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German Pages [264] Year 2020
Klaus Gahl
Begegnung und Verantwortung Beiträge zu einer ärztlichen Menschenkunde
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495820964
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Klaus Gahl Begegnung und Verantwortung
VERLAG KARL ALBER
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Klaus Gahl
Begegnung und Verantwortung Beiträge zu einer ärztlichen Menschenkunde
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Klaus Gahl Engagement and Responsibility Contributions to a medical anthropology Pain, illness and suffering and the certainty of death constitute fundamental and inescapable human experiences. As experiences of the limits of physical and psychological vulnerability, they alter our perception of ourselves. We turn into objects of our own perception and feelings, at the same time as acting as subjects of our experiences and shaping our physical condition. When we consult a doctor, we also turn into the object of diagnostic and therapeutic procedures. Thus, the disease and the experience of illness become existential experiences of the embodied self, of our temporality, and of the threats to self-determination and autonomy. Objectification, by ourselves and by others, carries the risk of estrangement of one’s self, and of becoming impersonal targets of medical practice. The physician’s function, in encounters with the patient, is to understand, through empathy, the patient’s concerns, and contribute to medically appropriate treatment. In the terminal phase, »encounter and function« turn into accompaniment and support. The book is grounded in the author’s nearly forty years of interacting with patients as a doctor of internal medicine: from the initial encounter and physical examination, to reflections on the language of the patient, to truth and truthfulness at bedside, up until palliative care and support during serious illness and the final phases of life.
The Author: Klaus Gahl (born in 1937) received his MD in 1966; habilitation in internal medicine in 1974. He served as medical resident and senior clinician at Hanover Medical School (in Hanover, Germany) until 1982, before being appointed Chief Physician (Professor of Cardiology) at Municipal Hospital of Braunschweig (Germany), where he served until 2002. He has published papers on internal medicine (mainly on endocarditis), medical ethics, and medical anthropology.
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Klaus Gahl Begegnung und Verantwortung Beiträge zu einer ärztlichen Menschenkunde Schmerz, Krankheit, Leiden und die Gewissheit, sterben zu müssen, gehören zu den Grunderfahrungen des Menschen. Ihnen kann er nicht entfliehen. Es sind Grenzerfahrungen leiblicher und seelischer Anfälligkeit, die zu einer veränderten Selbstwahrnehmung führen. Der Betroffene wird sich selbst zum Objekt seines gestörten Befindens, das er zugleich als Subjekt, als Person erlebt und überwiegend unbewusst gestaltet, bis in die »Leibgestalt« seines Krankseins. Indem der Kranke sich an einen Arzt wendet, wird er auch für den Untersucher zum Objekt von Diagnostik und Therapie. So werden Kranksein und Krankheit zu existenziellen Erfahrungen der eigenen Leiblichkeit und Zeitlichkeit, der bedrohten Selbstbestimmungsfähigkeit und Autonomie. Selbst- und Fremd-Objektivierung bringen die Gefahr der Selbst-Entfremdung zu einem unpersönlichen Gegenstand der Medizin mit sich. Die Begegnung des Arztes mit dem Patienten soll der empathisch zu erfassenden Sorge des Kranken gerecht werden und zu einer sachlich notwendigen, medizinisch angemessenen Behandlung beitragen. In der Sterbephase werden »Begegnung und Funktion« zu menschlicher Begleitung. Das Buch entspringt der fast 40-jährigen Erfahrung des Autors als Internist im Umgang mit Kranken: von der Erstbegegnung und der unmittelbaren Krankenuntersuchung, zum Nachdenken der Sprache des Kranken, zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit am Krankenbett bis zur palliativmedizinischen Betreuung und der Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen in ihrer letzten Lebensphase.
Der Autor: Klaus Gahl, Prof. Dr. med., geb. 1937. Nach der Promotion 1966 und der Habilitation 1974 Oberarzt an der Medizinischen Hochschule Hannover und von 1982 bis 2002 Chefarzt der Medizinischen Klinik 2 im Städtischen Klinikum Braunschweig. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Medizinethik und zur Medizinischen Anthropologie.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49017-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82096-4
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Für Hilde in großer Dankbarkeit
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Inhalt
Vorwort
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verantwortung und Vertrauen in der Beziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Krankheit als Sprache – über Herzschmerzen
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61
Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes
72
Futurische Krankheit
94
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Sprache, Leib und Körper des Kranken
. . . . . . . . . . . . 101
Vom ärztlichen Handeln zum Blick auf den Menschen . . . . . .
120
Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken . . . . . . . .
148
Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
. . . . . . . 160
Schmerz als Grenzerfahrung – Beitrag zu einer Anthropologie aus dem Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176
Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln – eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Palliativmedizin – ein neues Paradigma der Medizin . . . . . . .
212
Wie wollen wir sterben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
234
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
252
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . .
261
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Vorwort
Wohl kaum ein Beruf führt prinzipiell so an die Grenzen menschlicher Existenz wie der des Arztes. Ist doch jede von ihm zu behandelnde Krankheit, jedes erlebte Kranksein ein möglicher Anstoß für den Kranken und für den betreuenden Arzt 1, sich der grundlegenden Anfälligkeit, der Verletzbarkeit, ja unserer Sterblichkeit bewusst zu werden. So rührt das Erkranken stets an die Frage, was der Mensch ist. Jede Krankheit ist »ein kleiner Tod«, jede körperliche »Unpässlichkeit« eine Unruhe, jede Verletzung eine Zellzerstörung. Auch da, wo sich der Erkrankte nicht unmittelbar vom Tode bedroht sieht, ist er in seinem physischen und psycho-sozialen Selbst betroffen. Dieser konstitutiven Unsicherheit zu begegnen, dient die Medizin, dient der Arzt. Welches Bild vom Menschen und von seiner stets möglichen Gefährdung hat er aber und auf welches Ziel hin behandelt er die sich ihm anvertrauenden Kranken? Die hier vorgelegten Vorträge und Aufsätze aus drei Jahrzehnten ärztlicher Tätigkeit als Internist sind Beiträge zu einem ärztlichen Menschenbild, das aus der Betreuung kranker Menschen erwachsen ist. Es sind je für gegebene Anlässe verfasste Einzelarbeiten, die hier durch kurze Zwischentexte verbunden sind zu »Kapiteln« eines nachträglich zusammengestellten Buches. Es sind Annäherungen an ein praktisch und theoretisch vielfältiges, facettenreiches Thema, an das alltägliche »Gegenüber« ärztlichen Handelns: an den kranken oder um seine Gesundheit besorgten Menschen, Annäherungen also an ein Objekt, das selbst ein Subjekt ist und sich als solches fühlen will. Dies dem Kranken zu ermöglichen, gehört zu den wichtigen Aufgaben des Arztes. Die Überlegungen schließen sich an die von Viktor von Weizsäcker inaugurierte Anthropologische Medizin, seinem Anliegen an, Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum, der Arzt, der Patient, der Kranke etc., verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint.
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Vowort
den kranken Menschen als Person in seinem Kranksein zu sehen. Oft hat das phänomenologische Interesse Pate gestanden – so bei den Gedanken zur Leiblichkeit, der Zeitlichkeit und anderen menschlichen Konstitutiva, die für den Umgang des Arztes mit dem Kranken und für das ärztliche Verhalten von Bedeutung sind. Die beiden ersten Beiträge betreffen die grundlegende Beziehung zwischen dem um seine Gesundheit besorgten Menschen und dem zu fachlicher und menschlicher Hilfe für den Kranken bereiten Arzt. Diese Beziehung ist eine gleichermaßen von Empathie und Verantwortungsbewusstsein wie von funktioneller Kompetenz getragene Zuwendung. Sie folgt einer »sachlichen und personalen Entsprechung«. – Mit den Beiträgen »Sprache, Leib und Körper« und der »Krankheit als Sprache« werden Äußerungsweisen des biographischen und situativen Selbstverständnisses des Kranken wahrnehmbar, sofern sich der Arzt und der Kranke selbst für diese mögliche Bedeutungshaftigkeit des Krankseins öffnen. – Was können wir als Ärzte und was kann der Kranke über unsere bzw. seine leiblich-seelische Konstitution erfahren in der Ermittlung der Kranken- und Krankheitsgeschichte, der unmittelbaren Untersuchung und seiner Behandlung? Es geht auch um die selbst im Kranksein autonome, unverfügbare Person und den wahrhaftigen Umgang mit ihr, der ein allein sachlich richtiges, wissenschaftliches Verständnis der ihn betreffenden Verunsicherung nicht angemessen ist. – Lässt uns der Schmerz unser Dasein zum Tode und zum Leben spüren, so stellt er uns vielleicht auch vor die Frage, wie wir sterben wollen. Damit ist der das Buch durchziehende rote Faden skizziert: von der ersten Begegnung und der übernommenen Verantwortung über das mögliche Memento im Kranksein hin bis zu unserem Umfangensein »mitten im Leben« von der Möglichkeit des Todes. Den Freundinnen und Freunden, die mich ermutigt haben, diese über einen langen Zeitraum geschriebenen Beiträge zu einem Buch zusammenzustellen, sei herzlich gedankt. Es bedurfte wiederholter, drängender Anstöße, das Buch fertigzustellen. Möge das Buch seinen Lesern wie dem Autor Anregungen geben zu einer menschlichen Medizin in der »doppelten, der sachlichen und der personalen Entsprechung« ärztlichen Handelns für den kranken Menschen.
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Zu den existenziellen Grunderfahrungen des Menschen gehört die Möglichkeit, zu erkranken, ja auf den Tod hin krank werden zu können und sterben zu müssen. Vielfältige Ursachen oder Bedingungen können unsere leibliche und seelische Existenz bedrohen. Der Mensch kann aber – anders als das Tier – zu dieser fundamentalen Anfälligkeit ein Verhältnis gewinnen, ihr und seinem gefährdeten Leben einen Sinn geben. Es ist ein Verhältnis von Freiheit und biologischer, biographischer und sozialer Gegebenheit. Auch sind dem Menschen Mittel und Wege gegeben, die gestörte Befindlichkeit zu lindern und meist auch zu überwinden. Dem dient ein komplex institutionalisiertes System: das sog. Gesundheitswesen, das die Infrastruktur bereitstellt, um Krankheiten zu diagnostizieren, zu behandeln, zu heilen, Symptome zu mildern und – wo eine Heilung nicht möglich ist – Leidenslinderung und ggf. eine angemessene Sterbebegleitung zu gewährleisten. Trotzdem können wir der anthropologisch konstitutiven Unsicherheit nur bedingt begegnen und begrenzt ausweichen. Zu einem angemessenen Umgang mit der Verletzbarkeit unserer leiblichen, psychophysischen Existenz können aber – so die grundlegende These dieses Buches – Ansätze einer anthropologischen Medizin beitragen, die bereits in den 1920er Jahren im Zuge einer allgemeinen Krise der Medizin die dominierende Bedeutung der Naturwissenschaften für die Medizin in Frage gestellt hat. Der seinerzeit geltenden Forderung des Internisten Bernhard Naunyn (1839–1925), Medizin müsse Naturwissenschaft sein, 1 begegneten Ludolf von Krehl (1861–1937) und seine Schüler Viktor von Weizsäcker (1886–1957) und Richard Sie-
Naunyn, Bernhard (1905), S. 349: »Für mich ist es kein Zweifel, dass das Wort: ›Die Medizin wird eine Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein‹ auch für die Therapie gelten muss und gilt. Die Heilkunde wird eine Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein! Mir ist es sonnenklar, dass da, wo die Wissenschaft aufhört, nicht die Kunst anfängt, sondern rohe Empirie und das Handwerk.«
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
beck (1883–1965) mit der »personalen« bzw. »anthropologischen Medizin« und der »Einführung des Subjektes in die Krankheitslehre«. Damit sollte auch der psychosoziale und geistige Bereich von Krankheit und Kranksein berücksichtigt werden. Diese Bemühungen um eine »neue Medizin« wurden in den Jahren des Nationalsozialismus weitgehend erstickt. Nach der Erfahrung der Unmenschlichkeit der Medizin der NS-Zeit begann man sich wieder für die bio-psychosoziale Konstitution des Menschen zu interessieren, und es setzte ein neuer Entwicklungsschub psychosomatischer Medizin ein. Inzwischen haben die rasanten Fortschritte der Molekularbiologie und der Genetik unser Krankheitsverständnis zwar enorm vertieft und die Möglichkeiten der Therapie erweitert – doch hat der mehr und mehr skotomisierte Blick auf die faszinierende Komplexität der biologischen Dimension von Krankheit zu einer Ausblendung der spezifisch menschlichen Seite erlebten Krankseins geführt. So kann oder muss man fragen, ob wir nicht mit der starken Dominanz der Naturwissenschaften gegenüber Geistes- und Sozialwissenschaften, Soziologie und Psychologie wieder eine ähnliche Krise der Medizin erleben wie vor etwa 100 Jahren. Hier ist dringend nach einem für das ärztliche Handeln relevanten Menschenbild zu fragen, das über den naturwissenschaftlich erfassbaren, erklärbaren Bereich von Krankheit hinausgeht und die persönliche, fundamental anthropologische Dimension des Krankseins berücksichtigt. Der Blick für das spezifisch Menschliche des Krankseins droht getrübt zu werden. Umso wichtiger ist die Rückbesinnung auf die grundlegende Beziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken. Sie zeigt eine »aus zwei Arten der Entsprechung gewobene Doppelstruktur […]: eine personale Entsprechung: Mensch in Not und Mensch als Helfer, und eine sachliche Entsprechung: Krankheit und Medizin« 2 – so Viktor von Weizsäcker in seinem Aufsatz »Der Arzt und der Kranke« (1926). Die genannte Doppelstruktur »personaler und sachlicher Entsprechung« – der durchgängige Hintergrund der hier vorgelegten Überlegungen – sollte auch heute noch das ärztliche Handeln mitprägen. Die heute übliche Benennung »Arzt-Patient-Beziehung« möchte ich zur »Arzt-Kranker-Beziehung« verändern. Mit dieser kleinen sprachlichen Abwandlung schon rückt der kranke Mensch ins Blickfeld. Mehr noch ist zu beachten, dass der Kranke oder der um seine 2
Weizsäcker, Viktor von (1926a): S. 13.
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Gesundheit besorgte Mensch derjenige ist, der den Anlass zu der Beziehung gibt. Es ist die kranke Person, von der wir zunächst nicht wissen, wer sie ist und warum sie einen Arzt aufsucht. Das eine aber wissen wir: Er ist Person. Die gilt es zu achten. So wird im Folgenden häufiger von der Kranker-Arzt-Beziehung gesprochen. Damit soll nicht die konstitutive Asymmetrie zwischen dem Arzt und dem Kranken geleugnet werden. Es gilt vielmehr, das Bewusstsein der personalen Gleichheit beider auch in der Sprache präsent zu halten.
A) Die asymmetrische Beziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken Die Beziehung eines Kranken zu einem Arzt – sei es in der ärztlichen Praxis oder einem Krankenhaus – ist durchgehend asymmetrisch. Sie wird ungleich bleiben trotz des starken historischen Wandels von einem praktizierten paternalistischen zu einem eher partnerschaftlichen Verhältnis. 3 Gemäß dem Bild des pater familias hat lange Zeit der Arzt allein die Gesprächsführung und die diagnostischen oder therapeutischen Handlungsentscheidungen für den Kranken bestimmt. Der Kranke hatte den ärztlichen Rat zu befolgen und sich den Anordnungen weitgehend bedingungslos zu unterwerfen. Erst seit der Mitte des letzten Jahrhunderts wurde das paternalistisch-direktive Verhältnis allmählich verlassen. Die anti-autoritäre Entwicklung in der Gesellschaft hat auch im ärztlichen Berufsfeld zum Abbau von Herrschaftsstrukturen geführt. So ist das paternalistische Verhältnis zu einem »fürsorglichen Paternalismus« gemildert und mehr und mehr einem eher partnerschaftlich-deliberativen gewichen. 4 Wünsche, Präferenzen oder auch von der naturwissenschaftlichen (»Schul-«)Medizin abweichende, sog. alternative Behandlungsmethoden können heute zwischen dem Arzt und dem Kranken »ausgehandelt« werden. Der Kranke wird zur Mitverantwortung in die partizipative Entscheidungsfindung bezüglich des Procedere einbezogen. Wiederherstellung und Erhaltung der Gesundheit werden zur gemeinsamen Aufgabe beider Partner. Dieses Partnerschaftsmodell gewinnt heute mehr und mehr Züge eines Konsumenten- oder Vertragsmodells von Kunde und 3 4
Wittern-Sterzel, Renate (2015); Wolf-Braun, Barbara (2010). Krones, Tanja & Richter, Gerd (2008). – Klemperer, David (2006).
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Dienstleister. 5 Es basiert auf vertraglich abgesicherten Vereinbarungen der Vertragspartner. Wo es sich auf die unmittelbare ärztliche Behandlung des Patienten i. w. S. ausweitet, droht die Beziehung in eine ökonomisch und arbeitsrechtlich geregelte, berechenbare Dienstleistungsmedizin zu geraten. Außerhalb dieser nur angedeuteten historischen Entwicklung der Arzt-Kranker-Beziehung möchte ich hier – weitgehend bestimmend auch für die folgenden Kapitel, ja mehr oder weniger für das ganze Buch – ein weiteres Beziehungsmodell zwischen dem Arzt und dem kranken Menschen skizzieren: Nennen wir es – um einen Begriff zu haben – eine anthropologische Beziehung. Auch hier gelten vertraglicher Rechtsschutz, Aufklärungsanspruch und -pflicht als rechtliche Grundlagen, gelten Sachkompetenz und Erfahrung als Voraussetzung ärztlichen Handelns, des Vertrauens und der Verantwortung als personaler Zuwendung. Auch sind beide Partner eingebunden in die Versorgungs- und Organisationsstrukturen institutionalisierter Medizin von der Praxis des niedergelassenen Arztes bis zu der hochtechnisierten Medizin von Universitäts- oder Spezialkliniken. Die anthropologische Beziehung will jedoch die wechselseitige Achtung und den ärztlichen Blick stärker auf die lebensgeschichtliche Bedeutung des Krankseins, auf die Biographie und die aktuelle psycho-soziale Situation, auf die Person des Kranken richten. Auch gelten konstitutive Kennzeichen des Menschlichen wie die Leiblichkeit, Subjekthaftigkeit, Zeitlichkeit und Endlichkeit als für das Kranksein relevant. Die Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz wie die menschliche Anfälligkeit und Ungesichertheit sind dem Arzt und der kranken Person in dieser Form der Beziehung grundlegend. Die skizzierten Formen der Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt sind nicht scharf voneinander abgrenzbar. Sie haben in jeder Behandlungssituation je ihre partielle Berechtigung und verlangen kommunikative Beurteilungs-, Entscheidungs- und Handlungskompetenz und die dem Kranken angemessene Haltung. Sie sind aber nicht allein handlungspraktisch kritisch zu reflektieren. Wichtig ist, dass sie unterschiedliche Konzepte von Krankheit und vom kranken Menschen implizieren, die beachtet werden müssen. So positiv in vielen Aspekten der Wandel der Arzt-Patient-Beziehung zu sehen ist, so darf ihr konstitutiv asymmetrischer Charakter nicht übersehen werden. Es ist der Kranke, der des medizinischen 5
Krones, Tanja & Richter, Gerd (2008).
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Rates bedarf, der in seiner Lebensqualität beeinträchtigt, von Sorge und Angst, von Leid und existenzieller Bedrohung betroffen ist – nicht der Arzt. Es ist der Kranke, der von der Zuwendung, der (mindestens) sachlichen Hilfsbereitschaft und Kompetenz des Gegenübers abhängig ist – nicht der Arzt. Kurz: Es ist der Patient, der leidet, er ist der Hilfsbedürftige. Jedoch ist auch umgekehrt der Arzt in seinen Handlungsmöglichkeiten durch eigene Vorurteile, Hemmnisse sowie innere und äußere Bedingungen (z. B. Ressourcen i. w. S.) und durch die Haltung und Mitarbeit des Kranken begrenzt. Die verschiedenen Formen der Beziehung implizieren zudem unterschiedliche Bilder vom Kranken. Ist es im paternalistischen Verhältnis der zum Gehorsam verpflichtete, unwissende, unmündige Patient, dem ein Selbstbestimmungsrecht nur im juristisch geforderten Rahmen der Einverständniserklärung zu (diagnostischen und therapeutischen) Maßnahmen zugestanden wird, so wird der Kranke in partnerschaftlich-deliberativen Modellen als autonome Person zur selbständigen Mitsprache in Entscheidungsprozesse einbezogen. Im Konsumenten- oder Kundenmodell bestimmt der Kranke, »wo es langgeht«. Das anthropologische Modell sieht das Kranksein als eine »Weise des Menschseins« in einer biographischen Krisensituation, in der der Arzt Helfer, d. h. vielleicht auch »Ermöglicher« von Gesundung sein kann. 6 Zu berücksichtigen ist auch der dramatische »Strukturwandel der Medizin« als Institution für ambulante und stationäre Krankenversorgung, der den Wandel der Arzt-Patient-Beziehung begleitet. Technisierung und Verwissenschaftlichung, Bürokratisierung und Ökonomisierung, Juridifizierung 7 und Medikalisierung vieler normaler biologischer Prozesse haben zu einer erheblichen Veränderung des Selbstverständnisses des Arztes geführt. Dieser Wandel beeinflusst auch dessen Beziehung zum und sein Handeln für den Kranken erheblich. Durch die Juridifizierung mit den immer mehr ausgeweiteten Patienten- und Arztrechten werden zwar – z. T. sehr zu begrüßen – beide Seiten rechtlich geschützt. Die Verrechtlichung kann aber die unmittelbare Arzt-Patient-Beziehung gefährden. Partnerschaftliche Entscheidungsfindung verlagert die ehemals ausschließliche Verantwortung für medizinische Maßnahmen vom Arzt mehr auf die Schultern beider Partner. Sie verlangt die vollumfäng6 7
Weizsäcker, Viktor von (1927): S. 192. Wieland, Wolfgang (1986).
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
liche Aufklärung über Aussichten, Risiken und Alternativen zu den gewählten Vorgehensweisen. Die Medikalisierung (z. B. des normalen Alterns, der Hypermotilität von Kindern), die Verwissenschaftlichung und Technisierung fördern die reduktionistische Skotomisierung auf messbare und apparativ fassbare Aspekte von Krankheit. Die Ökonomisierung einschließlich Rationalisierung und Rationierung wie arbeitszeit-regulative, personelle und organisatorische Restriktionen lassen für die menschlichen, pflegenden und ärztlichen Tätigkeiten immer weniger Zeit und Freiraum. Diese grobe Skizze einiger Facetten des Wandels der Beziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken sowie des Strukturwandels der Versorgungsmedizin mögen für eine Kennzeichnung des Umfeldes medizinischen, ärztlichen Handelns genügen. Angesichts solcher Entwicklung müssen wir aber fragen, wie wir der doppelten Entsprechung, vor allem der personalen Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt gerecht werden. Es ist ja die medizinisch-sachliche und die personale Korrespondenz, also die »doppelte Entsprechung«, der tragende Grund der Hilfeleistung. Im Folgenden will ich mich dem Prozess der ärztlichen Behandlung, genauer: der unmittelbaren Patientenuntersuchung widmen vor dem Hintergrund des anthropologischen Beziehungsmodells. Um die bisherigen Überlegungen zu veranschaulichen, sei hier die Geschichte der 48j. Frau U. N. eingefügt, die uns mehr oder weniger durch dieses ganze Kapitel hindurch begleiten und manch allzu theoretisch oder auch spekulativ Erscheinendes konkretisieren wird. U. N. ist verheiratet, Mutter eines jetzt 27j. Sohnes (Lehrer) und einer 19j. Tochter (eben Abitur). Ihr Ehemann, 54 Jr., (BWL) ist im mittleren Managementbereich einer großen Produktionsfirma beschäftigt, häufig (auch im außereuropäischen Ausland) unterwegs. – U. N. stammt aus einer »gesunden Familie« ohne auffällige körperliche oder psychische Erkrankungen, keine allergischen oder genetisch disponierten Krankheiten bekannt. Einzelkind. – Normale körperliche und psychosoziale vorschulische Entwicklung. Zeitgerechte Einschulung, unauffällige Schulentwicklung. 11j. durch Sportunfall Unterarmfraktur, folgenlos ausgeheilt. Erste Regelblutung 13j. mit »normalen« pubertären Beschwerden und Periodenunregelmäßigkeiten. Erster Kontakt mit einem 14j. Freund; Antikonzeptiva über etwa 3 Jahre. Nach Trennung vom Freund etwa 1 Jahr ohne Geschlechtsverkehr. Im Studium »normale« Partnerschaft bis zum 25. Ljr. Dann Bekanntschaft und enge Bindung an den späteren Ehemann, Heirat 28j. in Erwartung des ersten Kindes. Komplikationsfreie Schwangerschaft und Spontangeburt. – »Ungestörte, aufs Praktische konzentrierte Ehejahre«
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
bis zum 36. Ljr., seitdem wachsende Spannungen, verstärkt durch die häufige Abwesenheit des Ehemannes und den Verdacht der Untreue. Erste offene Auseinandersetzung etwa mit 40 Jahren. Berufliche Entwicklung: normale Grundschulentwicklung und Eintritt in Sekundarstufe. Mit 16½ Jahren Streit mit den Eltern über geplanten Schulabbruch, letztlich aber normaler Schulabschluss 19j. mit der Absicht, Biologie und Erdkunde für das Lehramt zu studieren. Studium (nicht am Heimatort) mit »Klippen«, aber schließlich mit zeitgerechtem, befriedigendem Studienabschluss nach 3½ Jahren. Eintritt in den Schuldienst mit beiden Wahlfächern. Im Kollegium findet ein etwa 10 Jahre älterer verheirateter Mann Gefallen an der jüngeren, attraktiven Frau, die nicht ungerührt auf die ihr gezeigte Zuneigung reagiert; soweit sie darüber berichtet, bleibt es aber bei einer »platonischen Bekanntschaft«. – In der Studienzeit habe sie gerne getanzt, sie habe aber nie intensiver Sport getrieben, auch nicht während der Berufstätigkeit; sie wolle aber jetzt zu einer Gymnastik-Gruppe gehen. Das Tanzen habe sie wegen des Desinteresses ihres Mannes fast gänzlich aufgegeben bis auf wenige Gelegenheiten bei Schul- oder Betriebsveranstaltungen. Neben ihren beiden Schulfächern verfolge sie keine literarischen oder musischen Interessen systematisch (als Jugendliche habe sie kurze Zeit Klavier gespielt, aber keine Freude daran gefunden); sie lese nicht viel und nicht gezielt. Zur Krankengeschichte von Frau U. N.: An Kinderkrankheiten könne sie sich nicht erinnern, vielleicht habe sie Masern gehabt. Im Alter zwischen 12 und 14 habe sie wohl häufiger die Schule geschwänzt wegen »Bauchschmerzen«, »vielleicht war das die beginnende Periode«. Blinddarm-Operation 16j. – Anfang ihrer 20er Jahre wiederholte Bauchkrämpfe, aber keine Durchfälle bis zu einer ersten lang anhaltenden Episode von sehr heftigen Bauchschmerzen, nicht blutigen Durchfällen, (soweit sie sich erinnern könne) auch leichtem Fieber im Alter von 26; erster Kliniksaufenthalt wegen der »Darmentzündung«. Dann über Jahre weitgehende Beschwerdefreiheit bis zu erneutem Ausbruch mit 32; seitdem mit wechselnden Intervallen und Dauern Schübe mit heftigen Durchfällen, auch blutig, Bauchkrämpfen; mit 37 (soweit sie sich erinnern könne) erstmals mit Gelenkschmerzen und leichten -schwellungen. »Entzündungshemmende Medikamente« über Monate; allmähliche »Beruhigung« des Darmes über etwa drei Jahre bis zu erneuten Schüben mit diffusen Bauchschmerzen, teils blutigen Stühlen und wieder Gelenkbeschwerden. Leistungsminderung, Stimmungsschwankungen; trotzdem keine längeren Fehlzeiten in der Schule. »Entzündungsmedikamente« auch konsequent in relativ beschwerdefreien Wochen und Monaten eingenommen. – Erneute Klinikaufnahme im Alter von 48 Jahren wegen sehr arger Schmerzen, Durchfällen mit Blut, Fieber und Gelenkschmerzen. Untersuchungsbefund: 48j. grazile, attraktive Frau (164 cm/53,6 kg). Für den flüchtigen Blick unauffällige Mimik und Gestik; Haltung, Gang und grobe Bewegungen »normal«. Blässe von Haut und sichtbaren Schleim-
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
häuten. Keine Auffälligkeiten an Haut und tastbaren Lymphknoten. Kopf und Halsbereich ohne pathologischen Befund – Brustkorb symmetrisch, Lunge auskultatorisch normal. Herz: regelmäßiger Puls, vermutlich akzidentelles systolisches Geräusch. Blutdruck 120/78 mmHg. – Brüste seitengleich, mittelkräftig, links etwa haselnussgroßer derber Knoten; Brustwarzen ohne Befund – Bauch: leicht eingefallene Bauchdecken, keine auffälligen Vorwölbungen. Bei der Palpation diffuse Abwehrspannung, heftiger Druckschmerz, deswegen erschwerte Abtastung von Leber und Milz. Abnorme Resistenz im rechten Unterbauch. Darmgeräusche verstärkt. Nierenlager klopfschmerzfrei. Extremitäten ohne Auffälligkeiten.
B) Zur Struktur ärztlichen Handelns Ärztliches Handeln ist formal und inhaltlich handlungslogisch strukturiert. Der Weg wird durch das verbale oder nonverbale Hilfeersuchen eines Kranken, des medizinischen Rates oder Handelns Bedürftigen eingeleitet, worauf das Beschwerdebild ermittelt wird; die Erhebung der aktuellen Krankheitssituation und der Krankengeschichte führt zur Diagnostik bis zu einer behandlungsleitenden, -begründenden und -rechtfertigenden (Arbeits-)Diagnose, die die Therapie und die Prognose begründet – so im Groben der handlungslogische Gang. Davon zu unterscheiden ist eine innere Handlung: die nahezu instantan sich ereignende Folge von unmittelbarer Wahrnehmung – Beobachtung – Beurteilung – Handlung. Diese Schritte sind wohl didaktisch mehr oder weniger unterscheidbar und verlaufen sukzessive, im konkreten Vollzug sind sie oft aber nicht trennbar – besonders deutlich bei akuter Lebensbedrohung eines Kranken, wenn unter Umständen blitzartig die Situation erfasst, ihre mögliche Gefahr eingeschätzt und gehandelt werden muss. Diese »innere Handlung« birgt mögliche Fallstricke. Die persönliche und personale Dimension der Begegnung kann von dem funktional-sachlichen Selbstverständnis des Arztes »verschluckt« werden, sodass weder die Person als solche noch die Not des Hilfsbedürftigen wahrgenommen wird. Die Wahrnehmung mit unseren fünf Sinnen wie auch die empathische Wahrnehmung des Kranken kann getäuscht werden. In der Beobachtung kann die Spannung von Nähe und Distanz, von Zuwendung und Zurückhaltung nach beiden Seiten hin verletzt werden durch bloße (vielleicht wissenschaftliche) Neugier oder distanzierende Verdinglichung. In der Beurteilung kann 20 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
die rationale Reflexion des Wahrgenommenen infolge mangelnder Kenntnis und Erfahrung falsch ausfallen. Und schließlich kann auch die Umsetzung in Handlung im weitesten Sinne – dazu gehören auch Sprechen und Schweigen – auf Abwege führen. Von der äußeren und der inneren Handlungsstruktur ist des Weiteren die fundierende Sinn-Struktur ärztlichen Handelns zu unterscheiden. Sie wird eröffnet mit der Wahrnehmung der Not und Bedürftigkeit eines Menschen für medizinische, ärztliche Hilfe und des darin liegenden Appells an kompetente Hilfsbereitschaft. Not und Hilfe zu erkennen und bestmöglich zu lindern, ist der durchgängige Impetus des Handelns. Der Appell ist (mindestens) ein doppelter: die Not i. w. S. als solche zu sehen und für wahr zu nehmen sowie die Hilfe in möglichst kompetenter Weise zu gewähren. Nach der Begrüßung beginnt die im engeren Sinne medizinische Handlung meist mit einer Frage, einem wechselseitigen »Angebot«. 8 Die medizinisch-fachlich und pragmatisch indizierten Schritte des Handlungsprozesses einschließlich der Fragen und Antworten des Arztes und des Kranken bedürfen stets (potenziell) der Begründung und der Rechtfertigung. Die auch in dieser Handlungsstruktur institutionalisierte Medizin ist in solcher Selbst-Reflexion Handlungswissenschaft – geleitet von der Verpflichtung auf Begründbarkeit, Sachgemäßheit, methodische Stringenz und Strukturierung in einem Feld ursächlicher, ätio-pathogenetischer Krankheitslehre. Ihr Gegenstand ist der kranke Mensch und der ärztliche Umgang mit ihm. Über die sachliche Entsprechung hinaus bedarf auch die Kommunikation – ob nur fachlich-medizinisch oder empathisch-menschlich – der Reflexion unter praktischen und wertorientierten Gesichtspunkten. Mit der wechselseitigen Begrüßung treten Arzt und Kranker in eine soziale Rolle ein, in eine Funktion für den anderen. Der Arzt wird jetzt der Arzt für diesen Kranken, der Kranke vertraut sich in diesem Moment (der Möglichkeit nach) diesem Arzt an. Beide Partner übernehmen eine Sach- und Verantwortungsbeziehung sowie eine solidarisch anthropologische Beziehung. Sie sind zudem in weitere Sozialgefüge eingebunden: in die Funktions- und Organisationsgefüge (»Gesundheitssystem«), Sozialisationshorizonte (»scientific Es geht hier nicht allein um die Erst-Begegnung, wenngleich sie einen oft den weiteren Weg miteinander maßgeblich prägenden Einfluss hat. Die Wiederholungsbegegnungen haben aber im Grunde ähnliche Strukturen und bedürfen entsprechend der Achtung.
