren muß, hat er zwar das Recht auf alles, aber langfristig die Macht zu nichts, auch dazu nicht, sein Recht gegen die anderen durchzusetzen, denn "... das Recht aller Menschen auf alles ist in der Wirklichkeit nicht mehr wert, als wenn ein Mensch ein Recht auf nichts hätte. Denn ein Mensch kann wenig Gebrauch von seinem Rechte machen und Nutzen davon haben, wenn ein anderer, der ebenso stark oder stärker als er selber ist, ein Recht auf dasselbe hat." 141 Niemand kann mit einem solchen Zustand zufrieden sein, ja angesichts der Tatsache, daß ihm Selbsterhaltung das höchste Ziel bleibt, widerspräche er sich selbst,142 hätte inkonsistente Präferenzen, wie die Ökonomen sagen würden, wenn er Hobbes nicht auf dem Weg aus dem Naturzustand folgen wollte. Wenn die Menschen einsehen, daß der ständige Streit sie nicht weiter bringt, leuchtet ihnen auch eine weitere Pflicht ein, die Hobbes aus dem Interesse am Erhalt des eigenen Lebens herleitet: "Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, so lange dazu Hoffnung besteht. Kann er ihn nicht herstellen, so darf er sich alle Hilfsmittel und Vorteile des Krieges verschaffen und sie benützen."143 Alle anderen natürlichen Gesetze, die Hobbes an dieses anschließt, sind auf die Vermeidung von 138 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. 1/9. 139 Vergl auch: "Indes können die Menschen ... wegen jener Gleichheit der Kräfte und der anderen menschlichen Vennögen nicht erwarten, sich lange zu erhalten." (Tb. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. 1/15). 140 Th. Hobbes: Naturrecht .,. - Teil I. - Kap. XIV/ll. - S. 99. 141 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XIV/lI. - S. 98 f.; vergl. auch: "Allerdings hat außerhalb des Staates jeder eine gänzlich unbeschränkte, aber auch nutzlose Freiheit; denn wer um seiner Freiheit willen in allem nur so handelt, wie es ihm beliebt, der muß auch wegen der gleichen Freiheit der andem alles, was diesen beliebt, sich gefallen lassen. Nach Errichtung des Staates behält dagegen der einzelne Bürger nur soviel Freiheit für sich, als zum guten und ruhigen Leben genügt; wld die andem müssen soviel von ihrer Freiheit abgeben, daß man sie nicht zu fürchten braucht. Außerhalb des Staates hat zwar jeder das Recht auf alles, aber kann sich doch keines Besitzes erfreuen; im Staate kann jeder sein beschränktes Recht sicher genießen. Außerhalb des Staates kann jeder von jedem mit Recht beraubt und getötet werden; im Staate nur von einem. Außerhalb des Staates ist niemand der Früchte seiner Arbeit sicher, im Staate haben alle diese Sicherheit." (Ib. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. X/I). 142 ..... derjenige, der in einem solchen Stande, ... leben möchte, (widerspricht) sich selbst. Denn jeder Mensch wünscht selbstverständlich von Natur aus das eigene Beste, dem dieser Zustand, worin wir Streit zwischen von Natur Gleichen Wld einander zu zerstören fähigen Menschen voraussetzen, zuwider ist." (Ib. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XV1/12. - S. 99). 143 ll1. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 100.
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5. Thomas Hobbes
Konflikten gerichtet und lassen sich in dem Satz zusammenfassen: "Füge einem anderen nicht zu, was du nicht willst, daß man dir zufüge. "144 Damit diese Forderung nicht in Widerspruch zur ersten natürlichen Pflicht gerät, macht er allerdings ihre Befolgung davon abhängig, daß damit nicht das Risiko verbunden ist ausgebeutet zu werden: Im Falle nun, daß sie (die Naturgesetze; H. H.) von einigen gehalten und von anderen vemachIäßigt werden sollten, würden die, die sie halten, eine Beute derer werden, die sie nicht halten; es würden die Guten nicht nur ohne Schutz sein vor den Bösen, sondern auch noch die lästige Obliegenheit haben, ihnen beizustehen, was gegen die Absicht der genannten Gesetze ist, die nur geschaffen sind zum Schutze und zur Verteidigung deljenigen, die sie halten .... Die Gültigkeit der Naturgesetze ist daher nicht in foro externo d. h. solange die Sicherheit da ist, daß die Menschen ihm gehorchen werden, aber ist immer inforo interno, wo, solange als der tatsächliche Gehorsam unsicher ist, der Wille und die Bereitschaft, es zu erfüllen, für die Erfüllung genommen wird. 145
Im Sinne des Naturrechts sind also nicht Handlungen sondern Intentionen gerecht oder ungerecht. Selbst wo eine Handlung den Frieden fördert, die Intention aber nicht stimmt, liegt ein Rechtsbruch vor. 146 Da Menschen aber nicht in der Lage sind, die Intentionen ihrer Mitmenschen zu kennen, entzieht Hobbes diesen Rechtsbereich vollständig der zwischenmenschlichen Beurteilung: "... es gibt keinen Gerichtshof der natürlichen Gerechtigkeit," schreibt er, "außer im Gewissen, wo nicht der Mensch, sondern Gott herrscht. "147 Die Ausgrenzung des Naturrechts aus der zwischenmenschlichen Sphäre ist folgenreich. Sie erlaubt es weder dem Fürsten, seine Untertanen für ihre Gesinnung zu bestrafen,148 noch diesen, dem Fürsten auf der Grundlage überpositivem Rechts den Gehorsam zu verweigern. 149 Wenn sich die Menschen auch ohne Kontrolle durch ihre Mitmenschen die Naturgesetze zu eigen machen, so weil sie einsehen müssen, daß sie anders ihr Leben nicht erhalten können. Alles, was Machiavelli seinem Fürsten zum Erfolg empfohlen hatte, ist bei Hobbes durch die angenommene Gleichheit der Fähigkeiten zum Scheitern verurteilt. Ein unfreundlicher Akt wird unfreundliche Akte von Seiten der Mitmenschen hervorrufen und den einzelnen schlech144 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XV. - S. 120; siehe auch: "Vom Bürger". - Kap. IJI/26. 145 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XVII/I0. - S. 118; siehe auch: "Vom Bürger". Kap. II1!27, sowie: Leviathan. - Vorwort zum 1. Teil. - S. 6 f. 146 "Und da das Naturgesetz sich auf das Gewissen bezieht, so bricht nicht nur der sie, der dagegen handelt, sondern auch der, dessen Tun mit ihnen im Einklang ist, wenn er selbst dafür hält, daß das Gegenteil der Fall ist. Denn wenn die Handlung auch möglicherweise recht ist, in seinenl Urteilsveffilögen verachtet er doch das Gesetz." (Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XVII/I3. - S. 119). 147 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 270. 148 Der Satz, daß es ohne Gesetz keine Strafe geben dürfe (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVII. - S. 226), macht nur vor diesem Hintergrund Sinn. 149 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXIV. - S. 191.
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ter stellen, als wenn er tugendhaft geblieben wäre. Wenn Strauss deshalb von der Ersetzung der "Gehorsams- durch die Klugheitsmoral" 150 spricht, so ist das nur deshalb richtig, weil die Menschen in der Praxis mit Täuschung und Ausbeutung immer schlechter fahren als mit Kooperation. Dabei ist Hobbes keineswegs so blauäugig anzunehmen, daß Betrug oder Gewalt sich in der empirischen Welt nicht oft auszahlten. 151 In der Regel aber scheitern entsprechende Bestrebungen,denn ... alle (erwarten) dieselbe Verteidigung durch das Bündnis, und deshalb kann einer, der es für vernünftig erklärt, seine Helfer zu täuschen, vernünftigerweise auf keine anderen Mittel zurückgreifen als auf die, welche ihm seine eigene Einzelmacht bietet. Deshalb kann jemand, der seinen Vertrag bricht und folglich seine Meinung zu erkennen gibt, er könne dies vernünftigerweise tun, in keine Gesellschaft aufgenommen werden, die sich :rur Erhaltung des Friedens und zur Verteidigung zusammenschließt - außer auf Grund des Irrtums derer, die ihn aufnehmen. Und ist er aufgenommen, so kann er sich nicht halten, ohne daß sie die Gefährlichkeit ihres Irrtums bemerken.1 52
Wenn auf einen erfolgreichen Gesetzesbrecher allzuviele kommen, die in Überschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten Unruhe stiften, reicht dies, dem zarten Pflänzchen der Kooperationsbereitschaft die Lebensgrundlage zu entziehen. Hobbes kommt denn auch zu dem Schluß: "Zu den Leidenschaften, die am häufigsten Ursache von Verbrechen sind, gehört ... Prahlerei oder ein krankhaftes Überschätzen des eigenen Wertes ..... 153 Aber selbst wenn sich alle Menschen die Gesetze der Natur zu eigen machten, wäre nicht viel gewonnen. Da jeder nach wie vor befürchten muß, daß seine Mitmenschen subjektiv und legitim zu dem Schluß kommen, seine Ressourcen für ihre eigenen Ziele nötig zu haben, müßte er nach wie vor auf der Hut sein. Er wäre immer noch genötigt, ja naturrechtlich verpflichtet, sie vorbeugend unschädlich zu machen. Kooperation ist also auch bei Beachtung der natürlichen Gesetze inforo interno nicht zu verwirklichen. Einziger möglicher Ausweg aus diesem Dilemma ist es, sich für den anderen berechenbar zu machen. Das geeignete Instrument dazu ist der Vertrag. 154 150 L. Strauss: Hobbes' Politische Wissenschaft. - Neuwied: 1966. - S. 99. 151 111. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVII. - S. 226. 152 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XV. - S. 112. 153 Hobbes zählt als weitere noch Haß, Lust, Ehrgeiz und Habgier auf. legt aber besonderes Gewicht auf die Nichtanerkennung der existentiellen Gleichheit. (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVII. - S. 227 f.). 154 Hobbes unterscheidet den Vertrag vom Übereinkommen, das am besten als schlichter gleichzeitiger Tauschakt begriffen werden kann. (Tb. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. II/9; vergl. auch: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 102) Selbst Übereinkommen wären freilich im Naturzustand unmöglich, da sie immer Vertragsaspekte in sich schließen. Mit dem Tauschakt verzichtet man auf den Gebrauch des aufgegebenen Gutes in der ZukunfL Im Naturzustand, in dem man stets nach mehr individueller Macht streben muß und nicht auf die Einhaltung der Verträge durch den anderen vertrauen kann, muß man schon aus Selbstverteidigungsgründen nehmen. was man bekommen kann. Vergl. auch: Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil!. - Kap. XV/IO. - S. 104. 18 Hcgmann
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Wer von einem anderen einen Rechtsraum garantiert haben will, kann dies nur durch einen Vertrag erreichen, denn ..... wo kein Vertrag vorausging, wurde ... kein Recht übertragen, und jedermann hat ein Recht auf alles;" 155 Ein reziproker Rechtsverzicht konstituiert zwischenmenschliche Ansprüche, indem sich der einzelne dazu verpflichtet, auch dann bestimmte Güter des anderen unangetastet zu lassen, wenn sie ihm nützen würden und er die Fähigkeit zum Zugriff hätte. Diese Idee liegt dem Begriff des Eigentums zugrunde. 156 Ein Tausch von Rechten ist vorteilhaft, weil bestimmte Dinge für den einen wichtiger sind als für den anderen. Robbes argumentiert hier wie Bodin. Es gibt existentielle Interessen, unter ihnen an vorderster Stelle das unveräußerliche Recht auf Selbsterhaltung,157 die zu achten sind, wenn man andere zu Zugeständnissen bewegen will. Der Kernbereich des zur eigenen Existenz notwendigen Verfügungs- oder Machtraums muß zum Kernbereich des ausgehandelten Rechtsraums werden, was der Fall ist, wenn man beispielsweise einen Vertrag abschließt, in dem jeder darauf verzichtet, den anderen nicht zur eigenen Nutzenmaximierung umzubringen oder zu berauben. Die Garantierung dieses Rechts durch den anderen ist weit wichtiger als die Randlungsoption, auf die man seinerseits verzichten muß. Auch das nächste natürliche Gesetz, das Robbes ableitet, ist deshalb durchaus im Interesse seiner Adressaten. Es verlangt: ..... daß man die Verträge halte und das gegebene Wort nicht breche." 158 Wichtig ist auch hier, daß es nicht die moralische Verpflichtung ist, die jemanden dazu bewegen soll, einen entsprechenden Vertrag einzuhalten,159 sondern die Erkenntnis, daß angesichts der relativen Vermögensgleichheit Ausbeutung und Betrug langfristig kontraproduktiv sind.
155 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XV. - S. 110; vergl. auch: " ... alles Recht gegen andere beruht entweder auf der Natur oder auf Vertrag." (lb. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XV /5). 156 " ... so führte mich dies auf die ... Frage, zu welchem Zweck und infolge welcher Nötigung die Menschen gewollt haben, daß, da eigentlich alles allen gehörte, jeder sein besonderes Eigentum haben solle. Ich sah nun, daß aus dem gemeinsamen Besitz der Dinge der Krieg und damit alle Arten von Elend für die Menschen, die sich um deren Gebrauch mit Gewalt stritten, notwendig hervorgehen müsse." (lb. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. Widmung. - S. 62). 157 "Ebenso wie die Erhaltung eines jeden erfordert, daß er von gewissen Rechten abgehe, so erfordert diese Erhaltung nicht weniger, daß er sich gewisse Rechte vorbehalte, nämlich das Recht, seinen Körper zu schützen, die freie Luft zu atmen, des Wassers und aller zum Leben notwendigen Dinge sich zu bedienen. Somit behalten die den Frieden Schließenden viele gemeinsame Rechte, viele besondere werden erworben; daraus ergibt sich das neunte Gebot des natürlichen Gesetzes, daß ein jeder die Rechte, welche er für sich verlangt, auch jedem andem zugestehe; ... " (lb. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. III/14); vergl. auch: Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil I, Kap. XVII/2. S.114. 158 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. III/1;Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 100. 159 Den Mangel an moralischem Pflichtgefühl beklagte schon Machiavelli. Die Undankbarkeit, die ihm entspringt, ist seiner Meinung nach: "... (d)es Geizes Tochter und des Argwohns, gesäugt in des Neides Armen, ... " (N. Machiavelli: "Das Glück". - in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - S. 231).
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Aus diesem Grunde kann Hobbes den Vertragsbruch auch mit der Widersprüchlichkeit innerhalb eines Arguments vergleichen: "Denn wie man dort als Absurdität bezeichnet, dem zu widersprechen, was man anfangs behauptet hat, so bezeichnet man es auf weltlichem Gebiet als Ungerechtigkeit und ungerecht, willentlich dem entgegenzuhandeln, was man anfangs willentlich getan hat." 160 Dieses Argument macht freilich nur Sinn, wenn der einzelne ein Interesse daran hat nicht absurd zu sprechen, d. h. eine widerspruchsfreie Position zu vertreten. Da dies aber nicht immer der Fall ist, hatten schon die Sophisten gelehrt, daß es im sozialen Bereich durchaus nützlich sein mag, die Erwartungen der anderen zu täuschen. Nur wo existentielle Gleichheit bei Vertragsbruch die Kooperation zusammenbrechen läßt, wird Widerspruchsfreiheit, Verläßlichkeit und Vertragstreue auch individuell nützlich. Der Friede wird also nicht dadurch hergestellt, daß sich die Beteiligten auf gemeinsame Werte einigen, sondern dadurch, daß sie sich für einander berechenbar machen, womit Geschäfte zu beiderseitigem Vorteil möglich werden. Worin diese Vorteile bestehen, wird nicht mehr an allgemeingültigen Wertmaßstäben abgelesen, sondern manifestiert sich ausschließlich in den Entscheidungen derer, die das Geschäft abschließen. 161 "Der Wert aller Gegenstände eines Vertrages," schreibt Hobbes, "bemißt sich nach dem Verlangen der Vertragspartner, und deshalb ist der gerechte Wert der, den sie zu zahlen bereit sind."162 Wenn Hans im Glück also seinen Goldklumpen gegen einen Mühlstein tauscht, so mag das nach unserem Verständnis ein schlechtes Geschäft sein, Unrecht ist es nicht. Dasselbe gilt für den Einkauf von Dienstleistungen: Die Geltung oder der Wert eines Menschen ist wie der aller anderen Dinge sein Preis. D. h. er richtet sich danach, wieviel man für die Benützung seiner Macht bezahlen würde und ist deshalb nicht absolut, sondern vom Bedarf und der Einschätzung eines anderen abhängig. Ein fähiger Heerführer ist zur Zeit eines herrschenden oder drohenden Krieges sehr teuer, im Frieden jedoch nicht. Ein gelehrter und unbestechlicher Richter ist in Friedenszeiten von hohem Wert, dagegen nicht im Krieg. Und wie bei anderen Dingen, so bestimmt auch bei den Menschen nicht der Verkäufer den Preis, sondern der Käufer. Denn mag jemand ... sich selbst den höchsten Wert beimessen, so ist doch sein wahrer Wert nicht höher, als er von anderen geschätzt wird. 163
Die Umgangsformen einer anonymisierten Gesellschaft, die Hobbes hier noch relativ brutal formuliert, wird Adam Smith mit seinem berühmten "Nicht vom Wohlwollen des Fleischers ... "164 nur 125 Jahre später ganz unspektakulär 160 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 101. 161 "Es ist ein alter Spruch, daß dem kein Unrecht geschehe, der damit einverstanden ist (volenti non fit injuria) ... Indem er ... will, daß das geschehe, was nach dem Vertrage nicht erlaubt war, wird der Vertrag selbst ... aufgehoben; es kehrt also das Recht, es zu tun, zurück, und es geschieht also mit Recht; deshalb ist es kein Unrecht." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. mn); auch das, was Hobbes zum Ende der vertraglichen Verpflichtung schreibt, weist darauf hin, daß für die Beurteilung des Vertrages nichts anderes wesentlich ist, als der Wille der Beteiligten. Vergl. hierzu: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 106. 162 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XV. - S. 115 f.; vergl. auch: Th. Hobbes: Naturrecht ... Teil I XVI/5. - S. 109 f. 163 1ll. Hobbes: Leviathan. - Kap. X. - S. 67.
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auf den Punkt bringen. Fremde taxieren sich gegenseitig vor allem nach Nützlichkeitskriterien, es ist nicht die Menschenliebe, die sie zueinander führt. Nur wenn sie von anderen etwas Positives erhoffen oder Negatives befürchten, fragen sie nach seinen Bedürfnissen, und nur insofern sie hoffen, einen Nutzen für sich zu realisieren bzw. einen Schaden abzuwenden, stellen sie ihn zufrieden. 165 Selbst Ehrung und Wertschätzung des anderen ist nur die Anerkennung seines Wertes,166 seiner Nützlichkeit für einen selbst. Indem Hobbes mit der Idee aufräumt, daß es "objektive" Werte von Gütern oder Dienstleistungen gibt, vernichtet er die Grundlage einer, wenn auch bereits weitgehend an Kräfteverhältnisse angepaßten, aber doch nach wie vor materiellen Konzeption von Gerechtigkeit. Von der Ebene der Auseinandersetzung der Menschen mit objektiven Kriterien ist der Begriff der Gerechtigkeit nun endgültig auf die Ebene der Auseinandersetzung zwischen Menschen gerückt. 167 Gerechtigkeit reduziert sich auf die Forderung: "Abgeschlossene Verträge sind zu halten." 168 Diese Verschiebung markiert den radikalen Bruch zwischen Bodin und Hobbes, geht aber in ihrer Intention in dieselbe die Richtung. 164 "lt is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker, that we expect our dinner, but from their regard to their own interest. We address OIIrselves not to their humanity but to their self-Iove, and never talk to them of our own necessities but of their advantages." (A. Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the WeaIth of Nations. - Indianapolis: 1981. - Bd. 1. - S. 26 f. [S 21 f.)). 165 Mit, so weit ich sehen kann, nur zwei eher unwichtigen Ausnahmen hält Hobbes die subjektivistische Interpretation des Gerechten in seiner ganzen Argumentation durch. Zum einen argumentiert er in bezug auf die Besteuerung der Untertanen, daß die Steuer dem Nutzen entsprechen müsse, den die Untertanen vom Staat haben, und nicht dem, was sie widerstandslos zu zahlen bereit wären. Zum anderen laviert er in bezug auf die Armenpflege. Wo jeder nur soviel wert ist, wie er zu leisten in der Lage ist, gibt es aus Nützlichkeitserwägungen keinen Grund, warum Arme oder Kranke versorgt werden sollten. (vergI. hierzu auch: G. S. Kavka: Hobbesian Moral and Political 111eory. - Princeton: 1986. - S. 439 ff.) In der englischen Ausgabe weist Hobbes deshalb ganz untypisch auf die Hartherzigkeit hin, der sich ein Souverän schuldig machen würde, wenn er diese Menschen der "zufälligen und so unsicheren Wohltätigkeit" von Privatpersonen überließe. (Ib. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 264 f.) Euchners Anmerkung zur lateinischen Fassung derselben Stelle rückt das Bild aber wieder zurecht: "Nach dem Naturrecht ist es im dringendsten Notfall erlaubt, fremdes Eigentum heimlich oder öffentlich zu nehmen, folglich müssen diese (die Armen; H.H.), wenn sie anders den Bürgern nicht zur Last fallen sollen, vom Staate emällrt ... werden." (Ib. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 264 f.; ) Hier stimmt die Argumentation wieder: Jeder erhält nur das, was er dem Geber "wert" ist. 166 111. Hobbes: Leviathan. - Kap. X. - S. 71. 167 Damit begründet Hobbes eine Tradition, die über Smith und Hume bis heute vor allem im angelsächsischen Rawn eine zentrale Stellung einnimmt. Ihre Fähigkeit, Konsens und damit Frieden herbeizuführen, ist vor allem D. Hume ein Anliegen, der drei Grundgesetze des Naturrechts unterscheidet: ..... das der Sicherung des Besitzes, das der Übertragung durch Zustimmung und das der Erfüllung von Versprechungen. Von der strengen Befolgung dieser drei Gesetze hängt der Friede und die Sicherl1eit der menschlichen Gesellschaft durchaus ab.... Die Gesellschaft ist zum Wohlbefinden der Menschen absolut notwendig und diese Gesetze wiederum sind zur Erhaltung der Gesellschaft notwendig." (0. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch III (Über Moral). Hamburg: 1978. - S. 274). 168 111. Hobbes: Leviathan. - Kap. XV. - S. 110.
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Die Fonnalisierung reduziert das Recht vollends auf den Bestand an gemeinsamen Interessen derer, die mit seiner Hilfe ihre Angelegenheiten regeln wollen. Gerechtigkeit hat den Zweck, Verträge möglich zu machen. 169 Sie soll die Verbindung zwischen den Handlungen, zu denen sich Vertragspartner verpflichten, garantieren. 170 Es ist wichtig im Auge zu behalten, daß hier nur vordergründig von einem Verzicht auf Rechte die Rede ist. Eigentlich geht es um einen Verzicht auf Handlungsoptionen. Nicht Rechtsüberlegungen, sondern der Nutzen, den man selbst durch den Verzicht der anderen realisiert, veranlaßt zum eigenen Verzicht. Damit ist an dieser Stelle von Liberalismus im engeren Sinne noch nicht die Rede. Vielmehr handelt es sich um rein strategisches Verhalten, wie selbst Kriegsgegner es kennen, wenn sie beispielsweise ohne entsprechende Abkommen auf den Einsatz bestimmter Kriegsmittel verzichten. Aber nicht nur der Inhalt von Verträgen ist beliebig und nur vom Willen der Vertragspartner abhängig, auch die Fonn, und damit etwas, das man "fair dealing" nennen könnte, stellt sich nicht von selber ein. So macht die Idee, daß Menschen einander soviel Freiheiten gewähren sollen, wie sie sich selbst vorbehalten wollen, oder daß sie so gleich sind, daß keiner ein Recht auf Vorzugsbehandlung habe,171 nur auf der Grundlage realer Vennögensgleichheit Sinn. Weil Hobbes vorher das Recht schlicht als das Einhalten von Verträgen definiert hat und zudem betont, daß Gott den Menschen keine eindeutigen Kriterien an die Hand gegeben habe, nach denen sie über die Berechtigung ihrer Ansprüchen entscheiden könnten,l72 kann die einzige Rechtfertigung der Forderung nach Gleichbehandlung in der Erkenntnis liegen, daß anders Zusammenarbeit nicht zustandekommt. Weil und wenn sich die Menschen in der Realität als gleich wahrnehmen, werden sie Ungleichheit in den Nonnen nicht zulassen. Auch ihre Behandlung durch einen Schiedsrichter hängt von ihrem Vennögen ab. Je stärker sie sind, desto mehr Widerstand können sie der ungeliebten Entscheidung eines Schiedsrichters entgegensetzen. Wenn der Schiedsrichter also im eigenen Interesse unparteiisch ist, kann das nur heißen, daß die Parteien gleich stark sind, und dies ist in der Tat Hobbes' Ausgangspunkt. 169 Was überhaupt nicht ausschließt, daß der Bruch von Verträgen eine Sünde gegen Gott ist. Ganz im Gegenteil, denn es ist ein natürliches und damit göttliches Gesetz, daß die Menschen den Frieden suchen sollen, zumindest gegen dieses Gesetz verstoßen sie, wenn sie die Kooperation sabotieren. 170 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap.IIJ/27. 171 "Die Natur hat die Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen, daß trolz der Tatsache, daß bisweilen der eine einen offensichtlich stäriceren Körper oder gewandteren Geist als der andere besitzt, der Unterschied zwischen den Menschen alles in allem doch nicht so beträchtlich ist, als daß der eine auf Grund dessen einen Vorteil beanspruchen könnte, den ein anderer nicht ebensogut für sich verlangen dürfte."Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIII. - S. 94. 172 111. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XVII/lO.
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5. Thomas "obhes
Das Instrument des Vertrages öffnet den Weg zu einer utopischen Welt. Wo Menschen frei sind, Randgebiete ihres individuellen Machtraums gegen die Garantierung eines Kernbereichs durch ihre Mitmenschen einzutauschen, gewinnen sie nicht nur Sicherheit diesen Mitmenschen gegenüber, sie sparen auch Vermögen ein. Wo sie nicht mehr ihre ganze Kraft in die Abwehr potentieller Feinde stecken müssen, wird diese Kraft disponibel. Was nicht für den Lebensunterhalt gebraucht wird, kann in einen Wettlauf um Ehre investiert werden, aber auch für Akte der Nächstenliebe, Philosophie oder Luxus aufgewandt werden. 173 Wie in Machiavellis Republik entlastet der Konsens im funktionierenden Sozial verband von der Notwendigkeit, die eigene Position stets aufs Neue gegen jeden behaupten zu müssen. Wenn Vermögen die Fähigkeit ist, die eigenen Ziele zu realisieren, Gewalt der Zwang anderer und Macht der bereits zitierten Definition Hannah Arendts gemäß die Fähigkeit, "sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln",114 wird in der anarchistischen Gesellschaft dank Gleichheit, Rechtsteilung und damit ermöglichter Kooperation Vermögen frei, Gewalt verschwindet und Macht bildet sich heraus. Man könnte die anarchistische Gesellschaft deshalb geradezu als eine machtvolle und zwanglose Überflußgesellschaft definieren. Konflikte um knappe Ressourcen würden auf dem Verhandlungswege entschieden, um die Kosten eines Konflikts zu sparen. Jeder könnte auf seiner Rechtsparzelle tun, was er wollte. Keiner wäre mehr gezwungen, sich gegen Übergriffe anderer zu verteidigen. Die eingesparten Energien ließe sich, soweit es dem einzelnen vorteilhaft erschiene, auf einem "Markt der Vermögen" 175 anbieten, um Dienstleistungen anderer einzutauschen. Dort hätte jeder genau die Zahlungsmittel zur Verfügung, die ihm die Gesellschaft für seine Dienste zu zahlen bereit wäre, weshalb besonders gefragte Dienstleistungen auf dem Markt besonders hohe Preise erzielten und so verstärkt bereitgestellt würden. Jeder hätte so einen Anreiz, sich zum Wohle seiner Mitmenschen anzustrengen, und zwar nicht aus Selbstlosigkeit, sondern um seiner Kaufkraft willen.
173 Siehe auch: "Muße ist die Mutter der Philosophie und der Staat die Mutter von Frieden und Muße. Wo es zuerst große und blühende Städte gab, da gab es zuerst das Studium der Philosophie." (Ib. "obbes: Leviathan. - Kap. XLIV. - S. 508). 174 H. Arendt: Macht und Gewalt. - München: 1975. - S. 45. 175 Macpherson spricht in diesem Zusammenhang auch von einem "Machtmarkt", C.B. Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. - Frankfun/M.: 1973. - S. 53. Siehe auch dort zum Thema "Arbeit als Ware" (S. 62.).
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5.2.2. Die Notwendigkeit staatlicber Recbtsgarantie
Eine friedliche, für ganz individuelle Ziele verschiedenster Menschen offene Gesellschaft freier Marktteilnehmer wäre verlockend. Auch wenn die Menschen sich dort nach wie vor nicht "in die Herzen" schauen könnten, auch wenn sie sich nach wie vor nicht darauf werden einigen könnten, was ist und was sein sollte, wäre ihnen doch mit der formalen Gerechtigkeit des Vertrages ein Mittel an die Hand gegeben, Streit zu meiden. Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für die friedliche Beilegung von Konflikten in heterogenen Großgruppen wäre geschaffen. Utopisch ist eine solche Gesellschaft, weil die Trennung von Vermögen und Rechtsanspruch Rechtsbrechern Vorteile verschafft. Je zwangloser die Gesellschaft funktioniert, je unwichtiger die individuelle Machtanhäufung wird, desto weniger konkurrentiell, d. h. neidisch, muß es zwischen den Menschen zugehen. Andererseits erhöht gerade das die Versuchung, sich relativ gefahrlos unrechtmäßig zu bereichern. Je seltener Vertragsbrüche im allgemeinen werden, je weniger sich der einzelne vor Raub und Mord fürchten muß, desto größer wird für ihn der Nutzen, den er aus einseitigem Rechtsbruch realisieren kann, desto weniger sind eventuelle Opfer auf einen solchen Akt vorbereitet. Zudem fällt ein einzelner Vertragsbruch um so weniger auf, je größer die Gesellschaft ist, und ein direkter Rückfall in den Naturzustand wird immer unwahrscheinlicher. Das Klima, die Atmosphäre, in der Rechtsbruch gedeihen kann, wird also im Laufe der Zeit günstiger. Geht man von einer hypothetischen Gesellschaft von Anarchisten aus, wird sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Kooperation mit der Zeit zugunsten verdeckter Vertragsbrüche verschieben. Für den einzelnen wird die Verlockung ständig größer werden, der Empfehlung des Antiphon zu folgen und das eigene Vermögen auszubauen, indem er die Regeln immer dann bricht, wenn er es unbeobachtet und ungestraft tun kann. Erliegen erst einmal einige dieser Versuchung und legen die Beute in Machtgewinn an, werden sie bald über mehr Vermögen verfügen als ihre ehrlichen Mitbürger. Aber nicht nur tatsächliche Vertragsverletzungen führen zum Zusammenbruch der Anarchie. Da es nicht objektiv klärbar ist, was den einzelnen zusteht, wird es zu Meinungsverschiedenheiten kommen, und da hinter jeder dieser Meinungsverschiedenheiten der Versuch stehen kann, die Wahrheit im Sinne eines Vertragspartners zu beugen, eskalieren sie mit großer Wahrscheinlichkeit. Hobbes hält die Idee der anarchistischen Gesellschaft denn auch zu Recht für eine Utopie. 176 Langfristig, so schließt er, werde sich die anarchistische Gemeinschaft kaum auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können. 177
176 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XVII. - S. 132. 177 111. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XIX/4. - S. 127.
