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German Pages 350 [351] Year 2021
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism, and the Reformation herausgegeben von Volker Leppin (Tübingen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin), Matthias Pohlig (Berlin), Eva Schlotheuber (Düsseldorf ), Klaus Unterburger (Regensburg)
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Cajetan und Luther Rekonstruktion einer Begegnung Herausgegeben von
Michael Basse und Marcel Nieden
Mohr Siebeck
Michael Basse, geboren 1961; Studium der Ev. Theologie und Geschichtswissenschaft; 19912005 Gymnasiallehrer in Bonn; 1993 Promotion; 1998 Habilitation; seit 2006 Universitätsprofessor für Ev. Theologie mit dem Schwerpunkt Kirchen- und Theologiegeschichte an der TU Dortmund. orcid.org/0000-0001-6037-0706 Marcel Nieden, geboren 1965; Studium der Ev. Theologie; 1996 Promotion; 2004 Habilitation; 2005–2011 Pfarrer in Gilching-Weßling; seit 2011 Universitätsprofessor für Ev. Theologie mit dem Schwerpunkt Historische Theologie an der Universität Duisburg-Essen. orcid.org/0000-0003-0437-2373
ISBN 978-3-16-160826-1 / eISBN 978-3-16-160827-8 DOI 10.1628/978-3-16-160827-8 ISSN 1865-2840 / eISSN 2569-4391 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer aus der Minion gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Die Begegnung des Augustinertheologen Martin Luther und des römischen Kardinals und Dominikanertheologen Thomas de Vio Cajetan im Anschluss an den Augsburger Reichstag von 1518 markiert eine bedeutsame Zäsur der frühen Reformationsgeschichte. Das in Rom anhängige kirchenrechtliche Verfahren gegen den prominenten Wittenberger Ablasskritiker war unmittelbar vor der Augsburger Begegnung verschärft worden. Die Kurie hatte die Voruntersuchungen gegen Luther wegen Ketzereiverdachts abgebrochen und stattdessen einen processus summarius, einen Prozess wegen notorischer Ketzerei, eröffnet. Das bedeutete: Luther galt in den Augen der kirchlichen Gerichtsbarkeit bereits als „erklärter Häretiker“ und stand damit nur noch vor der Alternative, seine vermeintlich ketzerischen Ansichten zu widerrufen oder schuldig gesprochen zu werden. Dass der als Legat beim Augsburger Reichstag weilende Kardinal Cajetan kurzerhand von Papst Leo X. beauftragt wurde, Luther im Anschluss an den Reichstag „väterlich“ zu verhören, im Fall eines Widerrufs mit der Kirche zu versöhnen oder seine Häresie festzustellen und alle nötigen Maßnahmen gegen ihn und seine Unterstützer einzuleiten, war ein diplomatisches Entgegenkommen der Kurie gegenüber Luthers Landesherren, Kurfürst Friedrich dem Weisen, von dem man eine antihabsburgische Stimme in der bevorstehenden Kaiserwahl erhoffte. Trotz des klaren Auftrags, der umfassenden Vollmachten und der prozessrechtlich zwingenden Alternative von Widerruf oder Schuldspruch brachte das Verhör am 12., 13. und 14. Oktober 1518 in Augsburg dann freilich doch nicht die entscheidende Wende in Luthers römischem Prozess. Cajetan bestand auf einem wenigstens teilweisen Widerruf, den Luther verweigerte, und verlangte die Auslieferung des „Ketzers“, die wiederum Kurfürst Friedrich ablehnte, da er seinen Universitätsprofessor in der Sache nicht durch ein unabhängiges (deutsches) Gelehrtengericht geprüft und widerlegt sah. Nachdem Luther am 16. Oktober – angesichts der drohenden Exkommunikation – an den Papst appelliert und Augsburg fluchtartig verlassen hatte, lag das Verfahren für den Legaten ohnehin wieder in päpstlicher Hand. Cajetan nahm nun gleichsam als persönliche Konsequenz aus der Luthersache die Ausarbeitung einer lehramtlichen Dekretale zu offenen Fragen der Ablasstheologie und -praxis in Angriff. Vom verlaufsgeschichtlichen Ausgang her betrachtet, erkannte die kirchenhistorische Forschung nicht ohne Grund die Bedeutung der Augsburger Begegnung weniger in einem Verfahrensfortschritt als vielmehr in theologischen und kirchenpolitischen Klärungen, die das Verhör für beide Seiten brachte und
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die auf das Verfahren wiederum nicht ohne Rückwirkung blieben. Mochte man sich vor Augsburg noch begründete Hoffnungen auf eine Einigung machen können, so war nach Augsburg die Verurteilung Luthers eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, zu unübersehbar waren die theologischen Verwerfungen hervorgetreten. Cajetans Rolle in diesem Klärungsprozess hat dabei eine bemerkenswerte Neueinschätzung erfahren. Charakterisierte die ältere kirchenhistorische Forschung noch unter dem Einfluss der lutherschen Verhörberichte den Dominikanertheologen überwiegend als unglücklich agierenden Diplomaten und theologisch überforderten thomistischen Hardliner, so hat sich das Bild inzwischen gewandelt. Nicht zuletzt aufgrund einer eingehenderen Kenntnis von Cajetans Traktaten zur Vorbereitung auf die Augsburger Begegnung wird dem Kardinal inzwischen eine beachtliche theologische Sensibilität attestiert. Er habe nicht nur als Erster die Unvereinbarkeit des radikalen Augustinismus Luthers mit der auf institutionelle Heilsvermittlung ausgerichteten Kirche erkannt, sondern auch mit sicherem Gespür denjenigen Punkt der lutherschen Ablasskritik aufgenommen, „der das nachhaltigste und folgenreichste Umformungspotential der Theologie Luthers enthielt“.1 Gewissermaßen trat mit Cajetan dem Wittenberger Professor erstmals ein Theologe gegenüber, der die Konsequenzen von Luthers früher Bußund Rechtfertigungstheologie klarer erkannt hat als der Autor selbst. Freilich hielt Cajetan, vielleicht auch weil er sah, dass Luther die Folgen seines Ansatzes gar nicht recht bewusst waren, die Position Luthers – unter der Voraussetzung der Anerkennung der Bulle Unigenitus – noch für kirchlich integrierbar. Luther seinerseits dürfte in der Augsburger Begegnung die desillusionierende Gewissheit gewonnen haben, „daß der Papst auf der Seite Cajetans steht – ohne daß dieser Argumente beibringen kann, die einen Theologen zu überzeugen vermögen, der aus lautersten Motiven und aus Gründen des Gewissens fragen muß“.2 Er rechnete noch im Herbst des Jahres 1518 mit einer gewissen wohlwollenden Aufnahme seiner Kritik und mit einer Bestätigung des von ihm reklamierten Rechtes auf freie Disputation durch den Papst. Dessen Legat hatte sich jedoch dem an Bibel und Kirchenvätern orientierten Diskussionsverlangen des Wittenberger Theologen in der lehramtlich weithin undefinierten Ablassfrage schlichtweg verweigert. Ein ähnliches Verhalten stand vom Papst selbst und seinen engsten Beratern zu erwarten. Die Kontroverse unter Theologen war offenbar längst zu einem Konflikt mit der Kirche geworden. So plausibel solche Bestimmungen des durch die Augsburger Begegnung erfolgten Klärungsprozesses auch prima facie erscheinen mögen, sie hängen wesentlich von der Beantwortung der sachlich vorausliegenden und grundsätzlicheren Frage ab, wie die – modern gesprochen – „intellektuelle Biographie“ der beiden Kontrahenten zu schreiben ist. Welche theologischen Horizonte, welche Kaufmann, Thomas, Geschichte der Reformation, Berlin 2016, 229. Pesch, Otto Hermann, Hinführung zu Luther, Mainz 21983, 112.
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kirchenpolitischen Überzeugungen und spirituellen Erfahrungshintergründe trafen in Augsburg aufeinander? Je nachdem, wie die beiden Kontrahenten historisch ‚identifiziert‘ werden, verlagert sich die Einschätzung des Klärungsprozesses und damit der geschichtlichen Bedeutung der Augsburger Begegnung. Die Diskussion um Luthers Entwicklung zum Reformator hat gerade durch Forschungsansätze, die den Wittenberger Augustinereremiten und Universitätsprofessor konsequent aus seinem spätmittelalterlich-historischen Kontext zu verstehen suchen, an Dynamik gewonnen. Auch im Blick auf Cajetans geistig-geistlichen Werdegang beginnen sich die Deutungsherausforderungen durch neuere theologie-, philosophie- und ordensgeschichtliche Arbeiten zu wandeln. Der vorliegende Band stellt den Versuch dar, die in den letzten Jahren in Bewegung geratene Cajetan- und Lutherforschung produktiv zusammenzuführen. Er ist aus einer Tagung erwachsen, die anlässlich des fünfhundertjährigen Jubiläums der Augsburger Begegnung am 28. und 29. September 2018 im Kardinal-Hengsbach-Haus in Essen stattfand. Es ging und geht um eine kontextuelle Deutung des Augsburger Aufeinandertreffens der beiden Theologen. Die Beiträge des Bandes rekonstruieren die Augsburger Begegnung weniger in politik- und prozessgeschichtlicher Perspektive, dazu gibt es bereits eingehende Untersuchungen (Paul Kalkoff, Jared Wicks), sondern fragen vielmehr nach den Denk-, Lebensund Glaubenszusammenhängen, in denen die Protagonisten standen, als sie in Augsburg aufeinandertrafen. Ziel ist es, von der Biographie, dem monastischen Lebensraum und den in der theologischen Kontroverse sichtbar werdenden theologischen Grundüberzeugungen her einen Beitrag zur Frage nach dem Verständnis- oder auch Missverständnisgewinn zu leisten, den beide Protagonisten in Augsburg erreichten und in dem die historische Bedeutung der Begegnung vorrangig zu suchen sein dürfte. Unverzichtbar ist zunächst eine biographische Orientierung. Klaus Unterburger untersucht Cajetans philosophisch-theologischen Werdegang mit besonderem Fokus auf der Anthropologie, Ontologie sowie Buß- und Gnadenlehre. Von nachhaltiger Wirkung war vor allem die Paduaner Studien- und Lehrzeit, in der die Auseinandersetzung mit der an der Universität vorherrschenden naturalistischen Aristotelesinterpretation die Lehre in den Ordensstudia bestimmte und in der Cajetan im gemeinsamen Kampf gegen Averroes – vermittelt durch den Skotisten Antonio Trombetta – zwar Thomas von Aquin verteidigte, nicht ohne jedoch Thomas von Johannes Duns Scotus her zu deuten und zu akzentuieren. Diese Scotus-Rezeption drängte die augustinischen Elemente des cajetanschen Thomismus zurück, was für die Begegnung mit Luther geradezu „schicksalhaft“ (S. 14) wurde. Stefan Michel referiert in seinem Beitrag zu Luthers theologischer Entwicklung wichtige biographische Ankerpunkte und nimmt Überlegungen aus der neuesten Diskussion um den „reformatorischen Durchbruch“ auf, wenn er Luthers Weg zum Reformator durch eine mit patristischen wie mystischen Leittexten verbundene Bibellektüre bestimmt sieht. Ohne die Durchbruchs-
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metapher als Deutungskategorie völlig zu verabschieden, ist der reformatorische Werdegang Luthers zutreffender doch als „Entwicklung“ (S. 26) zu beschreiben. Eigene Sondierungen erfordert sodann der monastische Lebensraum der beiden Theologen. Elias H. Füllenbach OP beschreibt Cajetan als herausragenden, aber bereits zu Lebzeiten keineswegs unumstrittenen Reformer des Dominikanerordens, der sich von seinem konventualen Hintergrund her schon früh um eine Einigung der verschiedenen Ordensströmungen auf der Basis eines asketisch-wissenschaftlichen Lebensideals und eines erneuerten, spekulativen Thomismus bemüht hat. Seine Konflikte mit dem Orden ergaben sich nicht erst aus den späten, umstrittenen exegetischen Schriften, sondern wurzelten bereits in einer für die Konventualen keineswegs untypischen Skepsis gegenüber observanten Reformvorstellungen. Luthers Stellung innerhalb des Ordens der Augustinereremiten beleuchtet Hans Schneider an dem biographischen Einschnitt der Entbindung vom Ordensgehorsam im Anschluss an die Augsburger Begegnung. Luthers Ordensvorgesetzter Johann von Staupitz „löste“ den Wittenberger Mönch damals lediglich vom Gehorsam gegenüber der deutschen Reformkongregation, ein Ausschluss vom Orden oder gar vom mönchischen Gehorsamsgelübde war damit nicht verbunden. Der „halbherzige Versuch eines Befreiungsschlags“ (S. 77) brachte die Kongregation zwar aus der kurialen Schusslinie, hatte aber auch zur Konsequenz, dass Luther den Rechtsschutz durch den Orden verlor. Die weiteren Beiträge suchen die Konturen des theologischen Denkens beider Protagonisten durch exemplarische Betrachtung der in Augsburg angesprochenen oder damit in Verbindung stehenden Themen herauszuarbeiten. Unmittelbarer Ausgangspunkt der causa Lutheri war die Kritik des Wittenberger Professors an der spätmittelalterlichen Ablasstheologie und -praxis. Marcel Nieden zeichnet das spezifische, in mancher Hinsicht eigenwillige Profil des Ablassverständnisses nach, das der Kardinal in dem noch ohne Kenntnis der 95 Ablassthesen verfassten Tractatus de indulgentiis und in den bereits auf einer gründlichen Lektüre von Luther-Texten beruhenden Augsburger Traktaten mit hoher inhaltlicher Konkordanz dargelegt hat. Anders als von der neueren Forschung behauptet, zeigen sich Cajetans Überlegungen von der Ablasskritik Luthers weithin unbeeindruckt. Martin Ohst stellt die Innovativität des in Luthers Ablasskritik bereits ‚durchscheinenden‘ neuen Verständnisses christlicher Religion pointiert heraus und kann von daher vor allem das Nichtverstehen der beiden Kontrahenten, aber auch Cajetans kirchenpolitische Vorbehalte verständlich machen. Die systemimmanente, kirchenkonforme und an der bestehenden Kirche offensichtlich durchaus noch interessierte Kritik Luthers im Zusammenhang der Ablasskontroverse ist von dem sich abzeichnenden religiösen Umbruch her zu relativieren. In der Kontroverse kamen unterschiedliche wissenschaftstheoretische Konzeptionen von Theologie zur Geltung. Alfons Knoll entfaltet Cajetans Theologieverständnis anhand seines Kommentars zu den ersten beiden Quaestionen
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der Summa theologiae des Thomas von Aquin. Vor dem Hintergrund der innerscholastischen Debatten zwischen Thomisten und Skotisten wird deutlich, dass Cajetan die Theologie als eine zugleich theoretische und praktische „Glaubenswissenschaft“ (S. 136) verstanden hat, die sich als Metaphysik in das System der Wissenschaften einfügt und durch die Kooperation mit der Philosophie von einer allein auf die Heilige Schrift bezogenen, biblischen Theologie entfernt. Jens Wolff akzentuiert demgegenüber die spezifische Kreuzestheologie, die Luther seit der Heidelberger Disputation im Jahr 1518 zur Geltung brachte und dann insbesondere in seinen Operationes in Psalmos weiterentwickelte. Einen inhaltlichen Schwerpunkt der Augsburger Begegnung bildete die Frage der Glaubensgewissheit. Michael Basse analysiert die intensive Beschäftigung Cajetans mit dieser Thematik insbesondere in den Traktaten, die Cajetan zur Vorbereitung auf das Gespräch mit Luther Ende September und Anfang Oktober 1518 verfasste. Darin legte er in kritischer Auseinandersetzung mit Luthers Sermo de poenitentia und dessen Resolutiones zu den Ablassthesen das scholastische Glaubensverständnis dar, wonach die Infallibilität der sakramental vermittelten fides infusa keine individuelle Glaubensgewissheit begründet, weil der Mensch stets daran zweifeln müsse, ob er mit seinem Glauben und seiner Liebe Gott genügen kann. Die Entwicklung in Luthers Verständnis der Glaubensgewissheit rekonstruiert Theodor Dieter zum einen auf der Grundlage der Texte, die Cajetan vorlagen, und zum anderen im Blick auf die Disputation Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis sowie die Acta Augustana. Dabei wird die spezifische „Logik des Glaubens“ (S. 202) aufgezeigt, die für Luthers Auffassung grundlegend und mit dem scholastischem Glaubensverständnis Cajetans nicht kompatibel war. Die ekklesiologische Dimension der Kontroverse kam in Cajetans Kritik zum Ausdruck, Luthers Auffassung der Glaubensgewissheit bedeute, eine neue Kirche zu bauen. Barbara Hallensleben profiliert Cajetans Ekklesiologie im Kontext von Scholastik, Renaissancehumanismus und beginnender Reformation unter besonderer Berücksichtigung der Predigten, die Cajetan zwischen 1501 und 1504 am Papsthof hielt. Vor dem Hintergrund der Aristotelesrezeption und der humanistischen Debatten um das Menschenbild wird deutlich, dass Cajetan in seinen Predigten „die unvergleichliche Sonderstellung des Menschen im geschöpflichen Kosmos“ (S. 236) akzentuierte, indem er die Berufung des Menschen zum Mitarbeiter Gottes von einem „strikt theozentrischen Ansatz“ (ebd.) her begründete. Die anlass- und kontextgebundene Dynamik, mit der sich Luthers Kirchenverständnis bis zu der Augsburger Begegnung entwickelte, wird in dem Beitrag von Christian Volkmar Witt nachgezeichnet. Im Vordergrund standen dabei die Fragen der Autorität des päpstlichen Amtes sowie der Verbindlichkeit kirchlicher Normen und Traditionen, zu denen sich Luther schrittweise immer deutlicher positionierte, indem er die Aufgabe der Verkündigung des Wortes Gottes in das Zentrum der Ekklesiologie rückte.
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Über die Rekonstruktion der Begegnung hinausgehend, weist Volker Leppin die für die Erinnerungen des älteren Luther an das Augsburger Verhör signifikante Überlagerung mit späteren Ereignissen (Wormser Reichstag, Invokavitpredigten) auf. Die Entbindung des Mönchs vom Ordensgehorsam durch Johann von Staupitz dürfte als Ursache einer autobiographischen Bedeutungsaufladung zu interpretieren sein, die in der Rückschau die Augsburger Vorgänge insgesamt gewichtiger machte, als sie faktisch gewesen waren. In einem nochmals zur Veröffentlichung aufgenommenen Gastbeitrag entwirft schließlich Berndt Hamm einen Entwicklungsbogen von Luthers theologischem Denken in den Jahren 1513–1518. Einseitige Fixierungen der Forschung auf eine erst ab 1518 entwickelte Worttheologie oder auf eine schon früh einsetzende Fortschreibung mystischer Theologie sind zugunsten einer schon in der ersten Psalmenvorlesung begegnenden Gleichzeitigkeit von Verinnerlichung des eigenen Ungenügens und Außenorientierung auf das gesprochene und geschriebene Evangelium hin zu überwinden. Beide Tendenzen zeigen im Vergleich mit spätmittelalterlichen Interiorisierungs- und Exteriorisierungsbewegungen von Anfang an charakteristische Züge, indem Luther einerseits nach innen Anfechtungserfahrungen und Gewissheitserfahrungen radikalisiert, andererseits nach außen den Glauben im verbum externum begründet. Den Herausgebern ist es eine angenehme Pflicht, der Autorin und den Autoren für die Bereitschaft zu danken, mit der sie sich auf das Projekt einer Begegnungsrekonstruktion eingelassen haben. Dankbar zu nennen ist ferner die vielfältige Unterstützung, ohne die Tagung und Tagungsband nicht hätten realisiert werden können. Dirk Hartmann, Dekan der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen, sowie das Institut für Evangelische Theologie an der Technischen Universität Dortmund haben mit namhaften Zuschüssen die Finanzierung der Tagung sichergestellt. Rita Lehmann, Sekretärin am Essener Institut für Evangelische Theologie, hat in bewährter Umsicht und Sorgfalt das Symposion organisiert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des KardinalHengsbach-Hauses haben mit ihrer Gastfreundschaft entscheidend zur allseits festgestellten amikalen Tagungsatmosphäre beigetragen. Lisa Granz, wissenschaftliche Hilfskraft an der Dortmunder Professur für Kirchen- und Theologiegeschichte, hat mit scharfem Blick die Textbeiträge formal überarbeitet und die Register erstellt. Allen Genannten danken wir herzlich. Zu besonderem Dank verpflichtet sind wir nicht zuletzt den Herausgeberinnen und Herausgebern der Reihe „Spätmittelalter, Humanismus, Reformation“ für die Aufnahme des Bandes sowie Elena Müller und Bettina Gade vom Verlag Mohr Siebeck für die ausgezeichnete verlegerische Betreuung. Dortmund und Essen, im August 2021
Michael Basse Marcel Nieden
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X III Klaus Unterburger Cajetans philosophisch-theologischer Werdegang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Stefan Michel „Diese drei Tage über ist mein Sach in eim sehr harten Stand gestanden“. Martin Luthers biographische und theologische Entwicklung bis 1518 . . . . 15 Elias H. Füllenbach OP Cajetan und der Dominikanerorden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Hans Schneider Luthers Entbindung vom Ordensgehorsam. Eine Etappe auf dem Weg des Augustinereremiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Marcel Nieden Cajetans Ablassverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Martin Ohst Martin Luthers Ablasskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Alfons Knoll Theologie als Wissenschaft. Cajetan im Gespräch mit Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Jens Wolff Luthers Theologieverständnis im Jahre 1518 als theologia crucis. Konflikte und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Michael Basse Glaube und Gewissheit bei Cajetan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
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Inhaltsverzeichnis
Theodor Dieter Promissio Christi. Martin Luthers Verständnis der Gewissheit des Glaubens in der Kontroverse mit Kardinal Cajetan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Barbara Hallensleben Cajetan als Prediger. Ein Beitrag zur Rekonstruktion seiner Begegnung mit Martin Luther 1518 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Christian Volkmar Witt Ekklesiologie im Werden. Die Kirche bei Luther vor dem Hintergrund des Streits um Normen und Autorität 1517/1518 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Volker Leppin Luthers späte Rückblicke auf das Augsburger Verhör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Berndt Hamm Wendung nach innen – Wendung nach außen Luthers reformatorische Neuorientierung bis 1518 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Verzeichnis der Autorin und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
Abkürzungen a. articulus arg. argumentum Bayer Bayer, Oswald, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Göttingen 1971 (FKDG 24), ND Darmstadt 21989. Brecht I–III Brecht, Martin, Martin Luther, 3 Bde., Stuttgart 31990. c. caput, capitulum cons. consideratio d. distinctio ders. derselbe dies. dieselbe(n) dub. dubium Friedberg I / II Corpus Iuris Canonici. Editio Lipsiensis secunda post Aemilii Ludovici Richteri curas ad librorum manu scriptorum et editionis Romanae fidem recognovit et adnotatione critica instruxit Aemilius Friedberg, 2 Bde., Leipzig 1879/1881, ND Graz 1959. Fabisch / Fabisch, Peter /Iserloh, Erwin, Dokumente zur Causa Lutheri. Iserloh I/II (1517–1521), 2 Bde., Münster i. W. 1988/1991 (CCath 42/43). Felmberg Felmberg, Bernhard Alfred R., Die Ablasstheologie Kardinal Cajetans (1469–1534), Leiden u. a. 1998 (SMRT 66). fol. folium Hallensleben Hallensleben, Barbara, Communicatio. Anthropologie und Gnadenlehre bei Thomas de Vio Cajetan, Münster i. W. 1985 (RGST 123). Hamm Hamm, Berndt, Ablass und Reformation. Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016. Hennig Hennig, Gerhard, Cajetan und Luther. Ein historischer Beitrag zur Begegnung von Thomismus und Reformation, Stuttgart 1966 (AzTh 2/7). Leonina Thomas von Aquin, Sancti Thomae Aquinatis Doctoris Angelici Opera Omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, Bd. 1 ff., Rom 1882 ff. Leppin Leppin, Volker, Martin Luther (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 32017. lib. liber masch. maschinenschriftlich Morerod I / II Morerod, Charles, Cajetan et Luther en 1518. Edition, traduction et commentaire des opuscules d’Augsbourg de Cajetan, 2 Bde., Fribourg 1994 (Cahiers Œcuméniques 26). n. numerus ND Nachdruck
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Abkürzungen
NF Neue Folge not. nota NR Neue Reihe NS Nouvelle Serie / New Series OP Ordo fratrum praedicatorum p. pars Pesch Pesch, Otto Hermann, „Das heißt eine neue Kirche bauen“. Luther und Cajetan in Augsburg, in: Max Seckler (Hg.), Begegnung. Beiträge zu einer Hermeneutik des theologischen Gesprächs, Graz 1972, 645–661. prol. prologus q. quaestio qla. quaestiuncula r (folio) recto Selge Selge, Kurt-Victor, Normen der Christenheit im Streit um Ablaß und Kirchenautorität 1518 bis 1521, Habil.schrift [masch.] Heidelberg 1968. sc. sed contra sol. solutio s. v. sub voce tom. tomus, tome tr. tractatus Tr. Tischrede un. unica, unicus u. ö. und öfter v (folio) verso Vulg. Vulgata Wicks Wicks, Jared, Cajetan und die Anfänge der Reformation, Münster i. W. 1983 (KLK 43).
Cajetans philosophisch-theologischer Werdegang Klaus Unterburger Jacopo de Vio, der nach seinem Ordensnamen dann Frater Tommaso und später nach seinem Geburtsort Gaeta Cajetanus genannt wurde, wurde bereits von seinem Mitarbeiter, dem Dominikaner Bartolomeo Spina (ca. 1478–1546/47), als quasi vivens Aquinatis imago charakterisiert.1 Noch mehr als alle anderen frühen Cajetan-Biographen schildert er dessen Lebensgeschichte als Geschichte eines intellektuellen Lebens: Nach seinem Ordenseintritt 1484 und dem Noviziat in Neapel wird Cajetan zum Studium an den traditionsreichen Konvent nach Bologna geschickt. Als er die dortigen Studien 1488 krankheitsbedingt unterbrechen muss, wird er als studens artium bezeichnet.2 In Bologna wie auch andernorts unterhielten die Mendikanten ein eng an der Universität orientiertes, aber auch mit ihr verbundenes Studiensystem, zu dem der begabtere Nachwuchs zugelassen wurde und in dem zwischen studium generale des Ordens und Universität Überschneidungen und Übertrittsmöglichkeiten bestanden. Die für Cajetan noch entscheidendere und prägendere Formationsphase sollte dann aber ab 1491 an der venezianischen Universität in Padua beginnen. Spina berichtet, dort habe er unter seinem Lehrer Valentin Camers aus Perugia sich ganz den Studien hingegeben, so dass er in kurzer Zeit und noch als junger Mann die höchsten universitären Würden erworben hatte.3 In Padua las er die Artes und dann die Sentenzen am Ordensstudium, 1493 wurde er auch an der inneren Universität als baccalaureus formatus geführt; schließlich wurde er schon ein Jahr später, also mit 25 Jahren, zum magister theologiae kreiert, nachdem er auf dem Generalkapitel Pfingsten 1494 in Ferrara vor großem Publikum sich mit Pico della Mirandola (1463–1494) einer öffentlichen Disputation unterzog, ein halbes Jahr vor dessen frühen Tod. Deutlich wird, wie gerade für Angehörige 1 Vgl. Laurent, Marie-Hyacinthe, Les premières biographies de Cajétan, in: RThom 39 (= NS 17) (1934/35), 444–503, hier 449 (Bartolomeo Spina). 2 Vgl. ebd. 3 „Sacrae nempe Praedicatorum religionis, non nisi sapientiam toto orbe resonantis instituto, iuvenis admodum, Deo initiatus, dum haud quamquam segniter virtutum actibus adipiscendisque litteris sese totum impenderet, praeceptorem eiusdem professionis aevo illo philosophorum ac theologorum saptientissimum, Valentinum Perusia oriundum eidem Dominus praeparavit, sub cuius magisterio brevi dierum spatio sic harum scientiarum assecutus est apicem ac culmen conscendit, ut id adolescens adipisceretur honoris quod non nisi veterani milites vix reportant.“ Ebd., 450.
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Klaus Unterburger
der Bettelorden durch eine weitverbreitete Dispenspraxis die theoretisch langen Studienzeiten verkürzt werden konnten, auch wenn nicht klar ist, ob dieser Magistergrad auch an der Universität selbst Geltung erlangt hat.4 Bologna und Padua als Studienorte, dies bedeutete ein Studium an den Hochburgen des damaligen Aristotelismus. Gerade die Jahrzehnte 1482–1509 können als Blüte des Aristotelismus in Padua gelten.5 Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat eindrucksvoll unterstrichen, wie sehr dort auch noch in der Folgezeit eine Wechselwirkung bestand zwischen dem Bemühen um exakte Exegese der aristotelischen Texte und methodischem Fortschritt in der Naturforschung. Noch Galileo Galilei unterrichtete 1592–1610 an der Universität in Padua und hat seine resolutiv-kompositive Methode aus den aristotelischen Diskursen heraus weiterentwickelt.6 In Padua rang man – gestützt auf die Auslegung des Aristoteles – um das philosophische Bild vom Menschen. Cajetan wuchs in eine spezifische Debattenkonstellation hinein. Spina nennt die dortige Universität florentissimus, betont die Konkurrenz zum Franziskaner Antonio Trombetta, der schon den dortigen Lehrstuhl einnahm, als Cajetan noch nicht einmal geboren war (nämlich seit 1469).7 Auch Giovanni Battista Flavio betonte in seiner Trauerrede auf Cajetan von 1535 dessen Disputationen mit den Skotisten Trombetta und Maurizio O’Fihely.8 Beide Strömungen, der in Padua herausragende Skotismus, der seine Basis im Konvent des Santo, also des Franziskanerheiligen Antonius von Padua hatte, und der Thomismus der Dominikaner an St. Augustin, hatten ihre Grundlage in den beiden Metaphysiklehrstühlen, der eine nach der via Scoti, der andere nach der via Thomae. Sie waren in der artes-Fakultät aber so gleichsam Minderheitenmeinungen gegen die rein aristotelische Sicht 4 Vgl. Frank, Isnard W., Die Bettelordensstudia im mittelalterlichen Universitätswesen, Stuttgart 1988 (Vorträge des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 83); ders., Hausstudium und Universitätsstudium der Wiener Dominikaner bis 1500, Wien 1968 (Archiv für Österreichische Geschichte 127); Boyle, Leonard E., Notes on the Education of the fratres communes in the Dominican Order in the Thirteenth Century, in: ders., Pastoral Care, Clerical Education and Canon Law, 1200–1400, London 1981, 249–267; Mulchahey, M. Michèle, The Dominicans’ Studium in Bologna and its Relationship with the University in the Thirteenth Century, in: Roberto Lambertini (Hg.), Praedicatores-doctores. Lo Studium generale dei frati Predicatori nella cultura bolognese tra il 200 e il ʾ300, Florenz 2008 (Memorie dominicane. Nuova Seria 39), 17–30. 5 Vgl. Poppi, Antonio, L’Antiaverroismo della scolastica padovana alla fine del secolo XV, in: Studia Patavina 11 (1964), 102–124, hier v. a. 102 f. 6 Vgl. R andall, John H., Paduan Aristotelianism Reconsidered, in: Edward P. Mahoney (Hg.), Philosophy and Humanism. Renaissance Essays in Honor of Paul Oskar Kristeller, New York 1976, 275–282. 7 „Nempe cui Metaphysices publica lectura in florentissimo Patavino gymnasio, sic demandata est, ut cum illo concurreret Trombetta, viro inquam tempestate illa non vulgari, qui plus temporis lecturam hanc prosequendo consumpserat quam hic aetatis.“ Laurent, Biographies (wie Anm. 1), 450 (Bartolomeo Spina). 8 „Peracto illo solemni conventu Patavium reversus, tanto nomine honestatus, cum Mauritio ac Trombetta summis philosophis ac theologis congressus, magnum doctrinae ac sapientiae nomen adeptus est.“ Ebd., 461 (Giovanni Battista Flavio).
Cajetans philosophisch-theologischer Werdegang
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des Menschen der meisten dortigen Lehrer, die von den Mendikanten als naturalistisch bekämpft wurde. Cajetan bildete seine spezifische philosophische Position somit vor allem in Padua aus, in Anlehnung an Thomas und in Auseinandersetzung mit dem Skotismus und einem naturalistischen Aristotelismus. Diese Debatten hatten material-inhaltliche und methodisch-formelle Aspekte.
1. Unsterblichkeit der Seele und Menschenbild Aristoteles hat in seiner berühmten Analyse des begrifflichen Denkens in De Anima III,5 bekanntlich den Geist beschrieben einerseits als einen solchen, der als eine Art „tabula rasa“ alle Begriffe empfangen kann, aber selbst keiner derselben ist (nous pathetikos), andererseits aber als aktiv (nous poiethikos), indem er die Begriffe aus den sinnlichen phantasmata erst bildet. Dann folgen die berühmten, vieldiskutierten Sätze: „Der Geist denkt nicht zuweilen und zuweilen denkt er nicht. Aber erst, wenn er abgetrennt ist, ist er das, was er wirklich ist, und nur dieses ist unsterblich und ewig. Wir erinnern uns aber nicht daran; denn der eine Teil ist wohl leidenslos, der leidensfähige Geist aber vergänglich, und ohne diesen gibt es kein Denken.“9
Aus Kapitel II von De Anima stand zugleich fest, dass die Seele bei lebendigen Wesen die Form des Leibes, die Trägerin der lebendigen Vermögen ist.10 Ebenso stand fest, dass die Form durch die Materie (hyle) zu einem konkreten, raumzeitlichen Individuum wird. Wenn also die Seele Lebensprinzip der lebendigen Dinge ist und diese entstehen können, so können sie auch wieder vergehen. Soweit also der individuelle Mensch eine Seele hat, soweit ist diese sein Lebensprinzip bis zu seinem Tod. Der denkend-abstrahierende Geist ist aber eigentlich er selbst nur, wenn er davon abgetrennt ist; nur dann, also überindividuell, ist er „unsterblich und ewig“. Die Schriften des Aristoteles sind nach dessen Tod dabei zunächst nach Verlust der Schulbibliothek verstreut worden und zum Teil in Vergessenheit geraten. Erst Andronikos von Rhodos hatte kurz vor Christi Geburt eine Neuausgabe der bislang weithin vergessenen Abhandlungen veranstaltet; Galen hielt diese Philosophie für die eigentliche Propädeutik der Medizin.11 Seither begann man Aristoteles wissenschaftlich zu kommentieren. Der Kommentar des Alexander von Aphrodisias, der um das Jahr 200 verfasst wurde, war dabei am wirkmächtigsten: er identifizierte den tätigen Geist mit dem göttlichen unbewegten Aristoteles, De Anima III,5 (430a 21–25). Vgl. ebd. II, 1 (412a 20 f.); vgl. Schark, Marianne, Der aristotelische Begriff des Lebe wesens, in: Bruno Niederbacher / Edmund Runggaldier (Hg.), Die menschliche Seele. Brauchen wir den Dualismus?, Heusenstamm 2006, 175–196. 11 Vgl. Höffe, Ottfried, Aristoteles, München 1996, 265 f. 9 10
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Beweger der Metaphysik.12 Themistios entwickelte dies unter neuplatonischem Einfluss im 4. Jahrhundert zur These weiter, der aktive bzw. produktive Geist sei überindividuell und vom Körper ablösbar, er ermöglicht gemeinsames Verstehen; anders als bei Alexander gilt dies auch für den potentiellen Geist. Dagegen sei der leidende Geist aber individuell und mit dem Körper notwendig verbunden und damit vergänglich.13 Mit der Aristotelesrenaissance in der islamischen Welt lebten diese Theorien wieder auf: Nach Al-Kindi und Al-Farabi war nur der aktive Intellekt überindividuell und unsterblich, nach Ibn Rushd auch der passive.14 Über die islamische Philosophie vermittelt war dies also die zentrale Anfrage an das Menschenbild der christlichen Offenbarung: War ein Fortleben des individuellen Menschen nach dem Tod denkbar oder sogar beweisbar? Oder muss sich der Mensch mit dem Schicksal alles Lebendigen, alles Sterblichen, abfinden? Bekanntlich hatten Albertus Magnus und Thomas von Aquin versucht zu zeigen, dass intelligere unser eigenes, individuelles Werk sein müsse, die Seele als Form des Leibes aber nur eine einzige sein könne. Wenn der Intellekt des Menschen unsterblich ist, dann dessen ganze individuelle Seele.15 12 „Der
charakteristischste Aspekt der alexandrinischen Noetik ist zweifellos die Identifizierung des in Kapitel Γ 5 erörterten ‚aktuellen Intellekts‘ mit Gott. Wie wir bereits oben sahen, neigte der Exeget dazu, sämtliche Erwähnungen von der Substantialität des Nus, seiner Trennbarkeit, seiner göttlichen Natur und seiner Ewigkeit auf Gott selbst zu beziehen.“ Moraux, Paul, Der Aristotelismus bei den Griechen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. 3: Alexander von Aphrodisias, hg. von Jürgen Wiesner, Berlin / New York 2001 (Peripatoi 7/1), 350. 13 Vgl. Schramm, Michael, Themistios, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 5/1: Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike, hg. von Christoph Riedweg et al., Basel 2018, 406–427, hier 419 f. 14 Vgl. Rudolph, Ulrich, Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2004, 19 f.35.75 f.; Davidson, Herbert A., Alfarabi, Avicenna, and Averroes on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the Active Intellect, and Theories of Human Intellect, New York / Oxford 1992. 15 Vgl. Bormann, Karl, Wahrheitsbegriff und Nous-Lehre bei Aristoteles und einigen seiner Kommentatoren, in: Albert Zimmermann (Hg.), Studien zur mittelalterlichen Geistesgeschichte, Berlin / New York 1982 (MM 15), 1–24; Anzulewicz, Henryk, Entwicklung und Stellung der Intellekttheorie im System des Albertus Magnus, in: AHDL 70 (2003), 165–218; Hasse, Dag Nikolaus, Das Lehrstück von den vier Intellekten in der Scholastik, in: Recherches de théologie et philosophie médiévales 66 (1999), 21–77; Craemer-Ruegenberg, Ingrid, Alberts Seelen- und Intellektlehre, in: Albert Zimmermann (Hg.), Albert der Große. Seine Zeit, sein Leben, seine Wirkung, Berlin / New York 1981 (MM 14), 104–115; Kluxen, Wolfgang, Seele und Unsterblichkeit bei Thomas von Aquin, in: Klaus Kremer (Hg.), Seele. Ihre Wirklichkeit, ihr Verhältnis zum Leib und zur menschlichen Person, Leiden / K öln 1984 (Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie 10), 66–83; Müller, Jörn, Die Seele als Seins- und Tätigkeitsprinzip des menschlichen Lebens nach Averroes, Albertus Magnus und Thomas von Aquin, in: Petra Bahr / Stephan Schaede (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Untersuchungen zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, Tübingen 2009 (Religion und Aufklärung 17), 183–217; Mahoney, Edward P., Themistius and the Agent Intellect in James of Viterbo and Other Thirteenth-Century Philosophers (Saint Thomas, Siger of Brabant and Henry Bate), in: Aug(L) 23 (1973), 422–467.
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Padua war seit dem späten 14. Jahrhundert eine Hochburg eines naturalistischen Aristotelismus geworden, im engen Austausch mit der Oxforder Tradition der via moderna auf dem Gebiet der Logik. Der Augustinereremit Paulus Venetus brachte die terministische Logik von seinem Oxford-Aufenthalt mit; in der Psychologie vertrat er die klassisch averroistische These, dass der intellectus possibilis allgemein und ewig sein müsse, da ja auch die Allgemeinbegriffe allgemein, notwendig und ewig seien, es also nur einen überindividuellen, einzigen Intellekt geben könne.16 Sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Naturphilosophie, Gaetano da Thiene, versuchte die averroistische Einsicht, dass die Seele, wenn sie unsterblich sein solle, nicht Form des Menschen sein könne, die mit dem Tod verschwinde, aufzugreifen. Die Annahme eines überindividuellen Intellekts würde aber andererseits dazu führen, dass es keine individuelle begriffliche Erkenntnis gäbe. Um dem Dilemma Lebensprinzip oder Unsterblichkeit zu entgehen, entwickelte er gegen Aristoteles deshalb eine christliche Alternativlösung: Die Seele sei individuell, aber von außen, durch eine creatio ex nihilo, zur Materie hinzugefügt; sie könne deshalb auch unsterblich sein. Deutlich wird hier ein neuplatonischer Einfluss.17 Der angesehenste Aristoteliker in Padua zurzeit Cajetans war aber Nicoletto Vernia (ca. 1420–1499). Er vertrat im Gegensatz dazu: Die Annahme einer creatio ex nihilo würde die aristotelische Naturphilosophie in ihren Grundprinzipien zerstören; anfangs ein Anhänger der averroistischen These, zwang ihn 1489 ein Dekret des Bischofs Pietro Barozzi von Padua, seine Lehre zu revidieren; der Bischof hatte zudem die öffentliche Diskussion um die Einheit des Intellekts untersagt.18 Unter dem Einfluss des antiken Aristoteleskommentars des Simplicius kritisierte Vernia nunmehr Averroes und ging von einer fundamentalen Harmonie zwischen Aristoteles und Platon aus.19 Während sein Schüler Agostino Nifo (ca. 1473–nach 1538) diesen Weg noch radikaler weiterging, also den averroistischen Standpunkt verlies und unter neuplatonischem Einfluss die Unsterblichkeit der individuellen Geistseele lehrte, da der überindividuelle Intellekt die Seele formiere und ihr an ihm Anteil gebe,20 war sein anderer Schüler und Nach16 Vgl. Kessler, Eckhard, Psychology. The Intellective Soul, in: Charles Schmitt / Quentin Skinner (Hg.), The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge 1988, 485–534, hier 488–490. 17 Vgl. ebd., 490–492. 18 Vgl. Mahoney, Edward P., Nicoletto Vernia on the Soul and Immortality, in: ders. (Hg.), Philosophy and Humanism. FS Paul Oskar Kristeller, New York 1976, 144–163; De Bellis, Ennio, Nicoletto Vernia. Studi sull’aristotelismo del XV secolo, Florenz 2012 (Quaderni di Rinascimento 50), 94–97. 19 Vgl. De Bellis, Nicoletto Vernia (wie Anm. 18), 121–132. 20 Vgl. Mahoney, Edward P., Nicoletto Vernia and Agostino Nifo on Alexander of Aphrodisias. An unnoticed Dispute, in: RCSF 23 (1968), 268–296; ders., Two Aristotelians of the Italian Renaissance. Nicoletto Vernia and Agostino Nifo, Aldershot u. a. 2000; Kessler, Psychology (wie Anm. 16), 496–500.
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folger in Padua auf dem Lehrstuhl, Pietro Pomponazzi (1462–1525), bestrebt, den reinen Aristoteles zu verteidigen. Die Seele ist Lebensform des Menschen; auch der Intellekt ist stets auf die Sinneswahrnehmung in der Erkenntnis angewiesen. Die Unsterblichkeit der Seele könne so niemals philosophisch bewiesen werden, ja unsterbliche Geister könne es aristotelisch nicht geben. Er stützte sich auf den Kommentar des Alexander von Aphrodisias und entwickelte spätestens 1503/04 die antiaverroistische These von der Sterblichkeit der Seele des Menschen, auch seines Intellekts.21 In der Frage der Unsterblichkeit der Seele kulminierten so methodische und inhaltliche Fragen. Es ging nicht nur um die korrekte Aristotelesauslegung, sondern auch um das Verhältnis von Philosophie und Wissen zu Offenbarung und Glauben. Es standen sich letztlich drei Positionen in diversen Schattierungen gegenüber: der Mensch als vergängliches Lebewesen in Analogie zu allem Lebendigen; die Betonung der Andersartigkeit des Geistes, der dann aber von außen in die individuelle Welt des Werdens und Vergehens hineinragt, wobei dann die menschliche Individualität letztlich animalisch bleibt; oder eben die These der Unsterblichkeit der individuellen Geistseele, die aber völlig die aristotelische Ontologie aufsprengt und die Leib-Seele-Einheit des Menschen dann nicht mehr erklären kann. Dies war die Problemlage, in der Antonio Trombetta und Tommaso de Vio Cajetanus auf dem skotistischen und dem thomistischen Lehrstuhl standen. Eine Bekämpfung der radikalaristotelischen Positionen schien sich der zuständige Bischof dabei vor allem von den Skotisten zu erhoffen, forderte er doch 1489 auch vom Senat, den Skotisten Maurizio O’Fihely (ca. 1460–1513) nach Padua zurückzuholen.22 Den Versuch des Nachweises, dass Averroes den Aristoteles missverstanden habe, unternahm dann aber sein Ordensmitbruder Trombetta, der seine Quaestio de animarum humanarum pluralitate 1497 an seinen Bischof schickte und dafür belobigt wurde.23 Duns Scotus hatte einerseits die aristotelische These festgehalten von der Seele als Entelechie des Menschen, andererseits aber in De Anima II,2 doch einen Hinweis gefunden, dass die Vernunft abtrennbar sei wie das Ewige vom Vergänglichen. Allerdings sei die Unsterblichkeit der Seele nur haltbar, wenn sie einen anderen Ursprung habe als die Entelechien der übrigen Lebewesen, nämlich 21 Vgl. Wonde, Jürgen, Subjekt und Unsterblichkeit bei Pietro Pomponazzi, Stuttgart / Leipzig 1984 (BzA 48); Petagine, Antonio, Come una donna di rara sagezza. Il De immortalitate animae di Pietro Pomponazzi e la psicologia di Tommaso d’Aquino, in: Marco Sgarbi (Hg.), Pietro Pomponazzi. Tradizione e dissenso. Atti del congresso internazionale di studi su Pietro Pomponazzi, Mantova 23–24 ottobre 2008, Florenz 2010 (Biblioteca mantovana 9), 41–74; Kessler, Psychology (wie Anm. 16), 500–504. 22 Vgl. Mahoney, Edward P., Antonio Trombetta and Agostino Nifo on Averroes and Intelligible Species. A Philosophical Dispute at the University of Padua, in: Antonio Poppi (Hg.), Storia e cultura nel Convento al Santo di Padova, Vicenza 1976, 289–301; Wicks, 11 f. 23 Vgl. Trombetta, Antonio, De animarum humanarum pluralitate contra Averroistas, Venedig 1498.
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die göttliche creatio ex nihilo; auch das Streben des Menschen nach einem Fortleben nach dem Tod hatte für ihn keine volle Beweiskraft, trotz des Axioms, dass kein Naturstreben unerfüllt sein dürfe, so dass die Frage ein problema neutrum bleibe.24 Trombetta folgte dieser skotistisch-averroistischen Tradition; er wollte sich aber nicht damit zufriedengeben, dass die Unsterblichkeit nur Glaubensgegenstand sei. Er näherte sich deshalb dem Thomismus an. Hauptziel war es, in skotistischer Tradition zwar die Individualität des Intellekts gegen den Averroismus zu erweisen; dennoch ging er weiter als Scotus: Für die Seele gelte der Grundsatz, dass das, was entstanden sei, auch wieder vergehen könne, nicht. Das Streben des Menschen nach einem Leben nach dem Tod sei ein Naturstreben, das die Unsterblichkeit der Seele beweise.25 Cajetan hat die Frage nach der Unsterblichkeit als Kernpunkt einer philosophischen Anthropologie und des Verhältnisses von Glauben und Wissen ein Leben lang begleitet. 1503 vertrat er in einer Predigt für den Papst zu diesem Thema dieselben Beweise: Da die intellektuellen Vollzüge keine körperlichen Funktionen seien, müsse der Intellekt unabhängig subsistieren. Das Naturstreben nach Unsterblichkeit könne nicht vergebens sein.26 1509 erschien dann sein Kommentar zu De Anima. Aristoteles sei nicht eindeutig; er habe uns Hinweise für die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele gegeben, die aber der Interpretation bedürfen.27 Cajetan distanziert sich in der Aristoteles-Interpretation von seinem Meister Thomas: Aristoteles habe nur dem intellectus agens, dessen Tätigkeit zwar auf die „Sinnenbilder“ (phantasmata) gerichtet, aber doch eigenständig sei, Ablösbarkeit, also Unsterblichkeit, zugesprochen.28 Der Mensch könne am Leben der Erkenntnis, am Göttlichen, zwar teilhaben und das höchste Glück erfahren; er bleibt aber an den Körper gebunden, mit dem er deshalb im Tod vergeht.29 Cajetan selbst kritisiert dann Aristoteles, 24 Vgl. Johannes Duns Scotus, Ordinatio IV d. 43 q. 2; Luger, Franz, Die Unsterblichkeitsfrage bei Johannes Duns Scotus. Ein Beitrag zur Geschichte der Rückbildung des Aristotelismus in der Scholastik, Wien / Leipzig 1933; Gilson, Étienne, Johannes Duns Scotus. Einführung in die Grundgedanken seiner Lehre, Düsseldorf 1959, 496–507. 25 Vgl. Poppi, L’Antiaverroismo (wie Anm. 5), 119–122. 26 Vgl. Thomas De Vio Cajetan, Oratio de immortalitate animarum coram Iulio II. pontifice maximo Dominica prima Adventus anno Salut. 1503 habita, in: ders., Opuscula omnia in tres distinctos tomos, Lyon 1588, tom. III, tract. I, oratio IV, 186b–188a. 27 „Aristoteles certe ipse, quamquam putetur exactissimus in discutiendis animae nostrae viribus, quatenus eam corporis entelechiam appellat, tamen illius immortalitatem sic titubante vestigio delibavit, ut, hoc saltem loco, praebita potius studiosis viris quam erepta videatur facultas in alteram quoque partem verba illius interpretandi.“ Thomas De Vio Cajetan, Scripta philosophica. Commentaria in de Anima Aristotelis, Bd. 1, hg. von Jean Coquelle, Rom 1938, 6; Heidingsfelder, Georg, Der Unsterblichkeitsstreit in der Renaissance, in: Albert Lang et al. (Hg.), Aus der Geisteswelt des Mittelalters. Studien und Texte Martin Grabmann zur Vollendung des 60. Lebensjahres gewidmet, Bd. 2, Münster i. W. 1935, 1265–1286. 28 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Scripta philosophica. Commentaria in de Anima Aristotelis, Bd. 3, hg. von Guy Picard / Gilles Belland, Paris / Brügge 1965, Nr. 93–98. 29 Vgl. ebd., Nr. 115.
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indem er sich auf Thomas stützt.30 Dieselbe Lösung hatte er kurze Zeit vorher in der Kommentierung der prima pars der Summa theologiae entwickelt: Die Verwiesenheit auf Sinnesbilder heißt nicht, dass der Intellekt nicht auch ohne diese erkennen könne. Er sei beides: Wesensform des Leibes und unsterblichsubsistentes Sein.31 Vor dem Hintergrund dieser Positionierung trat Cajetan auf dem fünften Laterankonzil gemeinsam mit dem Bischof Nicola Lippomani von Bergamo gegen das Dekret auf, mit dem die Philosophen an den Universitäten verpflichtet wurden, in Fragen der Unsterblichkeit der Seele und der Ewigkeit der Welt die averroistische Position zu widerlegen.32 Das Konzil hatte sich dabei mit seiner Definition der Unsterblichkeit der Seele gegen Pomponazzi gerichtet; in der Folge wurde Cajetan aus dem eigenen Orden heraus angegriffen. Bartolomeo Spina gab ihm in seinem Propugnaculum die Schuld an den Irrtümern Pomponazzis, die dieser frech weiterlehre.33 In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass Cajetan in seinen späten Schriftkommentaren die Frage als einen Glaubensgegenstand, der philosophisch nicht erweisbar sei, bezeichnet hat. Wie diese Stellen in den Kommentaren zu Kohelet und zum Römerbrief zu interpretieren sind, ist viel diskutiert worden.34 Interessant ist aber jedenfalls zu bemerken, wie sich auf der einen Seite Trombetta dem Thomismus angenähert hat, Cajetan aber umgekehrt der These des problema neutrum des Skotismus.
Vgl. ebd., Nr. 118–121. Vgl. ders., Commentaria in Summam theologiae I qq. 50–109 (Leonina 5); ebd., q. 75 a. 2; q. 75 a. 6; q. 76 a. 1; q. 89 a. 1 und q. 90 a. 2. 32 „Qua perlecta, petiit, an placerent paternitatibus suis contenta, in schedula. Et omnes responderunt simpliciter placere, excepto reverendo patre domino Nicolao episcopo Bergomensi, qui dixit, quod non placebat sibi, quod theologi imponerent philosophis disputantibus de veritate intellectus, tamquam de materia posita de mente Aristotelis, quam sibi imponit Averrois, licet secundum veritatis talis opinio est falsa. Et reverendus pater dominus Thomas generalis ordinis praedicatorum dixit, quod non placet secunda pars bullae, praecipiens philosophis, ut publice persuadendo doceant veritatem fidei.“ Mansi, Giovanni Domenico (Hg.), Sacrorum Conciliorum nova et amplissima collectio 32, Paris 1902, 843; Gilson, Étienne, Autour de Pomponazzi. Problématique de l’immortalité de l’âme en Italie au début du XVIe siècle, in: AHDL 36 (1961), 163–279, hier 173–183. 33 Vgl. Spina, Bartolomeo, Opuscula: Propugnaculum Arist. de immortalitate anime contra Tho. Caietanum, cum littera eiusdem Caietani ex commentatione sua super libros Arist. de Anima quantum proposito deseruit assumpta; Tutela veritatis de immortalitate anime contra Petrum pomponacium […] cum eiusdem libro de mortalitate anime […] toto inserto; Flagellum in tres libros apologie eiusdem […] de eadem materia; utilis questio de ordine sacro, Venedig 1519. 34 Vgl. die Auslegung von Röm 9,23 und von Koh 3,21: Thomas de Vio Cajetan, Opera omnia quotquot in Sacrae Scripturae expositionem reperiuntur, Lyon 1639, ND Hildesheim 2005, Bd. 5, 58 und Bd. 3, 608. 30 31
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2. Cajetans Ontologie Die Frage nach individueller Unsterblichkeit eines Formprinzips führt dabei in das Zentrum der Ontologie und damit eben genau in die Auseinandersetzung Cajetans mit dem Skotismus. Bereits der frühe Kommentar Cajetans zum thomanischen Jugendwerk De ente et essentia ist vor allem eine Auseinandersetzung mit diesem und Trombetta als dessen Vertreter.35 Dabei folgte er Johannes Capreolus (ca. 1380–1444), der ihm schon bei der Kommentierung der Sentenzen als Grundlage gedient hatte.36 Dies und die Auseinandersetzung mit dem Skotismus blieben in seiner Thomas-Kommentierung bestimmend: Im zwischen 1508 und 1520 erschienenen Summenkommentar gibt es über 400 Referenzen auf Duns Scotus, vor allem dessen Sentenzenkommentar.37 Diese Auseinandersetzung harrt noch weitgehend der detaillierten Analyse. Dabei sind die anthropologischen Fragen in der Ontologie fundiert. Stammt die Individualität, wie im Thomismus, aus dem Materialprinzip des lebendigen, dann ist die Individualität des Formalprinzips ohne Materie, der Geistseele, schwer zu begründen. Dies führt zu den Themen von Sein und Wesen, Akt und Potenz, Form und Materie, die zwischen Thomismus und Skotismus strittig waren und die die Grundlage der Anthropologie bilden. Cajetans ontologische Begrifflichkeit zeigt die Dominanz des skotistischen Einflusses in Padua. Zentraler Streitpunkt mit Trombetta war die thomistische Lehre von der distinctio realis zwischen existentia und essentia. Geschöpfliches Sein ist nicht wesenhaft das Sein; das Wesen ist also seinsempfangendes, potentielles und zugleich begrenzendes Prinzip und damit real vom Sein verschieden. Das endliche Seiende ist eine compositio von essentia und esse.38 Cajetan vertritt wie Thomas und anders als die Skotisten, für die der Seinsbegriff ein univoker Begriff ist, die Lehre von der analogia entis. Bereits in seinem Kommentar zu De ente et essentia hat er eine Abhandlung zur Analogielehre angekündigt, die 1498 unter dem Titel De nominum analogia erschien.39 Referenzpunkt ist nicht S.th. I, q. 13, sondern I Sent. 19, 5.40 Dabei unterscheidet er die Attributionsanalogie, bei 35 Vgl. ders., In De ente et essentia D. Thomae Aquinatis Commentaria, hg. von MarieHyacinthe Laurent, Turin 1934; Reilly, John P., Cajetan. Essentialist or Existentialist, in: The New Scolasticism 41 (1967), 191–222. 36 Vgl. Maurer, Armand, Cajetan’s Notion of Being in His Commentary on the „Sentences“, in: Medieval Studies 28 (1966), 268–278. 37 Vgl. Elders, Leo J., La théorie scotiste de l’acte indifférent et sa critique par Cajetan, in: Regnum hominis et regnum Dei. Acta Quarti Congressus Scotistici Internationalis, hg. von Camille Bérubé, Bd. 2: Studia Scholastico-Scotistica 7, Rom 1978, 207–214. 38 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, In De ente et essentia (wie Anm. 35), q. 12, v. a. Nr. 99 f., 153–157. 39 Vgl. ders., Scripta philosophica. De nominum analogia, De conceptu entis, hg. von N. Zammit / H. Hering, Rom 1952; Hallensleben, 97–108. 40 Vgl. Thomas von Aquin, Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi I d. 19 q. 5 a. 2 ad 1; Thomas De Vio Cajetan, De nominum analogia c. 1 n. 6.
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der nur einem Glied das Prädikat im eigentlichen Sinn zukommt, den anderen nur abgeleitet oder relative, von der Proportionalitätsanalogie, die viergliedrig ist, weil zwei Verhältnisse zueinander analog sind. Letztere sei es, die auf das Verhältnis Gottes zum Endlichen anzuwenden sei. Gott verhalte sich zu seinem Sein wie das Endliche zu dem seinem, wobei letzteres durch ersteres kausal hervorgebracht ist; bei einer Attributionsanalogie wäre der Selbststand des Endlichen gefährdet. Gegen Scotus will Cajetan dabei nicht die Kontingenz der Welt durch ein kontingentes Handeln Gottes erklären. Gott, so im Kommentar zu S.th. I, q. 22, verursache das Endliche so, dass Freies frei und Unfreies unfrei handle, ohne dass wir erkennen könnten, wie Gott den Effekt beider Ursachenarten hervorbringe.41 Dagegen war es das Ziel des Duns Scotus, die Kontingenz der Welt zu sichern, indem sie durch einen freien, kontingenten Willensakt Gottes bedingt ist. Stringentes Denken sei nur mit univoken Begriffen möglich; die Univozität des Seinsbegriffs sei also die Grundlage einer jeden Aussage von Ähnlichkeiten als partielle Identitäten.42 Sie sei auch die Grundlage dafür, dass wir überhaupt von Gott reden können. Die Thomisten hatten Recht, dass Sein kein allgemeinster Gattungsbegriff ist, da ja jede differentia specifica selbst wieder seiend war. Aber deshalb müsse man keine distinctio realis zwischen Sein und Wesen annehmen: alles Endliche ist – in einer allgemeinsten Hinsicht – seiend und verschieden von anderem. Zwischen Wesen und Sein bestehe nur ein denkerischer Unterschied. Vom endlichen Seienden ist das unendliche Sein zu unterscheiden. Dieses ist seiend, ohne dass dabei Sein ein beide umfassender Gattungsbegriff und Unendlichkeit eine differentia specifica wäre. Dabei kann nach den Skotisten die Materie die Individualität nicht begründen. Damit Dinge der gleichen Art verschieden sind, müssen sie individuell different sein. Es gebe also eine individuelle Differenz der seienden Dinge derselben Art, die nicht mehr begrifflich aussagbar ist, und die Scotus bisweilen mit dem Kunstwort haecceitas bezeichnet.43 Cajetans Ontologie ist immer wieder gegen die skotistischen formalistae gerichtet, die die Dinge in univoke begriffliche Bestandteile zergliedern. Dennoch wird man kaum bestreiten können, dass nicht nur eine terminologische Nähe zu diesen Positionen bei ihm besteht. Bei aller Thomas-Treue werden Seins- und Analogiebegriff so reformuliert, dass ein gewisser Brückenschlag zum skotistisch-essentialistischen Formalismus möglich wurde. Dies wird Cajetan als ein Mehr an Aristoteles- und Thomas-Treue verstanden haben und entfernte ihn von den augustinisch-platonischen Anteilen des thomasischen Denkens.
Vgl. Thomas De Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae I q. 22 a. 2 (Leonina
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Vgl. Johannes Duns Scotus, Lectura Oxoniensis I d. 3 p. 1; d. 8. Vgl. ders., Ordinatio II d. 3. p. 1.
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3. Der sündige Mensch vor Gott Cajetan hatte in Padua den Lehrstuhl für thomistische Metaphysik inne. Thomas blieb er auch in der Folgezeit treu. 1495–1497 lehrte er an verschiedenen Dominikanerkonventen der lombardischen Provinz; Ludovico il Moro Sforza (1452– 1508) berief ihn dann auf eine theologische Professur in Pavia;44 hier begann seine Arbeit an der Kommentierung der Summa theologiae des Aquinaten, deren erster Band 1508 erschien und deren letzter 1520; dazu kamen Aristoteleskommentare und kleinere Schriften zu wirtschaftsethischen Fragen.45 1501 wurde er zum Ordensprokurator nach Rom berufen; die theologische Lehre, besonders die Kommentierung des Thomas von Aquin und später der Hl. Schrift, begleitete ihn jedoch in allen seinen Ämtern.46 Cajetan legte einen durch eine skotistische Brille gereinigten Thomas vor. Dies wird auch in der theologischen Anthropologie deutlich. In der Prima Secundae Artikel 109 stellt Thomas in Artikel zwei die für die Auseinandersetzung mit Luther und dem spätmittelalterlichen Augustinismus zentrale Frage: „Utrum homo possit velle et facere bonum absque gratia?“47 Cajetan greift in der Kommentierung dieses Artikels 1511 den spätmittelalterlichen Thomismus an, der unter dem Einfluss des Augustinismus eines Gregors von Rimini (ca. 1300–1358) stehe und Thomas falsch deute. Er möchte eine via media vertreten: Auch der gefallene Mensch könne aus seinen natürlichen Kräften zumindest einige moralisch gute Akte setzen. Schließlich habe es gottesfürchtige Heiden gegeben, die um Gottes willen gehandelt haben. Der Mensch könne, so der hl. Thomas, das Gesetz zumindest teilweise auch im gefallenen Zustand erfüllen, wenn auch nicht auf eine übernatürliche Weise.48 Artikel sechs behandelt dann die Frage, ob der Mensch sich auf die Gnade ohne externe Gnadenhilfe vorbereiten könne.49 Im Hintergrund steht das vieldiskutierte Axiom facienti quod est in se, Deus non denegat gratiam. Cajetan zergliedert die Antwort des Thomas, indem er die Vgl. Stöve, Eckehard, De Vio, Tommaso, in: DBI 39 (1991); url: http://www.treccani.it/ enciclopedia/tommaso-de-vio (Dizionario-Biografico): „Su iniziativa di Ludovico il Moro il D. insegnò teologia a Pavia tra il 1497 e il 1499. La protezione di Ludovico è testimoniata anche dal suo interessamento per una migliore ospitalità da offrire al professore.“ 45 Vgl. Thomas De Vio Cajetan, Scripta Philosophica. Opuscula oeconomico-socialia, hg. von N. Zammit, Rom 1934. 46 Vgl. Stöve, De Vio (wie Anm. 46). 47 Thomas von Aquin, Summa Theologiae I–II q. 109 a. 2. 48 Vgl. „Si autem negatur hanc esse intentionem Auctoris occurit in primis Gregorius de Arimino … asserens s. Thomam in hoc et sequentibus articulis duobus hoc sentire. Non desunt quoque Thomistae id firmantes … Haec via media, ut patet, est quam in littera Auctor determinat. Unde non dicit quod in statu naturae corruptae nullum opus morale potest: sed dicit quod non potest totum huiusmodi bonum per sua naturalia implere; et replicat, non tamen totum bonum sibi connaturale, ita quod in nullo deficiat.“ Thomas De Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae I–II q. 109 a. 2 (Leonina 7). 49 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I–II q. 109 a. 6. 44
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formale von der materialen Disposition unterscheidet. Der Mensch könne gute Akte als Disposition setzen, die aber nicht so vollständig sein können, dass sie alleine ohne Gnadenhilfe für das Übernatürliche schon disponieren.50 Cajetan etablierte hier eine von Johannes Capreolus abweichende Thomasdeutung, so Denis R. Janz; von der Summa aus seien beide Thesen möglich, das augustinische Axiom, dass ohne die Gnade die Tugenden der Heiden nur glänzende Laster seien und diejenige Cajetans, dass echte moralisch gute Akte auch diesen möglich seien. Nach den Schriftkommentaren des Thomas aber sind alle moralisch guten Akte des Menschen die Wirkung der göttlichen Gnade.51 Diese Akzentverschiebung hat eine introspektiv-psychologische Komponente. Für Thomas war in augustinischer Tradition die Konkupiszenz materialiter Teil der Erbsünde; auch der äußerlich gut handelnde Mensch blieb in seiner Egozentrik befangen.52 Anders Cajetan mit der Lehre von der Möglichkeit guter Akte quoad substantiam, auch wenn er damit nicht lehrte, dass dadurch die Gnade verdient werden könne.53 Aber auch in dieser Frage nähert er sich der skotistischen Akzeptationslehre, die die Freiheit Gottes dadurch sichern will, dass jeder endlich gute Akt noch einmal gnadenhaft frei vom Schöpfer akzeptiert werden müsse. Damit wird die Sündhaftigkeit der Akte und umgekehrt die rechtfertigende Begnadigung anti-augustinisch von der Erfahrbarkeit der egozentrischen Konkupiszenz weitgehend gelöst. Auch Scotus unterscheidet den actus naturalis und den actus meritoriae. Der Substanz nach sind die Akte gleich, aber gnadenhaft könne Gott den natürlichen Akt erhöhen und ihn als verdienstlich akzeptieren.54 Im II. Buch der Ordinatio, distinctio 28 fragt Scotus, ob der freie Wille ohne die Gnade die Todsünde vermeiden könne. Wenn der freie Wille gut disponiert ist, entschließt sich Gott frei, auch die Gnade zu gewähren.55 Auf parallele Weise die Weichenstellung in der für die Auseinandersetzung mit Luther entscheidenden Frage nach dem Verhältnis von contritio, gnadenhafter Reue, und Sakrament. Das 12. Jahrhundert hatte ja nicht nur eine verinnerlichte Auffassung des Bußgeschehens gebracht, bei der nicht mehr die äußere Bußleistung, sondern das zerknirschte Herz, die Reue, das entscheidende Geschehen bei der poenitentia wurde, sondern auch einen Sakramentenbegriff, der uni50 Vgl. „Ad obiecta contra conclusionem dicitur quod facere opus moraliter bonum, etiam in omnibus humanis actibus, non est propinqua praeparatio ad gratiam, sed oportet addere quod fiat cum conversione ad Deum ut finem supernaturalem: quoniam praeparatio ad gratiam inchoatio est intentionis creaturae respectu beatitudinis supranaturalis.“ Thomas De Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae I–II q. 109 a. 7 (Leonina 7). 51 Vgl. Janz, Denis R., Luther and Late Medieval Thomism. A study in Theological Anthropology, Waterloo / Ontario 1983, 135–137. 52 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I–II q. 82 a. 3. 53 Vgl. Thomas De Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae I–II q. 109 a. 6 (Leonina 7). 54 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones quodlibetales 17; Ordinatio I d. 17. 55 Vgl. ders., Ordinatio I d. 28.
Cajetans philosophisch-theologischer Werdegang
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formierend wirkte und die Buße immer mehr an das Bußsakrament band; in diesem Konzept wurde – in Analogie zur Taufe – die priesterliche Lossprechung immer mehr als essentiell für die gnadenhafte Umkehr konzipiert.56 So standen die Theologen im 12. und noch im 13. Jahrhundert vor einem Dilemma: Auf der einen Seite bewirkte die Liebesreue die Rechtfertigung oder war mit ihr identisch, auf der anderen Seite aber sollte diese abhängig sein von der sakramentalen Lossprechung. Verschiedene Vermittlungsversuche wurden konzipiert. Die Liebesreue wirke die Rechtfertigung, aber sie impliziere den Wunsch, auch noch zu beichten; die Beichte mache das Geschehen auch äußerlich manifest. Die Lossprechung in der Beichte wirke zudem, so eine von Richard von St. Viktor ausgehende Tradition, auch supplementär, indem sie Fegfeuerstrafen in diesseitige Bußstrafen oder indem sie eine noch unvollkommene Reue in eine vollkommene umwandeln könne. Thomas führte diese Entwicklung weiter; auch er hielt noch am sündenvergebenden Charakter der Liebesreue fest. Diese impliziere aber den Wunsch, noch zu beichten; in der Rechtfertigung wirke die Lossprechung deshalb – so sein seltsames Konstrukt – schon im Voraus. Sollte sich der Mensch über die Qualität seiner Reue täuschen, könne die Lossprechung diese auch ergänzen und aus der attritio eine contritio machen.57 Aus diesem aporetischen Diskussionsstand hat Johannes Duns Scotus die naheliegendste Lösung gezogen, die dann seit dem Spätmittelalter dominant wurde. Sie bestand aus drei Elementen: a) Das Sakrament ist alleine die Lossprechung durch den Priester; die Akte der Poenitenten sind Dispositionen.58 b) Durch die Akzeptation Gottes ist auch die attritio eine hinreichende Disposition für das Sakrament, die auch schon die Sündenvergebung bewirken könne.59 c) Zwar stimmt es, dass jedenfalls die contritio schon unabhängig vom Sakrament die Vergebung bewirkt. Weshalb das Sakrament dennoch nötig ist, wird nun anders als bei Thomas begründet: Niemand könne wissen, ob er die vollkommene Liebesreue oder zumindest eine hinreichende Reue wirklich habe, deshalb sei zur Sicherheit das Beichtsakrament von Nöten.60 Auch hier ist die Stellung Cajetans in der thomistischen Tradition interessant. Er führte bei aller Thomas-Treue, die ihn daran festhalten lässt, dass die Akten des Pönitenten Materie des Sakraments seien,61 einen neuen Begriff ein, die 56 Vgl. Unterburger, Klaus, Selbsterkenntnis und Fremdkontrolle. Ursache und Folgen des Umbaus der Beichte zum Bußsakrament im 13. Jahrhundert, in: Sabine Demel / Michael Pfleger (Hg.), Sakrament der Barmherzigkeit. Welche Chance hat die Beichte?, Freiburg i. Br. u. a. 2017, 475–496, hier 477–486. 57 Vgl. ebd., 487–490. 58 Vgl. Johannes Duns Scotus, Ordinatio IV d. 14 q. 4. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. ders., Ordinatio IV d. 17 q. un. 61 Vgl. Thomas De Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae III q. 90 a. 1 (Leonina 12).
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contritio informis.62 Sie sei Gottesliebe, aber noch kein in der Liebe wirksamer Habitus, habe also eine Art Mittelstellung zwischen attritio und contritio, die durch das Sakrament verliehen wird. Auch hier also die Annäherung an die skotistische Position. Die Rechtfertigung, die contritio formata, wird streng von der sakramentalen Lossprechung abhängig gemacht, die entweder bei sehr vollkommener Reue schon in voto wirke, oder dann wenigstens realiter;63 umgekehrt genügt die attritio immer mehr als Disposition vor der Beichte. Die Liebesreue des Petrus – so wenig später der Skotist Johannes Eck – hat die Sünden vergeben ohne sakramentale Lossprechung, doch deutet er dies als einmaliges Gnadenprivileg.64 Wäre es ein regulärer Weg, so ist man versucht zu ergänzen, hieße das, eine neue Kirche zu bauen.
4. Konklusion Die Ausführungen haben zentrale philosophische und theologische Entwicklungslinien bei Cajetan vor seiner Begegnung mit Luther näher betrachtet. Die in antikonziliaristischer Zuspitzung vollzogenen ekklesiologischen Weichenstellungen, die Juans de Torquemada Summa de ecclesia verschärften, waren nicht Gegenstand der Ausführungen, obwohl Cajetan die Ekklesiologie von der Kanonistik in die Theologie verlagern wollte.65 Cajetan war Kommentator des Aristoteles und des Thomas, der das Denken beider authentisch auslegen, aber mitunter auch besser interpretieren wollte. Der Einfluss der skotistischen Position, die in Padua eine traditionsreiche Hochburg am Convento del Santo hatte, blieb als Bezugspunkt wie als Gegenthese für ihn stets zentral. Anthropologie, Ontologie, Buß- und Gnadenlehre sind thomistisch, aber in einer Neuakzentuierung unter dem Einfluss des Doctor subtilis. Das „Mehr“ an Duns Scotus war dabei ein „Weniger“ an Augustinus. Es sollte für die Begegnung mit Luther schicksalhaft werden.
62 Vgl. ders., Quaestiones de sacramentis. Commentarios eius in tertiam partem Summae theologiae Sancti Thomi Aquinatis. De contritione, q. 1: Utrum attritio possit fieri contritio (Leonina 12, 341–343). 63 Ders., Commentaria in Summam theologiae III q. 84 a. 2. 64 Vgl. Eck, Johannes, Enchiridion locorum communium adversus Lutherum et alios hos tes ecclesiae (1525–1543). Mit den Zusätzen von Tilmann Smeling OP (1529, 1532), hg. von Pierre Fraenkel, Münster i. W. 1979 (CCath 34), c. 8, 124. 65 Vgl. Horst, Ulrich, Juan de Torquemada und Thomas de Vio Cajetan. Zwei Protagonisten der päpstlichen Gewaltenfülle, Berlin 2012 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens 19), 25.
„Diese drei Tage über ist mein Sach in eim sehr harten Stand gestanden“1 Martin Luthers biographische und theologische Entwicklung bis 1518 Stefan Michel In drei Gesprächsgängen trafen vom 12. bis 14. Oktober 1518 Martin Luther und Kardinal Thomas Cajetan in Augsburg zusammen. Doch waren die Voraussetzungen für dieses Zusammentreffen nicht gleich: Der observante Augustinereremit Luther war vorgeladen, weil in Rom die Meinung bestand, seine Lehre würde der Lehre der Kirche widersprechen. Der Dominikaner Cajetan war als Kardinal Vertreter des Heiligen Stuhls und damit mit entsprechenden Vollmachten ausgestatteter Richter Luthers. Hinter Luther lag zu diesem Zeitpunkt bereits die Hälfte seines Lebens. Er hatte seit 1512 eine pointierte theologische Position durch intensive eigenständige Studien entwickelt, die er nun durch den auf ihn ausgeübten kirchenamtlichen Druck weiter verfeinerte und so zugleich verfestigte. Die folgenden Ausführungen können angesichts der umfangreichen Forschungen zum „jungen Luther“ lediglich biographische und theologische Entwicklungslinien skizzieren.2 Sie sollen verdeutlichen, dass Cajetan und Luther von unterschiedlichen Vorannahmen ausgingen.
1. Vom Bergmannssohn zum Augustinereremit Martin Luther stammte aus einem sozial gut gestellten Elternhaus, das vom aufblühenden Kupferbergbau im Mansfelder Land profitierte.3 Er kam wohl am 10. November 1483 in Eisleben als Sohn des Hans Luder und der Margarete Lindemann zur Welt. Bereits 1484 zog die Familie nach Mansfeld um. Hans Luder konnte sich vom Hauer zum Hüttenmeister hocharbeiten, erreichte also einen sozialen Aufstieg. Er zählte später zu den wirtschaftlich und sozial gut situierten WA.B 1, 215 f. (Nr. 100,3 f.; Luther an Karlstadt. Augsburg, 14. 10. 1518). Die äußeren Daten zur Biographie Luthers berichtet zuverlässig Köpf, Ulrich, Martin Luther. Der Reformator und sein Werk, Stuttgart 2015. 3 Vgl. Knape, Rosemarie (Hg.), Martin Luther und der Bergbau im Mansfelder Land, Eisleben 2000. 1 2
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Mansfelder Bürgern. Familiäre Wurzeln lagen mütterlicherseits in Eisenach und väterlicherseits im westthüringischen Möhra, wo es noch Verwandte gab, die von der Landwirtschaft lebten. Hans Luder war jedoch nie ein Bauer wie noch sein Vater gewesen, auch wenn sein Sohn später gern auf seine bäuerlichen Wurzeln verwies.4 Luthers Vater erhoffte sich für seinen Sohn eine vergleichbare oder sogar bessere soziale Stellung innerhalb der Gesellschaft, als er sie sich erarbeitet hatte. Deshalb ließ er Martin zunächst eine solide schulische Ausbildung durchlaufen, die in Mansfeld begann und später in Magdeburg und Eisenach fortgesetzt wurde. Bildung ermöglichte in dieser Zeit einen Aufstieg in städtische oder sogar fürstliche Verwaltungseliten. 1501 schrieb sich Luther deshalb in der Universität Erfurt ein, wo Jodocus Trutfetter (ca. 1460–1519) und Bartholomäus Arnoldi (ca. 1465–1532) seine ersten artistischen Lehrer wurden.5 Durch sie wurde er mit dem Nominalismus, vor allem der Universalienlehre des Wilhelm von Ockham bekannt (via moderna). Zugleich lernte Martin in Erfurt den Humanismus kennen,6 was seine philologischen Neigungen zum genauen Quellenstudium befördert haben könnte. Nachdem Martin im Februar 1505 den Grad eines Magister artium erworben hatte, folgte er dem Wunsch seines Vaters, indem er sich dem Jurastudium zuwandte. Daneben lehrte er in der üblichen Weise an der Artistenfakultät. Doch Anfang Juli 1505 löste sich dieses scheinbar geordnete Leben auf, als Martin kurz vor Erfurt von einem Gewitter überrascht wurde. Offenbar in Todesangst rief er bei Stotternheim die heilige Anna an und gelobte, ein Mönch zu werden, wenn sie ihm in dieser Gefahr beistünde. Nach kurzer Bedenkzeit trat er am 17. Juli in das Erfurter Kloster der Augustinereremiten ein. Warum sich Luther ausgerechnet für die Augustinereremiten entschied, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden. Vielleicht kannte er das Kloster, weil die Georgenburse, in der er lebte, in der Nähe lag.7 Möglicherweise hatte er auch bereits vor dem Gewittererlebnis diesen Schritt erwogen. Mit dem Klostereintritt begann für Martin ein neuer Lebensabschnitt, weil er sein altes Leben hinter sich ließ. Dies war bereits äußerlich an seiner Kleidung und Haarfrisur abzulesen. Über die erste Klosterzeit ist bekannt, dass Martin ein verunsichertes Gewissen hatte und mit Fleiß danach strebte, ein vorbildlicher Mönch zu sein. Nach dem Noviziat und der wohl 1506 abgelegten Profess, in der er Armut, Keuschheit und Gehorsam gelobte, festigte sich seine Position im 4 Vgl. Leppin, Volker, Erinnerungssplitter. Zur Problematik der Tischreden als Quelle von Luthers Biographie, in: Katharina Bärenfänger et al. (Hg.), Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung, Tübingen 2013 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 71), 47–61. 5 Vgl. Weiss, Ulman, Ein fruchtbar Bethlehem. Luther und Erfurt, Berlin 1982. 6 Vgl. Junghans, Helmar, Der junge Luther und die Humanisten, Weimar 1984 (AKG 8). 7 Vgl. Schmelz, Lothar / Ludscheidt, Michael, Luthers Erfurter Kloster. Das Augustinerkloster im Spannungsfeld von monastischem und protestantischem Geist, Erfurt 2005.
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Orden. Auch wenn er sich gegen einen Aufstieg sperrte, hielten ihn seine Ordensoberen für geeignet, anspruchsvollere Aufgaben zu übernehmen. Im Frühjahr 1507 erfolgte die Priesterweihe und er nahm das Studium, diesmal das der Theologie, wieder auf. Martin las Schriften von Gabriel Biel (ca. 1410–1495), so seine Expositio canonis missae, das Beichthandbuch Summa Angelica, aber auch Johannes Reuchlins Rudimenta linguae hebraicae. Über Luthers Lektüre können inzwischen gute Aussagen gemacht werden, weil verschiedene seiner Bucheintragungen erstmals 1893 durch Georg Buchwald (WA 9) und in höchster Qualität, erweitert und völlig neu 2009 durch Jun Matsuura ediert wurden.8 Diese Eintragungen lassen Luthers theologische Entwicklung deutlich erkennen. Für ein Jahr, ab Herbst 1508, studierte Martin in Wittenberg, wo er im März 1509 den Grad eines Baccalaureus biblicus erwarb. An der artistischen Fakultät las er über die Nikomachische Ethik des Aristoteles. Im Frühjahr 1510 wurde Martin in Erfurt zum Baccalaureus sententiarius graduiert, was ihn dazu berechtigte über die Sentenzen des Petrus Lombardus zu lesen.9 Er legte aber nur die ersten drei Bücher aus. Das vierte Buch scheint er nicht mehr behandelt zu haben, vielmehr musste er im Sommer 1511 diese Vorlesung abbrechen, weil er erneut durch seinen Orden – gemeinsam mit Johannes Lang – nach Wittenberg abgeordnet wurde. Dort sollte er die theologische Professur des Johann von Staupitz übernehmen, um den Generalvikar der deutschen Observantenkongregation zu entlasten.10 Staupitz war für ihn mehr als nur ein Ordensoberer. Er war sein Beichtvater und regte ihn zu theologischem Denken an, indem er auf Christus und die Barmherzigkeit Gottes verwies. Daraus entstünde Trost für den angefochtenen Menschen.11 Doch bevor Luther in die theologische Lehre einsteigen konnte, reiste er 1511/12 in Ordensangelegenheiten als Begleiter von Jan van Mechelens nach Rom.12 Diese Reise schilderte er später in wenig schmeichelhaften Darstellungen, die den Verfall des Papsttums zum Thema hatten. Nach Wittenberg zurückgekehrt erfolgte im Oktober 1512 die Promotion zum Doktor der Theologie, worauf Luther die theologische Professur von Staupitz übernahm. Zunächst las er über die Psalmen, die ihm aus dem klösterlichen Stundengebet bestens ver-
8 Vgl. Luther, Martin, Erfurter Annotationen 1509–1510/11, hg. von Jun Matsuura, Köln u. a. 2009 (AWA 9). 9 Vgl. ebd., 251–560. 10 Vgl. Köpf, Ulrich, Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: Irene Dingel / Günther Wartenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602, Leipzig 2002 (LStRLO 5), 71–86. 11 Vgl. Leppin, Volker, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016, bes. 14 f. 12 Vgl. Schneider, Hans, Martin Luthers Reise nach Rom – neu datiert und neu gedeutet, in: Studien zur Wissenschafts- und zur Religionsgeschichte, Berlin / New York 2011 (AAWG NF 10), 1–157.
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traut waren.13 Daran schlossen sich Vorlesungen über zentrale paulinische Briefe an: 1515/16 hielt Martin eine Vorlesung über den Römerbrief,14 1516/17 über den Galaterbrief 15 und 1517/18 über den Hebräerbrief.16 Für diese Vorlesungen war der Augustinereremit philologisch bestens gerüstet, außerdem kannte er die Literatur seiner Zeit gut. Trotz dieser universitären Aufgaben hatte er auch Ämter in seinem Orden zu übernehmen. So war er seit 1512 Subprior des Wittenberger Klosters und ab 1515 zugleich Provinzialvikar – auch als Distriktsvikar bezeichnet – für Sachsen und Thüringen. Dadurch war er für die Konvente Wittenberg, Dresden, Herzberg, Gotha, Langensalza, Nordhausen, Sangerhausen, Erfurt, Magdeburg und Neustadt an der Orla zuständig,17 die er 1516 visitierte.
2. Stationen der theologischen Entwicklung Luthers 1555 warnte Nikolaus von Amsdorf die Leser des ersten Bandes der Jenaer Lutherausgabe vor den darin enthaltenen Werken, die den Zeitraum von 1517 bis 1521 umfassten. Man würde darin finden, „wie die Sache der Religion angefangen / vnd ordentlich auff ein ander gegangen ist / was Doct. Luther zu schreiben verursacht / wie Er in diese Sache geraten / wie er darinne fort geschritten / vnd imer mehr für vnd für in grössern vnd gewissern Verstand vnd freidigkeit [Kühnheit] des Geists gefüret ist“.18
Der Leser solle diese Bücher jedoch „mit vnterscheid vnd bedacht […] lesen“. Seine frühen Schriften seien seinen späteren Büchern nicht gleich. „Denn im anfang hat Er dem Römischen Antichrist / als ein rechter / fromer Papist / viel nachgelassen / vnd gegeben / welchs Er hernach in folgenden jaren / als Er durch grossen Kampff / trübsal vnd anfechtung / solchs vnrecht erkand / geendert hat.“19 Der Zeitzeuge Amsdorf wusste darum, dass sich Luthers Theologie vor 1517 erst entwickelt hatte. Dabei handelte es sich noch nicht um die ausgereifte Theologie des späteren Reformators, um den sich eine Gruppe Gleichgesinnter 13 Vgl.
WA 55/1 und 55/2. WA 56 und 57/1, 3–232; Schmidt-Lauber, Gabriele, Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/16. Ein Vergleich zwischen Luthers Manuskript und den studentischen Nachschriften, Köln u. a. 1994 (AWA 6). 15 Vgl. WA 57/2, 5–108. 16 Vgl. WA 57/3, 3–238. 17 Vgl. beispielsweise zum Konvent in Neustadt an der Orla Bünz, Enno, Martin Luthers Orden in Neustadt an der Orla. Das Kloster der Augustiner-Eremiten und seine Mönche, Jena 2007, bes. 85–88. 18 Der Erste Teil aller Bücher vnd Schrifften des thewren / seligen Mans Doct: Mart: Lutheri […], Jena 1555, [♣ iiii]v. 19 Der Erste Teil aller Bücher vnd Schrifften […], [♣ v]r. Vgl. zu den Hintergründen Michel, Stefan, Die Kanonisierung der Werke Martin Luthers im 16. Jahrhundert, Tübingen 2016 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 92), 165–204. 14 Vgl.
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sammelte. Luthers reformatorische Theologie war noch im Entstehen, zeigte aber mit der in der Römerbriefvorlesung entwickelten Rechtfertigungslehre schon den Kern seiner späteren theologischen Position. Durch intensive Quellenrecherchen seit dem 19. Jahrhundert stehen heute für die Erforschung der Biographie und der Theologie Luthers bis 1518 deutlich mehr Quellen zur Verfügung, als sie die Jenaer Lutherausgabe ab 1555 bot und als Amsdorf kannte. Dazu zählen, neben den erwähnten Randnotizen in Büchern aus Luthers Erfurter Zeit, verschiedene Vorlesungsmaterialien und Briefe. Sie wurden im 20. Jahrhundert intensiv ausgewertet und führten zu einer Diskussion um den sogenannten reformatorischen Durchbruch in Luthers Theologie.20 Während ein Teil von Forschern für den Herbst 1514 bis Frühjahr 1515 als Termin für Luthers entscheidende reformatorische Erkenntnis plädierte, meinten andere, Luther sei sich erst im Verlauf des Jahres 1518 über die reformatorischen Konsequenzen seiner Theologie bewusst geworden. Diese Diskussion ist inzwischen abgeebbt. Es ist davon auszugehen, dass nicht mehr nach dem „reformatorischen Durchbruch“ gesucht wird, sondern sich Luthers Theologie allmählich entwickelte. Festzuhalten gilt jedenfalls, dass die erhaltenen Materialien aus Luthers Vorlesungen zwischen 1512 und 1518 nicht nur Einblick in seine philologischen Kenntnisse, sondern vor allem in seine theologische Entwicklung gewähren. Durch seine biblische Exegese und die parallele Lektüre anderer Schriften kam er zu neuen theologischen Erkenntnissen. Zur Auslegung der Psalmen, der er die Vulgata zu Grunde legte, zog er neben aktuellen Büchern wie Reuchlins Ausgabe der sieben Bußpsalmen von 1512 oder das Quincuplex psalterium des Humanisten Jacobus Faber Stapulensis von 1509 auch die klassischen Hilfsmittel wie die Glossa ordinaria heran.21 Daraus wird deutlich, dass er nicht nur dem lateinischen Text folgte, sondern im hebräischen Text nach einem tieferen Verständnis der biblischen Botschaft suchte. Um den biblischen Text gedanklich zu durchdringen, konsultierte er die Auslegungen des Hieronymus, Cassiodors und Augustinus. Zu Luthers Lektüre gehörten aber auch Texte Bernhards von Clairvaux. Hinzu trat eine verstärkte Augustinlektüre, vor allem der antipelagianischen Schriften, die er auch seinem Fakultätskollegen Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, empfahl. Beide waren davon zutiefst beeindruckt. Hierbei stieß Luther auf den tiefen Gegensatz zwischen biblischer und scholastischer 20 Vgl. Lohse, Bernhard, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 97–110; ders. (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (WdF 123); ders. (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart 1988 ( VIEG 25). 21 Vgl. die Zusammenstellung in: Volz, Hans, Martin Luthers deutsche Bibel. Entstehung und Geschichte der Lutherbibel, eingeleitet von Friedrich Wilhelm Kantzenbach, hg. von Henning Wendland, Hamburg 1978, 32–80.
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Theologie, die von verschiedenen hermeneutischen Prämissen ausgingen. Größte Bedeutung für Luthers Entwicklung hatte seine Römerbriefvorlesung, in der er wesentliche Grundgedanken seiner Theologie erstmals ausformulierte, die später freilich deutlicher akzentuiert wurden. Luther durchdachte zwischen 1512 und 1517 die Sündenlehre, die Christologie und die Prädestinationslehre und zog daraus Konsequenzen für die Gnadenlehre, insbesondere für die Bedeutung des Bußsakraments, die Ekklesiologie, aber auch die Hermeneutik der Heiligen Schrift. Er entwickelte ein theologisches Denken, das sich von der Scholastik seiner Zeitgenossen absetzte. Neben der Heiligen Schrift speiste sich Luthers Theologie auch aus mystischen Schriften. So ist die Lektüre der Predigten Johannes Taulers22 oder der Theologia deutsch23 nachweisbar, die er 151624 und 151825 herausgab. Sie verstärkten seine Christusfrömmigkeit und damit die von Paulus angeregte Innerlichkeit von Luthers Theologie, die zu einer Ablehnung äußerlicher Frömmigkeitsformen führte. Aus diesen Texten zog Luther eine Bestätigung für seinen theologischen Weg. Die Entwicklung des theologischen Ansatzes, der sich in der stillen Lektüre und in den Vorlesungen vollzog, war nicht nur an Luthers drei Disputationen bzw. Thesenreihen der Jahre 1516 und 1517, sondern auch an seinen „geistlichen Schriften“ – wie der Auslegung der sieben Bußpsalmen von 151726 oder dem Sermon von Ablaß und Gnade vom Frühjahr 151827 – abzulesen. Durch die Veröffentlichung dieser verschiedenartigen Schriften blieben seine Gedanken nun nicht mehr nur auf den Hörsaal beschränkt, sondern gelangten einerseits in die universitäre Öffentlichkeit und anderseits in populärer Weise in verschiedene Leserkreise. Luther wollte dem akademischen Brauch folgend über seine Beobachtungen disputieren, weil er zunächst nicht abschließend von ihrer Richtigkeit überzeugt war. Bartholomäus Bernhardi wurde im September 1516 mit Thesen De viribus et voluntate hominis sine gratia unter dem Vorsitz Luthers zum Baccalaureus sententiarius promoviert.28 Der alte Mensch, der den fleischlichen Begierden unterliegt, könne die Gnade Gottes nicht ergreifen, dazu sei nur der neue Mensch in der Lage, auf dessen Seite Christus trete. Hintergrund dieser Gedanken war die Sündenlehre Luthers, die Bernhardi offenbar aus dessen Vorlesungen kannte. Luthers im Herbst 1517 aufsehenerregende Thesenreihen, Contra scholasticam theologiam29 und Disputatio pro declaratione virtutis Vgl. WA 9, (95) 97–104. Vgl. Peters, Christian, Art. Theologia deutsch, TRE 33 (2002), 258–262. 24 Vgl. WA 1, (152) 153. 25 Vgl. WA 1, (375) 378 f. und 711. 26 Vgl. WA 1, (154) 158–220. 27 Vgl. WA 1, (239) 243–246. 28 Vgl. WA 1, (142) 145–151. 29 Vgl. WA 1, 224–228. 22 23
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indulgentiarum,30 bündelten seine neu gewonnenen Einsichten zur Ablehnung der scholastischen Theologie und wandten sie auf die Bußlehre, vor allem den Ablass an.31
3. Luthers Weg nach Augsburg Dass diese theologischen Einsichten aber auch eine existentielle Bedeutung hatten, zeigt Luthers Namenswechsel. In der zweiten Hälfte des Jahres 1517 änderte er die Schreibung seines Namens von Luder in Luther.32 Allerdings gebrauchte er zwischen November 1517 und Januar 1519 neben der neuen und bleibenden Form des Familiennamens Luther in den Briefen an seine vertrauten Korrespondenzpartner Georg Spalatin und Johannes Lang die Selbstbezeichnung Eleutherius. Dass sich hinter der veränderten Schreibweise mehr als eine lautliche Anpassung oder humanistische Neigungen verbargen, arbeiteten Karl Stackmann und Bernd Moeller heraus: „Das th dient […] lediglich dazu, die im Namen Luder ohnehin angelegte etymologische Ähnlichkeit mit dem griechischen ἐλευθέριος zu verdeutlichen.“33 Demnach brachte der neue Name „Luthers Überzeugung zum Ausdruck […], aus den Fesseln der scholastischen Theologie befreit zu sein“.34 Dieses Freiheitsverständnis beruhte auf seinem neu gewonnenen Verständnis der Rechtfertigung des Sünders durch Gott, die er als Befreiung aus der bisherigen Theologie empfand.35 Mit diesem neu gewonnenen Selbstverständnis trat Luther in das Jahr 1518 ein und reagierte auf die Ereignisse dieses Jahres. Zwar hatten Luthers 95 Thesen mit dem Ablass ein theologisches Thema zum Gegenstand, jedoch blieben die Folgen auf die Politik nicht aus. Da Luther die Thesen nicht nur im Rahmen der Universität behandelt wissen wollte, sondern an Kardinal Albrecht von Mainz und Magdeburg sowie vielleicht auch an den für Wittenberg zuständigen Bischof Hieronymus Scultetus verschickte, suchte er selbst offenbar eine größere Öffentlichkeit. Albrecht gab in Mainz ein Gutachten über die Thesen in Auftrag36 und schickte sie möglicherweise sogar nach Rom. Weitere Schritte Albrechts gegen den Wittenberger Augustinermönch sind nicht bekannt. Zunächst versuchte Papst Leo X., den Fall als Ablassbehinderung durch Luthers Orden intern klären zu lassen. In diesem Sinne schrieb er am 3. Februar Vgl. WA 1, (229) 233–238. Zum weiteren Verlauf vgl. Selge. 32 Vgl. Moeller, Bernd / Stackmann, Karl, Luder – Luther – Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen, Göttingen 1981 (NAWG.PH 7); Leppin, 124 f. 33 Moeller / Stackmann, Luder (wie Anm. 32), 22. 34 Ebd., 31. 35 Vgl. Hamm, Berndt, Martin Luthers Entdeckung der evangelischen Freiheit, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 164–182. 36 Vgl. Fabisch / Iserloh I, 299 f. 30 31
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1518 an den Promagister der Augustinereremiten, Gabriel della Volta.37 Der für Luther zuständige Brandenburger Bischof wünschte im März 1518 zunächst von dem Wittenberger Theologieprofessor, die weitere Verbreitung seiner Gedanken ruhen zu lassen.38 Da die Dominikaner Luther in Rom anzeigten, wandelte sich im Frühjahr 1518 der Prozess gegen Luther und wurde um den Ketzervorwurf erweitert.39 Bereits das Gutachten der Mainzer Theologischen Fakultät40 hatte weniger auf die Ablassfrage rekurriert und stattdessen den päpstlichen Primat in den Mittelpunkt gestellt, worüber im Verlauf der weiteren Diskussion auch gerungen wurde. Spätestens jetzt, als sich Luther mit Johannes Eck,41 Johannes Tetzel und Konrad Wimpina in Kontroversen befand, muss er sich über das Ausmaß seiner Thesen bewusst geworden sein. Doch statt zu widerrufen, festigte er seinen Standpunkt und beharrte auf der Disputationsforderung. Die Heidelberger Disputation vom April 1518 zeigte seine weitere Durchdringung des Themas. Auf dem Kapitel der Augustiner-Reformkongregation griff er nicht das Thema des Ablasses auf, sondern disputierte über 28 theologische und zwölf philosophische Sätze, die das Gesetz Gottes, das menschliche Handeln und den freien Willen zum Gegenstand hatten. Sie liefen auf eine Gegenüberstellung von theologia crucis, die Christus in den Mittelpunkt stellte, und theologia gloriae, die eine Selbsterhöhung des Menschen zur Folge hätte, hinaus. Die philosophischen Thesen verwarfen eine Vermischung philosophischer und theologischer Anthropologie und waren erneut gegen Aristoteles gerichtet.42 Ende Mai brachte Luther seine Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute zum Druck, die er Johann von Staupitz dedizierte. In der überaus aufschlussreichen Widmungsvorrede zu seiner Verteidigungsschrift für seine 95 Thesen beschrieb Luther seinen Standpunkt folgendermaßen: „Da ich nun so in meinen Gedanken wallte, siehe, da fingen plötzlich um uns herum die neuen Trompetenstöße der Ablässe an zu ertönen, ja, zu schmettern, und die Signalhörner der Vergebung, durch die wir dennoch nicht zu rechtem Eifer für den Krieg animiert wurden. Kurz, indem sie die Lehre von der wahren Buße vernachlässigten, vermaßen sie sich, nicht die Buße, nicht einmal deren geringsten Teil, der Genugtuung 37 Vgl.
Fabisch / Iserloh II, 19–21. Vgl. WA.B 1, 151–153 (Nr. 62). 39 Vgl. Kohnle, Armin, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, Gütersloh 2001 (QFRG 72), bes. 22–31; Borth, Wilhelm, Die Luthersache (Causa Lutheri) 1517–1524. Die Anfänge der Reformation als Frage von Politik und Recht, Lübeck / Hamburg 1970 (HS 414), 29–53. 40 Vgl. Fabisch / Iserloh I, 300–303, Nr. 5.5. 41 Vgl. Bischof, Franz Xaver / O elke, Harry (Hg.), Luther und Eck. Opponenten der Reformationsgeschichte im Vergleich, München 2017. 42 Vgl. Dieter, Theodor, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin / New York 2001 (TBT 105). 38
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genannt wird, hoch zu erheben, sondern den Erlass eben jenes allergeringsten Teils, so dass man niemals gehört hat, dass er so hoch gejubelt werde. Ja, sie lehrten gottlose und falsche und ketzerische Dinge mit einem so hohen Anspruch (Frechheit wollte ich sagen), dass derjenige, der dagegen auch nur aufmuckte, sofort als Ketzer dem Feuertod verfallen und der ewigen Verfluchung schuldig war. Da ich dem Wüten dieser Leute nicht begegnen konnte, beschloss ich, in aller Bescheidenheit eine abweichende Meinung zu vertreten und ihre Lehre in Zweifel zu ziehen, im Vertrauen auf das Urteil aller Lehrer und der ganzen Kirche, dass es sogar besser sei, Genugtuung zu leisten, als dass die Genugtuung erlassen werde, das heißt, als dass man Ablässe kaufe.“43
Nicht Luther war also für den schwelenden Streit verantwortlich, sondern seine uneinsichtigen Gegner, die eine falsche Lehre vertraten, so die Selbstsicht. Luther war in diesem mit Kriegsmetaphorik beschriebenem Konflikt fest davon überzeugt, die gut begründete Lehre der Kirche zu vertreten. Zur Klärung dieses Problems appellierte Luther jedoch an den Papst persönlich.44 Es verwundert kaum, dass Luther angesichts seiner Unnachgiebigkeit am 7. August 1518 Post aus Rom erhielt, in der er aufgefordert wurde, binnen 60 Tagen an der Kurie zu erscheinen. Damit hatte der römische Prozess Wittenberg erreicht. Mit diesem Schreiben erhielt er zugleich den Dialogus de potestate papae von Silvester Prierias,45 der einen konsequenten Papalismus vertrat und Luthers Lehrweise zu widerlegen suchte sowie für häretisch erklärte. Luther lies diese Schrift mit einer Entgegnung drucken, um dadurch die Haltlosigkeit der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen öffentlich herauszustellen.46 Wichtigstes Fundament der Auseinandersetzungen sollten seiner Überzeugung nach nicht menschliche Meinungen sein, sondern überprüfbare Belege aus der Heiligen Schrift. Noch bevor Luther die literarische Auseinandersetzung mit seinen Gegnern aufnahm, wandte er sich am 8. August 1518 hilfesuchend an Georg Spalatin, den geistlichen Rat Kurfürst Friedrichs. Er bat ihn ängstlich, bei Kurfürst Friedrich von Sachsen, seinem Landesherrn, und dem kursächsischen Diplomaten Degenhardt Pfeffinger zu erwirken, dass sie sich dafür einsetzen, die Verhandlung gegen Luther nicht in Rom, sondern auf deutschem Boden zu führen.47 Auch in den nächsten Wochen hoffte er uneingeschränkt auf die Unterstützung Friedrich des Weisen.48 Tatsächlich schützte der Kurfürst seinen Theologieprofessor nicht nur durch Empfehlungsschreiben für dessen Reise, sondern erreichte auch, dass 43 Ich folge der deutschen Übersetzung von Johannes Schilling in: Martin Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Bd. 2: Christusglaube und Rechtfertigung, hg. von Johannes Schilling, Leipzig 2006, 21. 44 Vgl. WA 1, 527 f. 45 Vgl. Fabisch / Iserloh I, 52–107. 46 Vgl. WA 1, (644) 647–686. 47 Vgl. WA.B 1, 188 f. (Nr. 85). 48 Vgl. WA.B 1, 189–191 (Nr. 87).
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der Mönch in Augsburg verhört wurde. Dafür erhielt Cajetan, der eigentlich für die finanzielle Unterstützung des Türkenzuges auf dem Reichstag werben sollte, gesonderte Anweisungen aus Rom.49 Er sollte Luther entweder als Ketzer verhaften oder, wollte dieser seine Lehren widerrufen, mit der Kirche aussöhnen. Ihm wurde auch das Recht übertragen, Luther mit dem Bann zu belegen, sollte er nicht erscheinen. Das Territorium, in dem sich Luther aufhielt, durfte unter Interdikt gestellt werden. Luthers Zusammentreffen mit Cajetan im Oktober 1518 in Augsburg hatte also aus der Perspektive des kursächsischen Hofes keinen rein theologischen Charakter, sondern war zugleich zutiefst politisch motiviert. Die Anschuldigungen gegen Luther sollten, so die kursächsische Argumentation, in einem ordentlichen Verfahren zunächst aufgezeigt werden. Weil der Ketzervorwurf gegen Luther den Ruf Kurfürst Friedrichs belastete, musste er dagegen vorgehen. Er entschied sich jedoch nicht dafür, Luther fallenzulassen, sondern wollte eine begründete Klärung des Falles. Friedrichs Verhandlungen in Augsburg führten dazu, dass Cajetan einwilligte, „väterlich“, also in einem versöhnlichen Ton, mit Luther zu reden. Der Sommer des Jahres 1518 war für Luthers biographische und theologische Entwicklung jedoch auch in anderer Hinsicht bedeutsam. Er arbeitete trotz des laufenden Prozesses an seinen Themen weiter. So begann er seine zweite Psalmenvorlesung, die seit 1519 unter dem Titel Operationes in Psalmos in Druck erschien.50 Am 25. August 1518 traf der neue Griechischprofessor Philipp Melanchthon in Wittenberg ein. Nach dessen Antrittsrede De corrigendis adolescentiae studiis am 28. August lernten sich beide kennen.51 Anscheinend interessierte sich Luther für die hier angesprochenen Themen und es begann rasch eine Arbeitsgemeinschaft im Interesse der Universitätsreform, die bald freundschaftliche Züge annahmen. Doch zuvor musste Luther erst nach Augsburg reisen, wo die Reichsstände ihren Reichstag beendet hatten. Ende September 1518 trat er seine Reise in Begleitung seines Ordensbruders Leonhard Beyer an, der ihn bereits nach Heidelberg begleitet hatte. In Augsburg traf er am 7. Oktober ein. Beide Augustinereremiten wohnten im Karmeliterkloster St. Anna, wo ähnliche Regeln galten wie in Luthers Orden.
4. Luther in Augsburg Über die Diskussion zwischen Luther und Cajetan in Augsburg liegen verschiedene zuverlässige Quellen vor, die unmittelbar im Kontext des Zusammen Vgl. WA 2, 23–25. Vgl. WA 5, (1) 19–673. 51 Vgl. Kruse, Jens-Martin, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522, Mainz 2002 (VIEG 187), 144–149. 49 50
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treffens der beiden Theologen entstanden und somit zum Teil sogar als Überreste anzusehen sind. Am wirkungsvollsten war sicher die Veröffentlichung von Luthers Sicht, die er in den sogenannten Acta Augustana Anfang Dezember 1518 darstellte.52 Das Verfahren, eine Aktensammlung herauszugeben, sollte die Objektivität der Darstellung garantieren. Daneben sind eine Reihe von Briefen aus dem Umfeld der Diskussion überliefert, so von Luther an Spalatin,53 Johann von Staupitz an Kurfürst Friedrich54 oder Luther an Cajetan.55 Aber auch Cajetan selbst wandte sich an den sächsischen Kurfürsten, um ihm seine Position nahezubringen.56 Auf dieses Schreiben hin, schilderte Luther seine Sichtweise Kurfürst Friedrich nochmals ausführlich.57 In weiteren Schreiben bestand Kurfürst Friedrich fortan gegenüber Luthers Gegnern auf einem ordentlichen Prozess für den Wittenberger Mönch, in dem diesem seine Verfehlungen aufgezeigt werden sollten.58 Ende September war der Augsburger Reichstag beendet worden, sodass Cajetan einige Zeit hatte, sich nochmals auf das Zusammentreffen mit Luther vorzubereiten.59 Am Dienstag, dem 12. Oktober 1518 erschien Luther erstmals bei Cajetan, um sich zu entschuldigen, falls er anmaßend gelehrt habe, und um sich belehren zu lassen. Cajetan teilte Luther nun mit, dass der Inhalt seiner Disputationen und Sermone, vor allem seine Ablasslehre, nicht der geltenden apostolischen Lehre entsprächen, was er durch die Extravagante Unigenitus Papst Clemens VI. zu erweisen suchte, in der die für den Ablass grundlegende Lehre vom Kirchenschatz dargelegt wurde. Luther lehnte diese Argumentationsweise ab, weil sie nicht durch die Heilige Schrift begründet sei. Da sich beide nicht einigen konnten und Cajetan in der Diskussion sogar darauf bestand, dass das Dekretale des Papstes über den Beschlüssen eines Konzils stünde, bat Luther um einen Tag Bedenkzeit. Am 13. Oktober kehrte Luther nicht allein zu Cajetan zurück, sondern brachte mehrere Zeugen, darunter Johann von Staupitz, vier kaiserliche Räte sowie sogar einen Notar, mit, um vor Cajetan eine Protestation abzugeben. Dieses Rechtsmittel war nun aber in diesem Verhör gar nicht vorgesehen und dürfte Cajetan Vgl. WA 2, (1) 6–26. Vgl. WA.B 1, 213–215 (Nr. 99) (14. 10. 1518). 54 Vgl. Kolde, Theodor, Die deutsche Augustiner-Congregation und Johann von Staupitz. Ein Beitrag zur Ordens- und Reformationsgeschichte nach meistens ungedruckten Quellen, Gotha 1879, 443 f., Nr. 16 (15. 10. 1518). 55 Vgl. WA.B 1, 220–224 (Nr. 103 und 104). 56 Vgl. Fabisch / Iserloh II, 126–131, Nr. 25 (25. 10. 1518). Den wohl besseren Text bietet WA.B 1, 232–235. 57 Vgl. WA.B 1, 232–251 (Nr. 110) (19. 11. 1518). 58 Vgl. Kurfürst Friedrich an Thomas de Vio Cajetan vom 8. 12. 1518, WA.B 1, 250 f. oder Fabisch / Iserloh II, 131–135, Nr. 10.9. 59 Vgl. Selge, Kurt-Victor, Die Augsburger Begegnung von Luther und Kardinal Cajetan im Oktober 1518. Ein erster Wendepunkt auf dem Weg zur Reformation, in: JHKGV 20 (1969), 37–54. 52 53
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entsprechend überrascht haben. Zwar wollte sich Luther dem kirchenamtlichen Urteil unterwerfen, aber nur, wenn er über seine Verfehlungen hinlänglich unterrichtet worden sei. Als Schiedsinstanzen schlug er die Universitäten Basel, Freiburg, Löwen und Paris vor, auf deren Grundlage dann ein Urteil gefällt werden könne. Ein übereiltes Urteil sollte so verhindert werden. Da eine Einigung zwischen Cajetan und Luther nicht möglich war, schlug Staupitz vor, dass sich der Wittenberger Theologe schriftlich verantworten dürfe, was ihm zugestanden wurde. Als Luther in Begleitung zweier kurfürstlicher Räte am 14. Oktober seine Verantwortung60 an Cajetan übergab, lehnte sie der Legat als unnütze Worte ab. Cajetan meinte, dass eine weitere Diskussion über die Interpretation biblischer Belege und der Extravagante nichts austrüge und entließ Luther. Cajetans Drängen zu einem Widerruf war erfolglos geblieben, worüber Luther noch am selben Tag Spalatin informierte.61 Am 20. Oktober verließ Luther Augsburg.
5. Fazit Für Luther bedeutete das Augsburger Erlebnis einen Einschnitt in seine bisherige Entwicklung, da ihm hier vor Augen geführt wurde, dass es „um seine Sache“62 nicht gut stand. Ihm wurde der Vorwurf gemacht, häretisch zu lehren. Doch ohne entsprechende Beweisführung in einem ordentlichen Verfahren, das alle Instanzen durchlief, wollte er dieses Urteil nicht annehmen. Da sein Landesherr, Kurfürst Friedrich von Sachsen, diesen Standpunkt teilte, verfügte er zunächst über einen ausreichenden Schutz. Dass eine Verständigung zwischen dem Augustinereremiten und dem Dominikaner in Augsburg schwierig werden würde, lag wohl bereits vor Beginn der Gespräche auf der Hand. Dafür waren nicht nur die unterschiedlichen theologischen Prämissen, sondern auch Luthers Erwartungen und Cajetans Auftrag verantwortlich.
Vgl. WA 2, 9–16. Vgl. WA.B 1, 213–215 (Nr. 99). 62 So die Formulierung Luthers in seinem Brief an Karlstadt vom 14. Oktober 1518, vgl. WA.B 1, 215 f. (Nr. 99). 60 61
Cajetan und der Dominikanerorden Elias H. Füllenbach OP In der Geschichte des Dominikanerordens, der 2016 sein achthundertjähriges Bestehen feiern konnte, nimmt Thomas de Vio OP (1469–1534), nach seiner Heimatstadt Gaeta meist Gaetanus bzw. Cajetan genannt,1 eine wichtige Stellung ein.2 Sein umfangreicher Kommentar zur Summa Theologiae des Thomas von Aquin hat im 16. Jahrhundert maßgeblich zur Erneuerung des Thomismus beigetragen3 und erlangte schon bald „quasi kanonische Geltung“4, da er sowohl in der Editio Piana als auch in der Editio Leonina, also in den wichtigsten Werkausgaben des Aquinaten, mit abgedruckt wurde. Zugleich gilt Cajetan als bedeutender Vertreter der Ordensreform, die er während seiner Amtszeit als magister generalis (1508–1518) entschieden vorangetrieben hat.5 Ein Ordenshistoriker hat ihn deshalb sogar als ‚Reformator‘ des Dominikanerordens bezeichnet.6
Eine umfassende, unseren heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie ist weiterhin ein Desiderat der Forschung. Lesenswert ist immer noch die Lebensbeschreibung von Cossio, Aluigi, Il Cardinale Gaetano e la Riforma, Bd. 1, Cividale 1902, von der allerdings keine weiteren Bände erschienen sind. Einen biographischen Überblick in deutscher Sprache bieten die Beiträge von Hallensleben, Barbara, Thomas de Vio Cajetanus (1469–1534), in: Erwin Iserloh (Hg.), Katholische Theologen der Reformationszeit. Bd. 1, Münster i. W. 1984 (KLK 44), 11–25; und dies., Thomas de Vio Cajetanus. Erneuerer der Theologie für eine erneuerte Kirche, in: Martin H. Jung / Peter Walter (Hg.), Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus – Reformation – Katholische Erneuerung. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 65–82; sowie die herausragende Studie von Wicks, Jared, Cajetan und die Anfänge der Reformation, Münster i. W. 1983 (KLK 43). 2 Vgl. beispielsweise Hinnebusch, William A., Kleine Geschichte des Dominikanerordens, Leipzig 2004 (Dominikanische Quellen und Zeugnisse 4), 163, der Cajetan neben Dominikus und Raimund von Capua zu den „großen Männer[n] des Ordens“ zählt. 3 Vgl. ebd., 151. 4 Walter, Peter, D.IV. Die Ausbildung einer thomistischen Schule seit dem 15. Jahrhundert, in: Volker Leppin (Hg.), Thomas Handbuch, Tübingen 2016, 436–443, hier 438. 5 Zu Cajetans Amtszeit als Ordensmeister vgl. Mortier, Daniel-Antonin, Histoire des maitres généraux de l’Ordre des Frères Prêcheurs, Bd. 5: 1487–1589, Paris 1911, 141–230. 6 Vgl. Löhr, Gabriel M., De Caietano Reformatore Ordinis Praedicatorum, in: Angelicum 11 (1934), 593–602. 1
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1. Cajetan im Urteil seiner Zeitgenossen Die zeitgenössischen Quellen beschreiben Cajetan dagegen als einen „Mann, klein an Körper und von winziger Statur, aber von gewaltigem Geist und außerordentlicher Bildung“.7 In einem überlieferten Brief von 1514 wird er geradezu überschwänglich „wegen seiner Weisheit, Wissenschaft, Klugheit, Güte, Leutseligkeit, seines Eifers und seiner Rechtschaffenheit“ gelobt: „Der Papst achtet ihn aufs höchste und auch alle Leute am päpstlichen Hof, die einen, weil sie ihn lieben, die andern, weil sie ihn fürchten. Und das sage ich, weil es heutzutage keinen Prälaten in Rom gibt, der mehr guten Ruf und Ansehen besäße als er, weil er ganz offensichtlich frei ist von jeder fleischlichen Befleckung, von jeder Art Habsucht, in seinem ganzen Gehaben nichts anders kundtuend als den Stand eines Ordensmannes.“8
So schildert der Dominikaner Franziskus von Worms einem niederländischen Mitbruder, welchen Eindruck der amtierende Ordensmeister 1514 auf ihn machte: Wenn „die Verhältnisse der Menschen oder dieser Zeiten nicht so wankelmütig wären“, könnte Cajetan „multa maxima pro ordine“ leisten. Deutlich kritischer fiel das Urteil innerhalb der Reformbewegung des Dominikanerordens aus. Die Anhänger Girolamo Savonarolas warfen Cajetan sogar Laxismus vor,9 weil er „die Erneuerung des Ordens nicht von äußeren Observanzen erwartete“,10 sondern vor allem die Bedeutung des Studiums betonte. So wird in der ordenseigenen Geschichtsschreibung ein Ausspruch Cajetans überliefert, dass ein Dominikaner, der sich nicht vier Stunden täglich dem Studium 7 So die Beschreibung von Leandro Alberti in seiner 1517 veröffentlichen Schrift De viris illustribus ordinis praedicatorum, abgedruckt bei Laurent, Marie-Hyacinthe, Les premières biographies de Cajétan, in: RThom 39 (= NS 17) (1934/35), 444–503, hier 447: „Vir est parvi corporis, pusillaeque staturae, sed ingentis animi ingentisque litteraturae“. Deutsche Über setzung zitiert nach Hallensleben, Thomas de Vio Cajetanus (wie Anm. 1), 66. 8 Franziskus von Worms an den Generalvikar der Congregatio Hollandie, Pater Cornelius de Sneek OP, 11. April 1514, in: Vorberg, Axel, Beiträge zur Geschichte des Dominikanerordens in Mecklenburg, Teil 3: Mecklenburgische Dominikanerurkunden, Leipzig 1913 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 9), 51–54, hier 53: „Cum quo, si reuerenda paternitas vestra aliquamdiu posset conversari, non dubito, quin facile eum preferetis omnibus hominibus, cum quibus conuersatus estis, in sapientia, scientia, prudentia, bonitate, affabilitate, zelo et rectitudine. Quem summus pontifex in maxima habet estimatione et omnes curiales, nonnulli, quia diligunt, nonnulli quia timent eum. Et hoc dico, quod non est hodie prelatus in urbe, qui habeat maiorem famam et reputationem quam ipse, quia euidentissime mundus est ab omni inquinamento carnis, ab omni specie auaricie, in habitu nichil penitus pre se ferens nisi professionem fratris religiosi. Et nisi essent condiciones vel hominum vel temporis istius ita varii, ut nullus sciat, quid debeat expectare firmiter vel refutare, facile hic homo faceret multa maxima pro ordine.“ Deutsche Übersetzung zitiert nach Groner, Joseph Fulko, Kardinal Cajetan. Eine Gestalt aus der Reformationszeit, Fribourg / Louvain 1951, 40. 9 Vgl. Mayer, Josef, Cajétan moraliste, in: RThom 39 (= NS 17) (1934/35), 343–357, hier 347. 10 Hallensleben, Thomas de Vio Cajetanus (wie Anm. 1), 65.
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widme, eine Todsünde begehe und gegen das Ordensideal verstoße.11 Auch wenn diese Bemerkung vermutlich nicht authentisch ist, kommt in ihr doch eine Haltung zum Ausdruck, die durchaus dem hohen intellektuellen Anspruch entsprach, den Cajetan an sich und seine dominikanischen Mitbrüder stellte. Die zahlreichen Anordnungen und Verbote, die sein Vorgänger Vincenzo Bandello OP als Ordensmeister (Amtszeit 1501–1506)12 erlassen hatte, um „den Orden mit Fasten und äußeren Observanzen zu reformieren“, hielt Cajetan dagegen für „lächerlich“.13 Ihm ging es vielmehr um grundsätzliche Reformen, beispielsweise um eine „Hebung des Bildungsniveaus“ der Brüder;14 äußere Formen waren ihm dagegen nicht so wichtig – eine Position, die im ordensinternen Richtungsstreit über den einzuschlagenden Reformkurs nicht unwidersprochen blieb und Cajetan zu Unrecht „den Ruf eines lauen Ordensmannes“ eintrug.15 Luther wiederum sah in Cajetan zunächst nur einen weiteren Dominikaner, der sich ihm entgegenstellte. Schließlich gehörten dem Predigerorden, für den der in Wittenberg lehrende Augustinereremit seit 1517/18 eine immer stärker werdende Abneigung empfand,16 einige seiner größten Gegner an17 wie beispielsweise der Ablassprediger Johann Tetzel18, den Luther zu Unrecht verdächtigte, ihn in Rom angezeigt zu haben, der Magister sacri palatii Silvestro Mazzolini aus Prierio, genannt Prierias,19 der an der römischen Kurie gegen Luthers Thesen Stellung bezog,20 und der Kölner Inquisitor Jacob Hoogstraeten (Hochstraten)21, 11 Vgl. Quétif,
Jacques / É chard, Jacques, Scriptores ordinis praedicatorum, Bd. 2, Paris 1721, 16: „Unde fertur dicere solitum, sodalem Praedicatorum vix se a peccato mortali excusare, qui quoto die quatuor horas studio non impenderit.“ 12 Zu ihm vgl. Mortier, Histoire des maitres généraux 5 (wie Anm. 5), 66–127. 13 Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 8), 44. 14 Wicks, 27. 15 Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 8), 43. 16 Vgl. Wicks, 69 f. 17 Vgl. Paulus, Nikolaus, Die deutschen Dominikaner im Kampfe gegen Luther (1518– 1568), Freiburg i. Br. 1903 (Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes 4,1–2). Ein differenziertes Bild geben Springer, Klaus-Bernward, Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit, Berlin 1999 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens NF 8), und Unterburger, Klaus, Vom Theologenstreit zum Überlebenskampf. Die Auseinandersetzung der Dominikaner mit der Reformation, in: Zur Debatte 46 (2016), Sonderheft zur Ausgabe 6, 17–20. 18 Zu ihm vgl. jetzt den Katalog von Kühne, Hartmut et al. (Hg.), Johann Tetzel und der Ablass. Begleitband zur Ausstellung „Tetzel – Ablass – Fegefeuer“ in Mönchenkloster und Nikolaikirche Jüterbog vom 8. September bis 26. November 2017, Berlin 2017, insbesondere den kommentierten Quellenanhang, 302–384. 19 Zu ihm vgl. Tavuzzi, Michael, Prierias. The Life and Works of Silvestro Mazzolini da Prierio, 1456–1527, Durham / London 1997 (Duke Monographs in Medieval and Renaissance Studies 16). 20 Zur römischen Sicht der causa Lutheri vgl. auch Reinhardt, Volker, Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation, München 2016. 21 Zu ihm vgl. Horst, Ulrich, Jacobus Hoogstraten OP (ca. 1460–1527), in: Erwin Iserloh (Hg.), Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 4, Münster i. W. 1987 (KLK 47), 7–14.
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der zu den „frühesten und produktivsten antilutherischen Schriftsteller[n]“ im deutschsprachigen Raum gezählt werden kann.22 Als Thomist und entschiedener Verteidiger des päpstlichen Primats23 entsprach Cajetan dem Bild, das sich Luther und seine Anhänger von den Dominikanern machten. Melanchthon, der Cajetan freilich nie persönlich begegnet ist, „aber das Urteil der Nachwelt maßgeblich prägen sollte“,24 beschreibt ihn entsprechend als einen „homo incivilis“, dem an der Autorität ‚seines‘ Thomas mehr gelegen habe als am Frieden der Kirche und mit dem daher nicht vernünftig zu verhandeln gewesen sei.25 Schon diese Beispiele zeigen, wie unterschiedlich Cajetan von seinen Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Selbst im Dominikanerorden gingen die Meinungen über ihn weit auseinander: Während die einen Cajetan für seinen Reformeifer lobten, galt er anderen als ‚Laxist‘. Daran änderte auch Cajetans herausragende kirchliche Stellung als Ordensmeister, Konzilstheologe26 und Kardinal27 nichts. Vielmehr wurde er „schon zu Lebzeiten für seine theologischen Positionen scharf kritisiert“.28 Insbesondere seine exegetischen Werke, auf die im Folgenden noch näher einzugehen sein wird, sorgten innerhalb wie außerhalb des Ordens für „beträchtliche Unruhe“29 und gerieten schließlich sogar in das Visier der römischen Zensur. Auch in diesen Auseinandersetzungen um Cajetans Bibelkommentare fanden sich Dominikaner auf beiden Seiten wieder, also unter den Gegnern des Kardinals genauso wie unter seinen Verteidigern. Der Dominikanerorden war im 15. und 16. Jahrhundert eben kein monolithischer Block, sondern ähnlich heterogen wie die Augustinereremiten30 in dieser Zeit. Zwischen 22 Unterburger,
Vom Theologenstreit zum Überlebenskampf (wie Anm. 17), 17. Ulrich, Papst – Konzil – Unfehlbarkeit. Die Ekklesiologie der Summenkommentare von Cajetan bis Billuart, Mainz 1978 (Walberberger Studien: Theologische Reihe 10), 24–26; ausführlich dann ders., Juan de Torquemada und Thomas de Vio Cajetan. Zwei Protagonisten der päpstlichen Gewaltenfülle, Berlin 2012 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens NF 19), 111–182. 24 Hallensleben, Thomas de Vio Cajetanus (wie Anm. 1), 64. 25 Philipp Melanchthon an Joachim Camerarius in Nürnberg, 5. Mai 1530: „Est enim homo incivilis, quo genere nihil est intractabilius. Pluris autoritatem sui Thomae, […] quam ecclesiae pacem faciet.“ Zitiert nach Scheible, Heinz (Hg.), Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe, Bd. T 4/1: Texte 859–1003a (Januar–Juli 1530), Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, 155–157, hier 156 (Nr. 900). Vgl. mit leichten Abweichungen schon bei CR 2, Halle (Saale) 1835, 42. 26 Zu Cajetans Opposition gegen das Conciliabulum von Pisa 1511 und zu seiner Rolle auf dem V. Laterankonzil vgl. Wicks, 31–36. 27 Zu seiner Ernennung zum Kardinal im Juli 1517 vgl. ebd., 38 f. 28 Arnold, Claus, Die römische Zensur der Werke Cajetans und Contarinis (1558–1601). Grenzen der theologischen Konfessionalisierung, Paderborn u. a. 2008 (Römische Inquisition und Indexkongregation 10), 59. 29 Ebd., 61. 30 Vgl. Wernicke, Michael Klaus, Die Augustiner-Eremiten, in: Friedhelm Jürgensmeier / Regina Elisabeth Schwerdtfeger (Hg.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500–1700, Bd. 2, Münster i. W. 2006 (KLK 66), 49–72. Zur deutschen Observanzbewegung bei den Augustinereremiten vgl. jetzt Günter, Wolfgang, Reform und 23 Vgl. schon die kurzen Ausführungen von Horst,
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den Anhängern der dominikanischen Reformbewegung und den sogenannten Konventualen, d. h. den nichtreformierten Brüdern, bestanden zum Beispiel erhebliche Spannungen, die Cajetans Ordensleben von Anfang an prägen sollten.
2. Cajetan als Dominikaner Als Giacomo de Vio 1484 in seiner Heimatstadt Gaeta in den Dominikanerorden eintrat und den Ordensnamen Thomas erhielt, hatten bereits mehrere Konvente in Italien die strenge Observanz eingeführt und sich in eigenen Reformkongregationen zusammengeschlossen.31 Ähnliche Entwicklungen gab es damals auch in anderen europäischen Ländern.32 1475 war mit der Wahl eines observanten Ordensbruders zum Provinzial sogar die gesamte deutsche Provinz Teutonia zur Observanz übergegangen, woraufhin die nichtreformierten Konvente eine eigene Kongregation mit einem eigenen Vikar gegründet hatten.33 Diese Aufsplitterung des Ordens, der Cajetan während seiner Amtszeit als Ordensmeister entgegenzuwirken versuchte, führte zu einer recht unübersichtlichen Situation, die in der Forschungsliteratur wiederholt zu Fehlschlüssen und Verwechslungen geführt hat. So ist immer wieder zu lesen, dass Cajetan ein Mitglied der lombardischen Reformkongregation gewesen sei,34 obwohl der Konvent in Gaeta damals zur konventualen Provinz des Königreichs von Neapel (Provincia Regni Reformation. Geschichte der deutschen Reformkongregation der Augustinereremiten (1432– 1539), Münster i. W. 2018 (RGST 168). 31 Vgl. D’Amato, Alfonso, Vicende dell’osservanza regolare nella Congregazione domenicana di Lombardia negli anni 1469–72, in: AFP 15 (1945), 52–101; ders., Sull’introduzione della riforma domenicana nel Napoletano per opera della Congregazione Lombardia (1489–1501), in: AFP 26 (1956), 249–275; Creytens, R aymond, Les vicaires généraux de la Congrégation Dominicaine de Lombardie (1459–1531), in: AFP 32 (1962), 211–284. 32 Zur Observanzbewegung in Spanien vgl. Beltrán de Heredia, Vicente, Historia de la Reforma de la Provincia de España (1450–1550), Rom 1939 (Dissertationes historicae 11); zur Congregatio Hollandiae, der – anders als ihr Name vermuten lässt – auch zahlreiche französische, deutsche und polnische Konvente angehörten, vgl. Wolfs, Servatius Petrus, Dominikanische Observanzbestrebungen: Die Congregatio Hollandiae (1464–1517), in: Kaspar Elm (Hg.), Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, Berlin 1989 (BHSt 14 / Ordensstudien VI), 273–292. 33 Vgl. Hoyer, Wolfram, Die deutschen Dominikaner im Mittelalter, in: Elias H. Füllenbach (Hg.), Mehr als Schwarz und Weiß. 800 Jahre Dominikanerorden, Regensburg 2016, 63–87, hier 84. Zu den Entwicklungen in der Teutonia vgl. auch Löhr, Gabriel M., Die Teutonia im 15. Jahrhundert. Studien und Texte vornehmlich zur Geschichte ihrer Reform, Leipzig 1924 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 19); Hillenbrand, Eugen, Die Observantenbewegung in der deutschen Ordensprovinz der Dominikaner, in: Elm (Hg.), Reformbemühungen (wie Anm. 32), 219–271. 34 Vgl. beispielsweise Mortier, Histoire des maitres généraux 5 (wie Anm. 5), 142. Vermutlich geht diese falsche Zuordnung auf Quétif / É chard, Scriptores ordinis praedicatorum (wie Anm. 11), 14, zurück, die bereits angeben, dass Cajetan der lombardischen Reformkongregation angehört habe.
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Siciliae) gehörte. Zwar gab es in dieser Provinz ebenfalls eine kleine, bislang kaum erforschte Kongregation Terrae laboris,35 der sich auch der Konvent in Gaeta angeschlossen hatte, aber die „observantia Neapolitana“ wirkte auf Cajetan, wenn wir Sebastiano d’Olmedo, einem seiner frühen Biographen, Glauben schenken dürfen, nicht sehr überzeugend: Sebastiano berichtet jedenfalls, dass sich Cajetan als junger Ordensmann über die Reformversuche seiner Oberen lustig gemacht habe.36 Es gibt sogar einige Hinweise, dass Cajetan selbst gar nicht der dominikanischen Observanzbewegung angehörte, wie in der Forschung lange angenommen wurde,37 sondern zu den Konventualen zählte: 1495 wurde er beispielsweise dafür gerügt, mit einem Mitbruder seines Konventes ein Geldgeschäft abgeschlossen und die Schuld noch nicht beglichen zu haben.38 Zudem sorgte er nach seiner Wahl zum Ordensmeister dafür, dass eine von ihm finanzierte Klosterzelle in Gaeta an einen Verwandten, Frater Giovanni de Vio OP, übertragen wurde.39 Michael Tavuzzi sieht in Cajetan deshalb sogar „a perfect example of a conventual friar“,40 der aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten von seinen Oberen früh gefördert wurde.41 Nach ersten Studien im Konvent in Neapel42 wurde Cajetan 1488 an das Generalstudium des Ordens in Bologna geschickt,43 also an eine besonders „traditi35 Vgl. die kurzen Angaben bei Miele, Michele, La Riforma Domenicana a Napoli nel periodo post-Tridentino (1583–1725), Rom 1963 (Dissertationes historicae 16), 53. 36 Sebastiano d’Olmedo schreibt in seiner Chronica Ordinis Praedicatorum von 1558, zitiert nach Laurent, Les premières biographies (wie Anm. 7), 494 f.: „Thomas de Vio Cayetanus, de provincia Regni […] Qui et maiorum operam in reformando ordine nonnunquam risit et si ab ineunte etate in observantia Neapolitana educatus, magisque schole quam prefecture natus videretur.“ 37 Vgl. beispielsweise Hinnebusch, Kleine Geschichte des Dominikanerordens (wie Anm. 2), 141. 38 Vgl. die Ermahnung des Ordensmeisters Gioacchino Torriani OP vom 19. Dezember 1495, zitiert nach Tavuzzi, Prierias (wie Anm. 19), 139, Anm. 23: „Fratri Thome de Gaeta magistro sub excommunicationis pena mandatur ut fratri Bernardo de Gaeta solvat ducatos 7 vel cum eo componat in termino 3 menssium“. 39 Vgl. den Eintrag vom 20. Juni 1508, zitiert nach Meyer, Albertus de (Hg.), Registrum litterarum fr. Thomae de Vio Caietani O. P. Magistri Ordinis 1508–1515, Rom 1935 (MOFPH 17), 153: „Fratri Johanni de Vio, Caietano, conceditur camera constructa per Reverendissimum Magistrum Ordinis in Conventu S. Domini de Caieta.“ 40 Tavuzzi, Prierias (wie Anm. 19), 5. 41 Zur Bedeutung des Studiums für den Dominikanerorden vgl. Frank, Isnard W., Die Grundlegung des intellektuellen Profils des Predigerordens in seinen Anfängen, in: RoJKG 17 (1998), 13–34; zum ordensinternen Studiensystem, das im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaut wurde, vgl. ders., Die Bettelordensstudia im Gefüge des mittelalterlichen Universitätswesens, Stuttgart 1988 (Institut für Europäische Geschichte Mainz, Vorträge 83). 42 Eine erste Assignation nach Bologna erfolgte bereits im Frühjahr 1485, wurde aber offensichtlich nicht umgesetzt. Vgl. die Anordnung des Ordensmeisters Bartolomeo Comazzio OP vom 8. April 1485, zitiert nach Meersseman, Gilles / P lanzer, Dominikus (Hg.), Magistrorum ac procuratorum generalium O. P. registra litterarum minora (1469–1523), Rom 1947 (MOFPH 21), 47: „Fr. Thomas de Vio de Caieta assignatur Bononiae. Caietae 8. Apr. 1485.“ 43 Vgl. die Anordnung Torrianis vom 18. Juni 1488, zitiert nach Tavuzzi, Michael, Il Gae-
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onsreiche Stätte der dominikanischen Geschichte“, nämlich „an den Ort, an dem der hl. Dominikus“ 1221 „gestorben und begraben“ worden war.44 Ob Cajetan in Bologna auf Savonarola traf, der 1487/88 das Studium leitete, ist unklar. Vermutlich haben sie sich um einige Wochen oder Monate verpasst. Wegen einer schweren Erkrankung wurde Cajetan jedoch bald wieder in seinen Heimatort zurückgeschickt.45 Möglicherweise kehrte er nach seiner Genesung nach Bologna zurück, auch wenn hierfür keine Quellen existieren.46 Sicher ist dagegen, dass er 1491 zur Fortsetzung seiner Studien nach Padua versetzt wurde, also „an eine führende italienische Universität seiner Zeit“ und „Bastion des aristotelischen Naturalismus“.47 Nach zwei Jahren als studens formalis am dominikanischen Studium wurde Cajetan am 19. März 1493 „formell der theologischen Fakultät der Universität inkorporiert, zum Baccalaureus Sententiarum ernannt und […] von der Bestimmung, daß man erst nach fünfjähriger Ansässigkeit den Doktorgrad erwerben dürfe“, dispensiert.48 Allerdings wurde die gewährte Dispens bereits im folgenden Jahr hinfällig, denn Cajetan kam in den Genuss eines päpstlichen Privilegs Bonifaz’ IX. von 140249, „demzufolge die Dominikaner auf jedem Generalkapitel“ einem ausgewählten Mitbruder „den Magister-Rang verleihen durften“.50 Meist wurde diese Ehre verdienten älteren Brüdern zuteil. Cajetan war dagegen erst 25 Jahre alt, als er auf dem Generalkapitel in Ferrara 1494 erschien.51 Tavuzzi vermutet hier eine frühe Förderung durch den Kardinalprotektor des Ordens, Kardinal Oliviero Carafa,52 dessen Familie enge Beziehungen zu den de Vios unterhielt. Cajetans öffentliche Disputation fiel jedenfalls „so glanzvoll“ aus, dass „der Getano e la Scuola di Bologna nel primo Cinquecento, in: Roberto Lambertini (Hg.), Università, teologia e studium domenicano dal 1360 alla fine del medioevo. Atti del convegno di studi (Bologna, 21–23 ottobre 2011), Florenz 2014 (Memorie Domenicane, Nuova Serie 45), 217–236, hier 220, Anm. 18: „Fr. Thomas de Vio de Gaieta assignatur studens artium Bononie et dispensatur secum ad sacerdotium completo anno 22“. 44 Wicks, 10. 45 Vgl. die Anordnung Torrianis vom 4. Dezember 1489, zitiert nach Tavuzzi, Il Gaetano e la Scuola (wie Anm. 43), 220, Anm. 20: „Fr. Thomas de Vio potest ire ad provinciam et conventum suum cayetanum ibique morari et stare quosque plenam recuperavit sanitatem“. Mortier, Histoire des maitres généraux (wie Anm. 5), 142, datiert die Anordnung dagegen auf den 4. Dezember 1488. 46 Vgl. Wicks, 10. 47 Ebd., 10 f. 48 Ebd., 13. Vgl. auch Gargan, Luciano, Lo studio teologico e la biblioteca dei Domenicani a Padova nel Tre e Quattrocento, Padua 1971 (Contributi alla storia dell’Università di Padova 6), 156 f. 49 Das Dekret vom 27. April 1402 ist abgedruckt bei Ripoll, Thomas (Hg.), Bullarium Ordinis FF. Praedicatorum, Bd. 2: Ab anno 1281 ad 1430, Rom 1730, 442 f. 50 Wicks, 13. 51 Vgl. ebd., 13, schreibt versehentlich 1491. 52 Vgl. Tavuzzi, Prierias (wie Anm. 19), 21. Zu Carafa vgl. Norman, Diana, Cardinal of Naples and Cardinal in Rome: The Patronage of Oliviero Carafa, in: Mary Hollingsworth / Carol M. Richardson (Hg.), The Possessions of a Cardinal. Politics, Piety, and Art 1450–1700,
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neralmagister ihn auf der Stelle zum Magister ernannte“.53 Disputationsgegner war kein geringerer als Giovanni Pico della Mirandola, der allerdings, wie Tavuzzi anmerkt, zu diesem Zeitpunkt bereits schwach und krank war.54 Nach seiner Rückkehr nach Padua übernahm Cajetan vorübergehend als locum tenens den Lehrstuhl für thomistische Metaphysik, d. h. er vertrat bis zur Berufung eines offiziellen Nachfolgers seinen ehemaligen Lehrer Valentino da Camerino OP, der 1494 zum Provinzial der römischen Ordensprovinz gewählt worden war.55 In dieser Zeit kommentierte er auch Thomas’ Werk De ente et essentia.56 Von 1495–97 unterrichtete Cajetan an den Konventen in Verona, Bergamo, Brescia, Mantua, Mailand und Pavia.57 1497 wurde er dann auf Betreiben Ludovico Sforzas zum ordentlichen Professor der Theologie in Pavia ernannt, und zwar ausdrücklich, um in das Denken des hl. Thomas von Aquin einzuführen.58 Ende 1499 wechselte er schließlich nach Mailand in den Konvent Santa Maria delle Grazie, wo er sich – offenbar frei von irgendwelchen Lehrverpflichtungen – der Ausarbeitung verschiedener wissenschaftlicher Arbeiten widmen konnte.59 Die Zeit in Mailand währte jedoch nicht lange. 1501 wurde Cajetan auf Betreiben von Kardinal Carafa zum Generalprokurator des Ordens berufen.60 Dieses Amt des Generalprokurators, der für alle Angelegenheiten zwischen dem Orden und der päpstlichen Kurie zuständig ist, existiert bis heute. Vermutlich erfolgte Cajetans Ernennung auch deswegen, um den Thomismus in Rom zu stärken. Denn mit seinem Wechsel nach Rom gab Cajetan seine wissenschaftliche Tätigkeit keineswegs auf, sondern er unterrichtete fortan an der römischen Universität Sapienza, dem renommierten studium urbis.61 Hilfreich für seine weiteren Studien war sicherlich die gut ausgestattete Konventsbibliothek an Santa Maria sopra Minerva.62 So beschäftigte er sich in Rom mit zahlreichen moraltheologischen Pennsylvania 2010, 77–91; zu seiner Rolle als Kardinalprotektor vgl. Forte, Stephen L., The Cardinal-Protector of the Dominican Order, Rom 1959 (Dissertationes historicae 15), 24–28. 53 Wicks, 13. 54 Vgl. Tavuzzi, Prierias (wie Anm. 19), 21. 55 Vgl. Tavuzzi, Michael, Valentino da Camerino, O. P. (1438–1515): Teacher and critic of Cajetan, in: Traditio 49 (1994), 287–316, hier 298 f. 56 Vgl. Wicks, 14. 57 Vgl. ebd., 17. 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. Tavuzzi, Il Gaetano e la Scuola (wie Anm. 43), 225 f. 60 Vgl. Wicks, 20. 61 Vgl. ebd., 21. 62 Vgl. ebd., Anm. 36. Zur Bibliothek vgl. auch Meersseman, Gilles, La bibliothèque des Frères Prêcheurs de la Minerva à la fin du XVe siècle, in: Mélanges Auguste Pelzer. Études d’histoire littéraire et doctrinale de la Scolastique médiévale offertes à Monseigneur Auguste Pelzer à l’occasion de son soixante-dixième anniversiare, Louvain 1947 (Recueil de travaux d’histoire et de philologie, 3e série, 26), 605–634; Barbalarga, Donatella, Centri di aggregazione. La Biblioteca domenicana di S. Maria sopra Minerva, in: Massimo Miglio et al. (Hg.), Un
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Themen, die von Ehefragen bis zum Beichtgeheimnis und von der Simonie bei Papstwahlen bis hin zur Bewertung des Geldverleihs und der Erlaubtheit von Zinsgeschäften reichten.63 In den frühen biographischen Schilderungen werden Cajetans Vorliebe für das zurückgezogene Studium, seine unbestreitbare Disziplin und sein außergewöhnliches Arbeitspensum auch deswegen so hervorgehoben, um ihn von anderen Klerikern seiner Zeit abzugrenzen. „Um den Pomp der Kurie kümmerte er sich nicht, Nichtstun war ihm ein Schrecken, er liebte die Einsamkeit, ununterbrochen diktierte er“, berichtet beispielsweise Sebastiano d’Olmedo.64 Inwieweit hier auch der Topos eines bescheidenen, sittenstrengen Ordensmanns am päpstlichen Hof, der sich nicht korrumpieren lässt (d. h. ein Topos, den wir etwa auch von Michele Ghislieri OP, dem späteren Papst Pius V. [Pontifikat 1566–1572], kennen65), eine Rolle spielte, sei dahingestellt und wäre sicher ein lohnendes Forschungsthema. Als Generalprokurator des Ordens konnte und durfte sich Cajetan jedoch nicht einfach in seine Klosterzelle zum Studium zurückziehen, sondern er hatte am päpstlichen Hof verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Dazu zählte beispielsweise, in der Advents- und Fastenzeit vor dem Papst zu predigen. Fünf dieser Predigten sind erhalten und zeigen „einen eleganten und kraftvollen […] Stil“,66 der sich deutlich von der nüchternen, auf Klarheit bedachten Sprache in Cajetans wissenschaftlichen Werken unterscheidet. Als Prediger verzichtete Cajetan weitgehend auf theologisches Fachvokabular, sondern führte zur Erläuterung seiner Gedanken immer wieder „allgemeinverständliche Beispiele“ an.67 In „Aufbau und Thematik“ blieb er hingegen „dem klassischen scholastischen Predigtideal treu“.68 Auch damit erwies sich Cajetan als ein eifriges Mitglied des Ordo fratrum praedicatorum.
pontificato ed una città. Sisto IV (1471–1484). Atti del convegno (Roma 3–7 dicembre 1984), Città del Vaticano 1986 (Littera antiqua 5 / Studi storici 154–162), 599–612. 63 Vgl. Wicks, 23–25. 64 Sebastano d’Olmedos Lebensbeschreibung ist abgedruckt bei Laurent, Les premières biographies (wie Anm. 7), 494–503, hier 503: „Curie enim pompam non curans, ocium horrens, solitudinem diligens continue dictabat“. Deutsche Übersetzung zitiert nach Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 8), 38. 65 Zu ihm vgl. Guasco, Maurilio / Torre, Angelo (Hg.), Pio V nella società e nella politica del suo tempo, Bologna 2005. 66 Wicks, 22. Zu diesen Predigten Cajetans vgl. auch ders., Thomism between Renaissance and Reformation: the Case of Cajetan, in: ARG 68 (1977), 9–32; O’Malley, John W., Praise and Blame in Renaissance Rome. Rhetoric, Doctrine and Reform in Sacred Orators of the Papal Court, c. 1450–1521, Durham, NC 1979 (Duke Monographs in Medieval and Renaissance Studies 3), 108–111. 67 Wicks, 23. 68 Hallensleben, 20.
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3. Cajetan als Ordensoberer Dass der gelehrte Prediger nur wenige Jahre später zum Ordensmeister, also in das höchste Amt des Dominikanerordens, gewählt werden würde, war keineswegs absehbar. Cajetan verfügte über keine Leitungserfahrung als Prior oder Provinzial und war in Padua nur kurzzeitig magister studentium der Ordensstudenten gewesen.69 Als Generalprokurator kannte er zwar „die dem Orden gewährten Rechte und Privilegien“, auf deren Einhaltung er zu achten hatte;70 aber über seine Tätigkeit als Prokurator und seine Kontakte zur römischen Kurie in dieser Zeit wissen wir nur recht wenig. Belegt ist lediglich seine enge Verbindung zu Kardinal Carafa, die zum Beispiel durch drei gedruckte Widmungsschreiben dokumentiert wird, in denen sich Cajetan für die langjährige Förderung und zahlreiche Gunsterweise des Kardinals bedankte.71 1507 setzte sich Carafa als Kardinalprotektor des Ordens erfolgreich dafür ein, dass Cajetan von Julius II. zum Generalvikar des Ordens ernannt wurde. Diese Ernennung war notwendig geworden, weil der erst wenige Monate zuvor gewählte Ordensmeister Jean Clérée OP72 überraschend verstorben war. Im Juni 1508 wurde Cajetan dann auf dem Generalkapitel in Rom zum Nachfolger Clérées gewählt.73 Auch diese Wahl erfolgte mit der Unterstützung Carafas, der den capitulares unmissverständlich deutlich gemacht hatte, wen er sich als neuen Ordensmeister wünschte. Sicher war dieser von Carafa ausgeübte Druck mit dafür verantwortlich, dass dem Neugewählten zunächst mit Skepsis begegnet wurde.74 Hinzu kam Cajetans konventualer Hintergrund und sein Verständnis von Reform, das sich von den Vorstellungen seiner Amtsvorgänger deutlich unterschied. So ließ er zu Beginn seines Generalats zahlreiche Anordnungen und Dekrete, die sein Vorvorgänger Vincenzo Bandello OP zur Durchsetzung der Observanz erlassen hatte, kurzerhand wieder aufheben,75 was in einigen Reformkonventen für Bestürzung sorgte und wahrscheinlich auch Cajetans Ruf als ‚Laxist‘ begründete.76 Wie bereits dargelegt, trafen hier unterschiedliche Vorstellungen über den einzuschlagenden Reformkurs aufeinander. Cajetan setzte mit dieser Maßnahme 69 Vgl. Gargan, Lo studio teologico (wie Anm. 48), 157; Tavuzzi, Valentino da Camerino (wie Anm. 55), 296–298. 70 Wicks, 20. 71 Vgl. ebd., 20 f. 72 Zu dem bekannten Prediger, der lange Beichtvater Ludwigs XII. von Frankreich gewesen ist, vgl. Martin, Hervé, Un prédicateur au début de la Renaissance: Jean Clérée OP (1455– 1507), in: RHEF 77 (1991), 185–205; zu seiner kurzen Amtszeit als Ordensmeister vgl. Mortier, Histoire des maitres généraux 5 (wie Anm. 5), 128–140. 73 Zu Cajetans Wahl vgl. Mortier, Histoire des maitres généraux 5 (wie Anm. 5), 145 f. 74 Vgl. Wicks, 25 f. 75 Vgl. die Bulle Exposuisti nobis von Julius II. vom 3. August 1508, in: Ripoll, Thomas (Hg.), Bullarium Ordinis FF. Praedicatorum, Bd. 4: Ab anno 1484 ad 1549, Rom 1732, 253. 76 Vgl. Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 8), 43; Mortier, Histoire des maitres généraux 5 (wie Anm. 5), 163 f.