8
21 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
community«) und soziokulturelle Gemeinschaften (Familie, Beruf, Gesellschaft, Glaubensgemeinschaft u. a.), die auch das Arzt-PatientVerhältnis mitbestimmen. Die Konstituierung der Zweier-Beziehung, der Dyade – sie ist in dieser Einbindung nur vordergründig eine Zweier-Beziehung! –, sie ist nicht ein einmaliges Ereignis und dann stabil, sie ist stets labil, gefährdet durch der Asymmetrie inhärente und äußere Faktoren; sie erfordert die immer wieder erneuerte Aktualisierung. Bedenkt man die unvermeidliche Asymmetrie der Beziehung, so wird deutlich, welche grundsätzlichen ethischen Fragen sich in diesem sach- und person-bezogenen Verhältnis auftun. In der potenziell vulnerablen Situation geht es vor allem um die gegenseitige Achtung der Autonomie. Der Kranke ist auch in seiner Hilfsbedürftigkeit, seiner Unselbständigkeit, in aller Unterlegenheit autonome Person, die in keinem Moment fremdverfügbar ist für manipulatives Verhalten oder Entscheiden, für nicht ihm geltende Zwecke oder Zielsetzungen. Die Autonomie ist der Person eigen von der Geburt bis in den Tod, sie ist unabhängig von kognitiven oder emotionalen Fähigkeiten, von sozialen oder kulturellen Eigenheiten, unabhängig von aktuell oder permanent vielleicht nicht realisierbarer Selbstbestimmung. Diese ist ihm rechtsgeschützt, sie kann und muss u. U. tutorisch für ihn (durch Eltern, Vormund oder mit seinem mutmaßlichen Willen) übernommen werden. Immer ist es der Kranke, dessen Wohl und Willen (salus et voluntas aegroti!) zu achten ist. Schon sehr rasch begegnet der Arzt dem Kranken mit einem ärztlichen und zugleich medizinischen Blick. Dem Mediziner zeigen sich oft schnell mehr oder weniger spezifische Krankheitszeichen: Körperhaltung, Gestik, Mimik, Kräfte- und Ernährungszustand oder Hautveränderungen etc. Der medizinische Blick wird solche Krankheitszeichen aufnehmen und sie u. U. je nach Deutlichkeit zum Anstoß für erste diagnostische Überlegungen nehmen, auch mit der Gefahr der Fehldeutung oder der reduzierten Wahrnehmung, die die Beziehung programmiert. Der medizinische Blick kann mit der aktuellen Aufgabe des Arztes sich weiter einengen auf den spezialisierten, fachspezifischen Funktionsblick – einer zunehmenden Zentrierung entsprechend: ein möglicher Beginn eines Prozesses von konzeptionellem oder methodischem Reduktionismus. Der ärztliche Blick hingegen nimmt den Kranken in seinem Kranksein wahr, die konkrete Person in ihrem Leiden. Medizinischer und ärztlicher Blick sind komplementär zueinander: der ärztliche 22 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Blick stärker auf den leiblichen Ausdruck des Krankseins, der medizinische Blick auf die Erkennung und Behandlung bedrohter körperlicher oder psychischer Gesundheit. Beide Sehweisen bedürfen der Schärfung und der Reflexion ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und ihrer notwendigen Komplementarität durch den ganzen Handlungsgang hindurch. Der Kranke gerät schon in der Begrüßung in eine »Rolle«: aus der Selbstverständlichkeit des bis dahin selbstbestimmten Subjektes in die Situation des abhängigen Objektes, Objekt des Arztes, der Institution oder der Gesellschaft (z. B. mit der sog. Krankschreibung). Er bringt auch Erwartungen an den Arzt, an die Medizin, an die Gesundheitsversorgung mit. Der Arzt ist dem Erwartungsdruck des Kranken, der durch dessen Rechtsansprüche auf bestmögliche Behandlung mitgeprägt sein kann, ausgesetzt. Informationsvorenthaltung, Irreführung, Compliance-Verletzung, sachliches oder persönliches Misstrauen oder konkurrierende Arztkonsultationen sind mögliche Mittel von »Machtausübung« des Kranken über den Arzt. Die Beobachtung von Praktiken und Verhaltensweisen von Ärzten und Pflegenden in der Sprechstunde oder in der Klinik zeigt aber oft die Verdinglichung des Kranken (zur Nummer oder zur Diagnose), die häufig oktroyierte Regression, seine Entmündigung, seine Einordnung in Funktionsabläufe des medizinischen Betriebes. Hier ist empathische Wachsamkeit des Arztes und der i. w. S. Behandelnden geboten. Nach diesen Skizzen der Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt soll im Folgenden von der Sinnstruktur ärztlichen Handelns die Rede sein.
C) »Zur Sinnstruktur der ärztlichen Handlung« nach Viktor Emil von Gebsattel Ausgehend von dem Appell der Not oder der Rat- oder Hilfsbedürftigkeit beschreibt der Psychiater Viktor Emil von Gebsattel (1883– 1976) drei Stufen der Sinnstruktur: 9 a) Die Stufe der Wahrnehmung von Not i. w. S. als Unmittelbarkeitsstufe des Verhältnisses oder »elementar-sympathetische
9
Gebsattel, Viktor Emil von (1954b): S. 371.
23 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Sinnstufe des Angerufenseins durch die Not eines Begegnenden«; die Stufe der Ent- oder Verfremdung, Versachlichung, Objektivierung als »diagnostisch-therapeutische Sinnstufe«, die »Entfremdungsstufe des Verhältnisses«; die Stufe der Partnerschaft von Arzt und Krankem als »die personale Stufe des Verhältnisses«, die Stufe der Re-Integration in das körperliche, leibliche, soziale und biographische Selbstvertrauen, in das Selbstgefühl des Kranken und in seine Gemeinschaft.
b)
c)
Zu beachten ist die Dynamik dieser Stufen wie auch ihre sachliche, funktionsvariable Zeitfolge. Der Helfer ist auf diesen Stufen der Mitmensch, der Sachverständige und der personale Partner. »Auf jeder dieser Stufen […] ist das Verhalten des Arztes einer besonderen Gefahr ausgesetzt: auf der Sinnstufe der unmittelbaren Teilhaberschaft der Täuschung, auf der Stufe der technischen Notbekämpfung [der i. e. S. medizinischen Hilfe; K. G.] dem Irrtum und auf der der Partnerschaft der Schuld.« 10 Konkret kann das heißen: Ablenkung, Ausblendung, Gegenübertragung bzw. nicht begründbare diagnostische oder therapeutische Fehlhandlung bzw. Ignoranz gegenüber der personalen Dimension des Kranken und seines Krankseins. Die Gefahr der Verfehlung ist aber wechselseitig, da auch der Kranke absichtlich oder unabsichtlich täuschen, irreführen oder verweigern kann. Auf der Entfremdungsstufe ist er der Gefahr der Selbst-Entfremdung ausgesetzt, indem er sich selbst nur als Objekt, das der Reparatur bedarf, sieht und nur so verstanden werden will. Auf der personalen Stufe kann die Schuld des Kranken in der Selbstverweigerung, der Verweigerung, gesund werden zu wollen, oder der Verweigerung der eigenen Verantwortung liegen. Der Arzt kann die personale Sinnstufe verfehlen, indem er nur die Reparatur eines Defektes oder die Normalisierung der Funktionstüchtigkeit inkl. Wiederverwendbarkeit des Kranken im Arbeitsprozess im Auge hat. Ein Blick auf unsere Patientin U. N.: Wird in der Schilderung der »Krankengeschichte« (sog. KG) die »Unmittelbarkeitsstufe oder die elementar-sympathetische Sinnstufe des Angerufenseins durch die Not« von Frau U. N. deutlich? Überspringt sie nicht die »unmittelbare Wahrnehmung«? – Welche mögliche Bedeutung hat die langjährige, in zeitweilig quälenden 10
Ebd., S. 372.
24 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Schüben verlaufende Krankheit für die Biographie von U. N.? Vielleicht auch für ihre eheliche Beziehung? Wird die »personale Stufe« der Beziehung der Kranken zu ihrem Arzt, die Re-Integration in ihr leibliches, seelisches und soziales Selbstverhältnis überhaupt ins Auge gefasst? Wird ihre Zukunft angesprochen?
In Gebsattels »Sinnstruktur der ärztlichen Handlung« entspricht der Forderung der Objektivität in der Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt die Entfremdungsstufe mit ihrer Versachlichung und Objektivierung (diese im Sinne der Vergegenständlichung, der Korrektheit und Unabhängigkeit von beteiligten Personen inkl. Arzt und Patient). Ihr muss die integrierende »personale Stufe« der Partnerschaft von Arzt und Krankem folgen. 11
D) Zur anthropologischen Medizin Viktor von Weizsäckers Im Folgenden geht es mit Weizsäckers Darstellung der »doppelten Entsprechung« der fachlichen und personalen Ebene um die durchgängige Struktur der Beziehung. Es sei betont, dass beide Ebenen – analog dem vorne beschriebenen medizinischen und ärztlichen Blick – für eine angemessene Hilfeleistung für den Kranken gleichgewichtig und komplementär sind.
a)
Die Kranker-Arzt-Beziehung als doppelte Entsprechung
Die Überlegungen gehen aus von der »Doppelstruktur […] personale[r] Entsprechung: Mensch in Not und Mensch als Helfer, und eine[r] sachliche[n] Entsprechung: Krankheit und Medizin.« 12 Der kranke Mensch ist für Weizäcker das »Urphänomen einer medizinischen Anthropologie und […] Hauptgegenstand ihres Wissens« 13. Mit ihm eröffnen sich zwei komplementäre Orientierungslinien des Handelns: eine vom »wirklichen Wesen des Krankseins [als] eine Not« zum Arzt als Helfer – das ist die personale Entsprechung. Die
11 12 13
Ebd., S. 371. Weizsäcker, Viktor von (1926a): S. 13. Ebd., S. 13.
25 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
andere, die Linie der sachlichen Entsprechung läuft von der Krankheit zur Medizin. Sie ist die vom Kranken erwartete medizinische Hilfe. Sie ist der Hintergrund der so vielfältig funktionsteilig fragmentierten Arzt-Patient-Beziehung. 14 Die doppelte Entsprechung verweist auf die Ungleichheit der beiden Partner und setzt zugleich einen appellativen Charakter der Not als Anspruch an den Arzt als Helfer. In der Wahrnehmung des Anrufs wird instantan eine Gegenseitigkeit deutlich, indem der Kranke und der Arzt aufeinander bezogen sind: als Mensch in Not und Mensch als Helfer. Dem Arzt obliegt die erforderliche Wissens-, Erfahrungs- und Handlungskompetenz innerhalb der verfügbaren technischen und organisatorischen Bedingungen. Darüber hinaus bedarf es seiner Einfühlung, Sensibilität und der kommunikativen Kompetenz, dem Kranken oder dem Ratsuchenden angemessen zu begegnen in dialektischer Nähe und Distanz, im Verstehen und Handeln. Die sachliche und die personale Entsprechung sind komplementär. Die Doppelstruktur ist faktisch-deskriptiv und zugleich ein normatives Desiderat: Die personale Entsprechung ist zu achten! Doch was ist mit dem Personalen (im Unterschied zum Persönlichen) gemeint? Was bedeutet für Weizsäcker in diesem Kontext Person? Es geht um die Achtung des kranken Gegenübers als Person. Person meint hier einen Jemand, nicht ein Etwas, das krank ist. Dieser Jemand ist als Einzelner durch eine Kommunikations-, eine Personengemeinschaft »individuiert«; er ist darin zu unterscheiden, aber nicht geschieden von seiner »körperlich-psychischen Natur«. 15 »[… M]it Recht wird im Personbegriff der Wortsinn des per-sonare als wesentlich erkannt. Das Durchtönen, Sprechen, Sich-ausdrücken, das Metaphersein, das Durch-etwas-sein, Etwas-empfinden, Sich-verwandeln ist als Wesentliches […]« 16
zu sehen. Das primär an eine Person gerichtete Hilfeersuchen wird in der funktionsteiligen Medizin heutzutage meist von mehreren Personen beantwortet: von Funktionsärzten, Labormedizinern, Physiotherapeuten u. a. Auch ist in Kliniken und Krankenhäusern, zunehmend auch in Arztpraxen oder Medizinischen Versorgungszentren mit mehreren Ärzten durch die arbeitszeitlich geregelte Tätigkeit der Ärzte die Patientenversorgung weiter aufgeteilt. Das bedingt oft eine Delegation und Fragmentierung der Verantwortung und einen Verlust des zusammenfassenden Blickes auf den Kranken. Er ist es aber, um den es geht. 15 Fischer, Johannes (2008): S. 202. 16 Weizsäcker, Viktor von (1926b): S. 169. Der von Weizsäcker angenommenen Ety14
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Der Begriff des Personalen trägt den Charakter von etwas Durchtönendem, naturwissenschaftlich nicht Erfassbarem und doch in der Beziehung von Arzt und Krankem unmittelbar Wirklichem. Diese genuine Relationalität – auf anderer Ebene als die funktionellsachbezogene Entsprechung – ist wichtiges Kriterium der Personalität. Sie ist der Kern der Beziehung. Sie unterscheidet Personalität und Person von Individualität und Individuum, die beide Eigentümliches an Merkmalen und (auch biographischen) Erfahrungen eines Menschen bezeichnen. Die Person ist darüber hinaus definiert durch ihre syn- und diachrone Identität, ihre potenzielle Reflexivität und Relationalität zu anderen Personen, zur Mitwelt und Umwelt, zur Transzendenz. Es sind also ihr wesentliches Bezogensein auf ein Gegenüber, ihre Unvertretbarkeit und die konstitutive Wir-Beziehung in der Verbundenheit mit Mitmenschen, die die Person ausmachen. Weizsäcker verknüpft individuelle Personalität mit »einem Gesetz der Bipersonalität oder Zweisamkeit. Darunter verstehe ich die irreduzible Zweiseitigkeit der sittlichen Wirkung, derzufolge sie nur als Verhältnis zweier Personen überhaupt der Wirklichkeit angehören kann [… ; das] Sittengesetz [ist] die entscheidende und allein wirkliche Bedingung der Personalität.« 17
Die Bipersonalität hat eine Innen- und eine Außenperspektive. Sie umfasst beide Personen, die sich selbst zugleich Subjekt und Objekt und dem Gegenüber Objekt sind, das selbst ein Subjekt ist. In gemeinsamer Aufgabe, zielgerichteter Intention oder im leidenschaftlichen emotionalen oder intensiven geistigen Zusammensein wird aber die Vereinzelung in bipersonaler Gemeinschaft aufgehoben. In »exzentrischer Positionalität« 18 sind darüber hinaus beide Personen je für sich und je auf das Gegenüber bezogen quasi bipersonal. Indem sich der Arzt selbstreflexiv als Arzt für den Kranken versteht, ist er selbst in doppelter Funktion: Mensch als Helfer und Sachwalter der Medizin. Der Kranke seinerseits ist unmittelbar Notleidender und selbstentfremdend Objekt der Behandlung. Die bipersonale Struktur
mologie wird heute nicht generell gefolgt; s. Stichwort »Person« in Joachim Ritter & Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel (1989): Schwabe & Co. AG; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bd. 7, Spalte 269 ff. 17 Weizsäcker, Viktor von (1926d): S. 71 ff. 18 Plessner, Helmuth (1928): S. 360 ff.
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
reicht von der leiblichen in die geistige Ebene des Umgangs miteinander. 19 Das Modell der Bipersonalität kann auch mutatis mutandis für die sprachliche Interaktion stehen. Auch darin bildet sich ein Gestaltkreis, ein Gemeinschaftskreis (s. u.). Wieder ein Blick auf Frau U. N.: Sie wird hier als attraktive, pflichtbewusste Frau geschildert, über deren Interessen wir wenig erfahren; auch ihre Ehe bleibt weitgehend ausgeblendet. – Ihren langjährig betreuenden Gastro-Enterologen beschreibt sie als einfühlsam, verständnisvoll, berichtet aber nicht davon, ob er jemals über die seelische Belastung seiner Patientin durch die Krankheit gesprochen hat: über deren Selbstdeutung, ihr Selbstverhältnis als Frau, Mutter, Lehrerin, als Sozialpartnerin, als Liebende oder auf ihre Zukunft orientierte Person. Hat sie sich selbst jemals solche Fragen gestellt: Warum gerade ich? Warum mit einer solchen Krankheit, deren weiterer Verlauf nicht vorherzusagen ist? Wie kann sie für sich selbst damit fertigwerden? Wie auch für ihren Ehemann? Wie ist die berufliche Perspektive?
Zurück zur »doppelten Entsprechung«: Mit der Bitte um Hilfe wird vor einer inhaltlichen Konkretisierung dessen, worum es dem Kranken geht, die Grundkonstitution der doppelten Entsprechung initiiert. Nicht erst die sprachlichen Äußerungen setzen den Prozess des allmählichen gegenseitigen Verstehens in Gang. Hierin vollzieht sich – neben der notwendigen sachlich-reduktiven Verständigung – der für Weizsäcker nicht objektivierende Prozess des transjektiven Verstehens: »Jemand verstehen und Etwas verstehen [sind] zwei ganz unvergleichbare Fälle […] Das Subjekt ist das Ich des anderen, nicht meines, und das Objekt ist sein Objekt, nicht meines. […]. Weil mein Verstehen gleichsam in den anderen hinüberschlüpft, so wollen wir, um einen Terminus technicus zu besitzen, dieses Jemand-Verstehen ein transjektives nennen.« 20
Damit wird der Kranke, der Not Leidende aus einer möglicherweise einseitig medizinisch-wissenschaftlichen Sachbeziehung in die personale Mitmenschlichkeit befreit. Hier ist aber Behutsamkeit geboten. Ein »Hinüberschlüpfen« des Arztes in den Anderen ist nicht nur mit der Gefahr einer falschen Einfühlung, der (Gegen-)ÜberChristian, Paul (1949) hat die leibliche Dimension der Bipersonalität in seinen Untersuchungen zur »Zweier-Beziehung« am Modell zweier Holzsäger beschrieben: solidarisch auf das gemeinsame Arbeitsziel miteinander verbunden, stellen sich die beiden Partner in Anspannung und Entspannung intersubjektiv aufeinander ein. S. Christian, Paul & Haas, Renate (1949): S. 63 ff. 20 Weizsäcker, Viktor von (1926a): S. 20. 19
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
tragung inadäquater Gefühle und mit einer Verletzung der Intimität des Kranken verbunden. Ihm kann solche »Einfühlung« zu aufdringlich und seinem Leiden unangemessen sein. Der Arzt muss sich auch der Gefahr manipulativen Verhaltens von Machtausübung in solchem vermeintlichen Verstehen oder Nachfühlen bewusst sein. Die vorgenannten Kennzeichen der Personalität gelten von Beginn an für die Kranker-Arzt-Beziehung. Sie zu achten, erfüllt die personale Entsprechung der Doppelstruktur. Die sachliche ist Maxime für jedes medizinische Handeln für einen Kranken. Sie ist in der unauflöslichen Doppelstruktur gebunden, aus der weder die Sachlichkeit noch die Personalität zu isolieren ist. Das heißt auch, dass es dem Erfordernis des Kranken gemäß unabdingbar ist, ihn angemessen zu untersuchen und zu behandeln. Die Sachlichkeit ärztlichen Handelns steht unter dem Gebot der bestmöglichen (natur-)wissenschaftlichen Objektivität. Dem hält aber Weizsäcker entgegen, dass der Kranke in die Gefahr »[…] indifferente[r] Objektqualität [gerät], d. h. er ist Gegenstand einer Anwendung von Erkenntnissen naturwissenschaftlicher, psychologischer Art […], was diese Wissenschaft objektiv nennt. [… w]o der Arzt am Krankenbett […] zum [und] vom kranken Menschen [spricht, steigt er] aus der Sphäre der Wissenschaft in die der ›Praxis‹ […], [in den] Ort der Spannungen, der Notzustände […].« 21
Und er ergänzt: « […] die Gesinnung der Objektivität […] ist die Entfernung der Persönlichkeit selbst, bis zu dem Punkte, wo das reine ›es‹ der Sachlichkeit hervortritt, es ist der Geist der Gegenständlichkeit bis dahin, wo der Gegenstand geschichtslos und völlig entmenscht vor uns steht. Diese Gesinnung der Sachlichkeit und Objektivität bedeutet überall schlechthin Unterordnung persönlicher Bedürftigkeit und Interessiertheit unter den Gegenstand, es ist die Gesinnung einer ›reinen‹ Wissenschaft.« 22
Auch die Subjekt-Objekt-Ambiguität beider beteiligten Personen kann nach zwei Seiten hin verfehlt werden: in der Verletzung des personalen Gegenübers durch Versachlichung, durch Missachtung, Ignoranz oder durch eine ins Absurde getriebene Gegenseitigkeit, die die konstitutive Asymmetrie der Beziehung außer Acht lässt.
21 22
Ebd., S. 12 ff. Ders. (1923): S. 510.
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Von der personalen Ebene ist die intersubjektive Interaktion zu unterscheiden, gleichwohl nicht zu trennen. Die Gleichzeitigkeit, dieses Sowohl-als-Auch von Subjekt- und Objekt-Sein auf beiden Seiten ist konstitutiv für das Verhältnis. Sie wirkt sich auf das beiderseitige Selbstverständnis wie auf den informativen und praktischen Ertrag der dynamischen Beziehung aus: sowohl im Blick auf die Ermittlung des Beschwerdebildes und seiner Geschichte (historia passionis et aegroti et morbi) als auch auf die Diagnose, die Behandlung und die Genesung. Zu beachten ist, dass »das Krankhafte ein Subjekt, oder, noch vorsichtiger gesagt, eine Subjektivität enthält; dass das Krankhafte zwar als ein Objekt genommen sein will, aber als ein Objekt, das ein Subjekt enthält […].« 23
Welche praktische Bedeutung hat nun die »doppelte Entsprechung«? Die Sachlichkeit im Sinne (natur-)wissenschaftlicher Medizin ist – darüber dürfte kein Zweifel bestehen – auch heute eine sowohl theoretisch als auch praktisch verpflichtende Maxime ärztlichen Handelns. Dieses ist auf die Reflexion ihrer Begründung und Rechtfertigung, ihrer methodischen Angemessenheit und Stringenz verpflichtet. Das gilt auch heute – obgleich selten ausdrücklich bedacht. Zu fragen ist aber, wieweit die personale Entsprechung handlungsrelevant ist – so handlungsrelevant, dass Weizsäcker sie als zum »Urphänomen einer ärztlichen Anthropologie und [… zum] Hauptgegenstand ihres Wissens« gehörend betont. Dieses Wissen ist nicht allein ein wissenschaftliches Sachwissen, sondern auch ein praktisches, besonnenes, wertorientiertes Wissen. Das »Urphänomen« ist die mit der Personalität verbundene Bezogenheit der beiden Partner aufeinander, die nicht (nur) funktionell-sachliche Verbundenheit, sondern auch die Einzigkeit und Unvertretbarkeit der Person. Das tragende personale Fundament ist die gegenseitige Beziehung von Vertrauen und Verantwortung. Beide Partner sind durch die medizinisch-ärztliche Funktion bzw. durch die vom Kranken vordringlich erwartete fachlich-sachliche Kompetenz aufeinander verwiesen. Hinter der Sachbeziehung kann aber die personale Dimension leicht aus dem Blick verloren gehen. Das ist mit der zunehmenden Technisierung, den Sachzwängen und dem Erwartungsdruck seitens des Kranken sowie der Gesellschaft bzw. der diagnostisch und therapeutisch
23
Ders. (1956): S. 276.
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
unvermeidlichen Abhängigkeit des Arztes von der Technik und der Organisation seines Faches umso leichter der Fall.
b)
Die pathische Existenz des Menschen
Weizsäcker meint mit dem Pathischen 24 nicht das Pathologische der medizinischen Alltagssprache im Sinne abnormer Morphologie, Physiologie, Biochemie oder Funktion im Organismus oder einem einzelnen Organ. Vielmehr kennzeichnet es die menschliche Existenz in der offenen Schwebelage des Möglichen, aber (noch) nicht Verwirklichten. Weizsäcker fasst sie im »pathischen Pentagramm« 25 der fünf Modalitäten von Müssen, Sollen, Dürfen, Können und Wollen einschließlich ihrer möglichen Verschränkungen (z. B. nicht wollen zu können) zusammen. Sie weisen auf je Unerfülltes hin: das Müssen auf eine unerledigte Not-Wendigkeit, das Sollen auf ein moralisch Gebotenes, das Dürfen auf eine uns zugestandene Handlung, das Wollen auf einen nicht ausgelebten Antrieb und das Können auf eine nicht realisierte Befähigung. Dem »Pentagramm« offener Möglichkeiten unseres Tuns können wir uns nicht entziehen – ob gesund oder krank. Das Pathische stellt uns hinein in die Sittlichkeit unseres Handelns, wenn es um das verweigerte Wollen des Gebotenen, das Sollen oder um das Erleben oder Ausleben des nicht Gedurften geht. So ist es auch eine soziale Kategorie. Wer gebietet denn das Müssen: etwa die Notwendigkeit unseres Handelns? Wer gebietet das Sollen: welche sittliche Norm? Wer erlaubt das Dürfen? Wer fördert oder wer hemmt das Wollen? Und wer oder was ermöglicht schließlich das Können? Die Einbindung in und die Unentrinnbarkeit aus diesen fünf Modalitäten, dem »pathischen Pentagramm«, ist nicht statisch, sie ist dynamisch. Sie hängt von individuellen und sozialen Faktoren, von der je gegebenen Situation ab, stets aber getränkt von der Ambivalenz des Möglichen und Notwendigen. »[D]as Pathische [hat] immer einen persönlichen (subjektgebundenen) Charakter.« 26 Das Ontische hingegen meint das Gegebene, das (in unserem Kontext des Krankseins) mit der biologischen Konstitution, der gelebten Biographie und 24 25 26
Zum Begriff des Pathischen s. Achilles, Peter (2008): S. 129–195. Weizsäcker, Viktor von (1956): Kapitel »Die pathischen Kategorien«, S. 70–97. Ders. (1946a): S. 49.
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
der erfahrenen Sozialisation bestimmte Leben. Es ist bestimmt durch »Ist-Aussagen«, 27 denen nicht (mehr) das nur Möglich-Sein anhängt.
c)
Die »cyklomorphe Ordnung« der Begegnung von Arzt und Krankem 28
Weizsäcker hat die Begegnung des Arztes mit dem Kranken in verschiedenen Kreismodellen beschrieben, in denen beide Partner – mehr unbewusst als bewusst – miteinander agieren: in einem ständigen »Hin und Her« von Frage und Antwort, Rede und Gegenrede, von Information und Reaktion, von Geben und Nehmen. Es ist die zyklomorphe Ordnung von Gegenseitigkeit, Umgang, Solidarität und Gestaltkreis. Mit diesem teilweise synonym benannten »Vierklang« lässt sich die Interaktion von Krankem und Arzt fassen. ca) Gegenseitigkeit Beginnen wir mit der Gegenseitigkeit. Was ist mit ihr gemeint? Mindestens eine Zweierbeziehung ausdrückend, ist sie eine soziale Kategorie. Sie bindet den jeweiligen Partner in eine auf ein Gegenüber bezogene Situation – sei diese die unmittelbare Begegnung von Krankem und Arzt oder ein Gespräch. Es mag scheinen, als sei sie wie selbstverständlich gesetzt durch den Kontakt der beiden Personen. Das darf aber nicht hinwegtäuschen über die Aufgabe, Gegenseitigkeit je subjektiv leisten zu müssen. Sie wird damit – über ihre (sozial-) anthropologische Bestimmung hinaus – zu einem medizin-ethischen Grundbegriff. 29 »Vollzogene Gegenseitigkeit« – was kann das heißen? In der Beziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken sind es wohl am deutlichsten Vertrauen und Verantwortung, die die Gegenseitigkeit fundieren. Erwartet doch der Kranke mit seinem Vertrauen, dass der Arzt in sachlicher und persönlicher und personaler Verantwortung sich seiner Not annimmt. So vertraut auch der Arzt dem Kranken, dass dieser ihm sachgemäß offen und ehrlich begegnet. Ebd., S. 48. Wenn die Begriffe der Zyklomorphie und zyklomorph direkt aus Weizsäcker (nach GS) zitiert sind, wird er hier »cyklomorph« mit »c« geschrieben, sonst mit »z«. 29 Achilles, Peter (2008): S. 159. 27 28
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Als zyklomorpher Prozess beschreibt die Gegenseitigkeit ein dynamisches Geschehen, das bis in die unbewusst agierende oder propriozeptiv wahrgenommene, potenziell emotional getönte Leiblichkeit reicht. Als Beispiel mögen das zwei miteinander Holz sägende Menschen verdeutlichen, die sich muskulär zwischen Anspannung und Entlastung, Kontraktion und Relaxation wechselnd aufeinander einstellen. 30 Dieses intersubjektive Sich-aufeinander-Einstellen vollzieht sich in Gegenseitigkeit. Die Ausrichtung auf die gemeinsame Leistung, auf das Ziel der beiden Holzsäger, ist darin solidarischer Begründungs- und Handlungszusammenhang für den beiderseitigen Wechsel von Anspannung und Entspannung – nicht rational, nicht primär wert-begründet, sondern psycho-physisch, quasi leib-dialogisch. Zu beachten ist ihre Ambiguität: Die Gegenseitigkeit hat sowohl eine ontische Seite phänomenaler und praktisch-funktionaler Gegebenheit als auch eine pathische Seite des gebotenen, aber nicht geleisteten Vollzugs, der Verletzbarkeit, der Verfehlung. Es bedarf der kritischen, pathischen Entscheidung hinsichtlich der Modalitäten von Müssen, Sollen, Dürfen, Können und Wollen, in denen sich die Gegenseitigkeit aktualisiert. »Gegenseitigkeit bleibt prinzipiell eine gesuchte Lebensordnung.« 31 cb) Umgang Der Begriff des Umgangs ist wohl die konkreteste zyklomorphe Formulierung der Ordnung von Subjekt und Objekt, die einander Subjekt-Objekt sind. Er beschreibt die personale Beziehung, in der Arzt und Kranker gleichermaßen verbunden sind. Jedoch benutzt Weizsäcker den Begriff Umgang nicht ausschließlich für die personale Beziehung: »Vielmehr ist die Realität des Menschen hier eine beständige Auseinandersetzung von Ich und Umwelt, eine immer erneute Begegnung von Ich mit Umwelt, ein flüssiger Umgang von Ich und Umwelt.« 32
Vgl. hierzu die Ausführungen (hier S. 27 ff.) zur Bipersonalität, zur »Zweier-Beziehung« am Modell der Holzsäger von Christian, Paul & Haas, Renate (1949): S. 63 ff. 31 Achilles, Peter (2008): S. 160. 32 Weizsäcker, Viktor von (1948b): S. 263. 30
33 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
»Wissenschaft gilt nämlich hier nicht als ›objektive Erkenntnis‹ schlechthin, sondern Wissenschaft gilt als eine redliche Art des Umganges von Subjekten mit Objekten. Die Begegnung, der Umgang ist also zum Kernbegriff der Wissenschaft erhoben.« 33
Aus der Bedeutungsvielfalt des Begriffes Umgang (mit Personen, mit Gegenständen, mit der Umwelt) zielt der hier gewählte Aspekt auf den Umgang des Menschen mit sich selbst, mehr noch mit dem Mitmenschen, auf den Umgang von Arzt und Krankem. Die eher empathische Konnotation von Begegnung wird somit in der Doppelstruktur der Arzt-Kranker-Beziehung verortet. Medizin als Handlungswissenschaft wird zur Umgangslehre. 34 Im ärztlichen Umgang mit dem Kranken wird » […] an die Stelle der Objektivitätslehre der Erkenntnis eine personalistische, den Umgang also von Subjekt und Objekt meinende Erkenntnistheorie gesetzt.« 35
Damit gewinnt der Umgang über die bloße Etikette der geläufigen Assoziation des Begriffes hinaus eine pragmatische und eine existenzielle Tiefe menschlichen Verstehens. So wenig wie ein partnerschaftliches oder ein Ich-Du-Verhältnis zweier Liebender ein gleichbleibender, konstant gegebener Sachverhalt ist, sondern ein dynamisch wechselndes Gesicht zeigt, so ist auch die Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt nicht mit der Erstbegegnung oder dem Beginn jeder Folgebegegnung festgelegt. Weizsäckers Unterscheidungen der Formen des Umgangs: die Selbstbegegnung, die Ich-Du-Begegnung und Wirbildung und die Ich-Ding-Begegnung verdeutlichen die immer größer werdenden Kreise, in denen sich Umgang vollzieht. 36 cc) Solidarität Zunächst im Sinne eines »sozial-ethische[n] bzw. sozial-medizinische[n] […] Ausgleichs zwischen individuellen und sozialen Bedürfnissen« gedacht, 37 ist Solidarität auch eine mitmenschliche Aufgabe. Im Kontext des ärztlichen Handelns ist sie auf das mit dem Arzt gemeinsame Angehen gegen die Krankheit, auf das Ziel, auf die 33 34 35 36 37
Ders. (1939, 21943, 41948): S. 96 (Hervorh. im Original). Weizsäcker, Viktor von (1956): S. 227. Ebd., S. 227. Ebd., S. 68. Achilles, Peter (2008): S. 169.