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5. Thomas Hobbes
Mit der Unterscheidung zwischen/oro interno und/oro externo hat Hobbes also seine Adressaten zwar von der Gewissensqual befreit, zwischen Martyrium und Sünde wählen zu müssen, den Weg aus dem Naturzustand hat er ihnen noch nicht gewiesen. Er resümiert: "Wenn ... zur Erhaltung des Friedens die Befolgung der natürlichen Gesetze, und zu deren Befolgung eine Sicherheit notwendig ist, so fragt es sich, was eine solche Sicherheit gewähren könne."178 Verträge und Verpflichtungen, die Bande, "durch welche die Menschen gebunden und verpflichtet werden",179 sind nicht viel wert, wenn ihnen die Interessen der Verpflichteten zuwiderlaufen. "(N)ichts wird leichter gebrochen als das Wort eines Menschen," schreibt Hobbes.'8o Deshalb kann ein Vertragspartner nur dann auf die Einhaltung einer entsprechenden Verpflichtung hoffen, wenn sich die Zukunftsperspektive des anderen entsprechend verändert. Eine Möglichkeit, das individuelle Kosten-Nutzen-Kalkül zugunsten der Vertragserfüllung zu verändern, ist der Eid. Hobbes definiert: Ein Eid ist eine Klausel, die einem Versprechen beigefügt wird und womit derjenige, der etwas verspricht. auf Gottes Gnade verzichtet, falls er es nicht ... erfüllt ... Der Zweck eines Eides ist daher. den Wortbruch eines Vertragschließenden zu rächen ... aus der Definition des Eides erkennt man, daß durch ihn keine größere Verpflichtung ... entsteht ... daß er einem Menschen aber größere Gefahr und Strafe vor Augen führt. 181
Diese Form der Anpassung der Welt an die vertraglichen Verpflichtungen erfüllt freilich nur dann ihren Zweck, wenn der Schwörende an Gott glaubt Kümmert er sich nicht weiter um sein Seelenheil, mag es dem vom Bruch des Vertrages Betroffenen zwar ein Trost sein, daß der Bösewicht Gottes Strafe nicht entgeht, auf Erden aber wird der Rechtsbrecher erst einmal zusätzliches Vermögen gewinnen_ Um das zu verhindern, muß die Nutzenkalkulation schon für das Diesseits entsprechend verändert werden_ Es bliebe zwar auch dann nach wie vor möglich, daß jemand aus Leidenschaft zum Verbrecher wird, aber wenn er dabei Vermögen einbüßt, wird er auf Dauer ungefährlich. Außerdem wird er nicht zu hundert Prozent irrational handeln. Solche Menschen lassen sich ohnehin nicht abschrecken. Nur insoweit sie vorausschauen und die voraussichtlichen Kosten ihres Handeins in ihre Entscheidung einbeziehen, werden sie auf eine Drohung reagieren. In dem Maße aber, wie sie so kalkulieren, lassen sie sich zur Einhaltung von Verträgen bewegen.'82 Da Rechtsbrecher abgewehrt werden müssen, kann das durch die Kooperation eingesparte Vermögen nicht mehr ausschließlich in die Produktion fließen. 178 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. V!3. 179 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 101. 180 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 101. 181 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XV/15 und 17. - S. 106 f. 182 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XV. - S. 110.
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Es muß teilweise zur Sanktionierung von Rechtsbrechern und zur Verteidigung aufgewandt werden. Das Kollektiv bedarf eines Gewaltpotentials, das nötigenfalls mit Gewalt unkooperative Handlungen im Inneren der Gesellschaft und Bedrohungen von außen abwehrt: Jeder Jude, welcher zu Esras Zeit an den Mauem Jerusalems mitbaute, verrichtete mit der einen Hand die Arbeit und in der andern hielt er das Schwert. Man muß bedenken, daß in jedem Staate der König oder die höchste Versammlung die Hand ist, welche das Schwert führt, und daß sie durch den Reiß der Bürger ebenso ernährt werden muß, wie die, mit der jeder sich sein Privatvermögen erwirbt. Die Zölle und Steuern sind nur der Lohn derer, welche in Waffen wachen, damit der Reiß der Einzelnen nicht durch die feindlichen Einfälle behindert werde. 183
Aber es ist nicht allein die Durchsetzung der abgeschlossenen Verträge, die der Inhaber der Sanktions gewalt zu gewährleisten hat. Angesichts der Komplexität der WeIt, der begrenzten Rationalität der Beteiligten und der Gefahr von Selbsttäuschung und Betrug ist es ziemlich unwahrscheinlich, daß sich Vertragspartner immer darauf einigen werden, wie die Erfüllung eingegangener Verträge zu interpretieren ist, insbesondere dann, wenn sie nicht zu langfristigem Kontakt gezwungen sind. Deshalb ist ein Schiedsrichter erforderlich, der im Konfliktfall entscheidet und schon im Vorfeld durch das Aufstellen entsprechender Regeln die Möglichkeit von Mißverständnissen und Betrügereien reduziert. Der Vertragsgarant und Schiedsrichter kann natürlich nur dann erfolgreich wirken, wenn er die Übeltäter auch tatsächlich "auf Linie" bringen kann, d. h. wenn er abweichendes Verhalten auch tatsächlich in einer Weise sanktionieren kann, daß es den Parteien geraten erscheint, seinen Spruch zu akzeptieren. Die dazu notwendige Kollektivmacht muß stärker sein als diejenige der potentiellen Gesetzesbrecher. Oben war schon die Rede davon, daß dies nur möglich ist, wo Menschen gemeinschaftlich handeln, wo sie also ihre Handlungen koordinieren können. Hobbes sieht sich angesichts des Bürgerkriegs derselben Knappheit von kollektiven Zwangsmitteln ausgesetzt wie Machiavelli und Bodin. Zudem ist er mit einem Dilemma konfrontiert: Zur Sicherung nach innen und außen muß eine Gruppe so groß wie möglich sein,184 je größer sie aber wird, desto leichter wird es für den einzelnen, sich seinen Verpflichtungen zu entziehen. Auch wenn Hobbes die Korrelation von Gruppengröße und Trittbrettfahrerverhalten nicht thematisiert, ist sie mit seinem mehrfachen Hinweis auf "so many men" schon zu ahnen. Wichtig ist, daß er wie Bodin das Bestehen einer höchsten "souveränen" Gewalt nicht nur als für jeden wohlgeordneten Staat für unabdingbar hält, sondern daß er sie auch als absolut im Sinne einer unanfechtbaren letzten Entscheidungsinstanz begreift. 185 183 Th. Hobbes: "Vorn Bürger". - Kap. XIII9; vergl auch Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 263. Die Funktion des Fürsten ist hier von der mittelalterlichen grundsätzlich verschieden: Vom weltlichen Arm Gottes ist der Fürst zum Diener des Volkes oder genauer zum Diener der Masse der Individuen geworden. 184 1l1. Hobbes: Naturrecht ... - Teil!. - Kap. XIX!3. - S. 126.
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Spontane Strafverfolgung ist keine Alternative Angenommen nun die einzelnen würden sich veIpflichten, im Verteidigungsfalle einander beizustehen und sie würden darüber hinaus beschließen, diejenigen gemeinschaftlich "zur Ordnung zu rufen", die ihren VeIpflichtungen nicht nachkommen, so würde ein solches Verfahren einen Volkssouverän konstituieren, eine höchste Gewalt im Staate, die nicht einer speziellen Agentur obläge, sondern stets aus der Gesamtheit des Volkes hervorginge. Ein solches Arrangement mag funktionieren, wenn wie im Kriege das individuelle Interesse an der Einhaltung der Verträge besonders hoch ist. Wo dies nicht der Fall ist, stellen sich aber gleich mehrere Probleme. Zum einen stellt sich die Frage, warum sich jemand an der Bestrafung eines Übeltäters beteiligen soll, wenn der ihm nicht direkt geschadet hat. Wenn die Gruppe groß genug ist, daß sein Fernbleiben nicht auffällt, ist es für ihn allemal billiger, sich seinen bürgerlichen Pflichten zu entziehen. Verfolgen die anderen den Übeltäter, hat er den Nutzen, ohne die Kosten zu tragen, verfolgen sie ihn nicht, ist er dem Risiko entgangen, dem Rechtsbrecher allein gegenüberzustehen. Das Informationsproblem, die Unfähigkeit zu wissen, wer seinen Pflichten nachkommt und wer nicht, läßt es also individuell ratsam erscheinen, auf die Pflichterfüllung zu verzichten. Ist dies aber der Fall, werden sich nur solche Leute zur Sanktionierung einfinden, die hoffen, direkt etwas dabei gewinnen zu können, zum einen also die Betroffenen selbst, die den Sachverhalt kaum unbefangen beurteilen werden,186 zum anderen aber solche Leute, die von der Sanktionierung zu profitieren hoffen, weil beispielsweise Ressourcen frei werden oder ein unliebsamer Konkurrent vom Markt verschwindet. Wäre dies alles, könnte man mit der Triebkraft für Sanktionierung noch einverstanden sein.I 87 Problematisch wird es erst, wo angesichts der prinzipiell unsicheren Rechtslage Leute versucht sind, im Trüben zu fischen, ihre aktive Mitwirkung bei der Sanktionierung dazu zu nutzen, unrechtmäßig SondeIprofite einzufahren. 188 Wo die Berechtigung der Sanktionsforderungen nicht "objektiv" nachprüfbar ist, werden sich schon bald ehrbare Bürger mit Forderungen bedroht sehen, die von machiavellistischen Unternehmern nur zur Förderung ihrer eigenen individuellen Interessen angeregt wurden. 185 "... zu der Beschränkung dieser Macht bedürfte es einer noch höheren Macht, weil der, welcher die Schranken setzt, eine größere Gewalt haben muß als der, welcher dadurch beschränkt werden soll.... und damit kommt man zuletzt zu einer Macht, die nur an dem höchsten Maße der Kräfte aller Bürger ihre Schranken hat. Diese heißt auch die höchste Staatsgewalt." (In. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. VI/I 8). 186 Man denke z. B. an Fälle von Lynchjustiz. 187 Libertäre Vorstellungen privater Schutzorganisationen bewegen sich auf dieser Linie. 188 Die Denunziationspraxis im Drillen Reich beispielsweise legt die ganze Bandbreite möglicher Motive für privat angeregte Sanktionierung bloß.
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Die dauerhafte anarchistische Koordination einer Vielzahl von Ansprüchen ist also auch auf vertikaler Ebene zum Scheitern verurteilt. Die am konkreten Konfliktfall Uninteressierten, diejenigen also, die am ehesten durch einen unparteiischen Richterspruch den Konsens wahren könnten, haben das geringste Interesse an der Ahndung eines Rechtsbruchs bzw. an einer Schiedsrichtertätigkeit, während diejenigen, die ausreichendes Interesse mitbringen, keine Gewähr für neutrale Entscheidungen bieten. Inwieweit eine Partei Erfolg hat, hängt nur davon ab, wen sie auf ihre Seite ziehen kann. Da für die Gegenseite dasselbe gilt, sind Fraktionskämpfe und möglicherweise der Bürgerkrieg die Folge. Auch hier wieder schließt die am Eigennutz orientierte Argumentation Handlungsmotive wie Solidarität und Gerechtigkeitsgefühl keineswegs aus. Wenn aber davon ausgegangen wird, daß Menschen sich um so intensiver um das "Gemeinwohl" kümmern, je unmittelbarer sie selbst dabei etwas zu gewinnen oder zu verlieren haben, ist die Gefahr groß, daß es nicht notwendigerweise diejenigen mit den "edleren" Handlungsantrieben sind, die sich der Rechtspflege mit der meisten Energie widmen werden. Hobbes kommt denn auch zu der Überzeugung, daß ein dauerhaft in einer Person oder einer Gruppe von Personen festgelegtes Gewaltmonopol der einzige Ausweg aus dem Naturzustand iSt. 189 In der Ausformulierung dessen, was die Friedenspflicht dem einzelnen abfordert, geht er Schritt für Schritt in einer Weise vor, die jede neue Pflicht aus der ursprünglichen Verpflichtung zur Selbsterhaltung ableitet. Solcherart will er die Motivation seiner Adressaten erhalten, die aufgezeigten Pflichten auch zu respektieren. Hobbes wendet sich in seiner Argumentation wie Bodin an zwei Typen von Adressaten. Zum einen will er den einfachen Menschen darlegen, warum ihre widerspruchsfreie Unterwerfung unter einen absoluten Fürsten das für sie maximal Erreichbare wäre, und zum anderen will er dem Fürsten beweisen, wie sehr es in seinem Interesse liegt, ein "guter Herrscher" zu sein. Die letztere Argumentation ähnelt in vieler Hinsicht den Ratschlägen von Machiavelli und Bodin, so daß sie im folgenden weniger relevant ist und nur die zweite, die Rede an die Untertanen, ausführlicher geschildert werden soll. Zuerst muß aber noch kurz auf eine Form der 189 Daß die Übeneugung, Kollektive könnten nur durch Einzelpersonen vertreten werden. nicht notwendigerweise zu absolutistischen Lösungen führen muß, zeigt die Stellung von St. J. Brutus. Er argumentiert analog zu Hobbes, nur sind seine Kollektive die sozialen und regionalen Verbände, die auf dem Ständetag vertreten sind: "(Es) setzen nicht die einzelnen den Fürsten ein. sondern die Gesamtheit. Daher müssen die Einzelpersonen auf den Befehl derjenigen, die die Gesamtheit im Königreich oder ein Gebiet oder eine Stadt des Königreichs repräsentieren, oder wenigstens auf den Befehl eines von diesen warten, bevor sie etwas gegen den Fürsten unternehmen. Wie nämlich ein Mündel nur mit Genehmigung des Vonnundes einen Prozeß anstrengen kann - obschon das Mündel in Wahrheit der Herr ist, der Vonnund aber als dessen Herr nur soweit gilt, als es die Fürsorge für das Mündel angeht, so kann auch das Volk nur auf Veranlassung derer etwas unternehmen, denen es seine Macht und Gewalt übertragen hat. (St. J. Brutus (P. Du Plessis Momay): "Strafgericht gegen die Tyrannen" in: J. Dennert: Beza, Brutus, Hotman - Calvinistische Monarchomaehen. - Opladen: 1968. - S. 186 (3. Unters.).
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Staatsbildung eingegangen werden, die Hobbes quer durch sein gesamtes Werk als Alternative zum Gesellschaftsvertrag beibehält, diejenige der "Herrschaft durch Aneignung".I90 Sie ist in ihrem Konzept an die despotische Herrschaft des Bodin angelehnt 191 und legt wie diese das Schwergewicht auf die erzwungene Unterwerfung des Untertanen. Unterdrückung ist keine dauerhafte Lösung Im Naturzustand kommt Herrschaft ohne die Einwilligung des Beherrschten nicht zustande. Auch wenn Hobbes normativ bestimmt, daß ein Sklave, den sein Herr auf ein Versprechen hin von seinen Fesseln befreit, die Pflicht habe, ihm als Knecht in Zukunft gehorsam zu sein 192 und damit selbst unter Druck zustandegekommene Verträge für gültig hält,193 wäre dieser Herr höchst unvernünftig, wenn er auf ein solches Versprechen vertrauen wollte, und der Sklave ebenso unvernünftig, sich daran zu halten. 194 Hobbes selbst konstatiert: "Weil ... Verträge ungültig sind, wenn ... eine der beiden Parteien die Nichterfüllung befürchtet, ... kann es, ... solange keine Ungerechtigkeit geben, bis die Ursachen dieser Furcht beseitigt sind. Solange die Menschen im natürlichen Kriegszustand leben, kann dies nicht geschehen."195 Weil Leidenschaften aber allzu oft den Rechtssinn zu Makulatur werden lassen, muß der Knecht jederzeit damit rechnen, daß sich sein Herr eines anderen besinnt, während dieser dasselbe von seinem Sklaven befürchten muß. Deshalb begeht keiner ein Unrecht, wenn er vorbeugend das Abkommen bricht. Überhaupt darf der Herr dem Sklaven die Fesseln gar nicht abnehmen, wenn er dem Naturrecht gehorchen will, denn da sich das Recht
190 Aus der Sicht des Fürsten gilt entsprechend: "Man verschafft sich Genossen entweder durch Gewalt oder durch Vereinbarung: ... der Sieger (durch Gewalt; H.H.) kann aber den Besiegten, oder der Stärkere den Schwächeren mit Recht zwingen" (Ib. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. 1/14). 191 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XIX. - S. 130. 192 Vergl. z. 8.: Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. VIII/3. 193 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil1. - Kap. XV/13. - S. 105; vergl. auch: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 107. 194 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. VIII/3 und 4; vergl. auch: "Verträge, die im reinen Naturzustand aus Furcht geschlossen worden sind, verpflichten. Wenn ich zwn Beispiel vereinbare, einem Feind ein Lösegeld zu bezahlen oder zur ErhaltWlg meines Lebens einen Dienst zu leisten, so bin ich daran gebunden. Denn es handelt sich dabei um einen Vertrag, durch den der eine den Vorteil des Lebens, der andere dafür Geld erhält, und folglich ist dort, wo kein anderes Gesetz die Erfüllung verbietet, wie im reinen Naturzustand, der Vertrag gültig." (Ib. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 106). 195 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XV. - S. 110.
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... uns durch unsere eigene Umsicht und Kraft zu schützen, ... aus der Gefahr herleitet und da Gefahr aus der Gleichheit der menschlichen Kräfte entsteht, so ist es viel vernünftiger, wenn ein Mensch diese Gleichheit vernütet, bevor die Gefahr naht ... da wir immer unsere eigene Sicherheit und unseren eigenen Schutz im Auge haben, so handeln wir offenbar ... unserer Absicht zuwider, wenn wir einen solchen Menschen freiwillig entlassen.1 96
Auch hier braucht keiner der beiden ernsthaft an einen feindlichen Akt zu denken. Es reicht, wenn der eine den anderen fürchtet oder auch nur annehmen muß, der andere fürchte sich vor ihm und könne sich seinerseits zu einem Präventivschlag genötigt sehen. Kein Versprechen und kein Eid kann dieses Risiko zwischen zwei Personen aufheben und kein Mensch, der nicht die Anlage zum Märtyrer mitbringt, kann unter solchen Umständen vertrauen. Es ist deshalb weniger rechtlich fragwürdig, sondern eher unrealistisch, wenn Hobbes in den Elements zu dem Schluß kommt, daß zwischen zwei Menschen durch Zwang ein Rechtstitel entstehen könne. 197 Zwischen zwei gleich starken einzelnen wird es immer Momente geben, in denen einer dem anderen überlegen ist und deshalb zum eigenen Vorteil den Vertrag brechen kann. 198 Das daraus entstehende Mißtrauen läßt aus dem "kann" ein "muß" werden, weshalb man dem Naturzustand nur zu entkommen vermag, wenn mehr als zwei Personen involviert sind. Dann mögen sich zwei zusammentun, um sich eines dritten zu bemächtigen, womit aber im Prinzip immer noch kein stabiles Verhältnis erreicht wäre, da jeder der Herrschenden damit rechnen müßte, daß sich sein Genosse mit dem Unterworfenen zu seinem Nachteil verbündet. Wo sich aber die Herrschenden aus irgendwelchen Gründen näher sind als jeder dem Beherrschten oder wo Verhandlungen mit diesem schwierig sind, weil er eine andere Sprache spricht oder anderen Sitten und Gebräuchen anhängt, kann sich eine bestehende Koalition verfestigen und davon leben, den Beherrschten im eigenen Interesse handeln zu lassen. Freilich haben alle Beteiligten einen Anreiz, entsprechende Barrieren zu überwinden, um so auf Kosten des jeweils bei der Verständigung Ausgesparten die eigene Position zu verbessern. Die Ausbeutungssituation wird deshalb auf Dauer nicht stabil bleiben. Wo sie aber besteht, sieht sich der Ausgebeutete einer Zusammenballung von Vermögen gegenüber, gegen die er sich kaum durchsetzen kann. Er wird deshalb in der Hoffnung kapitulieren, daß seine Herren es in ihrem Interesse liegen sehen, ihn leben zu lassen. 196 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XIV/13. - S. 99 f. 197 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 2. - Kap. III/2. - S. 150. 198 Auf diesen Fall treffen Kooperationsmodelle wie dasjenige von Axelrod deshalb nicht zu, weil jeder einseitig die Beziehung beenden kann, womit er einen unkooperativen Akt in der nächsten Runde nicht mehr zu fürchten hätte. Ist die Population potentieller Mitspieler groB genug, braucht er nicht einmal zu fürchten, daß ein solcher Akt seine Reputation zerstört. Vanberg und Congleton arbeiten zur Zeit die Wirkungen der Möglichkeit heraus, sich den Folgen der eigenen Defektion ebenso zu entziehen, wie denen der anderen. Vergl. hierzu: Viktor Vanberg und Roger D. Congleton: Rationality, Morality and Exil. - Fairfax: Unveröff. Manuskript, 1991. - 34 S.
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Für die Herren stellt sich Bild umgekehrt dar. Sie sind stärker als der Sklave, weil sie sich beispielsweise bei der Bewachung ablösen können und deshalb vor seiner Gefährlichkeit weniger Angst zu haben brauchen. Deshalb können sie darauf verzichten, weiter um seine Zustimmung zu werben, und ihn schlicht ausbeuten. Anders wird die Sache, wenn die drei auf eine andere Bande stoßen und mit ihr in Konflikt geraten. Dann mögen die Herrschenden auf die Kampfkraft des Sklaven angewiesen sein und ihm Zugeständnisse machen müssen um zu vermeiden, daß er überläuft. Angesichts der allgegenwärtigen inneren und äußeren Unsicherheit spielt für Hobbes die Herrschaft durch erzwungene Unterwerfung deshalb keine wesentliche Rolle. Für den gewaltsam Unterworfenen kommt irgendwann immer die Möglichkeit, sich seiner Herren zu entledigen, weshalb die stabilere Form der Herrschaft auf freiwilliger Unterwerfung und dem freiwilligen Gehorsam des Beherrschten ruht. 199 Auch bei Hobbes finden sich also die beiden Quellen, aus denen sich schon bei Bodin die Souveränität speiste: die Zwangsmacht und die freiwillige Unterordnung. Hobbes gesamte Argumentation ist wie die Bodins darauf gerichtet, die zweite Quelle ergiebig zu machen. 5.2.3. Die Konzentration der Staatsgewalt auf den Souverän
Weder die gegenseitige Garantie von Rechtsräumen und ihre Sicherung durch spontan koordiniertes "solidarisches" Handeln, noch die Unterwerfung und Ausbeutung anderer wird auf Dauer zu einer sanktions- und verteidigungsfähigen Gesellschaft führen. In einer dramatisierten Form ließe sich fragen, wie die ängstlichen und vorbeugend tötenden einzelnen im Naturzustand überhaupt auf den Versammlungsplatz gelangen sollen, auf dem sie den Staat zu gründen beabsichtigen. Selbst wenn sie akzeptieren, daß ein hauptamtlicher Schlichter in ihrem Interesse liegt, wäre der Vertrag, den sie mit ihm oder miteinander schließen müssen, im Naturzustand wirkungslos. Wenn Unterwerfung dennoch stattfindet, so deshalb, weil die Menschen sie als kleineres von zwei befürchteten Übeln zu akzeptieren lernen und dasselbe auch von den anderen annehmen können. War es im Falle der erzwungenen Unterwerfung die angedrohte Gewalt des Siegers, die den Unterworfenen zum Einlenken bewegte, so werden die Menschen nun durch die Angst vor der Fortsetzung des Naturzustandes zueinandergetrieben. 2OO Die einzige Möglichkeit, doch noch dem Kampf eines jeden gegen jeden zu entgehen, ist die Beauftragung eines Spezialisten, der von den Bürgern langfristig dazu ermächtigt wird, in ihrem Interesse und ihrem 199 Vergl. hierzu auch: F. ToeMies: Studien zur Philosophie und Gesellschaftslehre des 17. Jhds .. - Stuttgart-Bad CaMstadt: 1975. - S. 123 ff. 200 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XIX. - S. 130; siehe auch: Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. 11/16.
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Auftrag Frieden und Recht zu schützen. Dieser Spezialist, ein "Mietling der Bürger", wie Leo Strauss es zu Recht ausgedrückt hat,201 ist jemand, der im Auftrage der Menschen ihre Beziehungen zueinander regelt. Damit er dies kann, erlauben ihm die Untertanen, daß er sich ihrer Kräfte bedient, wo es notwendig ist, sie "ermächtigen" ihn, in ihrem Namen zu handeln. Hobbes schreibt: Der alleinige Weg zur Errichtung einer ... allgemeinen Gewalt ... liegt in der Übertragung ihrer (der Bürger; H. H.) gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, (so) ... daß jedermann alles als eigen anerkennt, was deljenige, der auf diese Weise seine Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor all dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen und Urteil unterwirft.202
Der Akt der Ermächtigung ist formal wie folgt gedacht: Die Untertanen schließen miteinander einen Vertrag, in dem sie sich einander verpflichten, dem Souverän in allen Dingen Gehorsam zu leisten. 203 Die Form des Unterwerfungsvertrags hat vor dem eines direkten Abkommens mit dem Fürsten den Vorteil, daß sie diesen vom Willen der Bürger völlig unabhängig macht. Was er auch tut, die Untertanen sind immer zum Gehorsam verpflichtet. 204 Wie bei der erzwungener Unterwerfung ist er von jeder einklagbaren rechtlichen Verpflichtung frei, er mag zwar "unbillige Handlungen begehen können, nicht aber Ungerechtigkeit oder Unrecht im zwischenmenschlichen Sinne.''205 Wäre dem nicht so, könnten sich machiavellistische Unternehmer ausrechnen, daß sich 201 L. Strauss: Hobbes' Politische Wissenschaft. - Neuwied: 1966. - S. 119. 202 TIl. Hobbes: Leviathan. - Kap. XVII. - S. 134. 203 Vergl. auch: "(die) Unterwerfung des Willens aller unter den Willen eines Menschen oder einer Versammlung erfolgt dann, wenn jeder sich jedem der übrigen durch Vertrag verpflichtet, dem Willen dieses einen, dem er sich unterworfen hat, sei es ein Mensch oder eine Versammlung, keinen Widerstand zu leisten; d.h. er verweigert jenem nicht den Gebrauch seiner Mittel und Kräfte gegen irgendwelche andere (da angenommen wird, daß er sich das Recht der Selbstverteidigung gegen Gewalt vorbehält)" (lb. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. Vn); dagegen vertritt der Monarchomach SI. J. Brutus beispielhaft die konstitutionalistische Vertragskonzeption: "Wir kennen bei der Einsetzung der Könige einen doppelten Bund, zunächst den zwischen Gott, König und Volk, durch den das Volk Gottesvolk wird; zweitens den zwischen König und Volk, der besagt, daß das Volk dem, der gerecht regiert, treu gehorcht." (SI. J. Brutus (P. Du Plessis Momay): "Strafgericht gegen die Tyrannen" in: J. Dennert: Beza, Brutus, Hotman - Calvinistische Monarchomaehen. Opladen: 1968. - S. 73 (I. Unters.). 204 "Da von den Vertragschließenden das Recht, ihre Person zu verkörpern, demjenigen, den sie zum Souverän ernennen, nur durch einen untereinander und nicht zwischen ihm und jedem einzelnen von ilmen abgeschlossenen Vertrag übertragen wurde, kann seitens des Souveräns der Vertrag nicht gebrochen werden, und folglich kann sich keiner seiner Untertanen von seiner Unterwerfung befreien, indem er sich auf Verwirkung beruft." (lb. Hobbes: Leviathan. - Kap. XVIII. - S. 137). 205 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XVIII. - S. 139; D. Hurne schreibt zum selben Thema: "[Der den Untertanen gewährleistete] Nutzen ... ist die urunittelbare Sanktion der Regierung und daher kann diese jenen nicht überdauern. Treibt demnach die Staatsregierung ihre Unterdrückung soweit, daß ihre Autorität ganz unerträglich wird, so sind wir nicht länger verpflichtet, uns ihr zu unterwerfen. Die Ursache hört auf, also muß die Wirkung gleichfalls aufhören." (0. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. - Buch III (Über Moral). - Hamburg: 1978. - S. 303) Hobbes
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mit der Kritik des Souveräns Sonderprofite realisieren lassen, daß sie im Extremfall vielleicht selbst die Macht im Staat übernehmen können. Auch hier wieder macht sich der perverse Mechanismus bemerkbar, der schon in der anarchistischen Gesellschaft die friedliche Zusammenarbeit untergrub. Je stabiler das Staatswesen ist, je weniger sich die einzelnen um ihre gemeinsamen Interessen kümmern, desto leichter wird es für ihn, in der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Souverän Erfolge zu erzielen. Zu verlockend sind die Prämien, die er einstreichen kann, wenn er das Wirken des Staatsapparats in seinem eigenen Interesse beeinflussen oder gar seinen Zielen dienstbar machen kann. Er mag dazu die Art und Weise kritisieren, in der die Obrigkeit Recht spricht oder Verträge durchsetzt. Diese Kritik läßt sich dann nach außen als auf eine Besserung der Zustände gerichtet verkaufen, während sie in Wirklichkeit nur auf die Realisierung von Sonderprofiten zielt. Da die Untertanen berechtigterweise zu der Überzeugung kommen könnten, der Souverän habe seinen Pflichten nicht genügt, und da dies Konflikte schafft,206 solange einstimmige Entscheidungen unerreichbar bleiben, will Hobbes den potentiellen Bürgerkriegsgrund an der Wurzel beseitigen. Auch hier wieder spielt die Subjektivität der Weitsicht die entscheidende Rolle. Wo nicht konsensfähig entschieden werden kann, ob ein Sachverhalt vorliegt, darf diese Frage erst gar nicht gestellt werden. Wo es tatsächlich aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz möglich ist, wo also das Volk einstimmig den Souverän durch einen anderen zu ersetzen trachtet, hört auch für Hobbes die rechtliche Verpflichtung auf: 207 ... da man almimmt, daß jeder einzelne sich jedem anderen gegenüber verpflichtet hat, so bleiben, welm auch ein einziger Bürger sich weigert, die übrigen, wie sie auch übereingekommen sind, trotzdem gebunden. Auch kann niemand ohne Unrecht gegen mich das tun, was er durch einen mit mir geschlossenen Vertrag nicht zu tun sich verpflichtet hat. Nun kann man aber nicht annehmen, daß alle Bü%er gleichzeitig und ohne Ausnahme sich gegen die höchste Staatsgewalt vereinigen werden. 8
Normalerweise muß der Versuch, den herrschenden Souverän zu ersetzen, die Staatsrnacht schwächen und damit den Naturzustand heraufbeschwören. Wo schon das Stellen der Frage nach der Legitimität von Macht machiavellistikann einer solchen Begrenzung nicht zustimmen, weil Begriffe wie "unerträglich" nur schwer mit exaktem Inhalt zu füllen sind und von machiavellistischen Unternehmern benutzt werden könnten. 206 "Wenn ... einer oder einige behaupten, der Souverän habe den bei seiner Einsetzung eingegangenen Vertrag gebrochen und andere ... einen solchen Vertragsbruch bestreiten, so gibt es in diesem Fall keinen Richter zur Entscheidung des Streitfalles. Deshalb läuft dies wieder auf das Schwert hinaus ... " (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XVIII. - S. ~37). 207 Hier erinnert Hobbes' Argumentation an die Bodins, der Widerstand immer dann legitimiert, wenn der Fürst nicht souverän ist. Da in einem solchen Falle die einheitstiftende Staatsmacht nicht verloren geht, läßt sich dort der Kampf gegen den Tyrannen rechtfertigen. 208 1lJ. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. VI/20.