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ein unmissverständliches Zeichen, dass er eine „entschiedene Rückwendung zu ethischen Grundhaltungen“ für notwendig hielt, die „durch Gesetze allein nicht herbeizuführen waren und durch eine Überzahl von Vorschriften eher behindert wurden“.77 Diese Position spiegelt sich auch in einem Generalkapitelsbeschluss von 1513 wieder, der zwei Jahre später wortwörtlich wiederholt wurde: „Die Vorgesetzten sollen nicht eine ganze Menge von Vorschriften und Anordnungen erlassen, und nicht den Seelen ihrer Untergebenen eine Schlinge legen, und nicht […] wegen des Versagens von einem einzigen oder wenigen, den oder die sie nicht zu tadeln wagen, die Gemeinschaft belasten“.78
Wie Jared Wicks treffend formuliert hat, zeichnete sich „Cajetans Einsatz für die Reform […] durch eine geniale Einfachheit“ aus.79 Sein erster Rundbrief an den Orden umfasste zum Beispiel nur neun Zeilen, in denen er zur Befolgung des Armutsgelübdes und zum Studium aufrief.80 Beide Forderungen ziehen sich durch fast alle Briefe, die Cajetan in den folgenden Jahren an den Orden richten sollte. Immer wieder betonte er dabei auch die Bedeutung des Gemeinschaftslebens: „Das nämlich ist die Wurzel des Ordens, der Schlüssel der Reform, ohne ihn ist jede Reform des Namens Reform unwürdig.“81 Cajetans Stellungnahmen gegen das Privateigentum im Orden82 sind vor allem vor diesem Hintergrund zu verstehen, d. h. sie waren weniger ein Angriff auf die konventuale Lebensweise als solche, sondern sie richteten sich an observante und konventuale Brüder gleichermaßen mit dem Ziel, die vita communis und damit auch die Einheit des Dominikanerordens insgesamt zu stärken. Hallensleben, 557. Reichert, Benedikt Maria (Hg.), Acta capitulorum generalium ordinis praedicatorum, Bd. 4: Ab anno 1501 usque ad annum 1553, Rom u. a. 1901 (MOFPH 9), 97 und 128: „Porro praelati omnes a multitudine praeceptorum et ordinationum abstineant, nec laqueum animabus subditorum iniiciant, nec propter defectum unius aut paucorum, quem vel quos non audent corrigere, communitatem involvant.“ Deutsche Übersetzung zitiert nach Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 8), 44. 79 Wicks, 26. 80 Vgl. Reichert (Hg.), Acta capitulorum generalium (wie Anm. 78), 84: „Divina permissione ad universalem ordinis famulatum assumptus, considerans quale ac quantum onus humeris adiectum sit, cum de tam multis districte sim iudici rationem redditurus; cum vero charitates vestras cogito mecum, ita enim speramus, hoc onus levaturas, meliori animo ac viribus ad perficienda omnia iam accingor, praesertim si paupertati ac litterarum studiis omnes simul insisterimus. Velitis itaque, patres optimi ac fratres charissimi, ita nostris institutis et sanctionibus inhaerere, ut rebus bene ex sententia peractis, omnes denique coelum pariter ascendamus. Bene valete et deum pro me orate.“ 81 Ebd., 94: „Haec siquidem est religionis radix, haec reformationis clavis, absque hac omnis reformatio reformationis nomine indigna est.“ Deutsche Übersetzung zitiert nach Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 8), 42. 82 Vgl. Walz, Angelus M., Compendium historiae Ordinis Praedicatorum, Rom 1930, 261, der sogar die Ansicht vertritt, dass Cajetan einen „Krieg“ gegen das Privateigentum im Orden geführt habe. Vgl. auch Wicks, 27. Allerdings gehen beide Autoren noch davon aus, dass Cajetan selbst der strengen Observanzbewegung angehörte. 77 78
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Cajetan sah den Zustand des Ordens keineswegs positiv und klagte in einem Brief von 1513 sogar über die „magnitudo ruinae illius“.83 Mit mahnenden Worten wandte er sich daher an die Konvente und Häuser des Ordens und erklärte: „Gedemütigt, gestraft und abgeurteilt sollen alle werden, die selbst nichts wissen und andere nichts wissen lassen wollen; die sich den Namen eines Doktors oder Predigers anmaßen, Gelehrsamkeit aber vermissen lassen, die sich in ihrer Selbstsucht weigern, sich der Seelsorge, der Wissenschaft und dem Fortschritt der Brüder zu widmen. Mögen sich andere an ihren Privilegien erfreuen, liebe Mitbrüder, wenn uns nicht unser theologisches Können empfiehlt, ist es mit unserem Orden aus.“84
Das sind drastische Worte. Doch Cajetan war keineswegs der Einzige im Orden, der dringenden Handlungsbedarf sah. Schon 1508 waren auf dem Generalkapitel einige Beschlüsse gefasst worden, mit denen beispielsweise die „Zulassung zum Noviziat, zur Profess, zur Priesterweihe und […] zu den höheren Ordensämtern […] von strengen Kriterien abhängig“85 gemacht wurde: „Lieber wollen wir wenige und tüchtige Leute, als eine so große Anzahl von Brüdern in jenen Ämtern, wodurch der Gottesdienst nur der Verachtung anheimfällt und die erblindeten Seelen eher dem Tod als dem Leben entgegengeführt werden.“86 Das ‚Heil der Seelen‘, das in den ältesten Konstitutionen formulierte Ziel des Predigerordens, auf das der Text offensichtlich anspielt, durfte nicht länger gefährdet werden.87 John W. O’Malley und Jared Wicks haben auf den Anfang des 16. Jahrhunderts weit verbreiteten Pessimismus hingewiesen,88 der sowohl in Cajetans Briefen an seine Mitbrüder als auch in dem zitierten Kapitelsbeschluss zum Ausdruck kommt. Doch die Situation des Ordens war keineswegs so schlecht, wie es Cajetan und einige seiner Zeitgenossen darstellten. Allerdings fielen in Cajetans Amtszeit mehrere Vorfälle, die insbesondere die Mitglieder der Observanzbewegung in Verruf brachten und zu einem Ansehens83 Reichert
(Hg.), Acta capitulorum generalium (wie Anm. 78), 93. 94: „humilientur, puniantur, et deiiciantur omnes, qui nec ipsi scire, nec alios scire volunt; qui nomen sibi doctorum aut praedicatorum usurpant, doctrina autem carent, qui seip sos amantes saluti animarum, literarioque profectui fratrum recusant incumbere. Gaudeant alii, fratres charissimi, suis praerogativis, nos nisi sacra doctrina commendet, de nostro ordine actum est.“ Deutsche Übersetzung zitiert nach Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 8), 42 f. 85 Hallensleben, Thomas de Vio Cajetanus (wie Anm. 1), 73, die allerdings den Kapitelsbeschluss als Anordnung Cajetans interpretiert. 86 Reichert (Hg.), Acta capitulorum generalium (wie Anm. 78), 85: „Volentes potius paucos et sufficientes, quam tot fratres in illis officiis, unde cultus divinus despiciatur, excaecataeque animae ad mortem potius ducantur quam ad vitam.“ Deutsche Übersetzung zitiert nach Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 8), 44. 87 Im Prolog der ersten Dominikanerkonstitutionen von 1228 heißt es: „cum ordo noster specialiter ob predicationem et animarum salutem ab initio noscatur institutus fuisse“. Zitiert nach Thomas, Antoninus Hendrijk, De oudste Constituties van de Dominicanen. Voorgeschiedenis, Tekst, Bronnen, Onstaan en Ontwikkeling (1215–1237). Met Uitgabe van de Tekst, Leuven 1965 (Bibliothèque de la Revue d’Histoire Ecclésiastique 42), 311. 88 Vgl. O’Malley, John W., Historical Thought and Reform Crisis of the Early Sixteenth Century, in: Theological Studies 28 (1967), 531–548; Wicks, 26, Anm. 53. 84 Ebd.,
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verlust des Ordens führten: in der Schweiz brachte beispielsweise der ‚Jetzerhandel‘ den Orden in Misskredit,89 und die Kölner Dominikaner wurden infolge des Pfefferkorn-Reuchlin-Streits90, bei dem der schon erwähnte Inquisitor Jacob Hoogstraeten (Hochstraten) eine unrühmliche Rolle gespielt hatte,91 in den ‚Dunkelmännerbriefen‘ verspottet. In Spanien ging Cajetan hart gegen die Anhänger einer Dominikanerin in Valladolid vor, die mit ihren Visionen und angeblichen Wundertaten für großes Aufsehen sorgte,92 und in Italien tobten weiterhin heftige Auseinandersetzungen um das Andenken Savonarolas, der 1498 in Florenz hingerichtet worden war, aber von vielen Mitbrüdern als Märtyrer verehrt wurde.93 In den Kontroversen um Savonarola war Cajetan anfangs noch sehr um Ausgleich bemüht. Kurz nach seiner Wahl ernannte er beispielsweise Nikolaus von
89 Vgl. Utz Tremp, Kathrin, Eine Werbekampagne für die befleckte Empfängnis. Der Jetzerhandel in Bern (1507–1509), in: Claudia Opitz et al. (Hg.), Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.–18. Jahrhundert, Zürich 1993 (Clio Lucernensis 2), 323–337. Zum Prozess vgl. Steck, Rudolf (Hg.), Die Akten des Jetzerprozesses nebst dem Defensorium, Basel 1904 (Quellen zur Schweizer Geschichte 22), der auch die beiden Briefe überliefert, die Cajetan 1507 und 1508 zur Verteidigung seiner angeklagten Mitbrüder an den Stadtrat von Bern schrieb (vgl. ebd., 612 und 618). Zwei deutschsprachige Schilderungen der Ereignisse liegen inzwischen auch als Edition vor: vgl. Günthart, Romy (Hg.), Von den vier Ketzern. „Ein erdocht falsch history etlicher Prediger münch“ und „Die war History von den vier ketzer prediger ordens“. Edition und Kommentar, Zürich 2009 (Schweizer Texte NF 29). 90 Zu der Kontroverse vgl. Trusen, Wilfried, Die Prozesse gegen Reuchlins ‚Augenspiegel‘. Zum Streit um die Judenbücher, in: Stefan Rhein (Hg.), Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit, Sigmaringen 1998 (Pforzheimer Reuchlinschriften 5), 87–131; Bartoldus, Thomas, Humanismus und Talmudstreit. Pfefferkorn, Reuchlin und die ‚Dunkelmännerbriefe‘ (1515/17), in: Arne Damrös et al. (Hg.), Judentum und Antijudaismus in der deutschen Literatur im Mittelalter und an der Wende zur Neuzeit. Ein Studienbuch, Berlin 2002, 179–228; Rummel, Erika, The Case against Johannes Reuchlin. Religious and Social Controversy in SixteenthCentury Germany, Toronto u. a. 2002; Price, David H., Johannes Reuchlin and the Campaign to Destroy Jewish Books, Oxford u. a. 2011; Shamir, Avner, Christian Conceptions of Jewish Books. The Pfefferkorn Affair, Kopenhagen 2011; Lorenz, Sönke / Mertens, Dieter (Hg.), Johannes Reuchlin und der „Judenbücherstreit“, Ostfildern 2013 (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 22); Boer, Jan-Hendryk de, Unerwartete Absichten – Genealogie des Reuchlinkonflikts, Tübingen 2016 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 94). Zum zeithistorischen Hintergrund vgl. auch die Beiträge in dem Band von Herzig, Arno / S choeps, Julius H. (Hg.), Reuchlin und die Juden, Sigmaringen 1993 (Pforzheimer Reuchlinschriften 3). 91 Vgl. die Studie von Peterse, Hans, Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin. Ein Beitrag zur Geschichte des Antijudaismus im 16. Jahrhundert, Mainz 1995 (VIEG 165). 92 Vgl. Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 8), 50 f.; sowie ausführlich Beltrán de Heredia, Historia de la Reforma (wie Anm. 32), 69–142. 93 Vgl. beispielsweise Verde, Armando F., Il movimento savonaroliani della Congregazione di S. Marco nella prima metà del Cinquecento attraverso alcuni suoi rappresentanti, in: Gian Carlo Garfagnini (Hg.), Studi Savonaroliani. Verso il V centenario, Firenze 1996 (Savonarola e la Toscana. Atti e Documenti 1), 245–256. Zum gescheiterten Versuch, Savonarola seligzusprechen, vgl. Gotor, Miguel, I beati del papa. Santità, inquisizione e obbedienza in èta moderna, Firenze 2002 (Biblioteca della Rivista di Storia e Letteratura Religiosa, Studi 16), 1–25.
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Schönberg94, einen Schüler Savonarolas, zum neuen Generalprokurator des Ordens und demonstrierte damit, dass er als Ordensmeister über den Konfliktparteien stehen wollte.95 Im Oktober 1509 versuchte er sogar, den andauernden Streit zwischen den Anhängern und den Gegnern Savonarolas zu schlichten: „Allen Mitgliedern der Kongregation von San Marco“ befahl er, dass niemand, der in der Seelsorge tätig ist, „auch nicht die Beichtväter irgendwelcher Schwestern, Kollegien usw., selbst oder durch einen andern, direkt oder indirekt, […] jemanden auf die eine oder andere Seite hinüberziehe“.96 Doch die erhitzten Gemüter ließen sich auch in den folgenden Jahren nicht beruhigen. Gegen einige enthusiastische Verehrer Savonarolas wie Luca Bettini OP97 ging Cajetan schließlich sogar vor,98 wohl auch um die guten Beziehungen des Ordens zu Leo X. nicht zu gefährden.99 Diese Konflikte um das Andenken Savonarolas haben Cajetans Generalat ebenso geprägt wie die anderen genannten Auseinandersetzungen. Allerdings gab es zur selben Zeit auch einige bedeutende Aufbrüche im Orden. 1508 forderte Cajetan beispielsweise die spanische Provinz dazu auf, 15 Brüder in die Neue Welt zu entsenden, um auf der Insel La Española (heute Haiti und Dominikanische Republik) einen ersten Konvent zu gründen.100 Kraft seiner Autorität als Ordensmeister beendete er damit einen jahrelangen Streit, der unter den spanischen Brüdern angesichts der Entdeckung Amerikas entstanden war Zu ihm vgl. Walz, Angelus M., Zur Lebensgeschichte des Kardinals Nikolaus von Schönberg O. P., in: Mélanges Mandonnet. Études d’histoire littéraire et doctrinale du Moyen Âge, Bd. 2, Paris 1930 (Bibliothèque thomiste 14), 371–387. 95 Möglicherweise wurde Cajetan auch deswegen als ‚Laxist‘ beschimpft, weil er sich als Ordensmeister gegenüber der Reformkongregation von San Marco eine gewisse Unabhängigkeit bewahren konnte. Wicks, 28 f., schreibt dagegen, dass Cajetan die Kongregation von San Marco begünstigt habe, gibt als einzigen Beleg jedoch nur an, dass der angesehene römische Konvent an Santa Maria sopra Minerva 1530, also erst viele Jahre später, auf Betreiben Cajetans der Reformkongregation angeschlossen wurde; damit lässt er freilich außer Acht, dass sich die Situation des Ordens in der Zwischenzeit völlig geändert hatte. 96 Meyer (Hg.), Registrum litterarum (wie Anm. 39), 121: „Universis fratribus congregationis Sancti Marci praecipitur, ne quis quovis modo aliorum curam habens, nec confessores quarumcumque monialium, collegiorum etc. per se vel alium, directe vel indirecte, […] trahat vel aliquo modo inducat quemquam ad unam vel aliam partem“. Deutsche Übersetzung zitiert nach Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 8), 49, Anm. 145. 97 Zu ihm vgl. Giorgetti, Alceste, Frà Luca Bettini e la sua difesa del Savonarola, in: Archivio Storico Italiano 77/2 (1919), 164–231. 98 Cajetans Anordnungen von 1518, in denen er Bettinis Wahlen nachträglich für ungültig erklärte und ihn unter Zensur stellte, sind abgedruckt bei Benelli, Giuseppe, Di alcune lettere del Gaetano, in: AFP 5 (1935), 363–375, hier 368–374. 99 Vgl. Wicks, 29 f. 100 Vgl. Cajetans Anordnung vom 3. Oktober 1508, zitiert nach Meyer (Hg.), Registrum litterarum (wie Anm. 39), 7: „Fratri Thomae de Matienzo, vicario Hispaniae, mandatur sub poena gravioris culpae, ut, quantum auctoritatis ordinis se extendit, mittat, cum gratia regis Hispaniae, 15 fratres ad Insulam Hispaniolam, sitam in mari Indico, ad accipiendum ibi loca et conventus et praedicandum verbum Dei“. 94
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und sich an der Frage entzündet hatte, ob die Missionsarbeit mit den strengen Observanzvorschriften vereinbart werden könne.101 Obwohl der Konvent in Salamanca zeitweilig in regem Austausch mit Christoph Kolumbus gestanden hatte,102 brachen die ersten Dominikaner erst 1510 und nur aufgrund des Drängens Cajetans in die Neue Welt auf.103 Anfang 1512 befanden sich dann bereits etwa 40 Patres und Brüder in den neuen Missionsgebieten. „Zwei Mitglieder dieser Gruppe, Pedro de Cordoba und Antonio de Montesino, begannen bald, für die Menschrechte der Indianer einzutreten.“104 Cajetan setzte sich in den folgenden Jahren wiederholt mit einigen Fragen, die von den Dominikanermissionaren aufgeworfen wurden, auseinander und schrieb unter anderem eine „Abhandlung, die den unmoralischen Charakter von Unterjochungskriegen gegen die eingeborene Bevölkerung der Neuen Welt unterstrich“.105 Auch in seinem 1517 abgeschlossenen Kommentar zur Secunda secundae geht er bei der Behandlung des Diebstahls auf die Rechte der Indios ein: „Man soll zu ihnen als Prediger gute Männer entsenden, die sie durch Wort und Beispiel zu Gott bekehren und sie nicht etwa unterdrücken, ausplündern, ihnen Anstoß geben und sie sich unterwerfen“.106 Wie diese Beispiele zeigen, beschäftigte sich Cajetan auch in seiner Zeit als Ordensoberer immer wieder mit aktuellen theologischen Themen; zugleich setzte er die Arbeit an seinem umfangreichen Kommentar zur Summa Theologiae fort, mit der er in Pavia begonnen hatte.107
4. Cajetan als Thomist Cajetans Thomaskommentare sind im Zusammenhang einer seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts innerhalb wie außerhalb des Dominikanerordens zu konstatierenden Thomasrenaissance zu sehen. Wichtige Anstöße gingen dabei von der dominikanischen Observanzbewegung aus, die mit Berufung Vgl. Mortier, Histoire des maitres généraux 5 (wie Anm. 5), 157 f. Vgl. Espinel, José Luis, San Esteban de Salamanca. Historia y guia (siglos XIII–XX), Salamanca 1978, 35–39. 103 Vgl. hierzu auch ausführlich Fernandez Rodriguez, Pedro, Los dominicos en el contexto de la primera evangelización de México. 1526–1550, Salamanca 1994 (Monumenta histórica iberoamericana de la Orden de Predicadores 3), 43–47. Ich danke meinem Mitbruder Thomas Eggensperger OP für diesen Hinweis. 104 Wicks, 30. Vgl. auch Sievernich, Michael, Anfänge prophetischer Theologie. Antonio de Montesinos Predigt (1511) und ihre Folgen, in: ders. et al. (Hg.), Conquista und Evangelisation. 500 Jahre Orden in Lateinamerika, Mainz 1992, 77–98, insbesondere 84–91. 105 Wicks, 30 f. 106 Thomas de Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae I q. 66 a. 8 (Leonina 9, 94b): „Mittendi essent ad hos praedicatores boni viri, qui verbo et exemplo converterent eos ad Deum; et non qui eos opprimant, spolient, scandalizent, subiiciant“. Deutsche Übersetzung zitiert nach Wicks, 38. 107 Vgl. Wicks, 21. 101 102
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auf Thomas vor allem eine an der Seelsorge orientierte „Erbauungs- und Verkündigungstheologie“ propagierte.108 In vielen Dominikanerkonventen zeigte sich dieses verstärkte Interesse an Thomas unter anderem in der Kunst, etwa im Regensburger Thomas-Bildzyklus von 1475,109 sowie in einer Vielzahl neuer Thomas-Altäre, etwa 1511 in Frankfurt am Main110 oder in Wismar um 1515111. Auch im Lehrbetrieb an den Universitäten und Studienhäusern der Orden griffen einzelne Gelehrte zunehmend auf Thomas zurück. Die Sentenzen des Petrus Lombardus, die auch Cajetan zu Beginn seiner akademischen Laufbahn noch kommentiert hatte, erschienen vielen nicht mehr zeitgemäß, auch wenn eine „Ablösung der Sentenzen […] als theologisches Lehrbuch […] durch die Summa Theologiae […] erst im 16. Jahrhundert“ gelingen sollte.112 Von besonderer Bedeutung waren in diesem Zusammenhang die Kölner Thomisten,113 angefangen bei Heinrich von Gorkum, Johannes Tinctoris und dessen Schüler, dem Dominikaner Gerhard von Elten, die Thomas zur maßgebenden Autorität erhoben und die Lehre des Aquinaten nicht nur in der Theologie, sondern auch im Studium der artes und der Philosophie durchzusetzen versuchten. Nicht zufällig erschien der erste bedeutende, in Deutschland gedruckte Thomaskommentar, nämlich Konrad Koellins Expositio in Primam Secundae, 1512 in Köln.114 Dieser erneuerte Thomismus zielte „auf die spekulative Erfassung theologischer Probleme“ und drängte die Thomasrezeption der dominikanischen Observanz-
108 Springer, Klaus-Bernward, Der Orden in Deutschland während und nach der Reformation, in: Füllenbach (Hg.), Mehr als Schwarz und Weiß (wie Anm. 33), 115–144, hier 117. 109 Vgl. ebd. sowie Mickisch, Sebastian, Das Regensburger Dominikanerkloster im Mittelalter. Zur Bau- und Nutzungsgeschichte von Kirche und Konventgebäuden, in: Füllenbach (Hg.), Mehr als Schwarz und Weiß (wie Anm. 33), 259–287, hier 278, der darauf hinweist, dass alle „in der Regensburger Dominikanerkirche zu findenden Darstellungen des heiligen Thomas um 1475 entstanden, als das Kloster reformiert wurde“. 110 Vgl. Vetter, Ewald, Der Heller-Altar in der Frankfurter Dominikanerkirche und die Grisaillen Grünewalds, in: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 100 (2005), 113–127. 111 Vgl. Hupasch, Verena, Der Thomas-Altar in der Nikolaikirche zu Wismar, in: Wismarer Beiträge 14 (2000), 21–33. 112 Walter, Die Ausbildung einer thomistischen Schule (wie Anm. 4), 438. 113 Vgl. Höhn, Erich, Köln als Ort der ersten Kommentare zur „Summa Theologiae“ des Thomas von Aquin, in: Willehad Paul Eckert (Hg.), Thomas von Aquino. Interpretationen und Rezeption. Studien und Texte, Mainz 1974 (Walberberger Studien, Philosophische Reihe 5), 641–655; Meuthen, Erich, Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 1: Die alte Universität, Köln / Wien 1988, 178–181; Goris, Harm, Thomism in the Fifteenth-Century, in: Paul van Geest et al. (Hg.), Aquinas as Authority. A Collection of Studies Presented at the Second Conference of the Thomas Instituut te Utrecht, December 14–16, 2000, Leuven 2002 (Publications of the Thomas Instituut te Utrecht NS 7), 1–24. 114 Janz, Denis R., Luther and Late Medieval Thomism. A Study in Theological Anthropology, Waterloo 1983, 101, sieht in Koellin den bedeutendsten Thomaskommentator vor Cajetan.
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bewegung, also einen eher ‚seelsorglich-spirituell‘ orientierten Thomismus, bald in den Hintergrund.115 Von Köln aus verbreitete sich dieser erneuerte Thomismus über Leonhard Huntpichler OP nach Wien.116 „In Paris kommentierte der aus Brüssel stammende Dominikaner Petrus Crockaert […] seit 1509 die Summa Theologiae in seinen Vorlesungen“,117 und über seinen Schüler Francisco de Vitoria OP118 erreichte dieser Brauch schließlich auch das Studienhaus des Ordens in Salamanca und begründete die spanische Dominikanerschule.119 Cajetans Beschäftigung mit Thomas ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Im Prolog zu seinem Kommentar zur Summa Theologiae I–II erklärt er zum Beispiel, dass die Lehre des heiligen Thomas zwar in Italien schlafe, aber höchst zeitgemäß sei: „doctrine haec in Italia satis dormit, et tamen opportuna est valde“.120 Dass Cajetan hier übertrieb, zeigt allein schon die Tatsache, dass in Padua seit 1442 ein Lehrstuhl für thomistische Metaphysik bestand. In Rom121 gehörte insbesondere Kardinal Carafa zu den glühenden Verehrern des heiligen Thomas, dem er an der römischen Dominikanerkirche Santa Maria sopra Minerva eine eigene Kapelle widmen und durch Filippino Lippi ausgestaltet ließ.122 Der Kardinal war der Überzeugung, über seine Mutter mit dem Heiligen verwandt zu sein.123 Schon früh holte er Gelehrte aus dem Dominikanerorden nach Rom, damit sie an der päpstlichen Kurie bzw. an der Universität der Stadt die thomistische Position vertraten.124 Neben Cajetan ist insbesondere Ludovico (de Valentia) de Ferrara OP zu nennen, der 115 Springer, Der Orden in Deutschland während und nach der Reformation (wie Anm. 108), 117. 116 Zu ihm vgl. Frank, Isnard W., Der antikonziliaristische Dominikaner Leonhard Huntpichler. Ein Beitrag zum Konziliarismus der Wiener Universität im 15. Jahrhundert, Wien 1976 (Archiv für österreichische Geschichte 131). 117 Walter, Die Ausbildung einer thomistischen Schule (wie Anm. 4), 438 f. 118 Zu ihm vgl. Domínguez Reboiras, Fernando, Francisco de Vitoria. Ein unabhängiger Theologe mit Blick für die Zukunft, in: Martin H. Jung / Peter Walter (Hg.), Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus – Reformation – Katholische Erneuerung. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 172–190. 119 Vgl. Espinel, San Esteban (wie Anm. 102), 48–56. Zur Dominikanerschule in Salamanca vgl. auch Horst, Ulrich, Die Lehrautorität des Papstes und die Dominikanertheologen der Schule von Salamanca, Berlin 2003 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens NF 11). 120 Thomas de Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae I–II prol. (Leonina 6, 5a). 121 Zum verstärkten Interesse an Thomas an der römischen Kurie vgl. O’Malley, John W., The Feast of Thomas Aquinas in Renaissance Rome. A neglected Document and its Import, in: RSCI 35 (1981), 1–27. 122 Vgl. Norman, Cardinal of Naples and Cardinal in Rome (wie Anm. 52), 83 f.; Bertelli, Carlo, Appunti sugli affreschi nella cappella Carafa alla Minerva, in: AFP 35 (1965), 115–130; Geiger, Gail L., Filippino Lippi’s Carafa Chapel. Renaissance Art in Rome, Kirksville, MA 1986 (Sixteenth Century Essays & Studies 5). 123 Vgl. O’Malley, The Feast of Thomas Aquinas (wie Anm. 121), 12. 124 Vgl. ebd., 12–14.
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1491 auf Betreiben Carafas zum Generalprokurator des Ordens ernannt wurde und am studium urbis intensive Thomas-Studien betrieb.125 Cajetan war also keineswegs der erste, der in Padua oder später in Rom die Theologie des Thomas unterrichtete. Er stand in der thomistischen Tradition seines Ordens, sollte diese aber zugleich maßgeblich prägen. Denn seine „Kommentare wollen das Denken des Thomas nicht historisierend rekonstruieren und paraphrasieren, sondern […] die Theologie des Aquinaten […] für die Gegenwart fruchtbar machen“,126 selbst wenn dies gelegentlich bedeuten konnte, sich von einzelnen Ansichten des mittelalterlichen Gelehrten zu lösen. So richtete sich Cajetans umfangreicher Kommentar zur Summa Theologiae, mit dem er 1507 auf Anregung Carafas begann und den er erst 1522, also erst 15 Jahre später, beenden konnte, vor allem an Studierende und Lehrende, die die Summa als Lehrbuch verwenden wollten. Zugleich versuchte Cajetan, „die Gegenpositionen zu widerlegen, wie sie nach Thomas von Denkern wie Duns Scotus, Durandus von St. Porciano und Gregor von Rimini bezogen worden waren“.127 Seine Aristoteleskommentare zeigen zudem „den Einfluß, den das humanistische Bemühen um historisch zuverlässige Texte auf Cajetan ausübte.“128 Für seinen Kommentar zu De anima, den Cajetan 1509 nach mehreren Unterbrechungen fertigstellen konnte, nutzte er beispielsweise „eine neuere lateinische Übersetzung des Aristoteles“ und tauschte sich mit Philologen aus, die die griechische Sprache besser beherrschten als er. Cajetans „unmittelbarer Rückgriff auf den aristotelischen Text führte ihn“ schließlich „zum Bruch mit der thomistischen Tradition, wonach Aristoteles die Unsterblichkeit“ der Seele „bewiesen habe“.129 Vermutlich beeinflusste er in dieser Frage auch Pietro Pomponazzi,130 der wegen seines Traktats De immortalitate anime von 1516 unter Häresieverdacht geriet. Cajetan wurde deswegen von einigen seiner dominikanischen Mitbrüder heftig kritisiert.131 Bartholomäus Spina OP machte Cajetan sogar für Pompanazzis Thesen verantwortlich.132 Diese Kritik aus den eigenen Reihen, die sich vor allem an den von Thomas abweichenden Interpretationen störte,133 konnte dem 125 Zu ihm vgl. auch Kaeppeli, Thomas, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi, Bd. 3: I–S, Rom 1980, 92–94. 126 Hallensleben, Thomas de Vio Cajetanus (wie Anm. 1), 70. 127 Wicks, 21. 128 Ebd., 18. Dieser Einfluss wird auch in Cajetans exegetischen Werken deutlich. 129 Ebd. In seinen späteren Kommentaren zu Röm 9,21 f. und Sir 3,22 griff Cajetan das Thema wieder auf und ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er „die Schlüssigkeit jedes philosophischen Beweises der Unsterblichkeit in Zweifel“ zog; „diese Glaubenswahrheit gehöre zu den Mysterien und sei uns nur aus der Offenbarung bekannt“ (ebd., 18 f.). 130 Vgl. Nardi, Bruno, Studi su Pietro Pomponazzi, Florenz 1965, 194 f. und 375 f. 131 Vgl. beispielsweise die Kritik seines früheren Lehrers Valentino da Camerino OP, auf die Tavuzzi, Valentino da Camerino (wie Anm. 55), 301–304, aufmerksam macht. 132 Vgl. Wicks, 19; Hallensleben, 187–204; Tavuzzi, Prierias (wie Anm. 19), 97–104. 133 Für ein weiteres Beispiel vgl. Tavuzzi, Michael, Gaspare di Baldassare da Perugia, O. P. (1465–1531). A Little-Known Adversary of Cajetan, in: Thom. 60 (1996), 595–615.
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Ansehen Cajetans, seit 1517 Kardinal, jedoch nicht weiter schaden, zumal sein Werk innerhalb des Ordens keineswegs auf einhellige Ablehnung stieß, sondern von vielen gutgeheißen oder sogar bewundert wurde. Der Erfolg von Cajetans Thomaskommentaren lag vor allem in dem Bedürfnis, als Orden eine Schule zu etablieren und beispielsweise im Streit mit den Franziskanern über die Frage der Immaculata conceptio die thomistische Position besser vertreten zu können.134 Auf dem Konzil von Trient wurde freilich auch deutlich, dass die theologischen Schulen, wie Peter Walter betont hat, damals noch keine „geschlossene[n] Schlachtreihen“ bildeten und die „Ordenszugehörigkeit […] nicht automatisch die Anhängerschaft an eine bestimmte Denkrichtung“ bedeuten musste.135 Während beispielsweise Ambrosius Catharinus136 als Dominikaner „in der Rechtfertigungslehre eine skotistische Position einnahm“,137 orientierte sich der Franziskanerobservant Andrés de Vega eher an Thomas von Aquin, sicher auch weil er bei Francisco de Vitoria in Salamanca studiert hatte. Domingo de Soto vertrat wiederum eine so enge Thomas-Interpretation, dass er Cajetans Kommentar als zu modern ablehnte.138 Dass Cajetans Kommentar nachträglich dennoch eine so große Wirkung entfalten konnte, lag daran, dass er in der siebzehnbändigen Editio Piana der Werke von Thomas mit abgedruckt wurde, freilich in purgierter Form, wie Claus Arnold nachgewiesen hat. Bei der Purgation berief man sich auf das Tridentinum, doch es spielten wohl eher ordensinterne Positionen eine Rolle, die keine größeren Abweichungen von der Lehre des heiligen Thomas mehr zulassen wollten.139
5. Cajetan als Exeget Dass sich die Dominikaner im 15. und 16. Jahrhundert nicht nur mit Thomas, sondern auch intensiv mit der Heiligen Schrift beschäftigten, ist in der Forschung bislang nur wenig beachtet worden.140 Auch Cajetan setzte sich in seinen letzten 134 Zu den Auseinandersetzungen vgl. Horst, Ulrich, Dogma und Theologie. Dominikanertheologen in den Kontroversen um die Immaculata Conceptio, Berlin 2009 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens NF 16), insbesondere 86–106 zu Cajetans Position. 135 Walter, Die Ausbildung einer thomistischen Schule (wie Anm. 4), 439 f. 136 Zu ihm vgl. Horst, Ulrich, Ambrosius Catharinus OP (1484–1553), in: Erwin Iserloh (Hg.), Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 2, Münster i. W. 1985 (KLK 45), 104–114. Catharinus war ein Außenseiter im Orden, da er beispielsweise für die Lehre der Immaculata conceptio eintrat, die von den Dominikanern damals noch vehement abgelehnt wurde. Vgl. ders., Die Diskussion um die Immaculata conceptio im Dominikanerorden. Ein Beitrag zur Geschichte der theologischen Methode, Paderborn u. a. 1987 (VGI 34). 137 Walter, Die Ausbildung einer thomistischen Schule (wie Anm. 4), 440. 138 Vgl. ebd. 139 Vgl. Arnold, Die römische Zensur (wie Anm. 28), 102 f. 140 Vgl. Füllenbach, Elias H., Bibel- und Hebräischstudien italienischer Dominikaner
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Lebensjahren – nach seiner berühmten Begegnung mit Luther in Augsburg141 – intensiv mit der Heiligen Schrift auseinander und kommentierte fast das gesamte Neue Testament sowie zahlreiche alttestamentliche Bücher (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium, Josua, Richter, Samuel, Könige, Chronik, Esra, Ester, Ijob, Psalmen, Sprichwörter, Kohelet und Jesaja 1–3) „mit Ausnahme des Hohenliedes und der Apokalypse, da er sich nicht in der Lage sah, den Literalsinn“ der beiden biblischen Bücher „zu erfassen“.142 Wie Ulrich Horst OP143, Claus Arnold144 und andere Autoren145 ausführlich dargelegt haben, erregte Cajetans Exegese vor allem wegen ihrer zwei Grundprinzipien Anstoß, nämlich zum einen wegen Cajetans „offene[r] Kritik an der Vulgata, ihrem Kanon und ihrem Text, den er nach den hebräischen und griechischen Versionen korrigierte“, und zum anderen wegen seiner „strikte[n] Konzentration auf den Literalsinn, zu des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Viliam Stefan Doci / Thomas Prügl (Hg.), Bibelstudium und Predigt im Dominikanerorden. Geschichte, Ideal, Praxis, Rom 2019 (Dissertationes Historicae 36), 255–271. Zur Bedeutung des dominikanischen Bibelstudiums insgesamt vgl. ders., Art. Dominican Order, Bible, in: Encyclopedia of the Bible and Its Reception 6 (2013), 1069–1076. Zum dominikanischen Bibelstudium in der frühen Neuzeit vgl. auch den kurzen Überblick von Schenker, Adrian, Die Bibel im Predigerorden in der Reformationszeit, in: WuA 58 (2017), 64–69. 141 Ob die Begegnung mit Luther tatsächlich eine entscheidende Wende im theologischen Schaffen Cajetans bedeutete, wie in der Literatur immer wieder betont wird, wäre m. E. doch genauer zu untersuchen und kritisch zu überprüfen. Denn zunächst setzte Cajetan die Arbeit an seinem Summenkommentar fort, die er 1522 abschließen konnte. Auch seine Auseinandersetzung mit kontroverstheologischen Fragestellungen ist keineswegs ungewöhnlich, sondern zieht sich durch das gesamte Werk des Dominikaners. Vgl. jetzt O’Connor, Michael, Cajetan’s Biblical Commentaries. Motive and method, Leiden / Boston 2017 (St. Andrews Studies in Reformation History), der S. 11 betont: „Cajetan’s systematic biblical project is not so inevitable that we can speak of a ‚journey towards biblical scholarship‘ or of the ‚emergence of a biblical scholar‘. […] Across his entire career as scholar and preacher, the idea of biblical reform is a recurring principle; in the final decade of his life he became captivated by that idea in an extraordinarily productive way“. 142 Hallensleben, Thomas de Vio Cajetanus (wie Anm. 1), 24. Zu seinen exegetischen Werken vgl. Vosté, Iacobus-M., Cardinalis Caietanus Sacrae Scripturae Interpres, in: Ang. 11 (1934), 445–513; Wicks, Jared, Catholic Old Testament Interpretation in the Reformation and Early Confessional Era, in: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation, Bd. 2: From the Renaissance to the Enlightenment, Göttingen 2008, 617–648, hier 617–622, zur zeitgenössischen Kritik an Cajetans Bibelexegese vgl. 622 f. 143 Vgl. Horst, Ulrich, Der Streit um die hl. Schrift zwischen Kardinal Cajetan und Ambrosius Catharinus, in: Leo Scheffczyk et al. (Hg.), Wahrheit und Verkündigung. Michael Schmaus zum 70. Geburtstag, Bd. 1, Paderborn 1967, 551–577. 144 Vgl. Arnold, Die römische Zensur (wie Anm. 28), 59–170. 145 Vgl. beispielsweise Jenkins, Allan K. / P reston, Patrick, Biblical Scholarship and the Church. A Sixteenth-Century Crisis of Authority, Aldershot u. a. 2007 (Ashgate New Critical Thinking in Religion, Theology and Biblical Studies), 149–225; Grendler, Paul F., Italian Biblical Humanism and the Papacy, in: Erika Rummel (Hg.), Biblical Humanism and Scholasticism in the Age of Erasmus, Leiden / Boston 2008 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 9), 227–276, hier 252–260; jetzt auch O’Connor, Cajetan’s Biblical Commentaries (wie Anm. 141), 238–249.
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dessen Gunsten er bereit war, mit der Auslegungstradition zu brechen“.146 Nach Arnold gab für „das erste Prinzip […] die typisch humanistische Orientierung an Hieronymus den Ausschlag“.147 Tatsächlich war Cajetan ein glühender Verehrer des Kirchenlehrers Hieronymus.148 Dass die Vulgata „zumindest teilweise auch ein Werk des Hieronymus war“, spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle, da der Vulgatatext im 16. Jahrhundert vielfach als kontaminiert angesehen und daher „sogar die Autorschaft des Hieronymus“ angezweifelt wurde.149 Das zweite Prinzip „lag nicht nur wegen der Notwendigkeit nahe, den Reformatoren auf gleicher argumentativer Ebene zu begegnen, sondern konnte sich auch auf die von Thomas selbst herkommende und von Savonarola fortgeführte Tradition des dominikanisch-thomistischen Literalismus berufen“.150 Jedenfalls erzeugten Cajetans Schriftkommentare „beträchtliche Unruhe“,151 obwohl er in vielen Ansichten der Auslegung seiner Mitbrüder Sante Pagnini OP152 und Agostino Giustiniani OP153 folgte, was in der Forschung bislang kaum beachtet wurde.154 Dennoch wurden die exegetischen Schriften Cajetans von einigen Dominikanern heftig angegriffen: Ambrosius Catharinus forderte
Arnold, Die römische Zensur (wie Anm. 28), 60.
146
147 Ebd.
148 Leipoldt, Johannes, Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd. 2: Mittelalter und Neuzeit, Leipzig 1908, 38, hat deshalb sogar kritisch angemerkt, dass Cajetan den „HieronymusKult des Erasmus […] auf die Spitze getrieben“ habe. 149 Arnold, Die römische Zensur (wie Anm. 28), 60, Anm. 13. 150 Ebd., 60 f. Zu Savonarolas Bevorzugung des Literalsinns vgl. auch Minnis, Alastair J., Fifteenth-Century Versions of Thomistic Literalism: Girolamo Savonarola and Alfonso de Madrigal, in: Robert E. Lerner (Hg.), Neue Richtungen in der hoch- und spätmittelalterlichen Exegese, München 1996 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 32), 163–180. 151 Arnold, Die römische Zensur (wie Anm. 28), 61. 152 Zu ihm vgl. Centi, Timoteo M., L’attività letteraria di Santi Pagnini (1470–1536) nel campo delle scienze bibliche, in: AFP 15 (1945), 5–51; Roussel, Bernard, Art. Pagnini, Sante, in: Hans J. Hillerbrand (Hg.), The Oxford Encyclopedia of the Reformation, Bd. 3, New York / Oxford 1996, 194 f.; Morisi Guerra, Anna, Sancti Pagnini, traducteur de la Bible, in: Daniel Tollet (Hg.), Les Églises et le Talmud. Ce que les chrétiens savaient du judaïsme (XVIe–XIXe siècles), Paris 2006 (Collection Mythes, critique et Histoire), 35–42; dies., Santi Pagnini, in: Elias H. Füllenbach / Gianfranco Miletto (Hg.), Dominikaner und Juden: Personen, Konflikte und Perspektiven vom 13. bis zum 20. Jahrhundert / Dominicans and Jews. Personalities, Conflicts, and Perspectives from the Thirteenth to the Twentieth Century, Berlin u. a. 2015 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens NF 14), 395–406. 153 Zu ihm vgl. Cevolotto, Aurelio, Agostino Giustiniani (1470–1536) nella cultura del suo tempo, in: Prospettive settanta 12 (1990), 81–110; ders., Agostino Giustiniani. Un umanista tra Bibbia e Cabala, Genova 1992; Grendler, Italian Biblical Humanism (wie Anm. 145), 233–240. 154 Vgl. zumindest Allgeier, Artur, Les commentaries de Cajétan sur les Psaumes. Contribution à l’histoire de l’exégèse avant le Concile de Trente, in: RThom 39 (= NS 17) (1934/35), 410–443, hier 416 f. und 425. Mit Pagnini hatte Cajetan sogar einige Jahre im selben Konvent gelebt.
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sogar ihre Indizierung.155 Der Hebraist Sixtus von Siena156 kritisierte ebenfalls die Schriftkommentare Cajetans,157 schloss sich allerdings nicht der radikalen Forderung seines Lehrers Catharinus nach einem Verbot an, sondern plädierte für eine Expurgation aller problematischen Stellen.158 Ähnliche Kritik entstand bald auch außerhalb des Ordens: So ließ sich die „Pariser theologische Fakultät […] auch durch Clemens VII. nicht hindern, mehrere Propositionen Cajetans zu zensieren; sie betrafen unter anderem […] den sekundären Markus-Schluß, den er als dogmatisch nicht autoritativ einstufte, die Geschichte der Ehebrecherin (Joh 7,53–8,11), deren kanonische Authentizität er bestritt, den Hebräerbrief, dessen Verfasserschaft er Paulus absprach, und insgesamt seine Kritik am Vulgatatext.“159
Zudem wurde von den Theologen der Sorbonne kritisiert, dass sich Cajetan in seiner Psalmenauslegung viel zu sehr von Juden habe beeinflussen lassen.160 Vermutlich ist es nur Cajetans eigener Verteidigungsschrift von 1533161 „zu verdanken, daß die Pariser Fakultät 1544 darauf verzichtete, Cajetans Kommentare […] auf ihren Index zu setzen“.162 Dennoch setzte sich auch nach Cajetans Tod 1534 der Streit um seine exegetischen Schriften fort. 1558/59 gerieten Cajetans Schriftkommentare sogar in das Visier der römischen Zensur, wie der Vermerk auf einem erhaltenen Einband im Archiv der römischen Kongregation für die Glaubenslehre als Nachfolgerorganisation des Sacrum Officium deutlich macht: „Censura di F. Hieronymo Ferr.° e del Caietano/ spectat Ad Inquisitionem“.163 Bei dem genannten Fra Hieronymus aus Ferrara handelt es sich um Savonarola. Nach Arnold, der den genannten 155 Vgl. Grendler, Italian Biblical Humanism (wie Anm. 145), 262 f.; Arnold, Die römische Zensur (wie Anm. 28), 61 f. 156 Zu ihm vgl. Montgomery, John Warwick, Sixtus of Siena and Roman Catholic Biblical Scholarship in the Reformation Period, in: ARG 54 (1963), 214–234. Obwohl Parente, Fausto, Quelques contributions à propos de la biographie de Sixte de Sienne et de sa (prétendue) culture juive, in: Daniel Tollet (Hg.), Les Églises et le Talmud. Ce quel es chrétiens savaient du judaïsme (XVIe–XIXe siècles), Paris 2006 (Collection Mythes, critique et Histoire), 57–94, die angebliche jüdische Herkunft von Sixtus widerlegt hat, wird sie in der neueren Literatur weiterhin behauptet: vgl. etwa Zedelmaier, Helmut, Sixtus Senensis. Bibliotheca sancta (1566), in: Oda Wischmeyer et al. (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin u. a. 2016, 529–536, hier 533. 157 Vgl. Wicks, Catholic Old Testament Interpretation (wie Anm. 142), 640: „On the Hebrew Bible, the Bibliotheca notes seven erroneous views of Cajetan, taken from Catharinus, to which Sixtus adds his own dislike of Cajetan’s whole Psalter commentary because there one hardly ever finds Christ.“ 158 Vgl. Arnold, Die römische Zensur (wie Anm. 28), 120–123. 159 Ebd., 61. 160 Vgl. O’Connor, Cajetan’s Biblical Commentaries (wie Anm. 141), 239. 161 Die Erklärung Cajetans entstand auf Bitten seines Mitbruders Johannes Dietenberger OP. Vgl. Wicks, Catholic Old Testament Interpretation (wie Anm. 142), 623. 162 Arnold, Die römische Zensur (wie Anm. 28), 61. 163 Zum Aktenbestand vgl. ebd., 67–74; zum Vermerk auf dem Einband vgl. ebd., 72.
Cajetan und der Dominikanerorden
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Faszikel zu Cajetan164 sowie die erhaltenen Gutachten165 ediert und kommentiert hat, haben wir es hier „offensichtlich mit einer Doppelzensur zu den beiden Dominikanerbrüdern zu tun“.166 Beiden hatte Catharinus eine gefährliche Nähe zu Luther vorgeworfen, beide standen daher unter Häresieverdacht, und beiden, sowohl Savonarola, der damals in vielen italienischen Dominikanerkonventen immer noch als Märtyrer verehrt wurde, als auch Cajetan, dessen Kommentar zur Summa Theologiae des Thomas von Aquin im Orden hohe Wertschätzung genoss, „galten“ entsprechend auch „die Rettungsbemühungen […] der Dominikaner in der Indexkommission“.167 Ein Gutachter aus dem Dominikanerorden, Pater Stefanus Guaraldus de Cento OP, kritisierte freilich, dass sich Cajetan zu sehr am hebräischen Bibeltext, der doch bekanntlich von den Juden verderbt worden sei, orientiert habe.168 Dass das römische Zensurverfahren schließlich im Sande verlief und auch keine expurgierte Ausgabe von Cajetans exegetischen Werken erschien,169 lag sicherlich daran, dass die Autorität Cajetans als Thomaskommentator nicht beschädigt werden sollte. Im Zusammenhang mit der Gegenreformation und den Zentralisierungsbestrebungen der katholischen Reform hatte die Bedeutung des Thomismus und damit auch die der dominikanischen Theologie inzwischen stark zugenommen. Es gab sogar den von Mitgliedern des Ordens gestützten Versuch, den Thomismus zur unica via zu erklären.170 Mit dem Tod Pius’ V. kam dieser Versuch zwar an sein Ende, aber es gab an der römischen Kurie weiterhin Bestrebungen, die Summa Theologiae „zum theologischen Normtext [zu] erheben“.171 Bei der Etablierung eines Neuthomismus im 19. Jahrhundert erschien Cajetans Summenkommentar schließlich unverzichtbar, auch wenn er in manchen Punkten nicht mit der Meinung des Thomas übereinstimmte. Während Luther glaubte, dass Cajetan am Ende doch noch Lutheraner geworden sei,172 wurde Cajetan im Dominikanerorden zunehmend als Begründer Vgl. ebd., 75–83. ebd., 86–159. 166 Ebd., 72. 167 Ebd., 73. 168 Vgl. ebd., 135 f. Tatsächlich hatte Cajetan zwei Hebräisch-Kundige, von denen einer ein Jude gewesen sei, bei seiner Auslegung des Alten Testaments hinzugezogen. Vgl. hierzu auch Jenkins / P reston, Biblical Scholarship (wie Anm. 145), 155. 169 Wie Arnold, Die römische Zensur (wie Anm. 28), 168, feststellt, wurden in der Lyoner Ausgabe von 1639 lediglich zwei Stellen, nämlich Cajetans Auslegung von Psalm 2,13 und eine Bemerkung zum Römerbrief, getilgt. Die anderen im römischen Zensurverfahren beanstandeten Stellen wurden dagegen belassen und lediglich kommentiert. 170 Vgl. ebd., 100–105. 171 Arnold, Claus, Thomas, Thomismus und theologische Zensur. Exempel aus dem Zeitalter der Konfessionalisierung und der Modernismuskrise, in: Benjamin Dahlke / Bernhard Knorn (Hg.), Eine Autorität für die Dogmatik? Thomas von Aquin in der Neuzeit. Festschrift für Leonhard Hell, Freiburg i. Br. u. a. 2018, 75–85, hier 79. 172 „Caietanus postremo factus est Lutheranus.“ WA.TR 2, 596,14 f. (Nr. 2668a); 597,11 (Nr. 2668b). 164
165 Vgl.
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eines erneuerten Thomismus, als Verteidiger des katholischen Glaubens und des päpstlichen Primats sowie als bedeutender Vertreter der Ordensreform verehrt. Tatsächlich hat Cajetan den Orden als Oberer, als Thomist und Exeget nachhaltig geprägt, auch wenn er zu seinen Lebzeiten umstritten blieb und sich immer wieder der Kritik seiner Mitbrüder stellen musste. Seine tiefe Verbundenheit mit dem Orden, die sich unter anderem darin zeigt, dass er sich nach seinem Tod in der römischen Dominikanerkirche Santa Maria sopra Minerva beerdigen ließ, konnten diese ordensinternen Konflikte offensichtlich nicht schmälern.
Luthers Entbindung vom Ordensgehorsam Eine Etappe auf dem Weg des Augustinereremiten Hans Schneider Es gibt Episoden im Leben Luthers, die von seinen Biographen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit erwähnt, aber nicht eingehender erörtert werden, obwohl sie bei genauerer Betrachtung intrikate Probleme bergen. Dazu gehört ein Vorgang, der sich im Herbst 1518 ereignete, als sich Luther zum Verhör durch Kardinal Cajetan in Augsburg aufhielt: Johann von Staupitz, der Generalvikar der deutschen Reformkongregation der Augustinereremiten, entband Luther vom Ordensgehorsam. Luther erwähnt dieses Ereignis in den Tischreden: „Im Jahre [15]18 entband mich Doktor Staupitz vom Ordensgehorsam und ließ mich allein in Augsburg zurück […].“1
Was geschah hier eigentlich? Vor allem: Welche kirchenrechtliche Bedeutung hatte dieser Akt, und was waren seine Folgen? Und: War Staupitz überhaupt dazu befugt, Luther vom Gehorsam zu entbinden, der doch ein Bestandteil der ewigen Gelübde war, die Luther bei seiner Profess abgelegt hatte? Was war Luthers Status nach diesem Vorgang? War er noch Mitglied des Ordens bzw. des Ordensverbandes (der Kongregation)? Diese Fragen sind in der Forschung bisher nicht genauer erörtert worden. Die Polemik früherer Zeiten hat zwar Staupitz’ Vorgehen als „höchst verabscheuungswürdig“ kritisiert,2 aber die grundsätzliche Frage nach den rechtlichen Aspekten der Angelegenheit wurde auch hier nicht berührt. Besonders auffällig ist, dass sogar wichtige ordensgeschichtliche Dar1 „Anno 18. absolvit me Doctor Staupitz ab ordinis oboedientia et reliquit me solum Augustae […].“ WA.TR 2, Nr. 2250. Ausführlich dazu unten. 2 „Deze daad van Staupitz is hoogst afkeurenswaardig. Hier toont hij zich in heel zijn zwakheid en willoosheid. De eenige verontschuldiging, welke nog zou kunnen aangevoerd worden, is, de bij hem nog niet bepaalde overtuiging, dat Luther een reformatie zoekt buiten de kerk van Christus. Maar hoe kon men nog vertrouwen stellen in een man, die op zoo schaamtelooze wijze sprak van paus en kerk?“ Duijnstee, Franciscus Xaverius Petrus Dominicus, Maarten Luther en zijn orde. Bijdrage tot de geschiedenis der Reformatie naar oudere en nieuwere bronnen en handschriften bewerkt I: Aegidius Viterb., Staupitz, Palts, Usingen, Leiden 1924, 160. Vgl. auch Grisar, Hartmann, Luther, Bd. 1: Luthers Werden. Grundlegung der Spaltung bis 1530, Freiburg i. Br. 31924, 290 f.: Staupitz habe sich „wieder als der Mann der halben Maßregeln gezeigt, der seine Eingenommenheit für Luther über die Anforderungen der Kirche und seines Ordens stellte“.
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stellungen auf den Vorgang, der doch gerade in ihrem Kontext überaus relevant sein müsste, überhaupt nicht eingehen.3
1. Eine terminologische Problemanzeige Die verborgenen Schwierigkeiten der Interpretation deuten sich schon in der signifikant variierenden Terminologie an, wenn die Biographen formulieren, wovon denn Staupitz Luther entbunden habe: „vom Ordensgehorsam“4, „from his vow of obedience“5, „von der mönchischen Gehorsamspflicht“6, „von seinem Gehorsamsgelübde“7, „von der Ordensregel“8, „von dem Gehorsam gegenüber seinem Vikar und von dem Tragen seines Ordenskleides“9, „von allen Hindernissen seitens der Ordensregel, auch vom Tragen des klösterlichen Gewandes der Augustiner“10, vom „Augustinergelübde – und das schloss die Entbindung von der Gehorsamspflicht gegenüber denjenigen ein, die im Orden über ihm standen“11. Dass es sich dabei keineswegs um synonyme Beschreibungen handelt, macht etwa Reinhard Schwarz mit einer Differenzierung deutlich: Ihm zufolge „wurde Luther von Staupitz vom Ordensgehorsam, d. h. vom Gehorsam gegenüber seinen Ordensvorgesetzten entbunden (nicht aber von der Ordensregel oder dem Ordensgelübde)“.12 Auch Ulrich Köpf präzisiert. Er sieht Luther durch
3 Vgl. Zumkeller, Adolar, Martin Luther und sein Orden, in: AAug 25 (1962), 254– 290; Kunzelmann, Adalbero, Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten, Bd. 5: Die sächsisch-thüringische Provinz und die sächsische Reformkongregation bis zum Untergang der beiden (Cass. 26), Würzburg 1974; Gutiérrez, David, Geschichte des Augustinerordens II: Die Augustiner vom Beginn der Reformation bis zur katholischen Restauration 1518–1648, Würzburg 1988 (das einschlägige Kapitel stammt aus der Feder von Adolar Zumkeller). 4 Köstlin, Julius / K awerau, Gustav, Martin Luther, Bd. 1, Berlin 51903, 211; Oberman, Heiko A., Luther – Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982, 210; Leppin, 141; Seebaẞ, Gottfried, Geschichte des Christentums 3: Spätmittelalter – Reformation – Konfessionalisierung, Stuttgart u. a. 2006 (ThW 7), 103. 5 Saak, Eric, High Way to Heaven. The Augustinian Platform between Reform and Reformation, 1292–1524, Leiden 2002 (SMRT 89), 639. 6 Schilling, Heinz, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 2012, 183. Die Bezeichnung von Staupitz als „Ordensgeneral“ an dieser Stelle ist wohl ebenso ein lapsus calami wie die Rede vom „Generalvikar der deutschen Ordensprovinz“ (S. 87). 7 Brecht I, 248; Kaufmann, Thomas, Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M. / Leipzig 2009, 131. 8 Kolde, Theodor, Die deutsche Augustiner-Congregation und Johann von Staupitz, Gotha 1879, 321. 9 „van de gehoorzaamheid aan zijn vicaris en van het dragen van zijn kloosterkleed“. Duijnstee, Luther (wie Anm. 2), 160. 10 Grisar, Luther 1 (wie Anm. 2), 290. 11 Roper, Lyndal, Der Mensch Martin Luther. Die Biographie, Frankfurt a. M. u. a. 2017, 157. 12 Schwarz, Reinhard, Luther, Göttingen 1986 (KiG I,3), 61.
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Staupitz „vom Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten im Orden entbunden“ und stellt klar: „Das heißt aber keineswegs – wie es manchmal verstanden wird –, er habe ihn aus seinem Gelübde und aus der Disziplin des Ordens entlassen; sondern es bedeutet lediglich, daß er ihn in der augenblicklichen Situation des Verhörs von den konkreten Weisungen der Ordensoberen unabhängig machte und daß er dadurch wiederum die Ordensoberen von der Verpflichtung befreite, einen etwaigen Druck der römischen Kurie auf die Ordensleitung an Luther weiterzugeben.“13
Anders als diese Deutung als eine nur auf die Verhörsituation bezogene Suspendierung des Gehorsams fasst der amerikanische Luther-Forscher Richard D. Balge den Vorgang weit grundsätzlicher und einschneidender auf. Er vertritt – freilich ohne genauere Begründung – die Ansicht, Staupitz habe Luther von den mönchischen Gelübden entbunden und ihn damit aus dem Orden entlassen, sodass er künftig kein Augustiner mehr gewesen sei.14
2. Die Gehorsamsverpflichtung Die mönchische Gehorsamsverpflichtung war ein Bestandteil der ewigen Gelübde, die Luther bei seiner Profess abgelegt hatte,15 als er in Erfurt in den Orden der Augustinereremiten aufgenommen wurde. Den Ablauf regelten die Konstitutionen der deutschen Reformkongregation,16 zu der das observante Erfurter Kloster gehörte.17 Schon in der Liturgie der Professfeier spielt der Hinweis auf 13 Köpf, Ulrich, Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: Christoph Markschies / Michael Trowitzsch (Hg.), Luther – zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung, Tübingen 1999, 17–35, hier 19; meine Hervorhebung. 14 Vgl. Balge, R[ichard] D., Martin Luther, Augustinian, in: Edward C. Fredrich (Hg.), Luther lives. Essays in Commemoration of the 500. Anniversary of Luther’s Birth, Milwaukee, WI 1983, 7–20, hier 15: „Staupitz released Luther from his monastic vows after the encounter with Cajetan at Augsburg, in effect dismissing him from the order. He was no longer ‚Martin Luther, Augustinian‘.“ 15 Vgl. dazu Andenna, Cristina, „Ich … gelob gehorsam …“ Alcune riflessioni sulla presenza dei consilia evangelica, ed in particolare sulla obbedienza, nella formula di professione dell’ordo fratrum eremitarum sancti Augustini, in: Sébastien Barret / Gert Melville (Hg.), Oboedientia. Zu Formen und Grenzen von Macht und Unterordnung im mittelalterlichen Religiosentum, Münster i. W. 2005 (Vita regularis 5), 383–408. 16 Kritische Ausgabe: Constitutiones fratrum Eremitarum sancti Augustini ad Apostolicorum privilegiorum formam pro reformatione Alemanniae, ed. Wolfgang Günter, in: Lothar Graf zu Dohna et al. (Hg.), Johann von Staupitz. Sämtliche Schriften, Bd. 5, Berlin / New York 2001, 103–360. 17 Zur Reformkongregation vgl. jetzt Günter, Wolfgang, Reform und Reformation. Geschichte der deutschen Reformkongregation der Augustinereremiten (1432–1539), Münster i. W. 2018 (RGST 168); zu Erfurt: Schneider, Hans, La Congregazione tedesca di osservanza degli Eremitani di Sant’Agostino nei primi due decenni del Cinquecento e il convento di Erfurt, in: Lutero, la Riforma, Sant’Agostino, l’Ordine agostiniano, Florenz 2018, 13–31 (Lit.).
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den Gehorsam eine wichtige Rolle. In der Anrede des Priors an den Novizen wird dieser vor die Wahl gestellt: „Jetzt musst du eines von beiden wählen: entweder von uns wegzugehen oder dieser Welt zu entsagen und dich ganz Gott zuerst und dann unserem Orden hinzugeben und aufzuopfern; wobei ich hinzufüge, nachdem du dich so aufgeopfert hast, darfst du aus keinem Grund das Joch des Gehorsams von deinem Nacken abschütteln. Denn du hast es nach sehr reiflicher Überlegung freiwillig auf dich genommen, während du es frei hättest ablehnen können.“18
Darauf antwortete der Novize, er wolle sich Gott und dem Orden aufopfern. Das Kernstück der Feier bildete die Profess des Novizen. Nach dem Formular der Konstitutionen hatte Luther gelobt: „Ich, Bruder [Martin], tue Profess und verspreche Gehorsam dem allmächtigen Gott und der seligen immerwährenden Jungfrau Maria und dir, Bruder [Winand19], Prior [von Erfurt], im Namen und anstatt des Generalpriors des Ordens der EremitenBrüder des heiligen Bischofs Augustinus und seiner rechtmäßigen Nachfolger, zu leben ohne Eigentum und in Keuschheit nach der Regel desselben seligen Augustinus bis zum Tod.“20
Im weiteren liturgischen Verlauf wurde dann im großen Fürbittengebet für den neuen Bruder darum gebetet, dass er, der „durch den Gehorsam, die Armut und die Keuschheit, die er soeben gelobt hat,“ sowie im geistlichen Kampf dieses Leben durchlaufen und das ewige Leben erlangen möge;21 es wurde ferner gebetet um die Tröstung in Anfechtung, sodass er danach wieder aufatmen könne „durch wahre Demut und Gehorsam“.22 Und am Schluss der Feier ermahnte der Prior den neu aufgenommenen Mönch noch einmal, dass er Gott geben möge, was er gelobt habe, „indem er in Geist und Leib keusch lebt, nichts tatsächlich oder als Wunsch besitzt, dem Oberen ohne Murren und Widerspruch gehorcht“.23 In dem zitierten Professformular werden als (irdische) Objekte des Gehorsams nur der Prior des Konvents genannt sowie der (derzeitige) Generalprior24 „Nunc ergo e duobus oportet te eligere unum; sive a nobis discedere, vel saeculo huic renuntiare teque totum deo primum et dehinc ordini nostro dedicare atque offere, adiecto quod, postquam sic te obtuleris, de subiugo oboedientiae collum tuum quacumque ex causa excutere non licebit, quod sub tam morosa deliberatione, cum recusare posses, sponte suscipere voluisti.“ Constitutiones (wie Anm. 16), c. 18, 11–19. 19 Erfurter Prior war 1506 bei der Profess Luthers Winand von Diedenhofen. Vgl. Kunzel mann, Geschichte 5 (wie Anm. 3), 10 f.91–93.445.461, Anm. 515. 20 „Ego frater N facio professionem et promitto oboedientiam deo omnipotenti et beatae Mariae semper virgini et tibi fratri N, priori huius loci, nomine et vice generalis prioris ordinis fratrum Eremitarum sancti Augustini episcopi et successorum eius canonice intrantium, vivere sine proprio et in castitate secundum regulam eiusdem beati Augustini usque ad mortem.“ Constitutiones (wie Anm. 16), c. 18, 62–67. 21 Ebd., c. 18, 93. 22 Ebd., c. 18, 109. 23 Ebd., c. 18, 123. 24 Vgl. auch ebd., c. 40, 6 und 31 f.; 49, 9. 18
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und seine rechtmäßigen Nachfolger, vor Ort vertreten und repräsentiert durch den Prior. Doch wie andere Bestimmungen der Konstitutionen zeigen, gilt der Gehorsam auch allen übergeordneten Autoritäten im Orden.25 Gehorsam soll überhaupt ein Grundmerkmal des Ordenslebens sein, wie Luther später noch in den Dictata super Psalterium ausführt; im Verzicht auf den Eigenwillen und in der Unterordnung unter den Vorgesetzten übt sich der Mönch in der Demut, die geradezu synonym mit Gehorsam ist.26 In unserem Zusammenhang besonders relevant sind die Bestimmungen der Konstitutionen über den Gehorsam gegenüber dem Generalvikar der Kongregation,27 der – wie in allen observanten Ordensverbänden – die eigentliche Führungsfigur war. Seit 1503 und somit schon eineinhalb Jahrzehnte bekleidete Johann von Staupitz dieses Amt.28 Nach seinem Titel vicarius generalis sollte er eigentlich der Vertreter des Generalpriors in der Kongregation sein, doch stand er zuweilen in spannungsvoller Rivalität zum Ordensgeneral.29 Über den Gehorsam gegenüber dem Generalvikar enthalten die Konstitutionen eine Reihe von Bestimmungen. Ein Schlüsselsatz lautet: 25 Vgl. etwa ebd., c. 15, 81; 17, 92; 18, 147 (Novizenmeister); 28, 29 (Subprior); 51, 46 und 91 (Ordensprokurator); 33, 53 (Triennalkapitel); 40, 64 (Generalkapitel). 26 Vgl. „Igitur Inferiorum non est expostulare Iustitiam superiorum, quia hoc est eorum Iudicium sibi rapere. Ipsorum est enim Iustitiam expostulare inferiorum. Et horum est suscipere Iudicium et obedire eis, per quod fit in pace correctio malorum. Obedientia enim tollit omne malum pacifice et pacificum sinit esse regentem. Idem facit humilitas, que est nihil aliud nisi obedientia et tota Iustitia. Quia totaliter ex alterius Iudicio pendet, nihil habet sue Voluntatis aut sensus, Sed omnia Vilificat sua et prefert atque magnificat aliena, scil. superioris.“ WA 55/2, 1023,256–264. 27 Nicht zu verwechseln mit einem Generalvikar des Ordens in Rom, der in der Zeit einer Vakanz des Generalats, den Generalprior bis zu einer Neuwahl vertritt. Um einen solchen handelt es sich bei Gabriele della Volta (Gabriel Venetus), der vom 30. Januar 1518 bis 11. Juni 1519, als er auf dem Generalkapitel in Venedig zum neuen Generalprior gewählt wurde, dieses Amt bekleidete. Vgl. Schneider, Hans, Art. Gabriele della Volta, BBKL 36 (2015), 445–450. In der Luther-Literatur wird leider immer noch der von Pietro Bembo erfundene Titel Promagister tradiert, den es niemals als Amtsbezeichnung gab. Vgl. Schneider, Hans, Die Echtheitsfrage des Breve Leos X. vom 3. Februar 1518 an Gabriele della Volta. Ein Beitrag zum Lutherprozess, in: ADipl 43 (1997), 455–488, hier 459 f. 28 Zu Staupitz und seiner Amtszeit vgl. jetzt Günter, Reform (wie Anm. 17), 281–380. Einen instruktiven Forschungsbericht zur neueren Staupitz-Forschung bieten Wetzel, Richard / Graf zu Dohna, Lothar, Edition und Forschung seit 1979. Editionsstand, in: dies. (Hg.), Staupitz, theologischer Lehrer Luthers, Tübingen 2018 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 105), 283–330. 29 Die Lombardische Kongregation, mit der Staupitz 1505 eine Privilegienkommunikation erreicht hatte, war sogar von der Jurisdiktion des Generalpriors exemt und unterstand direkt dem Papst. Dies war der deutschen Kongregation jedoch verwehrt worden. Vgl. Schneider, Hans, Eine hessische Intervention in Rom für Johannes von Staupitz und die deutschen Augustinerobservanten (1506), in: ZKG 115 (2004), 295–317. Zu den wechselvollen Beziehungen zwischen Ordensleitung und Kongregation vgl. Günter, Reform (wie Anm. 17), passim. In seinem Brief an den sächsischen Provinzial Hecker (siehe unten Anm. 54) spricht Gabriele della Volta von jener Kongregation, „die sich für exemt von unserem Gehorsam hält“ („quae ab oboedientia nostra se exemptam putat“).
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„Dem Generalvikar unserer Kongregation […] gehorchen gleichsam als Vater und Hirten alle unsere Brüder in allem mit aller Ehrerbietung und Unterordnung.“30
Symbolträchtig wird dies bereits nach seiner Wahl auf dem Kapitel der Kongregation zum Ausdruck gebracht: „zum Zeichen des Gehorsams“ küssen ihm alle anwesenden Brüder als Delegierte der Konvente die Hand.31 Die Konstitutionen enthalten Strafbestimmungen bei Ungehorsam gegenüber dem Generalvikar32 und heben etwa hervor, dass ihm auch die Visitatoren33 „immer in allem gehorchen“ müssen34. Mit dem zitierten Schüsselsatz, dass alle Brüder in allen Angelegenheiten dem Generalvikar mit aller Ehrerbietung und Unterordnung gehorchen, korrespondiert eine andere Aussage der Konstitutionen, die sich für unsere Fragestellung als höchst relevant erweisen wird: Als nicht zur Kongregation gehörig und „außenstehend“ (extraneus) gilt, wer nicht „unter dem unserem Generalvikar geschuldeten Gehorsam“ steht.35 Bevor wir auf diesem Hintergrund die Entbindung Luthers vom Ordensgehorsam erörtern, werfen wir zunächst einen Blick auf den Verlauf der Augsburger Begebenheiten, in deren Rahmen dieser Akt erfolgte.36
3. Der Kontext der Augsburger Ereignisse Luther war am 7. Oktober 1518 in Augsburg eingetroffen. Aus Wittenberg hatte ihn sein Ordensbruder Leonhard Beier begleitet. Von Nürnberg aus war von den dortigen Augustinern Luthers Freund Dr. Wenzel Link37 mit nach Augsburg gereist. Dort schickte ihn Luther sogleich zu Cajetan, um seine Ankunft zu melden.38 Beier wurde sogleich zu Staupitz weitergesandt, der sich vermutlich in München aufhielt. Er hatte Luther wissen lassen, er werde sofort kommen,
30 „Vicario generali nostrae congregationis […] tamquam patri et pastori cum omni reverentia et subiectione fratres nostri in omnibus omnes oboediant.“ Constitutiones (wie Anm. 16), c. 33, 5–8. Eingeschoben ist eine Salvationsklausel; vgl. dazu die Erläuterung von Günter, ebd., Anm. 3. 31 Constitutiones (wie Anm. 16), c. 32, 78 („in signum oboedientiae“). 32 Vgl. ebd., c. 33, 8 und 33, 32. 33 Zum Amt der Visitatoren vgl. bes. ebd., c. 34: „De officio visitatorum congregationis et auctoritate eorum“. 34 Ebd., c. 34, 50 („semper et in omnibus oboedire“). 35 Ebd., c. 43, 84 („sub debita oboedientia nostri vicarii generalis“). 36 Zur Vorgeschichte und zu den Augsburger Vorgängen vgl. die Luther-Biographien sowie Fabisch / Iserloh II, 50–61 und die dort genannte Lit. Ich beschränke mich hier auf die für die Fragestellung der Gehorsamsentbindung relevanten Aspekte. 37 Zu Lin(c)k vgl. Schäufele, Wolf-Friedrich, Art. Linck, BBKL 15 (1999), 864–870 (Lit.). Günter, Reform (wie Anm. 17), 381 f. Zu seinem Generalvikariat siehe unten Anm. 141. 38 Vgl. Luther an Spalatin, 10. Oktober 1518: „Misi tamen primo statim Die Doctorem Vences laum & alium, qui me adesse nunciarent.“ WA.B 1, 209 (Nr. 97,8 f.).
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wenn feststehe, dass Luther in Augsburg eingetroffen sei.39 Luther konnte sich damals trotz aller Anfeindungen und der Eröffnung des römischen Prozesses noch der Unterstützung seines Generalvikars gewiss sein. Während des Ablassstreits (wie auch noch später) sah Staupitz in Luther das Werkzeug Gottes gegen eine verdorbene Kirche.40 Sein Erscheinen war nicht nur ein persönlicher Freundschaftsdienst des väterlichen Gönners und nicht nur der Rechtsbeistand des Vorgesetzten. Die Anwesenheit des Generalvikars der deutschen Reformkongregation der Augustinereremiten zeigte auch, welche Brisanz die causa Lutheri inzwischen für den Ordensverband bekommen hatte, dessen Ansehen und Einfluss durch den Häresieverdacht gegenüber einem seiner namhaften Mitglieder ernsthaft gefährdet zu sein schien. So musste es im ureigenen Interesse der deutschen Observanten liegen, dass ihr Generalvikar persönlich anwesend war und Schaden von Luther und der Kongregation abzuwenden suchte. Bei Luthers erstem Zusammentreffen mit dem Kardinallegaten Cajetan am 12. Oktober41 war Staupitz noch nicht anwesend; er traf erst am Abend des 12. oder am Morgen des 13. Oktober in Augsburg ein; zusammen mit Link begleitete er Luther zu seiner zweiten Anhörung am 13. Oktober.42 Doch schon bei der ersten Begegnung zwischen Cajetan und Luther war der theologische Dissensus mit aller Klarheit hervorgetreten und die Positionen seitdem verhärtet.43 Für Staupitz’ Vermittlung blieb somit nur wenig Spielraum. Dank seiner Fürsprache wurde Luther immerhin gestattet, dem Kardinal eine schriftliche Antwort auf die 39 Vgl. Luther an Spalatin, 10. Oktober 1518: „R[everendus] pater Vicarius noster Doctor Iohannes Staupitz Scribit sese omnino & certissime venturum, si constiterit ei me advenisse. ideo statim misso fratre Leonardo eo die, quo veneram, nunciavi ei adventum meum, & hodie expecto venturum.“ WA.B 1, 210 (Nr. 97,51–54). 40 Zum Verhältnis von Staupitz und Luther vgl. bes. die Studien in: Graf zu Dohna / Wetzel, Staupitz (wie Anm. 28), sowie Hamm, Berndt, Art. Staupitz, TRE 32 (2000), 119–127, bes. 124–127 (Lit.). 41 Zu den Datierungsfragen vgl. die Erörterung von Otto Clemen in WA.B 1, 247 f. sowie bei Hennig, 63, Anm. 67. 42 Vgl. Cajetan an Kurfürst Friedrich: „Venit ad me deinde Pater Vicarius eius congregationis, cum quo, praesente magnifico Domino Urbano, oratore Montisferrati, et uno Magistro theologiae dicti Ordinis [Dr. Wenzel Link], multas horas humanissime tractavimus de negotio hoc […].“ WA.B 1, 234 (Nr. 110a,54–57). Luther an den Kurfürsten: „Altera itaque die redii, et mecum Reverendus Pater Vicarius Iohannes Staupitius, qui interim advenerat […].“ WA.B 1, 240 (Nr. 110b,184 f.). – Cajetans Sekretär und späterer Biograph meinte, bei Luther eine durch seine Begleiter bewirkte Veränderung seines Auftretens feststellen zu können: „Ecce autem Martinus, non uno quidem ut antea, sed pluribus stipatus satellitibus, qui non modo prohibere, sed uim etiam inferre facile potuissent, non humilis ut prius, sed superbia inflatus, ac barbarico furore plenus, ad legatum intrepidus uenit.“ Flavius, Ioannes Baptista, Oratio et carmen de via […] Thomae de Vio Caietani, [Rom 1535], fol. A vii, auch abgedruckt in Fabisch / Iserloh II, 78–82, hier 80. 43 Vgl. außer den Lutherbiographien etwa die Analysen von Hennig, 63–71 und Selge, Kurt-Victor, Die Augsburger Begegnung von Luther und Kardinal Cajetan im Oktober 1518. Ein Wendepunkt in der Reformationsgeschichte, in: JHKGV 20 (1969), 37–54; Pesch, 645–661.
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von ihm bezeichneten Differenzpunkte vorzulegen.44 Wohl nach Beratungen mit Staupitz und vermutlich auf Empfehlung kursächsischer Räte, die ihn auch am nächsten Tag (14. Oktober) zur dritten und letzten Begegnung mit dem Legaten begleiteten, verfasste Luther eine protestatio. Sie war taktisch gut geplant und eingesetzt. Denn die bekundete Bereitschaft, sich korrigieren zu lassen und sich „dem Urteil und der Entscheidung der rechtmäßigen heiligen Kirche“ zu unterwerfen, „machte deutlich, dass das für Häresie entscheidende Merkmal der pertinacia, der Hartnäckigkeit, für ihn nicht zutreffen konnte, er also zwar eines Irrtums zu bezichtigen war, nicht aber einer Häresie“.45 Der Legat blieb jedoch unerbittlich bei seiner Forderung des Widerrufs; er entließ Luther mit den Worten: „Geh! widerrufe oder komm mir nicht wieder vor die Augen!“46 Cajetan empfing die Ordensvertreter Staupitz und Link zwar noch zu längeren Unterredungen.47 Doch wie der Generalvikar noch am selben Tag dem Kurfürsten schrieb, hatte er einsehen müssen, dass der Legat trotz aller an den Tag gelegten Freundlichkeit einzig auf den Widerruf Luthers abzielte,48 und die Vermittlungs- und Beschwichtigungsversuche daher aussichtslos erschienen. Die Begegnungen fanden von Anbeginn an in einer spannungsgeladenen Atmosphäre statt. Cajetan hatte erwähnt, dass er mit umfassenden päpstlichen Vollmachten gegenüber Luther versehen war, wollte aber das Breve (Postquam ad aures vom 23. August 1518) Luther nicht zeigen.49 Doch gelang es Spalatin später, eine Abschrift zu bekommen; Luther erhielt den Text auf der Rückreise in 44 Vgl. Cajetan: „Rogavit me tum is, et simul Vicarius eius, ut illum in scriptis audire vellem.“ WA.B 1, 233 (Nr. 110a,41 f.). Luther: „Interim me tacente, surgit Reverendus Dominus Vicarius, petens, ut me (sicut et ipse petieram) in scriptis audiret, quod tandem vix obtinuimus.“ WA.B 1 (Nr. 110b,205). 45 Leppin, 146, der die Strategien der Kontrahenten gut herausarbeitet. 46 „Surgens tandem dixit: Vade, inquit, aut revoces, aut in conspectum meum non revertaris.“ Luther an Kurfürst Friedrich WA.B 1, 241 (Nr. 110b,221 f.). 47 Vgl. Cajetan an Kurfürst Friedrich: „Venit ad me deinde Pater Vicarius eius congregationis, cum quo, praesente magnifico Domino Urbano, oratore Montisferrati, et uno Magistro theologiae dicti Ordinis, multas horas humanissime tractavimus de negotio hoc, ut tolleretur scandalum, salva reverentia Apostolicae Sedis et sine ulla nota [hier: Schandfleck] Fratris Martini. Venit postea solus ille theologiae Magister, socius Fratris Martini, qui probavit et collaudavit tractatum.“ WA.B 1, 234 (Nr. 110a,54–59). Der kurfürstliche Rat Dr. Johannes Rühel berichtet: „Post haec eodem die Cardinalis ad se Doctorem Staupitz accersi iussit, cui inter alia dixit, se Luthero iam amicissimum esse factum, eique ex animo favere etc. Quid posthac futurum sit, ignoro.“ Rühel, Brevis Commemoratio, in: D. Martini Lutheri opera latina varii argumenti ad reformationis historiam, Bd. 2, Frankfurt a. M. / Erlangen 1865, 365 f., hier 366. 48 Vgl. „Dan sein gemute rastet [beharrt] allayn uff dem, daß magister martinus wyderruffe […]“; Cajetan suche „ytzundt hyn und haar/ ditz und daß/ ab er daß unschuldige bluet vortilgen möchte/ und zum widerruf dringen.“ Staupitz an Kurfürst Friedrich, 15. Oktober 1518, Erfurt, Bibliothek des Evang. Ministeriums im Augustinerkloster; Druck: Kolde, Augustiner-Congregation (wie Anm. 8), 443 f. (Beilage 16). 49 Vgl. „Statim tria mihi facienda proposuit, de mandato Sanctissimi Domini nostri Papae Leonis X., sicut aiebat (nam exemplar Brevis petenti denegabat).“ WA.B 1, 237 (Nr. 110b,48–50).
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Nürnberg.50 Unter den Institutionen und Personen, die der Legat auffordern soll, Luther zu verhaften und auszuliefern, werden dessen Anhänger weltlichen und geistlichen Standes genannt (ausdrücklich sind hierunter auch die Bettelorden erwähnt – das zielte auf die Augustiner!); nötigenfalls sind sie mit Bann und Interdikt zu bedrohen.51 Von Cajetan erfuhr Staupitz überdies, dass die Ordensleitung seines eigenen Ordens Maßnahmen gegen Luther schriftlich angeordnet habe.52 Es handelt sich um ein Schreiben, mit dem Gabriele della Volta den sächsischen Provinzial Gerhard Hecker53 beauftragt hatte, Luther zu verhaften und nach Rom zu befördern.54 Dieser Schritt dokumentierte das Misstrauen der Ordensleitung gegenüber Staupitz und den vicariani genannten Mitgliedern der Kongregation55 – war doch keineswegs Hecker, sondern Staupitz der für Luther zuständige Vorgesetzte! Vom Augsburger Stadtschreiber Dr. Konrad Peutinger hörte Staupitz sogar gerüchteweise, dass nicht nur Luther bedroht sei, sondern auch er selbst verhaftet werden solle.56 Diese Nachrichten und Gerüchte erschienen ihm als höchst alarmierend. Staupitz reiste deshalb mit Wenzel Link überstürzt ab, ohne Cajetan davon Kenntnis zu geben.57 Der Umstand, dass beide offenbar getrennt reisten und zeitversetzt ihr gemeinsames Reiseziel Nürnberg Vgl. Luther an Spalatin, 31. Oktober 1518, WA.B 1, 225 (Nr. 105,23–25): „[…] breve Apostolicum, immo Diabolicum, cuius tu sepe mihi mentionem fęcisti & nuper Exemplar misisti, quod mihi redeunti Nurmberge redditum fuit cum aliis literis instructoriis.“ Luther hat das Breve in den Acta Augustana (WA 2, 23–25) abgedruckt und kommentiert. Da bisher weder eine Ausfertigung des päpstlichen Schreibens gefunden noch eine Registrierung in den vatikanischen Brevenregistern nachgewiesen werden konnte, ist Luthers Abdruck der einzige Textzeuge dieses Dokuments. Abgedruckt bei Fabisch / Iserloh II, 62–66. – Zu Luthers (unzutreffenden) Zweifeln an der Echtheit vgl. Schneider, Hans, Die geschwärzte Stelle in Luthers Acta Augustana – Zensur oder Selbstkorrektur? in: Luther-Bulletin 22 (2013), 9–22. 51 Vgl. WA 2, 24,8 und 37; Fabisch / Iserloh II, 65. 52 Staupitz berichtete am 15. Oktober an Kurfürst Friedrich von Sachsen: „Er [Cajetan] sagt auch ayn schrifft vom general im lande seyn wyder magistrum martinum […].“ Wie Anm. 48. Auch Luther schrieb dem Kurfürsten: „Taceo, quod rumor circumferebatur, permissum esse a Reverendo Patre Generali, me capiendum et in vincula, nisi revocarem, coniiciendum […].“ WA.B 1, 241 (Nr. 110,224–226). 53 Zu Hecker vgl. Kunzelmann, Geschichte 5 (wie Anm. 3), 372 f.374 f.376–378. 54 In dem Registerband des römischen Generalarchivs des Ordens Dd 12, fol. 182v, ist ein Kurzregest des Schreibens an Gerhard Hecker eingetragen, im Registerband Dd 13, fol. 31r–32r, findet sich eine vollständige Kopie des Textes. Die Vermutung von Bäumer, Remigius, Der Lutherprozeß, in: ders. (Hg.), Lutherprozeß und Lutherbann. Vorgeschichte, Ergebnis, Nachwirkung, Münster i. W. 1972 (KLK 32), 18–49, hier 26, Anm. 31, dass dieses Schreiben eine Fälschung sei, ist dadurch widerlegt. Vgl. schon Fabisch / Iserloh II, 22. 55 Gabriele spricht von Luther als „quidam nostri ordinis et congregationis de vicarianis […]. Cum vero is de congregatione illa sit qu ae ab ob o e dientia no str a s e e xe mp t a m p u t at […].“ 56 Vgl. Staupitz an Kurfürst Friedrich (wie Anm. 48): „Doctor Peuting läst sich hören es sey auch wyder mich: daß man uns inn kärker werfen sulle/ und gewalt mit uns üben/ got sey der beschyrmer.“ 57 Cajetan brachte darüber in einem Schreiben an Kurfürst Friedrich ein Befremden zum Ausdruck: „Iactis his fundamentis, cum bene sperarem omnia, profectus est hinc idem Vicarius, insalutato hospite, ac me omnino inscio.“ WA.B 1, 264 (Nr. 110,60 f.). 50
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erreichten,58 spricht wohl dafür, dass sie sich sogar noch unterwegs als gefährdet betrachteten. In die Situation vor der Abreise von Staupitz und Link muss der Vorgang der Entbindung Luthers vom Ordensgehorsam gehören. Seine Bemerkung, dass Staupitz ihn in Augsburg „allein zurückließ“, spiegelt diese Situation wider.
4. Luther über seine Entbindung vom Gehorsam Die eingangs verkürzt wiedergegebenen Äußerungen Luthers aus den Tischreden sind, wie es zunächst scheint, das einzige Zeugnis über Luthers Entbindung vom Ordensgehorsam. Es handelt sich um Tischreden aus dem Anfang der 1530er Jahre, die den gleichen Text mit wenigen Varianten bieten. Am ausführlichsten ist die Fassung aus Veit Dietrichs Nachschriften Dezember 1532: „Haec Lutheri manu scripta vidi: Anno 1518 absolvit me Doctor Staupicius ab oboedientia ordinis et reliquit me Deo. Anno 1519 excommunicavit papa Leo ab ecclesia sua, et sic secundo ab ordine absolutus sum. Anno 1521 excommunicavit me Carolus caesar extra imperii fines et sic tertio sum absolutus. Psalmo: Dominus autem assump sit me [Ps 25,10 vg = Ps 26,10 MT]. Staupicii verba fuerant: Absolvo te ab oboedientia mea et commendo te Domino Deo.“59
Luther stellt hier die Entbindung vom Ordensgehorsam neben die päpstliche Exkommunikation und die kaiserliche Acht als analoge Vorgänge, indem er sie als ein dreifaches „absolutus sum“ parallelisiert. Eine weitere Variante bietet eine andere Tischrede: „Ego ter sum excommunicatus, primo a Doctore Staupizio, is Augustae me absolvit ab observantia et regula ordinis, ut, si papa urgeret, ut me caperet aut mihi mandaret silentium, posset se excusare, quod non essem sub sua oboedientia; secundo a papa ipso, tertio ab ipso caesare. Ergo non possum accusari ob depositum habitum, taceo iam de divina autoritate.“60
Hier spricht er (synonym zum dreifachen „absolutus sum“) von einer dreimaligen Exkommunikation: „Ego ter sum excommunicatus.“ Es wird sogar die Entbindung von der Ordensobservanz und von der Ordensregel behauptet, auch ein Motiv für das Handeln des Generalvikars Staupitz wird angegeben. Die Entbindung durch Staupitz scheint hier als Entlassung, als Ausschluss gedeutet 58 Link kam am 20., Staupitz am 21. Oktober in Nürnberg an. „Nunc advenit pater vicarius quem adeo: nam Wenceslaus pridie rediit.“ Scheurl am 21. Oktober an Spalatin (Christoph Scheurl’s Briefbuch, ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und ihrer Zeit, hg. von Franz Freiherr von Soden / J. K. F. Knaake, Bd. 2: Briefe von 1517–1540, Potsdam 1872, 53). 59 WA.TR 1, Nr. 409. Der letzte Satz fehlt in den Varianten WA.TR 1, Nr. 884 (Veit Dietrich und Nikolaus Medler) und WA.TR 2, Nr. 2250 (Cordatus). In letzterer Variante wird hinter „Augustae“ hinzugefügt: „vocatum ad caesarem Maximilianum et legatum papae, qui tum istic erat.“ 60 WA.TR 1, Nr. 225 (Dietrich).
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zu werden. Dieses Verständnis liegt auch der deutschen Version der Tischrede Nr. 2250 zugrunde: „Im 1518. Jahr hat mich mein oberkeit meines ordens, nemlich Doctor Staupitz, geurlaubet [= entlassen61] vnd von seinen orden außgeschlossen.“62
Ist das alles wirklich nur eine „typical Lutheran exaggeration“,63 wie sie in den Tischreden im Rückblick nach Jahrzehnten begegnet? Zunächst ist festzuhalten, dass trotz des Abstandes von anderthalb Jahrzehnten und trotz der erkennbaren Stilisierung nicht zweifelhaft sein kann, dass dem Rückblick Luthers in den Tischreden ein tatsächliches Ereignis im Herbst 1518 in Augsburg zugrunde liegt. Es erschien Luther so einschneidend und folgenschwer, dass er es in eine Reihe mit dem (irrig auf 1519 datierten) päpstlichen Bann und der kaiserlichen Acht stellt: Herauslösung aus den sozialen Bindungen des Ordens, der Kirche und des Reiches. Wie sich noch zeigen wird, kann das Ereignis durch andere Quellen bestätigt werden. Doch wie ist dieser Akt rechtlich zu interpretieren? Handelt es sich tatsächlich um eine „Exkommunikation“, einen Ausschluss aus dem Orden? Schon Valentin Ernst Löscher hat unter Hinweis auf diese Aussage Luthers den Vorgang offenbar so gedeutet. Angesichts des von Cajetan ausgeübten Drucks auf Staupitz, Luther zum Widerruf zu bewegen, habe dieser „aber zuvor die Praecaution, (zwar auch aus Menschenfurcht) genommen, daß er Lutherum, w ie e i ne n , de r aus de m O rde n ge sto s s e n w i rd , des Gehorsams erlassen; Welches dieser hernach seine erste Verstossung um des Evangelii willen genennet; Denn die andere geschah durch des Papstes Bann, und die dritte durch des Kaͤysers Achts-Erklärung.“64
Nicht ganz deutlich wird, ob Löscher einen tatsächlichen Ausschluss aus dem Orden annimmt oder in der Vorsichtsmaßnahme Staupitz’ nur ein Scheinmanöver („wie einen …“) sieht.
5. Ein Ausschluss aus dem Orden? In den Konstitutionen der deutschen Kongregation65 finden sich die Bestimmungen über einen Ordensausschluss in Kapitel 50. Das Kapitel erörtert die Vgl. DWb 24, 2477. WA.TR 2, Nr. 2250 (Cordatus). Zu vergleichen ist auch der sichtlich konfundierte Text in WA.TR 3, Nr. 3459: „Anno 1522. [!] degradatus est et ex ordine per priorem [!] suum eiectus.“ 63 Posset, Franz, The Front-Runner of the Catholic Reformation. The Life and Works of Johann von Staupitz, Aldershot 2003, 139. 64 Löscher, Valentin Ernst, Vollständige Reformations-Acta und Documenta […], Leipzig 1723, 477. 65 Siehe oben Anm. 16. 61 62
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Frage, „was die schwerste Schuld sei“ („Quae sit gravissima culpa“). Bei dieser „schwersten Schuld“ handelt es sich um die Häresie. „Die schwerste Schuld ist die Unkorrigierbarkeit jenes, der sich nicht fürchtet, Sünden zu begehen, und sich weigert, Strafe auf sich zu nehmen. Über ihn heißt es in der Regel, dass, ‚wenn er nicht davon Abstand nimmt, er aus eurer Gemeinschaft hinausgeworfen werden soll‘ gemäß dem Apostel, der befiehlt, dass ein ketzerischer Mensch nach dreifacher Ermahnung, die ihm zuteilwurde, und offenbar gewordener Unkorrigierbarkeit gemieden werden soll als einer, der eine Todsünde begeht, weil, wer so ist, ein Verkehrter ist.“66
Diese Maßnahmen gegen einen Häretiker entsprechen ganz den allgemeinrechtlichen Bestimmungen im Corpus Iuris Canonici.67 Dem aus dem Orden Ausgestoßenen wird auch sein Ordenshabit weggenommen: „Dieser soll seines Habits entkleidet entlassen werden, wie er nämlich von seinem Herzen die Profess abgeworfen hat, so soll er auch gezwungen werden, den Habit seiner Profess abzulegen, selbst wenn er bis zu jener Stunde gesunden Kopfes und unbeschadeten Sinnes gewesen wäre. Es darf aber keinem [Ausgestoßenen] aus keinerlei Anlass die Erlaubnis zur Rückkehr gegeben werden, damit nicht die kanonische Disziplin in Verachtung kommt, wenn der Habit eines kanonischen Ordens an Unwürdigen verachtet wird.“68
Für die Deutung der Entbindung vom Ordensgehorsam als Ausschluss aus dem Orden könnte sich eine Stütze in einem Brief finden, den Luther im Monat nach seiner Rückkehr, am 25. November 1518, an Spalatin schrieb. Er beendet seinen Brief mit dem Satz: „Sieh du zu, wie du es wagst, den Brief eines Verfluchten und E x k om mu n i z ie r te n zu lesen!“69 66 „Gravissima culpa est incorrigibilitas illius, qui nec culpas timet committere et poenam ferre recusat. De quo dicitur in regula, ut, ‚si ipse inde non abscesserit, de vestra societate proiiciatur‘, secundum Apostolum, qui haereticum hominem post trinam monitionem adhibitam et incorrigibilitatem patefactam devitari iubet tamquam peccantem peccatum ad mortem, quoniam subversus est, qui huiusmodi est.“ Constitutiones (wie Anm. 16), c. 50, 3–8; wörtlich übernommen aus den allgemeinen Ordenskonstitutionen: Aramburu Cendoya, Ignacio, Las primitivas Constituciones de los Agustinos (Ratisbonenses del año 1290), Valladolid 1966, Nr. 509. 67 Vgl. X.1.33.10 (ed. Friedberg II, 200); X.3.35.6 (ed. Friedberg II, 599); X.3.35.8 (ed. Friedberg II, 601); X.3.50.7 (ed. Friedberg II, 659). Günter, in: Constitutiones (wie Anm. 16), 313, Anm. 3. Zum Hintergrund vgl. O’Leary, Charles Gerard, Religious Dismissed after Perpetual Profession. An Historical Prospectus and Commentary, Washington, DC 1943 (CLSt 184), 15 ff. 68 „Hic quidem habitu exutus dimittatur, sicut enim a corde professionem abiecit, sic etiam professionis habitum deponere cogatur, si tamen usque ad horam illam sani capitis et integri sensus exstiterit. Non autem sub qualibet occasione alicui danda est licentia recedendi, ne canonica disciplina veniat in contemptum, dum habitus canonicae religionis despicitur in indignis.“ Constitutiones (wie Anm. 16), c. 50, 9–14. 69 „Tu vide, ut audeas legere Epistolam maledicti & excommunicati.“ WA.B 1, 253 (Nr. 112,12).
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Wie später in den Tischreden bezeichnet sich Luther hier als „excommunicatus“. Doch denkt Luther wohl eher an die im Vorladungsschreiben, das ihn nach Rom zitierte und das er am 7. August erhalten hatte, gesetzte und inzwischen (schon bei seiner Ankunft in Augsburg am 7. Oktober) abgelaufene Frist von 60 Tagen, nach der die Exkommunikation automatisch eintreten sollte.70 Eine andere Stelle aus einem Brief Luthers vom 6. März 1521 an Johann Lang, an der ebenfalls die Stichworte „solutus sum“ und „excommunicatus“ begegnen, bezieht sich primär auf die Bannandrohungsbulle sowie die nach der abgelaufenen Widerrufsfrist eingetretene und in der Bannbulle verkündete Exkommunikation. Anzumerken ist aber, dass er auch hier die Entbindung „von den Gesetzen des Ordens“ voranstellt: „Denn von den Gesetzen des Ordens und des Papstes bin ich entbunden (solutus sum) und exkommuniziert (excommunicatus) durch die Autorität der Bulle, worüber ich mich freue und was ich willkommen heiße, außer dass ich das Gewand und den Ort nicht aufgebe.“71
Luther akzeptiert also freudig die Entbindung von den Gesetzen des Ordens und die Exkommunikation, wenngleich er den Habit nicht ablegen und auch keinen Ortswechsel vornehmen, d. h., das Wittenberger Kloster nicht verlassen will. Es konnte nach außen so scheinen, dass Staupitz den der Häresie Verdächtigen aus dem Ordensverband ausschloss und sich damit den Anschuldigungen der römischen Ankläger beugte. Die Deutung der Entbindung Luthers vom Ordensgehorsam als Ausschluss aus dem Orden scheint auch ihre Bestätigung durch eine gewichtige Aussage aus der Ordensleitung zu finden. Die Nachricht über Staupitz’ Augsburger Maßnahme gegenüber Luther ist in Rom bekannt geworden. Auf welchem Weg dies geschah, ist nicht mehr zu ermitteln. Vielleicht hat sie Staupitz noch zu seiner eigenen Entlastung Cajetan mitgeteilt, und dieser hat sie nach Rom berichtet; möglich ist auch, dass Miltitz der Übermittler dieser Nachricht war.72 Die Mitteilung ist zwar nicht im Register73 des amtierenden Ordensoberen Gabriele della Volta74 vermerkt, findet sich jedoch in einer Stellung70 Erwähnt in Luthers Brief an Spalatin vom 8. August 1518. WA.B 1, 188 (Nr. 85,13 f. und 23). Das Zitationsschreiben selbst ist nicht erhalten. 71 „Nam ab ordinis et Papae legibus solutus sum et excommunicatus autoritate Bullae, quod gaudeo et amplector, nisi quod vestem et locum non relinquo.“ WA.B 2, 277 (Nr. 382,13–15). Das hier verwendete „solutus sum“ ist mit dem „absolutus sum“ in den Tischreden synonym. 72 Siehe unten zu Miltitz vor dem Eisleber Kapitel. 73 Der einschlägige Registerband Dd 13 des römischen Generalarchivs liegt in einer – bei der Textwiedergabe nicht immer zuverlässigen – Edition vor: Gabrielis Veneti O. S. A. Registrum Generalatus, Bd. 1: 1518–1520, ed. Carolus Alonso Vañes, Rom 2010. 74 Am 30. Januar 1518 hatte Papst Leo X. anstelle des zum Kardinal kreierten bisherigen Generalpriors Aegidius von Viterbo Gabriele della Volta zum Generalvikar ernannt, d. h. bis zur Wahl eines neuen Ordensgenerals auf dem nächsten Generalkapitel mit der kommissarischen Leitung des Ordens beauftragt. Es ist daher unzutreffend, wenn Gabriele von Roper, Luther (wie Anm. 11), 157, bei der Schilderung der Augsburger Ereignisse als „der vom Generalkapitel der Augustiner gewählte Leiter des Gesamtordens (Prior Generalis)“ bezeichnet wird. Gabriele
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nahme des ehemaligen Generalpriors der Augustiner Aegidius von Viterbo, der 1517 zum Kardinal kreiert (übrigens gleichzeitig mit Cajetan) und 1521 Kardinalprotektor75 seines Ordens geworden war. Aegidius hat 1521 ein Gutachten in der Luthersache verfasst.76 Darin stellt er es so dar, als habe Luther sich jeder Einwirkung durch den Orden entzogen, sich folglich als unkorrigierbar erwiesen; er habe die Entbindung vom Gehorsam selbst betrieben, also seinen Ausschluss selbst herbeigeführt: „Martinus aber hat entgegen dem Vorbild Christi, der gehorsam wurde bis zum Tod [Phil 2,8], alles zurückgewiesen und verworfen und deshalb es bewerkstelligt, sich vom Gehorsam gegenüber seinen Oberen entbinden zu lassen.“77
Durch seine pertinacia78 erfüllte Luther also jenen Tatbestand der Unkorrigierbarkeit („incorrigibilitas“), der in den Ordenskonstitutionen als schwerste Schuld und Grund für den Ausschluss eines Häretikers genannt wird. Dies war die Sicht der Ordensleitung 1521, aber bildete diese Bestimmung auch die Grundlage für das Handeln von Staupitz in Augsburg? Mit der protestatio, die Luther – wohl auf die Empfehlung der juristisch versierten kursächsischen Räte – gegenüber Cajetan abgegeben hatte, sollte doch gerade verhindert werden, dass der Vorwurf der pertinacia erhoben werden konnte.79 In einer der Tischreden-Varianten zitiert Luther Staupitz’ Worte, mit denen er die Entbindung vollzogen hatte: „Ich entbinde dich vom Gehorsam mir gegenüber und befehle dich Gott dem Herrn an.“80
Die Konstitutionen hatten auf die bekannte Paulus-Stelle I Kor 5 angespielt, die in der Kirchengeschichte als locus classicus für die Behandlung von Ketzern galt: Ein unbelehrbarer Verkehrter soll aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und wurde erst auf dem Generalkapitel in Venedig im Juni 1519 zum Generalprior gewählt. – Vgl. Schneider, Gabriele della Volta (wie Anm. 27), 446. 75 Zu diesem Amt vgl. Hofmeister, Philipp, Die Kardinalprotektoren der Ordensleute, in: ThQ 142 (1962), 425–464, zu den Augustinereremiten: 432–434. 76 Vgl. Bibliothèque Nationale Paris, Manuscrit latin Nr. 3395, 43–134. Auf dieses Gutachten hat zuerst Hermann Tüchle aufmerksam gemacht: Des Papstes und seiner Jünger Bücher. Eine römische Verteidigung und Antwort auf Luthers Schrift „Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher von D. M. Luther verbrannt sind“ aus dem Jahre 1521, in: Bäumer, Lutherprozeß und Lutherbann (wie Anm. 54), 49–68. Zur Verfasserschaft des Aegidius hier 51 f. 77 „Martinus vero contra Christi exemplum, qui factus est obediens usque ad mortem, omnia renuit et contempnit atque ideo a suorum obedientia superiorum se eximi procuravit.“ Bibliothèque Nationale Paris, Manuscrit latin Nr. 3395, 68; zitiert bei Tüchle, Des Papstes (wie Anm. 75), 52, Anm. 12. 78 Zu den kanonistischen Diskussionen um pertinacia bzw. contumacia vgl. Lefebvre, Charles, Contribution à l’étude des origines et du développement de la ‚denuntiatio evangelica‘ en droit canonique, in: Ephemerides Iuris Canonici 6 (1950), 60–93. 79 Siehe oben bei Anm. 45. 80 „Staupicii verba fuerant: Absolvo te ab oboedientia mea et commendo te Domino Deo.“ WA.TR 1, 177,36 f. (Nr. 409).
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dem Satan übergeben werden („tradere Satanae“; I Kor 5,5). Doch durch Staupitz geschah kein Übergeben an den Teufel wie bei einem Häretiker, sondern er überlässt Luther Gott, ja, befiehlt ihn Gott an („commendo te Domino Deo“). Am Anfang eines Briefes an Staupitz vom 14. Januar 1521 erinnert ihn Luther an ein aufmunterndes Wort, mit dem jener ihn damals bestärkt habe: „Als wir in Augsburg waren, hochwürdigster Vater, sagtest du unter anderem, was wir über meinen Fall verhandelten, zu mir: ‚Sei eingedenk, Bruder, dass du diese Dinge im Namen unseres Herrn Jesu Christi angefangen hast.‘ Dieses Wort habe ich nicht als von dir, sondern als durch dich mir gesagt angenommen und in lebhafter Erinnerung behalten.“81
Staupitz Entbindung vom Ordensgehorsam war also keineswegs die Bestrafung eines uneinsichtigen subversus, keine Ausstoßung eines Häretikers, und es folgte keine soziale Meidung („devitatio“) des Ausgeschlossenen, wie sie die Konstitutionen verlangten; vielmehr geschah eine Entpflichtung, die von ermutigenden Worten und gewissermaßen einem Segenswunsch auf den weiteren Weg begleitet wurde. Aber wie ist die Gehorsamsentbindung dann zu interpretieren?
6. Eine legale Entbindung vom Ordensgehorsam In den Konstitutionen der deutschen Kongregation ist nur ein einziges Mal von der Möglichkeit einer legalen Entbindung vom Ordensgehorsam die Rede. Die Bestimmung betrifft den Fall eines erlaubten Ordenswechsels: Wenn ein Ordensangehöriger in einen anderen Orden übertreten möchte, kann er dazu die Genehmigung erhalten, die allerdings dem Generalprior in Rom vorbehalten ist.82 Von diesem erhält der Betreffende dann ein förmliches Entlassungsschreiben (litterae dimissoriae), dessen Wortlaut festgelegt ist. Darin heißt es: „Und nachdem der genannte Bruder N. in einem anderen der genannten Orden Profess abgelegt haben wird, soll er vom Gehorsam gegenüber uns und unserem Orden entbunden sein.“83 81 „Cum Augustae essemus, reverendissime Pater, inter caetera, quae de hac mea causa tractabamus, dicebas ad me: ‚Memor esto, frater, te ista in nomine Domini nostri Ihesu Christi incepisse‘; quod verbum non a te, sed per te mihi dictum accepi et memori valde mente repositum teneo.“ WA.B 2, 245 (Nr. 366,2–6). 82 So schon die Bestimmung des Generalkapitels von Orvieto 1284: „Item diffinimus et statuimus quod nullus prelatus nostri Ordinis possit aliquem profexum [!] nostri ordinis ab ordine licentiare, nisi solus Generalis prior, cui profitens profitetur, vel alteri vice eius“ (Antiquiores quae extant definitiones capitulorum generalium ordinis Constitutiones fra II. Capitulum Generale in Urbe veteri, in: AAug 2 (1907 / 1908), 251–254, hier 252). Die Wendung „vel alteri vice eius“ bezieht sich auf einen während der Vakanz des Generalats handelnden Stellvertreter (Generalvikar des Ordens). Nach ihrem Selbstverständnis konnten die Kongregationen diese Bezeichnung auch auf ihren Generalvikar beziehen. 83 „Et postquam dictus frater B in altero ordinum praedictorum canonicam fecerit profes-
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Der Gehorsam bleibt in einem solchen Fall als Teil der bei der Profess in ihrer Ganzheit abgelegten Gelübde bestehen; es wechselt nur das Objekt des Gehorsams vom bisherigen zum neuen Orden. Die Konstitutionen der italienischen Augustiner-Observanten – die Kongregation von Lecceto84 und die Lombardische Kongregation (mit der letzteren war die deutsche durch eine Privilegienkommunikation verbunden85) – unterscheiden noch genauer zwischen der nur dem Ordensgeneral (Generalprior) erlaubten Entlassung aus dem Augustinereremitenorden, um in einen anderen Orden überzutreten, und der dem jeweiligen Generalvikar der Kongregation (in unserem Fall also: Staupitz) vorbehaltenen Entlassung aus der betreffenden Kongregation, wenn ein Ordensbruder in eine andere Kongregation innerhalb des Ordens wechseln wollte. In solchem Fall war der Betreffende mit einem entsprechenden Schreiben an den Generalprior zu senden, der ihn an seine neue Stelle versetzte.86 Luthers Schilderungen des Vorgangs („a ordinis oboedientia absolutus“) stimmt mit dem Text der Konstitutionen („a nostra et nostri ordinis oboedientia absolutus“) überein. Es ging allerdings nicht um den Übertritt in einen anderen Orden (wie nur wenige Jahre später bei Staupitz selbst, als dieser in den Benediktinerorden übertrat87), es kommt also nur der Wechsel aus der Reformkongregation in einen anderen observanten Ordensverband in Frage. In diesem Fall hätte ihm Staupitz die Chance eines Wechsels innerhalb des Augustinereremitenordens eröffnet, indem er ihn aus der deutschen Kongregation entlassen hätte. Dazu konnte er sich bei großzügiger Auslegung der Rechtslage (auch in Analogie zu den einschlägigen Bestimmungen der Lombardischen Konstitutionen) befugt sehen, da er gewissermaßen „vice generalis prioris“88 zu handeln beanspruchte. Für diese Möglichkeit spricht auch die bereits erwähnte, von Luther überlieferte Entpflichtungsformel: „Absolvo te ab oboedientia me a et commendo te Domino Deo.“89 sionem, sit a no str a e t no str i ord i n is ob o e d ie nt ia ab s o lu tus .“ Wörtlich übernommen aus den allgemeinen Ordenkonstitutionen. Aramburu, Constituciones (wie Anm. 65), Nr. 512. 84 Vgl. Walsh, Katherine, Papal Policy and Local Reform II: Congregatio Ilicetana. The Augustinian Observant Movement in Tuscany and the Humanist Ideal, in: Römische Historische Mitteilungen 22 (1980), 105–145; Gutiérrez, David, Lecceto – between History and Legend, in: Tagastan 31 (1985), 141–173 und Augustinian Heritage [früher Tagastan] 32 (1986), 71–85.175–193. 85 Vgl. dazu Schneider, Intervention (wie Anm. 29); Günter, Reform (wie Anm. 17), 293–307. 86 „Licentiandus est de congregatione et ad generalem cum litteris transmittendus alibi collocandus.“ Günter, in: Constitutiones (wie Anm. 16), 313, Anm. 5. 87 Vgl. dazu Schneider, Hans, Johannes von Staupitz’ Amtsverzicht und Ordenswechsel, in: Aug(L) 66 (2016), 185–231. 88 Vgl. oben Anm. 82. 89 WA.TR 1, Nr. 409. Der letzte Satz fehlt in den Varianten WA.TR 1, Nr. 884 (Veit Dietrich
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Luther wurde also aus dem Gehorsam gegenüber Staupitz als Generalvikar der Kongregation entlassen; er stand von nun an nicht mehr „sub debita oboedientia nostri vicarii generalis“.90 Dies bestätigt Luther selbst 1521 in der gedruckten Widmungszuschrift seiner Responsio ad Ambrosium Catharinum, die er Wenzel Link dedizierte, der inzwischen Staupitz’ Nachfolger als Generalvikar geworden war: „Aber holla! was ich fast vergessen hätte: Meine nur nicht, dass ich durch diesen Brief mich aufs Neue unter deine Autorität begeben habe […].“91
Durch die Entbindung vom Gehorsam gegenüber dem Generalvikar war Luther aus der deutschen Reformkongregation entlassen, aber keineswegs aus dem Orden ausgeschlossen. Er blieb weiterhin Augustiner und von seinem mönchischen Gehorsamsgelübde war er mitnichten entbunden. Doch was bewog Staupitz zu dem Schritt, seinen langjährigen Protegé aus seinem Ordensverband zu entlassen? Luther gibt als Staupitz’ Motiv an, „dass, wenn der Papst [Staupitz] bedrängte, dass er mich gefangen nehmen oder mir Schweigen gebieten sollte, er sich damit entschuldigen könne, dass ich nicht unter seinem Gehorsam sei“.92
Auch in diesem Fall bietet die zitierte Widmungszuschrift für Wenzel Link ein Zeugnis Luthers, das zeitnäher an dem Augsburger Geschehen liegt als die Tischreden. Luther fährt nämlich, das Staupitz-Motiv wiederholend, fort: „Meine nur nicht, dass ich durch diesen Brief mich aufs Neue unter deine Autorität begeben habe, damit nicht vielleicht der heiligste Stellvertreter Gottes auf Erden dir befehle, dass du mit meinem Blut deine Hände befleckst.“93
Doch Staupitz wollte keineswegs nur „der unangenehmen Notwendigkeit überhoben sein, gegen Luther einschreiten zu müssen“.94 In der sich dramatisch zuspitzenden Augsburger Situation war die Entlassung Luthers aus dem Ordensverband vielmehr ein kluger Schachzug des Generalvikars. Mit diesem Akt versuchte Staupitz nicht nur, die drohende Verfolgung abzuwenden, denen er den kolportierten Gerüchten zufolge auch sich selbst ausgesetzt sah. Mehr noch war es eine kirchenpolitische Maßnahme, die seine Reformkongregation davor und Nikolaus Medler) und WA.TR 2, Nr. 2250 (Cordatus). In letzterer Variante wird hinter „Augustae“ hinzugefügt: „vocatum ad caesarem Maximilianum et legatum papae, qui tum istic erat.“ 90 Siehe oben Anm. 35. 91 „Sed heus, quod pene oblitus fueram, ne existimes, hac Epistola me denuo redigi in tuam autoritatem […].“ WA 7, 706,28–30. Die Zuschrift ist gewidmet „Vincilao Linco, Augustinianae familiae Vicario.“ WA 7, 705,8. Familia bezeichnet wie in anderen Dokumenten die Kongregation (siehe unten Anm. 117). Die Wendung „me denuo redigi in tuam autoritatem“ war für nicht eingeweihte Leser unverständlich, für Link jedoch klar. 92 „[…] ut, si papa urgeret, ut me caperet aut mihi mandaret silentium, posset se excusare, quod non essem sub sua oboedientia.“ WA.TR 1, Nr. 225. 93 „[…] ne existimes, hac Epistola me denuo redigi in tuam autoritatem, ne forte sanctissimus Vicarius dei in terris mandet tibi, ut sanguine meo polluas manus tuas.“ WA 7, 706,28–30. 94 Kolde, Augustiner-Congregation (wie Anm. 8), 321.
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bewahren sollte, noch weiterhin und tiefer in die causa Lutheri involviert zu werden, wodurch der Ordensverband einem schwer kalkulierbaren Risiko ausgesetzt worden wäre. Diese äußerliche Distanzierung zeigte sich auch bei einer Episode der Folgezeit, der diplomatischen Aktion des päpstlichen Abgesandten Karl von Miltitz, der auch auf dem nächsten Kapitel der deutschen Reformkongregation der Augustiner auftauchte, das vom 26. bis 28. August 1520 in Eisleben stattfand.95 Da Luther nicht mehr der Kongregation angehörte, nahm er auch nicht mehr an diesem Kapitel teil,96 wozu er sonst als Magister der Theologie (Theologieprofessor) des Ordens berechtigt gewesen wäre. Als Miltitz die versammelten Kapitulare zu einer Stellungnahme in der Luthersache bewegen wollte, konnten diese ihm zu Recht antworten, dass sie mit Luther nichts zu schaffen hätten.97 Das Motiv, das Luther für Staupitz’ Vorgehen angibt, hatte allerdings noch einen zweiten Aspekt. Die Entbindung Luthers vom Gehorsam implizierte eine doppelte Entlastung: Sie sollte nicht nur Staupitz selbst von der Notwendigkeit frei machen, eventuell gegen seinen Untergebenen disziplinarisch vorgehen zu müssen, sondern befreite auch Luther von der Rücksicht auf die Reformkongregation; er war nicht mehr verpflichtet, seine theologischen Einsichten den Weisungen der Oberen unterordnen oder gar schweigen zu müssen.98 Zum Eisleber Kapitel vgl. Schneider, Amtsverzicht (wie Anm. 86), 204–207. Martin Bucer ging irrigerweise von Luthers Teilnahme aus. Bucer an Luther, WA.B 2, 159 (Nr. 322,5): „interfuturum te tuorum Synodo arbitratus sum.“ Bucer nahm an, dass der Augustinerpater, dem er den Brief mitgab, Luther in Eisleben treffen werde. 97 Vgl. Luther an Spalatin, 1. September 1520: „Carolus Miltitius […] in consessu patrum publico orationem habuit italica pronunciatione vestitam, petens consilium super me compescendo. […] patres respondisse ferunt sese nihil habere mecum nec consilium nosse.“ WA.B 2, 180 (Nr. 335,7–11). Gleichwohl kamen auf Miltitz’ Bitte Staupitz und der neugewählte Generalvikar Link mit einer kleinen Delegation („cum aliquot fratribus“) zu Luther, um ihn zu einem versöhnlichen Schreiben an den Papst zu bewegen. Luther an Spalatin, 11. September 1520, WA.B 2, 184 (Nr. 337,5–15.29–31). Staupitz’ Besuch Anfang September 1520 war sein letzter Aufenthalt in Wittenberg und sein letztes Zusammentreffen mit Luther. 98 Polemisch formuliert Duijnstee, Maarten Luther (wie Anm. 2), 160: „Den 12 October, dus na het eerste verhoor, kwam ook Staupitz in Augsburg. Toen hij vernam, dat er met klem op aangedrongen werd, dat Luther zijn leer zou herroepen en hij daartoe geen geneigdheid had, ontsloeg hij zijn ‚dierbaren en geleerden vriend‘ van de gehoorzaamheid aan zijn vicaris en van het dragen van zijn kloosterkleed, om aldus grootere vrijheid van handelen te hebben. Deze daad van Staupitz is hoogst afkeurenswaardig. Hier toont hij zich in heel zijn zwakheid en willoosheid. De eenige verontschuldiging, welke nog zou kunnen aangevoerd worden, is, de bij hem nog niet bepaalde overtuiging, dat Luther een reformatie zoekt buiten de kerk van Christus. Maar hoe kon men nog vertrouwen stellen in een man, die op zoo schaamtelooze wijze sprak van paus en kerk?“ (Am 12. Oktober, also nach dem ersten Verhör, kam auch Staupitz nach Augsburg. Als er vernahm, dass Luther genötigt wurde, seine Lehre zu widerrufen und dass dieser dazu keine Neigung habe, entband er seinen ‚lieben und gelehrten Freund‘ von dem Gehorsam gegenüber seinem Vikar und von dem Tragen seines Ordenskleides, damit er so größere Freiheit zum Handeln hätte. Diese Tat von Staupitz ist höchst verabscheuungswürdig. Hier zeigt er sich sehr in seiner Schwachheit und Willenlosigkeit. Die einzige Entschuldigung, die angeführt werden kann, ist die bei ihm noch nicht ausgeprägte Überzeugung, dass Luther 95 96
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Mit der Entbindung Luthers vom Gehorsam gegenüber dem Generalvikar und den anderen Autoritäten seines Ordensverbandes entfiel freilich auch der Rechtsschutz durch den Vorgesetzten,99 sodass sich Luthers Bemerkung, Staupitz habe ihn in Augsburg „alleingelassen“ („reliquit me solum Augustae“), nicht nur auf dessen Abreise bezieht, sondern auch auf das Verlassenwerden durch den rechtlichen Beistand des Ordens. In einer anderen Tischrede klagt Luther, dass er in Augsburg von allem menschlichen Schutz („ab omnibus praesidiis humanis“) verlassen worden sei, und endet seine Aufzählung mit dem Hinweis auf seinen Orden und Staupitz.100 Luther war auf sich gestellt, sofern er nicht – wie eigentlich vorgesehen – unter eine andere Obödienz wechselte.
7. Eine französische Alternative Wie wir gesehen hatten, war die legale Entbindung vom Gehorsam und die Entlassung aus der Kongregation möglich bei dem Wechsel in einen anderen Orden (woran Luther niemals dachte) oder eine andere Formation innerhalb des Augustinerordens. Doch wohin sollte Luther gehen? Einen weiteren observanten Ordensverband neben der deutschen Reformkongregation gab es in Deutschland nicht. Allerdings kommt eine andere Möglichkeit in Betracht, die Luther nach den Ereignissen in Augsburg – wenigstens kurzzeitig – in Erwägung gezogen hat: sich „an einen anderen Ort“ zu begeben.101 Als konkretes Ausweichziel war Frankreich ins Auge gefasst worden.102 Für diese Deutung spricht, dass Luther nach seiner Rückkehr von Augsburg nach Wittenberg in einem Brief an Staupitz berichtet: „In der Tat ist der Fürst [Kurfürst Friedrich] meinetwegen recht besorgt; er möchte lieber, dass ich woanders meinen [Aufenthalts-] Ort hätte. Er ließ Johann Spalatin in Lichtenberg mit mir, der ich gerufen worden war, lange Zeit über eben diese Sache sprechen. Ich sagte: ‚Wenn die Strafmaßnahmen kommen, werde ich nicht bleiben.‘ Er eine Reformation suchte außerhalb der Kirche von Christus. Aber wie konnte man noch Vertrauen setzen in einen Mann, der auf so schamlose Weise von Papst und Kirche sprach?). 99 Darauf weisen zu Recht Schwarz, Luther (wie Anm. 12), 61, und Kaufmann, Geschichte (wie Anm. 7), 131, hin. 100 Vgl. „Cum Augustam abiisset ad Caietanum et nollet revocare illic, solus relictus est ab omnibus praesidiis humanis, caesare, papa, a legato cardinali, a principe suo Friderico duce Saxoniae, ab ordine, a Staupitio familiarissimo amico.“ WA.TR 1, Nr. 1203. 101 Bereits in einem (nur in deutscher Übersetzung erhaltenen) Brief an Karlstadt vom 14. Oktober 1518 hatte Luther angesichts drohender Exkommunikation geschrieben: „Aber ich komme entweder wiederumb zu Euch unverletzt und unabgesondert [nicht exkommuniziert], oder aber ich wende mich an ein andern Ort verbannt.“ WA.B 1, 217 (Nr. 100,50 f.). Cajetan hatte er am 18. Oktober mitgeteilt: „Itaque nunc abeo et alio me loco provisurus migro.“ WA.B 1, 223 (Nr. 104,17). 102 Der Frankreich-Plan wird in einigen Lutherbiographien erwähnt (vgl. etwa Brecht I, 248.253), jedoch wird keine Verbindung zur Entbindung vom Ordensgehorsam hergestellt.
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riet davon ab, dass ich so schnell nach Frankreich ginge. Bis jetzt warte ich auf seinen Rat.“103
Da Luther den erwähnten Frankreich-Plan nicht weiter erläutert, setzt er voraus, dass Staupitz ihn bereits kennt. Eine andere Quelle untermauert dies und lässt sogar erkennen, dass Staupitz selbst wohl der Urheber dieses Planes war. Es handelt sich um eine Notiz in Christoph Scheurls Geschichtbuch. Nach einem Bericht über Luthers Verhör durch Cajetan schreibt Scheurl: „Über das alles haben nach der harten Entscheidung des Kardinals die bereits erwähnten Dr. Staupitz und Dr. Link beschlossen, Luther incognito und insgeheim nach Paris zu schicken, um ihn dort studieren zu lassen, bis dieser Streithandel vergessen wäre, und deshalb von namhaften Kaufleuten 30 Gulden auf Wechsel aufzunehmen. Das haben diese ihnen aber abgeschlagen, weil das Geld nicht hinterlegt war, sodass Dr. Luther aus Mangel an Reisegeld seine geplante Reise hat unterlassen müssen.“104
Der Nürnberger Ratskonsulent und einstige Wittenberger Juraprofessor Scheurl, der dem Nürnberger Staupitzkreis (Sodalitas Staupitziana) angehörte,105 kann als gut informierter und zuverlässiger Zeuge gelten. Auf Wunsch von Kurfürst Friedrich hatte er Luther nach Augsburg begleiten sollen, war jedoch verhindert.106 Sowohl Luther als auch Staupitz und Link kamen nach ihrer überstürzten Abreise aus Augsburg nach Nürnberg, sodass man dort Informationen aus erster Hand über die Augsburger Ereignisse erhielt und gemeinsam beriet, wie es weitergehen solle.107 Warum wurde gerade Paris als Aufenthaltsort Luthers ins Auge gefasst? In Frankreich gab es zwar keine Augustiner-Reformkongregation, doch war bei den Augustinern in Paris unter dem Druck des Ordensgenerals Aegidius von Viterbo
103 „Verum Princeps pro me satis est sollicitus, mallet tamen me alibi habere locum. Diu mecum fecit loqui Ioh. Spalatinum in Lichtenberg vocato super eadem re. Dixi: ‚Si venerint censura, non manebo‘, dissuasitque, ne tam cito in Galliam irem. Adhuc expecto consilium eius.“ WA.B 1, Nr. 114. 104 „Uber das alles haben zu Augsburg auf des cardinals so rauhen abschid Doctor Staupitz und Doctor Linck egenant Luthern unbekhant und in gehaim gen Paris, doselbs, biß ditz handels vergessen wurd, studirn zu lasen zu schicken, und derhalb von namhaften koufleuten 30 gulden auf wechsel zu nemen beschlossen, das si inen aber, da das gelt nit erlegt was, abgeschlagen, also das D. Luther aus mangel der Zerung seinen furgenomen Zug unterlasen musen hat.“ Christoph Scheurl’s Geschichtbuch der Christenheit von 1511 bis 1521, in: J. K. F. Knaake (Hg.), Jahrbücher des deutschen Reichs und der deutschen Kirche im Zeitalter der Reformation 1, Leipzig 1872, 1–179, hier 125. 105 Zur Sodalitas Staupitiana vgl. Hamm, Berndt, Humanistische Ethik und reichsstädtische Ehrbarkeit in Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 76 (1989), 65–147, hier 133–143. 106 Vgl. Christoph Scheurl’s Briefbuch 2 (wie Anm. 58), 53. 107 Nach dem Bericht über die Ankunft von Link und Staupitz (siehe oben Anm. 58) fährt Scheurl fort: „Quidquid apud nos communicato consilio in re Martiniana decretum fuerit, perscribam ad te.“ Ebd.
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die Observanz eingeführt worden.108 Vor allem aber könnten zwei Gründe für die Wahl von Paris ausschlaggebend gewesen sein: 1. Paris war das älteste (bereits 1260 gegründete) und angesehenste Generalstudium des Ordens; „es wurde durch die Ordensoberen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert am meisten gefördert, es zeigte nach seinem Professorenkollegium und seiner Studentenschaft das stärkste internationale Gepräge und es diente mit seinen Statuten als Modell für jene, die mit ihm durch Ruf und Internationalität wetteifern wollten“.109
2. Die traditionell romkritische französische Kirchenpolitik – erst wenige Jahre lag das „gallikanische“ Konzil von Pisa zurück110 – konnte vielleicht die Hoffnung erwecken, dort besser geschützt zu sein als in Deutschland. Am 27. März 1518 hatte die Pariser Universität gegen das zwischen Leo X. und Franz I. geschlossene Konkordat gegen den Papst an ein künftiges Konzil appelliert, worauf Luther in seinem Gespräch mit Cajetan hingewiesen hatte111 und deren juristischer Formeln er sich dann in seiner eigenen Konzilsappellation vom 28. November 1518 bediente.112 Dass diese Aspekte diskutiert worden waren, zeigt ein Brief Scheurls an Luther, in dem er ihn von den Frankreich-Plänen abzubringen suchte.113 Ausdrücklich verweist er darin auf das Konzil zu Pisa von 1511 und die Rolle des Kardinals Bernardin Carvajal.114 Nach Scheurls Angabe haben Staupitz und Link sich (schon in Augsburg oder dann in Nürnberg?115) um die finanzielle Absicherung der Reise bemüht, blieben 108 Vgl. Martin, Francis Xavier, The Augustinian Order on the Eve of the Reformation, in: Miscellanea historiae ecclesiasticae 44 (1967), 71–104, hier 93 f. 109 Gutiérrez, David, Die Augustiner im Mittelalter 1256–1356, Würzburg 1985 (Geschichte des Augustinerordens I/1), 170. 110 Vgl. Jedin, Hubert, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 1, Freiburg i. Br. u. a. 31977, 84–92. Luthers Bemerkungen in WA.TR 4, Nr. 4785, auch WA.TR 2, Nr. 2246. 111 Vgl. WA.B 1, 240 (Nr. 110b,174): „Cum rursus Parisiensis Universitatis appellationem allegassem […].“ Vgl. dazu Spehr, Christopher, Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit, Tübingen 2010 (BHTh 153), 82–86. 112 Text der Pariser Appellation bei Thomas, Jules, Le Concordat de 1516, ses origins, son histoire au XVIe siècle, Bd. 3, Paris 1910, 429–437, Zusammenstellung der Parallelen zu Luthers Appellation: 73 f. Zu Luthers Appellation vgl. ausführlich Spehr, Konzil (wie Anm. 110), 94–114. 113 Vgl. „Cogita, quo abeundum fuerit deserente Principe: multi Gallis parum fidunt; Carolus certum habet non affuturum tibi Franciscum regem triduo, contradicente Pontifice.“ WA.B 1, 274 (Nr. 122,72–74). 114 Vgl. „Numquid cardinalibus deficientibus Caesar et Gallus autores fuere concilii coeundi et mandata dedere? Numquid ille accepta grandi pecunia cum Iulio perstitit? Et Sanctae Crucis [Carvajal] rediens revocaturus ita testatus est, etsi crederet se non errasse, tamen si secutum esset scandalum, agnosceret errorem.“ WA.B 1 274 (Nr. 122,80–84). 115 Zu Kontakten der Augustiner zu den Fuggern vgl. Schneider, Hans, Ein Franke in Rom. Römische Wanderungen des Augustinereremiten Nikolaus Besler im Jahre 1507, in: Prüft alles, und das Gute behaltet. Zum Wechselspiel von Kirchen, Religionen und säkularer Welt. Festschrift für Hans-Martin Barth zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 2004, 239–270, hier 253 f. 1512 hatten Staupitz und die Diffinitoren des Kölner Kapitels im Namen der Kongregation von dem Nürnberger Konvent (wahrscheinlicher: durch Vermittlung des Nürnberger Konvents von
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dabei aber ohne Erfolg. Der Plan zur „Emigration“ ist aber schließlich nicht daran gescheitert, sondern an der Entscheidung des Kurfürsten, der den abreisebereiten Professor seiner Wittenberger Universität doch im Lande behalten wollte116 – trotz aller damit verbundenen Risiken. Obwohl sich also der Frankreich-Plan zerschlug, blieb Luthers Entlassung aus der deutschen Reformkongregation doch gültig und wurde nicht revidiert.
8. Eremit ohne familia Luther war von Augsburg nach Wittenberg zurückgekehrt, und nach dem Willen des Kurfürsten blieb er nun dort. Er befand sich fortan in einer ambivalenten Situation. Denn nach seiner Entbindung vom Ordensgehorsam war er nicht mehr Angehöriger seiner augustinischen familia,117 der Reformkongregation, sondern – juristisch gesehen – buchstäblich ein Eremit, ein auf sich gestellter Einzelgänger. Und trotzdem lebte er nach seiner Rückkehr wieder im Schwarzen Kloster der Kongregation, deren Mitglied er nicht mehr war, und trug weiterhin den Habit der Augustiner.118 Denn er wollte, wie er noch im März 1521 gegenüber Johann Lang, seinem Freund und Nachfolger als Provinzialvikar, betonte, „das Gewand und den Ort nicht aufgebe[n]“.119 Obwohl er nicht mehr seinem Nürnberger Kaufleuten) ein Darlehen von 200 Goldgulden aufgenommen, die zur Bezahlung gewisser Kosten „per publicam communemque ordinis et fratrum nostrorum utilitatem“ dienen sollten. Text der Urkunde bei Kolde, Augustiner-Congregation (wie Anm. 8), 438 f. 116 „Princeps primo fuisset contentus me non esse in loco, postea voluit omnino, ut manerem“, berichtet Luther am 18. Dezember 1518 an Link. WA.B 1, 271 (Nr. 121,37 f.). Zu Luthers Bemerkung in seinem Brief an Spalatin („Nisi venissent heri Literȩ tuȩ, iam parabam recessum, Mi Spalatine, Sed & adhuc sum in utramvis partem [scil. zu gehen oder zu bleiben] paratus.“ WA.B 1, 260 [Nr. 116,5 f.]) und der etwas konfundierten Erzählung in WA.TR 5, Nr. 5375c sowie WA.TR 1, Nr. 1203 vgl. die Erörterung von Kroker, Ernst, Rörers Handschriftenbände und Luthers Tischreden, in: ARG 5 (1907/08), 337–374, hier 360–365. Die Frage, ob Kurfürst Friedrich schon damals plante, Luther zeitweise an einem sicheren Ort zu verbergen, kann hier unerörtert bleiben. 117 Familia war ein gängiger Ausdruck für die Kongregation. Vgl. oben Anm. 91 die Bezeichnung Links als „Augustinianae familiae Vicarius“; so auch WA.B 2, 414 (Nr. 446,1) und auch für Staupitz WA 1, 525,2. Johann Lang als Provinzialvikar wird von Luther „Eremitanae familiae Vicarius Augustinianus medius“ (WA.B 1, 368 [Nr. 167,2]) bzw. „Vicarius mediastinus eiusdem familiae“ (WA.B 1, 432 [Nr. 188,1 f.]) genannt. Christoph Scheurl bekundet seine Verbundenheit: „Qui Augustinianae familiae plane devotissimus sum“ (WA.B 1, 115 [Nr. 49,2 f.]). Auch der Ordensgeneral nennt 1523 in einem Schreiben an den sächsischen Provinzial Tilemann Schnabel die deutsche Kongregation „familiam illam germanicam“. Generalarchiv des Ordens, Dd 14, fol. 115r–v; abgedruckt bei Schneider, Hans, Der hessische Augustiner Tilemann Schnabel und sein Orden, in: JHKGV 51 (2000), 143–179, hier 176. 118 Noch bis Oktober 1524. Vgl. unten Anm. 159. 119 Siehe oben Anm. 71. WA.B 2, 277 (Nr. 382,13–15). Trotz seiner neuen Haltung zum Mönchtum, die er während seiner Wartburgzeit gewann, kündigt er im Dezember 1521 in einem Brief an Link für die Zeit nach seiner Rückkehr nach Wittenberg an: „ego in habitu et ritu isto manebo, nisi mundus alius fiat.“ WA.B 2, 415 (Nr. 446,25 f.).
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Ordenverband, ja überhaupt keiner institutionellen Formation innerhalb des Ordens angehörte, verstand er sich – vorerst – doch weiterhin als Augustiner. Ganz selbstverständlich hat er sich weiter so bezeichnet: bereits in beiden Appellationsinstrumenten nach dem Augsburger Verhör120 wie auch in der Konzilsappellation von 1520,121 in den Acta Augustana122 und in weiteren Veröffentlichungen123; und wie gewohnt unterschrieb er seine Briefe (noch bis Herbst 1521) als „F[rater]“ und fügte den Zusatz „Augustinianus“ (bzw. „Augustinensis“, „Aug.“, „August.“ ) hinzu.124 Wie sich das tägliche Zusammenleben im Konvent gestaltete, ob alle Mitbrüder überhaupt von seiner Entpflichtung erfuhren und wie sie darauf reagierten, wissen wir nicht; vermutlich gab es jedoch nach Luthers Rückkehr keine einschneidenden Änderungen. Jedenfalls sprach er auch jetzt noch von den „Unsrigen“ (Delegierten auf dem Eisleber Kapitel),125 von „unserem“ Prior, „unserem Prokurator“ und (unserem) „Subprior“,126 auch von „unserem Dresdener Prior“ (des zur Kongregation gehörenden Konvents),127 sogar von „unserem Vikar“.128 Er korrespondierte weiterhin mit seinen vertrauten Freunden aus der Kongregation, darunter auch mit Amtsträgern wie Johann Lang, seinem Nachfolger als Provinzialvikar (1518–1520),129 mit Wenzel 120 Vgl.
WA 2, 28,26 und WA 2, 36,33. Vgl. WA 7, 76,18 („ego frater Martinus Luther ordinis Eremitarum sancti Augustini“); vgl. auch WA 7, 85,16. 122 Vgl. WA 2, 6,1. 123 Vgl. WA 2, 69,1; 166,14; 175,3; 445,13; 685,3; 727,3; 742,4; WA 6, 3,3; 36,3; 63,2; 137,4; 143,3 und 5; 158,2; 204,12; 285,3; 353,4; 479,1 und 4; 480,4; 482,3; 497,5; WA 7, 20,5; 161,8; 825,5. 124 WA.B 1 f. Nrr. 142, 150, 152, 160, 166, 168, 174, 178, 179, 184, 188, 198, 201, 209, 211, 212, 216, 218, 220, 223, 225, 232, 233, 234, 236; 237, 238, 239, 245, 246, 249, 251–253, 257, 270, 273, 277, 282, 286, 288, 291, 296, 299, 300, 305, 310, 312, 313, 315, 316, 317, 318, 319, 324–326, 329, 332, 335, 340, 341, 347, 348, 351, 353 (= 4331), 355, 359, 362, 366, 369, 370, 372, 375, 377, 381, 384, 385, 389, 390, 391, 403, 431 (17. Sept. 1521). Als Nachzügler erscheint die Selbstbezeichnung als „Frater“ noch zum letzten Mal in einem Brief an den Ex-Augustiner Gabriel Zwilling vom 17. April 1522. WA.B 2, 506 (Nr. 472,21). Dass Luther sich gegenüber Zwilling, der als einer der ersten Wittenberger Mönche schon am 30. November 1521 seine Kutte ausgezogen hatte, noch im April als „Frater“ bezeichnet hätte, worauf Saak, High Way (wie Anm. 5), 640, hinweist, ist sehr unwahrscheinlich. Der Aurifaber-Druck als ältester Textzeuge des Briefes könnte ein „T.“ (Tuus) in seiner Vorlage, wie es in anderen zeitnahen Briefen Luthers an Zwilling – WA.B 2, 523 (Nr. 487,21), 541 (Nr. 498,19) und 576 (Nr. 517,12) – begegnet, als „F.“ verlesen und als „Frater“ aufgelöst haben. 125 WA.B 2, 180 (Nr. 335,7). 126 WA.B 2, 258 (Nr. 374,2 f.). 127 WA.B 1, 301 (Nr. 135,5). Der Dresdner Konvent gehörte zur Kongregation, vgl. Kunzelmann, Geschichte 5 (wie Anm. 3), 307–316. 128 WA.B 2, 101 (Nr. 285,8) (Staupitz, hier auch „Capitulum nostrum“) und 246 (Nr. 366,25) (der neue Generalvikar Link). 129 Vgl. WA.B 1, Nrr. 167, 176, 184, 188, 196, 212, 242. WA.B 2, Nrr. 317, 327. Dass Lang auf dem Eisleber Kapitel im August 1520 wiederum Provinzialvikar wurde, wie Kolde, AugustinerCongregation (wie Anm. 8), 362 mit Anm. 4, und Otto Clemen, WA.B 2, 181, Anm. 8, erwägen, ist unwahrscheinlich, da die Konstitutionen der Kongregation keine Wiederwahl der Provinzialvikare erlaubten. Vgl. Constitutiones (wie Anm. 16), c. 32, 177–179. In Luthers Briefen an 121
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Link, dem neuen Generalvikar,130 und mit Staupitz (auch nach dessen Amtsverzicht und Ordenswechsel).131 Doch Staupitz, Link und Lang waren für Luther keine Vorgesetzten mehr. Der oft gebrauchte Adresszusatz „suo (in Christo / in Domino) maiori“132 ist nur eine Demuts- und Höflichkeitsformel, die Luther auch gegenüber anderen Briefempfängern verwendet.133 Das Verhalten von Staupitz nach Augsburg empfand Luther als unerklärlich zurückhaltend und bemerkte eine Distanz, die der Generalvikar wohl bewusst einnahm. Der Briefkontakt war unterbrochen, sodass sich Luther im Februar 1519 bei Staupitz schmerzlich über dessen Schweigen und sein Fernbleiben von Wittenberg beklagte.134 Tatsächlich hat dieser bis zum Ende seines Generalvikariats die Stadt nicht mehr besucht!135 Mitte April 1520 hielt sich Luther für von Staupitz vergessen.136 Auf der Rückreise von der Leipziger Disputation machte Luther einen Umweg über Grimma, um mit Staupitz und Link zusammenzutreffen (16./17. Juli), die das dortige Augustinerkloster visitierten.137 (In Leipzig hatte Eck die Zuhörer wohl nicht ohne Hintergedanken darauf hingewiesen, dass Luther in seinen Resolutionen zu den Ablassthesen sich auf Staupitz berufen hatte.138) Über die damaligen Gespräche in Grimma, ihren Initiator und Inhalt, ist leider nichts bekannt. Anfang Oktober beklagte Lang nach dem Eisleber Kapitel (WA.B 2, Nrr. 354, 382, 392, 445, 473) fehlt der Titel „Vicarius medius“. 130 Vgl. WA.B 2, Nrr. 314, 328, 367, 374, 384, 446, 462, 557, 569 (Ende von Links Generalvikariat). Vgl. auch die oben erwähnte Dedikationsepistel WA 7, 705 f. 131 Vgl. WA.B 1, Nrr. 114, 152, 202; WA.B 2, Nrr. 366, 376, 512; WA.B 3, Nrr. 659 und 726. 132 WA.B 1, Nrr. 167, 176, 188, 196, 212, 242; WA.B 2, Nrr. 317, 327 (Lang); WA.B 2, Nr. 394, 446 (Link); WA.B 1, Nrr. 152, 202; WA.B 2, Nr. 376 (Staupitz). 133 Vgl. etwa WA.B 1 Nrr. 142 (Karlstadt), 149 (Eck), 179 und oft (Spalatin), 230 (Dungersheim) usw. Vgl. schon die Erläuterung WA.B 1, 181, Anm. 1: „Allgemeiner Höflichkeitstitel“. 134 Vgl. „Etsi tu multum nobis et distas et taces, Reverende Pater, nec exspectantibus exspectatissimas literas scribis, nos tamen rumpemus silentium. Optamus nos, optant omnes te in hac plaga coeli aliquando videri.“ WA.B(?)1, 344 (Nr. 152,4–6). Diese Stelle spricht dafür, dass der Brief Staupitz’ an Luther, den WA.B 1, Nr. 119 auf Mitte Dezember 1518 datiert mit Hanns Rückert (Luthers Werke in Auswahl, Bd. 6: Luthers Briefe, Berlin 1933, Nr. 11, 15 f., Anm. zu Z. 15 ff.) nicht hierher gehört, sondern eher auf „Nürnberg, 2. Hälfte August 1518“ zu datieren ist. Hätte Staupitz noch Mitte Dezember 1518 geschrieben, wäre es wenig verständlich, dass sich Luther bereits im Februar so sehr beklagte. Auch die in Staupitz’ Brief ausgesprochene Einladung an Luther, zu ihm nach Salzburg zu kommen, ist nach den Augsburger Vorgängen und angesichts des sonstigen Verhaltens des Generalvikars im Dezember 1518 kaum vorstellbar. 135 Erst nach der Niederlegung seines Amtes kam er im September 1520 zusammen mit seinem Nachfolger Link erstmals wieder nach Wittenberg. Siehe oben Anm. 97. 136 Vgl. „Reverendus Pater Vicarius oblitus est nostri, adeo nihil scribit.“ WA.B 1, 370 (Nr. 167,87) (an Johann Lang). 137 Vgl. WA.B 1, 424 (Nr. 187,155) und 432 (Nr. 188,5 f.). Zum dortigen Konvent der Kongregation vgl. Kunzelmann, Geschichte 5 (wie Anm. 3), 202–214. 138 Vgl. „Et non accipio, quod reverendus quod reverendus pater ab initio Resolutorii refert reverendi patris Staupitii vocem quasi caelitus demissam, poenitentiam incipere ab amore et dilectione.“ WA 59, 574,4433–4435. Eck zielt auf den Brief an Staupitz, den Luther den Resolutionen vorangestellt hatte. WA 1, 525–527, bes. 525,10–12.
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sich Luther erneut bitter bei Staupitz: „Allzu sehr verlässt du mich.“139 Das verfolgte ihn bis in die Träume.140 Wie gerade dieser Brief zeigt, vermisste Luther jedoch nicht den Rechtsbeistand des Vorgesetzten, sondern das Gespräch und den Trost des väterlichen Seelsorgers. Staupitz’ Zurückhaltung spiegelt wohl seine Verunsicherung, seine tiefen Besorgnisse und Bedenken hinsichtlich des Fortgangs der causa Lutheri. Zusammen mit dem Druck der Ordensleitung trugen sie dann dazu bei, dass er im Frühjahr 1520 seinen Rücktritt als Generalvikar ankündigte und im August auf dem vorverlegten Kapitel in Eisleben das Amt niederlegte.141 Doch wie misstrauisch man in Rom gegenüber seiner vermeintlichen Distanzierung von Luther blieb, zeigt die im folgenden Jahr erhobene Forderung, er solle sich durch Eidesleistung vor einem Notar von den (inzwischen in der Bannandrohungsbulle und in der Bannbulle) verurteilten Ansichten Luthers lossagen.142 Gegenüber dem in Eisleben neugewählten Generalvikar Link143 hat Luther trotz aller freundschaftlichen Verbundenheit und Wertschätzung, wie er sie etwa in seiner erwähnten Buch-Dedikation – ausgerechnet zur bislang heftigsten Invektive gegen das Papsttum! – öffentlich zum Ausdruck brachte, doch gerade hier deutlich bekundet, dass er nicht mehr Links Autorität unterstehe.144 Das hinderte Luther freilich nicht, weiterhin seine Meinung zu Vorgängen in der 139 „Nimis me derelinquis. Ego super te, sicut ablactatus super matre sua [Ps 130, 2 Vg], tris tissimus hac die fui.“ WA.B 1, 514 (Nr. 202,49 f.). Saak, High Way (wie Anm. 5), 644, bezieht „hac die“ auf Luthers Verlassenwerden durch Staupitz in Augsburg und übersetzt: „You have completely abandoned me. The day that you left me in Augsburg I was devastated.“ Aber „derelinquis“ ist Präsens: „Du verlässt mich (jetzt) allzusehr“ (nämlich durch Staupitz’ anhaltendes Schweigen). Luther ist „heute“ („hac die“ = „hodie“) sehr traurig gewesen. Er fühlte sich als Sünder, fürchtete den Tod, empfand eine geistliche Leere und seufzte über den mit den schweren Gaben verbundenen Dienst Christi. WA.B 1, 514 (Nr. 202,51–53). 140 Vgl. „Hac nocte somnium de te habui, tanquam recessuro a me, amarissime me flente et dolente, verum te manu mota mihi dicente, quiescerem, te reversurum esse ad me; hoc certe verum factum est hoc ipso die.“ WA.B 1, 515 (Nr. 202,75–77). Saak, High Way (wie Anm. 5), 644 f. mit Anm. 183, will hier „hoc ipso die“ mit dem „hac die“ an der zuvor zitierten Stelle im selben Brief auf Augsburg verbinden und übersetzt: „But you told me in sign that if I would be quiet, you would come back to me. This certainly was true that day in Augsburg.“ Doch „hoc ipso die“ bezieht sich auf den heutigen Tag und bekräftigt nur „hac nocte“ am Anfang des Erzählten. „Quiescerem“ ist wohl auch nicht als Bedingung gemeint („si quiescerem“), sondern in Verbindung mit der Handbewegung („manu mota“) als Aufforderung („ut quiescerem“). Die Bemerkung von Brecht I, 321, dass der Traum mit Staupitz’ Versprechen zurückzukommen freundlich endete, wird von Saak missdeutet, denn gleichwohl bleibt auch dies im Briefkontext „a note of despair“. 141 Vgl. dazu Schneider, Amtsverzicht (wie Anm. 86), bes. 199–205. Immerhin hatte er Luther im Dezember 1519 mit Nachrichten über die ablehnende Stimmung gegenüber Johann Eck in Salzburg versorgt (WA.B 1, 597 [Nr. 232,27 f.]), und Anfang Mai 1520 sich sogar hinsichtlich der Entwicklung des Falles Luther hoffnungsvoll geäußert (WA.B 2, 96 [Nr. 283,23 f.]). 142 Vgl. Schneider, Amtsverzicht (wie Anm. 86), 209 f. 143 Zu Links Generalvikariat vgl. Günter, Reform (wie Anm. 17), 382–404. 144 Siehe oben Anm. 91. Vgl. auch die spaßig-hintersinnige Adresse „Vincilao Lin[k] Vicario et non principi monasticae religionis“, WA.B 2, 496 (Nr. 474,1 f.).