34 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
»Ermöglichung von Gesundung« gerichtet. Solidarität ist nicht Parteinahme Gleichgesinnter, sondern eine anthropologische Grundbestimmung. So ist die Solidarität im Grundverhältnis pathischer Existenz verankert. Die enge innere Verbindung der Begriffe Solidarität, Gegenseitigkeit, Umgang und Gestaltkreis erklärt einerseits auch, dass Weizsäcker mindestens die Gegenseitigkeit und die Solidarität nicht durchgängig unterscheidet, sie sogar zeitweilig synonym gebraucht. Andererseits lässt die Betonung der Solidarität in den sozialmedizinischen Schriften die drei anderen Aspekte vorübergehend fast vergessen. Sie bleiben aber anthropologische und – in ihrem Handlungsbezug – praktische und ethische Kategorien. cd) Gestaltkreis Der Begriff des Gestaltkreises ist für die zyklomorphe Ordnung der »Einheit von Wahrnehmen und Bewegen« wohl der plausibelste. 38 Er konstituiert sich z. B. in der wechselseitigen Abhängigkeit von Tastwahrnehmung mit der »Rückmeldung« an den tastenden Untersucher und dessen Reaktion als Tastbewegung bei der körperlichen Untersuchung (ein leiblicher, sensorisch-motorischer Gestaltkreis; K. G.). Analog ereignet sich ein informativ-kognitiver Gestaltkreis (K. G.) im Gespräch in der »Bewegungsrichtung [des Verstehens; K. G.] auf Inhalt.« 39 Darin kann sich auch ein rationaler und emotionaler Gemeinschaftskreis bilden. Weizsäcker sieht das Konzept des Gestaltkreises auch in der Begegnung des Arztes mit dem Kranken. Das Bild kennzeichnet den interaktiven Prozess der Erkenntnis und des Handelns mit dem »Objekt, das ein Subjekt enthält.« Die kreisförmige, vom Arzt ausgehende, auf den Kranken gerichtete zyklomorphe Bewegung zeigt im Gestaltkreis stärker das gestaltende und verändernde Moment: sowohl für das Selbstverständnis der beiden Personen als auch für die Gestaltung des Krankseins und der Gesundung. Darin kommt das bewegende, biographisch-geschichtliche Moment der Kranker-Arzt-Beziehung zur Sprache. Auch die Therapie vollzieht sich im Gestaltkreis, sie ist ein Gestaltkreis:
38 39
Weizsäcker, Viktor von (11939, 21943, 31946, 41948): S. 77–337. Ders. (1926a): S. 23.
35 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
»ein therapeutischer Gestaltkreis […] umschließt den Arzt und den Patienten: er ist ein zweisamer Mensch, ein bipersonaler Mensch. Das ist die ›Ganzheit‹ der ärztlichen Handlung, das steckt hinter der Phrase vom Behandeln des ›ganzen Menschen‹, dass ein therapeutischer Gestaltkreis zwischen Arzt und Patient gestaltet werde: nicht dass der ganze Patient Gegenstand werde, sondern dass der Patient durch Umfassung des Arztes integriert werde – wieder: nicht seines Arztes als ganzen Menschen, sondern als ganzen Arztes.« 40
Mit der Therapie ist die Kategorie des Möglichen berührt. Was ist dem in seiner Krankheit, seinem Kranksein Befangenen möglich? Was ist dem Arzt sachlich-medizinisch und persönlich möglich? Weizsäcker spricht davon, dass der »Arzt kein Bewirker, sondern [allenfalls] ein Ermöglicher« von Genesung ist. 41 Er kann dem Kranken neue Denk- und Erlebnisräume, »einen neuen Spielraum für seine Freiheit […] – nicht mehr« eröffnen 42 – die Befreiung von wirklich Möglichem zum möglichen Wirklichen in der Genesung. Das mag von der Befreiung von einer flüchtigen Unpässlichkeit bis zur inneren Auseinandersetzung und Hinnahme einer Tod bringenden Krebserkrankung gehen. Der Arzt habe dem Kranken darin zu helfen, seine Krankheitsarbeit auf die Krise, auf das Werden der Genesung hin auszurichten. Auch wenn die positive, im therapeutischen Gestaltkreis vielleicht heilende Beziehung nicht gelingt, so ist doch die urphänomenale Situation mindestens als Option offen; auch die »Un-beziehung« eines nur »objektiven« Fachmannes oder Experten zu einem kranken »Gegenstand« ist Beziehung. Keiner der beiden Partner kann da heraus. So ist der Umgang, ist die Gegenseitigkeit im Gestaltkreis eine pathische Situation, der weder der Arzt noch der Kranke entfliehen kann. Eine »Nicht-Beziehung« ist nicht möglich. Am Beispiel der Tastuntersuchung (Palpation) verdeutlicht Weizsäcker den Gestaltkreis, seine »Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen«, als biologischen Akt, in dem beide, der Untersucher und der Untersuchte, im Prozess der Untersuchung zugleich Subjekt und Objekt sind. Diese doppelte Perspektive gilt für weite Teile der ärztlichen Untersuchung wie auch der Therapie – auch heute noch. Die Gegenseitigkeit der beiden Subjekt-Objekte gilt trotz 40 41 42
Ders. (1927): S. 189 (Hervorh. im Original). Ebd., S. 192. Ders. (21934): S. 309.
36 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
der nicht aufzuhebenden Asymmetrie der Kranker-Arzt-Beziehung. Sie ist nicht allein eine Beschreibung des beiderseitigen Verhaltens (»wie Du mir, so ich Dir«), auch nicht eine einander gleichmachende Moral (»was Du nicht willst, das man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!«). Sie ist vielmehr eine oft in ihrer Entfaltung gehinderte, wesentlich menschliche Konstitution, die ein mögliches soziales Grundverhältnis menschlich-gemeinschaftlicher Existenz formuliert. Ihrer bewusst zu sein, prägt den Umgang als dynamisches, zyklomorphes Miteinander. Dass der Umgang in der Beziehung von seiner fachspezifischen Funktion bestimmt wird, ist selbstverständlich. Von hier aus nochmals ein Blick zurück zu Frau U. N.: Obwohl sehr behutsam beginnend, war doch die Abtastung (Palpation) des Bauches schwierig: Abwehrspannung, heftiger Druckschmerz und schmerzverzerrtes Gesicht verwiesen darauf, wie unangenehm ihr die Palpation war. Die Wahrnehmung, das Für-wahr-Nehmen dieser »Unannehmlichkeit«, ließ den Untersucher sofort mit der weiteren Tastuntersuchung einhalten und nur sehr vorsichtig fortfahren: Der »senso-motorische« und zugleich »Informations-Reaktions-Gestaltkreis« bestimmten den Untersuchungsgang. »Erkenntnis« war zu »Umgang« und vice versa geworden.
ce) Der zyklomorphe »Vier-Klang« Die vier Grundbegriffe einer Anthropologie der Beziehung – Gegenseitigkeit, Umgang, Solidarität und Gestaltkreis – beschreiben die kreisartige, zyklomorphe Struktur von Wahrnehmen und Bewegen, von Fühlen und Denken, von Erkennen und Handeln. Sie sind unterschiedlich nuancierte Aspekte zwischenmenschlicher Beziehung mit ihrer zu leistenden Aufgabe, sie gestalten zu sollen und zu wollen, vielleicht aber auch nicht zu können. Die zyklomorphen Begriffe implizieren aber die Möglichkeit des Verfehlens der personalen Entsprechung, indem die sachliche Entsprechung in der Weise reduktionistisch-naturwissenschaftlicher Medizin das Übergewicht gewinnt und in ihr die alleinige Aufgabe des Arztes – in dessen Selbstverständnis wie in der Erwartung des Kranken und der Forderung der Gesellschaft – gesehen wird. Über die deskriptive Dimension hinaus sind sie auch normativ. Sie umfassen die auf Beziehung angelegte anthropologisch-personale Konstitution, der es auch in der Begegnung von Arzt und Krankem zu entsprechen gilt. So zeigen Gegenseitigkeit, Solidarität, Umgang und Gestaltkreis stets praktische, ethische und anthropologische As37 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
pekte: sowohl ontisch gegebene als auch pathisch als zu leistende Aufgaben (s. o.). Sie sind stets mit den je anderen cyklomorphen Bestimmungen zusammenzudenken. Sie beschreiben die sozial-anthropologische Dimension menschlicher Existenz. Gegenseitigkeit, Solidarität, Umgang und Gestaltkreis sind auch handlungstheoretische und -praktische Kennzeichen der Grundstruktur ärztlichen Handelns. Vielleicht sind sie am besten vom Gestaltkreis-Modell her zu erhellen. Dieses zyklomorphe Modell der Arzt-Patient-Beziehung macht ja in besonderer Weise das gedankliche und praktische »Hin- und Hergehen« aus der Position des Arztes in die des Kranken und mit dem Erkenntnisgewinn von dort zurück in die eigene Position deutlich: ein Kreis oder – den Gewinn berücksichtigend – eine Aufwärts-Spirale. Ja, es sollte besser noch eine aufsteigende Ellipsen-Spirale sein mit ihrer ständig wechselnden Distanz der Mittelpunkte, der wechselnden Nähe oder Distanz der beiden Personen in ihrer je aktuellen Rolle bzw. Funktion als leidender Mensch und Träger einer Krankheit bzw. als Mediziner oder Helfer in der Not. Hier wird der zyklomorphe Umgang wie auch die doppelte Entsprechung offensichtlich. »Als Erkenntnisgegenstand betrachtet, befindet sich der Kranke in diesem Sinne in einer Ferne, und zwar in einer radikalen Ferne vom Arzt, und nur die Bejahung dieser ewigen Ferne gehorcht seiner Wahrheit. Als Patient aber andererseits rückt der Kranke in eine bis zur Identifizierung unendliche Nähe zum Arzt, wenn dieser die ärztliche Handlung als eine im Gestaltkreis verbundene Lebensgemeinschaft tut. Dies ist die ewige Nähe des Kranken und seines Arztes. In dieser ewigen Nähe des Gestaltens und jener ewigen Ferne des Erkennens bewegt sich das ärztliche Tun und der Prozess von Erkranken und Gesunden, dessen Verlängerung auch das ärztliche Tun ist.« 43
Diese radikal an die Wurzel des ärztlichen Selbstverständnisses und zugleich an das Selbstverständnis des Kranken und seine Erwartungen appellierende Formulierung Weizsäckers ist heute kaum noch nachzuvollziehen. Beide Partner sehen sich – wohl auch im Zuge des allgemeinen soziokulturellen inkl. religiösen Mentalitätswandels – häufig nicht mehr von einer fundamentalen Mitmenschlichkeit getragen. Ihre Gemeinsamkeit ist oft reduziert auf das praktisch Notwendige, z. B. in der sog. Compliance, der Folgsamkeit für Empfeh-
43
Ders. (1927): S. 193 (Hervorh. im Original).
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
lungen und Erfordernisse für Diagnostik und Therapie. Dennoch kann das wechselseitige Geben und Nehmen, das Anbieten von Zuwendung und Hilfe bzw. Vertrauen und Befolgen sowie die Bereitschaft zur Verantwortung tragender gemeinschaftlicher Grund der Kranker-Arzt-Beziehung sein.
E) Fazit Halten wir hier inne mit der Interpretation der vier Grundbegriffe einer ärztlichen Umgangs- oder Beziehungslehre Weizsäckers und fragen, ob und inwiefern sie auch für die Medizin und das ärztliche Handeln im frühen 21. Jh. noch handlungsrelevant sein können. Kann oder muss gar die »doppelte Entsprechung«, die sachliche und die personale Entsprechung von Krankem und Arzt, nicht auch heute noch Orientierung geben für das ärztliche Handeln? Blicken wir dazu noch einmal auf unsere Patientin, unsere Kranke U. N. und fragen, ob und wieweit Facetten der »doppelten Entsprechung« unseren Umgang mit ihr gestaltkreishaft geprägt oder ob wir sie nicht weitgehend aus den Augen verloren haben. Gab es in der Geschichte Gelegenheiten, bei denen z. B. der Aspekt der zyklomorphen Beziehung deutlicher zum Vorschein gekommen ist, und andere, bei denen er außer Acht gelassen wurde? Der Rückblick auf die geschilderte »KG« hat uns bereits gezeigt, dass hier die sich über viele Jahre hinziehende Krankheit gar nicht im biographischen, lebens- und vielleicht leidensgeschichtlichen Kontext gesehen, mindestens nicht erfragt wurde. Oder hat Frau U. N. diese Dimension verschwiegen? Wenn ja, warum hat sie das vielleicht? Es geht zwar nicht um eine psychotherapeutische, gar psychoanalytische Aufhellung des konditionalen oder kausalen Zusammenhanges zwischen somatischer Krankheit und seelischem Leid – wo hätte das hervorgeholt werden können? –, wohl aber hätten Züge der persönlichen »Einstellung«, des »copings« zur bzw. mit dem auf unbestimmte Zeit immer wieder neuen Erkranken erkannt werden können. Wie sehr hat die Krankengeschichte, die Leidensgeschichte hinter der Krankheitsgeschichte, den Alltag, die Lebensperspektive, die berufliche und die nicht ohne Spannungen gelebte Ehe beeinflusst? War gerade die »aufs Praktische« begrenzte, eher emotionsarme Beziehung, die durch die Krankheitsphasen zusätzlich belastet war, ein untergründig wirksamer Faktor in der historia aegrotae seu passionis? Die Darstellung der Geschichte belegt eine durchgängig reduktionistische Sicht auf einen rezidivierenden Prozess einer Darmerkrankung, nicht das Geschehen eines lebensbegleitenden Leidens mit dubioser Aussicht einer nicht als solche wahrgenommenen Person.
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Auf einen Aspekt der »zyklomorphen Umgangsweise«, auf den »sensorisch-motorischen Gestaltkreis« bei der unmittelbaren Tastuntersuchung des Bauches wurde bereits hingewiesen. Haben sich nicht im anamnestischen Gespräch, bei der Ermittlung der Vorgeschichte oder der je aktuellen Beschwerden Gelegenheiten ergeben, bei denen in Wort und Antwort, in Frage und Hinweis ein ähnliches kreis- oder ellipsen-förmiges Aufeinander-Eingehen mit zunehmender Tiefe des Gesprächs, auch für die situative und biographische Dimension sich hätte entwickeln können? Hat nicht auch der therapeutische Prozess mit der Notwendigkeit strikter Einhaltung der medikamentösen Anweisungen und die gerade in der letzten Episode (Aug. 1998) in Erwägung zu ziehende Bauch-Operation einen »therapeutischen Gestaltkreis« partizipativer Entscheidungsfindung motivieren müssen? Das »Pathische« von Möglichkeit, von »Ermöglichung« von Gesundung, mindestens einer lebensgeschichtlichen Einstellung auf die voraussichtlich immer wieder auftretende und immer auch mit der Lebensbedrohung verbundene Erkrankung wurde durch das »Ontische« der gegebenen Krankheit verdeckt. So zeigt auch noch die nur bruchstückhaft skizzierte Krankengeschichte von Frau U. N. Aspekte des Umgangs mit dem Kranksein, die in den Bereich des möglichen Selbsterlebens des Kranken und der ärztlichen Aufgabe der »doppelten Entsprechung« hineinreichen als spezifisch menschlich-existenzielle Dimensionen der conditio humana.
Die »Urszene«, die Not-und-Hilfe-Konstellation, prägt auch heute noch die Kranker-Arzt-Beziehung. Mit den Aspekten von Gegenseitigkeit, Solidarität, Umgang, Gestaltkreis und Personalität und dem Subjekt-Charakter des kranken Menschen sind nicht allein handlungsleitende Kennzeichen, sondern wesentliche anthropologische Charakteristika benannt. Obwohl Weizsäcker ausdrücklich den Vierklang mit dem Sollen verbindet, also unter dem Aspekt der Handlungsorientierung oder -begründung sieht, sind sie nicht so zu verstehen, als gingen daraus unmittelbar ethische, medizin- oder ärztlich-ethische Maximen hervor. Ihre normative Bedeutung gewinnen sie erst durch ihren Situations- und Handlungsbezug, d. h. in der Begegnung der Hilfsbedürftigkeit eines Notleidenden i. w. S. mit dem sachkompetenten Helfer. Dann erst ist (für unseren Kontext) die Frage zu stellen: Welcher wertbestimmte handlungsrelevante Grundsatz steht zur Diskussion? Es geht um die Mitmenschlichkeit – nicht im karitativen Sinne, sondern i. S. des gemeinsamen Menschseins – und um die Achtung voreinander. Mit der personalen Entsprechung ist das menschliche Proprium der Personalität und Relationalität direkt aufgenommen. In der Achtung der Subjekthaftigkeit kann der Arzt
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Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
der Aktiv-Passiv-Ambiguität des Kranken gerecht werden, der ja sowohl leidet als auch sein Leiden in der Krankheitsarbeit gestaltet. So sehr die hochkomplexe Institution der Medizin der fundamentalen menschlichen Anfälligkeit und ihrer Manifestation in Krankheit, Sterben und Tod begegnen, sie mildern und teilweise abwehren kann, so bleibt die erlebte, erlittene Unsicherheit, die den Kern unserer Existenz treffen kann. Diese Tiefe der Bedrohung wird mit einer sich auf die sachliche, die (prägend natur-)wissenschaftliche Ebene der Krankheit beschränkenden Medizin nicht erreicht. Vielmehr muss sich die Medizin bzw. ihr Sachwalter, der Arzt, auch an die personale und existenzielle Dimension des Krankseins als einer »Weise des Menschseins« richten – nicht unbedingt ausdrücklich und in gleicher Weise ausführlich in allen Disziplinen der Medizin und nicht in allen Situationen leiblicher oder seelischer Beeinträchtigung. Es bleibt aber der Appell, das Kranksein, die kranke Person, ja auch die vielleicht gesunde, aber um ihr leibliches Wohl besorgte Person als Person zu sehen in ihrer leiblichen, zeitlichen und psychosozialen Selbsterfahrung. Mit der »Urszene« beschreibt Weizsäcker die auch für die heutige Situation der Begegnung von Arzt und Krankem im Sprechzimmer oder in der Klinik noch grundlegende Doppelstruktur, der der Arzt verpflichtet ist: der gesundheitlichen Not oder Sorge und der kranken oder besorgten Person. Eingedenk des demographischen Wandels in unserer Gesellschaft über die letzten 80–100 Jahre (seit Weizsäckers »Der Arzt und der Kranke« von 1926) muss die Altersverschiebung bedacht werden. Sie geht mit Verschiebungen der altersbezogenen Einstellungen zu Krankheit und Kranksein einher. Gilt für jüngere Patientengruppen das stärkere Interesse der Sachbeziehung, so gewinnt mit dem Alter die stärkere Erwartung der persönlichen und personalen Zuwendung seitens des Arztes den Vorrang. Die Doppelstruktur wird zunehmend ungleichlastig. Dennoch sind beide Ebenen der Beziehung wichtig – selbstverständlich auch abhängig von der Art oder dem Schweregrad der Erkrankung. Sie zu beachten, bleibt ein Desiderat entgegen der Kritik der Gesellschaft, »die Ärzte«, ja »die Medizin« seien inhuman, weil sie den kranken Menschen aus den Augen verlieren. Insofern wird eine Rückbesinnung auf die konstitutive Doppelstruktur zu Recht angemahnt. Die Medizin des ausgehenden 20. und frühen 21. Jh. wird intern mehr und mehr von einer dritten Instanz geprägt: von der »MedizinTechnik« in Diagnostik und Therapie. Dieser Instanz wird von vielen 41 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung
Kranken und von der Gesellschaft ein Vertrauen entgegengebracht, das dessen personen-gebundenen, personalen Charakter vergessen lässt. Es scheint oft ein umgekehrt proportionales Verhältnis von Personvertrauen und Technikgläubigkeit zu bestehen. Gewiss, Medizintechnik ist ein integrales, unabdingbares Werkzeug medizinischen Handelns – neben der unabdingbaren, von beiden Seiten her unverzichtbaren naturwissenschaftlichen Medizin. Sie soll hier keineswegs verdammt werden. Sie darf uns aber nicht den kranken Menschen aus den Augen verlieren lassen und nicht die kategorial andere Ebene personaler, anthropologischer Medizin im eigentlichen Sinne verstellen. Trotz des deutlichen Wandels der Arzt-Kranker-Beziehung und des vielfältig institutionalisierten »Strukturwandels der Medizin« sind das Urphänomen menschlicher Anfälligkeit für leibliche und seelische Erkrankungen und die Grundstruktur des Verhältnisses zwischen dem Arzt und dem Kranken in der doppelten Entsprechung von Mensch in Not und Mensch als Helfer bzw. sachlich von Krankheit und Medizin prinzipiell unverändert. Die Beziehung bleibt (nach Weizsäcker) durch Gegenseitigkeit, Solidarität, Umgang und Gestaltkreis – wenn auch in einem weniger radikal anthropologischen Verständnis – geprägt. Sie ist durchgängig bestimmt von den Sinnstufen der ärztlichen Handlung: der unmittelbaren Begegnungsstufe, der Entfremdungsstufe und der Stufe der personalen Integration. Für eine ärztliche Menschenlehre sind weitere konstitutive Kennzeichen des Menschlichen (Leiblichkeit, Zeitlichkeit, Subjekthaftigkeit, Vernunftfähigkeit) zu berücksichtigen. Hier ist auch die Fortführung der in Weizsäckers Begriff des Pathischen wurzelnden Denkbewegungen eine Möglichkeit, seine fundamental anthropologische Medizin auch heute mit der unabdingbaren Nutzung der Medizintechnik, der Molekular- und genetischen Medizin und der Bioinformatik lebendig und für die Menschlichkeit der Medizin im ärztlichen Beruf wirksam zu halten. Mögen die hier vorgelegten Annäherungen an eine ärztliche Menschenlehre dieser Aufgabe dienen.
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Verantwortung und Vertrauen in der Beziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken
Das vorausgegangene Kapitel hat uns die Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt in verschiedenen »Modellen« dargestellt, überwiegend plakativ als paternalistisch-direktives, als AnbieterKunden- oder Experten-Klienten- oder als Partnerschafts-Modell. Mit dem ausführlicher dargelegten »anthropologischen« Modell wurden die beiden Ebenen des Verhältnisses deutlicher: die medizinisch-sachliche und die persönlich-psychologische, einfühlende Beziehung zwischen den beiden Partnern. Die seelische, gar existenzielle Dimension der Betroffenheit, von gesundheitlichen Sorgen wird im alltäglichen ärztlichen Handeln oft nicht in den Blick genommen. Sie ist aber prinzipiell nicht außer Acht zu lassen. Jede, auch jede harmlose Erkrankung (hier als pauschale Abweichung vom »gesunden« Zustand vor der Erkrankung verstanden), jede Verletzung betrifft die Person, die körperliche, leibliche »Normalität«, auch dort, wo das seelische Erlebnis als solches ausbleibt. Doch sollte die leibliche Selbstempfindung auch dann nicht ignoriert werden. Nicht in jedem Krankheitsfall ist es erforderlich, dem seelischen Befinden nachzugehen, das wäre allzu oft sogar belastend für den Kranken und für die Beziehung. Dann kann dieser Aspekt übergangen werden. Oft sehr zu recht: klingt doch die Beeinträchtigung – sofern überhaupt als solche wahrgenommen – mit der Heilung des körperlichen Befundes meist wieder ab. Stärker ins Bewusstsein tretende körperliche Erkrankungen aber lassen die seelische Dimension deutlicher erkennen: die leibliche Verunsicherung, die Anfälligkeit, die existenzielle Betroffenheit, vielleicht gar als ein memento mori. Ist doch jede schwerere Erkrankung quasi ein Teiltod der Integrität von Gewebe und/oder Funktion. Mit zunehmendem Schweregrad der Erkrankung tritt diese Beeinträchtigung immer stärker ins Bewusstsein. Der leib-seelische Zusammenhang wird intensiver erlebt, ja erlitten. Dieser Aspekt der »Existenz auf den Tod hin« wie die leibliche Selbstempfindung des Kranken im Kranksein sind zu beachten. Er
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Verantwortung und Vertrauen
spielt auch in die asymmetrische Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt hinein. Es ist die Not i. w. S., die mögliche Gefährdung von Leib und Leben. Wenngleich diese nicht vom Kranken gespürt wird, weist sie dennoch »objektiv« auf die Brüchigkeit der Existenz hin. Wir sind allzumal sterblich. Daran hat auch der Arzt Anteil. Zwar nicht konkret und im enggefassten medizinischen Verständnis ist oder wird das Kranksein des Kranken auch zur möglichen Krankheit des Arztes. Das hat nichts zu tun mit hypochondrischer Selbstidentifikation. Ihm kann aber die konstitutive Anfälligkeit, die menschliche Unsicherheit spürbar werden. Der Arzt hat teil an dem Kranksein, im mit-leidenden, sympathetischen Sinne Anteil. Das ist nicht allein Mitleid im alltäglichen emotionalen Sinne. In der Begegnung zeigt sich die Solidarität in der Kontingenz menschlicher Existenz. Die fundamentale Mitmenschlichkeit wird konkreter in der gegenseitigen Verantwortung und dem Vertrauen zwischen den beteiligten Personen. Diese beiden Aspekte wurden im vorausgehenden Kapitel nicht hinreichend dargestellt. Deswegen soll ihnen das folgende Kapitel eigens gewidmet werden. Gehören doch die beiden quasi aufeinander antwortenden Haltungen wesentlich zu der Beziehung. Ohne sie würde das Verhältnis zu einer unpersönlichen Angelegenheit zu degenerieren drohen. Der Arzt und der Kranke bringen ein Grundvertrauen bzw. eine Bereitschaft zur Verantwortung mit in die Erst-Begegnung. Das gegenseitige Verhalten prägt die weitere Entwicklung des wechselseitigen »Grundgefühls«, das die Begegnung zu einer personalen und persönlichen Gegenseitigkeit werden lässt. Sie trägt den funktionalen Charakter der ArztPatient-Beziehung, die der Klärung und Linderung oder – sofern möglich – der Behebung der Beschwerden dient. Damit gewinnt die Beziehung die Komplementarität von »Begegnung und Verantwortung«.
* * * Ärztliches Handeln hat seinen Ursprung in einer anthropologischen Grundfigur: eines Menschen in leiblicher oder seelischer Not und eines zu sachgemäßer Hilfe bereiten Helfers. Sie initiiert eine konstitutiv asymmetrische Beziehung zweier zunächst einander fremder Personen, die für den Kranken wie für den Arzt lebensentscheidend werden kann. Von dieser Grundfigur nehmen die folgenden Über44 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Verantwortung und Vertrauen
legungen ihren Ausgang. Ihr Ziel ist, den relationalen Charakter von Verantwortung und Vertrauen, deren reziprokes Verhältnis als tragendes Fundament der Beziehung darzustellen.
Die asymmetrische Beziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken Unabhängig davon, wie die Arzt-Patient-Beziehung charakterisiert wird – ob paternalistisch-direktiv, als Experten-Klienten-, AnbieterKunden- oder als Partnerschaftsverhältnis –, sie ist konstitutiv asymmetrisch. 1 Deswegen bedarf sie des Schutzes spezifischer Verantwortung: besonders hinsichtlich des ausdrücklich und rechtlich gefassten Schutzes bzw. spezifisch in ihrer Sach- und Personenbeziehung. Die rationale und praktische Beratungs- und Hilfsbedürftigkeit, die physische, psychische, soziale und existenzielle Betroffenheit durch die Krankheit, durch sein Krank-Sein macht den Kranken abhängig vom Arzt und der »Medizin« als einem hochkomplex institutionalisierten Versorgungssystem. Nur im Vertrauen auf die Sachkompetenz und auf das Verantwortungsbewusstsein des Arztes kann sich der Kranke ihm anvertrauen, der ihn berät und möglichst in gemeinsamer Problemerarbeitung und Zielsetzung, in kooperativ verantworteter Mitentscheidung behandelt. Ärztliche Verantwortung gilt als moralische und rechtliche Verpflichtung vorrangig dem einzelnen Kranken. Sie greift aber mit ihren normativen Kriterien über die Zweier-Beziehung hinaus. Sie ist persönliche und personale Beziehung, vielmehr diese fundierend. Sie reicht weiter als der von Emotionen und Affekten leicht gefährdete Raum einer singulären Zweierbeziehung. Personale Verantwortung achtet das Gegenüber in seiner Unverfügbarkeit, Einzigartigkeit und Autonomie, die gegen ein mit der angemaßten Überlegenheit in der Asymmetrie begründetes Machtverhalten seitens des Arztes oder der betreuenden Personen zu schützen sind. Die rollenspezifische funktionale Verantwortung umfasst die medizinisch-sachliche wie Die auch im deutschen Schrifttum schier unerschöpfliche Literatur zum Thema der Arzt-Patient-Beziehung kann hier unmöglich aufgelistet werden. Es sei verwiesen auf den Abschlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Recht und Ethik in der modernen Medizin« vom 14. Mai 2002, federführend Linus Geisler: »Arzt-Patient-Beziehung im Wandel. Stärkung des dialogischen Prinzips«, dort S. 216–220.
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45 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Verantwortung und Vertrauen
die berufshabituelle Sorge für den Kranken. Darüber hinaus muss auch die überindividuelle, die soziale Dimension der Verantwortung des Arztes als Sachwalter in dem System des Gesundheitswesens angesprochen werden. Die asymmetrische Zweierbeziehung zwischen dem Kranken und seinem Arzt bleibt – mindestens in der Erwartung und ggf. in der Zurechnung von Verantwortlichkeit seitens des Kranken – die Grundfigur, auch wenn durch die arbeits- und funktionsteilige und zeitlich verteilte Betreuung in der Praxis des niedergelassenen Arztes und mehr noch im komplexen Klinikbetrieb die Beziehung in verschiedene Zuständigkeiten aufgeteilt ist. Der Kranke hält sich an den einzelnen Arzt, der »die Fäden in der Hand« hält, wenn und wo immer Aufgaben unter Ärzten gleicher Fachrichtung (z. B. im Schichtbetrieb) oder unterschiedlichen Disziplinen (z. B. Röntgenoder Laborarzt) oder mit paramedizinischem Personal (z. B. Pflegekräften, Krankengymnasten etc.) verteilt werden müssen. Es gehört zu den erschreckenden Erfahrungen eines Kranken, im Organisations- und Funktionssystem einer Klinik die persönliche Beziehung zu einem für ihn verantwortlichen Arzt zu verlieren, ja verlieren zu müssen angesichts der Komplexität medizinischer Versorgung. In diesem Schrecken meldet sich aber die Erwartung einer Behandlung gemäß der ursprünglichen Grundfigur des persönlichen Hilfeanspruchs – sofern dieser nicht auf die rein funktionale Beziehung sachlicher Versorgung reduziert ist. Andererseits erfordert die Team-Betreuung gemeinsame Entscheidungsprozesse, in die die Erfahrungen z. B. von Pflegenden aus dem Umgang mit dem Kranken aufgenommen werden. Das muss dem Kranken, der sich in dem System allzu leicht verloren fühlt, zumindest fühlen kann, erklärt werden. Die skizzierte Asymmetrie gibt oft genug Anlass zu praktizierter Macht seitens des Arztes oder der Pflegekräfte, für deren unbewusstes, habituelles oder im Gefühl der rationalen Überlegenheit, der Superiorität und Autorität vermeintlich berechtigtes Machtverhalten. Das kann sich in der Sprache (ein den Kranken ausschließender »Soziolekt der Kompetenz« der »Sachverständigen«) und in wie selbstverständlichen Verhaltensweisen äußern, in der angemaßten Berechtigung, z. B. Schamgrenzen des Kranken zu ignorieren, die körperliche Untersuchung ohne Achtung des leiblichen Selbst-Erlebens und der Selbst-Empfindung durchzuführen, den Kranken als bloßes Objekt zu behandeln. Auch die Definitionsmacht über Gesund 46 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Verantwortung und Vertrauen
und Krank (die »Krankschreibung«), über normal und pathologisch, über zu tolerierende Beeinträchtigung etc. wird mit der »Sachkompetenz« begründet. Schließlich kann das vermeintlich zumutbare Machtverhalten als »gemäßigter« oder »benevolenter Paternalismus«, als ärztliche Fürsorgepflicht verbrämt werden. Es ist ein weites Feld möglichen persönlichen oder institutionell-kollektiven Machtverhaltens in den Funktionsstrategien und Organisationsstrukturen des Gesundheitssystems – von der dyadischen Primärsituation bis zu dem Versorgungsapparat von Kliniken und Gesundheitsbehörden! Dies als Gefahr zu sehen und im Umgang mit den Kranken zu achten, gehört zur Verantwortung des Arztes und der die Kranken versorgenden Personen und Institutionen.