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sehe Unternehmer zur Ausbeutung einlädt, verzichtet man besser ganz auf sie. Da legitime und illegitime Angriffe auf die Obrigkeit von Femstehenden nur schwer zu unterscheiden sind, besteht immer die Gefahr, daß sich nicht der berechtigte Anspruch durchsetzt, sondern derjenige, der beredter vorgetragen wird. Aus diesem Grunde hält es Hobbes ganz wie Bodin für ungefährlicher, den Fürsten ganz von der Kritik seiner Untertanen abzukoppeln. Auch er kommt zu dem Schluß, daß die Tatsache, daß der Fürst in viel größerem Maße als seine Auftraggeber ein Interesse an der Erhaltung eines bestimmten Staatswesens hat, als Sicherung vor Tyrannei ausreichen muß. Anderenfalls ist der Grund für stete Konflikte und damit irgendwann der Keim für den Bürgerkrieg gelegt. Der Untertan soll auch dann gehorchen, wenn er eine Maßnahme des Souveräns für unrecht hält. Angesichts der Tatsache, daß er bei ruhigem Nachdenken wissen kann, daß dies die vernünftigste Strategie ist, wird er gut bedient sein, ihr zu folgen. Die rechtliche Konstruktion des Unterwerfungsvertrags auf Gegenseitigkeit spiegelt sein tatsächliches Funktionieren wieder. Nachdem aIle Gehorsam zugesagt haben, bietet sich jedem Vertragspartner folgendes Bild. Wenn er es jetzt für angeraten hält, sein Versprechen oder irgendeinen anderen Vertrag zu brechen, sieht er sich nicht nur dem "letzten der Wölfe" gegenüber, d. h. dem letzten vertraglich Ungebundenen, sondern zudem all denen, die sich zum Gehorsam verpflichtet haben,209 und dies auch dann, wenn es nicht in ihrem unmittelbaren Interesse liegt, einem entsprechenden Befehl des Souveräns folgezuleisten. Was Hobbes über die rechtliche Bindung der Untertanen schreibt, daß nämlich der Untertan doppelt zum Gehorsam verpflichtet sei, einmal seinem Fürsten und einmal seinen Mitmenschen gegenüber,2\O gilt auch für den Anreiz tatsächlich zu gehorchen. Im Umgang mit seinen Mitmenschen muß der Untertan nun damit rechnen, vom Fürsten zur Ordnung gerufen zu werden, wenn er die legalen Grenzen übertritt und kann so selbst dort keine ungerechten Sonderprofite einstreichen, wo er sie auf Kosten seiner Mitmenschen realisieren könnte. In bezug auf den Gehorsam dem Souverän gegenüber verleiht die Tatsache, daß viele Menschen in dieses System involviert sind, diesem die nötige Macht, jeden Befehl auch tatsächlich durchzusetzen. Da der einzelne nicht weiß, ob seine Mitbürger im Ernstfall die Herrschaft stützen werden,211 ist es für ihn in jedem FaIl günstiger, sie seinerseits mitzutragen. Durch den Ruf 209 "Bei der Schaffung eines Staates gibt jeder (Untertan) das Recht auf, einen anderen zu verteidigen. aber nicht das Recht zur Selbstverteidigung. Auch verpflichtet er sich, dem Inhaber der Souveränität bei der Bestrafung eines anderen beizustehen, nicht aber bei der eigenen Bestrafung." (1ll. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVIII. - S. 237). 210 "Wenn aber ein Bürger der höchsten Staatsgewalt nicht gehorcht. so begeht er im strengen Wortsinn einmal ein Unrecht gegen seine Mitbürger, denn jeder einzelne hat mit allen übrigen ausgemacht, Gehorsam zu leisten, zum anderen auch gegen den höchsten Herrscher, indem er ohne dessen Einwilligung das ihm erteilte Recht wieder zurücknimmt." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". Kap. VII/14; siehe auch Vl(20). 19 Hcgmann
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mächtig zu sein, erhält der Souverän die Macht, die er braucht. 212 Die Wirkung des Informationsdefizits der einzelnen kehrt sich um. Waren sie vorher zum Krieg aller gegen alle verdammt, weil sie einander nicht in die Köpfe sehen konnten, so sind sie jetzt dazu verdammt, sich aus eben diesem Grunde staatskonform zu verhalten. Die Existenz einer machtvollen Obrigkeit vereinfacht die Sozialbeziehungen der Untertanen ungemein. War es vorher notwendig, sich mit parteiischen und möglicherweise betrügerischen anderen auf ein koordiniertes Vorgehen zu einigen sowohl im unmittelbaren Umgang mit konfligierenden Interessen als auch im Blick auf die Verteidigung nach außen, reicht es jetzt, sich im Zweifelsfall dem Schiedsspruch der Obrigkeit zu unterwerfen. Der Untertan hat keine Schwierigkeiten, sich in dieser sozialen Welt zurechtzufinden. Er gehorcht in der Vertikale, in seinen Beziehungen zur Obrigkeit, den Weisungen des Souveräns (Hier von Gesetzen zu sprechen, wäre sinnlos, weil der Souverän an seine eigenen Gesetze nicht gebunden ist und sie in der Auseinandersetzung mit dem Untertanen jederzeit über den Haufen werfen kann.) und befolgt horizontal, im Umgang mit Seinesgleichen, die Gesetze. Innerhalb der rechtlichen Grenzen ist er frei zu tun, was den Rechtsraum seiner Nachbarn nicht beeinträchtigt. Widersprüche durch unterschiedliche Rechtsauslegung in Bezug auf den genauen Verlauf dieser Grenzen können nicht auftreten, da man sich im Zweifelsfall an die Obrigkeit wendet. Fühlt man sich vom anderen übervorteilt, (In Ermangelung objektiver Kriterien kann man sich immer nur betrogen fühlen und es nie zweifelsfrei sein), so greift man nicht selbst zu Zwangsmitteln, sondern überläßt das der Obrigkeit. Die Gefahr einer Eskalation in den Sozialbeziehungen, die für den Naturzustand so charakteristisch war, ist unterbunden. Sicherlich ist eine Generalvollmacht213 für den einzelnen ein sehr weitgehender Verzicht auf eigene Handlungsoptionen, dessen Folgen für sein Wohlergehen er nur schlecht abschätzen kann. Hat er aber erst einmal eingesehen, daß die Institution eines Gewaltmonopols unter der Kontrolle eines "Hauptamtlichen" die beste Gewähr für Frieden und Recht ist, wird er sie auch dann mittragen, wenn dies gegen seine Augenblicksinteressen geht. Da das Ri211 So wird auch verständlich, warum es Hobbes auf einen ausdrücklichen Unterwerfungsakt nicht ankommt. (vergl. hierzu: Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XIV!l2). 212 Siehe auch: ... (da) man den, welchen andere verehren, d. h. für einen Mächtigen halten, auch für einen solchen hält, so wird die Ehre durch die Verehrung vergrößert; und indem der Geehrte für mächtig gehalten wird, erlangt er eine wirkliche Macht." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". Kap. XV /13; siehe auch: Leviathan. - Kap. X. - S. 66 sowie: Kap. XXXI. - S. 276. 213 "Der Vertrag ist ein Versprechen, das Gesetz ein Gebot ... Verträge verpflichten uns. Gesetze halten uns als Verpflichtete fest. Ein Vertrag verpflichtet durch sich, das Gesetz hält den Verpflichteten fest vennöge des allgemeinen Vertrages über den zu leistenden Gehorsam." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XIV!2); siehe auch: Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil2. - Kap. X/I. - S. 206.
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siko, einer unrechten Handlung des am speziellen Wohl dieses Untertanen desinteressierten Souveräns zum Opfer zu fallen, sehr viel geringer ist als das Risiko, von interessierten und böswilligen Mitmenschen übers Ohr gehauen zu werden, kann er das Opfer bereitwillig bringen. Auf diese Weise gewinnt Hobbes Souverän genügend helfende Hände, dem "sterblichen Gott" Leben einzuhauchen. 214
5.2.3.1. Souveräne Herrschaft aus fürstlichem Eigennutz Welche Person das oberste Amt im Staate erfüllen soll, kann der einzelne nur schwer beeinflussen. Zwar wäre es wünschenswert, einen fähigen Mann in dieses Amt einzusetzen, da aber auch über die Fähigkeit eines Bewerbers kaum Einigkeit zu erzielen sein wird und der Konsens entscheidend ist, wird Eignung nur selten ein Auswahlkriterium sein. Natürlich ist es angesichts des Prestiges des Herrscheramtes für viele Bürger interessant, es selbst innezuhaben, wo dies aber nicht ohne Konflikt zu erreichen ist, ist es vernünftiger sich bereitwillig einem anderen zu unterwerfen. 215 Wer dann wirklich Herrscher wird, ist eher von untergeordneter Bedeutung. Tradition mag hier den Schellingschen Punkt abgeben, auf den sich die vielen einigen können. Wichtig ist nur, daß sie sich einigen: "Denn der Wohlstand eines Volkes, das von einer aristokratischen oder demokratischen Versammlung regiert wird, kommt nicht von der Aristokratie oder Demokratie, sondern vom Gehorsam und der Eintracht der Untertanen, noch gedeiht das Volk in einer Monarchie, weil ein einzelner das Recht hat, es zu regieren, sondern weil es ihm gehorcht."216 Ist der Souverän einmal im Amt, ist es die Monopolisierung aller Zwangsgewalt auf ihn, die das Gemeinwesen befriedet. 217 Damit wird zuerst einmal erreicht, daß kaum noch einer in eigener Sache sein Recht verfolgt. Wird die Bestrafung von Vertragsbrü214 Herrschaft und auch absolute Herrschaft ist so schlicht das kleinere Übel. Hobbes schreibt: "Man mag ... einwenden. die Untertanen befänden sich in einer sehr elenden Lage. da sie den Begierden und anderen zügellosen Leidenschaften dessen oder derer ausgesetzt seien. die eine so unbegrenzte Macht in Händen halten .... Sie bedenken nicht, daß der Zustand der Menschen nie ohne die eine oder die andere Unannehmlichkeit sein kann. und daß die größte, die in jeder Regierungsf01111 dcm Volke gewöhnlich zustoßen mag, kaum fühlbar ist. wenn man sie mit dem Elend und den schrecklichen Nöten vergleicht. die ein Bürgerkrieg oder die Zügellosigkeit herrenloser Menschen ohne Unterwerfung unter Gesetze und unter eine Zwangsgewalt, die ihre Hände von Raub und Rache abhält. mit sich bringen." (111. Hobbes: Leviathan. - Kap. XVIII. - S. 144); siehe zum selben 111ema auch: "Vom Bürger". - Kap. VI/13 Anm.; sowie: Leviathan. - XX. - S. 162. 215 ..... was das ... Erwerben der Souveränität durch Rebellion betrifft. so ist klar daß es der Vernunft widerspricht, dies zu versuchen. weil selbst dann, wenn der Erfolg eintritt, dies doch vernünftigerweise nicht erwartet werden kann. sondern eher das Gegenteil. und weil durch diese Art des Erwerbens andere darauf gebracht werden, sich die Souveränität auf dieselbe Art zu verschaffcn." (111. Hobbes: Leviathan. - Kap. XV. - S. 113). 216 111. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 258. 217 ..... im bürgerlichen Zustande (steht) das Recht über Leben und Tod und alle peinlichen
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chen aus der Hand der Betroffenen in die von Unbeteiligten gegeben, vergrößert sich die Chance, zu konsensfahigen Urteilen zu kommen, und es wird vermieden, daß nur eine zufaIlig und vorläufig stärkere über eine schwächere Koalition siegt. Aus dieser Sicht betrachtet, wiegt die Möglichkeit nur mehr leicht, daß der Souverän Mißbrauch treiben kann. Schließlich hat er sehr viel weniger Grund dazu, als diejenigen, die Selbstjustiz üben oder hoffen, im Trüben fischen zu können. Absolut muß der Souverän sein, weil es für den einzelnen nicht oder nur schwer zu entscheiden ist, wann ein legitimer Grund zur Rebellion überhaupt vorliegt, und in größerem Maße noch, wann andere dazu einen solchen Grund haben. Bezüglich seiner eigenen Interessen bleibt er natürlich ständig einziger Richter. Aber nicht nur die Tatsache, daß der Souverän als Spezialist am Ausgang eines einzelnen Konflikts relativ uninteressiert ist, macht ihn zu einem effizienteren Garanten des Konsenses. Wenn sein eigenes Schicksal als "oberster Polizist und Richter" unmittelbar mit dem Wohle seines Gemeinwesens verbunden ist, wird er selbst aktiv werden, um es in guter Ordnung zu erhalten. Im eigenen Interesse wird der Souverän den Staat wie eine Zwangsversicherung gestalten, in der jeder etwas von demjenigen Vermögen abgibt, das er gerade nicht zur Selbstverteidigung braucht,218 um damit bedrohten Mitgliedern der Gemeinschaft zuhilfe zu kommen. Das der Fürst darauf sieht, daß jeder in den Genuß dieser Zwangsversicherung kommt, ergibt sich aus der egalitären Grundannahme. Solange potentiell jeder etwas zur Verteidigung des Kollektivs beitragen kann, verdient er Unterstützung, wenn er in Schwierigkeiten gerät. Für Hobbes wie für Machiavelli und Bodin, ist das individuelle Schicksal des Fürsten mit dem seines Landes so sehr verwoben, daß er allen Anreiz hat, das Gemeinwesen in Ordnung zu halten. Das Streben nach Vermögen bzw. Macht ist die Grundlage dieser Interessenparallele. Angesichts innerer und äußerer Bedrohungen, angesichts der Unvernunft und Leidenschaflc;bedingtheit menschlichen HandeIns, liegt es in des Fürsten eigenem Interesse,219 soviel Macht anzuhäufen wie er kann. Weil Macht Ehre hervorruft,22o träfe dies selbst dann Strafen nur dem Staate zu und keinem kann das Recht zu töten eingeräwnt werden."(Th. Hobbes: "Vom Bürger" .• Kap. 11/18). 218 "(Unzufriedene Untertanen; H.H.) bedenken ... nicht, daß auch der größte Druck durch souveräne Regenten nicht von irgendeiner Freude herrührt, die sie aus dem Schaden oder der Schwächung ihrer Untertanen erwarten können, in deren Kraft ihre eigene Stärke und ihr eigener Ruhm bestehen, sondern von der Widerspenstigkeit der Untertanen selbst, die nur ungern zu ihrer eigenen Verteidigung beitragen und somit bewirken, daß es für ihren Regenten zur Notwendigkeit wird, im Frieden aus ihnen herauszuholen, was sie können, damit sie bei jedem unvorhergesehenen Ereignis oder jeder plötzlichen Notlage die Mittel zur Verfügung haben, ihren Feinden zu widerstehen, oder sie zu übertreffen." (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XVIII. - S. 144). 219 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXIX. - S. 245. 220 Th. Hobbes: "Vom Menschen". - XIV/8; siehe auch: "Die Zeichen, an denen wir unsere eigene Kraft oder Macht erkennen, sind jene Tätigkeiten, weIche von dieser Kraft ausgehen, und
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zu. wenn es ihm nur darum ginge. über andere zu triumphieren. Kommt der Fürst den Anforderungen der Naturgesetze nicht nach. wird sein Gemeinwesen irgendwann "krank" werden und "sterben". wenn es nicht vorher von äußeren Feinden überrannt wird. In jedem Falle aber erleidet er das Schicksal seines Gemeinwesens an hervorragender Stelle. 221 weshalb er mehr noch als seine Untertanen am Wohl des Ganzen interessiert sein muß: Nun fällt in der Monarchie das Privatinteresse mit dem öffentlichen zusammen. Reichtum, Macht Wld Ehre eines Monarchen ergeben sich allein aus dem Reichtum, der Stärke und dem Ansehen seiner Untertanen. Denn kein König kann reich, ruhmvoll und sicher sein, dessen Untertanen entweder arm oder verachtenswert oder aus Not oder Uneinigkeit zu schwach sind, um einen Krieg gegen ihre Feinde durchhalten zu können222
Wenn auch Hobbes deshalb vom Herrscher fordert. daß das Wohl des Volkes sein höchstes Gesetz sein solle. 223 so versieht er diese Ermahnung zwar mit dem Hinweis auf das göttliche Gesetz. 224 er appelliert aber in erster Linie an den Eigennutz des Fürsten. 225 Es ist die schon von Bodin geforderte Minimierung der Differenz von Eigen- und Gemeinnutz. die hier wiederkehrt. Hatte noch Erasmus konstatiert: "Solange die Menschen ihre eigennützigen Interessen verfolgen. wird das Gemeinwohl Schaden nehmen ..... 226. so bewegt sich Hobbes ganz auf der von Machiavelli und Bodin vorgezeichneten Linie: die Zeichen, woran andere sie erkennen, sind solche Tätigkeiten und Gebarungen, die Mienen und die Sprache, worin jene Kraft sich für gewöhnlich äußert. Die Anerkennung dieser Kraft aber nennen wir Ehre; und einem Mann Ehre erweisen (innere Ehre) ist, es erkennen oder anerkennen, daß er an Macht jenen überragt, der mit ihm wetteifert und sich mit ihm vergleicht. Und ehrenvoll sind jene Eigenschaften um derentwillen ein Mensch bei einem anderen die Macht oder Übermacht über seinen Mitbewerber anerkennt." (Ib. Hobbes: Naturrecht ... - Teil I. - Kap. VIII/5. - S. 65). 221 "... der Kopf (eines Staates; H. H. ) ist immer deIjenige Teil ... gegen den sich auch der Schlag der Feinde am gewöhnlichsten richtet." (Ib. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 2. - Kap. V/2. - S. 161). 222 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIX. - S. 147; sowie: XXX. - S. 265; vergl. auch: "Vom Bürger". - Kap. X!2; sowie: "Und wie die Kunst und die Pflicht des Herrschers ihm solche Handlungsweisen vorschreiben, so auch sein Vorteil. Denn der Zweck der Kunst ist Nutzen, und zum Vorteil der Untertanen ist nichts anderes, als zum Vorteil des Herrschers regieren .. , dies (ist) das allgemeine Gesetz für die Herrscher: daß sie nach ihrer äußersten Möglichkeit bestrebt sein sollen, das Beste des Volkes zu fördern (Ib. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 2. - Kap. IX/I. - S. 200 f.). 223 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XIII/2. 224 So schreibt er: "Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich die Sorge für die Sicherheit des Volkes. Hierzu ist er kraft natürlichen Gesetzes verpflichtet, sowie zur Rechenschaft vor Gott, dem Schöpfer dieses Gesetzes, Wld nur vor ihm. Mit "Sicherheit" ist hier aber nicht die bloße ErhaltWlg des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt." (Ib. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 255). 225 Eine Erklärung, die J. Dennert (ders.: Die ontologisch-aristotelische Politikwissenschaft und der Rationalismus. Berlin: 1970. - S. 191) oder H. Warrender (ders.: The Political Philosophy of Hobbes. - Oxford: 1961) vermutlich zurückweisen würden. 226 Erasmus: Klage des Friedens. - Klosterberg: 1945. - S. 65.
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Jeder, der die Person des Vollc:es velkörpert oder Mitglied der velkörpemden VersammlWlg ist, velkörpert auch seine eigene natürliche Person. Und selbst wenn er als politische Person sich sorgfältig um das Gemeinwohl kümmert, so kümmert er sich doch mehr, oder mindestens nicht weniger, um sein Privatwohl, um das Wohl seiner Familie, Verwandtschaft und seiner Freunde, und wenn das öffentliche Interesse zufällig dem privaten in die Quere kommt, so zieht er meistens das private vor, denn die Leidenschaften der Menschen sind gewöhnlich mächtiger als ihre VemWlft. Daraus folgt, daß dort, wo das öffentliche und das private Interesse am meisten zusammenfallen, das öffentliche am meisten gefördert wird.227
Der Fürst bleibt als letzter nach zwischenmenschlichem Recht "freie" Mensch allein an das Naturrecht gebunden. 228 Dieses aber schreibt das Streben nach Frieden und Verständigung als der Selbsterhaltung dienlich vor. Und da es sich bei ihnen um Naturgesetze handelt. mit denen Gott nicht kraft Befehls, sondern kraft unmittelbaren Zwanges herrscht, wird der Fürst, der ihnen nicht gehorcht, der Tyrann also,229 genauso scheitern wie der Ingenieur, der eine Maschine bauen oder betreiben will, ohne die Naturgesetze zu beachten. Da der Souverän also auf Dauer nicht tyrannisch handeln kann, ohne sich und seinen Staat zugrunde zu richten, ist es ratsam, ihn mit aller Macht auszustatten, die sich auf ihn vereinigen läßt. Hobbes geht mit anderer Legitimation denselben Weg wie Bodin. Er übernimmt dessen Merkmale der Souveränität. 230 und spricht sich ebenso eindeutig wie dieser gegen die Gewaltenteilung231 und die konstitutionelle Herrschaft 232 aus. Auch wenn er immer wieder 227 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIX. - S. 146 f. 228 E. Bloch: Naturrecht und menschliche Würde. - FrankfurtIM.: 1975. - S. 61; vergl. auch: "Nun ist die Herrschaft des Friedens wegen eingerichtet. und der Friede wird des Wohles wegen erstrebt; deshalb würde der mit der Herrschaft Ausgestattete gegen die Bedingungen des Friedens, d.h. gegen die natürlichen Gesetze verstoßen. wenn er seine Macht anders als zum Wohle des Volkes gebrauchte." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XIII/2). 229 Th. Hobbes: Leviathan. - Rückblick und Schluß. - S. 539; siehe auch XXIX. - S. 249 f. sowie: " ... alle, die mit einer Monarchie Wlzufrieden sind, nennen sie Tyrannis, Wld diejenigen, welche eine Aristokratie nicht schätzen, nennen sie Oligarchie, und diejenigen, welche in einer Demokratie Ärger haben, sprechen von Anarchie, was Fehlen einer Regierung bedeutet." (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIX. - S. 145). 230 "Die Kennzeichen dieser höchsten Staatsgewalt sind: der Erlaß und die Aufhebung der Gesetze, die Entscheidung über Krieg und Frieden, die Untersuchung und Entscheidung aller Streitigkeiten, entweder in eigener Person oder durch von ihm eingesetzte Richter, und die Ernennung aller Obrigkeiten, Beamten und Räte." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. VI/18). 231 "Es gibt eine ... Lehre, die offensichtlich und geradewegs gegen das Wesen eines Staates gerichtet ist, nämlich: Die souveräne Gewalt ist teilbar. Denn heißt die souveräne Gewalt teilen etwas anderes als sie auflösen? Geteilte Gewalten zerstören sich nämlich gegenseitig." (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXIX. - S. 248; vergl auch: XVIII. - S. 142 f .• XXVI. - S. 207 Wld XIX. - S. 146; siehe auch: Naturrecht ... - Teil 2. - Kap. 1/15 und 16 . - S. 138 f.; sowie den expliziten Bezug auf Bodins Republique im selben Welk Teil 11; Kap VIIIn. 232 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXIX. - S. 248; Hier gilt dasselbe, was Hobbes zu der Frage schreibt, ob ein religiöser Text Basis für Konsens auf theologischem Gebiet sein könne. Nicht nur daß die Interpreten sich irren oder lügen könnten, "selbst wenn dies nicht eintreten würde, so würden doch gleich mit dem Abgange dieser ElkIärer ihre Elklärungen neuer Erläuterungen bedürfen, und im Laufe der Zeit diese Erläuterungen Darstellungen und die Darstellungen neue Kommentare ohne Ende verlangen. Daher kann das Richtmaß oder die Regel der christlichen Lehre, nach welcher die Religionsstreitigkeiten zu entscheiden sind, in keinem Fall in einer schriftlich nie-
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betont, daß sein Konzept sowohl für die Monokratie als auch für kollektive Herrschaft gilt, gibt er doch der Monarchie den Vorzug. 233 Durch Eitelkeiten und Konkurrenz um Ehre und Ansehen ungehindert kann ein einzelner durch seine Entscheidung am besten die Einheit des Staates garantieren. Kein gewährtes Recht der Untertanen soll den Fürsten so binden, daß er seiner Aufgabe nicht mehr nachkommen kann,234 und wie bei Bodin ist nur das, was sicherlich nicht der Schaffung von Macht dient, wie sinnlose Grausamkeit beispielsweise, immer und unter allen Umständen verboten. Mit dieser völligen Ausrichtung aller zwischenmenschlichen Normen auf die Staatsraison geht Hobbes schließlich noch weiter als Bodin, wenn er auch die von diesem eingeführte Unantastbarkeit des privaten Eigentums aufhebt: Eine 00. zur Auflösung eines Staates führende Lehre lautet: Jeder Privatmann besitzt das unein· geschränkte Eigentum an seinem Vermögen, so daß das Recht des Souveräns daran angeschlossen ist. Jedennann besitzt in der Tat ein Recht auf Eigentum, das das Recht jedes anderen Untelt.·Ulen ausschließt, und er hat es allein von der souveränen Gewalt, ohne deren Schutz jeder andere das gleiche Recht darauf hätte.235
Ohne Not wird der Fürst freilich seine Untertanen nicht durch willkürliche Beschlagnahme verunsichern. Aber wenn es die Staatsraison erfordert, muß alles erlaubt sein, auch wenn sie den Fürsten vor das Dilemma stellt, entweder in die individuellen Rechtsräume einzudringen, zu deren Schutz er eingesetzt wurde, oder sie zu respektieren und damit das einzige Mittel aufs Spiel zu setdergelegten Auslegung bestehen. Es bleibt nur übrig, daß als maßgebender Ausleger ein Mensch gelte." (111. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XVIII18 siehe auch: XVII/27); sowie: "00. nicht die bloßen Worte, sondern das Ziel des Verfassers wirft das wahre Licht, in dem jede Schrift auszulegen ist, und jene, die sich auf einzelne Stellen versteifen, ohne den Hauptzweck in Betracht zu ziehen. können aus ihnen nichts klar ableiten, sondern werfen Schriftatome wie Staub vor die Augen der Menschen und machen dadurch eher alles dunkler als es ist - ein üblicher Kunstgriff derer, die nicht die Wahrheit, sondem ihren eigenen Vorteil suchen." (In. Hobbes: Levialhan. - Kap. XLIII. - S. 459; siehe auch: Th. Hobbes: Naturrecht 00. - Teil 2. - Kap. VB . - S. 136 f.). 233 L. Strauss: Hobbes' Politische Wissenschaft. - Neuwied: 1966. - S. 112. 234 Dies gilt auch für das Gewohnheitsrecht, es muß vom Fürsten stillschweigend anerkannt werden, um gültig zu sein. Siehe hierzu: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVI. - S. 207; auch bestehende positive Gesetze können nicht gegen den Staat gewendet werden, denn es ist immer die Staatsraison, der Zweck des Ganzen, nach der sich die Entscheidung über einen Rechtsanspruch zu richten hat: "Unsere Rechtsgelehrten stimmen darin überein, daß ein Gesetz niemals der Vernunft widersprechen kann und das nicht der Buchstabe, d. h. sein Wortlaut, das Gesetz ausmacht, sondern das, was der Absicht des Gesetzgebers entspricht.... (es) ist nicht diese jurisprudentia oder Weisheit untergeordneter Richter, sondern die Vernunft unseres künstlichen Menschen "Staat" und sein Befehl. die das Gesetz ausmachen, und da der Staat in seiner Vertretung nur eine Person ist, kann nicht leicht eine Widersprüchlichkeit der Gesetze entstehen." (In. Hobbes: Levialhan. - Kap. XXVI. - S. 207) Es ist deshalb durchaus folgerichtig, wenn er argunlentiert: "Gewährt ein Monarch oder eine souveräne Versammlung allen oder einem einzelnen Untertanen eine Freiheit und ist er wegen dieses Zugeständnisses nicht in der Lage, für ihre Sicherheit 711 sorgen, so ist es nichtig, 00'" (ebenda: XXI. -So 171). 235 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXIX. - S. 248; diese Regelung führt nicht notwendigerweise zum Ruin der Untertanen. Denn der Souverän hat ein vitales Interesse an ihrem Wohlergehen. Vergl. hierzu: Th. Hobbes: Naturrecht 00' - Teil 2. - Kap. V/I. - S. 160; siehe auch: "Vorn Bürger". - Kap. VVI5; sowie: Levialhan. - Kap. XXIV. - S. 191.
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zen, mit dem er sie auch langfristig sichern könnte. Auch rechtlich bleibt sich Hobbes hier treu. Denn der Fürst ist der letzte, der vertraglich durch nichts gebunden, also souverän ist und "... es (gehört) zu dem Recht jedes souveränen Menschen ... Richter über die Mittel zum Frieden und zur Verteidigung sowie über das zu sein, was diese hindert und stört "236 Wie die Menschen im Naturzustand im allgemeinen, darf der Souverän dem Naturrecht nach alles, was der Stärkung seiner Stellung dient. Er darf nur nicht konsumieren, solange dies seine Sicherheit in Frage stellt. Mißbraucht er den Erlaß und die Durchsetzung von Gesetzen für andere Zwecke, setzt er mit der Existenz seines Staates auch die Bedingungen für sein eigenen Überleben aufs Spiel. 237 Die Schaffung positiven Rechts Der Fürst könnte seine Aufgabe unmittelbar über Befehle ausüben mit der Maßgabe an die Untertanen, im Zweifelsfalle in seinem Sinne zu handeln. 238 Effizienter aber ist es auch für Hobbes, wenn er seinen Willen in Form von Gesetzen kundtut, nicht nur weil dies den Untertanen langfristige Sicherheit über die Intentionen des Fürsten vermittelt, sondern auch weil sie den Umgang der Bürger miteinander erleichtern. 239 Die bürgerlichen Gesetze sind also auch für Hobbes "nichts anderes als die Gebote des mit der höchsten Gewalt Betrauten in bezug auf die zukünftigen Handlungen der Bürger."24o Insofern der Fürst im eigenen Interesse die Staatsnotwendigkeiten in Gesetzesform kleidet, ist, wie Hobbes explizit sagt, die Staatsraison das bürgerliche Gesetz.241 Entsprechend der beiden Probleme, denen sich die Menschen in einer anarchistischen Gesellschaft gegenüber sahen, hat der Fürst im wesentlichen zwei Aufgaben zu erfüllen, zum einen muß er dekretieren, was im einzelnen unter Recht verstanden werden soll, wie also die Sätze des Naturrechts mit positiven Gesetzen zu füllen sind, und zum anderen muß er die Menschen dazu zwingen, diesen Geset236 Th. HOObes: Leviathan. - Kap. XVIII. - S. 139. 237 Siehe beispielsweise: "Jede Bestrafung unschuldiger Untertanen, mag sie schwer oder leicht sein, verstößt gegen das Gesetz der Natur, ... " (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVIII. - S. 242). 238 Siehe auch: "Wenn z.B. der Souverän einen öffentlichen Beamten ohne geschriebene Richtlinien beschäftigt, so ist dieser verpflichtet, die AnordnWlgen der VemWlft als Richtlinien zu nehmen .... Alle diese Richtlinien können Wlter dem Namen Treue zusammengefaßt werden, die ein Zweig der natürlichen Gerechtigkeit ist." (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVI. - S. 209). 239 Vergl. auch: "Da es außerdem für den Frieden viel wichtiger ist, den Streitigkeiten zuvor· zukommen, als die entstandenen zu schlichten ... so gehört es zur höchsten Staatsgewalt, für alle Bürger gemeinsame Regeln oder Maßstäbe aufzustellen." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. VI/9, siehe auch: Th. HOObes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 264). 240 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. VI/9. 241 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. nf2 Anm.