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Kongregation kundzutun. Sein Einfluss auf seine Mitbrüder in der Kongregation blieb nachhaltig, wie sich gerade in den krisenhaften Entwicklungen der Jahre 1521/22 zeigen sollte,145 und aus ihren Reihen kamen in den folgenden Jahren zahlreiche Sympathisanten und Multiplikatoren seiner reformatorischen Gedanken.146 Inzwischen hatte aber eine neue Etappe seines Weges als Mönch begonnen. Bei Luthers Auftritt vor dem Wormser Reichstag wird der Unterschied zu seinem Erscheinen vor Cajetan in Augsburg deutlich. Auf der Reise wurde er zwar gemäß den Ordensvorschriften147 von Johann Petzensteiner148, einem Mitbruder aus dem Wittenberger Kloster begleitet,149 und in Worms erschien er als Augustinereremit in Kutte – sogar mit frisch geschorener Tonsur.150 Doch nun stand ihm kein Generalvikar mehr als Rechtsbeistand zur Seite; Luther war auf sich gestellt. Die neue Etappe begann dann mit dem Aufenthalt auf der Wartburg. Als eremita in einem eremus151 außerhalb des mönchisch-klösterlichen Ambiente152 bot sich ihm hier die Muße, einen vieljährigen theologischen Klärungsprozess über das Mönchtum und sein eigenes Mönchsein (auch über den mönchischen Gehorsam) zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen. Die Themata de votis und De votis monasticis iudicium dokumentieren eindrücklich diese neue Etappe.153 145 Vgl. Günter, Reform (wie Anm. 17), 386–410, und die Lutherbiographien. Grundlegend bleibt Müller, Nikolaus, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522. Die Vorgänge in und um Wittenberg während Luthers Wartburgaufenthalt, Leipzig 21911. 146 Eine Zusammenstellung von Wittenberger Augustiner-Studenten, die in der Folgezeit als evangelische Prediger auftraten bei Wentz, Gottfried, Das Augustinereremitenkloster in Wittenberg, in: Fritz Bünger / ders. (Hg.), Das Bistum Brandenburg II, Berlin 1941 (GermSac I/3,2), 452 f.; weitere Namen bei Jung, Martin H., Gerhard Hecker und die Anfänge der Reformation in Osnabrück, in: Miteinander leben? Reformation und Konfession im Fürstbistum Osnabrück 1500 bis 1700, Münster i. W. 2017, 65–98, hier 80–84. 147 Vgl. „Statuimus, ne ullus nostri ordinis frater extra saepta loci solus vadat, id est absque fratre socio, novitio aut professo eiusdem ordinis, etiam iussus, sive subditus sit sive prior.“ Constitutiones (wie Anm. 16), c. 20, 4–6. 148 Vgl. Simon, Matthias, Johann Petzensteiner, Luthers Reisebegleiter nach Worms, in: ZBKG 35 (1966), 113–137. 149 Brechts Bemerkung: „Obwohl Luther dem Orden rechtlich nicht mehr angehörte, wurde also die Regel, daß Mönche zu zweit zu reisen hatten, beachtet“ (ders. I, 427, meine Hervorhebung) bezieht sich wohl auf die inzwischen erfolgte päpstliche Exkommunikation als Häretiker. 150 Vgl. DRTA.JR 2, Nr. 88, 632,21 ff. 151 Vgl. die Ortsangabe „ex eremo (mea)“ in der Briefdatierung WA.B 2, Nrr. 416, 419, 423, 428, 429, 435, 441, 445, 446, 451, 452; besonders hübsch die Verbindung mit der Unterschrift „Martinus Lutherus Eremita“. WA.B 2, 359 (Nr. 418,134 f.). Früher hatte er einmal das Wittenberger Eremitenkloster als „nostra eremus“ bezeichnet. WA.B 1, 90 (Nr. 35,30) (1. März 1517); synonym mit „eremitorium“ WA.B 1, 87 (Nr. 33,61). 152 An Melanchthon schrieb Luther selbstironisch am 26. Mai 1521: „Plura non habeo, cum sim eremita, anachorita, vereque monachus, sed neque rasura neque veste […]“, WA.B 2, 348 (Nr. 413,77 f.). Vgl. auch WA.B 2, 365 (Nr. 420,35 f.). 153 Vgl. WA 8, 323–335.583–609. Zur Entwicklung von Luthers theologischen Reflexionen über das Mönchtum vgl. Lohse, Bernhard, Mönchtum und Reformation, Göttingen 1963;
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9. Rückblick und Ausblick Staupitz’ Entbindung Luthers vom Ordensgehorsam gegenüber ihm als Generalvikar – und damit dessen Entlassung aus der Reformkongregation – war der nur halbherzige Versuch eines Befreiungsschlags, um den Ordensverband „in der prekären kirchenpolitischen Situation, in die er [Luther] inzwischen geraten war“,154 vor einer tieferen Verstrickung in die causa Lutheri zu bewahren. Luther schied damit zwar aus der Kongregation aus, ohne dass sich diese jedoch von ihm als einem Häresieverdächtigen abgegrenzt hätte. Vor allem konnte der Augsburger Akt auch deshalb nur eine begrenzte Außenwirkung entfalten, weil die interne rechtliche Entscheidung gar nicht publik gemacht und weder von der Öffentlichkeit noch insbesondere von Luthers Gegnern wahrgenommen wurde. Äußerlich schien doch alles wie bisher zu bleiben: Luther lebte weiter im Wittenberger Kloster, lehrte nach wie vor als Inhaber der den Augustinern zustehenden theologischen Professur an der Universität, und auch die fortbestehenden engen und zum Teil freundschaftlichen Verbindungen zwischen Luther und seinem bisherigen Ordensverband blieben nicht verborgen. Bei seiner Entlassung aus der Kongregation handelte es sich gewissermaßen um eine „hinkende Trennung“.155 Auch in Rom, wo man von Luthers Entbindung vom Ordensgehorsam Kenntnis erhielt,156 nahm man Staupitz die Distanzierung von Luther nicht ab.157 Für Luther bedeutete seine Entpflichtung vom Ordensgehorsam aber gleichwohl eine deutliche Zäsur, wie der Rückblick der Tischreden zeigt, indem er sie in eine Reihe neben die päpstliche Exkommunikation und die kaiserliche Acht stellt. Das Verlassensein, das er hier betont, hatte freilich auch eine Kehrseite mit einer wohl nachhaltigen Auswirkung auf ihn selbst, wenngleich sich diese im Einzelnen schwer nachzeichnen lässt: Bei der Entfaltung seiner theologischen Einsichten brauchte er auf die Kongregation keine Rücksicht mehr zu nehmen, war nicht mehr Weisungen der Oberen unterworfen, die ihm Zurückhaltung oder vielleicht gar ein Schweigen auferlegen würden. Indem der Augsburger Akt den Augustinereremiten von der bisherigen Gehorsamspflicht befreite und aus der damit verknüpften sozialen Bindung löste, beförderte er dadurch auch Esnault, René H., Kontinuität von Kirche und Mönchtum bei Luther, in: Ivar Asheim (Hg.), Kirche, Mystik, Heiligung und das Natürliche bei Luther, Göttingen 1967, 122–142; Stamm, Heinz-Meinolf, Luthers Stellung zum Ordensleben, Wiesbaden 1980 (VIEG 101); Schilling, Johannes, Klöster und Mönche in der hessischen Reformation, Gütersloh 1997 (QFRG 67), 128–138. 154 Kaufmann, Geschichte (wie Anm. 7), 131. 155 Ich greife hier einen Begriff auf, den der Kirchenrechtler Ulrich Stutz für das Staatskirchenrecht der Weimarer Reichsverfassung geprägt hat. Vgl. Stutz, Ulrich, Die päpstliche Diplomatie unter Leo XIII. Nach den Denkwürdigkeiten des Kardinals Domenico Ferrata, Berlin 1926 (APAW.PH 1925,3/4), 54. 156 Vgl. oben Anm. 76. 157 Vgl. oben bei Anm. 141.
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Luthers Reflexion über sein Mönchsein und das Mönchtum, die ihn seit vielen Jahren begleitet hatte.158 Seine Entbindung vom Ordensgehorsam war noch kein „Abschied vom Mönchtum“,159 aber doch eine wichtige Etappe auf seinem Weg als Augustinereremit, der schließlich dahin führte, nach fast zwei Jahrzehnten mönchischen Lebens doch das „Gewand abzulegen“.160
Vgl. die oben in Anm. 153 genannten Arbeiten. Unter diesem Titel hat Wolf-Friedrich Schäufele Luthers Ablösung von seinem mönchischen Leben dargestellt. Er unterscheidet drei Phasen: den Abschied vom Mönchtum als zweite Konversion, das Experiment eines evangelischen Mönchtums und den Abschied auch davon als endgültige Absage. Schäufele, Wolf-Friedrich, „… iam sum monachus et non monachus“. Martin Luthers doppelter Abschied vom Mönchtum, in: Dietrich Korsch / Volker Leppin (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie, Tübingen 22017 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 53), 119–139. 160 Siehe oben Anm. 71. Spalatin berichtet in seinen Annalen zum Jahre 1524: „Doct. Martinus Lutherus Dom[inica] post Francisci [9. Oktober] sine cuculla Vittenbergae praedicavit. Dominica Galli [16. Oktober] ante prandium rursus in concionem cuccullatus prodiit, post prandium vero sine cuculla concionatus.“ Chronicon sive annales Georgii Spalatini a m[ense] augusto anni MDXIII usque ad finem fere anni MDXXVI, in: Johann Burkhard Mencke, Scriptorum rerum Germanicarum, praecipue Saxonicarum […], Leipzig 1728, 589–664, hier 637. 158 159
Cajetans Ablassverständnis Marcel Nieden Unter den Streitfragen in der Auseinandersetzung zwischen Martin Luther und Kardinal Cajetan nimmt die Frage der Indulgenzen eine besondere Stellung ein. Nicht nur weil sie – gleichsam als Initialfrage – im Mittelpunkt der frühen theologischen Kontroverse um den Wittenberger Reformator stand. Eine gewisse Bedeutung hatte die Ablassfrage für Cajetan auch bereits unabhängig von der aufgebrochenen Debatte gewonnen, hatte er doch in nächster zeitlicher Nähe zu den lutherschen Thesen, aber offensichtlich noch ohne ihre Kenntnis,1 am 8. Dezember 1517 eine eigene wissenschaftliche Abhandlung zum Ablass vollendet, den Tractatus de indulgentiis.2 1 Ausgehend von der Bemerkung des Odorico Rinaldi, Cajetan habe seinen Traktat angesichts des Gerüchts über eine in Deutschland entstandene Ablasskontroverse publiziert (Rinaldi, Odorico / L aderchi, Giacomo, Caesaris Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalis Baronii Annales Ecclesiastici, Bd. 31: 1513–1526, Leonis X. annus 5. – Christi 1517, n. 76, Paris 1877, 169; vgl. Cossio, Aluigi, Il Cardinale Gaetano e la Riforma, Cividale 1902, 215), ist in der neueren Literatur immer wieder Cajetans frühe Kenntnis der von Luther ausgelösten Ablasskontroverse behauptet und sein Traktat als Reaktion auf die Wittenberger Thesen gedeutet worden; so vor allem von Kalkoff, Paul, Zu Luthers römischem Prozess, in: ZKG 32 (1911), 199–258, hier 202; ders., Zu Luthers römischem Prozeß. Der Prozeß des Jahres 1518, Gotha 1912, 4; vgl. auch Groner, Josef Fulko, Kardinal Cajetan. Eine Gestalt aus der Reformationszeit, Fribourg u. a. 1951, 18. Träfe diese Deutung zu, wäre davon auszugehen, dass die deutschen Dominikaner die Ordensleitung in Rom umgehend über die Wittenberger Vorgänge informiert hätten. Zwar ist der zeitliche Abstand zwischen der Thesenversendung Luthers (31. Oktober 1517) und dem Abschluss des Ablasstraktates durch Cajetan (8. Dezember 1517) mit 38 Tagen nicht gering und Cajetans Arbeitsethos früh gerühmt worden (vgl. Kalkoff, Paul, G. B. Flavio als Biograph Kajetans und sein Bericht über Luthers Verhör in Augsburg, in: ZKG 33 [1912], 240–267, hier 256). Auch ist Cajetan kein Autor, der referenzierte theologische Gegner stets namentlich nennt, doch dürfte entscheidend sein, dass der Traktat selbst keinerlei sachlich eindeutige Hinweise auf die Thesen enthält, wie sie nach der von Kalkoff behaupteten Form der Bezugnahme zu erwarten gewesen wären; Spiegelungen, selbst auch nur indirekte Reflexe der Thesenreihe Luthers über den Ablass sind nirgends erkennbar; vgl. die behutsame Abwägung der Beobachtungen bei Felmberg, 72–80. 2 Kritische Edition des Textes: Fabisch / Iserloh II, (136) 142–168. Die von den beiden Herausgebern als Textgrundlage herangezogene Ausgabe der Opuscula omnia Cajetans (Opuscula omnia Thomae de Vio Caietani, cardinalis tituli Sancti Xisti, in tres distincta tomos […], Lyon 1562) ist allerdings fehlerhaft. Meinen Sondierungen liegt zugrunde: Thomas von Aquin / Thomas de Vio Cajetan, Tertia pars Sancti Thomae cum commentariis cardinalis Caietani. Angelici doctoris divi Thomae Aquinatis tertia pars: luculentissimis reverendissimi Thomae de Vio Caietani cardinalis Sancti Xisti commentationibus illustrata. […], [Venedig: Lucanto-
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Im Unterschied zu Luther, der bereits in den Acta Augustana das mit Cajetan in Augsburg diskutierte Problem des thesaurus ecclesiae in seiner theologischen Bedeutung gegenüber der Gewissheitsfrage relativierte,3 blieb der Ablass für Cajetan ein wichtiges Thema, das er über die Augsburger Begegnung hinaus weiter durchdachte und zu dessen lehramtlicher Klärung er mit der Vorbereitung der Bulle Cum postquam vom 9. November 1518 kirchen- und theologiepolitisch Wesentliches beitrug.4 Ich werde mich im Folgenden auf Cajetans Indulgenztraktat sowie auf die einschlägigen ablasstheologischen Quästionen der sogenannten Augsburger Traktate konzentrieren und auf der Grundlage dieser Quellen fragen, ob und inwiefern die Auseinandersetzung mit Luthers Ablasskritik Einfluss auf die Ablassanschauungen Cajetans gehabt hat.5 Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich auf die Jahre 1517 und 1518. Spätere, aber auch eventuelle frühere Äußerunnio Giunta, 1523] (EDIT 16: CNCE 29294; Expl.: Biblioteca Estense Universitaria Modena, A29468), im Folgenden zitiert als: „Tertia pars 1523“. Diese Ausgabe stellt nach dem derzeitigen Kenntnisstand die älteste Druckausgabe des Indulgenztraktates sowie der Augsburger Traktate dar und bietet, verglichen mit dem Lyoner Druck von 1562, vielfach den besseren Text; vgl. zu ihr Morerod I, 129–131. Ob bereits 1520 ein Druck von Quaestiones quodlibetales mit den genannten Traktaten erschien, wie Paulus, Nikolaus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Darmstadt 2000, 487, Anm. 377, behauptet, ist fraglich. Eine entsprechende Ausgabe konnte bislang nicht nachgewiesen werden. 3 Vgl. Luther, Martin, WA 2, 18,7–13; Brecht I, 486, Anm. 43. 4 Zur weiteren Auseinandersetzung Cajetans mit der Praxis und Theologie des Ablasses vgl. den Traktat De indulgentia plenaria concessa defunctis, quibus et quomodo prosit (Rom, 20. 11. 1519), kritisch ediert in: Felmberg, 401–409, und die einschlägigen Quästionen (De indulgentiarum thesauro, De causa indulgentiarum, De suscipientibus indulgentias) aus den Quaestiones XI de sacramentis (Rom, 19. 12. 1520), gedruckt in: Thomas de Vio Cajetan, Quaestiones de sacramentis. Commentarios eius in tertiam partem summae theologiae Sancti Thomae Aquinatis complentes (Leonina 12, 359–368). Einzelne Äußerungen zum Thema finden sich darüber hinaus vor allem in den späteren Bibelkommentaren Cajetans. Zu Cajetans Anteil an der Bulle Cum postquam vgl. Fabisch / Iserloh II, 185–190 (mit Hinweisen auf die ältere Literatur). 5 Cajetans ablasstheologische Reflexionen haben schon verschiedentlich die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Grundlegend für sein Verständnis des Ablasses in den Jahren 1517–1522 ist die Monographie von Felmberg. Ferner berühren sein Ablassverständnis in unterschiedlicher Intensität: Jäger, C[arl] F[riedrich], Cajetan’s Kampf gegen die lutherische Lehrreform, aus seinen Tractaten dargelegt, in: ZHTh 28 (1858), 431–479; Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters (wie Anm. 2), 74–79; Hennig, 48 f.67–69.89–93; Bodem, Anton, Das Wesen der Kirche nach Kardinal Cajetan. Ein Beitrag zur Ekklesiologie im Zeitalter der Reformation, Trier 1971 (TThSt 25), 141–148; Hallensleben, 499–517; Backus, Irena, Le contenu doctrinal des traités sur les indulgences, 1517, 1518, 1521–22, de Thomas de Vio-Cajétan, in: Bruno Pinchard / Saverio Ricci (Hg.), Rationalisme analogique et humanisme theologique. La culture de Thomas de Vio „Il Gaetano“. Actes du Colloque de Naples 1er – 3 novembre 1990, Neapel 1993 (Biblioteca europea 2), 239–252; Morerod II, 425–456; Walter, Peter, Unbelehrbar? Die Reaktionen der katholischen Kontroverstheologie auf Luthers Ablasskritik, in: Andreas Rehberg (Hg.), Ablasskampagnen des Spätmittelalters. Luthers Thesen von 1517 im Kontext, Berlin u. a. 2017 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 132), 629–654, hier 646–649.
Cajetans Ablassverständnis
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gen Cajetans müssen hier unberücksichtigt bleiben.6 Der Indulgenztraktat bietet wegen seines grundsätzlichen Anspruchs eine geeignete Folie, auf der sich die ablasstheologischen Überlegungen der rund ein Jahr später verfassten Augsburger Traktate betrachten lassen. Damit legt sich für meine Sondierungen ein dreistufiges Vorgehen nahe: In einem ersten Schritt werde ich einige signifikante Züge der Ablasslehre Cajetans nach dem Tractatus de indulgentiis herausstellen, in einem zweiten Schritt sodann die Auseinandersetzung mit Luthers Ablasskritik in den Augsburger Traktaten untersuchen. Abschließend werde ich der Frage nachgehen, ob und inwiefern die literarische Auseinandersetzung mit Luther Cajetan zu Modifikationen, Revisionen, Umakzentuierungen seines eigenen Ablassverständnisses veranlasst hat.
1. Der Tractatus de indulgentiis (8. Dezember 1517) Wie Cajetan in seiner Widmungsvorrede an Kardinal Giulio de’ Medici (1478– 1534), den nachmaligen Papst Clemens VII. (1523–1534), andeutet,7 war die Beobachtung, dass es über die Kraft („vis“) der Ablässe „verschiedene Ansichten der Professoren sowohl des päpstlichen Rechts als auch der Theologie gibt“,8 ausschlaggebend für die Abfassung des Traktates. Es sind ‚Unsicherheiten‘ in 6 Frühere Äußerungen zum Ablass sind womöglich in dem Cajetan zugeschriebenen Sentenzenkommentar der Pariser Nationalbibliothek zu finden – vor allem in dem Kommentar zur 20. Distinktion des vierten Buches, dem klassischen Ort der Behandlung ablasstheologischer Fragen im Rahmen der scholastischen Sentenzenkommentierung (Bibliothèque Nationale de France Paris, Fond latin, Codex 3076, fol. 639v–642r). Groner, Kardinal Cajetan (wie Anm. 1), 66, datiert den Kommentar ins Jahr 1494. Die Authentizität des Pariser Sentenzenkommentars ist allerdings umstritten; vgl. etwa die unterschiedlichen Einschätzungen bei Bosshard, Stefan Nikolaus, Zwingli – Erasmus – Cajetan. Die Eucharistie als Zeichen der Einheit, Wiesbaden 1978 (VIEG 89), 109, Anm. 1, und Felmberg, 179 f. Eine historisch-kritische Untersuchung des Kommentars steht nach wie vor aus. Die kurzen und von etlichen Lücken unterbrochenen Ausführungen zur 20. Distinktion werden in meine Überlegungen nicht einbezogen. 7 Zu den Hintergründen der Widmung an Kardinal Giulio de’ Medici vgl. Felmberg, 76, Anm. 14. 8 Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis, Prologus (Tertia pars 1523, 211v): „De quarum [sc. indulgentiarum, M. N.] vi quum varias & pontificii iuris & theologie professorum opiniones esse animadverterem, libuit mihi pro me consuetudine/ […] pro virili mea hic quoque in summam compendiumque redigere/ […].“ Die Ablassthematik war komplex und wurde von spätmittelalterlichen Theologen und Kanonisten kontrovers diskutiert. Ein etwas harmonisierendes Bild vom consensus doctorum zeichnet Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang (wie Anm. 2), 418–422. Unabhängig von der Frage, inwieweit der von Paulus betonte Konsens der historischen Diskussionslage entspricht, dürfte unzweifelhaft sein, dass im Jahr 1517 nur erst wenige konziliare und päpstliche Äußerungen von unumstritten-lehramtlicher Offizialität zur Thematik vorlagen. Am wenigsten fraglich waren in dieser Hinsicht wohl noch die Verurteilungen einzelner häretischer Lehrsätze (Wiclif, Hus, Petrus von Osma); vgl. zum Stand lehramtlicher Festlegungen insgesamt Poschmann, Bernhard, Buße und Letzte Ölung, Freiburg i. Br. u. a. 1951 (HDG 4/3), 116–123; Vorgrimler, Herbert, Buße und Krankensalbung, Freiburg i. Br. u. a. 21978 (HDG 4/3), 209–211.
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der Ablasstheorie, nicht Missstände der Ablasspraxis, die Cajetan zur Abfassung des Traktates bewogen haben.9 Cajetan verfolgt mit ihm das Ziel, eine kurze Zusammenfassung dessen zu bieten, „was das überhaupt ist, was wir gleichsam als rechtsgültig und sicher bezüglich dieser Art von Nachlässen haben“.10 Es geht ihm um eine Art Unterscheidungslehre zwischen Sicherem und Unsicherem in dieser Frage.11 Dazu beabsichtigt er, diejenigen Elemente der Ablasslehre herauszuarbeiten, die seiner Meinung nach unmittelbar in den kirchenrechtlichen Quellen enthalten sind oder sich als Konsequenzen zwingend daraus ergeben.12 Angesichts der Schwierigkeiten, die päpstlichen Verlautbarungen zu deuten und insbesondere in ihrem Charakter richtig einzuschätzen, verwundert es freilich nicht, dass Cajetan, obgleich er als Theologe mit seiner ‚kanonistischen Rekonstruktion‘ die allgemein verbindlichen Züge des Ablasses anvisiert, dann doch ein Indulgenzverständnis von einem in der damaligen Diskussion durchaus eigenständigen Profil gewinnt. Eine Eigenheit wird bereits an der ‚histori 9 Vgl. Lauchert, Friedrich, Die italienischen literarischen Gegner Luthers, Freiburg i. Br. 1912 (Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes 8), 140. Mit dem Interesse an der ablasstheologischen Diskussion ist bei Cajetan freilich das Interesse an einer Reform des kirchlichen Ablasswesens unlösbar verbunden. Auf die Bußbereitschaft seiner Zeitgenossen kommt Cajetan mit kritischem Unterton zu sprechen; vgl. ders., Tractatus de indulgentiis c. 7 (Tertia pars 1523, 213v): „quod constat non amplecti a modernis penitentibus, quibus pro multis & magnis peccatis exigua penitentia sufficit.“ Vgl. auch die Beschwörung der Rückkehr eines „Goldenen Zeitalters“ der Buße am Ende des Indulgenztraktates, ders., Tractatus de indulgentiis c. 10 (Tertia pars 1523, 214r). Dass sich seine Ausführungen in c. 10, wo das (zeitliche) Verhältnis von Ablass und Beichte bestimmt wird, gegen „die laxen Ansichten mancher Ablaßprediger“ richten, behauptet Jäger, Cajetan’s Kampf (wie Anm. 5), 441. Cajetan betont im Tractatus de indulgentiis mehrfach die Voraussetzung der wahren Reue und Beichte, fordert also echte Bußgesinnung und setzt selbstverständlich den Gnadenstand aufseiten des Ablasserwerbenden voraus; vgl. die Nachweise bei Morerod II, 432, Anm. 687; dazu eingehender Felmberg, 138–148.174–183. Auch wendet sich Cajetan (mit Thomas von Aquin) gegen die Spendung „ununterschiedener“ Ablässe; vgl. Backus, Le contenu doctrinal (wie Anm. 5), 243, 251; Felmberg, 158–160. 10 Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis, Prologus (Tertia pars 1523, 211v): „[…] quid illud denique sit quod tanquam ratum certumque de huiusmodi remissionibus habeamus.“ 11 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 10 (Tertia pars 1523, 214r): „neque enim ea scripsimus ratione vt alios dirigeremus, sed inter certa ambiguaque discernere sat fuerit.“ 12 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 1 (Tertia pars 1523, 211v). Der theologiegeschichtliche Hintergrund des cajetanschen Ablassverständnisses ist noch nicht genauer erforscht worden. Neben den kirchenrechtlichen Quellen, vor allem den päpstlichen Verlautbarungen, sind die Kirchenväter, Philosophen, Scholastiker und Kanonisten bekannt, die Cajetan in seinem Indulgenztraktat und in seinen Augsburger Traktaten namentlich nennt. Mit direkten und indirekten Bezugnahmen und Anspielungen auf weitere, ungenannte Autoren ist indes zu rechnen. Der Versuch von Morerod II, 450–452, auf der Grundlage des Standardwerkes von Paulus zu Cajetans Verständnis des Fegefeuers in den Augsburger Traktaten einige „unmittelbare Vorläufer“ unter den Paduaner und Bologneser Kanonisten zu identifizieren, bleibt allerdings fraglich; vgl. Felmberg, 145, Anm. 226.
Cajetans Ablassverständnis
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schen‘ Perspektivierung des Ablasses sichtbar.13 Prononciert wird zu Beginn der ‚Wesensbetrachtung‘ des Ablasses („Quid est indulgentia.“14) auf dessen nachbiblische, ja nachpatristische Entstehung verwiesen und im Anschluss an den dominikanischen Thomaskritiker Durandus de Sancto Porciano (1270/75–1334) mit deutlichem Vorbehalt konstatiert, dass die Theologen seit etwa dreihundert Jahren, da Bibel und Kirchenväter zu den Ursprüngen der Ablässe schwiegen, den Beginn der kirchlichen Ablasspraxis auf die von Gregor dem Großen den römischen Stationskirchen gewährten Ablässe zurückführten.15 Noch deutlicher zeigt sich die geschichtliche Betrachtungsweise an der Beobachtung eines durch die Verkündigung der Lehre vom thesaurus ecclesiae bedingten Wandels im Verständnis des Ablasses. Habe man noch im Hochmittelalter den Ablass vorwiegend als einen Nachlass der auferlegten Bußstrafen verstanden, so sei mit der erstmaligen Verkündigung des römischen Jubiläumsablasses durch Bonifatius VIII. (1294–1303) im Jahr 1300 der Aspekt der Austeilung von Genugtuungen aus dem Kirchenschatz immer mehr in den Vordergrund der Ablasstheologie und -praxis getreten.16 Cajetan sucht demgegenüber wieder bewusst an das Verständnis des Ablasses ‚von einst‘ („sed illius que olim fiebat“17) 13 Vgl.
dazu ebd., 81–100 („B. Der historische Ansatz“). de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 1 (Tertia pars 1523, 211v). 15 Vgl. ebd.: „verum quia nulla sacre scripture/ nulla priscorum doctorum grecorum aut latinorum auctoritas scripta hunc ad nostram deduxit notitiam: sed hoc solum a trecentis annis scripture commendatum est de vetustis patribus quod beatus gregorius indulgentias stationum instituit: vt in 4. sententiarum divi thome habetur.“ Vgl. Thomas von Aquin, Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi IV d. 20 a. 3 qla. 2 sol. (Scriptum Super Sententiis 4, ed. Maria Fabianus Moos, Paris 1947, 1028, n. 92). Zu Durandus de Sancto Porciano vgl. Paulus, Nikolaus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter. Vom Ursprunge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Bd. 1, Darmstadt 2000, 248–251; Felmberg, 87–89. Dass Gregor I. das kirchliche Ablasswesen mit der Gewährung der Stationsablässe begründet habe, war eine im Mittelalter gängige, wenn auch historisch unzutreffende Ansicht; vgl. Paulus, Nikolaus, Die Ablässe der römischen Kirchen vor Innocenz III., in: HJ 28 (1907), 1–8, hier 1–3; Jedin, Hubert, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 3: Bologneser Tagung (1547/48). Zweite Trienter Tagungsperiode (1551/52), Freiburg i. Br. u. a. 21982, ND Darmstadt 2017, 83. Die Bedeutung Gregors I. für die Geschichte des Ablasswesens ist nach Bernhard Poschmann weniger in den fiktiven Stationsablässen als vielmehr in der Beförderung der Absolutionen (Fürbitte um Sündennachlass) und eines entsprechenden fürbittend-unterstützenden Priesterideals zu sehen; vgl. ders., Der Ablass im Licht der Bussgeschichte, Bonn 1948 (Theophaneia 4), 12 f.; ders., Busse und Letzte Ölung (wie Anm. 8), 113. 16 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 6 (Tertia pars 1523, 212v): „conferenti vero posteriores indulgentias priscis, apparet ecclesiam olim fuisse vsam indulgentijs principaliter per modum absolutionis, quam necessario comitatur dispensatio thesauri: a tempore autem bonifacij 8. primi authoris perhennis iubilei vsam fuisse principaliter indulgentijs distributione thesauri, & concomitanter absolutione a penitentia: quoniam tanta abundantia indulgentiarum plenariarum quanta vix credi potest passim data, super hoc fundari videtur.“ 17 Ebd.: „Et secundum hoc diffinitio indulgentie collecta ex sacris canonibus quam assignauimus/ non est diffinitio indulgentie que modo fit ab ecclesia romana, sed illius que olim fiebat: quoniam sacri canones loquuntur de indulgentia que erat consueta in ecclesia, & non de illa que poterat inueniri de nouo.“ Vgl. auch die Orientierung an der „älteren“ Lehre, Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 10 (Tertia pars 1523, 214r): „Et dicendum est cum 14 Thomas
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anzuknüpfen, wenn er den Ablass im Indulgenztraktat wie folgt definiert: „Es ist also der kirchliche Ablass […] eine Lossprechung von der im Bußforum auferlegten Strafe.“18 Diese Definition ergibt sich für ihn in ihren wesentlichen Bestandteilen aus dem Kirchenrecht, und zwar aus der Dekretale Quod autem Alexanders III. (1159–1181) und dem Kanon Cum ex eo des vierten Laterankonzils (1215).19 Genus wie spezifische Differenz der Definition sind bemerkenswert: 1) Der Ablass ist seinem Wesen nach ein Nachlass („absolutio“) von auferlegten Bußstrafen, erst in zweiter Linie ist er auch eine Austeilung („distributio“) von Satisfaktionen aus dem Kirchenschatz.20 Cajetan versteht den Ablass als einen Akt des Strafnachlasses mit ‚angehängter‘ Austeilung von Genugtuungsleistungen aus dem Kirchenschatz. Die „distributio“ begründe allerdings erst die Wirksamkeit der „absolutio“ vor Gott.21 Cajetan meint zwar, dass die Kirche, rein ipsis indulgentie verbis/ & antiquore vt apparet mihi doctrina, quod tempus vere penitentie & tempus confessionis est vnum & idem ad capessandam indulgentiam/ […].“ 18 Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 2 (Tertia pars 1523, 211v): „Est igitur ecclesiastica indulgentia (colligendo omnia certa ex sacris canonibus) absolutio ab iniuncta penitentia in foro penitentiali.“ 19 Zum Bußforum vgl. X.5.38.4, Quod autem (ed. Friedberg II, 885): „[…] hoc volumus tuam fraternitatem [firmiter] tenere, quod, quum a non suo iudice ligari nullus valeat vel absolvi, remissiones praedictas prodesse illis tantummodo arbitramur, quibus, ut prosint, proprii iudices specialiter indulserunt.“ Zu den „auferlegten Bußstrafen“ vgl. X.5.38.14, Cum ex eo (ed. Friedberg II, 889; DH 422009, 819): „[…] ac deinde in anniversario dedicationis tempore XL. dies de iniunctis poenitentiis indulta remissio non excedat.“ Cajetans Präferenz dieser Rechtstexte gegenüber der Bulle Unigenitus hat meines Erachtens weniger mit einer Unterscheidung zwischen offiziellen päpstlichen Verlautbarungen und päpstlichen Gelegenheitsäußerungen zu tun; sie verdankt sich vielmehr der Orientierung am hochmittelalterlichen Ablassverständnis, das Cajetan gerade durch Unigenitus in eine neue Richtung gelenkt sieht; gegen Bagchi, David, Luther’s Ninety-five Theses and the Contemporary Criticism of Indulgences, in: Robert Norman Swanson (Hg.), Promissory Notes on the Treasury of Merits. Indulgences in Late Medieval Europe, Leiden u. a. 2006 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 5), 331–355, hier 348 f. 20 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 6 (Tertia pars 1523, 212v): „Unde vnius rationis de facto esse indulgentiam nunc & olim colligimus: & ipsam primo esse absolutionem comitatam applicatione thesauri ad hunc cui datur indulgentia, & non econtra: hoc est ipsam esse applicationem thesauri ad hunc comitatam absolutione ipsius, canon sepe dictus Alexandri 3. monstrat & conuincit.“ An anderer Stelle kann Cajetan die Stellung der „distributio“ zur „absolutio“ noch genauer als ein „accessorie comitari“ bezeichnen; vgl. ebd. Die Qualifizierung des Ablasses als „absolutio“ im Unterschied zur „distributio“ gilt nach dem Indulgenztraktat gerade auch im Blick auf die Verstorbenen, denen der Nachlass lediglich auf andere Weise, nämlich „per modum suffragii“ gewährt wird; vgl. ders., Tractatus de indulgentiis c. 5 (Tertia pars 1523, 212v): „Et potes videre quod ex hoc ipso diuerso modo dandi indulgentiam viuis & defunctis, insinuatur intentum; nam ex eo quod non audens ecclesia defunctis auctoritative remittere penas sicut viuis/ suffragantis personam induit concedendo defunctis indulgentiam, monstratur quod indulgentia simpliciter & absolute remissio est auctoritative ab ecclesia facta.“ 21 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 6 (Tertia pars 1523, 213r): „[…] restat vt indulgentia sit essentialiter absolutio: cui annectitur dispensatio ecclesiastici thesauri ad hoc vt absolutio a pena/ sit efficax non solum quo ad ecclesiam, sed etiam coram deo. Et si perspicaciter intuiti fuerimus ordinem manifestati vsus thesauri ad vsum indulgentie, videbimus ex eo intentum scilicet quod indulgentia est essentialiter absolutio.“ Vgl. Jäger, Cajetan’s Kampf
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unter Vernunftgesichtspunkten betrachtet, nach beiden Modi Ablässe verteilen könne;22 doch von der faktischen kirchlichen Praxis („ex facto“) her, die er durch die Dekretale Alexanders III. reguliert sieht, erkennt er im Lossprechen das primäre, wesensbestimmende Moment des Ablasses. Das bedeutet wiederum, dass er den Ablass zuerst und vor allem als einen Akt der kirchlichen Rechtsprechung versteht. Denn Binden und Lösen (Nachlassen) sind Akte der Jurisdiktion.23 2) Die spezifische Differenz legt die Nachlassmaterie auf die im kirchlichen Bußforum „auferlegten Bußstrafen“, die „poenitentiae iniunctae“, fest. Sie bindet den Ablass, und zwar ausdrücklich nicht nur den Ablass für die Lebenden, sondern auch den für die Verstorbenen,24 an das Bußforum.25 Das heißt: Nachgelassen werden nur die Strafen, die vom Priester im Bußsakrament faktisch zuvor auferlegt wurden. Die Bußauflage setzt für Cajetan voraus, dass der Pönitent wahrhaft Reue gezeigt und gebeichtet hat und somit von der ewigen Schuld befreit (wie Anm. 5), 437. Felmbergs Deutung des Verhältnisses von „absolutio“ und „dispensatio“ nach dem Modell von Substanz und Akzidens vermag insofern nicht recht zu überzeugen (vgl. ders., 127 f.130.184.391 u. ö.), als entsprechende terminologische Anhaltspunkte im Tractatus fehlen. Cajetans Ausführungen deuten eher auf ein Konkurrenzmodell hin – im Sinne eines Zusammenlaufens („concurrere“) zweier essenzieller Akte, deren sachliche Reihenfolge zu klären ist. 22 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 6 (Tertia pars 1523, 212v): „Quid autem horum verius sit/ non ex ratione sed ex facto pendet. nam rationi consentaneum est/ quod ecclesia vtroque modo potest indulgentias facere: sed an de facto indulgentias altero tantum & quo aut vtroque modo faciat, scire oportet si indulgentie natura cognoscenda est.“ 23 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 2 (Tertia pars 1523, 211v): „est enim absolvere sicut & ligare actus iurisdictionis.“ 24 Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 7 (Tertia pars 1523, 213v): „Ab iniuncta igitur tantummodo penitentia/ ecclesiastica indulgentia de iure communi liberat tam viuos quam defunctos: idem est enim quod per indulgentiam viuis & defunctis datur, licet modus dandi sit diversus: vt patet ex dictis.“ Zum Bedeutungsspektrum des Begriffs „poenitentia“, der in der spätmittelalterlichen Diskussion unter anderem speziell die vom Priester im Rahmen des Bußsakraments auferlegten Bußsatisfaktionen bezeichnen konnte, vgl. Altenstaig, Johannes, Vocabularius Theologiae complectens vocabulorum descriptiones, diffinitiones et significatus ad theologiam utilium […], Hagenau: Heinrich Gran; Augsburg: Johann Rynmann, 1517, CXCIv–CXCIIIIr (VD16 A 1992, Expl.: HAB Wolfenbüttel, B 49.2° Helmst. (1); url: http:// diglib.hab.de/drucke/b-49-2f-helmst-1 [abgerufen am 17. 01. 2021]). 25 Das Bußforum ist der Ort des Nachlasses wie der Auflage der Bußstrafen; vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 2 (Tertia pars 1523, 211v): „Et est sensus quod indulgentia est absolutio in foro penitentiali a penitentia iniuncta in foro penitentiali.“ Cajetans Gebrauch des Begriffs „forum poenitentiale“ (seltener „forum poenitentiae“) wäre eigens zu untersuchen. Der Begriff, den Cajetan in seinen Quaestiones XI de sacramentis (1520) dem Begriff des äußerlichen Forums der kirchlichen Jurisdiktion („forum extrinsecae iurisdictionis ecclesiasticae“) gegenüberstellen kann (vgl. ders., Quaestiones de sacramentis, Quaestiones de thesauro indulgentiarum q. 1 n. III [Leonina 12, 359a]), scheint vor allem das die Gottesbeziehung betreffende sakramentale (Bußsakrament), aber auch außersakramentale (Ablass) Versöhnungshandeln der Geistlichen zu bezeichnen; vgl. die begriffsgeschichtlichen Bemerkungen bei Mörsdorf, Klaus, Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni, in: MThZ 8 (1957), 161–173.
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ist.26 Außerdem geht Cajetan davon aus, dass sich der Priester bei der Festlegung der Bußauflage an den „sacros canones“ orientiert.27 Die vom Priester nach dem Maß der Bußcanones taxierten und tatsächlich auferlegten Pönitenzen sind nach Cajetan die alleinige „Nachlassmaterie“.28 Das gilt ausdrücklich auch im Blick auf den Plenarablass, der gleichermaßen allein von den „auferlegten Bußstrafen“ befreit.29 Im Unterschied zu diesem recht engen Verständnis der Ablassmaterie hatte die Mehrzahl der Theologen des Hoch- und Spätmittelalters die Ablässe auch auf die sogenannten aufzuerlegenden Bußstrafen („poenitentiae iniungendae“) Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 2 (Tertia pars 1523, 211v–212r): „Monstratur nihilominus ex eadem particula [sc. ab iniuncta penitentia, M. N.] qualitas subditi cui confertur indulgentia: quod scilicet sit vere penitens & confessus. Nam quia in sacramento penitentie non ligat ad penam sacerdos iniungendo penitentiam nisi absoluendo a culpa: & prius natura absoluit quam ligat (quia obligatio ad penam temporalem supponit remissionem culpe: absolui autem a culpa ab ecclesiastico iudice nullus potest nisi vere penitens & confessus) ideo ex hoc ipso quod indulgentia est absolutio a pena iniuncta in foro penitentiali, monstratur quod recipiens indulgentiam debet esse vere penitens & confessus: attestante consueta forma indulgentiarum, in qua dicitur/ vere penitentibus & confessis.“ Cajetan fordert die vollzogene Beichte („confessio actualis“) als Voraussetzung zur Ablassgewinnung; vgl. ders., Tractatus de indulgentiis c. 10 (Tertia pars 1523, 214r). Damit unterscheidet er sich von seinem älteren Zeitgenossen Silvester Prierias und anderen Theologen, die meinten, dass die Reue oder der Gnadenstand zum Indulgenzerwerb genüge – verbunden mit der Absicht zu beichten („confessio in voto“); vgl. Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters (wie Anm. 2), 97.361. 27 Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 7 (Tertia pars 1523, 213r): „Sed ecclesia sicut presupponit homines egere remissione penarum debitarum pro suis peccatis, ita presupponit vere penitentibus & confessis iniunctas esse penitentias secundum sacros canones, pensata tamen qualitate personarum et alijs merito pensandis: […].“ Ob Cajetan bei den „sacri canones“ an eine bestimmte Sammlung dachte (etwa die Canones poenitentiales Astesani) oder an die Canones, die in das Corpus iuris canonici eingegangen sind, muss hier offenbleiben; vgl. zu den nachgratianischen Canones-Sammlungen Wasserschleben, Friedrich Wilhelm (Hg.), Die Bussordnungen der abendländischen Kirche nebst einer rechtsgeschichtlichen Einleitung, Halle (Saale) 1851, 96–98; Schmitz, Hermann Joseph, Die Bussbücher und die Bussdisciplin der Kirche. Nach handschriftlichen Quellen dargestellt, Bd. 1, Mainz 1883, 792–799. 28 Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 7 (Tertia pars 1523, 213r): „Est ergo iniuncta penitentia & principalis & sola materia indulgentie secundum sacros canones intellecte.“ Vgl. auch ders., Tractatus de indulgentiis c. 2 (Tertia pars 1523, 211v): „Sed materia circa quam [sc. indulgentie, M. N.] exercetur, per subiunctam particulam monstratur, quum subiungitur/ ab iniuncta penitentia.“ Ferner oben Anm. 24. Dass es hier nicht um die von den Bußkanones zwar vorgeschriebenen, aber vom Priester womöglich gar nicht auferlegten Strafen geht, sondern allein um die de facto auferlegten Strafen, wird von Cajetan betont; vgl. ders., Tractatus de indulgentiis c. 7 (Tertia pars 1523, 213r): „Et si queratur an intelligatur hic de penitentia iniuncta tam a iudice quam a iure/ an de iniuncta tantum a iudice. respondetur quod quum a iure nulli sit penitentia iniuncta/ sed taxata iniungenda, ideo dicendo quod liberat solum ab iniuncta/ soluta est questio. Et probatur quod dicitur: quia ad penitentiam iniunctam ille cui iniuncta est tenetur: nullus autem tenetur ad penitentias taxatas in canonibus penitentialibus nisi sibi specialiter imponantur: igitur penitentie ille non sunt iniuncte.“ 29 Ebd.: „Nec obstat quando fit plenaria indulgentia: quoniam plenitudo etiam plenissima non mutat substantiam/ sed auget quantitatem ipsius substantie: ut patet. Et propterea si penitentia a qua liberat indulgentia est substantialiter penitentia iniuncta, quantumcunque indulgentia sit plenissima non liberat nisi ab iniuncta.“ 26
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bezogen, worunter man meist diejenigen Bußstrafen verstand, die dem Pönitenten eigentlich hätten auferlegt werden müssen, um die von Gottes Gerechtigkeit geforderte zeitliche Sündenstrafe in toto abzubüßen.30 Diese Ansicht war wohl einer zunehmend laxeren Bußpraxis geschuldet, deren milde Bußauflagen man offenbar nicht mehr für allzu weitreichend im Blick auf die Tilgung der vor Gott bestehenden zeitlichen Sündenstrafe ansah.31 Sie lag zum anderen aber auch in der Konsequenz der im 13. Jahrhundert ausgebildeten Lehre vom thesaurus ecclesiae und dem damit gegebenen unerschöpflichen ‚transzendenten‘ Genugtuungsreservoir, das nun für den beim Ablass immer schon erhofften jenseitigen Strafnachlass einen ungleich sichereren Realgrund als die bloße, von alters her praktizierte Fürbitte anzunehmen erlaubte. Dadurch lockerte sich die Bindung des Nachlasses an das kirchlich auferlegte Strafmaß erheblich. Bereits Thomas von Aquin verstand den Ablass primär und unmittelbar als Nachlass der von Gott auferlegten zeitlichen Sündenstrafen, unabhängig davon, ob zu deren Tilgung eine schon hinreichende kirchliche Bußstrafe auferlegt war oder nicht.32 Cajetan lehnt die Ansicht des Thomas ab mit Verweis auf den Kanon Cum ex eo des vierten Laterankonzils und die Dekretale Nostro postulasti Honorius’ III. (1216–1227), aber auch die Ablassausschreibungen, in denen expressis verbis nur von „auferlegten Bußstrafen“ die Rede sei.33 Nicht zuletzt sieht er sich auch darin durch die kirchliche Praxis bestätigt, dass der Papst den Umfang der Nachlässe in der Orientierung an den alten Bußcanones bemisst.34 Allerdings lässt er die 30 Vgl. Paulus, Nikolaus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter. Vom Ursprunge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Bd. 2, Darmstadt 2000, 162 f. Die Bedeutung des Begriffs setzte sich erst allmählich durch. Er bezeichnete zunächst meist nur die Bußstrafen, die aus persönlichem Verschulden des Pönitenten (keine oder unvollständige Beichte) oder des Priesters (irrtümliche Taxierung) faktisch nicht auferlegt worden waren, stand dann aber bald schon für die Bußstrafen, die über die Bußauflage hinausgehend nötig waren, um alle bei Gott bestehenden zeitlichen Sündenstrafen zu tilgen; vgl. ebd., 162. 31 So schon Bellarmin, Roberto, De indulgentiis, et iubileo. libri duo lib. 1 c. 7, Köln: Anton Hierat d. Ä., 1599, 48 (VD16 B1614; Expl.: BSB München, Polem. 225; url: http://mdznbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10193110-2 [abgerufen am 20. 06. 2019]). 32 Vgl. der Sache nach vor allem Thomas von Aquin, Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi IV d. 20 a. 3 qla. 1 sol. (Scriptum Super Sententiis 4, ed. Maria Fabianus Moos, Paris 1947, 1026, n. 79): „Et ideo aliter dicendum quod valent et quantum ad forum Ecclesiae et quantum ad judicium Dei ad remissionem poenae residuae post contritionem et absolutionem et confessionem, sive sit injuncta sive non.“ Vgl. Poschmann, Der Ablass im Licht der Bussgeschichte (wie Anm. 15), 87 f.; ders., Buße und Letzte Ölung (wie Anm. 8), 118. 33 Zum Kanon Cum ex eo siehe oben Anm. 19. Ferner X.5.38.15, Nostro postulasti (ed. Friedberg II, 889): „Nos igitur fraternitati tuae breviter respondemus, quod per provinciam tuam libere potes huiusmodi concedere literas, ita tamen, quod statutum generalis concilii non excedas.“ Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 7 (Tertia pars 1523, 213r): „Et licet doctorum opinio/ quam etiam sequutum se dicit diuus thomas magnifacienda sit: quia tamen huius rei veritas ex facto pendet & in facto consistit, & sacri canones solum de iniuncta faciunt mentionem: ideo tenendo certum & dimittendo incertum/ diffinita est indulgentia quod est absolutio a penitentia iniuncta“. 34 Vgl. ebd.
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genannte Ansicht dann doch insofern gelten, als nicht auszuschließen sei, dass sich der Ablass auch auf die aufzuerlegenden Bußstrafen erstrecken könne.35 Cajetan wäre zudem missverstanden, wenn man ihm unterstellte, er habe im Ablass von den „poentientiae iniunctae“ nur einen Nachlass der kirchlichen Bußauflagen gesehen – ohne Wirksamkeit vor Gott.36 Gegenüber dieser, auch von Luther in den Jahren 1517/18 vertretenen Auffassung hält Cajetan unzweideutig an der Gültigkeit des Nachlasses der kirchlichen Bußstrafe im forum Dei fest.37 Auch ein Ablass, der sich nur auf die vom Priester auferlegten Bußstrafen bezieht, reduziert das von der göttlichen Gerechtigkeit geforderte Satisfaktionsquantum. Eigene Wege geht Cajetan schließlich in der Frage des Ablassgrundes, unter dem er im Indulgenztraktat das Werk begreift, das der Ablassempfänger vollbringen muss, damit ihm ein Ablass legitimerweise gewährt werden kann.38 Einen Nachlass zeitlicher Sündenstrafen bei Gott ohne büßende Eigenbeteiligung des Sünders kann sich Cajetan so wenig vorstellen wie die meisten anderen scholastischen Theologen auch.39 Diskutiert wurde jedoch seit der Frühscholastik die 35 Vgl. ebd. (Tertia pars 1523, 213v): „At si dixerit quispiam quum hodie non iniungantur frequenter penitentie indigentes tanto tempore, vanus erit accessus ad indulgentias. Respondetur quod propterea non est vanus: quia per indulgentias relaxantur penitentie iniuncte que sunt facte in peccato mortali. que etsi in foro ecclesie exolute erant, non tamen in foro dei: & propterea per indulgentias remittuntur, vtpote iniuncte & non adhuc deo exolute. Doctrina igitur dicentium indulgentiam ad iniunctas & non iniunctas penitentias se extendere, vera est quantum est ex efficacia possibili convenire indulgentie: nos autem dicentes indulgentiam remittere penitentias iniunctas tantum, verum quoque dicimus de indulgentia secundum iuris formam concessa.“ Die Ausgabe der Opuscula omnia Cajetans (Lyon 1562), die Fabisch / Iserloh ihrer Edition zugrunde legen, liest irrtümlich „populi“ statt „possibili“; vgl. dies. II, 161. 36 So etwa Jedin, Geschichte des Konzils von Trient 3 (wie Anm. 15), 78; Bagchi, Luther’s Ninety-five Theses (wie Anm. 19), 349. Vgl. auch Hallensleben, 506, Anm. 32. 37 Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 7 (Tertia pars 1523, 213r): „hinc emanauit opinio illa quamuis falsa, quod indulgentie solum valent quo ad forum ecclesie militantis: […].“ Zur Parallelisierung von Buße und Ablass hinsichtlich der Wirkung vor Gott vgl. ders., Quaestiones de sacramentis, Quaestiones de thesauro indulgentiarum q. 1, VI (Leonina 12, 359 f.); vgl. Paulus, Geschichte des Ablasses 1 (wie Anm. 15), 395, Anm. 39. Zu Luthers These vgl. ders., WA 1, 233,18 f.: „5 Papa non vult nec potest ullas penas remittere preter eas, quas arbitrio vel suo vel canonum imposuit.“ Und dazu WA 1, 536,18–22: „Cui et ego respondeo, impiissimum esse sentire, quod Papa habeat potestatem mutandi ius divinum et id relaxare quod iusticia divina inflixit. Non enim dicit ‚Quodcunque ego ligavero, tu solves‘ [Mt 16,19], sed ‚quod tu solves, solutum erit, Non autem omnia ligata solves, sed a te ligata duntaxat, non a me ligata‘.“ So auch WA 1, 244,11–14.284,24–26.386,22–387,6.655,3–6. Vgl. ferner die Inkriminierung durch die Löwener Theologen, WA 6, 176,18–20, und die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine vom 15. Juni 1520 (DH 422009,1469): „19. Indulgentiae his, qui veraciter eas consequuntur, non valent ad remissionem poenae pro peccatis actualibus debitae apud divinam justitiam.“ 38 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 8 (Tertia pars 1523, 213v): „Dicendum est igitur ad questionem/ quod non quecunque causa sufficit ad indulgentiam dandam/ sufficit etiam ad quantamcunque indulgentiam dandam: ac per hoc indulgentia data sine legitima causa ad dandam tantam indulgentiam, non valet quo ad quantitatem in qua exceduntur limites legitime cause.“ 39 Vgl. Poschmann, Buße und Letzte Ölung (wie Anm. 8), 117, konstatiert im Blick auf die
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Frage der Verhältnismäßigkeit des oftmals geringen Ablasswerkes im Vergleich zur Größe des mit dem Ablass gewährten Strafnachlasses. Nach der Rezeption der im 13. Jahrhundert entwickelten Lehre vom thesaurus ecclesiae durch die 1343 promulgierte Bulle Unigenitus Clemens’ VI. (1342–1352) stand die damalige Diskussion dieser Frage im Bann eines Dilemmas: Eine strikte Entsprechung von Ablasswerk und Ablassumfang zu fordern, hätte die Wirkung der Ablässe stark begrenzt und den Strafnachlass damit ‚verunsichert‘; Ablasswerk und Ablassumfang gänzlich zu entkoppeln, wiederum hätte den Bußernst gefährdet. Cajetan versucht, angesichts des skizzierten Dilemmas einen Mittelweg zu gehen, indem er zwischen dem Strafnachlass und dessen Zuwendung unterscheidet. Beide haben verschiedene Ursachen. Nur die Zuwendung erfordere aufseiten des Empfängers eine „causa sufficiens“,40 nicht aber der Strafnachlass selbst, dessen eigentliche Ursache die Leiden Christi und der Heiligen seien.41 Als „hinreichende“ Ursache der Zuwendung eines Strafnachlasses kommt für Cajetan nur ein solches Werk in Frage, das einen speziellen Nutzen für die Kirche hat. Was aber der Kirche von Nutzen sei, könne letztlich niemand besser bestimmen als der Papst.42 Dieser Gedanke folgt mit innerer Konsequenz aus den bisherigen Überlegungen Cajetans zur Rolle des Papstes bei der Ablassvergabe. Ist der Papst (und nicht die Kirche) der vollmächtige Verwalter des Kirchenschatzes,43 liegt es frühmittelalterlichen Theologen: „Unverrückbar aber halten alle daran fest, daß eine Vergebung schlechthin, ohne entsprechende Bußleistung, ausgeschlossen ist.“ 40 Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis, c. 8 (Tertia pars 1523, 214r): „[…] sed dicimus quod actus dandi indulgentiam oportet quod habeat causam sufficientem ad hoc quod tanta applicatio passionum christi & sanctorum ad hos nunc etc. sit vere dispensatio earundem.“ Die Ausgabe der Opuscula omnia Cajetans (Lyon 1562), die Fabisch / Iserloh ihrer Edition zugrunde legen, liest irrtümlich „causam insufficientem“; vgl. dies. II, 165. 41 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 8 (Tertia pars 1523, 213v): „Ad obiecta autem in oppositum/ dicimus quod inter duas extremas opiniones incedimus medii. Putantes enim efficaciam indulgentie quantificari secundum causam indulgentie extremi sunt. contra quos divus thomas processit: quia causa indulgentie non est propria causa remissionis pene, que est fructus indulgentie: sed propria causa remissionis pene est passio christi & sanctorum applicata huic. Existimantes autem omnem legitimam causam indulgentie esse legitimam causam quantecunque indulgentie, extremi quoque sunt. contra quos procedimus. Media autem via est opinari/ quod causam indulgentie oportet esse legitimam causam tante dispensationis: ita quod causa indulgentie quia non est propria causa remissionis pene, ideo non quantificat illam. & quia est propria causa dispensationis, ideo quantificat dispensationem: quantitas enim effectus propriam causam consequitur.“ Vgl. Thomas von Aquin, Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi IV d. 20 a. 3 qla. 2 sol. (Scriptum Super Sententiis 4, ed. Maria Fabianus Moos, Paris 1947, 1028, n. 95). 42 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 8 (Tertia pars 1523, 213v): „Et confirmatur: quia dispensatio credita petro & successoribus imitari debet dispensationem factam ab ipso christo: […].“ 43 Eine entsprechende ‚papalistische‘ Position hatte Cajetan bereits in der Auseinandersetzung mit den konziliaristischen Ansichten Jacques Almains (gest. 1515) vertreten; vgl. Thomas de Vio Cajetan, Apologia de comparata auctoritate Papae et concilii c. 12 § 1 n. 685 (De comparatione auctoritatis papae et concilii. Cum apologia eiusdem tractatus, ed. Vincent-Marie Pollet, Thomas de Vio Cardinalis Caietanus. Scripta theologica 1, Rom 1936, 284): „Ad sextum
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nahe, ihm auch die Vollmacht zur Festsetzung der Kriterien zuzuschreiben, nach denen er die Ablässe aus dem Kirchenschatz zuteilt. Ob das geforderte Ablasswerk dann in einem proportionalen Verhältnis zum Umfang des Strafnachlasses steht, ist eine andere Frage.44 Der Grund der Ablasserteilung liegt für Cajetan jedenfalls nicht in der Größe des Ablasswerkes, sondern in dem Wert, den es für die Kirche hat. Neben der kirchenutilitaristischen Abzweckung fällt in der Behandlung der Frage des Ablasswerkes die Betonung des Gnadenstandes auf, den Cajetan aufseiten des Pönitenten voraussetzt. Dass das Sühnewerk im Gnadenstand abzuleisten ist, sieht Cajetan schon in den kirchlichen Formeln ausgesagt, die den Ablass den „vere poenitentibus et confessis“ verheißen.45 Der tieferliegende Grund dürfte freilich in einer ekklesiologisch bestimmten Überzeugung zu suchen sein, die bereits das Ablasswerk, nicht erst den Ablass selbst, als Teilhabe an den Leiden Christi und der Heiligen begreift und insofern die lebendige Gliedschaft im corpus mysticum, den Gnadenstand, voraussetzt.46 Das bedeutet für Cajetan, „dass der, der einen Ablass erlangt hat, wahrhaft reumütig ist, nicht nur zum Zeitpunkt des Gebrauchs, sondern auch zum Zeitpunkt des Werkes, das der Grund für den Ablass ist, wie die Ablassworte selbst lauten.“47 Der Dominikanertheologe widersprach damit der damals gängigen Praxis, Beichtbriefe auch ohne vorhergehende Beichte auszuhändigen.48 dicitur, quod, licet Ecclesia integra possit dare indulgentias etc., et eius sit thesaurus meritorum, unde fiunt indulgentiae, ut propter cuius utilitatem est, non tamen eius sunt ut dominae: quoniam ipsa est serva Domini Iesu, et quidquid acquirit servus, acquirit domino suo; et ipsi dictum est: ‚Cum feceritis quaecumque mandavero vobis, dicite: Quod debuimus fecimus, servi inutiles sumus.‘ [Lk 17,10] Unde non magis ad Ecclesiam, sed ad Vicarium Domini spectat dispensatio thesauri in utilitatem Ecclesiae pro qua est.“ 44 Insofern ist die immer wieder zu lesende Behauptung, Cajetan habe in der Frage des Ablassgrundes eine „causa proportionata“ vertreten (vgl. etwa Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters [wie Anm. 2], 75), zu relativieren, wie schon Felmberg richtig gesehen hat; vgl. ders., 167 f. 45 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis, c. 9 (Tertia pars 1523, 214r). 46 Vgl. ebd.: „Tum quia causa indulgentie ex hoc ipso quod est ratio communionis passionum christi & sanctorum cum membris viuis, oportet quod sit infra latitudinem operum vivorum: que enim est conuentio tenebrarum ad lucem/ aut mortis ad vitam? constat autem quod opus factum a non vere penitente est opus mortuum: non potest ergo esse legitima causa indulgentie: quam constat consistere in communione vitali christi & membrorum, non aridorum sed vivorum. Unde si datur indulgentia alicui quod dicendo septem psalmos/ vel visitando tot ecclesias/ vel faciendo tale opus pium etiam si sit eleemosyna, nisi fiat in statu charitatis non acquiritur apud deum indulgentia.“ 47 Ebd.: „constat autem quod meritum remissionis pene peccato debite est opus viuum. Oportet ergo vere penitentem esse consequutum indulgentiam non solum tempore vsus, sed etiam tempore operis quod est causa indulgentie: vt ipsa indulgentie verba sonant.“ 48 Vgl. Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters (wie Anm. 2), 75; Felmberg, 53 f. In der Instructio summaria Albrechts von Mainz aus dem Jahr 1517 wird hinsichtlich der zweiten und dritten Hauptgnade des Ablasses (Beichtbriefe, Teilhabe an allen Gnadengütern der Kirche) ausdrücklich festgestellt, „[…] quod pro dictis duabus gratiis principalibus
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Zusammenfassend wird man sagen können, dass Cajetan im Tractatus de indulgentiis in streng normativer Orientierung am Kirchenrecht, insbesondere an den Dekretalen des 12. und 13. Jahrhunderts, die er freilich ohne nähere Berücksichtigung des historischen Entstehungszusammenhangs und teilweise recht formalistisch deutet, ein primär jurisdiktionelles Ablassverständnis entfaltet: Der Ablass ist seinem Wesen nach Absolution, Nachlass der im Bußsakrament auferlegten Bußstrafen. Cajetan bindet den Ablass damit eng an das Bußsakrament und mit diesem wiederum an die kirchliche Hierarchie. Dem Papst werden dabei weitreichende Kompetenzen zugesprochen: Er ist der Verwalter des Kirchenschatzes mit einer letztinstanzlichen Entscheidungsbefugnis über das, was der Kirche dient. Wie hat sich Cajetan vor dem Hintergrund des am kirchlichen Recht erarbeiteten und ‚geklärten‘ Ablassverständnisses mit Luthers Kritik auseinandergesetzt?
2. Die Augsburger Traktate (25. September – 29. Oktober 1518) Cajetans mit dem Breve Cum nuper vom 11. September 1518 angewiesene inquisitorische Aufgabe erforderte eine intensive sachliche Auseinandersetzung mit den inkriminierten Behauptungen Luthers, wenn auch eine Disputation mit dem Beschuldigten wohl nicht vorgesehen war.49 Cajetan bereitete sich – vor allem auf der Grundlage der Resolutiones sowie des Sermo de poenitentia50 – mit 15 eigenen kleinen Abhandlungen im Quaestionenstil auf die Begegnung mit dem Augustinertheologen in der Reichsstadt Augsburg vor. Die zunächst ausschließlich der privaten Selbstklärung dienenden sogenannten Augsburger Traktate erschienen – nicht anders als der Tractatus de indulgentiis – offenbar erstmals als Anhang der in der Offizin von Lucantonio Giunta in Venedig 1523 gedruckten Ausgabe des Kommentars zur Tertia Pars der Summa theologiae des Thomas consequendis non est opus confiteri seu ecclesias aut altaria visitare, sed duntaxat confessionale redimere“ (Fabisch / Iserloh I, 269). 49 Vgl. Fontana, Vincentius Maria, Sacrum theatrum Dominicanum […], Rom: Nicolò Angelo Tinassi, 1666, 346 (Expl.: BSB München, 2 H.mon. 72; url: http://mdz-nbn-resolving. de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10940006-3 [abgerufen am 20. 06. 2019]): „eidem circumscriptioni tuae committendum duximus, prout etiam committimus, vt eundem Martinum coram te accersiri facias, eiusque causam diligenter examines. Eaque per te diligenter audita, & examinata ad illius absolutionem, vel condemnationem, prout iustum fuerit, procedas.“ Zur fehlerhaften Datierung des Abdrucks bei Fontana („II. Novembris“) vgl. Kalkoff, Paul, Forschungen zu Luthers römischem Prozeß, Rom 1905 (Bibliothek des Königlichen Preussischen Historischen Instituts in Rom 2), 11.57 f. Vgl. zum Breve auch Hennig, 44; Fabisch / Iserloh II, 4.60, Anm. 94. 50 Nach dem derzeitigen Forschungsstand ist davon auszugehen, dass Cajetan über die beiden genannten Quellen hinaus auch eine handschriftliche lateinische Übersetzung des Sermons von Ablass und Gnade sowie einen Druck des Sermo de virtute excommunicationis zur Vorbereitung herangezogen hat; vgl. Felmberg, 221–223. Sorgfältige Einzelnachweise der direkten und indirekten Quellenbezüge bei Morerod I, 181–422.
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von Aquin.51 Von den insgesamt neun ablasstheologisch relevanten Traktaten sind sechs bereits in der Zeit vom 29. September bis zum 7. Oktober 1518 abgeschlossen worden, also noch vor der Begegnung mit Luther. Die übrigen drei wurden im unmittelbaren Anschluss in den Tagen vom 14. bis zum 17. Oktober vollendet. Die Themen der Traktate lassen sich meines Erachtens vier Problemkreisen zuordnen: 1) Die Wirkung der Ablässe. In dem Traktat vom 29. September (De effectu indulgentiae) setzt sich Cajetan mit Luthers Ansicht auseinander, dass der Papst mithilfe des Ablasses nur die kirchlichen Bußstrafen, nicht aber die von Gott auferlegten zeitlichen Sündenstrafen nachlassen könne.52 Das konnte schwerlich anders gelesen werden, als dass sich der Ablass lediglich auf das Forum der Kirche bezog, im Forum Gottes dagegen keine Gültigkeit besaß. Gegenüber der lutherschen Trennung von forum ecclesiae und forum Dei verteidigt Cajetan die Forenkorrespondenz, an der entscheidend die Attraktivität des Ablasses hing. Er wendet sich gegen die Vorstellung, es würden im forum Dei und forum ecclesiae zwei unterschiedliche Arten respektive Quanten von Strafen verhängt. Es handele sich vielmehr um ein und dieselbe, von Gott auferlegte zeitliche Sündenstrafe, die im forum Dei „unbestimmt“, im forum ecclesiae aber „bestimmt“, das heißt in Form der vom Beichtvater auferlegten Bußstrafe konkretisiert, vorliege.53 Zur Begründung der Korrespondenz zieht Cajetan, nach einem kurzen Hinweis auf den „sensus ecclesiae“,54 zunächst die biblischen loci classici der Schlüsselgewalt an. In Mt 16,19b sieht er Petrus und den Petrusnachfolgern eine weitreichende, eben bis ins forum Dei hineinreichende Nachlassgewalt verheißen, die alle Hindernisse auf dem Weg zum Himmelreich zu beseitigen vermag, vor allem die ewige Schuld (Joh 20,23), aber auch die Strafen für die Schuld (Mt 18,17 f.).55 51 Siehe oben Anm. 2. Kritische Edition der Traktate auf der Grundlage der Giunta-Ausgabe von 1523 bei Morerod I, 129–423. 52 Siehe oben Anm. 37. 53 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 29. September 1518: De effectu indulgentiae (Morerod I, 272): „[…] pena canonica (hoc est iniuncta a sacerdote in confessione sacramentali) et pena satisfactoria pro culpa secundum divinam iustitiam non se habent sicut due pene, sed se habent sicut pena indeterminata et pena determinata.“ 54 Zur Bedeutung dieser in den Augsburger Traktaten nicht näher erläuterten und begründeten Norm vgl. Wicks, 87–90. 55 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 29. September 1518: De effectu indulgentiae (Morerod I, 272): „In oppositum autem est communis ecclesie sensus.“ Dann ebd. (Morerod I, 276): „Absolutio autem petro concessa ex privilegio christi habet pro materia ea, que regni celorum sunt (dicente christo: Tibi dabo claves regni celorum [Mt 16,19]), et specialiter culpas (ut patet ex verbo christi: Quorum remiseritis peccata, remittuntur eis [Joh 20,23]), et penas pro culpa, ut patet ex verbo christi Matth. 18[,18].“ Zu den impedimenta vgl. speziell ebd. (Morerod I, 280): „Et multo magis potest christi minister absolvere a penis; cum enim culpa et pena impedimenta sint regni celorum (quia et nihil coinquinatum intrabit in illud, et absterget deus omnem lacrimam, … nec dolor erit ultra, etc.). Ad claves regni celorum spectare necesse est utrunque impedimentum tollere; alioquin aperire regnum celorum fidelibus non sufficerent.“
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Sodann beruft er sich auf das Kirchenrecht, und zwar namentlich auf die Bulle Unigenitus, in der allerdings nur eher beiläufig vom Ablass als „Nachlass der für die Sünden geschuldeten zeitlichen Strafen“56 gesprochen wird. Diese Bulle, die nach dem Tractatus de indulgentiis gerade die Wende zum „neuen“, durch die Lehre vom Kirchenschatz geprägten Ablassverständnis des Hoch- und Spätmittelalters markierte, allerdings dort eher nur randweise in Erscheinung trat, erhält in den Augsburger Traktaten größeres Gewicht. Cajetan begreift sie ausdrücklich als eine verbindliche kirchliche Lehräußerung, gegen die zu verstoßen nicht erlaubt sei.57 2) Der thesaurus ecclesiae. Ist nach Cajetan an der grundsätzlichen Korrespondenz von forum ecclesiae und forum Dei in der Ablassfrage festzuhalten, sind unweigerlich alle Infragestellungen des Kirchenschatzes abzuwehren. Denn die Existenz des Kirchenschatzes ist die Voraussetzung für die Austeilung der Genugtuungen, durch die wiederum erst – wie bereits im Tractatus de indulgentiis gesehen – der Strafnachlass („absolutio“) Geltung im forum Dei erlangt.58 Luther stellte im Zusammenhang seiner Kritik am thesaurus ecclesiae die Verdienstmöglichkeit des Menschen generell infrage, sei doch kein Werk der Heiligen unvergolten geblieben, weil Gott alle Menschen über ihre Würdigkeit hinaus belohne. Ja, vielmehr seien alle Heiligen Sünder, keiner von ihnen habe in diesem Leben die Gebote Gottes genügend erfüllt, geschweige denn superabundante Verdienste erworben.59 Anders als in der Auseinandersetzung um die Ablassmaterie verweist Cajetan zu Luthers Kritik, nach einem kurzen Hinweis auf den entgegenstehenden „consensus doctorum“, sogleich und mit einem längeren, bewusst an den Anfang des corpus articuli gestellten Zitat auf die Bulle Unigenitus als der 56 Extrav. Comm. 5.9.2, Unigenitus (ed. Friedberg II, 1304): „[…] nunc pro totali, nunc pro partiali remissione poenae temporalibus[!] pro peccatis debitae […].“ Zutreffender wohl DH 422009, 1026: „[…] nunc pro totali, nunc pro partiali remissione poenae temporalis pro peccatis debitae […].“ Vgl. schon Selge, 97, Anm. 1. Zur Problematik des cajetanschen Beweisverfahrens, das zwar auf die Bibel rekurriert, die Bibeldeutung aber oftmals durch mehr oder weniger kontextuell verstandene päpstliche Lehräußerungen determiniert, vgl. ebd., 104–107. 57 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 29. September 1518: De effectu indulgentiae (Morerod I, 278): „et habetur in extravagantium communium, titulo ‚De penitentiis et remissionibus‘ cap. ‚unigenitus‘. Non licet autem contra Apostolice sedis doctrinam sentire.“ Nach Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters (wie Anm. 2), 76, war Cajetan der erste Autor, der sich auf die Bulle als auf eine kirchliche Lehrentscheidung berief; vgl. Wicks, 81, Anm. 23.91, Anm. 56; Hallensleben, 500, Anm. 4. 58 Siehe oben Anm. 21. 59 Vgl. Luther, Martin, WA 1, 606,9–16: „Secundo. Nulla sunt opera sanctorum relicta irremunerata, quia secundum omnes deus praemiat ultra condignum, Et Paulus: Non sunt condignae passiones huius temporis ad futuram gloriam &c. Tercio. Nullus sanctorum in hac vita sufficienter implevit mandata dei, ergo nihil prorsus foecerunt superabundans. Quare nec ad indulgentias aliquod distribuendum reliquerunt. Consequentiam credo satis claram, sed maiorem ita probo, ut non sit dubitanda, sed ita credenda, ut eius contraria Luc. 17, 10. sit haeretica.“
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seinem Verständnis nach ersten und grundsätzlichen Lehraussage zum Thema.60 Angesichts der lutherschen Kritik steht Cajetan vor mehrfachen Herausforderungen: Er muss die generelle Möglichkeit eines Verdienstes durch die Heiligen sowie die Möglichkeit einer Übertragbarkeit des Verdienstes auf andere aufweisen. Beides ist zu unterscheiden. Darüber hinaus hat er sich insbesondere mit der Kritik an einer Identifizierung der Verdienste Christi mit dem Kirchenschatz auseinanderzusetzen, argumentierte Luther doch, im Fall einer Identifizierung würden aufgrund des Votums scholastischer Autoritäten, das Tun guter Werke sei besser als der Erwerb von Ablässen, die Verdienste Christi, die eben in den Ablässen ausgeteilt werden, in geradezu gotteslästerlicher Weise herabgesetzt.61 Dieselbe argumentative Stoßrichtung verfolgte auch Luthers Hinweis auf die von den Theologen ausgesprochene Empfehlung, trotz Ablasserwerbs nicht auf das persönliche Fasten oder auf andere gute Werke zu verzichten.62 Was Luthers Infragestellung des Verdienstes betrifft, so greift Cajetan auf eine Aspektunterscheidung zurück: Das gute Werk, als menschliche Tat betrachtet, sei nicht verdienstvoll; als gnadenhaft gestütztes Tun aber erwerbe es durchaus Lohnanspruch.63 Schwieriger ist der Nachweis der Übertragbarkeit zu erbringen. 60 Thomas
de Vio Cajetan, Traktat vom 7. Oktober 1518: De thesauro indulgentiarum (Morerod I, 204): „In oppositum est sententia sacrorum doctorum. Ad evidentiam huius questionis monstrandum est, merita christi et sanctorum esse thesaurum indulgentiarum, et qua ratione hoc notum sit, et quid sit, et propter quid sit. Et quidem merita christi et sanctorum esse thesaurum indulgentiarum auctoritate apostolica tenemus; in extravaganti siquidem clementis sexti ‚de penitentiis et remissionibus‘ ‚Unigenitus‘ dicitur de thesauro meritorum christi: […].“ Siehe oben Anm. 56. Zur Ausbildung der Lehre vom Kirchenschatz in der Hochscholastik vgl. Poschmann, Der Ablass im Licht der Bussgeschichte (wie Anm. 15), 82–86. 61 Vgl. Luther, Martin, WA 1, 609,9–21: „Tercia, Respondeant mihi ad istam contradictionem: B. Thomas et Bonaventura et sui sequaces constanter et unanimiter dicunt, quod opera bona sunt meliora quam indulgentiae, ut supra satis est dictum. Esto ergo haec vera. Item, per indulgentias applicantur et expenduntur merita Christi. Esto etiam haec vera, quia et hanc constanter omnes asseruut. Item, merita Christi incomparabiliter sunt meliora quam bona opera nostra, immo sola bona. Esto etiam haec vera. Hic ego concludo et infero: infoelix, qui non dimittit opera sua bona et solum quaerit opera Christi, id est indulgentias, cum sit omnium blas phemiarum ultima sententia, sua opera bona praeferre operibus Christi: aut ergo opera Christi non sunt thezaurus indulgentiarum, aut superbit miser, qui non omissis omnibus praeceptis, etiam divinis, solum indulgentias redimit, id est merita Christi.“ Nachweise zu den genannten Theologen bei Morerod I, 197, Anm. 33. 62 Vgl. Luther, Martin, WA 1, 610,7–19. Dazu vgl. etwa Biel, Gabriel, Canonis misse expositio, Lectio 57 L (ed. Heiko A. Oberman / William J. Courtenay, Teil 2, Wiesbaden 1965 [VIEG 32], 403–405), ferner auch die Enzyklika Romani Pontificis provida Sixtus’ IV. vom 27. November 1477, die das Missverständnis abwehrt, durch die Gewährung des Verstorbenenablasses „per modum suffragii“ hätten sich Fürbitte, Almosen und andere gute Werke zugunsten der Verstorbenen erledigt; DH 422009, 1405 f. 63 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 7. Oktober 1518: De thesauro indulgentiarum (Morerod I, 228): „[…] distinguito, quod sancti et sua opera dupliciter iudicari possunt. Primo secundum se, et secundum proprias vires: et sic sunt semper debitores, et damnabiles, non implentes mandata dei: iuxta illud Isaie: Universe iustitie nostre quasi pannus menstruate [Jes 64,5]. Alio modo secundum gratiam spiritus sancti in ipsis et operibus suis, tam informantem, quam assistentem: et sic implent mandata, et non sunt debitores, sed creditores, digni vita eterna
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Cajetan unterscheidet mit Thomas zwischen Verdienst und Genugtuung: Sofern das gute Werk des Christen mit Anstrengung und Schmerz verbunden sei, leiste es Genugtuung, sofern es (durch die Gnade ermöglichtes) Tun des Guten sei, habe es verdienstlichen Charakter.64 Während nun das gute Werk als Verdienst streng personenbezogen vergolten werde (Ausnahme ist das Verdienst Christi), könne es als Genugtuung auch auf andere Glieder des mystischen Leibes übertragen werden.65 Entscheidend ist dabei die Verwaltungskompetenz des Papstes. Die Heiligen hätten eben ihre solchermaßen überschüssig-genugtuenden Werke nicht direkt einzelnen Personen zugewandt, sondern der Kirche insgesamt; über diesen kirchlichen „Schatz“ wiederum könne aber nur Gott oder sein irdischer Stellvertreter verfügen.66 Im Blick auf den Vorwurf der Geringschätzung des Verdienstes Christi ist festzuhalten, dass Cajetan zwar in der Einleitung seiner Antwort zunächst mit der Bulle Unigenitus behauptet hatte, „dass die Verdienste Christi und der Heiligen der Schatz der Ablässe sind.“67 In der unmittelbaren Auseinandersetzung mit ex ipsis sanctis operibus suis, nihil damnationis habentes, etc. […].“ Vgl. auch ebd. (Morerod I, 222): „Ad quartam dicitur, quod vir sanctus potest iudicari dupliciter. Primo inquantum operatur ex suo libero arbitrio: et sic nullus sanctorum implevit sufficienter in hac vita mandata dei. Alio modo inquantum operatur ex gratia divina, et in existente et assistente: et sic quilibet sanctus sufficienter implevit mandata dei in his que observasse eos laudamus.“ Man kann durchaus ein gewisses Entgegenkommen Cajetans gegenüber Luther darin sehen, dass er in der Perspektive dieser doppelten Betrachtung formuliert, ebd. (Morerod I, 230): „Et similiter omne opus bonum optime factum, inquantum est ex nobis factum peccatum est, sicut pannus menstruate [Jes 64,5]: sed quatenus ex Dei gratia est, nullum peccatum, sed meritorium et supererogativum bonum est.“ Vgl. Backus, Le contenu doctrinal (wie Anm. 5), 246 f. Thomas von Aquin hätte jedenfalls schwerlich denselben Gedanken formuliert. Er zieht das JesajaDiktum bezeichnenderweise gerade als Beweisgrund im Zusammenhang seiner Reflexionen auf die eingeschränkten, aber nicht grundsätzlich in Frage zu stellenden Verdienstmöglichkeiten des Menschen post lapsum an; vgl. ders., Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi II d. 29 q. 1 a. 4 sed contra. (Scriptum Super Sententiis 2, ed. Pierre Mandonnet, Paris 1929, 750). Anders die Einschätzung von Felmberg, 319 f. 64 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 7. Oktober 1518: De thesauro indulgentiarum (Morerod I, 206): „Nec meritum et satisfactio adeo a se invicem elongantur, ut non coeant sepe in unum idemque opus; nam de operibus ex charitate procedentibus loquendo, quantum habet opus bonitatis, tantum habet meriti; et quantum habet mali pene, tantum habet satisfactionis.“ Zur Übernahme der thomanischen Unterscheidung von „meritum et satisfacatio“ vgl. Backus, Le contenu doctrinal (wie Anm. 5), 245. 65 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 7. Oktober 1518: De thesauro indulgentiarum (Morerod I, 218/220): „Sic inquam loquendo respondendum est, quod opera bona sanctorum dupliciter sumi possunt, scilicet ut meritoria: et sic omnia sunt remunerata in ipsis sanctis. Vel ut satisfactoria: et sic ea que supererogaverunt non sunt remunerata in ipsis sanctis, sed relicta sunt remuneranda in nobis.“ 66 Vgl. ebd. (Morerod I, 218): „[…] respondetur, quod huiusmodi sanctorum merita satisfactoria sunt facta pro ecclesia et non determinate pro hoc vel illo, et ideo non operantur in hoc vel illo particulari, nisi fuerint applicata ab ipso deo vel eius vicario ad hunc vel illum. […] quia ad hoc suapte natura sunt ordinata, ut applicata, et non aliter operentur.“ Siehe oben Anm. 43. 67 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 7. Oktober 1518: De thesauro indulgentiarum (Morerod I, 204): „Et quidem merita christi et sanctorum esse thesaurum indulgentiarum
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dem Einwand Luthers betont er dann aber doch differenzierend, dass die Verdienste Christi und der Heiligen nicht die Ablässe selbst seien, sondern lediglich die Ursachen von deren Wirkung.68 Und nur auf die Wirkung sind nach Cajetan die Präferenzaussagen der Autoritäten, gute Werke seien besser als das Erwerben von Strafnachlässen, zu beziehen. Ferner sieht Cajetan in der Fastenempfehlung keine Infragestellung der satisfaktorischen Hinlänglichkeit des Leidens Christi, so als ob die Genugtuungen der Gläubigen zu den Genugtuungen Christi sekundierend hinzutreten müssten, sondern den Ausdruck „heiligen Zweifels“ an der Suffizienz der eigenen Disposition. Aus ihr erwachse das Verlangen, ‚sicherheitshalber‘ eigene Genugtuungen beizusteuern, sei es doch besser, so Cajetan, auf doppeltem Weg Genugtuung zu leisten als nur auf einem.69 Schließlich sei der mystische Leib Christi auf ein Mehr an Genugtuungen angelegt.70
auctoritate apostolica tenemus, […].“ Zum Verweis auf die Bulle Unigenitus siehe oben Anm. 56. Die Gleichsetzungsaussage wird im Text der Bulle allerdings vermieden und das Verhältnis der Verdienste Christi zum Thesaurus vielmehr so bestimmt, Extrav. Comm. 5.9.2, Unigenitus (ed. Friedberg II, 1304; DH 422009, 1025): „Quantum ergo exinde, ut nec supervacua, inanis aut superflua tantae effusionis miseratio redderetur, thesaurum militanti ecclesiae acquisivit, volens suis thesaurizare filiis pius pater, ut sic sit infinitus thesaurus hominibus, quo qui usi sunt, Dei amicitiae participes sunt effecti [Weish 7,14].“ 68 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 7. Oktober 1518: De thesauro indulgentiarum (Morerod I, 234): „Ad quartum dicitur, quod opera bona dicuntur esse meliora indulgentiis, hoc est effectibus indulgentiarum: et non meritis christi et sanctorum que non sunt indulgentie, sed ex eorum satisfactoria supererogatione est efficacia indulgentie.“ Ebd. (Morerod I, 238): „[…] quod merita christi non sunt indulgentie, sed cause indulgentiarum efficacie: indulgentie enim, quas consequuntur christi fideles, nihil aliud sunt quam remissiones suarum penarum per merita christi.“ Warum Cajetan angesichts dieser Differenzierung in der Begegnung am 14. Oktober, Luthers Bericht an den Kurfürsten zufolge (WA.B 1, 214 [Nr. 99,14–33]), dann doch von dem Wittenberger Theologen verlangt haben soll, ‚gläubig‘ anzuerkennen, dass nach der Bulle Unigenitus die Verdienste Christi den Thesaurus nicht erwerben, sondern der Thesaurus sind, wäre allerdings zu fragen. Felmberg, 341, spricht von einer lediglich „formalen ‚Anpassung‘ Cajetans an die Argumentation Luthers“ ohne Annäherung in der Sache, die womöglich nachträglich – aufgrund von Luthers schriftlicher Verantwortung (WA 2, 9–16)? – vom Kardinal vorgenommen wurde. Zurückhaltender Morerod II, 442, der mit einem wechselseitigen Unverständnis rechnet. 69 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 7. Oktober 1518: De thesauro indulgentiarum (Morerod I, 236/238): „credo enim indubie merita christi applicata per indulgentiam mihi et participata a me, seu suscepta in me, esse sufficienter exolventia debitas a me penas temporales pro meis peccatis: sed dubito an sint a me participata, quia dubito an ego fuerim dispositus pro participatione illorum, hoc autem dubium est sanctum. Et rursus si credo me participasse, volo etiam addere meas satisfactiones, non tanquam meliores satisfactione christi: sed quia melius est duplici via satisfacere, quam una tantum, et plura bona sunt satisfactio christi et mea, quam satisfactio christi tantum: […].“ 70 Vgl. ebd. (Morerod I, 238): „Ad sextum dicitur, quod appositio meritorum sanctorum consonat divine dispositioni, non quod insufficiens sit christi satisfactio, sed ut plura sint in christi corpore mystico satisfactoria. Sic enim docuit apostolus: ‚Adimpleo‘, inquit, ‚ea que desunt passioni christi in carne mea pro corpore eius, quod est ecclesia‘ [Kol 1,24].“
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3) Der Ablass pro defunctis. Da Luthers ablasskritische Thesen vor allem den Verstorbenenablass betrafen, musste sich Cajetan gerade auch in dieser Hinsicht eingehend mit der Wittenberger Kritik auseinandersetzen. Ein Problem, das er noch vor der Begegnung mit Luther in Angriff nahm, war die Vorstellung vom Fegefeuer. Luther hatte in den Resolutiones das Fegefeuer vorrangig als Reinigungsort verstanden, an dem die Seelen die ungläubige Furcht vor der göttlichen Gerechtigkeit, für den Augustinertheologen die eigentliche Strafe des Purgatoriums, bereitwillig ertrugen, weil sie auf gnadenhafte Überwindung der Furcht durch Gott hoffen konnten.71 Der Verstorbenenablass verfehlte nach Luther als ein Nachlass der poena sensus nicht nur das Wesen der Strafe, sondern widersprach auch der von den Fegefeuerseelen angenommenen inneren Einwilligung in die von Gott auferlegte Pein.72 Demgegenüber beruft sich Cajetan auf die Bulle Laetentur coeli Eugens IV. (1431–1447) von 1439, die er wie die Bulle Unigenitus als offizielle Lehräußerung der Kirche begreift und in der er das Fegefeuer als Strafort lehramtlich festgestellt sieht.73 Nicht die Vermehrung der Liebe und das Abnehmen der Furcht machen den Zweck des Fegefeuers aus, sondern allein das Ableiden der von der göttlichen Gerechtigkeit geforderten Genugtuungsstrafe.74 Selbst eine Seele, die in der Liebe stirbt, muss Cajetan zufolge das Fegefeuer „durchlaufen“, wenn sie die zeitlichen Sündenstrafen zu Lebzeiten nicht hinreichend abgebüßt hat.75 Die von Luther für die Fegefeuerseelen in ihrer Gottesferne als bestimmend angesehenen
71 Vgl. vor allem Luther, Martin, WA 1, 555,26–558,23. Zu Luthers ‚existenzieller‘ Deutung des Fegefeuers vgl. Slenzcka, Notger, „Allein durch den Glauben“. Antwort auf die Frage eines mittelalterlichen Mönchs oder Angebot zum Umgang mit einem Problem jedes Menschen?, in: Christoph Bultmann et al. (Hg.), Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 39), 301–305, und jetzt Vogel, Lothar, Luthers Purgatoriums-Vorstellung in den Ablassthesen, in: Rehberg (Hg.), Ablasskampagnen des Spätmittelalters (wie Anm. 5), 611–626. 72 Nach Luther schmerzt die Seelen vor allem ihr Mangel an Gottesliebe. Die Fegefeuerstrafe ist Gewissensqual, nicht eine von außen zugefügte Pein; vgl. ders., WA 1, 561,14 f.;566,28–31. Zur Vorstellung, dass die Seelen im Fegefeuer die Strafen bereitwillig ertragen, um in der Liebe zu wachsen, vgl. WA 1, 567,5–7. Aufschlussreich ist das Fazit der Erläuterungen zur 19. These, WA 1, 567,16 f.: „Et sic patet, quod [sc. animae, M. N.] non timore poenae patiuntur, sed amore iusticiae […].“ Vgl. auch WA 1, 234,33 f. 73 Cajetan zitiert zwei längere Passus aus den Bestimmungen „De sorte defunctorum“ des Decretum pro Grecis: ders., Traktat vom 17. Oktober 1518: An in purgatorio possit esse meritum (Morerod I, 388/390); vgl. DH 422009, 1304 f. 74 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 17. Oktober 1518: An in purgatorio possit esse meritum (Morerod I, 388): „[…] habemus quod purgatorium per se et proprie non est nisi ad satisfactionem debitam pro actualibus peccatis exolvendam.“ 75 Vgl. ebd.: „invenimus autem ab ecclesia diffinitum purgatorium esse medium quo ad satisfactionem pro actualibus peccatis, tunc tantum quando homo decedens non plene satisfecit pro illis in hac vita, ita quod si homo in charitate decedens satisfecit hic, non transit per purgatorium, et si non satisfecit hic, transit per purgatorium.“
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Zustände der unvollkommenen Liebe und der Furcht vor der göttlichen Strafe76 werden zwar von Cajetan nicht rundweg geleugnet, wohl aber via distinctionis als mit dieser Vollkommenheit vereinbar behauptet.77 Im Unterschied zu Luther ist Cajetan auch davon überzeugt, dass sich die Fegefeuerseelen aufgrund der innewohnenden Gnade ihres künftigen Heils, ihrer nahenden Erlösung durchaus bewusst sind.78 Wenn er von den abgeschiedenen Seelen gar behauptet, sie liebten aufgrund ihrer übernatürlichen Gotteserkenntnis die göttliche Gerechtigkeit und bejahten die Strafen um dieser Gerechtigkeit willen,79 dann stellt sich allerdings die Frage, inwiefern ein solches, die Gottesliebe betonendes Konzept des Verstorbenenablasses der bestehenden, gerade auf Straferlass ausgerichteten Ablasspraxis überhaupt noch entspricht. Kommt hier Cajetan von seiner konsequent gnadentheologischen Perspektivierung des Fegefeuers als Strafort im Grund nicht zu einer ähnlichen Infragestellung des Verstorbenenablasses wie Luther mit seiner ‚existenziellen‘ Deutung des Fegefeuers als Reinigungsort? 4) Der spirituelle und moralische Wert der Ablässe. Cajetan sah den Ablass in dieser Hinsicht durch Luther gleich mehrfach in Zweifel gezogen: zum einen durch die Behauptung, die wahre Reue suche und liebe die göttliche Strafe,80 das Verlangen nach Ablässen erschien daher – in der Perspektive Cajetans – als Aus76 Vgl. Luther, Martin, WA 1, 563,13–16: „At in animabus purgatorii est culpa, scilicet timor poenarum et defectus amoris, cum iustus secundum Isa: viij. [Jes 8,13] nihil debeat timere nisi solum deum, ergo peccant sine intermissione, quamdiu horrent poenas et quaerunt requiem.“ 77 Vgl. vor allem Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 14. Oktober 1518: An iustus timendo poenam peccet (Morerod I, 394): „Ad primum in oppositum dicitur, quod concesso in purgatorio timore non damnationis, sed durationis magne future pene (utpote quia incerti sunt de affuturis suffragiis diminutivis penarum) non propterea sequitur quod oporteat charitatem augeri ad excludendum timorem: quoniam potest aliunde timor auferri, scilicet ex certificatione temporis et quantitatis pene. Sed argumentum falsum assumit, scilicet quod timor omnis aut ille ex imperfecta procedat charitate: potest enim cum perfectissima charitate stare timor: ut patet de timore christi.“ 78 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 25. September 1518, An omnes anime in purgatorio sint certe de sua salute (Morerod I, 400): „Ad evidentiam huius questionis sciendum est, quod quum quelibet anima a corpore separata videat seipsam, et omnes species seu habitus in seipsa existentes (quoniam directe intuitus eius fertur in seipsam non impeditam a corpore, ut in hac vita contingit) consequens est, ut anima existens in purgatorio videat charitatem, seu gratie habitum in seipsa existentem; ac per hoc sciat, quod est in statu gratie, et consequenter est certa de sua salute eterna. Et confirmatur: quia in omni anima separata que purgatur/ remanet fides et certa cognitio […].“ Der Passus „Et confirmatur […] cognitio“ fehlt versehentlich bei Morerod. Er wurde ergänzt nach der Ausgabe Thomas de Vio Cajetan, Tertia pars 1523, 227v. 79 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 25. September 1518: An omnes anime in purgatorio sint certe de sua salute (Morerod I, 402): „quia amant [sc. anime separate, M. N.] divinam iustitiam, et libenter sustinent penas propter divinam iustitiam.“ 80 Vgl. etwa Luther, Martin, WA 1, 597,21–23: „Euangelium quidem docet poenas non fugere nec relaxare, sed quaerere et amare, quia docet spiritum libertatis et timoris dei usque ad contemptum omnium poenarum.“
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druck mangelnder geistlicher Vollkommenheit.81 Zum anderen durch die bereits in Luthers 95 Thesen vertretene Überzeugung, die Ablässe seien gegenüber den von Gott gebotenen Werken der Nächstenliebe fakultativ und von nachgeordneter Bedeutung.82 Beiden Argumenten sucht Cajetan mit Hilfe des Ordo-Begriffs zu begegnen, den er offenbar, aus thomistischer Perspektive verständlich, als unmittelbar plausibel voraussetzt: Durch einen anderen Menschen Genugtuung zu leisten (und sich damit faktisch der Strafe zu entziehen), bedeute keine „Störung der [sittlichen] Ordnung“, weil diese, so Cajetan, im Bußleistenden „mit glühender Liebe und mit äußerster Bereitschaft, von sich aus Genugtuung zu leisten“,83 verbunden sei. Die auferlegten Bußstrafen würden eben, sofern sie Heilmittel gegen die Leidenschaften seien, durch die Ablässe keineswegs ersetzt, weshalb man auch bei erworbenem Ablass Buße tun müsse.84 Ferner gibt Cajetan zu, dass Ablässe keinen Lohnanspruch bei Gott begründen – eine Genugtuung sei kein Verdienst –, aber zum einen sei das vorgeschriebene Ablasswerk nach Art und Absicht durchaus verdienstlich, zum anderen aber auch die Inanspruchnahme der fremden Genugtuung selbst, nütze der Ablass doch nur denjenigen, die in der Liebe leben; alles aber, was aus der Liebe erwachse, sei verdienstvoll und der geistlichen Vollkommenheit kongruent.85 Ebenso wenig verstoße es prinzipiell gegen die göttliche Ordnung der Gebote, wenn einem Armen das Almosen verweigert und das Geld stattdessen für den Erwerb eines Ablasses ausgegeben werde. Denn Almosen zu geben sei zwar ein Gebot Gottes,
81 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 2. Oktober 1518: De acquisitione indulgentiarum (Morerod I, 246): „Queritur utrum dare operam ad acquirendas indulgentias sit imperfectionis.“ 82 Vgl. vor allem die Thesen 41–51; Luther, Martin, WA 1, 235,16–41. 83 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 2. Oktober 1518: De acquisitione indulgentiarum (Morerod I, 250): „[…] consequenter dicendum est, quod quum actus iste, qui est satisfacere per alium, non sit ex suo genere malus (nullam enim deordinationem importat, nec habet imperfectionem moralem annexam), quoniam cum ferventi charitate et promptissima voluntate per seipsum satisfaciendi, stat quod tali modo, scilicet per sanctorum penas velit satisfacere, et nihilominus operibus sanctissimis tanto magis intendere, quanto liberior a debita pena, et gratior esse debet propter hoc cumulatum beneficium.“ 84 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 29. September 1518: De effectu indulgentie (Morerod I, 282): „Quod autem dicitur, quod penitentia, ad quam tenetur peccator, est crux christi et mortificatio passionum, iam a priscis solutum est doctoribus, dicentibus quod pene inquantum sunt medicine passionum, non supplentur per indulgentias; et propterea debemus etiam indulgentiis acquisitis penitentiam agere, ut medicinam passionum nostrarum. Inquantum vero sunt satisfactive pro peccatis commissis, sic supplentur per indulgentias. Et similiter est distinguendum de cruce post christum portanda, et similibus.“ 85 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 2. Oktober 1518: De acquisitione indulgentiarum (Morerod I, 250/252): „Nec solum est moraliter bonus, sed etiam meritorius, si fructuosus est: quoniam non nisi existentibus in charitate indulgentie prosunt (ut ipsa concessionis forma monstrat dicendo ‚vere penitentibus‘), omnes autem actus humanos ex charitate procendentes meritorios esse constat.“
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dieses sei aber nur unter Berücksichtigung von Ort und Zeit verpflichtend.86 Im Hintergrund steht die schon bei Thomas begegnende Überlegung, dass die Verweigerung von Almosen nur in dem Fall eine Todsünde sei, wenn der Arme überlebensnotwendig darauf angewiesen ist.87 Cajetan argumentiert in diesem Problemkreis stärker von den Prämissen einer thomistischen Ethik her als von den Bestimmungen des Kirchenrechts. Gleichwohl fehlt im ersten der beiden Traktate über den Erwerb der Ablässe nicht der Hinweis auf die Bulle Unigenitus und „die apostolischen Schreiben vieler römischer Päpste“, die als spezifischen Ertrag der Ablässe fixieren, dass diese der göttlichen Gerechtigkeit hinsichtlich der zeitlichen Sündenstrafe Genugtuung leisten aufgrund der Strafleiden Christi und der Heiligen – „nach der Tradition der römischen Kirche“.88
3. Ablassverständnis im Wandel? Gegenüber den in der neueren Forschung zu vernehmenden Stimmen, die in den Augsburger Traktaten einen gewissen, durch die Auseinandersetzung mit Luther bedingten Wandel in Cajetans Ablassverständnis feststellen zu können meinten,89 86 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 7. Oktober 1518: De acquirendis rursum indulgentiis (Morerod I, 262): „Sed exigitur quod [actus humanus, M. N.] sit inordinatus: nisi enim a divino ordine declinaret, peccatum non esset. Deordinatio autem actus effusivi pecunie sicut et ceterarum moralium actionum, tunc tantum est, cum vel non sua, vel ad quod non debet, vel cum non debet, etc. impenditur pecunia: nisi enim aliquid quod debuerat adesse desit, aut quod debuerat abesse assit, peccati ratio non salvatur; quocirca ad debiti rationem oportet spectare peccati iudicium. […] Unde in proposito, cum dare eleemosynam sit preceptum affirmativum, obligans tantum pro loco et tempore: […].“ 87 Vgl. ebd. (Morerod I, 266): „Et alibi memini me scripsisse post beatum thomam, quod quantum est ex parte necessitatis pauperis sola extrema necessitas determinat tempus, pro quo preceptum de eleemosyna obligat ad peccatum mortale.“ Vgl. ders., In II–II, 118,4 III (Leonina 9, 459ab); ferner In II–II 185,7 III (Leonina 10, 482ab) sowie aus dem Frühwerk De praecepto eleemosynae ad mentem S. Thomae (Brescia[?] 1496); vgl. Morerod I, 266, Anm. 177. 88 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 2. Oktober 1518: De acquisitione indulgentiarum (Morerod I, 250): „[…], quod indulgentiarum fructus proprius est satisfacere divine iustitie, quo ad penam temporalem propriis peccatis debitam ex penis christi et sanctorum, secundum traditionem ecclesie romane, ut patet in extravaganti clementis VI et multorum romanorum pontificum apostolicis literis.“ 89 Vgl. Backus, Le contenu doctrinal (wie Anm. 5), 248: „Il semble que Cajétan voyait l’attaque de Luther comme une atteinte au lien nécessaire entre Dieu et l’Eglise. Son deuxième traité sur les indulgences représente de ce fait un changement l’optique radical. Toute référence à l’indulgence comme acte juridique est supprimée. Ce qui est mis en évidence, c’est l’origine divine des indulgences que l’Eglise, elle, ne fait que transmettre. Il est intéressant de noter que Cajétan affaiblit même la distinction entre la poena iniuncta et la poena iniungenda sur laquelle il a tellement insisté en 1517!“ Vgl. auch Felmberg, 293 f., der zwar nicht von einem Positionswechsel sprechen möchte, aber doch meint, Cajetan habe die gewonnenen Erkenntnisse einer „Relativierung“ unterzogen, und der in den Augsburger Traktaten „Vereinheitlichungstendenzen“ (294) erkennt: „Dadurch aber, daß Luther auf die Widersprüchlichkeiten innerhalb der
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wird man meines Erachtens eher zurückhaltend urteilen müssen: Cajetan wird durch die Auseinandersetzung mit Luthers Ablasskritik durchaus in neue thematische Zusammenhänge des Ablasses hineingedrängt, setzt auch an dem einen oder anderen Punkt seiner bisherigen Überlegungen die Akzente anders, behält jedoch insgesamt das Grundgerüst seines Ablassverständnisses bei.90 An dem jurisdiktionellen Ablasskonzept, der „absolutio poenitentiae iniunctae“, hält Cajetan in den Augsburger Traktaten unverändert fest. Zugleich aber, bedingt durch Luthers Kritik an der Forenkoppelung und dem Kirchenschatz, wird von ihm die „dispensatio“ der Genugtuungen stärker betont.91 Nachlass der Strafen und Austeilung der Genugtuungen erscheinen zwar an einer Stelle lediglich als zwei Seiten des Ablasses in unterschiedlicher Perspektive.92 Doch scholastischen Theologie verweist und hieraus das Recht ableitet, sich über diese Fragen zu äußern, wird Cajetan zu Aussagen gedrängt, die einen allgemeingültigen katholischen Standpunkt annehmen.“ (ebd.) Daran anschließend Bagchi, Luther’s Ninety-five Theses (wie Anm. 19), 350. In beiden Fällen wird allerdings der Wandel – schwerlich zu recht – an einem veränderten Verständnis der Ablassmaterie (poenitentiae iniunctae – poenitentiae non iniunctae) festgemacht. Eher schon dürften Veränderungen der Legitimierungsstrategie (Stützung der Bulle Unigenitus durch die Dekretalen Quod autem und Cum ex eo; Versuch eines Nachweises der Biblizität des Kirchenschatzes) als Indizien eines Wandels zu deuten sein; vgl. Felmberg, 314 f. 90 Spätere, nach 1518 anzusetzende Einsichten Cajetans aus der Auseinandersetzung mit Luthers Ablasskritik sind damit nicht ausgeschlossen; vgl. Janz, Denis R., Luther and Late Medieval Thomism. A Study in Theological Anthropology, Waterloo 1983, 140 f. Zu der hier vorgetragenen, insgesamt zurückhaltenden Einschätzung vgl. auch die Beurteilung des Augsburger ‚Verhörs‘ durch Kurt-Victor Selge, demzufolge es sich bei der Begegnung Cajetans mit Luther „eher um ein Aneinandervorüberziehen zweier Planeten auf je eigener Umlaufbahn gehandelt hat.“ Gleichwohl sei ein wechselseitiger Einfluss erfolgt, „bei Luther mehr punktuell, aber ‚konfessionsbildend‘ und wenn man will kirchenspaltend in die Tiefe gehend, bei Cajetan im Sinne einer ruhigen, kontinuierlichen, aber auch die Akzente zur Schriftbegründung hin verschiebenden Weiterarbeit nunmehr auch unter Berücksichtigung der neuaufgeworfenen Probleme, soweit er sie mit seinem Begriffsapparat zu registrieren in der Lage war.“ (ders., Rez. von Jared Wicks, Cajetan und die Anfänge der Reformation, in: ZKG 98 [1987], 128–130, hier 128) Trotz der von ihm konstatierten Momente des Wandels hält auch Felmberg im Blick auf die Ablasstheologie Cajetans grundsätzlich an dieser Einsicht fest; vgl. ders., 366 f., 397. 91 Den Ausdruck „distributio“ vermeidet Cajetan in den Augsburger Traktaten. 92 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 7. Oktober 1518: De thesauro indulgentiarum (Morerod I, 216): „[…] dicitur, quod indulgentia, secundum diversos suos actus, diversis rationibus exprimitur. Nam secundum quod est absolutio et remissio pene, sic iudicis actus est et dicitur; secundum vero quod est applicatio satisfactionis ad hunc, sic dispensatio est et dicitur; et secundum quod efficit exolutionem pene apud divinam iustitiam per applicatam satisfactionem, sic opus iustitie est et dicitur. Unde breviter respondetur, quod indulgentia, ut respicit hunc, cui conceditur, est remissio et relaxatio; quamvis ut respicit divinam iustitiam, sit solutio usque ad minimum quadrantem.“ Verglichen mit dem Verstorbenenablass kann der Begriff „absolutio“ freilich auch speziell für den Modus der Übermittlung des Ablasses bei den Lebenden stehen – im Unterschied zum „modus suffragii“ bei den Verstorbenen; vgl. ders., Traktat vom 15. Oktober 1518: An papa auctoritate clavium det indulgentiam animabus in purgatorio (Morerod I, 294): „Unde patet quod indulgentia concessa vivis et defunctis hoc habet commune, quod utraque ex potestate clavium dispensante thesaurum meritorum penalium christi et sanctorum in remissionem pene temporalis pro actualibus peccatis debite conceditur. Sed modus, quo pervenit indulgentia ad utrosque, diversus est: quia ad vivos, qui
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bleibt für Cajetan der Nachlass („absolutio“), wie die durch Luther initiierte Auseinandersetzung um das Wort vom „Binden und Lösen“ (Mt 16,19b) zeigt, der letztlich wesensbestimmende Aspekt.93 Ferner wird die im Tractatus de indulgentiis behauptete Kompetenzenfülle des Papstes in der Auseinandersetzung mit der lutherschen Ablasskritik ohne erkennbare Abstriche vertreten. Cajetan betont in den Augsburger Traktaten nun vielmehr ergänzend die päpstliche Jurisdiktionsgewalt auch über den Kirchenschatz: Die Lebenden spricht der Papst autoritative los, den Verstorbenen teilt er autoritative den Kirchenschatz aus, damit sie „per modum suffragii“ losgesprochen(!) werden.94 Aufs Ganze gesehen, scheint die Auseinandersetzung mit Luthers Ablasskritik weniger zu inhaltlichen Modifikationen des Ablassverständnisses als vielmehr zu Veränderungen des Begründungsverfahrens Anlass gegeben zu haben. Wie der Disput über das Schlüsselwort zeigt, geht Cajetan stärker auf die Auslegung der von Luther angezogenen biblischen Belegstellen ein und zieht auch in den Fragen des Fegefeuers öfters die Autorität Augustins heran. Auch verweist er gelegentlich auf den „sensus ecclesiae“, auf den „Konsens der Gelehrten“ oder, wenn zu den diskutierten Fragen andere theologische Begründungsnormen nicht greifen, auf den göttlichen oder sittlichen ordo. Wenn auch Cajetan in der Auseinandersetzung mit Luther eine mehrfache normative Absicherung sucht, so rangieren die einzelnen theologischen Normen allerdings doch nicht auf ein und derselben Ebene, sondern werden unterschiedlich gewichtet. Die Argumentationslinien der Traktate vom 29. September 1518 (De effectu indulgentiae) und vom 7. Oktober 1518 (De thesauro indulgentiarum) lassen deutlich erkennen, dass die hauptsächliche Beweislast eigentlich unverändert auf den konziliaren und päpstlichen Verlautbarungen liegt – jetzt freilich vor allem auf der Bulle Unigenitus. Insofern rückt Cajetan auch gegenüber Luther nicht von seinem Ansatz ab, die Ablasslehre maßgeblich aus dem Kirchenrecht, den konziliaren und päpstlichen Kanones, zu rekonstruieren, die er in den Augsburger Traktaten freilich verstärkt durch andere Normen zu sichern bemüht ist.95 illam consequuntur veraciter, per modum absolutionis pervenit; defunctos autem, qui etiam illam veraciter consequuntur, per modum suffragii liberat.“ 93 Vgl. dazu die Entfaltung der Unterscheidung „absolutio per viam indulgentiae – absolutio per viam licentiae“ in Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 29. September 1518: De effectu indulgentie (Morerod I, 276). Ferner ders., Traktat vom 7. Oktober 1518: De thesauro indulgentiarum (Morerod I, 242), wo das Verhältnis vergleichbar zum Tractatus de indulgentiis (1517) ausgedrückt wird: „Ad demum obiecta contra hoc, quod absolutioni, que fit per indulgentias, annectitur dispensatio thesauri meritorum Christi et sanctorum, respondetur: […].“ Siehe oben Anm. 20. 94 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 15. Oktober 1518: An papa auctoritate clavium det indulgentiam animabus in purgatorio (Morerod I, 294): „Ad primam ergo obiectionem conceditur, quod papa non potest auctoritative absolvere animas existentes in purgatorio: sed aliud est absolvere auctoritative illas, et aliud est dispensare auctoritative thesaurum christi et sanctorum pro illis, ut per modum suffragii absolvantur ille.“ 95 Vgl. Wicks, 92. Eine ähnliche Tendenz ist freilich auch schon im Indulgenztraktat erkenn-
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Obgleich Cajetan und Luther die zeitgenössische Ablasspraxis ähnlich wahrnahmen und beurteilten,96 war eine theologische Verständigung über den Ablass nicht (mehr) möglich. Das lag schwerlich allein daran, dass Cajetan entschlossen einen kirchenrechtlichen Zugang zum Thema verfolgte, während Luther umgekehrt gerade das Kirchenrecht als Norm bereits fragwürdig geworden war, weil er es vielfach nicht mehr als schriftgemäß erkannte. Dafür dürften wohl auch theologische Überzeugungsverschiebungen verantwortlich zu machen sein. So scheinen die Vorstellungen von Gerechtigkeit, gerade auch sofern sie als Prinzip göttlichen Handelns geltend gemacht wird, zwischen beiden Gesprächspartnern divergent gewesen zu sein. Die Vorstellung, dass Gott keine Sünde (auch des Getauften) ungestraft sein lasse und infolgedessen der Getaufte für jede Sünde persönlich vollständige Satisfaktion zu leisten habe (poenitentia iusta),97 gehört offensichtlich nicht mehr zu den von beiden Gesprächspartnern unhinterfragt geteilten Ansichten. Während Cajetan ganz selbstverständlich daran festhält, dass Gott keine Sünde, auch nicht die eines Getauften, ungestraft sein lässt, scheint Luther das Konzept einer vom Büßer persönlich zu übernehmenden Genugtuungsstrafe und die diesem Konzept zugrundliegende Vorstellung einer rechnenden und dadurch auch berechenbaren Gerechtigkeit bereits insgesamt fraglich geworden zu sein.98 Beide Theologen debattieren in der Ablassfrage über Einzelaspekte, ohne dass man sicher sagen könnte, inwieweit ihnen die sich abzeichnenden ‚axiomatischen Brüche‘ schon bewusst waren. Das macht, bar, wenn Cajetan zur Frage nach der Ablasscausa die vorgebrachten päpstlichen Dekretalen mit Vernunftgründen untermauert; vgl. Thomas de Vio Cajetan, Tractatus de indulgentiis c. 8 (Tertia pars 1523, 213v). 96 Bereits im Indulgenztraktat, also noch vor der Begegnung mit Luther, fallen gelegentliche kritische Bemerkungen gegenüber der verbreiteten, laxen Bußgesinnung auf, hinter denen der Wunsch nach einer Erneuerung der ‚altkirchlichen‘ Bußdisziplin sichtbar wird; siehe oben Anm. 9. Zu diesem sowohl bei spätmittelalterlichen Ablasskritikern wie Ablassverteidigern vorauszusetzenden, wenn auch von den damaligen Kontrahenten nicht immer gegenseitig wahrgenommenen beziehungsweise zugestandenen Interesse an Bußernst und guten Werken vgl. die Beobachtungen von Hamm, 144–151. 97 Vgl. zur antiken und frühmittelalterlichen Vorgeschichte der Vorstellung Angenendt, Arnold, Deus, qui nullum peccatum impunitum dimittit. Ein „Grundsatz“ der mittelalterlichen Bußgeschichte, in: Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Und dennoch ist von Gott zu reden. Festschrift für Herbert Vorgrimler, Freiburg i. Br. u. a. 1994, 142–156; ders., Die historische Entwicklung des Ablasses und seine bleibende Problematik, in: Rehberg (Hg.), Ablasskampagnen des Spätmittelalters (wie Anm. 5), 31–43. Vgl. auch Morerod II, 428 f., der in den Augsburger Traktaten eine Auseinandersetzung mit Luthers Ablehnung der scholastischen Grundüberzeugung, „que tout péché entraîne une peine“ (428), vermisst. Die zur Begründung dieser Leerstelle gegebenen Hinweise Morerods (unsystematischer Charakter des lutherschen Denkens; Luthers grundsätzliches Festhalten an der Sündenstrafe; vgl. ebd.) sind kaum schon zureichend und bedürfen weiterer Nachforschungen. 98 Vgl. etwa die 36. These der 95 Thesen, die für eine von Gott dem reumütigen Büßer im Bußsakrament auferlegte zeitliche Sündenstrafe eigentlich keinen Platz mehr lässt; Luther, Martin, WA 1, 235,7 f.: „11 Quilibet christianus vere compunctus habet remissionem plenariam a pena et culpa etiam sine literis veniarum sibi debitam.“
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systematisch-theologisch betrachtet, vielleicht die Grenze, historisch gesehen, aber gerade den Reiz der literarischen und persönlichen Begegnung Cajetans mit Luther in den Umbruchjahren von 1517 und 1518 aus.
Martin Luthers Ablasskritik Martin Ohst Wer sich auf dieses Thema einlässt, der begibt sich auf ein Feld, wo sich schon viele andere munter tummeln. Damit meine ich nicht die immer wieder in künstlich aufgeregtem Ton geführte Debatte darüber, ob Luther am 31. Oktober 1517 irgendetwas irgendwo irgendwie an irgendeiner Tür befestigt hat.1 Diese Frage ist historisch ungefähr genauso wichtig wie die, ob der galiläische Fischersmann Simon Petrus jemals nach Rom gelangt ist:2 Fest steht, dass er im ausgehenden 2. Jahrhundert dergestalt in der Ewigen Stadt präsent war, dass Bischof Viktor versuchen konnte, mit ihm Kirchenpolitik zu machen,3 und spätestens seit dem Zeitpunkt, als Hieronymus den gesamten Erzählungskranz vom römischen Episkopat und Märtyrertum des Apostelfürsten mit dem Anstrich der lexikographischen Seriosität versah,4 ist der Römische Petrus eine unumstößliche Geschichtstatsache. Und analog verhält es sich eben auch mit dem Thesenanschlag, der unzweifelhaft historisch ist, seit und weil sich ihm immer neue Kristallformationen der deutenden Geschichtskonstruktion angelagert haben.5 Ich werde mich im Folgenden, gestützt auch auf andere Quellen aus dem zeitlichen und sachlichen Umfeld der 95 Thesen, mit den theologischen Argumenten befassen, die Luther gegen den Ablass ins Feld geführt hat. Dabei zeigt sich im Rückblick, dass sich in diesen Argumenten zwei deutlich unterschiedliche Gruppen ausmachen lassen: Da sind einmal solche, die vorwiegend systemimmanent strukturiert sind, also bestimmte Auswüchse anprangern und bestimmte Reduktionen anmahnen, ohne doch prinzipiell das gesamte Gefüge der kirchlichen Heilsvermittlung mit all seinen ineinander verschlungenen Ketten von Verheißungen und Bedingungen ausdrücklich in Frage zu stellen – geschweige denn das Verständnis der christlichen Religion, das in ihm zum Ausdruck 1 Der jüngste mir vor Augen gekommene Beitrag ist Hasselhorn, Benjamin / Gutjahr, Mirko, Tatsache! Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag, Leipzig 2018. 2 Auch auf diesem Kriegsschauplatz ist es ja letzthin wieder zu einigen Scharmützeln gekommen; einen Überblick vermittelt Heid, Stefan (Hg.), Petrus in Rom. Eine interdisziplinäre Debatte, Freiburg i. Br. u. a. 2011. 3 Das bezeugt bekanntlich indirekt der bei Euseb, Historia Ecclesiastica V,24,2–7 wiedergegebene Brief des Polykrates von Ephesus. 4 Vgl. De viris illustribus I. 5 Vgl. Kaufmann, Thomas, Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 2016, 373–388.
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kommt. Aber es finden sich eben in den Texten selbst auch deutliche Hinweise, die genau in diese ein neues Grund- und Gesamtverständnis der christlichen Religion andeutende Richtung weisen – jedenfalls heutige Leser, die Luthers frühere Schriften, insbesondere seine Notate zur Römerbriefvorlesung (1515/16), kennen. Die Zeitgenossen mussten bis zum Spätsommer 1518 warten – erst dann erschienen die Resolutionen zu den Ablassthesen, und in ihnen, seiner theologiegeschichtlich mit Abstand wichtigsten Schrift zum Ablass, vertrat Luther wieder eine schon zuvor erreichte theologische Position, die weit entfernt lag vom Ablass bzw. von den in ihm wirksamen, bis ins nachapostolische Zeitalter der christlichen Religion zurückliegenden Langzeitproblemen.6 Meine folgenden Ausführungen gliedere ich folgendermaßen: Ich gehe zunächst auf jene (scheinbar) systemimmanente bzw. systemstabilisierende Schicht von Luthers Ablasskritik ein, bevor ich mich denjenigen Gedanken zuwende, die den epochalen Beginn einer neuen Periode7 in der Geschichte der christlichen Religion markieren. In diesen beiden Teilen profiliere ich meine Ausführungen an anderen gegenwärtigen Forschungspositionen, die ich jeweils einleitend kurz vorstelle. In zwei abschließenden Kapiteln ordne ich die hier erarbeiteten Befunde dann noch in weitere Bezüge ein.
1. A) Seit geraumer Zeit wird auf Anregung und unter Leitung des Möhler-Instituts in Paderborn an einer Kommentierung von Luthers Ablassthesen gearbeitet. Der Umfang dessen, was da entstehen soll, ist gewaltig. Es zeichnet sich eine quantitative Asymmetrie von Text und Kommentar ab, wie wir sie bislang nur aus den Exzessen der neutestamentlichen Wissenschaft kennen. Als ich mir die Ankündigung des Werks im Internet letzthin nach etwa zehn Jahren8 wieder einmal intensiv ansah, habe ich bemerkt, dass die begleitenden theologie- und kirchenpolitischen Fanfarenstöße nicht mehr ganz so grell klingen wie ehedem; ansonsten hat sich an der Programmatik nichts geändert. Das Ziel des Unternehmens besteht nicht etwa darin, Luthers Ablasskritik im Kontext seiner neuen Bußauffassung zu verstehen,9 also der ersten Ausdrucksgestalt seines neuartigen Wesensverständnisses der christlichen Religion, das er kurz vor dem Ablassstreit erstmals in den Notaten zu seiner Römerbrief-Vorlesung ausformuliert Vgl. dazu Ohst, Martin, Wurzeln des Ablasswesens, in: KuD 63 (2017), 18–37. Vgl. zur Terminologie Schleiermacher, Friedrich, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Beruf einleitender Vorlesungen, Berlin 21830, 35 f. (§§ 71–73). 8 Vgl. Ohst, Martin, Der erste Jubiläumsablaß. Eine kirchengeschichtliche Erinnerung, in: U. Hascher-Burger et al. (Hg.), Between Lay Piety and Academic Theology. FS Christoph Burger, Leiden / Boston 2010, 3–32, hier 5–7. 9 Vgl. Ohst, Martin, Vom Leistungsprinzip zum Bildungsgedanken. Motive und Tendenzen in Martin Luthers Verständnis der Buße, in: BThZ 34 (2017), 47–72. 6 7
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hatte.10 Nein, im Zentrum des Unternehmens stehen allein die 95 Thesen, also jenes kleine Schriftchen von gerade mal sechs Druckseiten. Zur Begründung wird angeführt, Luther habe sich mit diesen Thesen in einen übergeordneten, breiten Fachdiskurs über den Ablass eingeschaltet. Folglich soll bei jeder These eruiert werden, „welches Argument Luther […] formuliert, gegen welche Auffassung es sich richtet, wie diese Auffassungen im Kontext der spätmittelalterlichen Diskussion verstanden wurden, ob Luther zur Klärung und Lösung der Streitfrage beiträgt und welche Reaktion er bei seinen Kritikern hervorgerufen hat“.11
Dieses Arbeitsprogramm legt Luther ausdrücklich von vornherein einlinig auf eine Rolle als systemimmanenter Kirchenreformer fest: „Insofern sind die Thesen Luthers nicht gegen den Ablass an sich gerichtet, sondern wollen aufgrund eines seelsorgerlichen Anliegens das Verständnis des Ablasses schärfen und einen verbreiteten Missbrauch in der damaligen Ablasspraxis aufzeigen und beseitigen“. Und diese perspektivische Ausrichtung ist ihrerseits wiederum Bestandteil eines kirchenpolitischen Programms. Sie ist ein Mittel zu dem übergeordneten Zweck, „die Ursachen der Spaltung der abendländischen Christenheit klarer aufzuzeigen und zu einer Überwindung der Spaltung beizutragen“. Zu diesem Programm ließe sich vieles sagen. Bemerkenswert und diskussionsbedürftig ist in unserem historiographischen Zusammenhang die Konzentration auf jene Thesen. Luther habe sich mit ihnen angeblich in einen Fachdiskurs eingeschaltet. Nun, schon das dürfte so nicht stimmen. Bevor Luthers Thesen erschienen, gab es unterschiedliche akademische Lehrmeinungen über die Deutung bestimmter Teilaspekte dieses kirchlichen Heilsangebots, das jedoch in seiner Gültigkeit vorausgesetzt und nicht in Frage gestellt wurde. Die eigentliche Debatte, in der es um Sein oder Nichtsein des Ablasses und darum alsbald auch um das kirchliche System ging, das die in ihm Befriedigung suchenden Bedürfnisse hervorgebracht hatte, hat Luther ganz allein vom Zaun gebrochen. Und zu deren viel zu wenig beachteten Resultaten gehörte es, dass Papst Leo X. durch die von Cajetan verfasste Dekretale Cum Postquam12 bestimmte Unklarheiten der Ablasstheorie mit lehramtlicher Autorität beseitigte. Sicher, die Wirkung der 95 Thesen war wegen der Konflikte, die sie auslösten, weltgeschichtlich. Was aber würde Luther selbst dazu sagen, dass sie in dieser Weise isoliert und eines solchen immensen Aufwandes gewürdigt werden? Nun, wir sind für die Antwort auf diese Frage nicht auf bloße Vermutungen 10 Vgl. dazu Ohst, Martin, Gottes Nähe und Gottes Ferne in der Theologie Martin Luthers, in: Johanna Haberer / Berndt Hamm (Hg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz, Tübingen 2012 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 70), 359–376. 11 Dieses und die beiden folgenden Zitate nach https://www.moehlerinstitut.de/projekte/ ablassthesen-oekum-kommentierung (zuletzt abgerufen am 05.08.2019). 12 Edition und Faksimile bei Fabisch / Iserloh II, 191–200.
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angewiesen, denn Luther selbst hat in der Vorrede zu den Resolutionen deutliche Hinweise in dieser Richtung gegeben: „Es ist mir selbst ein Wunder, welches Schicksal da gewaltet hat, dass allein diese Thesen nicht nur über meine anderen [Thesen], sondern über die aller Lehrer hinaus beinahe in alle Lande verbreitet worden sind. Sie sind ja eigentlich nur bei uns und für die unsrigen herausgegeben worden, und zwar in einer Form, die es mir unglaublich erscheinen lässt, dass sie von allen verstanden werden. Es sind ja lediglich Disputationsthesen, keine lehrhaften Ausführungen oder Lehrsätze, dem Brauch entsprechend ziemlich dunkel und rätselhaft gefasst“.13
B) Festzuhalten ist hieran so viel: Luther selbst hat seine Thesen,14 anders als die Anführer der vielköpfigen Schar seiner fleißigen Kommentatoren, offenkundig nicht als klare Rechenschaft über seine Haltung zur Theorie und Praxis des Ablasses anerkannt. Die wollte er sich vielmehr erst in einer akademischen Disputation entlocken lassen. Und so hat er in seinen 95 Thesen ein ziemlich buntes Gemisch aus volkstümlichen und gelehrten Einwänden gegen den Ablass zusammengestellt. Insbesondere die letzteren haben bisweilen eine lange Vorgeschichte, ist doch das intellektuelle Unbehagen am Ablass so alt wie dieser selbst. So entstammt z. B. der Sachgehalt von These 82, welche die Frage stellt, warum denn der Papst, bitte schön, wenn er es doch kann, nicht gleich das ganze Fegefeuer leert, schon von Abaelard.15 Es musste allerdings im frühen 16. Jahrhundert niemand umfängliche Spezialstudien treiben, um solche Gedankengänge kennenzulernen, denn sie wurden schulmäßig in Lehrbüchern tradiert und traktiert – gemäß dem scholastischen Verständnis von wissenschaftlicher Lehre, das es dem Lernenden zumutet, sich Kenntnisse und Einsichten immer durch die Rekapitulation ihrer Genese anzueignen. Einsichten und Argumente sind unter dieser nach wie vor beherzigenswerten Prämisse nur dann angeeignet, wenn sie in ihrem Entstehungskontext, also auch im Lichte der Gegenargumente, durchdacht worden sind.16 Andere Glieder der Thesenreihe machen ganz nüchtern mit gänzlich systemimmanenten Argumenten auf Schwachstellen in den Heilsverheißungen des Petrusablasses aufmerksam; so ruft These 30 lediglich in Erinnerung, was jeder halbwegs Gebildete längst wusste: Der Ablass hilft nur demjenigen, der das Bußsakrament empfangen hat. Und das ist abhängig davon, ob er einen hinreichen13 WA 1, 528 f. – Lateinische Zitate gebe ich im Haupttext in eigenen deutschen Übersetzungen wieder. 14 Ich zitiere die Thesen im Folgenden nach WA 1, 233–238, aber lediglich nach Nummern; die jedesmalige Angabe der Seiten- oder gar Zeilenzahl wäre ein Akt der albernen Pedanterie. 15 Vgl. Ohst, Martin, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter, Tübingen 1995 (BHTh 89), 105–109. 16 Luther hat bekanntlich seine einschlägigen Grundkenntnisse aus der „Summa Angelica“ bezogen; zur dort präsentierten Vielfalt an ablasstheoretischem bzw. -kritischem Gedankengut vgl. Ohst, Pflichtbeichte (wie vorige Anm.), 269–280.
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den Grad von Reue erbracht hat, was wiederum schlechterdings niemand bei sich selbst oder bei einem anderen verlässlich konstatieren kann. Auch die Forderung, die Reichweite des Ablasses auf das zu reduzieren, was Luther als seinen Ursprung identifiziert, nämlich den Erlass der faktisch auferlegten, nach den theoretisch nach wie vor gültigen alten Kanones bemessenen Strafen,17 nimmt lediglich eine längst antiquierte bußtheologische Lehrmeinung auf, die im Lehrbuchwissen weiterhin mitgeschleppt wurde. Auffällig ist das Bestreben, die „Fehler“ als nicht im kirchlichen System selbst liegend, sondern als von außen her eingedrungen zu markieren,18 wobei Luther seine Bereitschaft bekundet, Papst und Bischöfe vor Verdächtigungen und Unterstellungen in Schutz zu nehmen19 und ihnen Brücken zu bauen, auf denen sie ohne Gesichtsverlust aus Systemzwängen, die durch übersteigerte Erwartungshaltungen aufgebaut worden sind, herauskommen können. In all dieses scheinbar ganz systemimmanente Geschiebe sind dann aber trotzdem gleichsam kleine Goldkörnchen eingestreut – Andeutungen, bei deren Lektüre Kundige die Augenbrauen hochgezogen haben werden, weil hier wirklich neuartige Leitgesichtspunkte aufblitzten, etwa der, dass der wahre Kirchenschatz die frohe Botschaft von Gottes Ehre und Gnade sei.20 Anderes ist offenkundig mehrdeutig, so die erste These vom Christenleben als dauernder Buße: Das kann man ja auch so verstehen, als seien hier etwa solche Laien angesprochen, die derart sittenstreng leben, dass sie sich zum Zeugnis ihrer Vorzüglichkeit aus freien Stücken allwöchentlich oder gar alltäglich der Begegnung mit Christus in der Kommunion aussetzen und deshalb ebenso oft das Bußsakrament in Anspruch nehmen.21 Und die 44. These, die besagt, dass der Mensch durch Werke der Liebe innerlich wachse und besser werde, während er durch den Kauf von Ablässen nur äußerlich von Strafen befreit werde,22 vermochte dem kräftigen Moralismus eines erasmianischen Bibelhumanisten leicht einzugehen – obwohl oder besser: weil er, wenn er einfach bloß die 95 Thesen las, nicht von ferne zu ahnen vermochte, dass hier viel mehr im Spiel war, nämlich eine ganz neu gestaltete Anschauung von Gott, vom Menschen und von der Heilsbedeutung Jesu Christi. 17 „Papa non vult nec potest ullas penas remittere praeter eas, quas arbitrio suo vel canonum imposuit“ (These 5; vgl. auch die Thesen 20 und 34). 18 „Zizania illa, de mutanda pena canonica in penam purgatorii videntur certe dormientibus episcopis seminata“ (These 11). 19 „Facit hoc licentiosa veniarum praedicatio, ut nec reuerentiam Pape facile sit, etiam doctis viris, redimere calumniis aut certe argutis quaestionibus laicorum“ (These 81). 20 „Verus thesaurus ecclesie est sacrosanctum euangelium glorie et gratie Dei“ (These 62). 21 Vgl. dazu Ohst, Martin, Von der Eucharistie zum Abendmahl. Martin Luthers Neugestaltung des Altarsakraments zur Ausdrucksform reformatorischen Christentums, in: ThGl 109 (2019), 218–242, hier 223. 22 „Quia per opus charitatis crescit et fit homo melior, sed per venias non fit melior, sed tantummodo a pena liberior“.
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Sieht man auf Luthers œuvre, wie wir es, anders als seine Zeitgenossen, schon von seinen Anfängen her kennen, dann zeigt sich sehr deutlich die Stellung der 95 Thesen zwischen den Niederschriften zur Römerbrief-Vorlesung und den Resolutionen, deren besondere Problematik Irene Dingel unlängst treffend auf den Begriff gebracht hat: „In den folgenden Jahren [also nach den frühen Vorlesungen] finden sich immer wieder auch solche Äußerungen, die sich aus Luthers vorerst fortbestehender Verankerung im altgläubigen Frömmigkeitskontext ergeben. Ein Beispiel dafür sind seine 95 Thesen vom 31. Oktober 1517, die aber seine neue reformatorische Erkenntnis bereits im Hintergrund mitführen“.23
Luther hat also erst in den Resolutionen wirklich Farbe bekannt. Jetzt konnten sich die Zeitgenossen ein ziemlich genaues Bild von seiner theologischen Position machen. Und anders als sie wissen wir, dass seine Position in den Resolutionen schon 1515/16 im Wesentlichen fest ausgebaut war – abzüglich natürlich seiner erstmals 1518 formulierten Zuspitzung des qualitativ verstandenen Evangeliums auf das Absolutionswort im Bußsakrament,24 und diese Verengung sollte er auch schon bald wieder überwinden.25 Die kategorialen Grundlagen waren also weitgehend fertig, als Luther in den Ablassstreit eintrat. Gewachsen waren sie allerdings in einem Kontext, der der Welt des Ablasswesens in zweifacher Weise ganz fern war: Einmal formulierte Luther seine weiterführenden Einsichten zunächst als zünftig-akademische Bibelauslegung; zum andern lebte er im Bettelordenskonvent in einer Welt, in der für aparte Bußwerke und damit auch für den Ablass kein Platz war, weil ja das ganze Leben gemäß den Evangelischen Räten der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ein verdienstliches Werk war – weil und sofern derjenige, der es führte, sich im Stande der rechtfertigenden Gnade befand. An Predigten und Sermonen lässt sich ablesen, wie sich Luther aus gegebenen Anlässen von hier aus an die Ablassthematik allmählich herangetastet hat, wie er versucht hat, jene ganze Vorstellungs- und Gedankenwelt, die ihm natürlich aus den Jahren vor seinem Klostereintritt lebensweltlich vertraut war und in die er sich etwa anhand der Summa Angelica auch theoretisch eingearbeitet hatte,26 von seinen Prämissen aus kritisch verstehend zu durchdringen. Und eine Station in diesem Prozess, in dem sich seine Theorie der Praxis annäherte, um sie als23 Dingel, Irene, Geschichte der Reformation, Göttingen 2018 (Theologische Bibliothek 5), 51. 24 Vgl. Conclusio VII, WA 1, 540 f. 25 Die nächste entscheidende Weichenstellung ist hier die Zentralstellung der Konfiguration von Verheißungswort und aneignendem Glauben in der Schrift „De captivitate Babylonica“, WA 1, 516 f. – Die fertig ausgebildete Anschauung von der Einheit des Evangeliums in der Vielfalt der kommunikativen Medien ist klassisch formuliert in den Articuli christianae doctrinae III,4; BSLK, 449. 26 Vgl. oben S. 108 mit Anm. 16.
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bald derart durcheinanderzuwirbeln, wie ihr Urheber das zuvor nie geahnt hätte, markieren eben auch die 95 Thesen. Die waren so gestaltet, dass sie zuallererst Neugier provozieren sollten, indem sie herkömmliche Gedankenfiguren zuspitzten und neu konfigurierten, daneben aber auch einige Innovationen andeuteten. Aber Luthers abschließendes, kritisches oder konstruktives Wort zur Sache, also genau das, als was das Paderborner Pilot- und Prestigeprojekt sie preist, waren sie nicht, und sie wollten es auch nie sein. Sie sind also zu lesen und zu verstehen als eine Etappe des mitnichten einfach geradlinigen Weges, auf dem sich der Intellektuelle, der als Bettelmönch und Professor einer hauchdünnen kirchlichen und gesellschaftlichen Elite angehörte, der gelebten Alltagskirchlichkeit seiner Zeit annäherte. Was sie in weltgeschichtliche Weiten wirken ließ, war ihre Doppelschichtigkeit: Weil sie Bekanntes zuspitzend reformulierten, konnte sich eine heterogene Vielzahl von Unzufriedenen und Reformbestrebten zeitweilig um sie sammeln. Weil sie Andeutungen enthielten, die weit darüber hinaus gingen, lenkten sie die kritische Aufmerksamkeit besonders kluger und feinfühliger Zeitgenossen auf sich, und so initiierten sie den Prozess, der zu Luthers Verurteilung als Häretiker führte, und in diesen Prozess gehörte auch sein Augsburger Treffen mit Cajetan hinein. Für die Aufgabe, Luthers Ablasskritik zu charakterisieren, heißt das: Sie ist nicht durch die Rekonstruktion des gedanklichen Gehalts der 95 Thesen zu lösen. Dieser muss vielmehr im Ausgriff nach hinten wie nach vorn kontextualisiert werden. Und wenn das geschieht, dann erhellt gerade Luthers Ablasskritik als Beleg für Schleiermachers These, dass „die Reformation nicht nur Reinigung und Rükkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen war, sondern eine eigenthümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft aus ihr hervorgegangen ist“.27
2. Der so fragende Zugriff auf das Thema begegnet zwei weiteren profilierten aktuellen Forschungspositionen, die allerdings nicht bloß als Programme, sondern in ausgeführter Gestalt vorliegen. A) Berndt Hamm hat vor kurzem in einer Monographie,28 die durch ihre Fülle an exquisitem Material ebenso beeindruckt wie durch ihren Reichtum an Beobachtungen und Gedanken, die These aufgestellt, zwischen Luthers in den Debatten um Ablass und Buße erstmals öffentlich wirksam werdender Theologie und dem theologisch-seelsorgerlichen Denken, welches in den großen Plenarablass-Kam27 Schleiermacher, Friedrich, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1, Berlin 21830, 145 (§ 24 Leitsatz). 28 Hamm, Berndt, Ablass und Reformation – Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016.
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pagnen des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts waltete, seien „Erstaunliche Kohärenzen“ zu konstatieren. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass gemäß mittelalterlich-katholischem Verständnis zwei Faktoren dafür unentbehrlich sind, dass ein Mensch trotz des Verhängnisses der Erbsünde zum Ewigen Leben zu kommen vermag: Einmal Gottes Gnade und Barmherzigkeit, also seine Heilstat in Menschwerdung, Tod und Auferweckung Jesu Christi, die untrennbar ist von seiner Gerechtigkeit. Und weil die Gnade und Barmherzigkeit Gottes seine Gerechtigkeit in und bei sich hat, darum muss als zweiter Faktor des Menschen freie Annahme dieser Heilstat hinzukommen – in einem Glauben, der dem Leben seine Gestalt aufprägt. Aus menschlicher Perspektive (die Hamm allein durchspielt) heißt das: Es obwaltet die religionsgeschichtlich ubiquitäre29 Logik von Gabe und Gegengabe, wenngleich beide immer quantitativ zueinander im Verhältnis extremer Asymmetrie und Inkommensurabilität stehen. Die spätmittelalterliche Frömmigkeit, Kirchlichkeit und Theologie seien miteinander geprägt gewesen von einer extensiv wie intensiv immer stärker werdenden Betonung der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit als des einzigen Grundes aller Erlösungshoffnung. Und diese Gnadenzentrierung sei zugleich eine Christuszentrierung gewesen, allerdings eine Zentrierung auf einen Christus, der auf Erden vollgültig repräsentiert wird durch die gleichsam im Amt seines Stellvertreters, des Nachfolgers Petri, in der Fülle der Vollmacht konzentrierte Kirche, und der in sein Heilswerk das sekundär-abgeleitete Heilswirken all der Heiligen, von der Gottesmutter und Himmelskönigin absteigend bis zu all den volkstümlichen Nothelfern, integriert. Immer mächtiger sei dieser Gnadenstrom angeschwollen, und immer näher sei er den Bedürftigen gekommen; immer weiter seien die Forderungen abgesenkt worden, die erfüllen musste, wer an ihm partizipieren wollte – bis hinunter zum absoluten Minimum, nämlich zum ehrlich bedauernden Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit zur konstruktiven Mitwirkung, basierend auf der Anerkennung der Heilsmacht der Kirche und der Wahrheit ihrer Lehrverkündigung, also auf dem, was katholisch „Glaube“ heißt.30 Gott, so die Ablasspraktiker und -theoretiker nach Hamms Rekonstruktion, ermäßigt seine Forderungen. Er will vom Menschen immer weniger, und die Quantität dessen, was er dem Menschen im Gegenzug gewährt, steigert sich ins Ungemessene.
29 Vgl. ebd., 161–164 sowie pointiert Osthövener, Claus-Dieter, Was ist Protestantismus? 9,5 Thesen, in: Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Reformation im Kontext. Eine Bilanz nach fünfhundert Jahren, Leipzig 2018, 178–189, hier 183 f. 30 Zu den größeren theologiegeschichtlichen Zusammenhängen vgl. Ohst, Martin, Glaube in der Kirchengeschichte – Zu den geschichtlichen Wandlungen eines Zentralbegriffs der christlichen Religion, in: Friedrich Wilhelm Horn (Hg.), Glaube, Tübingen 2018 (utb / Themen der Theologie 13), 65–131.
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Aber die Kurve verläuft asymptotisch; in unendlicher Annäherung bewegt sie sich auf die Null-Linie zu, ohne sie jemals zu berühren, denn wenn das geschähe, dann wäre ja Gottes Gerechtigkeit dementiert, welche fordert, dass der Mensch seinen Beitrag leistet, und wäre der auch quantitativ noch so geringfügig. Oberhalb dieser Grenze ist Gottes Gerechtigkeit mit jedem denkbaren Grad der Minderung von Forderungen vereinbar, zumal die ja auch nicht einfach gestrichen werden: Durch die in der anselmischen Satisfaktionstheorie verankerte Lehre31 vom Schatz der Verdienste Christi (und der Heiligen) ist ja dafür gesorgt, dass für jede Verfehlung ein Ausgleich stattfindet, nur muss der Mensch ihn nicht selbst erbringen, sondern die Christus auf Erden repräsentierende Kirche stattet ihn mit den Mitteln aus, die ihm die Bezahlung seiner Schulden ermöglichen. Aber unmöglich ist der Verzicht auf alle und jede Forderung der persönlich unvertretbaren, leistungshaften Beteiligung: Er täte, kurz gesagt, nicht nur der Gerechtigkeit, also der Gottheit Gottes Abbruch, sondern auch der Menschheit des Menschen, denn er verweigerte ihm die Anerkennung seiner mit seinem Menschsein gegebenen unverlierbaren Personhaftigkeit und Freiheit. Luther nun habe genau jenen bis dahin unmöglich erscheinenden Sprung über den quantitativ winzigen, qualitativ jedoch entscheidenden Abgrund hinweg gewagt und die Zuwendung der göttlichen Gnade und Vergebung als gänzlich unabhängig von jeder menschlichen Gegen- bzw. Vorleistung gedacht und gepredigt. Mit diesem intellektuellen Tabubruch habe er die der spätmittelalterlichen Ablasslehre und -praxis innewohnende Dynamik zugleich zum Abschluss gebracht und sie durch den Überschritt auf eine neuartige Ebene der religiösen Vorstellungswelt und des theologischen Denkens erhoben: Gott will, so nach Hamm die Botschaft von Luthers Ablasskritik, schlechterdings nichts vom Menschen, und er schenkt ihm alles! In diesem Zusammenhang zitiert Hamm Robert Bellarmin, den Meisterdenker der gegenreformatorischen Kontroverstheologie, der sarkastisch darauf verwiesen hatte, dass „‚keiner jemals einen so umfassenden Ablass verkündigt hat wie Luther, der ohne jede Mühsal der Buße, ohne irgendwelche guten Werke alle Schuld und Strafe allein aus Glauben nachließ‘“.32 In der Tat, so Hamm, „erscheint“ es so, als sei Luthers Lehre, „dass dem Glaubenden durch die Rechtfertigungsabsolution die vollkommene Vergebung von Schuld und Strafe geschenkt wird […] der letzte Akt der mittelalterlichen Entschränkungsgeschichte des Ablasses“.33 Aber es erscheint eben nur so, denn die Bewegung von den großen Ablasskampagnen hin zu Luther verlief nicht linear, sondern in einem „Sprung auf eine neue Ebene des Vergebungsverständ31 Vgl. zu diesem Zusammenhang Mühlenberg, Ekkehard, Dogma und Lehre im Abendland, in: Carl Andresen (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 1, Göttingen 1982, 406–566, hier 565. 32 Hamm, 84 mit Anm. 135. 33 Ebd., 83 f.; Hervorhebung M. O.