Verantwortung und Vertrauen als personale Beziehungsbegriffe Verantwortung ist zunächst eine dyadische Beziehung eines Verantwortungssubjekts zu einem Verantwortungsobjekt, die sich in einem Dritten treffen: in dem verpflichtenden bzw. zu schützenden »Wert«, auf den Subjekt und Objekt bezogen sind: im hier verfolgten Kontext die (Ermöglichung von) Gesundheit i. w. S. als dem angestrebten Ziel der sachlich-funktionalen Verantwortung ärztlichen Handelns für den (potenziell) Kranken. Diese dreipolige Beziehung weist noch über sich hinaus auf eine wertsetzende »Instanz«, die ihren normativ-appellativen Charakter begründet. 2 Warum ist Gesundheit das verpflichtende Ziel ärztlichen Handelns? Weil sie nicht nur dem Interesse des sich sorgenvoll an den Arzt wendenden Kranken sondern auch einem Wert, einem soziokulturell anerkannten Gut entspricht. Dieser Wert ist i. A. auch in der Wertschätzung der Gemeinschaft geachtet, in der der Arzt und
Diese mehrpolige Relationalität deckt sich zwar nicht begrifflich mit der von Urban Wiesing (1995), z. T. mit Ergänzung von Hans Lenk (1991) (zit. in Wiesing, a. a. O., S. 63) aufgeführten, wohl aber weitgehend inhaltlich: Jemand (das Verantwortungssubjekt) ist Jemandem (Verantwortungsobjekt) für etwas (Verantwortungsinhalt) vor einer Urteilsinstanz in Bezug auf einen Wert innerhalb eines Handlungsbereiches verantwortlich. Für eine weitere Klärung und Diskussion der von Lenk vorgelegten philosophisch-analytischen Darlegung der Verantwortung sei auf die gründliche Arbeit von Wiesing (1995) verwiesen.
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Verantwortung und Vertrauen
der Kranke leben. Somit erweist sich Verantwortung als nach fünf Seiten hin relationaler Begriff. Verantwortung und Vertrauen setzen die Grundannahme von Personalität voraus. Auch die Person ist durch ihre Beziehungsstruktur gekennzeichnet. Als Person ist der Mensch bezogen auf sich selbst wie auf seinen Mitmenschen, seine Mit- und Umwelt. Er ist damit Beziehungssubjekt und -objekt zugleich. Personalität und ihr Subjekt, die Person, sehe ich als solche in ihrer Eigenständigkeit, ihrer Singularität und Unverfügbarkeit, auch in ihrer gebotenen und als Aufgabe gegebenen Relationalität – unabhängig von aktuellen oder potenziellen kognitiven Leistungen, von rationalen Fähigkeiten der Vernunft oder Verantwortungsübernahme und Zurechenbarkeit von Handlungen. Das schließt deren Entwicklungsfähigkeit nicht aus: den Prozess zunehmender Selbstwerdung, des sich entfaltenden Selbstverhältnisses, das gleichermaßen auf den Anderen, das Gegenüber bezogen ist. So ist Personalität ein Prozessbegriff ebenso wie ein nicht hintergehbares Prinzip menschlicher Existenz. Vertrauen ist auch auf Zukunft gerichtet: auf die Hoffnung auf Linderung oder Überwindung des aktuellen Krankseins und auf die bestmögliche Leidensfreiheit in der Zukunft durch die Hilfe des Arztes. Verantwortung setzt ein verantwortungs- und rechtfertigungsfähiges Subjekt voraus. Primär zwar eine einzelne Person, doch auch ein Kollektiv, eine Gemeinschaft, eine Institution und der Staat können Verantwortung tragen. In diesem Sinne ist auch das »Team«, sind auch die mit- und füreinander arbeitenden und den Kranken betreuenden Personen gemeinschaftlich für ihn verantwortlich – von dem unmittelbar angesprochenen Arzt bis zu der fern im Labor tätigen MTA. Gilt doch ihr gemeinsames Handeln i. w. S. dem Wohl des Kranken. Auch das Verantwortungsobjekt muss nicht obligat eine einzelne Person sein. Vielmehr können Personengruppen, eine Gemeinschaft oder Kollektive Gegenstand von Verantwortung sein. Wie das Verantwortungssubjekt so muss auch das Verantwortungsobjekt nicht obligat eine Person sein. Vielmehr können Lebewesen, Sach- oder ideelle Werte, soziale Gruppen oder Kollektive ihr Gegenstand sein. In jedem Fall handelt es sich um eine soziale WertBeziehung, auch in der Dyade von Arzt und Krankem.
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Verantwortung und Vertrauen
Die spezifische Verantwortung des Arztes Indem ärztliches Handeln auch darin dem Kranken verantwortlich ist, dass »Ärzte daran teilhaben, was aus einem Menschen in der Krankheit wird« 3, gewinnt die Verantwortung des Arztes über die medizinisch-fachliche und die vertragsrechtliche Ebene hinaus eine moralische und solidarische Dimension. »Es gibt […] Verantwortung, aber stets als Mitverantwortung […]. Der Arzt ist nicht nur für seine [des Kranken] Behandlung verantwortlich, sondern in anderer Weise für die Krankheit mitverantwortlich.« 4
Konkret sehe ich solche Mitverantwortlichkeit für das Kranksein und für die Genesung z. B. in der Chronifizierung von Krankheitszuständen durch die »Medizin«, durch den Arzt: in der Einschätzung des Krankheitszustandes und der daraus abgeleiteten sog. Krankschreibung. Darin steckt auch eine Mitgestaltung des Verlaufs der Therapie. Auch die bestmögliche Therapie kann zur Chronifizierung von Krankheit und Leiden beitragen (s. die Behandlung der chronischen Herzinsuffizienz oder der Polyarthritis u. v. a.). Der therapeutische Prozess reicht in die tiefere Schicht des »Kranksein[s] als Weise des Menschseins.« 5 Wo der Kranke nur als Ding, als Objekt verdinglicht und auf die körperlich fassbare, naturwissenschaftlich erklärbare Krankheit reduziert wird, ist der Arzt in der Gefahr, dem Kranken etwas schuldig zu bleiben: sei es in der puren Verdinglichung, der Objektivierung, oder in der nur mangelhaften Hilfe zum Selbstverständnis des Krankseins in seiner (potenziellen) biographischen »Schwellenposition«. 6 Damit berührt Weizsäcker eine tiefere Dimension von Verantwortung: in der »ein gegenseitiges Schuld-Verhältnis« entsteht: »[…] der Kranke schuldet dem Arzte etwas für sein Tragen der Verantwortung, der Arzt schuldet dem Kranken deren Erfüllung nach dem Maße seiner Kräfte […]«. 7
Die »doppelte Entsprechung« spiegelt die doppelte Art medizinischen und ärztlichen Wissens wider: die Unterscheidung von Sach- und 3 4 5 6 7
Weizsäcker, Viktor von (1946b): S. 399. Ders. (1951a): S. 636 f. Ders. (1947a): S. 186, passim. Christian, Paul (1989): S. 39 und 45. Weizsäcker, Viktor von (1934): S. 299.
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Verantwortung und Vertrauen
Verantwortungswissen, Handlungs- und Wertwissen; in diesem Sinne führt Jacobi die aristotelische Unterscheidung des epistemischen und phronetischen Wissens an. 8 Das Verantwortungswissen umfasst jedoch die Beachtung der dem Kranken gemäßen Anwendung sachlichen Wissens und Handelns, ohne das die personale Entsprechung außer Acht gerät. Auch das Vertrauen ist basal eine personale Kategorie. Es gilt – unabhängig von der gegenseitigen Sym- oder Antipathie – der Person des jeweiligen Gegenübers. Vorgängig der konkreten Erfahrung, die ein Kranker mit einem Arzt oder umgekehrt ein Arzt mit einem Kranken gemacht hat, gründet das Vertrauen in der Bereitschaft beider Personen, sich auf die gegenseitige Offenheit, Anerkennung, Zuverlässigkeit verlassen zu wollen und zu können. Auf dieser Basis gründet das je persönliche, individuelle Vertrauen, d. h. die Annahme, das Gegenüber werde sich künftig so verhalten, dass das eigene Handeln i. w. S. – das Sich-Öffnen, die Aufrichtigkeit im Gespräch, die Bereitschaft für die Therapie seitens des Kranken bzw. die Fürsorge für den Kranken seitens des Arztes – sich auf das Verhalten des Anderen stützen kann. So ist das persönliche Vertrauen ein Sich-Verlassen auf das Gegenüber angesichts eines ungewissen, vielleicht risiko-belasteten Ausgangs einer letztlich zum Wohle vorzunehmenden Handlung i. w. S. Diese nicht zu garantierende Situation ist es, die Viktor von Weizsäcker mit der »Zone der Gefahr« meint, in der sich Therapie wie auch Diagnostik abspielen. In ihr den möglichen Schaden, die mögliche Verletzung so gering wie möglich zu halten, gehört zur sachlichen und persönlichen Verantwortung, der »Realität der persönlichsten Verantwortung.« 9 So sind Vertrauen und Verantwortung aneinander gebunden: auf der persönlichen wie auf der überindividuellen personalen Ebene. Der personale Charakter von Verantwortung und Vertrauen deckt sich nicht mit dem persönlichen, individuellen, dem einzelnen Kranken bzw. Arzt entgegengebrachten Grundgefühl, aber er ist konstitutiv für diese wechselseitige Bestimmung. Nicht nur der Kranke vertraut seinem Gegenüber, sondern auch der Arzt. In der aktuellen Not seines Krankseins oder der Rat- oder Hilfsbedürftigkeit ist der Betroffene mehr oder weniger außer Stande, die Verlässlichkeit prüfen oder kontrollieren zu können und zu wollen. Es sind aber doch 8 9
Jacobi, Rainer-M. E. (2001): S. 276. Weizsäcker, Viktor von (1926d): S. 141.
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Verantwortung und Vertrauen
benennbare Bedingungen, die der Kranke für sein Vertrauen gegenüber dem Arzt voraussetzt: Sittlichkeit, Verschwiegenheit, Zuverlässigkeit, die Achtung der Scham und der Würde des Kranken; hinzukommen Dialogfähigkeit und fachliche Kompetenz. Auch erwartet er die offene Zuwendung des Arztes, wie er auf die Not, die Sorge, das Anliegen des Kranken eingeht, seine Wahrhaftigkeit und Plausibilität, die Kohärenz und Konsistenz im Gespräch, in der Aufklärung und im Handeln. Diese rationalen, emotionalen und habituellen Verhaltens- und Handlungsweisen des Arztes fördern oder – bei Missachtung – gefährden das persönliche Vertrauen des Kranken. Sie zu beachten, gehört in den Verantwortungshorizont des Arztes. Der Arzt seinerseits bringt dem Kranken das Vertrauen in dessen Ehrlichkeit, Offenheit, seinen Willen zur Befolgung des ärztlichen Rates (sog. Compliance) und seinen Willen, gesund zu werden, entgegen. Das rechtlich vorausgesetzte Vertragsvertrauen stützt sich lediglich auf ein potenziell einklagbares Anspruchsrecht seitens des Kranken und ein Sanktionsrecht des Arztes im Falle der Nichtbefolgung der Patientenpflichten. Vertrauen ist aber mehr: Es stellt auch einen moralischen Anspruch dar. Vertrauen ist ein Gegenseitigkeitsverhältnis. Es gründet subjektiv wie objektiv in der beiderseitigen persönlichen und fachlichen Verlässlichkeit, der Vertrauenswürdigkeit. Immer ist klar, dass »einseitiges Vertrauen gar kein wirksames ist; […] wirksames, also echtes Vertrauen ist immer eine Gegenseitigkeit.« 10 Das »Vertrauen […] erwächst nicht aus Denken, sondern aus dem Sein«. 11 »[…] eine theoretische Erkenntnis« – das heißt im Zusammenhang der Arzt-Patient-Beziehung: Erkenntnis über die Situation des Krankseins in seiner biologischen, biographischen und sozialen Dimension – »kann als solche eine [personale, K. G.] Gemeinschaft nicht stiften, es sei denn, dass mit ihr mehr gestiftet wird als Erkenntnis, nämlich überdies Vertrauen, Überzeugung oder Interesse«. 12
Mit dem funktionalen Charakter von Vertrauen und Verantwortung ist das medizinische und ärztliche Handeln für den Kranken bzw. das auf die Hilfsbereitschaft gerichtete Vertrauen angesprochen. Auch dies ist wieder reziprok: Beide Partner müssen sich im Rahmen ihrer 10 11 12
Ders. (1956): S. 66. Ders. (1926d): S. 124. Ebd., S. 99.
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Verantwortung und Vertrauen
Möglichkeiten aufeinander verlassen können und bestrebt sein, ihrer jeweiligen Rolle oder Funktion gerecht zu werden. Die Wahrung der Angemessenheit und der Begrenzung der Beziehung auf ihre genuine Funktion der Hilfeleistung gebietet auch die Achtung der Menschenwürde und den Respekt des wechselseitigen Schamgefühls. Über den funktionalen Charakter von Vertrauen und Verantwortung hinausgehend ist deren Einordnung in den vielfach vernetzten, personell und z. T. organisations-hierarchisch strukturierten, institutionellen Versorgungs- und Wissenschaftsbereich zu beachten. Das hochkomplexe System kann weder von den Akteuren des Systems, geschweige denn von Laien – zumal in ihrer Betroffenheit als Kranke – voll durchschaut werden. Der sozialen Komplexität, den individuellen und organisatorisch-institutionellen Strukturen gegenüber entwickelt der Kranke sein Vertrauen und behält doch dabei ein mehr oder weniger ausgeprägtes Misstrauen. Vertrauen kann aber quasi als Antidot gegen die Überwältigung durch die Komplexität wirksam werden. In dem komplexen, funktionsteiligen System der medizinischen Versorgung verlangen die persönlichen Bedingungen von Vertrauenswürdigkeit und Verantwortungsentwicklung eine Erweiterung sowohl auf die meist große Zahl an der Betreuung beteiligter Personen als auch auf vielschichtige Institutionen. Es kommt zu einer Vertrauensdiffusion auf zum großen Teil anonyme Personen und Partialbereiche sowie auf der anderen Seite zu einer Verantwortungsteilung in unterschiedliche Zuständigkeiten und Kompetenzen. Hier wächst die Gefahr einer Dehumanisierung und eines zunehmenden Misstrauens in die Medizin. Die unmittelbare Beziehung persönlichen und personalen Vertrauens ist bedroht. Vertrauen und die mit ihm korrespondierende Verantwortung sind dynamisch, sind dialogisch. Vertrauen entwickelt sich aus einer primär vielleicht von zurückhaltendem, vorsichtigem Misstrauen mitgeprägten Haltung heraus zu einem individuellen und mehr oder weniger allmählich sich annähernden »Einander-Vertrauen«. Die »zweiseitige Offenheit« sei die Voraussetzung für »wechselseitige Selbst-Verständigung.« 13 Besonders in einer längerfristig tragenden Arzt-Patient-Beziehung, in der immer häufiger notwendigen Betreuung chronisch Kranker vollzieht sich eine wechselseitige »Ver-
13
Hartmann, Fritz (1997): S. 15.
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Verantwortung und Vertrauen
anderung« (!) von Arzt und Krankem. 14 »Mit dem Sich-AnderenAnvertrauen gibt er [der Kranke] aber auch Selbstverantwortung ab. Selbstvertrauen und Selbstverantwortung bleiben […] im Vorgang der Übertragung eng aneinander gekoppelt.« 15
Verantwortung als rollenspezifische Beziehung Mit der sachlichen Entsprechung kommt der Arzt der vordringlich vom Kranken erwarteten und geforderten medizinischen Funktion, d. h. der sachlichen Hilfe nach. Dieser Bereich der ärztlichen Aufgabe untersteht der ausführlichsten juristischen Regelung. Versäumnisse sind hier am ehesten einklagbar und die ärztliche Verantwortung erfährt ihre stärkste Verrechtlichung. Der Arzt ist verantwortlich sowie rechtlich wie moralisch verpflichtet zu einer standesgemäßen und standardgerechten Untersuchung und – unter der Voraussetzung des informierten Einverständnisses, des »informed consent« – Behandlung einschließlich der der Situation und dem Rat- und Hilfesuchenden gerechten Beratung und Aufklärung. Diese Verpflichtung wird ihm nicht nur mit der Approbation auferlegt, sondern er kommt ihr auch aufgrund seines ärztlichen Selbstverständnisses und seiner Selbstverpflichtung nach. Darin ist er gehalten, sein Handeln ggf. auch argumentativ vermittelbar und wertorientiert begründen zu können. Die Werthaftigkeit erwächst aus dem Handlungsziel: der Hilfe in der Not des Kranken, der Linderung seines Leids, der Gesundung, soweit sie möglich sind. Zu den Bedingungen, wie diese Ziele zu erreichen sind, gehören vor allem – neben den zu rechtfertigenden Wünschen und Ansinnen des Kranken – Wissen, Erfahrung, Urteilskraft und Handlungsbereitschaft seitens des Arztes. Aber: Theoretisches Wissen ist zu unterscheiden von praktischem Wissen, Sachwissen von Wertwissen. Das theoretische Sachwissen muss durch die ärztliche Erfahrung vertieft und ergänzt werden. Auch dann bleibt das Verstehen des einzelnen Kranken mehr als rationale Kenntnisnahme und die Subsumtion des Individuellen unter die bedingte Gesetzmäßigkeit des Allgemeinen. Gewiss, das ist es auch. Aber der Arzt erreicht damit nicht den Kranken als Einzelnen. So ist ärztliches Wissen, das sich seiner Verantwortung für den Kranken bewusst ist, 14 15
Ders. (2002): S. 76 und 78 ff. Ders. (1997): S. 19.
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Verantwortung und Vertrauen
mehr als richtiges oder zutreffendes Sachwissen. Es muss sich umsetzen lassen in Handlungswissen, das Wertwissen impliziert. Dazu gehören Urteils-, Entscheidungs- und in der Konsequenz Handlungsbereitschaft. Die ärztliche Diagnose ist eine solche Entscheidung mit einem Handlungsappell (der deontologische Charakter der Diagnose) 16, wünschenswert mit einem therapeutischen Imperativ – häufig auf dem Boden nur vorläufiger Informationen und konjekturaler Beurteilungen und Begründungen. Ist schon die retrospektive Handlungsbegründung mit gegebenen Fakten unsicher, so oft auch die rechtfertigende, zum Handeln berechtigende Prognose. Ärztliches Handeln ist oft nicht vorhersehbar und unzuverlässig. Die wachsende Kluft des theoretischen medizinischen Wissens zum praktischen, handlungsrelevanten und Wertwissen bürdet dem Arzt eine immer schwerere Verantwortung auf. So wird er im rechtlichen und moralischen Sinne dem Kranken immer wahrscheinlicher etwas schuldig bleiben. Neigen doch viele Kranke dazu, ihre Erwartungen, Hoffnungen oder gar Forderungen am theoretischen Wissen und an den medizinischen Möglichkeiten zu orientieren, wenn diese konkret nicht ausgeschöpft werden. Indem ärztliches Handeln der informierten Zustimmung bedarf, wird das implizite Risiko unsicheren Handelns in die gemeinsame Verantwortung von Arzt und Krankem gegeben. Dies erfordert eine rechtlich vorgeschriebene, der Situation und Person angepasste, hinreichende Aufklärung mit dem Ziel verständiger Selbstbestimmung. Wenn auch in kollegialer Kooperation, durch Konsultation oder Ethikberatung unterstützt, ist doch der für den einzelnen Kranken zuständige, ihn betreuende Arzt persönlich und unvertretbar verantwortlich. Allerdings wird heute – besonders für Handlungsentscheidungen bei chronischen oder bei subakut lebensbedrohlichen Krankheitszuständen (z. B. in der Onkologie) – eine partizipative Entscheidungsfindung mit dem Kranken propagiert. Sie setzt die personale Gegenseitigkeit voraus. Eine allein vom Arzt zu tragende Verantwortung für Therapie-Wege und -Ziele i. S. purer Pflichtethik, die personale Bestimmungen (das Postulat der Freiheit und Autonomie, der Vernunft und Verantwortungsfähigkeit wie das Welt- und Wertverhältnis, religiöse Bindungen) außer Acht lässt, kann m. E. nicht hinreichende Richtschnur für das Handeln sein.
16
Wieland, Wolfgang (2000): hier bes. S. 21–25.
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Verantwortung und Vertrauen
Vertrauen im Wissenschaftssystem Medizin Die zunehmende Aufgliederung der medizinischen Versorgung führt zur vielfältigen Verantwortungsteilung: von den meist eng begrenzten Möglichkeiten des in einer allgemeinärztlichen Praxis niedergelassenen Arztes bis zu der labortechnisch und apparativ hochaufgerüsteten Diagnostik und Therapie der Hochleistungsmedizin. Dieser neuen, so rasant sich erweiternden Medizin und den verbesserten therapeutischen Möglichkeiten bringt der Kranke ein hohes Maß an Vertrauen – gepaart mit einem Quantum von Misstrauen, Skepsis und Angst – entgegen. Das gilt der interkollegialen und interinstitutionellen Kooperation innerhalb der medizinischen Disziplinen und disziplinübergreifend. Es besteht weithin ein großes Vertrauen, quasi eine Vertrauensverschiebung in die wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten, die heutzutage Behandlungsaussichten erlauben, die noch vor 20–30 Jahren oder in anderen Gesundheitssystemen nicht denkbar (gewesen) wären. Zu beachten sind aber zunehmende, berechtigte Vorbehalte, verunsichernde Ambivalenzen oder ausdrückliche Kritik an der »Apparate-Medizin« mit der Verleitung zur Überdiagnostik und »Übertherapie« mit der Verteuerung der Medizin. Das zeigt die Kehrseite der wachsenden Möglichkeiten der Medizin: die stetig steigenden Erwartungen und Forderungen des einzelnen Kranken und der Gesellschaft an dieses System, an die medizinisch-fachliche Verfügbarkeit des großen Arsenals diagnostischer, therapeutischer, präventiver und rehabilitativer Angebote und an die finanzielle Sicherstellung der Versorgung. Hier hat der Arzt die schwierige Aufgabe der zweiseitigen Verantwortung: der sachlichen und situativen Abwägung der individuellen Notwendigkeit einerseits und der sozialen Vertretbarkeit andererseits. Das schließt auch die verantwortliche Erziehung zu einer (auch vom Arzt zu leistenden) selbstbestimmten Begrenzung moralischer Ansprüche und zur Bereitschaft, im »chronischen Kranksein« auch ein (medizinisch ermöglichtes) »bedingtes Gesundsein« anzunehmen. 17 Es ist die Verantwortung für den einzelnen Kranken und für die Solidargemeinschaft, die hier beiden Partnern auferlegt wird. Dennoch ist die Medizin als Versorgungs- und WissenschaftsInstitution mit kollektiver, sozialer Verantwortung Vertrauensobjekt 17
Hartmann, Fritz (1992).
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Verantwortung und Vertrauen
des Kranken. Sie gilt als Richtlinie der Sachlichkeit, des Standards, der naturwissenschaftlichen Objektivität auch als Rückhalt für das ärztliche Handeln. Standesethik, (ein unterstelltes) ärztliches Ethos und eine (ambivalente) Wertschätzung der Wissenschaft sind dem Kranken Versicherungen der Rechtschaffenheit und der Möglichkeit von Vertrauenswürdigkeit in die ärztliche Gewährleistungsverantwortung in diesem System. »Das der individuellen Behandlungssituation sozusagen angeborene Missverhältnis von einseitigem Vertrauen und einseitiger Superiorität wird […] durch Rückgriffe auf dritte, unpersönliche Instanzen zu beseitigen versucht. Und unter diesen Instanzen hat unser Interesse besonders die wissenschaftliche festzuhalten, deren objektive, besonders naturwissenschaftliche Form solche Dienste besonders gut bietet. [… W]eil es ein Vertrauensdefizit war, welches auszugleichen war, darum belastet sich gerade die objektive Wissenschaft mehr und mehr mit einem Misstrauenskonto. [… D]iese Bedrohung der Wissenschaft [ist] eigentlich eine Bedrohung des Vertrauens […].« 18
Wenngleich für den Bereich der Naturwissenschaft, soweit sich die kausalanalytisch vorgehende medizinische Wissenschaft auf sie stützt, potenzielle Reproduzierbarkeit ihrer so gewonnenen Daten und Verallgemeinerbarkeit kennzeichnend sind (z. B. im Bereich der Labormedizin), so können diese Kriterien dem ärztlichen und personalen Vertrauenswissen, das der Kranke erwartet, nicht genügen. Dieses gilt vielmehr der Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit des Kranken als Person in der biographischen Situation seines Krankseins.
Normative Aspekte verantwortlichen ärztlichen Handelns Will man ärztliches Handeln unter ethischen Gesichtspunkten betrachten, so bieten die – seit etwa 30 Jahren, angeregt durch die angloamerikanische Medizinethik, auch im deutschsprachigen Raum diskutierten – vier »Prinzipien mittlerer Reichweite« dafür Anhaltspunkte: das Prinzip des Nicht-Schadens (non-maleficence), des Wohltuns (beneficence), der Autonomie (autonomy) und das Prinzip der Gerechtigkeit (justice). 19 Diese Maximen gelten zwar dem Wohl des
18 19
Weizsäcker, Viktor von (1956): S. 383. Beauchamp, Tom L. & Childress, James (11979, 62009).
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Verantwortung und Vertrauen
Kranken, normieren aber stärker das Handeln des Arztes, des Verantwortungssubjektes. Er trägt die Verantwortung und muss sein Handeln auch moralisch begründen können. So plausibel diese Prinzipien oder Maximen prima vista auch sind, so bedürfen sie doch der Erläuterung. Es muss betont werden, dass sie weder je aus sich heraus in jedem Falle das Handeln leiten können, noch untereinander stets kompatibel sind. Ihr fehlender Anspruch, »letztbegründend« zu sein, bietet aber die Möglichkeit des weitgehenden Konsenses in multikulturellen Gesellschaften unterschiedlich verwurzelter Individuen, die ihre Moralität und Wertorientierung für ihr Handeln in unterschiedlichen Weltanschauungen oder Religionen begründet sehen. In der konkreten Situation der alltäglichen Handlungsentscheidung werden auch durch die genannten Prinzipien nicht immer konfliktfreie Lösungen ermöglicht. Die Maxime des Nicht-Schadens ist nur im engsten Kontext mit der des vorrangigen Nutzens gültig. Sind doch in der modernen Medizin viele diagnostische und therapeutische Maßnahmen nicht ohne (nur zum Teil vorübergehenden) Schaden anzuwenden – wenngleich stets mit der Absicht des überwiegenden Wohls des Kranken. Das implizite Abwägungserfordernis muss dem Kranken vermittelt werden (können). In die Abwägung geht die der Sinnhaftigkeit sowie der individuellen und sozialen, auch wertorientierten Vertretbarkeit ein. Was aber ist das Wohl des Kranken? Ist Heilen, Beschwerdelinderung für jeden Kranken das gewünschte Ziel von Behandlung? Ist eine »ersehnte Erlösung«, ist der gewünschte, ärztlich assistierte Suizid oder die (illegale, strafbare) aktive Sterbehilfe »zum Wohl des Kranken«? Hier wird deutlich, dass die Befolgung dieses Handlungsprinzips ohne nähere Erläuterung nicht möglich ist. Autonomie ist personaler Grund von und Recht zur Selbstbestimmung. Als Proprium des Menschen ist die Autonomie stets auch in Konfliktfällen zu beachten. Sie erfährt ihre Grenze an der Autonomie des Gegenübers, hier: des Arztes. Auch er ist – wie der Kranke – nicht verfügbar (z. B. für die Indienstnahme zum Zwecke der Lebensbeendigung), auch er muss als Person geachtet werden. Die Selbstbestimmung ist aber für den Kranken (nicht nur für den bewusstlosen, aktuell inkompetenten Kranken) aufgrund der Wissensasymmetrie und der existentiellen Betroffenheit gar nicht immer als eine freie, vernunft- und wissensbasierte Selbstbestimmung möglich. Das informierte Einverständnis in das medizinisch-ärztliche Handeln ist ein juristisches Berechtigungserfordernis, das die Ach57 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Verantwortung und Vertrauen
tung personaler Gegenseitigkeit voraussetzt. Hier zeigt sich ein Wandel im beiderseitigen, juristisch geschützten Selbstverständnis: Der Arzt sieht sich als Berater, der die Entscheidung des mündigen Patienten – diese Charakterisierung kann und darf nicht über die konstitutive Asymmetrie der Beziehung hinwegtäuschen – respektiert und nicht ohne Einverständnis (von wenigen Ausnahmen abgesehen) handelt. Die Maxime der Gerechtigkeit meint Verteilungsgerechtigkeit, soweit der Arzt im Rahmen seiner Möglichkeiten Kranke in gleicher Weise mit gerecht verteilten Ressourcen behandeln soll. Gleichheit meint hier aber nicht nur die ökonomische Gleichbehandlung, sondern auch das gleiche Maß an Zuwendung und Hilfe. Darüber hinaus gilt es auch, dem Kranken als Individuum und als Person gerecht zu werden, seiner Not und Hilfsbedürftigkeit, seinen vertretbaren, zu rechtfertigenden Erwartungen an den Arzt und an die Medizin. Diese normativen »Prinzipien mittlerer Reichweite« sind aufgehoben in der Fürsorge und Verantwortung für den Kranken. Sie fordern Annäherungen an ihre konkrete inhaltliche Bestimmung. Konstitutive, nicht aufhebbare Hindernisse erschweren eine konsistente Erfüllung: die Nicht-Entscheidbarkeit darüber, was im Einzelfall und in der je einmaligen Situation der (größere) Nutzen im Vergleich zum unvermeidlichen Schaden, wie (weit) die Spannung zwischen ärztlicher Fürsorgepflicht und Patienten-Selbstbestimmung auszutragen und was schließlich ein dem Kranken gerechtes Verhalten ist. Auf Seiten des Kranken und der Krankheit sind es inhärente Risiken der handlungsrelevant vorläufigen und möglicherweise falschen Diagnose und der Therapie sowie die Unsicherheit der Prognose. Angesichts solcher Unwägbarkeiten muss dem Arzt ein Handlungsspielraum innerhalb seines Verantwortungshorizontes eingeräumt werden, dem er den Erfordernissen und Möglichkeiten in bestmöglicher, person- und systemgemäßer Weise gerecht zu werden bemüht sein muss. Die prinzipiellen Unsicherheiten verlangen ein hohes Maß an Sach- inkl. Methodenkenntnis und Erfahrung. Ärztliches Handeln ist durch die unausweichliche Spannung von aktueller Entscheidungsnotwendigkeit, Begründungsoffenheit und Revisionsbereitschaft gekennzeichnet. Getragen wird diese Spannung durch die Verantwortung des Arztes und das Vertrauen des Kranken. Eine gewisse Konkretisierung erfährt die ärztliche Verantwortung in den juristisch geregelten Pflichten des Arztes: der »angemessenen Untersuchung und Behandlung im informierten Ein58 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Verantwortung und Vertrauen
verständnis« »zum Wohle des Kranken«. Die Ambivalenz der dazu erforderlichen Aufklärung liegt in ihrer möglichen Unangemessenheit des inhaltlichen und formalen Umfangs, in der fraglichen Verständlichkeit, der Diskrepanz ihrer Rationalität gegenüber der existenziellen Betroffenheit. Auch können die prognostische Unsicherheit, die Inadäquatheit einer zeitlich punktuellen Sachinformation und der für den Kranken erforderliche Prozess der Akzeptanz von Untersuchungen oder (Arbeits-)Diagnosen das Vertrauen und die Verantwortung belasten. Rechtliche Regelungen können in ihrer Vordergründigkeit und Allgemeingültigkeit der personalen Entsprechung aber nicht genügen. Die Achtung der Person des Kranken und die vermittelbare Wertbegründung ärztlichen Handelns zu seinem Wohl bzw. die Annahme der Offenheit und die Bereitschaft zur Compliance sind der tragende Grund für das wechselseitige Vertrauen und die Verantwortungsbereitschaft. Spezifische ärztliche Verantwortungsbereiche (in der Reproduktionsmedizin, der Intensiv- und Transplantationsmedizin, der individuellen und der juristischen Einflussnahme auf Entscheidungen am Lebensende inkl. verschiedene Formen der Sterbehilfe, der klinischen Forschung, der Allokationspolitik u. v. a.) bleiben hier außer Acht. Die Verpflichtung der ärztlichen Verantwortung auch in diesen Handlungsfeldern darf jedoch nicht übersehen werden.
Zusammenfassung •
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Das anthropologische Grundphänomen von Mensch in (leiblicher und/oder psychischer) Not und Mensch als Helfer konstituiert ein beiderseits belastendes und belastetes asymmetrisches Verhältnis von sachlicher und personaler Entsprechung von Arzt und Krankem, das von wechselseitiger Verantwortung und Vertrauen getragen wird. Die multidisziplinäre Betreuung des Kranken durch Ärzte, Pflegekräfte, Physiotherapeuten, Labor- und Apparate-Mediziner etc. verlangt – entgegen der (Gefahr der) Verantwortungsfragmentierung und -diffusion – eine gemeinschaftlich getragene Verantwortung und Koordination je aufgaben-spezifischer Funktionsverantwortung zum bestmöglichen Wohl des Kranken. Verantwortung ist durch eine fünfseitige Relation gekennzeichnet: ein Verantwortungssubjekt ist einem Verantwortungsobjekt 59 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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für einen Verantwortungsinhalt vor einer Verantwortungsinstanz um eines Wertes oder Gutes willen verantwortlich. Verantwortung und Vertrauen setzen als personale Kategorien Person und Personalität in ihrer jeweiligen Einzigkeit und Unverfügbarkeit voraus. Verantwortliches ärztliches Handeln erfordert Sach- und Verantwortungswissen, Handlungs- und Wertwissen. Verantwortung ist eine funktionale und soziale Beziehung, die vom beiderseitigen soziokulturellen und ökonomischen Kontext mitgeprägt wird. Die konstitutive Asymmetrie birgt Gefahren von Versachlichung und Verfehlung des Menschlichen, von Missbrauch und Macht im Verhalten wie in der sprachlichen Kommunikation. Normative (nicht letztbegründende) »Prinzipien mittlerer Reichweite« bedürfen der gemeinsamen (partizipativen) Einzelfallabwägung und -entscheidung. Rechtlich geregelte Pflichten des Arztes (Schweigepflicht, Aufklärungspflicht, Pflicht zur Gleichbehandlung und zur grundsätzlichen Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes des Kranken) sind moralisch im Respekt vor der Person aufgehoben. Auch persönliche Verhaltensweisen von Zuwendung, Gewissenhaftigkeit, angemessener Sorgfalt, Verschwiegenheit, Wahrhaftigkeit, Selbstreflexion und Selbst-Verantwortung gehören in den Bereich der reziproken Beziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken. Die Begegnung des Kranken oder ärztlicher Hilfe Bedürftigen mit dem Arzt setzt das gegenseitige Verhältnis von Verantwortung und Vertrauen voraus.