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zen auch zu folgen. 242 Die positiven Gesetze, die er erläßt, können dabei den Naturgesetzen nicht widersprechen, denn ... die Gesetze der Natur, die in Billigkeit, Gerechtigkeit Dankbarkeit und anderen von ihnen abhängenden moralischen Tugenden bestehen, sind im reinen Naturzustand ... keine eigentli· ehen Gesetze, sondern Eigenschaften, die den Menschen zu Frieden und Gehorsam hin1enken. Wenn einmal der Staat errichtet ist, dann sind sie wirkliche Gesetze nicht vorller, da sie staatliche Befehle und somit auch bürgerliche Gesetze sind.243
Bei der Bestimmung dessen, was in seinem Herrschaftsbereich gut und böse ist, hat der Souverän vor allem den Umgang seiner Untertanen miteinander zu regeln. Er muß ihre Rechtsräume unmißverständlich gegeneinander abgrenzen, wozu er erst einmal festlegen muß, worin sie überhaupt bestehen sollen: "Mit der Souveränität ist die gesamte Zuständigkeit zum Erlaß der Regeln verbunden, aus denen jeder entnehmen kann, welche Güter er genießen und welche Handlungen er vornehmen darf, ohne von einem seiner Mit-Untertanen belästigt zu werden. Und dies ist es, was man Eigentum nennt."244 Die Einigung über die genauen Grenzen der jedem zustehenden Verfügungsrechte war im Naturzustand nicht herzustellen, weil der Konsens an Definitions- und Sanktionsfragen gescheitert war. Mit der Errichtung einer Staatsgewalt steht hinter jedem Individuum in seinem Rechtsraum die gesamte Staatsgewalt und "... so folgt," schreibt Hobbes, "... daß jedem nur das zu eigen ist, was, er nach den Gesetzen und vermöge der ganzen Staatsrnacht, ... für sich behalten kann." 245 Der Souverän definiert und garantiert für die Untertanen den genauen Verlauf der Grenzen und schaltet so jede Konfliktmöglichkeit im Vorfeld aus. Der nächste Schritt, die Belange der Untertanen zu ordnen, ist die Regelung der Übertragung von Rechten per Gesetz. Das Hauptproblern, das der Souverän hier zu lösen hat, ist die Ambiguität von Abmachungen. Wenn Verträge verschieden ausgelegt werden und so mögliche zukünftige Konflikte nur in sehr begrenztem Maße vorab regeln können, ist es nicht nur möglich, daß die Vertragspartner einander mißverstehen, es mag auch so sein, daß einer versucht, sich über die bewußte Mißinterpretation eines solchen Vertrages einen Sonderprofit zu verschaffen. Wären es nur Mißverständnisse, ließen sie sich vermutlich einvernehmlich aus der Welt schaffen, da aber das Mißtrauen vor bewußter Rechtsverdrehung immer präsent ist, werden Konflikte kaum ohne weiteres beigelegt werden können. Hobbes bedauert die Vagheit des Naturrechts in be242 "Die bürgerlichen Gesetze zerfallen wiederum in zwei Teile, nach den beiden Pflichten des Gesetzgebers, einerseits zu entscheiden und andererseits die Menschen zu zwingen, die Entscheidungen anzuerkennen; jener Teil kann der verteilende, dieser der rächende oder strafende genannt werden ..... (1b. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XIV/6, vergl. auch: Leviathan. - Kap. XXVI. - S. 218. 243 Tb. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVI. - S. 205; vergl. auch: "Vom Bürger". - Kap. XIV /3. 244 Tb. Hobbes: Leviathan. - Kap. XVIII. - S. 140; sowie: XXIV. - S. 190; vergl. auch: "Vom Bürger". - Kap. XIV/9. 245 Tb. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. V1/15.
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zug auf die Möglichkeit konkreter Transaktionen246 und formuliert es als Aufgabe des Fürsten, diese Lücke zu füllen. Formalisiert der Fürst die zwischen Handelnden möglichen Transaktionen, bestimmt er allgemeingültige Zeichen in denen sozusagen das "Kleingedrukkte" des Vertrages enthalten ist, weiß jeder, der unter Zuhilfenahme eines solchen Zeichens ein Gut überträgt, welche Konditionen gelten. Mögliche Mißverständnisse werden seltener: "Und deshalb", so schließt Hobbes denn auch, "steht es dem Staat, d. h. dem Souverän, zu, festzulegen, auf welche Weise alle Arten von Verträgen, wie Kauf, Verkauf, Tausch, Ver- und Entleihen, Verpachten und Pachten, abgeschlossen werden und bei welchen Worten und Zeichen sie als gültig angesehen werden sollen."247 Damit die Zeichen ihren Zweck erfüllen können, müssen sie allgemein gültig sein, müssen als Gesetze formuliert werden, denen die Bürger nicht deshalb folgen, weil es ihnen nützlich ist, sondern weil sie sich hienu im Vorfeld langfristig verpflichtet haben. Damit ist aber nur dasjenige, was vom Souverän entsprechend bezeichnet wird, für die Untertanen ausschlaggebend. 248 Gut und böse wird von den Individuen nicht mehr selbsttätig aus dem Naturrecht abgelesen, sondern vom Souverän definiert. "Es darf... ", so formuliert es Hobbes "nur das Totschlag, Ehebruch oder Diebstahl genannt werden, was gegen die bürgerlichen Gesetze getan wird. "249 Die Definition dessen, was zwischen Menschen gerecht sein soll,25o ist so aller möglichen Willkür zum Trotz die Ausfüllung des Rahmens, den das Naturrecht offengelassen hat. 251 Da es Tyrannei als Verstoß gegen die Naturgesetze auf Dauer nicht geben kann und es besser ist, einzelne Ausrutscher des 246 "Unser Erlöser hat ... den Untertanen der Könige und den Bürgern der Staaten keine verteilenden Gesetze gegeben, d.h. keine Regeln, nach denen der Bürger wissen und unterscheiden kann, was ihm gehört und was fremdes Eigentum ist; auch hat er keine Formeln, Worte oder Umstände bestimmt, nach denen gegeben, überreicht, Besitz ergriffen und besessen werden soll, damit der Empfänger oder Besitzergreifende oder Besitzer ein Recht daran erlange." (Ib. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XVII/IO). 247 1l1. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXIV. - S. 193. 248 "Indes ist jedermann in seinem Vernunftgebrauch dem Irrtume ausgesetzt, und die Menschen sind hinsichtlich der meisten Handlungen verschiedener Ansicht; deshalb entsteht die weitere Frage, wer nach Gottes Willen als der Ausleger der rechten Vernunft, d.h. seiner Gesetze anzusehen ist. Wie ich bewiesen habe, entspricht es in betreff der weltlichen Gesetze (d.h. derer, die sich auf die Gerechtigkeit und das Verhalten der Menschen zueinander beziehen) nach dem über die Begründung des Staates Gesagten der Vernunft, daß jede Rechtsprechung dem Staate allein zusteht und daß Rechtsprechung nichts anderes ist als Auslegung der Gesetze. Deshalb ist überall der Staat ... der Ausleger dieser Gesetze." (Ib. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XV/17). 249 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XVII/I0. 250 "Die bürgerlichen Gesetze sind Regeln, die der Staat jedem Untertanen durch Wort, Schrift oder andere ausreichende Willens zeichen befahl, um danach Recht und Unrecht, d. h. das Regelwidrige und das der Regel Entsprechende, zu unterscheiden." (Ib. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVI. - S. 203). 251 1l1. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVI. - S. 207; siehe auch: "Unter bürgerlichen Gesetzen verstehe ich Gesetze, zu deren Beachtung die Menschen nicht deshalb verpflichtet sind, weil sie
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Fürsten durchgehen zu lassen, als zu rebellieren und damit das Ganze aufs Spiel zu setzen, decken sich auch in der Realität bürgerliches und natürliches Gesetz fast vollständig. 252 Die Sanktionierung von Rechtsbrüchen Neben der Bestimmung dessen, was für alle gut und böse ist, muß der Souverän dafür sorgen, daß die Gesetze, die diese Funktion erfüllen, auch tatsächlich eingehalten werden. Indem er sich derjenigen seiner Untertanen bedient, für die ein entsprechendes Handeln im Augenblick die wenigsten Kosten verursacht, um mit ihrer Hilfe denjenigen Strafe anzudrohen, die einen Rechtsbruch in Erwägung ziehen, und indem es einem jeden aufgrund seines Gehorsamsversprechens verboten ist" ... dem staatlichen Schwert Widerstand zu leisten, um einen anderen Menschen, ob unschuldig oder nicht, zu verteidigen,"253 verfügt der Souverän über genügend tatsächliche Macht, seinen Drohungen auch Taten folgen zu lassen. 254 Zwar mögen manche auch aus Gerechtigkeitssinn oder Edelmut die Gesetze befolgen, da sie aber schnell Gesetzesbrechern zum Opfer fielen, wenn der Souverän nicht gleichzeitig kräftig sanktionieren würde,255 ist das wichtigste an der Sanktion, den diesseitigen Nutzen eines Rechtsbruchs so klein wie möglich zu halten. 256 Wo die Menschen immer dann gegen das Gesetz zu verstoßen drohen, wenn sie sich davon einen Vorteil erwarten,257 muß Glieder dieses oder jenes Staates, sondern überhaupt eines Staates sind." (ebenda: XXVI. - S. 203; siehe auch: XXVI. - S. 205). 252 Aus der Sicht der Untertanen bleiben die bürgerlichen Gesetze trotz des Umwegs über den absoluten Souverän ihr eigenes Werk. Hobbes schreibt dazu: "Das Gesetz wird von der souveränen Gewalt erlassen, und alles, was von dieser Gewalt getan wird, geschieht mit Volhnacht eines jeden, der zum Volke gehört, und wird von ihm als eigene Handlung anerkannt. Und was jedermann so haben möchte, kann niemand als ungerecht bezeichnen. Mit den staatlichen Gesetzen verhält es sich wie mit den Spielregeln: Alles, was die Spieler untereinander abmachen, ist für keinen von ihnen ein Unrecht." (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 264; siehe auch:. - Kap. XXI. - S. 164). 253 111. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXI. - S. 169. 254 111. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXI. - S. 169; vergl. auch: "Diese Macht und dieses Recht zu herrschen besteht darin, daß jeder einzelne Bürger all seine Kraft und Macht auf jenen Menschen oder jene Versammlung übertragen hat. Dies kann, weil niemand seine Kraft in wörtlichem Sinn auf andere übertragen kann, nur dadurch geschehen, daß jeder sein Recht des Widerstandes aufgegeben hat." (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. V/1l). 255 111. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVII. - S. 228 und Kap. XVIII. - S. 141. 256 Schon Platon hatte Protagoras ausrufen lassen: "... niemand bestraft - er müßte denn gleich einem wilden Tiere in blindem Unverstand nur Rache üben wollen - einen Schuldigen mit dem Gedanken und aus dem Beweggrunde, daß jener gefehlt habe. Nein, wer vernünftig strafen will, der läßt nicht büßen um des Vergehens willen, das der Vergangenheit angehört - deM das Geschehene kann er ja nicht ungeschehen machen. Er straft vielmehr mit Rücksicht auf die Zukunft, dan1it weder der Bestrafte selbst einer neuen Schuld verfalle noch ein anderer, der sah, wie man jenen strafte. ... er straft ... um abzuschrecken." (Platon: "Protagoras". - S. 142 (Kap. XV». 257 Siehe auch: "Es ist durch sich offenbar, daß die Handlungen der Menschen vom Willen,
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der Souverän den Rechtsverstoß nur entsprechend verteuern, um Rechtsbrüche unattraktiv zu machen. Deshalb muß jedem Gesetz eine Strafe angehängt werden. 258 Um schon im Vorfeld potentielle Übeltäter abzuschrecken, müssen Gesetz wie Strafandrohung eindeutig sein und frühzeitig öffentlich bekanntgemacht werden. 259 Die Organisation der Verteidigung Alle Gesetzesübertretungen sind gegen den Staat gerichtet, da sie Befehle des Souveräns mißachten. Allerdings unterscheiden sie sich hinsichtlich des unmittelbar Geschädigten in zwei Gruppen. Im ersten Fall, bei der Schädigung von Mituntertanen, findet aus der Sicht des Fürsten "nur" eine Vermögensumverteilung statt, die ihn allenfalls mittelbar durch die Stärkung eines Rechtsbrechers und die Schwächung eines gehorsamen Untertanen betrifft. Im zweiten Fall, dem eines direkten Angriffs auf die Repräsentanten des Staates, verliert er unmittelbar an Macht und damit an der Fähigkeit, die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Derjenige, der den Souverän und seine Stellvertreter angreift, hat zwar nicht notwendigerweise die Schwächung des Staates zum Ziel, wenn er aber den Souverän ersetzen will, schwächt er diesen und nimmt damit zumindest das Risiko in Kauf, dem Staat als Ganzem zu schaden. Im Falle von Streitigkeiten zwischen Untertanen macht es Sinn, wenn der Souverän strikt den Gesetzen gemäß entscheidet, da er hier nur Schiedsrichter ist und sich nicht unnötig die Möglichkeit einer einvernehmlichen Lösung verbauen sollte. Im Falle eines Angriffs auf den Souverän oder seine Mitarbeiter dagegen, ist der Konflikt ein antagonistischer, so daß jede Selbstbeschränkung des Fürsten unmittelbar ein Vorteil für den Aufbegehrenden wäre. Im Rahmen des Gesetzes zu bleiben, hilft hier nicht weiter, da dies keinen Weg zu einem neuen Konsens öffnet. Weil der Kritiker möglicherweise nicht um des Rechts wegen kritisiert, sondern aus ganz anderen Grunden, und weil man seine Gründe von außen nicht kennen kann, ist es allemal sicherer, ihn im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Mittel als Feind zu behandeln. Damit wird nicht behauptet, daß jede Kritik an der Politik des Souveräns grundsätzlich egoistischen Ursprungs ist, aber da diese Kritik kaum zur Wahrheit führen wird, solange es auch um anund der Wille von Hoffnung und Furcht ausgeht, dergestalt, daß die Gesetze mit Willen verletzt werden, sooft sich ein größeres Gut oder ein kleineres Übel von ihrer Verletzung als von ihrer Beobachtung erwarten läßt." (Ib. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. V/I). 258 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XIV/8; "Eine Strafe ist ein Übel, das die öffentliche Autorität demjenigen auferlegt, der getan oder unterlassen hat, was diese Autorität als Gesetzesübertretung beurteilt, und zwar zu dem Zweck, den menschlichen Willen zum Gehorsam anzuhalten." (Ib. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVIII. - S. 237). 259 Siehe hierzu: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVlII. - S. 355.
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dere als Wahrheitsfmdungsinteressen gehen könnte, erfüllt sie ihren Zweck ohnehin nicht und beschwört statt dessen den Konflikt herauf. Der Angriff auf die Repräsentanten des Staates ist gefährlicher, als die "bloße" Schädigung von Privatpersonen, weil er das Ganze in Frage stellt. 26o Aus diesem Grunde muß sich der Souverän mit allen notwendigen Mitteln verteidigen können. Gegen Staatsfeinde gilt denn auch das Recht des Naturzustandes 261 und was für diese gilt, gilt auch für diejenigen, die den imaginären Staatsvertrag überhaupt nicht mitunterzeichnet haben. 262 Ihnen gegenüber befindet sich das Kollektiv nach wie vor im Naturzustand und da dort alles erlaubt ist, ist der Außenseiter zur Ausbeutung freigegeben, man kann ihm nehmen, was man bekommen kann: "Wird ... einem Unschuldigen, der kein Untertan ist, irgendein Übel zugefügt, so ist dies kein Bruch des natürlichen Gesetzes, wenn es dem Staate nützt und ohne Verletzung eines früheren Vertrages geschieht. "263 Freilich wird auch hier die Ausbeutung in der Regel schädlicher sein, als die Aufnahme des Außenseiters in die staatliche Gemeinschaft. Wo alle Menschen im Hinblick auf ihr Vermögen gleich sind, ist es allemal sinnvoller, sich Unterstützung auf Dauer zu sichern und den anderen damit dazu zu veranlassen möglicherweise freiwillig zu geben, was der Souverän ihm abfordert. Daseinsvorsorge Der Fürst ist zur Sicherung seiner eigenen Position auf den Gehorsam seiner Untertanen angewiesen. Da er diesen Gehorsam nicht beliebig erzwingen kann, wird er sorgfältig darauf achten, in ihrem Interesse zu handeln. Er wird aus Eigennutz ihre Rechtsräume sichern und ihnen, wo immer es möglich ist, den Weg für ein friedliches arbeitsames Leben frei machen. 264 Da existentielle Not die Untert'men zur Übertretung von Gesetzen bewegen kann,265 ist der Fürst möglicherweise gut beraten, in seiner Politik nicht bei der Garantierung des Rechts stehenzubleiben. Er mag es als notwendig empfinden, weitere Vorkeh260 Vergl. auch: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVII. - S. 234 f. 261 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XIV/22; siehe auch: XIV/20 und 21, sowie: Leviathan. - Kap. XXVIII. - S. 239. 262 111. Hobbes: "Vorn Bürger". - Kap. VI/2. vergl. auch: Leviathan. - Kap. XVIII. - S. 138. 263 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVIII. - S. 242. 264 Die dabei zugestandenen Freiräume sind durchaus auch im Interesse des Souveräns: ..... um (das Volk) zu lenken und so in Bewegung zu halten. daß sie sich durch ihre heftigen Begierden, Voreiligkeiten und Unbesoonenheiten nicht selbst verletzen, so, wie Hecken nicht gepflanzt werden, um die Reisenden anzuhalten, sondern um sie auf dem Weg zu halten." (Th. Hobbes: leviathan. - Kap. XXX. - S. 264 f.). 265 Siehe auch: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVII. - S. 228.
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rungen zu treffen. Allerdings stellt Hobbes klar: "Damit ist nicht gemeint, daß man in der Sorge um die einzelnen weitergehen sollte, als daß man sie vor Unrecht schützt, wenn sie Klage erheben, sondern dies sollte durch eine allgemeine Vorsorge in Form von öffentlicher Unterrichtung durch Lehre und Beispiel und durch Erlaß und Durchführung guter Gesetze geschehen, nach denen die einzelnen ihre eigenen Angelegenheiten einrichten können."266 Auch wenn die Daseinsvorsorge Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Armenpflege durchaus einschließt,267 soll die Staatstätigkeit doch auf das zur Aufrechterhaltung des Rechtssystems notwendige Minimum beschränkt bleiben, denn letztendlich lebt der Staat von der Kreativität seiner Bürger und "... die Bürger (würden), wenn sie ohne Erlaubnis der Gesetze nichts unternehmen dürften, geistig erstarren."268 Aus diesem Grunde sollte ihnen nichts verboten werden, was nicht für die Aufrechterhaltung von Frieden und Recht unbedingt erforderlich ist. 269 Auch die Handels- und Gewerbefreiheit, die Freiheit, Verträge abzuschließen mit wem und über was man will, sollte der Souverän nach Möglichkeit achten. 270 Menschen an dem zu hindern, was sie einvernehmlich miteinander abmachen, ohne damit dritten Schaden zuzufügen, schafft nur unnötig böses Blut und "konsumiert" so dringend benötigte Macht. 5.2.3.2. Gehorsam als Strategie der Untertanen Angesichts der Tatsache, daß nahezu jede Kritik am Staate von den Untertanen zu privaten Zwecken mißbraucht werden kann, schließt Hobbes eine nach der anderen als unzulässig aus. 271 Die Vernünftigkeit der Staatsraison stößt erst dort an ihre Grenzen, wo sie mit den Gründen kollidiert, um derentwillen sie der einzelne überhaupt gutheißen soll, d. h. mit der Erhaltung des eigenen Lebens. Schließlich hat niemand sein Recht auf Leben und die nötigen Lebensmittel aufgegeben, ja er ist dazu weder rechtlich 272 noch tatsächlich 273 in der Lage und so gilt auch im Konfliktfalle: "Sicherheit ist der Zweck, weshalb die 266 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 255. 267 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 264 f. 268 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XIII/15. 269 111. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 2. - Kap. IX/4. - S. 201 f.; siehe auch: Leviathan. - Kap. XIV. - S. 99, XXI. - S. 165 u. XXI. - S. 170; sowie: "Vom Bürger". - Kap. XIII/15. 270 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 1. - Kap. XV1/12. - S. 112. 271 Die meines Wissens beste Darstellung zum Widerstands recht bei Hobbes ist die Studie von P. C. Mayer-Tasch: Thomas Hobbes und das Widerstandsrecht. - Tübingen: 1965. - 131 S. 272 "Niemand ist durch irgendeinen Vertrag verpflichtet, dem, der ihn töten oder verwunden oder sonst verletzen will, keinen Widerstand zu leisten ..... (Ib. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. 11/1). 273 ..... man (würde) durch das Versprechen keinen Widerstand zu leisten, verpflichtet sein, von zwei gegenwärtigen Übeln das größere zu wählen; ... von zwei Übeln das kleinere nicht zu
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Menschen sich anderen unterwerfen, und wenn diese nicht erlangt werden kann, so gilt die Unterwerfung unter andere nicht als geschehen und das Recht der Selbstverteidigung nach eigenem Ermessen nicht als verloren." 274 Mit diesem Problem, das sich dem Machiavelli des Principe nicht stellte und von Bodin nur durch den Verweis auf eine moralische Bindungswirkung des Naturrechts gelöst werden konnte, wird Hobbes konfrontiert, weil er zum einen die Funktion des Staates auch für den kleinen Mann nachweisen will, sich aber andererseits aus prinzipiellen Erwägungen die Lösungsmethode des Bodin nicht aneignen kann. Allerdings widersprechen sich diese Rechte in der Praxis selten, da die Untertanen angesichts des drohenden Naturzustandes und der Machtfülle des Fürsten sorgfältig abwägen werden, wann sie wirklich zum Widerstand genötigt sind, und andererseits der Souverän angesichts unsicherer Zeiten alles Interesse daran hat, auch ihr Quantum an Vermögen zur Sicherung seiner Position zu gewinnen. Will er nichtsdestoweniger einmal zum Nutzen des Staates den Tod eines Untertanen, so gleitet ihr Verhältnis wieder in das des Naturzustandes zurück, in dem "ein Mensch mit Recht vorgeht und ein anderer mit Recht widersteht ..... ,275 nur daß jetzt einer der bei den der Souverän ist und seine ganze Staatsmaschine gegen das Opfer aufwenden kann. Das Problem zeigt deutlich die Hobbessche Argumentationsstruktur. Verträge, einschließlich des Unterwerfungsvertrages, sollen die Grundlage für Kooperation und damit für das eigene langfristige Überleben sichern. Fordern die Verträge aber etwas, das den Zweck aufhebt, für den der einzelne den Vertrag abgeschlossen hat. ist er frei, ihm zuwiderzuhandeln. Dann allerdings befindet er sich seinen Vertragspartnern gegenüber wieder im Naturzustand. 276 Mit der Unveräußerlichkeit des Lebensrechts schließt Hobbes keine Widerstandshandlung von vorneherein aus, er verändert nur ihre Legitimationsgrundlage: Der einzelne kann alles gegen den Staat tun vorausgesetzt, er ist in seiner Existenz bedroht. Selbst Partei bildung wird zulässig. 277 Denn wo ein wählen, ist unmöglich; ein solcher Vertrag würde also zu etwas Unmöglichem verpflichten, was der Natur der Verträge widerstreitet." (lb. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. II/18). 274 Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. VI/3. 275 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil I. - Kap. XIV/lI. - S. 99. 276 Vergl. auch: "Etwas anderes ist es. wenn ich so übereinkomme: Du sollst mich töten, wenn ich an dem bestimmten Tage nicht geleistet habe; und wieder etwas anderes, wenn es so geschieht: Im Fall ich es nicht geleistet haben sollte, will ich dem, der mich tötet, keinen Widerstand leisten. In der ersten Art schließt jedermann Verträge, wenn es nottut ... auf die zweite Art geschieht es von niemand ..... (lb. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVII. - S. 231). 277 "Aber gesetzt den Fall, eine große Anzahl von Menschen hätte schon unrechtmäßig der souveränen Gewalt Widerstand geleistet oder ein Kapitalverbrechen begangen, für das jeder von ihnen die Todesstrafe zu erwarten hat: Haben diese Menschen nicht die Freiheit, sich zusammenzuschließen und sich gegenseitig beizustehen und zu verteidigen? Sicherlich - denn sie verteidigen ihr Leben, was der Schuldige ebensogut tun darf wie der Unschuldige. In ihrer ersten Pflichtverletzung lag in der Tat eine Ungerechtigkeit. Daß sie daraufhin zu den Waffen griffen, ist keine neue ungerechte Handlung, selbst wenn es geschieht, um den Erfolg ihrer Tat zu verteidigen Und geschieht es
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Terrorregime organisierten Widerstand erfordert, wäre Gehorsam selbstmörderisch und so gegen die natürliche Pflicht zur Selbsterhaltung. Damit ist der Widerstand aber nicht berechtigt, weil der Machthaber gut oder böse ist, sondern weil das Leben des Widerständlers anders nicht zu schützen ist. "Wird jemand aus Furcht vor dem sofortigen Tod zu einer gesetzwidrigen Tat gezwungen," so schreibt Hobbes, "ist er völlig entschuldigt, da kein Gesetz einen Menschen dazu verpflichten kann, seine Selbsterhaltung aufzugeben. Und selbst wenn man annehmen würde, daß ein solches Gesetz verbindlich wäre, so würde man doch so argumentieren: 'Begehe ich die Tat nicht, so sterbe ich sofort; begehe ich sie, so sterbe ich später. Deshalb verlängere ich mein Leben, wenn ich sie begehe ....278 Das Problem stellt sich besonders deutlich bei der Diskussion der Frage, ob der einzelne im Kriegsfalle für das Kollektiv sein Leben riskieren soll. Da das Kollektiv letztlich dem Schutz seines Lebens dienen soll, macht es für ihn keinen Sinn, eine entsprechende Pflicht anzunehmen. Ohne sie wird sich das Kollektiv aber kaum gegen innere oder äußere Feinde halten können. Zwar nimmt Hobbes die Pflicht zur Verteidigung des Souveräns in die Liste der Naturgesetze auf,279 aber bei der Diskussion der Frage, inwieweit der Untertan mit dieser Verpflichtung nicht sein unveräußerliches Recht auf Selbsterhaltung aufgibt, bringt er sich in Schwierigkeiten. So konstatiert er, daß ein Kampf bis zum letzten Mann offensichtlich falsch ist,280 ohne aber auf die Frage einzugehen, wer Richter darüber sein soll, ob ein solcher Fall vorliegt. Macht er den einzelnen zum Richter, wird eine koordinierte Verteidigungsanstrengung unmöglich, da sich jeder, der an einem Brennpunkt des Geschehens eingesetzt wird, sagen kann, der Bestand des Kollektiv sei das individuelle Risiko nicht mehr wert. Vor die Alternative gestellt, zu gehorchen und sofort zu sterben oder den Gehorsam zu verweigern und (vielleicht) vor einem Exekutionskommando zu enden, wäre ihre Desertion nicht nur vernünftig, sondern auch rechtens. Hobbes sieht deshalb Desertion zwar als unehrenhaft, nicht aber als ungerecht an,281 wobei er unter unehrenhaft freilich weniger eine Art Ritterehre versteht, als mehr die fehlende Bereitschaft, seinen Möglichkeitsraum auf der Suche nach individuellen Positionsgütern bis zur Neige auszuschöpfen. nur zur Verteidigung der eigenen Person, so ist es überhaupt nicht ungerecht. Aber das Angebot der Gnade entzieht dem Begnadigten die Möglichkeit, sich auf die Selbstverteidigung zu berufen und bewirkt, daß es gesetzwidrig ist, weiterhin den übrigen beizustehen und sie zu verteidigen." (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXI. - S. 170). 278 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXVII .. S. 231. 279 Th. Hobbes: Leviathan. - Rückblick und Schluß. - S. 536. 280 "Denn wo eine Zahl von Menschen zur gemeinsamen Verteidigung offensichtlich zu schwach ist, darf jedennann in Zeiten der Gefahr sein eigenes Leben durch Aucht oder Unterwerfung unter den Feind reUen, wie er es seiner Vernunft zufolge für das beste hält ... " (Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XX. - S. 159). 281 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXI. - S. 169.