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nisses“.34 Wie allerdings genau dieser Sprung zu beschreiben und zu verstehen sei – darüber wird weiter unten zu diskutieren sein. B) Zuvor allerdings muss in diesem Zusammenhang noch auf die umfangreiche Studie hingewiesen werden, in der jüngst Volker Leppin mit der ihm eigenen Meisterschaft der Quellen- und Literaturbeherrschung Genese und Gestalt von Luthers Bußverständnis als Basis seiner Ablasskritik dargestellt hat.35 Er konstruiert im Mittelalter zwei Linien des Bußdenkens, nämlich einmal eine ältere, objektiv-sakramentale und eine mit Abaelard beginnende „subjektiv-sakramentsskeptische“.36 Luther habe, motiviert durch intensive Paulus-, Augustinund Tauler-Rezeption, diese zweite, angeblich jüngere Linie aufgenommen – sie allerdings zugleich dergestalt umakzentuiert, dass sie ihn zur Behauptung der „absolute[n] Abhängigkeit des Heilsgeschehens von Gott“37 hingeleitet habe. Dieser Abhängigkeit „korrespondiert eine ebenso absolute Passivität auf Seiten des Menschen, der keine Verdienste zu erlangen vermag und ganz auf den Glauben zurückgeworfen ist“,38 den Leppin ein paar Seiten weiter als „das anthropologische Zentralmoment der Buße“39 bezeichnet, ohne allerdings genauer darzulegen, was darunter zu verstehen sei. – Dazu sei an dieser Stelle nur so viel bemerkt: Natürlich ist der Glaube, verstanden als das gehorsame Fürwahrhalten der kirchlichen Lehrverkündigung und, darin impliziert, das Vertrauen auf die Heilswirksamkeit der kirchlichen Gnadenangebote, auch für jede Variante papstkirchlichen Bußverständnisses schlechterdings konstitutiv. C) Scheinbar liegen Hamms und Leppins Beitrag weit voneinander entfernt, denn sie nähern sich der Ablasskritik Luthers auf ganz unterschiedlichen Wegen. Aber sie treffen dann doch an einem zentralen Punkt zusammen – beim Glauben. Das, was Leppin den Glauben nennt, auf den der Mensch in der Buße zurückgeworfen werde, scheint mir exakt dasselbe zu sein, was Hamm in seiner Rekonstruktion der theoretischen Grundlagen des spätmittelalterlichen Ablasswesens als die Minimalbeteiligung des Sünders namhaft macht: das Ein Ebd., 84. Vgl. Leppin, Volker, Das ganze Leben Buße. Der Protest gegen den Ablass im Rahmen von Luthers früher Bußtheologie, in: Andreas Rehberg (Hg.), Ablasskampagnen des Spätmittelalters. Luthers Thesen von 1517 im Kontext, Berlin / Boston 2017 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 132), 523–564. Vgl. auch meine ausführliche Anzeige des gesamten Bandes in ThLZ 144 (2019), 475–478. 36 Zusammenfassend Leppin, Das ganze Leben Buße (wie Anm. 35), 557 f. – Dass und warum ich – umgekehrt – die „sakramentale“ Linie für die erheblich jüngere halte, habe ich in meiner Habilitationsschrift (siehe oben Anm. 15, bes. 102–138.217–219) und in einer einschlägigen Überblicksdarstellung (Art. Buße. kirchengeschichtlich, RGG4 1 [1998], 1913–1916) dargelegt und muss es deshalb hier nicht wiederholen. 37 Leppin, Das ganze Leben Buße (wie Anm. 35), 542. 38 Ebd. 39 Ebd., 549. 34 35
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geständnis der eigenen Bedürftigkeit und das Vertrauen auf die Sachhaltigkeit und Verlässlichkeit des ihm insinuierten Gnadenangebots. Sicher, anders als Leppin legt Hamm Wert darauf, dass dieser „Glaube“ im reformatorischen Verständnis inhaltlich anders gefüllt ist: „Aus der Sicht der Reformation begründet das von Sündenschuld und Strafe befreiende Evangeliumswort Glaubens- und Heilsgewissheit. Es befreit von jeder Heilssorge und Heilsvorsorge, weil es das Heil des Sünders völlig von der subjektiven Dimension seiner eigenen Frömmigkeit ablöst und in der transsubjektiven Dimension der Alleinwirksamkeit Gottes, der Erwählung des Menschen zum Heil, des Heilswerks Christi und der Vergegenwärtigung der biblischen Heilszusage verankert“.40
Aber strukturell bleibt es nichtsdestotrotz dabei: Unbeschadet bedeutsamer inhaltlicher Neubestimmungen ist der Glaube verstanden als Anerkennung dessen, was Semler als die ihm vorgegebene „Heilsordnung“ bezeichnet hätte, und dieser Glaube muss eben seitens des Subjekts erbracht werden, damit sich diese Heilsordnung an und in ihm zu realisieren vermag.41 Hamms und Leppins Deutungsansätze sind also, dem ersten Augenschein zum Trotz, eng miteinander verwandt: Luthers Bußverständnis reduziert die in der Buße an den Menschen gestellten Forderungen wirklich auf die Null-Linie herab. Und weil Gott vom Menschen rein gar nichts mehr fordert, darum implodiert gleichsam die gesamte Ablasspraxis und -theorie, die ja genau darin ihren Sinn hat, bestimmte Gehalte der göttlichen Forderungen so zu reduzieren, dass jeder Mensch sie bei redlichem Bemühen zu erfüllen vermag, ohne seine Lebens- und Handlungsfähigkeit in seinen weltlichen Bezügen gravierend zu beeinträchtigen. Allerdings schreibt ja auch die werdende reformatorische Lehre, wie sie sich Hamm und Leppin darstellt, dem Sündermenschen in der Buße / Rechtfertigung etwas zu, nämlich den Glauben. Aber was ist es eigentlich um diesen Glauben? Ist er strukturell dem verwandt, was ja auch die katholische Bußdoktrin und das Ablasswesen vom Menschen fordern, nämlich dem Fürwahrhalten der kirchlichen Lehrverkündigung – nur, dass nun eben die kirchliche Lehrverkündigung Hamm, 248. Genau das zeigt auch die Fortsetzung des obigen Zitats, nämlich wenn Hamm folgenden Hinweis gibt: „Zum einen schuf die Reformation mit ihrer Verankerung des Heils in Gottes prädestinierender Erwählung, ihrer Betonung der Heilsnotwendigkeit des Glaubens und ihrem Festhalten an der Lehre von der ewigen Verdammnis derer, die nicht zu einem lebendigen Heilsglauben kommen, neue Potenziale von Ängstigung, Anfechtung, Skrupulosität, Verunsicherung und Heilsungewissheit“ (ebd). Was Hamm da im Auge hat, bestätigt genau die Invektive Bellarmins: Der Glaube ist, gut augustinisch-katholisch, als Werk verstanden, und die Rechtfertigung allein aus Glauben ist dann nichts weiter als Rechtfertigung zum Dumping- bzw. Schleuderpreis. Dass es in vielen Aneignungsgestalten der Theologie Luthers (und wohl mehr noch der Melanchthons!) solche Phänomene gab und gibt, wird niemand in Abrede stellen, der sich auch nur von Ferne mit evangelischer Frömmigkeitsgeschichte befasst hat. Aber ebenso unstrittig dürfte es sein, dass sie mit dem Kern des reformatorischen Christentumsverständnisses in keinem echten Verwandtschaftsverhältnis stehen, sondern sich vielmehr dem dogmengeschichtlich geschärften Blick als Degenerationsgestalten vulgärkatholischer Frömmigkeit darstellen. 40 41
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inhaltlich neu bestimmt wird? Wenn es sich so verhielte, dann hätte Bellarmin den Nagel exakt auf den Kopf getroffen. Diese beiden Luther-Rekonstruktionen sind noch auf einer anderen Ebene miteinander verwandt, nämlich darin, dass sie ganz und gar vom Menschen, also seinen Bedürftigkeiten und Fähigkeiten her, gedacht sind; die Frage, welches Gottesbild in Luthers Neufassung der Bußlehre bzw. in seiner Ablasskritik bestimmend ist, thematisieren sie nicht ausdrücklich. Implizit allerdings zollen sie durchaus einer Besonderheit von Luthers theologischem Denken Tribut, die einst Karl Holl bleibend gültig auf den Begriff gebracht und der Lutherforschung als Leitmaxime ins Stammbuch geschrieben hat: Es sei eine Besonderheit von Luthers theologischem Denken, dass in ihm Sätze über das menschliche Gottesverhältnis und Sätze über das in ihnen erfahrene und reflektierte Handeln Gottes immer strenge Korrelate sind.42 Und liest man Leppins und v. a. Hamms Rekonstruktionen noch einmal unter diesem Leitgesichtspunkt, dann wird deutlich: Ihnen zufolge ist in Luthers reiner Gnadentheologie die einst von Anselm von Canterbury klassisch auf den Begriff gebrachte Spannung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in der Gottesanschauung und im Gottesgedanken restlos beseitigt: Gott ist reine Barmherzigkeit, und zwar dergestalt, dass er in seinem Verhältnis zum Menschen gleichsam ins reine Gewährenlassen hinein diffundiert.
3. A) Geht man dann mit dieser Arbeitshypothese an maßgebliche Texte Luthers aus der Zeit der Ablasskontroverse heran, dann reibt man sich alsbald verwundert die Augen. Da ist nämlich von einer solchen Diffusion des Gottesgedankens gar nichts zu spüren, ganz im Gegenteil: Ganz unmissverständlich spricht Luther fortwährend davon, dass Gott dem Menschen als kompromisslose Forderung gegenübersteht, so formuliert die 17. Ablassresolution unter Anspielung auf Prov 23,26: „Gott will vom Menschen nichts anders denn ihn als ganzen, wie gesagt wird: Gib mir, Sohn, dein Herz“.43 Das Gottesbild ist also nicht bestimmt von einer Haltung des resignativen Gewährenlassens! Und genau hierin liegt der theologische Kern von Luthers Buß- und Glaubensverständnis, und das wiederum muss man verstanden haben, um zu merken, dass Luthers Ablasskritik wider den an einigen Stellen sich aufdrängenden Augen42 Vgl. Holl, Karl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesungen über den Römerbrief (1911), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 61932, 111–154, bes. 113–129. 43 WA 1, 560; vgl. auch WA 1, 617: „So sagt der Apostel: Ich will nicht das Eurige, sondern ich will euch! Und Christus spricht: Ich will euch zu Menschenfischern machen. Das süße Wort nämlich zieht den Willen, ja, schafft den Willen des Menschen auf Christus hin“.
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schein eben nicht konstruktiv-systemimmanent ist, wie man in Paderborn zu meinen geneigt ist, sondern den Ablass mitsamt seinen Grundlagen kategorisch und kompromisslos verneint. B) Ablesen lässt sich das sehr eindrücklich auch schon an Luthers wohl vor dem eigentlichen Ablassstreit entstandenem Sermo pridie Dedicationis,44 einer hochkonzentrierten Meditation über die Zachäus-Episode in Lk 19. Dort formuliert Luther: „Es erhellt aus dem Evangelium, dass Gott allein des Menschen Inneres und sein Herz sucht – und zwar dergestalt: Wenn jemand alles tut oder gibt außer seinem Herzen, dann hat er nichts geleistet. Denn so sagt Prov. 23 ‚Gib mir, Sohn, dein Herz – nicht deine Hand, auch nicht deinen Leib, sondern das Herz – mir, nicht dir‘“.45
Das „Herz“ steht hier also für des Menschen Personzentrum, für das, was ihn zum Ganzen macht. Abgelehnt wird eine jede Frömmigkeitshaltung, die, in welchem quantitativen Ungleichheitsverhältnis auch immer, Gott irgendetwas geben zu können meint und im Gegenzug von Gott irgendetwas erwartet.46 Das in einem solchen Tauschunterfangen implizit vorausgesetzte (asymmetrische) Partnerschaftsverhältnis wird radikal verneint – aber nicht, indem Gott jedes Fordern abgesprochen würde, sondern, ganz im Gegenteil, so, dass Gott vom Menschen alles fordert, ohne eine Gegengabe in Aussicht zu stellen, deren Erwartung den Menschen zur Erbringung einer Leistung motivieren könnte. Und an dieser Stelle nimmt der Gedankengang dann eine im Kontext spätmittelalterlicher Frömmigkeitssprache höchst ungewöhnliche, überraschende Wendung. Luther blendet über zur Bezugnahme auf die Kain-Abel-Episode im GlaubensKapitel des Hebräerbriefs (Hebr 11,4) und erläutert die Metapher von der Gabe des Herzens, indem er ihr den Glauben als Wechselbegriff beigesellt: „Sieh da, es ist der Glaube, der den Unterschied zwischen Kain und Abel ausmacht“.47 Und im lebendigen Wechselspiel der Korrelatbegriffe formuliert Luther dann wenige Zeilen weiter: „Siehe, ohne Herz [d. h.: ohne den im neuartigen Sinn verstandenen Glauben; M. O.] irrt man immer, erregt man Zorn, wird man der Ruhe beraubt, strebt man nach Eitelkeit, liebt man die Lüge und strebt nach Schande anstatt nach Ehre“.48 Der Mensch, der sich Gott im Glauben ganz gibt bzw., besser, im Glauben von Gott ganz in die innerliche Gemeinschaft des Wollens hineingezogen wird, gewinnt nicht etwas, sondern sich selbst. Gott will also nicht etwas vom Menschen, sondern er will ihn selbst in seiner ungeteilten Ganzheit, und genau diesem Willen Gottes entspricht auf Seiten des 44 WA 1, 94–99; zur außergewöhnlich diffizilen Datierung siehe jetzt Lehmann, Roland M., Reformation auf der Kanzel. Luther als Reiseprediger, Tübingen 2021 (BHTh 199), 74 f. 45 WA 1, 96. 46 Vgl. oben S. 112 mit Anm. 29. 47 WA 1, 96. 48 Ebd.
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Menschen der ganz anders als bisher verstandene Glaube. Genau der und nur der macht ihn gerecht, also so, wie er nach Gottes Willen sein soll. Schon aus diesen wenigen Sätzen also wird deutlich: Luthers hier schon vor dem großen Streit sich deutlich abzeichnende Ablasskritik wurzelt in einem neuen Gesamtverständnis der christlichen Religion. Gott ist nicht derjenige, der zugunsten des Sündermenschen eine Ordnung von Bedingungen und Hilfen aufrichtet, mit deren Hilfe sich der Mensch mit Gottes Gnadenhilfe das Heil, nach dem er tief innerlich immer schon strebt, zu erarbeiten vermag, sondern er ist schöpferischer Wille, der sich im und am einzelnen Menschen, den er zum Heil erwählt hat, souverän durchsetzt. Glaube ist nicht die Annahme der kirchlichen Lehrverkündigung auf Autorität hin, also der erste, alles weitere bedingende Akt des Gehorsams in einer Reihe von weiteren, in denen der Mensch mit den in der Kirche verkörperten göttlichen Gnadenhilfen kooperiert, und der dann durch die Liebe, also den Willensentschluss, die im Glauben kognitiv antizipierte Heilsmöglichkeit auch zu realisieren, gleichsam wachgeküsst werden muss. Vielmehr ist er diejenige Konfiguration der Gesamtpersönlichkeit, die im Menschen entsteht, wenn und sofern der göttliche Heils- und Erlösungswille schöpferischwirksam auf ihn zugreift. Der Glaube ist also keine Bedingung, die der Mensch erfüllen muss, wenn er zum Heil gelangen will, sondern in ihm selbst gewährt Gott Teilhabe am Heil. Und die Buße ist genau derjenige Vorgang, in welchem der Glaube entsteht – durch Gottes Zugriff, den der Mensch erleidet und erfährt – als ein Umgewendetwerden. Jeder Mensch ist ja von Geburt an Sünder, weil und sofern er alles seinem Selbstzweck ein- und unterordnet, der Gott also auch gern etwas gibt, weil und sofern er etwas dafür zu bekommen erwartet: „Das aber ist das Böse in jedwedem Menschen, das war es von Anbeginn und wird es bis zum Ende sein, wenn es nicht durch die Gnade geheilt wird: Dass der Mensch in allem, auch in Christus, das Seine sucht“.49 Die Predigt vom Kirchweih-Sonntag erzählt also von der Buße, und die ist neuartig verstanden als derjenige Prozess, in dem dieser Glaube als Bewusstseinsformation im Menschen entsteht. Dass Zachäus auf den Baum stieg, deutet Luther als Ausdruck einer ihn bestimmenden inneren Ambivalenz: Er fühlte sich zwar zu Jesus hingezogen, aber zugleich durch Sündenbewusstsein von ihm ferngehalten. Es war der Glaube, der, seiner selbst noch unbewusst, weil unter Sündenbewusstsein verborgen, in Zachäus wirksam war,50 als er Jesus nur von ferne anzusehen wagte, während sich andere ganz ungescheut an ihn
WA 1, 98. Vgl. WA 1, 97 f. – „Videte ergo profunditatem cordis humani, cuius veritas tam intima est et secretum velle, ut nesciat sese nec gaudeat velle, solummodo sentitur et vivitur hoc velle, non autem elicitur. Hoc est rectum cor, haec sunt interiora hominis“ (ebd., 98). 49 50
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herandrängten und ihn an sich ziehen wollten – sie bejubelten ihn als Anlass zur Bestätigung ihrer religiösen Selbstsicherheit.51 Dieses in Zachäus waltende untergründige Spannungsverhältnis hat Jesus offengelegt und geklärt, indem er sich bei Zachäus selbst einlud. Dieser Besuch, diese Heimsuchung, steht für die Buße, in der beides, das Sündenbewusstsein und der durch Jesus geschenkte Vergebungsglaube, im Bewusstsein lebendig und wirksam werden und als innere Spannungsdynamik die Lebenserneuerung initiieren, in der Gottes Wille im und am Menschen zum Ziel kommt, weil der Mensch Gott nicht etwas gibt, sondern eben sich selbst. Entscheidend ist an alledem der Richtungssinn der lebendigen Interaktion: In den unterschiedlichen Varianten mittelalterlichen Bußverständnisses ist immer davon die Rede, dass die gnadenhafte göttliche Vorgabe und die freie menschliche Antwort einander korrespondieren, miteinander kooperieren. Das gilt selbst dann noch, wenn die Aktivität des Menschen auf ihr Minimum zurückgestuft wird – auf das sprichwörtliche „non ponere obicem“. Und genau hier liegt nun in Luthers Gottesbild und Gottesverständnis der entscheidende Sprung: Gott ist in Jesus Christus allein der Aktive, der Mensch erleidet im und am wachen Bewusstsein das Handeln Gottes. Gott stellt nicht Bedingungen und bietet Hilfen zu deren Erfüllung an, um es dann dem Menschen zu überlassen, ob und wie er sie nutzt. Gerade im Handeln am einzelnen Menschen, das in der Buße den Glauben und das Heil schenkt, erweist er sich als reine, spontane, schöpferische Aktivität. Buße ist seitens des Menschen passio, nicht actio! Dieses Umgewendetwerden wird vom Menschen passiv erfahren, aber es geschieht in und an seinem wachen Bewusstsein, in sprachlich-vernünftig rechenschaftsfähigen Widerfahrnissen von unwiderstehlicher Plausibilität und Überzeugungskraft. Auch das macht Luther an der Zachäus-Episode deutlich. Sicher, Jesus hätte auch ganz anders vorgehen und Zachäus heimlich zu sich rufen können: „Er wollte aber, dass es öffentlich geschehe, damit jene ihre falsche Gerechtigkeit erkannten und Zachäus ähnlich würden. Und so wollte er durch das Beispiel des einen alle von der Krankheit heilen, wenngleich jene diese Medizin missbrauchten, so dass er schloss: ‚Des Menschen Sohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren war‘. Er wollte durchaus, dass sie Anstoß nähmen, aber nicht, damit sie fielen, sondern damit sie erkannten, wie sie voll von Selbstruhm und Selbstliebe waren“.52
C) Wir stehen hier also theologisch genau bei dem Problemgehalt, der die Römerbrief-Notate bestimmt. Auf deren gedanklichen Ertrag hat Luther dann in den Ablassthesen, wie wir weiter unten sehen werden, lediglich in Andeutungen hingewiesen. Umso kräftiger hat er ihn etwas später in den Resolutionen entfaltet. 51 Vgl. WA 1, 95: „Hi ergo sic Christum quaerunt, ut non per eum salventur, sed ut salvos se testificentur“. 52 WA 1, 98.
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Es geht darum, wie Gott seine eine, einzige und allumfassende Forderung an den Menschen, die nicht nur mehr ist als eine Summe von Teilleistungen, sondern etwas qualitativ anderes, durchsetzt, wie er Menschen dazu bringt, ihm ihr Herz, sich selbst zu schenken – eben zu glauben. Es steht für Luther zuerst und zuletzt zur Debatte, wie Gott aus dem von ihm zum Heil erwählten Sündermenschen das Subjekt des Glaubens formt und bildet. Gerade in Luthers Bußverständnis und in seiner Ablasskritik als einer praktischen Folgegestalt seines neuartigen Bußverständnisses wird deutlich, dass eben ihm der Gottesgedanke mitnichten in bloßes spannungsloses, allenfalls noch kraftlos lamentierendes oder nörgelndes Gewährenlassen hinein verdampft, sondern er verdichtet sich, genau umgekehrt, zum reinen, schöpferischen Willen, der sich selbst, unendlich erhaben über jede Frage nach einem Warum, grundlos setzt und durchsetzt, und dessen schöpferische Selbstdurchsetzung in seiner Widerspiegelung im Bewusstsein des Menschen, der ihn erleidet, die scheinbar widersprüchlichen Gestalten von Liebe und Zorn, Gericht und Gnade annimmt. Dieser Dramatik denkt Luther nach, indem er immer wieder die göttliche und die menschliche Perspektive aufeinander bezieht und an- und durcheinander klärt und erläutert. Es entsteht eine ganz neue Form theologischen Denkens, die man, nicht sonderlich glücklich, herkömmlich als „Rechtfertigungslehre“ bezeichnet, die nun aber nicht mehr, wie die herkömmlichen Rechtfertigungslehren, Metatheorie des Tauf- und Bußsakraments ist, sondern Theorie des christlichen Lebens insgemein. Und diese Theorie des christlichen Lebens, die zunächst gleichsam eingekapselt war in den esoterischen, elitären Vorstellungswelten und Sprachkonventionen des Bettelordenskonvents und der akademischen Theologie, regt sich, durchbricht im Streit um Ablass, Buße und die oberste Autoritätsstellung in der Kirche die Hüllen, in denen sie herangereift ist, und dringt ein in die unterschiedlichen Sprachfelder und Theorieebenen der gelebten christlichen Religion und der kirchlichen Praxis – vom praktischen und theoretischen Problemfeld der Buße aus auf immer weitere Bereiche zugreifend. Sie tut das zunächst langsam, unsicher tastend und vorsichtig, allmählich aber immer beherzter zugreifend und verstärkt sich zu einer religiös-intellektuellen Transformationsdynamik, die alte Vorstellungszusammenhänge und Rituale neuen kategorialen Voraussetzungen dienstbar macht und die alten Formen ohne viel Federlesens zerstört, wenn sie dazu nicht geschmeidig genug sind. So erging es dem Bußsakrament sowie den Ritualen und den Gedankenfiguren, die sich ihm angebildet hatten: Sie wurden erst vorsichtig und tastend einem neuen Verständnis eröffnet, und dann mit immer energischerem Zugriff angepackt. Und der Ablass war das erste Opfer, das, bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, auf der Walstatt blieb – um das Bußsakrament selbst war es dann bekanntlich drei Jahre später geschehen.53 Vgl. WA 1, 572.
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D) Die 95 Thesen sind nur verständlich, wenn man sie als Momentaufnahme einer transitorischen Phase von Luthers Denken und Schriftstellerei liest, in der die theologische Theoriebildung und die praxisorientierte Reflexion nicht gänzlich synchron waren. Dass diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen durchaus als beabsichtigt verstanden werden kann, werde ich weiter unten zeigen. Zunächst schildere ich an ein paar Beispielen die Präsenz von Luthers neuem Verständnis der christlichen Religion in den Thesen, die, wie gesagt, keinesfalls offen zutage liegt: Identifizieren kann sie nur, wer die Römerbrief-Notate kennt und zugleich die Resolutionen vor Augen hat. Ich exemplifiziere das an der 1. Ablassthese: „Indem er sagte ‚Tuet Buße etc.‘ wollte unser Herr Jesus Christus, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein sollte“.54 Mögliche Verständnisweisen, die an der Oberfläche bleiben, habe ich oben angedeutet. Wenn man sie jedoch unter der Voraussetzung von Luthers eben mit wenigen Strichen skizziertem Gottesbild liest, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild: Das Wollen, das hier Christus bzw. Gott zugeschrieben wird, bezeichnet weder eine Bitte noch einen Appell, sondern den Willen, den Gott souverän in die Tat umsetzt. Gemeint ist mit „Buße“ der von Gott an den erwählten Menschen exekutierte lebenslange Bildungsprozess. Er hat seinen Grund, seine Gestalt und sein Ziel allein in Jesus Christus, so die 23. Ablassresolution: „Freilich, Gott könnte alle [erwählten Menschen; M. O.] in Gnade vollenden, vielleicht ohne Strafen. Aber er hat eben nicht beschlossen, so zu handeln, sondern alle gemäß dem Bilde seines Sohnes zu formen, also zum Kreuz“.55 Es handelt sich bei alledem um ein von Gott selbst Getötet- und Auferwecktwerden: „Wenn Gott damit anfängt, den Menschen zu rechtfertigen, dann verdammt er ihn zuerst, und wen er auferbauen will, den zerstört er, wen er heilen will, den zerschlägt er, und wem er das Leben schenken will, den tötet er“.56 Auch hier nimmt Luther wieder in den Ablassresolutionen den gedanklichen Ertrag der Römerbrief-Notate auf, und man sollte schon wirklich genau hinsehen: Es handelt sich hier nicht um irgendwelche Mortifikations- oder Selbstverleugnungs-Exerzitien, die im Stile eines mystisch-asketischen Lebemeisters den Angehörigen einer monastischen oder semimonastischen frommen Elite angesonnen werden, sondern mit unerhörter, lapidarer Schärfe wird hier von Gott geredet, der das alles in Akten der souveränen Durchsetzung seines Willens am Menschen tut – bzw. von Jesus Christus, in dessen Herrwerden über den je einzelnen Menschen sich dessen geschichtlich-einmaliges Erlösungswerk immer aufs Neue rekapituliert wie einst beim ersten Mal, wie das dann später Luthers Katechismen in der Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses darle WA 1, 233. WA 1, 571. 56 WA 1, 540. 54 55
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gen werden, indem sie in volkstümlicher Vorstellungswelt und Sprache höchstgradig innovativ Theologie treiben.57 Zurück zum Zusammenhang: Der Mensch, auf den Gott als tödlicher Widerspruch zugreift, ist in und mit diesem Widerfahrnis nicht allein; ich erinnere an eine weitere allbekannte Passage aus den Ablassresolutionen: „Hier ist die Seele ausgespannt mit Christus, so dass man alle Knochen zählen kann“.58 Diese Worte, deren Gehalt in der Römerbrief-Vorlesung präformiert ist, nehmen in Abbreviatur vorweg, was dann in der Auslegung von Ps 22 in den Operationes in Psalmos breit ausgeführt werden wird. Luther bildet den Versöhnungsaspekt und den Erlösungsaspekt von Christi Werk auf ganz neuartige Weise aufeinander ab; er schiebt sie förmlich ineinander. Und hier zeigt sich, dass Luthers vernichtende Ablasskritik ihre entscheidenden sachlichen Impulse nicht in irgendwelchen herz- und humorlosen Kritteleien am kirchlichen Alltagsbetrieb hat, sondern im innovativen Kraftzentrum seiner gesamten Gedankenbildung. E) Um das zu zeigen, muss ich ein bisschen weiter ausholen: Nach Anselm erwirbt der Gottmensch durch sein Leiden am Kreuz ein Verdienst, welches so unausdenklich groß ist, dass es für die Sünde Adams und aller Menschen einzutreten vermag, d. h.: Gott vermag um dieses Verdienstes willen unbeschadet seiner Gottheit darauf zu verzichten, den Menschen zu strafen. Er ist versöhnt. Wie aber kommt diese eine Versöhnung als Erlösung beim Einzelmenschen an? Bei Anselm und denen, die in seinen Bahnen weiterdenken, wird das Vermittlungsproblem folgendermaßen gelöst: Der Heilsertrag, das von Christus erworbene Verdienst, wird gleichsam abgelöst von seinem Urheber und von seinem Ursprungsgeschehen.59 Und genau deshalb vermag es in die Breite und in die Weite wirksam zu werden. Dafür, dass das geschieht, ist die Kirche mit ihren Sakramenten eingerichtet, die als Stellvertreterin Christi aufgrund des Ertrags seines Werks seine Heilswirksamkeit kontinuiert – zugunsten derjenigen, die ihr Freiheitspotential so nutzen, dass die Kirche ihnen daran Anteil zu gewähren vermag. Versöhnung und Erlösung werden also durch ein System von 57 Vgl. die durch Detailgenauigkeit wie durch systematisches Ingenium ausgezeichnete Analyse und Rekonstruktion von Osthövener, Claus-Dieter, Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004 (BHTh 128), 20–33. 58 WA 1, 558. 59 Er wird zum Schatz – man denke an die Lehre vom Kirchenschatz (siehe oben S. 113 mit Anm. 31). Genau dieser Metapher kann sich ja bekanntlich auch Luther bedienen, wenn er den theologischen Problemgehalt der Soteriologie exponiert: „Das Werk ist geschehen und ausgericht; denn Christus hat uns den Schatz erworben und gewonnen durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen etc. Aber wenn das Werk verborgen bliebe, daß niemand wüßte, so wäre es ümbsonst und verloren. Daß nu solcher Schatz begraben bliebe, sondern angelegt wird und genossen würde, hat Gott das Wort ausgehen und verkünden lassen, darin den heiligen Geist geben, uns solchen Schatz und Erlösung heimzubringen und zueignen“ (Großer Katechismus, III. Glaubensartikel; BSLK, 654).
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Differentialen, wie Harnack gesagt hätte,60 zugleich voneinander unterschieden und zusammengehalten. Ein Subsystem in diesem großartigen Geflecht ist der Ablass. Er ist mitnichten singulär, sondern er hat Strukturanalogien und Funktionsäquivalente. Das wichtigste ist die Opfermesse mit all ihren Seiten- und Folgebildungen. In beiden kommt die vice Christi handelnde Kirche solchen Gliedern zur Hilfe, die sich in prekären Phasen ihres Lebensganges befinden. Sie versieht sie mit supplementarischen Hilfsmitteln, deren Wirksamkeit allerdings nicht magisch ist, sondern davon abhängt, ob die potentiellen Nutznießer sich nach Maßgabe ihrer Kräfte und Möglichkeiten selbst bemühen. Luthers innovativem Christentumsverständnis liegt derselbe Problemkomplex zugrunde. Auch Luther will gedanklich klären, dass und wie die eine geschichtliche Heilstat Christi in der sich weiter erstreckenden Zeit wirksam wird. Und hier geht Luther, inspiriert durch ein intuitiv erfasstes Neuverständnis bestimmter zuvor eher randständiger Gedankenverbindungen paulinischer Theologie, gänzlich neue Wege. Die überzeitliche Bedeutung von Christi geschichtlich-einmaligem Heilswerk liegt nicht in von ihm selbst ablösbaren quasi-objektiven Effekten oder Resultaten, sondern darin, dass es sich worthaft-spontan im Leben einzelner Menschen vergegenwärtigt, dass menschliche Biographien in den Kreuzesweg Jesu Christi hineingebildet werden, und zwar nicht durch methodische Akte der imitatio Christi, sondern dadurch, dass der worthaft sich selbst im Geiste vergegenwärtigende Jesus Christus erlittene und erfahrene Lebensgeschichte so deutet, dass der solchermaßen angesprochene Mensch in sein, Jesu Christi, Gottesverhältnis hineingenommen wird: Mit ihm durch den Glauben verbunden, nimmt er im erfahrenen und erlittenen Gotteszorn die sub contraria specie wirkende Liebe wahr; Berndt Hamm hat das vor einigen Jahren so formuliert: „Der angefochtene und demütig gewordene Sünder erfährt an sich selbst die angefochtene Kreuzesexistenz Christi. Unter der Gegensatzgestalt des Kreuzes aber verbirgt sich die rettende Gegenwart Gottes. Indem der Angefochtene sich im Elend Christi wiedererkennt, kann er auf den Gekreuzigten auch seine Heilsgewissheit gründen“.61
Plakativ gesagt: Es geht um die Vermittlung des Heilsgehalts des geschichtlich-einmaligen Faktums in die Weite und Breite. Was bislang der Kirche zu60 „In Bezug auf einige gnostische Systeme (auf alle?) muss man die grosse Anzahl der Aeonen gleichsam als Differentiale verstehen: sie sollen durch eine stetig absteigende Reihe den Ueber gang vom Sein zum Nichtsein oder von Plus zu Minus ermöglichen“ (von Harnack, Adolf, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, Tübingen 41909, ND Darmstadt 1983, 256, Anm. 2). 61 Hamm, Berndt, Die 95 Thesen – ein reformatorischer Text im Zusammenhang der frühen Bußtheologie Martin Luthers, in: ders., Der frühe Luther, Tübingen 2010, 90–114, hier 103. Äußerlich betrachtet fällt die Nähe zu anderen Zeugnissen spätmittelalterlicher Passionsmeditation ins Auge. Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch Ohst, Martin, Urheber und Zielbild wahren Menschseins: Jesus Christus in der Kirchengeschichte, in: Jens Schröter (Hg.), Jesus Christus, Tübingen 2014 (utb / Themen der Theologie 9), 119–179.
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geschrieben worden ist, wird nun in die worthafte Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi verlegt, und zwar exklusiv: Mit zwingender logischer Notwendigkeit ist der Papst als amtliche Personifikation einer Kirche, die sich dem nicht ein- und unterordnet, der Antichrist – bis diese Begriffsverbindung in Luthers Denken freigeschaltet werden konnte, mussten nach der Begegnung mit Cajetan noch zwei Jahre ins Land gehen.62 Aber das ist nur die Außenseite. Die neue Lösung des Vermittlungsproblems konnte sich nur bilden, wenn sich nicht nur Konfigurationen änderten, sondern auch die konfigurierten Faktoren selbst. Die hergebrachte Dualität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes wird, wie gesagt, nicht etwa einfach dementiert, sondern sie wird transformiert zum In- und Widereinander von Gottes Zorngericht und seiner Gnade, das der Mensch im Gewissen erleidet. In dieser Spannungsdynamik wirkt Gott worthaft-rechenschaftsfähig am Menschen. Die beiden Pole der Spannungsdynamik haben ihren Einheitsgrund darin, dass sie die einander funktional zugeordneten Gestalten des einen, mit sich identischen Gotteswillens sind, und dessen Ziel ist das Heil der Erwählten in der Gottesgemeinschaft des ewigen Lebens. Die für die Ablasstheorie fundamentale Unterscheidung von Vindikativstrafe, der man durch den Ablass entgehen kann, und Medizinalstrafe, mittels derer Gott dem Menschen Hilfestellung beim Besserwerden leistet, ist damit obsolet. Alles, was der Mensch als Strafe Gottes erfährt und deutet, erschließt sich ihm im Glauben als Spur seines konstruktiven Wirkens: „Die Wahrheit der Reue sucht und liebt die Strafen; die Großzügigkeit der Ablässe erleichtert sie und macht sie verhasst – zumindest gelegentlich“.63 Auch diesen Satz muss man sehr genau lesen, damit er nicht trivial klingt. Es ist die Rede von der wahren Reue, die den Menschen mit dem Willen Gottes eint, weil sie dem Schuldbewusstsein seine von Gott trennende Wirkung nimmt.64 Die Strafen, die der Glaube sucht und liebt, sind die Strafen Gottes, nicht etwa Strafen, die sich der Mensch selbst auferlegt, um den Strafen Gottes zu entgehen – hier verabschiedet Luther einen Gedanken, der die abendländische Frömmigkeitsgeschichte seit Tertullian geprägt hat.65 Siehe unten S. 128 mit Anm. 73. 40. Derselbe Gedanke findet sich auch schon im Sermo pridie dedicationis: „Unde duplex est contritio seu poenitentia interior, una scilicet ficta, quae vocatur vulgo Galgenreue, quod facile videtur in iis, qui statim recidivant et saepe ruunt. Hi sic dolent de peccato, quod plus de poena peccati: et nihil aliud displicet quam displicentia Dei in peccato: mallet enim ut peccatum placeret Deo, et sic Deum iniustum optat. Haec res perversissima est, sed frequentissima, quia timore poenae et amore sui iustitiam Dei odit et suam iniquitatem diligit, poenam enim odit. Alia est vera, de qua dixi, quod amore iustitiae et poenarum odit peccatum, quia cupit ulcisci iustitiam laesam. Ideo non petit indulgentias, sed cruces“ (WA 1, 99). 64 Vgl. These 36: „Quilibet christianus vere compunctus habet remissionem plenariam a pena et culpa, etiam sine litteris veniarum sibi debitam“. 65 Tertullian, De paenitentia IX,6. Vgl. hierzu auch Ohst, Martin, Das Martyrium in 62
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Weiter: Wenn das so ist, und wenn Gott selbst es ist, der den Menschen in den Glauben hineinbildet, das heißt, ihn dahin bildet und erzieht, dass der ihm keinerlei Stückwerk, sondern sein Herz, den Glauben, gibt, dann ist jede Rede von satisfaktorischen oder spezifisch meritorischen Werken nicht nur überflüssig, sondern irreführend und schädlich, weil die Besonderheit dieser Werke ja genau darin besteht, dass sie eben, anders als andere zweckorientierte Lebensvollzüge, „für Gott“ verrichtet werden, um bei ihm etwas zu erreichen oder zu verdienen. Nicht mehr und nicht weniger besagt schon Luthers Rekurs auf die Standespredigt des Täufers im Sermo pridie dedicationis;66 im Sermo de poenitentia heißt es dann knapp und klar: „Verissimum est proverbium et omni doctrina de contritionibus hucusque data praestantius quo dicitur teutonice: Nymmer thun die hochste buß. Optima poenitentia nova vita“.67 Und damit ist der Einsatzpunkt des Sermons von den Guten Werken erreicht. Christentumsgeschichtlich ist das ein atemberaubender Bruch. Er tangiert bislang ubiquitäre Denkschemata, die bis ins vor-, neben- und nachpaulinische Urchristentum bzw. ins Frühjudentum zurückweisen, nämlich die Praxis der um Beten, Fasten und Almosen gruppierten Guten Werke mit ihrem überpflichtmäßigen und deshalb kompensatorisch-verdienstlichen Charakter, die vom Tun des Menschen in seinen naturwüchsigen sozialen Beziehungsgefügen zu unterscheiden sind bzw. mit diesen konkurrieren.68 Wenn das mit meritorisch-satisfaktorischer Absicht verrichtete Gebet ebenso wie das derart motivierte Almosengeben und Fasten aus dem Zentrum des christlichen Glaubens heraus als überflüssig bzw. schädlich disqualifiziert ist, dann gilt das natürlich erst recht vom Ablass. Der ist ja nichts anders als die dem Menschen unter bestimmten Bedingungen konzedierte Möglichkeit, sich diesen ihm eigentlich obliegenden Leistungen zu entziehen, indem er an den Verdiensten, die andere durch solche Leistungen erworben haben, partizipiert. Luthers Ablasskritik beruht also nicht darauf, dass er im Ablasswesen eine Überoder Unterforderung des Menschen diagnostiziert, sondern darauf, dass er das Prinzip von Leistung und Gegenleistung überhaupt aus dem Gottesverhältnis eliminiert. Und das ist nur deshalb kein Akt der reinen Willkür, weil diese Elimination ihrerseits in einer bis in die letzten Wurzeln hinabreichenden Umformung der Leitbegriffe von Gott, von Gottes Willen und Gottes Handeln gründet. Wir können eine vorläufige Bilanz ziehen: Der Ablass war und ist im Kern nichts anders als ein unselbständiges, symptomatisches Epiphänomen von Grundmustern christlichen Denkens, deren Voraussetzungen bis in den Gottesgedanken und in die Vorstellungen vom Werk Christi hinabreichen. Luthers der deutschen und in der englischen Reformation, in: Dorothea Wendebourg (Hg.), Sister Reformations / Schwesterreformationen, Tübingen 2010, 235–254, hier 243–245. 66 WA 1, 98. 67 WA 1, 321. 68 Vgl. Ohst, Wurzeln des Ablasswesens (wie Anm. 6).
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Ablasskritik hat ihre überragende Bedeutung darin, dass sie in einer profilierten Neufassung eben jener Grundbegriffe und -strukturen christlichen Denkens gründet. Ob einem das nun kirchen- und theologiepolitisch passt oder nicht – Luthers Ablasskritik ist erst dann verstanden, wenn sie zurückgeführt wird auf seine Neufassung jener Basisannahmen christlicher Religion.
4. Als Luther begann, den Ablass öffentlich zu kritisieren, da lag dieser mitsamt den religiösen und theologischen Vorstellungskreisen und Denkmustern, die ihn hervorgebracht hatten, längst hinter ihm. Dennoch hat sich Luther mit alledem eben auch in engmaschigen, kleinschrittigen, weithin ganz systemimmanent verstehbaren Argumentationsketten auseinandergesetzt, so abschließend in Augsburg mit Cajetan mündlich wie schriftlich über jene Extravagante Unigenitus Papst Clemens VI. Er hat dabei souverän die Winkelzüge einer juristischen Hermeneutik angewandt, welche sich um die intentio auctoris sive legislatoris allenfalls am Rande kümmert und lediglich von der Absicht geleitet ist, die eigene Auffassung trotz der ihr gemäß dem schlichten Wortverstande entgegenstehenden positiven Norm als legitim zu erweisen, ohne doch die Norm selbst und mit ihr das normative Gefüge, in dem sie steht, anzutasten. In der modernen katholischen Theologie bezeichnet man dieses Unterfangen als Dogmenhermeneutik, und die ist bekanntlich mit dem, was der Protestantismus seit der Aufklärung als kritische Dogmengeschichtsschreibung hervorgebracht hat, ausschließlich durch den ähnlichen Klang der Namen verbunden. Warum er dieses Verfahren anwendet, erklärt er im selben Atemzug sehr knapp und auf eine Weise, die man als rein momentanes taktisches Manöver verstehen könnte: Es handele sich bei jener Extravagante ja lediglich um nackte Worte des Papstes, und gegen einen Querulanten oder einen Häretiker seien sie bloß ein unwirksamer Schutz.69 Aber Luther konnte das, was er hier lediglich angedeutet hat, auch noch erheblich breiter ausführen und begründen, und wenn man sich das vor Augen führt, bietet sich ein ganz anderes Bild, nämlich das Bild eines Mannes, dem es nicht genügt, für sich und einen kleinen Kreis von Eingeweihten zu denken und zu arbeiten, sondern der die Kirche, seine Kirche, mitnehmen will, um es mal im Mode-Jargon zu sagen. Und in diesem Bemühen ist er sich für keine Anstrengung und für keinen argumentativen Umweg zu schade. In der 80. Re-
69 Vgl. Luther, Martin, Acta Augustana (1518), zit. nach: Fabisch / Iserloh II, 87–109, hier 93.
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solutio bezeichnet Luther mit Bezug u. a. auf Hieronymus Häretiker als göttliche Strafmaßnahmen gegen die Kirche. Er fährt dann fort: „Und daran erinnere ich an dieser Stelle, damit nicht die Pikarden, unsere Nachbarn, jenes unselige Volk, das sich am römischen Gestank freut wie der Pharisäer am Zöllner, jedoch keinerlei Mitgefühl verspürt, damit diese Leute nicht etwa glauben, wir wüssten nicht um unsere eigenen Fehler und Schwächen, und sich hochmütig über uns erheben, wenn sie sehen, wie wir schweigen und scheinbar zustimmen. Ach, wir wissen um unseren Verfall, und er schmerzt uns. Aber anders als die Häretiker ergreifen wir nicht die Flucht. Wir lassen den Halbtoten nicht am Wegesrand liegen, als ob wir befürchteten, uns an fremder Sünde zu verunreinigen. Es ist diese irrsinnige Furcht, die sie [die Häretiker] dermaßen ängstigt, dass sie sich schamlos dessen rühmen und sich hoch erheben, damit sie sich nicht verunreinigen. So groß ist ihre Liebe! Wir aber stehen der Kirche nur desto getreulicher bei und eilen ihr zur Hilfe, je tiefer sie im Argen liegt: Wir weinen, beten, ermahnen, beschwören. So nämlich gebietet uns die Liebe, dass einer des anderen Last trage, nicht, wie die Liebe der Häretiker, die nur deswegen den Vorteil des anderen sucht, damit sie getragen wird und ja kein Beschwer erleidet durch die Sünden der anderen. Wenn Christus so gehandelt hätte und seine Heiligen – wer wäre je selig geworden?“70
Luther wollte also mit seinen systemimmanenten Argumentationen der hierarchischen Kirche Wege aufzeigen, sich möglichst ohne Gesichtsverlust aus der Ablasstheorie und -praxis und aus dem ganzen Gewirr ihrer Wurzeln und Motive herauszuschleichen – zunächst durch einschneidende Akte der Reduktion des Ablasses auf die kirchlicherseits faktisch verhängten kanonischen Bußstrafen. Er wollte also 1517/18 der Papstkirche dienen mit allem, was er war und konnte. Aber dieser Wille zum Dienen war schon nicht mehr mit dem Willen zum vorbehaltlosen Gehorsam gegen die kirchlichen Autoritäten verbunden. Und auch das wird am Treffen mit Cajetan deutlich, nämlich am zweiten großen Kontroversthema, der Frage nach der subjektiv-individuellen Vergebungsgewissheit als Kern des Bußsakraments, also einem Thema, das auch nicht in den Thesen, wohl aber in deren Resolutionen von Luther in seiner ganzen Schärfe und Tragweite entwickelt worden war. Hier war Luther zu keinem Einlenken bereit. Hier stellte er klar, unmissverständlich und kompromisslos die eigene Einsicht über die Pflicht zum Gehorsam gegen die lehrende Kirche – mit der Karlstadt gegen70 WA 1, 625. An diesem Zitat ist so ziemlich jede Zeile erläuterungsbedürftig und -würdig; auf die Verwendung biblischer Reminiszenzen (Lk 10, Lk 19) sei nur hingewiesen. Luther meint mit „Pikarden“ natürlich nicht die Einwohner der Picardie, sondern es handelt sich um eine Verballhornung von „Begharden“, und mit diesem (älteren) Ketzernamen belegt er die „Böhmen“. Die Rede von den „Nachbarn“ ist also hier noch keineswegs intellektuell-theologisch zu verstehen, sondern rein geographisch; vgl. Köhler, Walther, Luther und die Kirchengeschichte, Erlangen 1900, ND Hildesheim 1984, 170–180. Segl, Peter, Die Auswirkungen der hussitischen Bewegung auf Europa, in: Günter Frank / Friedrich Niewöhner (Hg.), Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen von Vorreformatoren, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 8), 197–213.
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über brieflich gegebenen Begründung, es sei eben genau diese Einsicht, die ihn allererst zum Christen gemacht habe.71 Wer so redet, der war und ist, jedenfalls im Sinne der Papstkirche, die ja die Definitionshoheit genau darüber beanspruchte und beansprucht, nicht mehr katholisch. Cajetan erkannte das schon, als er Luther vorwarf, seine Lehre von der Buße und von der Heilsgewissheit sei letztlich die Begründung einer neuen Kirche.72 Luther wusste das im Herbst 1518 noch nicht, aber er sollte es alsbald lernen.73
71 Vgl.
WA.B 1, 215–217, hier 217. Vgl. Felmberg, 218 sowie Selge, Kurt-Victor, Die Augsburger Begegnung von Luther und Kardinal Cajetan im Oktober 1518. Ein erster Wendepunkt auf dem Weg zur Reformation, in: JHKGV 20 (1969), 37–54. Besonders bedenkenswert sind die luziden Bemerkungen von Osthövener, Was ist Protestantismus (wie Anm. 29), 180 f.185 f. 73 Luthers allmähliche Ablösung von der etablierten Kirche lässt sich am besten ablesen an seiner Stellung zum Papst bzw. zum Papsttum. Der Bruch war vollendet, als Luther bei der Lektüre der Bannandrohungsbulle die Identifikation des Papstes mit dem Antichrist von der Vermutung zur Gewissheit wurde; vgl. den Brief an Spalatin vom 11. Oktober 1520, WA.B 2, 195 sowie insgesamt zum Thema immer noch Bizer, Ernst, Luther und der Papst, München 1958 (TEH NF 69). 72
Theologie als Wissenschaft Cajetan im Gespräch mit Thomas von Aquin Alfons Knoll Mit welchem Verständnis von „Theologie“ trat der Dominikanerkardinal Thomas de Vio Cajetan1 im Oktober 1518 in das Gespräch bzw. Verhör mit dem Augustinereremiten Doktor Martin Luther2 ein? Um diese Frage zu beantworten, ist ein intensiveres Eindringen in die scholastische Literatur, die von beiden vorausgesetzt wird, unumgänglich.3 Dies gilt auch dann, wenn die Genannten sich in geradezu gegensätzlicher Weise zu ihr verhalten: Noch vor seinen Thesen „zur Klärung der Kraft der Ablässe“ (zu datieren auf den 31. Oktober 1517) hatte Luther am 4. September 1517 über Thesen „gegen die scholastische Theologie“ disputieren lassen, die Verwendete Literatur (in der Reihenfolge des Erscheinens): Pesch, Otto Hermann, „Das heißt eine neue Kirche bauen“. Luther und Cajetan in Augsburg, in: Max Seckler et al. (Hg.), Begegnung. Beiträge zu einer Hermeneutik des theologischen Gesprächs. Festschrift Heinrich Fries, Graz u. a. 1972, 645–661; Horst, Ulrich, Thomas de Vio Cajetan (1469–1534), in: Heinrich Fries / Georg Kretschmar (Hg.), Klassiker der Theologie, Bd. 1: Von Irenäus bis Martin Luther, München 1981, 269–282; Iserloh, Erwin / Hallensleben, Barbara, Art. Cajetan de Vio, Jakob, TRE 7 (1981), 538–546; Hallensleben; Dies., „Das heißt eine neue Kirche bauen“. Kardinal Cajetans Antwort auf die reformatorische Lehre von der Rechtfertigungsgewissheit, in: Cath(M) 39 (1985), 217–239; Nieden, Marcel, Organum Deitatis. Die Christologie des Thomas de Vio Cajetan, Leiden 1997 (SMRT 62); Hallensleben, Barbara, Thomas de Vio Cajetanus. Erneuerer der Theologie für eine erneuerte Kirche, in: Martin H. Jung / Peter Walter (Hg.), Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus – Reformation – Katholische Erneuerung. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 65–82; Arnold, Claus, Die römische Zensur der Werke Cajetans und Contarinis (1558–1601). Grenzen der theologischen Konfessionalisierung, Paderborn u. a. 2008 (Römische Inquisition und Indexkongregation 10). 2 Anstelle umfangreicher Literaturhinweise greife ich folgende Literatur heraus: Lohse, Bernhard, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995; Brecht I, 47–54. – Zum Verhör Luthers durch Cajetan besonders: Fabisch / Iserloh II, 69–116. – Vgl. auch die im selben Band S. 136–185 abgedruckten Ablasstraktate Cajetans. 3 Ich stütze mich besonders auf: Leinsle, Ulrich G., Einführung in die scholastische Theologie, Paderborn 1995 (UTB 1865); Niederbacher, Bruno / Leibold, Gerhard (Hg.), Theologie als Wissenschaft im Mittelalter. Texte, Übersetzungen, Kommentare, Münster i. W. 2006; Chenu, Marie-Dominique, Die Theologie als Wissenschaft im 13. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Michael Lauble, Ostfildern 2008 (Collection Chenu 4); Boulnois, Olivier, Duns Scotus. Die Logik der Liebe, Stuttgart 2014. 1
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sich insbesondere gegen den Aristotelismus der bisherigen Scholastik sowie die via moderna des Tübinger Theologen Gabriel Biel richteten.4 Cajetan hingegen arbeitete seit 1507 an einem umfassenden Kommentar zur Summa theologiae seines großen dominikanischen Vorgängers Thomas von Aquin und schuf mit diesem monumentalen Werk, das erst 1522 zum Abschluss gebracht wurde,5 die Grundlagen dafür, dass die mittelalterliche Scholastik (nicht nur in thomistischer Ausrichtung) im römischen Katholizismus der Neuzeit noch einmal eine so beherrschende Rolle spielen konnte. Es war also nicht einfach dieselbe Scholastik, auf die sich die beiden Kontrahenten in ihrer eigenen Theologie bezogen. Zu ihrer Zeit unterschied man nicht nur zwischen via moderna und via antiqua, sondern auch zwischen thomistischen, skotistischen und an Augustinus orientierten Scholastikern, wobei auch bei den ‚modernen‘ Anhängern Wilhelm von Ockhams sehr deutliche Differenzen festzustellen sind.6 Luthers Angriff gegen den Einfluss des Aristoteles auf die Theologie trifft durchaus gerade Thomas von Aquin, auch wenn Luther diesen in seinen Thesen gegen die scholastische Theologie mit keinem Wort erwähnt. Umgekehrt ist Duns Scotus, den Luther als einzigen Scholastiker neben den moderni Biel und Occam zumindest einmal (in These 13) explizit nennt, im Thomaskommentar Cajetans ebenfalls stark präsent, wobei die kritische Distanz zu ihm hier gewiss ganz andere Gründe hat. Die Differenz zwischen beiden Vordenkern neuzeitlicher Theologie wäre also erheblich gründlicher und differenzierter zu untersuchen, als dies im Rahmen dieses Beitrags geschehen kann. Es geht hier aber gerade nicht um einen Vergleich, sondern lediglich um die Annäherung an einen der beiden Protagonisten, Thomas de Vio Cajetan – und auch hier keineswegs um eine Gesamtwürdigung seines theologischen Denkens, wozu ja auf jeden Fall auch die Schriften zum Ablass und zu anderen Themen sowie vor allem die späteren bibelexegetischen Werke gehören würden. Ausgewählt wird allein der Summenkommentar, und zwar in jenen schon früh ausgearbeiteten Partien, die sich mit der ersten Quaestio der Summa theologiae beschäftigen – einem Textcorpus, in dem der Doctor angelicus vorab die Wissenschaftlichkeit und das Wissenschaftsverständnis der sacra doctrina in zehn Schritten (articuli) klärt (de sacra doctrina, qualis sit, et ad quae se extendat).7 Es geht also um eine sehr spezielle ‚Tiefenbohrung‘, die der Frage näherzukommen versucht, von welchem Theologieverständnis Cajetan eigentlich herkommt und Vgl. WA 1, 224–228. Vgl. hierzu Brecht I, 170–172. Im Folgenden verwende ich folgende gesonderte Ausgabe: Thomas de Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologicam Angelici Doctoris sancti Thomae Aquinatis, Tomus 1: Commentaria in primam partem Summae theologiae, ed. H. Prosper, Lier 1892. – Kurzzitation: Thomas de Vio Cajetan (mit der entsprechenden Seitenangabe und der in dieser Ausgabe verwendeten Abschnittsbezeichnung „A“, „B“, „C“ etc.). 6 Vgl. hierzu etwa den Überblick bei Leinsle, Einführung (wie Anm. 3), 170–228. 7 Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 2 (Überschrift der quaestio prima). 4 5
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in welcher Weise er es angesichts einer fortgeschritteneren Phase der Theologie-, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte modifizierend weiterdenkt. Um den vorgegebenen Rahmen nicht zu überschreiten, beschränke ich mich auf drei Artikel der ersten thomasischen Quaestio, aus denen man das wissenschaftstheoretische Profil bei Thomas und seinem Kommentator meines Erachtens besonders gut herauslesen kann: 1) Ist es notwendig, über die philosophischen (bei Cajetan: „physischen“)8 Disziplinen hinaus noch eine andere Lehre zu haben? (a. 1) 2) Ist diese Lehre eine Wissenschaft (scientia)? (a. 2) 3) Handelt es sich um eine praktische Wissenschaft? (a. 4)
1. Eine notwendige Lehre Cajetan beginnt seinen Kommentar zum ersten Artikel der ersten Quaestio (ob es notwendig sei, über die philosophischen Disziplinen hinaus noch eine andere Lehre zu haben)9 mit drei terminologischen Vorbemerkungen, wobei er zweimal ausdrücklich auf Aristoteles rekurriert.10 Unter Rückgriff auf ihn unterscheidet er zwei Arten von „Notwendigkeit“ – eine Notwendigkeit einfachhin (simpliciter) und eine Notwendigkeit im Hinblick auf ein Ziel (ad finem), wobei es im vorliegenden Zusammenhang allein um Notwendigkeit im zuletzt genannten Sinn gehen könne. Ferner präzisiert Cajetan, was mit „physischen Wissenschaften“ gemeint ist, denn so liest er es in seinem Text (abweichend von der uns gebräuchlichen Lesart „philosophicas disciplinas“). Thomas gehe es hier nicht um die Einzeldisziplin der „Physik“ aus dem aristotelischen Wissenschaftssystem (in Abgrenzung zu „Mathematik“ und „Metaphysik“), sondern um sämtliche, auf dem Prinzip der „Natur“ (physis) beruhenden Disziplinen, also um die „natürlichen“ in Abgrenzung zu den „übernatürlichen“. Mit dieser zweiten Präzisierung wird daher (ohne dass dies vom korrekten Text her eigentlich nötig gewesen wäre) schon an dieser Stelle die für das scholastische Denken charakteristische Unterscheidung zwischen „natürlich“ und „übernatürlich“ eingebracht. Schließlich erinnert Cajetan an die schon von Platon eingeführte, im Mittelalter latinisierte Trias opinio – fides – scientia, an die auch noch Immanuel Kant anknüpfen wird, wenn dieser in seiner Kritik der reinen Vernunft den Unterschied zwischen „Meinen“, „Glauben“ und „Wissen“ erläutert.11 „Wissen“ besagt Ebd. [von den Herausgebern ist hier bereits „physicas“ zu „philosophicas“ korrigiert!]. Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 2–4 (zu Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q. 1 a. 1). 10 Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 2 [A]. 11 Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, ed. Raymund Schmidt, Hamburg 1956 (PhB 37a), 739–748 (A 820–831 / B 848–859). 8 9
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in dieser Zusammenstellung die höchste Stufe der Gewissheit, insofern hier das mit der Vernunft Erkannte sowohl subjektiv als auch objektiv gewiss ist. Darum geht es Thomas an dieser Stelle freilich noch nicht, wie auch Cajetan hervorhebt, wenn er bemerkt, dass Thomas weder von scientia noch von opinio noch von fides spreche, sondern lediglich von einer „anderen Lehre“ (alia doctrina). Die Frage, die Thomas aufwirft, lautet also präzise: Ist den „natürlichen“ Wissenschaften eine „andere Lehre“ – noch unabhängig von der Frage ihrer möglichen Wissenschaftlichkeit – notwendig im Hinblick auf ein Ziel, das ohne sie nicht zu erreichen wäre? Jeder Artikel beginnt bei Cajetan mit einer expositio formalis, in der die vorkommenden Termini in der eben referierten Weise definiert werden. Ihr schließt sich dann die expositio et divisio textus, eine methodisch geordnete Inhaltsangabe, an. An dritter Stelle folgt der bei weitem ausführlichste Teil, die expositio magistralis, die Auseinandersetzung mit der in Konklusionen zusammengefassten Lehre des Thomas.12 Die expositio et divisio textus, der zweite Schritt, konzentriert sich hier aber ganz auf das corpus articuli, aus dem Cajetan die entscheidenden Thesen (conclusiones) extrahiert, um sie im Folgenden nach allen Seiten hin auszulegen. Daraus lässt sich schon ein erstes formales Kennzeichen dieses Kommentars ableiten: Dieser folgt nicht einfach dem Aufbau einer thomasischen Quaestio, die zunächst Argumente gegen die in Frage stehende These formuliert (argumenta), dann eine Gegenthese anführt (sed contra), um im corpus articuli die eigene Antwort zu formulieren und schließlich die Eingangsargumente einzeln zu widerlegen (ad primum, ad secundum etc.). Vielmehr wendet sich Cajetan sofort dem corpus articuli zu und interpretiert ohne große Umschweife die hier formulierte Lehre des Aquinaten. Die methodisch konsequente Dialogik oder Dialektik, die sich aus der scholastischen Quaestio und Disputatio herleitet und die Thomas so meisterhaft beherrscht, wird somit von einer Methode abgelöst, die ich „dogmatisch“ nennen möchte. Sie beginnt nämlich mit der Lehrposition, die bei Thomas das Ergebnis eines nach Pro und Contra aufgebauten Diskurses ist, hier aber bereits als gegeben vorausgesetzt wird, um gegenüber nachgeordneter Kritik ihrerseits wieder verteidigt und zum Gegenstand einer neuen Debatte gemacht zu werden. An die Stelle der im respondeo dicendum entschiedenen Sachdebatte tritt also eine an den thomasischen Thesen selbst sich entzündende Schuldebatte. Die neuzeitliche katholische Wende von einer ‚disputierenden‘ zu einer ‚dogmatischen‘ Scholastik ist damit faktisch eingeleitet. In unserem Zusammenhang, der ersten Fragestellung der Summa überhaupt, geht es um zwei conclusiones, die sich im respondeo dicendum finden: 1) „Es ist für das menschliche Heil notwendig, dass es eine aus Offenbarung empfangene Lehre gibt über Vieles, was die menschliche Vernunft übersteigt.“ Vgl. Leinsle, Einführung (wie Anm. 3), 258 f.
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2) „Es ist für das menschliche Heil notwendig, dass es eine aus Offenbarung empfangene Lehre gibt von dem, was über Gott auch mithilfe der natürlichen Vernunft erforscht werden kann.“13 Die Notwendigkeit von Theologie wird auf die Notwendigkeit von Offenbarung zurückgeführt, die ausschließlich in ihrer Eigenschaft als „Lehre“ gefasst wird. Damit liegt ein „instruktionstheoretisches“ Offenbarungsverständnis vor,14 das eine von der natürlichen Vernunft ausgehende Forschung (naturali ratione investigari) insoweit ergänzt, als sie neue Inhalte vermittelt (de multis quae humanam rationem excedunt), die insofern nicht mehr „natürlich“ (siehe oben), sondern „übernatürlich“ sind. Die beiden Thesen stehen zugleich für zwei Arten von Notwendigkeit (innerhalb der Notwendigkeit ad finem), nämlich für eine solche, die zur Erreichung eines bestimmten Zieles unabdingbar ist (absolute Notwendigkeit), und eine solche, die die Erkenntnis natürlicher Inhalte lediglich unterstützend begleitet (relative Notwendigkeit). Cajetan verdeutlicht dies wieder mithilfe von Aristoteles (Met. VI, 6), der zwischen einer Notwendigkeit des Seins (ad esse) und einer Notwendigkeit des Gut-Seins (ad bene esse) unterscheide.15 Eine Theologie der „Offenbarung“ wird weder bei Thomas noch bei Cajetan in Angriff genommen. Es geht ausschließlich um die in ihr gründende „Lehre“. Mithilfe der parallelen Aussagen in der Summa contra gentiles16 verdeutlicht Cajetan aber, welche konkreten Inhalte die natürliche Vernunft grundsätzlich überschreiten – die Trinität, die ewige Seligkeit, die Inkarnation, die Erlösung – und welche der Vernunft prinzipiell durchaus zugänglichen Inhalte (demonstrabilia) – dass Gott Einer ist, dass er unsterblich ist etc. – durch die Offenbarung unterstützend vermittelt werden.17 Das „Ziel“, an dem die absolute wie relative Notwendigkeit gemessen werden soll, wird von Cajetan vorerst nur formal bestimmt: Es ist eben ein „übernatürliches“ Ziel, um dessentwillen nicht nur die ausschließlich „übernatürlichen“, sondern auch die „natürlichen“ Inhalte (als Basis dafür) gewusst werden müssen. Thomas selbst beruft sich nicht nur im sed contra (2 Tim 3,16), sondern auch im respondeo dicendum (Jes 64,4) auf die Heilige Schrift und legt das dort formulierte Transzendieren „natürlicher“ Ziele soteriologisch aus – ansatzweise schon Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 2 [B]. Zu dieser Kennzeichnung vgl. Seckler, Max, Der Begriff der Offenbarung, in: Walter Kern et al. (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 2: Traktat Offenbarung, Freiburg i. Br. u. a. 1985, 60–83, hier 64–66. 15 Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 2 [C, Ende]. 16 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I c. 3 (ed. Karl Albert / Paulus Engelhard, Darmstadt 1974, 9). – Cajetan ergänzt jedoch aus dem Gesamtzusammenhang der Summa contra gentiles die von Thomas an dieser Stelle genannten Beispiele („Deum esse trinum et unum“ für die erste, „Deum esse, Deum esse unum, et alia huiusmodi“ für die zweite Gattung). 17 Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 2 [C]. 13 14
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durch 2 Tim 3,16, wo nicht nur generell vom „Belehren“ und „Widerlegen“, sondern auch von der „Besserung“ und der „Erziehung zur Gerechtigkeit“ die Rede ist, sehr viel deutlicher aber dann im Anschluss an Jes 64,4, wonach das, was „kein Auge gesehen“ hat, jenen bereitet ist, die Gott lieben. Es geht also um ein zu erreichendes Gut, nicht nur um ein bestimmtes Wissen, auch wenn Thomas im Anschluss an 2 Tim 3,16 das Wissen als notwendige Voraussetzung für das zu erreichende Gut einstuft. Ausdrücklich spricht er hier vom ewigen „Heil“, das dem Menschen bekannt gemacht werden muss, damit er auch tatsächlich sein Wollen und Handeln darauf ausrichtet.18 Cajetan verweist jedoch nur kurz auf die Jesaja-Stelle, um damit eine rein formale Übernatürlichkeit zu begründen: Die Hinordnung auf Gott als dem Ziel, das der natürlichen Vernunft unbekannt ist und das dennoch im Wollen und Handeln angestrebt werden muss, setzt eine übernatürliche Disziplin voraus, durch die dieses Ziel erkannt wird und die Handlungen darauf hingelenkt werden.19 Neben der inhaltlichen Verschiebung, die als Formalisierung der Ausgangsthese zu charakterisieren ist, fällt auch eine formale bzw. methodische Eigenheit bereits an dieser Stelle auf: Die Bedeutung der Bibel als Argumentationsinstanz tritt deutlich zurück. Zwar bleibt an der erwähnten Stelle der Verweis auf Jes 64 immerhin erhalten, auch wenn die Stelle nicht eigens mehr zitiert wird. Doch die Konzentration auf die beiden Thesen und der Wegfall des hinführenden Disputs (mit den beiden Eingangsargumenten und dem anschließenden sed contra) führt auch zu einem Wegfall der dort zitierten Bibelstellen (Sir 3,22 in arg. 1: „Höheres sollst du nicht suchen“; die Aussage von der „göttlich inspirierten Schrift“ in 2 Tim 3,16 als Sed contra). In die Argumentation gehen einzig die philosophischen Belegstellen ein, die auch im Respondeo dicendum die für Thomas so wichtige Berufung auf Jes 64,4 überlagern. Diese Marginalisierung der Schriftautorität ist nicht nur durch den systematischen Ort am Anfang der ganzen Summa und im Kontext grundsätzlicher wissenschaftstheoretischer Überlegungen bedingt, sondern lässt sich auch in den inhaltlichen Partien des Summenkommentars leicht nachweisen. Das Gegenargument, dass die thomasische Vorlage einschließlich der dort verwendeten Bibelstellen ja vorausgesetzt ist, löst das Problem nicht, da Cajetan andererseits Argumente, wenn sie philosophischer Natur sind und etwa von Aristoteles stammen, durchaus wörtlich wiederholt. Nicht unerwähnt bleiben soll freilich, dass in der nachfolgenden Schuldebatte Cajetan selbst eben doch zwei Bibelzitate (Joh 6,45 und Röm 10,17) einbringt, 18 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q. 1 a. 1: „Finem autem oportet esse praecognitum hominibus, qui suas intentiones et actiones debent ordinare in finem. Unde necessarium fuit homini ad salutem, quod ei nota fierent quaedam per revelationem divinam, quae rationem humanam excedunt.“ 19 „Ordinatum ad Deum ut finem ignotum ratione naturali, consequendum tamen propria intentione et actione, eget supernaturali disciplina, qua finem cognoscat et operationem in illum dirigat; homo est huiusmodi: ergo. – Probatur minor et LXIV cap. Isaiae.“ – Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 2 [D].
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um zu zeigen, dass die „heilige Lehre“ als Erkenntnis des von Gott Geoffenbarten zu verstehen ist.20 Dass er dabei aus dem Römerbriefkommentar des Thomas von Aquin zitiert, zeigt, dass er schon damals durchaus auch bibeltheologisch arbeitet. Insgesamt sind es jedoch hier wie auch später nur wenige Stellen, an denen biblische Texte in dieser Form als Argumente eingeführt werden. Wenn daher Cajetans Kommentar zum Muster für eine „dogmatisch“ arbeitende Theologie der Zukunft wird, so muss eine solche Vorgehensweise letztlich doch dazu führen, dass die Systematische Theologie sich hier noch weiter von der biblischen Grundlage entfernt, als dies bereits seit der frühen Scholastik der Fall gewesen war. Ist die Heilige Schrift dort zumindest in Gestalt von einzelnen Beleginstanzen noch die formale Hauptquelle der Systematischen Theologie, so wird diese jetzt vollends zu einer Disziplin, die in erster Linie logisch statt hermeneutisch argumentiert. Ihr direkter Gegenstand ist jetzt die Lehre des hl. Thomas, die als gültige Zusammenfassung der „heiligen Lehre“ betrachtet und als solche interpretiert wird. In inhaltlicher Hinsicht verteidigt Cajetan im Hauptteil seines Kommentars, in der expositio magistralis, nach allen denkbaren Seiten daher die Auffassung des Aquinaten über die Notwendigkeit einer „anderen Lehre“. Die eigentlichen Begründungen sind wenig spektakulär und gehen über Thomas nicht wirklich hinaus. Bemerkenswert sind aber zwei Sachfragen, die sich bei Thomas selbst nicht finden, sondern sich durch dessen Thesen erst entzünden. Die erste Frage lautet, ob mit sacra doctrina die „Theologie“ gemeint sei oder der „Glaube“. Damit wird die notwendige Differenzierung, die bereits Thomas eingeleitet hatte – zwischen Offenbarung als Vor-Gabe, der Heiligen Schrift und den Glaubensartikeln als Rezeption dieser Offenbarung und der Theologie als darauf bezogener Reflexionsebene –, weiter vorangetrieben. Thomas behält trotz dieser Differenzierung wie seine Vorgänger ja noch die Mehrdeutigkeit von sacra scriptura bei, die sowohl die Bibel selbst wie die die Bibel auslegende (exegetische wie systematische) Theologie meinen kann. Für Cajetan sind die Ebenen deutlich geschieden und nur deshalb ist überhaupt die Frage zu klären, ob sacra doctrina hier nicht vielleicht noch eher den Glauben selbst meint. Cajetan lehnt dies entschieden ab. Denn es würde einerseits zu einer Inkonsistenz mit den folgenden Artikeln führen, in denen sacra doctrina von fides unterschieden wird, andererseits zu einer Verdoppelung gegenüber dem, was später in der Lehre über den Glauben im Rahmen der Secunda Pars (II–II q. 2 a. 3) ausgeführt wird. Auch wenn noch nicht entschieden ist, ob Theologie eine Wissenschaft ist, so geht es doch hier um die Vermittlung einer Erkenntnis durch eine vom Glauben selbst zu unterscheidende Lehre, wobei ein innerer Zusammenhang zwischen Glaube und Theologie natürlich gegeben sein muss. Der Glaube ist mitgemeint, wo es um die sacra doctrina geht, so wie auch die Vgl. ebd., 3 [F].
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Lehre mitgemeint ist, wenn vom Glauben gesprochen wird, weil dieser Glaube ja seinerseits (als Antwort auf die instruktionstheoretisch aufgefasste Offenbarung) als eine Form von Erkenntnis zu gelten hat.21 Weder kann also der Glaube ohne „Theologie“ auskommen, noch die „Theologie“ ohne den Glauben. Gemeint ist also die Notwendigkeit einer vom Glauben unterschiedenen, aber nie zu trennenden „Theologie“. Nicht die Theologie unter Absehung vom Glauben ist als notwendig anzusehen, sondern insofern sie sowohl den Glauben als auch das Wissen einschließt.22 Somit bestimmt Cajetan – damit eigentlich schon über das Thema dieses Artikels hinausgehend – die Theologie eindeutig als „Glaubenswissenschaft“, insofern sie aus beiden Prinzipien des Erkennens gleichermaßen hervorgeht.23 Interessant ist auch eine zweite Fragestellung, bei der es jetzt um eine Schuldebatte im eigentlichen Sinne geht, nämlich um die Auseinandersetzung mit Duns Scotus. Zwar bestehe hinsichtlich der Notwendigkeit einer anderen geoffenbarten Lehre kein Dissens zwischen ihm und Thomas. Strittig sei jedoch, in welcher Hinsicht uns das „letzte Ziel unserer Seele“ natürlicherweise verborgen (occultus) ist. „Wir nämlich [die Thomisten] sagen, dass dieses Ziel uns so sehr natürlicherweise verborgen ist, dass es ein übernatürliches Ziel unserer Seele ist. Auch wenn uns deshalb die Natur unserer Seele im Hinblick auf das Natürliche vollkommen bekannt wäre, würde es niemals erkannt werden im Hinblick auf ein solches Ziel. Denn außerhalb der natürlichen Reichweite ist sowohl das Ziel wie auch der Grund der Seele. Dieser aber [Scotus] behauptet, jenes Ziel sei unserer Seele natürlich, obwohl wir es nur auf übernatürliche Weise ergreifen können. Und es sei dennoch natürlicherweise unbekannt, da unsere Seele uns nicht natürlicherweise bekannt sei, mindestens in diesem [sc. irdischen] Zustand, unter jener eigenen und besonderen Hinsicht, in der wir auf jenes Ziel hingeordnet sind.“24
Dahinter steht ein zentraler Dissenspunkt zwischen den beiden Schulen. Duns Scotus zieht ja die „natürliche“ Erkenntnis in ihrer Potenzialität viel weiter aus als 21 Vgl.
Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 2 f. (E–F). sequitur quod theologia ut distinguitur contra fidem, sit necessaria; sed quod theologia ut abstrahit a fide et scientia, sit necessaria ad salutem […].“ Ebd., 3 (F). 23 Vgl. zu diesem Theologieverständnis vor allem: Seckler, Max, Theologie als Glaubenswissenschaft, in: Walter Kern et al. (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 4: Traktat Theologische Erkenntnislehre. Schlussteil Reflexion auf Fundamentaltheologie, Freiburg i. Br. u. a. 1988, 179–241. 24 „Nos enim dicimus, quod ideo finis ille est nobis naturaliter occultus, quia est supernaturalis finis animae nostrae: et propterea quantumcumque perfecte nota esset nobis natura nostrae animae quoad naturalia, nunquam cognosceretur sub ratione qua ordinatur in talem finem; quia extra naturalium latitudinem est tam finis quam illa animae ratio. Ipse vero tenet illum finem esse naturalem nostrae animae, quamvis supernaturaliter adipiscendum. Et tamen esse naturaliter incognitum: quia anima nostra non nobis naturaliter est nota, saltem pro statu isto, sub illa propria et speciali ratione, qua ordinatur ad illum finem.“ Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 3 [G]; eigene Übersetzung A. K. – Verwiesen wird hierzu auf Duns Scotus, Quaestiones in Libris Quartis Sententiarum Distinctiones I, prol. 22 „Nec
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Thomas, weil er andererseits das „übernatürliche“ Heilsziel gerade nicht an eine Erkenntnis bindet, sondern an einen Willensakt, die durch die Gnade geformte „caritas“.25 Damit führt er gegenüber Thomas den Aspekt der Freiheit, der endlichen wie der unendlichen, in die Debatte ein und hebt den Heilsweg, dem die Theologie dient, konsequent vom Erkenntnisweg ab, den auch die Metaphysik beschreitet. Diese entscheidende Wende, die die Skotisten mitvollziehen (und radikalisieren), lehnt Cajetan als Thomist entschieden ab. Er argumentiert weiterhin von einem erkenntnishaften Glauben her, der sich freilich auch bei ihm in der Liebe vollendet. Obwohl diese Debatte26 zur Klärung der hier verhandelten Frage selbst nicht viel beiträgt, sollte doch kurz darauf hingewiesen werden, um die ständige Präsenz der virulenten theologischen Auseinandersetzungen in diesem Kommentar deutlich zu machen.
2. Eine echte, aber untergeordnete Wissenschaft Die zweite Quaestio (ob die eben als notwendig bestimmte Lehre ihrerseits eine echte Wissenschaft sei)27 soll hier nur inhaltlich in den Blick genommen werden, da die formalen Prämissen dieselben sind wie bei der ersten Quaestio und im übrigen Werk. Die Hauptpunkte entnimmt Cajetan wieder dem corpus articuli.28 Dieses enthält a) eine Unterscheidung (nämlich zwischen einer unterordnenden und einer untergeordneten Wissenschaft, scientia subalternans et subalternata), b) eine Modifikation der These (die These, dass Theologie eine Wissenschaft sei, wird modifiziert in die Aussage, dass es sich bei ihr um eine untergeordnete Wissenschaft handle, theologia subalternata), c) einen Zusatz (Corollarium: Die heilige Lehre glaubt die ihr von Gott geoffenbarten Prinzipien). Die Lehre von der Theologie als einer subalternierten Wissenschaft bildet den entscheidenden, von Thomas vollzogenen Durchbruch im Theologieverständnis des 13. Jahrhunderts. Marie-Dominique Chenu hat dies in einer immer noch gültigen Analyse der wichtigsten mittelalterlichen Scholastiker hervorragend aufgezeigt.29 Vgl. dazu Boulnois, Duns Scotus (wie Anm. 3). Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 3 f. [G–H]. – Der Rest des Kommentars zu diesem Artikel ist der zweiten These (vgl. ebd., 2 [B], wieder aufgenommen ebd., 4 [I] in folgender Form: „Disciplina qua communius, citius et tutius pervenitur ab hominibus ad cognitionem divinorum demonstrabilium, est homini necessaria: disciplina revelata est hiusmodi […].“ ) gewidmet (ebd. [I–L], worauf in diesem Zusammenhang aber nicht weiter eingegangen werden kann). 27 Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 4–8 (zu Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q. 1 a. 2). 28 Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 5 [B]. 29 Zum Folgenden vgl. Chenu, Theologie (wie Anm. 3). 25 26
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Noch Alexander von Hales vertrat die Auffassung, dass die Theologie nicht als Wissenschaft verstanden werden könne, weil sie erstens zum Objekt „nicht das System der Ursache und Wirkungen hat, sondern die Ursache der Ursachen“ (weshalb schon Aristoteles die „Erste Philosophie“ als „Weisheit“ und nicht als „Wissen“ qualifiziert habe!), zweitens, weil ihr Ziel nicht darin bestehe, das Wahre zu erkennen, sondern die Liebe zu wecken (weshalb auch auf sie der Name „Weisheit“ zutreffe).30 Bereits Wilhelm von Auxerre ließ jedoch argumentative Methoden zu – zumindest zur Glaubwürdigkeitsbegründung, einer apologetischen Vorstufe der ‚eigentlichen‘ Theologie. Von ihm stammt außerdem die Analogie zwischen „Prinzipien“ einer Wissenschaft und den „Glaubensartikeln“ in der Theologie, die auch Thomas später aufgreift.31 Bonaventura ging einen Schritt weiter und begründete die Wissenschaftlichkeit der Theologie insgesamt (weit über den apologetischen Anweg hinaus). Dies gelang ihm dadurch, dass er die Theologie in Entsprechung zu den vier Arten von Ursachen (Materialursache, Formalursache, Wirkursache, Finalursache) untersuchte. Auf diese Weise konnte er die Zielsetzung der „Liebe“ (als Zielursache) und damit das Verständnis der Theologie als „Weisheit“ ebenso festhalten wie die Verwendung streng wissenschaftlicher Methoden (als Formalursache), und zwar nun nicht mehr im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des Glaubens, sondern in der gesamten auf den Glaubensinhalt bezogenen Reflexion. Außerdem verschob er die gesamte Achse, indem er als Autor (Wirkursache) der Theologie nicht mehr „Gott“ ansah, sondern Petrus Lombardus mit seinem Sentenzenbuch, der freilich „Gott“ (als Materialursache) zum Thema hat.32 Thomas von Aquin wiederum verwendet die aristotelische Einteilung in subalternierende und subalternierte Wissenschaften, indem er die sacra doctrina der zweiten Gattung zuordnet, die ihre übergeordnete Wissenschaft aber mit dem „Wissen Gottes und der Seligen“ identifiziert. Indem damit einerseits eine Kontinuität (so wie auch zwischen der Arithmetik und der Musik oder zwischen der Geometrie und der Perspektivik), andererseits eine Abstufung konstatiert wird (Über- und Unterordnung, insofern die übergeordnete Wissenschaft ihre „Prinzipien“ in sich selbst besitzt, während die untergeordnete sie von der übergeordneten übernimmt), ist die Theologie trotz Unterordnung eine echte Wissenschaft. Der Wissenschaftscharakter kann ihr nicht schon deshalb abgesprochen werden, weil sie ihre Prinzipien, d. h. die Glaubensartikel, aus Offenbarung empfängt, also von einer der wissenschaftlichen Vernunft gegenüber externen Instanz ableitet. Der Durchbruch, der mit dieser Theorie erzielt worden ist, ist in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. Die Theorie selbst wurde freilich nicht allgemein 30 Vgl. ebd., 74–79. – Dort auch die Einzelnachweise, die hier nicht eigens mehr angegeben werden sollen (so auch in der Regel bei den anderen erwähnten Autoren). 31 Vgl. ebd., 69–73.103–105. 32 Vgl. ebd., 111–115.116–150.
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übernommen. Insbesondere Heinrich von Gent widersprach entschieden33 und Duns Scotus schließt sich diesem Protest an.34 Was beide anzielen, ist nicht etwa eine Leugnung der Wissenschaftlichkeit der Theologie, sondern lediglich eine andere Verortung. Sie soll nicht von dem Wissen abgeleitet werden, das Gott von sich selbst hat und an dem die Seligen bereits partizipieren, sondern geht ganz von den kontingenten Aussagen der Heiligen Schrift aus. Duns Scotus unterscheidet daher klar: a) eine „Theologie an sich“, die zum ersten Gegenstand Gott hat und alle Wahrheiten über Gott, notwendige wie kontingente, virtuell in sich enthält; sie kommt allein Gott zu; b) eine „Theologie der Seligen“, die zwar „an sich“ an allen notwendigen und kontingenten Wahrheiten Gottes partizipiert, nicht aber faktisch, da sie immer nur einen Teil der Wahrheiten, und zwar nur die kontingenten davon, erkennt, und zwar durch Schau; c) „unsere Theologie“, die einerseits die Form der Metaphysik annimmt (in der Erkenntnis Gottes als des unendlich Seienden), andererseits die Form der Theologie aufgrund des Glaubens, die aber (anders als bei den Seligen) nicht durch intuitive Schau, sondern durch diskursiv erworbenes Wissen erkennt (aufgrund der in der Heiligen Schrift vermittelten kontingenten Tatsachen).35 Zum einen ist damit die Metaphysik viel stärker in die Theologie insgesamt integriert, zum anderen wird „unsere Theologie“ autonom im Bereich der kontingenten Wahrheiten angesiedelt, die uns durch die Offenbarung zuteilgeworden sind, da alles Geoffenbarte ja kontingent und eben nicht notwendig ist. Dennoch ist „unsere Theologie“ des Kontingenten vollkommener als die metaphysische Theologie des Notwendigen, da vom Notwendigen auf diesem Weg nur die formalsten Bestimmungen erkannt werden können, während das Kontingente alles beinhaltet, was uns zum Heil dient. Daher verbietet es sich nach Scotus, das Verhältnis zwischen „unserer Theologie“ zur „Theologie an sich“ als Unterordnung zu denken und die Wissenschaftlichkeit darin festzumachen, weil sowohl die Theologie Gottes als auch die Theologie der Seligen einer völlig eigenen Ordnung angehören.36 Es ist klar, dass hiermit der Weg bereitet ist, um innerhalb der via moderna Absolutes und Kontingentes noch radikaler zu unterscheiden. Aber weder Scotus noch später Cajetan schließen sich dieser Richtung an, sondern bleiben der „alten“ Scholastik verpflichtet. Cajetan folgt dabei den Spuren des Thomas von Aquin; dies kann er allerdings zu seiner Zeit nur tun, wenn er die skotischen 33 Zu seiner Alternativlösung vgl. Leinsle, Einführung (wie Anm. 3), 163–167; Boulnois, Duns Scotus (wie Anm. 3), 104–107. 34 Vgl. ebd., 197–201. 35 Vgl. Boulnois, Duns Scotus (wie Anm. 3), 87–99. 36 Vgl. ebd., 100–109.
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Einwände berücksichtigt, weshalb der zweite Artikel bei ihm im Kern eine Auseinandersetzung vor allem mit Duns Scotus ist. Dessen These wird von Cajetan folgendermaßen zusammengefasst: Es bestehe eine Verschiedenheit zwischen „unserer Theologie“ und der „Theologie Gottes und der Seligen“, die aber keine Verschiedenheit von untergeordneter und unterordnender Wissenschaft sei.37 Cajetan greift also die Unterscheidung zwischen „unserer Theologie“ und der „Theologie an sich“ auf, die er mit den Formulierungen des Thomas vermischt. Er tut dann aber einen weiteren Schritt, indem er „unsere Theologie“ noch weiter differenziert – und zwar in „unsere Theologie an sich“ und „unsere Theologie auf dem Weg“ (in nobis viatoribus). „Unsere Theologie an sich“ besteht sowohl in den „Seligen“ als auch „in uns“, „in uns“ allerdings nicht im Modus der „Schau“, sondern im Modus des „Glaubens“, da die Glaubensartikel nicht in sich selbst evident sind. Nur von dieser „unserer Theologie an sich“ kann man jedoch vollkommen sagen, dass sie der „Theologie an sich“, die nur in Gott selbst besteht, untergeordnet ist. Für uns, die wir noch „auf dem Weg“ sind, lässt sich eine solche vollkommene Unterordnung nicht in derselben Weise denken. Das heißt aber nun nicht, dass die „Theologie auf dem Weg“ keine „untergeordnete“ Wissenschaft, sondern nur, dass sie es nicht in vollkommener Weise sei.38 Cajetan betont damit entschieden die Kontinuität zwischen den verschiedenen Theologien, sodass sich aus deren Unterscheidung keine Trennung ergibt, sondern höchstens eine graduell differenzierte Nähe und Ferne zum angestrebten Erkenntnisziel, das in der „Theologie an sich“ in vollkommener Weise vorliegt. Diese Kontinuität zwischen den unterschiedlichen Theologien hatte allerdings bereits Thomas selbst zum Ausdruck gebracht, als er von der sacra doctrina als „impressio scientiae divinae“ sprach (a. 3 ad 2). Cajetan verstärkt dies, wenn er später, im Kommentar zum vierten Artikel, „unsere Theologie“ als „impressio et sigillum proprium scientiae divinae“ bezeichnet, als „Einprägung und eigenes Siegel des göttlichen Wissens“.39 Denn beide Theologien, so sagt er an dieser Stelle, handeln „von Gott, insofern er Gott ist (de Deo inquantum Deus), unsere aber in derivater Weise und durch zwar geringe, aber echte Teilhabe am Licht des Wissens Gottes.“40 Damit ist – so Ulrich Leinsle prägnant – der „metaphysische Aufweis der von Luther bestrittenen spekulativen ‚theologia gloriae‘ “ geleistet, wobei die Grenze zwischen erworbener und eingegossener Theologie wieder etwas verschwimmt.41 Für Thomas bestand ja noch durchaus eine deutliche Kluft zwi37 „[…] primo diversitatem theologiae nostrae a theologia Dei et beatorum; secundo, quod distinctio illa quae est inter eas, qualiscumque sit, non est distinctio cum requisitis conditionibus ab subalternantem et subalternatam.“ Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 6 (F). 38 Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 6 f. [G]. 39 Ebd., 13 [E]. 40 Leinsle, Einführung (wie Anm. 3), 259. 41 Vgl. ebd.
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schen dem Wissen Gottes und der theologischen Erkenntnis, da die vermittelnde Rolle der kodifizierten Glaubensartikel stärker betont wurde als bei Cajetan, der dem Moment der „Erleuchtung“ wieder höhere Aufmerksamkeit schenkt. Nun erfasst „unsere“ Theologie ihr Formalobjekt (sub ratione Dei) „nur in einem gegenüber dem göttlichen verminderten Erkenntnislicht und führt deshalb nicht zur umfassenden Erkenntnis aller Wahrheiten über Gott.“42 Was ergibt sich daraus also für die Subalternationsfrage? Betrachten wir „unsere Theologie“ in sich selbst (secundum se), so besteht kein Zweifel daran, dass es sich um eine untergeordnete Wissenschaft im Hinblick auf ihre Evidenz handelt, denn einerseits ergibt sich aus ihrem Kontinuitätscharakter (continuabilitas) der Charakter einer Wissenschaft (scientiae rationem), andererseits geht sie hervor aus den Prinzipien gemäß dem ihr bekannten seligen Licht. Wenn wir sie aber betrachten als eine Wissenschaft in uns, sofern wir uns noch im Pilgerstand befinden, zeigen sich in der Tat Schwierigkeiten und man meint, sich hierfür sogar auf den hl. Thomas berufen zu können, der an einer Stelle seines Sentenzenkommentars nur in einem „äquivoken“ Sinne von Wissenschaft sprechen wolle.43 Denn von „Unterordnung“ könne ja nur „im Hinblick auf etwas (secundum quid)“ gesprochen werden, nämlich im Hinblick auf ihre Evidenz. Cajetan will jedoch Thomas anders verstehen: Dieser behaupte keineswegs, dass unsere „Theologie auf dem Weg“ keine Wissenschaft sei. Unvollkommenheit bedeute bei ihm gerade nicht wie bei Scotus, dass unsere „Theologie auf dem Weg“ den Status einer „untergeordneten Wissenschaft“ verliere; sie verliere nur den Status einer „vollkommenen untergeordneten Wissenschaft“, da sie im Pilgerstand nicht durch Schau (wie bei den Seligen), sondern nur durch Glauben (in Gestalt der Glaubensartikel) Erkenntnis gewinne. Anders ausgedrückt: Unsere Theologie, in sich betrachtet, ist wahrhaft eine untergeordnete Wissenschaft. Unsere Theologie aber, insofern wir uns noch im Pilgerstand befinden, ist in unvollkommener Weise eine untergeordnete Wissenschaft.44 Cajetan greift somit auch die Unterscheidung von „Glauben“ (auf dem irdischen Pilgerweg) und „Schauen“ (in der ewigen Glückseligkeit) auf. Doch ist der Glaube, der die Unvollkommenheit unserer im Pilgerstand betriebenen Theologie bedingt, aufgrund der Kontinuität zwischen den Theologien, auf der Cajetan gegen Scotus besteht, innerlich mit dem Wissen Gottes (und dem Schauen der Seligen) verbunden – in einer Weise, die man mit Chenu vielleicht 42 Ebd.
43 „Et putatur quod etiam apud Thomam, sic accepta non sit scientia nisi aequivoce […].“ Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 7 [G]. Verwiesen wird auf Thomas von Aquin, Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi III d. 33 q. 1 a. 2 qla. 4 sol., wo es allerdings nur heißt: „Si autem esset aliqua scientia quae non posset reduci ad principia naturaliter cognita, non esset eiusdem speciei cum aliis scientiis, nec univoce scientia diceretur.“ 44 „Et propterea tenendum arbitror quod theologia nostra, secundum se, est vere scientia simpliciter subalterna: ut in nobis vero viatoribus, est scientia imperfecte, sed simpliciter subalterna.“ Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 7 [G].
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sogar „mystisch“ nennen kann.45 So bleibt Theologie auch als unvollkommene Wissenschaft „auf dem Weg“ ein dezidiert geistlicher Akt, der den Glauben nicht nur von außen empfängt (in Gestalt der Glaubensartikel), sondern auch von innen, in der Erfahrung der erleuchtenden Gnade Gottes. „Von Rechts wegen ist die Theologie fromm.“46 Die Subalternationstheorie dient im thomistischen Kontext dazu, einerseits durch die Eigenschaft der Unterordnung die Theologie vor einer Verwechslung mit dem Wissen Gottes zu schützen, andererseits durch die Eigenschaft der Kontinuität den geistlichen Charakter der Theologie als eines Modus des Glaubens zu wahren. Nur dadurch wird sie nicht einfach zur Metaphysik; nur deshalb ersetzt Aristoteles nicht einfach die Schrift; nur deshalb gewinnt ihre wissenschaftliche Methode aber auch systematischen Charakter, der sie über die reine Textauslegung der Schrift hinaushebt.
3. Eine zugleich theoretische wie praktische Wissenschaft Dass die Theologie – nämlich „unsere Theologie auf dem Weg“ – eine praktische Wissenschaft sei, war in der franziskanischen Schultradition eine sich durchhaltende Überzeugung. Sie stand bereits hinter der These des Alexander von Hales, dass die Theologie besser „Weisheit“ und nicht „Wissenschaft“ genannt werden solle (siehe oben). Dahinter steht zum einen das aristotelische Wissenschaftsverständnis, innerhalb dessen die Metaphysik bzw. die „Theologie“ als Wissen um die Ursachen vom Wissen um das Verursachte unterschieden und als „Weisheit“ bestimmt wird. Alexander spezifiziert diese jedoch mit dem affektiv-praktischen Verständnis der Heiligen Schrift, mit der die darauf bezogene Theologie von der philosophischen Metaphysik abgehoben wird.47 Der sapientiale Charakter der Theologie kommt bei Bonaventura im Rahmen seiner Ursachenlehre vor allem bei der Bestimmung der Finalursache in den Blick. Die im Sentenzenbuch vermittelte Erkenntnis ist, so zeigt er auf, dazu da, „ut boni fiamus“. Theologie ist also bei ihm nicht ausschließlich praktisch, da sie es durchaus mit einer Erkenntnis zu tun hat, aber mit einer solchen, die auf das affektive Streben ausgedehnt wird, einem Mittleren zwischen Verstand und Wille, Spekulation und Praxis. Die Theologie ist daher sowohl „theoretisch“ als auch „praktisch“.48 Vgl. Chenu, Theologie als Wissenschaft (wie Anm. 3), 125. Ebd., 129. 47 Vgl. Leinsle, Einführung (wie Anm. 3), 144; ferner Chenu, Theologie als Wissenschaft (wie Anm. 3), 74–76. 48 Vgl. Bonaventura, Commentaria in quattuor libros sententiarum prol. q. 3 (ed. Bruno Niederbacher / Gerhard Leibold, Theologie als Wissenschaft im Mittelalter. Texte, Übersetzungen, Kommentare, Münster i. W. 2006, 204–209); dazu Gasser, Georg, Erläuterungen des Proömiums zum Sentenzenkommentar des Bonaventura, ebd. 214–233, hier 227–229. 45 46
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Bei Scotus hingegen verlagert sich nun die gesamte theologia nostra auf das Praktische. Von der Metaphysik, die seit Aristoteles die spekulative Wissenschaft schlechthin ist, wird das Ziel der Offenbarung, auf der die Theologie gründet, ausschließlich als „Liebe“ (caritas) bestimmt, die sich durch Taten, nicht durch Gedanken vollendet. Somit ist die Theologie ausschließlich eine praktische Wissenschaft, ausgehend vom menschlichen Willen.49 Demgegenüber hatte Thomas die Theologie wie Bonaventura als eine sowohl theoretische wie praktische Wissenschaft bestimmt, aber anders als Bonaventura mit dem Primat des Theoretischen. Zwar kennt auch er selbstverständlich praktische Teile der Theologie (und entfaltet diese in der Secunda Pars seiner Summa), aber das Endziel ist die contemplatio primae veritatis in patria, also jene vollkommene „Theologie“, die wir hier gerade nicht haben. „Diese aber ist ihrer Natur nach rein theoretisch, spekulativ. […] Nicht mehr um Regeln für das Leben des Christen auf dem Weg zur ewigen Seligkeit geht es jetzt primär in der Theologie, sondern um die theoretische Erörterung der ‚ersten Wahrheit‘ Gottes und der daraus abgeleiteten wahren Sätze.“50
Auch in dieser Hinsicht folgt Cajetan seinem großen Vorbild: Theologie ist weder rein praktisch noch rein spekulativ; als die Theologie an sich – in Gott selbst – ist sie höher als die Unterscheidung zwischen praktisch und spekulativ; sie vereint beides in einer höheren Ordnung.51 Wichtiger als die Unterscheidung theoretisch-praktisch ist für Cajetan diejenige zwischen endlichem und unendlichem Wissen. Diese Differenz überragt die andere, die nur auf der Ebene des endlichen Wissens sinnvoll ist. Zwar steht das endliche Wissen, wie gezeigt, in Kontinuität mit dem unendlichen; sie ist „impressio et sigillum proprium scientiae divinae“,52 aber eben doch in einer derivaten, unvollkommenen Weise. Was Thomas rein wissenschaftstheoretisch lösen will, begründet Cajetan somit metaphysisch, vom Wesen Gottes als dem unendlichen Sein her. Dieses enthält – und damit wird sogar ein skotistisches Argument aufgegriffen – die gesamte Wissenschaft in sich, also sowohl theoretisches wie praktisches Wissen. Daran nun hat „unsere Theologie auf dem Wege“ Anteil an Gott, dem „Subjekt“ der Glaubensartikel als Prinzipien der Theologie,53 weshalb sie sowohl am theoretischen wie praktischen Wissen Gottes partizipiert.54 49 Vgl. Boulnois, Duns Scotus (wie Anm. 3), 110–119; Leinsle, Einführung (wie Anm. 3), 197–201. 50 Leinsle, Einführung (wie Anm. 3), 158 f. – Vgl. Thomas von Aquin, Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi I prol. q. 1 a. 3 (ed. Niederbacher / Leibold, Theologie als Wissenschaft im Mittelalter [wie Anm. 48], 246–257); Thomas von Aquin, Summa theologiae I q. 1 a. 4. 51 Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 12 f. [C]. 52 Ebd., 13 [E]. 53 Vgl. den Kommentar zu Summa Theologiae I q. 1 a. 7: Thomas de vio Cajetan (wie Anm. 5), 18–20 [G]. 54 Vgl. Leinsle, Einführung (wie Anm. 3), 158 f.
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Der zweite Teil der These aber, der den Primat des theoretischen Wissens betont, wird wie folgt begründet: Theoretisches und praktisches Wissen bilden keine Einheit durch Zusammenfügung, sondern aufgrund ihres gemeinsamen Formalobjekts. Dieses ist Gott, dessen Schau das höchste Ziel der Theologie ist, sodass die spekulative Seite zwar die praktische nicht ausschließt, ihr aber voransteht.55
4. Abschließende Thesen Im Rückblick auf das Theologieverständnis Cajetans, soweit es durch die ausgewählten Textpassagen in den Blick gekommen ist, sollen folgende Thesen unsere Darstellung beschließen: 1. Theologie ist nach Cajetan bereits im Glauben eingeschlossen, insofern sie dessen Erkenntnisinhalt, der sich in den Glaubensartikeln manifestiert, in einer „sacra doctrina“ ausfaltet. 2. Umgekehrt ist der Glaube für ihn in „unserer“ Theologie bewahrt, insofern diese, wenn auch in unvollkommener Weise, am göttlichen Wissen partizipiert. 3. Glaube ist dabei auf Offenbarung bzw. Heilige Schrift gegründet, sofern diese Vor-Gabe sich äußerlich in den Glaubensartikeln, innerlich in der Teilhabe am göttlichen Licht manifestiert. 4. Theologie wiederum erscheint als eine vom göttlichen Wissen unterschiedene, aber kontinuierlich mit diesem Wissen durch Teilhabe verbundene Form des Wissens, die in Wahrheit „Wissenschaft“ genannt werden darf, weil sie in wissenschaftlicher Weise das im Glauben Vor-Gegebene vernünftig erforscht. 5. Theologie ist ferner aufgrund des unendlichen Charakters des göttlichen Wissens jenseits aller im Endlichen erforderlichen Unterscheidungen eine sowohl spekulative wie praktische Wissenschaft, die aufgrund des Endziels menschlicher Existenz – der Schau Gottes – der spekulativen Seite jedoch letztlich den Vorrang geben muss. 6. Theologie ist schließlich eine Wissenschaft besonderer Art, unvollkommen gegenüber dem göttlichen Wissen, unvollkommen auch im Vergleich mit der Schau der „Seligen“. Als der „Theologie an sich“ untergeordnete echte Wissenschaft fügt sie sich aber in ein System der Wissenschaften ein, innerhalb dessen es eine Gotteslehre bereits gibt, nämlich als Metaphysik. Letztere genügt aber nicht im Hinblick auf das menschliche Heil und lässt Raum für eine „andere Lehre“, die im Ausgang von der Offenbarung, niedergelegt in Schrift und Tradition, in wissenschaftlicher Verantwortung das Geglaubte erforscht. 7. Ohne Frage entfernt sich eine solche Theologie, wie sie von Thomas und Cajetan praktiziert wird, immer weiter von einer ausschließlich auf die Hei Vgl. Thomas de Vio Cajetan (wie Anm. 5), 13 f. [F–G].
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lige Schrift bezogenen Interpretationswissenschaft, wie sie Augustinus in seiner Schrift De doctrina christiana grundgelegt hatte.56 Martin Luther will gegen eine – nach seiner Einschätzung philosophisch überfremdende – Scholastik wieder eine biblische Theologie installieren und diese (über Augustinus hinausgehend) als theologia crucis ausschließlich auf die Frage nach dem Heil des Menschen fokussiert wissen.57 Er macht dabei auf eine Gefährdung aufmerksam, die diesem Theologieverständnis von Anfang an innewohnt und weist damit einen Weg, den auch Cajetan später auf seine Weise beschritten hat, indem er sich nicht nur mit seinem Summenkommentar, sondern in den Jahren nach der Begegnung mit Luther zusätzlich mit intensiven Bibelkommentaren bleibende Verdienste erworben hat. 8. Mir scheint, dass die scholastische Theologie des Mittelalters – um hier von den bisweilen damals schon und erst recht bei den neuzeitlichen Epigonen neuen und noch gefährlicheren Engführungen ganz zu schweigen – in ihrem Grundansatz aber dennoch eine epochale Bedeutung besitzt. Biblische Theologie gerät nämlich ihrerseits in eine Sackgasse, wenn die Bibel dabei ausschließlich als ein Vers für Vers und Buch für Buch zu interpretierender durchlaufender Text genommen wird, dessen systematischer Ertrag im Diskurs der Wissenschaften überhaupt nicht mehr vorkommt. Thomas von Aquin wie Thomas de Vio Cajetanus haben sich auf das dornige Feld einer mit der Philosophie kooperierenden und von dieser doch unterschiedenen Wissenschaft begeben, um der Sache des Glaubens einen wirklichen Platz im Denken zu erobern. Diese Absicht ist heutzutage – angesichts funktionalistisch verzweckter Wissenschaften und vernunftkritischer Fundamentalismen – trotz aller auf diese Weise entstehenden Probleme noch immer ein lohnendes und spannendes Projekt.
Vgl. Augustinus, De doctrina christiana (CChr.SL 32, 1–167; Übersetzung BKV 49, 1–225). Vgl. Lohse, Luthers Theologie (wie Anm. 2), 47–54.
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Luthers Theologieverständnis im Jahre 1518 als theologia crucis Konflikte und Folgen Jens Wolff Das Ausdifferenzieren zwischen Cajetan und Luther vollzieht sich nicht nur im Rahmen der persönlichen Begegnung in Augsburg und nicht nur anhand von Wissenschaftstheorie, nicht nur im Bereich der Ekklesiologie und nicht nur innerhalb eines grundverschiedenen Theologieverständnisses, sondern im Medium der Schriftauslegung. Beide Theologen betreiben das Auslegen der heiligen Schriften als wissenschaftliche Praxis. Diese Feststellung bleibt trivial, wenn nicht berücksichtigt wird, wie sich diese Exegese auf beiden Seiten als differente Praxis vollzieht. Das Schwarz-Weiß-Denken, Altgläubige seien Wissenschaftstheoretiker, während Reformatoren sich schriftbesessen mit Bibeldeutung als dem absoluten wissenschaftstheoretischen Prinzip der Theologie begnügten, ist damit vermieden. Abgesehen von der Personenkonstellation Cajetan und Luther ist generell davor zu warnen, Theologie als Wissenschaftstheorie abstrakt und an sich gegen das Schriftverständnis abstrakt und an sich auszuspielen. Im 12. Jahrhundert meint sacra pagina schlicht heilige Schrift. Dieser Ausdruck gewinnt erst gegen Ende des genannten Zeitraums eine disziplinäre Komponente, etwa in der Formulierung sacrae paginae studere oder sacrae paginae disciplina. Als theologische Wissenschaftstheorie verstanden angewandt tritt sacra pagina erst spät und selten auf, z. B. bei Aegidius Romanus in dessen Sentenzenkommentar Mitte der siebziger Jahre.1 Der Parallelbegriff zu sacra pagina lautet sacra scriptura. Er bezeichnet im 12. Jahrhundert ebenfalls noch nicht Theologie als Wissenschaft. Erst im 13. Jahrhundert tritt ein Wandel ein: Für Theologie als Wissenschaft tritt neben den konventionellen und akzeptierten Begriff theologia bei vielen Autoren ohne nähere Reflexion der Ausdruck sacra (divina) scriptura. Mit dieser Parallelisierung der Ausdrücke ist Schriftauslegung Theologie und Theologie ist Schriftauslegung – und zwar jeweils mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. 1 Vgl. Köpf, Ulrich, Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie im 13. Jahrhundert, Tübingen 1974 (BHTh 49), 24 mit weiteren Quellen.
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Um es noch einmal zu betonen: Die bloße Besetzung eines universalen Begriffs wie ‚Theologie‘ bedeutet nach dieser doppelten Perspektive nicht, dass mit ihm singulär Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben werden könnte, während sacra scriptura als ‚unwissenschaftlich‘ stigmatisiert bliebe. Vielmehr meint sacra scriptura als Parallelbegriff zu Theologie die (sc. wissenschaftliche) Auslegung der Schrift. Der Theologiebegriff des 13. Jahrhunderts bleibt polymorph in seiner Inanspruchnahme des Wissenschaftlichen.2 Mit ihm sollten keine Objektivitätsprätentionen verbunden werden.3 Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn in der thomistischen Ordensliteratur zu einlinig eine teleologische Entwicklung behauptet wird „von der Bibellesung pastoralen Stils zur wissenschaftlichen Disziplin“.4 Gerade die Unreinheit und Unausgewogenheit der Methoden zwischen praktisch orientierter Exegese und Theologie ist signifikant,5 die Vermischung und Verwischung von Grenzen der Gattung. Die ‚Wissenschaftlichkeit‘ der Theologie führt bis in die Gegenwart zu Deutungskonkurrenzen, Deutungsäquivalenzen und Deutungsambivalenzen. Deutungskonflikte treten etwa bei Beantwortung der Frage auf, ob Theologie konsequente oder inkonsequente Exegese, ob sie als Erfahrungswissenschaft, als Schriftauslegung, als Unterscheidungslehre oder als Wissenschaftstheorie zu konzipieren sei. Die Antwortmöglichkeiten sind keineswegs vollständig und systematisierbar in panharmonischer Ordnung. Sie treten in Widerspruch zueinander. Im Folgenden ist theologia crucis als konkrete Zuspitzung von Theologie bei Luther zu analysieren unter Berücksichtigung von Cajetan. Luthers Konzeption, die den Theologiebegriff in neuer und genuiner Weise in Anschlag bringt, wurde seit der Heidelberger Disputation 1518 zur einschlägigen Programmformel. Sie blieb nicht ohne Wirkung auf die zeitgenössische jüngere und auf nachfolgende Theologengenerationen. Der Text kann in seiner historischen Bedeutung und Wirkmächtigkeit gar nicht hoch genug geschätzt werden. Die jubiläumsgeschichtliche Fokussierung anlässlich der fünfhundertjährigen Wiederkehr der Disputatio Heidelbergae habita jedoch sollte vermieden werden. Die inzwischen uferlose systematisch-theologische Literatur zum Thema tendiert noch gegenwärtig zur Kanonisierung des Textes. Was theologia crucis heißt, lässt sich nicht nur an der kanonisierten Disputation von 1518 zeigen. Um ihr auf die Spur zu 2 Der Theologiebegriff bedarf – über die auf Begriffsgeschichte fokussierte Pionierarbeit von Gerhard Ebeling hinaus – weiterer Erforschung (nicht zuletzt im Blick auf Luther), vgl. Ebeling, Gerhard, Art. Theologie. I. Begriffsgeschichtlich, RGG3 6 (1962), 754–769. 3 Vgl. Bonhoeffer, Thomas, Die Gotteslehre des Thomas von Aquin als Sprachproblem, Tübingen 1961 (BHTh 32). 4 Chenu, Marie-Dominique, Das Werk des Hl. Thomas von Aquin, Graz u. a. 21982 (Die Deutsche Thomas-Ausgabe Ergänzungsband 2), 281. 5 Vgl. z. B. Hamm, Berndt, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (BHTh 54).
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kommen, bedarf es der historischen Profilierung mittels anderer Quellen. Auslegung der Heiligen Schrift vollzieht sich nicht in splendid isolation. Deshalb ist gerade für theologia crucis eine vergleichende Perspektive auf Cajetan und Luther sinnvoll. Es ist ein Vorurteil, dass Thomas oder Thomisten auf Bibelauslegung verzichten.6 Der Aquinate als magister in sacra pagina verfasste (Teil-)Kommentare zu Jesaja, Jeremias, Klageliedern, Psalmen, Hiob sowie Matthäus, Johannes und Paulus.7 Der Psalter erfreut sich bei Thomas besonderer Hochschätzung: „Cum singuli libri canonicae Scripturae speciales materias habeant, hic liber generalem [materiam] habet totius theologiae […] Magis frequentatur Psalterium in Ecclesia, quia continet totam Scripturam.“8 (Psalter-)kritisch pointiert: Der Psalter enthält die totale Theologie und der Psalter enthält die totale Schrift. Die Hochschätzung der Psalmen hält fast durch die gesamte Theologiegeschichte an. Sie reicht bis in die Gegenwart. Es ist lohnenswert, die gemeinsame Basis der Schriftauslegung bei dem Thomisten Cajetan und Luther genauer zu analysieren, um Differenzen zwischen beiden präziser zu benennen. Leitfragen sind hier: Bleibt beim Auslegen jeder in seinem eigenen Denksystem? Und wenn ja, resultiert das im gegenseitigen Verstehen, bleibendem Missverstehen oder Mischformen zwischen beiden? Liegt gar radikales Missverstehen vor, das nicht und / oder nie in Verstehen übergehen kann? Ist beispielsweise Cajetans Rede von promissio, wenn er dieses Kernkonzept Luthers bearbeitet und erwähnt, nur Umprägung für seine eigenen Zwecke, d. h. Missverstehen, das nie in Verstehen übergehen kann? Oder scheint sub contrario doch etwas wie Verstehen auf ? Diese Orientierungsfragen werden im Durchgang durch ausgewählte Texte und Themen beantwortet.
1. Psalmenauslegung vor dem Horizont der Heidelberger Disputation Beide, Cajetan und Luther, waren Schriftausleger. Der späte Cajetan wurde wie der frühe Luther zum Psalmenexegeten. Im Vergleich der Gesamtouevres beider Theologen nimmt die Psalmenauslegung bei Luther quantitativ größeren Raum ein. Er traktierte die Psalmen in Vorlesungen dreimal, in den Dictata, in den Operationes und in der sogenannten Dritten Psalmenvorlesung. Cajetan legte die 6 Luther konnte dem mit lebendigen Lehrern wie Bartholomäus Arnoldi von Usingen oder Jodocus Trutvetter in seinem Ausbildungsgang gar nicht entgehen – er konnte das auch nicht in Bezug auf verstorbene Theologietheoretiker wie Gabriel Biel oder Wilhelm von Ockham. Und umgekehrt ist es keineswegs so, dass Luthers Schriftobsession einen Verzicht auf die konflikthafte Beschäftigung mit scholastischer Wissenschaftstheorie bedeutete (vgl. Theodor Dieter). 7 Vgl. Chenu, Das Werk des Hl. Thomas von Aquin (wie Anm. 4), 273–297. 8 Ebd., 277 (Prolog zum Psalter).
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Psalmen einmal aus. Sein Kommentar lag gedruckt zuerst 1529 vor, d. h. wenige Jahre nach den Operationes. Cajetans Exegese kann nicht monokausal auf Luthers Psalterarbeit zurückgeführt werden und ist keine direkte Antwort auf sie. Dennoch lässt der Vergleich zwischen beiden Textauslegern indirekt Schlüsse zu und ermöglicht ein Verstehen, das auf andere Weise nicht möglich wäre.9 Die Auslegung des 22. Psalms in den Operationes ist die elaborierte Weiterentwicklung und präzise Ausformulierung der 1518 in der Heidelberger Disputation als theologia crucis thesenartig Entworfenen. Dieser Sachzusammenhang wird von den meisten Interpreten der Disputation aufgrund ihrer zyklopenartigen Fixierung auf das Jahr 1518 leider nicht selten übersehen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Cajetan die Notwendigkeit sah, auf Luthers Auslegung von Psalm 22 in seinem Kommentar zu diesem Psalm indirekt zu antworten. Exegetisch und (nicht solitär) im Feld der Wissenschaftstheorie zeigen sich Deutungskonkurrenzen, Deutungsäquivalenzen, Deutungsambivalenzen und Deutungskonflikte. Gerade auf dem Feld der Bibelauslegung zeigt sich eine spezifische Deutungsmachtkonstellation zwischen Cajetan und Luther. a) Luthers Theologieverständnis 1518 als theologia crucis. Die Skizze zum Gesamt der Heidelberger Disputation kann knapp ausfallen, weil sie seit ihrer Kanonisierung durch Walter von Loewenich zu den meistuntersuchten und ausgiebigst kommentierten Luther-Disputationen gehört. Statt die LeserInnen mit Sekundärliteratur zu bewerfen, sei hier der sachkritische Hinweis erlaubt, dass die Vielzahl der Deutungen der Heidelberger Thesen quantitativ alles übersteigt, was je zu Disputationen bei Luther gearbeitet worden ist (sc. selbst im Vergleich mit De homine). Die Thesen sind, wie hier nur kurz in Erinnerung zu rufen ist, gegliedert in 28 theologische und zwölf philosophische Thesen.10 Die Thesen 1–12 bestreiten die Bewährung des Menschen vor Gott durch seine Werke, die Thesen 13–18 fundieren das durch anthropologische und hamartiologische Reflexionen. Die Thesen 19–24 positionieren, wie alle wissen, die Kreuzestheologie im Gegenüber zur Theologie der Herrlichkeit. Die Thesen 25–27 beschreiben die Relation von Glaube und Werken. Die berühmte These 28 kontrastiert abschließend die menschliche mit der göttlichen Liebe. Dann folgen die philosophischen Thesen.11 9 Deshalb werden hier nicht abstrakt christologische Systeme miteinander verglichen: etwa Cajetans Christologie in Fortschreibung, Transformation oder Verfeinerung thomistischer Christologie als Abgrenzung von derjenigen Luthers. Zu Cajetans Christologie und der des Thomas liegen Monographien vor: vgl. Nieden, Marcel, Organum Deitatis. Die Christologie des Thomas de Vio Cajetan, Leiden 1997 (SMRT 62); Mostert, Walter, Menschwerdung. Eine historische und dogmatische Untersuchung über das Motiv der Inkarnation des Gottessohnes bei Thomas von Aquin, Tübingen 1978 (BHTh 57). 10 WA 1, 353–374. 11 Vgl. Brecht I, 225–228.
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Die Verbindung theologia crucis tritt erstmals in These 24 auf.12 Vorher operiert Luther mit diversen Antithesen: Antithetisch zu differenzieren sind der Herrlichkeitstheologe, der über Gottes unsichtbares Wesen anhand natürlicher Gotteserkenntnis spekuliert, und besagter anderer, der Gottes zugewandtes Wesen durch das Kreuz erkennt (Thesen 19–20). Das ist eine Erkenntnis, die nicht auf der Hand liegt wie Offenbarungs- oder Herrlichkeitstheologie, sondern durch Entzug gekennzeichnet ist. Luther begründet das genuin mit der hebräischen Bibel: Moses könne nur die posteriora Dei13 sehen, d. h. Gottes Rückseite (vgl. Ex 33,18–23). Das hat einen Perspektivwechsel zur Folge: Gott ist paradoxal präsent im Entzug. Der deus absconditus im Kreuz ist nicht offenbarungstheoretisch zu greifen, sondern bleibt gekennzeichnet durch einen Moment des Entzugs. Trotz dieses Entzugsmoments vermag der Theologe des Kreuzes paradoxerweise eher als der Herrlichkeitstheologe zu sagen, was Sache ist (dicit id quod res est14). Währenddessen ist der theologus gloriae, unter der Eigenmacht der Sünde stehend, gezwungen, im Sprechen Gut und Böse zu verkehren.15 Stattdessen glaubt der Kreuzestheologe an einen gekreuzigten Gott. Die Kreuzestheologie hat integratives Deutungspotential für das Verstehen des Gesetzes. Ohne die theologia crucis wird, so These 19, die Funktion des Gesetzes nicht verstanden. Es wird dann nur als beste Größe zum schlechtesten verkehrt. Gesetz und Christus sind strikte Antithesen. Das Gesetz verurteilt, was nicht in Christus ist. Christus jedoch erlöst von der Macht des Gesetzes (These 24). Dennoch soll niemand vor dem Gesetz fliehen. b) Theologia crucis seit den Dictata. Auffällig ist, dass die Fokussierung auf das Kreuz schon in der ersten Psalmenvorlesung, den Dictata super Psalterium, die differentia specifica gegenüber der Auslegungstradition darstellt. Die Dictata dürfen als ein vorbereitender Text für die theologia crucis der Heidelberger Disputation nicht unterschätzt werden. Das gilt insbesondere für den christologisch gedeuteten Psalm 22. Zwar war es in der Psalmenauslegungstradition durchaus nicht unüblich, dass Ps 22 christozentrisch ausgelegt wird. Wie das aber geschieht, vollzieht sich bei Luther durchaus nicht im Rahmen auslegungsgeschichtlicher Konventionen. Deshalb ist das Argument, Luthers Passionskonzeption sei nichts anderes als die ohnehin übliche kreuzeszentrierte Passionstheologie des Mittelalters, zwar sehr suggestiv, aber wenig stichhaltig. Schon das Psalmensummar der Dictata steht trotz Berührungen allgemeiner Art zu der Summarientradition in keinem direkten Abhängigkeitsverhältnis. Die schon in den Dictata formulierte Angabe „DE CRUCIFIXIONE DOMINI“ findet in keinem Summar mittelalter Luther, Martin, Disputatio, WA 1, 354,28. WA 1, 354,19. 14 WA 1, 354,22. 15 WA 1, 360,29–30: „[…] et peccatum non peccatum et malum non malum credit, qoud est nimis grande peccatum.“ 12 13
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licher oder patristischer Exegeten wörtlich Erwähnung.16 Umso bemerkenswerter ist, dass Cajetan in seinem Psalmensummar Christus dann auch als Messias crucifixus bezeichnet. Cajetans Summar hebt hervor, dass sich Christus aufgrund seines natürlichen Affekts verwundert nach seiner so großen Passion fragt. Diese Rationalisierung soll die Übersetzung des christologisch gedeuteten Eingangsverses von Ps 22 sein: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“17 Ebenfalls im Summar hält Cajetan fest, dass Christus in dem Psalm um die Beschleunigung seiner Auferstehung bittet. Eine Gemeinsamkeit zwischen Cajetan und Luther ist die Vorrangstellung des sogenannten Literalsinns. Bereits Thomas von Aquin sah ihn trotz genereller Befürwortung des vierfachen Schriftsinns als den Hauptsinn an. Cajetan verpflichtet sich schon im Titel seines Psalmenkommentars dazu, dem Literalsinn den Vorzug zu geben.18 Obwohl man Ähnliches für Luther behaupten kann, fallen die konkreten Exegesen äußerst unterschiedlich aus. Bereits im Summarium stellt Cajetan die Weichen für ein offenbarungstheologisches Verständnis des Leidenspsalms. Pikanterweise nutzt er dazu den Begriff der promissio, der reformatorisch anmutet. Die Aussage, Christus verspreche (promittit), Gottes Sache zu offenbaren, bringt ein anders geartetes promissioVerständnis in Anschlag, als es bei Luther, der die Relation von promissio und fides berücksichtigt, üblich ist. Cajetan nimmt dann eine weitere Formulierung aus dem alten Deutungskonflikt mit Luther auf, dem er einst vorwarf, eine neue Kirche bauen zu wollen. Es ist nun nach Cajetan just Christus selbst, der gekreuzigte Messias, der die Realität Gottes erst den Juden und dann die neue Kirche unter allen Völkern ausbreitet. Diese hat universalen Anspruch. Theologisch geurteilt ist diese neue Kirche, die Cajetan so nennt, weiterhin die alte und nicht ein neu entstehendes Institutionengefüge. Verglichen mit seinem eigenen einstigen Begriffsgebrauch in Augsburg, als Cajetan gegen Luther vorbrachte, er wolle eine neue Kirche bauen, ist das eine Inkonsistenz. Streng geurteilt bleibt die alte Kirche nach dem Cajetan des Psalmenkommentars die universale alte Kirche und wird in neue Kirche umbenannt. c) Cajetans subjektive Psalterauslegung erscheint an vielen Stellen als Übergangsdokument eigener Qualität. Auffälligerweise weicht er an einem wichtigen Punkt vom Hauptstrom altgläubiger Auslegungstraditionen ab: War es durchaus, z. B. bei Augustin, üblich, die radikale Gottverlassenheit (Christi), die der Auftakt zum Psalm nahelegt, zu ermäßigen und als absolute Aussage ein16 Vgl. Titel und Summar in WA 55/1, 186,1–4: DE CRUCIFIXIONE DOMINI. ET poenis eius in cruce. ac tota die carnis suae [Heb 5,7]. Psalmus. XXI. Tit. Ad victoriam. Pro cerva matutina. Psal David. – Vgl. WA 55/1, 58,10–12 (zu Ps 8,1; 1513/15): AD Victoriam pro torculari passione et morte Christi i. e. pro crucifixo. Psal. David. 17 Thomas de Vio Cajetan, Psalmi Davidici, ad hebraicam veritatem castigati et iuxta sensum quem literalem dicunt enarrati, [Paris] 1532, fol. XLIVr. 18 Vgl. ebd., XLIVr.
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zuschränken, so ist das bei Cajetan nicht der Fall. Für viele Väter war der Satz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ auf Christus bezogen unerträglich. Christus durfte aus dogmatischen Gründen nicht Verlassenheit verkörpern. Das ist mit Leiden verbunden. Ein leidender Gottverlassener passt nicht zusammen mit einem Apathieaxiom. Es schlägt von der Gotteslehre auf die Christologie durch. Deshalb retteten sich viele Ausleger in die exegetische Hilfskonstruktion, die Verlassenheitsaussage in Ps 22,2 spreche nicht Christus selbst. Vielmehr spreche er von Verlassenheit lediglich in der Person der Sünder. Für Cajetan hingegen ist mittlerweile klar, dass hier tatsächlich Christus selbst spricht als Redesubjekt des Gesamtpsalms: „Persona loquens Christus est“.19 Das ist gegenüber der Auslegungstradition durchaus als Gewinn zu verbuchen. Cajetan zeigt dann, welche Qualität die Verlassenheitsaussage für ihn hat. Er führt aus, dass man sie unter dem Aspekt des Wissens betrachten muss. Der Modellsatz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ seien keineswegs Worte eines Ignoranten, der nach Gründen frage. Vielmehr hätten sie explikative Bedeutung: Christus erkläre mit diesen Worten den natürlichen Affekt seiner fleischlichen Natur, gewiss auch den Modus menschlicher Vernunft. Zweierlei ist an dieser rationalisierenden Auskunft bemerkenswert: Es geht Cajetan um die Rekonstruktion von Intelligibilität. Die Erklärung menschlicher Gefühle bedeutet letztlich eine Rationalisierung des Verlassenheitsaffekts bzw. tatsächlicher Verlassenheit. Vor allem geht es Cajetan sichtlich nicht um die Wahrnehmung der nackten Sprachlichkeit des Verlassenheitsschreis, sondern um Theoriebildung vor dem Horizont des Schreis. Mit diesem Ansatz perenniert er – trotz der Konzession an die Reformatoren, Christus spreche und nicht Christus in der Person der Sünder! – die patristische Exegese. Sie versuchte stets, die radikalen Verlassenheitsaussagen vom Gekreuzigten fernzuhalten. Cajetans Interesse ist, angesichts der Verlassenheitsaussage eine möglichst kontinuierliche Präsenz von Christi Rationalität zu behaupten. Vernunft kann und darf nicht abwesend sein im Stadium seiner Gottverlassenheit. Selbst wenn Gott weg ist: die Vernunft bleibt da. Luther wehrt derartige Kontinuitätsbehauptungen ab. So meint er beispielsweise 1522 über die veritable Theorietradition des Perfektions- oder Vernunftprinzips:20 „Sie [die Scholastiker] haben yhn [sich] eynen artickell des glawbens ertichtet, das Christus vom ersten augenblick seyner empfengniß sey voller weyßheytt und geysts geweßen“.21 Perfektibilität kann, denn das wäre absurd, für einen Gekreuzigten nicht behauptet werden. Ebd., fol. XLIVr. Vgl. zum Perfektionsprinzip in Früh- und Hochscholastik die Arbeit von Kaiser, Philipp, Das Wissen Jesu Christi in der lateinischen (westlichen) Theologie, Regensburg 1981 (ESt NF 14), 108.134.137.139 f. 21 WA 10/1/1, 446,11–13 (1522). 19 20
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Immer wieder treten in der Auslegungstradition zum 22. Psalm Hinweise auf Christi perfecta humanitas auf, beispielsweise bei Cassiodor. Cajetans Behauptung einer kontinuierlichen Vernunftpräsenz und sein Hinweis auf Christi menschliche Natur zeigen, dass es ihm nicht in den Sinn kommt, hier könne einer schreien, der tatsächlich von Gott verlassen ist. Im Gegenteil: Man könne, notiert er, den Verlassenheitsausruf elementar und absolut verstehen – eine Lesart, die ihm durch Luthers zweiten Psalmenkommentar geläufig gewesen sein dürfte – aber das sei nicht wahr und Christus wollte das keinesfalls affirmieren.22 Das Verlassensein, so die etwas sophistische Auskunft, meine vielmehr die Bewahrung vor einer allzu großen Passion und dem Tod. Begründet wird diese Lesart im Vorgriff auf den Fortgang des Psalms, wo es dann heißt, dass Gott zu Christi Heil da ist, dass er nicht sterbe. Christus bleibt als organum deitatis am Kreuz relativ affektfrei. Cajetan repräsentiert damit einen Strang der Tradition, die an Christi Vernunftseele orientiert ist, einen theoriebildenden Strang, der sich historisch, systematisch und hermeneutisch von Origenes bis zu Schleiermachers christologischer Bewusstseinskonzeption und der Behauptung der Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins angeblich am Kreuz weiterverfolgen lässt. Cajetan scheut sich sehr, den Psalmenvers, der als Leidensruf deutbar ist, im Sinne des von ihm sogenannten Literalsinns auszulegen. Er wehrt dieses Verständnis sogar ausdrücklich ab: Die sehr große Verlassenheit werde nicht beschrieben per modum desertionis, sondern per modum distantiae im Modus des Vorübergegangenseins. Er bleibt in Distanz zu seiner eigenen Passion. Er kann ihr ruhig zusehen. Noch als Gekreuzigter bleibt er sein eigener Zuschauer: Passion als kontemplative Selbstbeobachtung. Für Cajetan ist die Frage zentral, auf welche Affektregion sich der Ausdruck der Verlassenheit bezieht. Er behilft sich mit Distinktionsexegese und differenziert zwischen supremus und naturalis affectus. Der supremus affectus kann nicht die Affektregion sein, auf die sich der Verlassenheitsausdruck bezieht. Die gebrüllten Worte entstammen einfach dem naturalis affectus. Die eingeführte Gefühlsmechanik zwischen niederem und hohem Affekt zeigt, dass Christus im Grunde seines Leidens ungeregt bleibt. Sein höchster Affekt ist wie ein unbewegter Beweger. Kritisch zugespitzt verbirgt sich hinter diesem dergestalt ‚Leidenden‘, auch wenn er brüllt wie ein Löwe, ein Stoiker. Das Brüllen ist schlicht Traurigkeit des natürlichen Gefühls bzw. Affekts. Es lässt die höhere Affektregion unberührt. Gestützt von der Zweiweltentheorie dieser mechanischen Affekte kann die Klage nicht groß sein. Die Affektivität erscheint überformt als gefühlsstatische Ontokinetik. Die Verlassenheit ist natürliches Gefühl, das durch die Nägel und Geißelwerkzeuge hervorgerufen wird. Christus schreit, weil er geschlagen wird – mit Gottverlassenheit hat das metaphysisch streng genommen nichts zu tun. Es ist schlicht der natürliche Affekt eines an sich rationalen Seelenteils. Entsprechend Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Psalmi Davidici (wie Anm. 17), XLVv.
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steht nicht die sprachliche Qualität des Schreis im Vordergrund, sondern das Erklärungspotential der Worte „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. Sie sind nicht Passion, sondern nur Passion im Modus des Erklärens und Verdeutlichens. Diese Worte erklären lediglich das Hinausgehen der Passion über die menschliche Vernunft. Dieser sogenannten excessus passionis ist trotz mystisch-erfahrungsgesättigter Terminologie nüchtern und rational erklärbar: Obgleich Christus durch einen einzigen Tropfen seines Blutes die gesamte Menschheit hätte retten können, leidet er hier so, dass es die menschliche Vernunft übersteigt. Merkwürdig ist an diesem Punkt die semantische und logische Inkohärenz, wie die obere Affektregion angeblich unbewegt-erschütterungsfrei ist und das gleichzeitig exzessive Passion heißen soll, d. h. eine, die höher als alle Vernunft ist. Der Passionsexzess tangiert nicht das obere Affektvermögen. Es kann daher, wenn man nach semantischer Kohärenz fragt, nur bedingt exzessive Passion genannt werden. Ein weiteres Beispiel für den deutlichen Unwillen, Ps 22 einer radikal kreuzestheologischen Deutung zu unterziehen, ist die Auslegung des Psalmentitulus. Wie die Tradition entnimmt ihm Cajetan die Aussage, Christus könne als cerva aurorae, als Hinde der Morgenröte, bezeichnet werden.23 Cajetan nimmt durchaus wahr, dass es sich um eine metaphorische Redeweise handelt. Er weiß damit aber nichts anzufangen, weil er der Metapher vor dem Horizont eines apophantischen Sprachverständnisses grundsätzlich mit Misstrauen begegnet. Den logos apophantikos versteht Aristoteles als sacherfassenden und mitteilenden Logos, der als Aussage die Möglichkeit innewohnt, aufzudecken. Eben das kann man von obskuren Metaphern nicht sagen. Cajetan spricht einem möglichen Bildcharakter von cerva für die Festlegung des Psalmenthemas jegliche Bedeutung ab. Aus der Metapher lässt sich nichts entnehmen für das Thema des Psalms. Ganz anders geht hier Luther vor. Er versteht cerva / Hinde als sprachliche Verdichtung der Passion (wie es visuell in der zweiten Öffnung des Isenheimer Altars verdichtet wird). Semantik und Performanz ergeben ein geglücktes Bild.
23 Vgl. ebd., fol. XLIVv: Titulus est. Vincenti super cerva aurorae psalmus Davidi. Quia metaphorica est locutio, oportet prius materiam psalmi stabilire aliunde [es folgen dicta probantia aus dem NT]. „Hinde“ bedeutet Hirschkuh und ist laut christozentrisch interpretiertem Ps 22 ein Bild für Christus. Der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald zeigt diese Christushinde (in der zweiten Öffnung) bei deren Begegnung zwischen Paulus und dem Mönchseremiten Antonius liegend. Er ist die Figur des Dritten zwischen den beiden Männern. Im Hintergrund links neben dem Baumstamm ist nochmal ein Hirsch zu sehen. Die visuelle Doppelung könnte mit dem Übersetzungsproblem cervus / cerva zusammenhängen. In der Sekundärliteratur zum Isenheimer Altar findet man m.W. zu dieser Bildgestaltung des theologisch versierten Malers Grünewald nichts.
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2. Theologia crucis in der Zweiten Psalmenvorlesung Luther versteht unter dem einzigen von David gebrauchten Wort, das die Zeit, das Lebensalter und das Tun des leidenden Christus bezeichnet, die Passionsmetapher cerva.24 Luther allein fühlt sich in das Bild als Passionsbild ein, es in expressivem Überschwang fortentwickelnd, einer Imaginationsrichtung folgend, die der christozentrisch auslegbare Psalm nahelegt. Die „Hinde“ wird von den Juden in der Zeit, als sie im Fleische lebte, gefangen und den Heiden übergeben, damit sie sie in Stücke zerreißen. Christus als Hinde wird von Jagdhunden gegriffen und den Jägern ausgeliefert – Zerfleischen inbegriffen.25 Auslegungsgeschichtlich bemerkenswert ist, dass das Bildhafte an cerva teilweise erkannt worden ist. Es wird aber nie klar in den Zusammenhang mit Passion oder Passivität gesetzt. Das bedeutet, dass Kreuz und Passion, Passion und Kreuz, von Luther deutlicher akzentuiert werden als traditionell. Es ist philologische Treue zum Detail, die zum allmählichen Herausarbeiten aus ‚der‘ Tradition führt: Luther argumentiert beispielsweise klarer passionszentriert als der Kirchenvater Hieronymus. Er warnt kritisch davor, Christi Sieg über den Tod voreilig in den Titulus hineinzulesen.26 Wie schon im Exordium im Vergleich mit Cassiodor, Lombardus und Lyra deutlich wurde, sieht die Psalmenkommentartradition Christi Passion in keinem direkten Zusammenhang mit dem Titel: Für Hieronymus bezeichnet er nur Christi Auferstehung und seine Auffahrt zum Vater, ähnlich deutet Augustin, und Cassiodor sieht die Passion nur in indirekter Form zur Sprache gebracht, indem er den Titel als eine die Auferstehung bezeichnende Synekdoche versteht. Die Deutungskonflikte mit der Auslegungstradition entstehen durch die radikalisierte Auffassung von Gottverlassenheit. Den Menschen gleicht Christus darin, dass er sich mit dem äußersten Gottverlassenheit ausdrückenden Schrei menschlicher Gottferne und -verlassenheit ähnlich macht.27 Dieser Schrei am Kreuz gewinnt nicht nur gegenüber der Psalmenkommentartradition, sondern auch gegenüber Cajetan unvergleichlich an Intensität. Während man traditionell bemüht ist, zu dem in Christi Worte gekleideten Gottverlassensein Distanz aufzubauen, erreicht nach Luther der am Kreuz schreiende Sohn die größte soteriologische Nähe zum Gottlosen erst in seiner Gottverlassenheit: Der Gekreuzigte wird jedem Gottverlassenen, Verfluchten, Sünder, Gotteslästerer und Verdammten ähnlich.28 Er ist „verus peccator qui nullum [peccatum] fecit et tamen reus omnium“.29 „Warum hast du mich verlassen?“: Das fragend aus24 WA 5,
599,30 f. WA 5, 599,9–11. 26 Vgl. WA 5, 599,14–18. 27 Vgl. WA 5, 605,31–33; ebd., 605,34–606,28. 28 Vgl. WA 5, 605,36 f. – Vgl. WA 9, 475,19–21 (1519/21). 29 WA 27, 109,11 f. (1528). 25 Vgl.
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gerufene Entzugswort vom Kreuz macht es drastisch hörbar.30 „Ich haltte sie“, so Luther, „vor die grosten wordt in tota scriptura“.31 Im Anschluss an die Freilegung des Wortes von Christi Verlassenheitsschrei expliziert Luther das pro-me des Kreuzes. Er konkretisiert die Relation zwischen diesen am Kreuz gesprochenen, sich an starke und an schwache Christen richtenden32 verba manifesta dei33 und dem Glauben34. Christi Wort nach Ps 22,2 gilt Luther als Grund des Glaubens. Das Verlassenheitswort spricht, wie der Exeget an zwei Extremsituationen des menschlichen Gewissens verdeutlicht, den Glauben auf den Gekreuzigten an.35 Es erreicht seinen Adressatenkreis, als Gesetz und Evangelium wirkend. Beide, Gesetz und Evangelium, sind promissio. Das verbum efficax am Kreuz ist also doppelt effizient: es tröstet erstens die Verzweifelten, die durch seine Unentrinnbarkeit zum Tode gequält sind.36 Und es erschüttert als Gesetzeswort überdies zweitens die Sicheren, die sich metaphysischen Spekulationen hingeben.37 Das Einbezogensein in das Wort- und Bildgeschehen löst oder besser reißt Hörer glaubend aus der Distanz zum Schrei. Das als Gesetz und Evangelium zweifach aktualisierte Wort vom Kreuz muss jedoch nicht immer in dieser zweifachen Gestalt thematisiert werden.38 Darüber hinaus ist es nicht selten exklusiv und singulär nur viva vox euangelii. Wie seine Predigt vom 28. März 1524 zu Lk 24,26 über das Gespräch Christi mit den Emmausjüngern darlegt, ist das Wort vom Tode Christi „verbum promis sum“.39 „Hic deus weist uns auff sein promissionem et veritatem. Ubi in scriptura promisit Christum suum passurum […] et fore dominum omnium.“40 Wenn Vgl. WA 5, 605,38 f. WA.TR 5, 188,19–189,3 (Nr. 5493; Sept. 1542): „Derhalben sage ich [Luther], das groste ist in morte terror mortis. Ad Hebraeos: Ut gustaret [Christus] mortem pro eis [Heb 2,9]. Nos sumus beati, qui non gustamus mortem, welche ser bitter ist und herbe. Quantus autem sit dolor gustus mortis, in Christo cernitur dicente: Tristis est anima mea usque ad mortem [Mt 26,38]. Ich haltte sie vor die grosten wordt in tota scriptura, quamvis etiam magnum est et inexplicabile in cruce clamare: Eli, Eli etc. Nullus Angelus intelligit, quanta res sit, quod per poros sanguis effluit. Das heist gustus und terror mortis.“ 32 Die Worte richten sich, obwohl nicht alle dieselben Gaben und dieselben Leiden haben, an schwache und starke Christen, vgl. 606,5–8 mit Heb 5,13. 33 WA 5, 606,2. 34 Vgl. WA 5, 606,9–28. 35 Vgl. WA 15, 511,29–32 (1524): „Haec est summa passionis. Christus ex corde ad te dicit in passione: Ecce homo, ista tu pati deberes. Ego ista omnia in humerum meum suscipio, ut tu libereris. Si ista in tuo corde non audieris, frustra audiisti passionem; si vero, tum fructum et sequeris eum in passione.“ 36 Vgl. WA 5, 606,10–12. 37 Vgl. WA 5, 606,12 f. 38 Luther bleibt damit bemerkenswert flexibel gegenüber begriffsfixierten Sprachregelungen. Statt dogmatistisch zu dekretieren, Gesetz müsse in der Gestalt des Evangeliums begegnen (Barth), hält Luther die Redeweisen zwischen Gesetz und Evangelium entgegen einer einlinigen Deutung offen. 39 WA 15, 525,14 f. (zu Lk 24,26; 1524). 40 WA 15, 525,5 f. (zu Lk 24,26; 1524). 30 31
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ich dieses Wort als Versprechen habe, tröstet es mich und macht „ein seltzam [eigentümlichen] mut“41. Wie ein zuverlässiger Stab hält das Evangelium (!) des Verlassenheitsrufs den Glaubenden aufrecht.42 Ohne dieses Wort vom Kreuz wäre Christus nicht mehr als ein Dieb am Galgen.43 Als Seelsorger ist Luther der Auffassung, dass es kein wirksameres und sichereres Heilmittel für von Angst Überwältigte gibt als den Glauben an Christi Schwachheit am Kreuz.44 Der nach Luthers eigener Ansicht zu wortreiche Kommentar zu Ps 22,2 verfolgt das Ziel, dass wir des Glaubens Gnade und Gottes Barmherzigkeit im Glauben an diesen Verlassenheitsschrei voller erkennen mögen.45 Diesen Christusglauben fasst er als Glauben an das Wort des für mich Gekreuzigten auf. Er bestreitet jeglichen Werkcharakter dieses Geschehens: „Der Herr Christus am creutz nicht ein werck ist sondern ein schatz ym wort gefasset und uns furgetragen und durch den glauben empfangen.“46 Der Schrei am Kreuz soll überdies nicht abstrakten Klassifikationen unterzogen werden. Begriffe wie divinitas und humanitas führen nach Luther bei einigen Kirchenvätern dazu, dass sie die Wortsituation am Kreuz missachten.47 Sie ähnelt Christi Leidensankündigung bei der Salbung in Bethanien. Dort redet Christus nicht anders als ein Mensch, der sich in den Tod gibt.48 Diese Rede wird erneut und intensiviert hörbar am Kreuz: Der Gekreuzigte „that ein mord schrej, quia hic fuit ein mensch ut alius“.49 Wie Luther den Verlassenheitsschrei deutet, ist variantenreich und nuanciert: Aus ihm glänzt hervor, dass Christus nach 2 Kor 5,21 für uns zur Sünde gemacht wird.50 Sündenwechsel heißt die Dynamik, dass Christus unsere Vergehen zu seinem Vergehen macht, damit seine Gerechtigkeit zu unserer Gerechtigkeit werde.51 Die Heilsbotschaft vom Gekreuzigten strahlt aus dem Verlassenheitsruf. Er gewinnt durch das paulinische Evangelium in 2 Kor 5,21 Profil. Gottes Nein zur Sünde vollzieht sich in diesem Tausch.52 Diese paulinischen Worte sind nicht Trauer-, sondern Freudenworte, nicht Gesetz, sondern Evangelium. Hier ist abermals deutlich, dass Luther keine einlinige Deutung des Verlassenheitsrufs vornimmt: Er ist einerseits als Gesetz und Evangelium deutbar, andererseits aber allein als ‚reines‘ Evangelium. WA 15, 525,15 (zu Lk 24,26; 1524). WA 5, 606,14 f. 43 Vgl. WA 29, 201,8 f. (1529). 44 Vgl. WA 5, 606,18–20. 45 Vgl. WA 5, 606,9 f. 46 WA 30/1, 216,32–34 (1529). 47 Vgl. WA 5, 607,8–11. 48 Vgl. WA 34/1, 194,7 f. (zu Mt 26,6; 1531): „Non aliter loquitur dominus quam homo, qui se dedit ad mortem, ut sic affectus est quilibet homo“. 49 WA 17/1, 68,12 f. (1525). 50 Vgl. WA 5, 607,30 f. 51 Vgl. WA 5, 607,35–37. 52 Vgl. WA 5, 607,39 f. Vgl. 608,3 f. 41
42 Vgl.
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3. Abschluss Rückblickend ist festzuhalten, dass der späte Cajetan Luthers theologia crucis in den Operationes in Psalmos vermutlich zur Kenntnis genommen hat. Die Spuren, die Luthers Psalmenauslegung hinterlassen hat, können gleichwohl nicht stilisiert werden zu einer ‚echten‘ Begegnung von Cajetan und Luther auf dem Feld der Schriftauslegung. Die Auslegung des Psalters durch beide Theologen bedeutet eine Nicht-Begegnung, die sich im Versuch der machtvollen Marginalisierung von Luthers Exegese zeigt. Cajetan ist bestrebt, dass es nicht zur Durchsetzung von Luthers Exegese in seinem Psalmenkommentar kommt. Auf dem Feld von theologia crucis sind angesichts von Deutungen des gleichen Textes nur differente oder sogar konträre Ergebnisse möglich – und zwar trotz gemeinsamer Orientierung am Literalsinn, trotz des Sicheinlassens auf Theologie als Schriftauslegung durch Cajetan. Seine Fortschritte in der Auslegungskunst führen letztlich keineswegs zur Überwindung seines exegetisch-spekulativen Aristotelismus. Mehr als ein Jahrzehnt nach der Heidelberger Disputation und trotz seiner Auseinandersetzung mit den Operationes ist Cajetan nicht imstande, von den Gewaltsamkeiten seiner eigenen Exegese abzulassen. Der Theologiebegriff, den Luther in den Operationes geprägt hatte, „CRUX sola est nostra theologia“,53 wird ignoriert und der Versuch aufgegeben zu verstehen. Cajetan nimmt trotz seiner vermuteten Kenntnis der Operationes nicht wahr, dass Luthers Auslegung von Ps 22 eine Weiterentwicklung und Vertiefung der in der Heidelberger Disputation entwickelten Kreuzestheologie ist. Es geht im Kern nicht um die Falle des positivistischen Nachweises, dass die Wortverbindung theologia crucis bei Luther nur selten auftritt, sondern um die schlechthinnige Erkenntnis, dass Ps 22 die natürliche Weiterentwicklung dessen ist, was in der Heidelberger Disputation formelhaft und programmatisch verdichtet wurde als theologia crucis. Es ist ein hermeneutisch unzureichendes Verfahren, aus dem geringen Auftreten der Wortbildung theologia crucis entschuldigend-apologetisch zu folgern: „Diese zugespitzten Aussagen sind, wie gesagt, der Kampfsituation entsprungen und von ihr her zu verstehen. Sie haben aber weder in der Zeit, als Luther sie formulierte, noch auch in späteren Jahren die Fülle der Sachfragen, mit denen sich die Theologie zu befassen hat, reduzieren können.“54
Pointiert gesagt: Die Fülle der Sachfragen war nach der Heidelberger Disputation im Blick auf die Christologie noch nicht gelöst. Es bedurfte der Weiterarbeit. Die Auseinandersetzung mit der Christologie als Kreuzestheologie sollte also nicht gegen die anderen Sachthemen ausgespielt werden. Vielmehr führt sie in das Herz der Theologie. AWA 2, 319,3 (Exkurs „De spe et passionibus“ zu Ps 5,12; 1519/21). Lohse, Bernhard, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 52. 53 54
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Die im Glauben an das Wort gegenwärtige Präsenz des Gekreuzigten wird nahezu überall in Luthers Werk in den Mittelpunkt gestellt, obwohl sie stets nur marginal erscheint. Diese Kreuzestheologie kann, da sie eine Größe sui generis bildet, mit den Gestalten mittelalterlichen kreuzestheologischen Denkens nicht harmonisiert werden. Eine differenzunterkomplexe Harmonisierung vollzieht sich etwa dann, wenn die Operation auf eine monokulturell zum Monolithen erklärten Traditionsgeschichte fokussiert (Beispiel Mystik o.ä.). Im berühmten und innerhalb der Operationes ausführlichsten Exkurs De spe et passionibus behauptet Luther für sein gesamtes theologisches Denken die Zentralstellung und Exklusivität des Gekreuzigten trotz seiner Marginalisierung. Deshalb ist der These Oswald Bayers schwerlich zuzustimmen: „Kontroverstheologischer Nachfrage hält es [das Kriterium der Relation von promissio und fides] darin stand, daß es sich dagegen sperrt, in römisch-katholisches Denken eingeordnet zu werden, was man etwa von der theologia crucis nicht sagen kann.“55 Der Punkt ist gerade, dass es Luther erst langsam und allmählich nach der Heidelberger Disputation gelingt, seine theologia crucis mit der Relation von promissio und fides zu vertiefen: Es entsteht eine genuine Kreuzestheologie, die mit mittelalterlich-mystischen Kreuzestheologien oder allgemeinem ‚römisch-katholischen‘ Denken nicht verrechnet werden kann. Das zeigt nicht zuletzt das bleibende Nicht-Verstehen oder Nicht-Verstehen-Wollen Cajetans. Die in den Heilsbildern des Tausches und etwa des Bräutigams zugesagtimaginierte Nähe Christi gründet in Gottes Gnade, die ein unausschöpfliches Geheimnis ist.56 Durch das admirabile commercium sind unsere Sünden nicht mehr unsere, sondern Christi Sünden. Seine Gerechtigkeit ist nicht mehr seine, sondern unsere Gerechtigkeit.57 Die theologisch interpretierbare Grammatik zeigt im Wechsel der Possessivpronomina an, dass er sich mit dem Unsrigen erfüllt, um uns von dem Unsrigen zu entäußern.58 Nur im Provisorium formuliert Luther diesen auf die gesamte Existenz des Sünders abzielenden Wechsel in statischen Begriffen der Schulphilosophie: Unsere Gerechtigkeit wird nicht nur obiective, d. h. der Sache nach, sondern auch formaliter, d. h. dem Wesen nach, Christi Gerechtigkeit. Entsprechend werden unsere Sünden nicht nur objektiv, sondern formal zu seinen Sünden.59 Adäquater als diese philosophische Begriffsbildung ist jedoch der sich im Kreuz vollziehende, mittels lebendiger Verben dynamisierte Tausch zwischen Sündenträger und Sündern: So, wie der Gekreuzigte in unseren Sünden leidet und mit ihnen sich vereint, können wir uns in seiner Gerechtigkeit freuen und rühmen.60 Variabel gestaltete Heilsmetaphern ver55 Bayer,
12. 608,6. 57 WA 5, 608,7 f. 58 WA 5, 608,8 f. 59 WA 5, 608,10–12. 60 WA 5, 608,12 f. 56 WA 5,
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dichten das Soteriologische des Todes am Kreuz: „wunderbarliche[r] wechsel“,61 „fröhlich wechßel und streytt“,62 stupendum duellum,63 „wunderlich Krieg“,64 oder in Superlativen suavissimum commercium,65 dulcissimum spectaculum,66 pulcherrima commutacio.67 An die Stelle der Heilsmetaphern von Tausch und translatio68 tritt gelegentlich die der Verwandlung: Mit Christus werden wir ein Fleisch und ein Leib durch die tiefste transmutatio unserer Sünde in seine Gerechtigkeit.69 Das Geheimnis seiner durch die Übernahme unseres Sünderseins am Kreuz geschenkten Nähe kann, wie Luther um der Sache willen mit Ps 22 hyperbolisch betont, wegen der Größe dieser Reichtümer niemals genug gesagt, gepredigt, gehört, bedacht und verstanden werden.70 Diese Kreuzestheologie ist also mitnichten ein Randthema, wenn sie selbst nur minimal und marginal erscheint.