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Krankheit als Sprache – Über Herzschmerzen
Mit dem Erleben von Schmerz erfahren wir eine nach außen wie nach innen hin gerichtete Dialogik unserer Leiblichkeit. Schmerz richtet sich als Signal an den den Schmerz erleidenden Menschen, vielleicht als Zeichen körperlicher, leiblicher Gefährdung, als Appell, vielleicht auch als Selbstvergewisserung, vielleicht (im Lustschmerz) als ekstatisches Glücksgefühl, vielleicht als principium individuationis. Häufiger wird er wohl als Hinweis auf eine Schädigung wahrgenommen. Im weitesten Sinne ist er Leibsprache an seinen Träger und häufig auch an die Mitwelt, als unmittelbarer Ausdruck von Leiden mit der Bitte um Zuwendung, um Hilfe. So kennzeichnet er das Urphänomen von Not und Hilfe (Weizsäcker), sofern sich ein Arzt angesprochen fühlt: die doppelte Entsprechung von Mensch in Not und Mensch als Helfer bzw. Krankheit und »Medizin«. 1 Der Anspruch kann sich auf die körperliche, die pathophysiologische Ebene des Krankseins beziehen. Häufig – vermutlich häufiger, als von beiden Seiten der Kranker-Arzt-Beziehung her gedacht – ist aber das seelisch zu charakterisierende Missbefinden (mit-)beteiligt an dem bio-psycho-sozialen Prozess der Erkrankung im Allgemeinen und des Schmerzes im Besonderen. Diese Dimension öffnet sich meist angemessen nur im psychotherapeutischen Gespräch. Sie kann aber auch für den sensibel hinhörenden und auf die Leibsprache achtenden Arzt wahrnehmbar werden ohne ausdrückliche fachliche Psychodiagnostik. So wollen die folgenden Skizzen verstanden werden als Darstellungen unmittelbarer leib-seelischer Befindensstörungen bei internistischen Erkrankungen, hier – der Fachdisziplin des Autors entsprechend – bei kardialen Erkrankungen, der Angina pectoris und dem akuten Herzinfarkt. Es sind »Stücke von Biographien«.
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Weizsäcker, Viktor von (1926a): S. 13.
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Krankheit als Sprache
War bisher von der verbalen und der nonverbalen Sprache des Kranken die Rede, so soll jetzt ein weiterer Aspekt wortloser Kommunikation in den Blick genommen werden mit der Frage, ob nicht vielleicht das Kranksein als solches auch eine Form der Mitteilung sein kann. Das wird nicht in jedem Fall so sein und ist für Ärzte, die nicht in psycho-therapeutischer oder psycho-analytischer Seh- und Hörweise geübt oder mindestens sensibel für solche Ausdrucksmöglichkeiten sind, schwierig; vielleicht ist es sogar abwegig für ein streng naturwissenschaftliches Verständnis von Krankheit und Medizin. Es bedarf der Schulung. Dann aber kann eine Krankengeschichte, eine biographische Anamnese oder eine Situationsanalyse mehr über den Kranken als Person erschließen als die eng medizinische Sicht. Als Beispiele wähle ich Krankengeschichten von Patienten mit »Herzschmerzen«. Das Thema könnte allzu leicht verführen zu einer Darstellung der allegorischen Bedeutung des Herzens in der Trivial- wie in der geistlichen Sprache, in banalen Alltagswendungen, in der Liebeslyrik oder in der Sprache der Mystik. Das ist nicht das Anliegen der folgenden Ausführungen. Sie verstehen sich vielmehr als Ansatzpunkte eines situativen, vielleicht auch biographischen Verständnisses eines dem Allgemein- oder Facharzt, dem niedergelassenen wie dem in der Klinik tätigen Spezialisten möglicherweise täglich vorgetragenen Beschwerdebildes zahlreicher Patienten. Ich will beginnen mit der fragmentarischen Schilderung dreier Krankengeschichten: Zuerst die Geschichte einer fast 80jährigen Frau: Sehr bald nach Kriegsbeginn früh verwitwet und kinderlos, bindet sie 1960 einen damals 23jährigen Medizinstudenten enger an sich. Er gewinnt wegen vermeintlicher Ähnlichkeiten und verwandter Interessen die Bedeutung ihres im Kriege verschollenen Ehemannes und zugleich die des von ihm gewünschten Sohnes. In den letzten Jahren ihrer beruflichen Tätigkeit wird sie häufiger krank, zunächst mit Lungen- und Nierenbeckenentzündungen. Diese Erkrankungen geben immer häufiger Anlass zu Konsultationen des noch nicht fertigen Mediziners. Mit seiner Spezialisierung für Kardiologie beherrschen allmählich pektanginöse Beschwerden (Brustenge) das Leidensbild der inzwischen längst pensionierten Jugenderzieherin. Über Hunderte von Kilometern hinweg wird er zum Berater auch für die am Wohnort betreuende Internistin; kein kardiologischer Schritt erfolgt ohne sein Votum. Vorwürfe und Klagen über die Einsamkeit, über die zu seltenen Besuche von Seiten des Mediziners. Seine Heirat wird mit gemischten Gefühlen, der jungen Frau gegenüber auch ausdrücklich, begleitet. Die alte
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Krankheit als Sprache
Dame klagt mehr und mehr über ihre Angina pectoris, ihre Herzschmerzen, die oft »so grausam« seien, dass sie »am liebsten sterben« wolle. Auffallend sind die nur sehr lockere Beziehung der Schmerzen zu körperlichen Belastungen und die mangelhafte Reaktion auf Nitroglyzerin-Präparate. Wiederholte Unfälle mit multiplen Knochenbrüchen und Folgebeschwerden wie auch eine altersentsprechende Arthrose erklären eine zunehmende Bewegungs- und Gehbehinderung. Ein Altersdiabetes, eine erhebliche Adipositas und ein Glaukom belasten das Bild zusätzlich. Die Herzschmerzen aber durchziehen und beherrschen in wechselnder Intensität das Leidensbild, das fachkardiologisch bestätigt werden soll. Was aber kann bei einer damals bereits über 70-jährigen adipösen polymorbiden Frau mit konventionellen Methoden bestätigt werden von einem Symptom, das so stark der subjektiven Einschätzung unterliegt wie Schmerz? Wie ist Schmerz objektivierbar? Kurz: Das Befinden der betagten Frau wird seit ca. 15 Jahren zunehmend von »grausamen« Herzschmerzen geprägt, die ihr zeitweilig den Lebenswillen nehmen. Dennoch hat sie seit Beginn der Beschwerden mehrere Reisen und durchaus strapaziöse Unternehmungen anderer Art geleistet. Die zweite Krankengeschichte ist die eines 45-jährigen promovierten Akademikers, der uns nach einem akuten Myokardinfarkt zur Koronarangiographie überwiesen wurde. Diese bestätigte den abgelaufenen Infarkt und zeigte eine schwere diffuse koronare 3-Gefäß-Erkrankung mit Verschluss der rechten Kranzarterie und des Vorderwandastes der linken sowie zusätzlichen kritischen Stenosen 2 im Seitenwandgefäß. Der Befund veranlasste zur raschen Operation, die mit einem 4fach-Bypass 3 durchgeführt wurde. Der Verlauf war weitgehend komplikationslos, die postoperative Mobilisierung bei uns und in der Anschlussheilbehandlung war trotzdem verzögert. – So weit die vordergründige Geschichte. Was aber hintergründig? Ohne die Standard-Risikofaktoren (hoher Blutdruck, Rauchen, Fettstoffwechselstörungen oder Übergewicht) hatte dieser ungemein strebsame, leistungsbewusste, zum Perfektionismus neigende Psychologe gesundheitsbewusst gelebt und seit neun Jahren gejoggt. Der Infarkt, ohne Vorboten erlitten (wir wissen nicht, ob der Patient die Prodromi ignoriert hat oder ob der Infarkt tatsächlich aus heiterem Himmel eingetreten ist), war ihm wie ein Unfall vorgekommen. »Wie konnte das passieren? – Mir, der ich so gesundheitsbewusst gelebt habe!« Seine Frage, wie es denn jetzt weitergehen könne mit Sport (den unser Patient nicht aus Freude oder zum körperlichen Ausgleich neben der starken intellektuellen Anspannung trieb, sondern zur Fitness), mit der Arbeit, dem Beruf? Es kommen Äußerungen mit Blick auf Berufskollegen, auf die Ehefrau. Herr Dr. X war in
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Gefäßeinengungen. Gefäßüberbrückung über vier kritische Engstellen.
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Krankheit als Sprache
befristeter Anstellung am Universitätsinstitut, stand unter dem Druck, innerhalb der Frist seine Habilitation zu erreichen, wenn er nicht in eine ihm niedriger erscheinende Tätigkeit als Schul- oder Betriebspsychologe absteigen wollte. – Das Ergebnis der Herzkatheteruntersuchung war gänzlich niederschmetternd für ihn: keine Risikofaktoren, auf Gesundheit bedachte Lebensführung, und dann solch ein Befund! Der akute Myokardinfarkt war also nicht nur ein »Unfall«, sondern Ausdruck einer alle drei koronaren Hauptgefäße betreffenden Arteriosklerose! – Der Rat zur möglichst umgehenden Bypass-Operation war für ihn nicht zu fassen: Völlig unvorbereitet hatte er den Infarkt erlitten und musste sich jetzt, um weitere Infarkte abzuwenden, zur Herzoperation entschließen, sodass er aus der Arbeit mindestens für vier Monate herausgerissen wurde. Der dritte Patient ist ein 69-jähriger dynamischer Mann, der notfallmäßig (1987) auf unsere Intensivstation eingewiesen wurde wegen einer sog. instabilen Angina pectoris seit mehreren Tagen, nach bis dahin über Jahre hin stabilem Verlauf mit gelegentlichen Schmerzanfällen bei starker körperlicher Belastung. Gleich im ersten Gespräch äußert er den dringenden Wunsch nach einer Herzoperation, er könne wegen seiner Schmerzen so nicht weiterleben. Auf die Notwendigkeit einer vorausgehenden Katheter-Untersuchung hingewiesen, drängte er darauf, diese doch umgehend durchzuführen. Die Untersuchung wurde wenige Tage später vorgenommen. Unser Patient bereitete währenddessen alles vor für eine rasche Verlegung zur Operation in einem auswärtigen herzchirurgischen Zentrum. – Offensichtlich ein entschiedener, dynamischer Mann, der bis vor wenigen Tagen fast unbehindert körperliche Belastungen, Radfahrten und entsprechende Aktivitäten unternehmen konnte. Unter seinem Druck, auch unter dem Eindruck seiner medikamentös nicht hinreichend zu unterdrückenden Schmerzen haben wir ihn katheterisiert: Die linke Herzkammer fand sich stark erweitert mit einer weit ausgedehnten Infarktnarbe (der Patient wusste von keinem entsprechenden Ereignis!), die übrigen Wandabschnitte hochgradig in ihrer Kontraktionsfähigkeit eingeschränkt; das Koronarsystem mit Verschluss der rechten und der Zirkumflex-Arterie sowie subtotaler Einengung des Vorderwandgefäßes – inoperabel für einen Bypass. Der Patient konnte unseren Beschluss, von einer Operation abzusehen und medikamentös zu versuchen, ihn leidlich beschwerdefrei zu machen, nicht einsehen. Es müsse doch etwas zu machen sein, er könne jedenfalls so nicht weiterleben. Zwei Tage später verstarb er. – Warum gerade jetzt? Bislang hatte er im Selbstvertrauen unbeeinträchtigter körperlicher Leistungsfähigkeit gelebt, jetzt aber wissend um die Bedrohung erleidet er den Tod.
Was wollen diese drei Krankengeschichten, diese biographischen Bruchstücke sagen? – Es sei vorausgeschickt, dass hier nicht eine psychosomatische Herzinfarkt-Theorie, auch nicht das psychologische
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Krankheit als Sprache
Persönlichkeitsprofil des Koronarkranken, auch nicht des Angina pectoris-Kranken (sind sie unterschiedlich?) vorgelegt werden soll. Dazu fühle ich mich nicht kompetent. Zudem sehe ich nicht, dass – aus welcher psychologischen oder psychotherapeutischen Schule auch immer – eine hinlänglich befriedigende Konzeption, eine für diese Patienten verbindliche psychische Struktur oder eine verbindliche Psychodynamik gefunden worden wäre. Ist das überhaupt prinzipiell möglich? Verbindlich auch in dem Sinne, dass bei einer bestimmten psychischen Struktur oder Psychodynamik mit großer Verlässlichkeit eine Koronarkrankheit erwartet werden kann, wie umgekehrt aus der Diagnose einer Koronarkrankheit mit ihren Manifestationen von Angina pectoris und Infarkt auf bestimmte psychische Hintergründe geschlossen werden kann. – Auch soll (2.) nicht eine statistische Beweisführung für psychosomatische, besser soziopsycho-somatische Zusammenhänge für die Entwicklung von koronarer Herzkrankheit und akutem Myokardinfarkt vorgelegt werden. Auch kann ich (3.) keine psychoanalytische, aufdeckende biographische Exploration oder keine auch nur entfernt an eine Psychotherapie erinnernde Behandlung von Patienten mit Angina pectoris oder Herzinfarkt darstellen. Was ich allenfalls kann und will: eine mir deutlich gewordene kasuistische Evidenz psychischer Hintergründe von körperlichen Beschwerden und Erkrankungen vermitteln. Auch will ich versuchen, daran allgemeinere Assoziationen zu knüpfen, deren Stringenz sich bei anderen Kranken erweisen muss, die aber Anstöße geben können, hellhöriger zu werden für Krankheit als Sprache. Wir müssen die Phänomenologie dieser Sprache, in ihrer Macht wie ihrer Ohnmacht, als die Äußerungsformen der Kranken zu verstehen lernen; auch die sich in solcher Sprache ausdrückende LeibPhänomenologie. Was kommt in ihr zum Vorschein? In der Geschichte der alten Dame ist wohl der appellative Charakter der »Herzschmerzen« spürbar. Sie hat ihre Schmerzen, ihre Angina pectoris. Ohne auf die Doppeldeutigkeit des Possessivpronomens eingehen zu wollen, gilt es ebenso, das Haben zu erkennen. Haben hat ja einen sehr unterschiedlichen Charakter. Ich habe eine krumme Nase, anders als ich eine Flöte habe, ja ich habe meinen Arm, meine Hand anders als meine Nase, anders als meinen Magen, wieder anders als mein Herz. Hier ist ein Element von unterschiedlicher Distanz und Nähe, von Stellungnahme und Verfügung enthalten. Die Hand habe ich sozusagen bewusster, gehe aktiver mit ihr um, gebrauche, handhabe sie als Instrument. Als solches ist sie mir ferner. Als 65 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Krankheit als Sprache
bewusst eingesetzter, ja auch als unbewusst lebendiger, leibhafter Träger von Auftrag, von Ausdruck ist sie mir, meiner reflektierten und gelebten Person aber näher. Ist nicht in unserem Verhältnis zum Magen das Umgekehrte der Fall: weniger instrumentell, enger integriert in das Körperschema und dadurch der bewussten Stellungnahme weniger verfügbar? Diese unterschiedliche Verfügbarkeit über unsere Körperteile enthält ein anderes Element: das »Bewohnen« unseres Körpers, unseres Leibes. Wir sind in einigen anatomischen Regionen mehr zu Hause als in anderen, fühlen uns unterschiedlich stark als Person darin. Das ist keineswegs ein statischer Zustand, auch nicht nur willentlich oder bewusst empfunden, er wechselt ständig. Einerseits drängen sich verschiedene Körperregionen unterschiedlich ins bewusste Erleben, andererseits setzen wir ja wechselnd die Körperteile »zum Gebrauch« ein. Mal ist mir die Hand nahe beim Schreiben, dann das Ohr für Musik, mal sind wieder vegetative Funktionen vordringlich. So ist also das Haben von Leibbereichen sehr unterschiedlich. – Die wechselnde Nähe oder Distanz zu unseren Körperregionen hat auch etwas zu tun mit der Schmerzempfindung. Sind uns doch Schmerzen in der Distanz des Fußes oder der Hand eher erträglich, besser distanzierbar als im Bauch oder im Herzen. Zurück zu dem Doppelaspekt von Haben im Sinne von mehr oder weniger zufälligem Angehören und Verfügen. Schmerzen zu haben, auch Herzschmerzen zu haben, kann neben dem rein passiven, dem Leidenscharakter ebenso den des aktiven Verfügens über Schmerzen bedeuten. Zieht doch der Masochist aus dem Schmerz sogar einen Lustgewinn! Der Kranke mit der Angina pectoris ist Subjekt seiner Beschwerden: Subjekt im Sinne des Akteurs, des Handelnden (man beachte die instrumentelle Assoziation von Hand und Handeln!) und er ist seiner (!) Angina pectoris unterworfen, sub-iectus. Es ist dies das dialektisch freie Kranksein, das Viktor von Weizsäcker meint, wenn er davon spricht, dass der Kranke seine Krankheit nicht nur hat, sondern sie auch macht. Das ist uns aus hysterischen Verhaltensweisen wohl vertraut und allgemein akzeptiert. Wir müssen aber lernen, das auch bei so stark körperlichen, i. e. S. somatischen Krankheiten wie der koronaren Herzkrankheit zu sehen, bei einer Lungenentzündung oder einer Grippe. Wir müssen es auch positiv sehen und nicht nur in der Weise abwertend und abwehrend, die in Ausdrücken wie Überlagerung oder Aggravation sich kundtut. 66 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Krankheit als Sprache
Für die koronare Herzkrankheit haben die Kardiologen längst die funktionell wechselnde, die sog. dynamische Koronarstenose kennengelernt als Mechanismus, der die Variabilität des Symptoms erklären kann. Wie der Kranke aber diesen Mechanismus »benutzen«, ihn haben, über ihn verfügen kann – auch im Sinne eines intentionalen, gerichteten Ausdrucks, ausgehend von einem leiblichen Personzentrum –, das bleibt der biographischen Analyse von Situationen, Kommunikation, Vor-Gängen (auch biographischen Vor-Gängen!) individuell vorbehalten. Auch das Wann, die Frage »Warum gerade jetzt?«, erhellt sich nur aus dem biographischen Ort der Beschwerden. Jahre später hat mich das folgende Ereignis erschüttert: Ein 78-jähriger, biologisch jüngerer Mann wurde wegen einer mittelschweren Angina pectoris katheterisiert in der Hoffnung, ihm durch eine Ballondilatation eines Kranzgefäßes helfen zu können. Der koronarangiographische Befund hieß uns, zu einer medikamentösen Therapie zu raten. Das über den Untersuchungsbefund und die Therapieentscheidung aufklärende, offene Gespräch am Abend nach der Katheteruntersuchung verlief sehr ruhig, bis Herr K. eine zunehmende Unruhe spüren ließ, die uns veranlasste, das Gespräch abzubrechen und weitere gemeinsame Entscheidungen auf den nächsten Tag aufzuschieben. Wenige Minuten später zeigten sich EKGVeränderungen (ST-Hebungen) im Sinne akuter Durchblutungsstörung des Herzmuskels, die zunächst nach Gabe eines anti-anginösen Medikamentes zurückgingen. Unter heftigen Brustschmerzen entwickelten sich jedoch innerhalb einer Stunde Zeichen eines akuten Myokardinfarktes, dem der Kranke sehr rasch erlag. – Greift nicht eine Erklärung dieses akuten Todes durch die gespräch-induzierte Sympathikus-Stimulation und den infolgedessen erhöhten Sauerstoffbedarf des Herzmuskels, eine Erklärung nur auf der somatischen, der pathophysiologischen Ebene zu kurz? »Warum gerade jetzt?«
In dem dialektisch freien Kranksein (wie es mehr oder weniger und in unterschiedlicher Gestalt für viele Erkrankungen gilt) klingen auch unterschiedliche (Selbst-)Deutungen von Leiden und das Wechselverhältnis von Leiden und Handeln an. Zu leiden ist ja nicht nur passiv, sondern auch aktiv: Ein Leiden annehmen, es gestalten, es bewältigen, es als Reifungsprozess erleben, sind ja aktive Umgangsmöglichkeiten mit dem Leiden. Die konstitutiv anthropologische Dimension – soweit das überhaupt möglich ist, vor einer theologischen Auslotung des Leidens – sei damit nur angedeutet. Und – in Paren-
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Krankheit als Sprache
these – die Frage, was sich hinter der wachsenden Unfähigkeit zu leiden verbirgt oder auch verrät. Umgekehrt ist Handeln ja nicht nur aktiv, es kann auch eine Leidensform sein. Ich denke nicht nur an den Aktivismus, durch den gerade viele Koronarkranke ausgezeichnet sind, sondern auch an die stillere Mußelosigkeit, an Verdrängungsaktivitäten. Diese implizite Doppeldeutigkeit von Aktivität und Passivität im Leiden und im Handeln ist ein Aspekt dialektischer Freiheit im Kranksein. Zurück zu unserer alten Dame mit ihren Herzschmerzen. Was haben wir bisher von ihr gelernt? – Die Doppeldeutigkeit von Haben als Erleiden und Verfügen, das Haben und Machen der Symptome (das meint nicht die psychosomatische Genese der Koronarkrankheit!), die Bedeutung des Subjektes im Kranksein dieser Dame als Akteur und Unterworfene – alles dies wird in dem appellativen Charakter der seit ca. 15 Jahren währenden Herzschmerzen deutlich. Warum gerade Herzschmerzen? Die Frau hatte aufgrund früherer Erkrankungen andere »loci minoris resistentiae.« Warum »wählt« sie jetzt das Herz? Die psychosomatischen Theorien zur Organwahl sollen hier nicht diskutiert werden. Vielmehr will ich, ausgehend von mir deutlich gewordenen individuellen Evidenzfällen, einiges assoziieren, was im Zusammenhang mit Herzschmerzen aufscheinen kann und die Wahl gerade dieses Organs mindestens kasuistisch plausibel macht. Was in sehr vielen Gesprächen mit Koronarpatienten, mit Angina-pectoris-Kranken immer wieder anklingt und – sofern man sich Zeit und ein offenes Ohr nimmt – oft nicht nur eben anklingt, sondern einen breiten Raum des Erlebens dieses Symptoms bestimmt, ist die Angst. Gelegentlich konkret fixiert an mögliche Angstobjekte (Realangst), meist aber eine unbestimmte, die ganze Existenz bedrohende Angst. Zu den Symptomen des akuten Myokardinfarktes wird sogar in streng somatisch orientierten Lehrbüchern die Vernichtungsangst, der Vernichtungsschmerz als typisches Erlebnis des Infarkt-Patienten genannt. Man beachte das Synonym Vernichtungsangst und Vernichtungsschmerz! Diese die Existenz bedrohende Erfahrung ist es auch, über die viele Angina-pectoris-Kranke berichten: die Angst. Angst und Herzempfindung sind erlebnismäßig so eng miteinander verbunden, dass das Herz als das »spezifische Sinnesorgan der Angst« (analog – aber nur analog! – dem Ohr als dem Sinnesorgan für akustische Phänomene) bezeichnet wurde. Was wird – vor dem Hintergrund der skiz68 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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zierten Nähe oder Distanz zu unseren verschiedenen Leibregionen – darin deutlich? Das Herz ist uns ja in Freude und Schmerz erlebnismäßig sehr nahe, näher als z. B. die Niere, näher und auch anders als der Magen, anders als die Hand. Wir verbinden mit dem Herzen stärker als mit anderen Organen emotionale Erfahrungen, Widerfahrnisse (eine wunderbare Gegenläufigkeit von Aktivität, hier z. B. Zuwendung, und Passivität, z. B. angerührt zu werden, das Berührt-Werden in der Liebe!). So ist auch über diese emotionale Offenheit des Herzens hinaus vom Herzen als dem Organ des Wertempfindens gesprochen worden. In all den »Herzensäußerungen« wird eines deutlich: der kommunikative Aspekt, nicht rational, sondern emotional, ja vom Kern, dem Herzen der Person ausgehend und dort empfangen. Herz hat etwas mit Kommunikation zu tun. Wo tiefgreifende Kommunikationsstrukturen, Bindungen in Gefahr sind, ist oft das Herz der Manifestationsort für das Empfinden solcher Gefährdungen. 4 Dabei muss durchaus das Doppelgesicht, die Ambivalenz von Bindungen gesehen, therapeutisch möglicherweise auch aufgehellt werden. Wie stark und wie geartet waren doch die Bindungen und dementsprechend die Angst vor deren Lösung bei der alten Dame? Und welche Bindung verrät sich in der Äußerung einer ca. 40-jährigen Frau, die ihre Beschwerdeschilderung fast mit dem Satz beginnt, ihr Vater habe die gleichen Beschwerden gehabt kurze Zeit vor seinem Tode? Die gleiche Frau in einem späteren Nebensatz des Gespräches: Sie habe sich das alles sehr zu Herzen genommen. Wenn Patienten ihre Beschwerden als Herzschmerzen schildern, so darf der Arzt durchaus hellhörig werden für die Dimension der Betroffenheit der emotionalen Mitte der Person, des Zentrums von Kommunikation, der Existenz. Verlassen wir die alte Dame und rufen uns die Geschichte des mittelalten Akademikers ins Gedächtnis. Das mittlere Lebensalter ist ja in besonderer Weise gefährdet. Wer weiß denn für sich, wann sein mittleres Alter, die »Hälfte des Lebens«, die Klimax von Möglichkeiten erreicht ist? Herr Dr. X war dem Ziel seiner Selbstverwirklichung nahe, die Habilitation lag fast greifbar vor ihm. Jetzt ereignet sich der »Unfall« eines Infarktes, die Koronarangiographie zeigt die brüchige, stark eingeengte Gesundheit, die Lebensbedrohung, die als Damoklesschwert über ihm schwebt, nachdem er bei dem Infarkt »noch 4
Csef, Herbert & Wyss, Dieter (1985).
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Krankheit als Sprache
einmal davon gekommen« ist. Wieder ist es die existentielle Angst, die ihm die Brust einengt (Angina pectoris!), einschnürt. Er hat sein Selbstwertgefühl verloren, seine Identität ist gebrochen. Es hat lange gebraucht, bis er – mindestens äußerlich, an der Oberfläche – wieder eine gewisse Stabilität zurückgewann. Viele der Infarkt-Patienten – das sind ja häufig Männer »in den besten Jahren« – erleiden mit dem Infarkt diesen Bruch in ihrem Selbstverständnis; ganz anders als beispielsweise Patienten mit Magenoperation und wieder anders als Krebspatienten. Fragen wir: An wen richtet sich die Sprache dieses Körpergeschehens? Ich benutze hier bewusst vorläufig den Begriff Körpergeschehen und nicht Leiberlebnis. Ist das denn ein Geschehen, ein nur passiver, erlittener Vorgang, ein Ablauf? Und ist es der Körper, der objektivierbare Gegenstand der erkrankenden Person, an dem etwas geschieht? Ist es nicht der Leib, in dem der Kranke zu Hause ist auch als Person? Es ist nicht ein Körpergeschehen. Der Leib, hier gar das Herz des Leibes, Vermittler und Ermöglichungsgrund emotionaler Kommunikation, ist krank. Ist das nicht auch ein aktiv gestaltetes, die akute Manifestation vorbereitendes und sie dann auch im Leiden noch prägendes Handeln, nicht nur passives Geschehen? Wenn hier in der »Sprache dieser Erkrankung« der appellative Charakter nicht so deutlich war, so ist doch zu fragen, ob sich nicht vielleicht der Leib gewissermaßen an seinen Träger gewandt hat? Es gibt ein Gedicht von Eugen Roth: »Ein Mensch nimmt guten Glaubens an, er hab’ das Äußerste getan. Doch leider Gotts versäumt er nun, auch noch das Innerste zu tun.« Ist es hier bei unserem Patienten vielleicht »das Innerste«, das sich zu Wort meldet? Ich lasse das offen – als möglichen Zugang zu dem Kranken: für den hellhörigen Arzt, für den Freund, den Nächsten. Jeder kann – einmal darauf aufmerksam geworden – auf seine Weise dieses Wort vernehmen und darauf fragend antworten. Zu der dritten Krankengeschichte kann ich fast nichts sagen. Sie hat mich erschüttert. Sie ist – wenn man ein Ohr, auch ein Herz für die Sprache der Krankheit hat – selbstredend. Hier ist mit der unabänderlichen Konsequenz des Todes leiblich eine existentielle Entscheidung, nicht weiterleben zu können oder zu wollen, getroffen worden wie nicht deutlicher möglich. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es sich um drei sehr unterschiedliche, fragmentarisch geschilderte Krankengeschichten handelt, wie sie beinahe alltäglich vorkommen, mindestens hervor70 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Krankheit als Sprache
kommen können, wenn wir lernen, Krankheit auch als Sprache zu hören, zu verstehen, wahrzunehmen, für wahr zu nehmen. Es sind biographische Bruch-Stücke: der Bruch von Bindungen, von Kommunikation – der Bruch im Selbstverständnis und Selbstwertgefühl, in der Identität – und schließlich der Bruch in der Existenz.
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Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes
Das vorausgegangene Kapitel hat mit den kurzen Krankengeschichten einen von Viktor von Weizsäcker eindringlich betonten Aspekt praktizierter anthropologischer Medizin deutlich gemacht: die »biographische Methode« der Ermittlung der Krankengeschichte i. S. der historia aegroti et passionis, nicht nur der historia morbi, auf die sich allermeist die Anamnese im klinischen Alltag beschränkt. Die biographische Anamnese kann die oft sehr enge Verknüpfung von lebensgeschichtlichen »Daten« mit Erkrankungen zu Tage fördern – sei diese Beziehung verursachend, auslösend oder begünstigend, kausal oder konditional gedacht. So sind Erkrankungen während biographischer Wendepunkte wie Schulabschluss, Berufseintritt, Stellenwechsel, Änderungen menschlicher Beziehungen oder Pensionierung nicht selten. Jedenfalls wird eine »biographische Anamnese« die Zeitlichkeit als eine die menschliche Existenz prägende Dimension erfahrbar machen für den Kranken wie für den Arzt. Wir sind – ob krank oder gesund – in der Zeit und die Zeit in uns in unterschiedlicher Dichte oder Leere. Wir erleben den Zeitfluss leiblich. Das Zeit-Erleben ist für uns stets leib-gebunden. Es ist Leib-Zeitlichkeit. Und wie sehr kann das Zeiterleben im Kranksein verändert sein! Nicht nur bei psychischen Erkrankungen, sondern auch bei internistischen oder chirurgischen Erkrankungen. Man denke nur an das Erleben länger anhaltender Schmerzen oder an Schlafstörungen im Kranksein, wenn Minuten zu Stunden werden können. Das folgende Kapitel soll Aspekte einer für das ärztliche Handeln relevanten Menschenlehre deutlich machen, die unabhängig von psychosomatischer (besser anthropologischer) Medizin in jeder medizinischen Disziplin für den Arzt und für den Kranken erfahrbar sind. Es sind menschliche, anthropologische Kennzeichen, die im Krankwerden und Kranksein erlebbar verändert sein können. Deswegen werden sie im Folgenden in den Handlungshorizont
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Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes
eines anthropologischen Verständnisses von Krankheit und Kranksein gestellt.