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Der Verweis auf die Möglichkeit, Ersatzsoldaten zu stellen,282 löst das Problem nicht und die Feststellung, daß Berufssoldaten auf jeden Fall zum Kriegsdienst verpflichtet seien,283 weil sie andernfalls einen eingegangenen Vertrag brächen, geht am Problem vorbei. Ist die Gefahr hinreichend groß, in Erfüllung des Vertrages getötet zu werden, hat der Soldat gar nicht das Recht, einen solchen Vertrag abzuschließen, geschweige denn, ihn angesichts einer Bedrohung mit dem Tode einzuhalten. Rechtlich stellt sich hier derselbe Fall wie im Falle der Notwehr. Das individuelle Recht auf Selbsterhaltung steht gegen das individuelle Recht des übriggebliebenen Wolfs und der in seinem Interesse und zum Wohle des Ganzen durchgesetzen Staatsraison. Faktisch löst sich allerdings das Problem ziemlich leicht. Mit einer mehr oder weniger perfekten Staatsmaschine konfrontiert, die Rechtsbruch hoch bestraft, wird der einzelne schlicht beide Risiken gegeneinander abwägen. Jeder, der Alains Thesen zum Krieg kennt,284 weiß, wie sehr der Repräsentant der Staatsraison diese Kalkulation zu seinen Gunsten beeinflussen kann. Die faktische und rechtliche Option, sein individuelles Leben auch gegen die Staatsrnacht zu verteidigen und gleichzeitig damit die Ermächtigung des Souveräns zurückzunehmen, stellt die Naturgewalt dar, die den Souverän zu vernünftiger Herrschaft zwingen soll. Da es in Hobbes' künstlichem Staat so etwas wie Gewaltherrschaft nicht geben kann, da Herrschaft notwendig mit der Ermächtigung durch die Untertanen verknüpft ist und völlig legitim erlischt, wenn sich der einzelne aus Notwehr seine Handlungsfreiheit zurücknimmt, verschwindet die Staatsrnacht in dem Augenblick, in dem der Souverän seine Aufgabe nicht mehr erfüllt. Die Untertanen nehmen zum einen das Recht wieder in die eigene Hand, sich gegen Übergriffe anderer zu schützen, wenn der Fürst seiner Schutzpflicht nicht mehr nachkommt, und zum anderen greifen sie zur Selbstverteidigung, wenn sie sich als Ziel eines direkt von ihm geführten Angriffs sehen. Wird staatliche Unterdrückung also zur Todesgefahr für die Untertanen, hört mit ihrer Selbstverteidigung die Ermächtigung des Souveräns auf. 285 Wo ihr Leben immer unsicherer wird, gehen sie zunehmend zur Selbstverteidigung über und die Macht des Staates schwindet von selbst dahin. In einem solchen Falle hat niemand den Staat bekämpft, jeder hat nur sich selbst erhalten und wenn dies bei einer ausreichenden Anzahl von Untertanen der Fall ist, verschwindet die Macht des Souveräns sozusagen als externer Effekt. 282 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXI. - S. 169. 283 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXI. - S. 169. 284 Alain: Mars ou la guerre jugee. - Paris: 1969. - 309 S. 285 "... die höchste Staatsgewalt (ist) vermöge der Verträge errichtet ...• welche die einzelnen Bürger oder Untertanen miteinander eingegangen sind, ... alle Verträge, wie sie ihre Kraft von dem Willen der Vertragschließenden erhalten, ... (verlieren) durch deren Einwilligung ihre Kraft ... " (Th. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. VI/20). 20 Hegmann
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5.2.3.3. Vereinzelung zur Stärkung des Souveräns Bis hierher kommt Hobbes mit einer anderen Begrundung zu ähnlichen Ergebnissen wie Bodin. Akzeptiert man seine These, daß die Menschen im wesentlichen gleich sind, ist es für jeden, der nicht "per Zufall" die Herrschaft inne hat, das Beste, seinem Souverän nahezu bedingungslos gehorsam zu sein. Sich jedesmal vom Gemeinwesen abzuwenden, wenn es individuell nützlich scheint, muß auf Dauer entweder zum Ausschluß aus der Gesellschaft oder aber, wenn es genug Nachahmer findet, geradewegs zu ihrer Zerstörung und damit in den Naturzustand führen. Andererseits ist es für den mit der Sicherung der Rechtsordnung "beauftragten" Souverän angesichts des ständig drohenden Bürgerkriegs und gefährlicher äußerer Feinde immer nötig, alle Reserven zu mobilisieren, d. h. soviele zufriedene Untertanen um sich zu scharen, wie er gewinnen kann. Auch wenn er sich nicht die Hände binden darf, wird er die Anwendung von Zwang oder Gewalt doch im eigenen Interesse auf den Ausnahmefall beschränken. Vernünftige Menschen werden sich deshalb auf den Staat, einschließlich des im Souverän verkörperten GewaItmonopols als das für ihr Wohlergehen Notwendige einigen können. Sie werden ihn als das kleinere Übel wählen, weil ihnen dadurch der Frieden sicher ist. Diese Ordnung mag zwar mit Schönheitsfehlern behaftet sein, die den Schwächen und Leidenschaften des Souveräns entspringen, wo aber dieser Zustand in wirkliche Tyrannei ausartet, wird mit der Ermächtigung der Untertanen auch der Staat als solcher aufhören. Aber Hobbes geht noch weiter. Nach wie vor ist die Existenz seines Staates schließlich vollständig von den Meinungen derer abhängig, die ihn bilden. Es ist nicht eine tatsächliche Lebensbedrohung, die über ihre Loyalität entscheidet, sondern ihre individuelle Meinung darüber. Überhaupt müssen die Bürger Hobbes' Argument erst einmal akzeptieren, wenn es die erwünschte Wirkung haben soll. Weder die Bestimmung des Souveräns zur höchsten Autorität in allen Fragen mit sozialer Komponente noch die eigenwillige Interpretation religiöser Verpflichtung oder die Reduktion des Widerstandsrechts auf das zum schieren Überleben Notwendige verstehen sich von selbst, vor allem dann nicht, wenn die Rahmenbedingungen des Modells, also vor allem die Idee der Gleichheit, nicht angenommen werden. Hobbes will zwar die Souveräne seiner Zeit dazu bewegen, seine sozialen Naturgesetze auch dem letzten Untertanen zu erläutern,286 aber da er weiß, daß selbst die Sätze der Geometrie angezweifelt würden, wenn sie den Interessen von Menschen widersprächen,287 versucht 286 Durch Volksbildung beispielsweise: Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 255. 287 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XI. - S. 79 f.; vergl auch: ..... alle Welt weiß, daß die Widerstände gegen diese Art von Lehre (Hobbes' eigene; H.H.) nicht so sehr von den Schwierigkeiten des Gegenstandes als vielmehr von den Interessen derer heniihren, die lernen sollten. Mächtige Menschen verdauen kaum etwas, das eine Macht zur Zügelung ihrer Begierden errichtet, und gelehrte
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er, die Wirkung seiner Lehre durch ein institutionelles Arrangement abzusichern. Macht sich ein Fürst in der Tat zur letzten Entscheidungsinstanz über alles, was zwischen Menschen als richtig und gut zu gelten hat, nimmt er sich also praktisch das Recht, mit dem Schwert die einzig wahre Weltanschauung zu lehren, so kann sich, sofern er Erfolg hat, faktisch keiner mehr auf irgendeine Norm berufen, um Opposition zu treiben. Ganz im Geiste Machiavellis gibt Hobbes dem Souverän denn auch den Rat, potentielle Gegenkoalitionen gleich im Keim zu ersticken 288 und sie durch eine Machthierarchie zu ersetzen, die völlig auf ihn zugeschnitten ist. 289 Parallel dazu soll er eine Weltanschauung lehren lassen, um damit auch die Bewußtseinsinhalte seiner Untertanen kontrollieren zu können, soweit dies möglich ist. Gelingt dies, basiert der Staat zwar immer noch auf den Ermächtigungen der einzelnen, aber nicht nur, daß diese objektiv immer weniger Möglichkeiten haben, Widerstand zu leisten, die Informationen, die ihre subjektiven Meinungen mitformen, sind vorgefiItert, so daß sie immer weniger wissen können, ob und wann zu staatsfeindlicher Aktivität überhaupt Anlaß und Aussicht auf Erfolg besteht. Das Funktionieren der so erzeugten letzten Selbstverstärkung der Staatsgewalt ist aufs engste mit ihrer ideologischen Fundierung verknüpft. Waren Koalitionen nämlich für Machiavelli noch vor allem territorialer Natur, sind sie nun, zweihundert Jahre nach Gutenberg, viel stärker ideologisch bedingt. Jedenfalls muß der Fürst systematisch alle zwischenmenschlichen Beziehungen kontrollieren und nötigenfalls letztendlich entscheiden können, weil alle seiner Herrschaft gefährlich werden könnten. Der Souverän macht sich damit unabhängig von den aktuellen Interessen der Menschen (selbst von denen aller Menschen gemeinsam). Das muß so sein. da er nie weiß, welche Interessen die Staatskritiker wirklich haben. Die Staatspynichts. was ihre Irrtümer aufdeckt und dadurch ihre Autorität schmälert ... " (Tb. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXX. - S. 257). 288 111. Hobbes: "Vom Bürger". - Kap. XIII/13; siehe auch: X/12. 289 Dieses System zur Beherrschung der Untertanen gegen ihren Willen hatte La Boetie, in einer brillanten Skizze denunziert: "Ce ne sont pas les bandes de gens a cheval, ce ne sont pas les compagnies de gens a pied, ce ne sont pas les armes, qui defendent le tyran .... Ce sont toujours quatre ou cinq qui maintiennent le tyran, quatre ou cinq qui lui tiennent le pays tout en servage. Toujours il a ete, que cinq ou six ont eu l'oreille du tyran, et s'y sont approches d'eux-memes, ou bien ont eie appeles par lui, poor etre les complices de ses cruautes,les compagnons de ses plaisirs, maquereaux de ses voluptes, et communs aux biens de ses pilleries .... Ces six ont six cents, qui profilenl sous eux, et font de leurs six cents ce que les six font au tyran. Ces six cents tiennent sous eux six mille, ... Grande est la suite qui vient apres de cela. Et qui voudra s'amuser a devider ce filet, il verra, que non pas les six mille, mais les cent mille, les milions, par cette corde, se tiennent au tyran ... Ainsi le tyran asservit les sujets les uns par le moyen des autres, et est garde par ceux, desquels, s'ils valaienl rien, il se devrait garder, mais comme on dit, pour fendre le bois il se fait des coins du bois meme .... II n'est pas qu'eux memes ne souffrent quelquefois de lui. Mais ces perdus, ces abandonnes de Dieu et des hommes, sont conlents d'endurer du mal, poor en faire, non pas a celui qui leur en Cail, mais a ceux qui en endurent comme eux, et qui n'en peuvent mais." (E. de La Boetie: "Discours surla servilude volonlaire" in: ders.: Oeuvres Politiques. Paris: 1971. - S. 71 ff.).
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ramide bezieht sich nur auf sich selbst. Sie stülpt der menschlichen Gemeinschaft ein kohärentes, in sich widerspruchsfreies System aus Begriffen über, dessen wesentliche Eigenschaft weder "Wahrheit", noch "Gerechtigkeit" ist, sondern Kohärenz. Nur wenn das System in sich widerspruchsfrei ist, kann es keinen Anlaß zum Bürgerkrieg bieten. Dadurch, daß es den Individuen sagt, worauf sie Anspruch haben, können sie sich nicht über unterschiedliche Ansichten bezüglich ihrer Ansprüche in die Haare geraten. Es gibt nichts außerhalb des Staates, auf daß sich ein Mensch mit Recht gegen einen anderen berufen könnte, um gegen den Richterspruch des Souveräns aufzubegehren. Er kann allenfalls schweigend und so im wesentlichen allein seinen Widerstand organisieren, wo er es für nötig hält. 29o Sieht man wie Hobbes nur die soziale Dimension der Welt, so könnte man in bezug auf große heterogene Gruppen sagen: Nicht der Krieg, der Staat ist der Vater aller (sozialen) Dinge! Hobbes ergänzt die schon in Machiavellis Principe skizzierte Herrschaftspyramide um eine Isolationsvorrichtung, die die einzelnen unfähig machen soll, koordiniert gegen den Souverän vorzugehen, und macht ihn so vom Willen der einzelnen unabhängig. Dabei führt er konsequent die Bodinsche Strategie der Individualisierung der Rechte voran. Haben die Menschen nur als Einzelpersonen Rechte und nicht als Kollektive oder als Menschen schlechthin, so sind sie dank ihrer Isolierung relativ ungefährlich. Sie können zwar individuell protestieren, da ihre Rechte aber nichts mit denen ihrer Mitmenschen zu tun haben, sind sie im wesentlichen allein. Rechtsdurchsetzung gegen den Fürsten erfordert kollektives Handeln. Unterliegt dieses aber überall der Kontrolle des Staates, hat es keine Chance. Schon Bodin schloß aus der Gefahr, daß Wissen zur Täuschung der Mitmenschen mißbraucht werden kann, daß die Entscheidung des Souveräns immer dann den weltanschaulichen Disputen ein Ende zu bereiten habe, wenn dies im Interesse des Staates notwendig sei. Allerdings verwies der Kronjurist im Wartestand immer wieder auf die Pflicht des Souveräns, sich vorher mit seinen Experten zu beraten. Hobbes dagegen befürchtet, daß sich an einem vom Fürsten unabhängigen Rechts- oder Wissensstandpunkt Widerstand herauskristallisieren könnte. Wo 290 In einem aufschlußreichen Artikel hat J. NalVeson dargelegt, daß Rechte auf Vereinbarung beruhen. Damit nimmt er zu Recht Hobbes' Idee zur Ausgangsbasis des Contractarianism. Allerdings schließt er: "On the contractarian view, rights are due to agreement. Those, who will not aggree have no rights, and we have no duties towards them. It is, I think, not really possible that anYOlle would, Oll due reflection, prefer the condition he may expect if the rest of mankind are united against hirn with no restrictions on what them may do to hirn ..... (1. NaIVesOll: "Contractarian Rights" in: R. G. Frey: Utility and Rights. - Oxford: 1985. - S. 161-174) Diese Idee mag das universale Akzeptieren von Rechten erklären und ist so von Hobbes intendiert, sie kann aber auch, und genau das ist Hobbes' Problem für die Akzeptierung aller möglichen anderen Unterdrückungsmaßnahmen herhalten. Sie wird also zwar möglicherweise ihren Zweck erfüllen, vennutlich aber zuviel des Guten tun. Dann aber befreit sie den Souverän vorn Druck, im Sinne der Allgemeinheit zu handeln.
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sich Unzufriedene aber eines solchen Punktes bedienen können, um den Fürsten zu schwächen, ist er für eine nutzbringende Diskussion ohnehin verloren. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn der Fürst zum von Naturrecht legitimierten obersten Richter über alle Rechts- und Weltanschauungsfragen aufsteigt. Radikaler noch als Bodin sieht Robbes deshalb vom Wahrheitsgehalt einer Position ab und konzentriert sich ausschließlich auf ihre allgemeine Gültigkeit, die der Fürst allemal effizienter sicherstellen kann als jeder Experte. Im Unterschied zu dem französischen Juristen läßt Robbes den Individuen auch dort keine Freiräume, wo ganz offenbar Belange nicht-staatlicher Natur zur Diskussion stehen. Da alle möglichen Inhalte menschlichen Denkens politisch benutzt, d. h. zu staatsfeindlicher Parteibildung mißbraucht werden können, reicht es nicht, bestehende feindliche Koalitionen zu sprengen und Traditionsbestände und Glaubenssätze abzuschaffen, die der absoluten Macht des Souveräns gefährlich werden, es muß Koalitionsbildung schon im Vorfeld kontrolliert werden können. Virtuell sind so alle Kollektive im Staat von der Zentralgewalt abhängig und so ist praktisch der Fall, was Robbes in rechtlicher Terminologie präsentiert: ... (nur die Staaten) sind absolut, unabhängig und nur ihrer eigenen Vertretung unte/Worfen .... Die anderen (Vereinigungen) sind abhängig, d.h. der souveränen Gewalt untergeordnet, der gegenüber jedermann, ... Untertan ist. Die untergeordneten Vereinigungen sind teils politisch teils privat. Politische Vereinigungen, auch politische Körperschaften und juristische Personen genannt, sind solche, die auf Grund der Autorität der souveränen Gewalt errichtet werden. Die Privatvereinigungen werden von den Untertanen selbst unter sich oder auf Grund einer ausländischen Autorität errichtet. Denn keine von einer fremden Gewalt abgeleitete Autorität ist im Herrschaftsgebiet eines anderen öffentlich sondern sie ist privat.291
Zwar mag der Untertan solange tun, was er will, wie der Souverän keine Notwendigkeit sieht einzugreifen, aber da alle "Wahrheiten" zum Vorwand individuellen Machterwerbs mißbraucht werden können, muß Robbes Fürst sie potentiell alle definitiv entscheiden und die Äußerung abweichender Meinungen verbieten können. Dabei kann er sich, da mehr nicht zu erreichen ist, auch mit Lippenbekenntnissen zur offiziellen Lehre zufrieden geben. Diese erfüllen ihren Zweck, weil es dem Fürsten nicht um die "Seele" seiner Untertanen geht, sondern darum, daß sie sich nicht gegen ihn zusammenrotten können. Wenn in einer solcherart organisierten Gesellschaft Individuen machiavellistische Sonderprofite machen wollen, können sie doch nie der Existenz des Staates selbst gefährlich werden, da sie sich nicht in größerem Stil mit anderen verständigen können. Gehorsam gegen den Souverän und das von ihm geschaffene Gesetz ist somit keine moralische Verpflichtung mehr, die von machiavellistischen Unternehmern mit Gewinn umgangen werden könnte, sie ist eine zum eigenen Überleben notwendige Verhaltensweise. Rannah Arendt arbeitet diesen Punkt besonders klar heraus, wenn sie schreibt: "... da die Macht, die hinter dem Ge291 Th. Hobbes: Leviathan. - Kap. XXII. - S. 173.
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setz steht, die vom Staat monopolisierte Macht aller anderen, also einer absoluten Mehrheit darstellt, stellt es sich für das Individuum in seiner Vereinzelung der absoluten Minderheit in der Form absoluter Notwendigkeit dar, gegen die zu rebellieren nicht tollkühn, sondern wahnsinnig wäre. "292 Hobbes konstruiert den Staates somit als individuelle Informationsdeftzite ausbeutenden Selbstläufer. Bei perfekter Information würden die Untertanen sofort wissen, wann es in ihrem Vorteil liegt, die Koalition zu wechseln. Hier sind sie gezwungen, auch dann darin zu verharren, wenn das ihren Interessen systematisch widerspricht. Im Extrem ist die Situation denkbar, daß keiner die Ordnung aus eigenem Antrieb verteidigen würde, jeder es aber tut, weil er Angst hat, andernfalls von den anderen bestraft zu werden. Der Staat als Selbstläufer kann gerade dadurch den Interessen der einzelnen dienen, daß er sich von ihnen systematisch unabhängig macht. Hobbes kann diesen Schritt riskieren, weil die Gleichheit der einzelnen ein Revolutionspotential aus Notwehr bereithält, das den Souverän faktisch dazu zwingt, den Naturgesetzen entsprechend zu handeln. Der Souverän muß im eigenen Interesse die Untertanen korrekt behandeln, andernfalls würden immer mehr von ihnen in legitimer Selbstverteidigung ihm ihre Ermächtigung entziehen. In den Elements nennt Hobbes im wesentlichen drei Gründe, die im Staat zum Aufstand führen können, Unzufriedenheit, das Gefühl ungerecht behandelt zu werden und die Hoffnung durch den Aufstand gewinnen zu können. 293 Indem der Fürst effizient herrscht, nimmt er seinen Untertanen den ersten Grund, indem er sich zum Richter über alles macht, was zwischen ihnen Wert haben kann, nimmt er ihnen systematisch den zweiten und indem er sie dabei möglichst vollkommen isoliert, nimmt er ihnen mit der Aussicht auf den Erfolg einer Erhebung auch den dritten. Damit stärkt Hobbes die Stellung des Souveräns in einem ungleich stärkeren Maße als Bodin dies möglich war und braucht dazu keinerlei Appell an überindividuelle Werte. Mit seiner Idee existentieller Gleichheit erreicht er auf weniger anfechtbare Weise dasselbe Resultat wie Bodin: Unterwerfung wird zur erfolgversprechendsten Strategie der Individuen.
5.3. Zusammenfassung und Kritik Daß, wie Machiavelli eher beiläuftg erwähnt, Cesare Borgia der Romagna Frieden und Eintracht brachte,294 wird für Hobbes zur Essenz seiner Argumentation an die Untertanen. Anders als Bodin allerdings macht er den Nutzen für 292 H. Arendt: Elemente und Ursprunge totaler Herrschaft. - Frankfurt/M: 1955. - S. 220 f. 293 Th. Hobbes: Naturrecht ... - Teil 2. - Kap. VIII. - S. 192. 294 N. Machiavelli: "Der Fürst" in: ders. Sämtliche Werke. - Bd. 2. - Kap 17. - S. 171.
5.3. Zusammenfassung und Kritik
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diese nicht davon abhängig, daß sich der Fürst an das Recht hält, sondern wie Machiavelli geht er davon aus, daß der Fürst zur Errichtung und Erhaltung eines starken Staates auf die Unterstützung seiner Untertanen angewiesen ist und deshalb ihre Interessen nach Kräften fördern muß. Ineffiziente Fürsten werden auf Dauer vom "Markt für politische Manager" verschwinden, so daß das Bestehen von Herrschaft allein schon ein Hinweis auf ihre Qualität ist. Wenn ein Souverän sich nur von der Staatsraison leiten läßt und nicht in erster Linie von Rechtsüberlegungen, wie Bodin es gefordert hatte, dient er seinen Untertanen besser. Sich angesichts allgegenwärtiger Bedrohungen durch Machiavellisten mit Rechtsargumenten einen Teil der Handlungsoptionen zu nehmen, kann auf ihn selbst bezogen nur als "dummedie Gutmütigkeit" verstanden werden und für seine Untertanen bedeutet es allzuleicht, daß er sie dem Konkurrenzkampf skrupelloser Aspiranten auf den Thron überläßt. Wer die Herrschaft innehat, ist als übriggebliebener Wolf nach wie vor auf Machiavellis Tugenden der Löwen und der Füchse verwiesen, er ist nicht nur berechtigt, zu ihnen Zuflucht zu nehmen, er ist per Naturgesetz dazu verpflichtet. Die Untertanen dagegen haben zu gehorchen und so ihren Teil zum Bestand der großen Maschine beizutragen. Hobbes versucht den Individuen zu ihrem eigenen Glück zu mten, und empfiehlt ihnen dazu den potentiell totalen Staat als das geeignete Mitte1. 295 Der einzelne akzeptiert die Gehorsamspflicht als Preis seiner Sicherheit und damit als Voraussetzung eines Privatlebens in den Grenzen staatlicher Ordnung. Da der Mensch der Gleichheit wegen nicht in der Lage ist, sich über andere zum Herrn zu erheben, der Lüge wegen aber auch unfähig ist, sich mit ihm zu verständigen, muß er sich einem einzelnen unterordnen, um mit den übrigen als Gleicher unter Gleichen leben zu können. Bei seiner Argumentation verzichtet Hobbes konsequent auf den Appell an nichtegoistische Handlungsmotive und schüttet so die Differenz zwischen Gemeinnutz und Eigennutz zu, die machiavellistischen Unternehmern erst ihr Betätigungsfeld eröffnete. Mit gewohntem Scharfsinn faßt Hannah Arendt die Hobbessche Position treffend zusammen: 295 Vergl. auch: "Wohl war für "obbes der Staat eine Persönlichkeit. aber eine künstliche. ein homo arti[icia/is. ein Uhrwerk im Grunde. durch Menschenwitz hergestellt. um die Zwecke der Menschen. d. h. der Einzelmenschen zu fördern .... Freilich nicht in dem Sinne. daß nun der Staat gerade auf den einzelnen besondere Rücksicht zu nehmen habe. sondern für die einzelnen konnte nach seiner Meinung nur im Großbetriebe des Staates gesorgt werden - das größtmögliche Glück der größten Zahl. das Jeremias Bentham proklamierte. spukt hier schon vor. Und so paradox es auch klingen mag: dieser riesenstarke Leviathanstaat war auch innerlich verwandt mit jenem schwächlichen Staatsgebilde des späteren liberalen und philanthropischen Rationalismus. das man den Nachtwächterstaat zu nennen pflegt. Der Unterschied zwischen bei den liegt nur in den Mitteln. nicht im Zwecke." (F. Meinecke: Die Idee der Staats raison in der neueren Geschichte. - München: Oldenbourg. 1925. - S. 267); sowie: "Unter der Decke des schroffsten Absolutismus lebt hier bereits das Neue. s ... der westeuropäische bürgerliche Individualismus und Utilitarismus. der den Staat der bürgerlichen Klasse anzupassen suchte und ihn dabei je nachdem möglichst stark oder möglichst schwach sich wünschen konnte." (ebenda. - S. 117).
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Der Staat entsteht durch die Delegation von Macht und nicht von Rechten. Dadurch erwirbt er das Monopol des Tötenkönnens und gewährt als Entgelt eine bedingte Garantie gegen das Totgeschlagenwerden. Sicherheit wird durch das Gesetz hergestellt. das weder auf einem Naturgesetz noch auf dem Wort Gottes noch auf irgendwelchen Maßstäben von Recht und Unrecht beruht ... sondern als eine unmittelbare Emanation des staatlichen Machtmonopols gedacht ist.296
Auch der Souverän handelt im eigenen Interesse, wenn er den Frieden zwischen seinen Untertanen herstellt und ihnen die Rechtsräume garantiert, die sie untereinander vereinbaren. Wenn er dazu absolute Freiheit haben muß, so deshalb, weil jede Beschränkung seiner Macht im Notfall die Existenz des ganzen Gemeinwesens aufs Spiel setzt, zumal potentielle Kontrolleure weniger Interesse an der Stabilität einer gegebenen Ordnung haben als er selbst. Die Unterstützung, die seine Untertanen ihm zusagen, solange es nicht gegen ihre eigenen unmittelbaren Überlebensinteressen geht, kann er einsetzen, um all diejenigen in Furcht und Schrecken zu halten, die den Nutzen des Arrangements nicht einsehen wollen oder können. Wer nicht akzeptieren will, daß Gehorsam schon wegen der Stabilität des Gemeinwesens sinnvoll ist, wird sich zumindest von angedrohten Sanktionen abschrecken lassen, und wo selbst dies nicht greift, wird er der staatlichen Zwangsgewalt zum Opfer fallen. Haben die Menschen im Naturzustand gelernt, daß es in ihrem eigenen Interesse ist. nicht bis an die Grenzen ihrer Macht zu gehen und dafür die Sicherheit einer von den anderen garantierten Rechtsparzelle einzutauschen, so lernen sie nun, daß dies nur dann funktioniert, wenn sie sich gleichzeitig einem obersten Schiedsrichter unterwerfen. Die Unterordnung unter einen Souverän, also die Installation einer vertikalen Beziehung schafft erst den Orientierungspunkt. der es ihnen erlaubt, auf der horizontalen Ebene als Gleiche miteinander zu verkehren. Beide Formen menschlicher Selbstbeschränkung, das Halten von Verträgen und der Gehorsam gegen den Souverän, ersteres als Folge der Einsicht in die Notwendigkeit von Kooperation und letzteres als Folge der Erkenntnis, daß nur mit der Errichtung eines Herrschaftsverhältnisses diese Kooperation Wirklichkeit werden kann. folgen aus der gleichen individuellen Nutzenkalkulation. Nicht die Funktionärspyrnmide "Staat" ist die Maschine. sondern das Rechtssystem zusammen mit dem es ermöglichenden Sanktionsapparat "Staat". Aber nicht nur die Ausstattung des Souveräns mit allem, was zu effizienter Herrschaft notwendig ist, liegt im Interesse der Untertanen. Angesichts der Tatsache. daß bei Abwesenheit von Krieg und Gefahr die wesentlichen Erfordernisse der Herrschaft aus dem Blick geraten und so staatszersetzende Ideologien machiavellistischen Unternehmern Erfolgschancen suggerieren könnten, sollen die Untertanen im eigenen Interesse auch der ideologischen Vorherrschaft des Fürsten und damit ihrer eigenen Isolierung zustimmen. Nur wenn der Staat völlig von ihrem Willen unabhängig ist, nur wenn sich keiner 296 H. Arendt: Elemente und Ursprunge totalitärer Hernchaft. - FrankfurtlM: 1955. - S. 220.
5.3. Zusammenfassung und Kritik
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mehr getrauen darf, in seiner Irrationalität den Souverän zum Ziel von Angriffen zu machen, nur wenn der Staat also faktisch "über den Parteien steht", kann er den Freiraum schaffen, in dem die Menschen sich getrost um anderes als ihre Selbstverteidigung kümmern können. Die Menschen nehmen sich die Möglichkeit der Kritik am Staat, weil sie sich oder Ihresgleichen nicht zutrauen, diese Möglichkeit zum eigenen Vorteil zu nutzen. Sie verhalten sich wie Odysseus, der sich binden läßt und seine Freiheit aufgibt, weil er nicht sicher ist, ob er sie im Angesicht der Sirenen vernünftig nutzen wird. Wäre das Schiff untergegangen, hätte sich seine Selbstbindung bitter gerächt. Allerdings war ihm das Risiko gering im Vergleich zu dem, von den Sirenen ins Meer gelockt zu werden. Für Hobbes, den Zeitgenossen eines allgegenwärtigen Bürgerkriegs, übersteigen die Risiken des Krieges bei weitem das Risiko, einem amoklaufenden Fürsten zum Opfer zu fallen. Hobbes Argument richtet sich an die Bürger seiner Zeit, an diejenigen, die nicht hoffen können, mit den Rezepten aus Machiavellis Principe politische Macht zu erlangen, die allenfalls versuchen können, durch Arbeit und Handel zu Wohlstand und Unabhängigkeit zu kommen. Wenn er sogar diese Bevölkerungsschicht mit seiner Argumentation nicht überzeugen kann, mag das im wesentlichen darauf zurückzuführen sein, daß sich die Adressaten seiner Schriften nicht als Gleiche fühlen und so ihren individuellen Nutzen bei der Befolgung der Naturgesetze nicht einsehen können. Ein erfolgreicher Räuber beispielweise, der sich clever dem Zugriff der Staatsrnacht zu entziehen weiß, oder der Führer einer der Bürgerkriegsparteien, der dem Ausgang des Kampfes zuversichtlich entgegensieht, hat keinen Grund, sich der Hobbesschen Empfehlung anzuschließen. Und auch die Anhänger eines solchen Mächtigen mögen sich eher der ihr Kollektiv zusammenhaltenden Ideologie verschreiben, als sich opportunistisch für den augenblicklich Stärksten zu entscheiden, vor allem dann, wenn sie auch Hobbes radikale Diesseitigkeit ablehnen und so auf göttlichen Beistand für ihre Sache hoffen können. Nur wenn sich die Adressaten seiner Schriften tatsächlich als Gleiche wahrnehmen, als Menschen, deren Erfolge, so bedeutend sie auch sein mögen, immer durch andere bedroht sind, nur wenn sie in ihrer konkreten Situation nicht davon ausgehen würden, selbst ihre Zukunft zu meistem, könnten sie bereit sein, sich auszuliefern. Wer stärker ist als seine Mitmenschen oder sich doch so fühlt, mag sich manches herausnehmen, was sich mit den Naturgesetzen nicht vereinbaren läßt, ja die Kosten eines Raubzuges mögen, selbst die Verhinderung zukünftiger Kooperation in Kauf nehmend, immer noch geringer sein als die eines Vertrages. Ist dies aber der Fall, wird der skrupellose Starke einen Vorteil demgegenüber haben, der sich an die Naturgesetze hält. Wo die reale Welt nicht so ist, wie Hobbes sie beschreibt, scheint also die Differenz zwischen kollektivem und individuellem Wohl wieder auf, die den machiavellistischen Unternehmern ihr Betätigungsfeld eröffnete.
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Nur wenn Hobbes' Adressaten tatsächlich gleich sind und sich überdies als Gleiche wahrnehmen, als Menschen, die ohne die Hilfe Gottes ihre Geschäfte ordnen müssen und deren Erfolge, so bedeutend sie auch sein mögen, immer durch die anderen bedroht sind, nur wenn sie also davon ausgehen müssen, ihre Zukunft allein meistem zu müssen, es aber nicht können, werden sie bereit sein, sich einem anderen auszuliefern. Angesichts von Ungleichheit kann es auch für die Schwachen keinen Sinn machen, jemandem alle Macht übertragen zu wollen. Wo der Appell an die Rechtschaffenheit kontraproduktiv ist und die Welt sich so darstellt, daß individueller und kollektiver Nutzen auseinanderfallen, hat er von den Mächtigen nicht viel Gutes zu erwarten. Sehen sich die Individuen nicht als Gleiche an, so muß dies nicht auf maßloser Selbstüberschätzung beruhen. Es kann durchaus sein, daß der einzelne durch seine Macht die Wahrscheinlichkeit sehr gering halten kann, von jemandem attakiert zu werden, den er seinerseits quält. Es ist eben nicht so, daß unkooperative Handlungen potentiell in einen Zweikampf um Leben und Tod eskalieren. Die erste Reduktion, die Hobbes vornimmt, die der Gleichheit auf die Fähigkeit zum Töten, führt in die Irre. Vor allem wo jemand über das Vermögen anderer verfügt, über Dienerschaft beispielsweise, eine große Familie und Freunde, mag er es sich leisten können, Mitmenschen schlicht auszubeuten. Nur reale Gleichheit stellt die tatsächliche Ungewißheit über die eigenen Zukunftsaussichten her, die es geraten erscheinen läßt, mit jedem auf bestem Fuße stehen zu wollen. Wenn Hobbes Adressaten also seine Ratschläge wirklich im eigenen Interesse annehmen sollen, müßten sie erst in einen Zustand realer Vermögensgleichheit versetzt werden. Die Diskrepanz zwischen dem Gesellschaftsmodell und den wirklichen Zuständen hat seit Hobbes nichts von seiner Aktualität verloren. Aus einer hypothetischen Gleichheit den Nutzen eines Minimalstaates für den einzelnen ableiten zu wollen, ist zu einer gängigen Methode liberaler Staatsrechtfertigung geworden. Was bei real Gleichen auf Verständnis stoßen könnte, muß freilich Menschen, deren Ausstattung zutiefst ungleich ausfällt, als realitätsfemes Gedankenspiel erscheinen, das nichts mit ihrer konkreten Situation zu tun hat. Als relativ Starke mögen sie meinen, auch den Nachtwächterstaat nicht nötig zu haben bzw. mehr erzwingen zu können, während sie als Schwache zu der Überzeugung kommen mögen, daß "die da oben sowieso tun, was sie wollen". Dann als Theoretiker zu schließen, "die Massen" hätten z. B. die Vorteile des Liberalismus einfach nicht erkannt,297 verlegt das Problem einer unangemessenen Handlungsempfehlung in diejenigen, an die sie sich richtet. 297 Dieses Argwnent bringt ohnehin nicht weiter, da man vermuten kann, daß "die Massen" auch die marxistische Gesellschaftstheorie nicht "verstehen". Wenn sie ihr dennoch gefolgt sind, so weil sie auf eine Solidargemeinschaft hofften. Erst als sich diese Hoffnungen nicht erfüllten, verlor die Ideologie ihre Anziehungskraft.
5.3. Zusammenfassung und Kritik
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Aber selbst wenn Hobbes sich mit seinem Buch an eine egalitäre Leserschaft in einer durch Gleichheit gekennzeichneten Welt wenden könnte, würde er doch mit seinem Rezept genau die Gleichheit aufheben, die die Bedingung dafür ist, daß die Menschen seine Vorstellungen teilen. Wie in dem eingangs zitierten Wort von Montesquieu bereits festgehalten wird mit der Unterwerfung aller Bürger unter einen Souverän nicht nur die rechtliche, sondern vor allem die tatsächliche Gleichheit der Menschen aufgehoben. Mit der Isolierung der Untertanen gelingt es Hobbes zwar, den innenpolitischen Druck auf seinen Fürsten deutlich zu reduzieren, was diesen aber auch in die Lage versetzt, ungehindert seinen Konsumwünschen zu frönen, es sei denn, der äußere Konkurrenzdruck zwänge ihn dazu, sein Gemeinwesen in Ordnung zu halten. 298 Nur wenn Hobbes' Monarch von Todesangst umgetrieben wird. ist für ihn das Streben nach Macht allen anderen möglichen Interessen vorgeordnet. Mit dem Nachlassen seiner individuellen Todesfurcht können sich andere Interessen in den Vordergrund schieben. Hobbes Selbstläuferstaat gleicht damit der Festung Machiavellis, der geschrieben hatte, "... schlechte Regierung ... entsteht aus dem Glauben des Regenten, die Untertanen mit Gewalt im Gehorsam halten zu können ... "299 Die Isolation seiner Untertanen erlaubt es dem Fürsten, ihren Willen zu mißachten. Sie koppelt ihn so von der Basis seiner Macht ab. Die Naturgesetze, die nach Hobbes den Machtgebrauch bei Strafe des Verschwindens des Fürsten regeln sollten, sind zwar nach wie vor in Kraft, aber jetzt erlauben sie ungestraften Konsum. Der Staat als Selbstläufer kann eine Eigendynamik entwickeln, die niemand mehr kontrollieren oder aufhalten kann. Die Herrschaft kann sich im Extremfall sogar gegen die vitalen Interessen aller Untertanen richten,300 ohne umgestürzt zu werden. Der einzig mögliche Ausweg, der koordinierte Befreiungsschlag vieler, ist ohne Kristallisationspunkt genauso problematisch wie es die Gründungsversammlung der Gesellschaft im Naturzustand war. Derselbe Prozeß, der das staatliche Gewaltmonopol ermöglichte, schafft also die Bedingungen für eine zumindest mittelfristig funktionierende Tyrannei. 301 Hobbes tauscht so die Gefahr des Bürgerkriegs gegen die der Tyrannei, wie 298 Einer der wenigen Ökonomen, die auf den Zusammenhang von äußerer und innerer Bedrohung des Fürsten auf der einen und dem Regieren "zum Wohle des Volkes" auf der anderen Seite hingewiesen hat, ist der Wirtschaftshistoriker North (siehe D. C. North: Theorie des institutionellen Wandels. - Tübingen: 1988. - S. 27). 299 N. Machiavelli: "Betrachtungen ..... in ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 1. - Buch 11. - Kap. 24. - S. 232; vergL auch: "Der Fürst". - Kap. 20. 300 Eine Alternative, die sich Hobbes natürlich noch nicht stellte, die aber im Atomzeitalter nicht mehr abwegig ist. 301 Ein Beispiel für die Effizienz von Gewalt war Rumänien bis zum Sturz Ceaucescus. Gerade dieses Beispiel zeigt aber auch die Bedeutung der Kommunikation für das Aufbrechen der Isolierung.