WA 10/3, 356,12–28 (1522). WA 7, 25,34 (1520). 63 WA 7, 55,16 (1520). 64 AWA 4, 195. 65 AWA 2, 451,24 f. (zu Ps 8,2; 1519/21). 66 WA 7, 55,7 (1520). 67 WA 40/2, 558,29 (zu Ps 45,10; 1533). 68 WA 8, 87,6 f. (1521). 69 AWA 2, 547,16–19 (zu Ps 9A,16a; 1519/21). 70 WA 5, 608,17 f. 61 62
Glaube und Gewissheit bei Cajetan Michael Basse Cajetan hat das Thema der Glaubensgewissheit zunächst in seinen Kommentaren zur Summa theologiae des Thomas von Aquin behandelt, die noch vor dem Beginn der causa Lutheri abgeschlossen waren. Ende September und Anfang Oktober 1518 widmete er sich diesem Thema dann ausführlich in zwei Traktaten, die er zur Vorbereitung auf das Gespräch mit Luther verfasst hat.1 Diese Texte sollen im Folgenden analysiert werden, bevor dann im vierten Abschnitt Cajetans Schriften aus der Zeit nach dem Augsburger Gespräch berücksichtigt werden, um so auch der Frage nachzugehen, inwieweit Cajetan durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit Luther motiviert wurde, die Gewissheitsthematik weiter zu vertiefen.
1. Cajetans Kommentare zu den Erörterungen der Gnaden-, Glaubens- und Hoffnungsgewissheit in der Summa theologiae des Thomas von Aquin Cajetan beschäftigte sich mit der Gewissheitsthematik in seinen 1511 bzw. 1517 abgeschlossenen Kommentaren zu den beiden Abschnitten des zweiten Teils der Summa theologiae zunächst im Duktus der Gnadenlehre und dann im Zusammenhang mit den beiden theologischen Tugenden des Glaubens und der Hoffnung. Die Verknüpfung der beiden Fragen nach der Glaubens- bzw. Hoffnungsgewissheit ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil darauf gerade auch 1 Vgl. Hennig, 46–61; Selge, Kurt-Viktor, Die Augsburger Begegnung von Luther und Kardinal Cajetan im Oktober 1518. Ein erster Wendepunkt auf dem Weg zur Reformation, in: JHKGV 20 (1969), 37–54; Pesch, 645–661; Wicks, 80–93; Hallensleben, 438–463.470–481; Lohse, Bernhard, Cajetan und Luther. Zur Begegnung von Thomismus und Reformation, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, hg. von Leif Grane et al., Göttingen 1988, 44–63; Basse, Michael, Certitudo Spei. Thomas von Aquins Begründung der Hoffnungsgewißheit und ihre Rezeption bis zum Konzil von Trient als ein Beitrag zur Verhältnisbestimmung von Eschatologie und Rechtfertigungslehre, Göttingen 1993 (FSÖTh 69), 179–181; Morerod I und II; Felmberg, 215–228; Schreiner, Susan, Are You Alone Wise? The Search for Certainty in the Early Modern Era, Oxford 2010 (Oxford Studies in Historical Theology), 55 f.; O’Connor, Michael, Cajetan’s Biblical Commentaries: Motive and Method, Leiden 2017 (St Andrews Studies in Reformation History), 45 f.
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im ökumenischen Dialog seit den 1960er Jahren rekurriert wurde,2 insofern hier eine Brücke zwischen Thomas und Luther gesehen wurde. In seinem Kommentar zur Erörterung der Frage, ob ein Mensch sich des Gnadenbesitzes gewiss sein könne, schließt sich Cajetan der Argumentation des Aquinaten an.3 Demnach kann kein Mensch aus sich selbst heraus die Gewissheit haben, die Gnade zu besitzen, weil dafür eine in sich konsistente Prinzipienerkenntnis notwendig wäre, über die der Mensch aber nicht verfüge, da er Gott selbst als das Prinzip der Gnade nicht mit dem Verstand erfassen könne. Zudem stellt Cajetan fest, dass es wegen der Ähnlichkeit der menschlichen Handlungen, die im Besitz der Gnade geschehen, und der Handlungen, die außerhalb des Gnadenstandes aus natürlichen Ursachen hervorgehen, nicht möglich sei, sich des Gnadenbesitzes gewiss zu sein.4 Somit bleibt nur eine konjekturale Gewissheit, die zwar unvollkommen ist, aber doch Rückschlüsse auf den individuellen Gnadenstand erlaubt, wenn die eigene Freude an Gott und die Verachtung der weltlichen Dinge als Zeichen erkannt werden und der Mensch sich keiner Todsünde bewusst ist. Cajetan betont in seinem Kommentar, dass die thomanische Unterscheidung zwischen der Glaubensgewissheit und der Ungewissheit hinsichtlich des Gnadenstandes insofern zu präzisieren ist, als im Blick auf die Glaubensgewissheit noch einmal zwischen dem erworbenen Glauben (fides acquisita) und dem eingegossenen Glauben (fides infusa) differenziert werden müsse.5 So gelte die thomanische Argumentation, wonach der Glaubende sich seines Glaubens gewiss sei, in Bezug auf die fides infusa, während eine solche Gewissheit allein aus dem Akt des Glaubens heraus nicht zu erlangen sei, „weil dieser aus dem eigenen Willen und Verstand hervorgehen kann“ und somit in seiner kreatürlichen Begrenztheit ungewiss bleibe.6 2 Vgl. Pfürtner, Stephanus, Luther und Thomas im Gespräch. Unser Heil zwischen Gewißheit und Gefährdung, Heidelberg 1961 (Thomas im Gespräch 5); Hennig, 168–171; Pesch, Otto Hermann, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Mainz 1967 (Walberberger Studien der Albertus-Magnus-Akademie. Theologische Reihe 4), 748–757; Fries, Albert, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, in: Studia Moralia 7 (1969), 131–236; Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 9 f. 3 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae I–II q. 112 a. 5 (Leonina 7, 327); Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 68–70. 4 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae I–II q. 112 a. 5 ad 1 (Leonina 7, 327). 5 Vgl. ebd., ad 2 (Leonina 7, 327). 6 Ebd.: „Et tunc distingue certitudinem, et dic quod certitudine scientiae nemo scit se habere fidem ex actu fidei, puta credere: quoniam hoc potest ex propria voluntate et intellectu provenire. Certitudine autem fidei quilibet scit certe se habere donum infusum fidei. Et in hoc differt certitudo experimentalis fidei et gratiae: quia ex actibus gratiae quamvis homo putet se esse in gratia, stat tamen cum formidine partis oppositae; ex actibus vero fidei homo credit absque formidine alterius partis, se habere fidem, sicut etiam credit alia credita, scilicet incarnationem Christi, etc.“ – Vgl. Hallensleben, 478 f.
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Die Unterscheidung zwischen einer konjekturalen Gnadengewissheit und einer absoluten Gewissheit der fides infusa wird dann in Cajetans Kommentar zur ersten Quaestio der Secunda Secundae, die sich mit dem Gegenstand des Glaubens befasst, noch genauer ausgeführt. Im dritten Artikel dieser Quaestio zeigt Thomas von Aquin, dass dem Glauben nichts Falsches zugrunde liegen kann, weil er „unter der ersten Wahrheit“ stehe.7 Die Gewissheit des eingegossenen Glaubens ist nach thomanischer Auffassung durch die Infallibilität seines Gegenstandes gesichert und dadurch ‚objektiv‘ begründet, dass Gott in zweifacher Hinsicht ‚Ursache‘ des Glaubens ist: als Urheber der Offenbarung, der dem Menschen die glaubwürdigen Wahrheiten, die seinen Verstand übersteigen, ‚vorsetzt‘, und als „übernatürliches Prinzip“, das den Menschen dazu bewegt, diesen Glaubenswahrheiten zuzustimmen.8 Cajetan schließt sich in seinem Kommentar der Auffassung des Aquinaten an und widmet sich dann ausführlich dessen Argumentation zu dem Einwand, dass der Glaube doch beispielsweise im Blick auf die Gegenwart Christi im Abendmahl einem Irrtum unterliegen könne. Während Thomas von Aquin das relativ knapp damit beantwortet, dass die Wahrheit des Glaubens auf der rechtmäßigen Konsekration der Hostie gründe,9 warnt Cajetan vor dem Missverständnis, dass damit die Verehrung der Hostie an eine Bedingung geknüpft werde.10 Vielmehr reiche eine Gewissheit nach „menschlicher Gewohnheit“ hier völlig aus, um auf die Gegenwart des Herrn in der Eucharistie zu vertrauen.11 Hier zeigt sich, dass Cajetans Behandlung der Gewissheitsthematik neben ihrer erkenntnistheoretischen Dimension auch eine praktisch-theologische Seite hatte, was für das Gespräch mit Luther nicht unerheblich war. Im Blick auf die thomanischen Darlegungen zur Hoffnungsgewissheit begnügte sich Cajetan mit der schlichten Feststellung, dass es hierzu keine Fragen gebe.12 Damit stimmte er also uneingeschränkt der Auffassung des Aquinaten zu, dass der theologischen Tugend der Hoffnung Gewissheit zukomme, weil sie sich in ihrer Ausrichtung auf die beatitudo als das ihr eigene Ziel in erster Linie auf die göttliche Allmacht und Barmherzigkeit stütze, mit der sie die Gnade erlangen könne, um so das ewige Leben zu erreichen.13 Zudem partizipiere die Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II q. 1 a. 3 (Leonina 8, 12). ders., Summa theologiae II–II q. 6 a. 1 (Leonina 8, 61 f.); Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 66; Niederbacher, Bruno, Glaube als Tugend bei Thomas von Aquin. Erkenntnistheoretische und religionsphilosophische Interpretationen, Stuttgart 2004 (Münchener philosophische Studien NF 24), 18–22. 9 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II q. 1 a. 3 ad 4 (Leonina 8, 12b). 10 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae II–II q. 1 a. 3 ad 4 (Leonina 8, 12 f.). 11 Ebd.; vgl. Hallensleben, 480. 12 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae II–II q. 18 a. 4 (Leonina 8, 137b); Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 154. 13 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II q. 18 a. 4 ad 2 (Leonina 8, 137b); Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 84 f. 7
8 Vgl.
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Hoffnung an der „Gewissheit vom Glauben“ (participans certitudinem a fide), insofern sie ‚gewiss‘ auf ihr Ziel hin tendiere, wenn sie vom Glauben bewegt wird, d. h. die erstrebte beatitudo zuerst vom Glauben erfasst wird.14 Mit seiner uneingeschränkten Zustimmung zur thomanischen Begründung der Hoffnungsgewissheit distanzierte sich Cajetan zugleich von der Auffassung des Dominikanertheologen Durandus von St. Pourçain, der hinsichtlich der Hoffnungsgewissheit die Auffassung vertreten hatte, dass diese Gewissheit im Sinne einer certitudo inclinationis grundsätzlich schwinden könne, wenn sie daran gehindert werde, das erstrebte Gut zu erlangen.15 Demgegenüber hatte Thomas von Aquin präzise unterschieden zwischen der unbedingten Gewissheit der Hoffnung, die in deren Ausrichtung auf die beatitudo als dem letzten Ziel der göttlichen Heilsordnung begründet ist, und der Möglichkeit, dieses Ziel aufgrund des liberum arbitrium zu verfehlen. Genau diese Differenzierung brachte wiederum Cajetan gegenüber Luthers Konzept der Glaubensgewissheit zur Geltung. Sein eigenes Verständnis der Hoffnungsgewissheit hat Cajetan auch noch in seinem Kommentar zu den thomanischen Ausführungen hinsichtlich der fiducia im Rahmen der Abhandlung über die Tugend der Großherzigkeit bekräftigt. Dabei stimmt er dem Aquinaten darin zu, dass die fiducia zwar vom Wortlaut her von der fides abgeleitet zu sein scheint, sie in der Sache aber zur Hoffnung gehöre, denn im Anschluss an Hiob 11,18 werde mit diesem Begriff zum Ausdruck gebracht, „dass jemand daraus Hoffnung schöpft, dass er den Worten eines Anderen, der Hilfe verspricht, glaubt“.16 Gehört das Vertrauen nach Auffassung des Aquinaten zur Gewissheit der Hoffnung,17 so kommt es bei ihm doch zu einer Abstufung in Bezug auf den Tugendcharakter der Hoffnung im Unterschied zum Vertrauen, dem er eine Tugendhaftigkeit im eigentlichen Sinne abspricht und es nur als eine „Bedingung der Tugend“ bezeichnet.18 Demgegenüber wendet Cajetan ein, „dass das Vertrauen nichts anderes ist als die Hoffnung“ und der fiducia dadurch auch Gewissheit zukomme.19 Dabei gilt aber für ihn ebenso wie für Thomas von Aquin, dass dieses Vertrauen angemessen sein muss, während es sündhafte 14 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II q. 18 a. 4 (Leonina 8, 137b); Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 83 f. 15 Vgl. Durandus von St. Pourçain, In Petri Lombardi Sententias Theologicas Commentariorum libri quattuor III d. 26 q. 3 ad 1 (Venedig 1571, ND Ridgewood 1964, Bd. 2, 260rb); Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 149 f. 16 Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II q. 129 a. 6 (Leonina 10, 67a); vgl. Fries, Hoffnung (wie Anm. 2), 142; Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 55; Peng-Keller, Simon, Gottvertrauen und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart, in: Ingolf U. Dalferth / Simon Peng-Keller (Hg.), Gottvertrauen. Die ökumenische Diskussion um die fiducia, Freiburg i. Br. 2012 (QD 250), 129–162, hier 131. 17 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II q. 128 a. 1 ad 6 (Leonina 10, 52b). 18 Vgl. ders., Summa theologiae II–II q. 129 a. 6 ad 3 (Leonina 10, 67b). 19 Thomas de Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae II–II q. 129 a. 6 ad 3 (Leonina 10, 68a): „Ego autem dico quod fiducia non est aliud quam spes, non quaelibet, sed habens coniunctam certitudinem.“
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Vermessenheit sei, die göttliche Gerechtigkeit aufgrund eines „ungeordneten Vertrauens auf die göttliche Barmherzigkeit“ zu verachten.20 Die komplexe Struktur der thomanischen Tugendtheologie und die damit verbundene Differenzierung zwischen verschiedenen Aspekten theologischer Rede von ‚Gewissheit‘ bildeten dann 1518 die Basis für Cajetans eigene systematische Entfaltung des Glaubensverständnisses und der Gewissheitsthematik in der Auseinandersetzung mit Luthers reformatorischer Theologie.
2. Der Traktat „Über den Glauben, der für eine fruchtbare sakramentale Absolution notwendig ist“ In diesem Traktat, den Cajetan am 26. September 1518 verfasst hat, wird die Frage erörtert, „ob zu der fruchtbaren Absolution in dem Sakrament der Buße ein Glaube verlangt werde, mit dem der Büßende absolut gewiss glaubt, dass er von Gott freigesprochen ist“.21 Ganz im Stile einer scholastischen Quaestio führt Cajetan zunächst sechs Argumente an, wonach diese Frage positiv zu beantworten ist. Dabei nimmt er auf Luthers Auffassungen Bezug, wie dieser sie in seinem Sermo de penitentia dargelegt hat. Im Anschluss daran konstatiert Cajetan kurz und bündig: „Im Gegensatz dazu steht der allgemeine (Glaubens-) Sinn der Kirche.“22 Es folgt sodann die eingehende Begründung für diese strikte Ablehnung der Auffassungen Luthers und damit implizit die Entfaltung von Cajetans eigener Position, die er als die der Kirche insgesamt betrachtet. Zu Beginn seiner Argumentation stellt Cajetan fest, es sei eine prinzipielle „Neuerung“, wenn über die Reue hinaus ein solcher Glaube verlangt werde, wie das vonseiten Luthers geschehe, wonach „alle verdammt werden müssten, die nicht darauf vertrauen wollten, dass sie freigesprochen seien, bis sie sich dessen gewiss sind, dass sie hinreichend zerknirscht sind“.23 Luthers Verweise auf Ps 119,49 („Gedenke deines Wortes, dieweil du mich hoffen lässt“) sowie Mt 16,19 Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II q. 130 a. 2 ad 1 (Leonina 10, 73a). Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula omnia, Lyon 1588, 109b; Morerod I, 318 [X.1]): „Queritur utrum ad fructuosam absolutionem in sacramento penitentie exigatur fides, qua penitens credat certissime se esse absolutum a deo.“ 22 Ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 109b; Morerod I, 322 [X.8]): „In oppositum est communis ecclesie sensus.“ – Vgl. Wicks, 88. 23 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula [wie Anm. 21], 110a; Morerod I, 322 [X.9]): „Ad evidentiam horum sciendum est novitatem superexortam esse, quod huiusmodi fides adeo exigatur, ut plus quam contritio requirenda sit, et damnandi sint omnes, qui nolunt confidere sese absolutes, donec certi sunt se satis contritos.“ – Den Acta Augustana lässt sich entnehmen, dass Cajetan diese Kritik an Luthers ‚Neuerung‘ hinsichtlich des Verständnisses der Glaubensgewissheit dann auch in dem Augsburger Gespräch vorgetragen hat (vgl. Acta Augustana, in: WA 2, 7,35–40). 20 21
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(„was du auf Erden lösen wirst, das wird in den Himmeln gelöst sein“) zeigen nach Cajetans Auffassung, dass hier vonseiten des Wittenberger Reformators etwas zu der eigentlichen Intention der biblischen Texte hinzugefügt wird, indem zu einem „Glauben in Bezug auf die Wirkung“ aufgerufen wird.24 Demgegenüber verweist Cajetan auf die notwendige Unterscheidung zwischen der fides acquisita und der fides infusa.25 Damit knüpft er an eine grundlegende Bestimmung der scholastischen Theologie an, die sich – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen – bei Thomas von Aquin26 ebenso findet wie bei Duns Scotus27 und in der via moderna28. Stellt Cajetan in Übereinstimmung mit Thomas und in Anknüpfung an seinen eigenen Kommentar zur Summa hinsichtlich der fides infusa fest, dass ihr ‚nichts Falsches unterkommen kann‘, da sie sich auf die göttliche Wahrheit stütze, so ist nun für ihn – wie auch für Thomas – entscheidend, dass die fides infusa in ihrem prinzipiellen und somit ‚universalen‘ Charakter nicht auf Partikulares bezogen ist.29 Deshalb gehöre es zur fides infusa zu glauben, dass die Absolution, die von einem Amtsträger der Kirche rechtmäßig erteilt wurde, wirksam ist und in demjenigen, der sie „würdig“ annimmt, Gnade bewirkt, aber keinesfalls dürfe daraus die Schlussfolgerung gezogen werden, dass diese Wirkung auch ‚partikular‘, d. h. bezogen auf die eigene Person, gewiss sei.30 Cajetan bezeichnet es als ein „allgemeines Gesetz“, dass der Mensch nicht wissen
24 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula [wie Anm. 21], 110a; Morerod I, 322 [X.9]): „Adiungunt, quod dicendo ‚Quodcunque solveris‘, dedit potestatem, dicendo ‚Erit solutum‘, excitavit fidem de effectu.“ 25 Vgl. ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 110a; Morerod I, 322 [X.10]); Hennig, 49–52. 26 Vgl. Thomas von Aquin, Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi I q. 1 a. 3 qla. 2 arg. 1 (Opera omnia 1, hg. von Roberto Busa, Stuttgart / Bad Cannstatt 1980, 1). 27 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones in Libris Quartis Sententiarum Distinctiones III d. 23 (Opera omnia VII.1, ed. Lucas Wadding, Lyon 1639, ND Hildesheim 1968, 459–474); Walter, Ludwig, Das Glaubensverständnis bei Johannes Duns Scotus, München u. a. 1968 (MGI NF 5), 36–59. 28 Vgl. Wilhelm von Ockham, Quaestiones in Librum Tertium Sententiarum. Reportatio, III q9 a1 (Opera Theologica VI, ed. Institut Franciscani Universitatis S. Bonaventure, St. Bonaventure / New York 1982, 279,1–282,6); Biel, Gabriel, Collectorium circa quattuor libros sententiarum III d. 26 a. 1 B (ed. Wilfrid Werbeck / Udo Hofmann, Bd. 3, Tübingen 1979, 429 f.); Seeberg, Reinhold, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3: Die Dogmenbildung des Mittelalters, Leipzig 41930, ND Darmstadt 1974, 719–725. 29 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula [wie Anm. 21], 110a; Morerod I, 324 [X.10]): „Ratio autem universalis, quare sub fide infusa non cadunt huiusmodi particularia, est quia fidei infuse (utpote divine veritati innixe) non potest subesse falsum“. 30 Ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 110a; Morerod I, 326 [X.10]): „Non spectat igitur ad fidem infusam credere absolutionis effectum in hoc particulari, puta in meipso, sed ad fidem ipsam infusam pertinet credere absolutionem ab ecclesiastico ministro rite factam, efficacem esse, et in suscipiente digne gratiam operari.“
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könne, ob er sich in der Gnade Gottes befindet, vielmehr müsse er in seinem ganzen Leben daran zweifeln.31 So kann nach seiner Auffassung die fides acquisita, die auf eine konkrete Situation bzw. Person bezogen ist, im Unterschied zur fides infusa einem Irrtum unterliegen, weil dem Wirksamwerden des Sakraments ein Hindernis entweder vonseiten der eigenen Person oder aufseiten des Amtsträgers im Weg stehen könnte. Zudem sei die fides acquisita eben nicht jener Glaube, „wodurch wir auf das Wort Christi vertrauen, [der Glaube,] der in den Sakramenten bewirkt wird, durch den wir glauben, dass das Wort Christi [Mt 16,19] wirksam ist“.32 Für den Glauben an das Wort Christi reicht es nach Cajetans Auffassung aus, dass er auf alle Glaubensartikel bezogen ist;33 er kann aber nicht mit dem erworbenen Glauben gleichgesetzt werden, weil dieser eben auf Individuelles bezogen ist und deshalb fehlbar sein kann. Das gilt für Cajetan umso mehr, als dieser Glaube auch in einem Schismatiker oder Häretiker zu finden sei, was aber ja nicht bedeuten könne, dass sich ein solcher ‚Gläubiger‘, wenn ihm von einem Priester irrtümlicherweise die Absolution erteilt wird, zugleich in der Gnade Gottes und in der Todsünde befände.34 Weiterhin widerspreche es der ‚christlichen Wahrheit‘, dass der Mensch in der Buße auf seinen eigenen Glauben vertrauen könne, getreu dem Motto ‚So viel Du glaubst, so viel hast Du‘.35 Weil nun aber aus der Heiligen Schrift, dem Kirchenrecht, der Tradition der Kirche und den heiligen Gelehrten nicht begründet werden könne, dass der erworbene Glaube als Disposition für das Sakrament der Buße notwendig sei, und weil das auch mit der Vernunft zurückgewiesen werden müsse, dürfe das mit Vermessenheit oder Unwissenheit nicht entschuldigt werden.36 Die gnadentheologische Begründung und Entfaltung der fides infusa bringt Cajetan auch in seiner Deutung des von Luther angeführten Augustin-Zitats zur Geltung, wonach „das Sakrament [von der Sünde] reinigt, nicht weil es vollzogen wird, sondern weil daran geglaubt wird“.37 Cajetan versteht das „unpersönlich“, d. h. nicht auf die Person des Priesters oder die Person des Empfangenden bezogen, sondern in Bezug auf die „geglaubte Sache“, so dass damit die Tugend bzw. 31 Ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 110a; Morerod I, 328 [X.11]): „quia quilibet homo dubius in hac vita: secundum communem legem nescit, an sit in gratia dei“. 32 Ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 110a; Morerod I, 326 [X.11]): „hec fides non est illa qua in verbo christi confidimus, que in sacramentis operatur, qua credimus efficax esse christi verbum: ‚Quodcunque solveris super terram‘“. 33 Vgl. ebd., ad 1 (Opuscula [wie Anm. 21], 110b; Morerod I, 330 [X.16]). 34 Vgl. ebd. corp. (Opuscula [wie Anm. 21], 110a; Morerod I, 328 [X.12]). 35 Ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 110b; Morerod I, 328 [X.13]): „Amplius, si fides ista est, qua quantum credis, tantum habes, quum fides ista sit opus humanum (quia est acquisita), consequens est ut in opera sue fidei confidentia penitentie consistat: quod est alienum a chris tiana veritate.“ 36 Vgl. ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 110b; Morerod I, 328 [X.14]). 37 Luther, Martin, Sermo de poenitentia (1518), in: WA 1, 319–324, hier 324,17f, mit Bezug auf Augustin, In Iohannis Evangelium tractatus, LXXX,3 (CChr.SL 36, 529,9–11).
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Kraft des Glaubens zum Ausdruck komme und nicht die individuelle Glaubensgewissheit hinsichtlich der Wirkung des Sakraments.38 Zusammen mit der Unterscheidung von erworbenem und eingegossenem Glauben gilt es nach Cajetans Ansicht auch an der theologischen Tradition festzuhalten, hinsichtlich der Reue des Beichtenden zwischen der vollkommenen Reue (contritio) und der unvollkommenen Reue, der sogenannten ‚Furchtreue‘ (attritio), zu unterscheiden. Luthers Auffassung, dass es auf den Glauben an die Sündenvergebung und nicht auf die vollkommene Reue ankomme, weil diese niemals hinreichend wahr sein könne,39 weist Cajetan mit aller Entschiedenheit zurück, indem er feststellt, dass die vollkommene Reue „im höchsten Maße notwendig“ sei.40 Dem widerspreche auch nicht, dass die Reue ungewiss sein könne, vielmehr habe „Gott selbst befohlen, dass wir mit dieser unserer Ungewissheit zum Sakrament hinzutreten“.41 Die Behauptung, dass die Reue niemals genügen könne, sei jedoch falsch, wie die große Zahl derer zeige, die mit wahrhaftiger und hinreichender Reue zur Beichte gingen. Luthers Schlussfolgerung, dass weder die Reue noch das Nichtsetzen eines Hindernisses für die Sündenvergebung genügen könnten,42 hält Cajetan entgegen, dass es eine „Ermessenssache“ sei, ob derjenige, der eine unvollkommene Reue zeige und kein Hindernis setze, die Gnade der Absolution erlange oder nicht.43 Angesichts der innerscholastischen Debatte über die Unterscheidung von attritio und contritio sowie die Frage, ob es für die Wirksamkeit eines Sakramentes ausreiche, kein ‚Hindernis‘ zu setzen,44 vermeidet Cajetan eine eindeutige Festlegung. Zugleich betont er aber, dass so, wie Luther hier argumentiere, indem er die Glaubensgewissheit für den 38 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula [wie Anm. 21], 110b; Morerod I, 330–332 [X.19]): „Ad tertiam dicitur, quod ‚sacramentum abluit, non quia fit‘, hoc est non secundum substantiam facti; ‚sed quia creditur‘, hoc est secundum virtutem creditam in eo, et non quia creditur a suscipiente effectus suus in eo certissime ab hoc. Et nota quod non dixit: ‚Quia credit minister aut suscipiens‘, sed impersonaliter ‚quia creditur‘, hoc est propter rem creditam“. 39 Vgl. Luther, Martin, Sermo de poenitentia (wie Anm. 37), in: WA 1, 324,4–6. 40 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula [wie Anm. 21], 110b; Morerod I, 332 [X.20]): „contritio enim est summe necessaria.“ 41 Ebd.: „Nec obstat, quod contritio sit incerta: iussit enim deus ipse, ut cum nostra hac incertitudine accedamus ad sacramenta.“ 42 Vgl. Luther, Martin, Sermo de poenitentia (wie Anm. 37), in: WA 1, 324,8–11. 43 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula [wie Anm. 21], 110b–111a; Morerod I, 334 [X.21]): „quod attritus non ponens obicem, non consequitur gratiam absolutionis nisi credat (ut iam patet ex dictis) voluntarie dicitur“. 44 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones in Libris Quartis Sententiarum Distinctiones IV d. 17 q.1 § 13 (Opera omnia IX, ed. Lucas Wadding, Lyon 1639, ND Hildesheim 1968, 300); Biel, Gabriel, Collectorium circa quattuor libros sententiarum IV d. 1 q. 3 not. 2 (ed. Werbeck / Hofmann, Bd. 4 / 1, Tübingen 1975, 51, B,1–16); Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3 (wie Anm. 28), 532–540; Oberman, Heiko Augustinus, Spätscholastik und Reformation, Bd. 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965, 139–152.
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Beichtenden verlange, ein neues Kriterium für die Disposition zum Empfang der sakramentalen Absolution eingeführt werde, das „nicht zur Sache gehöre“ und nur akzidentiellen Charakter habe.45 Die zuspitzende Schlussfolgerung des Wittenberger Reformators, wonach das Bußsakrament demjenigen, der es ohne den Glauben an die Absolution empfange, zum Tod und zur Verdammnis gereiche,46 verdient nach Cajetans Ansicht gar keine Antwort, sondern bedarf allein der Korrektur, insofern es der kirchlichen Tradition entspreche, dass das Bußsakrament aus den drei Elementen der Beichte, der Reue und der Genugtuung bestehe, jedoch zu verlangen, dass die Glaubensgewissheit als viertes unverzichtbares Element hinzukomme, letztlich bedeute, „eine neue Kirche zu konstruieren“.47 Der Einwand, den Cajetan nach der Auflistung von Luthers Argumenten selbst noch ergänzt hat, wonach Mk 11,24 („Alles, um was ihr betet und bittet, glaubet, dass ihr es empfangen habt, und es wird euch zuteilwerden“) und Jak 1,6 („Er [nämlich derjenige, dem es an Weisheit mangelt und der sie von Gott erbitten soll] bitte aber mit Zuversicht und zweifle nicht“) doch so zu verstehen seien, dass der Mensch, der mit der Bitte um Sündenvergebung zum Bußsakrament hinzutrete, das mit der Gewissheit des Glaubens beten könne – diesem Einwand begegnet Cajetan, indem er hinsichtlich des Glaubens an die Wirkung des Gebetes wiederum zwischen dem Gegenstand des Glaubens und dem Glaubenssubjekt unterscheidet: Während der Glaube „in Beziehung auf die göttliche Barmherzigkeit, Gnade, Macht, Vorsehung, Verheißung etc. […] im Gebet ohne jegliche Unentschlossenheit sein“ müsse, wäre aufseiten dessen, der betet bzw. für den jemand bittet, ein Glaube dann ‚falsch‘, wenn der Gläubige „nicht einmal gewissenhaft an der Wirkung des Erbetenen zweifeln würde“.48 Cajetan be45 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula [wie Anm. 21], 111a; Morerod I, 334 [X.21]): „apponendo novellum et impertinens accidens pro dispositione necessaria ad gratiam dei per absolutionem sacramentalem“. 46 Vgl. Luther, Martin, Sermo de poenitentia (wie Anm. 37), in: WA 1, 324,11 f. 47 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula [wie Anm. 21], 111a; Morerod I, 336 [X.21]): „Secundum autem, quod contritio in damnationem sunt sacramenta, nisi credat se absolvi, non est responsione, sed correctione dignum: quoniam sacramentum penitentie ab ecclesia sufficienter traditum per confessionem, contritionem et satisfactionem, damnabile constituit sine quarto, scilicet certa fide effectus in suscipiente. Hoc enim est novam ecclesiam construere.“ – Vgl. Selge, Die Augsburger Begegnung (wie Anm. 1), 42; Pesch, 646 f., Anm. 5; Bayer, 194–197; ders., Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, 77, 233; Felmberg, 218 f. 48 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula [wie Anm. 21], 110b; Morerod I, 336 [X.22]): „Veruntamen de oratione ipsa etiam dicendum est, quod fides de effectu orationis dupliciter haberi potest. Primo ex parte ipsius divine misericordie, gratie, potentie, providentie, promissionis, etc., et sic fides debet esse in oratione absque hesitatione aliqua. Alio modo ex parte eius, qui orat, vel pro quo oratur: et sic nisi pie quandoque dubitaret de effectu petito, plerunque
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gründet das mit dem Verweis auf 2 Kor 12,8–10, insofern das Beispiel des Paulus zeige, dass der feste Glaube an Gottes Barmherzigkeit mit dem Wissen um das eigene Unvermögen einhergehe. Hier kommt zum Abschluss dieses Traktats besonders deutlich das seelsorgerliche Anliegen Cajetans zur Geltung, insofern es ihm daran gelegen war, in der theologischen Kontroverse mit Luther auch auf die gelebte Frömmigkeit Bezug zu nehmen. Mit Cajetans Ausführungen zum Glaubensverständnis ist der Anspruch verbunden, den „allgemeine[n] (Glaubens)Sinn der Kirche“49 darzulegen und damit zugleich Luthers Auffassung als häretisch aufzuweisen. Der ‚Glaubenssinn‘ und die Lehre der Kirche stellen für Cajetan eine Einheit dar, so dass er auch von einem „allgemeinen (Glaubens)Sinn der Kirche und der heiligen Lehrer“ sprechen kann.50 Die Frage, welche Relevanz denn theologischen Lehrdifferenzen beigemessen werden muss, wird von Cajetan in diesem Zusammenhang nicht geklärt, allerdings lässt die nähere Bestimmung, dass es sich um ‚heilige‘ Lehrer handelt, darauf schließen, dass er hier nur jene Kirchenlehrer im Blick hat, die heiliggesprochen wurden – wodurch die Theologie des Thomas von Aquin besonderes Gewicht erhält.
3. Der Traktat „Über die Wirkung der sakramentalen Absolution“ In diesem Traktat, den Cajetan am 1. Oktober 1518 verfasst hat, wird die Frage erörtert, „ob die Sündenvergebung die Wirkung der sakramentalen Absolution ist“.51 Zu Beginn fasst Cajetan bestimmte Argumente Luthers zusammen, wie dieser sie vor allem in den Resolutionen 6 und 7 dargeboten hat.52 Demgegenüber konstatiert Cajetan sodann, es entspreche der „allgemeinen Lehre der Kirche“,
fides inveniretur falsa, ut patet in paulo orante, qui absque hesitatione credendo, quod acciperet id quod peteret, iuxta domini doctrinam, rogavit ter, ut stimulus carnis a se discederet, et non est consequutus effectum petitum: ut patet 2 ad cor. 12. Hic enim patet quod fides, quod accipiamus quicquid petimus, non refertur ad rem petitam accipiendam simpliciter et absolute, sed quantum est ex parte divine misericordie, etc.“ 49 Wicks, 87. 50 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 29. September 1518: De effectu indulgentiae (Opuscula [wie Anm. 21], 103a; Morerod I, 278 [IV.9]): „Nec est parvi momenti ratio sumpta a communi sensu ecclesie et doctorum sacrorum: sed est tante auctoritatis, ut non nisi temere liceat sentire oppositum.“ – Vgl. Wicks, 88. 51 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 1. Oktober 1518: De effectu absolutionis sacramentalis (Opuscula [wie Anm. 21], 111a; Morerod I, 340 [XI.1]): „Queritur utrum sacramentalis absolutionis effectus sit remissio culpe.“ 52 Vgl. ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 111a; Morerod I, 340 [XI.2]); Luther, Martin, Resolutiones 6 u. 7, in: WA 1, 538–545.
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„dass die Sakramente des Neuen Gesetzes die Gnade mitteilen“.53 Zur Klärung der Ausgangsfrage nimmt Cajetan zunächst auf das Sentenzenbuch des Lombarden Bezug, um so zu zeigen, dass es bereits dort zu einer Unklarheit bzw. unzulässigen „Neuerung“ gekommen sei, insofern der Lombarde die Auffassung vertreten habe, es müsse die Deklaration des Priesters zum Sakrament hinzukommen und darüber hinaus ein ‚Seelenfrieden‘ vorausgesetzt werden, damit die Absolution wirksam werden könne.54 Dagegen steht für Cajetan aufgrund der Zusage des Auferstandenen an seine Jünger in Joh 20,23 („Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, sind sie ihm vergeben“) sowie dem bereits genannten Vers Mt 16,19 unumstößlich fest, „dass die Priester die Amtsgewalt haben, die Sünden mit der Autorität Christi zu vergeben“, und sie das somit nicht nur ‚deklarieren‘.55 Diese Auffassung werde auch durch die dogmatische Entscheidung des Konzils von Florenz gestützt, wonach die Sakramente des Neuen Gesetzes die Gnade enthalten und denen mitteilen, die sie würdig empfangen.56 Das Thema der Gewissheit ist mit diesem Verständnis der Absolution für Cajetan insofern verknüpft, als der Priester den Sünder in Bezug auf die Sündenvergebung „vergewissert“ (certificat), allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, dass das im Blick auf den Menschen konjektural zu verstehen sei, denn es bleibe „gemäß allgemeinem Gesetz der Sünder immer ungewiss hinsichtlich dessen, was aus der Vergebung bei Gott folge“, weil die Ungewissheit bleibe, „ob er das Bußsakrament aufgrund bzw. mit der eingegossenen Liebe empfange“.57 Die Gewissheit des Glaubenden ist also in dem rechtmäßigen Vollzug der sakramentalen Handlung des Priesters begründet und wird auch in bestimmter Weise erst durch die Absolution hergestellt, während aufseiten desjenigen, der das Bußsakrament empfängt, die Ungewissheit bleibt, ob er mit seinem Glauben und seiner Liebe in dem Prozess der Rechtfertigung genügen kann. 53 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 1. Oktober 1518: De effectu absolutionis sacramentalis (Opuscula [wie Anm. 21], 111a; Morerod I, 340 [XI.3]): „In oppositum est quod sacramenta nove legis conferunt gratiam, secundum communem ecclesie doctrinam.“ 54 Vgl. ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 111a; Morerod I, 340–342 [XI.4]); Petrus Lombardus, Sententiae in IV libros distinctae IV d. 18 c. 6 (ed. Patres Collegii S. Bonaventurae ad Claras Aquas, Bd. 2, Grottaferrata [Rom] 1981 [Spicilegium Bonaventurianum 5], 361 f.). 55 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 1. Oktober 1518: De effectu absolutionis sacramentalis (Opuscula [wie Anm. 21], 111a; Morerod I, 342 [XI.5]): „Ideo si verba domini sunt vera in sensu proprio, convincunt ecclesie ministros habere potestatem remittendi peccata auctoritate christi.“ – Vgl. Hennig, 57; Hallensleben, 474 f. 56 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 1. Oktober 1518: De effectu absolutionis sacramentalis (Opuscula [wie Anm. 21], 111b; Morerod I, 346 [XI.6]) mit Bezug auf das ‚Dekret für die Armenier‘ des Konzils von Florenz, DH 432010, 1310 u. 1323, 422.426 f.; Wicks, 90; Hallensleben, 474. 57 Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 1. Oktober 1518: De effectu absolutionis sacramentalis (Opuscula [wie Anm. 21], 111b; Morerod I, 346 [XI.6]): „Remanet enim semper secundum communem legem peccator ambiguus de consecuta apud deum remissione: quia semper restat ambiguum nobis, an ex vel cum infusa charitate sacramentum susceperit penitentie.“ – Vgl. Hennig, 57 f.
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Demgegenüber sieht Cajetan Luthers Auffassung nicht einfach als eine neue Meinung im Spektrum theologischer Diskurse über das Glaubensverständnis an, sondern er verurteilt sie als einen Irrtum, der nicht nur in den Ohren der Gelehrten, sondern eines jeden Christen für Empörung sorge.58 Zur Bekämpfung dieser Auffassung müsse der aristotelische Grundsatz beachtet werden, wonach es töricht sei, eine Ansicht zu vertreten, die der allgemeinen Meinung entgegengesetzt ist.59 Es stehe aber fest, dass mit der Taufe die Sünden vergeben werden, ohne dass eine credulitas aufseiten des Täuflings vorausgesetzt werden könne, denn das zeige sich bei der Taufe von Kindern, denen Cajetan damit implizit – und von seinen Denkvoraussetzungen her auch konsequent – einen solchen Glauben absprach.60 Es sei deshalb mit den „heiligen Gelehrten“ der Kirche nicht nur festzustellen, sondern zu ‚loben‘, dass alle, „die das Sakrament der Buße wie auch das der Eucharistie empfangen, immer an der göttlichen Gnade ihnen gegenüber zweifeln und so ungewiss ausharren“, während „die entgegengesetzte Meinung gemeinhin der Vermessenheit oder aber der Ignoranz zugeschrieben“ werde.61
4. Die Entfaltung von Cajetans Glaubens- und Gewissheitsverständnis nach dem Augsburger Gespräch Anfang Juni 1521, kurz nachdem das Wormser Edikt bekannt gegeben worden war, veröffentlichte Cajetan die Antwort auf fünf Artikel Martin Luthers, die Papst Leo gewidmet und von diesem wohl auch in Auftrag gegeben war.62 Mit dieser Schrift untermauerte Cajetan das päpstliche Verdikt über Luther, indem er fünf der für häretisch erklärten Thesen des Wittenberger Reformators noch einmal besonders herausstellte. Ganz auf der Linie, die er vor und während des Augsburger Gesprächs zum Thema der Glaubensgewissheit aufgezeigt hat, vertritt Cajetan auch in der Responsio die Auffassung, dass allein dem eingegossenen Glauben Gewissheit zukomme, während der Gläubige sich seines persönlichen Glaubens und Heils nicht gewiss sein könne, vielmehr „gewissenhaft an der 58 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 1. Oktober 1518: De effectu absolutionis sacramentalis (Opuscula [wie Anm. 21], 111b; Morerod I, 346 [XI.7]). 59 Vgl. ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 111b; Morerod I, 346–348 [XI.7]) mit dem Verweis auf Aristoteles, Topik I,11104b 22–24 (hg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1997 [PhB 492], 29). 60 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 1. Oktober 1518: De effectu absolutionis sacramentalis (Opuscula [wie Anm. 21], 111b; Morerod I, 348 [XI.7]). 61 Ebd. (Opuscula [wie Anm. 21], 111b; Morerod I, 348 [XI.7]): „Constat omnes fere tremore domini refertos semper dubios de divina in se gratia, et penitentie et eucharistie sacramenta suscipere, et sic ambiguos perseverare. Imo et hoc sacri doctores laudant: et eius oppositum presumptioni communiter ascribitur, aut ignorantie.“ 62 Vgl. Hennig, 99.
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eigenen Disposition zweifeln“ müsse.63 Deshalb sei es ein „großer Irrtum“ und gegenüber der apostolischen Lehre „schädlich […], skandalös und feindlich“, die Glaubensgewissheit als ein „rechtfertigendes Vertrauen“ (fiducia iustificatrix) zu verstehen, während das Hinzutreten zum Sakrament in dem „Vertrauen, das vor einem unwürdigen Hinzutreten aufgrund von Sünde schütze“ (fiducia praeservatrix a peccato indigne accessus), kein Irrtum, sondern ein apostolischer Rat sei.64 Damit nimmt Cajetan den für Luther zentralen Begriff der fiducia auf, interpretiert ihn aber anders, zumal er die fiducia ebenso wie Thomas nicht der fides, sondern der spes zuordnet.65 In der Perspektive der thomistischen Tugendtheologie kann diesem Vertrauen keine rechtfertigende Funktion zukommen, wohl aber hat es eine Schutzfunktion im Prozess der Rechtfertigung. In diesem Prozess muss dem würdigen Empfang des Sakraments die Selbstprüfung „durch Reue, Beichte, Gebet etc.“ vorangehen,66 d. h., das schützende Vertrauen ist gebunden an eine entsprechende Vorbereitung und zugleich eingeschränkt durch den gewissenhaften Selbstzweifel an der hinreichenden Disposition. In seinen Schriftkommentaren hat Cajetan sein Verständnis theologischer Rede von Gewissheit noch weiter entfaltet.67 Er ist damit der reformatorischen Forderung nach einer biblischen Begründung theologischer Lehraussagen stärker nachgekommen als in seinem Kommentar zur Summa theologiae des Aquinaten und in den Augsburger Traktaten. Zugleich kommt die praktischtheologische Relevanz seines Gewissheitsverständnisses zur Geltung. So verknüpft Cajetan in seiner Auslegung von Kol 2,2 die intellektuelle Dimension der Gewissheit mit dem Trost und der Ermutigung, die die Gläubigen in ihrem Herzen durch die Liebe annehmen.68 Die ‚Vollständigkeit‘ der Glaubensgewiss63 Thomas de Vio Cajetan, Responsio super V Martini Lutheri articulos a. 2 (Opuscula [wie Anm. 21], 127b): „Credere sibi esse remissa peccata absolvente sacerdote, contingit dupliciter, vel quantum est ex parte sacramenti, vel quantum est ex parte ipsius, qui absolvitur. Credere primo modo necessarium est ad remissionem peccatorum, nam hoc credere est actus fidei infusae, sine qua impossibile est placere Deo. Credere autem secundo modo, non est necessarium est ad remissionem peccatorum, quoniam potest poenitens, qui absolvitur, pie dubitare de propria dispositione, an scilicet digne suscipiat illud sacramentum.“ – Vgl. Hennig, 101. 64 Thomas de Vio Cajetan, Responsio (wie Anm. 63) a. 3 (Opuscula [wie Anm. 21], 127b): „Etsi ad sacramentum communionis accedere cum dicta fiducia tanquam iustificatrice magnus error est, contra apostolicam doctrinam dicentem, Nihil mihi conscius sum, sed non in hoc iustificatus sum, accedere tamen cum eadem confidentia tanquam praeservatrice a peccato indigni accessus ad sacramentum Eucharistiae nullus est error, sed consilium apostolicum.“ – Vgl. Hennig, 102. 65 Siehe oben S. 166 Anm. 16. 66 Thomas de Vio Cajetan, Responsio (wie Anm. 63) a. 3 (Opuscula [wie Anm. 21], 127b): „unusquisque potest de seipso testari, quilibet ante communionis sacramentum probans seip sum contritione, confessione, oratione, etc. utitur hac fiducia tanquam praeservatrice a peccato indigni accessus, et non tanquam iustificatrice“. – Vgl. Hennig, 102 f. 67 Vgl. Hallensleben, 477–479; zu Cajetans Schrifthermeneutik vgl. O’Connor, Cajetan’s biblical commentaries (wie Anm. 1), 167–237. 68 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Ad Colossenses 2,2, in: ders., Epistolae Pauli et aliorum Apostolorum ad Graecam veritatem castigatae & per Reverendissimum Dominum, Dominum
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heit, die nicht an den Grundsätzen des Glaubens zweifeln kann, resultiert nach Cajetans Auffassung aus den „äußeren Zeugnissen des Glaubens“, und zwar „entweder den äußeren der Worte oder Taten Gottes bzw. der Heiligen oder der inneren Verbreitung des Glaubenslichts bzw. der umsonst gewährten göttlichen Hilfe zur Fülle der Gewissheit“.69 In seinem Kommentar zu Röm 8,15 f. betont Cajetan, dass die Anrufung des Vaters, zu der die Kinder Gottes aufgrund eines „großen Affektes“ befähigt sind und wodurch sie sich von den Christen im Allgemeinen unterscheiden, die Gott nur ‚anzureden‘ vermögen, eine „Festigkeit und Gewissheit des Vertrauens“ (firmitatem et certitudinem fiduciae) impliziert, das durch den Heiligen Geist bewirkt ist, der diese Kinder ‚adoptiert‘.70 Dieses Wirken des Heiligen Geistes versteht Cajetan ausdrücklich als ein ‚Einwohnen‘ in den Kindern Gottes. Weil dieses Einwohnen des Heiligen Geistes von Röm 5,5 her mit dem Ausgießen des Heiligen Geistes in die Herzen der Gläubigen beginnt, korreliert das Gewissheitsverständnis mit der Tugendlehre, insofern der Habitus der Liebe die Reziprozität der Liebe Gottes zu den Menschen und der menschlichen Liebe Gott gegenüber einschließt.71 Dass die ‚Gewissheit des Vertrauens‘ nach Cajetans Verständnis von der Glaubensgewissheit zu unterscheiden – wenn auch nicht zu trennen – ist, ergibt sich aus der Zuordnung der fiducia zur theologischen Tugend der Hoffnung und findet seine Bestätigung in Cajetans Auslegung von Thomam de Vio, Caietanum, Cardinalem sancti Xisti, iuxta sensum literalem enarratae, Paris 1550, 304v–305r: „est enim sensus: ut ipsorum compactorum in charitate corda accipiant consolationem, addendo consolationi charitatis etiam consolationem accessus ad omnes divitias plenae certitudinis intellectus.“ 69 Ebd., 305r: „Plenaria autem certitudo (ad similitudinem testimoniorum facientium in Praetoriis non semiplenam sed plenam probationem) dicitur quae ex testimoniis fidei provenit: sive externis dictorum aut factorum dei vel sanctorum, sive ex interna extensione luminis fidei aut gratuiti auxilii divini ad cumulum certitudinis“. – Vgl. Hallensleben, 477. 70 Thomas de Vio Cajetan, Ad Romanos 8,15sq., in: ders., Epistolae Pauli (wie Anm. 68), 51v–52r: „Nec dicit in quo dicimus (quod commune est Christianis omnibus) sed in quo clamamus, magnitudine affectus, quod est proprium vere filiorum: ut ex hoc quod clamamus (hoc est affectu magno profitemur) in spiritu sancto, pater pater, signum habere cognoscamus internum quod accepimus spiritum adoptionis. Nam si non esset adoptionis spiritus, non inspiraret nobis tam confidenter appellare deum patrem. Et geminatur patris nomen ad significandum firmitatem ac certitudinem fiduciae. Ipse enim spiritus. supple sanctus habitans in nobis. Testimonium reddit. pro, contestatur, spiritui nostro quod sumus filii dei. Ecce ratio clamoris. hoc est magnae confidentiae recognoscendi deum ut patrem.“ – Vgl. Hallensleben, 477. 71 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Ad Romanos 5,5, in: ders., Epistolae Pauli (wie Anm. 68), 28r: „Unde patet quod primum fundamentum spei explicat dilectionem dei erga nos, large effusam in nobis per spiritum sanctum habitantem in nobis: in quo clauditur reciproca dilcetio nostra erga deum tamquam pars effusionis.“ – Das Thema der „Festigkeit“ (firmitas) bzw. Gewissheit der Hoffnung kommt in Cajetans Auslegung von Röm 5,5 zur Sprache, wird jedoch nicht in der systematischen Präzision behandelt, wie sie die Auslegung des Aquinaten mit der Unterscheidung zweier ‚Argumente‘ für die Begründung der Hoffnungsgewissheit prägt (vgl. Thomas von Aquin, Super epistolam B. Pauli ad Romanos 5, lectiones 1–2 [Opera omnia 5: Commentaria in scripturas, hg. von Roberto Busa, Stuttgart / Bad Cannstatt 1980, 458a–459a]; Basse, Certitudo spei [wie Anm. 1], 91–93).
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2 Kor 5,2, insofern er die Hoffnung und Sehnsucht, die Paulus dort zur Sprache bringt, ganz im Sinne der thomanischen Psychologie als einen überaus starken „Affekt“ interpretiert, der „Zeuge ist für unsere Gewissheit im Blick auf die ersehnte Sache“.72 Diese teleologische Auffassung christlicher Gewissheit, die vom Ziel der ‚ersehnten Sache‘ her konzipiert ist, entspricht der Begründung der Hoffnungsgewissheit in der tugendtheologischen Systematik des Aquinaten.73 In dieser Perspektive, die auf die Vollendung christlicher Existenz ausgerichtet ist, kann Cajetan die Glaubensgewissheit mit der „Sicherheit“ des verheißenen Lohnes gleichsetzen, weil diese Sicherheit nach 2 Kor 5,5 in Gottes Geist als „Pfand“ bestehe.74 Auch wenn sich hier in kulturgeschichtlicher Hinsicht Anklänge an die sozioökonomischen Aspekte des Zusammenhangs von ‚Sicherheit‘ und ‚Lohn‘ bzw. ‚Pfand‘ wiederfinden,75 ist Cajetans Verknüpfung von Glaubensgewissheit und Sicherheit doch primär pneumatologisch begründet und kommt darin die spezifische Eschatologie der thomistischen Gnaden- und Tugendtheologie zum Tragen, für die Paulus zum Vorbild der schrittweisen Annäherung an die Vollendung wird.76 1532, zwei Jahre vor seinem Tod, hat Cajetan sein Glaubensverständnis in dem Traktat Über Glauben und Werke gegen die Lutheraner abschließend dargelegt, indem er sich intensiv mit dem vierten Artikel von Melanchthons Apologie 72 Thomas de Vio Cajetan, Ad II Corinthios 5,2, in: ders., Epistolae Pauli (wie Anm. 68), 193v: „Ardentis enim affectus gemitus testis est certitudinis nostrae respectu rei desideratae: quoniam (ut infra subiunget) deus est qui effecit in nobis talem affectum.“ – Vgl. Hallensleben, 479. 73 Vgl. Basse, Certitudo spei (wie Anm. 1), 72–74.81–86. 74 Thomas de Vio Cajetan, Ad II Corinthios 5,2, in: ders., Epistolae Pauli (wie Anm. 68), 194v: „Quia non sufficit ad certitudinem praemii commensuratio, sed requiritur aliqua securitas, ideo subiunxit quod idem deus non solum praeparavit nos ad habendum corpus gloriosum, sed etiam dedit nobis tanti praemii arram, non corpoream, sed spiritualem. Spiritus enim sanctus in nostro spiritu habitans, non solum facit nos desiderantes & amantes, sed etiam securos tanti praemii. & haec securitas, arra spiritus vocatur.“ – Vgl. Hallensleben, 478. 75 Zur politischen Semantik des Begriffs ‚Sicherheit‘ im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit vgl. Kampmann, Christoph / Niggemann, Ulrich (Hg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation, Köln u. a. 2013 (Frühneuzeit-Impulse 2). – Zur Rolle der Mendikanten im Gesellschafts- und Wirtschaftssystem der spätmittelalterlichen Städte sowie den wirtschaftstheoretischen Diskursen in den theologischen Schulen vgl. Neidiger, Bernhard, Mendikanten zwischen Ordensideal und städtischer Realität. Untersuchungen zum wirtschaftlichen Verhalten der Bettelorden in Basel, Berlin 1981 (BHSt 5); Langholm, Odd, Economics in the Medieval Schools. Wealth, Exchange, Value, Money and Usury according to the Paris Theological Tradition, 1200–1350, Leiden u. a. 1992 (STGMA 29), 137–141; Kaufer, Erich, Mittelalterliche und frühneuzeitliche Theoriebildung, in: Wilhelm Korff (Hg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik, Gütersloh 1999, 358–375. 76 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Ad II Corinthios 5,2, in: ders., Epistolae Pauli (wie Anm. 68), 194v: „Ut dictum est, Paulus describit haec in summo gradu viatorum: in quo gradu ipse erat. Et propterea securum se dicit. In aliis autem proficientibus & incipientibus, arra spiritus, ipsa spes charitate informata est, maior in uno quam in alio.“
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der Confessio Augustana auseinandersetzte.77 In den ersten drei Kapiteln dieses Traktats präsentiert Cajetan noch einmal die Grundlinien, die er schon 1518 entwickelt hatte, indem er zwischen der theologischen Tugend der fides und der credulitas als der individuellen Glaubensgewissheit unterscheidet und demgegenüber den Lutheranern eine „Äquivokation“ im Glaubensbegriff vorhält.78 Die Relevanz der credulitas für den Prozess der Rechtfertigung wird von Cajetan ausdrücklich betont, jedoch könne die Aussage der Lutheraner, dass diese credulitas die Sündenvergebung erlange, „sowohl gut als auch schlecht ausgesprochen und verstanden werden“.79 Richtig sei diese Aussage nur dann, wenn damit zum Ausdruck gebracht werde, dass die credulitas die Sündenvergebung „durch den geformten Glauben und die Liebe“ erlange.80 Diese credulitas aber sei „allen gemeinsam, die demütig zu den Sakramenten hinzutreten“, denn jeder, der das tue, „glaubt, indem er es empfängt, dass er durch das Verdienst des Leidens und Todes Christi gerechtfertigt wird, andernfalls würde er nicht hinzutreten“.81 Zugleich stellt Cajetan heraus, dass diese credulitas nicht bei allen gleich groß ist, vielmehr „der eine mehr glaubt, dass er gerechtfertigt sei, als der andere“, und „in der Regel“ gehe sie einher mit dem „Zweifel hinsichtlich des Gegenteils“.82 Diese zweifelnde Ungewissheit beeinträchtige aber nicht die göttliche Verheißung, weil der Zweifelnde ja nicht an Gott bzw. dem Verdienst Christi oder dem Sakrament zweifle, sondern allein an sich selbst.83 Demgegenüber müsse die Auffassung der Lutheraner als ein „willkürliches Dogma“ abgewiesen werden.84 Das vierte Kapitel dieses Traktats ist für den Vergleich mit den Vorarbeiten für das Augsburger Gespräch wie auch dessen Verlauf insofern von besonderer Bedeutung, als hier ein Aspekt beleuchtet wird, der im Oktober 1518 noch nicht 77 Vgl. ders., De fide et operibus adversus lutheranos tractatus, Rom 1532 (Opuscula [wie Anm. 21], 288–292); vgl. Hennig, 162–168; Hallensleben, 481–487. 78 Thomas de Vio Cajetan, De fide et operibus c. 2 (Opuscula [wie Anm. 21], 288a); vgl. Hallensleben, 484 f. 79 Thomas de Vio Cajetan, De fide et operibus c. 3 (Opuscula [wie Anm. 21], 288b): „Quod autem dicunt, quod huiusmodi credulitas assequitur remissionem peccatorum, potest & bene & male dici & intelligi.“ 80 Ebd.: „Nam si dicatur & intelligatur, quod haec credulitas formata fide & charitate assequitur veniam peccatorum, verum est, si autem secluditur charitatis formatio, falsum est“. 81 Ebd.: „Et scito, quod haec credulitas communis est omnibus devote accedentibus ad sacramenta, nam quilibet devote accedens ad quodcunque sacramentum, credit suscipiendo illud se iustificari ex merito passionis & mortis Christi, alioquin non accederet.“ – Vgl. Hallensleben, 485. 82 Thomas de Vio Cajetan, De fide et operibus c. 3 (Opuscula [wie Anm. 21], 288b): „Sed non est par in omnibus ista credulitas, unus enim magis credit se iustificari, quam alter, & regulariter cum haesitatione de opposito inest devotis mentibus ista credulitas“. – Vgl. Hallensleben, 485 f. 83 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, De fide et operibus c.3 (Opuscula [wie Anm. 21], 288b); Hallensleben, 486. 84 Thomas de Vio Cajetan, De fide et operibus c.3 (Opuscula [wie Anm. 21], 289a): „Voluntarium igitur dogma est, dicere quod huiusmodi credulitas in verbo Christi, in merito passionis eius, etc. infallibiliter dat remissionem peccatorum.“ – Vgl. Hallensleben, 486 f.
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im Fokus stand: nämlich der rechtfertigungstheologische Zusammenhang von Glaube und Liebe. Nun wendet sich Cajetan explizit gegen die reformatorische Auffassung, wonach die Rechtfertigung allein durch den Glauben erfolge. Dabei betont er, dass durchaus von einer „Gerechtigkeit des Glaubens“ gesprochen werden könne, insofern der Mensch vor Gott gerecht sei, wenn in seinem Glauben das angemessene Urteil der Vernunft und die rechte Willenstätigkeit zur Geltung komme.85 Von diesem Glauben müsse jedoch die caritas in der Hinsicht unterschieden werden, dass „der Glaube die beginnende, die Liebe jedoch die erfüllende Ursache der Sündenvergebung“ sei.86 Zugleich gelte die Lehre der Kirche, wonach „die Sündenvergebung nicht durch die fides informis, sondern den von der Liebe geformten Glauben geschieht“.87 Dass dieser tugend- und rechtfertigungstheologische Zusammenhang von Glaube und Liebe, der in der thomistischen Auffassung von der Liebe als der ‚Form‘ der theologischen Tugenden gipfelt, in den Traktaten, mit denen sich Cajetan auf das Augsburger Gespräch vorbereitet hat, nicht auftaucht, zeigt, dass er zu diesem Zeitpunkt den Ansatz in der Auseinandersetzung mit Luther allein im Glaubensbegriff und dessen Differenzierung zwischen eingegossenem und erworbenem Glauben suchte. Das heißt nicht, dass Cajetan die Tragweite von Luthers neuem Glaubensverständnis in rechtfertigungstheologischer Perspektive nicht bewusst gewesen wäre, aber er wollte keine grundsätzliche Debatte mit seinem Kontrahenten über die Gnadenund Tugendlehre führen, vielmehr konzentrierte er sich mit dem Thema der Glaubensgewissheit genau auf den Punkt, an dem er aus seiner thomistischen Perspektive heraus einen Irrtum bzw. eine häretische Neuerung Luthers meinte aufzeigen zu können. Auffällig ist, dass Cajetan den Aspekt der Hoffnungsgewissheit in seinen Augsburger Traktaten nicht behandelt, während dieses Thema dann 1521 in der Responsio zumindest implizit in den Ausführungen zur fiducia mitschwingt. So plausibel für ihn die diesbezüglichen Ausführungen des Aquinaten waren, so wenig Bedeutung maß er ihnen in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit Luther bei, denn es ging ihm ja darum, innerhalb des Glaubensbegriffs zu differenzieren zwischen dem eingegossenen, unvergänglichen Glauben an die 85 Thomas de Vio Cajetan, De fide et operibus c.4 (Opuscula [wie Anm. 21], 289a): „Ita quod una atque eadem res est, quae vocatur iusticia fidei, et charitas: sed iusticia fidei vocatur, quatenus ea homo est iustus apud Deum, secundum rationes divinarum rerum atque actionum, quas credimus appetitui sensibili debite subdito voluntati, & voluntate rectae rationi, & recta ratione Deo secundum rationes eorum, quae de eo, ac caelesti patria fide tenemus.“ – Vgl. Hennig, 167. 86 Thomas de Vio Cajetan, De fide et operibus c.4 (Opuscula [wie Anm. 21], 289a): „fides enim inchoative, charitas autem completive est causa remissionis peccatorum“. – Vgl. Hennig, 167. 87 Thomas de Vio Cajetan, De fide et operibus c.4 (Opuscula [wie Anm. 21], 289a): „Perspicuum est igitur, verissimam esse communem Ecclesiae doctrinam, quod non per fidem informem, sed per fidem formatam charitate fit remissio peccatorum.“ – Vgl. Hennig, 167 f.
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ewige Wahrheit der Glaubensartikel einerseits und dem erworbenen, auf eine konkrete Person bzw. Situation bezogenen Glauben andererseits, der nicht nur im Blick auf die gegenwärtige Disposition des Gläubigen, sondern erst recht hinsichtlich seiner zukünftigen Glaubensexistenz ungewiss sein musste. Die thomanische bzw. thomistische Rede von der Hoffnungsgewissheit hatte in diesem Zusammenhang keinen theologischen Mehrwert, weil sie genau mit diesem Glaubensverständnis korrelierte und die Gewissheit der Hoffnung, wie Thomas es formuliert hat, an der Gewissheit des Glaubens partizipiert, d. h. der Christ sich seiner Ausrichtung auf die beatitudo als Lebensziel gewiss sein kann, zugleich aber an seiner hinreichenden Disposition und Kooperation zweifeln muss. Zum Schluss bleibt zu fragen, ob Cajetan Recht hatte mit seiner Feststellung, Luthers Auffassung der Glaubensgewissheit habe der ‚allgemeinen Lehre der Kirche‘ widersprochen.88 Auf der einen Seite hat Cajetan scharfsinnig erkannt, dass Luthers Glaubensverständnis mit den Grundannahmen der scholastischen Theologie insgesamt nicht kompatibel war. Auf der anderen Seite überspielte er aber doch die tiefgreifenden Differenzen, die es zwischen den scholastischen Schulen gerade hinsichtlich der Gewissheitsthematik gab, insofern Skotisten und Nominalisten sehr wohl von einer Gewissheit des persönlichen Glaubens an den eigenen Gnadenstand sprechen konnten.89 Bei Gabriel Biel zeigte sich vollends, wie der Gewissheitsbegriff soteriologisch geweitet wurde, insofern die strikte Unterscheidung zwischen den eingegossenen und den erworbenen Tugenden aufgegeben und stattdessen die Notwendigkeit einer subjektiven Aktuierung eines Habitus betont wurde.90 Genau diese Differenzen waren es aber, die bei den Debatten des Konzils von Trient wieder aufbrachen und die auch in der kontroversen Rezeption der tridentinischen Rechtfertigungslehre eine große Rolle spielten.91 Cajetans Positionierung in der Auseinandersetzung mit Luther kann somit indirekt auch als eine kritische Spitze gegenüber dem Skotismus und Ockhamismus verstanden werden, insofern die scharfe Abgrenzung von jeglicher 88 Vgl.
Thomas de Vio Cajetan, Traktat vom 26. September 1518: De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria (Opuscula [wie Anm. 21], 109b; Morerod I, 322 [X.8]); siehe oben S. 167 Anm. 22. 89 Vgl. Walter, Glaubensverständnis (wie Anm. 27), 26 f.; Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 156–165. – Dass das Thema der Heils(un)gewissheit nicht nur in den Diskursen der scholastischen Schulen eine wichtige Rolle spielte, sondern auch in der Frömmigkeitstheologie des Spätmittelalters, zeigt sich insbesondere bei Johannes Gerson (vgl. Grosse, Sven, Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit, Tübingen 1994 [BHTh 85]). 90 Vgl. Biel, Gabriel, Collectorium (wie Anm. 28), III d. 26 q. 1 (ed. Werbeck / Hofmann, Bd. 3, 463,7 f.); Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 162. 91 Vgl. Stakemeier, Adolf, Das Konzil von Trient über die Heilsgewissheit, Heidelberg 1947, 27–41.189–202; Basse, Certitudo Spei (wie Anm. 1), 210; Walter, Peter, Zum Glaubensverständnis des Rechtfertigungsdekrets des Trienter Konzils, in: ders., Syngrammata. Gesammelte Schriften zu Humanismus und katholischer Reform, hg. von Günther Wassilowsky, Münster i. W. 2015 (RST. Supplementband 6), 389–399, hier 393–395.
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credulitas, die dem Vermögen des Menschen zu viel Bedeutung beimaß, auch auf den innerscholastischen Streit um das rechte Verständnis des Glaubens und seiner Gewissheit abzielte.
Promissio Christi Martin Luthers Verständnis der Gewissheit des Glaubens in der Kontroverse mit Kardinal Cajetan Theodor Dieter
Oswald Bayer zum 80. Geburtstag „Aber ich will nicht zu einem Ketzer werden mit dem Widerspruch der Meinung, durch welchen ich bin zu einem Christen worden; ehe will ich sterben, verbrannt, vertrieben und vermaledeiet werden etc.“1 So hat Luther am 14. Oktober 1518 von Augsburg aus an Karlstadt über sein Verhör durch Kardinal Cajetan geschrieben. Bei dem, worin Luther nicht zum Ketzer werden will, geht es um seine Überzeugung, „daß ein Mensch, das zu dem allerhochwürdigsten Sakrament gehen will, gläuben müsse etc.“2 Dazu merkt er in den Acta Augustana an: „Diesen zweiten Einwand habe ich mit Schmerzen gehört. Ich hätte nämlich nichts weniger befürchtet, als dass diese Sache jemals in Zweifel gezogen werden sollte.“3 Cajetan hatte sich in Augsburg durch die Lektüre von Publikationen Luthers mit dessen Theologie vertraut gemacht und in 15 Traktaten verschiedene Themen dieser Texte scholastisch analysiert.4 Anhand der Zitate in diesen Trak1 WA.B 1,
217,60–63. 216,15 f. 3 WA 2, 8,16–18. 4 Vgl. Hennig, 45–61; Wicks, Jared, Cajetan Responds. A Reader in Reformation Controversy, Eugene, OR 1978, 21; Morerod, Charles, Presentation des textes de Luther auxquels repond Cajetan, in: ders. I, 83–127. Es ist umstritten, wann Cajetan Luthers Sermo de virtute excommunicationis (WA 1, 638–643), den er am 29. Oktober 1518 in dem Traktat De effectu excommunicationis (Morerod I, 352–375) analysierte, erhalten hat (vgl. Hennig, 84–89; Morerod II, 497–516). Luther hat Augsburg am 20. Oktober 1518 heimlich in der Nacht verlassen (vgl. Brecht I, 250). Cajetans Traktate werden im Folgenden nach der Ausgabe von Morerod zitiert; er hat die Ausgabe von Werken Cajetans aus dem Jahr 1523 zur allgemeinen Grundlage (vgl. ders. I, 129–146) genommen, während Hennig sich auf die Lyoner Ausgabe der Opuscula Omnia Thomae de Vio Caietani von 1575 (Cajetan und Luther, 45) stützt. Anordnung und Zählung der Opuscula sind in beiden Ausgaben unterschiedlich; die Traktate können aber mit ihrem Incipit identifiziert werden. Vgl. zur folgenden Darstellung: Selge, KurtVictor, Die Augsburger Begegnung von Luther und Kardinal Cajetan im Oktober 1518, in: 2 WA.B 1,
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taten kann man feststellen, dass Cajetan die Resolutionen5 zu den Ablassthesen und den Sermo de poenitentia6 vor sich hatte. In Augsburg konzentrierte Cajetan die Unterredung auf zwei Themen: die Frage nach dem Schatz der Kirche und der Gewissheit des Glaubens, im Sakrament Gnade und Vergebung der Sünden zu erhalten.7 Im Traktat zu der letzteren Frage („De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria“) findet sich das oft zitierte Urteil des Kardinals: Für den Empfang des Sakraments die „certa fide[s] effectus in suscipiente“ zu fordern: „Hoc […] est novam ecclesiam construere.“8 Die Gewissheitsauffassung Luthers, auf die Cajetan sich bezieht, soll im Folgenden untersucht werden. Daher stehen die beiden Texte, die dem Kardinal zur Verfügung standen, im Mittelpunkt. Hinzugenommen werden vor allem die Disputation De veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis9 und die schriftliche Verantwortung der zur Debatte stehenden Auffassung Luthers, die er in den Acta Augustana veröffentlicht hat.10 In diesen Texten zeigt sich eine dramatische Entwicklung der Theologie Luthers. In seinem Brief an Erzbischof Albrecht von Mainz hat Luther am 31. Oktober 1517 geschrieben: „Auch durch die eingegossene Gnade Gottes wird der Mensch nicht sicher, sondern der Apostel gebietet uns, dass wir unser Heil immer in Furcht und Zittern schaffen. Auch der Gerechte wird kaum gerettet werden.“11 Nicht einmal ein Jahr später stellt Luther energisch fest: „Wer durch den Schlüssel absolviert worden ist, muss eher sterben und aller Kreatur absagen als an seiner Absolution zu zweifeln.“12 Sowohl die Resolutiones zu den Ablassthesen wie auch der Sermo de poenitentia enthalten Teile, die die ältere JHKGV 20 (1969), 37–54; Wicks; Lohse, Bernhard, Cajetan und Luther. Zur Begegnung von Thomismus und Reformation, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, hg. von Leif Grane et al., Göttingen 1988, 44–63; Pesch, Otto Hermann, Hinführung zu Luther, Mainz 32004, 117–150. 5 WA 1, 525–628. 6 WA 1, 319–324. 7 Vgl. WA 2, 7,29–40; WA.B 1, 233,18–28 (Brief Cajetans an Kurfürst Friedrich vom 25. Oktober 1518); WA.B 1, 237,55–240,166 (Luthers Brief an Kurfürst Friedrich als Stellungnahme zu Cajetans Brief; 21. [?] November 1518). 8 Morerod I, 336. 9 WA 1, 630–633. Die Bedeutung dieser Disputation hat Oswald Bayer erkannt und ihren Gehalt durch eine minutiöse Untersuchung erschlossen: ders., 182–202. 10 Vgl. WA 2, 13,6–16,5. 11 WA.B 1, 111,28–30: „[…] cum nec per gratiam infusam dei fiat securus, Sed semper in timore & tremore iubet nos operari salutem nostram Apostolus. Et Iustus vix saluabitur“ (vgl. Phil 2,12 und 1 Petr 4,18). In der Römerbriefvorlesung stellt Luther fest: „Cessante enim isto timore et sollicitudine mox ponitur securitas, posita securitate mox redit Imputatio Dei in peccatum, eo quod statuerit Deus nulli velle non imputare nisi gementi et timenti ac assidue misericordiam suam imploranti“ (WA 56, 281,16–19). 12 WA 1, 631,19 f.: „Absolutus per clavem potius debet mori et omnem creaturam negare quam de sua absolutione dubitare.“
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wie auch die neuere Auffassung von der Sündenvergebung repräsentieren. Im Blick auf die Frage der Gewissheit muss sich dem Kardinal ein verwirrendes Bild in jenen beiden Schriften geboten haben. Deshalb sollen die ältere wie die neuere Konzeption vorgestellt und insbesondere die entscheidenden Erkenntnisschritte in den Resolutiones analysiert werden. Letzteres soll in einem close reading unter bewusster Ausblendung weitergehender Fragen wie der nach der reformatorischen Wende oder nach Gesetz und Evangelium geschehen. Es soll auch nicht um die genaue Bestimmung des Verhältnisses der theologischen Konzeptionen Luthers und Cajetans gehen.13 Diese Fragen werden ausdrücklich ausgeschlossen, weil sonst die Komplexität der Untersuchung zu groß wird und diese kaum transparent durchzuführen ist.
1. Luthers Weg zur Erkenntnis der Gewissheit der Vergebung Luther unterscheidet in seinen 95 Thesen zur Erläuterung der Kraft der Ablässe wie die scholastische Theologie zwischen Sündenschuld und Sündenstrafe. Was kann der Ablass erlassen? In den ersten vier Thesen spricht Luther von der Sündenstrafe in Gestalt der penitentia vera, dem Hass auf sich selbst als Sünder. Diese poena dauert bis zum Eingang in das Himmelreich, kann also nicht erlassen werden.14 In These fünf geht es dann um die Strafen, die der Papst erlassen kann, nämlich die, die er selbst auferlegt hat.15 In den Thesen sechs und sieben erörtert Luther den Erlass der Sündenschuld16 und kommt dann in den Thesen 8 ff. wieder auf den Erlass von Strafen zurück, nachdem klar ist, dass die Vergebung der Sündenschuld nichts mit dem Ablass zu tun hat. In der sechsten These zum Ablass vertritt Luther ein deklaratives Verständnis der Vergebung der Sünden13 Bei dieser hermeneutisch hochkomplexen Aufgabe würde unter anderem die Frage der Hoffnungsgewissheit eine Rolle spielen. Vgl. zu diesem Thema: Pfürtner, Stephanus OP, Luther und Thomas im Gespräch. Unser Heil zwischen Gewissheit und Gefährdung, Heidelberg 1961; Basse, Michael, Certitudo Spei. Thomas von Aquins Begründung der Hoffnungsgewissheit und ihre Rezeption bis zum Konzil von Trient als ein Beitrag zur Verhältnisbestimmung von Eschatologie und Rechtfertigungslehre, Göttingen 1993 (FSÖTh 69). Für die Interpretation der hier untersuchten Luthertexte sind zu vergleichen S. 166–191. – Ältere Studien zum Gewissheitsproblem konnten zu der spezifischen Fragestellung dieser Studie wenig beitragen: Heim, Karl, Das Gewissheitsproblem in der systematischen Theologie bis zu Schleiermacher, Leipzig 1911 (jedoch für eine systematische Besinnung auf Luthers Gewissheitsverständnis sind aufschlussreich S. 220–259 [„Die neue Intuition Luthers“]); Kurz, Alfred, Die Heilsgewissheit bei Luther. Eine entwicklungsgeschichtliche und systematische Darstellung, Gütersloh 1933. 14 Vgl. WA 1, 233,10–17. 15 Vgl. WA 1, 233,18 f. – Wenn man „pena“ in These vier wie in der Martin Luther Lateinischdeutsche[n] Studienausgabe (Bd. 2, hg. von Johannes Schilling, Leipzig 2006) mit „Pein“ übersetzt (ebd., 3,18), in These fünf „penas“ aber mit „Strafen“, gerät der Zusammenhang aus dem Blick und die Pointe wird verfehlt, nämlich die Unterscheidung der Strafen, die erlassen werden können, von den Strafen, die nicht erlassen werden können. 16 Vgl. WA 1, 233,20–24.
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schuld: „Papa non potest remittere ullam culpam nisi declarando et approbando remissam a deo“.17 Dieses Verständnis war im Mittelalter weit verbreitet, wie das Decretum Gratiani18 und die Sentenzen des Petrus Lombardus zeigen.19 Diese Auffassung wurde am Ende des Mittelalters wieder energisch von Gabriel Biel vertreten,20 während Thomas von Aquin und Duns Scotus anders dachten.21 Und Luther urteilt: „Hanc conclusionem quia omnes veram concedunt, non est necesse ut mea assertione firmetur.“22 Demnach antwortet Gott auf die echte Reue des Beichtenden mit der Vergebung der Schuld, während der Priester mit seinem Zuspruch Absolvo te nur erklären und bestätigen kann, dass die Sünde bereits auf Grund der Reue von Gott vergeben ist. Gewiss hat Luther das Zustandekommen der contritio und damit der Vergebung in einem vielstufigen Prozess anders als seine scholastischen Kollegen zu verstehen gelernt; von Biel trennt ihn die Auffassung, dass die Liebe zu Gott nicht die vollkommenste Art ist, zu tun was in seinen Kräften steht und sich dadurch für die Gnade zu disponieren, sondern dass diese Gottesliebe die Gnade voraussetzt und ihr sowohl zeitlich wie der Sache nach nachgeordnet ist.23 Luther teilt jedoch die Auffassung, dass im Bußsakrament die Sündenvergebung durch Gott dem lossprechenden Wort des Priesters vorausgeht. Auch wenn Luther später sagen wird, er habe These sechs „non ex animo“ aufgestellt,24 so zeigt doch folgende Äußerung Luthers am Ende von Resolutio 7, dass Luther jenes deklarative Verständnis von These sechs auch selbst vertreten hat: „verisimilius est, quod sacerdos novae legis declarat duntaxat et approbat solutionem dei (id est ostendit)“.25 Wenn Luther also in These sechs erklärt: „Der Papst kann eine Schuld nicht anders erlassen, als dass WA 1, 233,20 f. Decretum Gratiani, D. 1 c. 1–5 (ed. Friedberg I, 1159). Nachdem er mehrere Autoritäten angeführt hat, kommt Gratian zu dem prägnanten Urteil: „Luce clarius constat cordis contritione, non oris confessione peccata dimitti“ (D.1 c. 30 [ed. Friedberg I, 1165]). 19 Petrus Lombardus, Sententiae in IV libris distinctae IV d. 17 c. 1 (Sententiae in IV libris distinctae, Bd. 2, Grottaferrata 1981, 342–346 [Spicilegium Bonaventurianum V ]); d. 18 (ebd., 355–365). 20 Vgl. Biel, Gabriel, Collectorium circa quattuor libros sententiarum IV d. 17 q. 1 a. 3 dub. 2 S 14–16: „Haec absolutio fit a Deo in instanti contritionis, qua etiam peccator paenitens absolvitur, priusquam confiteatur sacerdoti tam inferiori quam superiori“ (ed. Wilfried Werbeck / Udo Hofmann, Bd. 4/2, Tübingen 1977, 492). In ebd., d. 14 q. 2 a. 1 not. 2 D 5–13 (ed. Wilfried Werbeck / Udo Hofmann [Hg.], Bd. 4/1, Tübingen 1975, 449 f.) verweist Biel als Beleg für das deklarative Verständnis auf Petrus Lombardus und Wilhelm von Ockham und urteilt: „Et illam opinionem communiter sequuntur doctores antiqui“ (D 13). 21 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae Supplementum q. 1–20; Johannes Duns Scotus, Quaestiones in Libris Quartis Sententiarum Distinctiones IV d. 17 q. un. n. 13. 22 WA 1, 539,14 f. 23 Vgl. WA 1, 225,17–21 (Disputatio contra scholasticam theologiam; 1517). 24 WA 1, 544,34: „sextam conclusionem ipse non posui ex animo“. Zur sechsten These bemerkt er gegen Prierias: „[…] latissime resolvi meipsum in hac maeria, ut videbis in declarationibus, quia et ipse hanc conclusionem aliorum sententia, non mea posui.“ (WA 1, 658,40–42 [Ad dialogum Silvestri Prieratis de potestate papae responsio; 1518]) 25 WA 1, 545,1 f. Vgl. unten Anm. 44. 17 18
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er erklärt und bestätigt, dass sie vergeben ist“, dann ist das keine Kritik am Papst oder eine Begrenzung von dessen Vollmacht, wie das oft missverstanden wird, sondern Ausdruck jenes von Luther und von vielen anderen geteilten Verständnisses der Absolution.26 Luther merkt aber sofort an, dass er ein elementares Problem mit diesem deklarativen Verständnis hat. Er stellt am Ende von Resolutio 6 fest, dass der zitierte erste Teil der These nicht in Übereinstimmung mit dem Evangelientext Mt 16,19 steht. Dort heiße es nämlich nicht: „Was ich [Jesus] im Himmel löse, sollst du [Petrus] auf Erden lösen“, sondern: „Was du auf Erden löst, werde ich lösen oder es wird im Himmel gelöst sein“. Darunter verstehe man eher, dass Gott die Vergebung des Priesters bestätigt als umgekehrt.27 Luther erklärt, dass er keine Lösung für diesen Widerspruch hat: „Hic tamen signabo, quae me movent, et iterum confitebor ignorantiam meam, si quis dignetur me erudire et hanc rem planius elucidare.“28 Es ist nun merkwürdigerweise gerade jenes Jesuswort, das in der Tradition zur Begründung der Vollmacht des Papstes herangezogen wurde, das in Luther einen Denkprozess auslöst, der ihn nötigt, das deklarative Absolutionsverständnis aufzugeben. Dieses Problem wird dann ausführlich in Resolutio 7 erörtert. Die siebte These lautet: „Gott vergibt überhaupt keinem die Schuld, ohne ihn zugleich, in allem gedemütigt, dem Priester als seinem Stellvertreter zu unterwerfen.“29 Wenn nun Mt 16 und andere Stellen anzeigen, dass die Vergebung durch den Priester der Vergebung durch Gott vorausgeht, dann entsteht die Frage, wie dies geschehen kann, bevor die Gnade und also die Vergebung eingegossen worden ist; denn, so sagt Luther, ein Mensch kann ohne die Gnade, die zuerst die Schuld vergibt, gar nicht den Willen haben, die Vergebung zu suchen.30 Luther schlägt 26 Berndt Hamm schreibt: Die Begrenzung päpstlicher Vollmacht „gilt nicht nur für den Nachlass der göttlichen Strafen, sondern auch für die Vergebung der Schuld, die nach Luther in Gottes Vollmacht allein liegt, während der Papst (wie auch der Priester bei der Absolution des Bußsakraments) nur nachträglich erklären und bestätigen kann, dass die Schuld von Gott erlassen ist“ (Die 95 Thesen – ein reformatorischer Text im Zusammenhang der frühen Bußtheologie Martin Luthers, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 90–114, hier 91 f., Anm. 7). Aber das ist gerade das Verständnis der Vergebung der Schuld, das Luther im Verlauf der Resolutionen aufgibt! Diese These sollte man also nicht für Luthers reformatorische Papstkritik in Anspruch nehmen! Vgl. unten Anm. 49. 27 Vgl. WA 1, 539,17–23: „Primo circa primam partem videtur esse ista oratio vel sententia impropria et euangelico textui incongrua, quando dicitur summum Pontificem solvere, id est declarare solutam, culpam seu approbare. Textus enim non dicit ‚Quodcunque ego solvero in caelis, tu solves super terram‘, Sed contra ‚Quodcunque tu solveris super terram, ego solvam seu solutum erit in caelis‘, ubi magis intelligitur deus approbare solutionem sacerdotis quam econtra.“ 28 WA 1, 539,15–17. 29 WA 1, 233,23 f.: „Nulli prorsus remittit deus culpam, quin simul eum subiiciat humiliatum in omnibus sacerdoti suo vicario.“ 30 Vgl. WA 1, 540,4–7: „In quibus omnibus [Bibelstellen wie Mt 22,21 und Mt 6,12 neben Mt 16,19] omnino prior remisiso in terra significatur quam ea quae est in caelis. merito quaeritur,
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eine Lösung vor, indem er zwei Ebenen unterscheidet: erstens die der Wirklichkeit der Vergebung und zweitens die des Bewusstseins oder der Gewissheit der Vergebung. „Wenn Gott beginnt, den Menschen zu rechtfertigen, verdammt er ihn zuvor, und wen er aufbauen will, den reißt er nieder, wen er heilen will, den schlägt er, wen er lebendig machen will, den tötet er.“ Dazu verweist Luther auf eine Reihe von Bibelstellen (1 Sam 2, 6; Dtn 32, 39; Ps 38,4; Ps 18,15 f.; Ps 111,10; Nah 1,3 f.). „Mit einem Wort, hier wirkt Gott ein fremdes Werk, um sein eigenes Werk zu wirken. Das ist die wahre Reue des Herzens und die Demütigung des Geistes, das Opfer, das Gott am meisten gefällt [Ps 51,19]. […] Aber dann weiß der Mensch so wenig um seine Rechtfertigung, dass er sich ganz nahe der Verdammung wähnt und meint, dies sei nicht die Eingießung der Gnade, sondern die Ausgießung des Zornes Gottes über ihn. […] Solange aber diese elende Verwirrung seines Gewissens währt, hat er keinen Frieden und keinen Trost, wenn er nicht zur Vollmacht der Kirche Zuflucht nimmt und, nachdem seine Sünden und sein Elend durch sein Bekenntnis aufgedeckt sind, Trost und Heilmittel begehrt. Denn nicht durch eigene Klugheit oder Hilfe wird er sich Ruhe verschaffen können, vielmehr würde die Traurigkeit zuletzt in Verzweiflung münden. Wenn hier der Priester eine solche Demütigung und Zerknirschung sieht, soll er im Vertrauen auf die Vollmacht, die ihm verliehen ist, um Barmherzigkeit zu üben, diese voll und ganz in Anspruch nehmen und ihn lösen und als gelöst erklären, und so soll er ihm den Frieden des Gewissens schenken.“31
Die Selbsterfahrung eines Menschen in einer solchen Situation, ein verlorener Sünder zu sein, und die Wirklichkeit der Vergebung seiner Sünden sind die zwei Seiten einer Sache, das fremde und das eigene Werk Gottes. Diese Erfahrung ist für einen Menschen unerträglich, aber der Priester kann dem Menschen das verborgene Werk Gottes in der Vergebung verkünden. Das ist immer noch ein deklaratives Verständnis der Vergebung: „Non ergo prius solvit Petrus quam Christus, sed declarat et ostendit solutionem.“32 Das stellt Luther nach den eben angeführten Überlegungen fest. Die Vergebung vollzieht sich in der unmittelbaren, inneren Beziehung Gottes und des Menschen und geht dem, was der Priester sagt, voraus. „Also wirkt die Vergebung Gottes die Gnade, aber die Vergebung des Priesters den Frieden, der auch selbst Gnade und eine Gabe Gottes ist, weil er Glaube an die Vergebung und die gegenwärtige Gnade ist. Und ich würde nach meinem Urteil sagen, dass diese Vergebung die ist, von der unsere Doctores sagen, dass sie durch die Sakramente der Kirche wirksam mitgeteilt wird; es ist aber nicht die erste, rechtfertigende Gnade, die in Erwachsenen da sein muss, bevor sie das Sakrament empfangen.“33
quomodo ante gratiam infusam, id est ante remissionem dei, haec fieri possint, cum sine gratia dei primo remittente culpam nec votum remissionis quaerendae habere possit homo.“ 31 WA 1, 540,8–41. 32 WA 1, 542,14 f. 33 WA 1, 542,7–11.
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Das Wort des Priesters bewirkt also etwas, nämlich den Frieden des Gewissens des Beichtenden angesichts und trotz seiner Selbsterfahrung. „Du hast so viel an Frieden, wie du dem Wort dessen, der verspricht: ‚Was du auf Erden lösen wirst etc.‘ glaubst. Unser Friede nämlich ist Christus, aber im Glauben. Wenn einer diesem Wort nicht glaubt, wird er, auch wenn er Millionen Mal vom Papst persönlich losgesprochen würde und der ganzen Welt beichtete, niemals Ruhe finden.“34
Die Buße Davids nach Ehebruch und befohlenem Mord ist für Luther ein gutes Beispiel für dieses Verständnis. David wäre gewiss nach dem Wort Nathans vor Gewissensqualen gestorben, wenn Nathan ihn nicht sogleich mit den Worten: „Der Herr hat dir vergeben, du wirst nicht sterben“ absolviert hätte. Es ist die in David „wirkende gratia iustificationis, die ausruft: Ich habe gesündigt, denn das ist die Stimme der Gerechten, die sich zuerst selbst anklagen“.35 Der Ehebrecherin von Joh 8 war schon vergeben, bevor Jesus sie aufrichtete, aber im Angesicht der vielen Ankläger erkannte sie das nicht. Dazu bedurfte es des Wortes Jesu.36 Das Problem des deklarativen Verständnisses ist es, dass der Priester sich irren kann, wenn er die Zeichen der Reue (signa contritionis) im Beichtenden erforscht. Der Beichtende kann den Priester täuschen, der Beichtende kann sich auch über sich selbst täuschen. Dieses Moment der Ungewissheit kann prinzipiell nicht überwunden werden, auch wenn es in der Praxis durch einsichtige Beichtväter (wie Johann von Staupitz) abgemildert werden konnte.37 Luther stößt hier an eine prinzipielle Grenze jenes Verständnisses der Absolution. Dennoch betont Luther sogleich, dass der Beichtende „mit allem Eifer“ verhindern müsse, an der Vergebung zu zweifeln, die ihm der Priester verkündigt hat.38 Das Argument, mit dem Luther eine Irrtumsmöglichkeit des Priesters abweist, ist der Hinweis, dass „jene Vergebung“ – die declaratio der Vergebung – sich nicht auf den Priester und sein Urteil stütze, sondern auf das Wort Christi, das der Priester sagt.39 Streng genommen kann man das aber nur sagen, wenn das Wort Christi WA 1, 541,7–11. Vgl. 543,8 f. WA 1, 541,33–38: „Et David certe cum peccasset et a propheta Natan fuisset reprehensus ex mandato dei, mortuus fuisset subito, quando operante in eo gratia isutificationis exclamavit: peccavi (Haec est enim vox iustorum seipsos primo accusantium), nisi statim velut absolvens Natan dixisset: dominus quoque transtulit peccatum tuum, non morieris. quare enim addidit ‚non morieris‘, nisi quia videbat eum terrore peccati sui conquassari et deficere?“ 36 Vgl. WA 1, 541,30–33. 37 Für die mittelalterlichen Theologen wie auch für Luther spielte 1 Kor 4, 3–4 („mihi autem pro minimo est ut a vobis iudicer aut ab humano die sed neque me ipsum iudico nihil enim mihi conscius sum sed non in hoc iustificatus sum qui autem iudicat me Dominus est“) eine maßgebliche Rolle (vgl. Hirsch, Emanuel, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, Lutherstudien, Bd. 1, Gütersloh 1954, 65.73 f.; WA 1, 95,17–24). Der Apostel nimmt hier die Einsicht Freuds vorweg, dass ein Mensch sich in seinem Innern nicht völlig durchschauen kann, und er vermittelt diese Einsicht der Kirche. 38 Vgl. WA 1, 540,41 f. 39 Vgl. WA 1, 543,35–544,1: „Nec hic oportet cogitare ‚quid, si sacerdos erraret?‘ quia non in sacerdote, sed in verbo Christi nititur remissio illa. ideo […] si ex levitate [sacerdos] absolveret, 34 35
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durch den Priester auch das bewirkt, was es sagt; hier aber setzt der Priester die Sündenvergebung als von Gott her geschehen bereits voraus. Die Gewissheit der Vergebung ist noch nicht mit ihrer Wirklichkeit vermittelt. Damit ist klar, dass die in Resolutio 7 vorgestellte Lösung nur eine Zwischenlösung sein kann, und der hier entwickelte Gedanke weiter treibt zu einer endgültigen Lösung. Cajetan erkennt das Unbefriedigende von Luthers Auffassung; er versteht und kritisiert sie scharf als Selbstwiderspruch: „Et, quod intolerabilius est, nec intelligibile, manere scilicet peccatum etiam remissione facta, et gratia donata, nisi credat penitens peccatum remissum.“40 Ohne schon eine Lösung zu kennen, betont Luther, dass er sich mit seinem zweifelnden Suchen in großer Gesellschaft befindet, denn alle seine Gegner zusammen mit ihren Magistri seien nicht in der Lage zu erklären, wie der Priester die Schuld vergibt. Er kennt natürlich die Auffassung, dass die Sakramente des neuen Bundes allen die Gnade geben, die dieser keinen Riegel vorschieben. Diese gewöhnliche Meinung nennt er häretisch, weil man mit Glauben zum Sakrament hinzutreten müsse.41 Man kann Luthers Ringen erkennen: Mit Augustin betont er: Nicht das Sakrament, sondern der Glaube an das Sakrament rechtfertigt,42 aber dieser Satz bezieht sich hier allein auf das Bewusstsein und die Gewissheit der Vergebung.43 Denn sogleich stellt er – erkennbar unsicher – zum Abschluss von Resolutio 7 fest: „Es ist wahrscheinlicher [verisimilius!], dass der Priester des neuen Bundes nur die Vergebung Gottes erklärt [declarat] und bestätigt [approbat] (das heißt: auf sie hinweist) und durch diesen Hinweis und sein Urteil das Gewissen des Sünders zur Ruhe bringt, der dessen Urteil glauben und Frieden haben muss.“44
In den Resolutionen zu den Thesen 37 und 38 geht Luther den skizzierten Denkweg weiter und kommt zum Durchbruch, zu einem neuen Verständnis der Sündenvergebung. Die beiden Thesen haben eine analoge Struktur wie die Thesen sechs und sieben. These 37 lautet: „Jeder wahre Christ, sei er lebend oder tot, hat Teil an allen Gütern Christi und der Kirche, die ihm von Gott auch ohne Ablassbriefe gegeben werden.“45 Hier ist wieder ein unmittelbares Verhältnis von Christus und Christenmensch angenommen. Diese These bezieht sich auf die Instructio Summaria des Erzbischofs Albrecht von Brandenburg, an der Luther so schweren Anstoß genommen hatte. Darin werden vier Hauptgnaden adhuc obtineres pacem ex fide tua, sicut baptismum seu eucharistiam dat, sive ille lucrum quaerat sive levis ac ludens sit, tua fides plenum accipit. Tanta res est verbum Christi et fides eius.“ 40 Morerod I, 346 („De effectu absolutionis sacramentalis“). Vgl. Hennig, 56 f. 41 Vgl. WA 1, 544, 35–38. 42 Vgl. zu Augustin unten Anm. 105 f. 43 Vgl. WA 1, 544,40 f. 44 WA 1, 545,1–4. 45 WA 1, 235, 9–11: „Quilibet verus christianus, sive vivus sive mortuus, habet participationem omnium bonorum Christi et Ecclesie etiam sine literis veniarum a deo sibi datam.“
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des Ablasses genannt. Die dritte ist eben die Teilhabe an allen Gütern der universalen Kirche.46 Luther hat ergänzt: Teilhabe an den Gütern Christi und der Kirche und argumentiert: Wer Christus hat, hat auch alle seine Güter. Er schließt die Resolution so: „Diese Teilhabe wird nicht durch die Kraft der Schlüssel oder durch die Wohltat der Ablassbriefe gegeben, sie wird vielmehr vor und ohne jene gegeben von Gott allein, wie die Vergebung vor der Vergebung, die Absolution vor der Absolution, so auch die Teilhabe vor der Teilhabe.“47
Die 38. These lautet: „Dennoch sind die Vergebung und die Teilhabe [an den Gütern Christi und der Kirche], die der Papst gewährt, in keiner Weise zu verachten, weil, wie ich gesagt habe, sie die göttliche Vergebung bekunden.“48 In der Resolution teilt Luther nun mit, dass ihm die Redeweise, der Papst bekunde nur die göttliche Vergebung („declarando“ wie in These sechs), nicht gefalle. „Ich habe oben zu These 6 gesagt, dass mir diese Redeweise nicht gefällt, dass der Papst nichts anderes tut als die göttliche Vergebung und Teilhabe zu erklären und zu bestätigen. Denn erstens macht das die Schlüssel der Kirche allzu unbedeutend, vielmehr macht es das Wort Jesu aus Mt 16,19 gewissermaßen unwirksam. Das deklarative Verständnis ist allzu schwach. Zweitens wird dem, der die Erklärung hört, alles ungewiss.“49
Hier ist Luther dabei, zwei Thesen aus den 95 Thesen ausdrücklich zurückzunehmen. Luther argumentiert zunächst wie in Resolutio 7, dass der unter der Last seiner Sünde Leidende das Urteil des Priesters braucht, damit er nicht sich selbst glaubt und der Vergebung und der Teilhabe an den Gütern Christi trauen kann. Was aber ist mit dem Urteil des Priesters, wenn der seine Sache nicht versteht oder leichtfertig ist (indoctus und levis)? Kann der Beichtende dessen Wort dann trauen? Hier bringt Luther unvermittelt einen überraschenden Gedanken: „Denn nicht wegen des Priesters und nicht wegen seiner Vollmacht, sondern wegen des Wortes dessen, der gesagt hat und nicht lügt: ‚Alles, was du lösen wirst‘ usw. [glaube ich, dass meine Sünden vergeben sind]. Bei denen nämlich, die an dieses Wort glauben, kann der Schlüssel nicht irren. Er irrt aber allein bei denen, die nicht glauben, dass diese Lossprechung wirksam ist […] Nimm hinzu, auch wenn du meinst, du hättest keine hinreichende Reue (denn dir kannst und darfst du nicht trauen), aber gleichwohl dem glaubst, der gesagt hat: Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet werden [Mk 46 Vgl. Köhler, Walther (Hg.), Dokumente zum Ablassstreit von 1517, Tübingen 21934, 115: „Tertia principalis gratia est participatio omnium bonorum ecclesiae universalis […].“ 47 WA 1, 593,32–34. 48 WA 1, 235,12 f. 49 WA 1, 594, 5–13: „Verum, licet hanc conclusionem ab omnibus (ut puto) acceptam non negem, dixi tamen supra conclusione vi. [WA 1, 539,17–23.542,20 f.] mihi non placere hunc modum loquendi, quod Papa nihil aliud faciat quam quod declaret aut approbet remissionem divinam seu participationem. Nam id primo nimis viles reddit Ecclesiae claves, immo verbum Christi facit irritum quodammodo, ubi dixit: Quodcunque &c. Declaratio enim nimis modicum est. Secundo, Quia incerta erunt omnia ei, cui fit declaratio, licet aliis seu Ecclesiae foris in facie certa fiat illius remissio et reconciliatio.“
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16,16], sage ich dir, dieser Glaube an sein Wort macht, dass du in Wahrheit getauft wirst, wie es auch immer um deine Reue bestellt sein mag. Deshalb ist der Glaube überall vonnöten. So viel hast du, wie viel du glaubst.“50
Den letzten Satz „So viel hast du, wie viel du glaubst“ hat Luther schon in Resolutio 7 gebraucht,51 dort aber charakteristischerweise mit Bezug auf den Frieden des Gewissens nach der Vergebung der Schuld, die unmittelbar durch Gott geschieht; hier aber wird der Ausdruck auf die Vergebung der Schuld selbst bezogen. Offenbar hat Luther in Resolutio 7 bereits Formulierungen, deren voller Sinn ihm offenbar erst wenig später aufgeht. Die damit anfangsweise erkannte Struktur der Vergebung und ihrer Gewissheit ist gegenüber der Tradition neuartig und komplex, und Luther hat sie hier und wohl auch später nicht vollständig begrifflich aufgeklärt. „Es bricht also hier der Irrtum derer zusammen, die sagen, dass die Sakramente des neuen Bundes wirksame Zeichen der Gnade so sind, dass jemand die Gnade erlangt, auch wenn er nicht echte Reue hat, sondern nur Furchtreue, sofern er dem nur nicht einen Riegel in Gestalt einer Aktualsünde oder eines schlechten Vorsatzes entgegenstellt. Ich aber sage dir, dass dir die Sakramente auch dann, wenn du reuig herzutreten und nicht an die Lossprechung glauben würdest, zu Tod und Verdammnis reichen. Denn der Glaube ist notwendig.“52
Ist Luthers Rede von der Notwendigkeit des Glaubens nun analog zu der von Luther kritisierten Situation zu verstehen, dass der Priester annimmt, der Beichtende weise echte Zeichen der Reue auf und daraufhin könne dieser losgesprochen werden? Dann wäre nur ein innerseelischer Zustand im Beichtenden (die Reue) durch einen anderen (den Glauben) ersetzt. Luthers Redeweise legt das nicht selten nahe, und er ist oft in diesem Sinn verstanden worden.53 „Verum enim est illud vulgatissimum et probatissimum dictum: ‚Non sacramentum, sed fides sacramenti iustificat‘, et illud B. Augustini: ‚Iustificat, non quia fit, sed quia creditur‘. Ex quibus sequitur, quod perniciosissimus error est dicere sacramenta nove legis ita esse efficacia signa gracie, ut non requirant ullam in suscipiente disposicionem, nisi ut non ponat obicem, obicem vocantes peccatum mortale in actu. Falsissimum est hoc; ymo requirit purissimum cor quodlibet sacramentum, alioquin reus erit sacramenti et iudicium sibi suscipiet. Cor autem non purificatur nisi per fidem, Actuum 15.“54 WA 1, 594,33–595,5. Siehe oben bei Anm. 34. 52 WA 1, 324,8–13. 53 Karl-Heinz zur Mühlen spricht in seinem Aufsatz „Zur Rezeption der Augustinischen Sakramentsformel ‚Accedit verbum ad elementum, et fit sacramentum‘ in der Theologie Luthers“ (ZThK 70 [1973], 50–76) wiederholt vom Glauben als Bedingung ohne weitere Qualifikation, zum Beispiel: Luther erkläre „den Glauben zur entscheidenden Bedingung des Sakramentsempfangs“ (ebd., 55). „Der Glaube des Empfangenden ist also die entscheidende Bedingung für die Wirkung des Sakraments.“ (ebd.) – Das Missverständnis des Glaubens bei Luther als reflexivem Glauben ist notorisch bei Hacker, Paul, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966. 54 WA 57/3,170,1–10. 50 51
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Kardinal Cajetan hat sich mit dieser Auffassung in einem Augsburger Traktat unter der Überschrift: „De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria“ auseinandergesetzt und die Frage so formuliert: „Utrum ad fructuosam absolutionem in sacramento penitentie exigatur fides, qua penitens credat certissime se esse absolutum a deo“.55 Cajetan hat Luther so gelesen, dass der Glaube an die Wirkung des Sakraments im Empfänger eine weitere Bedingung für den rechten Empfang des Sakraments ist. Luther habe willkürlich geredet „apponendo novellum et impertinens accidens pro dispositione necessaria ad gratiam dei per absolutionem sacramentalem“.56 Und er urteilt: Dieser Zusatz sei „correctione dignum: quoniam sacramentum penitentie ab ecclesia sufficienter traditum per confessionem, contritionem et satisfactionem, damnabile constituit sine quarto, scilicet certa fide effectus in suscipiente.“57 Das heißt, wie bereits erwähnt, für Cajetan: eine neue Kirche bauen.58 Es wäre jedoch ein schreckliches Missverständnis, würde man den Glauben als eine andere Bedingung für die Sündenvergebung ansehen, alternativ oder additiv zur contritio; denn dann würde der Glaube an sich selbst glauben. Der Glaube wäre dann ein Werk des Menschen – so versteht Cajetan Luther.59 Er glaubt aber an das Wort Christi, das durch den Mund des Priesters zu ihm kommt. Der Satz „Der Glaube an Christus rechtfertigt immer“60 wird durch die Aussage erläutert, dass das nicht weniger zutrifft, als wenn ein ungeeigneter Priester tauft.61 Gemeint ist wohl, dass ein Priester einen Erwachsenen tauft, ohne dass dieser mit ernsthafter Reue zur Taufe kommt und also nicht getauft werden sollte. Wenn dieser aber später auf die sakramentale promissio der Taufe glaubend zurückkommt, kann er sich unbedingt auf diese verlassen. Die Irrtumsmöglichkeit beim deklarativen Verständnis kommt daher, dass die Reue eine Bedingung oder gar Teilursache (causa materialis) für die Vergebung ist und in deren Wahrnehmung durch den Priester Fehler passieren können. Nun setzt Luther zwar die Reue bei der Sündenvergebung als Gegebenheit voraus; es sind Menschen mit einem zitternden Gewissen, die zur Beichte kommen, während Luther sagen muss, dass die, die solche Gewissensqualen nicht haben, mit der Absolution nichts anfangen können.62 Aber niemand darf die Vergebung Morerod I, 318–339, hier 318. Ebd., 334. 57 Ebd., 336. Cajetan bezieht sich hier auf das Konzil von Florenz (DH 1323). 58 Vgl. Morerod I, 336. 59 Vgl. ebd., 328: „si fides ista est, qua quantum credis, tantum habes, quum fides ista sit opus humanum (quia est acquisita), consequens est ut in opere sue fidei confidentia penitentie consistat: quod est alienum a christiana veritate.“ 60 WA 1, 594,40 f. 61 Vgl. WA 1, 594,41 f. 62 Vgl. WA 1, 596,21–23: „illis vero, qui talem miseriam [tremore conscientiae agitati] non sentiunt, nescio an sint claves illae consolatoriae, cum consolari non mereantur, nisi qui lugent, nec animari ad fidem remissionis, nisi qui trepidat diffidentia retentionis.“ 55 56
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auf seine Reue stützen noch die Vergebung für zweifelhaft halten, weil die Reue möglicherweise halbherzig war. Das Wort Christi in Mt 16, das zum Absolvo te im Mund des Priesters wird, ist eine Promissio Christi, die als Wort Christi verlässlich ist und der der Mensch darum im Glauben entsprechen kann und soll. Luther zitiert Psalm 119, um das deutlich zu machen: „die Hoffnung soll nach dem Propheten [Verfasser des Psalms] nicht auf unsere Reue, sondern auf sein Wort gesetzt werden. Er sagt nämlich nicht: ‚Denk an die Reue deines Knechtes, durch die du mir Hoffnung gegeben hast‘, sondern: Denk an dein Wort, durch das du mir Hoffnung gabst [Ps 119,49].“63
2. Reflexion von Luthers Gewissheitsverständnis a) Luthers systematische Darstellung seines neuen Verständnisses Zuerst soll Luthers erste eigene systematische Darstellung seines neuen Verständnisses der Absolution in der Disputation Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis (1518) vorgestellt werden.64 Es handelt sich um eine Reihe von 50 Thesen, die Cajetan leider nicht vorgelegen haben. Ihr innerer Kern lautet, negativ formuliert: „Christus wollte nicht, dass das Heil der Menschen in der Hand des Menschen oder seinem Willen liegt“,65 also weder in der Reue des Sünders noch in einer Vollmacht des Priesters, sofern sie als dessen persönliches Vermögen gedacht ist. Das folgt aus dem, worin positiv das Heil gründet: „Sondern, wie geschrieben steht: ‚er trägt alles mit seinem starken Wort‘ [Hebr 1,3], und: ‚mit dem Glauben reinigt er ihre Herzen‘ [Apg 15,9].“66 In der Vergebung wird eine Relation hergestellt zwischen Christus und seinem Wort einerseits und dem Glauben an dieses Wort, der die Herzen reinigt, andererseits. Diese Relation ist asymmetrisch, weil Christus „alles trägt“, also sowohl die promissio als auch den Glauben an sie. Dieses Wort ist also ein in höchstem Maß schöpferisches Wort, so sehr, dass Luther sagen kann, die Vollmacht der Schlüssel wirke ein unfehlbares Werk.67 Hier kommt bei Luther eine Infallibilität ins Spiel! „Die Schlüssel“ sind nicht einfach die Priester – Priester sind als solche nicht „Urheber der Vergebung“ –, sondern die promissio Christi
WA 1, 595,27–30. WA 1, 630,1–633,12. 65 WA 1, 631,9 f.: „Non voluit Christus, in manu vel arbitrio hominis consistere salutem hominum“. 66 WA 1, 631,11 f.: „Sed sicut sciptum est: portans omnia verbo virtutis sue, et: fide purificans corda eorum.“ 67 Vgl. WA 1, 631,35 f.: „Potestas Clavium operatur verbo et mandato dei firmum et infallibile opus, nisi sis dolosus.“ 63 64
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und das Mandat, diese promissio Menschen zuzusprechen. Das allerdings ist die Aufgabe des Priesters, der „Diener des Wortes ist, um Glauben an die Vergebung zu wecken“.68 Der Heilige Geist ist Subjekt dieses unfehlbaren Werks, und doch wirken Heiliger Geist und Priester untrennbar zusammen: „Wie der Priester wirklich (vere) lehrt, tauft, das Abendmahl erteilt und dies dennoch allein (solius) Werk des innerlich wirkenden Geistes ist, so vergibt er wirklich (vere) die Sünden und löst von der Schuld, und dennoch ist das allein (solius) Werk des innerlich wirkenden Geistes.“69
Hier ist von der cooperatio des Priesters und zugleich vom Allein des Heiligen Geistes die Rede!70 Dass Sündenvergebung und Rechtfertigung allein Sache des Heiligen Geistes ist, muss mit dem folgenden Satz zusammengedacht werden: „Nichts […] rechtfertigt als allein der Glaube an Christus, für den der Dienst am Wort durch den Priester notwendig ist.“71 Auch der Glaube, also die Relation des Menschen zum Wort Christi, ist Werk des Heiligen Geistes. Man wird also zu dem Urteil kommen: Luther kritisiert die traditionelle Auffassung der Sakramente als opus operatum nicht wegen der darin behaupteten Effektivität der Sakramente, sondern weil in der Lehre vom obex, den man nach scholastischem Verständnis dieser Effektivität nicht in den Weg stellen darf, nicht begriffen ist, dass das Sakrament promissionalen Charakter hat und darum auf den Glauben zielt. Der Glaube kann aber nur darum allein an das Wort Christi glauben, weil es schöpferisch ist und wirkt, was es sagt. So überbietet Luthers Verständnis des Absolutionswortes in Wahrheit die Lehre vom opus operatum, und das gerade wegen der Bedeutung des Glaubens allein an das Wort Christi!
68 WA 1, 631,33 f.: „Sacerdotes non sunt authores remissionis, sed ministratores verbi in fidem remissionis.“ 69 WA 1, 632,9–12: „Sicut sacerdos docet, baptisat, communicat vere, et tamen hec solius sunt spiritus intus operantis, Ita vere peccata remittit et absolvit a culpa, et tamen hec solius est spiritus intus operantis.“ Man beachte die überraschende Struktur des „solus“: Es schließt die menschliche cooperatio des Priesters nicht aus, sondern ein, betont aber in diesem Zusammenwirken das uneingeschränkte Subjektsein des Heiligen Geistes! Man beachte: Es geht hier nicht um die cooperatio des Beichtenden, sondern um die des Priesters! 70 Diese Beobachtung sollte Anlass sein, einmal über die Logik des „solus“ bei Luther nachzudenken! – Cajetan drückt den hier thematischen Sachverhalt so aus: „[…] peccatorum remissio, quam auctoritative quidem solus [!] deus facit, ministerialiter autem minister ipse christi sacramento mediante efficit. Sic enim ad literam impletur illud: ‚Quorum remiseritis peccata, remittuntur eis‘, non quod prius ecclesia remittat, quam deus, tanquam deus ecclesie iudicium sequatur. Non enim dixit: ‚Qorum remiseritis peccata, remittentur eis‘ in futuro, sed ‚remittuntur‘ in presenti, ad denotandum, quod ipsa per ministrum remissio est una eadem cum remissione, quam facit deus.“ (Morerod I, 344 / 346) 71 WA 1, 632,13–15: „In iis [den in Anm. 69 genannten Vollzügen] omnibus, dum ministrat verbum Christi, simul fidem exercet, qua intus iustificatur peccator. Nihil enim iustificat, nisi sola fides Christi, ad quam necessaria est verbi per sacerdotem ministratio.“ (Hervorhebung oben hinzugefügt)
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b) Luthers Brief an zwei Pfarrherrn von der Wiedertaufe Zum rechten Verständnis des Glaubens an die Absolutions-Promissio sind Luthers Ausführungen in seinem „Brief an zwei Pfarrherrn von der Wiedertaufe“ aus dem Jahr 1528 sehr erhellend.72 Luther wusste damals wenig über die Wiedertäufer; er hat mögliche Argumente imaginiert und in einer Art Disputation analysiert. Mk 16,16 scheint eine gute Belegstelle dafür zu sein, dass nur Glaubende getauft werden sollen und darum keine kleinen Kinder. Luther untersucht die These zunächst von der Position des taufenden Priesters aus und kommt zu der Schlussfolgerung, dass der Priester unter dieser Voraussetzung nicht taufen dürfe, da er von außen über den Glauben des Taufbewerbers keine Gewissheit haben kann. Man dürfe nicht einwenden, der Täufling werde ja nicht auf seinen Glauben, sondern auf das Bekenntnis seines Glaubens hin getauft, denn Mk 16,16 spreche vom Glauben und nicht vom Bekenntnis des Glaubens.73 Dann untersucht Luther die These aus der Position des Taufbewerbers selbst. Er argumentiert: Der Taufbewerber ist sich seines Glaubens nicht gewiss. Morgen kann sich sein Glaube ändern, und dann muss er sich ein drittes oder viertes oder fünftes Mal taufen lassen, denn nur eine Taufe auf den rechten Glauben hin ist unter jener Voraussetzung wirklich Taufe.74 So gesehen dürfte es darum keine Taufe geben. Diese einigermaßen überraschende Folgerung erläutert Luther im Text, indem er eine Unterscheidung einführt. Natürlich ruft die Taufpromissio nach dem Glauben des Täuflings; dieser Glaube ist lebenslang zu üben. Aber davon zu unterscheiden ist, dass man die Taufe auf den Glauben gründet, dass man an den eigenen Glauben glaubt und sich daraufhin taufen lässt. Luther sagt: Auch in diesem Fall baut man auf das Seine und nicht auf das Wort Gottes, denn auch Vgl. WA 26, 144–174. Vgl. WA 26, 154,17–19. 74 Vgl. WA 26, 154,31–155,9: „Eben also rede ich auch vom taufflinge, wo er die tauffe auff seinen glawben grundet odder empfehet, Denn er ist seines glawbens auch nicht gewis. Denn ich setze gleich, das sich ein man heute lasse widderteuffen, als der sich duenckt und anfechten lest, er habe nicht geglewbt ynn der kindheit, Wolan, wenn morgen der teuffel kompt, ficht sein hertz an und spricht: Awe, itzt fule ich erst rechten glawben, gestern habe ich warlich nicht recht geglewbt. Wolauff, ich mus mich abermal zum dritten teuffen lassen, und mus also die ander tauffe auch nichts werden. Meinstu, der teuffel koenne solchs nichts? Ja, lerne yhn bas kennen, Er kan wol mehr, lieber freund. Weiter, wenn er nu also auch die dritten tauffe anfechte, Jtem also fort an die vierde on alles auffhoeren (wie er denn auch ym synn hat zu thun), gleich wie er mir und vielen gethan hat mit der beichte, da wir auch einerley sunde nymer mehr kundten gnug beichten und ymer eine Absolution nach der ander, einen beichtvater uber den andern suchten on alle ruge und auff hoeren, Darumb, das wir auff unser beichten uns grunden wolten, Gleich wie sich itzt die teufflinge auff yhren glawben grunden, Was solte wol draus werden? Ein ewiges teuffen und kein auffhoeren wurde draus. Darumb ists nichts, Es kan widder tauffer noch tauffling die tauffe auff den glawben gewis grunden, Und ist also dieser spruch gar viel stercker widder sie, denn widder uns.“ – Luthers Überlegung ist im Übrigen keine Konsequenzmacherei; die vielfache Wiedertaufe ist heute in neopentekostalen Kreisen gang und gäbe. Es passiert genau das, was Luther prognostiziert hat. 72 73
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der Glaube ist eine Gabe Gottes an mich wie andere Gaben Gottes, auf die sich Menschen irrtümlich verlassen: Stärke, Reichtum, Gewalt, Weisheit, Heiligkeit.75 Es ist für unser Thema aufschlussreich, dass Luther bei diesem Argument seine eigene Erfahrung mit der Beichte anführt. Weil er und viele andere damals die Sündenvergebung auf ihre Beichte gegründet haben – man wird dabei sowohl an die wahre Reue wie die Vollständigkeit der Aufzählung der Sünden denken –, konnten sie nicht genug beichten und holten eine Absolution nach der andern, immer ohne Ruhe und Gewissheit. Diese Erfahrung hat sich Luther tief eingeprägt und hat seine Theologie bestimmt: Gewissheit kann man niemals auf eine Wirklichkeit im Menschen gründen, sondern nur auf die externe Wirklichkeit des Wortes Gottes, in dem sich Gott selbst dem Menschen begegnend gibt. Wie Luther in diesem Brief argumentiert, das gilt nun auch für das Thema der Gewissheit des Glaubens, Vergebung empfangen zu haben. c) Luthers Begründung der fides specialis in den Acta Augustana In den Acta Augustana betont Luther, dass der Glaube, um den es beim Empfang der Sakramente geht, fides specialis, nicht fides generalis sei, eben der Glaube, dass mir hier und jetzt im Sakrament Gnade gegeben wird. Cajetan hat mit dieser Unterscheidung gearbeitet, und vielleicht hat Luther sie im Verhör von Cajetan gehört und übernommen. In seinem Traktat De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria76 analysiert der Kardinal Luthers Auffassung mit Hilfe von zwei Unterscheidungen, die Luthers Denken allerdings fremd sind. Nach Cajetan kann man die Wirksamkeit des Sakraments aus der Perspektive des Sakraments (ex parte sacramenti) oder aus der Perspektive des Empfängers (ex parte suscipientis) betrachten. Auf das erste richtet sich die fides generalis, auf das letztere die fides specialis. Die zweite Unterscheidung, die Cajetan gebraucht, ist die zwischen fides infusa und fides acquisita. Die erste ist unerschütterlich, weil sie vom Heiligen Geist mit der Gnade gegeben wird und in der Offenbarung gründet, während die zweite auf menschlichen Akten, etwa der Selbstwahrnehmung der eigenen Disposition beruht und darum unsicher ist. Wer zum Sakrament kommt, glaubt also unerschütterlich mit der fides infusa, dass das Sakrament seine Wirkung erzielt, freilich: wenn der Empfänger recht disponiert ist. Da es, abgesehen von Ausnahmefällen, keine Privatoffenbarung über die eigene Disposition gibt, bleibt es bei der prinzipiell unsicheren fides acquisita 75 Vgl. WA 26, 164,39–165,7: „War ists, das man glewben sol zur tauffe, Aber auff den glawben sol man sich nicht teuffen lassen. Es ist gar viel ein ander ding, den glawben haben und sich auff den glawben verlassen und also sich drauff teuffen lassen. Wer sich auff den glawben teuffen lest, der ist nicht allein ungewis, sondern auch ein abgoettischer verleuckter Christ, Denn er trawet und bawet auff das seine, nemlich auff eine gabe, die yhm Gott geben hat, und nicht auff Gottes wort alleine, gleich wie ein ander bawet und trawet auff seine stercke, reichtum, gewalt, weisheit, heilickeit, welchs doch auch gaben sind von Got yhm geben.“ 76 Morerod I, 318–339.
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über die eigene Disposition und damit über die Wirkung des Sakraments in mir.77 Mit der Aussage, dass ein Mensch über seine innere Disposition niemals Gewissheit haben kann, rennt Cajetan allerdings bei Luther, wie bereits deutlich wurde, offene Türen ein, denn das war gerade Luthers Grundproblem, dass niemand über den eigenen Seelenzustand völlig sicher sein kann, nicht einmal über den eigenen Glauben.78 In den Acta Augustana will Luther zeigen, dass die fides specialis möglich und der dem Sakrament allein entsprechende Glaube ist. Dazu geht Luther schrittweise vor. Er betont zuerst mit Röm 1,16 f., dass nur der Glaubende gerecht ist.79 In einem zweiten Schritt stellt er mit Verweis auf Abraham in Röm 4,3 fest, dass der Glaube Glaube an das, was Gott verspricht und sagt (quod deus promittit et dicit), ist.80 Im dritten Schritt geht es dann um den eigentlichen Beweis, den Luther erbringen muss: „Nunc probandum est, quod accessuro ad sacramentum necessarium sit credere, sese gratiam consequi, et in hoc non dubitare, sed certissima fiducia confidere, alioquin in iudicium accedit.“81 Dazu bietet Luther elf biblische auctoritates und zwei Väterzitate (Augustin und Bernhard) auf. Im ersten Beleg schließt Luther aus der Aussage in Hebr 11,6, dass Gott für die, die ihn suchen, remunerator sei. Wenn das aber so ist, dann sei Gott ein solcher remunerator auch in praesenti.82 Der zweite Beleg ist Mt 16,19, worauf unten einzugehen ist.83 Darauf folgt eine Gruppe von neun biblischen Stellen. Dabei handelt es sich zuerst um vier Heilungsgeschichten, bei denen besonders anschaulich ist, was Luther zeigen möchte: „Hic patet, quod non de fide illa generali agitur, sed de speciali, quae erat de effectu sanandae filiae, quem mater peciit“84 (die kanaanäische Frau in Mt 15,28; die Blinden von Mt 9,28 f.; der Hauptmann in Mt 8,8; der königliche Beamte in Joh 4,50).85 In ihnen geht es 77 Vgl. ebd., 328: „Ad obiectiones infinitas de fide, ut respondeas, habeto pre oculis hanc distinctionem: scilicet vel ex parte sacramentorum, vel ex parte suscipientis. Et dicito, quod fides certissima est, et esse debet etiam de effectu sacramenti particulari in me, quantum est ex parte sacramenti; sed ex parte mei suscipientis licitum est dubitare de illius effectu in me.“ Zur anderen Unterscheidung vgl. ebd., 322.324: „Novam autem hanc inventionem alienam esse ab ecclesiastica doctrina, facile patet distinguendo de duplici fide, quam habere possumus: scilicet vel acquisita, vel infusa. Nam si sermo est de fide infusa (que est una de theologalibus virtutibus cuius plena est sacra scriptura, ‚sine qua impossibile est placere deo‘ [Hebr 11,6] […] constat quod illa est necessaria ad sacramentum penitentie: quoniam ipsius non nisi christi fideles baptizati capaces sunt. Sed huiusmodi fides, licet ad sacramenta extendat (ut patet in symbolo), non tamen extendit se ad hec singularia: puta quod hoc sit sacramentum, et quod in hoc sit effectus sacramenti.“ 78 Vgl. WA 1, 595,1 f.: „tibi enim non potes nec debes confidere“. 79 Vgl. WA 2, 13,11–17. 80 Vgl. WA 2, 13,18–22. 81 WA 2, 13,23–25. 82 Vgl. WA 2, 13,26–30. 83 Vgl. WA 2, 13,31–14,12. 84 Vgl. WA 2, 14,15 f. 85 WA 2, 14,20–29.
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immer um eine Begegnungssituation, um die Begegnung eines Menschen mit Jesus oder wie bei Maria mit dem Engel oder bei Anna, der Mutter Samuels, mit dem Propheten Eli, der ihr im Namen Gottes das Wort sagt, das ihre Lage grundlegend verändert.86 Es ist diese Begegnungssituation, die die promissio specialis schafft. Luther nennt auch die Gebetsverheißungen in Mt 11,24 und 17,20 wie auch Jesu Kritik am Kleinglauben der Jünger (Mt 8,26).87 Schließlich nennt er Jak 1,5–8 als „evidentissima auctoritas, etiam cogens me ad hanc sententiam, quod gratiam aut sapientiam nullus accipere potest, qui dubitat sese accepturum“.88 Nun wird man fragen müssen, wie sich diese Begegnungssituation in der sakramentalen Absolution darstellt. „Necessarium est sub periculo aeternae damnationis et peccati infidelitatis credere his verbis Christi: Quodcunque solveris super terram, solutum erit in caelis. Ideo si accedas ad sacramentum poenitentiae et non credideris firmiter tete absolvendum in caelo, in iudicium accedis et damnationem, quia non credis Christum vera dixisse: Quodcunque solveris etc. et sic tua dubitatione Christum mendacem facis, quod est horrendum peccatum. Si autem dixeris ‚quid, si sim indignus et indispositus ad sacramentum?‘ respondeo ut supra: Per nullam dispositionem efficeris dignus, per nulla opera aptus ad sacramentum, sed per solam fidem […] Iustus enim non ex dispositione sua, sed ex fide vivit. Quare de indignitate tua nihil oportet dubitare.“89
Mt 16,19 ist – daran muss erinnert werden – zuerst ein Wort an Petrus und, zusammen mit Mt 18,18 und Joh 20,23, auch für die Jünger Jesu und deren „Nachfolger“, wie diese auch bestimmt sein mögen, und nicht ein Wort an einen Sünder, der Buße tut. Und es ist seiner Form nach ein genereller Satz („Was immer du löst …“); man kann ihn auch als hypothetischen Satz verstehen: „Wenn du auf Erden etwas löst, dann ist es auch im Himmel gelöst“. Merkwürdigerweise erörtert Luther nicht die Frage, wie der generelle Satz zu dem höchst speziellen Absolvo te wird, das an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit einem bestimmten Menschen zugesprochen wird. In der Auffassung Cajetans ist die fides infusa des generellen Urteils über die Wirkung des Sakraments gewiss; mit ihr muss man zum Sakrament kommen, aber sie erstreckt sich nicht auf die singularia, wozu die Wirkung des Sakraments in mir gehört. Wenn man einen generellen Satz hat, der zu einem speziellen werden soll, braucht man ein spezifizierendes Moment. Für Cajetan ist das eine bestimmte Disposition, sei es die Reue oder das Nichtvorhandensein eines obex. Luther bezeichnet in dem eben angeführten Zitat den Glauben als die rechte Disposition. Aber nach dem oben Gesagten kann er das nicht wirklich meinen, denn dann müsste der Glaube seiner selbst als Disposition gewiss sein können, um der Vergebung gewiss zu sein, was die bisherige Ungewissheit nur auf eine andere Weise fortsetzen würde. So 86 Vgl.
WA 2, 15,15–27. Vgl. WA 2, 14,30–15,8. 88 WA 2, 15,9–14. Zitat: Z. 12–14. 89 WA 2, 13,31–14,10. 87
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sagt Luther auch sofort, dass der Gerechte nicht aus seiner Disposition, sondern aus dem Glauben lebt. Der Glaube kann also nicht als Disposition im traditionellen Sinn verstanden werden. Das lässt nun aber zweifeln, ob die Unterscheidung von fides generalis und fides specialis Luthers Einsicht gerecht wird.90 Das Moment, das etwas Generelles spezifiziert, hat nämlich immer den Charakter einer Bedingung. Man wird darum annehmen müssen, dass das Absolvo te des Priesters sich nicht als Spezielles zu dem generellen „Was immer du löst“ verhält. Das Verhältnis muss anders gefasst werden. Luther versteht ja den Zweifel am priesterlichen Absolvo te unmittelbar als Bestreitung der Verlässlichkeit dessen, was Christus gesagt hat. Dadurch, dass jemand zum Sakrament kommt, entsteht eine Begegnungssituation zwischen dem Priester und dem Beichtenden analog zu den Heilungsgeschichten im Evangelium. Mt 16 fordert eine solche Begegnungssituation: Es ist ein Mensch, der etwas in einem Anderen auf Erden löst mit Wirkung im Himmel. Mit dem Gang zum Sakrament wird beim Beichtenden ein Bedürfnis und eine Bitte um Gnade und Sündenvergebung unterstellt; damit ist die Begegnungssituation entstanden, die es dem Priester erlaubt und ihn verpflichtet, dem Beichtenden das Wort Christi an Petrus unmittelbar als Wort Christi an ihn zuzusprechen. Und vom Christen gilt: „Notandum, quod non satis est Christiano credere Christum esse constitutum pro hominibus, nisi credat et se esse unum illorum.“91 d) Glaube in intentione recta und in intentione obliqua In der Disputatio Pro veritate findet sich diese These: „Certum est ergo, remissa esse peccata si credis remissa, quia certa est Christi salvatoris promissio.“92 Hier kommt das Wort „certum/certa“ zwei Mal vor. Da es der Glaube ist, der gewiss ist, wird man im Glauben zwei Hinsichten unterscheiden müssen: In intentione recta bekennt der Glaubende: ‚Ich bin gewiss, dass mir meine Sünden vergeben sind, weil das Wort Jesu, das der Priester mir zugesprochen hat, gewiss ist.‘ Es geschieht etwas, wenn der Priester dieses Wort sagt, sonst hätte der Glaube keinen Gegenstand. Darum kann man dieses Wortverständnis „sakramental“ nennen. 90 Luther bringt seine Einsicht zwar höchst vehement vor („Necessarium est sub periculo aeternae damnationis et peccati infidelitatis credere his verbis Christi“ [WA 2, 13,31 f., siehe vorige Anm.]); man wird aber nicht umhin können zu sagen, dass die Darlegung seiner Auffassung durchaus Probleme im Blick auf ihre begriffliche Explikation wie ihre Begründung aufweist. Die evangelische Lutherforschung sollte diese Probleme diskutieren und sich nicht auf die hermeneutische Erschließung und verstehende Nachzeichnung von Luthers Gedanken in einem evangelischen Plausibilitätskontext beschränken, in dem Luther immer schon Recht hat. Cajetan ist ja nicht schon dadurch widerlegt, dass er Luther widerspricht! Es könnte der evangelischen Theologie zur besseren Erfassung von Luthers Einsichten verhelfen, wenn sie die Einwände Cajetans nicht a limine als längst überwunden und darum gegenstandslos betrachten würde. 91 WA 57/3, 169,10 f. 92 WA 1, 631,17 f.
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In diesem Sinn kann Luther in einer Tischrede 1540 sagen: „Signum philosophicum est nota absentis rei, signum theologicum est nota praesentis rei.“93 Und weil etwas durch dieses theologische Zeichen geschieht, kann die adäquate Reaktion des Menschen nur das Hören, Verstehen und Glauben sein. Etwas anderes ist es, wenn in der theologischen Reflexion – in intentione obliqua – auf das Geschehen der Vergebung geblickt wird; dann muss man sagen: ‚Es ist gewiss, dass die Sünden vergeben sind, wenn du glaubst, dass sie vergeben sind, weil die promissio Christi des Retters gewiss ist.‘ Hier, im theologischen Urteil, in intentione obliqua, scheint der Glaube eine Bedingung zu sein („si credis remissa“); er ist die Weise der heilvollen Anwesenheit der promissio in einem Menschen, während der Unglaube das, was die promissio schafft, zunichtemacht. Die Glaubensaussage in intentione recta zeigt: Die Sünden sind vergeben „quia certa est Christi salvatoris promissio“. Diese promissio ist es, der der Glaubende glaubt, während sein Glaube nicht Thema ist. Dass allein die promissio Christi, die ihm gilt, Thema ist, das genau heißt Glauben. Der Glaubende schaut strikt von sich weg allein auf das Wort Christi. Die Gewissheit des Glaubens, im Sakrament Gnade und Vergebung erhalten zu haben, verdankt sich allein der Gewissheit des Wortes Christi, das dem Beichtenden auf den Kopf zugesagt wird. Die promissio konstituiert eine kommunikative Relation; das Relatum auf der Seite des Menschen kann nur der Glaube sein, weil Versprechen und Vertrauen zueinander gehören. Darum ist die Hauptaufgabe des Priesters im Beichtsakrament, das schöpferische Wort „Dir sind deine Sünden vergeben“ im Namen Christi Menschen so zuzusprechen und in der Predigt so darüber zu reden, dass Vertrauen in dieses Wort „provoziert“ wird. So wichtig die Begegnungssituation, in der das Absolvo te einem Menschen zugesprochen wird, für die Inanspruchnahme von Mt 16 ist, so wäre freilich ein aktualistisches Verständnis der promissio unzutreffend, wonach die promissio nur das je und je in der Absolution ergehende Wort wäre und dementsprechend der Glaube an die promissio nur der je und je im Augenblick der Absolution von diesem Wort geweckte und sich auf es stützende Glaube. Es ist aber deutlich geworden, dass die promissio Christi untrennbar beides ist: das generelle Wort Mt 16 und das konkrete Wort der Lossprechung. Es ist nicht nur der einzelne Sprechakt, der performativ ist; das Evangelium selbst ist performatives Wort: „omnia verba, omnes historie Euangelice sunt sacramenta quedam, hoc est sacra signa, per que in credentibus deus efficit, quicquid ille historie designant.“94 Deswegen kann Luther sagen, dass der Mensch mit dem festen Glauben, dass ihm vergeben werde, zum Sakrament kommen soll. WA.TR 4, 666,8 f. (Nr. 5106). WA 9, 440,3–5 (Predigt am 25. 12. 1519). – Vgl. zu der obigen Überlegung: Hütter, Reinhard, Theologie als kirchliche Praktik. Zur Verhältnisbestimmung von Kirche, Lehre und Theologie, Gütersloh 1997, 115–119. 93 94
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e) Luthers „Logik des Glaubens“ im Unterschied zu einer „Protestant Logic of Faith“ Der amerikanische Philosophiehistoriker Phillip Cary, Augustin-Spezialist und Luther-Kenner, hat Luthers Verständnis der Vergebung sehr erhellend durch einen Vergleich zweier Logiken des Glaubens erläutert. In seiner Studie Why Luther is not quite Protestant95 unterscheidet er eine „Protestant Logic of Faith“ von Luthers Logik des Glaubens.96 Die erstere lässt sich nach Cary in folgendem Syllogismus darstellen: „Major Premise: Whoever believes in Christ is saved. Minor Premise: I believe in Christ. Conclusion: I am saved.“97
Um zu wissen, dass ich gerettet bin, muss ich nicht nur an die Verheißung Christi glauben, ich muss auch dessen gewiss sein, dass ich glaube. In diesem Sinn ist der Glaube reflexiver Glaube: Der Glaube ist auf Gottes Wort gegründet, aber die Glaubensgewissheit muss das Bewusstsein der Glaubenden einschließen, dass sie Glauben haben. Mein Glaube ist die notwendige Disposition dafür, dass ich meines Heils gewiss sein kann. Bei Luther ist die Logik des Glaubens eine andere. Cary formuliert sie so: „Major Premise: Christ told me, ‚I baptize you in the name of the Father, Son, and Holy Spirit.‘ Minor Premise: Christ never lies but only tells the truth. Conclusion: I am baptized (i. e., I have new life in Christ).“98
Es ist entscheidend, dass das Du im Obersatz vorkommt, so dass in der conclusio das Ich reden kann. Das Wort „Glaube“ kommt im Syllogismus nicht vor, aber der ganze Syllogismus ist Ausdruck des Glaubens. Er ist intentio recta auf das Wort Christi hin. Mit Bezug auf die Absolution sieht der „Protestant Syllogism“ nach Cary so aus: „Major premise: Christ promises absolution of sins to those who believe in him. Minor premise: I believe in Christ. Conclusion: I am absolved of my sins.“99
95 Cary, Phillip, Why Luther is Not Quite Protestant. The Logic of Faith in a Sacramental Promise, in: Pro Ecclesia 14 (2005), 447–486. 96 Dabei sollte beachtet werden, dass das Wort „Protestant“ im Englischen andere Konnotationen hat als das deutsche Wort „protestantisch“. 97 Cary, Why Luther (wie Anm. 95), 450. 98 Ebd., 451. 99 Ebd., 458.
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Der lutherische Syllogismus lautet nach Cary so: „Major premise: Christ says, ‚I absolve you of your sins in the name of the Father, the Son, and the Holy Spirit.‘ Minor premise: Christ never lies but only tells the truth. Conclusion: I am absolved of my sins.“100
Vergleicht man beide Syllogismen miteinander, fällt erstens das „Du“ im Obersatz des lutherischen Syllogismus auf – die Absolution vollzieht sich in einer Begegnungssituation. Zweitens enthält der lutherische Obersatz, wie auch Mt 16 selbst, keine Bedingung, auch nicht den Glauben. Darum kommt das Wort „Glaube“ im Syllogismus gar nicht vor. Ferner spricht Christus, scheinbar anachronistisch: „In the name of the Father, the Son, and the Holy Spirit.“ Darin zeigt sich die unmittelbare Identität der promissio an Petrus mit der promissio, die der Priester dem Beichtenden zuspricht. Weil nun der Glaube durch und durch intentional ist, kann man ihn vertrauende Intention auf das Wort Christi nennen, so dass der Mensch im Glauben gerade nicht fragen kann, wie es um sein Herz steht. Darum würde der Glaube dem Wort Christi untreu, wollte der Glaubende reflektierend auf sich und seinen Glauben schauen. Der Glaube ist eindeutig und gewiss, weil er sich allein an das Wort Christi hängt und den Seitenblick der Reflexion auf sich selbst als Verletzung der Vertrauenswürdigkeit Christi versteht. Der Glaube ist freilich so auf das Wort Christi gerichtet, dass er es durch den Mund eines Menschen hört. So verweist Luthers Verständnis der Gewissheit die Christenmenschen an die konkreten Sitze im Leben, die Sakramente und die Predigt, ist also ohne die communio sanctorum und das Amt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentenspendung nicht zu denken. Die Aufgabe des Priesters als Diener der promissio Christi zum Glauben wird von Luther nunmehr ungleich höher eingeschätzt, als das im deklarativen Verständnis der Absolution in der Scholastik der Fall war. f ) Luthers Berufung auf Augustinus Luther sagt im Blick auf das Sakrament nicht nur: „Du hast so viel, wie viel du um der promissio Christi willen glaubst“,101 sondern auch, dass die, die ohne jenen besonderen Glauben zum Sakrament gehen, dies zu ihrem Schaden tun und Gottes Gericht auf sich ziehen.102 Es ist also nicht so, dass durch die Absolution nichts passiert, wenn der Beichtende nicht glaubt. Es sei noch einmal erinnert: 100 Ebd.
101 WA 1,
543,8 f.; 595,5. WA 1, 595,15–21: „Quod siquis hanc participationem officio sacerdotis sibi factam non crediderit aut dubitaverit, non errore clavis, sed suae infidelitatis seducitur et magno damno suam animam afficit et deo verboque eius iniuriam atque summam irreverentiam facit. Ideo multo melius est, ut non adeat ad absolutionem, si non credat sese absolvi quam si sine fide accedat: ficte enim accedit et iudicium sibi accipit, non secus quam si baptismum vel sacramentum panis ficte acceperit.“ 102 Vgl.
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„Potestas Clavium operatur verbo et mandato dei firmum et infallibile opus, nisi sis dolosus.“103 Vielmehr dementiert der Vergebung Suchende mit seinem Unglauben gerade das, was durch das ihm gesagte Wort wirklich geworden ist, und widerspricht ihm; er macht es durch seinen Unglauben wieder zunichte. Aber durch seinen Glauben erschafft er die Wirklichkeit der Vergebung nicht; er erkennt sie an und ist ihrer gewiss. Wie beim Empfang der Taufe oder des Herrenmahls ziehen diejenigen Gottes Urteil auf sich, die ohne den Glauben, dass Gott ihnen im Sakrament die Gnade schenkt, zum Sakrament kommen. Im Altarsakrament macht der Glaube Christus nicht gegenwärtig, aber der Unglaube macht diese heilvolle Gegenwart zu einer unheilvollen. Analog dazu sieht Luther die Situation bei der Absolution. Luther hat immer wieder mit großer Zustimmung Augustinus so zitiert: „sacramenta esse efficatia gratiae signa, non quia fit (ut B. Augustinus) sed quia creditur“.104 Man kann aber die Frage stellen, ob er mit diesem Zitat auf der Höhe seiner Einsichten ist. Der zitierte Satz stammt aus dem Tractatus in Ioannem 80,3. Darin sagt Augustinus über die Taufe: „Accedit uerbum ad elementum, et fit sacramentum, etiam ipsum tamquam uisibile uerbum.“105 Dann stellt der Kirchenvater die Frage: „Vnde ista tanta uirtus aquae, ut corpus tangat et cor abluat, nisi faciente uerbo, non quia dicitur, sed quia creditur?“106 Im Gefolge eines platonisch inspirierten Dualismus von innerlich / äußerlich und sichtbar / unsichtbar kann für Augustinus die Gnade nicht durch ein äußeres Wort vermittelt werden, sondern nur durch das unmittelbare Wirken des Heiligen Geistes im Innern eines Menschen. „Christus selbst wirkt durch den Heiligen Geist im menschlichen Herzen Glaube, Hoffnung und Liebe. Diese betonte Hervorhebung der souveränen Urheberschaft Gottes besagt, dass Augustin mit aller Schärfe zwischen dem spirituellen Bereich der direkten Beziehung zwischen Gott und Seele und dem äußeren sichtbaren und hörbaren Bereich der ecclesia catholica mit ihrer Wortverkündigung und ihren sakramentalen Handlungen unterscheidet.“107
WA 1, 631,35 f. WA 1, 595,6 f.; 324,17 f. 105 CChr.SL 36, 529,5 f. Vgl. Zur Mühlen, Zur Rezeption (wie Anm. 53), 50–76; ders., Die Rezeption von Augustins „Tractatus in Joannem 80,3“ im Werk Martin Luthers, in: ders., Reformatorische Prägungen. Studien zur Theologie Martin Luthers und zur Reformationszeit, hg. von Athina Lexutt / Volkmar Ortmann, Göttingen 2011, 22–33. 106 CChr.SL 36, 529,9–11. 107 Hamm, Berndt, Unmittelbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens und kirchliche Heilsvermittlung bei Augustin, in: ZThK 78 (1981), 409–441, hier 410 f. Hamm hat das Thema noch einmal aufgegriffen: ders., Augustins Auffassung von der Unmittelbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens und die reformatorische Medialitätsproblematik, in: Johanna Haberer / Berndt Hamm (Hg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz, Tübingen 2012 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 70), 45–64. 103 104
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In De spiritu et littera stellt Augustinus fest: „Es soll aber auch niemand […] sagen: Freilich ist unsere Gerechtigkeit nicht ohne das Wirken der Gnade möglich, diese besteht aber gerade in der Gesetzgebung, in der Offenbarung der Lehre und in der Ausrüstung mit guten Vorschriften. Denn all das bleibt ja ohne den Beistand des Geistes zweifellos tötender Buchstabe. Hinzukommen muss der lebenspendende Geist; der nur schreibt uns ins Herz und lässt uns lieben, was der äußerliche Buchstabe des Gesetzes fürchten ließ.“108
Phillip Cary kommentiert das so: „In this argument, ‚letter‘ corresponds to law, and Spirit to grace – the one an external word, the other an inward gift […] For Augustine there can be no saving external word of grace – nothing corresponding to what Luther calls ‚gospel‘ – because all external words count as letter rather than Spirit.“109
Wenn nun aber der Glaube und das äußere Wort / Sakrament untrennbar aufeinander verwiesen sind, trifft der augustinische Satz, dass die Sakramente wirksame Zeichen der Gnade sind, weil sie geglaubt werden, nicht die Pointe von Luthers Verständnis. Gewiss will Luther mit diesem Zitat die Bedeutung des Glaubens im Gegensatz zur bloßen Abwesenheit eines obex deutlich machen; aber damit hat Luther seine Einsicht noch nicht adäquat aufgenommen. Man wird vielmehr sehen müssen, dass zwischen Augustinus und Luther die mittelalterliche Lehre von der Effektivität der Sakramente liegt.110 Zwar beginnt Petrus Lombardus die Sakramentenlehre im vierten Buch seiner Sentenzen mit Augustin-Zitaten, aber es kommt der Aspekt der Effektivität hinzu, der sich so bei Augustinus nicht findet: „Sacramentum enim proprie dicitur, quod ita signum est gratiae Dei et invisibilis gratiae forma, ut ipsius imaginem gerat et causa exsistat. Non igitur significandi tantum gratia sacramenta instituta sunt, sed et sanctificandi.“111 Thomas von Aquin stellt schlicht fest: „Omnes coguntur ponere, sacramenta novae legis aliquo modo causas gratiae esse.“112 Ob die scholastischen Theologen diese Effektivität nun mit einem Mitwirkungsmodell Augustinus, Geist und Buchstabe / De spiritu et littera liber unus XIX.32, übertragen von Anselm Forster (Aurelius Augustinus’ Werke in deutscher Sprache, hg. von Carl J. Perl), Paderborn 1968, 62 f. Vgl. dazu: Cary, Phillip, Inner Grace. Augustine in the Traditions of Plato and Paul, Oxford 2008, 78 f. 109 Vgl. Cary, Phillip, Luther and the Legacy of Augustine, in: Declan Marmion et al. (Hg.), Remembering the Reformation. Martin Luther and Catholic Theology, Minneapolis, MN, 2017, 37–54, hier 51. Cary hat die Frage der Zeichen bei Augustinus eingehend untersucht in: Cary, Phillip, Outward Signs. The Powerlessness of External Things in Augustine’s Thought, Oxford 2008. (Mir war nur die Kindle Edition zugänglich.) 110 Vgl. dazu jetzt die materialreiche Untersuchung von Zahnd, Ueli, Wirksame Zeichen? Sakramentenlehre und Semiotik in der Scholastik des ausgehenden Mittelalters, Tübingen 2014 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 80). 111 Petrus Lombardus, Sententiae in IV libros distinctae IV d. 1 c. 3 (ebd. [wie Anm. 19], 233,13–16). 112 Thomas von Aquin, Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi IV d. 1 q. 1 a. 4. qla. 1 sol. 108
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(virtus in den Sakramenten) oder mit einem Pakt-Modell erklärten – es wurde eine Effektivität der Sakramente angenommen, und das durchaus in Spannung zur augustinischen Zeichenlehre, mit der der Lombarde das vierte Buch der Sentenzen eröffnet hatte.113 Cary weist in der Einleitung zu seinem Buch Outward Signs nachdrücklich auf die Differenz zwischen Augustin einerseits und dem Grundzug des mittelalterlichen Sakramentsverständnisses und dem Wortverständnis Luthers andererseits hin und betont, dass die Wahrnehmung dieser Differenz der Anlass für seine Augustin-Studie war: „The formulation of the doctrine of the sacraments in the Middle Ages was a great achievement, I think, because in the Augustinian tradition within which it arose what matters most is inward and universal, whereas sacramental doctrine taught people to cling to things that are external and particular: not eternal realities of inner experience but flesh and blood, water and word. Precisely in its externality, sacramental doctrine is a great triumph of Christ over the philosophy of soul, inner presence, and spiritual experience […] I was led into this investigation by Luther, that great enemy of the religion of inner spiritual experience. According to Luther, God gives himself to us through his external word, but not according to Augustine. My surprise at this contrast led me to write this book. For in this regard Luther is more Catholic than Augustine – certainly more of a medieval Catholic – while Augustine, if not exactly more Protestant than Luther, is closer to Calvin than Luther is on the issue of sacraments. At stake is nothing less than the nature of the gospel, which for Luther has a sacramental kind of efficacy.“114
Luther hat in Resolutio 6 und 7 immer wieder betont, dass es Gott allein ist, der die Gnade der Vergebung gibt: „Omnes enim confitentur, a solo deo remitti culpam“.115 Dies versteht Luther zuerst so, dass Gott diese Vergebung in der Einheit seines fremden und eigenen Werkes vollzieht. Das ist ein unmittelbares Wirken des Geistes Gottes im Menschen. Der Priester wird erst nachträglich – die schon erfolgte Vergebung deklarierend – tätig. Der Erkenntnisfortschritt in den Resolutionen besteht darin, dass Luther nun Gott sein eigenes Werk so vollziehen sieht, dass es durch den Mund eines Menschen geschieht, der das Wort Christi den Beichtenden zuspricht. Dieses Wort bewirkt, was es sagt. In der besonderen Dialektik des solus betont Luther beides: dass es allein der Heilige Geist ist, der die Vergebung bewirkt, und dass dies durch einen Menschen geschieht, der in der Ich-Form das Absolvo te sagen kann. Weil es aber nicht des Menschen eigenes Wort ist, sondern Christi Wort, das in Christi Auftrag ausgeführt wird, liegt die Vergebung nicht in des Priesters Hand. Das Wort Christi zielt auf den Glauben des Beichtenden, dass ihm die Sünden vergeben werden; im Glauben, der sich allein auf dieses Wort richtet, ist die Vergebung im Menschen anwesend, 113 Vgl. auch Zahnd, Ueli, Efficiunt quod figurant. Von Ursachen und Wirkungen in der Sakramentenlehre des ausgehenden Mittelalters, in: ThGl 109 (2019), 201–217. 114 Cary, Outward Signs (wie Anm. 109), Kindle Edition, pos. 9–20. 115 WA 1, 539,1.