* * * Der Titel markiert das Fragmentarische und Vorläufige der hier vorgebrachten Überlegungen zu einem medizinischen Menschenbild, d. h. einer vor dem Erfahrungshintergrund des ärztlichen Umgangs mit kranken Menschen und der Zielsetzung, Heilung oder mindestens Linderung von Leiden zu ermöglichen, bedachten Anthropologie. Fragmentarisch bleiben sie angesichts der Vielfalt der auch im Krankwerden, im Kranksein und in der Gesundung erfahrbaren Aspekte menschlicher Konstitution; vorläufig, weil sie einer weiterzuführenden Denkbemühung entspringen und weil ihr Gegenstand, der kranke Mensch, wie die um ihn besorgte und institutionalisierte Medizin einer steten Entwicklung unterliegen. Auch wandeln sich in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander die Zielrichtung und die sich ständig verändernden diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten. Über die individuellen Motive medizinischer Behandlung hinaus können gesellschaftliche, ökonomische und soziokulturelle Entwicklungen das medizinisch handlungsrelevante Menschenbild verändern. Eine zweite Vorbemerkung sei erlaubt: Ein »medizinisches Menschenbild« kann nur von einer allgemeinen, ebenso für gesunde Personen geltenden Anthropologie ausgehen. So werden die folgenden Überlegungen Aspekte menschlicher Konstitution berücksichtigen, die auch den gesunden Menschen prägen, wiewohl sie im Kranksein verändert erlebt und gestaltet sein können. Eine dritte Vorbemerkung: Die Überlegungen stützen sich auf die ärztliche Erfahrung des Autors mit erwachsenen Kranken. Sie lassen Fragen zu menschlichem Leben von der befruchteten Eizelle und dem Embryo wie auch des Neugeborenen und Kindes außer Acht. Mitbedacht ist jedoch der schwerkranke und der sterbende Mensch sowie der Leichnam als Gegenüber ärztlichen Umgangs. Schließlich eine vierte Vorbemerkung, die ins Zentrum einer medizinischen Menschenkunde führt: Wir müssen unterscheiden zwischen der Sach- und der Befindlichkeitskategorie, zwischen Krankheit und Kranksein: »Ich habe eine Krankheit« vs. »ich bin krank« – sagt der Kranke. Die Unterscheidung ist zwar nicht randscharf, aber sie prägt auch den Umgang des Arztes mit dem Kranken und das beiderseitige Verständnis von Krankheit und Kranksein. 73 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes
Die folgenden Überlegungen zielen auf das ärztliche Handeln und nicht auf eine Medizintheorie. Zuerst sollen – ausgehend von Viktor von Weizsäckers anthropologischer Medizin und sie erweiternd – Grundbestimmungen des Menschen skizziert werden, die dem Arzt/der Ärztin im Umgang mit dem Kranken erfahrbar und als für das Kranksein und das ärztliche Handeln relevant werden (können). Im zweiten Teil will ich versuchen, einen möglichen Zugang zu einem Krankheitsverständnis anthropologischer Medizin zu öffnen, das (unter Aufnahme der heute vorherrschenden naturwissenschaftlichen Medizin) der komplexen Natur des Menschen im Kranksein gerecht werden kann.
Aspekte eines medizinischen Menschenbildes Ein medizinisches Menschenbild, eine medizinische Anthropologie 1 – aus der Erfahrung des ärztlichen Umgangs mit kranken Menschen – müsse aus einer anthropologischen Medizin hervorgehen – so Viktor von Weizsäcker, mit dessen Namen diese Medizin verbunden ist. 2 Damit ist die fundamentale Beziehung, die wechselseitige Herausforderung und Befruchtung zwischen dem ärztlichen Handeln und der Lehre vom kranken Menschen benannt: der Umgang mit dem Kranken prägt die Lehre, die Anthropologie, und vice versa die Lehre prägt die Praxis. Der Arzt muss »immer wieder hin- und her[-gehen] zwischen anthropologischer Medizin und medizinischer Anthropologie.« 3 So werden im Folgenden die beiden Blickrichtungen nicht randscharf voneinander getrennt werden können. Weizsäcker verfolgt keine systematische Darstellung der reziprok aufeinander bezogenen Aufgaben. Vielmehr spricht er von der »Wahl der Methoden«, die Im Sinne der im Beitrag »Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt« (S. 13–42) dargelegten Unterscheidung zwischen dem medizinischen und dem ärztlichen Blick sollte auch hier unterschieden werden zwischen der medizinisch sachbezogenen und der personal auf den Kranken bezogenen Anthropologie. Im Blick auf das häufige Changieren und die wechselseitige Abhängigkeit zwischen »medizinischer Anthropologie« und »anthropologischer Medizin« bei Weizsäcker wird im Folgenden der Begriff der ärztlichen Anthropologie bevorzugt. 2 Weizsäcker, Viktor von (1928b): S. 214. 3 Ders. (1951a): S. 489. 1
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Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes
»einmal Ergebnis sein wird, das vorweggenommen wird […] und das Resultat wird zur Grundlage gemacht. Wir nennen solche Vorwegnahme […] Prolepsis. Am Problem der Methode wird die proleptische Situation der anthropologischen Medizin sehr deutlich.« 4
Es ist also die Situation, nicht der Sachbereich, die anthropologische Medizin und medizinische Anthropologie wechselseitig prägt: die Situation des Kranken, der erwartend und hoffend auf die (Ermöglichung von) Gesundung sich selbst voraus ist. Und es ist der Arzt, der seiner »empiristische[n] Einstellung […] nur die Bedeutung eines Entwurfes« beimisst, »aber immer neuen Korrekturen offen bleiben muss.« 5 Ärztliches Handeln im Sinne anthropologischer Medizin ist proleptisch. Fragen wir zunächst nach Aspekten eines ärztlich handlungsrelevanten Menschenbildes. Sie können wegen ihrer Komplexität nur skizziert und keineswegs in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Durchdringung ausgelotet werden. So beschränke ich mich auf • die Leiblichkeit, • die Subjekthaftigkeit und Intersubjektivität des Menschen, • die Zeitlichkeit und biographische Geschichtlichkeit, Endlichkeit und Sterblichkeit, • das Pathische menschlicher Existenz, • die Gegenseitigkeit und Solidarität sowie die Selbsttranszendenz des Menschen.
Leiblichkeit Der Mensch in seiner bio-psycho-sozialen Konstitution ist in Mimik, Gestik, Haltung und Bewegung Leib, »beseelter Körper«. Er ist er selbst als Individuum, als Person. Noch bevor er zu Selbstbewusstsein erwacht, spürt er präreflexiv sich selbst, agiert er i. w. S. leiblich. Er antwortet früh schon leiblich auf seine Mutter, seine Mit- und Umwelt, noch bevor er auch reflexiv sich selber wahrnimmt. In diesem Entwicklungsprozess wird ihm der Leib zum Medium, zum »Organ« seiner Selbstempfindung und mehr und mehr zum Ausdrucksorgan. Als Kranker kommt er uns prima vista in seiner Körperlichkeit entgegen und zugleich als er selbst in seiner Leiblichkeit. Der Leib ist 4 5
Ebd., S. 489. Ebd., S. 489.
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Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes
quasi Organ der Selbsterfahrung und Selbstpräsentation: von den meist (scheinbar) spontan oder reaktiv ausgelösten vegetativen Leibgefühlen bis zu erlittenen Schmerzen und erlebter Freude, existenziellen Gefühlen (Hoffnung, Trauer und Zuversicht). Sie alle können zwar willentlich oder emotional, situativ und sozial gesteuert, gezügelt, gestaltet werden – dennoch ist der Mensch ihnen in unterschiedlicher Weise unterworfen, »sub-iectus«. Der Leib ermöglicht ihm die Erfahrung der Zeitlichkeit, LeibZeitlichkeit in Wachstum, Reifung, Endlichkeit auch in biologischen Rhythmen im Laufe des Tages, des Jahres, des Lebens. Auch Erinnerung, Aktualität (in Denken, Sprache und Handlung) und Entwurf sind leiblich erlebte, z. T. auch vorausgreifende, proleptische Phänomene. Sie bringen uns in gesunden und mehr noch in kranken Tagen die Begrenztheit unserer Möglichkeiten zu Bewusstsein, unsere Vulnerabilität und Unsicherheit. Der Leib ist das Organ von Selbstempfindung, das wir Ärzte bei der körperlichen Untersuchung berühren, behandeln. Er ist auch Subjekt verletzbarer Selbstempfindung und personaler Selbsterfahrung. Er ermöglicht Selbstbezüglichkeit (Reflexivität und Selbstreferenzialität), auch die Erfahrung der Ausrichtung, der Intentionalität auf Außen-, Mit- und Umwelt. Indem wir uns als wir selbst auf ein Du hin, auf Mitmenschen bezogen erleben können, ermöglicht uns unsere Leiblichkeit auch gestaltete Beziehungsfähigkeit bis zur leiblich-erotischen Hingabe. Ist es schon das Sich-selbst-Fühlen, das Sich-Ausdrücken in Gestik, Mimik und Handlungen im Gesundsein, so mehr noch das Selbst-Erleben in den verschiedenen Formen möglicher leiblicher Verletzungen bis zur schweren Krankheit: Wir sind es je selbst in unserer Leiblichkeit. Sie ist Ermöglichungsgrund von Beziehung (Relationalität und Intersubjektivität). Der französische Philosoph Merleau-Ponty spricht von Zwischenleiblichkeit (»intercorporéïté«). 6 Leib und Leiblichkeit unterscheiden sich kategorial von Körper und Körperlichkeit. 7 Der Körper bis zu molekularen und elektrophysiologischen Prozessen ist objektive Ermöglichungsgrundlage, gewissermaßen Substrat der mehrdimensionalen Phänomene des Leibes, des Lebens. Die Unterscheidung ist für den Umgang mit dem Merleau-Ponty, Maurice (1959): S. 256. Weizsäcker unterscheidet nicht konsequent zwischen den beiden Aspekten von Selbst- und Fremderfahrung. – Vgl. dazu hier den Beitrag »Sprache, Leib und Körper des Kranken«, S. 101–119.
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Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes
kranken Menschen in der unmittelbaren Krankenuntersuchung oder der leistungsphysiologischen Prüfung durchaus relevant. In das (nicht unbedingt bewusste) subjekthafte Erleben und Agieren der Leiblichkeit gehen auch biographische Erfahrungen (Leib-Erinnerungen) und soziokulturelle Einflüsse ein. Wiederum ist Leiblichkeit mitgeprägt von anderen Facetten der conditio humana: die Erfahrung von Gedächtnis und Erinnerung, das Erleben von Aktualität (in Denken, Sprache und Handlung) von Vorgriff und Entwurf (Prolepsis). Lebendigkeit ist an Leiblichkeit gebunden.
Subjekthaftigkeit und Intersubjektivität des Menschen Subjekthaftigkeit und Intersubjektivität sind Grundbestimmungen des Menschen. Subjekt wird hier als leiblich-geistiges, selbständiges (d. h. nicht unabhängiges) Handlungs- und Erlebniszentrum verstanden. Es ist weder reines Bewusstsein, noch ist es nur Leib. Es ist (nicht unbedingt bewusster) Akteur seines Handelns, es erlebt seine Befindlichkeit, ist auch das Subjekt, das Ich seiner emotionalen, mentalen, intentionalen Akte. Es ist erlebendes und gestaltendes Zentrum seines körperlichen, leiblichen oder seelischen Leidens, der Widerfahrnisse seitens der Mit- und Umwelt. Wo ist hier eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen Aktivität und Passivität gerade auch spezifisch menschlicher Lebensvollzüge wie Empfangen, Hingabe, Vertrauen, Verantwortung u. v. a.? Solche reziprok intentionalen Akte vollziehen sich im Gestaltkreis von Rezeptivität und Responsivität. 8 Darauf ist zurückzukommen. Indem das in sich selbst zentrische Subjekt sich selbst zum Objekt werden kann, steht es in »exzentrischer Positionalität« zu sich selbst, 9 in einem Selbstverhältnis. Sofern sich der Mensch auf den Mitmenschen bezieht, wird Intersubjektivität, ein Ich-Du-Verhältnis konstituiert, das sich in aufeinander abgestimmtem Verhalten, Handeln, Fühlen und Denken manifestieren kann. Solche Kommunikation muss sich nicht sprachlich artikulieren, sie kann sich nonverbal unmittelbar leiblich ereignen.
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Waldenfels, Bernhard (2000): S. 368 ff. Plessner, Helmuth (1928): S. 360 ff.
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Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes
Der Mensch ist als Gesunder wie in seinem Kranksein Subjekt, Handelnder, nicht nur Leidender, er ist aktiv und passiv. Er hat nicht nur, sondern macht auch seine Krankheit, nicht selten mit appellativem Gestus und Impetus an Mitmenschen oder an die »Welt«. Auch noch im Sterben ist er Subjekt bis in den Tod. Die Dimension der Subjekthaftigkeit ist aufs engste mit anderen Konstitutiva des Menschen verflochten. Sie durchwirkt die Leiblichkeit, die Zeitlichkeit und biographische Geschichtlichkeit, wie umgekehrt diese Merkmale die Subjektivität in ihrer pathischen Selbsterfahrung prägen. »Das Problem des Menschen in der Medizin […] ist, daß er, der Mensch, seine Krankheit, die als Teil seiner ganzen Biographie zu verstehen ist, nicht nur hat, sondern auch macht, daß er die Krankheit, die Ausdrucksgebärde, die Sprache seines Körpers produziert.« 10
Hier kommt die Ambiguität von Krankheit und Kranksein zum Vorschein. Was uns als Krankheitsbild deutlich wird, ist zugleich das Allgemeine und das Individuelle, der Sachverhalt und die Befindlichkeit: der Herzinfarkt und die Existenzkrise der Lebensbedrohung, die akute Gallenkolik und das Schmerzerleben, die chronische Gelenkmutilation und die veränderte zukünftige innere und äußere Bewegungsfreiheit. Erlebte und gestaltete Krankheit und erlittenes Kranksein, auch in der biographischen Zeitlichkeit, der Leib-Zeitlichkeit aus der Vergangenheit in eine offene, vielleicht ungewisse Zukunft.
Zeitlichkeit, Endlichkeit und biographische Geschichtlichkeit des Menschen Zeit wird uns (als Erwachsenen) in unserem Kulturraum erlebbar als metrisch-linear ablaufendes, (physikalisch) unumkehrbares Fortschreiten, als biologische Entwicklung, als gelebte und erlebte Dauer und Vergänglichkeit sowie als offene Zukunft. Die weiten Abschnitte der erlebten Entwicklung von der Kindheit über das Jugend- und Erwachsenen- zum Greisenalter werden überlagert durch die kurzfristigen Phasen des alltäglichen Wechsels von Frische und Müdigkeit, Hunger und Sättigung, möglicher leiblicher und geistiger Aktivität 10
Weizsäcker, Viktor von (1953): S. 370.
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und Erschöpfung, die Phasen von Leibgefühlen. Darin erfahren wir diese auch als unsere Leib-Zeit. Gleichermaßen können nicht-phasische Ereignisse nicht-metrisch zeitlich erlebt und gelebt werden: der intensive Augenblick der Dauer des Glücks, die schier unendliche Länge eines heftigen Schmerzes; gelebt in der doppelten Weise aktiv-passiven Auskostens oder Erfüllens bzw. des Erleidens der Gegenwart und der Unwiederholbarkeit gelebter Vergangenheit und der Ausrichtung auf eine offene Zukunft. Als biographische Zeit wie als Leib-Zeit konstituiert sie unsere durch die Zeit laufende, diachrone Identität. Sie ist aus der Gegenwart zurückgreifende Erinnerung und zukunftsoffen in Hoffnung, Ungewissheit oder Angst. Mit der möglichen Sinnfindung gewinnt die Zeitlichkeit des Menschen trotz aller Zufälligkeiten und Bedrohungen, trotz aller Brüche den Aspekt des biographischen Zusammenhangs, der Nicht-Zufälligkeit des lebensgeschichtlichen Horizontes. Wird im Vergehen und Vergessen der Verlust der Zeit spürbar, so kann in der Erinnerung und Erwartung Lebenszeit gehalten, vergegenwärtigt werden: »[…] in der Vergangenheit ergibt sich dann Vergegenwärtigung durch Erinnerung, in der Zukunft Vergegenwärtigung durch Erwartung. Erinnerung und Erwartung (Anamnesis und Prolepsis) vergegenwärtigen das Ungleichzeitige im Miteinander […].« 11
Die zeitüberbrückende Vergegenwärtigung 12 der Zukunft kann Erwartungen und Hoffnungen, aber auch Verzweiflung und Angst angesichts der Ungewissheit wachrufen. Der fundamentale Wandel gelebter und erlebter Zeit in der Werdenshemmung der Depression 13 wie der demenzielle oder psychopathologisch bedingte Vergangenheitsverlust des alternden Menschen oder des Schizophrenen sind Beispiele veränderten Zeitbewusstseins im Kranksein. Das Zeiterleben kann uns auch unsere Endlichkeit, unsere Sterblichkeit zu Bewusstsein bringen: beides in dem Sinne, dass unser Leben irgendwann einmal zu Ende geht, und im Sinne der ständigen Bedrohung, jederzeit »mitten im Leben« sterben zu können – Selbsterfahrungen, die gleichermaßen zu passiver Hinnahme oder aktiver Gestaltung des Lebens veranlassen können. Die Unausweichlichkeit
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Ders. (1946a): S. 79. Auersperg, Alfred Prinz (1954): S. 3. Gebsattel, Viktor Emil von (1954c): S. 38.
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des Sterbens und des Todes – sei sie kraft eines Glaubens auf ein Leben nach dem Tode überschritten oder als definitive Auslöschung verstanden – markiert das brutale Ende unserer Zeitlichkeit. Auf diesen zwar meist verdrängten, dennoch lebenswirksamen Zusammenhang unserer Zeiterfahrung mit der Ahnung der Sterblichkeit hat m. W. Weizsäcker nicht systematisch hingewiesen. Nicht nur Krebskranke erleben ihre »Krankheit zum Tode«, auch Patienten mit Herzinfarkt oder schweren Atemwegs- oder progredienten rheumatischen Erkrankungen haben den Tod vor Augen. Schließlich ist unser Zeiterleben über die individuelle Dimension hinaus eine soziale Erfahrung. 14 In den Ordnungen von Gleichzeitigkeiten (Tageslauf, Fahrpläne, MEZ etc.) wie auch durch die Vergleichbarkeit meiner Zeiterfahrung mit der meiner Mitmenschen ist sie soziale Zeit, überindividuell im Erleben gemeinsamer Freude oder Trauer, Zuversicht oder Besorgnis.
Die pathische Existenz des Menschen Das Pathische ist nach Weizsäcker ein Wesensmerkmal des gesunden wie des kranken Menschen im Schwebezustand des Möglichen. Es ist nicht das Krankhafte i. S. der Pathologie, d. h. im Sinne gestörter Organmorphologie oder -physiologie. Das Pathische ist eine anthropologische Verhältniskategorie. Weizsäcker beschreibt den »Mensch[en] in der pathischen Anthropologie von allem Anfang an als unzulänglich, unfertig, ergänzungsbedürftig, veränderungssüchtig, indeterminiert, defekt oder ohnmächtig […] nicht als eine[n] oder etwas, den oder das ›es gibt‹, sondern als eine[n] oder etwas, das wird oder ›werden‹ will, darf, kann, soll oder muß.« 15
Vielleicht lässt unsere Leiblichkeit uns am deutlichsten erleben, was pathische Existenz meint: die durchgängige Unentschiedenheit in den Modalitäten unseres Tuns zwischen Müssen, Sollen, Dürfen, Wollen und Können, auch in deren möglichen Verschränkungen, z. B. nicht wollen zu können oder nicht dürfen zu wollen u. a. Das Pathische beschreibt nicht nur krankhafte Zustände wie eine Lähmung. Es stellt uns hinein in die Sittlichkeit, die Moralität unseres Handelns, wenn 14 15
Elias, Norbert (1984). Weizsäcker, Viktor von (1956): S. 71.
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es z. B. um das verweigerte Wollen des Gebotenen, das Sollen oder das Erleben oder Ausleben des nicht Gedurften geht. So ist das Pathische auch eine soziale Kategorie. Wer gebietet denn das Müssen? Etwa die Notwendigkeit unseres Handelns? Wer gebietet das Sollen? Welche sittliche Norm? Wer erlaubt das Dürfen? Wer oder was ermöglicht das Können? Wer hemmt oder fördert das Wollen? Unsere Einbindung in die fünf pathischen Modalitäten ist dynamisch, ist abhängig von individuellen und sozialen Situationen und Konstellationen, stets aber getränkt von der Ambivalenz des Möglichen. Wie das Wollen eine Bestimmung menschlicher Subjektivität ist, so stellt das Sollen den Menschen in einen normativen soziokulturellen Raum der Verantwortung. Das Können ist zugleich ein subjektives Maß des Möglichen, wie es eine von außen gesetzte Begrenztheit menschlicher Existenz markiert. Befreit uns das Dürfen, so zwingt uns das Müssen in die Notwendigkeiten des Alltäglichen. Das pathische Pentagramm 16 dieser je unerfüllten Möglichkeiten prägt die zeitliche Werdestruktur des Menschen in Gesundheit und Krankheit, die Offenheit des Möglichen sowie dessen Wirklichkeit und Wirksamkeit. Das Pathische ist nicht allein in der Naturgebundenheit menschlicher Existenz begründet (z. B. der Unmöglichkeit, sich durch einen Willensakt über physische, physiologische Grenzen hinwegzusetzen). Es ist auch nicht allein durch psychologische Gegebenheiten bedingt. Vielmehr zeigt sich in den pathischen Modalitäten eine innere und eine äußere, eine soziale Abhängigkeit des Menschen, indem ihre jeweilige Wirksamkeit durch ihre wechselseitigen Abhängigkeiten (intrasubjektiv) und durch ihr Zusammenspiel mit der Mit- und Umwelt (intersubjektiv) gefördert oder behindert wird. »Das Pathische ist nicht ontisch: Wenn ich sage, dass ich etwas will, so enthält dies geradezu die Konstatierung, dass das Gewollte nicht ist. Wenn ich sage: ich kann, dann ist ebenfalls darin enthalten, dass das, was ich kann, nicht ist; und ebenso in allen übrigen pathischen Aussagen […], dass die pathischen Aussagen etwas Nicht-Seiendes betreffen; dass also allgemein das Pathische ein Nicht-Ontisches ist. [… Es hat] immer einen persönlichen (subjektgebundenen) Charakter.« 17
Ders. (1956): S. 67–97. Ders. (1946a): S. 49 (Hervorh. im Original). Weizsäcker gebraucht hier personal und persönlich synonym, ohne auf den grundlegenden Unterschied einzugehen.
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Das Pathische ist ambivalent. Die pathischen Modalitäten enthalten alle ein »noch nicht«, das dennoch schon wirksam ist: ein Müssen, das erfüllt werden soll; ein Sollen, hinter dem das Gebot von sachlicher oder moralischer Pflicht steht; ein Dürfen, das auf seine Einlösung wartet; ein Können, das sich im Vollzug bewährt, und ein Wollen des zustimmenden Entschlusses, der in die Tat umgesetzt werden will. In allen zeigt sich also der Gegensatz von Seiendem und Nichtseiendem, die »Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit« 18 in der Situation der (nicht unbedingt bewussten) Entscheidung. Im Kranksein erfahren diese Modalitäten eine weitere Brechung: »[… D]ie genetischen Bedingungen des Möglichen, das ist des Könnens und Nichtkönnens, des Sollens und des Dürfens. […] Nicht von der Könnenseite, sondern von der Willenseite her soll bestimmt werden, ob eine fragliche Leistungshöhe noch erreicht werden ›kann‹ oder nicht. […] In solchem Falle wäre also das Können eigentlich ein Könnenwollen […], der Kranke könne nicht wollen. Hier würde also (umgekehrt wie zuvor) das Wollen vom Können eingeschränkt und der Zustand als ein beschränktes Wollenkönnen bezeichnet.« 19
Und wie ist es mit dem Krank- oder dem Gesundwerden: Was will, was kann der Kranke? Was kann er wollen und was will, kann und soll er können? Das sind Fragen nicht allein an den Kranken, sondern an den Arzt als Helfer, als Ermöglicher von Gesundung. Damit kommt die therapeutische Aufgabe des Arztes zum Vorschein: die Ermöglichung des Gesundwerdens für den Kranken. 20 Der Arzt macht nicht gesund, sondern er ermöglicht bestenfalls Gesundung.
Gegenseitigkeit und Solidarität des Menschen Für die anthropologische Medizin Weizsäckers und ihr Bild vom Menschen sind Gegenseitigkeit und Solidarität zwei zentrale Grundbestimmungen. Sie meinen nicht eine Wechselseitigkeit im Verhalten (»wie du mir, so ich dir!«) oder eine soziale Solidarisierung Gleichgesinnter, sondern eine Lebensordnung im Gestaltkreis von Geben und Empfangen, von Zuwendung und Distanz, von Intentionalität
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Ders. (11939b, 21943, 41948): S. 314. Ebd., S. 315 (Hervorh. im Original). Ders. (1928c): S. 234.
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und Rezeptivität im Umgang mit Objekten, die selbst ein Subjekt sind, Subjekt-Objekte. Gegenseitigkeit und Solidarität sind im Pathischen und im Grundverhältnis des Menschen verwurzelt. 21 »Die pathische Erfahrung der Gegenseitigkeit zeichnet sich durch ihre Unabsehbarkeit aus«. 22 Sie ist bestimmt durch den Schwebezustand möglichen Gelingens oder Verfehlens. »Solidarität zu verwirklichen«, heiße, »die Erfordernisse der Individuation mit denen der Sozietät zu verbinden«. 23 Der anthropologische Aspekt dieser Bestimmungen wird deutlich. Wieder muss auch die dynamische Ambiguität der ontischen und pathischen Modalität beachtet werden: das Zugleich von gegebener Konstitution des Menschen in seiner Sozialität und der damit zur Aufgabe gestellten Realisierung derselben. Indem Weizsäcker »Umgang, Gegenseitigkeit und Solidarität [als] drei Grundbegriffe einer Anthropologie« sieht, 24 die »ärztliches Handeln leiten« sollen, weist er ihnen auch eine pragmatische Bedeutung zu. 25 Über sein Selbstverhältnis hinaus überschreitet der Mensch (nicht erst im Sinne bewusster Entscheidung oder Wahl, sondern bereits in der leiblichen Intentionalität) als Subjekt sich selbst auf einen Anderen hin, sei es die Mutter, der Kamerad, der Partner o. a. In der Gemeinschaftlichkeit entwickelt er seine emotionalen und kognitiv-rationalen Möglichkeiten der Kommunikation, der Sprache und Kultur, die Entfaltung seines Lebensraumes und Möglichkeitshorizontes. Die intersubjektive Selbsttranszendenz überschreitend kann er sich auch einem religiösen Transzendenzverhalten öffnen. 26 Dieses ist wiederum von der Aktiv-Passiv-Ambiguität geprägt, indem der Glaube wie die Hoffnung als Hinwendung und Geschenk erfahren werden.
Zu den Grundbestimmungen von Gegenseitigkeit und Solidarität s. Gahl, Klaus / Jacobi, Rainer-M. E. & Achilles, Peter (Hg.) (2008): darin besonders Achilles, Peter: S. 129–195; Fischer, Johannes: S. 197–214. 22 Achilles, Peter (2008): S. 168. 23 Weizsäcker, Viktor von (1947b): S. 103. 24 Ders. (1948b): S. 265. 25 Ders. (1947b): S. 126 ff. 26 Wiehl, Reiner (2008): S. 387. 21
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Wege zu einem anthropologisch-medizinischen Verständnis des Kranken Die quasi gestaltkreishafte »Hin-und-Her-Bewegung zwischen medizinischer Anthropologie und anthropologischer Medizin« beginnt mit der »Einführung des Subjektes in die Medizin«, in die ärztliche Handlung. Diese »Einführung« verfolgt drei Aspekte: 1. Die hermeneutische Absicht der Erhellung des Krankseins auf seinen biographischen Stellenwert hin, 2. die pragmatische Bedeutung im Blick auf die Arzt-KrankerBeziehung und 3. ihren erkenntnistheoretischen Aspekt in der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Die hermeneutische Absicht der Einführung des Subjektes in die Krankheitslehre Weizsäcker sieht den kranken Menschen als Subjekt seines Krankseins, seiner Krankheit unterworfen (sub-iectus), und als Akteur seines Krankseins, als Krankheitsgestalter. 27 Das ist er in der leiblichen Gestalt, dem Ausdruck, der Mimik und Gestik, Haltung und Bewegung. Er ist es in der Ausprägung der Symptomatik wie auch in der sich selbst verbal und nonverbal mitteilenden Schilderung, der »Konstruktion des Beschwerdebildes«, diesem oft unbeholfenen Versuch der Versprachlichung von Befindlichkeit. Der Kranke ist Subjekt und zugleich Objekt seiner Selbstwahrnehmung und (oft auch) der Selbstdeutung, seiner Selbsterfahrung im Leib. »Das Entstehen der Krankheit aus einer lebensgeschichtlichen Situation und das Eingehen der Krankheit in die Gestaltung des nächstfolgenden Stückes der Biographie ist [doch] nicht als Kausalität zu verstehen. […] In ihm hat das somatische Geschehen einen psychischen Wert, das psychische Geschehen aber ganz ebenso einen körperlichen, es darstellenden Ausdruck.« 28
In dieser Subjekthaftigkeit bleibt der Kranke als Person einer ausschließlich naturwissenschaftlichen Sicht vom Menschen verborgen.
27 28
Weizsäcker, Viktor von (1939a): S. 376. Ders. (1938a): S. 364 (Hervorh. im Original).
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Auch der Kranke ist sich selbst in seiner Leiblichkeit, den möglichen leib-seelischen Bedingungen seines Krankseins verborgen, auch wenn ihm psychische Einflüsse zugänglich und plausibel sein mögen. In der Biographik, der biographischen Anamnese, werden Krankheit als naturales Geschehen und biographische Zeit in ihrer Bedeutung für das Kranksein gesehen. Die biographisch-historische Bewegung geht über den Rückblick in die Vergangenheit (die Anamnese), in die Entwicklung des Krankseins hinaus in den Zukunftshorizont der Erwartung, in die Prognose »als ein dauerndes Suchen nach einem Sinn […] den ich nicht weiß, den ich aber suche.« 29 Die biographische Anamnese berücksichtigt die lebensgeschichtliche Situation, die mögliche »Schwellenposition« des Krankseins 30 (s. Störungen des Befindens und Erkrankungen in der psycho-biologischen Pubertät, im zeitlichen Zusammenhang mit Berufseintritt oder -wechsel, mit Pensionierung, mit anderen lebensverändernden Ereignissen); sie berücksichtigt (vielleicht) auch die biographische Funktion, den Sinn des Krankseins. »[… D]iese eigentliche Krankengeschichte ist immer ein Stück einer Lebensgeschichte« 31 Weizsäcker unterscheidet nicht konsistent zwischen der Sachkategorie Krankheit und der Befindlichkeitskategorie Kranksein: Sachkategorie im Sinne einer pathomorphologisch und -physiologisch einzuordnenden Entität im System einer verbindlichen Krankheitslehre (Nosologie) gegenüber einer Befindlichkeitskategorie im Sinne des Erlebens und Erleidens einer Selbstattribution gestörter leiblicher oder seelischer Beeinträchtigung des Wohlbefindens. Nur eine solche Unterscheidung ermöglicht die Erfassung der biographischen Schwellenposition, der Subjekthaftigkeit und die Zwiespältigkeit von Erleiden und Erleben des Krankseins.
Der pragmatische Aspekt Mit der Einführung des Subjektes in die Medizin wird die KrankerArzt-Beziehung über ihre sachlich-medizinische Funktion hinaus mindestens der Möglichkeit nach zu einer personalen Begegnung.
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Ders. (1951a): S. 392. Christian, Paul (1989): S. 39 und 45. Weizsäcker, Viktor von (1929): S. 61.
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So ist die Beziehung durch ihre sachliche und personale Doppelstruktur gekennzeichnet. Als personale Beziehung vollzieht sie sich von Subjekt zu Subjekt. Im mitmenschlichen Umgang erlangen wir keine »objektive Erkenntnis […], wenn wir sie vom Subjektiven völlig reinigen.« 32 Die völlige Objektivierung, Verdinglichung im Sinne (klassisch-)naturwissenschaftlicher Beobachtung und Behandlung wird dem kranken Menschen nicht gerecht und ist deswegen unmoralisch: »Die Behandlung des Anderen als Sache macht uns selbst zur Sache, und dies wirkt als Selbstzerstörung«. 33 Arzt und Kranker haben aber Phasen ihrer Beziehung auszuhalten, in denen um einer partiell sachgemäßen Erkenntnis, um der Diagnostik willen eine Beschränkung auf das vermeintlich Objektive vorherrscht, ja vorherrschen muss. Auch ist (mindestens passager) zum Schutz des Kranken eine behutsame Begrenzung auf faktische Daten, auf Befunde erforderlich. Weder darf aber eine angemessene Sachlichkeit einer Psychologisierung des Kranken in seinem Kranksein geopfert werden, noch umgekehrt das psychologische oder psychosomatische Verständnis für den Kranken den Blick für die biologischen Grundlagen der Krankheit trüben. »[… D]ie Hinwendung zum ›kranken Menschen‹ [bedeutet] jedenfalls nicht den Abbau der in einem sehr ernsten und wertenden Sinne zur Technik gewordenen Naturwissenschaftlichkeit der Medizin.« 34
Der Kranke ist Objekt und Subjekt: Objekt des Arztes, der medizinischen Untersuchung und Behandlung im weitesten Sinne, Objekt der institutionalisierten Medizin einschließlich deren Organisationsund Versicherungsstrukturen. Er ist zugleich das Subjekt seines Krankseins, Objekt und Subjekt seines eigenen Leibempfindens, auch der Selbstdeutung seines Krankseins. Er ist Subjekt seiner Verunsicherung, der Betroffenheit, der existentiellen Not, Subjekt der Krise in der und durch die Krankheit. Die »Einführung des Subjektes in die Medizin« umfasst auch den Arzt, der sich auf die Gegenseitigkeit mit dem Kranken einlässt.
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Ders. (1940): S. 592. Ders. (1956): S. 57. Ders. (1926a): S. 17.