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P J.A. Feuerbach, ein zu Unrecht vergessener früher Kritiker des Philosophen, zu Recht bemerkt. 302 Der Versuchung, die Belange der Bürger zu ignorieren, ist nicht nur der Souverän selbst ausgesetzt, sondern auch seine nähere Umgebung. Sie stellt sich nicht nur für einen Alleinherrscher, sondern auch für einen kollektiven Souverän. Schon bei der Diskussion der Vorzüge der Monarchie hatte Hobbes darauf hingewiesen, daß ein herrschendes Kollektiv schnell zu einem stillschweigenden Übereinkommen zwecks Ausbeutung der politisch und sozial Schwächeren kommen werde. 303 Es wird für den einzelnen Nutznießer der Macht allemal billiger sein, zum Nachteil des Gemeinwesens Schwächere auszubeuten, als sich mit Gleichstarken auf einen Konkurrenzkampf einzulassen,304 so daß sich ein Kartell bilden kann, das sich nur deshalb verständigt, weil es durch die Ausbeutung dritter besonders gut verdient und so mit beinahe derselben Effizienz zu einer Einigung getrieben wird, wie dies bei einer gemeinsamen Bedrohung der Fall wäre. Je tiefer jemand in der Hierarchie angesiedelt ist, desto weniger muß er fürchten, vom Verfall seines Gemeinwesens direkt betroffen zu sein, desto hemmungsloser kann er sich der Ausbeutung Schwächerer hingeben, muß aber freilich auch damit rechnen, von Mächtigeren aufs Kom genommen zu werden. Je höher andererseits jemand in der Hierarchie sich befindet, desto größer sind seine Möglichkeiten, desto mehr verliert er aber auch, wenn es tatsächlich zu einer Revolution kommen sollte. Irgendwann stellt die Forderung nach Gerechtigkeit für die Starken kein Hindernis mehr dar. Mit der Gleichheit verschwindet der einzige Anreiz zur Kooperation. Während diese Kritik im wesentlichen schon für Bodin galt, führt die Monopolisierung der Befugnis, das Wahre und Rechte für die Gemeinschaft zu definieren, zu noch folgenschwereren Konsequenzen. Wo sich die Interessen des Fürsten und seiner engsten Mitarbeiter mit denen des gesamten Gemeinwesens decken, wird die "Führung" versuchen, alle relevanten Informationen über den Zustand der Welt und die verschiedenen Handlungsoptionen des Staates so genau wie möglich zu ermitteln. Wenn er klug ist, läßt der Souverän hierzu auch offenen Streit zp, um sich die Position zu eigen zu machen, die sich in der Diskussion als die beste herausschält. Solange die Untertanen mit einem bestehenden Staatswesen zufrieden sind, kann er darauf hoffen, daß sie in einer solchen 302 P.J.A. Feuerbach: Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangs recht des Bürgers. - Dannstadt: 1976. - 320 S. 303 "Another inconvenience of monarchy, is the power of dispensing with the execution of justice; whereby the family and friends of the monarch, may with impunity, commit outrages upon the people, or oppress them with extortion. But in aristocracies, not only one, but many have power of taking men out of the hands of justice; ... And therefore they understand amongst themse1ves without farther speaking, as a tacit covenant: Hodie mihi, cras tibi ... " (Th. Hobbes: Naturrecht ... Teil 2. - Kap. VII. - S. 159). 304 VergI. auch: "Die Tugend macht die Länder ruhig, und auf die Ruhe folget dann der Müßiggang und der Müßiggang verwüstet Städte und Länder. Doch war ein Land eine Zeitlang in Unordnung versunken, so pflegt zurückzukehren die Tapferkeit, um nochmals dort zu wohnen." (N. Machiavelli: "Der goldene Esel" in: ders.: Sämtliche Werke. - Bd. 7. - 5. Gesang. - S. 214).
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Diskussion nicht soviel kaschierte Individualinteressen verfolgen, daß die Debatte zum Schaukampf verkommt. Beruht seine Herrschaft aber nahezu ausschließlich auf durch Isolation abgestützten Zwang, steht ihm diese Informationsquelle nicht mehr zur Verfügung. Wo die Untertanen sich nicht mehr offen zu einer Opposition zusammenschließen können, wo sie vielmehr auch im eigenen Interesse die offizielle Lehre nachbeten müssen, um nicht bei der Jagd nach Privilegien im Nachteil zu sein, kann der Souverän nicht wissen, wie sie in Wirklichkeit denken und wie zufrieden sie mit seiner Herrschaft sind. Der Verdacht, daß sich hinter jeder abweichenden Meinung, allen Loyalitätsbekundun gen zum Trotz, die verbotene Opposition verbirgt, muß sich ihm aufdrängen. Durch die Forderung absoluten Gehorsams, ja von Lippenbekenntnissen nimmt sich der Souverän die Möglichkeit, die Wirkung seines Handeins auf die Meinungen seiner Untertanen zu ermitteln. Schon die ständige Überprüfung des politischen Handeins an der empirischen Wirklichkeit wird zunehmend schwieriger. Bodins Fürst war zumindest genötigt, sich regelmäßig mit seinen Beratern abzusprechen, mit Experten, die ihm nicht nur machiavellistische Ratschläge zur Machtsteigerung gaben, sondern dank ihres umfangreichen Wissens über die Existenzbedingungen verschiedener Völker auch zur optimalen Adaption der Herrschaft an die empirisch vorgefundenen Verhältnisse beitragen konnten. Mit der völligen Streichung der Verpflichtung sich mit diesem Wissen auseinanderzusetzen und der Forderung, statt dessen einer abstrakt formulierten Staatsraison zu folgen, ist Hobbes System zwar in sich widerspruchsfreier, es ist aber auch weiter weg von der empirischen Wirklichkeit. Hatten die Sophisten also die soziale Dimension als unabhängig von den inhaltlichen Auseinandersetzungen der Menschen mit ihrer Umwelt in die Politischen Wissenschaften eingeführt und hatten Machiavelli und Bodin sie genutzt und ausgebaut, so wird sie von Hobbes verabsolutiert und damit ad absurdum geführt. So wie die am Rechten, Wahren und Guten Interessierten die realen Machtverhältnisse nicht unberücksichtigt lassen dürfen, wenn sie ihren Idealen in der Welt Geltung verschaffen wollen, so dürfen umgekehrt die egoistischen einzelnen in der Auseinandersetzung mit ihresgleichen das Rechte, Wahre und Gute nicht vollständig aus den Augen verlieren, wenn sie sich in ihrer Umwelt auf Dauer behaupten wollen. Zwar kann der Souverän im Prinzip immer noch wissen, ob seine Politik die "objektiven" Bedürfnisse seiner Untertanen befriedigt, solange er sich ehrliche Berater halten kann und durch seine Beamtenschaft mit verläßlichen Informationen versorgt wird, aber wenn man die Tendenz in Rechnung stellt, daß die ehrlichen Berater auf Dauer von skrupellosen Karrieristen abgelöst werden, steht schon diese Annahme auf schwankenden Füßen. Wenn alle sozialen Belange Konfliktpotentiale in sich tragen und so zumindest virtuell der Regelung
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durch den Diktator unterstellt werden müssen, ist es unmöglich, sich in einem öffentlichen Gespräch über die Lebensbedingungen der Menschen in der Welt zu unterhalten. Alles, was hier von der offiziellen Meinung abweicht, kann sich möglicherweise gegen die installierte Herrschaft richten und darf deshalb nicht zugelassen werden. Die anderen reagieren, sofern sie in der Gruppe handeln, nicht mehr direkt auf die Erfordernisse der Situation, sondern nur noch auf die Forderungen ihres Souveräns. Wo dieser die Situation falsch einschätzt, gibt es keine Korrekturmöglichkeit. Je mehr soziale Bereiche aber als potentiell konf1iktgeladen der staatlichen Autorität untergeordnet werden, desto weniger bleibt der Autonomie der einzelnen überlassen, desto inadäquater wird aber notwendigerweise der Umgang mit ihr. Zwar gleicht eine gemeinsame Ideologie die Zwecke und Ziele aller Untertanen einander an. Wenn dann der Souverän ein für einzelne unangenehmes Mittel einsetzt, geben diese ihr individuelles Wohl möglicherweise bereitwillig fürs "größere Ganze" auf. Wirklich unangenehm wird die Ideologie erst für diejenigen, die sie nicht teilen. Eine Ideologie, die die Herrschenden unabhängig macht von den subjektiven Wünsche der einzelnen, kann Frieden schaffen. Welcher Preis dafür zu entrichten ist, hat nicht zuletzt Stalin gezeigt. Sicherlich aber hält sie keine Notbremse gegen die Abweichung vom "für alle Guten" bereit. Die Regierenden verlieren die Informationsbasis, die sie benötigen, um ihre Entscheidungen treffen zu können. Wenn Ideologien in ideologiearmen Zeiten ersehnt werden, um kurzsichtigen Egoismus zu zähmen, so ersticken sie die Äußerung individueller Bedürfnisse, sobald sie zu stark werden. Dabei ist es nicht einmal notwendig, daß sich die einzelnen die Ideologie auch tatsächlich zu eigen machen. Es reicht, wenn sie den öffentlichen Meinungsaustausch beherrscht und gerade das ist es, was Hobbes erreichen will. Der subjektive Aspekt der Untertanentreue bleibt dem Souverän aber aus noch prinzipielleren Gründen verborgen. In die Gedankenwelt des einzelnen kann er schließlich nicht eindringen. Wo diese Gedanken nicht mehr ausgedrückt werden dürfen, droht der Souverän, "die Herzen" seiner Untertanen zu verlieren. Wo sie statt dessen, wie bei Bodin, in einem garantierten Rechtsraum ungestraft ihre religiöse Überzeugung äußern dürfen, kann sich der Souverän mit seiner Politik auf diese Äußerungen stützen und so die Chance erhöhen, seine Politik in Übereinstimmung mit den tiefsten Überzeugungen seiner Untertanen zu betreiben. Für Hobbes' Fürst ist dieser Weg verbaut. Wenn seine Untertanen die angelernten Thesen herunterleiern, kann er noch lange nicht wissen, ob sich in diesen Thesen Überzeugungen spiegeln, oder ob hinter der so aufgerichteten Fassade ganz andere Dinge vorbereitet werden. Wenn der Souverän deshalb seine Lehre immer genauer im Detail ausformulieren läßt, sie vollständig erstarren läßt, so auch deshalb, um abweichende Nuancen, die auf Tieferes schließen lassen, um so leichter entdecken zu können. In einer Gesell-
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schaft mit Meinungsfreiheit ist es für die Stabilität eines Staates kein Problem, wenn sich tausend Anarchisten treffen, um über den Umsturz des Systems zu beraten. Die öffentliche Meinung hat hier den Souverän hinreichend informiert (einmal abgesehen von Verzerrungen durch Medienmacht), daß er dieser Bewegung keine potentielle Breitenwirkung zuzubilligen braucht. In Hobbes' idealem Staat auf der anderen Seite, in dem alle Bürger nur Lippenbekenntnisse ablegen, wird latente Unzufriedenheit erst manifest, wenn äußere Ereignisse dies als gefahrlos möglich erscheinen lassen. Schon die objektiven Bedürfnisse werden dadurch weniger effizient von Staatsdienern erkannt als von den Betroffenen selbst,30S aber für die Meinungen der Menschen gilt entsprechendes. Bodin hatte noch den Katholizismus reformieren wollen, um auf den Autoritätsverlust Roms zu reagieren, was er nur konnte, weil er von diesem Autoritätsverlust wußte. In Hobbes ideologisch durchorganisierter Welt gibt es keinen "Markt für Meinungen" mehr, hier ist der Souverän weitgehend blind für den tatsächlichen Zustand seines Gemeinwesens. Was er an sozialer Kontrolle gewinnt, verliert er an Orientierung, so daß er zwar "kraftvoll" handeln kann, nicht aber angemessen. Genau das aber mag cleveren Unternehmern Unzufriedene zutreiben und so auf längere Sicht das Fundament der Herrschaft aushöhlen. Ein Funke genügt dann, um die irrationalen Leidenschaften gegen den Souverän zu entfachen und den Koloß, dessen Füße im Laufe der Zeit immer tönerner wurden, irgendwann stürzen zu lassen. Hobbes Ausweg aus dem Bürgerkrieg ist nicht nur unangemessen, es gibt zudem Alternativen zu ihm. Auch wenn man deshalb Macpherson zustimmen kann, daß schon die Weiterentwicklung der englischen Monarchie zeigt, daß "... Hobbes' Rezept für die Erhaltung einer stabilen Gesellschaft nicht notwendig war,"306 auch wenn man feststellen kann, daß Gewaltenteilung eben nicht notwendigerweise zu Bürgerkrieg führt, so bleibt doch die Perspektive, aus der Hobbes die soziale Welt betrachtet nach wie vor relevant. Immer noch sind wir unfähig, die aufrichtigen von vorgetäuschten Motiven unserer entfernteren Mitmenschen zu unterscheiden und immer noch müssen wir auf der Hut sein, daß wir nicht unter Vortäuschung von Ehrenhaftigkeit ausgenommen werden. Die Möglichkeit machiavellistischen Unternehmertums zwingt selbst in einer 305 Vergl. auch: "Eine Familie oder ein Königreich gut regieren heißt nicht, verschiedene Grade von Klugheit zu besitzen, sondern verschiedene Geschäfte ausüben ... Ein einfacher Bauer ist in seinen häuslichen Angelegenheiten klüger als ein Geheimrat in den Angelegenheiten eines anderen." (Ib. Hobbes: Leviatban. - Kap. VIII. - S. 55); siehe auch: " ... il Y aura toujours une extreme difference entre le gouvernement domestique, oii le pere peut tout voir par lui-meme, et le gouvernement civil. oille chef ne voit presque rien que par les yeux d'autrui." (1. J. Rousseau: "Discours surl'Economie Politique" in: ders.: Oeuvres Completes. - Paris: 1967-71. - Bd. 2. - S. 276. 306 C. B. Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. FrankfurtlM.: 1973. S.IIO.
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sozialistischen Gesellschaft dazu, die Differenz zwischen individuellem Nutzen und Gemeinwohl zu minimieren, was Hobbes Fragestellung aktueller macht denn je. 307 Für die Konsequenzen des Hobbesschen Ansatzes ist nämlich das Bild entscheidend, das man sich vom anderen macht. Wo mit der Auflösung traditioneller Kleingruppen und mit zunehmender Mobilität die Begegnung mit Fremden immer häufiger zum Normalfall wird, eine Begegnung also, in der man von den Präferenzen und Bedürfnissen des anderen nur wenig wissen kann, ist das Risiko betrogen zu werden eher größer als geringer geworden. Selbst wenn deshalb fast jedermann dem Gemeinwohl ergeben wäre, bedürfte es einer politischen Struktur, die so beschaffen ist, daß die, die entsprechende Tugenden nur vorspielen, keine Sonderprofite einstreichen können. Machiavellistische Unternehmer verhindern zu müssen, um nicht auf Dauer karrieristische Opportunisten in die Entscheidungspositionen zu hieven, wird um so notwendiger, desto größer der Kreis derer wird, mit denen man zu tun hat. Daß die drei vorgestellten Autoren zu einer Lösung der Frage Wichtiges beigesteuert haben, möchte ich im letzten Kapitel ausführlicher darlegen. Erwies sich die Hierarchisierung der Gesellschaft, wie sie Machiavelli im Principe, Bodin in der Republique und Hobbes im Leviathan formuliert, als Sackgasse, so ist doch die Art und Weise, in der die Autoren das Problem angehen, für eine mögliche Lösung aufschlußreich. Insbesondere der "andere" Machiavelli, der in der bisherigen Darstellung etwas zu kurz gekommene Autor der Discorsi, soll hierbei zu seinem Recht kommen.
307 Es ist deshalb Macpherson entschieden zu widersprechen, wenn dieser schreibt: "It is ironic that we are just beginning to appreciate Hobbes's science of politics when its applicability is becoming more and more limited." (C. B. Macpherson: "Introduction" in: Th. Hobbes: Leviathan. New York: 1978. - S. 12; siehe auch: S. 37 ff.
Andrea: Unglücklich das Land, das keine Helden hat! ... Galilei: Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. l (B. Brecht) ... wo das öffentliche und das private Interesse am meisten zusammenfallen, (wird) das öffentliche am meisten gefördert ... 2 (Th. Hobbes)
6. Was bleibt? Die Rezepte, mit denen Machiavelli, Bodin und Hobbes ihre Länder zu befrieden hoffen, haben - wie die Konflikte, auf die sie zugeschnitten waren ihre Aktualität nicht verloren. Trotz des Wiederauflebens verschiedenster Fundamentalismen, nicht nur in der islamischen Welt, stehen zwar religiöse Bürgerkriege in den westlichen Industriestaaten kaum noch auf der Tagesordnung, aber der Konsens über gemeinsame Werte ist im Laufe der Zeit eher prekärer geworden. Zwar ist es nach wie vor denkbar, Menschen auf ein gemeinsames Weltbild einzuschwören. Je größer eine Gruppe aber wird, desto eher wird ein entsprechendes Unternehmen scheitern müssen. In einer Gesellschaft mit geringer Mobilität und einer Vielzahl von Einwohnern mit gleichen Lebenserfahrungen und Werten, mag eine Ideologie noch konsensfähig sein. Je arbeitsteiliger die Gesellschaft aber wird, je weiter sie sich ausdifferenziert, desto unterschiedlicher werden die Erfahrungen, die der einzelne macht. Ein Beamter hat vermutlich tendenziell eine andere Einstellung zur Marktwirtschaft als ein Unternehmer oder ein temporärer Hilfsarbeiter. 3 Ist dies aber der Fall und muß jeder der Dialogpartner zudem damit rechnen, daß der andere in rein sophistischer Manier argumentiert, ist inhaltlicher Konsens auf freiwilliger Basis kaum noch herstellbar. Soll er erzwungen werden, stellen sich all jene Probleme ein, 1 B. Brecht: Leben des Galilei. - Frankfurt/M.: 1981. - S. 113 f. 2 T. Hobbes: Leviathan. - Kap. XIX S. 146 f. 3 Vergl hierzu auch: K. J. Arrow: "The Division of Labor in the Economy, the Polity, and Society" in: Gerald P. O'Driscoll: Adam Smith and Modem Politica1 Economy. - Ames: 1979. - S. 163 f. 21 Hegmann
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6. Was bleibt?
die schon Hobbes' Modell scheitern ließen: Nicht nur, daß einer obersten Autorität die letzte Entscheidung über "wahr" und "falsch" zugestanden werden muß, und es damit in deren Ermessen liegt, ob und inwieweit anstehende Probleme wirklich diskutiert werden können, es ist auch und vor allem ausgeschlossen, daß der Souverän angemessen über die Bedürfnisse und Interessen der Untertanen informiert ist. Wo abweichende Meinungen Ketzern oder Kranken zugeschrieben werden, ist mit einer offenen Diskussion auf Dauer nicht mehr zu rechnen und wo öffentliches Gehör nur derjenige erwarten kann, der sich durch Linientreue auszeichnet, überstehen nur die flexibelsten Opportunisten jede Änderung der "Linie". Soll der Wertkonsens einer Gesellschaft deshalb nicht zum Scheinkonsens verkommen, muß er ein Minimalkonsens sein. Er muß überdies dort ansetzen, wo die Menschen am ehesten gleich denken: bei dem Wunsch nach der Kontrolle über ihre zum Leben notwendigen Ressourcen. Da die Menge solcher Ressourcen nicht beliebig vermehrbar ist, muß es vor allem darauf ankommen, Zwang und Gewalt zwischen Menschen nach Möglichkeit zu reduzieren. Dies wäre das vorrangige soziale4 Ziel einer Gesellschaftsordnung, die im Interesse ihrer Bürger auch langfristig funktionieren SOll.5 Sicherlich läßt sich nicht endgültig entscheiden, ob eine entsprechende Politik wirklich im Interesse der Betroffenen liegt, sie ist aber, von der Wahrscheinlichkeit her, der aussichtsreichste Kandidat für ein Kollektivziel, das den Interessen der einzelnen entspricht. 6 Verzichtet man völlig auf die Definition eines solchen Ziels. ist angesichts weitgehender Ungewißheit in bezug auf die konkreten Bedürfnisse der Menschen ohnehin jeder Politik der Boden entzogen, wenn man nicht, wie immer auch geartete, "wahre" Bedürfnisse der Menschen definieren will. Solche werden, einmal abgesehen davon, daß sie nie allen Menschen gerecht werden, um so überzeugender sein, je näher sie der hier vorgeschlagenen Hilfskonstruktion kommen. 4 Im Gegensatz zu Zielen der medizinischen Versorgung etwa oder anderen, die in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur erreicht werden können, sind soziale Ziele solche, die Menschen mit Menschen konfrontieren. 5 Eine solcherart fOffilUlierte Negativform des Utilitarismus kommt sowohl ohne die Beantwortung der Frage aus, worin individueller "Nutzen" besteht, als auch ohne diejenige, ob er interpersonell vergleichbar ist. 6 K. R. Popper formuliert seine Methode des sozialtechnischen Stückwerks in bewußtem Gegensatz zu utopischen Reformplänen. Er schreibt: "... jede Generation ... (hat) ihre Rechte ... vielleicht nicht so sehr ein Recht auf Glück - denn es gibt keine institutionellen Millel, um einen Menschen glücklich zu machen, aber doch ein Recht, nicht unglücklich gemacht zu werden, soweit sich dies durchführen läßt. Den Leidenden steht ein Recht auf alle nur erdenkliche Hilfe zu. Dementsprechend wird sich der Anwalt der Ad-hoc-Technik nach den größten und dringendsten Übeln in der Gesellschaft umsehen, und er wird versuchen, sie zu beseitigen;" (K. R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. - Tübingen: 1980. - Bd. 1. - S. 215) Sieht man einmal von der Formulierung der Aufgabe in Rechtsbegriffen ab, entspricht diese Position der hier vorgestellten.
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6.1. Die Bedeutung der frühen Modernen heute Wenn für Machiavelli, Bodin und Hobbes institutionelle Arrangements eine friedensstiftende Wirkung haben können, so deshalb, weil sich Egoismus und Gemeinwohl nicht notwendigerweise widersprechen. Wenn jeder bei der Verwirklichung eigener Ziele die Lebensumstände seiner Mitmenschen sowohl zum positiven als auch zum negativen hin verändern kann, wwnn er also sowohl Gewinne als auch Verluste in Aussicht stellen kann, ist ein Arrangement erfolgversprechend, das über geeignete Prozeduren die möglichst vollständige Ausschaltung der Negativoption erreicht. Praktisch verwirklichen lassen sich entsprechende Institutionen auf Dauer nur, wenn sie für denjenigen, der sie respektiert, günstiger sind, als gezielte Regelübertretungen. In Zeiten, in denen der einzelne Verbündete braucht, ist dies weitgehend der Fall: Dann ist es für ihn nützlich, so viele Feinde wie möglich in Freunde zu verwandeln, was er kann, wenn er den anderen glaubhaft versprechen kann, daß er das eigene Vermögen einsetzt, ohne negative Folgen für seine Mitmenschen hervorzubringen. In Zeiten des Notstandes werden nur wenige die Gruppen gefährden wollen, denen sie angehören. Sie werden neue Mitglieder werben, solange der Nutzen dieser neuen Verbündeten die Kosten aufwiegt, die mit ihrem Eintritt verbunden sind.7 Ihr Ausschluß zwecks Ausbeutung, würde der Gruppe nur neue Feinde schaffen und wäre so zu teuer. Machiavelli, Bodin und Hobbes nehmen diese Idee der individuellen Nützlichkeit der Zusammenarbeit nacheinander auf und vervollkommnen sie. Machiavelli, dem der gewachsene Konsens seines Gemeinwesens zerbrochen ist, versucht das Verlorene durch einen erzwungenen Konsens zu ersetzen, einen Konsens den der Zwingherr im eigenen Interesse herbeiführt. Bodin, der angesichts sich stabilisierender Nationalstaaten feststellen muß, daß Konsens ohne die Zustimmung der Untertanen auf Dauer nicht zu garantieren ist, erweitert den erzwungenen Konsens durch einen, der auf garantierten Rechten zu individueller Bedürfnisbefriedigung basiert und Hobbes schließlich, der sieht, daß Bodins Entwurf in die richtige Richtung weist, sich aber nicht "an den Mann bringen läßt", modelliert die Welt in einer Weise, die es den einzelnen ratsam erscheinen läßt, sich zum eigenen Vorteil einem anderen bedingungslos zu unterwerfen. Jede dieser Methoden zur Herstellung gesellschaftlichen Konsenses im Interesse ihrer Adressaten ist umfassender als die vorhergehende, hebt sie in sich auf und steigert ihre Wirkungskraft. Der Staat, den die Autoren vorschlagen, ist ein Polizeistaat in einem sehr spezifischen Sinne, ein Staat nämlich, der
7 Zur Frage der optimalen Größe eines Kollektivs vergl. auch: J. M. Buchanan: "An Economic Theory ofClubs" S. 1-14 in: Economica. - 32 (1965).
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die Chancen für machiavellistisches Unternehmertum zu minimieren trachtet, um so dem Recht und der Moral gute Entwicldungsmöglichkeiten zu bieten. Bemerkenswert an den Konzepten der behandelten Autoren ist die Tatsache, daß sie darauf verzichten, eine "Klasse" von Bösen auszumachen, die der Staat zu bekämpfen hat. Ihrer Sichtweise nach, kann jeder "böse" werden, wenn die Versuchung zu groß wird. Läßt sich im Einzelfall auch nicht bestimmen, wann dies der Fall sein wird, so läßt sich doch die allgemeine Bereitschaft dazu senken. Man muß nur "den Preis" dafür anheben. Da aber nicht nur die Untertanen böse sein können, sondern auch diejenigen, die sie kontrollieren sollen, müssen entsprechende Maßnahmen auch in bezug auf die Regierenden entworfen werden. Für die drei Autoren ist dies ein eher untergeordnetes Problem. Ein Fürst, der das Wohl seiner Untertanen aus den Augen verliert, verschwindet in der politischen Welt, die sie kennen, ziemlich schnell von der Bildfläche. Analog zu der ökonomischen Vorstellung von der Konkurrenz der Marktteilnehmer wird er vom politischen Markt gefegt, wenn er sich nicht effizient genug verhält. Bedingt durch die politische Situation, in der sie schreiben, kommt es keinem der drei Autoren in den Sinn, daß sich das, was sie für den Ausnahmezustand entwerfen, nicht notwendigerweise auch im Normalfall bewähren muß. 6.1.1. Die Lehren von Machiavelli, Bodin und Hobbes
Nicht nur die Probleme, an denen die Autoren arbeiten, auch ihre Lösungsvorschläge sind noch erstaunlich aktuell. Jeder der Autoren gibt seinen Lesern eine grundlegende Empfehlung und keine dieser Empfehlungen hat bis heute etwas von ihrer Bedeutung verloren. Jede läßt sich zwar auch in den Modellen der jeweils anderen finden, wird aber jeweils von einem Autor besonders in den Vordergrund gerückt. So läßt sich in Machiavelli vor allem das Bestreben erkennen, die Menschen mit einem Minimum an Zwang dazu zu bewegen, verläßlich die Interessen des Handelnden zu fördern. Bodin will die Differenz zwischen den eigenen Forderungen an die anderen und deren materiellen Interessen so gering wie möglich halten, und Hobbes schließlich legt vor allem Wert darauf, mit der notwendigen Kommunikation auch die Wahrscheinlichkeit ungewollter Mißverständnisse zu minimieren. 6.1.1.1. Machiavelli: Sei klug und sorge dafür, daß auch die anderen es sind Machiavelli fordert seinen Adressaten auf, sich in der Politik auf "das Wesentliche" zu konzentrieren, auf das Anhäufen individuellen Vermögens, damit er seinen Mitmenschen gegenüber die eigenen Interessen durchsetzen kann. Dabei soll er sich zum einen selbst für diese Aufgabe präparieren, und zum an-
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deren soll er seine Mitmenschen so weit wie möglich einbeziehen. Er hat seine sozialen Beziehungen auf ihre Nützlichkeit in bezug auf die Vergrößerung des eigenen Vermögens hin zu untersuchen und auszubeuten, und, sofern er nicht über spezifische Informationen verfügt, dieses Verhalten auch bei seinen Mitmenschen zu erwarten. Einer der wichtigsten Ideen Machiavellis ist dabei die Konzentration des Akteurs auf die Ansammlung von Vermögen, auf die Investition erworbener Profite in den Erwerb neuen Vermögens und das Desinteresse für alles, was nicht diesem Ziel dient. Das bedeutet nicht, daß der Fürst als Mensch nicht auch andere Interessen haben darf, es heißt nur, daß ihn in seiner Eigenschaft als Unternehmer nichts anderes interessieren darf, und daß, sofern dies nicht mehr der Fall ist, er aufhört, unternehmerisch zu denken und mit den negativen Folgen rechnen muß. Die Politik des solcherart vorbereiteten Fürsten muß darauf gerichtet sein, immer dann mit möglichst vielen Menschen einvernehmlich zu leben, wenn dies ohne das Risiko möglich ist, selbst ausgebeutet zu werden. Kümmert er sich nicht um die Interessen und Ziele seiner Mitmenschen, so verzichtet er möglicherweise auf ihre Unterstützung und schwächt so die eigene Position. Sieht man andererseits allzusehr auf den Nutzen der anderen oder die Erfordernisse der eigenen Weltanschauung, zahlt man aus individueller Perspektive schnell einen allzu hohen Preis und ist davon bedroht, auf Dauer zu verschwinden. Nur wo er sich bemüht, mit möglichst vielen anderen InteressenparaIIelen zu entwickeln, um so denjenigen entgegenzutreten, die diametral entgegengesetzte Interessen haben, kann er auf Dauer das Lager seiner Freunde stärken und das seiner Feinde schwächen. Machiavellis Position läßt sich in etwa wie folgt zusammenfassen: Um Mitmenschen zu einem bestimmten Handeln zu bewegen, ist in einer gewalttätigen Welt im Allgemeinen das Androhen negativer Sanktionen effizienter als das Angebot positiver Gegenleistungen. Da aber jede Drohung den Bedrohten feindlich stimmt, ist es immer dort zweckmäßig, die negativen Sanktionen durch positive zu ersetzen, wo dies nicht zu profitablem Verrat einlädt. 6.1.1.2. Bodin: Sei gerecht und sorge dafür, daß die anderen es sein können Bodin nimmt Machiavellis Hang zu diesseitiger Nutzenkalkulation auf, nicht aus philosophischer Perspektive zwar, wohl aber in seiner Eigenschaft als praktischer Ratgeber. Wie der florentinische Berufpolitiker konzentriert sich auch der französische Jurist auf die materielle Basis seiner Mitmenschen, um sie in seinem Sinne zu beeinflussen. Dies hat aber weder für ihn noch für Machiavelli (und weniger noch für Hobbes) mit einem Respekt vor der "Gewissensfreiheit" des einzelnen zu tun oder mit einem bewußten Abstandnehmen von ideologischer Manipulation. Die diesseitige Politikkonzeption entspringt nur der zeitbedingten Einsicht, daß ideologische Manipulation auch für
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politische Zwecke ihren Sinn nicht erfüllt, von Zwecken der Förderung des Seelenheils ganz zu schweigen. Allerdings sieht Bodin vielleicht deutlicher als Machiavelli, daß niemand seine Mitmenschen nur durch Zwang und Betrug lange im Zaum halten wird, zumindest dann nicht, wenn es sich um viele handelt Er empfiehlt seinem Fürsten deshalb, sich an das Recht zu halten und den Untertanen auf diese Weise die Respektierung gewisser Basisrechte auch Dritten gegenüber zu garantieren. Dies ennöglicht es ihnen dann ihrerseits, ihm im eigenen Interesse den notwendigen Gehorsam entgegenzubringen. Bodin fordert von seinem Fürsten, sich tyrannischer Mittel zu enthalten. Zur Begründung verweist er weniger auf die Warnung vor der direkten Strafe Gottes, als mehr darauf, daß sich der Ungerechte durch einen Verstoß gegen das Naturrecht seIber schade. Eine solche Begründungsstrategie stellt auf die vorhersehbaren diesseitigen Konsequenzen des eigenen HandeIns ab, statt mit Fegefeuer oder Höllenqualen zu drohen. Dabei entfaltet sie ihre Wirksamkeit nicht deshalb, weil der diesseitige Nutzen wertmäßig höher einzuschätzen wäre als das Seelenhei!, sondern weil er mit größerer Wahrscheinlichkeit bei den realen Menschen "ankommt". Diese Hierarchisierung dessen, was in der Politik als wichtig zu gelten hat, ist nach wie vor aktuell. Es mag sein, daß es wichtigeres gibt, als die Steigerung des materiellen Wohlstandes. Schwierig aber dürfte es sein, etwas zu finden, das in einer immer heterogener werdenden Bevölkerung von allen gleichennaßen geschätzt wird. Materieller Wohlstand hat die größte Chance, von allen als etwas positives aufgefaßt zu werden, weil er zur Befriedigung der verschiedensten Bedürfnisse verwandt werden kann. Mit dieser Einstellung soll sich Bodins Adressat seinen Mitmenschen zuwenden. Er soll ihnen nicht predigen, sondern soll, wie Machiavellis Fürst, ihre Umwelt in einer Weise beeinflussen, daß es ihnen geraten erscheint, ihrerseits das Recht zu achten. Dabei legt Bodin - anders als Machiavelli - den Schwerpunkt auf positive Handlungsanreize, auf individuelle, rechtlich verbriefte Sicherheit als Basis der Rechtschaffenheit. Das Naturrecht, dessen eigenwillige Interpretation sein hauptsächliches Instrument ist, stellt die gemeinsame Plattfonn eines Konsenses aller an der Gesellschaft Beteiligten dar. Sie kann durch die Arbeit humanistisch gebildeter Gelehrter jeweils veränderten Rahmenbedingungen angepaßt werden und zielt darauf, durch den Staat die Bedingungen für das friedliche Zusammenleben der Menschen zu sichern. Wesentlich ist für Bodin die Einsicht, daß der schönste Rechtskanon nichts nützt, wenn er nicht durchgesetzt wird, um so das rechtlich Gebotene gleichzeitig zum individuell nützlichen zu machen. Wo dies über Sanktionen nicht erreichbar ist, muß das Recht eben der Realität angepaßt werden. Andernfalls geraten die Rechtschaffenen den Rechtsbrechern gegenüber ins Hintertreffen. Skrupellose Unternehmer fahren Profite ein, die gesetzestreuen Bürgern vorenthalten bleiben und stärken so ihre Position in Gesellschaft und Staat, vorausgesetzt natürlich, sie reinvestieren ihre Gewinne.