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und doch ist der Glaube keine zu erfüllende Bedingung für den Zuspruch der Vergebung. Sonst könnte man niemandem die Vergebung zusprechen. Der mögliche Zweifel am eigenen Glauben wird nicht, wie das bei der contritio der Fall war, durch vermehrte Anstrengung um diese überwunden, sondern dadurch, dass der Beichtende von sich und seinem Glauben wegschaut und allein das Wort Christi in den Blick nimmt und an ihm hängt. In dieser intentio recta wird ein Mensch der Vergebung gewiss. Das Wort Christi ist kommunikativ, kreativ, performativ: Weil es schafft, was es sagt, braucht und darf der Mensch nicht auf seine Glaubensdisposition reflektieren. Darum ist die Begegnungssituation grundlegend, in der einem Menschen das Wort Christi in der Du-Form zugesagt wird. So ist Gewissheit möglich und wirklich. g) Und was geschieht mit der contritio? Schließlich stellt sich die Frage, welche Rolle die contritio hat, wenn Sündenvergebung sich in der Relation promissio – fides ereignet. Sie scheint bedeutungslos zu werden, wenn Luther erklärt: „Wenn du auch nicht meinst, dass du ausreichend Reue hast (dir nämlich kannst und darfst du nicht glauben), wenn du jedoch dem glaubst, der gesagt hat: ‚Wer glaubt und getauft wird, der wird gerettet sein‘, sage ich dir: dieser Glaube an sein Wort macht, dass du wahrhaft getauft [= gerettet] bist, wie immer es um deine Reue steht.“116
Andererseits aber sagt er: „Ich weiß aber nicht, ob die Schlüssel für jene tröstlich sind, die ein solches Elend nicht spüren [von Gewissensqualen umgetrieben zu sein], weil den Trost nur die verdienen, die [ihre Sünden] betrauern und zum Glauben an die Vergebung nur der ermuntert wird, der aus Sorge, die Sünden könnten behalten werden, zittert.“117
Während die contritio in Luthers Denken bis zu dem Erkenntnisfortschritt, der sich in den Resolutionen 7 und 38 zeigt, als Gottes (fremdes) Werk konstitutives Element der Vergebung war, gerät sie jetzt in ein diffuses Licht. Luther lagert das Problem der contritio gewissermaßen aus der Frage nach der Sündenvergebung aus, indem er die Lossprechung nur für den, der von Gewissensqualen umgetrieben wird, für sinnvoll hält und also die contritio als gegeben annimmt, wenn jemand zum Bußsakrament kommt, ohne diese weiter zu bedenken.118 Andererseits wird die Reue als Bedingung für die Lossprechung strikt abgelehnt. Die Reue ist Voraussetzung, die freilich nicht Bedingung für die Sündenvergebung werden darf. In dieser abschließenden Reflexion auf die Rolle der contritio soll – anders als im bisherigen Vorgehen – ein Blick auf einen späteren Text, die Antinomer WA 1, 595,1–4. Vgl. oben Anm. 50. WA 1, 596,21–23. 118 Vgl. oben Anm. 62. 116 117
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disputationen, geworfen werden.119 1539 merkt Luther an, wie sehr sich die Situation gegenüber seinen Anfangsjahren geändert hat. Er gibt das Argument der Antinomer so wieder: „Die Liebe zur Gerechtigkeit macht die wahre Reue, aber das Gesetz gebiert Hass auf die Gerechtigkeit Gottes. Also ist nicht das Gesetz, sondern das Evangelium zu lehren. Denn das Gesetz bewirkt, indem es uns erschreckt, nichts anderes als den Hass auf Gott.“ Luthers Antwort lautet: „Es ist wahr, dass wir am Anfang dieser Sache angefangen haben, kräftig das Evangelium zu lehren und auch diese Worte gebrauchten, die jetzt die Antinomer verwenden. Aber die Art der Zeit war damals ganz anders als heute. Damals war die Welt mehr als genug erschreckt […]. So war es nicht nötig, den schon bedrückten, erschreckten, elenden, ängstlichen, angefochtenen Gewissen das Gesetz einzuschärfen oder auch nur zu lehren. Vielmehr war es hier nötig, jenen anderen Teil der Predigt Christi zu bringen, in dem er befiehlt, in seinem Namen auch die Vergebung der Sünden zu predigen, damit jene, die schon genug verzweifelt und erschreckt waren, lernen, nicht zu verzweifeln, sondern zu der in Christus angebotenen Gnade und Barmherzigkeit zu fliehen. Jetzt aber, obgleich die Zeiten anders sind und den früheren unter dem Papst ganz unähnlich, behalten gerade unsere Antinomer, wie sie gefällige Theologen sind, unsere Worte, unsere Lehre, jene frohe promissio von Christus, und, was schlimmer ist, sie wollen, dass sie allein gepredigt wird, ohne zu beachten, dass die Menschen jetzt nicht mehr so sind, dass sie anders sind, als sie unter dem Papst, dem Peiniger, waren, sondern sie werden und sind sichere und böse, rücksichtslose, ungerechte Räuber, ja auch Epikureer, die weder Gott noch Menschen fürchten. Diese bestätigen und stärken sie mit ihrer Lehre.“120
Was die Predigt angeht, ist einleuchtend, dass je nach der Verfassung der Hörerschaft unterschiedliche, ja gegensätzliche Akzente gesetzt werden können und müssen. Aber die Darlegung der Lehre von der Sündenvergebung – und eine solche unternimmt Luther gegenüber Cajetan – ist nicht mit einem solchen 119 In der zweiten Antinomerdisputation stellt Luther fest: „Der Schmerz über die Sünde und das Gesetz sind für die Rechtfertigung notwendig, und zwar materialiter. Denn ich werde dabey sein materialiter“ (WA 39/1, 452,2–4), während es bei der Frage, was notwendig für die Rechtfertigung ist, um das gehe, was diese bewirke (ebd., Z. 4–6). Während es jedoch trivial ist, dass „ich“ bei der Rechtfertigung dabei sein muss, ist es alles andere als trivial, in welchem Sinn der Schmerz über die Sünde und das Gesetz dabei sein müssen. Das weckt den Verdacht, dass Luther der Klärung der Frage nach der genauen Rolle der contritio oder des dolor bei der Rechtfertigung ausweicht. Wie ist eine Voraussetzung zu denken, die nicht Bedingung werden darf ? Die Unterscheidung von „materialiter“ und „effective“ ist eine Ad-hoc-Unterscheidung, die keinen klaren Sinn hat und zur Klärung der anstehenden Frage wenig beiträgt. T. Dietz bemerkt zu den diesbezüglichen Ausführungen Luthers: Sie „beziehen sich immer wieder auf die Sackgassen der scholastischen Bußlehre, wobei er vor allem die notwendige Ungewissheit namhaft macht“ (Dietz, Torsten, Der Begriff der Furcht bei Luther, Tübingen 2009 [BHTh 147], 311, Anm. 105). Das Problem in den Antinomer-Disputationen ist freilich, dass der Gegner nicht Biel, sondern Agricola heißt, und in dieser Kontroverse hilft es nicht weiter, immer neu gegen die Scholastiker zu polemisieren. Hier ist die Klärung der neu gewonnenen Konzeption gefragt, die durch jene Polemik gerade umgangen oder in falsche Koordinaten eingezeichnet wird. 120 WA 39/1; 571,10–572,14 (Dritte Disputation gegen die Antinomer).
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Zeitindex versehen, vielmehr muss die Lehre die Differenz der Zeiten und der Adressaten der Predigt mitreflektieren. Luther denkt in Kontroversen oft so, dass er eine Einsicht, die sich ihm erschlossen hat, bis zum Äußersten betont, um den betreffenden Aspekt klarzumachen. Aber das ändert nichts daran, dass in der Regel die Sachlage komplexer ist und sich über kurz oder lang auch die anderen, in einer bestimmten Kontroverse nicht berücksichtigten Aspekte melden. Dann ist es die Aufgabe der Theologie, den Zusammenhang der Aspekte, die zu unterschiedlichen Zeiten hervorgehoben werden müssen, zu klären. Ein solcher Fall ist das Verständnis und die Rolle der contritio, wenn für die Sündenvergebung die Relation promissio – fides als konstitutiv erkannt ist. Luthers innovative Erkenntnis löst ein Problem (Gewissheit der Vergebung) und schafft ein neues (die neue Rolle der contritio), das mit der neuen Erkenntnis nicht schon gelöst ist. Zu klären ist, wie unter der Voraussetzung jener Relation contritio zu verstehen und wie ihr Zustandekommen zu denken ist. Sollen die Schrecken des Gewissens wiederaufleben, wie Luther sie „unter dem Papsttum“ erlebt hat, und soll eine bessere Lösung als die der alten Bußlehren angeboten werden? Auch Luther spricht zeitlebens vom unruhigen, angefochtenen, gequälten Gewissen. Wenn nämlich durch das Gesetz Gottes die Erkenntnis der Sünde kommt (Röm 3,20), dann wird das Gewissen durch das Gesetz erschreckt, Papsttum hin oder her. Reue, so lautet die gängige Definition, die auch Luther teilt, ist eine mit Schmerz verbundene Stellungnahme zur begangenen Sünde: „Poenitentia omnium testimonio et vero est dolor de peccato cum adiuncto proposito melioris vitae.“121 Der durch das Gesetz hervorgerufene Schrecken ist aber als solcher noch nicht Reue: „aliud est horror Dei, aliud timor. Timor est fructus amoris, horror est seminarium odii.“122 Demnach ist die Furcht Gottes die Frucht der Liebe zu Gott, während im Schrecken vor Gott die Saat des Hasses auf Gott aufgeht. Der Schmerz der Buße gewinnt seine Bestimmtheit entweder durch die Liebe zu Gott oder den Hass auf Gott, die dieser Stellungnahme zugrunde liegen. So jedenfalls hat Luther das im Sermo de poenitentia, den Cajetan studiert hat, geschrieben. Entweder ist die Reue eine geheuchelte Reue, „Galgenreue“, die aus Furcht vor der Strafe entsteht, aus dem Schrecken im Blick auf den gravierenden Nachteil, der dem Sünder durch die Sünde entsteht und den er aus Liebe zu sich fürchtet. Wer so bereut, will letztlich die Sünde weiter praktizieren, ist aber durch die drohende Strafe gezwungen, sein Missfallen an 121 WA 39/1,
345,16 f. 661,9 f. (Predigt am 27. 12. 1514 [?]). Man kann den Genitiv „odii“ in „seminarium odii“ entweder als genitivus obiectivus verstehen (der Schrecken ist die Saat für den Hass auf Gott) oder als genitivus auctoris (der Hass auf Gott ist die Saat für den Schrecken). Weil Hass auf Gott und Liebe zu Gott in den beiden Satzteilen einander gegenübergestellt werden, ist die letztere Variante vorzuziehen, während Luther in den Antinomerdisputationen wohl im Sinn der ersten Variante denkt. Vgl. zu dieser Predigt: Dietz, Der Begriff der Furcht bei Luther (wie Anm. 119), 74–82. 122 WA 4,
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der Sünde auszudrücken.123 Die andere Form der Reue entsteht aus der Liebe zur Gerechtigkeit oder zu Gott; die Sünde wird dann aus Liebe zu Gott gehasst. „Amor semper est prior odio et odium natura et sponte fluit ex amore.“124 Die kritische Selbstwahrnehmung zeigt aber, dass der Mensch zu dieser spontanen Liebe zur Gerechtigkeit nicht fähig ist: „Oportet nos esse tales, et non possumus esse tales.“125 Der Weg aus dieser Aporie, den Luther in dieser Predigt zeigt, ist die Bitte zu Gott um die Gnade der Reue: „oro misericordiam et gratiam, fac poenitentem quem iubes poenitere“126. Zwar steht dieses Verständnis von Reue noch im Zeichen jenes Grundsatzes „contritio in charitate facta facit remitti peccata“, von dem Luther sagt, dass er sehr dunkel sei und er ihn nie verstanden habe,127 also einem Grundsatz, den Luther mit seiner neuen Einsicht aufgegeben hat, dennoch ändert das nichts daran, dass wahre Reue nicht ohne Wirken des Heiligen Geistes zustande kommen kann. In den Antinomerdisputationen stellt Luther die Verhältnisse anders dar. In den Thesen der ersten Disputation wendet Luther gegen die Scholastiker ein, dass sie die Elemente der oben genannten Definition der poenitentia128 nicht verstanden hätten. Mit Bezug auf das erste Element, den Schmerz, kritisiert Luther, dass sie diesen als einen in der Kraft des freien Willens hervorgebrachten Akt verstehen, der die Sünde verabscheut, so oft er will oder nicht will (nolit), während doch der Schmerz eine passio seu afflictio sei, die das Gewissen, wenn es vom Gesetz berührt oder gequält wird, zu erleiden gezwungen ist, ob es will oder nicht.129 Aber ist der Schmerz der poenitentia damit phänomenologisch zutreffend bestimmt? Ein Blick auf die Auffassung des Schmerzes bei Gabriel Biel mag hilfreich sein. Biel unterscheidet bei der Erörterung der Frage, ob die Seele Christi in irgendeinem ihrer Teile höchsten Schmerz und Traurigkeit empfunden habe,130 zwischen dolor, der im sinnlichen Strebevermögen verortet ist, und tristitia, die 123 Vgl. WA 1, 319,10–26. Vgl. WA 1, 99,8–17: „Unde duplex est contritio seu poenitentia inte rior, una scilicet ficta quae vocatur vulgo Galgen-Reue, quod facile videtur in iis, qui statim recidivant et saepius ita ruunt. Hi sic dolent de peccato, quod plus de poena peccati, Et nihil aliud displicet quam displicentia Dei in peccato: Mallet enim, ut peccatum placeret Deo, et sic Deum iniustum optat. Haec res perversissima est sed frequentissima, quia timore poenae et amore sui iustitiam Dei odit et suam iniquitatem diligit: poenam enim odit. Alia est vera, de qua dixi, quod amore iustitiae et poenarum odit peccatum, quia cupit ulcisci iustitiam laesam. Ideo non petit indulgentias sed cruces.“ 124 WA 1, 320,27 f. 125 WA 1, 321,27 f. 126 WA 1, 321,34. – Dieses Gebet schließt sich an das augustinische Wort „Domine, da quod iubes, et iube quod vis“ an (zitiert: WA 1, 321,35; Augustinus, Confessiones, 10,29,40 [Lateinisch und Deutsch, übersetzt und hg. von J. Bernhart, München 1955, 550]). 127 Vgl. WA 1, 321,16; vgl. Z. 18. 128 Siehe oben Anm. 121. 129 Vgl. WA 39/1, 346,7–10: „12. Dolorem finxerunt esse actum elicitum vi arbitrii liberi, qui detestaretur peccatum, quoties vellet aut nollet. 13. Cum dolor is sit passio seu afflictio, quam conscientia velit nolit, pati cogitur, lege tangente seu torquente.“ 130 Vgl. Biel, Gabriel, Collectorium circa quattuor libros sententiarum III d. 15 (ed. Wil-
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ihren Ort im intellektiven Strebevermögen hat. Beide entstehen durch die Wahrnehmung eines gegenwärtigen Objekts. Während jedoch der Schmerz auf die Wahrnehmung eines Objekts hin entsteht, das seiner Natur nach dem Menschen in seinem Strebevermögen abträglich ist, gewinnt das Objekt, das die Traurigkeit verursacht, seinen abträglichen Charakter erst dadurch, dass der Wille es nicht will (ex nolitione voluntatis). In beiden Fällen geht dem Schmerz oder der Traurigkeit ein Wahrnehmungsakt voraus, der Traurigkeit zusätzlich ein Willensakt, der das, was die Traurigkeit verursacht, verwirft (nolle). Im einen Fall bringt das Objekt durch sich den Schmerz hervor, im andern Fall setzt der Schmerz eine Stellungnahme des intellektiven Vermögens zum Objekt voraus.131 Luther scheint nun nach dem obigen Zitat den Schmerz analog zum Entstehen des dolor bei Biel zu verstehen: Das Gesetz verursacht ex natura sua diesen Schmerz im Gewissen. Fragt man aber, was es ist, das dem Gewissen diesen Schmerz bereitet, dann gibt es zwei Alternativen: Entweder es ist die Folge der Sünde, der Verlust der ewigen Seligkeit, die das Gesetz vor Augen stellt, oder es ist die vom Gesetz provozierte Wahrnehmung, Gottes Willen verworfen und damit Gott gehasst zu haben. Das Erste wäre ein Schmerz, der den eigenen Nachteil fürchtet und aus Selbstliebe und dem korrespondierenden Hass auf Gott entspringt. Das Zweite wäre ein Schmerz, der aus Liebe zu Gott die Verletzung Gottes um Gottes willen fürchtet. Man muss also, um den Schmerz zureichend bestimmen zu können, eine Stellungnahme der Seele oder des Gewissens zum Urteil des Gesetzes annehmen. Der Einwand, der damit gegen Luthers Verständnis des Schmerzes der Reue erhoben wird, nimmt die genannte Alternative in Anspruch. Sie ist nicht identisch mit der Auffassung Biels vom Zustandekommen des Schmerzes oder, wie er sagt, der Traurigkeit, die einen freien Willensakt voraussetzt, aber der Einwand betont mit dem Sermo de poenitentia, dass jener Schmerz immer mit einer Stellungnahme im Sinn der genannten Alternative verbunden ist. Nun ist aber klar, dass die zweite Alternative nur durch den Geist Gottes möglich ist. In der Römerbrief-Vorlesung betont Luther zu Röm 7,15 ff., dass niemand sein Böses erkennen kann, der sich nicht im Guten befindet, von wo aus er sein Böses beurteilen und erkennen kann. Wäre er nicht im Licht des Heiligen Geistes, so könnte er gar nicht sehen, dass das Fleisch noch in ihm wohnt.132 Der Schmerz über die Sünden entsteht gerade dadurch, dass das Urteil und die Anklage des Gesetzes eingesehen werden; dadurch „beißt“ das Gewissen von innen, nicht durch Drohung von außen. fried Werbeck / Udo Hofmann, Collectorium circa quattuor libros Sententiarum, Bd. 3, Tübingen 1979, 258–284). 131 Vgl. ebd., not. 2 C 15–26 (ed. Werbeck / Hofmann, Bd. 3, Tübingen 1979, 261). 132 Vgl. WA 56, 345,23–28: „Nemo enim malum suum agnoscit, nisi sit in bono super malum constitutus, vnde Iudicare et discernere potest suum malum, Sicut tenebras non nisi per lucem decernimus […] Si ergo non esset in luce spiritus, malum carnis sibi adiacere non videret nec gemeret.“
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Wenn nun aber nicht mehr wie in der frühen Theologie die wahre Reue und Selbstanklage die verborgene Rückseite der Gnade sind und sich in ihnen die Vergebung vollzieht, wenn jedoch wahre Sündenerkenntnis und Reue nicht ohne das Wirken des Heiligen Geistes zu denken sind, dann muss man ein doppeltes Wirken des Heiligen Geistes annehmen, einmal durch das Gesetz und zum andern durch die promissio. Erkenntnis der Sünde kann nicht ohne die Erleuchtung des Heiligen Geistes zustande kommen, und damit steht diese Erkenntnis schon im Horizont der Gnade, ohne dass diese Erkenntnis vom Evangelium hervorgebracht worden wäre. Das Gesetz als Forderung und, weil es nicht erfüllt werden kann, immer auch als Anklage, einerseits und Evangelium als Gabe der Sündenvergebung andererseits müssen streng unterschieden werden, und doch sind sie als Werke des Heiligen Geistes miteinander verbunden. Ihr Zusammengehören ist in Gottes Wirken, nicht im Menschen zu finden.133 Luther sagt nun aber in der ersten Disputation: „Poenitentiae prior pars, scilicet dolor, est ex lege tantum. Altera pars, scilicet propositum bonum, non potest ex lege esse.“134 Luther bezieht sich auf die Scholastiker, für die der gute Vorsatz eine „wählende Überlegung“ war, die Sünde in Zukunft mit den menschlichen Kräften zu vermeiden.135 Aber darum geht es im Gegenüber zu Agricola nicht. Luther fährt fort, und damit wird das Problem erkennbar: Nach dem Evangelium sei es der Antrieb des Heiligen Geistes, die Sünde aus Liebe zu Gott zu verabscheuen, auch wenn die Sünde im Fleisch kräftig rebelliert.136 Während im Sermo de poenitentia die wahre contritio aus der Liebe zu Gott kommt, stellt Luther nun dem Schrecken aus dem Gesetz die Verabscheuung der Sünde aus Liebe zu Gott gegenüber, wobei Letzteres mit dem Evangelium kommt. Luther gerät hier in eine Aporie: Einerseits kommt die contritio aus der Einsicht in die Anklage des Gesetzes, die der Heilige Geist durch das Gesetz wirkt; ohne den Heiligen Geist gibt es keine wahre Sündenerkenntnis; andererseits muss Luther festhalten, dass die Gnade mit dem Evangelium kommt und damit auch die Liebe zu Gott. Denn wenn die Gnade schon vor der promissio des Evangeliums da wäre, wäre Luther wieder in der Situation, die er in den Resolutiones als inakzeptabel erkannt hat: dass der Zuspruch der Vergebung nur bestätigt, was schon durch die contritio geschehen ist. Man kann sagen, dass es in den Antinomerdisputationen um die Auflösung dieser Aporie geht. Ob Luther dies gelungen ist, kann hier nicht untersucht werden.137 133 Das deutet Dietrich Korsch an: „Für Gott gibt es, im Unterschied zu uns selbst, so etwas wie eine Teleologie zwischen Gesetz und Evangelium“ (ders., C.II.3. Glaube und Rechtfertigung, in: Albrecht Beutel [Hg.], Luther Handbuch, Tübingen 2005, 372–381, hier 381). 134 WA 39/1, 345,22 f. 135 Vgl. WA 39/1, 346,17 f. 136 Vgl. WA 39/1, 346,19–21: „Cum secundum Evangelion sit impetus Spiritus sancti, peccatum deinceps ex amore detestans, rebellante licet interim fortiter peccato in carne.“ 137 Oswald Bayer spricht von zwei „unerledigte[n] Fragen“ Luthers im Blick auf die Sündenerkenntnis (Gesetz und Evangelium, in: ders., Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im
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Das Gesetz ist zu bedenken, um zu klären, was vergeben wird, wenn das Evangelium kommt. Wäre das Evangelium auch Forderung und Anklage, würde es seiner Eindeutigkeit verlustig gehen und Gewissheit des Heils wäre nicht möglich. Die contritio ist zu bedenken, weil in ihr die Negativität der Sünde zum Bewusstsein kommt und im Seelenleben wie in der Lebensgeschichte eines Menschen verortet wird. Das Evangelium muss sich, um seine heilvolle Wirkung zu erzielen, darauf beziehen, auch wenn es mehr mit sich bringt als die Aufhebung dieser Negativität. Das spannungsvolle Verhältnis zwischen der Anklage des Gesetzes, die in der contritio wahrgenommen wird, und der promissio als bedingungsloser Gabe wird in den beiden Schriften, die Cajetan vorlagen, nicht vollständig geklärt. Man wird diese Erwartung auch nicht an diese Schriften richten dürfen, sind sie doch Zeugen der rasanten theologischen Entwicklung Luthers im Jahr 1518. Dennoch betrifft dieses Verhältnis auch Luthers Verständnis von der Gewissheit der Vergebung, und man wird auch von hier aus noch einmal nachvollziehen können, warum es für Cajetan so schwierig war, Luther recht zu verstehen.
3. Schluss Man hat die Begegnung zwischen Luther und Cajetan in Augsburg zu einer archetypischen Szene der Begegnung von Thomismus und Reformation stilisiert: „Reformation und Thomismus hatten sich (wie kaum einmal wieder) verstanden und darum getrennt.“138 Und: „Man hatte sich sachlich hervorragend verstanden, beide, der Thomist und der Reformator, hatten den Dissensus übereinstimmend in der Sakramentslehre und Ekklesiologie gesehen und die offenkundig unversöhnlichen Konzeptionen der beiden Seiten entwickelt.“139 Das hört sich an, als habe es in Augsburg einen herrschaftsfreien Diskurs zwischen zwei großen Theologen gegeben und nicht ein Verhör, bei dem der Kardinal den Auftrag hatte, Luther entweder zum Widerruf zu bewegen oder gefangen zu nehmen. Und woher kann man wissen, wie viel Cajetan von seiner Theologie Luther mitgeteilt hat? Was konnte dieser überhaupt in jener Situation von der Theologie Konflikt, Tübingen 1992, 35–56, hier 50–52). – Man kann mit guten Gründen fragen, ob Luther nicht da und dort in den weitläufigen Argumentationssträngen der Antinomerdisputationen in die Irre gegangen ist. Vgl. zum Beispiel Dietz, Der Begriff der Furcht bei Luther (wie Anm. 119), 315–317. Zum Problem insgesamt vgl. Sparn, Walter, „Lex iam adest“. Luthers Rede vom Gesetz in den Antinomerdisputationen, in: Dietrich Korsch / Volker Leppin (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie, Tübingen 2010 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 53), 211–249. Vgl. auch: Schulken, Christian, Lex efficax. Studien zur Sprachwerdung des Gesetzes bei Luther im Anschluss an die Disputationen gegen die Antinomer, Tübingen 2005 (HUTh 48). 138 Hennig, 78. 139 Ebd., 81.
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seines Untersuchungsrichters verstehen? Luther konnte ja nicht wie wir heute Cajetans Traktate in aller Ruhe studieren. Der Kardinal wiederum hatte mit dem Sermo de poenitentia und den Resolutiones zwei Texte Luthers vor sich, in denen Luther sich, wie gezeigt, in rascher und tiefgreifender Entwicklung befunden hat. Liest man, was Luther in den Acta Augustana über die Gewissheitsfrage sagt, so wird man urteilen müssen, dass Luther hier schon wieder weiter war als in den beiden genannten Texten.140 Die Disputatio pro veritate, in der Luther seine neue Erkenntnis systematisch ordnet, war Cajetan unbekannt. Der englische Reformationshistoriker Richard Rex kommt zu dem Urteil: „Luther was a moving target in 1518, and his earliest opponents found themselves shooting at shadows as he raced ahead onto new ground.“141 Wenn wir sehen, wie vieler kleiner und großer Schritte der Erkenntnis es bei Luther bedurft hat, bis er zu der Position gekommen ist, die er in Augsburg vertrat, und wenn wir insbesondere bedenken, wie gravierend die Entwicklung von den 95 Thesen über die Resolutionen bis zu den Thesen über die Tröstung der Gewissen war, wie konnte dann Luther erwarten, dass der Kardinal ihm nach drei Unterredungen mit fliegenden Fahnen zustimmen und seinen bisherigen theologischen Weg aufgeben würde? Nach meinem Urteil haben sich Luther und Cajetan nicht in der Tiefe verstanden und darum widersprochen; sie haben sich vielmehr in der Tiefe missverstanden, weil beide sich nur in ihren je eigenen Systemen und Denkformen bewegten und die einzelnen Äußerungen des Anderen in diese Systeme einordneten, wo sie dann notgedrungen an den falschen Platz kommen mussten.142 Cajetan hat Luthers Darlegungen in seine Unterscheidungen der Perspektiven ex parte sacramenti und ex parte suscipientis und die darauf bezoge140 Hennig
selbst spricht von „den eine ausgesprochene Übergangssituation widerspiegelnden Resolutionen Luthers zu den Ablassthesen“ (ebd., 56) – aber die Resolutionen waren der Haupttext, der Cajetan vorlag! Welchen Reim sollte sich der Kardinal auf diese Entwicklung machen? 141 Rex, Richard, The Making of Martin Luther, Princeton / Oxford 2017, 89. – In seiner insgesamt lobenden Rezension von Hennigs Buch kritisiert Kurt-Victor Selge, dass es „vorwiegend systematisch interessiert“ sei, obwohl es ein „Historischer Beitrag“ zu sein beanspruche und dass Hennig es unterlasse, „Cajetans Kritik an den Einzelheiten der Thesen Luthers hier eingehender zu verfolgen. Der Luther der Resolutionen von 1518 und der anderen Schriften dieses Jahres hatte ja zur Ablass- und Bußfrage noch mehr zu sagen als das, was Cajetan als die Hauptirrlehre herausgriff, und Cajetan hatte hier in Auseinandersetzung und Zustimmung mehr zu sagen, als dass Luther in der Frage der Heilsgewissheit irrte. Auch in der Analyse dieses Gegensatzes übrigens wäre dem Buch m. E. etwas mehr reflektierte Behutsamkeit gut bekommen.“ (in: ARG 60 [1969], 271–274, hier 272) Selge hat in seinem in Anm. 4 erwähnten Aufsatz eine strikt historische Darstellung jener Begegnung unternommen. Vgl. auch die differenzierenden und abwägenden Überlegungen zur Augsburger Begegnung bei Wicks, 109–112. 142 Vgl. Selge, Rezension (wie vorige Anm.), 272: „Aber es stellt sich die einfache Frage – die m. E. negativ zu beantworten ist –, ob Cajetan an diesem Punkt [scil. der Gewissheitsfrage] richtig interpretiert hat; dass er ihm [Luther] einen fremden Glaubensbegriff unterschiebt, hat Hennig S. 51 ja selbst gesehen. Dann kann aber doch nicht davon die Rede sein, dass man sich hervorragend verstanden hätte.“
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ne Unterscheidung von fides infusa und fides acquisita eingeordnet; weil Luther nicht in diesen Unterscheidungen denkt, verfehlt der Kardinal damit gerade Luthers Pointe. Besonders paradox ist Cajetans heftige Kritik an Luthers deklarativem Verständnis der Absolution. Cajetan führt gegen Luthers deklaratives Verständnis der Absolution das gleiche Argument an, das auch Luther gegen sein eigenes Verständnis in der sechsten Resolution vorbringt, nämlich den Hinweis auf den Wortlaut von Mt 16,19: „Ideo si verba domini sunt vera in sensu proprio, convincunt ecclesie ministros habere potestatem remittendi peccata auctoritate christi.“143 Und Cajetan parallelisiert das Wirken des Priesters in der Absolution und in der Eucharistie: Wie die Wandlungsworte Christus gegenwärtig machen, so wirkt das Absolutionswort des Priesters die Vergebung – wenn der Empfänger entsprechend disponiert ist. Cajetan sieht nicht – oder kann nicht sehen –, dass Luther gerade mühsam dabei ist, das deklarative Verständnis der Absolution zu überwinden und darin Cajetans effektives Verständnis der Absolution zu überbieten. So nimmt Cajetan Luther ziemlich verzerrt wahr. Sorgfältige historische Arbeit erlaubt es jedoch, das Verhältnis Luthers und Cajetans neu zu sehen und zu bestimmen. Dabei wird auch zu bedenken sein, dass Cajetan nach Ende der Begegnung die Forderung nach Widerruf in der Gewissheitsfrage erstaunlicherweise abgeschwächt zu haben scheint.144 Man kann an der theologischen Innovation, die in dieser Studie beschrieben wurde, erkennen, wie das neue Verständnis der promissio ein Problem, das Luther lange bedrängt und bewegt hat, auf überraschende und überzeugende Weise zu lösen vermag, aber zugleich ein neues Problem schafft, für das noch eine Lösung zu finden ist. Das dementiert jene Innovation nicht, die man kaum überschätzen kann: dass das äußere Wort so verstanden und so hochgeschätzt wird, dass Christus sich uns durch dieses Wort gibt. „It is a proposal to the whole church that is inconceivable without Augustine in the background but also requires the departure from Augustine that took shape in medieval Catholic theology. For at the heart of Luther’s Protestant concept of gospel is a Catholic concept of sacramental efficacy.“145 Morerod I, 342. Selge gibt die wenig bekannte Information: „Hennig erwähnt nicht die Überlieferung in Spalatins (auf Information durch Luther und die anderen Augsburger Zeugen beruhendem) Bericht für den Kurfürsten, nach der Cajetan schließlich zu Wenceslaus Link gesagt hat, Luther brauche nur in der Ablassfrage (Widerspruch zur Dekretale ‚Unigenitus‘) zu widerrufen; ‚denn der andere Artikel, den Glauben in Sakramenten betreffend, könnte wohl Deutung oder Lenkung erleiden‘ (Wittenberger Ausgabe der Deutschen Schriften Luthers, 9. Teil, 1560 f. 36a). Das könnte politisch berechnet und nicht wirklich ernst gemeint sein, deutet aber doch darauf, dass Cajetan sich nicht mehr so eindeutig und explizit durch das Florentiner Konzil gedeckt sah, dass er darauf noch eine Widerrufsforderung hätte gründen können.“ (Rezension [wie Anm. 141], 273) Wicks hält diesen Bericht für glaubwürdig und gibt eine Erklärung für die mögliche Meinungsänderung Cajetans (ders., 103, Anm. 90). 145 Cary, Luther and the Legacy of Augustine (wie Anm. 109), 54. 143 144
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Dieses angesichts der gewohnten Wahrnehmung der Begegnung zwischen Luther und Cajetan überraschende Urteil wird dadurch gestützt, dass Cajetan und Luther sich mit einem beinahe gleichlautenden Argument gegen ein deklaratives Verständnis der Absolution gewandt haben.146 Allerdings wird die sakramentale Wirksamkeit des Evangeliums bei Luther anders als beim Thomisten Cajetan verstanden – und das hat die Schwierigkeit jenes Gesprächs mit verursacht –, weil diese Wirksamkeit sich für Luther nicht in einem Ursachengeflecht mit vier oder mehr Ursachen vollzieht, sondern in der Relation von promissio und fides. Im Glauben an die promissio Christi aber ereignet sich die Gewissheit der Vergebung. Oswald Bayer hat wie kein anderer die grundlegende Bedeutung der promissio für das Verständnis von Luthers Theologie erkannt und konsequent für deren Rekonstruktion fruchtbar gemacht. Das hat zu Recht weltweit Beachtung und vielfache Rezeption gefunden. Die Orientierung an der promissio leitet auch Bayers kritische Auseinandersetzung mit neuzeitlichen Denkformen und Theologien. Bayer hat diesen Ansatz in Luthers Theologie systematisch weiterentwickelt und hat so eine große Zahl traditioneller theologischer Topoi neu sehen gelehrt. Damit hat er eine Theologie entwickelt, die heute in den Spuren Luthers eindrucksvoll Rechenschaft für das Wort Gottes ablegt. Während Bayer die Augsburger Begegnung von Luther und Cajetan im Jahr 1518 als eine Ursprungssituation sieht, in der sich die Trennung zwischen evangelischer und katholischer Lehre bleibend manifestiert, argumentiert die obige Studie, dass Cajetan und Luther sich im Tiefsten missverstanden haben. Luthers promissioVerständnis weist nämlich eine erstaunliche Nähe zum sakramentalen katholischen Denken auf. Bayer hat das ökumenische Potential von Luthers promissioKonzeption wohl nicht deutlich gesehen.147 Sie ist aber im Dialog zur Geltung gekommen: Während Cajetan im Blick auf Luthers Verständnis der Gewissheit der Vergebung geurteilt hat, dies bedeute, eine neue Kirche zu bauen, betont 1999 die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zwischen der Römischkatholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund – genau mit Bezug auf jene Kontroverse und die Bibelstellen, die in ihr im Mittelpunkt standen: „Katholiken können das Anliegen der Reformatoren teilen, den Glauben auf die objektive Wirklichkeit der Verheißung Christi zu gründen, von der eigenen Erfahrung abzusehen und allein auf Christi Verheißungswort zu vertrauen (vgl. Mt 16,19; 18,18).“148
Siehe oben Anm. 143. katholischer Seite hat der amerikanische Lutherforscher Jared Wicks dieses Potential betont; vgl. u. a. ders., „Half a Lifetime with Luther in Theology and Living“, in: Pro Ecclesia 22 (2013), 307–336, hier 307.322. 148 In: Meyer, Harding et al. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 3: 1990–2001, Paderborn / Frankfurt a. M. 2003, 428 (Nr. 36). 146
147 Von
Cajetan als Prediger Ein Beitrag zur Rekonstruktion seiner Begegnung mit Martin Luther 1518 Barbara Hallensleben
1. Zur Einführung Thomas de Vio Cajetan, 1469 geboren, 1534 gestorben, 14 Jahre älter als Martin Luther, bildet unter den Zeitgenossen der beginnenden Reformation eine Welt für sich.1 Er lässt sich nicht einfach unter die „Gegenreformatoren“ einordnen, ist ihm doch die Kirchenreform selbst ein Anliegen. Sein Traktat De indulgentiis (Über die Ablässe)2, abgeschlossen am 8. Dezember 1517, also sicherlich bevor die Klagen gegen den Augustinermönch aus Wittenberg in Rom eintrafen, lässt eine deutliche Kritik an mangelnden theologischen Fundamenten und an Missbräuchen erkennen. Schon als er mit 39 Jahren 1507 zum Ordensmagister der Dominikaner gewählt worden war, hatte sich Cajetan energisch, aber immer auf Durchführbarkeit der Maßnahmen bedacht, für die Ordensreform eingesetzt. Der Dominikaner, der 1517 zum Kardinal ernannt wurde, ist aber zugleich derjenige, der in seinen Traktaten zur Vorbereitung auf die Begegnung in Augsburg in Luthers theologischen Optionen den Ansatz zu einer „neuen Kirche“ entdeckt3 und seinerseits an der „erneuerten Kirche“ der katholischen Tradition festhalten will. Seine unbequeme Strenge wiederum isolierte Cajetan in den Kreisen der römischen Kurie, wo er sich u. a. für die Wahl des Reformpapstes Hadrian VI. einsetzte. Cajetan kann unter vielfältigen Gesichtspunkten betrachtet und dargestellt werden: einfach als Mensch mit asketischer Lebensführung und strenger Arbeitsdisziplin, die sich in einem umfangreichen Lebenswerk niederschlägt; als Dominikaner und Ordensmagister, der sich für die Kirchenreform einsetzt, jedoch der radikalen Richtung um Savonarola zurückhaltend gegenübersteht; als philosophischer Denker, der intellektuell in einer neuen, antichristlichen 1 Vgl. Hallensleben; Cajetans Traktate und Predigten werden zitiert nach der Ausgabe: Thomas De Vio Cajetanus, Opuscula omnia, Lyon 1587, ND Hildesheim u. a. 1995. 2 Thomas de Vio Cajetan, Opuscula omnia (wie Anm. 1), 90a–97a. 3 Ebd., 111a: „hoc est enim novam ecclesiam construere“.
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Phase der Aristoteles-Rezeption heranwächst; als Theologe, insbesondere als Thomas-Kommentator und Ekklesiologe, der die Lehre über die Kirche aus der Kanonistik in die Dogmatik überführen will; als Pionier in der Entwicklung der Moraltheologie und als Wegbereiter für die dominikanischen Missionen in der „Neuen Welt“, nicht zuletzt als Kommentator der Heiligen Schrift, der Luther zu der spöttischen Bemerkung provoziert: „Cajetanus postremo factus est Lutheranus“4 – am Ende sei Cajetan doch noch zum Lutheraner geworden. An dieser Stelle soll im Dienst der „Rekonstruktion“ der Begegnung zwischen Cajetan und Luther in Augsburg ein Aspekt herausgegriffen werden, der im Leben Cajetans weniger Aufmerksamkeit gefunden hat und ihn doch in gewisser Weise mit dem Reformator verbindet: Cajetan als Prediger.
2. Fünf orationes – Ein Vorblick Die Opuscula omnia Cajetans verzeichnen sechs orationes, die er am Papsthof zwischen 1501 und 1504 hielt. Sie verdienten ein vertieftes Studium, ja eine eigene Ausgabe und Übersetzung.5 Es handelt sich um folgende Texte: 1) De vi cultus divini, & orationis efficacia, coram Alexandro sexto Pont. max. Dominica prima Adventus, anno salutis 1501 habita.6 Über die Kraft der göttlichen Liturgie und die Wirksamkeit des Gebets, vor Papst Alexander VI. am ersten Adventssonntag im Jahr des Heils 1501 gehalten. 2) De unione Verbi cum natura humana, coram eodem Alexandro sexto, Dominica prima Adventus, anno salutis 1502 habita.7 Über die Einigung des Wortes [Gottes] mit der menschlichen Natur, vor dem selben Alexander VI., am ersten Adventssonntag im Jahr des Heils 1502 gehalten. 3) De causa & origine Mali, & cur homines plura & maiora mala invaserint magis quam caetera animalia, coram Alexandro sexto, Dominica Quadragesima anno salutis 1502 habita.8 Über die Ursache und den Ursprung des Übels, und warum die Menschen von mehr und größeren Übeln heimgesucht werden als die übrigen Lebewesen, vor Alexander VI., am ersten Fastensonntag im Jahr des Heils 1502 gehalten.
WA.TR 2, 596,14 f. (Nr. 2668a); 597,11 (Nr. 2668b). Die Arbeit daran hat an der Universität Freiburg Schweiz begonnen und kann hoffentlich in absehbarer Zeit abgeschlossen werden. 6 Thomas de Vio Cajetan, Opuscula omnia (wie Anm. 1), 181a–183b. Die recht uneinheitliche Schreibweise wird im Folgenden bei den Überschriften der orationes leicht vereinheitlicht. 7 Ebd., 183b–185a. 8 Ebd., 185a–186a. Offenbar wird der Advent hier als Auftakt des Kirchenjahres gezählt, fällt also in das Ziviljahr 1501. 4 5
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4) De immortalitate animorum coram Iulio secundo, Pontifice maximo, Dominica prima Adventus anno salutis 1503 habita.9 Über die Unsterblichkeit der Seelen, vor Papst Julius II. am ersten Adventssonntag im Jahr des Heils 1503 gehalten. 5) De modo quo animae patiuntur ab igne corporeo, & de corporum cruciatu, coram Iulio secundo, Dominica prima Adventus, anno salutis 1504 habita.10 Über die Weise, wie die Seelen unter einem körperlichen Feuer leiden, und über die Qual der Leiber, vor Julius II. am ersten Adventssonntag 1504 gehalten. 6) De Ecclesia & Synodorum differentia coram Iulio secundo in secunda sessione Concilii Lateranensis, 17. Calen. Iunii 1512.11 Über den Unterschied zwischen Kirche und Synoden, vor Julius II. bei der 2. Sitzung des Laterankonzils am 16. Mai 1512. Die sechste oratio wird im Folgenden nicht weiter berücksichtigt, weil sie aus dem klar gefügten Rahmen der Predigten am päpstlichen Renaissancehof her ausfällt, eher die ekklesiologischen Positionen Cajetans betrifft und in einem recht erheblichen zeitlichen Abstand zu den fünf vorausgehenden orationes entstand, die offensichtlich in einem inneren thematischen Zusammenhang miteinander konzipiert sind.
3. „peripatetico lacte educatus“12 – Cajetan, der Aristoteles-Interpret Cajetan, der wegen seiner strengen Orientierung an Thomas von Aquin den reformatorischen Aufbruch verwirft – das ist in der Regel das Bild, das von dem Dominikaner tradiert wird, wenn es um die Begegnung mit Luther in Augsburg geht. Wer Cajetans Werdegang verfolgt, stößt natürlich auf den Thomas-Kommentator, der den ersten vollständigen Kommentar zur Summa theologiae schafft und damit die Thomas-Rezeption nachhaltig beeinflussen wird. Doch die ambivalente Bewertung der Rolle Cajetans lässt aufhorchen: Einerseits wird er rasch als das „gleichsam lebendige Abbild des Aquinaten“ gepriesen13 und bis heute als „der größte Theologe seiner Zeit“14 gewürdigt. Andererseits stellt Etienne Gilson die Frage, ob Cajetans commentarium der Summa theologiae nicht eher 9 Ebd.,
186a–188a. Ebd., 188a–189b. 11 Ebd., 189b–192a. 12 Siehe unten Anm. 17. 13 Spina, Bartholomäus, zit. nach: Laurent, Marie-Hyacinthe (Hg.), Les premières biographies de Cajétan, in: RThom 39 (= NS 17) (1934/35), 444–503, hier 449. 14 Mandonnet, Pierre, Art. Cajétan, DThC 2 (1905), 1313–1329, hier 1325. 10
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ein „corruptorium Sancti Thomae“ sei, ja „das wirksamste [corruptorium], das man je zusammengestellt hat“.15 Gerade bei heutigen Thomisten genießt Cajetan kein hohes Ansehen und wird – unter anderem, aber nicht nur in seiner Analogielehre16 – als Verfälscher der wahren Lehre des Aquinaten betrachtet. Diese Situation deutet bereits darauf hin, dass Cajetan in seinem eigenständigen Denken selbst dort ernstgenommen werden muss, wo er sich der scholastischen Sprache bedient und auf Thomas von Aquin bezieht. Ist diese Aufmerksamkeit geweckt, so wird unschwer Cajetans Integration in die neue Welle der Aristoteles-Rezeption des 15. Jahrhunderts erkennbar. Der mit 15 Jahren in den Orden eingetretene Predigerbruder studierte in Neapel, Bologna und Padua. Sicherlich wurde er dort mit dem Denken des großen Lehrers Thomas von Aquin vertraut gemacht. Doch er selbst stellt sich vorzugsweise als „peripatetico lacte educatus“17 vor, als „erzogen mit der Milch des Aristoteles“. Diese Aussage ist ernst zu nehmen. Einerseits verbindet sie Cajetan mit Thomas umso stärker, denn auch dieser formte sein Denken in der Auseinandersetzung mit Aristoteles. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Cajetan einer neuen Qualität der Aristoteles-Rezeption begegnete, die einem „intellektuellen Heidentum“ gleichkam.18 Auf Aristoteles wurde eine philosophische Weltdeutung gegründet, die in ihrer Geschlossenheit unabhängig von den Wahrheiten der Offenbarung konzipiert war. Zum Teil wurden dem Glauben entgegengesetzte Lehren mit dem Anspruch rationaler Vernunftwahrheiten vorgetragen, so etwa die Ewigkeit der Welt im Gegensatz zu ihrer zeitlichen Schöpfung sowie die Einheit des Intellekts für alle Menschen mit der Konsequenz der Sterblichkeit der menschlichen Einzelseele. 3.1. Im Ringen um das Menschen- und Weltbild Was stand auf dem Spiel? Als gemeinsame Fragestellung der Renaissancezeit lässt sich das „Problem der Individualität“19 ausmachen, das für das neue Lebensgefühl prägend war. Dieses Selbstverständnis musste sich in der Erkenntnislehre 15 Gilson, Étienne, Cajetan et l’humanisme théologique, in: AHDL 22 (1955), 113–136, hier 136. 16 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, De nominum analogia. De conceptu entis (1498/1509), hg. von N. Zammit / H. Hering, Rom 1952; vgl. Hochschild, Joshua P., The Semantics of Analogy. Rereading Cajetan’s De Nominum Analogia, Notre Dame, IND 2010; D’Ettore, Domenic, Analogy after Aquinas. Logical Problems, Thomistic Answers, Washington, DC 2019; zu Cajetan: 126–144; Bibliographie: 193–200. 17 Thomas de Vio Cajetan, Commentaria in Summam theologiae I q. 1, Einleitung. Cajetans Kommentar zur Summa theologiae ist der Ausgabe der Werke des Thomas von Aquin durch Papst Leo XIII. (Editio Leonina), Bände 4 bis 12, Rom 1888–1906, beigefügt. 18 Van Steenberghen, Fernand, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, (Paris 1966) Paderborn 1977, 482. Zum Folgenden vgl. Hallensleben, 16–19. 19 Cassirer, Ernst, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig / Berlin 1927, ND Darmstadt 21963, 148.
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bewähren. Hier wurde Aristoteles zum Bezugspunkt der Interpretation: Er hatte betont, dass der erkennende Geist (νοῦς), der dem Menschen über das vegetative und das wahrnehmende Seelenvermögen hinaus zukommt, von allem zu Erkennenden frei sein müsse und folglich vom Körper „abgetrennt, leidensunfähig und unvermischt“ sei; er allein sei „unsterblich und ewig“.20 Von diesem Geist, den Alexander von Aphrodisias (um 200) νοῦς ποιητικός und die Scholastik intellectus agens nannten, unterscheidet Aristoteles den „leidenden Geist“ (νοῦς παθητικός; intellectus passivus); er ist mit dem Körper verbunden und sterblich und nimmt die sinnlichen Vorstellungsbilder (αἰσθητά; species intelligibiles) auf, ohne die der Mensch nicht denken und erkennen kann.21 An anderer Stelle hatte Aristoteles vom νοῦς im Unterschied zu den niederen Seelenvermögen gelehrt, er werde nicht durch Zeugung weitergegeben, sondern sei unmittelbar göttlicher Herkunft und komme „von außen“ (θύραθεν)22 in den Menschen hinein. Diese Bestimmungen gaben zu Fragen Anlass, die von Aristoteles selbst nicht klar beantwortet waren: Sind νοῦς ποιητικός und νοῦς παθητικός als zwei real getrennte Vermögen aufzufassen? Ist der intellectus agens – und mit ihm das Denken und Erkennen – wahrhaft dem einzelnen Menschen zu eigen und Ausdruck seiner Individualität? Welche Konsequenzen hat diese Erkenntnis- und Seelenlehre für den christlichen Glaubensartikel von der Unsterblichkeit der Seele? In Padua begegnete Cajetan vor allem zwei Schulmeinungen: Die einen identifizierten den intellectus agens mit dem göttlichen Geist, den intellectus passivus mit der Fähigkeit der individuellen, sterblichen Seele, die Einwirkungen des vom Individuum getrennten intellectus agens aufzunehmen. Die strengeren Averroisten sahen im intellectus passivus ebenfalls die Erkenntnisfähigkeit des Individuums, die als Form des Leibes mit ihm entsteht und vergeht. Der intellectus agens hingegen wurde als die eine, ewige Gattungsvernunft des menschlichen Geschlechts bestimmt. Sie gehe ohne Entstehen und Vergehen gleich ewig aus Gott hervor und bilde zugleich die erste der bewegenden kosmischen Kräfte. „Das vernünftige Erkennen des Menschen ist also eine unpersönliche oder überpersönliche Funktion: es ist das zeitliche Teilhaben des Individuums an der ewigen Gattungsvernunft“.23 Dadurch sind Denken und Erkennen als individuelle Vollzüge in Frage gestellt, nicht zuletzt aber auch eine personal verstandene Gottesbeziehung. Ein zweiter Kristallisationspunkt der damaligen philosophischen Dispute ist die Frage der Ewigkeit von Welt und Materie. Auch dabei ging es letztlich um die grundlegende Transformation, der die klassische griechische Philosophie durch die Konfrontation mit dem christlichen Glauben – hier insbesondere mit dem Glaubensartikel von einer freien zeitlichen Schöpfung der Welt durch Gott ex 20 Aristoteles,
De anima, III,5. Vgl. ebd., III,7. 22 Aristoteles, De generatione animae II,3 (736b27). 23 Windelband, Wilhelm, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 171980, 291. 21
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nihilo – unterworfen war. Das klassische griechische Denken hatte die Ewigkeit des Urstoffs der Welt gelehrt; bei Aristoteles findet sich erstmals die Annahme, die bestehende Ordnung des Kosmos sei ursprungslos und unvergänglich.24 Da Werden und Bewegung nach Aristoteles ewig sind, bietet seine Philosophie nur Erklärungen für die Entstehung eines Seienden in seiner bestimmten Beschaffenheit, nicht für das Sein schlechthin.25 Das Verhältnis zwischen Gott und Welt wurde als notwendiges und gleich-ewiges Zusammenbestehen von Grund und Begründetem, causa und causatum gedacht. War damit einerseits die unaufhebbare und uneinholbare Priorität des göttlichen Urgrundes ausgedrückt, so drohte doch dieser Gott in eine Abhängigkeit von der ihn begleitenden Welt zu geraten. Der Versuch, das christliche Verständnis eines freien göttlichen Schöpfungsaktes und einer zeitlich verfassten, endlichen Welt in einer philosophischen Weltdeutung zu formulieren, stieß auf andere Schwierigkeiten: Die Angemessenheit zwischen Ursache und Wirkung war nicht mehr ersichtlich. Wie sollte der allmächtige Gott in seiner unendlichen Kraft einen endlichen, kontingenten Effekt hervorbringen? Die Preisgabe des individuell Endlichen schien die kohärenteste Lösung zu sein: Gott erkennt nur das Allgemeine, nicht das Individuelle, nicht das konkrete Einzelschicksal. Transzendenz und Allmacht Gottes sind philosophisch gewahrt, doch auf Kosten der Freiheit Gottes wie der Geschöpfe. Die Glaubensgewissheit bezüglich der göttlichen Vorsehung für jedes persönliche Schicksal wird hinfällig. Der Averroismus kennt nur einen „Gott ohne Freiheit, ohne Kenntnis der Geschöpfe, ohne ein echtes Gegenüber zur Welt. Ein Geistgeschöpf ohne geistige Individualität […], ohne Freiheit und ohne Unsterblichkeit“.26 3.2. Cajetans Stellungnahme Die Jahre in Padua, in denen Cajetan zwischen 1491 und 1495 seine grundlegenden Studien absolvierte und seine erste Dozententätigkeit übernahm, prägten seine geistige Welt entscheidend. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatten sich in Padua aufgrund der Erfindung des Buchdrucks die AristotelesEditionen vermehrt. Die Aristoteles-Interpretation besaß seit der Gründung der Artistenfakultät im Jahr 1222 eine ununterbrochene Tradition. In der Philosophie überwogen seit Ende des 14. Jahrhunderts logische und empirisch-naturwissenschaftliche Studien, aus denen metaphysische und theologische Fragen weitgehend ausgeklammert waren und die sich vielfach am Ockhamismus orientierten. Während der Nominalismus in der norditalienischen Schultheologie Vgl. Aristoteles, De coelo I,10 (279). Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione II,10; vgl. Poppi, Antonio, Causalità e infinità nelle Scuola Padovana dal 1480 al 1513, Padua 1966, v. a. 16–19. 26 Von Balthasar, Hans Urs, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik III,1: Im Raum der Metaphysik, Teil 2: Neuzeit, Einsiedeln 1965, 372. 24 25
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eine verhältnismäßig geringe Rolle spielte, wurde Cajetan durch die ockhamistisch interpretierte und fortentwickelte aristotelische Naturphilosophie indirekt mit ihm konfrontiert.27 Eine namentliche Auseinandersetzung finden wir in seinen Schriften mit Durandus von St. Porciano († 1334), der als unmittelbarer Vorläufer nominalistischen Denkens gilt. Als Cajetan 1494 für ein Jahr den Lehrstuhl für thomistische Metaphysik übernahm, musste er zu der philosophischen Debatte Stellung nehmen, obwohl, ja weil er sich an das thomistische Denken anschloss. Paduas Universität besaß im Vergleich zu den übrigen Hochschulen Italiens eine gefestigte Tradition theologischer Lehre. Hier bestanden seit Mitte des 15. Jahrhunderts zwei Lehrstühle für thomistische und skotistische Metaphysik, die jeweils von einem Dominikaner und einem Franziskaner zu besetzen waren. Cajetans Schriften seit dieser Zeit spiegeln seine Auseinandersetzung mit den ihn umgebenden Positionen, vor allem mit dem Skotismus und der averroistischen Aristoteles-Interpretation. Dabei bezog er sich weniger auf seine zeitgenössischen Kollegen – den Skotisten Antonio Trombetta OFM († 1517) und den Averroisten Nicolas Vernias († 1499) – als vielmehr auf die ursprünglichen Quellen: Aristoteles, Averroes, Duns Scotus. Die geistige Konstellation seiner Zeit ließ ihm keine Wahl: „In Padua, sei es in der Philosophie, sei es in der Theologie, denkt man notwendig gegen jemanden. Man muss im averroistischen Kampf Stellung beziehen und sich darüber hinaus für den hl. Thomas und gegen Scotus oder für Scotus und gegen Thomas entscheiden.“28 Als Cajetan 1495 Padua verließ, wirkten die Erfahrungen dieser Jahre weiter und fanden ihren Niederschlag in mehreren philosophischen Schriften. Den Auftakt bildet 1495 Cajetans Kommentar zu Thomas von Aquins Jugendwerk De ente et essentia: Super librum de Ente & Essentia Sancti Thomae Aquinatis, in septem capita divisus.29 Zwischen 1496 und 1498, also kurz vor seinen Orationes am Papsthof, verfasste Cajetan mehrere Aristoteleskommentare: zu De interpretatione, Analytica Posteriora, Praedicamenta, Physica, De Coelo et Mundo, Metaphysica sowie den Kommentar zur Einleitung des Porphyrios in die Categoriae des Aristoteles. Noch aufschlussreicher sind die nicht als Kommentare verfassten Schriften, mit denen Cajetan in eigenständiger Form in die Auseinandersetzungen um das Weltbild eingriff. Es handelt sich um die Traktate De
Vgl. Poppi, Antonio, Art. Padova, Scuola di, Enciclopedia Filosofica 4 (1957), 1263–1270. Congar, Yves, Bio-Bibliographie de Cajétan, in: RThom 39 (= NS 17) (1934/35), 3–49, hier 5: „A Padoue, soit en philosophie, soit en théologie, on pense nécessairement contre quelqu’un. Il faut prendre position dans la bataille averroïste et, de plus, opter pour S. Thomas contre Scot ou pour Scot contre S. Thomas.“ 29 Thomas de Vio Cajetan, Opuscula omnia (wie Anm. 1), 220b–283b. 27 28
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nominum analogia30 (1498), De infinitate Dei31 (1499) und De subiecto naturalis philosophiae32 (1499). Von 1495 bis 1497 war Cajetan als Philosophiedozent in verschiedenen norditalienischen Dominikanerprioraten tätig; 1497 wurde er als ordentlicher Professor der Theologie an die Universität von Pavia berufen, 1499 wechselte er nach Mailand. Mit der Ernennung zu hohen Ämtern im Orden, später in der Kurie, traten theologische Fragestellungen in Cajetans Werk stärker in den Vordergrund. Doch auch in der Folgezeit nahmen metaphysische Probleme, Begriffe und Gedankengänge in seinen Schriften breiten Raum ein. 1501 wurde Cajetan Generalprokurator der Dominikaner – und in dieser Eigenschaft oblag ihm die Verpflichtung, seinen Orden bei den Predigten am Papsthof zu repräsentieren. 1507 berief man ihn zum Generalvikar und 1508 (bis 1518) zum Ordensmagister. Dieser Zeitraum ist für die Rekonstruktion der Begegnung zwischen Cajetan und Luther entscheidend. Aus den Quellen seiner vorausgehenden Erfahrung wird er schöpfen, um sich auf das Gespräch mit Luther vorzubereiten. Ein erster Vorblick auf die Begegnung mit Luther lässt vermuten, dass Cajetan demselben spätmittelalterlichen Denken begegnete, das Luther zur Rebellion gegen Aristoteles und die gesamte Philosophie führte.33 Bekannt ist der markante Satz aus der Disputatio contra scholasticam theologiam (1517): „Breviter, Totus Aristoteles ad theologiam est tenebrae ad lucem“ – „Kurz, der ganze Aristoteles verhält sich zur Theologie wie die Finsternis zum Licht“.34 Cajetan hingegen stellte sich der Herausforderung, „rettete“ Aristoteles vor der antichristlichen Vereinnahmung und schuf eine philosophisch-metaphysische Fundierung der Theologie, die sein weiteres Denken bestimmte, auch wenn es theologischer Natur war oder sich auf die biblische Hermeneutik bezog. Grundlegend stellt sich die Frage: Kann die Theologie auf die Arbeit am Weltbild verzichten, die in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen zeitgenössischen Denken zur Herausforderung wird?
4. Der Mensch im Zentrum – Cajetan, der Renaissancehumanist35 Der Renaissancehumanismus, in dem Cajetan als Prediger am Papsthof sich gewandt bewegt, ist durch eine anthropozentrische Weltsicht gekennzeichnet. Der Mensch wird betrachtet als Mikrokosmos im Makrokosmos der Welt, symbolisch repräsentiert in Leonardo da Vincis „Vitruvianischem Menschen“, der 30 Siehe
oben Anm. 16; auch: Cajetan, Opuscula omnia (wie Anm. 1), 211b–220a. de Vio Cajetan, Opuscula omnia (wie Anm. 1), 192a–206a. 32 Ebd., 207a–211b. 33 Vgl. Büttgen, Philippe, Luther et la philosophie. Études d’histoire, Paris 2011. 34 WA 1, 226,26, These 50. 35 Vgl. zum Folgenden: Hallensleben, 140–148. 31 Thomas
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um 1490 entstand. Dem entspricht das Ideal des uomo universale, „der natürlich aus ihren Anlagen entfalteten, in sich vollendeten Persönlichkeit“.36 Freiheit, Unsterblichkeit und Glückseligkeit standen als Themen im Mittelpunkt des Interesses und wurden bevorzugt im Rahmen einer Moralphilosophie abgehandelt.37 Größe und Elend, grandeur et misère – so später Blaise Pascal –, praise and blame38 des Menschen traten dabei in ihrer spannungsvollen Einheit zutage. Cajetan – so lehrt die Beschäftigung mit dem Renaissanceprediger – empfindet und denkt in diesem Kontext. Ein Auszug aus der dritten oratio, die zugleich die Mitte der Gesamtkonzeption seiner Predigtreden am Papsthof ausmacht, gibt Einblick in seine Beweggründe: „Warum, guter Gott, hast du allein das Menschengeschlecht mit so vielen und großen Übeln bedeckt – oder doch zugelassen, dass es sich darin verstrickt? Führst du etwa alles zu einem sicheren Ziel und verachtest allein die menschlichen Taten? Sind wir Menschen denn der verworfenste Teil dieses ganzen Werkes? Ist das etwa dein Bild, Herr?“39
4.1. Drei repräsentative Gestalten Was Cajetan hier zum Ausdruck bringt, wurde in seiner Zeit nicht nur durchdacht, sondern vor allem existenziell durchlebt. Schicksale stehen hinter den großen Gedanken der Zeit:40 Marsilio Ficino, der führende Denker des Platonismus der Akademie von Florenz, erfuhr in einer schweren Krankheit in der Blüte seines Lebens eine tiefe religiöse Umkehr. Giovanni Pico della Mirandola, gegen den Cajetan 1494 glanzvoll disputierte und so seinen Magistergrad der Theologie erwarb, unterstellte sich der geistlichen Führung Savonarolas, widmete sein Leben zunehmend der Kontemplation und stand gegen Ende seines Lebens kurz vor einem Eintritt in den Reformkonvent von San Marco in Florenz. So waren die Humanisten in ihrer Aufmerksamkeit für das individuelle Leben zwar inspiriert durch die antike Literatur, jedoch geleitet vom eigenen Erleben und unabhängig von unmittelbaren theologischen Kategorien durchaus von
36 Dilthey, Wilhelm, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Stuttgart / Göttingen 61960 (Gesammelte Schriften II), 48. 37 Vgl. Kristeller, Paul Oskar, Humanismus und Renaissance, 2 Bände, München 1980, hier Band 2, Kap. 2. Neuere Stimmen zu Kristellers Bedeutung in der Forschungsliteratur: Edelheit, Amos, Philosophy and Theology in an Oral Culture. Renaissance Humanists and Renaissance Scholastics, in: RSPhTh 98 (2014), 479–496, hier 481 mit Anm. 5. 38 Vgl. O’Malley, John W., Praise and Blame in Renaissance Rome. Rhetoric, Doctrine and Reform in the Sacred Orators of the Papal Court, c. 1450–1521, Durham, NC 1979, z. B. 182. 39 Thomas de Vio Cajetan, Opuscula omnia (wie Anm. 1), 185b: „Cur solum humanum genus Deus optime tot ac tantis malis respersisti, aut certe involvi passus es? Nunquid omnia certo fine gubernas, hominumque solos despicis actus? nunquid totius huius operis abiectissima pars homines sumus? Haeccine est imago tua Domine?“ 40 Vgl. Cassirer, Individuum und Kosmos (wie Anm. 19), 65–70.
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religiösen Motiven getragen.41 Drei Gestalten können als repräsentativ für die aufbrechende christliche Neubesinnung auf das Menschenbild stehen und dazu beitragen, das spezifische Profil Cajetans deutlicher zu erkennen: Marsilio Ficino († 1499), durch den sich die Gedanken des erneuerten Platonismus über ganz Europa verbreiteten, sah in der menschlichen Seele das Zentrum des Kosmos, insofern sie das Bindeglied zwischen der intelligiblen und der körperlichen Welt darstellt. Die Würde des Menschen liegt nach ihm in der universalen Aufnahmefähigkeit des menschlichen Geistes begründet, die seine Affinität zu Gott ausmacht. Der Mensch verhält sich daher „im Leben nie ruhend, er allein ist an diesem Platze nicht zufrieden“.42 Er ist Herr, ja „Gott aller Dinge, denn er handhabt, verändert und gestaltet sie alle“.43 Sein Ziel ist die Schau Gottes – der Weg heißt „Liebe“ und führt über die Schönheit sowie die durch sie geweckte Sehnsucht. Von irdischer Schönheit wird die Seele „durch Gott wie mit einem Köder emporgezogen, um selbst Gott zu werden. Gott aber wäre gleichsam ein böser Tyrann, wenn er in uns eine Sehnsucht entfachte, die ewig unstillbar bleibt“.44 Deshalb bestimmt Ficino das Lebensideal als Kontemplation, in der die Seele sich vom Leiblich-Irdischen zurückzieht und der intelligiblen Welt zuwendet. In diesem Zusammenhang wird die Unsterblichkeit der Seele45 zum entscheidenden Postulat. Im Ergebnis entsteht „im Grunde eine Reduktion der moralischen Theorie auf das kontemplative Leben“,46 eine Art Spiritualismus, der zwar die Welt als „Erscheinung und Aufstrahlen Gottes“47 sieht, sie jedoch als „Köder“ göttlicher Schönheit letztlich nicht in ihrer Eigen bedeutung ernstnehmen kann. Giovanni Pico della Mirandola († 1494), Freund und Schüler Ficinos, stand durch seine Studien in Paris und Padua stärker in der Auseinandersetzung mit der klassischen Schultheologie und dem Aristotelismus.48 Der Synkretismus seines Denkens verhindert eine eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Schul41 Vgl. Von Balthasar, Herrlichkeit III/1,2 (wie Anm. 26), 595–596; Kristeller, Humanismus und Renaissance 1 (wie Anm. 37), 74; Iserloh, Erwin, Evangelismus und Katholische Reform in der italienischen Renaissance, in: August Buck (Hg.), Renaissance – Reformation. Gegensätze und Gemeinsamkeiten, Wiesbaden 1984 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 5), 35–46. 42 Ficino, Marsilio, Theologia Platonica XIII,4; zit nach: Hügli, Anton et al., Art. Mensch, HWP 5 (1980), 1059–1105, hier 1075. Eine vollständige Edition mit englischer Übersetzung liegt vor: Ficino, Marsilio, Platonic Theology. In six volumes edited by James Hankins with an English translation by Michael J. B. Allen, Cambridge, MA 2001. 43 Ficino, Marsilio, Theologia Platonica XIII,3; zit. nach: ebd. 44 Ficino, Marsilio, Theologia Platonica I,13,1; zit. nach: Von Balthasar, Herrlichkeit III/1,2 (wie Anm. 26), 600. 45 – die den Untertitel der Theologia Platonica bildet: Theologia platonica de immortalitate animae. 46 Kristeller, Humanismus und Renaissance 2 (wie Anm. 37), 107. 47 Von Balthasar, Herrlichkeit III/1,2 (wie Anm. 26), 599. 48 Vgl. Monnerjahn, Engelbert, Giovanni Pico della Mirandola. Ein Beitrag zur philosophischen Theologie des italienischen Humanismus, Wiesbaden 1960 (VIEG 20).
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richtung. Wie Ficino sieht Pico den Menschen im Mittelpunkt des Universums und mit allumfassender Beziehungsfähigkeit ausgestattet. Doch seine Freiheit stellt ihn gleichsam auch außerhalb dieser Ordnung und lässt ihn zum „Werkmeister und Bildner seiner selbst“49 werden. In Picos berühmter Rede Über die Würde des Menschen, die er 1486 als Einleitung zu einer geplanten öffentlichen Disputation mit 900 Thesen verfasste, lässt er Gott zum Menschen sprechen: „Keinen festen Ort habe ich dir angewiesen und keine eigene Form, ich habe dir keine dich allein auszeichnende Gabe verliehen, damit du, Adam, den Ort, die Form, die Gaben, die du dir wünschst, nach eigenem Willen und Ermessen erhalten und besitzen kannst […] Du sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen haben, selbst bestimmen […] Ich habe dich nicht himmlisch noch irdisch, nicht sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du dich frei, aus eigener Macht, selbst modellierend und bearbeitend zu der von dir gewollten Form ausbilden kannst.“50
Picos groß angelegter Versuch einer Apologie der christlichen Wahrheiten blieb letztlich ein Werk seines individuellen Geistes ohne Auswirkungen auf das kirchliche Leben. Sein Versuch, das Denken stärker naturphilosophisch zu begründen als Ficino, führte nicht zu einer Synthese zwischen platonischen und aristotelischen Ansätzen. Eine entschieden gegenläufige Tendenz aus der Tradition des Aristotelismus vertritt Pietro Pomponazzi († 1525), der nach seiner Ausbildung in Padua als Professor der Philosophie in Bologna wirkte.51 Ziel und Ideal des menschlichen Handelns sieht er nicht in der Kontemplation, sondern im moralischen Handeln, das sich selbst Lohn ist. Der spekulative Intellekt kann nur für wenige in ihrer Lebensgestaltung leitend werden und ist eigentlich ein göttliches Vorrecht. „Der praktische Intellekt hingegen kommt in Wahrheit dem Menschen zu. Denn er ist für jeden normalen Menschen auf vollkommene Weise zu erreichen, und ein Mensch wird danach in absolutem Sinne für gut oder schlecht befunden […] Daher muss jeder Mensch im Hinblick auf den praktischen Intellekt, der für den Menschen charakteristisch ist, vollkommen sein. Denn damit die gesamte Menschheit bewahrt bleibt, muss jeder einzelne moralisch tugendhaft und möglichst frei von Lastern sein“.52
Die Forderung nach einer jenseitigen Vergeltung für Tugend und Laster ist für Pomponazzi – im Unterschied zu Ficino – keine hinreichende Begründung für das Postulat der Unsterblichkeit. Auch einen rationalen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele will er nicht zugestehen, obwohl er sie als Glaubensartikel 49 Della Mirandola, Giovanni Pico, De dignitate hominis, 29: „arbitrarius plastes et fictor sui“; zit. nach: Kristeller, Humanismus und Renaissance 1 (wie Anm. 37), 185. 50 Ebd. 51 Vgl. Gilson, Étienne, Autour de Pomponazzi. Problématique de l’immortalité de l’âme en Italie au début du XVIe siècle, in: AHDL 36 (1961), 163–279. 52 Pomoponazzi, Pietro, De immortalitate animae, XIV; zit. nach: Kristeller, Humanismus und Renaissance 1 (wie Anm. 37), 192 f.
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festhält. Zu dieser Position führt ihn nicht zuletzt seine Gegnerschaft gegen den Averroismus: Gerade weil er die Seele als individuelle Form versteht, die nicht vom Leib abzulösen ist, entfallen alle Beweise für deren eigenständige Fortdauer. „Hier scheint zugleich der äußerste Gegensatz zu der Seelenlehre der Florentinischen Akademie erreicht; wie denn in der Tat Pomponazzis Traktat ‚De immortalitate animi‘ überall als der negative Pol zu Ficins gleichnamiger Schrift erscheint. Und doch steht über diesen Gegensatz hinweg noch eine Gesamtheit des systematischen Interesses: Beide, Pomponazzi wie Ficin, ringen mit dem Problem der Individualität; beide suchen das Phänomen des ‚Selbst‘ zum Zentrum der Psychologie zu machen.“53
4.2. Cajetans Stellungnahme Derartige Unversöhnlichkeiten im Denken bei einer gemeinsamen anthropozentrischen Option zeigen den erheblichen Klärungsbedarf an. Der Wahrheitsanspruch der christlichen Verkündigung musste neu plausibel gemacht werden. So wurde etwa die von Pico stark betonte Gottunmittelbarkeit des Menschen zum Teil gegen die kirchlich-sakramentale Vermittlung des Heils ins Feld geführt. Die Bemühungen um eine Erneuerung der Gnadenlehre gingen stellenweise einher mit einem latenten oder offenkundigen Pelagianismus in Schriften und Predigten.54 Kontemplation und weltlich-tätiges Leben traten – etwa zwischen Ficino und Pomponazzi – in einen unversöhnlichen Gegensatz, der durchaus Parallelen zu Luthers Kampf gegen die Werkgerechtigkeit aufweist. In einzelnen Persönlichkeiten konnten die divergierenden Elemente zusammengehalten werden. Im Zuge der Entwicklung und Tradierung von Denkwelten drohte jedoch die spiritualistische Richtung die Verbindung zur Welt zu verlieren, während das naturalistische Denken in Tendenzen zu einer Ethik der Selbsterhaltung mündete. Letztlich war der „alte Kampf, der Kampf zwischen ‚Spiritualismus‘ und ‚Naturalismus‘ […] auf diesem Boden nicht zu entscheiden. Die psychologischen Systeme der Frührenaissance besitzen hier im Wesentlichen nur das Verdienst, dass sie den Grundgegensatz auf seinen schärfsten Ausdruck bringen […] Die theoretische Seelenlehre bleibt zwischen zwei divergierenden Grundansichten gespalten. Wo sie, wie in der Florentinischen Akademie, den Weg des Spiritualismus verfolgt, da muss sie zuletzt den Wert der Natur tief herabwürdigen; wo sie, wie in der Psychologie Pomponazzis, ‚Seele‘ und ‚Leben‘ als eine Einheit fasst, da geht ihr jede Sonderstellung des Geistes und der ‚höheren‘ intellektuellen und ethischen Funktionen verloren.“55
Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (wie Anm. 19),
53
148.
54 Vgl. Trinkaus, Charles, In Our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, 2 Bände, Chicago 1970; vgl. ebd., Band 2, 615–650. 55 Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (wie Anm. 19), 149.
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Cajetan der Humanist ist noch weniger bekannt als Cajetan der Aristoteliker. Doch ohne Cajetan als humanistischen Denker wahrzunehmen, fehlt ein entscheidendes hermeneutisches Kriterium, um seine Predigten am Renaissancehof der Päpste und seine anthropologisch verlagerte Theologie zu verstehen. Einem Kolloquium in Neapel vom 1. bis 3. November 1990 unter dem Titel „Rationalisme analogique et humanisme théologique. La culture de Thomas de Vio ‚Il Gaetano‘“56 kommt das Verdienst zu, die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Cajetan und der humanistischen Bewegung seiner Zeit aufgewiesen zu haben. Seine praedicationes sind orationes gemäß der Redekultur der Renaissance. Seine klassisch-antike Bildung ist frappant und macht die Übersetzung seiner Reden vor den Päpsten zu einer anspruchsvollen Aufgabe, die weit schwieriger zu bewältigen ist als die Übersetzung seines Thomaskommentars. Ein Beispiel unter zahllosen anderen aus Cajetans Werken außerhalb der orationes sei seiner Einführung für den Kommentar zu Peri hermeneias von Aristoteles entnommen; hier verwendet er ein Zitat aus Horaz, De arte poetica, um den Leser von seiner Absicht in Kenntnis zu setzen: „Humano capiti cervicem nitor equinam – Addere: da veniam, si nova monstra juvant“57 – „Mit einem menschlichen Haupt stütze ich mich auf den Hals eines Pferdes; hinzuzufügen ist: sei nachsichtig, wenn neue Monster helfen“. Cajetan erläutert seine Anspielung mit dem Kommentar: Thomas, das menschliche Haupt, hat die Arbeit begonnen; er selbst ordnet sich seinem Meister unter, indem er sich mit dem Körper eines Pferdes vergleicht, der dem glorreichen Haupt des Thomas Halt gibt. Klassische Bildung, Renaissancestil, Aristoteles-Interpretation und der Bezug zu Thomas von Aquin sind in rhetorischer Form verschmolzen. Als weiteres Beispiel für Cajetans fruchtbaren Bezug zur humanistischen Welt kann sein Austausch mit Erasmus angeführt werden, der durch ein gewisses Ungleichgewicht der Wahrnehmung gekennzeichnet ist. Erasmus neigt zur Übernahme aller negativen Urteile über Cajetan aus Quellen dritter Personen, doch im direkten Austausch drückt er seine Wertschätzung aus. Cajetan seinerseits sympathisiert mit den Thesen des Erasmus, insbesondere im Hinblick auf neue Methoden im Studium der Heiligen Schrift. „Die Historiker sind sich in der Aussage einig, dass Rom in den 1530er Jahren Erasmus wohlwollend begegnete. Diese Haltung war zum Teil das Werk des Kardinals von St. Sixtus [Cajetan].“58
56 Pinchard, Bruno / R icci, Saverio (Hg.), Rationalisme analogique et humanisme théo logique. La culture de Thomas de Vio ‚Il Gaetano‘, Neapel 1993 (Biblioteca europea 2). 57 Thomas de Vio Cajetan, Commentaria in reliquum libri secundi Peri hermeneias, Commentaria in reliquum libri secundi Peri hermeneias (a lectione III ad finem) [1496]; englische Übersetzung von T. Oesterle: Medieval Philosophical Texts in Translation 11, Milwaukee, WI 1962. 58 Von Gunten, Franciscus A., Cajétan dans la correspondance d’Érasme, in: Pinchard / Ricci (Hg.), Rationalisme analogique (wie Anm. 56), 297–323, hier 321 f.
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5. Predigttheorien – von der Scholastik zur Reformation 5.1. Eine Arbeitshypothese Eine Arbeitshypothese kann auf dem Hintergrund der vorausgehenden Abschnitte aufgestellt werden: Cajetan steht inmitten von Gestalten, die in ihrem Denken und Handeln die verschiedenen geistigen Kräfte ihrer Zeit nicht zu vereinbaren mögen: das Bekenntnis des christlichen Glaubens – die Theologie – die Philosophie – die Renaissance mit ihrer anthropozentrischen Grundhaltung – den Einsatz für die Reform der Kirche. Nuancierter betrachtet: – die gläubige christliche Existenz inmitten von geschlossenen Weltanschauungen, die mit den Glaubenslehren nicht kompatibel sind; – die theologische Tradition der Scholastik, insbesondere des hl. Thomas von Aquin; – die philosophische Denkwelt in den Spuren von Platon und Aristoteles; – das humanistische Ideal der Größe des Menschen und ein entsprechendes, vom Menschen ausgehendes und auf ihn bezogenes Denken der Renaissance; – die Bereitschaft, das intellektuelle Engagement für ein rational verantwortetes Denken mit dem Einsatz für die Reform der Kirche und des menschlichen Gemeinwesens zu verbinden. Cajetan teilt vollständig nicht nur die Fragen seiner Zeitgenossen; er teilt ihre Mentalitäten, ihr Lebensgefühl, ihre intellektuellen und religiösen Bestrebungen. Doch im Unterschied zu vielen anderen versöhnt er die geistigen Bewegungen, die in ihm zusammentreffen, mit einer unglaublichen Kraft der Synthese und macht sie auf diese Weise fruchtbar für die Zukunft. Beispiele sind bereits direkt oder indirekt angeführt worden: – Marsilio Ficino verwirft die Schönheit der Welt, um durch sie hindurch zur Schönheit Gottes zu gelangen. – Giovanni Pico della Mirandolas groß angelegter Versuch einer Apologie der christlichen Wahrheiten war letztlich ein Werk des Geistes, das ohne Auswirkungen auf das kirchliche Leben blieb. – Pomponazzi verwirft die Rationalität des Glaubens bis hin zur Unsterblichkeit der Seele, um die irdische Größe des Menschen und seine moralische Verantwortung sicherzustellen. Seine Treue zur Glaubenslehre kann er nur um den Preis einer gewissen fideistischen Willkür durch Berufung auf Offenbarung und kirchliches Lehramt wahren. – Und Luther? Im Grunde hält er allein am ersten Prinzip fest: am Glauben, der sich radikal von allen sekundären Erscheinungsformen der philosophischen und auch der theologischen Reflexion abgrenzt, vom anthropozentrischen Ideal der Renaissance und vom moralphilosophisch konzipierten Aufruf zur Selbstkultivierung der Individualität. Ja, man könnte fragen, ob sich nicht
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auch die Kirchenreform auf diese Weise auf die radikale Affirmation des Glaubens reduziert. 5.2. Ergebnisse eines internationalen Kolloquiums „Theologie und Philosophie in der Gestalt der Predigt: Von Thomas von Aquin bis Johannes Calvin“ – unter diesem Titel fand im Dezember 2013 in Paris ein wissenschaftliches Kolloquium anlässlich der kritischen Edition der Predigten des Thomas von Aquin statt.59 Die Beiträge führender Expertinnen und Experten in diesem umfangreichen und noch lange nicht aufgearbeiteten Forschungsbereich ermöglichen eine breitere Situierung von Cajetan als Prediger im Kontext von Scholastik, Renaissancehumanismus und beginnender Reformation. Bemerkenswert ist zunächst die Aufmerksamkeit für die Predigt im Werk von Denkern, die in der Regel als Theologen und Philosophen wahrgenommen und interpretiert werden. 5.2.1. Thomas von Aquin Die neue Ausgabe der Predigten des Thomas von Aquin umfasst 21 Predigttexte und zwei Predigtfragmente,60 die Adriano Oliva in seinem Beitrag für das Pariser Kolloquium auswertet.61 Ein wesentliches Ergebnis liegt in der klar erkennbaren Kontinuität zwischen Thomas dem Theologen und Thomas dem Prediger. Zusätzlich zu seiner Predigttätigkeit lässt sich bei Thomas eine ausgearbeitete „Theologie der Predigt“ feststellen, die trinitätstheologisch verankert ist: Der Vater zeugt den Sohn von Ewigkeit und sendet ihn in der Zeit zur Rettung und Heiligung der Schöpfung, die durch die Eingießung der Liebe des Heiligen Geistes erfolgt. Christus ist nicht zunächst der Inhalt der Predigt, sondern das Modell des Predigers, der sich seine Apostel gleichgestaltet. „Wie die Predigt Christi das Modell der Predigt der Apostel ist, so ist die Predigt der Apostel das Modell jeglicher Predigt in der Kirche.“62 Es handelt sich nicht um eine moralische, sondern um eine sakramentale Gleichförmigkeit. Ihr Fundament ist die Gottebenbildlichkeit, die sich in der Gnade zur Ähnlichkeit mit Gott entfalten kann und dabei die Verdunkelung des göttlichen Bildes durch die Sünde überwinden muss. Diese Grundlegung betrifft alle Artikulationen der Theologie, die Thomas bevorzugt sacra doctrina nennt: „von der Heiligen Schrift selbst bis zur 59 Thomas d’Aquin, Sermons. Traduction française d’après le texte latin de l’édition Léonine. Introduction et commentaire de Jean-Pierre Torrell OP, Paris 2014. Mehrere Beiträge zum Pariser Kolloquium erschienen in RSPhTh 97 (2013) und 98 (2014). 60 Nicht alle Texte sind in völliger Eindeutigkeit Thomas von Aquin zuzuschreiben; die Edition gibt Rechenschaft über den Status der Authentizität gemäß den aktuellen Forschungen. 61 Vgl. Oliva, Adriano, Philosophie et théologie en prédication chez Thomas d’Acquin, in: RSPhTh 97 (2013), 397–444. 62 Ebd., 410.
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Predigt, von biblischen Kommentaren bis zu systematischen Werken“.63 Folglich kann Thomas ohne Polemik und Abgrenzung philosophische Referenzen in die theologische Argumentation zu pädagogisch-paränetischen Zwecken integrieren. Die „ungeschaffene Weisheit“ steht am Ursprung der philosophischen wie der theologischen Wissenschaft, die daher auf dieselbe höchste Quelle verweisen. Entschieden tritt der Aquinate denjenigen entgegen, die den Glauben durch die Annahme einer „doppelten Wahrheit“ zu schützen meinen.64 5.2.2. Martin Luther Es bietet sich an, die Auswertung von Martin Luthers Sicht der Predigt durch Philippe Büttgen im unmittelbaren Kontrast zu Thomas anzuschließen.65 Büttgen, der sich als historisch arbeitender Philosoph in den letzten Jahren wiederholt mit dem Werk Luthers befasst hat,66 versucht, die Theorie der Predigt in ihrer Genese bei dem Reformator auszumachen. Er kommt gleichsam zu dem entgegengesetzten Ergebnis wie Oliva für Thomas von Aquin: Es zeigt sich eine klare und paradoxe Diskontinuität zwischen Dr. Martin Luther, dem Universitätstheologen, und Bruder Martin, dem predigenden Mönch und Reformator. Ausgangspunkt für Luthers Predigtlehre ist die fides ex auditu, der Glaube, der aus dem Hören stammt, gemäß Röm 10,17. Gegen das „geistliche Hören“ der Schwärmer bindet Luther die Predigt an den physisch anwesenden Prediger. „Dieses Hören braucht den Prediger, denn ohne Prediger gibt es kein Hören, wie es ohne Lehrer keinen Schüler gibt. Der Prediger aber wird dich alles lehren, sowohl die Erkenntnis deiner Bedürftigkeit als auch die Erkenntnis und die Anrufung Gottes“.67 Aus der viergliedrigen Formulierung in Röm 10,14–17 entfällt die Entsendung der Prediger. Das „kirchliche“ Element bleibt erhalten in der Konstitution eines predigenden Klerus, der unmittelbar mit der Macht des Wortes Gottes identifiziert wird. Christus, bei Thomas im trinitarischen Horizont als Quelle und „Subjekt“ der Predigt verstanden, wird von Luther unermüdlich als „Objekt“ der Predigt, gemeinsam mit dem Glauben, thematisiert. Der Geist wird dabei mit einem armseligen, verlachten Zitherspieler verglichen, der nur die eine Saite seines Instruments mit Namen Christus anzuschlagen vermag.68 63 Ebd.,
416. Vgl. ebd., 417 mit Anm. 70. 65 Vgl. Büttgen, Phillipe, Luther et l’objet de la prédication, in: RSPhTh 98 (2014), 563– 580. 66 Vgl. die Verweise in seinem Artikel und oben Anm. 33. 67 WA 29, 380,24–28: „Auditus ille indiget Praedicatore, quia absque praedicatore nullus est auditus, sicut absque praeceptore nullus potest esse discipulus. Praedicator autem te omnia docebit tam necessitatis tuae cognicionem quam dei cognicionem et invocacionem“; zit. nach: Büttgen, Luther (wie Anm. 65), 568 mit Anm. 14. 68 Vgl. ebd., 577 unter Bezug auf WA 36, 181,2–11: „[…] Ridetur cytharedus. Sic spiritus sanctus, qui tantum auff einer seyten“. 64
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Entscheidend für Büttgen ist die Wahrnehmung des Bruchs nicht nur mit der Philosophie, sondern auch mit der Theologie im Namen der Predigt: Die Scholastiker mit ihren opiniones sind unfähig, auch nur eine einzige Predigt hervorzubringen.69 Martin Luther, der Doktor der Theologie, „präsentiert sich als Prediger, und als Prediger allein. Er tut dies, um seine Universitätskollegen zu disqualifizieren, die doch wie er Prediger sind. Dieses Argument hat nach meinem Wissen nie eine Reaktion erfahren, nicht einmal von Prierias, der als Predigerbruder doch sicher darin die Ungerechtigkeit spüren konnte. Ohne Zweifel war es im eigentlichen Sinne unvorstellbar, dass ein Theologe die Einheit seiner akademischen und kirchlichen Aufgaben brach, und noch unvorstellbarer, dass er dies tat, um seine Kompetenz als Theologe zu demonstrieren. Genau das aber tut Luther in diesem Übergang, der eigentlich seiner Art nach einzigartig ist.“70
Büttgen schließt mit der Wahrnehmung einer Diskontinuität zwischen Theologie und Predigt bei Luther, die insofern paradox endet, weil sie einer Selbstaufhebung der Theologie gleichkommt: „Die Theologie der Predigt, die er als Ergänzung zu seiner Theologie des Wortes versuchen wird zu errichten, weckt Interesse durch ihr Vermögen, für die Theologie einen ganz anderen Ort als die Universität zu bezeichnen. Sie wird dazu gelangen, diesen Ort zu bezeichnen – den Klerus des Wortes allein –, doch nicht fähig sein, sich dort zu halten“.71
5.2.3. Cajetan als „Renaissancescholastiker“ Auch zu einer näheren Einordnung von Cajetan als Prediger vermag das Pariser Kolloquium beizutragen: Amos Edelheit legt die innere Pluralität unter den Renaissancedenkern exemplarisch dar, indem er zwischen „Renaissancehumanisten“ und „Renaissancescholastikern“ unterscheidet.72 Letztere, zu denen wohl auch Cajetan gerechnet werden sollte, teilen die humanistische Grundstimmung und den Bezug zur umfassenden Entfaltung des Menschen, doch sie tun dies in Treue zur scholastischen theologischen Tradition, die sich in neuen Kontexten artikuliert, aber keinesfalls als Erbe einer unaufgeklärten Vorzeit verworfen wird. Aufschlussreich ist das von Edelheit gewählte Beispiel des Dominikaners Giovanni Caroli (1428–1503), dessen Auseinandersetzung mit Giovanni Pico della Mirandola überliefert ist, während wir zu Cajetans offensichtlich scharfer Opposition gegen den Renaissancehumanisten über keine inhaltliche Dokumentation verfügen. Caroli gehörte – wie Cajetan – zu der Reformbewegung der „Obser69 Vgl. ebd., 571 mit Anm. 21: „Darumb solt yr auch keynn tweyffell haben, und lasst doctores Scholasticos scholasticos seyn, sie seyn allsampt nit gnug mit yhren opinien, das sie eine prediget befestigenn solten“: WA 1, 246,28–30. 70 Ebd., 572. 71 Ebd., 579. 72 Vgl. Edelheit, Philosophy and Theology in an Oral Culture (wie Anm. 37), 479–496.
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vanten“, die dem einflussreichen Prediger von San Marco, Girolamo Savonarola, kritisch gegenüberstanden. Was bewegte Caroli zu einer Kritik an Pico, dem es doch ebenfalls um ein umfassendes Programm der Kirchenreform ging? Er präsentiert seine theologischen Anfragen 1498 in einem (unveröffentlichten) Traktat Super quibusdem conclusionibus Iohannis Pici Mirandule principis.73 Auf den ersten Blick gleicht die Kritik der protestantischen Skepsis gegenüber der Philosophie: Pico stütze sich zu sehr auf Philosophie und theoretische Spekulationen und verdecke damit den Vorrang der Glaubensartikel, die als göttliche Offenbarung wichtiger sind als intellektuelle Debatten und Interpretationen, welche aus dem menschlichen Geist hervorgingen. Ohne Zweifel sei Pico ein „höchst gelehrter Mann“ (eruditissimus vir), doch in theologischen Fragen rede er „wie eine Elster, nicht wie ein Verteidiger des katholischen Glaubens, wie es doch sein muss“.74 Caroli verwirft nicht die Gelehrsamkeit als solche. Doch er erwartet vom Prediger die Fähigkeit, sich aus derselben Quelle des Wortes Gottes in einer pastoralen Weise an die Glieder der kirchlichen Gemeinschaft zu wenden, um sie im Glauben zu erbauen. Seine eigene Fähigkeit, einerseits an den komplexen Debatten zur zeitgenössischen Moralpsychologie mitzuwirken und andererseits in einem persönlich gehaltenen Stil zu predigen, der auf das Zitieren vieler theologischer und philosophischer Autoritäten verzichtet, kann nicht weniger als Beitrag zur „Modernisierung“ betrachtet werden als das intellektuelle Projekt von Giovanni Pico della Mirandola. Cajetan steht ohne Zweifel in der Tradition des trinitarisch-sakramental verstandenen Konzepts der Verkündigung, das bei Thomas grundgelegt ist, und hält in dieser Linie an der Einheit von Theologie und Philosophie, von gelehrter Disputation und Predigt, in ihrem gemeinsamen Ursprung in der göttlichen Weisheit fest.
6. Ein erster Blick auf Cajetans Predigten am Papsthof 6.1. Geschichtliche Hintergründe In seinem Grundlagenwerk Praise and Blame in Renaissance Rome gibt John O’Malley einen Überblick über „Rhetorik, Lehre und Reform in den Ordenspredigern des Päpstlichen Hofes von 1450 bis 1521“.75 Um den neuen Stil des Predigens am päpstlichen Hof einzuordnen, etabliert er eine klare Unterscheidung: 73 Das Manuskript befindet sich in der Biblioteca Nazionale Centrale, Conv. Suppr C.8.277, ff.224r–263v; vgl. Edelheit, Philosophy and Theology in an oral culture (wie Anm. 37), 489. 74 Ebd., 489: „Ergo in hac parte Picus ut pica locutus est, non ut assertor fidei catholice ut esse debuerat“; man beachte das Wortspiel zwischen „Pico“ und „pica“, die Elster. 75 O’Malley, Praise and Blame (wie Anm. 38).
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Die klassische thematische Predigt wird ersetzt durch das genus demonstrativum, eine „epideiktische“, d. h. aufweisende Predigt, die an die klassische Rhetorik anknüpft. Der Papsthof entwickelt einen eigenen Stil von Predigten als orationes, insbesondere seit der Errichtung der Sixtinischen Kapelle, die in sich eine Demonstration der Autorität, Würde und Ehre des Papsttums darstellt. Die Päpste predigen nun nicht mehr selbst, sondern die Predigten finden – während der Liturgie – in Gegenwart des Papstes statt. Eine recht klare und stabile Ordnung stellt sich ein, trotz aller Ausnahmen und Abweichungen in Länge und Qualität. Der Magister sacri palatii, d. h. der päpstliche Haustheologe, wählt die Prediger gemäß einem bestimmten Schema: Die ersten Sonntage des Advent und der Fastenzeit sind für die Dominikaner reserviert, in der Regel vertreten durch die Generalvikare des Ordens, die zweiten Sonntage für die Franziskaner, es folgen die Augustiner und die Karmeliten. Erwartet wird ein exquisiter lateinischer Stil, geprägt durch außerordentliche Gelehrsamkeit. Fünfzehn Minuten sollten nicht überschritten werden, wenngleich diese Begrenzung offenbar nur selten eingehalten wurde. O’Malley nennt die neue Predigt in Form der oratio „dogmatisch“ – eine Bezeichnung, die eher Verwirrung stiftet, weil sie an die alte „thematische“ Predigt erinnern könnte. Am Renaissancehof der Päpste geht es nicht um eine wissenschaftliche Argumentation, sondern um die ars suadendi oder dissuadendi, die Kunst, die Zuhörenden von etwas zu überzeugen oder abzubringen. Der Prediger soll sichtbar werden lassen, was er ausdrückt. Die Wahrheit wird „gezeigt“ und „gefeiert“, nicht allein argumentativ bekräftigt. Der Stimmung der Renaissance gemäß ist ein Bezug zum Leben gefragt, eine ars bene beateque vivendi, die Kunst des guten und glücklichen Lebens, die nicht nur den Intellekt anspricht. Dieser Stil der oratio passt sehr gut zur Liturgie, die als Feier der göttlichen Herrlichkeit auf Erden selbst dem genus demonstrativum zuzurechnen ist. Es ist nicht erstaunlich, dass O’Malley Cajetan nicht eindeutig den von ihm etablierten Kategorien zuweisen kann: Trotz der rhetorischen Form einer oratio stößt er auf zu viele thematisch-theologische Aspekte. Unbezweifelbar ist allerdings die rhetorische Brillanz des Stils. Volker Reinhardt, Professor der Geschichte der Neuzeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg, hat auf meine Bitte seinen Eindruck über die Sprachgestalt von Cajetans fünf orationes formuliert: „Nachdem ich die bemerkenswerten orationes durchgesehen habe, haben sich folgende Eindrücke in mir eingestellt: Sprache und Argumentationsformen sind zutiefst durch den Stil der Humanisten an der römischen Kurie geprägt, etwa wie die zeitgenössischen Reden, die von Aegidius Romanus erhalten sind. Cajetans Vokabular ist erlesen, oft außergewöhnlich. Das Spektrum seiner Ausdruckskraft ist abwechslungsreich und hat offenbar eine klassische Färbung, sogar in den am stärksten ‚scholastischen‘ Passagen. Dieser Bezug zur antiken Rhetorik ist umso angemessener, als die orationes sich zum Ziel setzen, die Zeit vor und nach Christus in Verbindung zu setzen, durch den Glauben
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das zu versöhnen, was unversöhnbar erscheint, die Natur und das Übernatürliche zu vereinen. Insbesondere sind – vor allem in der ersten oratio – gewisse Anklänge an Pico della Mirandola festzustellen und – was angesichts des rhetorischen Charakters der Texte nicht überrascht – an Quintilian und Cicero“.
6.2. Cajetans Predigten in ihrer inneren Einheit Die Themen der fünf orationes am Papsthof wurden sicherlich von Cajetan selbst gewählt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie von vornherein als strukturierte Gesamtheit konzipiert waren. Sie weisen ein klares anthropozentrisches Profil auf, das in gewisser Weise radikaler ist, als wir es bei Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola antreffen. Denn seine Anthropozentrik wurzelt in einer ganz und gar klassischen Theologie, die nun als Anthropozentrik Gottes selbst erhellt wird. Mitten in einem strikt theozentrischen Ansatz – und letztlich gerade wegen dieser Perspektive – kann und muss der Mensch in seiner Größe sich den tiefsten Abgründen aussetzen, dem übermäßigen Elend der menschlichen Existenz. Nicht zufällig steht also die oratio zum Thema „Über Grund und Ursprung des Übels“ im Zentrum der Gesamtkomposition. Immer wieder kommt Cajetan auf die unvergleichliche Sonderstellung des Menschen im geschöpflichen Kosmos zu sprechen. Er beantwortet dabei explizit oder implizit die weltanschaulichen Fragen, die wir im Kontext der Aristotelesrezeption und der humanistischen Debatten um das Menschenbild kennengelernt haben: Zwischen Tier und Mensch besteht kein einfacher Gradunterschied, sondern ein Sprung. Ja, der Mensch ist weiter entfernt von der höchsten Gattung der übrigen Lebewesen als das höchststehende Tier vom niedersten aller Körper.76 Er geht im Gegensatz zu den übrigen Geschöpfen nicht aus Wandlungen der Materie hervor; sein Geist stammt vielmehr „von außen“, d. h. er ist unmittelbar auf göttliche Schöpfung zurückzuführen. Während die Tiere durch Fell, Federn, Hörner etc. von der Natur selbst mit den notwendigen Bedingungen ihrer Erhaltung ausgestattet sind, ist der Mensch ein „Mängelwesen“: Er verfügt für all seine Aufgaben nur über seine Hände, die ihm zum „Werkzeug der Werkzeuge“ werden. Dem Menschen als einzigem unter den Lebewesen ist seine Handlungsweise nicht vorgegeben. Er ist nicht festgelegt auf die Sorge um Wohlbefinden, Nahrung und Nachkommenschaft; vielmehr kann er sich über diese Bedürfnisse erheben und sich auch am Zweckfreien erfreuen, höhere Werte wie etwa einen anerkannten Namen und Ehre anstreben, ja sogar um ihretwillen sein Leben hingeben. Dies alles weist hin auf seinen Ursprung „aus der Höhe“, der seine Natur in eine andere Ordnung erhebt und damit das Höchste mit dem Niedrigen, Zeit und Ewigkeit verbindet. Ein knapper Überblick über den Gehalt der fünf orationes kann die innere Verbindung sichtbar machen: 76 Vgl. Thomas de Vio Cajetan, Opuscula omnia (wie Anm. 1), 187b; vgl. Hallensleben, 141–143.
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1) Kraft und Wirksamkeit des Gebets: Die Größe des Menschen liegt in seiner Berufung nicht nur zum Kind Gottes, sondern zum Mitarbeiter Gottes, dem Gott nicht nur seine „Gaben“ gewährt, sondern den er in sein Heilswirken einbezieht. Ja, der Mensch ist plastes et fictor sui,77 doch nicht nur in der Autonomie seiner irdischen Existenz. Durch sein Zusammenwirken mit Gott überschreitet er eine bloß naturhafte Kausalität. Diese Berufung gründet in seiner Teilhabe an der Natur Gottes, die ihn in das extra nos des Schöpfers einbezieht. Hier ist die Anknüpfung an Aristoteles unverkennbar: „Daher überliefert Aristoteles sehr klar, dass Gott in seiner glanzvollen Herrlichkeit als höchstes Gut des Universums nicht darin eingeschlossen ist, sondern außerhalb des Universums existiert. Nicht nur seine Natur allein ist von den Gesetzen jeder natürlichen Ordnung befreit, sondern wir sagen auch, dass in Wahrheit gewisse Formen der Teilhabe am Göttlichen davon ausgenommen sind. Wie wir glauben, gibt es einen gewissen Modus von Dingen, die zwar zweifellos den meisten mit Vernunft ausgestatteten Wesen zuteilwerden, von denen wir jedoch predigen, lehren und aufweisen, dass sie jemandem durch keine Autorität konnatural werden können: das sind Gnade, Liebe, das Licht der Herrlichkeit und vieles dieser Art. Diese Wesen sind daher über die gesamte Natur, die geschaffene und die der Möglichkeit erschaffbare, erhaben, denn sie reichen an die göttliche Ordnung heran oder gar – wenn dieser Ausdruck gestattet ist – an die göttlichen Eigenschaften.“78
Cajetan sagt die größtmögliche Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch aus, die bei der klaren Unterscheidung von Schöpfer und Schöpfung denkbar ist. Das Heil berührt für ihn die gesamte geschöpfliche Natur, sie stiftet Heil nicht nur für den Sünder, sondern für die Weltordnung. „Die Kraft der Gebete ist nicht eingeschränkt auf den heiligen Winkel des Betenden. sie erstreckt sich bis an die fernsten Enden, sie durchzieht alles, erreicht die Ziele aller Dinge, durchdringt und durchtränkt sie […] Insofern nun die Gebete aus dem reinen Herzen der Menschen hervorgehen, so bezeugt die Wahrheit, ist ihrer Herrschaft alles unterworfen, richtet sich alles nach ihnen, kann nichts ihnen entfliehen. Alles, worum ihr betet und bittet – glaubt nur, dass ihr es schon empfangen habt, dann wird es euch zuteil (Mk 11,24)“.79
Der eine und dreifaltige Gott ist – wie bei Thomas – für Cajetan nicht nur der Inhalt der Predigt, sondern deren innere Form: Wer betet, verwirklicht die 77 Siehe
oben Anm. 49. Thomas de Vio Cajetan, Opuscula omnia (wie Anm. 1), 182a: „Quamobrem praeclare Aristoteles gloriosum Deum summum bonum universi, non in ipso clausum, sed extra ipsum tradidit. Nec ipsius sola natura, cuiuscumque naturalis ordinis legibus est absoluta, verum divinas etiam quasdam participationes fatemur exemptas. Credimus modum quendam rerum esse, quas etsi impartiri plerisque intellectu praeditis non ambigimus, connaturalis tamen alicui nulla authoritate fieri posse praedicamus, docemus, demonstramus: sunt autem gratia, charitas, lumen gloriae, & id genus multa. Quae idcirco super omnem elevantur naturam & creatam, & quae creari posset, quia divinum assequntur ordinem, veluti deitatis (si fas est dicere) proprietates.“ 79 Ebd. 78
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Ähnlichkeit mit der göttlichen Güte durch das „eingeprägte Abbild der allerheiligsten Dreifaltigkeit“, „so dass wir den Geist der Erlösung, den wir vom Antlitz des Herrn kennengelernt und mit dem wir schwanger gegangen sind, einmal durch unsere eigenen Verbindungen gebären werden“.80 Dieses heilsgeschichtliche filioque, das den Gläubigen in und durch Jesus Christus verheißen wird, stellt den Höhepunkt der ersten und längsten Predigt Cajetans am Papsthof dar. 2) Die Einigung des Wortes mit der menschlichen Natur: Der Auftakt zur Größe menschlicher Berufung setzt sich folgerichtig fort in der Angabe der Bedingung der Möglichkeit dieser herausragenden Würde: Indem die menschliche Natur durch Gott selbst in Jesus Christus angenommen wurde, ist sie zur göttlichen Personalität erhoben. Ein äußerst dichter und präziser Durchgang durch die christologische Dogmenentwicklung mit ihrer spezifischen Begriffsbildung und ihrer Abgrenzung von häretischen Fehlentwicklungen nähert die Predigt in der Tat einer dogmatischen Vorlesung an. Doch ein Staunen durchzieht den gesamten Text und mündet in einen Lobpreis der Wunder Gottes im Spiegel der Größe des Menschen: Die menschliche Natur ist inniger mit Gott verbunden als die Person des Sohnes mit der Person des Vaters, denn es handelt sich um eine Einheit in Person, während Sohn und Vater sich der Person nach unterscheiden: „Dies ist, was sich vor allen Wundern so sehr auszeichnet, dass ich nicht von den übrigen Wundertaten Gottes rede (die wir, gründlich betrachtet, loben, bewundern und bestaunen). Dieses Wunder übersteigt bei weitem die gesamten Wunder, von denen wir glauben, dass sie geschehen können: da nun einmal ein Mensch, geboren in der Stadt unseres Fleisches, selbst der Allerhöchste ist, der sie geschaffen hat. Das ist jenes große und apostolische Geheimnis/Sakrament […].“81
3) Ursache und Ursprung des Übels: Cajetans Denkweg entfaltet sich organisch: Die staunenswerte Größe des Menschen unterliegt der Bewährung angesichts der Bedrohung durch das Übel und den Tod. Cajetan fragt nicht nur nach dem Ursprung des Übels, sondern „aus welchem Grund das Menschengeschlecht mehr als alle anderen vom Übel heimgesucht ist“.82 Über 200 Jahre vor dem Essai de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal von Leibniz (1710) geht Cajetan über die Antwort des Philosophen hinaus. In seinem denkerischen Anweg unterscheidet Cajetan zwei Arten von Naturen: diejenigen, die unfehlbar ihr Ziel erreichen – etwa die Himmelskörper gemäß 80 Ebd., 182b: „impresse santissimae Trinitatis imago […] ut quem a facie Domini concepimus, & parturivimus Spiritum salutis, propriis nexibus quandoque pariamus“. 81 Ebd., 184b: „Haec est quae prodigiis omnibus adeo praestat, ut ne dicam caetera mirabilia Dei opera (quae vel tenuiter inspecta laudamus, miramur & obstupescimus) sed miracula universa quae fieri posse credimus longo supereminet intervallo, quandoquidem homo, qui natus est in civitate carnis nostrae, idem ipse est altissimus, qui fundavit eam. Hoc est magnum illud, atque Apostolicum sacramentum […].“ 82 Ebd., 185a.
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dem Verständnis der Zeit; und diejenigen, die von ihrer Entelechie abweichen können. Die Menschen gehören in diese zweite Kategorie, die zunächst hinter der ersten Gruppe zurückzustehen scheint. Bis hier teilt Cajetan die künftige Argumentation von Leibniz: Das Gut der Freiheit impliziert die Möglichkeit einer Verfehlung. Wir können der Kette der Ableitungen folgen: „Das Übel geht aus der Abweichung vom Guten in der Natur, aus der Wandelbarkeit hervor; die Wandelbarkeit aus der Möglichkeit; die Möglichkeit aus der Endlichkeit; die Endlichkeit wiederum entsteht aus dem Nichts. Daraus folgt: Wo immer Übel vorliegen, bestehen sie deshalb, weil diejenigen, die den Übeln unterworfen sind, aus dem Nichts kommen.“83
Doch Cajetan hält an dieser Stelle nicht an. Die Übel dieser Zeit werden nicht verrechnet mit anderen größeren oder geringeren Übeln im Bereich der Endlichkeit, sondern bilden die selbst für Gott unvermeidbare Kehrseite der menschlichen Erhebung zur Personalität in und mit Gott, zur Subsistenz im ewigen Leben: „Und insofern es nicht in Gottes Vermögen liegt, dass Geschöpfe existieren und zugleich nicht aus dem Nichts hervorgehen, ist es unausweichlich, dass es Übel gibt, wenn doch die Welt subsistieren soll.“84 „Wenn doch die Welt subsistieren soll …“ ist kein unbedeutender Nachsatz, sondern enthält den gesamten Nachdruck in Cajetans personbezogenem Denken: Weil Gott den Menschen zur Personwerdung in der Person seines Sohnes durch das Wirken des Heiligen Geistes bestimmt und ihn in den Weg der Verähnlichung einbezieht, deshalb ist das Übel als Korrelat des unabdingbaren Werdens im Endlichen nicht nur im Zuge einer Güterabwägung hinnehmbar – wie Leibniz argumentieren wird –, sondern für Gott selbst ontologisch unvermeidbar. 4) Die Unsterblichkeit der Seelen: So zentral dieses Thema für Cajetan und die Auseinandersetzung um sein Werk auch ist,85 so sehr reichen auf dem skizzierten Hintergrund einige wenige Bemerkungen: Cajetan, dem vorgeworfen wurde, die Möglichkeit einer philosophischen Begründung der Unsterblichkeit der Seele negiert zu haben, präsentiert in dieser Predigt seine ganz und gar klassische Argumentation: Da wir über die Fähigkeit verfügen, die naturhaften körperlichen Dinge zu beurteilen, kann unsere Erkenntnis keine Funktion unseres Körpers sein. Während Cajetan in der Regel um eine nüchterne, ausgewogene Sprache bemüht ist, kommt hier sein ganzer Zorn in einem Angriff zum Ausbruch, der 83 Ebd., 185b: „malum ex naturali boni defectu, ex mutabilitate, mutabilitas ex possibilitate, possibilitas ex finitudine, finitas demum soboriatur ex nihilo: consequens est, ut quaecumque mala sunt, idcirco sint, quoniam illa quae malis subiiciuntur, ex nihilo veniunt.“ 84 Ebd.: „Et cum potestati non subiaceat divinae, ut creaturae sint, et non ex nihilo, inevitabile est, quin malum sit: si tamen subsistere mundus debet.“ 85 Vgl. Hallensleben, 187–204.
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sich zweifellos gegen Pomponazzi richtet: Die Unsterblichkeit der Seele ist so eindeutig als Wahrheit der Vernunft zu betrachten, „dass nur ein Mann ohne Bildung, ein Unbelehrbarer, ein Schwachkopf, ein stumpfsinniger und dummer Geist die Unsterblichkeit der Seelen in ein unentscheidbares Problem [problema neutrum] verwandeln kann […] Sie wären für bessere Philosophen gehalten worden, wenn sie geschwiegen hätten, als die völlig Unkundigen, wenn sie jetzt so töricht daherschwatzen“.86
5) Die körperlichen Strafen im Fegefeuer: Am Ende der orationes steht ein unerwartetes und ungewöhnliches Thema, das wiederum die Größe des Menschen unter eine Bewährungsprobe in extremis stellt. Nun geht es gleichsam um die Unsterblichkeit des Fleisches, die zur Unsterblichkeit der Seele gehört. Denn der auferstandene Leib wird – wie Cajetan später in seinem Kommentar zu 1 Kor 15,28 schreiben wird, „Fleisch“ (caro) sein.87 In der Renaissancedebatte nimmt Cajetan eine Vermittlungsrolle ein: Die menschliche Geistseele ist kein bloßes Epiphänomen des Leibes, so dass sie mit ihm verginge. Obwohl sie als geschaffene participatio am göttlichen Geist „von außen“ kommt, konstituiert sie die Individualität der menschlichen Person und gerät in ihrer Trennung vom Leib durch den Tod in einen widernatürlichen Zustand. In seinen Schriftkommentaren bringt Cajetan die Grundaussage, die ihn bereits in der vorliegenden Predigt leitet, auf die eindringliche Formulierung: „sumus homines, non animae“ – „Menschen sind wir, nicht Seelen“!88 Mit den leiblichen Höllenqualen steht nicht die Härte der Sündenstrafen auf dem Spiel, sondern letztlich die Größe der Berufung des Menschen, dessen Einzigartigkeit sich in der leiblichen Auferstehung inmitten der Misere des Todes erweist: „Ich bin ja nicht meine Seele. Es steht aber fest: Wenn man in Bezug auf den Menschen so reden würde, wäre das gleichbedeutend mit der Aussage, dass die Menschen nicht auferstehen und es kein anderes Leben als dieses [irdische] gibt.“89
86 Thomas de Vio Cajetan, Opuscula omnia (wie Anm. 1), 187b: „ineruditi, indocilis, tardi, hebetis, stupidique est immortalitatem animorum in problema revocare neutrum […] meliores namque haberentur Philosophi, dum tacerent, quam imperitiores, dum tam inepte garriunt“. Vgl. Pomponazzi, Pietro, De immortalitate animae c. 15, zit. nach: Heidingsfelder, Georg, Zum Unsterblichkeitsstreit in der Renaissance, in: Aus der Geisteswelt des Mittelalters. Studien und Texte Martin Grabmann zur Vollendung des 60. Lebensjahres gewidmet, Bd. 2, hg. von A. Lang et al., Münster i. W. 1935, 1265–1286, hier 1269, Anm. 21. 87 „corpus futurum in resurrectione erit caro“; zu 1 Kor 15,30ff: Epistolae Pauli et aliorum apostolorum, ad graecam veritatem castigatae, & per Reverendissimum Dominum Thomam de Vio, Caietanum, Cardinalem sancti Xisti, iuxta sensum literalem enarratae. Quibus accesserunt Actus Apostolorum commentariis eiusdem illustrati, Paris 1540, 168r. 88 Zu 1 Kor 15,29: ebd., 166v/167r. 89 Ebd., 164v: „Ego enim non sum anima mea. Constat autem relative ad ipsos homines loquendo paria esse non resurgere homines & non esse aliam vitam hominum nisi istam.“
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7. Folgen für die Rekonstruktion der Augsburger Begegnung zwischen Luther und Cajetan Es kann nicht die Aufgabe des vorliegenden Beitrags sein, anhand der relevanten Quellen zur Augsburger Begegnung zwischen Cajetan und Luther die Einflüsse der Prägung darzulegen, die Cajetan in seiner Entwicklung empfangen und entwickelt hat. Zu stark war überdies das Treffen in Augsburg von politischen und kirchenpolitischen Konstellationen überlagert, die eine freie akademische Disputation nicht zuließen. Eines aber sollte klar geworden sein: Cajetan darf nicht als der bornierte Scholastiker gedeutet werden, der Thomas von Aquin in Wortlaut und Denkform zur Norm theologischer Argumentation erhebt. Zu weit ist sein intellektueller Horizont, zu eigenständig sein Denkansatz, zu zeitgenössisch sein Lebensgefühl und seine kirchliche Verortung. Sehr wohl kann aber davon ausgegangen werden, dass er versuchte, Luther in den Horizont des Weltbildes einzuordnen, an dem er so engagiert als Theologe und Philosoph, als Aristoteles- und Thomas-Kommentator, als Humanist und Renaissancescholastiker, als entschiedener Reformer und ebenso entschiedener solidarischer Vertreter der Kirche in ihrer Tradition arbeitete. Auch für Luther können wir davon ausgehen, dass seine Position feststand und dass die schlechten Vorerfahrungen mit Dominikanern wie dem Ablassprediger Tetzel sowie das Autoritätsgefälle zwischen ihm und dem römischen Kardinal nicht dazu beitrugen, sich unvoreingenommen auf ein Gespräch mit Cajetan einzulassen. Gewichtiger als die inhaltlich-theologischen Weichenstellungen, die sich in der Augsburger Begegnung zeigen, ist die grundlegende intellektuelle Einstellung, die sich aus Cajetans Entwicklung ergibt und die markant von Luther abweicht: Theologie kann auf die umfassende, auch philosophisch begründete Arbeit am Weltbild nicht verzichten. Ihr Gegenstand ist die ganze „Natur“, die gesamte Wirklichkeit als Schöpfung, die Gottes Spuren selbst in der Perversion der Sünde in sich trägt und nach Erlösung dürstet. Ihr Gegenstand ist insbesondere der Mensch, der Gottes Bild repräsentiert und eine besondere participatio am göttlichen Geist in der Differenz der Endlichkeit empfangen hat, zum Mitarbeiter Gottes in Christus durch das Wirken des Geistes berufen ist, ja zuhöchst zur „Gottesfreundschaft“.90 Gott der Erlöser ist auch Gott der Schöpfer, die Quelle von Glaube und Vernunft, die Quelle von Theologie und Philosophie, die Quelle von kirchlichem und weltlichem Leben. 90 Thomas de Vio Cajetan, Erste Predigt, Opuscula omnia (wie Anm. 1), 182b: „Quorsum divinae amicitiae munus humano collatum est generi, si amicorum iura servare non possunt? Si cuiusque hominis apud Deum nulla est authoritas? Si quod optat quis optimum potentissimi Dei amicus efficere nequit?“ – „Wozu ist dem Menschengeschlecht die Aufgabe der Gottesfreundschaft übertragen worden, wenn sie die Rechte der Freunde nicht wahrnehmen können? Wenn der Mensch – was er sich auch als Bestes wünschen möge – nicht Freund des allmächtigen Gottes werden kann?“
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Für Cajetan musste Luther als jemand erscheinen, der durch eine allzu einfache, rechthaberisch wirkende Identifikation mit dem Wort Gottes selbst „die Arbeit verweigert“:91 die intellektuelle Arbeit an der Reform des Denkens, die demütige, geduldige Arbeit an der Reform des Leibes der Kirche. Ja, der Leib der Kirche – um mit der fünften Predigt zu sprechen – mag im Fegefeuer sein wegen ihrer Sünden, aber sie ist nicht in der Hölle oder in der rettungslos verworfenen Situation des Antichrist, wo Luther sie zumindest in ihren hierarchischen Repräsentanten zu sehen geneigt war. Soll die Begegnung zwischen Cajetan und Luther in Augsburg 1518 angemessen aufgearbeitet werden, so muss das Gespräch – hoffentlich ohne politische und kirchenpolitische Entstellungen – auf dieser Ebene weitergeführt werden.
91 Ebd., 182b–183a: „Proinde qui servorum Dei paupertatem, coelibatum, servitutem, ieiunia, vigilias, solicitudinem, orationes caeterosque supernae vitae gratia susceptos labores despiciunt, & causare nihil contendunt, defendant vana esse singula hominum studia, accusent avidos agricolas, arguant solicitos negotiatores, milites, omnium artium opifices, & variis literarum disciplinis operam dantes, damnent ipsam denique naturam, quae sicut ad vitae status gloriaeque commoda possidenda, laborandum esse suggerit“ – „Die also, welche die Armut der Diener Gottes, Zölibat, Dienstbarkeit, Fasten, Nachtwachen, Sorge, Gebete und andere Mühen um des himmlischen Lebens willen verachten, welche sich bemühen, nichts zu verursachen, verfechten die Ansicht, dass die einzelnen Bestrebungen der Menschen umsonst sind; sie beschuldigen die strebsamen Landwirte, klagen die sorgenden Kaufleute an, die Soldaten, die Handwerker aller Berufsgattungen, alle die sich den verschiedenen literarischen Disziplinen widmen; letztlich verurteilen sie die Natur selbst, die anrät, dass gearbeitet werden muss, um zu besitzen, was zum Bestand des Lebens und seiner Zierde angemessen ist“.
Ekklesiologie im Werden Die Kirche bei Luther vor dem Hintergrund des Streits um Normen und Autorität 1517/1518 Christian Volkmar Witt
Für Kurt-Victor Selge Die Beschäftigung mit der Ekklesiologie Luthers oder – genauer – mit ihrem Werden und ihren frühen Konturen bis einschließlich 1518 versetzt denjenigen, der mit der Verhandlung des Themas betraut ist, in eine ausgesprochen glückliche Lage. Sie bringt den über die Sache Nachdenkenden nämlich in die dankbare Situation, zu einer der vorzüglichsten Spezialstudien der Lutherforschung greifen zu können und sich durch ihre Lektüre aufs Erfreulichste belehren und vielfältig anregen zu lassen. Die Rede ist von der 1968 vorgelegten Habilitationsschrift von Kurt-Victor Selge mit dem Titel Normen der Christenheit im Streit um Ablaß und Kirchenautorität 1518 bis 1521. Erster Teil: Das Jahr 1518. Diese luzide und bis heute analytisch wie argumentativ uneingeholte Studie möchte ich mit meinen folgenden Ausführungen würdigen und gebe gerne zu, nur ergänzend eigene Überlegungen zu präsentieren. Schon der Titel dieses Beitrags legt ja seinen Charakter als Referenz offen, deren erklärte Absicht es ist, Selges genannte Habilitationsschrift mit ihren an Gelehrsamkeit und Sensibilität kaum zu überbietenden Quellenstudien zu Gedächtnis zu bringen. Eine weitere einleitende Bemerkung von vergleichbarem Selbstverständlichkeitsgrad sei gestattet: „In kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht gewann Luthers theologische Neuorientierung ihre erste Gestalt als Neuverständnis des Bußverfahrens/Bußsakraments“.1 Die bündelnde Rekonstruktion der werdenden Ekklesiologie Luthers bis zu seinem berühmten Zusammentreffen mit Cajetan unter Berücksichtigung desselben ist demnach schwerlich zu leisten, ohne in anderen hier versammelten Studien schon behandelte The1 Ohst, Martin, Glaube in der Kirchengeschichte – Zu den geschichtlichen Wandlungen eines Zentralbegriffs der christlichen Religion, in: Friedrich Wilhelm Horn (Hg.), Glaube, Tübingen 2018 (utb / Themen der Theologie 13), 65–131, hier 111.
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menkomplexe wie Ablasskritik, Theologieverständnis oder Glaubensbegriff zu bedenken. Luthers Kirchenverständnis entwickelt sich schließlich gleichsam als Kondensat seiner schöpferischen Reflexion besonders auf den genannten Feldern und ist folglich nur vor deren Hintergrund überhaupt verständlich.2 In steter Verbindung mit der intensiven theologischen Bearbeitung und der gedanklichen Durchdringung grundsätzlicher Fragen der überkommenen Sakramenten- und Rechtfertigungslehre, des Schrift- und Traditionsverständnisses, des Ablass- und Bußwesens entwickelt und expliziert Luther schrittweise auch seine Ekklesiologie, ohne dass sie im Zentrum seiner reformatorischen Auf- und Durchbrüche gestanden hätte. Folglich war für Luther die Kirche „nicht das Thema, das im Mittelpunkt seines Interesses stand. Weder galt der Ekklesiologie seine theologische Leidenschaft. Noch war das Ziel, um das seine Reflexionen und Aktivitäten kreisten, die Kirchenreform, die allenthalben diskutierte reformatio ecclesiae. Im Mittelpunkt stand für ihn vielmehr die Rechtfertigung, die Zuwendung des Heils durch das Evangelium von Jesus Christus allein im Glauben. Nur von hier aus kam die Kirche in den Blick“.3
Und die Konsequenz daraus lautet: „Thus we are left with trying to reconstruct his understanding of the Church from explicit and implicit comments he made in a variety of texts“.4 Zudem dauert es eine gewisse Zeit, bis sich in der theologisch vielschichtigen Auseinandersetzung mit der an ihn herangetragenen Kritik die reformatorischen Konturen und Gehalte seines Kirchen- und Autoritätsverständnisses in kontinuierlich zunehmender Deutlichkeit herausbilden. Luther selbst ist in diesem Prozess – wie überhaupt im Kontext der Ereignisse seit 1517 – mal Treibender, mal Getriebener; so verschafft Luther Anhängern genauso wie Gegnern, vor allem aber sich selbst in einer komplexen Gemengelage von gedanklicher sowie publizistischer Aktion und Reaktion, zugleich aber auf dem Fundament einer immer weiter vertieften grundstürzenden Neubestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch fortschreitende Klarheit darüber, was er unter ,Kirche‘ versteht. Besonders für das hier im Mittelpunkt stehende Thema könnte man zugespitzt formulieren: „Luther wurde zu dem Thema ,Kirche‘ gedrängt, ja, geradezu gezwungen“.5 Schrittweise, weil anlass- und kontextgebunden, klärt Luther sich und seine Zeitgenossen somit darüber auf, was ,Kirche‘ gemäß dem 2 Das veranschaulicht jüngst unter Berücksichtigung der entsprechenden theologischen und praktischen Konsequenzen auch Mennecke, Ute, Wie eine evangelische Kirche entsteht, in: dies. / Hellmut Zschoch (Hg.), Von des christlichen Standes Besserung – 500 Jahre Reformation, Leipzig 2017, 35–51. 3 Wendebourg, Dorothea, C.II.6. Kirche, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 403–414, hier 403 f. 4 Saak, Eric Leland, Luther and the Reformation of the Later Middle Ages, Cambridge 2017, 253. 5 Leppin, Volker, Eine neue Kirche bauen. Die Herausbildung von Luthers Kirchenverständnis in Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, in: Franz Xaver Bischof / Harry Oelke
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geoffenbarten Gotteswort ist, was sie soll und wo sie dementsprechend im gnädigen Heilshandeln Gottes ihren Ort hat. Angesichts dessen sei es im Folgenden gestattet, vieles von dem, was an anderer Stelle in diesem Band bereits thematisch Aufnahme gefunden hat, stillschweigend vorauszusetzen oder lediglich am Rande zu erwähnen, und zwar mit dem Ziel, die Konzentration auf das hier im Mittelpunkt stehende Thema zu gewährleisten.
1. Ausgangspunkt Als implizites Thema seiner Studie benennt Selge die „Verbindlichkeit kirchlicher Lehre und die Norm, der sie unterliegt“.6 Die Frage nach Luthers Ekklesiologie lässt sich demgemäß in die Frage nach seiner Sicht kirchlicher Norm und Autorität überführen, mittels derer sich dann Luthers vielfältige Bemerkungen zu und Behandlungen von Papstgewalt, Autoritätenhierarchie, Schlüsselamt und Bußsakrament sichten und verbinden lassen. Unter den Vorzeichen dieser inhaltlichthematischen Zuspitzung sind es dann naturgemäß die Ablassthesen, die den Stein – bezüglich der geschichtlichen Auswirkungen noch ganz gegen Luthers akademisch-gelehrte Intention – ins Rollen bringen. „Daß in ihnen Konsequenzen verborgen waren, die über den akademischen Raum hinausgriffen und weitverbreiteter kirchlicher Praxis an die Wurzel griffen, konnte übersehen werden. Eben dies machte die Ablaßthesen unübersehbar. Wenn Luther selbst die Bedeutung dieses Unterschieds nicht erkannte, so zeigt das einmal, wie sehr er bloßer Gelehrter, wie wenig er Kirchenpolitiker war, auch wo er die Praxis zum Gegenstand seiner Reflexion machte. Daß man ernsthaft anders als mit verantwortlicher theologischer Besinnung auf seine Fragen eingehen könnte, diese Möglichkeit stand außerhalb seines Horizonts – eine charakteristische Grenze Luthers. Es zeigt aber zugleich, wie wenig die Theologie für Luther eine bloß akademische Angelegenheit war, wie sehr er die Praxis der Kirche in seinem theologischen Denken mit zu verantworten suchte und wie seine theologische Erkenntnis sich sogleich an dieser Praxis rieb oder bewährte – charakteristisch für die Weite seines Horizonts. Beides wirkte sich folgenschwer aus. Andere, Freunde wie Gegner, sahen weiter als er“.7
Damit sind wesentliche Voraussetzungen für die sich anschließende Auseinandersetzung bis hin zu ihrer Eskalation auf den Punkt gebracht. Es weder wollend noch auch nur ahnend trat Luther in und mit seinen 95 Thesen einen Disput los, der „ein ganzes Bündel von Interessen der Kurie und des Papsttums berührte: vordergründig das finanzielle und das theologisch-kanonistische Interesse, viel schwererwiegend (Hg.), Luther und Eck. Opponenten der Reformationsgeschichte im Vergleich, München 2017, 143–163, hier 154. 6 Selge, 1. 7 Ebd., 2.
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das dogmatische Interesse an der Autorität des Papsttums, das diese nun in die Debatte gezogenen Praktiken autorisiert hatte“.8
Schließlich hatte das Papsttum „nicht ein Jahrhundert lang um seinen Vorrang unter den Institutionen der Kirche gekämpft, um sich jetzt plötzlich vor aller Welt und selbst dem Einfältigsten begreiflich eines Irrtums und Fehlverhaltens überführen zu lassen, die seinen Autoritätsansprüchen ein gut Teil ihrer Deckung entzogen hätten“.9
Und genau diese Dimension und die daraus resultierende Tragweite des Konflikts überblickte Luther nicht; die Konsequenzen seiner Äußerungen und des ihnen zugrundeliegenden Christentumsverständnisses, das sich in ihnen mal mehr, mal weniger subtil aussprach und das er in exegetischer Kärrnerarbeit in den Jahren vor 1517 angefangen hatte zu entwerfen, standen ihm nicht vor Augen – noch nicht jedenfalls. Er sah sich vielmehr ganz in der Rolle des Professors der Theologie, der qua Amt dazu verpflichtet war, Missstände und Reflexionsdefizite zu benennen und an ihrer theologischen Behebung nach bestem Wissen und Gewissen mitzuwirken. Nach seiner Überzeugung bewegte er sich ganz und gar in den ihm zustehenden, durch die kirchliche Hierarchie, das kanonische Recht und die rechtgläubige Tradition sanktionierten Freiräumen, die ihm zur adäquaten Amtsführung schlicht notwendig waren. Die Treue zum Papst und der Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität sind ihm dabei grundlegende Bedingungen seines Verhaltens. In der Anfangszeit der wirkmächtigen Auseinandersetzung steht der Wittenberger Professor und Seelsorger somit „ungebrochen in der Tradition der Kirche (die ja vielfältig war); er steht ungebrochen in der Institution der Kirche, und er hat ein ungebrochenes Verhältnis zur Geschichte der Kirche“.10 Gleichwohl ist der Zusammenstoß, der bei Selge entlang des Konflikts um die für und in Kirche und Theologie geltenden Normen und Autoritäten zur Darstellung gelangt, aufgrund jener Ausgangslage vorprogrammiert. Von Anbeginn an signalisiert Luther ganz selbstverständlich seine Akzeptanzbereitschaft päpstlicher Entscheidungsgewalt, denn „Schriftwahrheit und Papstamt werden sich nicht in Gegensatz bringen lassen. Christus – von dem die ganze Schrift zeugt – wird das Urteil des Papstes nach seinem Willen lenken. […] Luther erwartet die Rechtfertigung der Wahrheit, über die er disputiert, aus dem Munde des Papstes; einem solchen Urteil wird er sich jedenfalls unterwerfen“.11
Doch darin liegt eine für alles Weitere entscheidende Pointe: Der päpstliche Urteilsspruch, dem Luther sich unterordnen will, wird von ihm als Urteilsspruch 8 Ebd.,
6. Ebd., 7. 10 Ebd. 11 Ebd., 9 f. 9
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Christi durch den Papst aufgefasst; es ist Christus selbst, der durch den Papst seinen Willen kundtut, und unter dieser Voraussetzung besteht für Luther an der Wahrheitsgemäßheit und Rechtmäßigkeit der erhofften päpstlichen Entscheidung überhaupt kein Zweifel. Lediglich als Disputant, also vor dem Urteilsspruch des Papstes, kann und will Luther seine Thesen nicht widerrufen, solange er nicht widerlegt worden ist. Dass Christus sein Urteil durch den Papst verlautbaren lässt, der päpstliche Urteilsspruch somit eigentlich Christi Entscheidung ist, ist für Luther „keine Bedingung, sondern eine für sicher gehaltene Voraussetzung“.12 Allerdings liegt genau in dieser Grundannahme eine gleichermaßen unverkennbare wie zukunftsweisende Spannung: „In diesem Zugleich der Unterwerfungsbereitschaft unter den Papst, die doch in Wahrheit Bereitschaft zur Unterwerfung unter Christus ist, liegt der Ansatzpunkt des Streites um die Autorität der Kirche, die endlich dazu führt, daß Luther Papst und Christus antithetisch einander entgegensetzt“.13
Vorerst aber bewegt sich Luther mit seiner Argumentation sehr wohl in den Bahnen des kanonischen Rechts: Während ihm seine Gegner – anfangs allen voran Tetzel – die kirchenrechtlich gedeckte „normative Rolle der Römischen Kirche“14 entgegenhalten, um ihn zum Schweigen zu bringen, beruft sich Luther auf sein Recht als Theologe und kann sich damit ebenfalls auf das Corpus Iuris Canonici stützen. „Im sozusagen fundamentaltheologischen Teil des Decretum Gratiani, der Prima Pars, ist auch von der Autorität und dem Primat der Römischen Kirche die Rede. Doch geht es hier viel weniger engbrüstig her; die Autorität der Schrift, des Naturrechts, der positiven Rechtstradition, der Schriftausleger (der Schrift gegenüber sekundär), der Synoden, die größere Autorität der Schriftexegeten auf ihrem Gebiet gegenüber den Inhabern des Papstamtes, die größere Autorität der Päpste aber gegenüber den Exegeten in der juristischen Entscheidung von Streitfällen, für die es nicht nur der Kenntnis, sondern auch der Potestas bedarf, schließlich die Bindung der kirchlichen Amtsträger, also auch der Päpste, an Schrift und Väter […] – all dies wird mit Texten der Überlieferung festgestellt, und der Theologe wie der Kanonist findet sich dadurch in einen breiten Überlieferungsstrom hineingestellt, der Raum zum Nachdenken eröffnet und in dem nicht auf Schritt und Tritt bloß das eine Kriterium der Übereinstimmung mit der Römischen Kirche begegnet. Auf den Normen dieses Teils hatte die materiale theologische Arbeit, wie sie Luther leistete, zu fußen; hierauf berief er sich“.15
Ebd., 9. Ebd. 14 Ebd., 11. 15 Ebd., 11 f. Zur mittelalterlich-kirchlichen Amtstheorie und zu ihrer sukzessiven Transformation im Denken Luthers siehe Voigt-Goy, Christopher, Potestates und ministerium publicum. Eine Studie zur Amtstheologie im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2014 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 78). 12 13
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2. Dynamisierung Es zeichnet sich demnach schon im und seit dem Streit mit Tetzel ab, wo im Verlauf auch der weiteren Auseinandersetzung im Kontext des Autoritäts- und Normenverständnisses die inhaltlich-argumentative Demarkationslinie zwischen Luther einerseits, seinen Gegnern andererseits verläuft: Seiner Selbstwahrnehmung und Situationseinschätzung nach tut Luther mit seinen Disputationsthesen genau das, was ihm als Professor der Theologie Pflicht und Beruf ist. Er stellt sich ganz in den Dienst, dessen Erledigung der Theologie ihren Ort im Gesamtgefüge der Kirche als Heils-, Lehr- und Rechtsanstalt zuweist. Dieser Dienst, diese Funktion der Theologie im ,offenen System Kirche‘16 besteht nach mittelalterlicher Vorstellung letztlich in der Verständnisermöglichung der heilsamen Autoritätsvorgaben mit dem Zweck, deren Annahme im für wahr haltenden Glauben zu erleichtern und damit die Menschen zur heilsamen Disposition für die im Sakrament zu empfangenden göttlichen Gnadenwirkungen anzuleiten. Denn Glaube ist seinem Kern nach eben das Fürwahrhalten von Satzwahrheiten auf Autorität hin.17 Die so zu umreißende Aufgabenstellung der Theologie ist dem Wittenberger Professor noch selbstverständlich. Die Theologie wiederum hat nach überkommender Vorstellung einen festen Gegenstand an institutionalisierter Wahrheit, der seinerseits mit den Wechselbegriffen Sacra Scriptura und veritas catholica bezeichnet wird, die miteinander sachidentisch sind. Diesem Gegenstand nähert sich der Theologe mit dem Willen zum Nachverstehen, um ihn – jedenfalls so weit wie möglich – in intellektuell plausible Aussagen zu überführen. Die so verstandene Theologie hat folglich die sie tragende Gewissheit in der institutionell zuverlässig verbürgten veritas catholica vor und außer sich; sie selbst stellt diesen Gewissheitsanspruch gerade nicht für sich selbst, sondern die immerdar vielfältige Schultheologie formuliert lediglich Meinungen, die ihren Grund und Gegenstand gleichsam umspielen. Und das entspricht präzise dem, was Luther seines Erachtens mittels seiner Ablassthesen und mittels ihrer nachgängigen Erläuterungen tut: Er formuliert eine Meinung, die er unter strikter Wahrung des kirchlichen Normen- und Autoritätsgefüges zur Diskussion stellt. Nach seiner festen Überzeugung handelt er vollkommen konform mit Tradition und Recht, denn schließlich wahrt er die für alle Glieder der Kirche verbindlichen Zu- und Unterordnungsverhältnisse. So artikuliert er seine Thesen unter dem Vorbehalt, dass er sie bei besserer Belehrung durch die zuständige kirchliche Autorität sofort widerrufen werde. 16 Der Begriff ist Kaufmann, Thomas, Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M. u. a. 2009, 63, entlehnt. 17 Dabei handelt es sich freilich um eine bestimmte Schattierung des mittelalterlichen Glaubensbegriffs. Zu den diesbezüglichen Entwicklungen seit Augustin und damit zu den direkten historischen Voraussetzungen sowie Vorläufern des neuartigen reformatorischen Glaubensbegriffs siehe Ohst, Glaube in der Kirchengeschichte (wie Anm. 1), 81–104.
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Doch diese Einschätzungen Luthers teilen Männer wie Tetzel, Prierias oder wenig später auch Cajetan angesichts seiner Ablasskritik und des in ihr zum Ausdruck kommenden Verständnisses von kirchlichen Normen und Autoritäten nicht, ganz im Gegenteil: Sie sehen die veritas catholica genauso bedrohlich tangiert wie die durch Recht und Tradition abgesicherten, von Gott durch Christus selbst gestifteten Hierarchien der Kirche als Heilsanstalt. Sie sehen in Luthers Argumentationsweise einen Angriff auf das fein austarierte institutionelle Gefüge der Kirche, in dessen Stiftung der Heilssinn des Lebensweges Jesu Christi liegt. Geleitet wird diese hierarchische Institution, die in den Sakramenten das Heilswerk Jesu Christi allenthalben und zu jeder Zeit zur gegenwärtig wirksamen Realität macht, ja die das Heilswerk Jesu Christi auf Erden ist und tut, nach dem Willen ihres Stifters und zum Heil der Menschen durch die Nachfolger Petri als Stellvertreter Christi. Diese hochgradig heilsrelevante Tatsache stellt Luther nach Einschätzung seiner Kontrahenten in und mit seiner Ablasskritik in Frage und gefährdet so das sakramental-heilswirksame Gesamtgebilde. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen des Konflikts und seines Gegenstands, die ihrerseits je für sich ihre Legitimation durch Recht und Tradition in Anspruch nehmen konnten und auch faktisch beanspruchten, sind also bereits frühzeitig erkennbar und dynamisierten den Diskurs entscheidend, und zwar bis hin zur unzweideutigen Klärung der Fronten. Am Ende trat die tieferliegende Bedingung für Luthers Normen- und Autoritätsverständnis, nämlich seine innovative Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch und damit des Wesens der christlichen Religion, hervor, und seine Ekklesiologie wurde als Epiphänomen derselben deutlich erkennbar. Doch zurück zum Gedankengang Selges: Dem Teil des Decretum Gratiani folgend, auf dem Luthers Selbstverständnis als Exeget bzw. Theologe und seine Vorgehensweise aufruhten, stand das „Lehramt der Römischen Kirche […] in einem komplizierten Normgefüge, das es bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen hatte. Es blieb viel Raum für das Argument, den Disput an der Universität, ehe der formelle Spruch der obersten Autorität der Kirche unter sorgfältiger Berücksichtigung des dabei Erarbeiteten ergehen konnte“.18
Diesem kirchenrechtlich abgesicherten Normgefüge will er konsequenterweise auch die Meinungen seiner Antagonisten unterstellt sehen. Dass man bei all dem nach Luther „Autoritäten wie die Kirchenväter, das kanonische Recht, das allgemeine Urteil der Kirche, Vernunftgrund und Erfahrung durchaus ernstnehmen muß und nicht sogleich als doch der Schrift gegenüber bedeutungslos in den Hintergrund schieben darf “,19 belegen nicht zuletzt seine Ablassresolutionen
Selge, 12. Ebd.