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Der erkenntnistheoretische Aspekt der Einführung des Subjektes in die Medizin Mit dem Gedanken, dass wir objektive Erkenntnis nicht erlangen, wenn wir sie vom Subjektiven völlig reinigen, ist die Frage aufgeworfen, wie wir im mitmenschlichen Bereich überhaupt zu einer adäquaten Erkenntnis des Gegenübers gelangen. Nicht nur dem kranken Menschen, auch dem gesunden wird eine gänzliche Verdinglichung nicht gerecht. Rein objektives Verstehen des anderen ist nicht möglich. »[… D]as Objektive ist noch nicht das Wirkliche. […] Wir verstehen die Krankheiten, aber wir verstehen dadurch nicht die Not der Krankheit und nicht, was dem Kranken nottut« 35 – die Not des Krankseins. »An der Wirklichkeit des kranken Menschen gemessen ist die streng naturwissenschaftliche Medizin nur eine Methode der Verbindlichkeiten, nicht ein Bild dessen, was ist.« 36
Weizsäcker verlagert den »Schwerpunkt der Erkenntnistheorie vom Objektbegriff auf den Umgangsbegriff.« 37 »Wissenschaft gilt als eine redliche Art des Umganges von Subjekten mit Objekten, [die selber Subjekte sind; K. G.]. Die Begegnung, der Umgang ist also zum Kernbegriff der ärztlichen Wissenschaft erhoben.« 38 Als ärztliche Wissenschaft erfordert sie Besonnenheit, Verantwortungs- und Wertwissen sowie Urteilskraft. »Besonnenheit macht Erkenntnis aus, und die ist auch die Quelle der sachlichen Objektivität im Denken, der objektiven Sachlichkeit im Handeln.« 39
Für die Kranker-Arzt-Beziehung gilt in spezifischer Weise, dass sie in Gefahr geraten kann, wo und wenn der Kranke »[…] als materielles Objekt behandelt wird […]. Unbewusst [geschieht] es, dass ich, indem ich aus einem ›nur‹ Erkennenden ein Handelnder [werde], nun mit dem Menschen wie mit einem Objekt umgehe. Zuerst haben wir, er und ich, gesprochen, gefühlt, sind uns wie ich und du begegnet; jetzt ist aus ihm ein Objekt, ein Es geworden und […] habe auch ich mich in ein Es, ein
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Ebd., S. 16 (Hervorh. im Original). Ders. (1928c): S. 228 (Hervorh. im Original). Ders. (1951b): S. 363 (Hervorh. im Original). Ders. (1939b, 21943, 41948): S. 96. Ders. (21934): S. 338.
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Objekt verwandelt. Das ist dann die Sachlichkeit des zum Mediziner gewordenen Arztes.« 40
Für das ärztliche Handeln ist der Begriff des Umgangs im Weizsäcker’schen Denken zentral. Er beschreibt das zyklomorphe Bezugsverhältnis des Arztes zum Kranken, ja auch zur Mit- und Umwelt, zur Gesellschaft und Natur. Damit ist zugleich das ärztliche Handeln im Gestaltkreis benannt.
Ärztliches Handeln im »Gestaltkreis« Auch mit dem Konzept vom Gestaltkreis (1927) beschreibt Weizsäcker eine anthropologische Grundfigur. 41 Nur zwei Aspekte seien hier hervorgehoben: (1.) die zirkuläre Struktur der Begegnung von Ich und Umwelt i. w. S., darin auch die Begegnung von Krankem und Arzt, die Intersubjektivität und Konsensualität im Umgang miteinander; und (2.) die wechselseitige Verborgenheit und Offenheit wie die Stellvertretung des Psychischen und Physischen im Gesundsein wie im Kranksein. Analog der gegenseitigen Abhängigkeit von Wahrnehmen und Bewegen bzw. Subjekt und Objekt sieht Weizsäcker die komplementäre Beziehung von »Psyche« und »Soma«, Seele und Leib/Körper in wechselseitiger Verborgenheit und Ergänzungsbedürftigkeit. »[…] Das psychophysische Verhältnis ist also ein Beispiel für einen Gestaltkreis, kein Verhältnis zweier Substanzen.« 42 Damit wird – wie das Erkenntnisproblem so auch – das LeibSeele-Problem auf die Handlungsebene verlagert. Mittels der biographischen Methode erschließt sich – über den medizinisch-naturwissenschaftlichen Zugang zu somatischen Krankheiten hinaus – eine hermeneutische und pragmatische Annäherung an die Frage nach Sinn oder Bedeutung, die das Kranksein an den Kranken stellt. Weizsäcker sucht ein psychosomatisches, besser ein anthropologisches Verständnis auch internistischer Organkrankheiten, die er als
Ders. (1948a): S. 245. Ders. (1927): S. 184. Hier nennt Weizsäcker m. W. erstmals den Begriff und spricht von einer »Theorie des Gestaltkreises«; er stellt sie in den Zusammenhang der ArztKranker-Beziehung und der Therapie im Besonderen, den »therapeutischen Gestaltkreis«. 42 Ders. (1946a): S. 58. 40 41
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Somatisierung seelischer Konflikte sieht, jedoch ohne an konkreten »Fälle[n] und Probleme[n]« im Individuellen oder gar überindividuell die Beziehung, eine Korrelation zwischen Konflikt und Befund, Erleben und Sachverhalt verbindlich aufzuhellen. Vermutlich wäre das auch kaum möglich. Er spricht von Materialisierung der Lebenserscheinungen und Spiritualisierung des Leiblichen 43 und öffnet damit zugleich einen existentiellen und religiösen Verstehenshorizont des Krankseins. Psychisches und somatisches Geschehen können einander vertreten, sie stehen in einem Verhältnis gleichwertiger Antwortmöglichkeiten des Subjekts in einer Entscheidungssituation. Mit den skizzierten zentralen Begriffen seines Denkens will ich es bei dem Rückblick auf Viktor von Weizsäcker bewenden lassen. Es sei hier auf den Beitrag »Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt« (S. 13–42) verwiesen. Weizsäckers Nachfolger auf dem Heidelberger Lehrstuhl für Allgemeine Klinische Medizin Paul Christian wählt im Untertitel seines Buches »Anthropologische Medizin« 44 mit der Bezeichnung »psycho-somatischer Krankheitsbilder« sozusagen doch den substanz-ontologisch dualistischen Begriff, den Weizsäcker aufgehoben haben wollte, oder behält ihn (dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend) bei. Mit der »Erweiterung der Kategorien ›Körper‹ und ›Seele‹ um eine ›dritte Kategorie‹, die Handlung, Sprache und Leib umfasst und zu führenden Bestimmungen erhebt«, 45 betont er aber die phänomenale, erlebnismäßige Einheit des Leibes als Grundthema seiner »Metatheorie der Psychosomatik«. Diese habe eine »dreigliedrige Struktur […] aus der psychodynamischen Konfiguration, der auslösenden Konfliktsituation und der spezifischen Organvulnerabilität.« 46 In der anthropologischen Grundverfasstheit der Intersubjektivität zeigt sich für die Arzt-Patient-Beziehung das Modell einer bipersonalen Beziehung. Dem Leib eignet darin eine Intentionalität in einem labilen Gleichgewicht seiner leib-seelischen Gesamtsituation, in der das Leibliche auch einen menschlichen Sinnzusammenhang hat. Diese Aspekte einer medizinischen Anthropologie sieht Christian als besonders relevant für das Verständnis sog. psycho-
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Ders. (1947c): S. 302, passim. Christian, Paul (1989). Ebd., S. VII (Hervorh. im Original). Ebd., S. V (Hervorh. im Original).
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somatischer Krankheiten (vegetative Regulationsstörungen, Anorexia nervosa u. a.), ohne definitorisch oder klinisch-praktisch eine Grenze ziehen zu wollen zu scheinbar rein organischen Krankheiten, die sich stets auch in psychischen Befindlichkeitsstörungen äußern. Aber: anthropologische Medizin ist auch für Christian nicht eine besondere Methode der Psychotherapie oder der Psychosomatik. Sie ist vielmehr ärztliches Handeln in der Achtung der genannten Grundbestimmungen des Menschen.
Aspekte eines anthropologischen Krankheitsverständnisses Aus der Skizze anthropologischer Medizin und einiger Wesensmerkmale des Menschen, wie sie im Krank-Sein für den Kranken und für den Arzt erfahrbar werden, dürften bereits Züge eines anthropologischen Krankheitsverständnisses deutlich geworden sein. Ein solches Verständnis beachtet den erkenntnis- und handlungsrelevanten Unterschied zwischen der Sachkategorie Krankheit und der Befindlichkeitskategorie Krank-Sein. Keine der beiden erfasst je für sich das Geschehen von Erkrankung hinreichend. 47 Kranksein ist Widerfahrnis. Die fundamentale Möglichkeit, krank werden zu können, gilt zwar biologisch für alles Lebendige. Für den erkrankenden Menschen gewinnt sie aber den Charakter des oft als rätselhaft Erlebten, Überraschenden, des Unbegreiflichen. »Warum das?« »Warum gerade ich?« »Warum gerade jetzt?«, »Warum gerade so?«, »Was wird daraus?« Die Kränkbarkeit begründet seine existenzielle Verunsicherung mit dem Janusgesicht der unbestimmten Herkunft (»warum?«) und der ungewissen Zukunft (»wozu?«). Diese Fragen sind nicht allein naturwissenschaftlich-medizinisch zu beantworten, sondern sie haben im Rahmen einer anthropologischen Medizin eine biographische Bedeutung bis hin zur biographisch-existenziellen »Krise« aus der Unentschiedenheit des Pathischen heraus.
Bei der nicht stringenten Unterscheidung Weizsäckers zwischen Krankheit und Krank-Sein fällt die oft doppelte Bedeutung, auch das Oszillieren zwischen beiden, die Ambivalenz der faktischen, objektiven und der biographisch unbestimmten Bedeutung auf. Ich unterlasse es daher, den m. E. jeweils vorherrschenden Akzent durch eine Ergänzung zu markieren.
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»Jedesmal sind es Krisen, Wendepunkte der Lebensgeschichte, an denen die Krankheit nicht nur steht, sondern auch wirkt, sich beteiligt an dem Fassen einer Entschließung, am Fallen einer Entscheidung.« 48
Wie für den Kranken so hat auch für den Arzt das Kranksein bzw. »[…] jede Krankheit sowohl einen lebensgeschichtlichen Wert wie Unwert […], ich [bekomme] meine Krankheit sowohl wie [ich sie] mache […]; [sie ist] eine Lösung eines Konfliktes […], wenn auch keine gute […], der pathologische Vorgang [ist] ein Objekt […], das ein Subjekt enthält […].« 49
Diese Dimension des Krankseins erschließt sich erst der biographischen Methode. Die Anamnese – im Sinne der anamnestischen Erhebung der »Krankengeschichte« 50 und der Ätio-Pathogenese der Erkrankung – bringt das Kranksein und die Krankheit in die »Vergegenständlichung«, in die naturwissenschaftliche und klinische Objektivität. Sie gilt der doppelten, d. h. der sachlichen und personalen Entsprechung. Insofern schließt anthropologische Medizin die sich vorwiegend naturwissenschaftlich verstehende Medizin mit ein. Diese sieht ihre Aufgabe vornehmlich in der Beseitigung der Krankheit. Anthropologische Medizin fragt eher »was wird daraus?« – »was wird dieser Mensch?« 51 Sie sieht Therapie als eine Hilfe zur Ermöglichung der Gesundung. Weizsäcker stellt der naturwissenschaftlichen die klinische Objektivität gegenüber. Diese stützt sich sehr wohl auf die in der Medizin erforderliche Naturwissenschaft, aber auch auf die klinische Erfahrung, auf Wissen und Urteilskraft. Sie berücksichtigt die personale Entsprechung der Beziehung des helfenden Arztes zu dem existentiell sich in Not i. w. S. fühlenden Kranken. »Die klinische Objektivität beansprucht nicht nur Sinneswahrnehmung und Logik. […] Statt der naturwissenschaftlichen Normen raumzeitlicher Allgemeingültigkeit treten hier diejenigen Bedingungen in Kraft, unter Weizsäcker, Viktor von (1938a): S. 363. Ders. (1947d): S. 382. 50 Ders. (1928a): S. 58 ff.: »Krankheit ist wirklich die von Fall zu Fall geschehende Anerbietung eines Wissens um die Wahrheit […]. Krankheit ist erfahrbar als dies, dass durch ein Körpergeschehen eine Bewusstseinsentwicklung geschaffen wird […], [dass] Krankheit als ein durch Bewusstseinsentwicklung geschaffenes Körpergeschehen erfahrbar sei.« (Ebd., S. 65) Und: »Der ›Sinn der Krankheit‹ ist nur vom Kranken aus realisierbar, vom Arzt aus darf er nicht gefordert werden. Dem Kranken darf dieser Sinn nur ein Heil, dem Arzte nur eine Not sein« (ebd., S. 66). 51 Ders. (1951a): S. 558. 48 49
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Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes
welchen allein zwei oder mehrere Personen eine Anschauung, eine Erkenntnis als gemeinsame teilen, weil sie sich als Personen untereinander verstehen. […] Hier werden also die Lebensgesetze von Personengemeinschaften zu erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. […] Dass diese Form der personalen Gemeinschaft die wissenschaftliche Objektivität erst bewährt, diese schwierige Wahrheit allmählich begreifen und ertragen zu lernen – dies dürfte allerdings auch eine vornehmste Aufgabe akademischer Bildung bleiben«. 52
Unsere leibliche Ermöglichung von Lebendigkeit, von leiblichen und seelischen Leistungen, von reflexiver und intentionaler menschlicher Erfahrung wird im Krank-Sein mehr oder weniger spürbar. Die leibliche und die biographische Existenz können gleichermaßen erschüttert werden, in Krisen geraten. Die sozialen Beziehungen werden gelockert, gefährdet. Ein solches bio-psycho-soziales Krankheitskonzept 53 oder – um den Eindruck, als gehe es um die Addition verschiedener Partialwissenschaften, zu vermeiden – ein solches der menschlichen Konstitution entsprechendes Krankheitskonzept berücksichtigt die hier nur angedeuteten Dimensionen menschlicher Existenz. Dazu gehören – Zeitlichkeit und Sterblichkeit z. B. in Entscheidungen zum Therapieverzicht seitens des Arztes und des Kranken am Lebensende; – die Leiblichkeit im angemessenen Umgang mit dem unvermeidbar auch als verdinglichter Körper, als Objekt der Medizin zu behandelnden Kranken; – die Sozialität als Erlebnis- und Wirkbereich, der verfehlt und als krankmachend erfahren werden kann. Es sind diese Kennzeichen psychophysischer Existenz, die im Kranksein in unterschiedlicher Gewichtung und Bewusstheit betroffen sind. Eine linear-kausale Abhängigkeits- oder Verursachungsbeziehung von Körper und Geist oder Leib und Seele ist oft nicht auszumachen, wohl aber eine zeitliche Korrespondenz leiblichen und seelischen Erlebens. Mag der Auslöser mehr im Feld psychischer Konflikte oder mehr im Bereich somatischer, häufig multifaktorieller Bedingungen liegen, so ist dennoch das erlebte Kranksein ein ganzheitliches Geschehen. Dieses zeigt die psycho-physische Doppelaspektivität der Betroffenheit. Sie erfordert den fachwissenschaft52 53
Ders. (1926b): S. 168 ff. (Hervorh. im Original). Uexküll, Thure von & Wesiack, Wolfgang (11988, 31998).
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Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes
lichen Zugang inkl. den Einsatz naturwissenschaftlicher Methodik in Diagnostik und Therapie und doch zugleich die Achtung der Person des Kranken in seiner leibseelischen Konstitution, der eine rein naturwissenschaftliche Objektivität unangemessen ist.
Zusammenfassung Gestützt auf wenige Aspekte einer allgemeinen Anthropologie werden diese unter dem Gesichtspunkt ihrer Relevanz für das ärztliche Handeln skizziert: – Leiblichkeit als Ermöglichungsgrundlage und Organ der Selbstempfindung, – Subjekthaftigkeit des Kranken als Akteur und »sub-iectus« von Krankheit und Kranksein, – Zeitlichkeit als Erfahrung von Entwicklung, von zeit- und erlebnisoffener Ungesichertheit und Sterblichkeit. – Ärztliches Handeln wird als sach- und person-bezogener Umgang von Subjekten, die einander zugleich Objekte sind, gesehen. – Anthropologische Medizin berücksichtigt – unter Einschluss der je aktuellen naturwissenschaftlichen Medizin – die Ambiguität von Krankheit und Krank-Sein. Als klinische Handlungswissenschaft reflektiert sie die Komplementarität naturwissenschaftlicher und klinischer Objektivität und sie beachtet auch ein mögliches psycho-physisches Korrespondenzverhältnis. – Der Mensch – ob gesund oder krank – existiert im pathischen Schwebezustand des Möglichen und Unerfüllten von Müssen, Sollen, Dürfen, Können und Wollen in der steten Suche nach dem Sinn seines Daseins, im Besonderen seines Krankseins.
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Futurische Krankheit
Die gegenwärtige, mehr noch die zukünftige Medizin wird immer stärker von der Molekularbiologie, speziell der Molekulargenetik geprägt. Mit den wachsenden Möglichkeiten der Präimplantationsdiagnostik an in vitro erzeugten Embryonen oder an präkonzeptionellen Keimzellen lässt sich schon jetzt eine große Zahl von Gen-Konstellationen enthüllen, die zu »genetischen Krankheiten« prädisponieren. Was geschieht durch die Benennung solcher Gen- oder Chromosomen-Befunde als handlungs- oder versicherungsrelevante »Krankheit«? Der genetische Befund wird als Disposition, d. h. mit prospektiver Implikation angesehen, über deren Expressivität, ihre den Phänotyp des ausgetragenen Kindes bestimmende Potenz wir nichts Zuverlässiges, sondern bestenfalls mehr oder weniger Wahrscheinliches bezüglich der Manifestation als Krankheit voraussagen können. Die genetische Konstellation wird zur Krankheit erklärt. Dabei handelt es sich lediglich um eine mögliche, sozusagen futurische Krankheit. Diese virtuelle Krankheit wird wie das Faktum einer realen Krankheit angesehen. Damit drängt sich der normativ-deontologische Handlungsappell (i. S. des Krankheitskonzeptes von Karl Eduard Rothschuh oder ähnlich von Wolfgang Wieland) auf, die drohende Krankheit abzuwehren. 1 Dazu lassen sich prinzipiell fünf Wege denken: 1. die Elimination der Träger abnormer genetischer Anlagen – durch Nicht-Transfer von Frühembryonen aus der Petrischale in den Uterus der Mutter, – durch Embryo- bzw. Fetozid in der Schwangerschaft oder – durch Therapie-Verzicht bei nicht spontan lebensfähigen Neugeborenen; 2. die pränatale Akzeptanz der antizipierten Krankheit und entsprechende Vorbereitung auf die Geburt eines genetisch ab-
1
Rothschuh, Karl Eduard (1978).
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Futurische Krankheit
normen Kindes mit spezieller Ernährung (z. B. bei Phenylketonurie); 3. die Meidung von Faktoren, die die genetische Disposition in ihrer klinischen Manifestation begünstigen (z. B. bei der Mukoviszidose); – z. B. durch Substitution von mangelhaft gebildeten Genprodukten, d. h. Enzymeiweiß wie den Hämophilie-Faktor VIII, oder von Enzymprodukt; 4. die Elimination der Manifestationsorgane noch vor der Erkrankung – z. B. Brustamputation bei Frauen mit nachgewiesenem BRCA-1- oder -2-Gen; 5. engmaschige Kontrolluntersuchungen von Erwachsenen bei genetischer Disposition – z. B. zum Colon-Carcinom mit Entfernung des Darms bei Verdacht auf Colon-Polypen. Keiner dieser Behandlungswege ist abwegig, jeder wird bereits beschritten. Was aber geschieht hier mit der Befolgung des Handlungsappells? Der genetische Befund wird nicht als Disposition, sondern als Diagnose »genetische Krankheit« gesetzt und damit ein dem iatrotechnischen analoges Krankheitskonzept zur Grundlage für Handlungsentscheidungen, für »Therapie« gemacht. Dem ist aufgrund einer Reihe von biologischen, wissenschaftstheoretischen, psychologischen, sozialen und juristischen und nicht zuletzt auch von ethischen Problemen mit großer Zurückhaltung zu begegnen. Was wir aufgrund genetischer Diagnostik allenfalls erkennen, sind naturale Bedingungen oder Möglichkeiten, nicht aber Ursachen von Krankheiten. Können wir denn angesichts der vielfältigen intragenomischen und intrazellulären wechselseitigen Abhängigkeiten Kausalität und nicht allenfalls Konditionalität erfassen? Gene sind für viele Krankheiten nicht hinreichende, obgleich notwendige Partialbedingungen, die wiederum nicht unerlässlich aber hinreichend sind für deren Manifestation. 2 Und was ist – zumal bei der Variabilität des Genoms mit nicht pathogenen Mutationen – genetische Normalität? Gibt es sie überhaupt? Begründet Normalität eo ipso Normativität? Können wir aus einer genetischen Normabweichung den ethisch begründbaren Handlungsappell zur Heilung, Linderung oder Abwehr von Krankheit ab2
Mergenthaler, Daniela (2003).
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Futurische Krankheit
leiten? Und worauf ist die Normativität zu beziehen: auf eine biologische oder eine soziale Norm, auf eine aus dem genetischen Befund antizipierte Manifestation einer Krankheit, die für das ausgetragene Kind, dessen Eltern oder die Gesellschaft nicht erträglich ist? Mit der Möglichkeit prädiktiver Diagnostik an Embryonalzellen oder der genetischen Untersuchung Erwachsener wird auch die anthropologische Grundfrage des Verhältnisses unserer biologischen Determiniertheit und der freiheitlichen Selbstbestimmung gestellt – grundsätzlich und speziell im Blick auf Gesundheit und Krankheit. Diese allein auf genetische Disposition zurückführen zu wollen, hieße auch, eigenverantwortliche, soziale und umweltliche Krankheitsfaktoren fatalistisch außer Acht zu lassen. Unser Selbstverhältnis, unser Verhältnis zur Natur, zur Gesellschaft und zu uns selbst wird tangiert. Aus diesen anthropologischen Fragen, die sich aus der Kenntnis des Genoms ergeben, erwächst im Blick auf ein Krankheitsverständnis prädiktiver Medizin das Problem, ob eine genetisch determinierte Krankheit als ein Objektivum anzusehen oder ob diese nicht auch ein Ergebnis von Selbst- oder Fremdeinschätzung oder Sozialkonstrukt ist. Auch wird mit der prädiktiven Medizin die primäre Zweierbeziehung zwischen einem Kranken und dem Arzt sachlich, personal und juristisch zu einer Mehr-Personen- und Institutionen-Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit. In dieser Konstellation darf keine der aktuell und in Zukunft entscheidenden oder betroffenen Personen außer Acht gelassen werden: sachlich-medizinisch im Blick auf die Diagnostik und Therapie, personal im Sinne der Verantwortung und Gewissensentscheidung und juristisch hinsichtlich der Anspruchsund Schutzrechte des potenziellen Kindes, der Mutter und der Verwandten. Brauchen wir also im Blick auf die molekularbiologische, -genetische Medizin ein neues Krankheitskonzept? Wenn ja – wofür? Wenn wir ein Krankheitskonzept mit der Implikation eines Handlungsappells und eines für die betroffene Person zu rechtfertigenden Therapieplanes verstehen, dann ist zu fragen, 1. ob wir eine mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit sich manifestierende genetische Disposition zu einer Krankheit als Handlungsauftrag einer Drittperson, die sich selbst nicht artikulieren kann, nämlich eines Frühembryos vor seiner Nidation in der Gebärmutter oder eines bereits intrauterin sich ent96 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Futurische Krankheit
wickelnden Embryos ansehen können (das ist eine Wissensfrage mit der juristischen Implikation des Lebensschutzrechtes), und ob wir das dürfen oder sollen (eine ethische Frage); 2. für wen und um welches Zieles willen wir die radikale Therapie der Elimination möglichen Lebens glauben rechtfertigen zu können. Dem Embryo kann ja kein Behandlungsauftrag für eine nur mögliche Krankheit unterstellt werden, schon gar nicht i. S. eines »therapeutischen Fetozids«. Und kann die potenzielle Mutter, können die Eltern des Embryos einen ihn betreffenden Behandlungsauftrag geben? Wie auch immer die »Therapie« einer möglichen »genetischen Krankheit« aussehen mag, so muss m. E. das Krankheitskonzept 1. von dem Behandlungsappell getrennt werden. Auch dann ist aber nach der Rechtfertigung des präventiven Handelns zur Vermeidung der Manifestation abnormer genetischer Disposition als Krankheit zu fragen. 3 2. Begrifflich muss klar zwischen Krankheit und genetischer Disposition unterschieden werden. Der Begriff »genetische Krankheit« ist vor der Manifestation absurd. Anlage und Umwelt sind in reziproker Gewichtung an der Krankheitsmanifestation beteiligt. Krankheiten des ausgetragenen, sich weiter entwickelnden Kindes sind nicht kausal, schon gar nicht monokausal auf ein Gen zurückzuführen. Nicht genetische Determination, sondern dynamische Interaktion zwischen Genom und dessen Umwelt – vom Proteom bis zur äußeren Umwelt – prägen den Phänotyp, d. h. auch die mögliche Krankheit. 3. Unser vorherrschendes Krankheitskonzept impliziert ein möglichst kuratives Therapieziel für eine aktuelle Gesundheitsbeeinträchtigung. Mit der prädiktiven Medizin tritt hingegen ein vorbeugendes (präventives) Behandlungsziel in den Vordergrund mit der Möglichkeit, dass das Lebensschutzrecht Embryonen vorenthalten wird, die vielleicht gesund heranwachsen, ausgetragen werden und vielleicht ein zufriedenes Leben führen könnten. 4. Mit der Kenntnis des eigenen genetischen Status wird Krankheit in der Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung mehr zur Diese Frage ist hier schwieriger zu beantworten als im Kontext von präventiven Maßnahmen bei Erwachsenen mit Risikokonstellationen z. B. für Herz- oder Gefäßkrankheiten; sind dabei doch die Entscheidungs- und Befolgungssubjekte gleich, sie können sich zu dem Behandlungsschritt entscheiden.
3
97 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Futurische Krankheit
Manifestation von Disposition und weniger als durch biographische und von aktuellen Gegebenheiten abhängige Gesundheitsstörung gesehen werden, die eigenverantwortlich mitgestaltet wird bis hin zu den aus der Krankheit abgeleiteten Sozialleistungsansprüchen und -erwartungen. Der in der anthropologischen Medizin Viktor von Weizsäckers so zentrale Begriff der Subjekthaftigkeit, des Subjektes in der Medizin, gewinnt in der dank genetischer Diagnostik möglichen prädiktiven Medizin eine neue Doppeldeutigkeit: Der Mensch ist der Gegebenheit seines Genoms, seiner genetischen Bestimmung unterworfen (subiectus) und doch zugleich der Akteur, der Gestalter, das Subjekt seiner Möglichkeiten. Er ist als der aktuell um sein mögliches Schicksal Wissende zugleich mit der Ungewissheit bezüglich der Zukunft konfrontiert: ob überhaupt, wann und wie sich seine Disposition manifestiert. Das ist anders als bei dem chronisch Kranken, der ein »bedingt Gesunder« 4 sein und sich so fühlen kann (mindestens bei einigen chronischen Erkrankungen); es ist auch anders als bei dem chronisch Kranken, für den sich qualitativ und quantitativ der weitere Verlauf seines Krankseins mehr oder weniger zuverlässig prognostizieren lässt. Die präventive Medizin wurde hier nur kurz erwähnt: die Ermittlung von Risikofaktorenkonstellationen und die Behandlung im Hinblick auf statistisch zu erwartende »futurische« Krankheiten. Hier liegt aber ein fundamentaler Unterschied gegenüber »genetischer Krankheit« und ihrer präventiven Behandlung vor. Aus der prädiktiven wie aus der Risikofaktoren-Diagnostik lässt sich zwar eine genetisch bzw. statistisch begründete zukünftige Möglichkeit der Manifestation einer Disposition beurteilen, auch mit pragmatischen Konsequenzen. Indem für den Prä-Implantations-Embryo entschieden wird, ihn nicht zu transferieren, oder für das bereits in der Gebärmutter wachsende Kind der Schwangerschaftsabbruch, wird beiden Wesen aber ihr Leben vorenthalten, sie werden getötet, obwohl für beide die Möglichkeit einer normalen Entwicklung besteht. Beide sind nicht die Entscheidungssubjekte akzeptierter Lebensqualität oder der Akzeptanz vorsorglicher Maßnahmen. Vielmehr entscheidet die (potenzielle) Mutter, das Elternpaar oder der Reproduktionsmedizi-
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Hartmann, Fritz (2000).
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Futurische Krankheit
ner. Auch haben sie beide nicht (wie der präventiv behandelte Risikofaktoren-Patient) die Freiheit, mit dem Risiko zu leben. Was hat – so kann man fragen – prädiktive Diagnostik mit medizinischer Anthropologie zu tun? Die möglichen Szenarien der prädiktiven Diagnostik und deren pragmatische Konsequenzen machen deutlich, dass hier ein neuer Appell an unsere Verantwortung im Umgang nicht nur mit tatsächlichem Kranksein, sondern auch mit der genetischen Konstellation, der Disposition zum möglichen Krankwerden erwächst. Das betrifft das Wissen und das Wissen-Wollen oder Wissen-Sollen – sei es für die Kranken- oder Lebensversicherung, sei es für Verwandte, sei es für die eigenen Nachkommen. Es betrifft unser Selbstverhältnis und Weltverhältnis: die Akzeptanz der Ungewissheit, die grundlegende Kontingenz oder den Impuls zum Eingreifen in die naturalen Bedingungen unserer Existenz.
Zusammenfassung Mit den Möglichkeiten der gendiagnostisch gestützten Medizin eröffnet sich ein quasi futurisches Krankheitskonzept. Gendiagnostik erlaubt allenfalls die Erfassung der Disposition zu einer möglichen Krankheit, nicht aber die Erkennung einer bereits manifesten, »verwirklichten« Krankheit, die der Behandlung bedarf. Solche virtuellen Krankheiten können ethisch und dürfen pragmatisch nicht eo ipso mit einem Behandlungskonzept, schon gar nicht mit einem deontologischen Handlungsappell obligat verbunden werden. Prädiktive genetische Diagnostik betrifft nicht eine Einzelperson, sondern prinzipiell auch deren Verwandte mit moralischen, psychologischen und juristischen Konsequenzen. Sie erfordert im Blick auf den Embryo, die Mutter, die Eltern eines in vitro erzeugten oder bereits in utero wachsenden menschlichen Lebewesens und im Blick auf die eigene Ungewissheit Verantwortung. Mit der prädiktiven Medizin gewinnt das Subjekt-Sein des Menschen eine neue Doppeldeutigkeit: Der genetischen Disposition unterworfen ist er Gestalter seiner ungewissen Zukunft. In der präventiven (Risikofaktoren-)Medizin greift das Krankheitskonzept in seiner Handlungsintentionalität auf eine probabilistisch zwar gestützte, aber mehr oder weniger unsichere Möglichkeit einer erwachsenen, entscheidungsfähigen Person, zukünftig zu erkranken, hinaus; das ärztliche Handeln wird sachlich begründet und 99 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Futurische Krankheit
ethisch gerechtfertigt durch die prognostische Beurteilung einer statistisch als ungünstig beurteilten Risikofaktorenkonstellation. Entscheidungs- und Befolgungssubjekt ist die Person, die die präventiven Maßnahmen akzeptiert und einhält.
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Sprache, Leib und Körper des Kranken
Der Mensch – ob gesund oder krank – ist sich selbst Subjekt und Objekt des Empfindens, des Sich-gesund- oder Sich-krank-Fühlens. Solche Selbstwahrnehmung wechselt – in Gesundheit wie in Krankheit – stark. Sie ist von vielerlei inneren und äußeren, von physischen und psychischen Einflüssen, von individuellen und sozialen Bedingungen abhängig. Biographische und Sozialisationsfaktoren ändern dynamisch das je aktuelle Selbstbild, die Leibempfindung. Frische oder Erschöpfung, Wachheit oder Ermüdung, Hunger, Durst oder Sättigung als bio-psycho-soziale Erlebnisse verändern das leibliche Selbsterleben ebenso wie Freude, Kummer, Sorge und Angst, Hoffnung oder Verzweiflung. So sehr deutlich diese Befindlichkeiten spürbar sind, so ist doch oft die allmähliche, nicht abrupte Änderung aus einem Zustand des Wohlbefindens in ein Gefühl des Krankseins schwer artikulierbar. Darin wird die sich mehr und mehr akzentuierende Subjekt-Objekt-Ambiguität des Menschen erfahrbar. Der krank werdende Mensch (Subjekt) wird sich selbst zum Objekt des eigenen Empfindens und Befindens. Er wird sich seiner selbst deutlicher bewusst, bis er das Selbst-Empfinden, seine Beschwerden ausdrücken kann – selbstverständlich in unterschiedlichem Zeitund Intensitätsablauf, abhängig von der Art der ihn befallenden Krankheit, auch abhängig von der Fähigkeit des Kranken, das Befinden in Worte zu fassen. In diesem mehr oder weniger raschen Prozess wird dem Kranken sein zunächst im »Schweigen der Organe« als gesund erlebter Leib zum Gegen-Stand, zum Objekt. Aus dem »Schweigen« heraus meldet sich der Leib in seiner ihm möglichen nonverbalen Sprache des Empfindens, Befindens und des allmählichen Fühlens des (partiellen) Gegenübers des eigenen Körpers. Diesen Körper präsentiert der Kranke auch dem Arzt, der in den vom Kranken bereits eingeleiteten Weg möglicher reduktionistischer Objektivierung einspurt. Sein Denkhorizont erlaubt ihm mehr oder weniger verlässlich eine Erklärung der Beschwerden
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Sprache, Leib und Körper des Kranken
und der objektiven Befunde. Die Objektivierung ist doppeldeutig: Sie ist Vergegenständlichung, Verdinglichung und steht für »Richtigkeit«, Unabhängigkeit von einer beurteilenden Person. Hier ist zu unterscheiden zwischen der klinischen und der wissenschaftlichen Objektivität. 1 Die Abstraktion des primären Erlebnisses des Kranken, seines Befindens zu einem Sachverhalt ist zwar medizinisch für die Diagnostik und die Therapie (mindestens teilweise) unumgänglich. Sie de-personalisiert aber das Befinden zu einem Befund, das Leiden zu einem vermeintlich fassbaren Geschehen, zu einem Sachverhalt. Diesem Prozess von dem primären Erlebnis veränderter leiblicher Selbstempfindung des Kranken bis zur beiderseitigen Objektivierung der Erkrankung und zur Krankheit will die folgende Skizze nachgehen. Darin werden Aspekte einer für den Arzt wie für den Kranken relevanten Menschenkunde deutlich aus dem alltäglichen Umgang mit dem Kranken – alle medizinischen Disziplinen übergreifend, unabhängig vom psychosomatischen oder psychiatrischen Verständnis gestörter Gesundheit, wenngleich mit großen Unterschieden zwischen den Fachbereichen und je nach dem Beschwerdebild oder der vermuteten oder schließlich diagnostizierten Krankheit.