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6.1.1.3. Hobbes: Sei bescheiden und sorge dafür, daß auch die anderen es sein müssen Hobbes nimmt Bodins Vorschläge zum Teil ohne große Veränderungen in sein eigenes System auf. Nur erkennt er, daß jede Lücke zwischen dem Eigennutz und den Anforderungen des Rechts machiavellistische Unternehmer zur Ausbeutung einlädt. Nur die vollständige IdentifIkation von Eigennutz und Gesetzestreue kann dem Gesetz langfristig die Durchsetzung sichern. Ohne das Projekt der Schaffung einer Basis für Konsens aufzugeben, erreicht Hobbes diese Identifikation, indem er kontrafaktisch von Vennögensgleichheit ausgeht. Er nimmt an, daß niemand langfristig in der Lage ist, sich auf Kosten seiner Mitmenschen Vorteile zu verschaffen. Entsprechende Versuche führen unmittelbar zu eskalierenden Konflikten und irgendwann in den Naturzustand. Die kontrafaktische Annahme von Vennögensgleichheit hat eine Tradition begründet. Vor allem rechtsliberale Ordnungsmodelle verlieren einen Großteil ihrer Überzeugungskraft, wenn man sie systematisch aus der Perspektive realer Vennögensungleichheit betrachtet. Davon wird im Verlaufe dieses Kapitels ausführlich die Rede sein. Hobbes fordert von seinen Adressaten die Einsicht, daß weder Cleverness im Umgang mit anderen, noch die eigene Rechtschaffenheit ihre individuelle Sicherheit dauerhaft garantieren kann. Im Bewußtsein, daß ein Fürst seine eigenen Interessen nicht besser fördern kann, als durch die Förderung des Wohls seiner Untertanen, ist es für jeden, der nicht zufälligerweise selber Fürst ist, erfolgversprechender, sich auf diese Interessenparallele zu verlassen, und nicht jeden Einzelfall selbst zu entscheiden. Wer sich andererseits plötzlich in der Rolle des Fürsten wiederfindet, hat allen Grund, das reibungslose Funktionieren seines Gemeinwesens stets im Auge zu behalten. Hobbes Souverän ist deshalb, wie seine Untertanen daran interessiert, daß alle Bürger in gesicherten Rechtsräumen zu ihrer größtmöglichen Zufriedenheit an der Realisierung ihrer individuellen Ziele arbeiten können. Je größer diese Zufriedenheit ist, desto eher werden die Bürger ihr Gemeinwesen schützen, wenn es durch innere oder äußere Feinde in Gefahr gerät. Damit diese Interessenidentität jedoch vorliegt, muß der Souverän stets unter Druck stehen. Er muß wissen, daß es ein gefährlicher Luxus wäre, sich nicht mit aller Kraft um das Wohl und damit um die Zufriedenheit seiner Untertanen zu kümmern. Sieht man von äußeren Bedrohungen ab, kann nur die Fähigkeit der Untertanen zum Aufstand einen solchen Druck schaffen. Er ist nur solange real, wie tatsächlich von Unzufriedenen eine Gefahr für die Herrschaft droht. In dem Augenblick, indem die Untertanen faktisch nicht mehr in der Lage sind, ihrem Unmut auf staatsgefahrdende Weise Ausdruck zu verleihen, kann es sich der Souverän leisten, ihre Unzufriedenheit zu ignorieren. Es stellt sich die Frage, wie durch institutionelle Arrangements
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auch im Souverän die nötige Bescheidenheit wachgehalten werden kann, ohne andererseits das Risiko des Bürgerkrieges heraufzubeschwören. 6.1.2. Die aktuelle Bedeutung der drei Autoren
Nimmt man die Lehren der drei Autoren el)lst, muß man eine Gesellschaftsordnung anstreben, die sich zum einen möglichst optimal den unbekannten Präferenzen der Mitmenschen und damit ihren Motiven anpaßt, und die zum anderen sicherstellt, daß keiner Übergriffe zu fürchten hat und deshalb präventiv Machtrnittel gegen seine Mitmenschen aufhäufen muß. Der ersten Forderung entspricht eine Ordnung, die den Menschen so wenig wie möglich vorschreibt, wie sie ihr Leben zu gestalten haben. Die zweite wird durch einen Mechanismus eingelöst, der gemeinschaftfördemdes Verhalten auch individuell zur nützlichsten Strategie werden läßt. Wie dies zu erreichen ist, war das Problem der behandelten Autoren. Machiavelli, Bodin und Robbes gehen in ihrer Forschung wie modeme Ökonomen vor, die quantitative Lösungen für ein Problem erarbeiten. Sie bemühen sich aUe drei, Stabilität zu realisieren, indem sie jeweils einen Faktor der Instabilität minimieren, sich bemühen, ihren Gesellschaftsentwurf ganz um dieses Minimierungsproblem herum zu planen. Jeder der Autoren hat zwar auch die anderen Faktoren im Blick, legt aber das Schwergewicht auf "sein" Problem. Versucht Machiavelli, mit so wenig unmittelbarem Zwang wie möglich auszukommen, ohne seine Adressaten ausbeutbar zu machen, so bemüht sich Bodin, den Bedarf an Moral, an Loyalität gegenüber Gruppen, Individuen oder Ideen so gering wie möglich zu halten, wissend, daß ein solches Gefühl im Konflikt mit elementareren Interessen allzuoft den Kürzeren zieht. Robbes schließlich ist sich der Tatsache bewußt, daß man lügen kann, um seine Ziele zu realisieren, weshalb er versucht, die zum Funktionieren des Gemeinwesens notwendige Verständigung nach Möglichkeit zu reduzieren. 6.1.2.1. Die Minimierung des Bedarfs an Zwang Die Gefahr von Betrug. Zwang und Gewalt untergräbt das Vertrauen der Menschen zueinander. Deshalb gilt sowohl für den Souverän als auch für den einzelnen Bürger, daß es für den Zusammenhalt des eigenen Kollektivs wichtig ist, die Versuche, auf Kosten von Mitmenschen Profite zu realisieren, so weit wie möglich auszuschalten. 8 Wichtigstes Mittel dazu ist das Verbot möglichst 8 Damit wäre die Forderung der Zwangsminimierung das negative, aus pragmatischen Überle· gungen geborene Pendant rur Forderung nach dem größten Glück der größten Zahl. Zum Verhält-
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vieler solcher Optionen und die Schaffung eines hinreichenden Gewaltmonopols, um dies Verbot auch durchzusetzen. Konzentriert man alle Möglichkeiten der Gewaltanwendung auf einen Punkt, können sich nicht mehrere Gewaltpotentiale in Konflikte verwickeln, die, mit Rüstungswettläufen im Vorfeld und Eskalationseffekten nach Ausbruch des Streits, Ressourcen auch dann binden, wenn die Beteiligten eigentlich kein Interesse am Konflikt haben. Ist das Kollektiv klein oder ist es von außen bedroht, mag es auch ohne institutionelles Gerüst in der Lage sein, interne Konflikte zu entscheiden und nach innen wie außen einheitlich zu agieren. Wird es größer, ist dazu ein ständig zunehmender Aufwand an Koordination erforderlich. Irgendwann werden langfristig funktionsfähige Mechanismen zur Beilegung von Konflikten notwendig und Spezialisten für die Wahrung der Gruppenbelange gebraucht. 9 Ein Spezialist oder eine Gruppe von Spezialisten wird dann beauftragt, eventuell anfallende Konflikte beizulegen und so den Konsens in der Gruppe zu sichern. Wichtigste Eigenschaft derartiger Spezialisten ist die Fähigkeit, anders als die Konfliktparteien unvoreingenommen entscheiden zu können, und so auch denjenigen die Anerkennung ihrer Autorität zu ermöglichen, die im Konflikt unterliegen. Freilich wird der Inhaber des GewaItmonopols selbst allzuleicht in Versuchung geführt, sein Vermögen anderen gegenüber zu mißbrauchen und so die Autorität, die sein Schiedsspruch genießt, aufs Spiel zu setzen. Zwar wird ihn dieser drohende Autoritätsverlust möglicherweise im eigenen Interesse von Parteilichkeit abhalten; wo er sich aber einigen "Konsum" leisten kann, mag unter seiner Ägide der Konsens verfallen. Institutionelle Sicherungen gegen diese Gefahr zu entwickeln, ist eine der Aufgaben, die der Designer einer funktionsfähigen Institutionenordnung zu lösen hat. 6.1.2.2. Die Minimierung des Bedarfs an Moral Da man nie Genaues über die konkreten Ziele und Bedürfnisse einer großen Zahl seiner Mitmenschen wissen kann, kann man auch nicht wissen, in welchem Maße die anderen moralischen Appellen folgen. Andererseits ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß sie an Vermögen interessiert sind und an den Ressourcen, die es ihnen ermöglichen, solches Vermögen zu erwerben. Bevölnis von ökonomischen Vertragstheorien und Utilitarismus vergl. auch: L Yeager: "Rights, Contracts and Utility in Policy Espousal" in: Cato-Joumal. - 5 (Spring/Summer 1985). - S. 259-294. 9 Schon innerhalb eines Plenums läßt sich, meist unausgesprochen, eine derartige Delegation beobachten. Wenn Teilnehmer es zulassen, daß die Debatte nur von wenigen Rednern bestritten wird, zeigen sie, daß ihnen die Beteiligung zu kostspielig ist. Auf einem Kongreß der "Vereinigten Deutschen Studentenschaften" vor einigen Jahren ließ sich so ein bemerkenswertes Phänomen beobachten. Ausgerechnet einzelne Vertreter der anarchistisch orientierten Basisgruppen hatten zum Debattenende buchstäblich gleich mehrere Hochschulen in der Hand. Um den orthodoxen Marxisten Paroli zu bieten, die, der Parteidisziplin folgend, nach wie vor einen geschlossenen Block abgaben, hatten sie die Abstimmungskarten schon abgereister Genossen übernommen.
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kert man deshalb, in Ennangelung genauerer Infonnationen, seine soziale Welt mit Ressourcenmaximierern und bemüht sich, seine eigenen Interessen mit den angenommenen Interessen dieser Modellmenschen in Einklang zu bringen, so kann man trotz des Infonnationsdefizites halbswegs angemessen mit ihnen umgehen. Je geringer die Distanz zwischen den materiellen Interessen der Menschen und ihren Pflichten wird, desto stabiler wird die Ordnung. Wer deshalb an der Stabilität einer Institutionenordnung interessiert ist, muß dafür sorgen, daß diese Ordnung den materiellen Interessen der Menschen möglichst weitgehend entspricht. Außerdem darf er Gesetze nur dann erlassen, wenn er im Falle ihrer Nichtbeachtung auch wirksam sanktionieren kann. Je weniger Selbstverleugnung es den einzelnen kostet, zum Gemeinwohl beizutragen, desto leichter lassen sich neue, bessere Fonnen menschlichen Zusammenlebens entwickeln. Wie eine Brücke auf höchste Belastungen ausgelegt ist, auf Belastungen, die in der Regel selten oder nie auftreten, sollte eine Gesellschaftsordnung möglichst viele Egoisten in allen Positionen aushalten können. lO Leistet sie dies, läßt sie "guten" Menschen erst recht Raum zur Entfaltung. I I Allerdings darf man von seinen Mitmenschen nur das Zweitschlimmste annehmen, wenn man Erfolg haben will. Dem Schlimmsten, daß sie einander bösartig gegenüberträten, oder völlig irrational handelten, ließe sich ohnehin mit keiner Institutionenordnung begegnen. Setzt man dagegen voraus, daß alle ihr Vennögen im Umgang mit der Welt maximieren wollen, und richtet dann die Welt so ein, daß sie dies nur können, wenn sie damit auch das Wohl ihrer Mitmenschen fördern, so wird die entworfene Ordnung selbststabilisierend. Dann ist auch das unerwartete Verhalten "irrationaler" einzelner zu verkraften. Wo diese anders handeln, als es ihrer Machtmaximierung dienlich ist, geben sie Macht auf, konsumieren sie, was sie auf Dauer weniger gefährlich macht. Was für das Verhalten innerhalb der Institutionenordnung gilt, gilt auch für das Verhalten derer, die sie durchsetzen und verteidigen sollen. Ersetzt man das System aus Checks and Balances mehr und mehr durch moralische Appelle, werden die solcherart mit unkontrolliertem Vennögen ausgestatteten "Verfassungshüter" zunehmend ihrerseits zum Mißbrauch verführt. 12 Eine 10 Mit Bezug auf das beriihmte Beispiel von A. Smith schreiben Brennan und Buchanan: "... we may acknowledge that our butcher and our baker are occasionally, and perhaps frequently, benevolent, but surely we should a1l feel more secure if the institutional structure is so organized as to make their self-interest coincident with our own rather than the opposite."G. Brennan & J. M. Buchanan: The Powerto Tax. - Cambridge: 1980. - S. 16. 11 Das Opfer, das die Guten über Einschränkungen ihrer Handlungsfreiheit hinnehmen müssen, wenn sie beispielsweise daran gehindert werden, ihr Taschenmesser mit zu einem Fußballspiel zu nehmen, wird durch den Gewinn an Sicherheit ausgeglichen, der sich einstellt, wenn auch jene (faktisch, nicht nur rechtlich) dieser Beschränkung unterliegen, die bereit wären, ihre Freiheit zu mißbrauchen. 12 Aus dieser Sicht ist jemand wie Erich Honecker eher eine tragische Figur als ein klassischer Bösewicht. Ausgestattet mit ruviel Macht, als daß die penönliche Charaktentärke rum Korrektiv ausgereicht hätte, ist er der Tücke von Institutionen erlegen, für deren Schaffung er freilich rum
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zweite wesentliche Aufgabe des Institutionendesigners ist damit umrissen. Ganz dem eingangs zitierten Satz von Brecht gemäß, hat er dafür zu sorgen, daß eine Gesellschaft möglichst wenig "Helden nötig hat." Eigner von privatem wie von institutionell zugewiesenem Vermögen sind in eine Situation zu versetzen, in der es für sie möglichst nützlich ist, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln und in der ihnen unkooperatives Verhalten möglichst wenig einbringt. 6.1.2.3. Die Minimierung des Bedarfs an Verständigung Der dritte Faktor, den die Konstrukteure einer sozialen Ordnung großer Gruppen minimieren müssen, ist derjenige der notwendigen Kommunikation. Zu diesem Zwecke hält es schon Bodin für sinnvoll, den Individuen formale Rechtsräume zu gewähren, innerhalb derer sie frei sind, zu tun, was ihnen beliebt. In der Annahme, daß die Menschen in der Regel selbst am besten wissen, was gut für sie ist und daß sie den Staat am ehesten stützen werden, wenn er sie nicht bei der Verfolgung ihrer Ziele behindert, entlastet er den Fürsten davon. die Belange seiner Untertanen im Detail regeln zu müssen. Hobbes führt die Formalisierung des Rechts konsequent durch, indem er Gerechtigkeit zwischen Menschen auf das Einhalten eingegangener Verträge reduziert. Ein Souverän, der das Vertragsrecht als Minimalrecht zu garantieren verspricht, geht so das geringste Risiko ein, mit "seiner" Rechtsordnung an den Bedürfnissen seiner Untertanen vorbeizuplanen. Entscheiden diese sich beispielsweise auf freiwilliger Grundlage für die Einführung der Gütergemeinschaft, so wäre dies mit seiner Garantie ebenso vereinbar, wie die strikteste privatwirtschaftliche Tauschgesellschaft. Was für den Souverän gilt, gilt in demselben Maße für den einfachen Bürger, der die Präferenzen seiner Mitbürger nicht kennt und sie doch in seine Überlegungen einbeziehen muß, wenn er mit dem Risiko ihrer Unzufriedenheit, ihre potentielle Gefährlichkeit minimieren will. Die Idee privater Rechtsräume reagiert aber nicht nur auf die Unfähigkeit des einzelnen, verläßlich die Präferenzen seiner Mitmenschen kennen zu können, sie macht die gesamte Gesellschaftsorganisation flexibler. Schon wenn eine Ferienreise oder eine Freizeitaktivität vor dem Kollektiv gerechtfertigt werden soll, sind möglicherweise große Anstrengungen erforderlich. 13 Man mißversteht sich, bewertet mögliTeil mitverantwortlich war. Es ist unwahrscheinlich, daß er W1d seine Genossen ihre Laufbahn als korrupte Karrieristen begonnen haben, aber die Institutionen, die sie schufen, waren nicht für reelle Menschen gedacht, sondern für diejenigen Helden, aus denen sich, der kommWlistischen Ideologie zufolge, die "Vorhut der AJbeiterkiasse" zusammensetzte. Der Ausschluß Honeckers aus der kommWlistischen Partei ist damit die Strafe dafür, daß er eine Position nicht ausfüllen konnte, die für Parteiheroen geschneidert war. 13 A. A. Schmid: Property, Power and Public OlOice. - New Yor\c: 1987. - S. 9.
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cherweise die Alternativen unterschiedlich oder will dem anderen nur einfach Schwierigkeiten machen. Bei der Planung eines größeren Vorhabens mag das gemeinsame Projekt an solchen Kosten der Abstimmung scheitern. Bestimmt dagegen der einzelne frei über die Nutzung eigener Ressourcen, kann er heute beschließen, morgen mit seinem Unternehmen zu beginnen. Fühlt sich dann jemand in seinem Rechtsraum beeinträchtigt, ist nur ein Schiedsrichter erforderlich und zwar einer, der seine Entscheidung im Notfall auch durchsetzen kann.
6.2. Ansätze zur Lösung der dreifachen Minimierungsaufgabe Die von den frühen Modemen aufgeworfenen Fragen werfen ein neues Licht auf die Diskussion des legitimierbaren Ausmaßes von Staatstätigkeit. Freilich nicht aus moralphilosophischer Sicht, sondern aus Zweckmäßigkeitsüberlegungen heraus. Erstaunlicherweise ist es Machiavelli und nicht seine Nachfolger, der mit seinen Vorschlägen zur Organisierung einer Republik ein allzulange vernachlässigtes wichtiges Problem ausführlich thematisiert. Skrupellose Unternehmer lassen sich nicht erfolgversprechend an ihrer verderblichen Tätigkeit hindern, indem man sie ihnen schlicht verbietet. Angesichts ihrer Kreativität, Regeln zu umgehen bzw. sie zu brechen, wenn Entdeckung nicht zu fürchten ist, bedarf ein solches Verbot der Ergänzung durch den systematischen Ausgleich von Vermögensübergewichten. Nur beides zusammen verspricht eine auf Dauer halbwegs stabile "Verfassung der Freiheit". 6.2.1. Das libertäre Reich der Freiheit als Utopie
Das Maximum an allgemeiner Zufriedenheit, das Menschen erreichen können, die nichts über die Ziele und Interessen ihrer Mitmenschen wissen können, ist ein Zustand, in dem jeder tun kann was er will, ohne Übergriffe seiner Mitmenschen befürchten zu müssen. Ein Zustand also, in dem jeder, wenn er andere in ihrem Verhalten beeinflussen will, auf die Androhung oder Verursachung von Kosten verzichten 14 und statt dessen etwas im Austausch anbieten muß. Im vorliegenden Zusammenhang geht es nicht um die Frage, ob ein solches Arrangement gerecht wäre. Die Beantwortung dieser Frage würde angesichts der Schwierigkeiten, mit Gerechtigkeitsüberzeugungen Konsens zu erzielen, ohnehin nicht viel zur Lösung des praktischen Problems beitragen. At14 Damit ist nicht gemeint, daß niemand durch das Handeln eines anderen einen Schaden erlei· det. Wer heiratet, so weiß inzwischen selbst die ökonomische Folklore, nimmt einem Nebenbuhler die Chance, selber den Wunschpartner in die Arme zu schließen. Niemand wird daraufhin aber fordern wollen, daß die Heirat aus Gerechtigkeitserwägungen unterbleibt.
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traktiv ist es aber schon aus Effizienzüberlegungen: Eine Gesellschaftsordnung, in der jeder im Umgang mit seinen Mitmenschen nicht mehr bekommt, als er hineinsteckt (von reinen Kooperationsgewinnen einmal abgesehen), stellt sicher, daß niemand auf Kosten seiner Mitmenschen lebt und dennoch jeder frei darüber entscheiden kann, ob er mit dem Einkommen eines Diogenes in der Tonne zufrieden ist, oder ob er bereit ist, mehr Arbeit in den Erwerb von mehr Einkommen zu stecken. Daß dieses Einkommen in materielle Begriffe gefaßt wird, ist wiederum eine aus Informationsdefiziten herrührende Beschränkung auf das, was man relativ sicher über die Präferenzen seiner Mitmenschen wissen kann. Jenseits der materiellen Sphäre mag es Ausbeutung weiterhin geben, aber es dürfte Außenstehenden schwerfallen, diese vermittels allgemeiner Regelungen in den Griff zu bekommen. Spielen zwischen Menschen nur positive Handlungsanreize eine Rolle, so ist prinzipiell jede Transaktion zum Vorteil aller Beteiligten, andernfalls unterbliebe sie. M. Friedman, der heute sicherlich einflußreichste Verteidiger einer "Freien Marktwirtschaft", formuliert die Rechtfertigung des Tausches als der grundlegenden Form legitimen Umgangs miteinander folgendermaßen: "The possibility of co-ordination through voluntary co-operation rests on the ... proposition that both parties to an economic transaction benefit from it, provided the transaction is bilaterally voluntary and informed."15 Wenn diese Bedingungen erfüllt werden können, wird es möglich, wie Hobbes auf jede inhaltliche Füllung des Gerechtigkeitsbegriffs zu verzichten und das schlichte Einhalten eingegangener Verträge zum alleinigen Gegenstand der Rechtspflege zu machen. Unter diesen Bedingungen kann der notwendige Konsens in einer Gesellschaft auf ein Minimum reduziert werden. Frank Knight, Friedmans Lehrer an der Universität von Chicago konstatiert denn auch: "The only agreement called for in market relations is acceptance of the one essentially negative ethical principle, that the units are not to prey upon one another through coercion and fraud."16 Alle anderen möglichen Vereinbarungen zwischen verantwortlich handelnden Personen, ob es sich um den Kauf eines Autos, das Eingehen einer homosexuellen Beziehung oder den Beitritt zu einer Glaubensgemeinschaft handelt, ist damit rechtmäßig und der Regelung durch den Staat entzogen. Kollektive Zusammenschlüsse von Menschen sind in diesem Reich der Freiheit immer freiwilliger Natur. Sie kommen nur durch den einstimmigen Beschluß ihrer Mitglieder zustande. 17 Ihr konkretes Aussehen 15 M. Friedman: Capitalism and Freedom. - Chicago: 1968. - S. 13; diese Annahme ist Standard bei allen Befürwortem einer möglichst wenig geregelten Marktwirtschaft. Siehe hierzu auch: "The socialist critique should be directed not at the market process at all, but at the initial distribution of premarket endowments and capacities. The market process, per se, generates mutual ga ins to all participants, surely a desirable attribute under widely divergent ethical standards." (1. M. Buchanan: "The Libertarian Legitimacy of the State" in ders.: Freedom in Constitutional Contract.
S.55).
16 F. Knight: "The Role of Principles in Economics and Politics" in: F. Knight: On the History and Method of Economics. - Chicago: 1956. - S. 267. 17 Es ist die Orientierung am anarchistischen Ideal, die auch Buchanan zur Einforderung von
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wird ausschließlich von den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Mitglieder bestimmt und ob sie überhaupt zustande kommen, hängt davon ab, welche Schritte notwendig sind, um sicherzustellen, daß Transaktionen auch wirklich freiwillig und im Bewußtsein ihrer Konsequenzen stattfinden, wie also konkret Übervorteilung, Betrug, Zwang oder Gewalt zwischen Menschen verhindert werden kann. Eine der wichtigsten Möglichkeiten dazu ist die Sicherung von Alternativen zu sozialen Beziehungen. Wo jemand Alternativen zum Verkehr mit einem Partner habe, wo er nicht auf ihn angewiesen ist und sich anderen zuwenden kann, wenn er einen Nachteil von seiner Seite zu befürchten habe, wird der Versuch des anderen, ihn zu zwingen, teurer. Ist der eine dem anderen dagegen mehr oder weniger ausgeliefert, beispielsweise im Rahmen einer Hierarchie, mag es für den Stärkeren durchaus Sinn machen, den Schwächeren "in die Mangel zu nehmen." In einem Aufsatz zu A. Smith schreibt L. S. Moss: (Smith) held that the great virtue of modem commercial institutions is that the old demoralizing relationship between the hungry retainer and the rich lord is destroyed once and for all .... A competitive market economy • not without defects of its own - at least is not characterized by the severe patemalism of feudal institutions .... The spending by any one individual may indirectly contribute to the subsistence of over I ()()()() people, so that the power of any one consumer over the lives of others is so minimal that it is best described as "non-existent".1 8
So unterschiedliche Liberale wie Friedman und Hirschman weisen nachdrücklich auf die Bedeutung von Alternativen für die Verminderung des Zwanges zwischen Menschen hin. Kurz gesagt, Konkurrenz muß herrschen und zwar auf allen Gebieten. G. Becker hat recht, wenn er schreibt: " ... daß ... Märkte mit Wettbewerb die Bedürfnisse der Konsumenten wirkungsvoller befriedigen als monopolistische Märkte, ob es sich nun um den Markt für Aluminium handelt oder um den Markt für Ideen"19 Dabei muß das Vorhandensein von Alternativen nicht notwendigerweise bedeuten, daß man in einem gegebenen Augenblick zwischen verschiedenen Dingen wählen kann, genausogut ist denkbar, daß man einen bestehenden Zustand in der Zeit zum besseren wendet, d. h. seine Welt in einer Weise verändern kann, die eher den eigenen Zielen dient. In einem kurzen aber eindrücklichen Essay hat A. O. Hirschman "Abwanderung" und "Widerspruch"2o als die beiden Alternativen eines Menschen im Umgang mit Bestandteilen seiner politischen wie ökonomischen Umwelt ausgemacht. Mit "Abwanderung" bezeichnet er die Möglichkeit, sich einem anderen Produkt Einstimmigkeit treibt. Siehe hierzu vor allem: J. M. Buchanan: The Limits of Liberty. - Chicago: 1975. - S. 39 f.
18 L. S. Moss: "Power and Value Relationships in The Wealth of Nations" S. 85 - 101 in: Geraid P. O'Driscoll: Adam Smith and Modem Political Economy. - Ames: 1979. - S. 98.
19 G. Becker: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Vemaltens. - Tübingen: 1982. - S. 4. 20 A. O. Hirschman: Abwanderung und Widerspruch. - Tübingen: 1974. - 130 S.