18 19
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mit der ihnen konventionell vorangestellten Protestatio.20 Grundsätzlich geht es ihm in seinem Selbst- und Amtsverständnis als Theologe somit „nicht um die Durchsetzung eines formalen Schriftprinzips, sondern um die Durchsetzung und disputative Klärung der authentischen kirchlichen Lehre dort, wo eine höchst zweifelhaft erscheinende Ablaßpraxis und -predigt sich für glaubensverbindlich und unbedingt autoritativ ausgibt, während sie doch den wahren Begriff der Buße verdunkelt, geistliche Verwirrung stiftet, den Zorn und den Spott der Laien herausfordert und damit die Autorität der Kirche und des Papsttums untergräbt“.21
Luthers Hauptargument ist freilich „das Evangelium oder die Lehre von Christus, wie er sie aus der Schrift erhoben hat; aber auch das Wort der Kirchenväter, das gegenwärtige Gebet der Kirche, ja auch päpstliche Texte aus dem kanonischen Recht zeugen dafür, daß die Predigt der Ablaßkommissare die Grenzen der authentischen kirchlichen Lehre weit überschreiet“.22
Er sieht sich demnach in der Verantwortung für die sachgerechte Verteidigung des Papsttums und der Kirche, mit der als sichtbarer Heilsgemeinschaft er sich in Gemeinschaft weiß und die er durch die seelengefährdenden Umtriebe der Ablassprediger diskreditiert findet. „Freiheit der Meinung, wo nicht eine eindeutige christliche und kirchliche Wahrheit im Spiel ist, Argumente statt Gewalt“ sucht Luther stark zu machen, denn es geht ihm um nicht weniger als „die Ehre der Kirche, die in der Ausweisbarkeit und geistlichen Evidenz der von ihr vertretenen Wahrheit liegt; es geht damit um die Wahrheit selbst und den Gehorsam gegen den Willen ,des Geistes‘“.23 Im bloßen „Argument der formalen Papstgewalt, des nackten, nicht sachlich begründeten Wohlgefallens der Römischen Kirche“24 erblickt er mehr eine leichtfertige Schwächung der Kirche Christi als eine irgendwie wirksame Verteidigungsstrategie zugunsten derselben. „Ohne davon ,die Reformation‘ zu erwarten, war Luther freilich konsequent darin, das zu tun, was seines Lehramtes war, und darin, an den Papst, die Bischöfe und die Gelehrten zu appellieren, das zu tun, was ihres Amtes sei. Jedenfalls verbot sich eines: der Exodus aus der so beschaffenen Kirche, die Aufsagung des Gehorsams gegen ihre Amtsträger. Eben das wäre eine hochmütige, unchristliche, ketzerische Verletzung der Liebespflicht gegen die Kirchengemeinschaft“,25
diagnostiziert Selge. Die von Luther in diesem Zusammenhang vorgenommene Identifikation von superbia als Verletzung der christlichen Liebespflicht und Häresie ist alles andere als eine ihrerseits ketzerische Einzelmeinung, die in direktem Widerspruch zu 20 WA 1,
529–628. 13. 22 Ebd., 14. 23 Ebd., 15. 24 Ebd., 16. 25 Ebd., 18. 21 Selge,
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Recht und Tradition stünde. Lehrmäßig sieht er sich nach wie vor im Konsens mit der Kirche als Heils-, Lehr- und Rechtsanstalt. „Nur den einseitig dem Kirchenrecht entnommenen Häresiemaßstab der bloßen formalen Übereinstimmung mit der Römischen Kirche: einer nicht näher definierten, sich in der hemmungslosen Praxis der Ablaßkommissare autoritativ ausdrückenden römischen Glaubensnorm, angesichts derer sie [sic] ebenso kirchenrechtlich gedeckte Überlieferung von Schrift- und Väterautorität kein Wort mitzusprechen hätte, erkennt Luther nicht an. Ist die Römische Kirche Glaubensrichterin, so ist sie doch nicht der Verpflichtung zur Rechenschaftslegung gemäß den obersten inhaltlichen Autoritäten der christlichen Kirche enthoben“.26
Dem zugrunde liegt naturgemäß kein Biblizismus: „Der Nachweis, daß etwas nicht in der Bibel steht, genügt nicht zum Erweis, daß der Glaube der Kirche falsch sei“.27 Für Luther ist unbestritten, „daß es Glaubenserkenntnisse gibt, die in der Schrift nicht oder nicht explizit enthalten sind. Die Kirche schreitet in der Erkenntnis der Wahrheit voran. An diesem Punkte kommen die anderen Autoritäten ins Spiel. Luther nennt immer wieder nebeneinander die Schrift, die Kirchenväter und die Canones. Sie sind normativ, wobei es wieder selbstverständlich ist, daß die Väter und Canones ihre Autorität in der Erklärung der Schrift und in der legitimen Explikation des Glaubens und der kirchlichen Lebensordnung haben und der Schrift nicht widersprechen dürfen“.28
Sein Ansatz rechnet also mit dem historischen Gewordensein bestimmter kirchlicher Lehrbestände und Institutionen und sieht darin auch gar kein Manko. Er geht entsprechend davon aus, dass auch „der ,Prinzipat der römischen Kirche‘ historisch geworden, nicht explizit im Neuen Testament enthalten und trotzdem anzuerkennen ist“.29 Freilich ist die historische Genese nicht hinreichend: Auch der Prinzipat der römischen Kirche ist als „geistliche Explikation des Neuen Testaments zu rechtfertigen – und zu verstehen. […] Er ist als legitime geistliche Entfaltung der neutestamentlichen Daten anzuerkennen, als Wahrheit zu glauben – und muß in der Gegenwart und stets neu geistlich, als Explikation der neutestamentlichen Gegebenheiten, verstanden werden“.30
Im Fortgang der Ereignisse sollte sich bekanntlich zeigen, welch ungeheuer kritisches und zugleich schöpferisches Potential in diesem Ansatz liegt: Luther bestreitet nicht das Recht und die Gültigkeit der christlichen Tradition, aber sie ist „daraufhin zu prüfen, ob sie nicht im Widerspruch zu der klaren, in der Schrift enthaltenen Wahrheit des Evangeliums steht. Was diese Probe besteht, das soll man beibehalten“.31 Und das Papsttum sollte diese Probe eben nicht bestehen. 26 Ebd.,
19. 21. 28 Ebd., 30. 29 Ebd., 21. 30 Ebd., 22. 31 Althaus, Paul, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 288 f. 27 Ebd.,
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Doch so weit ist er gedanklich noch nicht; noch wähnt sich der Wittenberger Theologe im Konsens mit der Kirche und ihren Autoritäten, noch stehen ihm seine Äußerungen nicht als Resultate seines neuen Grundverständnisses der christlichen Religion vor Augen. Dennoch wird in seiner Theologie und durch dieselbe zwar nicht „die gemeinsame Grundlage der christlichen Religion, sondern deren Grundverständnis“32 strittig, weshalb die angestrebte „Reformation der Kirche zu einer Reformation der christlichen Religion“33 notwendig werden musste. Zu dieser Einsicht ist er jedoch noch nicht gelangt und wohl auch noch nicht bereit. Vorerst bleibt es bei der bekannten „Verbindung von Theologie, Kirchenpraxis und Seelsorge, wie sie in den Thesen und Resolutionen erscheint“.34 Noch erkennt Luther die Papstautorität an, „wenn auch nicht im Sinne des extremen Papalismus und der kurialen Praxis; was beschnitten werden soll, ist nicht die Papstautorität, sondern ihr nach Ausweis exegetischtheologischen Denkens nicht zu verantwortendes faktisches und im konkreten Ablaßfall mißbräuchliches Übergreifen in Bereiche wie die des Bußsakraments, in denen Exegese und Theologie autoritative Aussagen zu machen haben“.35
Somit ist das „Neue und Eigentliche […] bei Luther selbst noch eingebettet ins Überlieferte; es sucht sich im Überlieferten auszusprechen und mit ihm im Einklang zu erweisen“.36
3. Vertiefung Das in seinen Ablassresolutionen zur Absicherung seiner Kritik in Stellung gebrachte Normengefüge kirchlicher Lehre ruht demnach auf der Bindung „an Schrift und authentische kirchliche Tradition, von der auch die höchsten Instanzen, Papst und schließlich das Konzil, nicht zu eximieren sind“.37 Diese unabdingbare Bindung markiert ein unumkehrbares Autoritätsgefälle und ist „ein klares Kriterium für die Legitimität gegenwärtiger kirchlicher Lehre auf jeder Ebene. Dabei besteht notwendig ein positives Vorurteil für die Schriftgemäßheit und Kirchlichkeit der Lehre der autoritativen kirchlichen Instanzen nach der Schrift, von den Vätern bis zum Papst und Konzil. Was die Kirche seit den Zeiten der Väter einhellig glaubt, was gar ein Konzil definiert hat, muß als orthodox geglaubt werden. Wo solche Einhelligkeit nicht vorliegt, ist doch bis zum Beweis des Gegenteils auf die Autorität der kirchlichen Instanzen hin ,fromm zu glauben‘, unbeschadet der Freiheit des Disputs, der seinerseits auf die Feststellung gewisserer kirchlicher Lehre hinzielt“.38 Schwarz, Reinhard, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 22016, 9. 6. 34 Selge, 24 f. 35 Ebd., 27. 36 Ebd., 29. 37 Ebd., 43. 38 Ebd., 43 f. 32
33 Ebd.,
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Macht man sich dieses Normengefüge klar, wird schnell einsehbar, dass und warum Luther zuversichtlich blieb, der Papst werde in seinem Sinne entscheiden. Seine Zuversicht erwächst aus der tiefen Überzeugung, „im Einklang mit dem Wort Christi und damit auch im Einklang mit der wahren und beständigen Überlieferung der Kirche“39 zu sein. „Darum kann er das Urteil über sich der Kirche anheimstellen. Christus wird durch den römischen Stuhl entscheiden, […] dem Urteil Christi durch den Papst wird Luther sich unterwerfen […]. Ein wahrhaft päpstliches, legitimes kirchliches, christliches Urteil ist es also, das Luther aus Rom erwartet“.40
Allerdings wird mit und in den Wortmeldungen aus Rom – zu nennen ist hier vor allem Prierias – schnell klar, weshalb Luthers „Appell an den Papst als Papst, sein überzeugter Versuch, Geist und Meinung des Papstes von den Exzessen der Ablaßpredigt zu unterscheiden“,41 zum Scheitern verurteilt ist. Dem von ihm eingeschlagenen Weg der Disputation, der theologischen Ausmittlung vor dem Hintergrund des skizzierten Normengefüges wird eine scharfe Absage erteilt, was nicht zuletzt „ein vollständiges Unverständnis für die seelsorgerlichen Klagen Luthers zeigt“.42 Die römischen Voten zwingen Luther zur weitergehenden Klärung und Ausschärfung seiner Kritik und mit ihr seines Grundverständnisses der christlichen Religion. „Auch hier geschah Entscheidendes für den Verlauf der Debatte: Denn es war Prierias, der in aller Deutlichkeit die Aufmerksamkeit auf ekklesiologische Fragen lenkte“.43 In seiner Reaktion auf Prierias44 stellt Luther nämlich noch einmal das für ihn wahrhafte und wirksame Normengefüge heraus: Es besteht „durch ein Wunder Christi, durch das Wirken seines Geistes, Kontinuität von der Schrift und ihrer Mitte, dem Evangelium, her über die Kirchenväter und Schriftausleger bis zum gegenwärtig in den Dokumenten der Römischen Kirche bekannten Glauben, und darum ist der Glaube der Römischen Kirche auch, wie es in den Canones steht, die regula fidei der gesamten Kirche: nicht weil es der Glaube der römischen Kirche ist, sondern weil es der durch das Wunder Christi in der römischen Kirche und in ihr allein ohne Unterbrechung erhaltene wahre Glaube ist“.45
Zugleich aber betont er die Unzulässigkeit der „Verquickung des kirchlichen Amtes des Papstes mit seiner weltlichen Herrschaft: als oberster Bischof der Kirche hat er keine weltliche potestas. Was er auf dem weltlichen Sektor tut, ist kein factum ecclesiae. Aber natürlich geht Luthers Meinung darüber hinaus. Auch als oberster Bischof der Kirche, als Papst, ist der Papst an Schrift, Väter Ebd., 49.
39
40 Ebd.
41 Ebd., 42 Ebd.
55.
Leppin, Eine neue Kirche bauen (wie Anm. 5), 147. Vgl. WA 1, 647–686. 45 Selge, 62. 43 44
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und Canones gebunden. Was er als Privatmann denkt, sagt und tut, ist kein factum ecclesiae“.46
Diese Differenzierung ist folgenreich: Unter den Taten des Papstes ist nämlich gemäß jenem Normengefüge zu unterscheiden, welche „die wirklich der regula fidei gemäßen und darum auch ihrerseits normativen facta ecclesiae“47 sind und welche eben nicht. Dahinter steht das übergeordnete kritische Prinzip Luthers, „nach dem das Menschenwort grundsätzlichem Verdacht unterliegt“,48 wohingegen einzig und allein dem Gotteswort bedingungsloses Vertrauen gebührt. Kurz: Neben Luthers positives Traditionsprinzip tritt zusehends ein kritisches Prinzip, fußend auf seinem Schriftverständnis unter Differenzierung zwischen fehlbarem Menschen- und unfehlbarem Gotteswort. Folglich wird die Schrift in zunehmender Deutlichkeit zum kritischen Prüfstein und darüber in wachsendem Maß zum Gegenpol der Papstautorität: Das kritische Prinzip der Skepsis gegenüber dem Menschenwort und der alleinigen Unfehlbarkeit des Gottesworts, das im Evangelium vernehmbar und der Grund aller kirchlichen Autoritäten ist, gilt „auch gegenüber Papst und Konzil, insoweit sie nur als menschliche Instanzen wirken und Menschenworte verkündigen. […] Seine Meinung war und ist aber, daß der Papst ,als Papst‘ eben der Autorität des göttlichen Wortes und der ihr gemäßen kirchlichen Tradition stets Raum gegeben habe und Raum geben werde. Seine Meinung war und ist, daß auch der Primat des Papstes im Sinne des Papstes ,als Papst‘ auf der Linie der vom göttlichen Wort ausgehenden legitimen, von Christus vor menschlichem Irrtum geschützten, wahrhaft kirchlichen Tradition zu verstehen sei. Insofern, in dieser Bindung an den Ursprung der Offenbarung, ist er, obgleich geschichtlich geworden, durchaus iuris divini. Sein ius divinum liegt im ius divinum dessen, was er sagt und tut“.49
Unter dieser entscheidenden Voraussetzung erwartet Luther den Urteilsspruch des Papstes eigentlich als den Urteilsspruch Christi durch den Papst, ohne allerdings von einer grundsätzlichen Irrtumsunfähigkeit des Papstes generell auszugehen. Denn Menschlichkeit und die von ihr nicht zu trennende Sündhaftigkeit sind Charakteristika auch der empirischen Kirche und der Päpste; beide Momente verbieten es nach Luther, dass Kirche und Papst „unbedingte Autorität und unbedingten Gehorsam“50 in Anspruch nehmen könnten. Christus ist der Wurzelgrund und Herr der Kirche, er ist ihr allein maßgeblicher Ausgangs- und Bezugspunkt, in ihm hat sie ihre Mitte und ihr Ziel, durch ihn lebt und wirkt sie. Allein in ihm und durch ihn ist der Sinn des Papstamts bestimmt, allein in jenem und durch jenen besteht sein ius divinum. Hinter den 46 Ebd.,
61. 62. 48 Ebd., 107. 49 Ebd., 63 f. 50 Althaus, Theologie (wie Anm. 31), 292. 47 Ebd.,
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Argumenten des Prierias hingegen sieht er Bestrebungen am Werk, auch den Auslassungen und Handlungen des Papstes als Privatmann das ius divinum zuzusprechen und darüber die Taten und Worte des Papstes auf dem weltlichen Sektor zum factum ecclesiae aufzuwerten. Darin erblickt er eine geradezu widerchristliche Amtsanmaßung, die der Papst selbst unmöglich bewusst befördern kann und darf. Allein, die praktischen Konsequenzen der von ihm vorgenommenen Differenzierungen und Vertiefungen, die faktisch als Zuspitzungen zu stehen kommen sowie in die Annahme der Irrtumsfähigkeit des Papstes – und des Konzils – ausmünden und so ab einem gewissen Punkt dazu angetan sind, das ius divinum der Papstgewalt überhaupt infrage zu stellen, hat Luther in seinem Kampf gerade für den Rang des Papstes und die Ehre der Kirche noch nicht vor Augen. „Im Blick auf die von Prierias vorgenommene Verschiebung der Debattenlage fällt auf, dass Luther diese noch nicht voll aufgriff “.51 Dennoch liegt in all dem der Ermöglichungsgrund einer kritischen Distanz zu Amt und Amtsträger, zu Primatsanspruch und Amtsausübung, die nicht ohne Auswirkungen auf Luthers zunehmend schrift- und christuszentriertes Kirchenverständnis bleiben konnte. „Der Gehorsam gegen die Kirche ist nur als eine Gestalt des Gehorsams gegen Christus christlich-möglich. Aber beides kann auseinandertreten: es kann kommen, daß man um des Gehorsams gegen Christus willen der empirischen Kirche den Gehorsam aufkündigen muß“.52 In diesem Gedanken blitzt nun ekklesiologisch genau das auf, was dann im untrennbaren In- und Miteinander seiner vielfältigen theologischen Denkbewegungen von deren Zentrum – von der schöpferischen Neubestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch – aus zum endgültigen Bruch mit der Papstkirche führen sollte. Aber, wie gesagt, so weit ist es 1518 noch nicht; vielmehr ist Luther trotz oder auch wegen der kaum zu überschätzenden qualitativen Steigerung des kritischen Potentials seiner Argumentation noch immer fest in dem Bewusstsein, sich mit dem Willen und dem Schritt zur Disputation auf legitimem, durch Schrift, Tradition und Recht abgesicherten Grund zu bewegen und daher aus Rom letztlich Unterstützung erwarten zu können. Mit anderen Worten: Er sucht die Eskalation, den unumkehrbaren und – im Nachhinein – vielleicht auch unvermeidbaren Bruch mit Kurie und Kirche nicht, ganz im Gegenteil. Es ist die Gegenseite, die die Eskalation stetig vorantreibt: „Mit der Weigerung, die eigenen angegriffenen Grundsätze in theologischem Disput zu überprüfen, mit der Methode des Inquisitionsprozesses und der reinen Unterwerfungsforderung gab die Kurie den Weg zu jener befürchteten Entwicklung [scil. zu Heraufführung des Bruchs, C. W.] frei. Was die Lage erforderte, war dagegen nicht mehr und nicht weniger als eine Freigabe des kirchlichen Disputs in der Ablaßfrage. Vielleicht hätte sich aus diesem Disput aufgrund der Erkenntnisse Luthers auch ein Disput über Leppin, Eine neue Kirche bauen (wie Anm. 5), 147. Ebd.
51 52
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die Frage der kirchlichen Autoritäten überhaupt entwickelt. Dem ganzen Disput jedenfalls war in der überlieferten Gestalt der Kirche ein Rechtsraum zu geben“.53
So bleibt nur die Feststellung, dass der gegen Luther gewählten Verfahrensform bei Häresieverdacht „eine schwere politische Fehleinschätzung zugrunde lag, eine gewaltige Unterbewertung der theologischen Potenz Luthers und eine vollkommene Verkennung der kirchlichen Situation Deutschlands, deren Labilität doch nach vielen Jahrzehnten der Gravamina in Rom bekannt genug war“.54
4. Positionierung Damit korrespondiert schließlich, dass vor dem Hintergrund des in Rom angestrengten Prozesses und der ihm erteilten Vollmachten Cajetan „nach eigener Prüfung die Möglichkeit eines Freispruchs für Luther“55 ausschloss. Anfangs war er lediglich im Zweifel, „ob man das Urteil jetzt schon über Luthers Person oder nur über die von ihm vertretene Irrlehre aussprechen solle, was von Rom aus zunächst auch offenließ“.56 Die zwischen Luther und Cajetan obwaltende brisante Mischung aus Fehleinschätzungen und Unwillen sorgte jedenfalls für gewichtige Unklarheiten, die ihrerseits während jener drei Tage im Oktober 1518 nicht alle offen zutage lagen und theologisch weit tiefer reichten als der Dissens rund um Fragen des Normengefüges und der Autoritätenhierarchie, die die Bedeutung dieses Dissenses für das Gesamtgeschehen aber unterstreichen: „Ein neues Schriftverständnis wie das Luthers konnte eben darum in der Christenheit Raum gewinnen, weil es sich überzeugend an den Normen kirchlicher Lehre auswies, und es wurde eben deshalb von einem Teil der Kirche verworfen, weil ein bestimmtes Verständnis des kirchlichen Normengefüges sich, ohne mit voller und hinreichender Klarheit definiert und propagiert zu sein, auf gegnerischer Seite durchgesetzt hatte und exklusiv verteidigt wurde“.57
Gegen Luthers kritische Differenzierung zwischen dem Papst ,als Papst‘ und dem Papst als Privatmann, gegen Luthers Annahme der Bindung des Papstes ,als Papst‘ und damit als oberster Bischof der Kirche an Schrift, Väter und Canones, gegen Luthers Reduktion und Ableitung von Gewalt und Würde des Papstamtes auf das bzw. vom Wunder und Wort Christi behauptet Cajetan, letzte Glaubensverbindlichkeit verleihe
53 Selge,
71 f. 73. 55 Ebd., 89. 56 Ebd. 57 Ebd., 92. 54 Ebd.,
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„der entfalteten Arbeit der kirchlichen Tradition der definitive Spruch der Römischen Kirche oder des Nachfolgers Petri. Die Teilnahme des Papstes als Haupt oder die päpstliche Billigung ist auch das Kriterium des legitimen Konzils, sodaß die Letztverbindlichkeit der konziliaren Definition ebenfalls an der bestätigenden Lehrautorität des Nachfolgers Petri hängt“.58
Die Sicherheit, mit der Cajetan „den Begriff der päpstlichen Definition so weit faßt, daß die ganze Praxis der Römischen Kirche in mit Glaubensfragen zusammenhängenden Dingen zum unkontrollierbaren Häresiekriterium“ erhob, mit der sodann „päpstlich-konziliaren Lehrformulierungen eine ganze Theologie unlösbar zugesellt wird, die als mitdefiniert gilt und letztlich bei Strafe der Diskussion entzogen wird“, mit der der Kardinal schließlich „das System der päpstlichen Lehrautorität auf dem schwankenden Grund höchst anfechtbarer und bedrohter, weil mißverstandener oder gefälschter Väterworte und Dekretalen aufbaut“,59 konnte Luther nur alarmieren und musste ihn denknotwendig – trotz der verbleibenden Berührungspunkte in der Auffassung des Normengefüges – zum entschiedenen Widerspruch reizen. „Daß keine Einigung zustandekommen konnte, ist dem Rückblickenden freilich auch klar. […] Er weiß, daß Luther im von ihm noch nicht in Rechnung gestellten Fall des wirklichen Konflikts mit dem Papst vom schlechtberatenen an den besser beratenen Papst, ja schließlich an die kirchliche Leitinstanz des Konzils appellieren wird. Er ermißt schließlich die volle Tragweite jenes dem positiven Traditionsprinzip zur Seite gestellten kritischen Prinzips Luthers, nach dem das Menschenwort grundsätzlichem Verdacht unterliegt“.60
Während nun Luther anfangs noch im Zuge des Augsburger Verhörs mit seinem auf eine Disputation zielenden Vorstoß bemüht gewesen ist, die päpstliche Autorität substantiell aus der Diskussion herauszuhalten und die Auswüchse der Ablasspredigt gerade im Konsens mit dem Papst und unter Achtung seiner Gewalt korrigieren zu helfen, erfährt die Auseinandersetzung eine neuerliche Verschärfung in dem Moment, in dem Cajetan für seine Haltung in der Sache explizit die Deckung durch die päpstliche Autorität reklamiert. Denn damit „drohte die amtliche päpstliche Autorität […] in den Strudel der Diskussion zu geraten. Nur größte Zurückhaltung in der Identifizierung des Papstes mit den fraglich gewordenen Theologumena hätte das abwenden können. Diese Zurückhaltung war für Luther natürlich, für den großen Thomisten aber eine schwere Zumutung. Immerhin war die Zumutung nach seinem eigenen Begriff von der Schriftautorität nicht maßlos“.61 Ebd., 104 f. Ebd., 106. 60 Ebd., 107. Zu Luthers früher Auffassung vom Konzil und zur Entwicklung der Konzilsthematik im Denken sowie in der Publizistik des Reformators bis einschließlich 1518 siehe Spehr, Christopher, Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit, Tübingen 2010 (BHTh 153), 23–114. 61 Selge, 108. 58 59
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Und das führt Selge zur pointierten Bezeichnung der wesentlichen Frage der passagenweise hitzig geführten Debatte zwischen Luther und Cajetan: „Der Streit bewegte sich im Rahmen der Schriftauslegung; die Autorität des recht verstandenen Schriftwortes selbst stand nicht in Frage. Im Grunde handelte es sich darum, angesichts eines neu aufgebrochenen exegetischen Problems weithin akzeptierte traditionelle Lösungen aufs Spiel zu setzen, ohne das Zutrauen zu einer auch unter Irrtümern ungebrochenen, rechtmäßigen kirchlichen Lehrüberlieferung zu verlieren. Es war die Frage nach der wahren Kontinuität der Kirche, der der Geist verheißen ist, der sie in alle Wahrheit leiten wird“.62
Der Disput um diese Frage führt zwangsläufig zu einer nochmaligen Verschärfung des Konflikts und damit einhergehend zu einer neuerlichen, wiederum graduell gesteigerten Verdeutlichung der eigentlichen Distanz zwischen beiden Positionen: „Das von Luther anerkannte kirchliche Lehramt und die von ihm verworfene thomistische Theologie rücken in seinen Augen noch ein Stück näher zusammen, ohne daß er aber das Lehramt in das Urteil über die Theologie, die es faktisch beherrscht, einbezöge. Noch fallen die Autoritäten und ihr Mißbrauch nicht zusammen. Im Gegenteil: noch einmal macht Luther in den nächsten Tagen und Wochen eine geradezu erbitterte Anstrengung, die päpstliche und kirchliche Autorität freizuhalten von dem, was er für einen klaren Mißbrauch hielt“.63
Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass der Wittenberger Theologe während der Treffen mit Cajetan den Bruch weder sucht noch überhaupt in seiner ganzen Qualität sieht: Die Treue zu den vier auch auf dieser Stufe des Streits immer wieder aktivierten „Autoritäten, Schrift, Väter, Dekretalen, recta ratio, gilt als Ausweis und Näherbestimmung der behaupteten Treue zur Römischen Kirche. Ferner weist Luther darauf hin, daß er im Bewußtsein seiner menschlichen Irrtumsfähigkeit sich dem Urteil und der Glaubensentscheidung der rechtmäßigen heiligen Kirche, ja auch allen richtiger Denkenden unterworfen habe und unterwerfe“.64
Urteilt der Papst also „nicht ut hominem, sondern ut papam“,65 will Luther seiner Entscheidung folgen. Unbenommen davon schreitet Luther – motiviert durch Cajetans Argumentationsweise, dem ihr zugrundeliegenden Normenverständnis und der daraus abgeleiteten Autoritätenhierarchie – in der Schriftzentrierung seiner Gedanken fort, indem er zuvor erlangte exegetische Erkenntnisse auf seine theologisch fundierte Haltung gegenüber dem Papsttum anwendet. Exemplarisch dafür steht sein Umgang mit dem Apostelkonzil: 62 Ebd.
Ebd., 112. Ebd., 119. 65 Ebd., 128. 63 64
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„Aus dem exegetisch für Luther schon längst feststehenden Sachverhalt, daß Petrus sich in Antiochia gegen das Evangelium verfehlt hat, wird jetzt […] ein Schriftargument für die (auch den Canones nach feststehende) Irrtumsfähigkeit der Dekretalen und ihres Urhebers, des Nachfolgers Petri“.66
Zudem verweist er „auf die beim Apostelkonzil vorgebildete Regel der gesamtkirchlichen Bekräftigung und Rezeption als auf das Remedium gegen die Irrtumsfähigkeit eines einzelnen Oberhaupts der Kirche […]. Konsens der Kirche, Rezeption, Konzilsautorität – all dies bedeutet Sicherung vor Fehlauslegung der Schrift durch Einzelne, Sicherung der Kirche in der Geschichte ihrer Lehrentwicklung vor unwiderruflichem Irrtum“.67
Letzthin hat Luther „in der Frage der formalen Autoritäten alles, was er meinte und auch bisher schon geäußert hatte, Cajetan, dem Papalisten, in durch die Auseinandersetzung um eine bestimmte Dekretale zugespitzter Form präsentiert. […] Die Autoritätenordnung hat ihren Sinn darin, daß sie die Stimme Christi jeder menschlichen Autorität in der Kirche überlegen sein lässt“.68
Allerdings stießen auch in Augsburg – wie ja zuvor bereits im Streit mit Prierias – „Luthers diskursive Welt, in welche [sic!] sich wenigstens idealerweise das bessere Argument durchsetzen sollte, und die autoritative Welt eines römischen Kurialen aufeinander“.69
5. Konfrontation Alles in allem hat Luther demnach im Oktober 1518 vor Cajetan erneut Position bezogen. Er hat seinen seelsorgerlichen Impetus genauso offengelegt wie sein maßgeblich von der Paulus-Exegese ausgehendes Gesamtverständnis der Schrift; das von ihm als legitim aufgefasste Normengefüge und die daraus resultierende Autoritätenhierarchie sind noch einmal herausgestellt und profiliert worden. „Das Feld der weiteren Auseinandersetzungen müssen danach die vorgewiesenen Autoritäten sein und die Schriftauslegung insgesamt; denn nichts anderes als ein Gesamtverständnis der Schrift, das auf gesamtkirchliche Verbindlichkeit zielt, hat Luther behauptet. Der Kirche ist damit in aller Form die Aufgabe eines Lehrdisputs mit dem Ziel der rechten gesamtkirchlichen Lehrdefinition und der Erneuerung der Praxis auf Grund dieser Erkenntnis gestellt“.70
66 Ebd.,
124 f. 125. 68 Ebd., 126. 69 Leppin, Eine neue Kirche bauen (wie Anm. 5), 147. 70 Selge, 135 f. 67 Ebd.,
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Indes wird nicht minder deutlich, dass für Luther, der seinem Selbstverständnis als Theologe nach nichts anderes sucht als die christliche Wahrheit, ein Widerruf ohne vorherige Belehrung nicht infrage kommt: „Gäbe er ohne Belehrung nach, so gäbe er dann den Boden unter seinen Füßen preis, das verbindliche Wort, auf das Verlaß ist, die infallibilis veritas. Jede andere Infallibilität wird sich nun ihm gegenüber an dieser zuverlässigen Wahrheit bewähren müssen; sonst gibt es keinen weiteren Weg miteinander“.71
Der weitere Gang der Ereignisse ist bekannt, und er mündet unter immer weiter voranschreitender Klärung der theologischen Grundpositionen Luthers vor sich und seinen Zeitgenossen in die „Zertrümmerung der kirchlichen Autoritäten, zuletzt der Autorität des Papstes und der allgemeinen Konzilien. Damit war die bestehende Form der Kirche getroffen. Die Antwort der Kirche, mit der er es damals allein zu tun hat, ist der große Fluch“.72 Der damit markierte Bruch war letztlich zwangsläufig und auf beiden Seiten nur konsequent; Luthers neues Grundverständnis der christlichen Religion ließ ihm keinen Platz mehr in den Ordnungen und Traditionen der Papstkirche; diese wiederum war trotz ihrer kaum überschaubaren Vielgestaltigkeit und der damit einhergehenden Pluralismusfähigkeit ihrer Theologie nicht in der Lage, den reformatorischen Impuls mittels ihrer doktrinären und institutionellen Strukturen abzufangen und zu verarbeiten, weshalb er notwendig von ihr ab- und ausgestoßen wurde. Darin hauptsächlich eine geschichtliche Tragik zu sehen, herbeigeführt letztlich durch eine irgendwie bedauernswerte Kette der Missverständnisse und Verhärtungen, ignoriert die Tiefendimension dessen, was im Nachhinein als reformatorischer Neuaufbruch zu stehen kommt, und unterschätzt oder verkennt gar das fortschreitend Schöpferische der Person und des Denkens keineswegs nur, aber besonders Luthers. Wer freilich „nur auf die Begriffe achtet, mit denen er [scil. Martin Luther, C. W.] arbeitet, der wird von diesem Fortschritt freilich zunächst vielleicht nur wenig wahrnehmen, denn er bietet durchweg den neuen Wein in alten Schläuchen dar. Er behält die alten scholastischen Begriffe Erbsünde, eingegossene Gnade, Glaube, gute Werke, Gerechtmachung usw. bei, aber er gibt ihnen einen ganz anderen Inhalt“.73
Genau das stellt auch Selges lediglich grob skizzierte Analyse gleichermaßen exemplarisch wie mustergültig vor Augen. Denn – so Selge – das „eigentliche Ereignis der Reformation – auf den formalen Aspekt beschränkt – ist es, daß die Exegese bei Luther kritischer und eindeutiger wurde, daß sie den alten Grund Ebd., 136. Elert, Werner, Morphologie des Luthertums, Bd. 1: Theologie und Weltanschauung des Luthertums hauptsächlich im 16. und 17. Jahrhundert, München 21958, 224. 73 Boehmer, Heinrich, Der junge Luther. Mit einem Nachwort von Heinrich Bornkamm, Leipzig 61954, 113. 71 72
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satz vom theologisch alleinverbindlichen Literalsinn […] aktualisierte und daß sie, gestützt auf die alte unbestrittene Überlieferung von der obersten Autorität der Schrift in der Kirche allgemeine kirchliche Verbindlichkeit beanspruchte und damit den anderen erbaulichen oder juristisch zweckmäßigen Exegesen, die je an ihrem Sitz im Leben ihr Leben fristeten, den Lebensraum und die Wirkmöglichkeit mit zunehmender Konsequenz beschnitt“.74
Auch im Umgang mit Mt 16 und ähnlich konventionellen Belegstellen für die Autorität und Vollmacht des Papstes ist somit bereits für die Anfangsjahre der Reformation „nicht zu bestreiten, daß Luthers traditionsgebundene und traditionsgedeckte Aussagen schließlich ganz spezifische Spitzen und Neuprägungen von den eigensten Ergebnissen seiner Schriftexegese her erhalten. Das sind die Elemente, die Luthers eigenste Beweggründe enthalten, in denen die letzte Kraft seines Vorgehens verborgen ist und an denen sich dann in Zukunft immer deutlicher der eigentliche Streit entzündet“.75
Trotz oder vielleicht auch wegen des Ausgangs der Begegnung mit Cajetan gibt Luther zwar die Hoffnung noch nicht auf, „den Papst als die Stimme Christi und die Stimme Christi aus dem Papst“76 zu hören; doch seine diesbezüglichen lange gepflegten und offen artikulierten Gewissheiten schwinden ihm im Nachgang zu den Ereignissen in Augsburg zusehends bis hin zur völligen, unumkehrbaren Erosion. Positiv gewendet: Durch Cajetans Absage an seine Disputationsbemühungen und an seine Argumentationsweise gewinnt Luthers Standpunkt „Einheit und inhaltliche Schärfe. Der status confessionis ist erreicht, aus dem heraus sich die Kirche dieser confessio formieren wird; er ist erreicht durch den Angriff Cajetans auf die Norm, die die überlieferten Normen der Christenheit unter allen Umständen als ihren eigentlichen Kern, als das, wovon das Heil abhängt, als das, was den Christen zum Christen und die Kirche zur christlichen Kirche macht, schützen müssen“.77
Die Zunahme an Einheit und Schärfe ist mitbedingt durch Luthers verstärkte Verknüpfung seiner theologischen Reflexionsfelder und durch die konsequente Zusammenführung der nach und nach gewonnenen und profilierten Einsichten. In seinem Folgenreichtum exemplarisch und diesen Beitrag abschließend veranschaulichen lässt sich das an seinem theologischen Eheverständnis.78 Die Ehe als von Gott in seinem gnädigen Heilshandeln gestiftete Gemeinschaft von Eheleuten und Kindern wird ihm in seinem Sermon Von den guten Werken79 74 Selge,
27. Ebd., 29. 76 Ebd., 153. 77 Ebd., 170. 78 Siehe dazu umfassend Witt, Christian Volkmar, Martin Luthers Reformation der Ehe. Sein theologisches Eheverständnis vor dessen augustinisch-mittelalterlichem Hintergrund, Tübingen 2017 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 95). 79 WA 6, 202–276. 75
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eine „rechte kirche, ein außerwelet Closter, ja ein Paradiß“.80 Die Kinder werden ihren Eltern von Gott anvertraut, gerade damit diese an jenen im Zuge der christlichen Erziehung wahrhaft christliche Werke tun können. Später, in seinem Sermon Vom ehelichen Leben,81 führt Luther zugespitzt dann aus, Vater und Mutter seien „der kinder Apostel, Bisschoff, pfarrer, ynn dem sie das Euangelion yhn kundt machen“.82 Mit anderen Worten: Die Eltern sollen ihrem Nachwuchs zur Kirche werden. „Und kurtzlich, keyn grosser, edler gewalt auff erden ist denn der elltern uber yhre kinder, Syntemal sie geystlich unnd welltlich gewallt uber sie haben. Wer den andern das Euangelion leret, der ist warlich seyn Apostel und bischoff “.83 Damit ist die hohe Verantwortung der Eltern gegenüber ihrem Nachwuchs genauso unzweideutig benannt wie ihre ihnen von Gott zugedachte heilsgeschichtliche Funktion. Zur Identifizierung derselben erkennt nun der Reformator dem Elternhaus den Heilsrang zu, den sich eigentlich und ursprünglich die empirische hierarchische Kirche in ihrer Selbstwahrnehmung eben als Heilsanstalt zuschreibt. Der theologische Ermöglichungsgrund dafür liegt nun in der Annahme des Reformators, dass die Aufgabe der Kirche ihr Zentrum nicht in der sakramentalen Heilsvermittlung hat, sondern in der worthaften Verkündigung, in der worthaften Kommunikation; das Sakrament braucht Priester, das Wort nicht. Denn das biblisch begründete, ermächtigte und unterstützte Wort der Verkündigung, verstanden als lebendige Anrede, in der und durch die sich der biblische Jesus Christus in seiner Heilsmacht selbst vergegenwärtigt, rückt ins Zentrum des Verständnisses der christlichen Religion und ins Zentrum allen kirchlichen Tuns. Das verkündigende Wort, welches zuvor dienend als Einweisung und Unterweisung den Sakramenten als den eigentlichen Heilsmedien zugeordnet war, wird zum Gnadenmittel schlechthin. So rückt also die Predigt ins Zentrum des Kultus, aber eben die reformatorisch ganz neu verstandene und zentrierte Predigt. Unter diesen Voraussetzungen ist somit nicht die empirische hierarchische Kirche die geistliche Obrigkeit der Kinder, sondern deren Eltern, nicht die Heilige Mutter Kirche trägt die Verantwortung für das Seelenheil des Nachwuchses, sondern dessen Erzeuger, nicht die Bischofskirche ist für die Predigt des Evangeliums zuständig, sondern das Elternhaus.84 Bis zu diesem gedanklichen Punkt ist es allerdings Ende 1518 noch ein weiter, verschlungener und beschwerlicher Weg. Allein seine ekklesiologischen Voraus Ebd., 254. WA 10/2, 275–304. 82 Ebd., 301. 83 Ebd. 84 Dabei formuliert Luther in seinem Sermon Vom ehelichen Leben eine Funktionszuweisung aus, die ihren Wurzelgrund letztlich in seiner theologischen Reflexion der Bedeutung des Elternhauses innerhalb der christlichen Gesellschaft hat – und die er seit 1520 gedanklich längst vorbereitet hat, nämlich maßgeblich in seinen Operationes in Psalmos (WA 5), wie Voigt-Goy, Potestates und ministerium publicum (wie Anm. 15), 125–129, belegt. 80 81
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setzungen sind in wesentlichen Einsichten seit 1518 entwickelt, ohne dass Luther sich darüber schon vollkommen im Klaren gewesen wäre. Klar ist er sich aber bereits über eine für seinen Kirchenbegriff essentielle und zukunftsträchtige Tatsache: Nach seinem Verständnis ist allein „die Schrift Maßstab dafür, was als gute Tradition der Kirche gelten kann und was nicht. Weil Luther diesen Maßstab mit Nachdruck geltend macht, daher kann sein grundsätzliches Ja zur Tradition der Kirche nun doch kein vorbehaltloses sein. Es schließt vielmehr die Möglichkeit eines Nein ein. Dieses Nein ist kein grundsätzliches und allgemeines, sondern immer ein konkretes und immer ein solches, das mit der Schrift begründet werden muß. Aber es wird unausweichlich, wo die Tradition sich mit der Schrift nicht in Einklang bringen läßt, sondern ihr offenkundig widerspricht“.85
Folglich kann die „Autorität der Kirche als solche, ihrer Väter, ihrer Überlieferung, ihrer Ämter und Organe […] keine unbedingte sein“; außer und neben „dem Wort Gottes gibt es […] für Luther keine unbedingte Autorität“86 – und nicht zuletzt von dieser ihm unaufgebbaren Erkenntnis aus sollte er die weitere Auseinandersetzung mit Rom tragen und gestalten.
85 Althaus, Theologie (wie Anm. 31), 289. Luthers Stellung zur Tradition der Kirche und seine Wahrnehmung der Kontinuität derselben beleuchtet eingehend Maurer, Wilhelm, Luthers Anschauungen über die Kontinuität der Kirche, in: ders., Kirche und Geschichte. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1: Luther und das evangelische Bekenntnis, herausgegeben von ErnstWilhelm Kohls und Gerhard Müller, Göttingen 1970, 76–102. 86 Althaus, Theologie (wie Anm. 31), 291.
Luthers späte Rückblicke auf das Augsburger Verhör Volker Leppin Erinnerung ist, das macht die allgemeinhistorische Forschung1 deutlich, ein schlüpfriger Grund für historische Rekonstruktionen. Das gilt auch für die Erinnerungen Martin Luthers. Die Tischreden, die gerne für biographische Rekonstruktionen herangezogen werden, sind insbesondere durch die gründliche Untersuchung von Ingo Klitzsch2 in erster Linie als Produkte der Interessen ihrer Redaktoren erkennbar. Als verlässliche Erinnerungszeugen taugen sie nur sehr begrenzt. Das gilt für sie allein schon durch den schwierigen Traditionsprozess. Es gilt aber auch für alle jene Stücke, in denen wir authentische Erinnerungen Martin Luthers zu haben meinen. Grundsätzlich ist auch für diese wie für jede menschliche Erinnerung vorauszusetzen, dass sich echte Erinnerung und Verschiebungen aufgrund späterer Wahrnehmungen und Deutungen ineinander verschlingen. Die folgenden Zeilen sind ein Versuch, diesen Prozess für Luthers Erinnerungen an das Augsburger Verhör nachzuzeichnen.3
1. Die Beschreibung in der Vorrede von 1545 Das am ausdrücklichsten autobiographisch angelegte Stück aus Luthers Werken ist seine Vorrede zum ersten Band der lateinischen Werke, die vor allem unter dem Gesichtspunkt der reformatorischen Wende vielfach Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden hat.4 Die Vorrede sollte bekanntlich den ganzen Band einleiten – und eben am Augsburger Verhör kann man sehen, wie präzise Luther 1 Vgl. Fried, Johannes, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2012. 2 Vgl. Klitzsch, Ingo, Redaktion und Memoria. Die Lutherbilder der Tischreden, Tübingen 2020 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 114). Die Arbeit macht deutlich, dass die Tischredenphilologie komplett auf neue Füße zu stellen ist. Ingo Klitzsch danke ich auch für eine kritische Durchsicht dieses Manuskripts. 3 Zur historischen Rekonstruktion siehe Selge, 110–148. Das Augsburger Verhör ist aufgrund zeitnaher Quellen recht gut zu rekonstruieren (siehe Hennig, 61–63) und bietet daher in besonderer Weise auch die Möglichkeit, die späten Erinnerungen zu überprüfen. 4 Lohse, Bernhard (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (WdF 123); ders. (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart / Wiesbaden 1988 (VIEG 25).
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sich an dieser Funktion orientierte. Seine Erzählungen hierzu betrafen lediglich das Vorfeld und den Rahmen des Verhörs, für dieses selbst aber verwies Luther auf den folgenden Abdruck.5 So kann die Schilderung dieses Geschehens auch einen weiteren Einblick in die Machart dieser Vorrede und ihre von Rolf Schäfer eindrücklich herausgearbeitete konsequente Ausrichtung auf ihre Funktion zur Einleitung in die folgenden Textstücke geben.6 Genau genommen füllte Luther mit dem Bericht in der Vorrede nämlich eine Lücke aus, die die Acta gelassen hatten: „Also bin ich, um nicht zuzulassen, dass sich der Erlauchteste Kurfürst Friedrich von Sachsen etc. vergeblich für mich abgemüht hätte (überaus gütig nämlich hat er mich mit Kosten wie auch mit Empfehlungsbriefen versehen und sich schon im Vorfeld allergnädigst dafür eingesetzt, dass die Sache außerhalb Roms verhandelt würde), nach Augsburg gekommen. Dort wurde ich von dem Allerehrwürdigsten Herrn Kardinallegaten reichlich gütig und beinahe noch ehrerbietiger empfangen.“7
Diese Notiz erweckt den Eindruck, als habe unmittelbar mit der Ankunft in Augsburg das erste Verhör vor Cajetan begonnen. Erst der Rückblick von 1545 lässt erkennen, dass noch in Augsburg einiges diplomatische Bemühen voraufging.8 Zugleich bettet Luther das Geschehen nun in eine dramaturgische Schilderung ein, die das Bemühen des Kurfürsten konkretisiert und weiter unterstreicht. Im Erzählverlauf knüpft Luther – ohne Erwähnung der Heidelberger Disputation, obwohl die theologischen Thesen samt Übersetzung im Band abgedruckt sind9 – die Schilderung des Augsburger Verhörs unmittelbar an den Anfang des Ablassstreites an: Mit dem Öffentlichmachen seines Protestes gegen den Ablass einige Zeit nach der Versendung der Briefe mit den 95 Thesen an Kardinal 5 Luther,
Vorrede (WA 54, 182,3); die Akten sind abgedruckt in: TOMVS | PRIMVS OMNIVM | OPERVM REVERENDI DO-| MINI Martini Lutheri (…) Continens scripta (…) ab anno Chri| sti M. D.XVII. usque ad annum XX., Wittenberg: Johannes Luft 1545, CCVIIIr– CCXVv; neben Luthers eigenem Bericht enthalten sie auch die Brevis commemoratio des sächsischen Rates Johann Ruhl (CCVIIv–CCVIIIr; zur Identifikation Ruhls siehe Vollstaͤndige | REFORMATIONS-ACTA | und | DOCUMENTA, | oder | umstaͤndliche Vorstellung des Evangelischen | Reformations-Wercks, […] von | Valentin Ernst Loͤschern. Bd. 2, Leipzig: Johann Groß Erben 1723, 436). 6 Schäfer, Rolf, Zur Datierung von Luthers reformatorischer Erkenntnis, in: Lohse (Hg.), Durchbruch. Neuere Untersuchungen (wie Anm. 4), 134–153, hier 136 f. 7 Luther, Acta Augustana (WA 2, 7,16–21): „Igitur, ne et Illustrissimum Principem Electorem Fridericum ducem Saxoniae &c. frustra pro me laborasse permitterem (clementissime enim me et sumptu et epistolis commendatitiis providit, atque ut causa ex urbe committeretur, gratiosissime iam antea laboraverat), veni Augustam susceptusque fui a Reverendissimo domino Cardinale legato satis clementer ac prope reverentius.“ 8 Zu den Verhandlungen Friedrichs des Weisen und dem Hintergrund in der anstehenden Kaiserwahl siehe Lohse, Bernhard, Cajetan und Luther – Zur Begegnung zwischen Thomismus und Reformation, in: KuD 32 (1986), 150–169, 154; Wicks, 76–78; zum Nachgang siehe Kalkoff, Paul, Der Briefwechsel zwischen dem Kurfürsten Friedrich und Cajetan, in: ZKG 27 (1906), 323–332. 9 Luther, Tomus primus operum (wie Anm. 5), CXLIv–CXLVv.
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Albrecht von Mainz und Bischof Hieronymus Schulz von Brandenburg10 habe Luther, so schildert er es in drastischen Bildern, den Himmel in Aufruhr gebracht und einen Brand auf der Erde entfacht.11 Eben an dieser Formulierung kann man deutlich die Intensitätssteigerung gegenüber den Acta Augustana erkennen: Hatte er dort noch verwundert erklärt, er habe eine neue lateinische Sprache erlernen müssen, dass nämlich die Wahrheit zu lehren bedeute die Kirche zu verstören (perturbare),12 so verwandte er nun ein Wort desselben Stammes, deturbare13, machte aber aus dem verwunderten Hören eine Beschreibung des Vorganges selbst und rückte diesen in kosmische Dimensionen, indem zum Objekt des Verwirrens nicht mehr die Kirche, sondern der Himmel wurde.14 Die Änderung ist auch deswegen markant, weil die Formulierung ecclesiam perturbare offenkundig aus den durch Cajetan vermittelten päpstlichen Forderungen stammte, wonach Luther künftig alles unterlassen solle, was die Kirche verstören könne.15 Luther machte sich hiermit seinerzeit also einen Vorwurf seiner Gegner zu eigen – in der Vorrede knüpfte er hieran sprachlich an, ging aber zugleich inhaltlich darüber hinaus. In der Folge habe er, so geht sein Bericht weiter, als einzelner (unicus) erlebt, wie sich das gesamte Papsttum gegen ihn erhob.16 Der Kurfürst habe sich daraufhin an Cajetan gewandt, damit dieser Luther nicht nach Rom zwinge, sondern die Sache selbst beurteile.17 Das entspricht in etwa dem Verlauf, wie er aus der sächsischen Perspektive wahrnehmbar war, d. h. Luther beschrieb die rechtlichen Hintergründe von Seiten Roms nicht ausführlich – auch dies konnte 10 Luther, Vorrede (WA 54, 180,12–20): „Mox scripsi epistolas duas, alteram ad Moguntinensem archiepiscopum Albertum, qui dimidium pecuniae ex indulgentiis habebat, alterum dimidium papa, id quod tunc nesciebam, alteram ad ordinarium (ut vocant) loci, episcopum Brandenburgensem Hieronymum, rogans, ut compescerent quaestorum impudentiam et blas phemiam, sed pauperculus frater contemnebatur. Ego contemptus edidi Disputationis scedulam simul et germanicam concionem de indulgentiis, paulo post etiam Resolutiones, in quibus pro honore papae hoc agebam, ut indulgentiae non damnarentur quidem, sed bona opera caritatis illis praeferrentur.“ 11 Luther, Vorrede (WA 54, 180,21). 12 Luther, Acta Augustana (WA 2, 6,24 f.). 13 Luther, Vorrede (WA 54, 180,21). 14 Luthers Apokalyptik ist wohl eher eine Folge seiner Antichristprädikation für das Papsttum (siehe Leppin, Volker, Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen, in: ders., Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation, Tübingen 2015 [Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 86], 471–486), als deren Voraussetzung, so dass man für 1518, als er noch nicht zu der Überzeugung gelangt war, dass das Papsttum der Antichrist sei, auch keinen apokalyptischen Horizont voraussetzen kann. Die Stärkung der kosmischen Dimension reflektiert offenbar eben diese Einzeichnung in einen apokalyptischen Horizont. 15 Luther, Acta Augustana (WA 2, 7,16). 16 Luther, Vorrede (WA 54, 181,1 f.). 17 Luther, Vorrede (WA 54, 181,4–6): „Cajetanus, quem Dux illustrissimus Saxoniae Friedericus, Elector Princeps, causa mea adiit, et impetravit, ne Romam cogerer ire, sed ipse me vocato rem cognosceret et componeret“.
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unterbleiben, weil das Breve Leos X. an Cajetan vom 23. August 1518 ja Teil der Acta Augustana war.18 So verdichtete und überhöhte Luther die römische Seite des Geschehens in der Chiffre des Erhebens des Papsttums. Entscheidend waren die diplomatischen Bemühungen seines Kurfürsten, war also die sächsische Akteursperspektive, die vermutlich auch seine primäre Wahrnehmungsperspektive gewesen war. Nach dieser Präzisierung des kurfürstlichen Verhaltens folgt die eigentliche Füllung der Lücke im Bericht von 1518, in welchem Luther die ersten Tage seines Aufenthaltes in Augsburg mit Schweigen übergangen hatte und unmittelbar in den inhaltlich ja entscheidenden Dialog mit Cajetan eingestiegen war. Luther griff narrativ die Formulierung aus den Acta Augustana auf, er sei „pauperculus“ und „pedester“ zum Verhör erschienen:19 „Ich kam also zu Fuß und arm nach Augsburg.“20 Dies zeigt, zusammen mit der wenig zuvor erfolgten Selbstidentifikation als „pauperculus frater“21, dass mit der Armut keine soziologische Zuschreibung intendiert ist, sondern eine geistliche Bedeutung, mit welcher Luther noch 1545 das Bewusstsein seines Standes als Bruder eines Bettelordens in Erinnerung hält. Dann aber begann ein Drama anderer Art: Drei Tage lang war Luther, so berichtet er es nun im Nachhinein,22 Willens zum Kardinal zu gehen, wurde aber von den Hofleuten Friedrichs davon abgehalten, solange er kein freies Gehalt besitze, so dass er dem täglich zu ihm kommenden Boten – aufgrund der früheren Briefe identifizierbar als Urban von Serralonga23 – immer wieder eine Absage erteilen musste.24 Am dritten Tage sei es dann zu einem denkwürdigen Dialog gekommen: Luther habe Urban erklärt, dass er auf Anraten der Räte nicht ohne kaiserlichen Schutz oder sicheres Geleit25 zum Kardinal gehen werde – und es folgt eine plastische Schilderung der Reaktion: „Da sagte jener bewegt: ‚Was? Meinst du, dass Fürst Friedrich deinetwegen die Waffen ergreifen wird?‘ Ich sprach: ‚Das würde ich auf keinen Fall wollen.‘ ‚Und wo wirst du 18 Luther, Acta Augustana (WA 2, 22–25); in der Wittenberger Ausgabe (Luther, Tomus primus operum) fehlte das Breve an der entsprechenden Stelle der Acta (CCXIVv), weil es schon zuvor abgedruckt war (CCIVv–CCVv); vgl. auch das Inhaltsverzeichnis dieses Bandes bei Schäfer, Datierung (wie Anm. 6), 148–153. 19 Luther, Acta Augustana (WA 2, 7,1). 20 Luther, Vorrede (WA 54, 181,13): „Veni igitur pedester et pauper Augustam.“ 21 Luther, Vorrede (WA 54, 180,16). 22 Tatsächlich schrieb Luther auch schon am 10. Oktober 1518 an Spalatin, dass er seit drei Tagen vergeblich auf eine Audienz beim Kardinal warte (WA.B 1, 209 [Nr. 97,8]). 23 Siehe zu seiner Person Delius, Walter, Urbanus von Serralonga und der Prozeß Luthers, in: ARG 52 (1961), 29–48. 24 Luther, Vorrede (WA 54, 181,15–19). Das Schreiben Luther an Spalatin, 10. 10. 1518 (WA.B 1, 209 [Nr. 97,24–31]), erweckt allerdings den Eindruck, dass Urban erst am dritten Tage des Wartens zum ersten Mal kam. So versteht es auch Wicks, 93. 25 Zur Bedeutung von fides publica (Luther, Vorrede [WA 54, 181,23 f.]) siehe Grosses vollstaͤndiges | UNIVERSAL |LEXICON | Aller Wissenschaften und Kuͤnste. Bd. 9, Leipzig / Halle (Saale): Zedler 1735, 739.
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bleiben?‘ Da antwortete ich: ‚Unter dem Himmel.‘ Darauf jener: ‚Wenn du Papst und Kardinäle in deiner Gewalt hättest, was würdest du tun?‘ ‚Alle Ehrfurcht‘, sagte ich, ‚und Ehre würde ich ihnen entbieten:‘. Darauf bewegte jener seinen Finger mit einer italienischen Gebärde und sagte: ‚Hm‘. Und so ging er fort und kehrte nicht zurück.“26
So lebendig dieser Bericht ist, so geboten bleibt doch auch die Vorsicht im Umgang mit ihm. Strenggenommen ist es gerade diese Lebendigkeit, die den Bericht eher als anekdotische Zuspitzung wahrnehmen lässt denn als eine historische präzise Erinnerung siebundzwanzig Jahre nach dem Geschehen. Was sich hier verdichtet, ist zweierlei: Das nächstliegende, ausgedrückt in dem gestus Italicus, ist das Gegenüber der nordalpinen Kultur zu der italienischen, das Luther offenbar auch mit der Begegnung mit Cajetan assoziiert. Volker Reinhardt hat jüngst darauf hingewiesen, dass aus Sicht Roms diese kulturellen Differenzen nicht zu unterschätzen sind,27 und Luthers Erinnerung daran, dass Cajetan darauf verwiesen habe, dass der Papst sich um Ereignisse in Deutschland wenig kümmern werde (siehe unten), macht deutlich, dass dies auch auf seiner Seite mindestens ein Element der Begegnung mit dem italienischen Kardinal war, und zwar ein solches, das er schon unmittelbar zeitgenössisch besonders anhand von dessen Boten thematisierte, über den er im Oktober 1518 an Spalatin schrieb: „Breviter, Italus est & Italus permanet.“28 Größeres Gewicht hat jener Verweis darauf, dass Luther nicht nur nicht damit rechnete, dass Friedrich der Weise für ihn in den Krieg ziehen werde, sondern dies ausdrücklich auch nicht wollte. Als Luther am 10. Oktober 1518 Spalatin vom Besuch Urbans bei ihm berichtete, fehlte ein solcher Verweis noch.29 Es gibt aber eine Situation in Luthers Leben, in welcher er tatsächlich eine solche Alternative formulierte und in dem Sinne entschied, welchen der Bericht erkennen lässt: Als Luther am 24. Februar 1522 seinem Landesherren signalisierte, er wolle von der Wartburg zurück nach Wittenberg kehren, um die dort eingerissenen Unruhen zu beschwichtigen, signalisierte Friedrich ihm durch seinen Amtmann Johannes Oswald, „daß er sich noch zur Zeit in kein Weg wiederum dohin tun sollt“.30 Luther aber kümmerte sich darum nicht, sondern machte sich gleichwohl auf den Weg. Dem Kurfürsten machte er deutlich, dass ihm bewusst sei, dass dieser 26 Luther, Vorrede (WA 54, 181,25–30): „Hic commotus ille: Quid? (inquit) putas Principem Fridericum propter te arma sumpturum? Dixi: Hoc nollem prorsus. Et ubi manebis? Respondi: Sub coelo. Tum ille: Si tu papam et cardinales in potestate tua haberes, quid esses facturus? Omnem, inquam, reverentiam et honorem exhibiturus. Tum ille, gestu Italico movens digitum dixit: Hem. Et sic abiit, neque reversus est.“ 27 Reinhardt, Volker, Luther der Ketzer. Rom und die Reformation, München ³2017. 28 Luther an Spalatin, 10. 10. 1518 (WA.B 1, 209 [Nr. 97,31]); zu Luthers Vorurteilen gegen Italien in diesem Zusammenhang vgl. Delius, Urbanus (wie Anm. 23), 34. 29 WA.B 1, 209 (Nr. 97,24–32). 30 Friedrich der Weise, Instruktion für Johann Oßwald, 26. Februar 1522 (WA.B 2, 451 [Nr. 454 Nachgeschichte 63 f.]).
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sich dem Kaiser nicht widersetzen dürfe und könne.31 Das tat er auch deswegen, weil er sich dem menschlichen Schutz schon längst enthoben sah: „Solchs sei E. K. F. G. geschrieben der Meinung, daß E. K. F. G. wisse, ich komme gen Wittenberg in gar viel einem höhern Schutz denn des Kurfürsten. Ich hab’s auch nicht im Sinn, von E. K. F. G. Schutz begehren. Ja ich halt, ich wolle E. K. F. G. mehr schützen, denn sie mich schützen könnte. Dazu, wenn ich wüßte, daß mich E. K. F. G. könnte und wollt schützen, so wollt ich nicht kommen. Dieser Sachen soll noch kann kein Schwert raten oder helfen, Gott muß hie allein schaffen, ohn alles menschlich Sorgen und Zutun. Darumb: wer am meisten gläubt, der wird hie am meisten schützen.“32
Der Gedanke des schutzlos Behüteten, der sich unter dem Himmel bzw. unter dem Schutz Gottes bewegt und deswegen des irdischen Schutzes durch seinen Landesherren Friedrich den Weisen nicht bedarf, verbindet diese Briefstelle von 1522 offenkundig mit der Erinnerung von 1545. Das lässt vermuten, dass Luther seine Haltung von 1522 nun in die von 1518 im Zusammenhang des Verhörs hineinprojizierte, das ihm ja im Duktus der Vorrede zum entscheidenden Auftakt im Kampf des Antichristen gegen sein gottgetriebenes Wirken geworden war. Im Zusammenhang des historischen Narrativs ebnete dieses Gespräch mit Urban den Weg dafür, dass endlich kaiserlicher Schutz beziehungsweise freies Geleit gewährt wurde,33 und Luther kann die Erzählung abbrechen beziehungsweise auf die folgenden Acta Augustana verweisen. Die damit verbundene theologische Deutung aber steigerte die eschatologische Dramaturgie des Geschehens. Die agonalen Züge wie die Betonung der Totalität des Geschehens machen im Rückblick das Verhör von 1518 zu einer, wenn nicht der entscheidenden Etappe in Luthers endzeitlichem Ringen mit dem Papst.
2. Eine Erinnerung in den Tischreden In der Jenaer Handschrift Ms. Bos. q. 24s34 findet sich eine Gruppe von Tischreden autobiographischen Inhalts.35 Georg Rörer oder seine Vorlage hat sie in eine Sammlung von Tischreden interpoliert, die als Nachschriften des Johannes Mathesius erhalten sind, und zwar an der Stelle der Tischrede Nr. 5107, in welcher Luther sich an das frühe Vorgehen von Kirche und Reich gegen ihn erinnerte. Sie Luther an Kurfürst Friedrich, 5. 3. 1522 (WA.B 2, 456 [Nr. 455,95–101]). Luther an Kurfürst Friedrich, 6. 3. 1522 (WA.B 2, 455 f. [Nr. 455,75–82]). 33 Luther, Vorrede (WA 54, 181,31–182,1). 34 Vgl. zu dieser Schäufele, Wolf-Friedrich, Zur handschriftlichen Überlieferung der Tischreden Martin Luthers und ihrer Edition, in: Katharina Bärenfänger et al. (Hg.), Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung, Tübingen 2013 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 71), 113–180, hier 161. 35 Es handelt sich um die WA.TR-Nummern 5342–5354. Zu ihrer Charakterisierung siehe Ernst Kroker in WA.TR 5, XIf. 31 32
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fand wohl am 2. August 1540 statt.36 Kroker hat aus verschiedenen Parallelen, insbesondere des gemeinsamen Fehlers „Pocksberg“ für „Ebernburg“37 gefolgert,38 dass der gesamte Zyklus ebenso in den Sommer 1540 zu datieren sei. Das setzt allerdings voraus, dass Rörer in seiner Anordnung, auch wo er Inserierungen vornahm, einem chronologischen Muster gefolgt sei. Lässt man sich einmal hypothetisch auf diesen Gedanken ein, so würde dies bedeuten, dass Luther recht lange – und vermutlich mehrere Abende lang – autobiographische Erzählungen vorgenommen hätte. Dabei hätte er zudem in kürzester Zeit zweimal von Tetzels Ablasspredigt in Jüterbog erzählt,39 zwischen beiden Erzählungen aber eine knappe Liste von Lebensdaten gegeben.40 Ein solcher Verlauf mit hoher, lang anhaltender thematischer Geschlossenheit ist nach allem, was wir sonst aus der Tischredenüberlieferung kennen, wenig wahrscheinlich.41 Löst man sich von dem strikten Bemühen Krokers, Datierungen herbeizuführen,42 so wird man wohl feststellen müssen, dass diese Tischredenstücke überhaupt nicht zu datieren sind, ja, man wird unter Umständen auch die von Kroker aufgenommenen literarischen Einheiten noch einmal hinsichtlich ihrer Stimmigkeit in Frage stellen müssen. So finden sich allein in dem für das Augsburger Verhör zur Rede stehenden Stück Tr. 5349 einige auffällige Brüche beziehungsweise unelegante Überleitungen. So ist einmal in einem Verweis auf den Augsburger Reichstag von Luther in der dritten Person die Rede,43 während es sich sonst um eine Erzählung in der ersten Person Singular handelt. Zudem ist in die Erzählung vom Augsburger Reichstag mit der Bemerkung „inter haec addit aliam historiam“ eine Erzählung über seine Anreise, auf der er die Kutte wechselweise mit Linck trug und die letzten drei Meilen mit einer Kutsche fuhr, sowie über seine Flucht auf einem Pferd eingefügt.44 Diese Episode unterbricht den Verlauf der Erzählung und greift ihr zum Teil voraus. Vieles spricht daher dafür, dass sie in einen vorliegenden Zusammenhang interpoliert wurde. Wenn dem aber so ist, wird man von Krokers Annahme, es handele sich bei den autobiographischen Berichten um die Wiedergabe einer zusammenhängenden Kette von Erzählungen Vgl. WA.TR 4, 666 f. (Nr. 5107); vgl. zu dieser Stelle der Einfügung Kroker in WA.TR 5, XI. WA.TR 4, 667,1 (Nr. 5107). 38 WA.TR 5, 101,13 (Nr. 5375b). 39 Vgl. WA.TR 5, 76,13 f. (Nr. 5346) mit ebd. 77,12 f. (Nr. 5349). 40 Vgl. WA.TR 5, 76 f. (Nr. 5347) – dieses Teilstück verweist seinerseits in der Tat auf das Jahr 1540: „1540 fui 56 annorum“ (ebd. 77,3). 41 Vgl. Michel, Stefan, Thematische Bearbeitungen der Tischreden Martin Luthers durch Georg Rörer (1492–1557). Beobachtungen zu Überlieferung und Funktion, in: Katharina Bärenfänger et al. (Hg.), Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung, Tübingen 2013 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 71), 221–240, hier 240. 42 Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Krokerschen Ausgabe siehe jetzt gründlich und materialreich Klitzsch, Redaktion und Memoria (wie Anm. 2). 43 Vgl. WA.TR 5, 78,5 (Nr. 5349): „comburitur“; zwei Varianten bieten allerdings: „combustus eram“. 44 Vgl. WA.TR 5, 78,6–16 (Nr. 5349). 36 37
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Luthers Abstand nehmen müssen. Es handelt sich vielmehr um eine von Rörer oder vor ihm von einer anderen Person thematisch zusammengestellte Gruppe solcher Erzählungen. Dann aber wird man die Datierung um 1540, die auf der genannten Hypothese Krokers beruht, nicht mehr aufrechterhalten können, leider allerdings auch nicht durch eine neue Datierung ersetzen können. Dieser Befund wird noch dadurch unterstrichen, dass Aurifaber im ersten Band seiner Eislebener Ergänzungsausgabe eine in das Jahr 1546 „kurtz vor seinem Tode“ versetzte Version bietet, die er selbst „damals auffgeschrieben“ haben will.45 Letzterer Verweis erinnert nicht nur angesichts der offenkundigen literarischen Abhängigkeiten von Tr. 534946 an die Unsicherheit jeglicher Tischredenüberlieferung bzw. jeglicher den Tischreden beigegebener Authentifizierungsversuche. Er zeigt vor allem, dass die Datierung dazu diente, den lokalen Bezug wie auch den Bezug auf den Herausgeber herauszustreichen. Erweist sich also die Angabe „1546“ als falsch, so bedeutet dies keineswegs, dass Krokers Annahme 1540 korrekt wäre. Sie zeigt vielmehr, dass für Aurifaber jedenfalls noch keine feste Verbindung mit dem Jahr 1540 vorausgesetzt war. Die Unsicherheit erhöht sich noch mehr, bezieht man die Erwägungen mit ein, dass nicht alles, was als Tischrede überliefert ist, auch aus einer Tischredensituation stammen muss. So enthalten die „Tischreden“ auch Stücke, die ursprünglich schriftlich waren,47 und genau das ist hier nicht auszuschließen. Zumindest bei einem Teil der zusammengeführten Texte könnte es sich auch um Aufzeichnungen Luthers handeln, welche der Vorbereitung der Vorrede zu den lateinischen Werken dienen sollten – hierfür spricht insbesondere die gleich noch zu behandelnde parallele Überlieferung des Urban-Gesprächs. Freilich ist auch diese Annahme nicht mehr als eine Möglichkeit, schärfer gesagt: eine Spekulation, die unterstreicht, dass Datierung und Entstehung des Textstückes sehr unsicher sind – beides aber nicht gegen eine enge Verbindung mit Luther selbst als Urheber spricht. Im Gegenteil gibt es ein Indiz, das hierfür spricht, nämlich die Erwähnung des sonst wenig bekannten, aus einer Augsburger Patrizierfamilie stammenden Freisinger Kanonikers Christoph Langenmantel.48 Der Bericht enthält insbesondere die Schilderung, die dann auch die Vorrede ausmacht: Luther erwähnt jenen Boten, der ihn dazu bewegen wollte, zu Cajetan zu gehen, und hebt auch hier hervor, dass es sich um einen Italiener handelte, und zwar mit deutlich negativer Einschätzung: Italienern sei, so hätten es ihm die Räte gesagt, nicht zu trauen.49 Auch hier kommt es dann zur Schilderung WA 59, 733 (zu Nr. 5349). Siehe WA 59, 733, Anm. 1. 47 Siehe etwa WA.TR 1, 177,31 (Nr. 409): „Haec Lutheri manu scripta vidi.“ 48 Vgl. WA.TR 5, 78,19 f.; siehe zu Christoph Langenmantel: Luther an Christoph Langenmantel, 25. November 1518 (WA.B 1, 255–257 [Nr. 113]), mit den einleitenden Bemerkungen der Herausgeber. 49 Vgl. WA.TR 5, 79,5–7 (Nr. 5349). 45 46
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jenes Dialogs, mit nur ganz wenigen Abweichungen von der vermutlich späteren Fassung in der Vorrede: „‚Warum kommst du nicht zum Kardinal? Er ist dein huldvoller Herr. Wenn du nur sagst: Ich widerrufe [revoco], wirst du dich schützen. Das sind nur sechs Buchstaben, das kannst du doch ohne Weiteres sagen!‘ Aber ich zog ihn auf. Und zum dritten Mal sagte ich offen, dass ich eine Anordnung hätte, zu bleiben. ‚Was heißt das?‘ fragte der Unterhändler, glaubst du etwa, dass die Fürsten deinetwegen die Waffen ergreifen?‘ ‚Auf keinen Fall!‘, antwortete ich. ‚Wo willst du dann bleiben?‘ ‚Unter dem Himmel‘ Daraufhin ging er mit seinen Dienern fort von mir.“50
Gegenüber der späteren Fassung in der Vorrede fallen hier zwei Elemente auf: Zum einen wird deutlich, dass schon Urban als Unterhändler Luther klargemacht hat, dass von ihm nicht mehr erwartet werde als ein glatter Widerruf – das ist eine durchaus zuverlässige Erinnerung: Genau so hatte es Luther schon am 10. Oktober 1518 Spalatin berichtet.51 Zum anderen spricht Urban nicht allein wie in der späteren Erinnerung von Friedrich dem Weisen, der zu den Waffen greifen könnte, sondern von den Fürsten insgesamt. Dies unterstreicht noch einmal die Kontamination der Erzählung mit der Erinnerung an Worms. Während man für Augsburg allein Friedrich den Weisen als Schutzherren annehmen kann, war Luther sich dessen bewusst, dass Worms eine Konstellation heraufführte, in welcher ein Verband von Fürsten sich um seiner Sache Willen gegen den Kaiser hätte verbünden können. Im Rückblick erklärte er 1522 in den Invokavitpredigten: „Wann ich hett woellen mit ungemach faren, ich wolt Teütsch landt in ein groß pluot vergiessen gebracht haben, ja ich wolt woll zuo Wurmbß ein spil angericht haben, das der keyser nit sicher wer gewesen. Aber was were es? Ein narren spil wer es gewesen. Ich hab nichts gemacht, ich hab das wort lassen handeln.“52
Die „Tischrede“ oder der Entwurf für die Vorrede also unterstreicht den Eindruck, dass Luther oder sein mitschreibendes Umfeld die verschiedenen Etappen der Auseinandersetzung verdichtete und vieles in das Augsburger Verhör projizierte, was in dieses nicht gehörte. Der Bericht informiert auch etwas genauer als die spätere Vorrede über das Zustandekommen des freien Geleits, das Luther hier vor allem auf das Wirken des Grafen Schauenburg zurückführt.53 Anders als in der Vorrede folgt dann ein Bericht über das Verhör, das an einzelnen Punkten von den Acta Augustana 50 WA.TR 5, 79,8–13 (Nr. 5349) „Quare non venis ad cardinalem? Est tuus gratiosus dominus. Si modo dicis: Revoco, te ipsum servabis; hae sunt 6 literae, facile poteris dicere! At ego lactavi eum. Tertio aperte dicebam me habere mandatum, ut hic me continerem. Quid hoc est? inquit orator, putasne principes tua causa arma capere? – Nequaquam! respondi. – Ubi igitur manere vis? – Sub coelo! Itaque hic abiit cum famulis a me.“ 51 Vgl. Luther an Spalatin, 10. 10. 1518 (WA.B 1, 209 [Nr. 97,28 f.]). 52 Luther, Predigten des Jahres 1522 (WA 10/3, 19,3–7). 53 Vgl. WA.TR 5, 79,15 (Nr. 5349); zur Identifikation siehe WA 59, 736, Anm. 13.
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abweicht beziehungsweise über diese hinausgeht. So bietet die Tischrede Hinweise auf das protokollarische Vorgehen: Sie berichtet, dass er auf Anweisung der Räte sich vor dem Kardinal zu Boden geworfen habe.54 Das erste Verhör durch Cajetan ist gleichwohl weniger formalisiert als in den Acta. Diesen zufolge hatte Cajetan sich auf seine Anordnungen aus Rom berufen, denen zufolge er von Luther dreierlei verlange: erstens Widerruf, zweitens Versprechen künftiger Zurückhaltung von den bisherigen falschen Lehren und schließlich drittens generellen Verzicht auf alles, was die Kirche erregen könne.55 Dies klang nun in der „Tischrede“ anders: Hiernach habe Cajetan einzig den Widerruf gefordert, Luther selbst habe, nach dem Duktus: von sich aus, künftiges Schweigen angeboten, freilich unter der Bedingung, dass auch die Gegner schwiegen. Dies aber habe Cajetan nicht gereicht, dem es „simpliciter“ darum gegangen sei, dass Luther widerrufe.56 Das Gespräch spitzte sich so in der Tischrede auf den Widerruf zu, und zugleich wurde Luther selbst zu einem stärkeren, eigenständigeren Akteur, der selbst in Vorschlag brachte, was doch tatsächlich Forderung von päpstlicher Seite gewesen war, und hier auch noch Bedingungen stellte. Hier schiebt die Tischrede unterschiedliche Ereignisfäden ineinander: Nicht im Zuge des Verhörs, wohl aber im Nachgang schrieb Luther, noch von Augsburg aus, am 17. Oktober 1518, er verspreche, künftig von der Ablasssache zu schweigen – unter der Voraussetzung, dass auch seine Gegner dies täten.57 Der Vorgang ist im Grundsatz ein ganz ähnlicher wie im Falle der Verbindung mit Erinnerungen, welche eigentlich an Worms haften: Es kommt, erinnerungspsychologisch kaum überraschend, zu Interferenzen zwischen unterschiedlichen Erlebnisetappen und der an sie gebundenen Erinnerung.58 Auch an einer theologisch relevanten Stelle klingt die Tischrede anders als die Acta: Hatte dort ein klarer Streit um die Gültigkeit der Schrift im Verhältnis zu den päpstlichen Extravaganten stattgefunden,59 so heißt es nun, Cajetan habe die Irrtumsfreiheit der Schrift in Zweifel gezogen, indem er darauf verwies, dass Matthäus in Mt 27,9 das Sacharja-Zitat über die dreißig Silberlinge (Sach 11,12 f.) Jeremia zugeschrieben habe.60 So wird aus dem Streit um die 54 Vgl.
WA.TR 5, 78,16 f. (Nr. 5349). Luther, Acta Augustana (WA 2, 7,24–26). 56 WA.TR 5, 78,19–25. (Nr. 5349). 57 Vgl. Luther an Cajetan, 17. 10. 1518 (WA.B 1, 221 [Nr. 103,30–34]). Luther hatte offenbar dabei in Erinnerung, was seinerzeit auf Anregung von Miltitz verabredet worden war: „Zcum ersten wolt ich vorheyßen, dießer materien hynfurter still zcu steen vnd die sach sich selb laßen zcu todt blütenn (ßo fernn der widderpart auch schweyge“ (Luther an Kurfürst Friedrich, 5. oder 6. 1. 1518 [WA.B 1, 290 (Nr. 128,11–13)]). 58 Vgl. Bei solchen Interferenzen ist vielfach davon auszugehen, dass sie Luther selbst unterliefen. Die Tischrede 5375b (WA.TR 5, 100–102), in welcher das Augsburger Verhör mit den Geschehnissen in Worms verquickt wird, dürfte in dieser Gestalt aber auf den Schreiber / Abschreiber zurückgehen, der über die Ereignisse offenkundig wenig Bescheid wusste. 59 Vgl. zu diesem Gesprächsgang Pesch, 650–654. 60 Vgl. WA.TR 5, 79,29 (Nr. 5349). 55 Vgl.
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Auslegungsmöglichkeit der Heiligen Schrift in der Erinnerung eine Debatte um deren Geltung überhaupt. Die weiteren, in den Acta ausführlich dargestellten Auseinandersetzungen um die Bulle Unigenitus von Papst Clemens VI. aus dem Jahre 1343 kürzte die Tischrede dann erheblich ab und spitzte sie auf die Frage der Revokation zu.61 Wie erwähnt, gibt es in Aurifabers Eislebener Ausgabe noch eine bearbeitete Variante dieser „Tischrede“. Ob diese tatsächlich unter Erinnerungen Luthers einzuordnen ist, muss als fraglich gelten. Die Herausgeber der WA gehen davon aus, dass Aurifaber neben der vorgestellten „Tischrede“ eine weitere „unbekannte […] Quelle“ benutzt habe.62 Ob diese schriftlich oder mündlich war, lässt sich allerdings nicht entscheiden. Aufgrund der Fassung des Gesprächs mit Urban, die Aurifaber bietet, lässt sich aber annehmen, dass er tatsächlich auf eine Quelle zurückgriff, die ihrerseits ihren Ursprung bei Luther hatte. Bei ihm findet sich nämlich jene Frage nach Luthers möglichem Umgang mit den Kardinälen und der Kirche, die in der Vorrede berichtet wird, ‚nicht aber in der „Tischrede“ Nr. 5349: „Aber alle tage kamen des Cardinals diener, sagten: ‚Der Cardinal lesset euch alle gnade entbieten. Warumb furcht jhr euch? Est mansuetissimus pater‘. Aber ein ander sagt zu mir ins ohr: ‚Non credas, Er helt kein glauben‘ Am dritten tage kamen sie wider: ‚Quare non venis ad cardinalem? ‘ Es were doch nur vmb 6 Buchstaben zuthun: ‚REVOCA‘. Es hette keine not (es weren aber tewer Buchstaben gewesen, vnd were nicht dazu kommen: ‚Revoca‘, Sed: ‚OCCIDE‘), vnd sagte dem Orator frey heraus, es were mir verboten, das ich zum Cardinal nicht solte gehen. Letztlichen, wie ich nicht komen wolt, helt der Legatus an: ‚Ecquid tu faceres, Si ita in manu cardinalem haberes, Vt ipse te habet? ‘ Respondi: ‚Omnem reuerentiam et omnia bona‘. Da lacht er vnd sprach: ‚Ha, Ha, nihil est‘ vnd sagt: ‚Putas, quod Princeps Fridericus propter te suas terras perdet?‘ Respondi: ‚Nolo‘, inquit ille, ‚V bi igitur manebis?‘ Respondi: ‚Sub coelo‘. Da ward er schellig vnd ritt von mir weg.“63
Die Ergänzung der Frage nach dem Umgang mit der Kirche ist nicht nur durch den Singular, mithin den Bezug auf Cajetan allein, offenkundig anders gestaltet als in der Vorrede, sondern auch durch die Anordnung vor der Frage nach einem möglichen Schutz durch Friedrich. Beides spricht dafür, dass Aurifaber hier, obwohl der von ihm vorgenommene Druck fast zwei Jahrzehnte nach der Vorrede erschien, nicht unmittelbar oder jedenfalls nicht allein aus dieser geschöpft hat. Da es sich zugleich um einen Stoff handelt, den Luther in der Vorrede selbst verwendet hat, besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Aurifaber Material benutzte, das wenigstens indirekt auf Luther zurückging. Das wäre auch deswegen bemerkenswert, weil diese Fassung dann möglicherweise schon die auch hier zu findende Zuspitzung des fürstlichen Schutzes auf Friedrich den Weisen Vgl. WA.TR 5, 80,1–8 (Nr. 5349). WA 59, 733, Anm. 1. 63 WA 59, 735,19–736,6 (zu TR Nr. 5349). 61 62
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enthielt. Was Aurifaber hierzu noch bietet, ist nicht viel: zum einen ein Verweis darauf, dass Maximilian Luthers Schriften mit einem gewissen Respekt wahrgenommen habe.64 Zudem erklärt er die lange Verzögerung, ehe Luther freies Geleit zugesichert bekam, mit der Abwesenheit des Kaisers zur Jagd.65 Man kann diese Berichtstradition also insgesamt als eine solche würdigen, in welcher Luther oder sein Umfeld unterschiedliche Erinnerungskreise zusammengedacht und insbesondere Geschehnisse rund um Worms in die Erinnerung an Augsburg hineingeschlungen hat. Hierdurch wurde das Augsburger Verhör in der Erinnerung bedeutsamer, als es gewesen war, und der Verlauf der frühen Reformation insgesamt stärker auf ein Geschehen punktualisiert, als es den tatsächlichen Vorgängen entsprechen dürfte. Zugleich zeigt sich eine gewisse Neigung Luthers oder seines Umfeldes, dem Reformator selbst verstärkt das Heft des Handelns auch dort zuzuweisen, wo er es offenkundig nicht innehatte.
3. Einzelstücke Neben den zwei ausführlichen Berichten gibt es noch einzelne Stücke, in welchen Elemente aus dem Augsburger Verhör benannt werden. Sie sind wegen ihres verstreuten, zum Teil aber auch gehäuften Vorkommens vor allem ein Indiz dafür, was Luther für besonders erinnernswert beziehungsweise die Tischredenschreiber für besonders berichtenswert hielten. 3.1 Unmittelbar an eine Bemerkung in den Acta Augustana, wonach Cajetan Gerson und die Gersonisten verurteilt habe,66 knüpft eine Tischrede an, der zufolge Cajetan Luther als einen Gersonisten bezeichnet habe, weil er vom Papst an das Konzil von Konstanz appelliere.67 Das ist in mehrfacher Hinsicht auffällig und auch merkwürdig: Zum einen konnte Luther schwerlich an das Konzil von Konstanz appellieren. Hier könnte die Parallele bei Aurifaber unter Umständen eine Klärung bringen, der den Zusammenhang etwas ausführlicher darstellt: „Zu Augsburg Anno 1518, da ich an ein Concilium appellirete vom Papst, da hieß mich der Cardinal ein Gersonisten. Da antworte ich: ‚Jch thät es aus Geheiß und Befehl des Concilii zu Costnitz, denn dasselbige hat sich am Ersten wider den Papst gelegt, und der Päpste wol drei abgesetzet.‘ Darauf sprach der Cardinal: ‚O, est reprobatum illud
64 Vgl. WA 59, 734,12–15 (zu TR Nr. 5349); vgl. die Vorlage hierzu in WA.TR 5, 74,27 f. (Nr. 5343). 65 Vgl. WA 59, 735,11 f. (zu TR Nr. 5349); die Abwesenheit des Kaisers als Grund für die Verzögerung der Gewährung des freien Geleites erwähnt auch schon Luther an Spalatin, 10. 10. 1518 (WA.B 1, 209 [Nr. 97,19]). 66 Vgl. Luther, Acta Augustana (WA 2, 8,12 f.). 67 Vgl. WA.TR 5, 213,23–25 (Nr. 5523).
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Concilium!‘ (Es gilt nichts mehr.) Denn der Papst hat wollen uber die Concilia und uber Gottes Wort sein.“68
Demnach wäre also gemeint, dass Luther das Recht zur Appellation mit Konstanz begründet hätte und hierdurch von Cajetan als Konziliarist eingeordnet wurde. Auffällig bleibt dabei die enge Verbindung mit dem Namen Gerson, insbesondere dass Luther in jener Tischrede den Ehrentitel des „Doctor consolatorius“ mit Gersons konziliaristischen Schriften verbindet,69 obwohl er in anderen Zusammenhängen durchaus weiß, dass dieser Trost sich eher mit Gersons frömmigkeitstheologischem Schrifttum verbindet.70 Hier wird man nur festhalten können, dass offenkundig unterschiedliche Traditionen ineinanderflossen. 3.2 Die Gersonbemerkung weist darauf hin, dass es in Augsburg möglicherweise einen ganzen Bereich persönlicher Bemerkungen gab, die uns nur durch einzelne Zufälle bekannt geworden sind. Hierzu gehört auch die von Luther berichtete Bemerkung Cajetans, dass der Reformator „profundos oculos“ und daher „mirabiles phantasias in capite“ habe.71 Zusammen mit der Gersonbemerkung verweist dies, wenn es sich um eine Erinnerung handeln sollte, darauf, dass es jenseits des streng formalisierten Ablaufs einen gewissen Bereich freierer und weniger sachorientierter Aussagen gegeben haben könnte, dass also die übliche Rekonstruktion aufgrund der Acta Augustana einer gewissen Abschleifung der Vorgänge folgt, die Luther selbst vorgenommen hat. 3.3 Etwas schwieriger erscheint eine klare Zuordnung der von Luther vielfach (und in leicht unterschiedlichen Formulierungen) berichteten verächtlichen Frage Cajetans: „Quid curat Papa Germaniam?“ Hier ist der Kontext der Berichte genau zu beachten.72 Luther führt diese Frage nirgends im Zusammenhang seiner ausführlichen zusammenhängenden Berichte über Augsburg an, weder in den Acta Agustana noch in den beiden oben behandelten. Neben einzelnen kürzeren Berichten in den Tischreden, auf die noch einzugehen sein wird, erscheint diese Frage immer wieder als isoliertes Versatzstück, und zwar in der Regel in einer Reihe mit anderen papstkritischen Aussagen, die von sich aus weder auf Cajetan noch auf das Augsburger Verhör bezogen sind, Cajetan aber mit dieser Frage als Exponent der Arroganz des Papsttums anführen73 – so konnte Luther dieses Zitat auch in den frühen dreißiger Jahren in seiner Jesajavorlesung erwähnen.74 Bemerkenswert ist, dass dieselbe Frage in WA.TR 1, 303,18–23 (Nr. 645). WA.TR 5, 213,22 f. (Nr. 5523). 70 Vgl. Luther, Confitendi ratio (WA 6, 166,2–7); WA.TR 2, 64,20–26 (Nr. 1351). 71 WA.TR 2, 421,5 (Nr. 2327). 72 Das habe ich nach meinem jetzigen Erkenntnisstand nicht ausreichend getan, als ich Luthers Nachricht, Cajetan habe dies in Augsburg gesagt, für glaubwürdig hielt (Leppin, 141). 73 Vgl. WA.TR 2, 565,21 f. (Nr. 2633); 3, 146,33 f. (Nr. 4120); 5, 674,1 f. (Nr. 6459). 74 Vgl. Luther, Vorlesung über Jesaja (WA 25, 142,23 f.). 68
69 Vgl.
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den Tischreden nicht nur im Munde Cajetans erscheint, sondern auch als allgemeiner Spruch in der Zeit des Papsttums.75 Dies spricht dafür, dass Luther die Frage tatsächlich zunächst als ein solches in Italien verbreitetes Sprichwort kannte und erst sekundär Cajetan zuordnete. Den Schlüssel dafür, dass Luther diese Frage schließlich in Cajetans Mund legte, könnte ein in der Sammlung Cordatus für das Jahr 1532 überliefertes Stück sein. Cordatus bietet hier eine Reihe von Stücken zum Augsburger Verhör, darunter auch folgenden Dialog: „Als ich zu Cajetan gekommen war, verspottete er mich und drängte mich zum widerruf. Aber die 6 buchstaben REVOCA wolten mir nicht eingehen. Wiederholt warf ich mich auf den Boden und bat ihn flehentlich, aber er schrie dauernd: REVOCA, Ich dagegen: Das will ich nicht. Und als er sagte: Wo wirst du als Gegner des Papstes bleiben. Ich antwortete: unter dem Himmel. Jener: Denkst du, dass der Fürst von Sachsen deinetwegen einen Krieg gegen den Papst beginnen werde? Ich: Das muss er nicht. Jener: Was kümmert den Papst Deutschland? Schließlich leiteten mich die Bürger, da alle Tore mit Wachen besetzt waren, auf einem verborgenen Weg heraus.“ (nicht übersetzte Stellen kursiviert)76
Der Dialog ist wohlbekannt – weist aber gegenüber den bisher wiedergegebenen Berichten einen markanten Unterschied auf: Luther führt hiernach diesen Dialog mit Cajetan selbst, nicht mit dessen Emissär Urban. In der Parallele der Leipziger Mathesius-Handschrift erscheint dieser Emissär noch,77 aber der Dialog ist dann deutlich als ein Gespräch mit dem Kardinal wiedergegeben, und zwar nicht nur durch die Zuweisung der Gesprächsanteile, sondern auch durch den erzählten Rahmen, nämlich ein mehrfaches Niederwerfen Luthers,78 welches vor dem Kardinal, nicht aber vor seinem Gesandten zu erwarten ist. Eine mögliche Vorlage für Cordatus wie für die Mathesius-Handschrift also referierte diese Episode als Teil des Verhörs selbst. Eben der Umstand, dass hier als Teil des Dialogs auch jene Frage: „Quid papa curat Germaniam“ erscheint,79 ist nun quellenkritisch im Blick auf den erwähnten Umstand markant, dass sie sich als Ausspruch Cajetans wie erwähnt in mehreren anderen Überlieferungsstücken findet. Man muss daher davon ausgehen, dass die Verbindung zwischen dem Sprichwort und Cajetan auf Luther selbst zurückzuführen ist. Eine plausible Erklärung hierfür könnte sein, dass der Bericht von Cordatus tatsächlich einen Bericht Luthers Vgl. WA.TR 3,17 f. (Nr. 4488). WA.TR 2, 596,7–15 f. (Nr. 2668a): „Cum ad Caietanum venissem, superbe me irridebat urgens ad revocationem. Aber die 6 buchstaben REVOCA wolten mir nicht eingehen. Saepe tamen prostratus supplex eum rogabam, sed continuo clamabat: REVOCA, ego contra: NOLO. Et cum dicebat: Ubi manebis contrarius papae? respondi: Sub coelo. Ille: Putas ducem Saxoniae propter te bellum suscepturum contra papam? Ego: Non debet. Ille: Quid papa curat Germaniam? Tandem omnibus portis custodibus obsessis cives occulto meatu me emiserunt.“ 77 Vgl. WA.TR 2, 597,1 f. (Nr. 2668b). 78 Vgl. WA.TR 2, 597,4 f. (Nr. 2668b). 79 WA.TR 2, 596,12 f. (Nr. 2668a); 597,7 f. (Nr. 2668b). 75 76
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wiedergibt. Dann hätten wir darin das Scharnier, an welchem Luther Sprichwort und Verhör verband. Leider besteht auch hier keine Sicherheit: Die Vermengung von Gesandtengespräch und Kardinalsverhör kann auch durch Cordatus selbst erfolgt sein. Vermutlich hätte er dann schon die Verbindung von Cajetan und Sprichwort vorgefunden und in seinen Bericht inseriert. Historisch wird man die berühmte Frage, was den Papst Deutschland kümmere, in der einen wie der anderen Variante nicht mit Augsburg verbinden dürfen. 3.4 Möglicherweise in den Bereich der oben angesprochenen Interferenzen mit anderen Ereignissen gehört der von Luther berichtete Gedanke, dass Reichstagsteilnehmer Cajetan kritisierten, weil er nicht habe zurückweichen wollen und so einen Friedensschluss verhindert habe.80 Ähnlich wie die oben benannten Fälle passt dies um vieles mehr in die Konstellation von Worms als die von Augsburg – hier scheint Luther oder sein Umfeld schon von einer Erinnerungsspur geführt, die Augsburg eine historisch größere Bedeutung zumisst, als angemessen ist. 3.5 Diese Steigerung der Bedeutung spiegelt sich auch in dem im engeren Sinne autobiographischen Bereich, ja, möglicherweise hat man gerade hier den Grund dafür, dass Augsburg eine solche Bedeutung für Luther gewinnen konnte. Das hat freilich gerade nichts unmittelbar mit Cajetan zu tun, sondern mit dem Verhalten von Staupitz, von welchem vermutlich Luther selbst in einer dem Jahre 1532 zugeordneten Tischrede in der Sammlung Veit Dietrichs berichtet: „Ich bin drei Mal exkommuniziert worden. Das erste Mal von Staupitz. Der hat mich in Augsburg vom Gehorsam und der Ordensregel losgesprochen, damit er sich, wenn der Papst ihn dränge, dass er mich fange oder mir Schweigen gebiete, entschuldigen könne, dass ich nicht unter seinem Gehorsam stehe. Das zweite Mal vom Papst selbst. Das dritte Mal vom Kaiser selbst.“81
Die Schärfe, mit welcher Luther hier das Vorgehen von Staupitz als Exkommunikation bezeichnet,82 könnte ein Indiz für die tiefe Irritation darstellen, die die Lösung vom Ordensgelübde für ihn bedeutete. So sehr sie als Schutzmaßnahme intendiert gewesen sein mag, sie versetzte Luther doch in eine Isolation, die sich auch in mehreren Erinnerungen niederschlägt: Immer wieder bezeichnet Luther sich im Zusammenhang von Augsburg als allein,83 und wiederholt betont er
Vgl. WA.TR 4, 533,16–19 (Nr. 4816); 587,17–19 (Nr. 4937). 1, 96,5–9 (Nr. 225): „Ego ter sum excommunicatus, primo a Doctore Staupizio, is Augustae me absolvit ab observantia et regula ordinis, ut, si papa urgeret, ut me caperet aut mihi mandaret silentium, posset se excusare, quod non essem sub sua oboedientia; secundo ab papa ipso, tertio ab ipso caesare.“ 82 Die Parallele WA.TR 1, 177,31–37 (Nr. 409) ordnet Staupitz’ Verhalten zwar gleichfalls in eine Reihe mit Leo und dem Kaiser, weist aber das Verbum excommunicare nur den beiden letzteren zu. 83 Vgl. WA.TR 1, 233,9 f. (Nr. 509). 80
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dabei auch ausdrücklich, dass er von Staupitz alleingelassen worden war.84 Die scharfe Formulierung von der Exkommunikation verdichtet diese Isolierung. Sie rückt aber zugleich Augsburg in einen weiteren Kontext ein: Es wird zum Auftakt für die Verurteilung durch Rom und auch durch den Wormser Reichstag. Hierin mag der Schlüssel dafür liegen, dass Luther immer stärker Augsburg durch die Brille des späteren Geschehens sah, es aufwertete, indem er Ereignisse, die mit Worms im Zusammenhang stehen, darauf projizierte: Augsburg wurde durch die erstmalige Erfahrung der völligen Isolierung in der Erinnerung zum Kulminationspunkt seines Kampfes gegen Rom.
4. Schluss So schwierig ein Rückschluss von den Tischreden auf Luther selbst bleibt: Das große Gewicht, das Luther später dem Geschehen von Augsburg gab, mag dessen Bedeutung überzeichnen, was den äußeren Verlauf des Geschehens angeht. Zu sehr wissen wir heute, dass mehrere Etappen nötig waren, um den Prozess weiterzubringen und den Riss zwischen Rom und Wittenberg zu vertiefen. Die zuletzt angeführten Beobachtungen aber zeigen, dass die Interferenz verschiedener Ereignisse – Augsburg und Worms –, welche Luthers Erinnerungen prägte, ihren Sinn vielleicht nicht unmittelbar aus den historischen Abläufen selbst gewinnt, wohl aber aus der biographischen Wirklichkeit, die für Luther damit verbunden war. Als psychische Erfahrung war Augsburg – und dies mehr wegen Staupitz als wegen Cajetan – ein tiefer Einschnitt in Luthers Biographie. Insofern bieten die Erinnerungen hieran geradezu ein Musterbeispiel für das Ineinander von subjektiven und objektiven Elementen in der autobiographischen Erinnerung und in der Konstruktion solcher Erinnerungen durch das Tischredenumfeld, das dem Reformator gerecht zu werden suchte und gerade zu diesem Zweck immer wieder seinen Wortlaut veränderte.
Vgl. WA.TR 1, 597,29–31 (Nr. 1203); 376,9 f. (Nr. 2250).
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Wendung nach innen – Wendung nach außen Luthers reformatorische Neuorientierung bis 1518* Berndt Hamm
1. Hinführung zum Thema Die Aufgabe, die ich mir in meinem Vortrag gestellt habe, zielt darauf, die Entstehung von Martin Luthers reformatorischer Theologie zu beschreiben. Dies ist nur so möglich, dass ich auf bestimmte theologische Konstellationen des ausgehenden Mittelalters blicke und zeige, wie der junge Augustinermönch Luther von ihnen geprägt wurde, sich mit ihnen produktiv auseinandersetzte und so Schritt für Schritt zu theologischen Neuansätzen kam, die im Ergebnis eine Absage an wesentliche Grundlagen des Gesamtgefüges der bisherigen Religiosität, Theologie, Frömmigkeit und Kirchlichkeit bedeuteten. Ich skizziere also Traditionszusammenhänge, Kohärenzen, Innovationen, Transformationen und Brüche. Um 1500 noch unvorhersehbar, führten sie binnen weniger Jahre, zwischen 1505 und 1518, zu Veränderungen im spirituellen Erfahren und theologischen Denken des Erfurter und Wittenberger Augustinereremiten, die ihn zum Reformator der Kirche werden ließen. Sofern die Reformation in ihren Wurzeln ein theologisches Ereignis war, spreche ich also im Folgenden von den initia Lutheri als initia reformationis.1 Darüber gibt es bereits ganze Bücherregale voll Literatur. Allerdings nur ein kleiner Bruchteil dieser Lutherarbeiten setzt eine gründliche Kenntnis der theologischen Verhältnisse in den Jahrhunderten vor Luther und in Luthers Orden voraus. So lässt auch das weitaus meiste, was in den vergangenen Jahren der Reformationsdekade geschrieben wurde, eine sorgfältige Beschäftigung mit * Überarbeitete Fassung meines Beitrags: Verinnerlichung und Außenorientierung. Luthers reformatorische Neuorientierung bis 1518, in: Gert Melville / Josep Ignasi Saranyana Closa (Hg.), Lutero 500 anni dopo. Una rilettura della Riforma luterana nel suo contesto storico ed ecclesiale. Raccolta di Studi in occasione del V centenario (1517–2017), Città del Vaticano 2019 (Atti e documenti 51), 343–389. 1 Zu dieser Themenstellung vgl. Oberman, Heiko Augustinus, Headwaters of the Reformation. Initia Lutheri – Initia Reformationis (erstmals 1974), in: ders., The Dawn of the Reformation. Essays in Late Medieval and Early Reformation Thought, Edinburgh 1986, 39–83. Zur gleichwohl gültigen Unterscheidung zwischen den Anfängen von Luthers reformatorischer Neuorientierung und den Anfängen der Reformation vgl. den letzten Abschnitt meines Aufsatzes.
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den Wurzeln Luthers und der Reformation im Mittelalter vermissen. Wer aber diese Wurzeln ernst nimmt und für die Darstellung der theologischen Anfänge Luthers einen Zugang wählen möchte, der sowohl ihre Herkunft aus den Fragestellungen und Antworten seiner Lehrer als auch ihre erstaunlichen Innovationen erkennen lässt, und wer dabei einen noch nicht ausgetretenen Pfad der Forschung beschreiten will, der findet ein ergiebiges Untersuchungsgebiet in der Frage nach Verinnerlichung und Außenorientierung von religiösem Erfahren und theologischem Denken. Ich sehe in dieser Fragestellung einen geradezu idealen Schlüssel, um sich die Spannungsvielfalt der spätmittelalterlichen Theologie zu vergegenwärtigen und dann vom Spätmittelalter her das Eigentümliche von Luthers theologischem Erkenntnisweg zu erschließen. Dieser Weg war, wie wir sehen werden, in Weiterführung diverser Traditionen sowohl ein Weg der radikalen Verinnerlichung als auch ein Weg der radikalen Außenorientierung. Sobald wir Luther bei der theologischen Arbeit beobachten können, sehen wir beides zugleich vor uns: die Auslotung neuer Erfahrungstiefen der Theologie und die Entdeckung neuer Außenperspektiven.
2. Die spätmittelalterliche Außenorientierung an der sinnlich-körperlichen Gnadenmedialität Vergegenwärtigen wir uns zunächst einige Aspekte spätmittelalterlicher Verinnerlichung und Außenorientierung. Die traditionelle Darstellung der religiöskirchlichen Verhältnisse vor der Reformation hat oft eine Polarität zwischen Tendenzen zu einer spirituellen Verinnerlichung und Tendenzen zu einer ‚Veräußerlichung‘ der Religion im Blick. Die Vorgänge der Veräußerlichung werden dann kritisch-pejorativ als Abdriften ins Marginale und Periphere der Frömmigkeit, ins Dingliche und Magische, in ein Quantifizieren, Berechnen und Zählen und damit auch in einen Bereich des finanziellen Kalküls und des Merkantilen charakterisiert. Im Folgenden spreche ich aber nicht in diesem abwertenden und speziellen Sinne von ‚Veräußerlichung‘, sondern deskriptiv und allgemein von spätmittelalterlichen Vorgängen einer ‚Außenorientierung‘ der Theologie, Kirche und Frömmigkeit. Stellt man sie den gleichzeitigen Vorgängen der Verinnerlichung gegenüber, dann meint der Begriff ‚Außenorientierung‘ generell eine Bindung des Zugangs der Gläubigen zu Gnade und Heil an sinnliche Vermittlungsformen des Agierens, Sehens, Hörens, Berührens, Schmeckens und Riechens. Eine derartige Vorstellung von Gnadenmedialität bezog sich auf die vielfältigsten Handlungen und Objekte, auf Sakramente, Sakramentalien und liturgische Segensformen, auf Bilder, Reliquien und Ablässe, auf Hymnen, geistliche Lieder und Spiele.2 Auch das Hören des Predigtworts und das Lesen re Vgl. exemplarisch den Tagungsband: Dauven-van Knippenberg, Carla et al. (Hg.),
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ligiöser Texte gehören zu diesen sinnlichen Vermittlungsweisen – ein deutlicher Hinweis darauf, wie hoch problematisch die Unterscheidungskategorien von äußerlich-sinnlich und innerlich-seelisch angesichts der gelebten Frömmigkeitspraxis des ausgehenden Mittelalters sind. Die traditionelle Polarisierung erweist sich als irreführend. All diese äußeren Medien sollten der vergegenwärtigenden Vermittlung von Gnade dienen – ‚Gnade‘ (gratia) hier in einem sehr weiten Sinne verstanden als alle möglichen Zuwendungen von Güte, Huld und Erbarmen, Segen, Befreiung und Rettung, Heiligung und Stärkung, Hilfe und Schutz. Auch das himmlische Heil selbst wird in diesem umfassenden Sinn von gratia als göttliche Gnadengabe verstanden. Damit aber zielten diese Medien mit ihrer Sinnlichkeit, Leiblichkeit und Performanz stets auf die nah-präsente Gnadenwirkung heiliger Personen, Gottvaters, Jesu Christi und des Heiligen Geistes, Marias, der Heiligen und Engel in der communio sanctorum. So außerorientiert diese spätmittelalterliche Religiosität auch war, so wichtig ist doch ein weiterer wichtiger Aspekt: Ihr gesamtes Gefüge von sinnlichen Zeichen und Symbolen war immer rückgekoppelt zu einer inneren Haltung des gläubigen Menschen, die in den Quellen meist andacht bzw. devotio und pietas genannt wird. Das heißt aber: Nach Maßgabe der Theologen und Seelsorger konnten die äußeren Gnaden- und Heilsmedien, z. B. die Letzte Ölung, der Ablass oder ein Gnadenbild, nur dann wirksam werden, wenn sie mit der seelischen Einstellung eines geistlichen Wollens und Begehrens und einer demütigen Bußbereitschaft in Glaube, Liebe und Vertrauen empfangen wurden, so wie man der äußeren Gnadenmedialität auch oft die Aufgabe zusprach, die geistlichen Tugenden der Empfänger zu stärken und sie so zu einem intensivierten, innerlichen Frömmigkeitsleben zu führen. Dieser Appell der Kirche an die Andacht der Gläubigen, die erst den Gnadenreichtum der Liturgie, der Sakramente, Ablässe, Gnadenbilder, Reliquien oder des Predigtworts erschließt und abruft, war aber während der letzten Jahrzehnte vor der Reformation eingebettet in ein weit verbreitetes Bewusstsein vom Medialität des Heils im späten Mittelalter, Zürich 2009 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 10); Signori, Gabriela, Räume, Gesten, Andachtsformen, Konflikt und religiöse Kultur im europäischen Mittelalter, Ostfildern 2005; Bynum, Caroline Walker, Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe, New York 2011, Reprint 2015. Zum folgenden Hinweis auf die Problematik polarer Deutungsmodelle der spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Frömmigkeitstheologie mit den Kategorien von ‚äußerlich‘ und ‚verinnerlicht‘ vgl. Kaufmann, Thomas, Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation, in: Johanna Haberer / Berndt Hamm (Hg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation, Tübingen 2012 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 70), 11–43, hier 16–23 – mit berechtigter Kritik an der enorm reduktionistischen Kontrastbildung von sinnlich-affektiver Religiosität des Spätmittelalters und entsinnlicht-entemotionalisierter Glaubenskultur der Reformation bei Karant-Nunn, Susan, The Reformation of Feeling. Shaping the Religious Emotions in Early Modern Germany, Oxford 2010, besonders 63–100.275–289.
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geistlichen Ungenügen der Gläubigen.3 Je mehr die Beobachtung des inneren Menschen, die Frömmigkeitsmaßstäbe und Perfektionsideale, vor allem von einem observanten Ordenswesen, gesteigert wurden, desto mehr neigten viele Gläubigen zu einem verstärkten Bewusstsein ihrer eigenen Sündenschwäche, zu forcierten Ängsten vor Hölle und Fegefeuer und zur panischen Sorge, nicht genug zum Gnaden- und Heilserwerb beitragen zu können; und entsprechend verbreitet war auch die Diagnose von Theologen, Predigern und Seelsorgern vor und nach 1500, die bei ihren Zeitgenossen gravierende Frömmigkeitsdefizite, einen Mangel an Demut, Liebe und Gottesgehorsam, registrierten. Welchen Rat konnten sie den verunsicherten Gläubigen geben? Viele empfahlen eine Wendung ihrer Andacht nach außen: Ein Christ soll weder auf seine eigenen Frömmigkeitskräfte vertrauen noch am eigenen sündigen Unvermögen verzweifeln, sondern demütig Zuflucht bei den äußeren Gnaden- und Heilsmitteln der Kirche nehmen und sich ihnen anvertrauen; dann wird ihm durch die vermittelnde Kraft der kirchlichen Sakralinstitution all das geschenkt, was seinem eigenen, subjektiven Frömmigkeitsleben fehlt, um vor irdischem Schaden und dem jenseitigen Fegefeuer bewahrt zu werden und direkt in die himmlische Seligkeit einzugehen. Ein typischer Vertreter einer solchen Seelsorgemethode, die sich der großen Menge affektiv schwacher Sünder zuwandte, war um 1500 der Augustinereremit und Erfurter Theologieprofessor Johannes von Paltz (gest. 1511).4 Als Luther 1505 in das Erfurter Augustinerkloster eintrat, gehörte Paltz für kurze Zeit zu seinen Konventsbrüdern.5 In seinen Anleitungen zu wahrer Buße rät Paltz beispielsweise: Wenn du nur eine unvollkommene Reue hast und keinen echten Reueschmerz aus Liebe zu Gott, dann vertraue dich deinem Beichtvater und dem Bußsakrament an, und es wird deine unvollkommene Bußandacht in eine wahre Reue wandeln;6 und wenn du dann sicher gehen willst, dass du von allen zeitlichen Sündenstrafen, die dir Gott zugedacht hat, rechtzeitig vor deinem Tod befreit wirst und deine Seele nicht die schrecklichen Qualen des Fegefeuers erleiden muss, dann erwirb dir einen Beichtbrief, der dir für die Todesstunde einen vollkommenen Ablass in Aussicht stellt.7
3 Vgl. Hamm, Berndt, Wollen und Nicht-Können als Thema der spätmittelalterlichen Bußseelsorge (erstmals 2001), in: ders., Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hg. von Reinhold Friedrich / Wolfgang Simon, Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 54), 355–390 (= Kap. 9). 4 Vgl. Hamm, Berndt, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (BHTh 65). 5 Vgl. ebd., 78 f. und 332 f. sowie Fischer, Robert H., Paltz und Luther, in: LuJ 37 (1970), 9–36. 6 Vgl. Hamm, Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 4), 275–284. 7 Vgl. ebd., 284–291.
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So viel zu einer spätmittelalterlichen Religiosität, die durch ein hohes Maß an Außenorientierung gekennzeichnet war. Sie hatte unterschiedliche Vorlieben, hielt aber immer daran fest, dass die äußeren Heilsmedien nur den Menschen helfen, die etwas Eigenes an gutem Willen und Verlangen mitbringen, wenigstens ein Minimum an Devotion und Andacht.8
3. Die spätmittelalterliche Verinnerlichung und ihre interne Außenorientierung (das Beispiel des Johannes von Staupitz) Diesem weiten Spektrum von Exteriorisierungen der Frömmigkeit standen vor und nach 1500 starke Tendenzen zu einer religiösen Interiorisierung gegenüber. Vor allem unter dem Einfluss neuplatonischer, augustinischer und mystischer Traditionen kam es zu vielerlei Arten von Verinnerlichung, denen gemeinsam war, dass sie alle mehr oder weniger die äußere Heilsmedialität der Kirche, ihrer Priester und ihrer sakralen Gnadenmedien, relativierend an den Rand schoben und die wirksame Teilhabe an Barmherzigkeit, Gnade und Heil vom unmittelbaren Kontakt der Seele zu Gottvater, zu Christus und dem Heiligen Geist und zu den anderen himmlischen Mächten erwarteten. Interiorisierung bedeutete hier Immediatisierung: Die geistige Unmittelbarkeit personaler Begegnung stand hier im Zentrum des Erlösungsweges. Diesen Interiorisierungsbestrebungen wird man freilich nur gerecht, wenn man sich der Problematik des Begriffs der ‚Verinnerlichung‘ bewusst ist. Der Weg nach innen kann nämlich gerade in der augustinischen Tradition mit ihrem starken Interesse am homo interior eine radikale Wendung nach außen bedeuten, ein Von-sich-selbst-weg-Sehen auf den barmherzigen Gott, der die menschliche Bosheit mit seiner immensen Güte beantwortet. Man muss hier geradezu von einer Außenorientierung inmitten der Verinnerlichung sprechen. Das gilt insbesondere für Theologen vor der Reformation, die mit einer forcierten Interiorisierung eine desillusionierte Sicht auf den Menschen verbinden, wie ich sie bereits erwähnt habe: ein gesteigertes Bewusstsein von Sündhaftigkeit und spiritueller Schwäche und die damit verbundene Vorstellung, dass ein Mensch generell niemals aufgrund seiner Frömmigkeit, seiner seelischen Qualitäten, geistlichen Tugenden und guten Werke, den Jenseitsstrafen entgehen und Gnade und Heil erwerben oder gar verdienen kann.9 Die Lösung dieses Dilemmas 8 Zu einer derartigen Dynamik der Minimierung der Anforderungen an die persönliche Bußfrömmigkeit im Rahmen des Ablasswesens vor und nach 1500 vgl. Hamm, 121–175. 9 Das schließt freilich nicht aus, dass dieselben Theologen im Blick auf das Erbarmen Gottes, seine Huld, Güte und Gnade, gleichwohl von einem heilsbezogenen Verdienen des Menschen sprechen können, wie das Beispiel des gleich zu erwähnenden Johannes von Staupitz zeigt. Vgl. Zumkeller, Adolar, Das Ungenügen der menschlichen Werke bei den deutschen Predigern des Spätmittelalters, in: ZKTh 81 (1959), 265–305.
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finden solche Theologen aber nicht in der Zuflucht zu den äußeren Gnadenmedien der Kirche, die alle Defizite des inneren Menschen ausgleichen könnten, sondern auf der Ebene der unmittelbaren inneren Begegnung der Seele mit den Außendimensionen des göttlichen Erbarmens. Genau diesen theologischen und seelsorgerlichen Weg beschreitet vor und nach 1500 Luthers Ordensvorgesetzter, Seelsorger und väterlicher Freund Johannes von Staupitz (ca. 1468 – 28. Dezember 1524)10. Die rettende Außendimension, die dem sündigen Menschen Gnade und Heil garantiert, findet er – ganz auf der Spur des antipelagianischen Augustin – primär im Prädestinationsdekret Gottes. Den Erwählten schenkt Gott die rechtfertigende Gnade völlig umsonst, indem seine Liebe ihr Herz zur spontanen Gegenliebe entflammt. Erst dieses Gnadenwirken des Heiligen Geistes befähigt also die Sünder zur Gottesliebe, zu einem wahren Reueschmerz und zu guten Werken der Gottes- und Nächstenliebe. Ohne die rechtfertigende Gnade aber kann der Sünder, wie Staupitz betont, nicht einmal einen guten Gedanken und schon gar kein gutes Werk haben.11 Zugleich hebt Staupitz allerdings hervor, dass die durch die rechtfertigende Gnade geschenkte neue Gerechtigkeit der Seele und ihrer Akte nie von einer Qualität sein kann, die an die Tilgung der Sündenschuld und -strafe und den Erwerb der himmlischen Seligkeit heranreicht. Hier kommt nun die christologische Außendimension der unendlichen Gerechtigkeit des Gottessohnes, des immensen Verdienstes und der allgenugsamen Bußkraft seiner Passion zum Zuge. Indem der armselige Mensch mit seiner „kleinen“, immer ungenügenden Reue zur Reue Christi, mit seiner unzulänglichen Genugtuung zur satisfactio Christi und mit seinem schwachen Gerechtsein zur verdienstvollen Gerechtigkeit Christi Zu10 Im
Folgenden berücksichtige ich nur Staupitz-Schriften des Zeitraums bis Mitte 1518, den ich auch bei Luther untersuche. Für die weiteren Jahre bis Ende 1524 ist anzunehmen, dass Staupitz durch Schriften Luthers aus diesen Jahren beeinflusst wurde. – Eine vorzügliche Übersicht über die Forschungsliteratur zu Staupitz bietet Wetzel, Richard, Art. Staupitz, Johann(es) von, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 2, hg. von Franz Josef Worstbrock, Berlin / Boston (2013), 964–980. Besonders hervorgehoben sei: Posset, Franz, The Front-Runner of the Catholic Reformation. The Life and Works of Johann von Staupitz, London / New York 22016. Vgl. auch die jüngsten Publikationen zu Staupitz: Schneider, Hans, Johannes von Staupitz’ Amtsverzicht und Ordenswechsel, in: Aug(L) 66 (2016, erschienen 2017), 185–231; Dohna, Lothar Graf zu / Wetzel, Richard, Staupitz, theologischer Lehrer Luthers. Neue Quellen – bleibende Erkenntnisse, Tübingen 2018 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 105). 11 Vgl. Staupitz, Johannes von, Nürnberger Predigt- und Lehrstücke (= Wetzel, Staupitz [wie Anm. 10], 973, Nr. II,7), in: Joachim Karl Friedrich Knaake (Hg.), Johann von Staupitzens sämmtliche Werke 1: Deutsche Schriften, Potsdam 1867, 13–42, hier 28: „Nymandt kann ainigen guten gedancken, wort oder werck haben, Got sey dann vor mit seiner parmherzigkait und seinen leiden in ime gewest, damit er ine zu solchem hab bewegt.“ S. 39: „[…] dieweil on gots gnad und mitwurckung der mensch kain ainigen guten gedancken, zu geschweigen ain tugentlich werck haben und uben mag.“ Diese Texte sind Aufzeichnungen des Nürnberger Ratsschreibers Lazarus Spengler aus Predigten, die Staupitz in der vorösterlichen Fastenzeit 1517 in der Kirche des Nürnberger Konvents der Augustinereremiten gehalten hat.
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flucht nimmt und sich so die Reue, Genugtuung und Gerechtigkeit Christi aneignet, wird er durch diese barmherzige Extra-nos-Dimension der Stellvertretung Christi von jeder Schuld und allen Sündenstrafen befreit und ins ewige Leben getragen.12 Weil Christus alles ergänzt, was uns fehlt, gewinnen unsere guten Werke vor Gott eine genugtuende und verdienstliche Wirkung. Wesentlich an diesem Erlösungs- und Bußmodell des Augustinereremiten ist die Frage: Wodurch wird die Buße des gerechtfertigten Menschen ausreichend („genugsam“, sufficiens), um vor Gott bestehen und seine Sündenvergebung empfangen zu können?13 Sie wird es, indem Gott im Herzen des Sünders durch die Gnadenkraft seines Heiligen Geistes die wahre Bußfähigkeit und -tätigkeit hervorruft; und sie wird es, indem auf einer zweiten Ebene die Unzulänglichkeit menschlichen Bereuens und Genugtuns durch die innere Gemeinschaft der Seele mit dem immensen Buß- und Verdienstwert des Leidens Christi ausgeglichen wird. Der Weg des Menschen zum Himmel, wie ihn Staupitz sieht, ist somit geprägt durch eine heilsnotwendige soteriologische Doppelstruktur14: Die im ewigen Prädestinationsdekret begründete reale Veränderung des Sünders zu einem geheiligten, von der Todsünde befreiten und Gott in Liebe und durch Liebeswerke verbundenen Geschöpf muss zusammen kommen mit der rettenden christologischen Außendimension. Erst beides zusammen, iustitia in nobis und iustitia extra nos, macht den Menschen für Gott akzeptabel.15 Zu unterstreichen ist nochmals, dass auch diese staupitzsche Extra-Dimension, die Christi Stell12 Vgl. Dohna, Lothar Graf zu / Wetzel, Richard, Die Reue Christi. Zum theologischen Ort der Buße bei Johann von Staupitz, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 94 (1983), 457–482; Hamm, Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 4), 234–243. Zum Ausdruck „ain klaine reu“ für die von Gottes Gnade im Menschen gewirkte Reue in Staupitz’ Salzburger Predigten von 1520 vgl. Dohna / Wetzel, ebd., 466; zum Ausdruck ‚fliehen‘ (im Sinne von ‚Zuflucht nehmen‘) vgl. ebd.: „fleuch nuer zu meinem herzenlaid [= die Reue Christi] und zeuchs in dich, so ist die sündt schon volkömen pereut“. 13 Zu dieser Frage nach dem Genügenden und Ausreichenden vgl. Hamm, Berndt, Der frühe Luther, Tübingen 2010, 18, mit dem Terminus „genugsam“ aus Staupitz, Nürnberger Predigt- und Lehrstücke (wie Anm. 11); zum lateinischen Äquivalent sufficiens vgl. Staupitz, Johannes von, Tübinger Predigten über Hiob (1497/98), ed. Richard Wetzel, Tübingen 1987 (Johann von Staupitz: Sämtliche Schriften 1), sermo 5, 99,309 f.: „Verissimum signum est, deum suscepisse pro sufficienti, cum homo ipse tristatur de insufficientia facti.“ 14 Diese Doppelstruktur weist bereits in die Richtung der späteren, vortridentinischen Duplex-iustitia-Lehre eines Johannes Gropper, Albert Pigge, Gasparo Contarini und Girolamo Seripando. Vgl. Braunisch, Reinhard, Die Theologie der Rechtfertigung im „Enchiridion“ (1538) des Johannes Gropper. Sein kritischer Dialog mit Philipp Melanchthon, Münster i. W. 1974 (RGST 109), 419–437; Heynck, Valens, Zur Rechtfertigungslehre des Kontroverstheologen Kaspar Schatzgeyer O. F. M., in: FS 28 (1941), 129–151, hier 146–150. – Zu meiner StaupitzInterpretation vgl. Schwarz, Reinhard, Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, Berlin 1968 (AKG 41), 153 f., der für „das christologische Äquivalent zum Ungenügen der menschlichen Gerechtigkeit“ auf die drei Theologen des Augustinereremiten-Ordens Hugolin von Orvieto (gest. 1373), Jacobus Perez von Valencia (gest. 1490) und Girolamo Seripando (1493–1563) verweist. 15 Vgl. unten Anm. 23. Zur acceptatio bei Staupitz vgl. unten S. 294 mit Anm. 27–29.
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vertretung zur Geltung bringt, in die Verinnerlichung der Gottesbeziehung des Menschen einbezogen ist. Denn auch diese stellvertretende Vollkommenheit Christi kommt den Erwählten, wie Staupitz immer unterstreicht, durch den unmittelbar-direkten Kontakt ihrer Seele zu Christus zugute. Die Vorstellung, dass die Kirche durch ihre äußerlich-sinnlichen Heilsmedien den Menschen Gottes Geist und Gnade effektiv vermittelt, passt nicht in die Koordinaten seiner spirituellen Ekklesiologie.16
4. Das Gewicht der rettenden Außendimension in der spätmittelalterlichen Religiosität Die Konsequenz, mit der Staupitz die Rechtfertigung und Beseligung des Sünders in der Gnadenwahl der Prädestination verankert, war um 1500 eine eher ungewöhnliche, exponierte Position, die den Augustiner aber nicht nur mit dem späten Augustin, sondern auch mit einer auf Gregor von Rimini zurückgehenden spätmittelalterlichen Lehrtradition seines Ordens verband.17 Häufiger anzutreffen ist hingegen in der spätmittelalterlichen Religiosität seine hohe theologische Wertschätzung der rettenden christologischen Außendimension: dass die Barmherzigkeit und stellvertretend sühnende Gerechtigkeit Christi jederzeit und so auch am Ende des Lebens all das ergänzt, was der Gott liebenden Seele an eigener Heiligkeit und Bußintensität fehlt, um im persönlichen Jenseitsgericht bestehen und an die Gabe des ewigen Lebens heranreichen zu können. Was jedem Sterbenden an Verdienst- und Genugtuungsfähigkeit ermangelt, wird so durch die Sühnekraft der Passion Christi und in manchen theologischen Traktaten außerdem auch durch die Schutzheiligkeit Marias, der Heiligenpatrone 16 In der Tradition der augustinischen Signifikationshermeneutik versteht Staupitz die Sakramente als vergewissernde ‚Zeichen‘ der göttlichen Erwählung und Christusgnade, so in seinem Anfang 1517 erschienenen Traktat: Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis, ed. Lothar Graf zu Dohna / Richard Wetzel, Berlin / New York 1979 (Johann von Staupitz: Sämtliche Schriften 2), § 238 und 239, 286–288. Dagegen steht Staupitz dem effektiven Verständnis der Sakramente im Sinne einer Gnadenvermittlung distanziert gegenüber – mit der Konsequenz, dass in seinen deutschen Traktaten, sogar in der Sterbeschrift (Von der nachfolgung des willigen sterbens Christi, 1515) gegen die gesamte Ars-moriendi-Tradition, die Sakramente unerwähnt bleiben. 17 Vgl. Oberman, Heiko Augustinus, Werden und Wertung der Reformation, Tübingen 1977, 86–140; ders. (Hg.), Gregor von Rimini. Werk und Wirkung bis zur Reformation, Berlin / New York 1981 (SuR 20), darin besonders: Schulze, Manfred, ‚Via Gregorii‘ in Forschung und Quellen, 1–126. Zu Staupitz und seinem Verhältnis zu dieser Lehrtradition vgl. Zumkeller, Adolar, Johannes von Staupitz und seine christliche Heilslehre, Würzburg 1994 (Cass. 45), 215 f. Man wird wohl Zumkeller und Markus Wriedt (auf den sich Zumkeller beruft) zustimmen können, dass sich eine direkte literarische Abhängigkeit Staupitz’ von Gregor von Rimini nicht nachweisen lässt; doch ist meines Erachtens zu unterscheiden zwischen einer solchen Art der Beeinflussung und der sehr wahrscheinlichen Prägung von Staupitz’ Theologie durch die von Gregor ausgehende ‚moderne‘ Lehrrichtung im Orden der Augustinereremiten.
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und Engel (auf die auch Staupitz gelegentlich rekurrieren kann18) ausgeglichen. Die fürbittende Interzession der himmlischen Mächte kommt gemeinsam mit den Gebeten der irdischen Fürsprecher dem Verstorbenen im Partikulargericht unmittelbar nach dem Tode zu Hilfe.19 Eine derartige erlösende Kombination von innerer und äußerer Heiligkeit hat z. B. der Nürnberger Franziskaner Stephan Fridolin im Blick, wenn er 1491 dem Sterbenden folgende Anweisung gibt, die ihn ganz auf die schützende Satisfaktion und Interzession Christi verweist: „Ei so setze deine ganze Zuversicht, solange deine Seele noch in dir ist, allein auf diesen Tod [Christi] und auf kein anderes Ding setze deine Hoffnung! In diesen Tod senke dich ganz und gar! Mit diesem Tod bedecke dich ganz! In diesen Tod wickle dich! Und wenn dich Gott der Herr richten oder urteilen will, so sprich: Herr, den Tod unseres Herrn Jesu Christi, deines Sohns, werfe ich zwischen mich und dein Urteil. Sonst rechte ich nicht mit dir.“20 18 Zu Maria als „muter der gnaden, muter der barmhertzickeit“ und Beschirmerin in Todesnöten („uns armen sundern erwirbstu vorgebung, dene wolvordienten die ewige belonunge, du bringst dem nichthabenden genuge“) vgl. Staupitz, Johannes von, Von der nachfolgung des willigen sterbens Christi (1515), ed. Knaake, Staupitzens sämmtliche Werke 1 (wie Anm. 11), 50–88, hier Kap. 11, 77,26–78,8. Vgl. Zumkeller, Johannes von Staupitz (wie Anm. 17), 99 f. (Maria, die Fürsprecherin). – Im 13. Kap. desselben Traktats spricht Staupitz auch von den Heiligen, die „erstatten“ (= ergänzen, erfüllen, leisten), was der Sterbende mit seinen eigenen Werken versäumt hat, was ihm also an eigener Heiligkeit fehlt. Der sterbende Mensch hat, wie Staupitz in diesem Kapitel darlegt, auf der Treppe zum Heil fünfzehn Stufengrade („staffeln“, „stufen“, „grade“) des ‚dürstenden‘ Verlangens nach Gott „hoche tzu steygen“ (Knaake (Hg.), Staupitzens sämmtliche Werke 1 [wie Anm. 11], 82,7–9). Den elften Grad (84,18–25), den er als „begirde aller wolthat der heiligen cristenlichen kirchen“ bezeichnet, erreicht der Sterbende, wenn er Jesus bittet: „[…] mache mich teilhafftick alles guten, das dir von deiner kirchen gefellet, außerhalb welcher dir nichts gefelt; und was ich mit eignen wercken vorseumet, werde mir auß deiner lieb von allen heyligen erstatet.“ So wird, wie Staupitz erläutert, das „fremde guet“, d. h. die Heiligkeit der Heiligen, zum eigenen Gut und Gewinn. All dies geschieht „auß deiner lieb“, d. h. im Wirkungszusammenhang der Liebe Christi, die ein solches Mitwirken Marias und der Heiligen erst möglich macht. 19 Vgl. Hamm, Religiosität (wie Anm. 3), 425–445, Kap. 11: Gottes gnädiges Gericht. Spätmittelalterliche Bildinschriften als Zeugnisse intensivierter Barmherzigkeitsvorstellungen; ders., Iudicium particulare. Personale Identität des Menschen und Gedächtnis Gottes in der spätmittelalterlichen Vorstellung vom Individualgericht, in: Ludger Grenzmann et al. (Hg.), Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit 1: Paradigmen personaler Identität, Berlin / Boston 2016 (AAWG NF 41/1), 287–319; ders., Frömmigkeitsbilder und Partikulargericht vom 14. bis zum frühen 16. Jahrhundert, in: Hans-Christoph Dittscheid et al. (Hg.), Kunst-Kontexte. Festschrift für Heidrun Stein-Kecks, Petersberg 2016, 130–152. 20 „Ey, so setz alle dein zuversicht, dieweil dein sell in dir ist, allain in disen tod, und in kain ander ding habst du hoffnung! In disen tod senck dich gantz und gar! Mit disem tod bedeck dich gantz! In disen tod wickel dich! Und ob dich got der herr richten oder urtailen will, so sprich: Herr, den tod unsers herren Iesu Cristi, deines suns, wuerff ich zwischen mich und dein urtail. Sunst rechte ich nit mit dir.“ Fridolin, Stephan, Schatzbehalter, Nürnberg: bei Anton Koberger, 1491, fol. 2v. Das Textstück ist ein Zitat aus dem Ermahnungsteil der sogenannten ‚Anselmischen Fragen‘ (Sancti Anselmi admonitio morienti et de peccatis suis nimium formidanti, PL 158, 686 f.), die vielleicht von Anselm von Canterbury selbst verfasst wurden und Eingang in die spätmittelalterliche Liturgie am Sterbelager gefunden haben. Vgl. Seegets, Petra, Passions-
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Im Blick auf die theologische Landschaft um 1500 kann man folgende zwei Regeln formulieren: 1. Je mehr ein Theologe dem moralischen Vermögen des natürlichen Menschen zutraut, desto weniger Gewicht kommt bei ihm der geistlichen Veränderungskraft der eingegossenen Gnade bzw. der göttlichen Prädestination in Verbindung mit der gratia infusa zu; und umgekehrt: Je weniger man der religiösen Leistungsfähigkeit der menschlichen Natur nach dem Sündenfall zutraut, desto größere Relevanz gewinnt die Verwandlungskraft der rechtfertigenden Gnade. 2. Je größer der genugtuende und verdienstliche Heiligkeitswert ist, den ein Theologe den guten Werken des gerechtfertigten Menschen beimisst, desto weniger Gewicht legt er auf die erlösende Außendimension äußerer Heiligkeitsmächte; und umgekehrt: Je geringer die satisfaktorische und meritorische Wirksamkeit ist, die er den aus der heiligmachenden Gnade hervorgehenden Werken zutraut, desto notwendiger und effizienter wird die externe Schutzund Erlösungskraft der Heiligkeit Christi und der für die einzelnen Christen fürbittend eintretenden communio sanctorum. Diese Externitätsdynamik trat vor allem gegen Ende des Mittelalters hervor.21
5. Die Außendimension der freien Selbstbindung und acceptatio Gottes in der franziskanisch geprägten Verdienstlehre Gabriel Biels – und ein Vergleich mit Staupitz Die beiden zeitgenössischen Theologen, die Luther in seinen frühen Klosterjahren am meisten geprägt haben, waren bekanntlich der Tübinger Theologe Gabriel Biel (um 1410/15 – 7. Dezember 1495) und der ihm persönliche nahestehende Johannes von Staupitz. Bei Staupitz stößt man, wie wir sehen konnten, auf eine Verknüpfung von Innen und Außen, die der gefallenen Natur des Sünders hinsichtlich seiner Erlösung überhaupt nichts zutraut, dagegen umso mehr der heiligenden und zur Liebesfähigkeit verwandelnden Gnade als Wirkung der Prädestination. Zugleich aber schraubt er die soteriologische Effizienz dieser theologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. Der Nürnberger Franziskaner Stephan Fridolin (gest. 1498) zwischen Kloster und Welt, Tübingen 1998 (SuR NR 10), darin zum Schatzbehalter: 168–285. 21 Vgl. Hamm, Berndt, Die Dynamik von Barmherzigkeit, Gnade und Schutz in der vorreformatorischen Religiosität, in: LuJ 81 (2014), 97–134. Zu einer ähnlichen Deutung der spätmittelalterlichen Quellen kommt Rittgers, Ronald K., The Reformation of Suffering. Pastoral Theology and Lay Piety in Late Medieval and Early Modern Germany, Oxford / New York 2012, 3–83 (1. Consolation in Rite and Word in the Later Middle Ages, 2. The Consolation Tradition in the Latin Church, 3. Suffering and Consolation in Late Medieval Mysticism). Eine andere Sichtweise, die eher dem traditionellen Bild vom Spätmittelalter als einer Epoche der von Theologen forcierten Gerichtsstrenge, Drohung und Einschüchterung der Gläubigen verpflichtet ist, findet sich bei Burger, Christoph, Das Reden von Gottes strafender Gerechtigkeit und dessen Wirkung in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, in: LuJ 81 (2014), 79–96.
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innerlich wirkenden Gnadenkraft auf ein ganz gering zu achtendes Minimum an Reue-, Genugtuungs- und Verdienstfähigkeit des Menschen herab, um das Hauptgewicht der Erlösungskraft auf die Außendimension der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Christi zu legen. So kommt bei Staupitz alles Rettende und Heilsame für den erlösungsbedürftigen Menschen konsequent von außen, als Prädestination, als Rechtfertigung und als Annahme zur Seligkeit, all dies aber in der Weise, dass die innere Gnaden- und Liebesverwandlung des Menschen und die aus ihr hervorgehenden guten Werke integraler Bestandteil dieses Erlösungsbogens sind. Daher hält Staupitz auch an dem traditionellen Gradualismus des menschlichen Aufstiegs zu Gott fest: Über Stufen des liebenden Gottverlangens bewegt sich der geheiligte Mensch auf die ewige Seligkeit zu.22 Ohne die in der Seele einwurzelnde und wachsende Heiligkeit und ohne eigene Reueakte, Genugtuungen und Verdienste kann niemand gerettet werden.23 Bei Gabriel Biel24 hatte Luther vorher wesentlich Anderes gelernt. Denn Biel gehörte zu den ockhamistischen Theologen, die der Menschennatur auch nach dem Sündenfall die moralische Fähigkeit zu tugendhaften Akten, ja sogar die Fähigkeit zur Gottesliebe zutrauten und die daher auch nicht von der anti Vgl. das Bild von den 15 „staffeln“, „stufen“ oder „graden“ des geistlichen Aufstiegs in Staupitz’ Sterbeschrift: oben Anm. 18. 23 Daher warnt Staupitz in seiner Ars-moriendi-Schrift von 1515 vor einem „tzu unbescheidenen vortrawen [= unangemessenen Vertrauen] in gottes barmhertzigkeit“: „In dißer anfechtigung macht der bose feindt nachlessige sterber, vorhindert die erforschung des gewissens, sprechend: ‚Nymand wirdt selig auß seiner gerechtickeit, umb seiner werck willen, sunder allein auß gotlicher barmhertzickeit; auß gnaden, nicht auß unserm wolthuen werden wir selig.‘ Also lernet er [= lehret er, d. h. der böse Feind, der Teufel], trost ym leiden Christi tzu suchen, ane [= ohne] das man werde ein glid Christi, das falsch ist.“ Ders., Von der nachfolgung (wie Anm. 18), 66,6–14. Hinter diesen Sätzen steht Staupitz’ Auffassung, dass Gottes Barmherzigkeit niemanden am Ende seines Lebens mit der ewigen Seligkeit beschenkt, den er nicht zu Lebzeiten durch die verwandelnde Gnadenkraft seines Heiligen Geistes geheiligt und so zum Glied seines geistlichen Leibes gemacht hat. Deshalb sieht Staupitz nicht nur einen Bedingungsund Kausalzusammenhang zwischen Prädestination und rechtfertigender Gnade, sondern auch zwischen der heiligenden Wiedergeburt des Menschen, seiner darin wurzelnden tätigen Buße (Selbsterforschung des Gewissens, wahre Reue und gute Werke der Gottes- und Nächstenliebe) und der Annahme zum ewigen Leben; und daher ist für ihn ein Heilsvertrauen unbegründet, das die Notwendigkeit der Selbstprüfung, Reue und tätigen Liebe ausblendet. Zur Verdienstlichkeit der guten Werke bei Staupitz vgl. unten S. 294 f. mit Anm. 30–33. 24 Zur Übersicht vgl. Bubenheimer, Ulrich, Art. Biel, Gabriel, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon2, Bd. 1 (1978), 853–858, sowie Werbeck, Wilfrid, Gabriel Biel als spätmittelalterlicher Theologe, in: Ulrich Köpf / Sönke Lorenz (Hg.), Gabriel Biel und die Brüder vom gemeinsamen Leben, Stuttgart 1998 (Contubernium 47), 25–34. Zu den folgenden Bemerkungen zu Biels Anthropologie und Gnadenlehre vgl. Grane, Leif, Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio Contra Scholasticam Theologiam 1517, Gyldendal 1962 (AThD 4), 49–261; Oberman, Heiko Augustinus, Spätscholastik und Reformation 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965 (eine schlechte Übersetzung der amerikanischen Originalausgabe: The Harvest of Medieval Theology – Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism, Cambridge, MA 1963), besonders 115– 232; Ackermann, Renate, Buße und Rechtfertigung bei Gabriel Biel, Diss. theol. [masch.], Tübingen 1962. 22
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pelagianischen Prädestinationslehre Augustins ausgingen, sondern den Empfang der rechtfertigenden Gnade von der freien Entscheidung des Sünders abhängig machten. Dem durch Gottes Geist eingegossenen Habitus der gratia iustificans kommt bei Biel keine wirklich verwandelnde Kraft in der menschlichen Seele zu. Er verstärkt ihre bereits vorhandene Bereitschaft zu guten Werken der Gottesund Nächstenliebe. Interessant aber ist, dass Biel, so hoch auch seine Meinung von den moralischen Kräften des natürlichen und gerechtfertigten Menschen war, ihnen jede Fähigkeit absprach, aus sich heraus die ewige Seligkeit zu erwerben. Wie aber begründete er dann die Verdienstlichkeit guter Werke, wie löste er die scholastische Schlüsselfrage nach der ratio meriti? Biel folgte bei seiner Lösung ganz dem Denken der jüngeren Franziskanerschule des Johannes Duns Scotus (gest. 1308) und Wilhelms von Ockham (gest. 1347). Schon Scotus ging mit erstaunlicher Radikalität den entscheidenden Schritt über die ältere Franziskanerschule eines Johannes Bonaventura (gest. 1274) und erst recht über das thomistische Verdienstdenken der Dominikanerschule hinaus. Die Verdienstlichkeit der guten Werke des gerechtfertigten Menschen begründete er nicht länger mit dem Hinweis auf die in ihnen wirkende Gnadenkraft Gottes, sondern ausschließlich von der Außendimension der ‚göttlichen Annahme‘ (acceptatio divina) her, d. h. mit dem Argument, dass Gottes Wille in seiner souveränen Freiheit und Barmherzigkeit solche Werke der heiligmachenden Gnade zur Belohnung mit der ewigen Seligkeit akzeptiert.25 Und Duns Scotus geht noch weiter, auch darin vorbildlich für Ockham und Biel: Zwischen den gnadenhaften Werken und ihrer göttlichen Akzeptation besteht kein innerer, seinshaft-qualitativer Zusammenhang, sondern nur eine kontingente Relation, die durch Gottes freie Anordnung (ordinatio) festgelegt wird. Gott könnte nämlich in seiner Souveränität – de potentia absoluta – den gerechtfertigten Menschen und seine Werke auch nicht zur Seligkeit akzeptieren. Das hebt besonders Ockham hervor. Aber Gott hat vor aller Zeit durch einen Akt der freien und barmherzigen Selbstbindung festgelegt, dass er solche guten Werke, die aus dem Habitus der rechtfertigenden Gnade hervorgehen, als verdienstlich gelten lassen und entsprechend belohnen will. Damit ist die heilsgeschichtliche Regelhaftigkeit und Verlässlichkeit der potentia dei ordinata begründet. Sie wird durch die Wahrhaftigkeit und Treue Gottes garantiert, mit der er an seiner einmal getroffenen Anordnung festhält und sie so zur dauerhaft gültigen Selbstbindung macht, die bis zum Ende der Heilsgeschichte gilt.26 25 Vgl. Dettloff, Werner, Die Lehre von der acceptatio divina bei Johannes Duns Scotus mit besonderer Berücksichtigung der Rechtfertigungslehre, Werl 1954 (FrFor 10); ders., Die antipelagianische Grundstruktur der scotischen Rechtfertigungslehre, in: FS 48 (1966), 266–270; zur Rezeptionsgeschichte der im Folgenden dargestellten Lehre des Duns Scotus im Spätmittelalter vgl. ders., Die Entwicklung der Akzeptations- und Verdienstlehre von Duns Scotus bis Luther mit besonderer Berücksichtigung der Franziskanertheologen, Münster i. W. 1963 (BGPhMA 40/2). 26 Vgl. neben den Arbeiten von Dettloff (wie Anm. 25) Hamm, Berndt, Promissio,
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Gabriel Biel und andere Theologen des ausgehenden Mittelalters, die mit ihrer Verdienstlehre in der Tradition des Duns Scotus und Ockhams stehen, verwenden als Bezeichnung für den Akt der freien Selbstbindung Gottes nicht nur den Begriff der ordinatio, den Scotus bevorzugte, sondern auch andere Termini wie statutum und decretum. Vor allem aber schätzen sie, um die Unverbrüchlichkeit dieser göttlichen Anordnung zu unterstreichen, den Bundesbegriff, pactum, seltener conventio, und für den Inhalt des Bundesschlusses den Begriff des Versprechens und der Verheißung: promissio oder promissum. Der Sinn dieser gesamten Terminologie der freien Selbstbindung ist es, die Gültigkeit einer Heilsordnung zu begründen, in der es keine essentialistisch begründete Notwendigkeit für die Annahme des Menschen und seiner Werke zur Seligkeit gibt. Nicht eine inhärente Qualität soll den verdienstlichen und genugtuenden Wert der Werke erklären, sondern ausschließlich die Urteils- und Willensrelation des göttlichen Akzeptierens, das in jedem geschichtlichen Einzelfall die generelle Bundesverheißung Gottes realisiert. Welches religiöse Anliegen verbirgt sich hinter dieser radikalen skotistischen und ockhamistischen Akzentverlagerung von der Innenperspektive einer qualitativen Betrachtungsweise hin zu einer Außenorientierung, die das ganze Gewicht auf Kontingenz und Relation legt? Anknüpfend an viele Formulierungen Gabriel Biels kann man sagen, dass es den Vertretern dieser Selbstbindungstradition vor allem darum ging, die Souveränität und Allmacht Gottes gegenüber seinen Geschöpfen hervorzuheben und damit zugleich die Hoheit, Unabhängigkeit und Freiheit seiner barmherzigen Liebe, mit der er seine Geschöpfe beschenkt und in Gnaden annimmt. Staupitz verankert, wie wir sahen, diese schenkende Souveränität Gottes sowohl im Prädestinationsdekret Gottes als auch in der christologischen Außendimension und verbindet damit die Hochschätzung der im Menschen wirkenden Pactum, Ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre, Tübingen 1977 (BHTh 54), 345–354 (Johannes Duns Scotus) und 355–377 (über die Zeitspanne zwischen Duns Scotus und Martin Luther, mit besonderer Berücksichtigung von Wilhelm von Ockham und Gabriel Biel). Zu Ockham vgl. jetzt auch Beyer, Michael, Logik der Freiheit. Die Prädestinationslehre Wilhelms von Ockham im Rahmen seiner Theologie, Tübingen 2017 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 99), besonders 144–155 (merita und Prädestination) und 155–172 (Göttliche Willkür? Die Verlässlichkeit Gottes bei Ockham). – Zur Unterscheidung zwischen potentia Dei absoluta und potentia Dei ordinata seit dem 11. Jahrhundert (die Ausbildung dieser Terminologie ist allerdings erst bei Duns Scotus abgeschlossen) vgl. Courtenay, William J., Capacity and Volution. A History of the Distinction of Absolute and Ordained Power, Bergamo 1990. – Wie ein Theologe in der skotistischen und ockhamistischen Tradition Gabriel Biels die Vernunftnatur des Menschen sehr positiv bewerten und doch zugleich den qualitativen Verdienstwert guter Frömmigkeitswerke vor Gott völlig destruieren kann, zeigen eindrucksvoll die 1503 gehaltenen Predigten des Ulmer Pfarrers Ulrich Krafft (gest. 1516); vgl. dazu Hamm, Berndt, Spielräume eines Pfarrers vor der Reformation – Ulrich Krafft in Ulm, Ulm 2020, 343–350 (8.22: Kraffts Desillusionierung des Menschen: kein Verdienst vor Gott; 8.23: Gott schenkt dem Menschen die ewige Seligkeit ohne Verdienste „allein aus seiner grundlosen Barmherzigkeit“).
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und ihn mit der Kraft wahrer Gottesliebe beschenkenden rechtfertigenden Gnade. Die exklusive Schärfe, mit der bei Duns Scotus und Ockham die in Gottes freier Anordnung (ordinatio, pactum, promissio) verankerte acceptatio allein die Verdienstlichkeit der Liebeswerke des Gerechtfertigten begründet, ist Staupitz fremd. Der Akzeptationsbegriff taucht daher bei Staupitz auch nur selten auf.27 Die Termini acceptatio und acceptare unterstreichen dann den Barmherzigkeits- und Gnadencharakter des gesamten Erlösungsvorgangs: „dass mit Recht das ganze Leben eines Christen der Gnade zuerkannt wird“.28 Auf das göttliche Akzeptieren fällt bei Staupitz kein eigenes Gewicht, weil die gnadenhafte göttliche Annahme des Christen zum Lohn des ewigen Lebens für ihn eine notwendige und selbstverständliche Konsequenz der Prädestination, der rechtfertigenden Gnade, der guten Werke des Gerechtfertigten und ihrer Einbettung in Christi Verdiensten ist. Daher kann Staupitz sagen: „Ohne solche Werke [der Liebe zu Gott] stirbt niemals ein erwachsener Prädestinierter. Weil sie von Gott ausgehen und auf Gott zugehen, gefallen sie dem Allerhöchsten und werden von ihm gnädig zur ewigen Belohnung angenommen (acceptantur).“29 Die Verdienstlichkeit der Werke – dass sie zum Lohn der ewigen Seligkeit in einem Kausal- und Bedingungsverhältnis stehen30 – wird von Staupitz also nicht nur extern-relational wie bei Scotus, Ockham und Biel begründet, sondern zugleich auch von ihrer qualitativen und essenziellen Güte her; diese findet Gottes Wohlgefallen und gibt daher seinem belohnenden Akzeptieren einen Bezug zur inneren Verwandlung des Gerechtfertigten aus einem selbstsüchtigen und liebesunfähigen zu einem Gott liebenden Wesen.31 Das Hauptgewicht allerdings fällt bei Staupitz’ Begründung der meritorischen Kausalität nicht auf das Sein und 27 Zu
Staupitz’ Akzeptations- und Verdienstbegriff vgl. Wriedt, Markus, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991 (VIEG 141), 125 f.182–186 und prägnanter als Wriedt Zumkeller, Johannes von Staupitz (wie Anm. 17), 177–190. 28 „Cum autem iustificatio gratia est, non natura, acceptatio operum in gratia ad meritum gratia et Christi merita nostra sunt facta gratia, merito universa vita christiani gratiae tribuitur […].“ Staupitz, Libellus de exsecutione (wie Anm. 16), § 52, 140. 29 „Sine talibus operibus numquam moritur praedestinatus adultus. Quia a deo exeunt et ad deum vadunt, placent altissimo et acceptantur gratiose ad praemium aeternum.“ Ebd., § 50, 136/138. 30 Zur in der mittelalterlichen Theologie allgemein vertretenen Auffassung, dass das verdienstliche Werk Ursache der Belohnung ist (meritum est causa retributionis), und zur unterschiedlichen Begründung der meritorischen Kausalität vgl. Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio (wie Anm. 26), 443 f. und 485–489. 31 Vgl. oben Anm. 23. Zum inneren Zusammenhang zwischen dem ‚dürstenden‘ Liebesverlangen der Seele nach Gott und der Straftilgung wie dem Heilsgewinn für den sterbenden Menschen vgl. Staupitz, Von der nachfolgung (wie Anm. 18), Kap. 13, 85,25–28: „In disem durste verschwindt die helle, vorlischt das fegfewer, vorgeht das leiden und stirbt der todt. Dan [= denn] es ist nicht moglich, das ein mensch dohyn komme, das er in der hoe nichts lieben, nichts haben, nichts dulden moge dan den got, und hab nicht den got.“ Zu Gott selbst als ewigem Lohn vgl. unten Anm. 33.
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Tun des Menschen, sondern auf die Außendimension der „eigenen Verdienste Christi“ (propria merita Christi), „die uns in der Weise gegeben [im Sinne von: ‚angerechnet‘, ‚zu Gute gehalten‘] werden, dass sie die unseren sind“.32 Auf dieses stellvertretende Verdienen Christi allein soll der Christ seine Hoffnung und Heilsgewissheit gründen.33 Im Vergleich mit diesem stark augustinisch bestimmten Erlösungsmodell dachte Biel als nominalistischer Ockhamist konsequenter in externen Relationen und verband damit die Hochschätzung der naturgegebenen Rationalität und Willenskraft des freien menschlichen Subjekts.
6. Die Anfänge von Luthers reformatorischer Neuorientierung: das Eingeständnis radikaler Sünde, Nichtigkeit und Unwürdigkeit Auf die spätmittelalterliche Konstellation der theologischen Interiorisierung und Exteriorisierung musste ich näher eingehen, weil sich der frühe Luther34 sowohl auf der Ebene des staupitzschen Augustinismus als auch des bielschen Ockhamismus bewegte. Allerdings hat er schon sehr früh, bereits mehrere Jahre vor seinem Thesenanschlag, diese theologischen Koordinaten, die ich skizzierte, verlassen. Gerade der Vergleich mit Biel und Staupitz lässt erkennen, dass Luther offensichtlich schon vor 1513 zu neuen Dimensionen der Verinnerlichung und 32 „[…] propria merita Christi – actiones scilicet, passiones et mors eius, qui natura fuit et est filius dei –, quae et nobis ita donata sunt, ut nostra sint.“ Vgl. Staupitz, Libellus de exsecutione (wie Anm. 16), § 51, 138. Die Gaben Christi, betont Staupitz in derselben Schrift, werden uns in der ehelichen Gütergemeinschaft mit ihm so gegeben, dass sie ihm zu eigen bleiben (§ 76, 158: „tua ita mea sunt, quod maneant tua; mea sic tua sunt, quod etiam maneant mea“), d. h. Christi Gerechtigkeit wird uns gleichsam ‚angerechnet‘ (zu Gute gehalten) und umgekehrt wird ihm unsere Sündenschuld angelastet, obwohl sie unsere Sünde bleibt. Zur Parallelität mit Luthers Vorstellung vom seligen Tausch und Wechsel vgl. unten Anm. 78. 33 Vgl. die Fortsetzung des Zitats von Anm. 32: „In istis [scil. meritis Christi] fundamus collocamusque firmam spem seu certe fundatam cognoscimus. In his tantum meritum condigni locum habet; ipsaque sola sufficiunt saluti universae christianitatis, immo totius mundi.“ Vgl. auch Staupitz, Nürnberger Predigt- und Lehrstücke (wie Anm. 11), 40,7–15. Letztlich gründet der Christ seine Hoffnungsgewissheit damit auf das Prädestinationsdekret Gottes, in dem dieser gesamte christologische Erlösungs- und Verdienstzusammenhang heilsgeschichtlich verankert ist; vgl. Staupitz, Libellus de exsecutione (wie Anm. 16), § 43, 126: „deus se pro talibus dare decrevit“ (Gott hat beschlossen, sich selbst [als unbegrenzten Lohn] für solche [begrenzten Werke des Menschen] zu geben). Den Einfluss nicht nur Augustins, sondern auch Bernhards von Clairvaux auf Staupitz’ christozentrisches Verdienstdenken betont Posset, The FrontRunner (wie Anm. 10), 173–176. 34 Vgl. die Kapitel über den frühen Luther in den neuen Luther-Gesamtdarstellungen von Hendrix, Scott H., Martin Luther. Visionary Reformer, New Haven u. a. 2015, 41–54 (Kap. 4); Lienhard, Marc, Luther. Ses sources, sa pensée, sa place dans l’histoire, Genf 2016, 52–71 (Kap. I.5); Arnold, Matthieu, Martin Luther, Paris 2017, 33–187 (Kap. 2–7, mit Lit.); speziell zur Frühtheologie Luthers: Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13).