6.2. Ansätze zur Lösung der dreifachen Minimierungsaufgabe
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zuzuwenden bzw. auszuwandern. Unter "Widerspruch" versteht er dagegen die Möglichkeit, das Gegebene zu verändern, zu protestieren, oder an seiner Verbesserung zu arbeiten. In beiden Fällen ist freilich das Vennögen erforderlich, seine Stellung in der Welt aktiv zu verändern; ein Vennögen, von dem nicht selbstverständlich ausgegangen werden kann. Das Vorhanden sein von Alternativen und damit vor allem Konkurrenz ist zwar ein wichtiger, aber kein ausreichender Faktor zur Minimierung "unerfreulicher Überraschungen" von seiten seiner Mitmenschen. Kann man bestimmten feindseligen Akten auf diese Weise auch entgehen, so hilft sie beispielsweise nicht gegen Raub oder Betrug. Hier ist mehr gefragt als Mobilität und Konkurrenz, nämlich die Fähigkeit der Betroffenen, den Übergriff für den Übeltäter so teuer zu machen, daß er schon im Vorfeld abgeschreckt wird. Dies kann im wesentlichen auf zweierlei Weise geschehen. Zum einen kann man dem Bösewicht für seine Tat negative Sanktionen androhen,21 oder aber man kann die Bedrohten in einer Weise schützen, die bereits den Versuch eines Übergriffs prohibitiv teuer machen. Beides läßt sich am besten über die Anmietung von Spezialisten erreichen, die von den Menschen damit beauftragt werden, sie vor unfreundlichen Akten ihrer Mitmenschen zu schützen. Wie diese Beauftragung vor sich gehen kann und in welcher Fonn, ist bestimmt durch die Gefahr, daß auch der oder die Spezialisten in Versuchung geraten könnten, seine bzw. ihre Ennächtigung zur Realisierung von Sonderprofiten zu mißbrauchen. 6.2.2. Der Minimalstaat als unzureichende Annäherung
Wenn Hannah Arendt schreibt, daß es in der Natur einer Gruppe läge, individuelle Unabhängigkeit zu unterbinden, die ihrerseits die wesentliche Folge individuellen Vennögens sei,22 so liegt dies nach Hobbes nicht nur in der Natur einer Gruppe, sondern ist geradezu ihre Funktion. Unabhängigkeit impliziert nämlich potentielle Gefährlichkeit für die Mitmenschen. Niemand kann seinem Nebenmann wirklich sagen: "Tu was du willst!" ohne zu riskieren, daß der etwas will, das den eigenen Interessen zuwiderläuft, in der Gruppe dagegen verfügt der einzelne nur insofern über individuelles Vennögen, als er sich gruppenkonfonn verhält. Fordert sie nur den Verzicht auf diejenigen Handlungsoptionen, die anderen Schaden zufügen können und sichert sie dem Verzichtenden im Gegenzug den Inhalt eines eigenen Rechtsraumes, so wird seine Fähigkeit zur Realisierung der eigenen Ziele vergrößert. Beschränkt sich der Nacht21 Wobei die Strafe um so höher sein muß. je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, daß er gefaßt wird. 22 H. Arendt: Macht und Gewalt. - München: 1975. - S. 45 f.
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6. Was bleibt?
wächterstaat aber auf die Verhinderung von Betrug und Gewalt, ohne darauf zu achten, welche Vermögensverteilung innerhalb der Gesellschaft auf diese Weise zustande kommt, bemüht er sich also darum, das prozedurale Gerechtigkeitsideal zu garantieren, dem nicht zuletzt R. Nozick zu neuem Ruhm verholfen hat, so hebt sich ein solcher Staat auf Dauer selber auf, er entzieht sich selbst die Bedingungen seines Funktionierens. Wie dies geschieht, und wie die Gesellschaft dem gegensteuern kann, wird im folgenden zu zeigen sein. Vorher soU jedoch in Form einer einfachen Modellsituation die Wirkung von Vermögensungleichheit in groben Strichen skizziert werden. Eine solche Skizze mag helfen in den darauf folgenden Überlegungen zur Verfassungsproblematik nicht den Überblick zu verlieren. Bereits in der Einleitung war davon die Rede, daß unabhängig von moralischen Erwägungen, die Frage, ob ich mein Gegenüber beraube, oder ob ich ihm für ein bestimmtes Gut eine Gegenleistung anbiete, schlicht davon abhängt, wie teuer beide Alternativen für mich sind, und daß dies wiederum von unserem relativen Vermögen abhängt. Angenommen nun, die dort skizzierte Begegnung findet im Beisein eines Ordnungshüters statt, eines Nachtwächters, der neutral, bedürfnislos und stark, seine ganze Befriedigung daraus bezieht, Verträge durchzusetzen und Menschen daran zu hindern, sich gegenseitig zu Dingen zu zwingen, die sie nicht wollen. In einer solchen Situation kann ich den anderen nicht mehr schlicht enteignen, wenn er für Gegenwehr zu schwach ist. Um mich in den Besitz seines Gutes zu setzen, muß ich ihm vielmehr einen Deal vorschlagen. Wie viel er für mein Gut zu zahlen bereit ist, wird davon abhängen, wie sehr er es schätzt und welche Alternativen sich ihm bieten. Druck kann ich nur dann ausüben, wenn ich mich ihm gegenüber in einer Monopolsituation befinde, wenn er also mein Gut dringend braucht und keine Möglichkeit hat, es anderswoher zu bekommen. 23 Der Einfachheit halber soll mit einer solchen Monopolsituation begonnen werden. Unsere Begegnung finde deshalb in einer Wüste statt, in der ich eine Quelle besitze. Ob dies für mein Gegenüber tatsächlich eine Zwangslage ist, hängt nicht nur von der "objektiven" Situation ab, sondern von den Informationen,24 über die er diesbezüglich verfügt. Die beste herrenlose Quelle in unmittelbarer Nähe nützt ihm nichts, wenn er sie nicht kennt. Allerdings ist in diesem Zusammenhang der Begriff der "Objektivität" an sich schon problematisch. Da jede Situation, für die mit ihr Konfrontierten, 23 Angenommen nun, mein Gegenüber erfährt von einem weiteren Anbieter. Ich reagiere darauf, indem ich mit diesem ein Kartelhibkommen schließe. In diesem Falle befinde ich mich mit dem anderen Kartellisten in einem Gefangenendilemrna. Aber wenn wir Kooperation vereinbaren, verschlechtert sich die Situation des potentiellen Konsumenten wiederum. Das Kartell verstärkt mit meiner Verhandlungsposition meine reale Macht und erleichtert dadurch die Einigung mit dem Konkurrenten. Auch "objektiv" unabhängig von den vorhandenen Informationen, finde ich mich in bezug auf mein erstes Gegenüber wieder in einer Ausbeuterposition. 24 Informationen werden hier also im weitest möglichen Sinne verstanden, einschließlich aller Arten von Wissen, Bildung und Beratung, die potentiell nützlich sind, seine Position zu verbessern.
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wie für außenstehende Beobachter, durch bestimmte Informationen definiert ist, und da es immer denkbar bleibt, daß ein kreativer "Unternehmer" neue Wege geht, kann es im strengen Wortsinne die "objektive" Situation nie wirklich geben. Um einen möglichst hohen Preis für jede Wasserration zu erzielen, werde ich daran interessiert sein, mein Gegenüber in dem Glauben zu lassen, er habe keine Alternative zu mir. Ich mag ihn beispielsweise über die Existenz der anderen Quelle hinwegtäuschen oder den Weg zu ihr unkenntlich machen. 25 Das wird um so erfolgversprechender sein, je weniger er in der Lage ist, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Seine Fähigkeit dazu, wird wiederum von seiner individuellen Cleverness und von den Informationen abhängen, über die er verfügt. Natürlich kann ich versuchen, mein unkooperatives Verhalten zu tarnen, aber wenn er mir auf die Schliche kommt, mag er in der Lage sein, es mir innerhalb der Grenzen der Legalität kräftig heimzuzahlen, was mit dem gegenseitigen Drohpotential den ersten Anreiz zur Kooperation wiederherstellen mag. Je größer mein Informations- und Kapazitätsvorsprung aber ist, desto leichter wird es für mich, ihm gegenüber unkooperativ zu sein. Dies gilt natürlich nicht nur in einer Monopolsituation. Selbst wo es mehrere Anbieter für Wasser gibt, werden die Bedingungen, unter denen mein Gegenüber einkauft, von den Informationen abhängen, über die er verfügt. In einer Konkurrenzsituation mag der Druck, der auf ihm lastet, zwar nachlassen, andererseits aber werden die potentiell nützlichen Informationen komplexer und ihre Menge größer. Das heißt, solange er keine Gegenmaßnahmen ergreift, mag es sich nach wie vor für mich auszahlen, ihn über seine wirklichen Möglichkeiten zu täuschen und unkooperativ zu sein. Selbst bei Annahme eines Nachtwächters, der Zwang unterbindet, wird Ungleichheit also möglicherweise Ausbeutung ermöglichen. Die Rolle des reinen Kräfteverhältnisses im Naturzustand wird dann vom Verhältnis der tatsächlich wahrgenommenen Handlungsspielräume der einzelnen abgelöst, d. h. zum guten Teil von den Informationen bestimmt, über die jeder verfügt. Angenommen nun, der Nachtwächter ist eine eher faule Person, die nur auf Regelverstöße reagiert, wenn sie ihm angezeigt werden. In der Hoffnung, daß es folgenlos bleibt, kann ich mich in diesem Falle auch über Rechtsschranken hinwegsetzen. Um darauf angemessen reagieren zu können, hat mein Gegen25 Investitionen, die mit dem Ziel gemacht werden, die Situation seines Gegenüber zu verschlechtern, können als rent-seeking Aktivitäten ohne Staatsintervention angesehen werden. Tollison faßt das auf Tullock zurückgehende Konzept des Rent-seeking folgendermaßen zusammen: "Rent-seeking arises where output is given and fixed, as in the case of monopoly rents. Output cannot be augmented by definition, so expenditure to capture monopoly or contrived rents do not yield any additional products for the economy. It was such expenditures that Tullock categorized as wasteful (R.D. Tollison: "Is the Theory of Rent-seeking here to stay?" S. 143-152 in: C. K. Rowley: Democracy and Public Choice. New York: , 1987. - S. 144 f.). 22 Hegmann
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über nicht nur zu wissen, daß ihm überhaupt Unrecht geschehen ist, er muß zudem die Wege kennen, auf denen er zu seinem Recht kommen kann. Noch schwieriger wird es für ihn, wenn seine Rechte nicht genau definiert sind. Ist der Nachtwächter nämlich nicht nur faul in bezug auf die Durchsetzung der Gesetze, sondern auch in bezug auf ihre Defmition, mag er seine Entscheidung auf Informationen gründen, die ihm die Beteiligten liefern. Wenn ich dann dem anderen Unrecht zufüge, kann ich nicht nur darauf hoffen, daß der den Rechtsbruch aus Unwissenheit nicht anzeigt, sondern auch darauf, daß ich den Nachtwächter von "meinem Rechtsstandpunkt" überzeugen kann. Ob ich dann ein Urteil in meinem Sinne bekomme, wird wiederum davon abhängen, welche Einflußmöglichkeiten mein Gegenüber relativ zu mir hat. Je schwächer er ist, desto lohnender wird es für mich, "gegen das Recht zu wetten", d. h. die Wahrscheinlichkeit zu kalkulieren, mit der ein Rechtsbruch ungesühnt bleibt. Besitzt mein Gegenüber nicht die Möglichkeit, seinen tatsächlichen, wie legalen Handlungsspielraum voll zu nutzen, besteht auf Dauer die Gefahr, daß der eine wie der andere zusammenschrumpft. Im Extremfall hat er "keine Kraft" mehr, mich an offener Ausbeutung zu hindern und "keine Stimme" mehr, die er gegen die Verletzungen seiner Rechte erheben könnte. Er wird dann die Kosten des Nachtwächterstaates tragen müssen, ohne irgendeinen Nutzen daraus zu ziehen. Lockert man die Annahme über die Uninteressiertheit des Nachtwächters, wird das Bild vielgestaltiger. Beansprucht er etwas für seine Tätigkeit, mag er sich für allgemeinen Wohlstand einsetzen, um seinen prozentualen (Steuer) Anteil an diesem Wohlstand zu erhöhen. Dann mag ihn sein Eigeninteresse dazu bestimmen, meinem Gegenüber beizuspringen. Andererseits kann ich ihn möglicherweise bestechen. Ist er nicht stark genug, potentielle Gesetzesbrecher unter Kontrolle zu halten, mögen die Fähigkeiten des Naturzustandes wieder an Bedeutung gewinnen. Dann nämlich mag er sich, Gerechtigkeit hin oder her, "um des lieben Friedens willen", mit dem Stärkeren zusammentun. Auch hier mögen Informationen eine Rolle spielen, denn je besser sich jemand auf Gewaltanwendung versteht, desto wertvoller mag er als Partner werden. Die Tatsache, daß es mit Kosten verbunden ist, "sein Recht zu bekommen", hat wichtige Folgen für das Recht als solches. Weder Regeln noch ihre nutzbringende Wirkung können dann als gegeben hingenommen werden. So richtig es ist, daß Wohlstand nicht wie Manna vom Himmel fällt, so wichtig ist es, darauf hinzuweisen, daß auch soziale Institutionen nicht auf diesem Wege zu uns gelangen. Vielmehr spiegeln sie mit einiger Zeitverzögerung reale VermögensverhäItnisse wider. Wo diese sich ändern, folgen jene früher oder später nach. War es im Naturzustand das Verhältnis der Kampfkraft, das darüber entschied, ob Menschen einander friedlich begegneten, so ist es nun die relative Fähigkeit, sich in seiner sozialen Umwelt durchzusetzen, ohne mit dem Nachtwächter in Konflikt zu geraten. Opportunismus in der ganzen Bandbreite der
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Bedeutung des Wortes mag dazu ein Mittel sein.26 Über je weniger individuelles Vermögen mein Gegenüber im Verhältnis zu mir verfügt, desto mehr bietet er sich als Opfer solcher Formen unkooperativen Verhaltens an. Ist es mit Kosten verbunden, den eigenen Möglichkeits- und Rechtsraum auszunützen, müssen also die dazu notwendigen Informationen bezahlt werden, werden bestehende Ungleichheiten dazu tendieren zuzunehmen. Dadurch daß ich bessere Informationen habe als mein Gegenüber, werde ich möglicherweise nicht nur den gesamten, aus dem Tausch resultierenden Nutzenzuwachs für mich realisieren, sondern den anderen unmittelbar schädigen können. Außerdem werde ich, sofern ich den Gewinn in die Stärkung meiner Position stecke, den Abstand weiter vergrößern können. Natürlich ist dies kein Automatismus, da das Erworbene investiert werden muß, aber ich habe allemal mehr Möglichkeiten dazu, als mein Gegenüber, denn während ich für eine bestimmte Information nur einen Bruchteil meines Wohlstandes zu investieren brauche, kann der Preis für mein Gegenüber möglicherweise die Aufgabe eines beträchtlichen Teils seiner Ressourcen bedeuten. Relativer Wohlstand ermöglicht es mir auch, das Risiko, das mit dem Kauf einer bestimmten Information verbunden ist, leichter hinzunehmen. Da Risiko und Unsicherheit ihrerseits Folge eines Informationsdefizits sind, kann eine Investition für mein Gegenüber hochriskant sein, während sie für mich nur eine einfache Kostenkalkulation darstellen mag. Mein Geld wird also besser angelegt sein. Mehr Geld für bessere Informationen ausgeben zu können, wird meine Position ihm gegenüber weiter stärken.27 Selbst bei gleichen untemehmerischen Fähigkeiten stellt sich damit immer größere Ungleichheit ein. Diese Tendenz wird allenfalls abgeschwächt durch die Tatsache, daß die Schwachen ihre Mittel dringender brauchen und deshalb die einzelnen Beträge genauer werden nachhalten müssen. Um die Konsequenzen des damit skizzierten Prozesses zu verdeutlichen, stelle man sich folgende einfache ModeUsituation 28 vor: Aus einer Menge von Individuen treffen sich über mehrere Runden jeweils Zweiergruppen, um einen festen Betrag unter sich aufzuteilen. Die Verteilung erfolgt gemäß der relativen Stärke der Beteiligten, wie sie sich jeweils als Ergebnis der vorherigen Runde 26 Williamson faßt den Begriff folgendermaßen: "By opportunism I mean self·interest seeking with guile. This includes but is scarcely limited to more blatant forms, such as lying, stealing, and cheating. Opportunism more often involves subtle forms of deceit. ... (it) refers to the incomplete or distorted disclosure of information, especially 10 calculated efforts to mislead, distort, disguise, obfuscate, or otherwise confuse. It is responsible for real or contrived conditions of information asymmetry, which vastly complicate problems of economic organisation." (0. E. Williamson: The Economic Institut ions of Capitalism. - New York: 1985. - S. 47). 27 Natürlich ist denkbar, daß der Stärkere einen solchen Nutzen aus jedem noch so kleinen Stück seines Einkommens zieht, daß er äußerst zurückhaltend investiert, aber die Annahme einer solch überlegenen "Genußfähigkeit" dürfte schwierig zu begründen sein. 28 Das folgende Modell verdanke ich der Anregung von W. Köpke, der mir in ausführlichen Diskussionen geholfen hat, gerade diesen Teil der Arbeit auf den Punkt zu bringen.
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6. Was bleibt?
ergibt. Nach jeder Runde haben die Beteiligten einen Fixbetrag zu zahlen, der sie zur nächsten Runde zuläßt. Nehmen wir an, wir haben drei Beteiligte, Akteur A verfügt über 10 Einheiten, B über 20 und C über 30 Einheiten. Bei jeder Begegnung werden 10 Einheiten verteilt und nach jeder Runde sind 5 Einheiten zu zahlen. In der ersten Runde finden folgende Begegnungen statt: A trifft B mit dem Resultat 3,33 für A und 6,67 für B A trifft C mit dem Resultat 2,50 für A und 7,50 für C B trifft C mit dem Resultat 4,00 für Bund 6,00 für C Nach Abzug von 5 Einheiten Eintritt geht damit A mit 10,83, B mit 26,67 und C mit 38,50 in die nächste Runde. Trifft nun A auf B, so werden die 10 Einheiten nicht mehr im Verhältnis 1/2 verteilt, vielmehr erhält A nur noch 0,29 %. Für Bund C gilt entsprechendes. Wenn die zu verteilenden Beträge die komparativen Kostenvorteile des Tausches darstellen, die je nach relativer Stärke der Verhandlungsposition verteilt werden und das "Eintrittsgeld" die notwendigen Ausgaben für den Lebensunterhalt, so erhalten die relativ Schwächeren einen immer geringeren Anteil am gemeinschaftlich erwirtschafteten Ergebnis. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem sie mit diesem nicht einmal mehr den Eintritt bestreiten können. Geht man davon aus, daß die Starken freiwillig mehr Einheiten für ihren Lebensunterhalt aufwenden, so wird der Prozeß zwar verlangsamt, nicht aber angehalten oder gar umgekehrt. Es reicht, wenn die Starken in absoluten Zahlen mehr reinvestieren als die Schwachen. Der Trend der Schwachen, im Laufe der Zeit auch absolut gesehen zu verlieren, hat freilich zur Bedingung, daß der zu verteilende "Kuchen" gleich groß bleibt, oder doch nicht so schnell wächst, daß er den mit der relativen Schwächung verbundenen Verlust der Schwachen übersteigt. Um die Dynamik der Ausbeutung auf dieselbe Art zu skizzieren, bietet sich ein Modell an, das auf der Idee des "Fahrradfahrers" basiert (Nach oben bukkein und nach unten treten). Angenommen, wir haben eine Zahl von Individuen, die sich in folgender Situation befinden: Von einer unterschiedlichen Punktezahl ausgehend, begegnet ein jeder einem jeden, und der Schwächere zahlt jeweils einen Punkt an den Stärkeren. 29 Nach jeder Spielrunde erhält damit jeder Spieler von jedem Schwächeren einen Punkt und zahlt einen Punkt an jeden Stärkeren. Solange er mehr Schwächeren als Stärkeren gegenübersteht, ist seine Bilanz positiv. 30 Da aber in jeder Runde die Schwächsten ausscheiden, weil sie ihr Kapital aufgezehrt haben, wird für den einzelnen die Bilanz irgendwann umkippen. Wer zu Beginn über unterdurchschnittliche Mittel ver29 In welcher Reihenfolge wer mit wem spielt, soll dabei dem Zufall überlassen bleiben. 30 Das bleibt auch so, wenn man statt tatsächlicher Spielbegegnungen nur Wahrscheinlichkeiten für solche annimmt.
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fügte, zahlte ohnehin solange drauf, bis er verschwand. Sobald jemand von den oberen 50 % durch das Ausscheiden der Schwächsten zu den schwächeren 50 % stößt, beginnt auch sein Abstieg. In jeder Runde muß er mehr draufzahlen, da er in jeder Runde von weniger Schwachen etwas bekommt. 31 Im Extremfall wird in beiden Modellsituationen nur eine Person übrigbleiben und zwar diejenige, die mit den meisten Punkten begonnen hat, sie wird alle Punkte auf sich vereinigen. Die beiden Modelle sind natürlich weit entfernt davon, die Welt darzustellen, wie sie ist. Sie sehen ab von den Möglichkeiten kollektiven Handelns, von unternehmerischer Cleverness und potentiell vorhandenen nichtegoistischen Präferenzen der Beteiligten. Freilich spielen diese Faktoren eine immer geringere Rolle, je größer Vermögensungleichheit wird. Da überdies beide Modelle in dieselbe Richtung weisen, ihre Effekte sich also addieren, dürfte ihre Wirkung nicht zu unterschätzen sein. Daß die Modellannahmen so wirklichkeitsfremd nicht sind, wie sie hier scheinen mögen, soll im folgenden etwas ausführlicher gezeigt werden. 6.2.2.1. Plutokratie als Degenerierungserscheinung Die Stellung des Individuums im sozialen Umfeld hängt von seiner Fähigkeit ab, die Mitmenschen in seinem Sinne zu beeinflussen. In einer Welt, in der Zwang effektiv ausgeschaltet ist, in der weder unmittelbare Gewalt noch Marktrnacht den anderen davon zu "überzeugen" vermag, etwas ohne Gegenleistung herauszugeben, kann man von den Mitmenschen nur dann etwas bekommen, wenn man ihnen im Gegenzug etwas anbieten kann. Das eigene Vermögen dazu wird so zu etwas, das der andere nur begrüßen kann, weil er u. U. davon profitiert; es wird zum Wert auch für ihn und so steht er auch fremder Vermögensansammlung zumindest nicht negativ gegenüber. Diese idyllische Weit funktioniert allerdings nur solange, wie man in der Tat das Verhalten der anderen nur durch positive Angebote beeinflussen kann. Daß dies auch innerhalb eines funktionierenden Nachtwächterstaates nicht notwendigerweise der Fall ist, wurde bereits angedeutet. Das relative Vermögen, um im Markt mitzuhalten, ist entscheidend. Obwohl Vermögensunterschiedein der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie eine eher untergeordnete Rolle spielen,32 ist Vermögensgleichheit weder selbstverständlich noch irrelevant. Nichtsdestoweniger wird dieses Problem, von Ausnahmefallen einmal abgesehen,33 in 31 Um das Modell an die oben beschriebene Situation anzupassen, bliebe noch, die gen aue Höhe des zu transferierenden Betrages vom relativen Ungleichgewicht zwischen den Transaktionspartnern abhängig zu machen. Je ungleicher die Transaktionspartner in ihren Möglichkeiten sind, desto größer muß der Transfer sein. 32 Vergl. zu diesem Thema: G. Stigler: "The Economists and Equality" S. 1-11 in: ders.: Five Lectures on Economic Problems. - New York: 1950. - 65 S. 33 Hier ist die Forschung zu Monopolen und Oligopolen gemeint. Da aber in bezug auf diese
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6. Was bleibt?
der Ökonomie nicht recht ernst genommen. Warum, zeigt eine Einschätzung von Klein: Wbat do economists mean by power? Conventional mainstream economics begins with a competitive model in which the deployrnent of power is preswned to be precisely what has been institutionally sanctioned. Note that it is not equal, nor has equality in the distribution ever been part of the competitive model. Competitive producers are initially presumed to have equal power in the sense that they are all of the same size, have the same degree of control over resources, and are equal in their ability to offer products in the markeL But the consumers in this model are certainly not equal. Wben "demand" as opposed to "desire" is expressed by "one dollar one vote", surely then the more dollars Olle controls the more "power" one has. 34
Was Klein als "Macht" thematisiert, ist in unserer Terminologie "Vermögen". Seine Formulierung zeigt das Problem der Ignorierung von Marktmacht. Versteht man alle Teilnehmer am Markt als Produzenten, von deren individuellem Vermögen es abhängt, inwieweit sie ihre Mitmenschen dazu bewegen können, ihre Interessen zu befriedigen, führt die Annahme gleichen Vermögens bei den Produzenten automatisch zur Annahme gleicher Kaufkraft. Interessant wird der Begriff des Vermögens aber erst in dem Augenblick, in dem dies nicht mehr der Fall ist. Dann nämlich führt die unterschiedliche Kaufkraft zu unterschiedlichen Möglichkeiten auf dem Markt, dann beginnt ein Prozeß der Adaption des Systems an die Bedürfnisse der Vermögenden, dessen Auswirkungen die Ungleichheit weiter verstärkt.
Die Schwächung der spontanen Ordnung durch Ungleichheit In einer Welt perfekter Konkurrenz erhält jedermann von seinen Mitmenschen Güter und Dienstleistungen in dem Maße, indem er ihnen seinerseits etwas anbieten kann. 35 Fährt er hohe Profite ein, heißt das, daß er entweder Marktungleichgewichte ausgespäht hat und sie zu seinem Nutzen ausgleicht, oder aber, daß er neue Produktionswege oder Märkte erschließt und damit den Markt als Ganzes erweitert. In beiden Fällen werden andere ihn nachzuahmen versuchen und die daraus resultierende Konkurrenz wird die Profite auf das Maß zurückschrauben, das der Einzigartigkeit der erbrachten Leistung entForschung von objektiven Bedingungen die Rede ist und nie vom unterschiedlichen subjektiven Vermögen der Beteiligten, ist es verständlich, wenn Verteidiger der Freien Marktwirtschaft davon ausgehen, daß hier die Bedeutung von Marktmacht überbewertet wird. Wo sie zudem unregelmäßig über die wirtschaftliche Landkarte verteilt ist, wo es, um im obigen Beispiel zu bleiben, reiner Zufall ist, wer die Quelle in der Wüste besitzt, ist sie eine Imperfektion der Wirtschaftswelt, nicht aber etwas, das ihr die Existenzgrundlage entziehen könnte. 34 P.A. Klein: "Power and Economic Performance" in: Journal of Economic Inquiry. - 21/3 (Sept. 1987). - S. 1342; vergl. auch: W.L Samuels: "Welfare Economics, Power, and Property". S. 9-75 in: Law and Economics. S. 21. 35 Vergl. hierzu: F. Knight: "Freedom as Fact and Criterium". - S. 1-17 in: ders.: Freedom and Reform. - Indianapolis: 1982. - S. 6 f.
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spricht. Realisiert jemand langfristig hohe Profite, so bedeutet das nichts anderes, als daß potentielle Konkurrenten nicht in der Lage sind, seine Leistung zu erbringen. Die Idee einer gerechten Verteilung spielt hier keine RoUe. 36 Bereits erworbene Profite werden aus dieser Perspektive nur dann zu größerer Ungleichheit beitragen, wenn ein Reicher gleichzeitig ein cleverer Unternehmer ist. Die Differenzen werden reduziert, wenn statt dessen ein Armer unternehmerisches Talent entwickelt. Die gegebene Vermögensverteilung und die Fähigkeit Profite zu machen sind also als unabhängig voneinander gedacht. Solange Wohlstandsunterschiede nur durch zufaIlige Erbschaft und unterschiedliche individuelle Fähigkeiten erklärt werden, ist das ökonomische System relativ immun gegen die Gefahren der Ungleichheit.37 Im Prinzip kann in einer solchen Welt selbst ein einfacher Arbeiter ein Großunternehmen gründen, wenn er nur die richtige Idee hat. Er kann das erforderliche Risikokapital ebenso anmieten, wie andere Produktionsfaktoren auch. 38 Die Tatsache, daß solch brilliante Arbeiter nicht eben häufig sind, weist darauf hin, daß die Fähigkeit zu unternehmerischem Handeln selbst in einem positiven Zusammenhang mit der Verfügung über Kapital steht. Dieser Zusammenhang läßt sich bildlich so darstellen: Wie die Möglichkeit, Kredit zu bekommen, ein Schatten des Eigenkapitals ist, so ist die Möglichkeit, solches Eigenkapital zu erwerben, ein Schatten des Vermögens, über das man bereits verfügt (Bildung, Informationen, materielle Ressourcen oder sozialer Status). Je nachdem wie die Sonne der allgemeinen Konjunktur steht, sind die Schatten mal länger und mal kürzer, immer aber wird ihre Form und Größe letzten Endes durch das bestimmt, was schon vorhanden ist. Untemehmerisches Handeln hat mit dem Sammeln und Auswerten von Informationen zu tun. 39 Beides kostet Geld,4o weniger in einem direkten Sinne, in 36 H. M. Williams faßt die Idee wie folgt zusammen: " ... the free play of market forces is oblivious to any concepts of what might be called "social justice". If the market does not value wh at one has to offer, one receives nothing in return; and if the result is bread-lines, rioting, or political upheaval, that is of no direct concern to the impersonal forces of demand and supply." (H. M. Williams "Egalitarianism and Market Systems" in: Columbia Journal of World Business. - S. 8). 37 Dies mag auch erklären, warum sich die klassischen und in ihrer Tradition die neoklassischen Ökonomen nicht sehr für das Problem der Gleichheit interessierten. Siehe hierzu: G. Stigler: "The economists and equality" in: Five Lectures on Economical Problems. New York: 1950. - 65 S. 38 Stiglitz formuliert, theoretisch berechtigterweise: "Traditional neoclassical analysis emphasized the symmetry in economic relationships: one could describe the employer-employee relationship as the employee hiring capital just as weil as one could describe it as the employer hiring labour." (J.E. Stiglitz: "Principal and Agent" in: 1. Eatwell, M. Milgate und P. Newman: Allocation, Information and the Market. - (Subject-Volume with reprints from: The New Palgrave). - New York: 1989. - S. 242). 39 Zum Verhältnis von Infomlation und Fähigkeit zu unternehmerischem Handeln vergl. auch: I. M. Kirzner: Perception, Opportunity, and Profit. - Chicago: 1979. - S. 8. 40 Wenn heute von Infomlations- oder Transaktionskosten die Rede ist, werden sie als gleichmäßig verteilt vorgestellt, vergleichbar mit der Luft, die dem idealen Ablauf physikalischer Prozesse entgegensteht. Informationskosten werden ru einer Art zähflüssiger Masse, die Unternehmer
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Fonn von Gebühren für die Benutzung von Datenbanken zum Beispiel, sondern eher in Fonn von Zeit und Ressourcen für die Suche. Jemand, der zehn Stunden am Tag in einem Supennarkt Konserven stapelt, mag in einer schlechteren Lage sein, sich nach einer lohnenderen Beschäftigung umzusehen, als jemand, der genug Geld zur Verfügung hat, um sich gründlich zu orientieren oder gar durch Lernen seinen Marktwert zu steigern. Langfristig mögen dem Lagerarbeiter nicht nur die nötigen Infonnationen fehlen, sein Los zu verbessern, sondern auch die Fähigkeit etwas mit ihnen anzufangen. 41 Ohne geeignete Ausbildung mag er über interessante Infonnationen verfügen, nicht aber über das Wissen, sie zu nutzen. Der ungelernte Arbeiter, der in Humes und Smiths Zeiten noch in der Lage war, sich seinen Lebensunterhalt zu sichern, wird mehr und mehr zum Rohmaterial, zu etwas, das der "Veredelung" durch Ausbildung bedarf. 42 Es sind also auch jenseits feudalistischer Privilegien 43 nicht Gleiche, die mit Gleichen verkehren können - wenn man sie denn läßt - es sind Starke die es mit Schwachen zu tun haben und umgekehrt. Daß die Kapazität für unternehmerisches Handeln positiv mit Wohlstand korreliert,44 heißt natürlich nicht, daß sich unternehmerischer Erfolg kaufen ließe. Unabhängig von der Tatsache aber, daß Wohlstand weder eine hinreichende Bedingung für Erfolg ist, noch auch nur notwendig dafür, da eine Karriere "vom Tellerwäscher zum Millionär" immer möglich bleibt und daß individuelles Geschick große Nachteile bei der Ressourcenverteilung aufzuwiegen vennag, wird eine wohlhabende Person größere Chancen haben, erfolgreich zu sein, als ein gleichennaßen befähigter Anner und sie wird dazu tendieren, die größeren Profite und Arbeiter gleichennaßen hemmt. Siehe beispielsweise: O. E. Williamson: The Economic Institutions of Capitalism. - New York: 1985. - S. 19. 41 Vergl. hierzu auch: K. J. Arrow "Organization and Infonnation" S. 31-44 in: The Limits of Organization. - New York: 1974. - S. 43; Arrow fragt nach den Bedingungen, die vorliegen müssen, damit eine Finna Marktsignale auswerten kann und weist dazu auf die Notwendigkeit bereits vorliegender Infonnationen hin. Das gilt natürlich für jeden auf dem Markt. Auch die Gefahr der Versteinerung (1