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Außenorientierung seiner religiösen Erfahrung und seiner theologischen Arbeit vorgestoßen ist. Das Ergebnis dieser beginnenden reformatorischen Umorientierung35 – und ich spreche hier nicht nach Art der Lutherforschung des 20. Jahrhunderts von der ‚reformatorischen Wende‘ Luthers und seinem ‚Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis‘,36 sondern mit einem gedehnten Blick von einer sukzessiven, Schritt für Schritt geschehenden Emergenz des Neuen –, der theologische Ertrag dieser ersten grundlegenden Veränderungen ist ausführlich in Luthers Erster Psalmenvorlesung, seinen Dictata super Psalterium von 1513–1515, dokumentiert.37 Die Anfänge dieser reformatorischen Neuorientierung liegen sehr wahrscheinlich schon in den Jahren, bevor er sich seit dem Sommersemester 1513 an die Ausarbeitung seiner Psalmenauslegung machte. Eine so elaborierte, bibelexegetisch versierte, erfahrungsgesättigte und innovative Theologie wie die seiner ersten Vorlesung als Wittenberger Professor setzte einen längeren Vorlauf der experientia und ihrer reflektierenden Verarbeitung voraus. Bemerkenswerte Indizien zeigen sich bereits in seinen Erfurter Randbemerkungen zu Petrus Lombardus 1509/1038 und in frühen Briefen seit 150739. 35 Zur Problematik des Terminus ‚reformatorisch‘ und zu den Voraussetzungen, unter denen ich ihn verwende, vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 30 f. 36 Zu dieser Terminologie vgl. exemplarisch Bayer, Oswald, Die reformatorische Wende in Luthers Theologie, in: ZThK 66 (1969), 115–150, und die beiden Sammelbände von Lohse, Bernhard (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (WdF 123); ders. (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart 1988. Otto Hermann Pesch unterschied im Unterschied zur üblichen Terminologie der Lutherforschung seiner Zeit begrifflich scharf zwischen dem „Turmerlebnis“, das er mit dem „reformatorischen Durchbruch“ gleichsetzte, und der „reformatorischen Wende“, die sich über einen längeren Zeitraum der theologischen Umorientierung erstrecke und deren Beginn „auf jeden Fall vor der 1. Psalmenvorlesung anzusetzen“ sei; ders., Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende. Ergebnisse und Probleme der Diskussion um Ernst Bizer, Fides ex auditu (erstmals 1966), im ersten der beiden von Lohse hg. Sammelbände, 445–505, hier 500. Zu Ansätzen der jüngeren Forschung, die das Konstrukt der ‚reformatorischen Wende‘ relativiert haben, vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 29 f. 37 Diese Autographen Luthers wurden erstmals in WA 3 (1885) und 4 (1886) ediert und dann in der Neuausgabe von 1993: WA 55/1 (Zeilen- und Randglossen) und WA 55/2 (Scholien). Der Beginn der Vorlesung fiel vermutlich in den August 1513, abgeschlossen wurde sie möglicherweise erst im Oktober 1515. 38 Vgl. WA 9, 28–94; Neuedition in AWA 9: Erfurter Annotationen 1509–1510/11, Köln u. a. 2009, 251–560. Zu den Anfängen der theologischen Neuorientierung Luthers in diesen und anderen zeitgleichen Randnotizen vgl. exemplarisch Schwarz, Reinhard, Fides, spes und caritas beim jungen Luther unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition, Berlin 1962 (AKG 34), 5–75. 39 Das heißt seit dem Brief Luthers aus dem Erfurter Kloster an Johannes Braun vom 22. April 1507 (WA.B 1, 10–13 [Nr. 3]), in dem er den Eisenacher Freund zur Feier seiner Primiz einlädt und sich als elenden, ja in jeder Beziehung unwürdigen Sünder bezeichnet, den Gott aus freigebigster Barmherzigkeit und Güte allein zum priesterlichen Dienst berufen habe: „Cum itaque gloriosus Deus et sanctus in omnibus operibus suis infelicem me, quin et omnibus modis indignum peccatorem tam magnifice exaltare inque sublime suum ministerium sola et liberalissima sua misericordia vocare dignatus sit, ut tantae divinae bonitatis magnificentiae (vel quantulumcunque poterit pulvis) gratus sim, creditum mihi officium implere omnino debeo.“
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Kurz gefasst kann man das anfanghaft Neue dieser Jahre so skizzieren:40 Die spirituelle Konstellation im Orden der Augustinereremiten, die der junge Mönch Luther verinnerlichte, war durch eine für ihn höchst belastende Antinomie bestimmt: durch die Spannung zwischen einem intensivierten Observanz- und Perfektionsstreben und einem gleichzeitig gesteigerten Sündenbewusstsein, das gerade in diesem Orden theologisch stark akzentuiert wurde. Ein hochfliegendes Vollkommenheitsideal des homo spiritualis verband sich in seinem Orden mit einer forcierten Interiorisierung, mit einer Achtsamkeit auf den inneren Menschen, die dazu anleitete, die Sünden bis in die geheimsten Schlupfwinkel der Seelenregungen aufzuspüren, ebenso demütig wie besorgt das eigene geistliche Unvermögen wahrzunehmen und es in einer möglichst vollständigen wöchentlichen Beichte dem Seelsorger offenzulegen.41 Bei Luther eskalierte diese strukturelle Antinomie seiner Ordenswelt in einer persönlichen Krise, die er als erschütternde Konfrontation mit dem richtenden und zürnenden Gott durchlebte. Im Zorn Gottes personifizierte sich für ihn der ganzheitliche göttliche Heiligkeitsanspruch auf wahre, vollkommene Liebesfähigkeit und das Ergebnis seiner gewissenhaften, immer tiefer grabenden Selbstbeobachtung und Selbstdiagnose: Je mehr er den fordernden Heiligkeitswillen Gottes auf die Gesamtheit seiner Existenz bezog und sich um die vollkommene Reinheit des Gottesgehorsams bemühte, umso angstvoller nahm er das völlige Scheitern seines Heiligkeitsstrebens und die Nähe des verdammenden Gottesgerichts wahr. Dieser Vorgang forcierter Verinnerlichung war somit eng verflochten mit der Außenorientierung an Gottes unerbittlichem Gesetzes- und Gerichtswort. Den Beginn von Luthers reformatorischer Neuorientierung sehe ich nun darin, dass er schließlich an das Ende seines persönlichen Perfektionsverlangens gelangte, dass er die absolute Nichtigkeit seiner Heiligungsbemühungen vor Gott realisierte und keine Möglichkeiten mehr sah, sich einer geistlichen Qualität seiner Seele, eines inneren Gnadenhabitus und frommer Tugenden, zu vergewissern und sich so, im Besitz einer iustitia activa, durch gute Werke auf den Zielgewinn der ewigen Seligkeit zuzubewegen. Der zum Himmel führende WA.B 1,10,9–11,2. – Vgl. Arnold, Matthieu, La correspondance de Luther. Étude historique, littéraire et théologique, Mainz 1996 (VIEG 168). 40 Zum folgenden Absatz vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 33–49. 41 Zur Beichtverpflichtung in den Konventen der deutschen Reformkongregation des Augustinereremiten-Ordens („mindestens einmal in der Woche“) vgl. die 1504 unter dem Generalvikariat des Johannes von Staupitz verabschiedeten und gedruckten Konstitutionen, zit. bei Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 35, Anm. 33. Zum spirituellen Profil dieser Konstitutionen vgl. jetzt Günter, Wolfgang, Reform und Reformation. Geschichte der deutschen Reformkongregation der Augustinereremiten (1432–1539), Münster i. W. 2018, 288– 293. – Zur forcierten Interiorisierung in Verbindung mit der Gewissenserforschung, wie sie vom mittelalterlichen Ordenswesen vorangetrieben wurde, vgl. Breitenstein, Mirko, Das ‚Haus des Gewissens‘. Zur Konstruktion und Bedeutung innerer Räume im Religiosentum des hohen Mittelalters, in: Jörg Sonntag (Hg.), Geist und Gestalt. Monastische Raumkonzepte als Ausdrucksformen religiöser Leitideen im Mittelalter, Berlin u. a. 2016 (Vita regularis 69), 19–55.
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Stufenweg der verdienstvollen Gottes- und Nächstenliebe42 erschien ihm als ungangbar, nicht nur für die eigene Person, sondern für alle. Was der Mensch vor Gottes richtendem Urteil haben kann, ist, wie Luther nun eingesteht, lebenslang nichts anderes als Sünde, Nichtigkeit und absolute Unwürdigkeit. So formuliert er es von Beginn seiner Psalmenvorlesung an.43 Luther lässt damit eine religiöse Sprachtradition hinter sich, für die eine Spaltung zwischen zwei Aussageebenen charakteristisch war,44 d. h. die Unterscheidung zwischen der verobjektivierenden, stark rational geprägten Lehrebene mit Aussagen über das ‚wahre‘ Verhältnis des Menschen vor Gott und einer subjektiven, eher affektiv bestimmten Frömmigkeits- und Gebetsebene mit demütigen Selbsterniedrigungsaussagen des Sünders oder der Sünderin. In der Demut soll sich der betende Mensch, wie es in den Frömmigkeitsanleitungen heißt, immer kleiner machen, als er tatsächlich ist: „Er bekennt auch da Schuld, wo keine Schuld ist.“45 Er steht vor Gottvater, Christus, Maria und den Heiligen mit dem Eingeständnis völliger Unwürdigkeit, seines Mangels an Gerechtigkeit und seiner Unfähigkeit, das Heil verdienen zu können. Gleichzeitig aber vermittelt die Lehre der Theologen den Gläubigen durch Predigt, Katechese und geistliches Schrifttum das Glaubenswissen, dass in Wahrheit niemand zum Heil gelangen kann, der nicht von Gott die heilig machende Gnade und damit die Fähigkeit empfangen hat, sich durch eigene verdienstliche Werke seiner Gottesliebe des himmlischen Lohns würdig zu machen. Gerade die Demut, mit der ein reuig zerknirschter Mensch vor Gott sein geistliches Unvermögen und seine absolute Unfähigkeit zum verdienstvollen Heilserwerb bekennt, gilt aus dieser Lehrper42 Zur Metapher des über Stufen und Grade empor führenden ‚Weges (oder der Straße) zum Himmel‘ im Zusammenhang der Spiritualität und Theologie des Augustinereremiten-Ordens vgl. Saak, Eric L., High Way to Heaven. The Augustinian Platform between Reform and Reformation, 1292–1524, Leiden u. a. 2002 (SMRT 89); zur Stufenmetapher bei Staupitz vgl. oben Anm. 18. 43 Vgl. unten Anm. 46. 44 Zu dieser Art Rollenspaltung des frommen Menschen in der spätmittelalterlichen Religiosität vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 36 und 70–73. 45 Gemäß einer vielverwendeten Sentenz Gregors d. Gr.: „Bonarum mentium est ibi culpam agnoscere, ubi culpa non est.“ Vgl. Epistola XI, 64 (PL 77, 1195B). In typischer Weise wird dieses Diktum in der zitierten Textversion von Jean Gerson rezipiert, indem er dazu anleitet, dass der Sünder als sein eigener Ankläger, Zeuge und Richter sein Schuldbewusstsein ins Übermaß steigern soll („exaggerans quantum potest“): De consolatione theologiae, in: ders., Oeuvres complètes, Bd. 9, hg. von Palémon Glorieux, Paris 1973, 185–245, hier 232 f. Vgl. Grosse, Sven, Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit, Tübingen 1994 (BHTh 85), 54.122. – Augustinus war für das mittelalterliche Ordensleben und für Luther „der Prototyp der Selbstanklage und Demut“; Unterburger, Klaus, Unter dem Gegensatz verborgen. Tradition und Innovation in der Auseinandersetzung des jungen Martin Luther mit seinen theologischen Gegnern, Münster i. W. 2015 (KLK 74), 70. Die offene Frage ist für mich, ob sich auch bereits bei Augustin die Spaltung der Sprachebenen findet, wie sie für Gregor d. Gr. und die monastische Spiritualität nach ihm charakteristisch ist.
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spektive de facto als höchste geistliche Qualität: Indem er sich selbst jedes Verdienst abspricht und allein auf Gottes Erbarmen vertraut, tut er Verdienstvolles. Für Luthers Wirken als Universitätsprofessor ist von Anfang an charakteristisch, dass er diese traditionelle Rollenspaltung zwischen Lehr- und Demutshaltung nicht weiterführte: Er konnte und wollte vom Katheder nichts anderes sagen, als was er als demütiger Mönch im Chorgebet und Beichtstuhl vor Gott bekannte. Er lässt nun in der Psalmenvorlesung die verobjektivierende Wahrheitsebene der lehrenden Kirche und die persönlich-existentielle Gebetshaltung des einzelnen Frommen zusammenfallen. Dieser macht sich in der Demut seiner Reue, seiner Selbstanklage und seines Gottvertrauens nicht kleiner, als er tatsächlich ist, sondern bekennt die reale Wahrheit seines Zustandes vor Gott. Ist doch der Mensch, wie der Psalmenausleger Luther lehrt, zeitlebens real im Zustand der Todsünde (die ohne Vergebung zum geistlichen Tod der Verdammnis führen würde) und ebenso real ohne jedes Verdienst und jede Würdigkeit vor Gott.46
7. Psalmenauslegung (1513–15): Die neue Relation des verurteilenden und befreienden Urteils (iudicium / humilitas und promissio / spes) Alles spricht dafür, dass Luther sich gerade deshalb die Psalmen als ersten biblischen Vorlesungstext vorgenommen hat, weil er in diesen klösterlichen Gebetstexten sowohl die Außendimension des göttlichen Gerichtsurteils, des 46 Vgl. z. B. Luther, Dictata super Psalterium, WA 55/2, 270,63 f. und 829,9 f. Zur generellen Ablehnung des Verdienstbegriffs in den Dictata vgl. unten S. 313 mit Anm. 87. – Zum theologischen Profil von Luthers Erster Psalmenvorlesung, wie ich es im Folgenden näher charakterisiere, vgl. die grundlegenden und immer noch nicht überholten Arbeiten von Bizer, Ernst, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 1958, 31966; Brandenburg, Albert, Gericht und Evangelium. Zur Worttheologie in Luthers erster Psalmenvorlesung, Paderborn 1960; Prenter, Regin, Der barmherzige Richter. Iustitia dei passiva in Luthers Dictata super Psalterium 1513–1515, Aarhus 1961; Metzger, Günther, Gelebter Glaube. Die Formierung reformatorischen Denkens in Luthers erster Psalmenvorlesung, dargestellt am Begriff des Affekts, Göttingen 1964 (FKDG 14); Schwarz, Vorgeschichte (wie Anm. 14), 167–288; zur Mühlen, Karl-Heinz, Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972 (BHTh 46), 26–92; Hendrix, Scott H., Ecclesia in via. Ecclesiological developments in the Medieval Psalms exegesis and the Dictata super Psalterium (1513–1515) of Martin Luther, Leiden 1974 (SMRT 8). – Löst man sich methodisch von der Aufgabenstellung der älteren Forschung, nach einer datierbaren reformatorischen Wende in Luthers Theologie zu suchen, und versteht man die Formierung seines reformatorischen Denkens als einen sich über mehrere Jahre hinziehenden Erkenntnisund Erfahrungsprozess, der schon in den frühen Erfurter Klosterjahren nach 1505 begonnen hat, dann kann man die sorgfältigen Textanalysen der hier aufgeführten Literatur, denen in der jüngeren Lutherforschung keine gleichwertige Intensität der Beschäftigung mit Luthers Psalmenvorlesung gegenübersteht, mit größtem Gewinn verwenden. Schulen sie doch den Blick dafür, dass bereits in diesem ersten Werk des Wittenberger Augustiners wesentliche Elemente seiner reformatorischen Neuorientierung enthalten sind.
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iudicium dei, als auch die tiefste Innendimension der Nichtigkeitserfahrung und existentiellen Klage ausgedrückt fand und daher an diesen Texten seine neuartige Gleichsetzung von persönlich-subjektiver Gebetsaussage und lehrhafter Wahrheitsaussage über die Sündhaftigkeit und mangelnde Gerechtigkeit des Menschen erproben konnte. Es kommt darauf an, betont Luther nun stereotyp in seiner Psalmenauslegung, dass der Sünder sich Gottes Diagnose, Anklage und Verurteilung zu eigen macht, dass Gottes Urteilswort sein Gewissen durchdringt und er vor Gott seine Sünde bekennt und sich selbst anklagt und verurteilt. So fallen Außen- und Innendimension des iudicium ineinander. Luther beschreibt diesen Rechtfertigungsvorgang als inneres Hören der Seele. Gottes Heiliger Geist, sein lebendiges Geistwort, öffnet mit seinem Gnadenwirken in den Erwählten das innere Gehör für Gottes Gericht und Urteil. Bemerkenswert aber ist – und darauf hat vor allem Karl-Heinz zur Mühlen (1972) nachdrücklich hingewiesen47 –, dass Luther bereits in seiner ersten Vorlesung dieses innere Wortgeschehen auf das verbum externum, die äußerlich-sinnliche Verkündigung des biblischen Wortes, bezieht. Dieses ‚äußere Wort‘ versteht er immer als Predigt vom verbum incarnatum, von dem Mensch gewordenen und gekreuzigten Christus-Logos. Nur durch das Medium dieses laut erklingenden Verkündigungswortes wird der sündige Mensch vom Heilswort Christi ergriffen. Damit zeichnet sich bei Luther schon jetzt ein neues Wortverständnis in der Abkehr von der augustinischen Tradition ab, die das innere vom äußeren Wort und damit auch das innere Gnadenwort vom äußeren Gesetzeswort Gottes durch eine ontologische Kluft geschieden sah.48 Luthers besondere Hervorhebung der heilszueignenden Kraft des äußeren Vergebungswortes im Zusammenhang des Ablassstreits 151849, die bei den Datierungsversuchen von Luthers ‚reformatorischer Wende‘ seit Ernst Bizers Buch Fides ex auditu (1958)50 eine große Rolle spielte, ist somit exegetisch in den frühen Vorlesungen Luthers vor Frühjahr 1518 über die
47 Vgl.
zur Mühlen, Nos extra nos (wie Anm. 46), 68–92. Verhältnis von verbum externum und internum bei Augustin vgl. Lorenz, Rudolf, Die Wissenschaftslehre Augustins, in: ZKG 67 (1955/56), 213–251; Schindler, Alfred, Wort und Analogie in Augustins Trinitätslehre, Tübingen 1965 (HUTh 4); Duchrow, Ulrich, Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin, Tübingen 1965 (HUTh 5); Philipp, Cary, Outwards Signs. The Powerlessness of External Things in Augustine’s Thought, Oxford 2008. In seinen antipelagianischen Spätschriften lehrt Augustin, dass das innere Gnadenwort des Evangeliums den inneren Menschen so verwandelt, dass er das äußere Gesetzeswort Gottes erfüllen kann. Die Abkehr Luthers von diesem Wort- und Gnadenverständnis markiert zugleich seinen frühen Gegensatz zu Karlstadt, wie er sich z. B. im Vergleich mit dessen 151 Conclusiones vom 26. April 1517, besonders These 72 und 73, zeigt; vgl. Kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Andreas Bodensteins von Karlstadt, Bd. I/1, hg. von Thomas Kaufmann, Heidelberg 2017 (QFRG 90), 504,12 f. 49 Vgl. unten S. 317–319. 50 Vgl. oben Anm. 46. Vgl. bereits Bizer, Ernst, Die Entdeckung des Sakraments durch Luther, in: EvTh 17 (1957), 64–90. 48 Zum
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Psalmen, den Römerbrief, den Galaterbrief und den Hebräerbrief verankert.51 Schon in diesen Jahren sieht Luther das Rechtfertigungsgeschehen durch eine doppelte Außendimension, ein zweifaches ‚Von-außen-her‘, bestimmt: durch die Außendimension des Heiligen Geistes, der mit seinem inneren Wort dem Gewissen des Menschen klärende Worte zuspricht, die er sich nicht selbst sagen kann, und durch die Außendimension des geschriebenen, laut gesprochenen und sinnlich vernommenen Verkündigungswortes. Wenn Gottes Geist im Zusammenspiel von äußerem und innerem Wort das Innerste der Sünder anspricht, dann kommt, wie Luther in seiner Psalmenvorlesung hervorhebt, Wahrheit und Gerechtigkeit in ihr Verhältnis zu Gott, und sie versuchen nicht mehr, vor ihm ein Lügengebäude eigener Gerechtigkeit aufzubauen. Indem sie mit Gottes wahrem und gerechtem Urteil übereinstimmen und sich als Sünder erkennen und bekennen, kehrt sich ihre Lage vor Gott um: Aus den Verurteilten werden Gerechtgesprochene, weil Gott diejenigen nicht länger verdammt, die sich selbst verurteilen und darin an seiner göttlichen Wahrheit partizipieren.52 Gott überbietet so sein verdammendes Urteil durch ein rettendes Urteil, das die Sünder als gerecht gelten lässt. Auch dieses rettende und erlösende Wort findet Luther in seinem Psalmtext: in den Aussagen über Gottes barmherzige Verheißung (promissio), mit der er den Armseligen und Zerschlagenen, den Seufzenden und Bittenden Befreiung aus ihrer Not zuspricht, und in den Worten über Gottes wahrhaftige Treue, mit der er zu seinen Verheißungen steht. Wenn Gottes Geist und Gnade das Herz des Sünders für beide Worte öffnet, für das diagnostizierende und verurteilende Gerichtswort und für das tröstende Verheißungswort des Evangeliums, dann entstehen im Inneren des Sünders Demut (humilitas) und Hoffnung (spes), die beiden Grundausrichtungen des christlichen Glaubens.
8. Glaube als radikale Verinnerlichung und Außenorientierung zugleich Bereits in seiner Ersten Psalmenvorlesung macht Luther den Glaubensbegriff, d. h. die Termini fides, fidelis und credere, zu den entscheidenden Schlüsselbegriffen der christlichen Existenz und des kirchlichen Lebens, während für das Mittelalter spätestens seit dem 12. Jahrhundert die Liebe als die für das Heil entscheidende Lebensform der Christen gegolten hat und der Glaube nur als der 51 Zur Psalmenvorlesung siehe oben Anm. 47; zur anschließenden Paulusexegese der Jahre 1515–1518 vgl. zur Mühlen, Nos extra nos (wie Anm. 46), 169–175. Zur kontroversen Datierung der Hebräerbriefvorlesung (Sommersemester / Wintersemester oder Wintersemester / Sommersemester 1517/18) vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 93, Anm. 11. 52 Vgl. z. B. Luther, Dictata super Psalterium, zu Vulg.-Ps 50,6 ff., WA 55/2, 268,1–276,245, besonders 271,89–272,106.
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unterste, am wenigsten qualitativ bestimmte und daher unzureichende Grad auf dem christlichen Weg zum Himmel.53 Man konnte daher auch vom Glauben der Nicht-Erwählten und Verdammten sprechen. Indem Luther genau diesen bisher qualitativ so unterbestimmten Glaubensbegriff erstmals zum Zentralbegriff der Theologie erhob und mit ihm die letztgültige Höchstform des christlichen Lebens der Erwählten bezeichnete, löste er programmatisch die Bestimmung des Christseins aus einer qualitativen Betrachtungsweise. Denn Heil und Verdammnis des Sünders entscheiden sich nun nicht mehr an einer vorfindlichen Qualität seines Inneren; ist doch dieser Zustand – theologisch geurteilt (coram deo), nicht unter dem Gesichtspunkt bürgerlicher Moral – immer Sünde, immer Verfehlung der ganzheitlichen Heiligkeitsintention der göttlichen Gebote. Entscheidend ist also nicht das esse in se des Menschen,54 sondern die Perspektive des Urteils, der Beurteilung durch Gott und der Selbstbeurteilung. Das Ankommen dieses verurteilenden und freisprechenden Urteils im Inneren des Menschen ist der Glaube. Er ist einerseits Inbegriff radikaler Interiorisierung, weil er im Verantwortungszentrum des Gewissens und damit im Innersten des Menschen seinen Ort hat; andererseits ist er der nach außen gewandte Relationsbegriff schlechthin, indem er ganz auf die Außendimension des verdammenden und rettenden göttlichen Urteils bezogen ist, auf das zweifache Wort von Gericht / Gesetz und Evangelium. Der Glaube hat seinen Haftpunkt ganz außerhalb des Menschen (extra nos),55 kann aber gerade so den Sünder in seinem Innersten treffen und ihn von jeder Veräußerlichung der Religion befreien. Der Glaube wird durch den Heiligen Geist, den Geist
53 Vgl.
Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 65–89 (Kap. 3: Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens) und 1–24 (Kap. 1: Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers – ein Beitrag zur Bußgeschichte). 54 Vgl. unten S. 311 mit Anm. 79 (esse rei). 55 Die Wendung extra nos verwendet Luther erstmals 1515 am Beginn seiner Römerbriefvorlesung, im Scholion zu Röm 1,1 (WA 56, 158,9), und zwar in enger Verbindung mit der Terminologie der ‚außeren‘ und ‚fremden‘ Gerechtigkeit Jesu Christi (externa et aliena iustitia), von der unten die Rede sein wird; vgl. S. 307 mit Anm. 71. In der Ersten Psalmenvorlesung bedient sich Luther zwar noch nicht wie wiederholt in der Römerbriefvorlesung der Begriffe extra nos oder extra se, dafür aber bereits der bedeutungsgleichen Wendung supra se. Ihren Ursprung hat diese extra / supra nos / se-Terminologie Luthers im Sprachgebrauch der traditionellen mystischen Theologie, die davon spricht, dass der Mensch durch die göttliche Liebe in einer Art ‚Ekstase‘ (extasis, raptus, excessus mentis) über sich selbst hinaus (supra se, super se ipsum) und außerhalb seiner selbst (extra se ipsum) in den transzendenten, göttlichen Seinsgrund versetzt und mit ihm vereint wird; so paradigmatisch Gerson, Jean, De mystica theologia tr. 1 p. 4 cons. 29 n. 4, Ausgabe von André Combes, Lugano 1958, 74,22–30. Luther gibt dieser mystischen Terminologie einen neuen Sinn, indem er die Funktion der ekstatischen Liebe auf die Außenbeziehung des Glaubens zum Evangelium und zur externen Gerechtigkeit Christi überträgt. Vgl. zur Mühlen, Nos extra nos (wie Anm. 46), 51–66, 91 f., 93–116; Oberman, Heiko Augustinus, Simul gemitus et raptus. Luther and Mysticism (erstmals 1967), in: ders., The Dawn of the Reformation. Essays in Late Medieval and Early Reformation Thought, Edinburgh 1986, 126–154.
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Christi, in seiner Seele gewirkt; und in diesem Sinne wird Luther immer wieder vom Einwohnen Christi im Glaubenden, von seiner Wiedergeburt und der Neuschöpfung seiner Person im Geschehen der Rechtfertigung sprechen. Aber das geschieht, wie Luther betont, nur in der Weise, dass durch die Entstehung des Glaubens der Blick des Menschen vom Zustand seines Inneren, von eigener Sünde und Heiligung, weg ganz nach außen gewendet wird, auf Christi rechtfertigende Gerechtigkeit und Vergebung hin; und nur so wird durch Gottes Wort und Geist dem Gewissen Heilsgewissheit geschenkt.56
9. Die lebenslange wahre Buße – Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu Staupitz und Tauler Der Blick auf Luthers Situation in den Jahren vor der Psalmenvorlesung und auf den theologischen Ertrag dieses ersten Kollegs zeigt somit, wie seine reformatorische Neuorientierung für ihn ein Weg sowohl zu neuen Innendimensionen als auch zu neuen Außendimensionen in der Beziehung zwischen Gott und Mensch war. Der Weg nach innen führte ihn in die Abgründe der Verderbtheit und Nichtigkeit, auf denen keine rettende Heiligkeitsbeziehung zu Gott aufzubauen war. Die erlösende Gerechtigkeit, Heiligkeit und Seligkeit aber fand er allein im Weg nach außen. Allerdings schließt sich Luther in der Psalmenvorlesung, dann in der wohl zum Sommersemester 1515 beginnenden und mit dem Sommersemester 1516 endenden Römerbriefvorlesung57 und in seinen 56 Zur Heilsgewissheit in Luthers Erster Psalmenvorlesung – die Hoffnungsgewissheit der Tradition wird bei ihm zur Glaubensgewissheit – vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 82 f., mit Textbelegen in Anm. 44 und 45 und der kritischen Auseinandersetzung mit der in der Forschung wiederholt vertretenen Auffassung, Luther kenne in der Psalmen- und Römerbriefvorlesung noch nicht die persönliche Heilsgewissheit des Glaubenden, in Anm. 47. Luther legt bereits seit 1513 größten Wert auf diese durch das Verheißungswort des Evangeliums geschenkte feste certitudo fidei; allerdings betont er zugleich, dass das demütigende Gerichtswort Gottes im Sünder stets auch Anfechtungen und Verunsicherungen im Blick auf den eigenen Zustand erzeugt, sodass die Situation des Glaubenden durch ein Oszillieren zwischen Gewissheit und Ungewissheit, zwischen spes und timor gekennzeichnet ist. Über die gegensätzliche Wirkung von Gesetz und Evangelium sagt Luther dann in der Römerbriefvorlesung (WA 56, 424,16 f.): „Lex conscientiam urget peccatis, sed euangelium liberat eam et pacificat per fidem Christi.“ „Das Gesetz bedrängt das Gewissen durch die Sünden, aber das Evangelium befreit es und schenkt ihm Frieden durch den Glauben an Christus.“ – Den Hinweis auf den Begriff des ‚Wohnens‘ Christi im Glaubenden (z. B. „Christus in nobis habitans“, WA 56, 278,1 f.) in Luthers frühen Vorlesungen verdanke ich dem freundlichen Hinweis von Ronald K. Rittgers (Valparaiso, IND); vgl. ders., The Reformation of Suffering (wie Anm. 21), 96 mit Anm. 98. 57 Edition: WA 56. Die exakte Datierung des Beginns und des Endes der Vorlesung ist beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht möglich. Doch dürfte Luther die Vorlesung im Frühjahr 1515 begonnen und im Herbst 1516 beendet haben; vgl. Schmidt-Lauber, Gabriele, Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/16. Ein Vergleich zwischen Luthers Manuskript und den studentischen Nachschriften, Weimar 1999 (AWA 6).
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weiteren Schriften der Auffassung von Staupitz an, dass durch das gnadenhafte Wirken des Heiligen Geistes in der Seele des Sünders und erst dank dieser rechtfertigenden Gnade der Mensch Gott lieben und einen wahren Reueschmerz aus Liebe zu Gott empfinden kann. Gerade weil Luther die lebenslange sündhafte Perversion des Menschen so ernst nimmt, kann er sich auch kein Christenleben ohne den Schmerz echter Buße in der Nachfolge der Passion Christi vorstellen.58 Gottes Geist, betont er, heiligt das Innere des Menschen und zieht ihn so in einen lebenslangen Prozess der Heiligung und Genesung hinein, die immer auch den Charakter einer ebenso herzlichen wie schmerzlichen Reue behält. Es ist genau diese Lebensperspektive der wahren, von Gottesliebe durchdrungenen Herzensbuße und echten Reue, der vera contritio, die Luther in seinen ‚95 Thesen‘ zur Ablassfrage von 1517 hervorhebt.59 Im Blick auf diese Bußverinnerlichung versteht er sich dankbar als Schüler von Staupitz;60 und zugleich sieht er sich an der Seite des mystischen Theologen Johannes Tauler (gest. 1361), mit dessen deutschen Predigten er vielleicht schon während seiner Vgl. Luther, Martin, Sermon von dem Sakrament der Buße, WA 2, 709–723. Edition: WA 1, 229–238; Martin Luther Studienausgabe 1, hg. von Ulrich Delius, Ost-Berlin 1979, 173–185; zweisprachige Ausgabe von Schilling, Johannes (Hg.), Martin Luther. Die 95 Thesen, Stuttgart 2016 (Reclam UB Nr. 19329). Zur kontroversen theologischen Einordung der 95 Thesen vgl. Brecht I, 187–216 (der Angriff auf den Ablass in den Thesen ist noch nicht von einer reformatorischen, sondern „von einer streng spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit aus unternommen worden“); ähnlich, aber mit starker Betonung der Kontinuität zu einer mystischen Bußtheologie nach Art Johannes Taulers: Leppin, Volker, „Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“ – Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in: ARG 93 (2002), 7–25; dagegen Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 90–114, Kap. 4: Die 95 Thesen – ein reformatorischer Text im Zusammenhang der frühen Bußtheologie Martin Luthers. 60 Vgl. besonders Luther, Martin, Begleitschreiben zu den „Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute“ an Johannes von Staupitz vom 30. Mai 1518, WA 1, 525–527, hg. von Johannes Schilling, Lateinisch-deutsche Studienausgabe 2, Leipzig 2006, 17–23. In diesem Schreiben schildert Luther, wie Staupitz ihm vor Jahren in einem Gespräch zu einem völlig neuen Bußverständnis verholfen habe. Wenn man annimmt, dass der Brieftext bei aller Stilisierung doch die Reminiszenz an ein tatsächlich stattgefundenes Gespräch festhält, kann diese Unterredung schon 1508/09 stattgefunden haben, als beide erstmals über einen längeren Zeitraum hinweg zusammen waren; jedenfalls aber wird es vor den Beginn von Luthers Psalmenvorlesung (im Sommer 1513) zu datieren sein, weil es genau das Bußverständnis widerspiegelt, das man von Anfang an in den Dictata super Psalterium findet. Wenn manche Lutherforscher zu einer späteren Datierung gekommen sind (z. B. Brecht I, 181, und Leppin, „Omnem vitam“ [wie Anm. 59], 13 f.: Frühsommer 1515), dann vor allem deshalb, weil sie zu wenig berücksichtigten, dass Luther in diesem Brief vier Zeitstufen in der Entfaltung seines Verständnisses von wahrer Buße unterscheidet (markiert durch die Angaben „aliquando“, „deinde“, „post haec“ und „denique“) und dass das Gespräch mit Staupitz nur der ersten Zeitebene zuzuordnen ist; dazu ausführlicher Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 52–56 mit dem Hinweis (S. 55), dass man Luthers Erinnerung an die Bußunterredung mit Staupitz nur gerecht wird, wenn man sie – worauf Luther selbst hinweist – in eine ganze Reihe von Gesprächen einordnet, durch die Staupitz ihn über einen längeren Zeitraum hinweg väterlich tröstete und dabei besonders das Leiden Christi vor seine Augen rückte. 58 59
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Arbeit an den ersten Kapiteln des Römerbriefs 1515, spätestens aber im Frühjahr 1516 Bekanntschaft gemacht hat.61 Doch wenn man nur diese Gemeinsamkeit mit Staupitz und Tauler im Blick hat, geht man am entscheidend Neuen der Jahre 1513–1518 vorbei. Im Gegensatz zu Staupitz und Tauler besaß die wahre, aus der Liebe zu Gott erwachsende Buße und Reue in Luthers Frühtheologie keine kausale Relevanz für Rechtfertigung und Heil des Sünders. Schon vor Beginn der Ersten Psalmenvorlesung war ihm, wie wir sahen, jede Art der existentiellen und theologischen Verknüpfung der Liebesfähigkeit des Menschen mit seiner Annahme durch Gott zerbrochen. Die gut spätmittelalterliche staupitzsche Frage nach einer ausreichenden, genügenden und akzeptablen Buße und Reue,62 von der Luther einst selbst ausgegangen war, stellte sich für ihn nun überhaupt nicht mehr. Die Radikalität seiner Sündenerfahrung und seiner Begegnung mit der Souveränität des freien göttlichen Erbarmens hatte ihn zu der Erkenntnis geführt, dass es nie und nimmer die Qualität der Gottesliebe und des inneren Reueaffekts sein kann, die den Menschen der Sündenvergebung teilhaftig werden lässt und so für ihn zur Heilsbedingung wird. Der Weg nach innen erwies sich dem auf Verinnerlichung trainierten Augustinermönch – soteriologisch gesehen – als heillose Sackgasse. Hier lag auch der wesentliche Unterschied zu Taulers Weg der Bußverinnerlichung, die in die Tiefe verzweifelter Nichtigkeitserfahrung und bestürzender Gottesverfinsterung führt.63 Denn Tauler geht diesen Weg noch weiter nach innen bis zur Erfahrung der beseligenden und vergöttlichenden Gottesgeburt im innersten ‚Seelengrund‘64. Diese Einkehr des geistlichen Menschen in sein Innerstes beschreibt der Straßburger lebmeister zugleich als Stufenweg der eks61 Erstmals erwähnt Luther Tauler namentlich in seiner Römerbriefvorlesung im Scholion zu Röm 8,26, WA 56, 378,13 f. (etwa im Frühjahr 1516); es ist aber möglich, dass er die Ausgabe der Taulerpredigten von 1508, in die er Randbemerkungen eingetragen hat, schon in einer sehr frühen Phase seiner Vorlesung während des Jahres 1515 kennenlernte; vgl. zur Mühlen, Nos extra nos (wie Anm. 46), 97 f. Zur Rezeption Taulers in der Frühtheologie Luthers bis 1518 vgl. ebd., 93–116; Ozment, Steven E., Homo spiritualis. A Comparative Study of the Anthropology of Johannes Tauler, Jean Gerson and Martin Luther (1509–16) in the Context of their Theological Thought, Leiden 1969 (SMRT 6); ders., An Aid to Luther’s Marginal Comments on Johannes Tauler’s Sermons, in: HThR 63 (1970), 305–311; Otto, Henrik, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und 16. Jahrhunderts, Gütersloh 2003 (QFRG 75); Leppin, Volker, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016, 22–31 u. ö.; zur These Leppins, dass sich Luther in den Jahren 1516–1518 als Taulerianer und Staupitzianer noch ganz in den Koordinaten der spätmittelalterlichen Mystik bewegt, vgl. bereits Müller, Alphons Victor, Luther und Tauler auf ihren theologischen Zusammenhang neu untersucht, Bern 1918. 62 Vgl. oben S. 287 mit Anm. 13. 63 Zu Taulers mystischer Theologie vgl. die textnahe Darstellung von McGinn, Bernard, Die Mystik im Abendland 4: Fülle. Die Mystik im mittelalterlichen Deutschland (1300–1500), Freiburg i. Br. 2008 (engl. Originalausgabe 2005: The Harvest of Mysticism in Medieval Germany 1300–1500), 412–502, hier 486–491 (über die zweite Stufe des mystischen Weges, die Tauler als getrenge, d. h. als Angst, Not, Verlassenheit und Leiden, beschreibt). 64 Zu dieser Erfahrung der dritten Stufe vgl. ebd., 491–501, besonders 499.
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tatischen Liebe bis zum mystischen Einswerden mit Gott.65 Der Weg in die Tiefe ist Aufwärtsbewegung. „Höhe und Tiefe“, sagt er, „ist hier ein und dasselbe.“66 Luther hingegen stellt der desperaten, ins absolute Nichts eigener Unwürdigkeit abstürzenden Innerlichkeit die rettende Außendimension der Christusgerechtigkeit extra nos gegenüber. Sie widerfährt dem angefochtenen Menschen nicht durch das innere Transformationsgeschehen der Liebe, sondern durch die Vereinigung von Wort und Glaube.67 Diesen Weg nach außen konnte Luther gerade nicht bei Tauler finden, und er lehrte ihn ja auch bereits jahrelang, bevor er Taulers Predigten kennenlernte. In ihnen faszinierten ihn dann Passagen über die gelassene und leidensbereite Passivität des geistlichen Menschen und seine Erfahrung von quälender Gottesferne und tröstender Gottesnähe. Er konnte die Predigten selektiv als Resonanztexte seiner eigenen Erfahrungen und Klärungen lesen, und sie verhalfen ihm dazu, seine theologische Sicht des christlichen Heiligungslebens als Nachfolge Christi im Widerspruch gegen die scholastischen Lehrtraditionen begrifflich weiterzuentwickeln.68
10. Die Anrechnung der ‚äußeren‘ und ‚fremden‘ Gerechtigkeit Jesu Christi Es ist die Grundeinstellung des Glaubens, die bei Luther die gesamte Perspektive des Menschen verändert, indem sie die Fixierung auf ein inneres Verwandlungsgeschehen und eine innere bonitas aufhebt und den Blick nach außen auf das rechtfertigende Urteil des gerechten Gottes in seinem Evangelium wendet. Weil Zu diesem Stufenweg der „starken Liebe“ vgl. ebd., 478–484, besonders 483. Tauler, Predigten, hg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1910, Predigt 39, 162,18: „Wan hoch und tief ist do ein.“ 67 Zur Unterscheidung zwischen dem extra nos der ekstatischen Liebe in der mystischen Tradition eines Tauler und Gerson und dem ekstatischen Wesen des Glaubens im extra-nosVerständnis Luthers vgl. oben Anm. 55 mit Hinweis auf die entsprechenden Seiten bei zur Mühlen, Nos extra nos (wie Anm. 46). 68 Zur Faszination, die Tauler auf Luther ausübte, zu Aspekten einer Strukturverwandtschaft zwischen der Mystik Taulers und Luthers und zur gleichzeitigen theologischen Distanz der Glaubensmystik Luthers zur Transformationsmystik Taulers vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 200–250, Kap. 8: Wie mystisch war der Glaube Luthers, hier 240–247. – Die bei Luthers Tauler-Rezeption zu beobachtende Koexistenz von begeisterter Zustimmung und inhaltlicher Differenz gilt mit Modifikationen auch für seine enthusiastische Begegnung mit dem spätmittelalterlichen mystischen Traktat, dem er später den Titel ‚Theologia deutsch‘ gab und von dem er 1516 in der Vorrede zur Erstpublikation sagte, er sei „faßt [ganz und gar] nach der art des erleuchten doctors Tauleri“ gemacht. Zu den beiden Ausgaben dieser Schrift durch Luther, zu ihrer inhaltlichen Rezeption in seinen Frühschriften bei gleichzeitiger theologischer Distanz zu ihrem Verständnis des christlichen Heilsweges vgl. jetzt Zecherle, Andreas, Die Rezeption der ‚Theologia Deutsch‘ bis 1523. Stationen der Wirkungsgeschichte im Spätmittelalter und in der frühen Reformationszeit, Tübingen 2019 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 112), 67–198. 65 66
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der Heilige Geist im Innersten der menschlichen Seele den Glauben entstehen lässt, kann der Sünder aus seiner Introvertiertheit herausfinden und Zuflucht im Evangelium und in der Gerechtigkeit Christi finden. Schon in der Psalmenvorlesung sagt Luther, dass Gottes Gerechtigkeit durch das Evangelium dem Menschen, der glaubt, die Gerechtigkeit Christi anrechnet und die Sünde nicht mehr anrechnet, noch bevor er irgendetwas Gutes tun kann.69 Als Sünder ohne moralische Güte und ohne gute Werke wird er von Gott um Christi Gerechtigkeit willen gerechtfertigt und zur Seligkeit angenommen. Diese Außendimension der rettenden Gerechtigkeit Christi bringt Luther dann verstärkt in der anschließenden Römerbriefvorlesung zur Geltung, indem er die schon in der Psalmenvorlesung gelegentlich verwendete Terminologie der ‚Anrechnung‘, der göttlichen reputatio oder imputatio,70 so ins Spiel bringt, dass er die angerechnete Christusgerechtigkeit als „fremde“ und „äußere“ Gerechtigkeit (iustitia aliena, externa) bezeichnet.71 Zwar wird sie dem Sünder wirklich und mit höchst effek69 Vgl. insbesondere Luthers Auslegung von Vulgata-Ps 31,1 f. („Beati, quorum remissae sunt iniquitates, et quorum tecta sunt peccata. Beatus vir, cui non imputavit Dominus peccatum, nec est in spiritu eius dolus“): Vergebung und Heil erlangen wir allein durch Christus („per solum Christum“). Gott hat durch sein Evangelium vom Himmel offenbart, dass wir allein durch die Gerechtigkeit Christi befreit würden („per quam iustitiam liberaremur, scilicet per Christum“), und zwar völlig passiv („mere passive“). Das geschieht alles im Glauben an Christus („in fide Christi remittuntur peccata“). Jeder ist gerecht, dem Gott die Gerechtigkeit anrechnet wie Abraham gemäß dem Apostel; einem solchen rechnet er nämlich die Sünde nicht an, weil er ihm die Gerechtigkeit anrechnet („quilibet est Iustus, cui Deus reputat Iustitiam sicut Abrahe, secundum Apostolum; tali enim non imputat peccatum, quia reputat ei Iustitiam“), d. h. die „iustitia Christi“: WA 55/2, 176,1–177,54. Luther bezieht sich hier in Anlehnung an Augustins Auslegung von Ps 31 (in den Enarrationes in Psalmos, 31,II,2 [CChr.SL 38, 226,1–31]) auf Röm 4,3: „Abraham glaubte Gott; und das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet“ („reputatum est illi ad iustitiam“ – Zitat von Gen 15,6), setzt aber gegenüber Augustin in der Deutung dieses und anderer Psalmverse (vgl. vor allem seine Auslegung von Ps 71,2: „In iustitia tua libera me“, WA 55/2, 433,1–440,199) eigene Akzente, indem er den Zusammenhang zwischen non imputare peccatum, reputare iustitiam, iustitia Christi und fides Christi im Sinne seiner Exteriorisierung des Gerechtseins hervorhebt. 70 Auslöser für diese Terminologie war, wie Luthers Psalmenvorlesung zeigt (vgl. die vorausgehende Anm.), die Vulgata-Übersetzung von Ps 31,2: „cui non imputavit Deus peccatum“ und die Erklärung dieses Psalmverses durch Röm 4,3 bzw. Gen 15,6 „reputatum est illi ad iustitiam“. Zur weiteren Geschichte der Terminologie vgl. Rolf, Sybille, Zum Herzen sprechen. Eine Studie zum imputativen Aspekt in Luthers Rechtfertigungslehre und zu seinen Konsequenzen für die Predigt des Evangeliums, Leipzig 2008 (Arbeiten zur systematischen Theologie 1). 71 Zu den Schlüsselbegriffen reputare / reputatio / imputare / imputatio und iustitia aliena / externa in der Römerbriefvorlesung vgl. die Belege bei Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 261 f. Gleich zu Beginn dieser Vorlesung, im Scholion zu Röm 1,1, kommt Luther auf diese äußere und fremde Gerechtigkeit zu sprechen, wobei er in diesem Zusammenhang auch erstmals den Ausdruck extra nos verwendet. Er sagt, dass es die Summe dieses Paulusbriefes sei, alle Weisheit und Gerechtigkeit des Fleisches zu zerstören, auszureißen und zu vernichten (WA 56, 157,2 f.), und beruft sich dabei auf Jer. 1,10: „Sicut [deus] per Jheremiam dicit: ‚ut evellas, destruas, dissipes et disperdes‘, scil. omnia, que in nobis sunt, i. e. que nobis ex nobis et in nobis placent, ‚et edifices et plantes‘, scil. omnia, que extra nos sunt in Christo. […] Deus enim nos non per domesticam, sed per extraneam iustitiam et sapientian vult salvare, non que veniat et
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tiven Folgen zugeeignet, weshalb Luther sie auch als „äußere Gerechtigkeit, die von Christus her in uns ist“72 bezeichnen kann; aber so, wie sie uns gutgeschrieben wird und uns rechtfertigt, als vollkommene Ganzheit, existiert sie nie als inneres und eigenes Gerechtsein in uns.73 Das heißt: Nicht die belebenden und heiligenden Wirkungen der Christusgerechtigkeit im Menschen rechtfertigen ihn vor Gott. Als begrenzte und zeitlebens gebrochene Kreatur empfängt er die rechtfertigende und erlösende Christusgerechtigkeit ‚nur‘ als Wirklichkeit extra nos, d. h. in der Weise des ganzheitlichen Akzeptiertwerdens und des letztgültigen göttlichen Freispruchs. Daraus ergibt sich die berühmte Formel simul iustus et peccator (Gerechter und Sünder zugleich), die Luther erstmals in der Römerbriefvorlesung verwendet,74 und zwar in einer Weise, die für die traditionellen theologischen Schulen unvorstellbar war. Er verknüpft im simul drei unterschiedliche Perspektiven. Grundlegend ist die rechtfertigungstheologische Totalperspektive (1.): Der Mensch ist, relational gesehen, als ganzer gerecht vor dem göttlichen Urteil: iustus ex reputatione; zugleich aber ist er als ganzer in der Realität seiner Natur Sünder: peccator in re. Damit verbindet Luther (2.) die eschatologische Zeitperspektive des simul: dass der Menschen in seinem jetzigen Zustand (in re) noch an der Sündenkrankheit leidet, aber in der hoffenden Vergegenwärtigung seines künftigen Seins nach dem Tod (in spe) bereits jetzt vollkommen gesund und gerecht ist. (3.) Auf der Realitätsebene ihres Glaubenslebens aber haben die Gerechtfertigten dank der „Erstlingsgabe des Heiligen Geistes“ (Röm 8,23) schon nascatur ex nobis, sed que aliunde veniat in nos, non que in terra nostra oritur, sed que de celo venit. Igitur omnino externa et aliena iustitia oportet erudiri. Quare primum oportet propriam et domesticam evelli.“ „Wie Gott durch den Propheten Jeremia spricht: ‚dass du ausreißen, zerstören, verstreuen und vernichten sollst‘, nämlich alles, was in uns ist, d. h. was uns gefällt, weil es aus uns selbst kommt und in uns liegt, ‚und bauen und pflanzen sollst‘, nämlich alles, was außerhalb von uns in Christus ist. […] Gott will uns nämlich nicht durch die in uns heimische, sondern durch eine äußere Gerechtigkeit und Weisheit selig machen, die nicht aus uns kommt und aus uns erwächst, sondern von anderswoher zu uns kommt, die nicht von unserer Erde stammt, sondern die vom Himmel kommt. Daher muss ganz und gar eine äußere und fremde Gerechtigkeit gelehrt werden. Und deshalb muss zuerst die eigene und in uns heimische Gerechtigkeit ausgerissen werden.“ WA 56, 158,6–14. 72 „[…] ipsa externa, que ex Christo in nobis est, iustitia“, WA 56, 159,2. 73 Zur Mühlen, Nos extra nos (wie Anm. 46), 98, versucht diesen Sachverhalt mit Hilfe des Subsistenz-Begriffs zu erklären: „Wie ein Licht in einem erleuchteten Gegenstand ist, ohne in ihm subsistent zu werden, so will auch die Gerechtigkeit Christi in uns sein. Deshalb ist die Gerechtigkeit Christi eine iustitia externa. Externus bezeichnet diese nicht nur hinsichtlich ihrer Herkunft als von außen kommende, sondern auch hinsichtlich ihrer Seinsweise in uns. Sie wird in uns wirksam, aber nicht subsistent. Denn unser Erleuchtetsein haben wir in diesem Licht, unsere Gerechtigkeit in der Gerechtigkeit Christi.“ 74 Vgl. WA 56, 272,17 (zitiert in Anm. 75); vgl. 271,29 f. Vgl. auch Luther: Die sieben Bußpsalmen (1517, WA 1, 177,12–14: „Und alßo gleych wie Christus tzu gleych lebendig und todt warhafftig was, alßo zu gleych mußen sie voll sunde und an [= ohne] sunde seynd, die recht christen seyn.“
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jetzt einen „Anfang der Gerechtigkeit“, der sie nach immer mehr Gerechtigkeit verlangen lässt, wobei sie aber zugleich immer im Bewusstsein leben, ungerecht zu sein.75
11. Der wunderbare Tausch Denselben Sachverhalt kann Luther auch zum Ausdruck bringen, indem er das alte augustinische Motiv des wunderbaren Wechsels und Tauschs zwischen der Gerechtigkeit Christi und unserer Sündhaftigkeit im Sinne seines Extra-nos-Verständnisses aufnimmt.76 In der Römerbriefvorlesung formuliert er diesen Tausch als simultane Totalität von Anklage und Verteidigung. Der Sünder, sagt er, der sich die Anklage des lebendigen Gottes selbst zu eigen macht, wendet sich von der verzweifelten Selbstanklage weg zu Christus und spricht: „Dieser aber hat genug getan, dieser ist gerecht, dieser ist meine Verteidigung, dieser ist für mich gestorben, dieser hat seine Gerechtigkeit zu meiner gemacht und meine Sünde hat er zu seiner gemacht. Wenn er aber meine Sünde zu seiner gemacht hat, dann habe ich sie schon nicht mehr und bin frei. Wenn er aber seine Gerechtigkeit zu meiner gemacht hat, so bin ich schon gerecht mit derselben Gerechtigkeit, mit der er selbst gerecht ist. Meine Sünde aber kann ihn nicht verschlingen, sondern wird verschlungen im unendlichen Abgrund seiner Gerechtigkeit, da er selbst [Christus] Gott ist, gepriesen in Ewigkeit. Und so ‚ist Gott größer als unser Herz‘ [1. Joh. 3,20]. Größer ist der Verteidiger als der Ankläger, sogar unendlich größer. Gott ist der Verteidiger,
75 Vgl. „Nunquid ergo perfecte iustus? Non, sed simul peccator et iustus: peccator re vera, sed iustus ex reputatione et promissione Dei certa, quod liberet ab illo, donec perfecte sanet. Ac per hoc sanus perfecte est in spe, in re autem peccator, sed initium habens iustitie, ut amplius querat semper, semper iniustum se sciens.“ „Ist er also vollkommen gerecht? Nein, sondern er ist zugleich Sünder und Gerechter, Sünder in seinem wahren Zustand, aber Gerechter auf Grund der Anrechnung und gewissen Verheißung Gottes, dass er ihn von ihr [der Sünde] befreit, bis er ihn völlig heilt. Und so ist er vollkommen gesund in der Hoffnung, in seiner [vorfindlichen] Wirklichkeit aber Sünder. Doch besitzt er den Anfang der Gerechtigkeit, auf dass er nach immer mehr verlangt und dabei immer weiß, dass er ungerecht ist.“ WA 56, 272,16–21. Vgl. kurz zuvor (272,7–11) den Abschnitt über die Simultaneität von Krankheit und Gesundheit („egrotus simul et sanus“). 76 Zur Rezeption bereits in Luthers Erster Psalmenvorlesung und zum augustinischen Ursprung des Motivs vgl. Unterburger, Unter dem Gegensatz verborgen (wie Anm. 45), 38.40.51.70.105.143 f. Zum breiteren motivgeschichtlichen Hintergrund der Vorstellung vom ‚wunderbaren Tausch‘ oder ‚fröhlichen Wechsel‘, insbesondere auch im ausgehenden Mittelalter und vor allem im Augustinereremiten-Orden, vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 323–326 und zuletzt Wiberg Pedersen, Else Marie, „You are Mine, and I am Yours“. The Nuptial Motif in Luther’s Theology, in: Christine Helmer (Hg.), The Medieval Luther, Tübingen 2020 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 117), 161–180. Zur Kontextualisierung von Luthers Motiv des Gabentauschs in seiner ‚forensischen‘ Rechtfertigungslehre vgl. Saarinen, Risto, Luther and the Gift, Tübingen 2017 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 100), 256–260 und öfters.
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das Herz der Ankläger. Was für ein Verhältnis! Aber so verhält sich’s, so, gerade so – sic, sic, etiam sic!“77
Dieses dreifach unterstrichene „so, so, so!“ ist wohl die emphatischste Stelle in Luthers Vorlesungen vor 1518. Sie ist es deshalb, weil Luther hier seine fundamentale Erfahrung der Freiheit beschreibt: sich selbst als heillos verdorbenen Sünder annehmen und zugleich im Lichte der befreienden externen Gerechtigkeit Christi sehen zu können. Daher kommt auch in Luthers Freiheitsschrift von 1520 dem Motiv des „fröhlichen Wechsels“ eine zentrale Stellung zu.78
12. Affinität und Gegensatz zur franziskanischen Tradition der freien Selbstbindung Gottes Luthers Weg nach außen, die ihn aus seiner Fixierung auf sein Innerstes herausführte, lässt spätestens seit 1513 einen Grundzug seines theologischen Denkens erkennen: Er ist primär nicht an naturhaft-essentialistischen Kategorien interessiert, nicht am qualitativen Sein des Menschen und seines inneren Wesens, sondern an den personalen Relationen des Urteilens und Anrechnens, des Freisprechens und Angenommenwerdens, durch die der Mensch aus sich heraus und über sich hinausgeführt wird. Deutlich sagt er daher in der ersten Hälfte seiner Römerbriefvorlesung, dass die Schrift ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Ungerechtigkeit‘ ganz anders verstehe als die Philosophen und Juristen: „Denn diese behaupten, sie sei eine qualitas (Qualität, Beschaffenheit) der Seele. Aber die Gerechtigkeit, von der die Schrift spricht, hängt mehr von der Anrechnung Gottes (imputatio Dei) als vom realen Sein und tatsächlichen Zustand (esse rei) [des Menschen] ab.“ Hinsichtlich seiner qualitas nämlich ist der Mensch ganz und gar (omnino) Sünder und ungerecht. „So werden wir alle in Sünde, d. h. in Ungerechtigkeit, geboren und sterben darin; allein aber aufgrund der Anrechnung des barmher „Hic [= Christus] autem satisfecit, hic iustus est, hic mea defensio, hic pro me mortuus est, hic suam iustitiam meam fecit et meum peccatum suum fecit. Quod si peccatum meum suum fecit, iam ego illud non habeo et sum liber. Si autem iustitiam suam meam fecit, iam iustus ego sum eadem iustitia, qua ille. Peccatum autem meum illum non potest absorbere, sed absorbetur in abysso iustitiae eius infinita, cum sit ipse deus benedictus in saecula. Ac sic ‚deus maior est corde nostro‘. Maior est defensor quam accusator, etiam in infinitum. Deus defensor, cor accusator. Quae proportio! Sic, sic, etiam sic!“ WA 56, 204,17–25. 78 Vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 212–215. Ende 1516 hat Johannes von Staupitz in seinem Traktat De exsecutione aeternae praedestinationis eine Christologie und Soteriologie des ‚Fröhlichen Wechsels‘ oder ‚wunderbaren Tauschs‘ vorgetragen (vgl. oben Anm. 32), die mit der in Luthers späterer Freiheitsschrift viel gemeinsam hat; vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 218–224. Bei Staupitz aber ist dieses Motiv in die oben (S. 287) dargestellte Doppelstruktur seines Verständnisses vom Heilsweg des Menschen integriert. Luther hat seine reformatorische Neufassung des Tauschmotivs bereits in der eben zitierten Passage seiner Römerbriefvorlesung und ungefähr gleichzeitig auch in seinem Brief an Georg Spenlein vom 8. April 1516 artikuliert: WA.B 1, 33–36 (Nr. 11), hier 35,25–27.35 f. 77
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zigen Gottes (sola autem reputatione miserentis Dei) sind wir durch den Glauben an sein Wort gerecht.“79 Dieses dezidiert relationale und nicht qualitative Verständnis der rettenden Gerechtigkeit des Sünders80 lässt mich fragen, ob sich hier nicht eine Strukturverwandtschaft von Luthers Denken mit dem acceptatio-Verständnis Gabriel Biels und der skotistischen und ockhamistischen Tradition zeigt, wie ich es oben skizziert habe.81 Wird doch in dieser Tradition der Grund für Gottes Akzeptieren – dass er den Menschen zur Seligkeit annimmt – wie bei Luther nicht der Würdigkeit des Menschen und der Qualität seiner Akte zugeschrieben, sondern allein der frei schenkenden Souveränität des göttlichen Erbarmens. Gott hat, wie Gabriel Biel es formuliert, in seinem barmherzigen Bund das Versprechen gegeben, die guten Werke des gerechtfertigten Menschen als Verdienste gelten zu lassen und mit der himmlischen Herrlichkeit zu belohnen, so wie er auch versprochen hat, jedem Menschen die rechtfertigende Gnade zu schenken, der tut, was in seinen natürlichen Kräften steht (facit quod in se est).82 Diese Relation des Beschenkens und Belohnens entsteht, wie Biel und vor ihm Ockham und Scotus hervorheben, allein aufgrund der freien Selbstbindung Gottes, seiner ordinatio, seines pactum und seiner promissio. In der Tat kann man in der Ersten Psalmenvorlesung Luthers und auch später noch mehrere Textpassagen finden, in denen er sich terminologisch eindeutig in diese franziskanische Selbstbindungstradition stellt, seine Prägung durch Ga79 „‚Iustitia‘ et ‚inustitia‘ multum aliter, quam philosophi et iuristae accipiunt, in scriptura accipitur. Patet: quia illi qualitatem asserunt animae etc. Sed ‚iustitia‘ scripture magis pendet ab imputatatione Dei quam ab esse rei. Ille enim habet iustitiam, non qui qualitatem solam habet, immo ille peccator est omnino et iniustus, sed quem Deus propter confessionem iniustitiae suae et implorationem iustitiae Dei misericorditer reputat et voluit iustum apud se haberi. Ideo omnes in iniquitate, i. e. iniustitia, nascimur [vgl. Vulg.-Ps 50,7], morimur. Sola autem reputatione miserentis Dei per fidem verbi eius iusti sumus.“ WA 56, 287,16–24. 80 In einem viel späteren Text, der Promotionsdisputation von Joachim Mörlin von 1540 (WA 39/2, 141,1–6), wird Luther dann sagen, dass der Christ in doppelter Hinsicht betrachtet werden müsse, in den Kategorien von relatio und qualitas. Relational betrachtet sei er so heilig wie ein Engel aufgrund der Anrechnung durch Christus („imputatione per Christum“), qualitativ betrachtet sei er voll Sünde. Vgl. Dalferth, Ingolf U., Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther, in: Bo Christian Holm / Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology, Tübingen 2009 (Religion in Theology and Philosophy 37), 43–71, hier 64 f. 81 Siehe oben S. 290–293. 82 Vgl. Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio (wie Anm. 26), 372 f. mit der Differenzierung, dass Gabriel Biel den pactum-Begriff nur auf die Beziehung der guten Werke des Gerechtfertigten zum himmlischen Lohn (merita de condigno), nicht aber auf die Vorbereitung des Sünders auf den Empfang der rechtfertigenden Gnade (merita de congruo) anwendet. Das ändert aber nichts daran, dass Gott auch denjenigen, die sich auf die Gnade vorbereiten und dabei tun, was in ihren Kräften steht, kraft seiner Anordnung und seines Versprechens die Gnade nie verweigert, sondern mit Notwendigkeit (infallibiliter) schenkt. Vgl. Oberman, Heiko Augustinus, Facientibus quod in se est deus non denegat gratiam. Robert Holcot, O. P. and the Beginnings of Luther’s Theology, in: HThR 55 (1962), 317–342.
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briel Biel zeigt83 und dies auch ausdrücklich durch eine Formulierung wie recte dicunt doctores84 unterstreicht. Allerdings erhält der Verweis auf die barmherzige Selbstbindung Gottes durch pactum und promissio bei Luther eine genau gegenteilige Funktion: Während bei Biel wie bei den Franziskanern vor ihm die freie Selbstbindung Gottes die Funktion hat, eine verlässliche Heilsordnung Gottes zu begründen, in der der gerechtfertigte Mensch die Seligkeit durch Würdigkeitsverdienste (merita de condigno) und der Todsünder die rechtfertigende Gnade durch Angemessenheitsverdienste (merita de congruo) erwerben kann,85 verwendet Luther die traditionelle Terminologie der freien Selbstbindung Gottes dazu, um den guten Werken jedes soteriologische Gewicht und jede Art von verdienstlicher Heilskausalität zu nehmen: Gerade in der gültigen Heilsordnung Gottes (de potentia ordinata) schenkt Gott dem Sünder das Heil völlig umsonst aus purer Barmherzigkeit, d. h. nicht aufgrund einer aktiven Vorbereitung des Menschen und wegen eines Verdienstwertes seiner Werke, sondern allein kraft seiner Bundesverheißung, durch die und an die er sich in seiner gütigen Treue gebunden hat.86 Biel begründet die Verdienstlichkeit der Werke mit dem Verweis 83 Zu
diesen Textpassagen in der Ersten Psalmenvorlesung vgl. Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio (wie Anm. 26), 377–385. 84 „Hinc recte dicunt doctores, quod homini facienti quod in se est deus infallibiliter dat gratiam […]“ Scholion zu Ps 113,1, WA 55/2, 876,92–877,95. Zum Kontext dieses Satzes bei Luther vgl. unten Anm. 86; zu seinem spätmittelalterlichen Hintergrund vgl. oben Anm. 82. 85 Vgl. oben Anm. 82. 86 Vgl. exemplarisch Luthers Scholion zu Vulg.-Ps 113,1 f.: Luther spricht hier von den drei Adventen Jesu Christi, seinem „adventus in carnem“ durch die Menschwerdung, seinem „spiritualis adventus“ durch die rechtfertigende Gnade und seinem „adventus futurus“ durch die ewige Herrlichkeit. Alle drei Advente, betont er, sind Gaben, die uns Gott allein aufgrund seiner barmherzigen Bundesverheißung und nicht aufgrund unserer Würdigkeit und der Verdienstlichkeit unseres Tuns schenkt, auch wenn Gott von uns eine gewisse Vorbereitung („praeparatio“, „dispositio“) verlangt. Im Blick auf die Inkarnation Christi veranschaulicht Luther das durch das Beispiel eines Herrschers, der einem Räuber oder Mörder hundert Gulden versprochen hat, wenn er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einfindet. Geschieht das, dann schuldet der Herrscher dem Übeltäter das Geld, und zwar allein aufgrund seines gnädigen Versprechens und seiner Barmherzigkeit und nicht wegen eines Verdienstes des Empfängers („rex ille debitor esset ex gratuita promissione sua et misericordia sine merito illius“). So war auch Gottes Verheißung seines Sohnes pure Barmherzigkeit. Dass er ihn dann durch die Menschwerdung Christi wirklich schenkte, war seiner Wahrhaftigkeit und Treue geschuldet, mit der er zu seinem Versprechen stand, nicht aber einem menschlichen Verdienen, auch wenn die Väter des Alten Bundes sich auf das Kommen Christi vorbereiteten. Ebenso verhält es sich auch mit den beiden anderen Adventen Christi „per gratiam“ und „per gloriam“: sie werden uns nicht aufgrund unserer Verdienste, sondern allein aufgrund des Versprechens des barmherzigen Gottes zuteil („non ex meritis nostris, sed ex mera promissione miserentis dei“). Im Blick auf den „spiritualis adventus“ folgt nun der bereits in Anm. 83 zitierte Satz, mit dem Luther an den Sprachgebrauch der spätscholastischen Tradition anknüpft: „Daher sagen die Doktoren mit Recht, dass dem Menschen, der tut, was in seinem Vermögen steht, Gott unfehlbar die Gnade schenkt.“ Er fährt dann fort mit der Erläuterung, dass sich der Mensch zwar nicht „de condigno“ (mit Würdigkeit) auf die Gnade vorbereiten kann, aber doch „de congruo“ (auf angemessene Weise) „propter promissionem istam dei et pactum misericordie“
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auf pactum und promissio. Luther hingegen bestreitet mit diesem Argument der freien Selbstbindung Gottes in der Psalmenvorlesung jede Art von Verdienstlichkeit.87 Daher kommt er zu dem Resultat: „Nicht aufgrund meiner Zurüstung (ex meo paratu), sondern aufgrund des göttlichen Bundes (ex divino pacto) wird [das Versprochene] gegeben.“88 Oder er lässt den Beter zu Gott sprechen: „Das Versprochene wird nicht mir geschuldet ex me [aufgrund meiner Qualität und Würdigkeit], sondern dir selbst wird es geschuldet ex pacto tuo.“89 Indem der (wegen dieser Verheißung Gottes und des Bundes der Barmherzigkeit). Gott hat dem, der sich vorbereitet, sowohl die Gnade als auch die Herrlichkeit des „adventus futurus“ versprochen. „Aber diese Disposition und Vorbereitung auf die künftige Herrlichkeit ist, so heilig wir hier auch leben, kaum der Rede wert“ („quantumvis sancte hic vixerimus. vix est dispositio et preparatio ad futuram gloriam“). „Daher“, so fasst Luther diesen Gedankengang zusammen, „hat uns Gott alles umsonst und nur aufgrund der Verheißung seiner Barmherzigkeit geschenkt, auch wenn er will, dass wir bereit sind, soweit es in unserem Vermögen steht“ („licet ad hoc velit esse paratos, quantum in nobis est“). WA 55/2, 876,72–877,101. Bemerkenswert ist, dass Luther in dieser Passage wie auch an anderen Stellen der Ersten Psalmenvorlesung im Blick auf die drei Advente Christi wiederholt von einer Vorbereitung des Menschen de congruo spricht, nicht aber von einem meritum de congruo und erst recht nicht (im Blick auf himmlische Herrlichkeit) von einem meritum de condigno. Damit wendet er sich vom üblichen Sprachgebrauch der Schultradition und Gabriel Biels ab. Vgl. auch den instruktiven Paralleltext in Anm. 88. Wesentlich ist auch die Beobachtung, wie Luther die Vorbereitung (dispositio / praeparatio) des Sünders inhaltlich anders als die Tradition bestimmt; vgl. dazu unten Anm. 91. 87 Zu diesem Befund in den Dictata super Psalterium vgl. Schinzer, Reinhard, Die doppelte Verdienstlehre des Spätmittelalters und Luthers reformatorische Entdeckung, München 1971 (TEH NF 168), 11–14. Der Gegensatz zu Biel kommt besonders deutlich da zum Ausdruck, wo sich Luther in den Dictata gegen ein falsches Vertrauen auf Gottes Verheißung wendet, die es dem Menschen ermögliche, seine eigene Gerechtigkeit als Verdienst geltend zu machen. So aber würden ihm Rechtfertigung und Heil nicht „ex pura gratia promittentis“, sondern „ex merito sue iustitie precedente“ zuteil: WA 55/2, 662,543–555. 88 Im Scholion zu Vulg.-Ps 118,41 sagt Luther im Blick auf die im Alten Bund verheißene Ankunft Christi, dass es sich um eine „nuda promissio misericordiae“ gehandelt habe, die ein menschliches Verdienen ausschloss. Genauso verhalte es sich auch „moraliter“ (d. h. im Blick auf den von Gott verheißenen Empfang der rechtfertigenden Gnade): „quia sicut humanum genus recepit Christum non ut iustitiam suam, sed ut misericordiam dei, quantumlibet congrue sese disponebat, ita quilibet gratiam eius gratis accipit, quantumlibet sese congrue disponat. Non enim ex meo paratu, sed ex divino pacto datur, qui promisit per hunc apparatum se venturum, si expectetur et invocetur.“ WA 55/2, 924,985–925,990. Wie das oben zitierte Scholion zu Vulg.-Ps 113,1 (siehe Anm. 86) belegt auch dieser Text, dass Luther von einem „congrue se disponere [ad gratiam]“ (sich auf angemessene Weise auf die Gnade vorbereiten) spricht, dabei aber – ebenso wie bei der angemessenen Vorbereitung auf die Menschwerdung Christi – jede Art von Verdienstlichkeit der Disposition, auch das traditionelle „Angemessenheitsverdienst“ (meritum de congruo), ausschließt. Es macht das besondere Profil seiner eigenen Position gegenüber Biel und der spätfranziskanischen Verdienstlehre aus, dass er die de congruo / congrue-Begrifflichkeit von jeglichem Verdienstdenken abkoppelt. Allerdings gibt es eine einzige Textstelle, an der Luther abweichend von seinem sonstigen Sprachgebrauch die Vorbereitung auf die Gnade doch als „meritum de congruo“ bezeichnet: Scholion zu Ps 118, 17, WA 55/2, 901,304 f.; vgl. dazu Schwarz, Vorgeschichte (wie Anm. 14), 257 f., Anm. 307: Luthers „Grundintention“ ziele dahin, „den Begriff des meritum überhaupt auszuschließen und die Erfüllung von Gottes pactum und promissio rein als Barmherzigkeit in der Verheißung selber zu verankern“. 89 Marginalglosse zu Vulg.-Ps 142,1: „Hebr. ‚in fide tua‘, id est fideli promissionis impletione,
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Glaube des Sünders von seinem eigenen Unvermögen wegblickt und alles von dieser Bundestreue Gottes erfleht, erbittet und erwartet, empfängt er Heilsgewissheit.90 Luther liegt also in der Psalmenvorlesung nicht mehr auf der Linie Gabriel Biels, ebenso wenig wie er dann während der Römerbriefvorlesung nach seiner Begegnung mit den Predigten Taulers zum Taulerianer wird.91 ut verax inveniaris et iustus, scilicet reddens veritatem promissam, non debitam mihi ex me, sed tibi debitam ex pacto tuo.“ WA 55/1, 879 f., Nr. 2. 90 Zur Heilsgewissheit in Luthers Erster Psalmenvorlesung vgl. oben Anm. 56. 91 Eine wesentlich andere Sicht vertritt Volker Leppin, indem er keine reformatorische Distanz Luthers zur mystischen Theologie Taulers und der ‚Theologia deutsch‘ in den Jahren 1516/17 (vgl. oben Anm. 61 und 68) und ebenso keine zur scholastischen Theologie Biels in der Ersten Psalmenvorlesung 1513–1515 gelten lässt. Zu seiner Deutung der „Dictata super Psalterium“ vgl. ders., Das ganze Leben Buße. Der Protest gegen den Ablass im Rahmen von Luthers früher Bußtheologie, in: Andreas Rehberg (Hg.), Ablasskampagnen des Spätmittelalters, Berlin / Boston 2017 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 132), 523–564, hier 536 mit dem Resümee: „Luther scheint mithin, auf das Gesamte seiner ersten Psalmenvorlesung gesehen, eine Position im Sinne Biels favorisiert zu haben, in welcher das Vertrauen in die Kräfte des Menschen – als ‚faciens quod in se est‘ – sich mit einer selbstkritisch negativen Deutung des contritio-Begriffs verband.“ Dabei übersieht Leppin die Generaltendenz Luthers, die sich gegen das Biel’sche Verdienstdenken richtet und auf die inhaltliche Minimalisierung der menschlichen Vorbereitung auf die drei Advente Christi zielt. Zur besonders interessanten Passage, in der sich Luther auf die doctores und ihr facere quod in se est-Axiom bezieht (oben Anm. 86), stellt er fest, Luther wolle hier zum Thema dispositio (ad gratiam) „herausstreichen, dass es sich um Verdienste de congruo, nicht de condigno handelt“ (ebd., 534). Damit läge Luther tatsächlich ganz auf der Linie Biels. Doch ist es auffallend, dass Luther in diesem Text wie auch an anderen Stellen seiner Vorlesung zwar von einer de congruo-Vorbereitung auf die drei Advente spricht, generell aber nicht von einem meritum de congruo, nicht einmal hinsichtlich der künftigen Herrlichkeit (vgl. oben Anm. 86 und 88); damit widerspricht Luther Biel und der spätfranziskanisch-scholastischen Tradition gleich doppelt, indem er sowohl ihre meritum de congruo- als auch ihre meritum de condigno-Lehre ablehnt. Leppin betont, dass Luther die Vorbereitung des Menschen auf die Gnade nicht nur als Selbstgericht und Bittgebet verstehe, sondern auch als „Lebensvollzüge der Heiligung“, weil er das facere quod in se est in dieser Textpassage als ein „iuste et sobrie et pie vivere“ (Tit 2,12) bezeichne. Dabei übersieht er dreierlei: 1. dass diese Aussagen Luthers über das fromme und heilige Leben nicht die Vorbereitung des Sünders auf den Empfang der rechtfertigenden Gnade meinen, sondern die Vorbereitung des bereits gerechtfertigten Sünders auf die künftige Herrlichkeit; 2. dass Luther in der Psalmenvorlesung das fromme Leben des Menschen auf allen Ebenen der Vorbereitung auf die drei Advente Christi als flehentliches Bittgebet (petere) und Rufen zu Gott, als Erwarten (expectare) und paratus esse versteht (so auch die von Leppin angeführten Titusworte, die Luther mit Titus selbst [2,13] in die entscheidende Aussage münden lässt: „expectantes beatam spem [et adventum gloriae]“); 3. dass Luther damit grundsätzlich die fromme Lebensbewegung des Christen auf Gnade und Heil zu (was er dispositio oder praeparatio nennt) als Grundhaltung demütiger und nicht verdienstlicher oratio und nicht mit Biel und dessen Gewährsleuten als Verdienstweg der operatio, d. h. moralisch-verdienstlicher Akte, versteht: „Quod autem [fidelis populus] petit dari, significat gratiam esse, non meritum. Non enim sunt debita, que petuntur, sed gratis donanda. Non oratione, sed operatione fit meritum“ („[…] Nicht durch Beten, sondern durch Tun wird verdient“). WA 55/2, 1009,3404–3406. Luther hat sich damit prinzipiell von einer (positiv wertenden) qualitativen und operativen Betrachtung der Stellung des Menschen vor dem rechtfertigenden und beseligenden Gott verabschiedet. Das führt ihn über die scholastische Tradition, aber auch über die mystische Tradition und Staupitz hinaus.
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13. Luthers Umgang mit den theologischen Traditionen Luthers Rezeption der franziskanischen Tradition der freien Selbstbindung Gottes zeigt im Prinzip dieselbe Verfahrensweise, die er auch im Umgang mit anderen Traditionen, mit der monastischen, mystischen und augustinischen Theologie, mit Bernhard von Clairvaux, mit Johannes Tauler, mit der ‚Theologia deutsch‘ und in der Aufnahme der theologischen und seelsorgerlichen Impulse des Johannes von Staupitz anwendet. Er formt das Empfangene im Sinne seiner theologisch reflektierten Erfahrung und seiner Lesart der biblischen Texte um; und das bedeutet reformatorische Um- und Neuorientierung: Er verschärft das traditionelle Dilemma klösterlicher Selbstbeobachtung und Innenerfahrung, indem er auf dem Weg nach innen bis zur theologischen Wahrnehmung absoluter Sündhaftigkeit, Nichtigkeit und Heillosigkeit vorstößt. Er überbietet alle bisherigen Extra-nos-Konzeptionen, indem er Sündenvergebung und Annahme zum Heil konsequent von allen Qualitäten und aktiven Dispositionen menschlicher Frömmigkeit abkoppelt92 und diese heilvolle Außenrelation des Sünders durch den Glaubensbegriff zur innersten Urteilsdimension der Seele in Beziehung setzt. Damit löst er die Gottesbeziehung des Menschen aus allen spätmittelalterlichen Maximal- oder Minimalprogrammen eines menschlichen Mitwirkens zum Gnaden- und Heilserwerb. Alle soteriologischen Zweiseitigkeitskonzeptionen, die Gottes Zuwendung zur Andacht und Devotion des fromm gewordenen Menschen in Beziehung setzen, weichen einer christozentrischen Einseitigkeit, die das gesamte geschichtliche und individuell-persönliche Heilsgeschehen von Anfang bis Ende in der schenkenden Bewegung Gottes auf die Menschheit zu verankert. Diese Neuorientierung Luthers geschieht Schritt für Schritt, ansatzweise schon vor 1513, dann bereits sehr elaboriert in der Ersten Palmenvorlesung, aber noch nicht so prägnant ausformuliert wie in der Römerbriefvorlesung mit ihren Wendungen wie iustitia externa und aliena oder simul iustus et peccator. Es sind Schritte nach außen, heraus aus den spirituellen Anfechtungen, die Luther, 92 Vgl. Anm. 91. Luther hält zwar, wie ich zeigte, in seiner Psalmenvorlesung noch an der Terminologie des traditionellen dispositio- und praeparatio-Denkens fest, indem er gelegentlich sogar noch die facere quod in se est-Regel zitiert; und man kann sagen dass seine Verwendung des traditionellen Motivs der Selbstbindung Gottes durch pactum und promissio dazu dient, dieses Vorbereitungsdenken mit seiner typischen Konditionalstruktur (Gott gibt, wenn der Mensch sich angemessen vorbereitet) so in die Rechtfertigungs- und Heilslehre einzubauen, dass Gottes frei schenkende Souveränität und Barmherzigkeit ins Zentrum rückt. Wesentlich dabei ist, wie er das disponierende Verhalten des Menschen (das er bereits unter dem Einfluss der zuvorkommenden Gnade Gottes sieht: WA 55/1, 885, Nr. 5) inhaltlich versteht: nicht als verdienstliche oder quasi-verdienstliche Aktivierung einer Tugend, sondern als Ausrichtung des Glaubens, d. h. als Demütigung durch Gott, als Sündenbekenntnis und Selbstgericht, Anrufung Gottes und flehentliches Bittgebet, als ein erwartungsvolles Bereitsein für Gottes Handeln. In gewisser Weise hat Luther zeitlebens am (theozentrisch verklammerten) dispositio-Denken festgehalten: ohne die durch Gottes Gesetz eröffnete Selbsterkenntnis des Sünders und tiefe Verzweiflung an sich selbst keine befreiende und tröstende Wirkung des Evangeliums!
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konfrontiert mit Gottes Fordern und Zürnen, als drohendes Ertrinken in seiner verzweifelten Innerlichkeit erlebt hat. Religionsgeschichtlich bedeuten diese Schritte nach außen einen einzigartigen religionsgeschichtlichen Umbruch. Nachdem das Heil des Menschen bisher immer als Ziel eines Gottesverhältnisses von Gabe und Gegengabe beschrieben worden war, kommt Luther von 1513 bis 1518 zur Auffassung vom Heil als purer Gabe ohne Gegengabe. Die einzige Gabe, die der Mensch im seligen Tausch und Wechsel Gott geben kann, ist seine Sünde, die Antigabe schlechthin.93
14. Außenorientierung und Verinnerlichung bis zum Beginn des Ablassstreits – die 95 Thesen Für Luthers reformatorische Neuorientierung vor Beginn des Ablassstreits ist, wie wir sehen konnten, die Verknüpfung diverser Außendimensionen des Wirkens Gottes, Christi und des Heiligen Geistes charakteristisch: Er betont (1.) die Begegnung des glaubenden Menschen mit Gottes verurteilendem und freisprechendem Urteil; er beschreibt (2.) diese Begegnung als von außen kommendes Einwirken des Heiligen Geistes, d. h. als sein inneres Einsprechen in der Seele des Menschen, das ihre religiöse Grundorientierung verändert; er versteht sie (3.) als Anrechnung der äußeren Gerechtigkeit Jesu Christi und Nicht-Anrechnung der Sünde; und er verknüpft (4.) das Wirken des Heiligen Geistes und seines inneren Wortes in der Seele mit dem Lesen bzw. Hören des äußeren Wortes der biblischen Schrift und der Predigtverkündigung. Diese Außenorientierungen waren intensiv verwoben mit einem Prozess forcierter theologischer Verinnerlichung. Luther beschreibt sie als radikale Desillusionierung des Menschen über seine Stellung vor Gott, als Verzweiflung des Sünders an sich selbst, als die demütige Selbstanklage und getröstete Hoffnungsgewissheit seines Glaubens und als lebenslangen Prozess der Heiligung, Buße und Genesung im Geiste einer Gottes- und Nächstenliebe, die den glaubenden Menschen aufs Neue, durch gute Werke, nach außen wendet. Die zuletzt genannte Perspektive der lebenslangen Bußverinnerlichung thematisiert Luther in seiner Auslegung der sieben Bußpsalmen, seiner ersten, im Frühjahr 1517 publizierten Druckschrift,94 und – ebenfalls 1517 – in zwei Predigten über das Thema Buße und Ablass, in einem Ablasstraktat95 und dann, wohl unmittelbar anschließend an diesen Tractatus de indulgentiis, in den berühmten Vgl. oben S. 309 f.: Der wunderbare Tausch. WA 1, 154–220. 95 Es handelt sich um den Sermo die S. Matthiae vom 24. Febr. 1517 (WA 1, 138–141), den Sermo de indulgentiis pridie dedicationis vom Frühjahr 1517 (WA 1, 94–99) und den Tractatus de indulgentiis (WA 1, 65–69). Zur Datierung dieser Texte und zu anderen in Betracht kommenden Luther-Texten zur Ablassproblematik vgl. Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 13), 108, Anm. 75. 93 94
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Disputationsthesen zur Klärung der Kraft der Ablässe (95 Thesen) vom 31. Oktober 1517.96 Die Thesen führen die Luther in diesem Jahr so bewegende Buß- und Ablassthematik zur Kulmination. Da es aber bei der Ablassfrage nicht um die Frage der Rechtfertigung des Sünders ging, sondern um das Leben des Gerechtfertigten im Umgang mit den zeitlichen Sündenstrafen, sind diese Ablassthesen, aufs Ganze gesehen, kein Rechtfertigungstext, sondern ein frömmigkeitstheologischer Heiligungstext. Sie stellen daher auch nicht wie andere, gleichzeitige Schriften Luthers die im Glauben empfangene externe Christusgerechtigkeit gegen ein vermessenes Vertrauen auf die eigene Liebes- und Reuefähigkeit, sondern entfalten, wie ich schon zeigte, – gut reformatorisch – in Anlehnung an Staupitz und Tauler die Lebensperspektive einer wahren Buße und Reue in der Nachfolge des leidenden Christus.97 Man kann die 95 Thesen aber nur dann richtig verstehen und einordnen, wenn man sie in den Zusammenhang der vorausgegangenen Dynamik der rechtfertigungstheologischen Außenorientierung Luthers stellt und so auch die wesentlichen Differenzen zu Staupitz und Tauler im Blick hat.98
15. Luthers Wendung zum äußeren Vergebungswort des Bußsakraments und zur Reformation der Kirche Das Ablassthema lenkte also Luthers Blick zunächst, im Herbst und Winter 1517/18, auf den Lebensbogen der wahren, inneren Bußfrömmigkeit. Gerade der Ablassstreit war es dann aber auch, der ihn auf die Kostbarkeit der äußeren Medialität des Bußsakraments aufmerksam machte, deutlich erkennbar schon in seinen Erläuterungen zu den Ablassthesen und anderen zeitlich parallel verfassten Texten des Frühjahrs und Frühsommers 1518.99 Denn jetzt wendet sich 96 Zu Luthers Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum und zur kontroversen Diskussion der Thesen vgl. oben Anm. 59. 97 Siehe oben S. 303–305. 98 Vgl. oben S. 305 f. Zur Publikation der 95 Thesen im Kontext einer historischen Gesamteinordnung vgl. Schilling, Heinz, 1517 – ein Wendejahr in der Weltgeschichte?, in: ARG 108 (2017), 91–103. 99 Vgl. die sorgfältige Dokumentation und Interpretation dieser Entwicklung (deren Ertrag Luther dann 1519 in seinem deutschen Sermon von dem Sakrament der Buße, WA 2, 709–723, gebündelt hat) bei Bayer, 164–225. Zum Schlüsseltext, in dem Bayer diese neue Bußtheologie Luthers erstmals deutlich ausformuliert findet, wird bei ihm die Thesenreihe Pro veritate (WA 1, 629–633); vgl. ebd., 182–202. Dass ich Bayers, die Spätdatierungsthese Ernst Bizers (vgl. oben S. 300 mit Anm. 50) aufnehmende und von mehreren anderen Lutherforschern wie Martin Brecht geteilte, Auffassung, erst in diesem Neuverständnis des Bußsakraments von 1518 liege die „reformatorische Wende“ Luthers, nicht teilen kann, geht aus meinen bisherigen Ausführungen deutlich hervor. Was hier bei Luther zu erkennen ist, ist nicht mehr und nicht weniger als eine wichtige weitere Etappe auf seinem Weg der reformatorischen Neuorientierung, der bereits vor Beginn seiner Ersten Psalmenvorlesung begonnen hat. – Zu Luthers Wortverständnis in seiner Frühtheologie vgl. zuletzt Moldenhauer, Aaron, Analyzing the Verba Christi. Martin Luther,
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sein Hauptinteresse dem priesterlichen Absolutionswort des Bußsakraments zu, um damit die fatale Fixierung der kirchlichen Praxis auf Bußsatisfaktion und Ablass auszuhebeln. Das gesprochene verbum externum erhält damit eine neue performative Qualität als Vollzugs- und Gabewort. Zwar hat Luther bereits seit seiner Psalmenvorlesung einen engen Wirkzusammenhang zwischen dem inneren Einsprechen des Heiligen Geistes und dem äußerlich-sinnlichen Evangeliumswort gesehen.100 Aber die Art des Zusammenwirkens über die Simultaneität von Außen und Innen hinaus blieb in der Schwebe. Typisch war eine Formulierung wie: „[…] während außen das Wort des Lebens verkündigt wird, lehrt zugleich (simul) innen der Heilige Geist.“101 Indem Luther nun, während der ersten Hälfte des Jahres 1518, den rechtfertigenden Glauben an das sakramentale Absolutionswort „Ich spreche dich frei von deinen Sünden“ bindet, gewinnt die sinnliche Medialität dieses äußeren Wortes für ihn eine neue gnaden- und heilszueignende Wirkungskraft – wobei er die sicherheits- und gewissheitsspendende Macht des verbum externum gegen die Labilität und Dubiosität aller inneren geistlichen Erfahrungen von Anfechtung, Demut, Reue, Liebe und tröstender Gottesnähe stellt. Wenn der Sünder in seiner Innerlichkeit zu ertrinken droht, soll er zum befreienden Absolutionswort Zuflucht nehmen; und dann wird dessen ‚Zusage‘ (zusage / zusagung, Luthers neue Übersetzung für promissio102) seinem Glauben Christi Vergebung, beschirmende Gerechtigkeit und Annahme zur Seligkeit zueignen. Da Luther die Absolution als vollkommene und letztgültige Vergebung von Sündenschuld und allen Sündenstrafen versteht, ist keine Genugtuung des Sünders mehr notwendig und der Ablass hat seine Funktion verloren. So lässt Luther nun, seit 1518, der rettenden Außendimension der göttlichen iustitia externa, der allgenugsamen Gerechtigkeit Christi, die befreiende Zueignungskraft der sakramentalen Zusage entsprechen. Glaube heißt dann, dass der Mensch sich durch dieses Lösewort von jeder quälenden bzw. vermessenen Fixierung auf die eigene Sünde und die eigene Heiligkeit befreien lässt. Diese neue Wertschätzung des sakramentalen Wortes in Luthers Theologie erinnert an die Betonung der großen Wirkkraft der priesterlichen Absolutionsworte durch Ulrich Zwingli, and Gabriel Biel on the Power of Words, in: Helmer (Hg.), The Medieval Luther (wie Anm. 76), 47–63. 100 Vgl. oben S. 300. 101 „[…] ut dum foris ministratur verbum vitae, gratiae et salutis, intus simul doceat spiritus sanctus.“ WA 57/3, 196,4 f. (Hebräerbriefvorlesung, zur Datierung vgl. oben Anm. 51); vgl. dazu zur Mühlen, Nos extra nos (wie Anm. 46), 173: „Dieses Simul ist die entscheidende Klammer, unter der Luther zur Zeit der Paulusexegese das Verhältnis von verbum internum und externum bedenkt.“ Noch gebe es bei ihm keine eindeutige „Vorordnung“ des verbum externum vor das innere Wort. 102 Vgl. Luther, Deutsches Sachregister, WA 73, 728–731, s. v. ‚zusage, zusagen, zusager, zusagung‘; dazu Lateinisches Sachregister, WA 67, 498–507, s. v. ‚promitto, promissarius, promissio […]‘.
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Theologen wie Luthers Ordensgenossen Johannes von Paltz.103 Luther knüpft an ihre forcierte Hervorhebung der äußeren, sinnlich-leiblichen Gnadenmedialität an, allerdings auf eine frappierend neue, typisch reformatorische Weise, indem er die Gnadenwirkung des äußeren Evangeliumswortes gegen jede Heilskausalität menschlicher Qualität und Moralität stellt und von jeder Vermittlung durch eine besondere Sakralität und Gnadenmedialität des Priesterstandes löst. Damit aber war Luthers reformatorischer Weg nach außen noch nicht zu Ende. Vielmehr bot seine Entdeckung der Zueignungs- und Vergewisserungsmacht des äußeren Zusageworts erst die Voraussetzung dafür, dass er seine theologische Energie nun auch der Reformation des äußeren Kirchenwesens zuwandte, den Sakramenten, der Feier des Gottesdienstes, dem kirchlichen Amt und dem Priestertum – im Sinne eines Priestertums aller Gläubigen, die alle die Vollmacht haben, einander die Sündenvergebung als Zusage Christi zuzusprechen, die Lehre in der Kirche zu beurteilen und Verantwortung für eine schriftgemäße Verkündigung und Seelsorge zu übernehmen.104
16. Zusammenfassung Die Grundlage für das weitere Wirken Luthers als Reformator der Kirche und für die gleichzeitige Weiterentwicklung seiner Theologie bildete die in diesem Vortrag skizzierte theologische Umorientierung in den Klosterjahren bis 1518: sein Weg zu neuen Innendimensionen von Scheitern und Gewissheit und sein gleichzeitiger Weg zu neuen Außendimensionen der Befreiung und Geborgenheit. Die intensive Wechselbeziehung beider Antriebskräfte, der interiorisierenden und der exteriorisierenden, bestimmte das Profil seiner reformatorischen Frühtheologie. Zu kurz greifen daher Einseitigkeiten in der Darstellung des frühen Luther, die entweder den Akzent ganz auf seine Verinnerlichung legen, indem sie beispielsweise Luthers Theologie bis in den Ablassstreit hinein als eine bruchlose Weiterführung der mystischen Theologie Taulers verstehen,105 oder die ebenso einseitig seine reformatorische Neuorientierung nur mit seiner worttheologischen Weiterentwicklung (‚Wende‘) im Zusammenhang des Ablassstreits identifizieren.106 In Luthers reformatorischem Glaubensverständnis fallen während der Jahre 1513 bis 1518 die Verinnerlichung verzweifelter Anfechtung und getrös Zu Johannes von Paltz vgl. oben S. 284 mit Anm. 4–7. Vgl. Wengert, Timothy J., Priesthood, Pastors, Bishops. Public Ministry for the Reformation and Today, Minneapolis, MN 2008; Helmer, Christine, The Priesthood and Its Critics, in: dies. (Hg.), The Medieval Luther (wie Anm. 76), 247–267. 105 So Leppin, Die fremde Reformation (wie Anm. 61). 106 Vgl. oben Anm. 99 (Bizer, Bayer, Brecht). Vgl. auch dazu Leppin, Die fremde Reformation (wie Anm. 61), 117–119, der sich hier ausnahmsweise einmal der traditionellen ‚Wende‘-Rhetorik bedient und im Blick auf die Entwicklung von Luthers Denken in der ersten 103 104
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teter Gewissheit und die Außenorientierung am klärenden Bibelwort, an Gottes Gesetz und Zorn, an seinem befreienden Evangelium und an der gnadenreichen Christusgerechtigkeit zusammen.107 Diese theologischen Anfänge der Reformation lagen nicht in einer einmaligen ‚Wende‘ und einem punktuell datierbaren ‚Durchbruch‘. Sie zeigen sich in den Quellen als der allmähliche Emergenzvorgang eines grundlegenden Umbaus der Theologie mit Schüben im Neuverständnis biblischer Texte und mit mehreren erlebnishaften Klärungen.108 Wäre Martin Luther im Frühjahr oder Sommer 1518 gestorben, wäre es nicht zu der Reformation gekommen, wie sie dann eingetreten ist, und Luther wäre wohl als ein besonders interessanter und erstaunlicher Fall einer für seine Zeit typischen Reformtheologie in die Geschichte eingegangen. Gehen wir allerdings von der tatsächlichen Geschichte der Reformation aus, d. h. von ihrem Systembruch mit dem Sinngefüge der traditionellen Kirche und von ihrer Dynamik kirchlicher Neugestaltung, dann kann man die Ursprünge dieses religiös-revolutionären Vorgangs bis in die Texte der ersten Vorlesungen Luthers und seiner anderen Schriften bis zum Sommer 1518 zurückverfolgen, in ihnen bereits wesentliche Konturen und Potenziale des reformatorisch Neuen erkennen und sagen: Hier beginnt Luther bereits, die Koordinaten der variations- und spannungsreichen spätmittelalterlichen Religiosität zu verlassen. Nach dem Ablassstreit folgte eine Kette weiterer reformatorischer ‚Entdeckungen‘ und Neuorientierungen Luthers, insbesondere im Zusammenhang der Leipziger Disputation 1519 und nach der Publikation der päpstlichen Bannandrohungsbulle 1520, die zur Entstehung von Luthers programmatischer Freiheitsschrift und zur Verbrennung nicht nur der Bulle, sondern auch des Kanonischen Rechts der Papstkirche am 10. Dezember führte. Rückblickend bilden diese Brüche und Neuorientierungen zusammen mit denen der Jahre bis 1518 einen großen Entwicklungsbogen, den man als Entstehungsprozess und Ursprungsgeschehen der Reformation beschreiben kann. Diese beginnt als öffentliches Medienereignis (von Schrift, Wort, Bild und Aktion) bereits mit den ersten Drucken von Luthers 95 Ablassthesen Ende 1517 / Anfang 1518, als institutionell-rechtliches Geschehen aber erst mit den Anfängen kirchlicher Neuordnungen ab 1522, d. h. mit den
Hälfte des Jahres 1518 von einer „worttheologischen Wende“ (S. 117) und der „Transformation der Mystik zur reformatorischen Theologie“ (S. 119) spricht. 107 Zur zentralen Stellung des biblischen Gotteswortes in diesem Klärungsvorgang der Frühtheologie Luthers und zu seinem Wortverständnis vgl. Beutel, Albrecht, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis, Tübingen 1991 (HUTh 27); Schwarz, Reinhard, Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015, Kap. 2–5, 27–262. 108 Vgl. Hamm, Berndt, Die Emergenz der Reformation, in: ders. / Michael Welker, Die Reformation. Potentiale der Freiheit, Tübingen 2008, 1–27. Zu ‚Wende‘ und ‚Durchbruch‘ vgl. oben Anm. 36.
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ersten evangelischen Ritualveränderungen, Almosenordnungen und Predigtmandaten städtischer Magistrate.109 Insofern behält Obermans Unterscheidung zwischen den initia Lutheri und den initia reformationis110 ihr Recht: Schon in den ersten Vorlesungen Luthers kann man die Anfänge seiner persönlichen reformatorischen Neuorientierung wahrnehmen, und davon ist der Beginn des vielstimmigen frühreformatorischen Kommunikationsprozesses und die Anfänge der reformatorischen Umgestaltung in Städten und Territorien zu unterscheiden. Zugleich aber ist die personale und sachliche Kohärenz zwischen diesen Etappen zu betonen: Die buß- und rechtfertigungstheologischen Erkenntnisse und Erfahrungen der ersten Lehrjahre Luthers bilden eine Grundlegung, ohne die seine späteren Publikationen und der große Geschehenszusammenhang der Reformation einschließlich ihrer Bekenntnisbildung nicht zu verstehen ist.
109 Genannt seien nur zwei frühe Beispiele des Jahres 1522: 1. die neue Stadtordnung des Wittenberger Rats vom 24. Januar 1522, die eine reformatorische Umgestaltung der Messe enthielt; dazu Krenz, Natalie, Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533), Tübingen 2014 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 74), 186–200; 2. die neue Almosenordnung des Nürnberger Rats vom 23. Juli 1522; dazu Lazarus Spengler Schriften 1: Schriften der Jahre 1509 bis Juni 1525, hg. und bearbeitet von Berndt Hamm und Wolfgang Huber, Gütersloh 1995 (QFRG 61), 280 mit Anm. 2. 110 Vgl. oben Anm. 1.
Verzeichnis der Autorin und Autoren Basse, Michael, Dr. theol., Professor für Evangelische Theologie / Kirchen- und Theologiegeschichte an der Technischen Universität Dortmund Dieter, Theodor, Dr. theol., Dr. h.c. mult., Professor (emer.) am Institut für Ökumenische Forschung in Straßburg Füllenbach OP, Elias H., Leiter des Instituts zur Erforschung der Geschichte des Dominikanerordens im deutschen Sprachraum in Köln Hallensleben, Barbara, Dr. theol., Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg Hamm, Berndt, Dr. theol., Professor (emer.) für Neuere Kirchengeschichte am Fachbereich Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg Knoll, Alfons, Dr. theol., Professor für Fundamentaltheologie an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg Leppin, Volker, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen Michel, Stefan, Dr. theol., Privatdozent, Institut für Evangelische Theologie an der Technischen Universität Dresden Nieden, Marcel, Dr. theol., Professor für Evangelische Theologie / Historische Theologie an der Universität Duisburg-Essen Ohst, Martin, Dr. theol., Professor für Historische und Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Bergischen Universität Wuppertal Schneider, Hans, Dr. theol., Professor (emer.) für Kirchengeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Marburg Unterburger, Klaus, Dr. theol., Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg Witt, Christian Volkmar, Dr. theol., Privatdozent für Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel, Heisenberg-Stipendiat am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz Wolff, Jens, Dr. theol., Privatdozent für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock
Personenregister Die Namen moderner Autorinnen und Autoren sind kursiv gesetzt. Erwähnungen in Anmerkungen sind mit „ A“ gekennzeichnet. Abaelard, Petrus 108, 114 Aegidius Romanus 147, 235 Aegidius von Viterbo 63A, 64, 70 Agricola, Johannes 208A, 212 Alberti, Leandro 28A Albertus Magnus 4 Albrecht von Brandenburg 190 Alexander III. 84 f. Alexander VI. 218 Alexander von Aphrodisias 3 f., 6, 221 Alexander von Hales 138, 142 Al-Farabi 4 Al-Kindi 4 Almain, Jacques 89A Amsdorf, Nikolaus von 18 f. Andronikos von Rhodos 3 Anselm von Canterbury 116, 122, 289A Antonius von Padua 2 Aristoteles 2 f., 5–7, 14, 17, 22, 44, 130 f., 133 f., 138, 142 f., 155, 220–224, 229 f., 237 Arnold, Claus 45–48 Arnoldi, Bartholomäus 16, 149A Augustinus 14, 19, 54, 130, 145, 203–205, 298A Aurifaber, Johannes 272, 275 f. Averroes s. Ibn Ruschd Balge, Richard D. 53 Bandello, Vincenzo 29, 36 Barozzi, Pietro 5 Barth, Karl 157A Bäumer, Remigius 59A Bayer, Oswald 160, 183, 184A, 212A, 216, 317A Beier, Leonhard 56 Bellarmin, Robert 113, 115A, 116
Bembo, Pietro 55A Bernhard von Clairvaux 19, 295A, 315 Bernhardi von Usingen, Bartholomäus 20 Bettini, Luca 40 Biel, Gabriel 17, 130, 149A, 180, 186, 208A, 210 f., 290–295, 311 f., 313A, 314 Bizer, Ernst 300, 317A Bodenstein, Andreas s. Karlstadt Bonaventura, Johannes 94A, 138, 142 f., 292 Bonifatius VIII. 83 Bonifatius IX. 33 Braun, Johannes 296A Brecht, Martin 75A, 76A, 317A Bucer, Martin 68A Buchwald, Georg 17 Büttgen, Philippe 232 f. Calvin, Johannes 206, 231 Camerarius, Joachim 30A Camers, Valentin 1 Capreolus, Johannes 9, 12 Carafa, Oliviero 33 f., 36, 43 f. Caroli, Giovanni 233 f. Carvajal, Bernardin 71, 71A Cary, Phillip 202 f., 205 f. Cassiodor 19, 154, 156 Catharinus, Ambrosius 45, 47–49 Cento, Stefanus Guaraldus de 49 Chenu, Marie-Dominique 137, 141 Cicero 236 Clemens VI. 25, 89, 126, 275 Clemens VII. 48, 81 Clérée, Jean 36 Comazzio, Bartolomeo 32A Contarini, Gasparo 287A Cordatus, Konrad 60A, 61A, 67A, 278 f.
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Personenregister
Cordoba, Pedro de 41 Crockaert, Petrus 43 Diedenhofen, Winand von 54 Dietenberger, Johannes 48A Dietrich, Veit 60, 66A, 279 Dingel, Irene 110 Dominikus 27A, 33 Durandus von St. Pourçain 44, 83, 166, 223 Ebeling, Gerhard 148A Eck, Johannes 14, 22, 74, 75A Edelheit, Amos 233 Eggensperger, Thomas 41 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 47A, 229 Eugen IV. 97 Faber Stapulensis, Jacobus 19 Fabisch, Peter 88A, 89A Felmberg, Bernhard Alfred R. 80A, 85A, 90A, 95A, 96A, 100A, 101A Ficino, Marsilio 225–228, 230, 236 Flavio, Giovanni Battista 2 Fontana, Vincentius Maria 91A Franz I., König von Frankreich 71 Franziskus von Worms 28 Freud, Siegmund 189A Fridolin, Stephan 289 Friedrich III., Kurfürst von Sachsen V, 23–26, 57A, 58A, 59A, 69 f., 72A, 184A, 266, 268–270, 273, 274A, 275 Galilei, Galileo 2 Gerhard von Elten 42 Gerson, Johannes 180A, 276 f., 298A, 306A Ghislieri, Michele 35 Gilson, Etienne 219 Giunta, Lucantonio 91, 92A Giustiniani, Agostino 47 Gratian 186A Gregor I. der Große 83, 298A Gregor von Rimini 11, 44, 288 Groner, Josef Fulko 81A Gropper, Johannes 287A Grünewald, Matthias 155A
Hadrian VI. 217 Hamm, Berndt X, 111–116, 123, 187A, 204A, 303A, 304A Harnack, Adolf (von) 123 Hecker, Gerhard 55A, 59 Heinrich von Gent 139 Heinrich von Gorkum 42 Hennig, Gerhard 183A, 214A, 215A Hieronymus 19, 47, 105, 127, 156 Holl, Karl 116 Honorius III. 87 Hoogstraeten, Jacob 29, 39 Horaz 229 Horst, Ulrich 46 Hugolin von Orvieto 287A Huntpichler, Leonhard 43 Hus, Jan 81A Ibn Rushd VII, 4 ff., 223 Iserloh, Erwin 88A, 89A Jacobus Perez von Valencia 287A Janz, Denis R. 12 Jesus Christus 65, 109, 112, 118 f., 121, 123 f., 187, 189, 191, 199 f., 216, 238, 244, 249, 262, 283, 289, 302A, 306, 312A, 316 Jörg (Georg), Graf von SchaumburgGemen 273 Johannes Duns Scotus VII, 6 f., 9 f., 12–14, 44, 130, 136, 139–141, 143, 168, 186, 223, 292–294, 311 Juan de Torquemada 14 Julius II. 36, 219 Kalkoff, Paul VII, 79A Kant, Immanuel 131 Karlstadt, Andreas Bodenstein von 19, 26A, 69A, 74A, 127, 183, 300A Klitzsch, Ingo 265 Koellin, Konrad 42 Kolumbus, Christoph 41 Köpf, Ulrich 52 Kroker, Ernst 270A, 271 f., 271A Lang, Johannes 17, 21, 63, 72–74 Langenmantel, Christoph 272 Leibniz, Gottfried Wilhelm 238 f. Leinsle, Ulrich 140
Personenregister
Leo X. V, 21, 40, 58A, 60, 63A, 71, 107, 174, 268, 279A Leo XIII. 220A Leonardo da Vinci 224 Leppin, Volker X, 114–116, 305A, 314A, 319A Linck, Wenzeslaus 56–60, 57A, 60A, 67, 68A, 70 f., 72A, 73A, 74 f., 215A, 271 Lindemann, Margarete 15 Lippi, Filippino 43 Lippomani, Nicola 8 Loewenich, Walther von 150 Löscher, Valentin Ernst 61 Luder, Hans 15 f. Ludovico (de Valentia) de Ferrara 43 Ludwig XII., König von Frankreich 36A Maria 54, 199, 289A, 298 Mathesius, Johannes 270 Matsuura, Jun 17 Maximilian I., Kaiser 60A, 67A, 276 Mechelen, Jan van 17 Medici, Giulio de’ 81 Melanchthon, Philipp 24, 30, 76A, 115A, 177 Miltitz, Karl von 63, 68, 274A Moeller, Bernd 21 Montesino, Antonio de 41 Morerod, Charles 82A, 96A, 98A, 103A, 183A Mörlin, Joachim 311A Nifo, Agostino 5 Nikolaus von Lyra 156 O’Fihely, Maurizio 2, 6 O’Malley, John W. 38, 234 f. Oberman, Heiko Augustinus 321 Oliva, Adriano 231 f. Olmedo, Sebastiano de 32, 35 Osswald, Johannes 269 Pagnini, Sante 47 Paltz, Johannes von 284, 319, 319A Pascal, Blaise 225 Paulus Venetus 5 Paulus, Nikolaus 80A, 81A Pesch, Otto Hermann 296A
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Petrus Lombardus 17, 42, 138, 156, 186, 205, 296 Petrus von Osma 81A Petzensteiner, Johann 76 Peutinger, Konrad 59 Pfeffinger, Degenhardt 23 Pico della Mirandola, Giovanni 1, 34, 225–228, 230, 233 f., 236 Pigge, Albert 287A Pius V. 35, 49 Platon 5, 131, 230 Polykrates von Ephesus 105A Pomponazzi, Pietro 6, 8, 44, 227 f., 230, 240 Porphyrios 223 Poschmann, Bernhard 83A, 88A Prierias, Silvester Mazzolini 23, 29, 86A, 186A, 233, 249, 253, 255, 259 Quintilian 236 Raimund von Capua 27A Reinhardt, Volker 235, 269 Reuchlin, Johannes 17, 19 Rex, Richard 214 Richard von St. Viktor 13 Rinaldi, Odorico 79A Rittgers, Ronald K. 303A Rörer, Georg 270–272 Rühel, Johannes 58A Ruhl, Johann 266A Saak, Eric 73A, 75A Savonarola, Girolamo 28, 33, 39 f., 47–49, 217, 225, 234 Schäfer, Rolf 266 Schäufele, Wolf-Friedrich 78A Schaumburg, Graf von s. Jörg (Georg), Graf von Schaumburg-Gemen Scheurl, Christoph 60A, 70 f., 72A Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 111, 154 Schnabel, Tilemann 72A Schönberg, Nikolaus von 39 f. Schulz (Scultetus), Hieronymus 21, 267 Schwarz, Reinhard 52, 287A Selge, Kurt-Victor 101A, 214A, 215A, 243, 245 f., 249 f., 258, 260
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Personenregister
Semler, Johann Salomo 115 Seripando, Girolamo 287A Serralonga, Urban von 268 Sforza, Ludovico 11, 34 Siena, Sixtus von 48 Simon Petrus 14, 92, 105, 187 f., 199 f., 203, 259 Simplikios 5 Sixtus IV. 94A Sneek, Cornelius de 28A Soto, Domingo de 45 Spalatin, Georg 21, 23, 25 f., 58, 62, 63A, 69, 74A, 78A, 128A, 215A, 268A, 269, 273 Spengler, Lazarus 286A Spenlein, Georg 310A Spina, Bartholomäus 1 f., 8, 44 Stackmann, Karl 21 Staupitz, Johann von VIII, X, 17, 22, 25 f., 51–53, 55–61, 63–71, 72A, 73A, 74 f., 77, 189, 279 f., 285–291, 293–295, 297A, 298A, 303–305, 310A, 314A, 315, 317 Stutz, Ulrich 77A Tauler, Johannes 20, 303–306, 314 f., 317, 319 Tavuzzi, Michael 32–34, 44A Tertullian 124 Tetzel, Johann 22, 29, 241, 247–249, 271 Themistios 4
Thiene, Gaetano da 5 Thomas von Aquin VII, IX, 4, 11, 27, 34, 45, 49, 82A, 87, 95A, 129, 130, 135, 138 f., 145, 152, 163, 165 f., 168, 172, 185A, 186, 205, 219 f., 223, 229–232, 241 Tinctoris, Johannes 42 Torriani, Gioacchino 32A, 33A Trombetta, Antonio VII, 2, 6–9, 223 Trutfetter, Jodocus 16 Valentino da Camerino 34, 44A Vega, Andrés de 45 Vernias, Nicolas 223 Viktor von Rom 105 Vio, Giovanni de 32 Vitoria, Francisco de 43, 45 Volta, Gabriele della 22, 55A, 59, 63 Walter, Peter 45 Wicks, Jared VII, 37 f., 40A, 215A, 216A Wiclif, John 81 Wilhelm von Auxerre 138 Wilhelm von Ockham 16, 130, 149A, 186A, 292–294, 311 Wimpina, Konrad 22 Wriedt, Markus 288A, 294A Zumkeller, Adolar 52A, 288A Zur Mühlen, Karl-Heinz 192A, 300, 308A Zwilling, Gabriel 73A
Sachregister Abendmahl 165, 195 Ablass 21, 25, 79–128, 130, 185, 214A, 244, 266, 283 f., 316, 318 – Ablasskritik Vsq., VIII, 80 f., 101 ff., 105 ff., 111, 113 f., 116, 118, 120, 122, 125 f., 244, 249 – Ablasspraxis 82 f., 98, 103, 107, 115 – Ablasspredigt 257, 271 – Ablasstheologie V, VIII, 80–83, 92, 101A – Ablassthesen VIIIsq., 74, 106, 119, 184, 214A, 245, 248, 317, 320 – Jubiläumsablass 83 – Plenarablass 86, 111 Absolution 83A, 91, 110, 113, 167–174, 184, 187, 189, 191, 193–197, 199, 201–204, 215 f., 318 Acht 60 f., 77 Acta Augustana IX, 25, 59A, 80, 167A, 178, 183 f., 197–200, 214, 267 f., 270, 273, 276 f. Affekt 142, 152–155, 176 f., 283A, 284, 298, 305 – Affektivität 154 Akt 9, 11 ff., 51, 56, 61, 67, 77, 84 f., 118, 123, 125, 127, 142, 164, 210, 286, 292 f., 311, 314A Aktivität 119, 244 Akzeptationslehre 12 f., 292, 294 Allgemeinbegriffe 5 Allmacht Gottes 165, 222, 293 Almosen 94A, 99 f., 125, 321 Amt IX, 34, 36, 55 f., 64A, 74 f., 112, 168, 174 f., 179, 203, 246 f., 250, 253, 255, 319 Andacht 283 ff., 315 Analogie 6, 9 f., 123, 138, 220 Anfechtung X, 18, 54, 115, 318 f. Anrechnung 306 f., 309 ff., 316 Anthropologie VII, IX, 3 f., 7, 9, 11, 14, 22, 114, 150, 226, 229, 236, 291A Anthropozentrik 224, 228, 230, 236
Apostolisches Glaubensbekenntnis 121 Appellation V, 71, 250, 257, 276f Argumentation 24 f., 96A, 102, 126 f., 134, 164 f., 167, 213A, 232, 235, 239, 241, 247, 249, 255, 258, 261 Aristotelesrezeption IX, 236 Aristotelismus 2 f., 5, 130, 159, 226 f. Armut s. Gelübde Artes 1 f., 42 Artistenfakultät 16, 222 Attribution 9 f. Auferstehung – Jesu Christi 152, 156 – der Toten 240 Augustinereremiten VIIsq., 5, 15 f., 18, 22, 24, 26, 29 f., 51, 53, 57, 66, 76 ff., 129, 281, 284, 286 ff., 297 f., 309A Augustinertheologen V, 91, 97 Augustinismus VI, 11, 295 Außenorientierung X, 282, 285, 293, 296 f., 301, 316 f., 320 Autorität IX, 30, 40, 42, 49, 63, 67, 75, 102, 107, 118, 173, 235, 237, 241, 245–252, 254, 256–261, 263 Averroismus 7, 222, 228 Bann 24, 59, 61, 63, 75, 88 f., 128A, 320 Barmherzigkeit 17, 112, 116, 124, 158, 165, 167, 171 f., 188, 208, 285, 288, 291–294, 296A, 311 ff., 315A Beichtbriefe 90, 284 Beichte 13 f., 82A, 86A, 90, 97A, 170 f., 175, 186, 189, 192 f., 195 ff., 200 f., 203, 206, 297 – Beichtvater 17, 36A, 40, 92, 189, 196A, 284 Bekenntnis 188, 196, 230 Bibel VI, 20, 23, 25, 45 f., 83, 93A, 133 ff., 139, 142, 144 f., 147, 149, 151, 169, 216, 229, 231, 251, 275
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Sachregister
– Bibelexegese 8, 12, 46A, 47 f., 80A, 93A, 110, 120, 145, 147–150, 159, 175, 216, 218, 240, 258 f., 275, 296 – Bibellektüre VII, 148 Bildung 16, 28 f., 121, 229, 240 Biographie VIsq., 15A, 19, 27A, 280 Buchdruck 222 Bulle VI, 36A, 63, 80, 84A, 89, 93, 95 ff., 100 ff., 275, 320 – Bannandrohungsbulle 320 – Bannbulle 63 – „Unigenitus“ 84A, 89, 93, 95 ff., 100 ff., 275 Bund 190, 192, 293, 311–314 Buße 13, 22, 82A, 88A, 99, 109, 111, 113 ff., 118–121, 128, 167, 169, 174, 189, 199, 209, 250, 284, 287, 291A, 303 ff., 314, 316 f. – Büßer 88, 103, 167 – Bußsakrament 13, 85, 91, 103A, 108 ff., 120, 171, 173, 186, 207, 245, 284 – Bußstrafen 13, 83–88, 91 f., 99, 127 – Bußtheologie 304A Bußpsalmen 19 f., 316 Christologie 20, 150–153, 159, 238, 286 ff., 293, 295A Christusfrömmigkeit 20 Christuszentrierung 112, 255 communio sanctorum 203, 283, 290 Dekretalen V, 25, 84 f., 87, 91, 101A, 103A, 107, 144A, 257 ff. Demut 54 f., 74, 284, 298 f., 301, 318 Denken VIII, 3, 10, 14, 17, 20, 34, 44, 103A, 111, 113, 116, 120 f., 124 ff., 130 f., 139 f., 145, 160, 197, 207, 216, 220–224, 226 ff., 230, 239, 242, 245, 252, 260, 281 f., 292, 299A, 310 f., 315A Deutung VII, 53, 62 f., 69, 79A, 85A, 97 f., 107, 115, 148, 150, 155–159, 169, 215A, 270, 290A, 307A, 314 Dialektik 132, 206 Diplomatie V, 68, 266, 268 Dispens 2, 33, 83 ff., 89–102 Disposition 12 ff., 96, 169, 171, 175, 180, 197–200, 202, 248, 313A Disputation VI, IX, 1 f., 20, 22, 25, 33, 74, 91, 108, 129, 132, 148–151, 159 f., 184A,
194, 196, 200, 208, 210, 212, 214, 224, 227, 234, 241, 248, 253, 255, 257, 266, 317, 320 Dogma 48, 153, 173, 178, 246 Dogmatik 132, 135, 218, 235, 238 Dominikanerorden VIII, 15, 22, 27–31, 33, 36 f., 39, 41, 43, 49, 79A, 217, 224, 235 – Dominikanertheologen Vsq., 1 f., 26, 42 f., 45, 49, 90, 166, 217, 219, 223 Dunkelmännerbriefe 39 Egozentrik 12 Ehe 262 f., 295A Eid 75 Eigentum 54 Ekklesiologie IX, 14, 20, 90, 147, 213, 216, 219, 243 ff., 249, 253, 255, 262, 288 Emergenz 296, 320 Endlichkeit 239, 241 Entdeckung Amerikas 40 Entelechie 6, 239 Erbsünde s. Sünde Erfahrung 142, 155, 188, 197, 216, 223 f., 249, 280, 296, 305 f., 310, 315, 318, 321 Erinnerung X, 65, 265, 268 ff., 273–277, 279 f., 304A Erkenntnis 5 ff., 19, 100A, 110, 133, 135 ff., 139, 141 f., 151, 159, 185, 206 f., 209, 212, 214, 220 f., 232, 239, 245, 251, 255, 258 f., 263, 282, 296, 305, 321 Erlösung 98, 112, 118, 121 f., 133, 238, 241, 285, 287, 290 f., 294 f. Ethik 17, 37, 100, 228 Eucharistie 165, 174, 215 Evangelium X, 110, 115, 117, 157 f., 185, 200 f., 208, 212 f., 216, 244, 250 f., 253 f., 259, 262, 300–303, 306 f., 315A, 318 ff. Evidenz 141, 250 Ewiges Leben 54, 165, 287 Ewigkeit der Welt 8, 220 ff. Exkommunikation V, 60 f., 63, 69A, 76 f., 279 f. extra nos 237, 287, 302, 306–309, 315 Fasten 29, 35, 94, 96, 125, 218, 235, 242A, 286A Fegefeuer 82A, 97 f., 102, 108, 240, 242, 284 Form 3 ff., 9, 179, 221, 227 ff., 237
Sachregister
Forum 85A, 88, 92 f. Franziskaner 2, 45, 142, 223, 235, 289, 292, 310 ff., 315 Freiheit 12, 21, 68A, 113, 122, 137, 222, 225, 227, 239, 250, 252, 292 f., 310, 320 Frömmigkeit 112, 115, 124, 172, 281–285, 298, 304A, 315 Frömmigkeitstheologie 180A, 283A Fürbitte 54, 83A, 87, 94A, 290 Furcht 11, 28, 61 f., 75A, 97 f., 127, 170, 183 f., 192, 205, 208 f., 211, 269, 275 Gabe 75, 112, 117, 157A, 188, 197, 212 f., 227, 237, 288, 295A, 309A, 312A, 316 Galaterbrief 18, 301 Gebet 125, 171, 175, 210A, 237, 250 Gegenreformation 49 Gehorsam VIII, 52–56, 60 f., 65–69, 118, 127, 246, 250, 254 f., 265, 279 Geist 3 f., 6, 28, 54, 177, 188, 195, 205 f., 211, 221, 226 ff., 230, 232, 234, 236, 238, 240 f., 250, 253, 258, 288, 292, 301, 303 f. Geistseele 5 f., 9, 240 Geld 32, 35, 70, 99, 312A Gelübde – Armut 16, 37, 54, 110, 268 – Gehorsam VIII, 16, 51 f., 54, 66 f., 76, 110, 279 – Keuschheit 16, 54, 110 Gerechtigkeit 87 f., 97 f., 100, 103, 112 f., 116, 119, 124, 134, 158, 160 f., 167, 179, 205, 208, 210, 286 ff., 291, 298–303, 306–311, 313A, 316, 318 Gericht 120, 203, 289A, 290A, 297, 300–303 Gesellschaft 16, 111, 177A, 262A Gesetz 11, 22, 37, 63, 151, 157, 168, 173, 205, 208–213, 237, 297, 300, 315A, 320 Gesetz und Evangelium 157 f., 185, 212A, 302f Gewissen 16, 124, 190, 193, 208–211, 214, 246, 300 f., 303 Gewissheit 132, 216 – Glaubensgewissheit 163–216 – Heilsgewissheit 115, 123, 214A, 295, 303, 314 – Hoffnungsgewissheit 163, 165 f., 176 f., 179 f., 185A, 295A, 303A, 316
331
Glaube 112, 114 f., 117 f., 124, 135 f., 141, 144, 150, 163, 165, 167, 169, 171 f., 179, 188, 190–193, 195–205, 207, 216, 232, 241, 248, 251, 253, 260, 283, 301 f., 306, 314, 318 – fides acquisita 164, 168 f., 197, 215 – fides infusa IX, 164 f., 168 f., 197, 199, 215 – Glaubensartikel 138, 140–143, 169, 180, 221, 227, 234 – Glaubensverständnis IX, 116, 172, 174, 177, 179 f., 319 Glossa ordinaria 19 Gnade 11 f., 20, 95, 98, 109 f., 112 f., 118, 120 f., 124, 137, 142, 158, 160, 164 f., 168–171, 173 f., 184, 186 ff., 190, 192, 197, 200 f., 204 ff., 208, 210, 212, 231, 237, 260, 282–288, 290–294, 298, 301, 304, 311–315, 318 – Gnadenlehre VII, 14, 20, 163, 228, 291A Gott 4A, 10 ff., 21, 41, 54, 64 f., 84, 87 f., 92 f., 95, 97, 99, 103, 109, 112–122, 124 f., 133 ff., 137–141, 143 f., 150–155, 164 f., 167, 170 f., 173, 176, 178, 186 ff., 190 ff., 197 f., 204, 206, 208–212, 221 f., 225 ff., 231, 237 ff., 241, 244, 249, 255, 261 f., 270, 284–289, 291–309, 311–316 – Gottesbild 116, 119, 121 – Gotteserkenntnis 98, 151 – Gotteslehre 144, 153 Gottebenbildlichkeit 231 Gradualismus 291 Habitus 14, 176, 180, 292 Häresie V, 23, 26, 58, 62 f., 65, 76A, 81A, 111, 126 f., 169, 172, 174, 190, 238, 250 Handeln 22, 68A, 134, 227, 230 – Handeln Gottes 10, 116, 119, 121, 125, 315A Hebräerbrief 18, 48, 117, 301 Heidelberger Disputation IX, 22, 148–151, 159 f., 266 Heil 38, 115, 118 ff., 124, 132 ff., 139, 144 f., 154, 184, 194, 237, 249, 261, 282 f., 285 f., 289A, 298, 301 f., 305, 312–316 Heilige 16, 43, 45, 89 f., 93–96, 100, 112 f., 127, 169, 172, 174, 176, 262, 283, 288, 289A, 298
332
Sachregister
Heiliger Geist 176, 195, 204, 206, 210 ff., 231, 239, 283, 286 f., 291A, 300 f., 304, 307 f., 316, 318 Heiligkeit 197, 288–291, 297, 302 f., 318 Heiligung 231, 283, 297, 303 f., 306, 314A, 316 Heilsgeschichte 292 Heilsordnung 115, 166, 293, 312 Heilsvermittlung VI, 105, 262 Heilswerk 112, 115, 123, 249 Hermeneutik 20, 126, 135, 154, 159, 185A, 200A, 224 Herz 12, 62, 116 f., 120, 125, 159, 175 f., 188, 194, 203 ff., 237, 286 f., 301, 304, 309 f. Hierarchie 91, 127, 242, 246, 249, 262 Hören 201, 232, 261, 267, 282, 300, 316 Hoffnung 112, 163, 165, 176 f., 179 f., 194, 204, 289, 295, 301, 309A, 316 Humanismus IX, 16, 21, 44, 47, 229 f., 233–236 Identität 10, 203 Individualität IX, 3–7, 9 f., 169 f., 220 ff., 225, 228, 230, 240 Infallibilität IX, 165, 194, 260, 311A Inquisition 29, 91, 255 Institution 59, 246, 248 f., 251, 260, 320 Intellekt 1, 4–8, 29, 32, 108, 111, 113, 120, 175, 220, 227 f., 230, 234 f., 241 f. Intention 168, 203, 245 – intentio obliqua 200 f. – intentio recta 200 ff., 207 Interdikt 24, 59 Islam 4 Judentum 125 Jurisdiktion 55A, 85, 91, 101 Kaiserwahl V, 266A Kanonistik 14, 64A, 82, 218, 245 Kausalität 237, 294 Katholische Reform 49 Kirche Vsq., VIIIsq., 14 f., 23 f., 30, 51A, 57 f., 61, 69A, 84, 89–92, 95, 97, 100, 112 f., 118, 120, 122–124, 126 ff., 152, 167 ff., 171 f., 174, 179 f., 184, 188–191, 193, 216–219, 230 f., 241–263, 267, 270, 274 f., 281–286, 288, 299, 317, 319 f.
– Kirchenpolitik V–VIII, 67, 71, 77, 105 ff., 241 f., 245 – Kirchenreform 107, 217, 231, 234, 244 Kirchenrecht V, 51, 82, 84, 91, 93, 102 f., 169, 247, 249, 251 Kirchenschatz 25, 83 f., 89 ff., 93 f., 101 f., 109, 122A Kirchenväter VI, 82 f., 156, 158, 204, 249 ff., 253 Kloster 16, 18, 42A, 53, 63, 72, 76, 110, 290, 299A, 319 Konkupiszenz 12 Konstitutionen 38, 53–56, 61 f., 64 ff., 73A, 297A Kontemplation 154, 225–228 Kontingenz 10, 139, 222, 292 f. Kontinuität 138, 140–143, 153, 231, 253, 258, 263A, 304A Konventuale VIII, 31 f., 36 f. Konzil 25, 71, 252, 254 f., 257–260, 276 – Konzil von Florenz 173, 193A, 215A – Konzil von Konstanz 276 f. – Konzil von Pisa 30A, 71 – Konzil von Trient 45, 180 – Viertes Laterankonzil 84, 87 – Fünftes Laterankonzil 8, 30A, 219 Konziliarismus 89A, 277 Kooperation 180, 195 Kosmos IX, 221 f., 226, 236, 267 Kreuz 121 ff., 151–154 – Kreuzestheologie IX, 145, 147–151, 156, 159–161, 300 Kunst 42, 159, 235 Kurie V, 23, 29, 34 ff., 43, 49, 53, 217, 224, 235, 245, 252, 255, 259 Laster 12, 227 Laxismus 28 Leben 7, 16, 38, 51, 54, 78A, 93, 99, 109 f., 112, 121, 143, 165, 169, 203, 213, 218, 225–228, 230, 235 f., 239 ff., 261 f., 269, 287, 291A, 294, 309, 313A, 314A, 317 Lebensgefühl 220, 230, 241 Lebensprinzip 3, 5 Lehre VII, 1, 3 ff., 7, 9, 11 f., 15–17, 22–26, 34, 42 f., 45, 68A, 83, 87, 89, 93, 108, 113, 115, 122A, 128, 131 ff., 135 ff., 144, 172, 175, 179 f., 195, 205, 208 f., 218, 220, 223, 232,
Sachregister
234, 237, 245, 250, 252, 256, 267, 274, 282, 292A, 298, 314A, 319 – Lehrverkündigung 112, 114 f., 118 Leib 3 f., 8, 54, 95 f., 117, 161, 221, 228, 240, 242, 291A, 319 – Leib-Seele-Einheit 6 Leiden 4, 89 f., 122, 153 f., 156, 157A, 191, 219, 221, 294A, 304A, 305A, 317 Leistung 113, 117, 125, 290 Lesen 17 f., 62, 282, 306, 316 Leserkreis 20 Liebe IX, 14, 97 ff., 109, 118, 120, 123, 127, 134, 137 f., 143, 150, 173, 175 f., 178 f., 186, 204 f., 208–212, 226, 231, 237, 283 f., 286 f., 289A, 291A, 293 f., 301 f., 304 ff., 318 – Gottesliebe 14, 97 f., 186, 286, 291, 294, 298, 304 f. – Liebe Gottes 176 – Nächstenliebe 99, 286, 291 f., 298, 316 Liturgie 53 f., 218, 235, 282 f., 289A Logik IX, 5, 112, 132, 155, 195A, 202, 222 Lohn 177, 227, 294 f. Materie 3, 5, 9 f., 13, 138, 221, 236 Medialität 317 f. Medien 110A, 283, 320 Medizin 3, 119 Mendikanten 1, 3, 177A Menschenbild s. Anthropologie Menschwerdung 112, 312A, 313A Mentalität 230 Messe 121, 321A Metapher VIII, 117, 122A, 155 f., 160 f., 298 Metaphysik IX, 4, 11, 34, 43, 131, 137, 139 f., 142 ff., 222 ff. Mission 41, 218 Moral 11 f., 41, 98, 109, 226 f., 230 f., 290 ff., 302, 307, 314A, 319 – Moralphilosophie 225, 230 – Moralpsychologie 234 – Moraltheologie 34, 218 Mystik X, 96, 121, 142, 155, 160, 285, 304A, 305A, 306A, 320A Nachfolge – Nachfolge Jesu 112, 199, 257, 259, 304, 306, 317
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– Nachfolge Petri 92, 249 Natur 2, 4A, 5, 7, 11 f., 131–134, 136, 143, 151–154, 164, 211, 218, 222–225, 227 f., 236–242, 290–295, 308, 310 f. Naturalismus VII, 3, 5, 33, 228 Naturforschung 2 Naturphilosophie 5, 223 Neuplatonismus 4 f., 285 Nikomachische Ethik 17 Nominalismus 16, 180, 222 f., 295 Norm IX, 49, 91, 92A, 102 f., 126, 241, 243, 245–249, 251–254, 256–259, 261 Notwendigkeit 124, 131, 133, 135 f., 180, 192, 291A, 293, 311A obex 195, 199, 205 Observanz VIII, 15, 31 f., 36 ff., 41 f., 53, 55, 57, 66, 69, 71, 284, 297 Ockhamismus 180, 222 f., 291, 293, 295, 311 Offenbarung 4, 6, 44A, 132 f., 135 f., 138 f., 143 f., 151 f., 165, 197, 205, 220, 230, 234, 254 Öffentlichkeit 1, 5, 20 f., 23, 33, 75, 77, 111, 119, 126, 203, 227, 320 Ontologie VII, 6, 9 f., 14, 239, 300 Opfer 54, 120, 123, 188 Orden VIII, 8, 17 f., 21, 24, 29, 34, 36–43, 45, 49 f., 52–55, 61–67, 69, 76A, 220, 224, 281, 288A, 297, 309A – Ordensgehorsam VIII, X, 51 ff., 56, 60, 62 f., 65, 69A, 72, 77 f. – Ordenshabit 62 – Ordensleben 31, 55, 298A – Ordensreform 27, 50, 217 – Ordensstudium VII, 1, 36 Papalismus 23, 89A, 252, 259 Papsttum 17, 75, 128A, 209, 235, 245 f., 250 f., 258, 267 f., 277 f. Passion Christi 152, 154 ff., 286, 288, 304 – Passionstheologie 151 Passivität 114, 119, 156, 306, 307A Pelagianismus 228, 292 Performanz 155, 201, 207, 283, 318 Personalität 221, 238 f., 285 Philologie 16, 18 f., 156
334
Sachregister
Philosophie VII, IX, 2 ff., 6–8, 14, 22, 42, 44A, 131, 134, 138, 142, 145, 150, 160, 217, 220–224, 227, 230–234, 239, 241 Platonismus 10, 204, 225 ff. Pneumatologie 177 Politik 21, 24, 177A, 215A, 241, 256 Potenz 9 Prädestination 286 ff., 290 f., 293 f., 295A – Prädestinationslehre 20, 292 Predigt IX, 7, 20, 35, 110, 118, 157, 201, 203, 208 ff., 219, 224, 228 f., 231–242, 250, 262, 282 f., 286A, 287A, 293A, 298, 300, 304, 306, 314, 316 Priester 13, 17, 38, 83A, 85–88, 169, 173, 186–196, 200 f., 203, 206, 215, 262, 285, 296A, 318 Primat 22, 30, 247, 254f Prinzip 9, 47, 103, 125, 131, 147, 164 f., 230, 254, 257 Profess 16, 38, 51, 53 f., 62, 65 f. Professur 11, 17, 34, 77, 111, 224, 227, 248, 296 Proportion 10, 90 Protestation 25, 58, 64, 250 Prozess – Prozess (juristisch) V, 23 ff., 39A, 57, 110 f., 244, 256 – Prozess der Heiligung 304, 316 – Prozess der Rechtfertigung 173, 175, 178 – Prozess der Vergebung 186 Psalmen 17 – Psalmenauslegung X, 17, 19, 24, 46, 48, 149–152, 154, 156, 159, 296, 298–305, 307, 309A, 311–315, 317 f. Psychologie 5, 12, 177, 228 Quincuplex psalterium 19 Rationalität 153 ff., 220, 227, 230, 295, 298 Rechtfertigung 13 f., 21, 115, 173, 175, 178 f., 188, 195, 208A, 244, 246, 288, 291, 303, 305, 317 – Rechtfertigungstheologie 19, 45, 120, 179 f., 216, 244, 308, 309A, 317, 321 Reformation IX, 69A, 111, 115, 213, 216 f., 231, 250, 252, 260 f., 276, 281 ff., 285, 319–321 Reformatorische Wende 185, 265, 296, 299A, 300, 317A
Reformbewegung 28, 31, 233 Reformkongregation VIII, 22, 31, 40A, 51 ff., 57, 66–70, 72, 77, 297A Reichsstände 24 Reichstag – Reichstag zu Augsburg V, 24 f., 271, 279 – Reichstag zu Worms 76, 280 Relation 150, 152, 157, 160, 194 f., 201, 207, 209, 216, 292 f., 299, 311 Religion VIII, 18, 105 f., 112, 118, 120 f., 126, 206, 249, 252 f., 260, 262, 281 ff., 285, 288, 302, 316, 320 Renaissance s. Humanismus Resolutionen IX, 22, 74, 91, 97, 106, 108, 110, 119, 121, 127, 172, 184 f., 187A, 190 f., 206 f., 212, 214 f., 252 Reue 12 ff., 82A, 85, 86A, 98, 109, 124, 167, 170 f., 175, 186, 188 f., 191–194, 197, 199, 207–212, 284, 286 f., 291, 299, 304 f., 317 f. – attritio 13 f., 170 – contritio 12 ff., 170, 186, 193, 207–210, 212 f., 304, 314A Rhetorik 229, 234 ff. Ritual 120, 321 Römerbrief 8, 18 ff., 49A, 106, 110, 119, 121 f., 135, 211, 301, 302A, 303, 305, 307–310, 314 f. Sakrament IX, 12 ff., 85A, 114, 167, 169–175, 178, 183 f., 188, 190, 192 f., 195, 197–201, 203–206, 216, 228, 231, 234, 238, 248 f., 262, 282 f., 288A, 318 Satisfaktion 84, 88, 96, 103, 113, 125, 193, 286, 289 Schau 139 ff., 144, 226 Schlüsselgewalt 92 Scholastik IX, 19 ff., 35, 81A, 88, 94, 101A, 103A, 108, 129–132, 135, 139, 145, 149A, 167 f., 180, 183, 185 f., 195, 203, 205, 208A, 220 f., 230 f., 233, 235, 260, 292, 306, 314A Schöpfer 12, 237, 241 Schöpfung 118 ff., 194 f., 201, 220 ff., 231, 236 f., 241, 303 Schriftkommentare s. Bibelexegese Schriftsinn – Literalsinn 46, 47A, 152, 154, 159, 261
Sachregister
– vierfacher Schriftsinn 152 Schuld 23, 62, 64, 85, 87A, 92 f., 113, 115, 124, 185 ff., 190, 192, 195, 286 f., 295A, 298, 313, 318 Schulen 45, 136, 177A, 180, 308 – Schuldebatte 132, 134, 136 – via antiqua 130 – via moderna 5, 16, 130, 139, 168 Skotismus 2 f., 6–12, 14, 45, 130, 143, 180, 223, 293, 311 Seele 3–8, 37 f., 44, 97 f., 122, 136, 204, 210 f., 219, 221, 226 ff., 230, 239 f., 284–289, 291 f., 294A, 297, 300, 303 f., 307, 310, 315 f. Seelsorge 38, 40, 42, 107, 111, 158, 172, 246, 252 f., 259, 283 f., 286, 297, 315, 319 Sein 8 ff., 123A, 133, 143, 222, 294, 308, 310 Selbstbindung Gottes 290, 292 ff., 310–313, 315 Seligkeit 133, 141, 143, 211, 225, 284, 286, 291–294, 297, 303, 307, 311 f., 318 Semantik 155, 177A Sentenzenbuch 42, 138, 142, 173, 186, 205 f. Sentenzenkommentar 1, 9, 17, 81A, 141, 147 Sermon 20, 25, 91A, 110, 125, 261 f., 317A simul iustus et peccator 308 f., 315 Sinne 3, 210, 221, 282 f., 288, 301, 318 f. Spiritualismus 226, 228 Sprache 35, 44, 119, 122, 220, 235, 239, 267, 298A, 302A, 312A, 313A – Sprachverständnis 155 Staupitzkreis 70 Strafe 62, 84, 97 ff., 113, 115, 124, 209, 286 – Strafnachlass 84, 87, 89 f., 93 Studium 1 f., 16 f., 28, 32–35, 37, 42, 44, 46A, 71, 218, 229 – Studium generale 1 Stundengebet 17 Subalternationstheorie 142 Sühne 90, 288 Summa theologiae 12, 27, 42, 44, 49, 132 ff., 143, 163 ff. – Summenkommentar VIIIsq., 8, 11, 27, 41, 43 f., 49, 91, 130, 134, 163 f., 168, 175, 219 Sünde 62, 103, 122, 127, 151, 158, 161, 169, 175, 186, 188, 191, 197, 207–213, 231, 241 f., 297, 303A
335
– Erbsünde 12, 112, 260, 295, 298, 300, 302 f., 307–311, 316, 318 – Sündenlehre 20 – Sündenstrafe 87 f., 92, 97, 100, 103A, 185, 240, 284, 287, 317 f. – Sündenvergebung 14, 93, 160, 173 f., 184 f., 188, 191, 195, 200 f., 206 ff., 216, 318 – Todsünde 12, 29, 62, 100, 164, 169, 287, 299 Synekdoche 156 Synthese 227, 230 Taufe 13, 120, 174, 191, 193, 196, 204 Tausch 158, 160 f., 295A, 309 f., 316 Teilhabe 7, 90, 118, 140, 144, 191, 221, 237, 285 Teleologie 148, 177, 212A Terminismus 5 Teufel 65, 291A Theologia deutsch 20, 306A, 314A, 315 theologia gloriae 22, 140, 150 Theologie VI–X, 11, 14 f., 17–21, 24, 34, 42, 44, 48 f., 57, 68, 79A, 80A, 81, 101A, 102 f., 106, 111 f., 115A, 116, 119–123, 126, 129–161, 165, 167 f., 172, 180–185, 197, 201, 209, 212 f., 216, 222–225, 229–236, 241, 243–248, 252, 256 ff., 260 ff., 270, 274, 281 f., 288, 290, 294A, 296 f., 298A, 299A, 302, 304A, 305A, 306, 314A, 315, 318 ff. – Theologieverständnis VIII, 130, 136A, 137, 144 f., 150, 244 Theozentrik IX, 236, 315A Thomismus VI–IX, 2, 6–11, 13 f., 27, 34, 42–45, 47, 49 f., 99 f., 130, 136, 142, 148 ff., 175, 177, 179 f., 213, 216, 220, 223, 257 f., 292 Tischreden 51, 60 f., 63 f., 67, 77, 265, 270 ff., 276 ff., 280 Tod 3 ff., 7, 38, 54, 64, 75A, 112, 122A, 154, 156, 158, 171, 183 f., 189, 192, 238, 240, 284, 288A, 289, 299, 308, 310 Tradition 5, 7, 12 f., 44, 47, 100, 144, 154 ff., 169 ff., 187, 192, 195, 200, 206, 217, 222 f., 227, 230, 233 f., 241, 246, 248 f., 251 f., 254 f., 257 f., 263, 282, 285, 288A, 290A, 291, 293, 299 f., 302A, 303A, 306A, 308, 310–315, 320
336
Sachregister
Transformation 120, 150A, 221, 247A, 281, 306, 320A Transzendenz 87, 222, 302A Treue 10 f., 13, 35, 156, 230, 233, 246, 258 – Treue Gottes 282, 301, 312 Trinität 133, 231 f., 234 Trost 17, 75, 157 f., 175, 188, 207, 214, 277, 301, 304A, 306, 315A, 318 Tugend 12, 163, 165 ff., 169, 175–180, 227, 283, 285, 297, 315A Übel 218, 225, 238 f. Ungewissheit 164, 170, 173, 178, 189, 199, 208A, 303A Universalienlehre 16 Universität VII, 1 f., 16, 21, 33 f., 43, 71 f., 77, 223 f., 233, 249 Unsterblichkeit 3–9, 44, 133, 219, 221 f., 225–227, 230, 239 f. Unvollenkommenheit 13, 98, 141–144, 164, 170, 284 Ursache 10, 89, 96, 138, 142, 164 f., 179, 216, 218, 222, 238, 294A Urteil 23, 26, 28, 30, 38, 58, 179, 184, 186, 188–191, 193, 199, 201, 204, 211, 239, 246 f., 249, 253 f., 256, 258, 267, 289, 293, 298–302, 306, 308, 310, 315 f., 319 – Verurteilung VI, 75, 81A, 111, 151, 174, 276, 280 Verdammnis 115A, 121, 156, 167, 171, 188, 192, 299, 301 f. Verdienst 93, 95, 99, 114, 288, 291, 299, 311, 312A, 313A, 314A – Verdienste Christi 94–96, 113, 122, 178, 295 Verheißung 105, 171, 178, 202, 216, 293, 301, 312A, 313A Verinnerlichung X, 12, 282, 283A, 285, 288, 295, 297, 301, 305, 316, 319 Verkündigung IX, 42, 83, 228, 234, 262, 300 f., 319 Verlassenheit 153 f., 156 ff., 305A Vernunft 6, 85, 103A, 131–134, 138, 145, 153, 155, 169, 179, 237, 240 f., 249 Versöhnung 85A, 122 Verstorbene 84A, 85, 94A, 97 f., 101A, 102, 289
Vertrauen 114 f., 165 ff., 169, 175, 188, 201, 216, 254, 283 f., 291A, 313A, 314A, 317 via antiqua s. Schulen via moderna s. Schulen Vollkommenheit 98 f., 288, 297 Vulgata 19, 46 ff. Wahrheit 112, 124, 143, 165, 168 f., 180, 192, 232, 235, 237, 240, 246, 248, 250 f., 258, 260, 267, 299, 301 Weisheit 28, 138, 142, 171, 197, 232, 234, 307A Welt 6, 8, 10, 54, 59, 110, 113, 115, 120, 122, 154, 164, 189, 208, 220–226, 228 ff., 237, 239, 241, 253, 255, 259, 297 – Weltbild 220, 223 f., 236, 241 Werk 4, 45, 88 ff., 93–96, 109 f., 113, 115A, 122, 125, 150, 177, 188, 193 ff., 206 f., 212, 228, 260, 262, 285 ff., 291–295, 297 f., 307, 311 f., 316 Wesen 3, 9 f., 143, 151, 160, 237, 294, 306A Widerruf V, 22, 24, 26, 58, 61, 68A, 213, 215, 247 f., 260, 273 f., 278 Wiedergeburt 291A, 303 Wille 10, 12, 22, 116A, 117–121, 124 f., 127, 137, 142 f., 164, 187, 194, 210 f., 227, 246–250, 255, 285, 292 Wissen 6 f., 13, 38, 127, 131, 134, 136, 138–145, 147 f., 153, 168, 172, 202, 246 Wissenschaft IX, 3, 28, 34, 38, 79, 108, 130 ff., 135, 137 f., 140–145, 147 f., 232, 235 – praktische Wissenschaft 131, 142 ff. – theoretische Wissenschaft 142 f. Wissenschaftstheorie 134, 143, 147–150 Wort Gottes IX, 196 f., 216, 232, 234, 242, 263 – Worttheologie 319 f. Zeichen 56, 164, 189, 192, 201, 205, 283, 288A Zeit 87 f., 92 f., 97, 100, 103A, 123, 156, 199, 208, 220 ff., 231, 235 f., 284, 292, 317 Zensur 30, 40A, 48 Zorn 117, 120, 123 f., 188, 250, 297, 320 Zweifel 23, 98, 169, 171, 174 ff., 178, 180, 183 f., 189, 200, 207, 247, 256, 274