* * * Ärztliches Handeln ist in seinem Kern kommunikatives Handeln i. w. S.: Es antwortet auf den Hilferuf eines Kranken oder eines den medizinischen Rat suchenden Menschen. Zu fragen ist: Wie vollzieht sich diese besondere Kommunikation? Sie ist multimodal, d. h. sie ist verbal und nonverbal, beide Partner der Beziehung nutzen die Sprache und den leiblichen Ausdruck. Darin zeigt sich der Leib als etwas anderes als der vom Arzt und vom Kranken selber auf die Körperlichkeit reduzierte Gegenstand. Mit diesen Thesen sind die drei Problemfelder des folgenden Kapitels benannt: Sprache, Leib und Körper. Es geht um deren phänomenale und konstitutive Zusammengehörigkeit, die das ärztliche Handeln leiten kann. Dabei habe ich zwar das idealtypische Bild einer Allgemein- oder internistischen Erkrankung vor Augen. Grosso
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Weizsäcker, Viktor von (1926b): S. 169.
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Sprache, Leib und Körper des Kranken
modo gelten die Überlegungen auch für die Begegnung eines/einer Kranken mit einem Arzt/einer Ärztin in anderen Fachdisziplinen.
Zur Sprache des Kranken Die vordergründig wichtigste Kommunikationsform in der KrankerArzt-Beziehung ist die Sprache der beiden Partner. 2 Dabei wird meist das ärztliche Gespräch inhaltlich wie in seiner Diktion überwiegend vom dominierenden Arzt bestimmt. Die ursprüngliche Zweierbeziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken 3 sei eine »Doppelstruktur« – wie Viktor von Weizsäcker sagt –, »eine personale Entsprechung: Mensch in Not und Mensch als Helfer, und eine sachliche Entsprechung: Krankheit und Medizin.« 4 Der Hilfesuchende bringt seine Beschwerden, die ihn zum Arzt führen, in einer ihm verfügbaren Sprache vor. Je nach dem aktuellen Anlass leistet er damit bereits zwei ihm selbst meist weitgehend verborgene, wichtige Schritte: - den ersten aus der Unmittelbarkeit des primären, oft mehr oder weniger unbestimmten Empfindens oder Befindens, des Bemerkens von z. B. Unbehagen, Unwohlsein, Schwäche, Schmerz oder Leistungsminderung oder anderer diffuser, d. h. gestaltloser, schwer lokalisierbarer Abweichungen seines Normalbefindens in die Benennbarkeit dieser Beschwerden und - den zweiten Schritt aus der ihm möglichen Benennbarkeit in die dem Gegenüber zu leistende Beschreibung. Mit der Beschreibung verbindet der Kranke oft eine ihm mögliche Erklärung, vielleicht gar eine Kausalattribution. Wir kennen sicher alle diesen Prozess, in dem wir von dem ersten Missbefinden bis zu einer für einen Adressaten – und sei es der Arzt – verständlichen Schilderung dessen, was uns bedrückt, auch Anstrengung, nämlich die Anstrengung der Artikulation aufbringen müssen.
Zum Folgenden s. Plügge, Herbert (1967). Die funktions- und arbeitsteilige Versorgung der Kranken lässt zwar heute mehr und mehr diese Zweierbeziehung verschwinden hinter der organ- oder fach- oder institutionsbezogenen Fragmentierung und Mehr-Personen-Betreuung der Kranken; die Primärsituation ist jedoch noch immer überwiegend die Dyade der beiden Personen Kranker und Arzt. 4 Weizsäcker, Viktor von (1926a): S. 13. 2 3
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Sprache, Leib und Körper des Kranken
Die amorphen, unbestimmten Leib-Erfahrungen des Missbefindens werden häufig in der Ambiguität von Subjekt und Objekt, des »nominativen und akkusativischen Ich« ausgedrückt (»ich fühle mich …«): als »Ich, das fühlt, [und ein] Ich, das gefühlt wird«; »beide Ich-e [sind] in derselben Befindlichkeit vereint.« 5 Hier deutet sich eine mögliche (erste) Vergegenständlichung, eine »Ich-Dissoziation« 6 zwischen dem Ich und seinem leiblichen Erlebnisgrund an, die psychopathologisch in eine völlige Trennung vom leiblichen Selbsterleben führen kann. Das Missbefinden reißt den Kranken aus der »unreflektierten Einheit von Ich und Leib.« 7 Als Beispiel – musterhaft geschildert – sei hingewiesen auf eine derartige partielle Entfremdung eines Körperteiles: auf Oliver Sacks’ »Der Tag, an dem mein Bein fortging« 8 – eine in mehrerer Hinsicht spannende und lohnende Lektüre! Der Leib wird in solcher Entfremdung mehr oder weniger ausgedehnt und rasch vom kranken Ich verdinglicht. Plügge spricht von der »ein Missbefinden begründenden Tönung von Dinglichkeit« 9 – begründend hier nicht im Sinne logischer oder kausaler Erklärung, sondern der unterliegenden Grundierung eines Fremdheitsgefühls einer Körper- oder richtiger: einer Leibregion. Als dinglich wird der Leib in den lokalisierbaren Beschwerden erfahren: Der Kopf, der Bauch schmerzt, das Bein ist gelähmt. Hier kommt eine neue Dimension in das Erleben von Kranksein ins Spiel: der Unterschied zwischen (z. B. Schmerz-)»Haben und Gehabtwerden […] im leiblichen Bereich […]; eine strenge Wechselbeziehung; was ich plötzlich leiblich habe, hat auch mich und zwar stets in unangenehmer, oft plagender Weise.« 10 Diese Wechselbeziehung ist jedoch je nach der Art der Beschwerden abhängig von der leidensfähigen Person, sehr unterschiedlich in ihrer Gewichtung, die der Leidende ihnen zumisst oder in ihnen vermutet. Darin zeigt sich auch ein Moment von Freiheit – Freiheit in der Bedeutungszuweisung der eigenen Beschwerden seitens des Kranken, die Ambivalenz von Freiheit und dem Leiden unterworfen zu sein, das Erdulden-Müssen der Krankheit. Eine Ambivalenz in der Fähigkeit des Umgangs mit dem Leiden. Hinzuweisen ist auch auf die Dialektik von aktiv und passiv: Plügge, Herbert (1967): S. 70 (Hervorh. im Original). Ebd., S. 70. 7 Ebd., S. 72. 8 Sacks, Oliver (1984; deutsch 1989). 9 Plügge, Herbert (1967): S. 71. 10 Ebd., S. 76. 5 6
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Sprache, Leib und Körper des Kranken
Welchen Krankheitsgewinn kann nicht mancher Kranke aus seinem Kranksein ziehen, sodass er aktiv das Leiden betreibt? Und wie heftig, geradezu aufbäumend kann sich manch anderer gegen die Passivität, leiden zu müssen, stemmen? Darin drückt sich ein präreflexives Selbstverhältnis aus, das das menschliche Verhältnis zur Leiblichkeit als unentrinnbares charakterisiert. Nun kommt bei der Schilderung der Beschwerden dem Arzt gegenüber ein weiterer Schritt hinzu: Der Hilfesuchende will ja das Interesse, die Zuwendung, die Offenheit des Arztes gewinnen, sein Verständnis wecken. Je nach seinen sprachlichen, kognitiv-rationalen Fähigkeiten, auch nach seiner emotionalen Betroffenheit, seinen möglichen Versuchen der kausalen oder konditionalen Selbsterklärung bemüht sich der Kranke um eine (vermeintlich) sachliche Darstellung seiner Beschwerden, um deren Richtigkeit und Angemessenheit. Damit geschieht ein Sprung auf eine andere Sprachebene: auf die Ebene einer vermeintlich objektiven, mehr oder weniger wissenschaftlich verständlichen Schilderung. Auch das kennen Ärzte: dass die Kranken nicht nur ihre Beschwerden, sondern auch deren Organlokalisation sowie Ursachen und Erklärungen anbieten. Damit wird das Beschwerdebild konstruiert zu etwas, an dem der Arzt mit seiner Sprache, in seinem Verständnishorizont, seinen Denkkategorien ansetzen kann. Die Schilderung des Kranken kann den Arzt aber verführen, dessen Beschwerden allzu schnell in die medizinische Fachsprache, in den Soziolekt des Mediziners zu übersetzen. So wird (z. B.) aus dem Gefühl, keine Luft zu bekommen oder unter Atembeklemmung zu leiden, die Dyspnoe, die es jetzt pathophysiologisch zu klären gilt; aus dem Brustschmerz, der Brustenge wird die Angina pectoris, die am besten durch eine Herzkatheter-Untersuchung geklärt wird; aus den Rückenschmerzen eine Osteochondrose, aus den diffusen Leibschmerzen ein Colon irritabile usw. Wir sehen hier auf der Ebene der verbalen Sprache einen Konstruktionsprozess auf Seiten des Arztes. Er wird möglichst rasch bemüht sein, das Beschwerdebild des Kranken in eine Sprache einzupassen, die ihm, dem Arzt, eine lokalisierende, funktionelle und pathophysiologische, pathogenetische Erklärung, auch ein Substrat für den gesuchten therapeutischen Ansatz liefert. Er beginnt mit der Operationalisierung des bereits umgestalteten Beschwerdebildes. Die Notwendigkeit, die Unabdingbarkeit solcher »Übersetzung« soll keineswegs in Abrede gestellt werden. Der Arzt – als Diagnostiker und als Therapeut – muss diesen Weg gehen, um dem Kranken helfen zu 105 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Sprache, Leib und Körper des Kranken
können. Das gilt selbstverständlich für lokalisierbare Organkrankheiten in besonderer Weise. Aber: Wir müssen uns dieses mehrschrittigen Prozesses, v. a. der letzten Stufe von der vorwissenschaftlichen Schilderung zur fachlichen, möglichst wissenschaftlichen Erklärung bewusst sein. Ist doch gerade mit diesem letzten Schritt vielfach ein Prozess der Reduktion eingeleitet: Aus dem Befinden wird ein Befund, aus dem persönlichen Leiden ein Sachverhalt, der sich als Begründung für die Therapie in den weiteren Handlungsgang bis in die Epikrise fortsetzt. Der skizzierte Prozess der Versprachlichung von Befindlichkeit, des Erlebnisses der Beschwerden in die Benennbarkeit läuft mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, Deutlichkeit und Ausführlichkeit in der Zeit ab. Was aber ist hier Zeit und was ist überhaupt für den Kranken Zeit in seinem Kranksein? Der Prozess vollzieht sich je nach Art und Akuität der Erkrankung mehr oder weniger schnell – von der (vielleicht) sehr allmählichen Befindlichkeitsstörung (z. B. infolge einer sich langsam entwickelnden Anämie) bis zum perakuten Ereignis (z. B. einer Lungenarterienembolie). Obwohl meist völlig unbewusst, dennoch nicht unwichtig, ist diese Zeit eingebettet in die verschiedenen Zeitformen unserer bio-psycho-sozialen Existenz: in die physikalische, extensive, messbare Zeit, in die biologische Zeit unserer physischen Entwicklung mit den physiologischen Tag-/Nacht-, den Hunger-/Sättigungs-, Frische-/Müdigkeits- oder den Kindheits-, Jugend-, Reife- und Altersphasen. Die Leib-Zeit ist zugleich in die emotional und affektiv erlebte Zeit, die biographische Zeit, in der auch das akute Kranksein seine Bedeutung, seinen Sinn haben kann, eingebettet in die Kontingenzerfahrung unserer Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, unseres stets am Rande des Zeitweges drohenden Umfangenseins vom Tode. Zu berücksichtigen ist zusätzlich die im Kranksein oft mehr oder weniger stark ausgeprägte Veränderung der Zeitwahrnehmung oder des Zeiterlebens. Wer kennt nicht die Minuten des Wartens auf Hilfe, die zu Stunden werden, bis die Krankenschwester oder der Arzt endlich kommt? Die endlose Nacht, in der der Kranke meint, kein Auge zugemacht zu haben? Die Zukunftslosigkeit der Verzweiflung, die Leere der Erinnerungslosigkeit? Die verschiedenen Zeitaspekte (von der physikalischen bis zur existenziellen Zeit) prägen nicht nur den Beschwerdebeginn, sondern auch den weiteren Krankheitsverlauf. Sie kommen aber dem Kranken nur mehr oder weniger deutlich zu Bewusstsein. Dennoch sind sie bis 106 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Sprache, Leib und Körper des Kranken
in die Entscheidungen zu Diagnostik und Therapie zu beachten: die Anpassung von Medikamentendosierungen an Lebensphasen, die Achtung von Entscheidungen im Blick auf das Lebensende des Kranken oder – in unserem Zusammenhang auch zu thematisieren – der biographische Stellenwert, die mögliche Schwellenposition 11 oder Schwellensituation 12 des Krankseins, d. h. die Funktion oder der Sinn, den das Kranksein in einem Lebensprozess haben kann. Hier aber will ich an die Sprache anknüpfen. Ihre verbale Dimension wurde mit dem Prozess der Versprachlichung der Beschwerden und der Tendenz einer Verwissenschaftlichung der Befindlichkeit von beiden Gesprächspartnern skizziert. Zu beachten und zu ergänzen ist ihre mögliche Ambivalenz zwischen Frage und Behauptung (»Dr., ich habe doch nicht Krebs?« »So, Herr Dr., dieses Jahr noch … ?« – so eröffnete ein über 80-jähriger Patient das Gespräch am Anfang eines neuen Jahres bei seiner ambulanten Wiedervorstellung). Es ist die Ambivalenz von Sicherheit oder Zuversicht und Angst und Sorge, von Glaube und Unglaube, Vertrauen und Skepsis (»Dr., ich vertraue Ihnen ja, aber erklären Sie mir doch …«; »Dr., was würden Sie denn tun in meiner Lage?«), zwischen Verstehen und Verdrängen. Solche ambivalenten Äußerungen von Kranken (im Konjunktiv oder Optativ vorgetragen, zögernd oder fordernd) gehen oft schon durch den Ton, die Mimik oder den Kontext, in dem sie vorgebracht werden, über den formal verbalen Sprach- oder Sachgehalt hinaus. Der aber ist nicht selten der tiefere Grund der Verunsicherung, der Anlass zur Konsultation des Arztes, der Inanspruchnahme der Medizin. Zwischen der verbalen und der nonverbalen Sprache liegt ein anderer großer Bereich sprachlicher und lautlicher Kommunikation, der heute mehr und mehr die Aufmerksamkeit auf sich zieht: die Beachtung von Lauten, Pausen, Ton- oder Wortwiederholungen, Interjektionen, Räuspern, Hüsteln oder Lachen u. v. a. Die Analyse solcher Verlautbarungen erlaubt individuell oder sogar gruppentypisch diagnostische Schlüsse z. B. auf epileptisch oder primär psychische Angsterlebnisse. 13 Darüber hinaus kann uns die Beachtung z. B. des Verlegenheitslachens den Einstieg in die Aufhellung der biographiChristian, Paul (1989): S. 39 und 45. Buytendijk, Frederic J. J. (1967): S. 160. 13 Gülich, Elisabeth & Schöndienst, Martin (2005); Schöndienst, Martin (2001): S. 73–84. 11 12
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schen Situation der aktuellen Erkrankung oder sogar von psychischen Störungen wie Neurosen ermöglichen. Eine weitere wichtige Modalität der Kommunikation ist die unter dem Namen Körpersprache fast zu Jedermanns Begriffsgut gehörende Form der Ausdrucksmöglichkeit: vom Tennisreporter bis zu Sammy Molcho. Statt von Körpersprache ist besser von Leibsprache zu reden. Kommt doch in ihr die Beseelung, der »beseelte Körper« des Individuums, der Person zum Ausdruck (»Ausdruckstanz«!). Sie reicht von der lebhaften oder eingefrorenen Mimik, von der exaltierten oder erstarrten Mimik und Gestik bis zur strammen oder gebrochenen Haltung, die momentane oder permanente Stimmungen oder Charaktereigenschaften ausdrücken können – vorausgesetzt, wir öffnen uns für derartige nonverbale Signale oder Kommunikationsweisen. Auch liegt in der Leibsprache ein mehr oder weniger deutliches intentionales Moment: von der stillen Zuwendung bis zur heftigen Affektäußerung, die Ausrichtung auf ein konkretes Gegenüber. Zu beachten ist, wie »Körper- und Wortsprache sich wechselseitig durchdringen.« 14 So kann sich nicht nur für das Individuum Kennzeichnendes (»der Leib ist der sichtbare Ausdruck meiner selbst« 15), sondern auch Krankheitsspezifisches zeigen: z. B. so wesentliche Aspekte wie Introversion oder Extraversion, Optimismus, Depressivität oder körperliche Zeichen von der Bechterew-Haltung bis zum »Salbengesicht« des Parkinson-Kranken. Die mimische Gesichtsstarre, die »Ausdruckslosigkeit« lässt uns fragen, ob sie nicht quasi eine »leibliche Aphasie«, eine gestörte zwischenmenschliche Mitteilung zu erkennen geben kann. Oder ob nicht auch die neurotische (nicht organisch bedingte) Sprachstörung eine »psychogene Aphasie« einer Verweigerung der Artikulation entsprechen kann; dabei ist weder die neurologische noch die psychogene Gesichtsstarre bewusster Steuerung zugänglich. Mit Weizsäcker könnte man hier von einer Verweigerung der »Materialisierung der Lebenserscheinung« sprechen. 16 Wir dürfen die Leibsprache durchaus analog der Wortsprache aufnehmen: den Ausdruck des sie »sprechenden« Subjektes vielleicht als Ansprache oder Appell vermittelt durch das Medium der Leiblichkeit. Sie ist auch Mitteilung eines Sachbezugs. Ist das im Ausdrucks14 15 16
Waldenfels, Bernhard (2000): S. 236. Ebd., S. 210. Weizsäcker, Viktor von (1938b): S. 74.
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tanz bewusstes und eingeübtes Programm, so kann es in der unmittelbaren Begegnung des Kranken mit dem Arzt doch als unbewusste Vermittlung verstanden werden. Auch diese Sprache ist intentional (das heißt nicht unbedingt absichtlich!) ausgerichtet auf das Gegenüber. In der sich leiblich ausdrückenden, sich öffnenden und zugleich sich verbergenden Leibsprache wird ihr (präreflexiv) intentionaler Charakter deutlich. Diese nonverbale Sprache richtet sich ja (hier) an den Arzt mit einer Absicht. Sie ist abhängig von der Stimmung, der Atmosphäre der Beziehung, von der momentanen Situation der beiden Personen. Verlassen wir diesen Aspekt der Sprache als multimodales Feld der Kommunikation. Mit der »Körpersprache« haben wir uns ohnehin dem zweiten Kernwort des Themas genähert: dem Leib, dem Leib-Sein des Kranken, der Leiblichkeit des Menschen.
Leib, Leib-Sein und Leiblichkeit des Menschen Was ist damit gemeint, wenn hier für etwas auf den ersten Blick hin gleich Erscheinendes die beiden Begriffe Körper und Leib gewählt werden? Sie bedeuten nicht dasselbe. Leib und Leiblichkeit verstehe ich – im Gegensatz zum objektivierbaren Körper und zur Körperlichkeit – als Ort und Medium, quasi Organ und Erlebnisfeld menschlicher Selbsterfahrung: Ich fühle mich (reflexiv) als ich selbst (subjektiv) in meinem Leibe mit meinen Empfindungen von Frische oder Schwäche, Wachheit oder Müdigkeit, Hunger und Durst oder Sättigung und Durststillung, Wohl- oder Missbefinden, Schmerz oder Unbeschwertheit u. v. a. Diese sog. vegetativen Leib-Empfindungen werden erweitert durch primär seelische Empfindungen, Emotionen und Affekte, die wiederum leiblich wahrgenommen, realisiert, »materialisiert« werden. 17 Wir fühlen Freude, Leid, Trauer, Frohgestimmtheit, Lust, Wut oder Schrecken, Niedergeschlagenheit und Lähmung usw. auch leiblich. »Nichts Psychisches hat keinen Leib.« 18 Der Leib ermöglicht die Erfahrung der selbstreferentiellen Eigenständigkeit. 19 Der Leib in seiner biologischen Natur ermöglicht dem 17 18 19
Weizsäcker, Viktor von (1939b; 41946): S. 271 passim. Ders. (1934): S. 314. Christian, Paul (1989): S. 295.
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Menschen, sich selbst zu erleben, sich zu empfinden, sich wohl oder elend zu fühlen, sich zu freuen oder sich traurig zu fühlen, Stand zu halten oder zusammenzubrechen. Darin zeigt sich das reflexive Verhältnis, das Selbstverhältnis leiblicher Erfahrung. Der Leib ermöglicht auch, dass wir uns trotz aller Veränderungen und Entwicklungen als identisch erleben (können). Ist es schon das Sich-selber-Fühlen in Mimik, Gestik und Bewegung, so mehr noch in den verschiedenen Formen möglicher leiblicher Angewohnheiten – sei es synchron oder diachron, indem wir in unserer Entwicklung angeeignete Gesten oder Bewegungen als für uns typische Ausdrucksweisen (weitgehend unbewusst) beibehalten. Leibempfindungen oder -gefühle werden willentlich oder emotional, situativ und sozial gesteuert, erlebt und erlitten; sie können auch aktiv gestaltet, moduliert werden, obwohl der Mensch ihnen (wie seinem leiblichen Kranksein) auch unterworfen (sub-iectus) ist. Das zeichnet ihre Ambiguität aus. Der Leib ermöglicht das Erlebnis, die Erfahrung von Zeitlichkeit. Das ist auch Leib-Zeitlichkeit: von Wachstum, Reifung und Vergänglichkeit, vom Ablauf unserer biologischen, physiologischen und psychischen Existenz. Er ermöglicht auch mittels unseres Gehirns und des übrigen Leibes Erinnerung (davon zu unterscheiden: auch Retention), das Erleben von Aktualität und (in Handlung und in Sprache) auch von Vorgriff (Prolepsis) und Entwurf. Leiblichkeit äußert sich zudem als präreflexive, rationaler Absichtlichkeit vorausliegende Intentionalität auf Mitmenschen, auf den Nächsten oder Fernstehende, auf Außenwelt, Umwelt und Mitwelt – das Auge zum Licht, das Ohr zum Schall, die Haut zur Umwelt – auch mit der Möglichkeit der Verweigerung. In der Verschmelzung von Intentionalität, Rezeptivität und Reaktivität wird gestaltete Beziehungsfähigkeit möglich. Der Mensch kann sich als er selbst (z. B. als Frau oder Mann, als Mutter oder Vater, als Sportler, Arbeitspartner, als Arzt etc.) in seiner Beziehung oder Verweisung auf, d. h. intentional hin zu einem Mitmenschen fühlen. Darin wird die soziale Dimension der Leiblichkeit deutlich, durchaus schon und noch auf der nonverbalen Ebene möglicher Intersubjektivität. Die leibgebundene Intersubjektivität als ein mögliches Sich-auf-den-Anderen-hin-Erleben wird wohl besonders deutlich in der Ermöglichung und dem Erlebnis leiblich-emotionaler, erotisch-leiblicher Teilhabe und Hingabe. Der Leib ist auch Kommunikationsorgan: von der Mimik und Gestik bis zur lautstarken Sprach- oder Affektäußerung, von der Mitteilung im Augen-Blick (das ist ja nicht allein ein zeitlicher Moment) 110 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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bis zur Sympathie-Bekundung des Streichelns der Haut – eine Vielfalt kommunikativer Möglichkeiten aufgrund unserer Leiblichkeit! So ist der Leib mit seiner Körper- oder vielmehr Leibsprache mehr als ein bloßer apersonaler Gegenstand rationaler, objektiver Wahrnehmung seitens eines Beobachters. In den skizzierten Ausdrucksphänomenen teilen sich – wohl überwiegend unbewusst – beide Gesprächspartner, die kranke Person und der Arzt/die Ärztin, emotionale Sinngehalte wie Zuwendung, Interesse, Aufmerksamkeit, Achtung, Sympathie oder auch negative Empfindungen mit, die mit der Kategorie seelenloser, objektiver naturwissenschaftlicher Körperlichkeit nicht erfasst werden. Mögen morphologische oder/und physiologisch-funktionell messbare Befunde (wie Spannung der Gesichtsmuskulatur oder die Bewegungsabläufe der Arme und Hände) auch exakt festgestellt und beschrieben werden können, so wird damit nicht die psychologische, intersubjektiv kommunikative Bedeutung erreicht, die die Mimik und Gestik mit ihren Affekten für die sich einander zuwendenden Personen haben. Bereits der biologischpsychologische Akt des Sich-Zuwendens enthält das Reflexivum des »sich« und das intentionale Transitivum des »Zuwendens« – noch ungeachtet seiner sympathetischen Färbung oder Tönung. In der Begegnung von Krankem und Arzt kann darin aber – situations- oder funktionsspezifisch interpretierbar – der Anstoß zu dem erwarteten bzw. angebotenen Miteinander aufscheinen. Diese kategorial unterschiedlichen Ebenen begründen die Unterscheidung von Leib und Körper. Sie ist für den Arzt und für den Kranken über den ganzen Ablauf ihrer Interaktion relevant: von der Ermittlung des Beschwerdebildes über die unmittelbare Untersuchung bis zur Therapie und zu der abschließenden Beurteilung. Bleiben wir hier bei der Bewegung: So wie Mimik und Gestik großenteils unbewusst ablaufen, so sind auch gezielte, überlegte Handlungsabläufe und -ausführungen hinsichtlich der eingesetzten Muskeltätigkeit unbewusst. Das Handlungsziel, die Handlungsintention prägt die dynamische Leibgestalt der Bewegung und Handlung. Das angestrebte Ziel prägt auch die Zeitgestalt der Handlung – vorgreifend auf das Ziel, sich selbst proleptisch voraus und auch aus dem mehr oder weniger langen »Vorlauf« der gefassten Absicht »festhaltend«, retentional (Husserl). Handlung ist rückwärts und vorwärts »zeitüberbrückende Vergegenwärtigung.« 20 Diese Einbindung in die 20
Auersperg, Alfred Prinz (1954): S. 3.
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Zeit kann im Krank-Sein gestört sein, nicht allein bei neurologischen oder psycho-pathologischen Erkrankungen, sondern durchaus auch bei internistischen Erkrankungen. Das macht die Beachtung solcher (möglicherweise) gestörten Zeitstrukturen handlungsrelevant für den Arzt: z. B. für die Beurteilung von Sprach- und Bewegungsgeschwindigkeit des Kranken. Zurück zu Mimik und Gestik: Beide, oft eng miteinander verbunden, sehen wir häufig als für eine Person charakteristisch an. In ihnen ist biographisch und aktual der Leib Ausdrucksfeld, Träger erkennbarer Individualität. Der Kranke unterscheidet sich (reflexiv) vielleicht aus der Innenperspektive, der 1.-Person-Perspektive, bewusst, absichtsvoll, sicher aber (mindestens partiell) aus der Außenperspektive, der 3.-Person-Perspektive von Anderen. Ebenso ist der Leib Handlungssubjekt willkürlicher, spontaner oder reaktiver Bewegungen – bis in sein Sterben hinein, in seinen Tod. Mit dem Begriff der Rolle, die der Mensch in seiner Leiblichkeit lebt, ist ein weiterer Aspekt der sozialen Dimension des Leibes angesprochen: seine je und je wechselnde Funktion im Zusammenleben mit seinen Mitmenschen. Von innen heraus und in der Kommunikation und Kooperation intersubjektiv erlebt und gestaltet sich der Mensch in seiner Leiblichkeit nach seinem Vermögen angepasst an die aktuelle Situation und Aufgabe: Er ist als Arbeitender oder als Sportler, als Ehegatte, als Untergebener oder in leitender Position leiblich jeweils ein anderer. Darin wird im Einklang oder im Unfrieden Intersubjektivität, ja Zwischenleiblichkeit (»intercorporéïté« 21) kon- oder dissensuell aktualisiert: sei es auf ein gemeinsames Handlungsziel hin oder im intimen Miteinander (Gebsattel spricht vom Geschlechtsleib 22 und meint damit nicht die somatische Organausstattung, sondern die selbstreflexiv und intentional erlebte und aktualisierte leibliche Zuwendung zu einer anderen Person). Die jeweilige Leibgestalt ist alles andere als starr und festgelegt, sie ist auch nicht solipsistisch isoliert. Wie die Handlung ihre von der Person in ihrer Kohärenz mit der Umwelt eine in der Situation mitgeformte Zeitgestalt hat, so auch die Leib-Zeitlichkeit von ihrer biologischen Entwicklung bis in die geprägte Physiognomie des Erwachsenen, ja bis in den Gesichtsausdruck der Totenmaske.
21 22
Merleau-Ponty, Maurice (1959 und 2003): S. 256. Gebsattel, Viktor Emil von (1954a): S. 314–329.
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Die Mehrdimensionalität der geschilderten Phänomene macht verständlich, dass wir der Leiblichkeit mit einer Standard-Physiologie des Körpers nicht gerecht werden. Vielmehr bedarf es einer anthropologischen Physiologie, 23 die die spezifisch menschliche Gestaltung körperlicher, leiblicher Gefühle, Affekte mit ihrer Kontrolle, ihren Verhaltensweisen, Bewegungen bis hinab zu den vegetativen, autonomen Regulationsmechanismen und bis hinauf zu so differenzierten Bewegungen wie beim Sprechen, Singen, Musizieren oder im Ausdruckstanz berücksichtigt. Eine medizinische Anthropologie muss eine anthropologische Physiologie umfassen. Das gilt mutatis mutandis auch für die medizinisch sogenannten vegetativen Funktionen in Gesundheit und Krankheit. Zur Leiblichkeit gehört auch die Geschlechtlichkeit des Menschen, die ihn potenziell in spezifischer Weise gegenüber Tieren auszeichnet: sowohl im Selbsterlebnis als auch in ihrem kommunikativen Charakter. Menschliche Geschlechtlichkeit ist nicht nur auf Reproduktion ausgerüstete Konstitution und Verhalten, sondern auch individuell und kulturell geprägte intentionale Leiblichkeit. Was solche enge Kommunikation in der zärtlichen Berührung, in der intimen Zuwendung und Hingabe ermöglicht – die personale Leiblichkeit –, ist in gleichem Maße verletzbar. Verletzbar ist sie zudem durch eine auf die Sexualität reduzierte Zuwendung zu einem Partner. Verletzbar ist sie aber auch in der Arzt-Kranker-Beziehung – insbesondere dort, wo bei der körperlichen Untersuchung die gebotene Distanz zwischen den Interaktionspartnern unterlaufen wird. Dessen muss sich der Arzt, der den Kranken in diesem Körperbereich intimen Selbsterlebens berührt, bewusst sein. Ist schon der Umgang mit unserer Leiblichkeit historisch und soziokulturell stark geprägt, so besonders der mit unserer Geschlechtlichkeit. Wenn sich auch die Aktualisierung der Geschlechtlichkeit im Laufe des Lebens ändert, so prägt sie uns doch bis ins Alter. Sie bestimmt auch unser gegenseitiges Schamgefühl. Darin zeigt sich ein weiterer Aspekt der reziproken Sozialität der Leiblichkeit. Was haben diese Überlegungen zur Leiblichkeit des Menschen und in besonderer Weise der des Kranken mit dem ärztlichen Handeln zu tun? Die Frage ist aus zwei Blickrichtungen zu stellen: aus der des Kranken und der des Arztes. Über die vielen sich in Mimik, Gestik, Haltung und Bewegung 23
Buytendijk, Frederic J. J. (1967).
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äußernden Aspekte der wechselseitigen Kommunikation hinaus setzt sich der Kranke der Berührung, der Untersuchung durch den Arzt aus, der ihn dabei im Medium seines Selbstempfindens und seiner Selbsterfahrung berührt. Das wird besonders deutlich in den Bereichen intimer Leiblichkeit. In weniger eingreifender Weise, aber nicht weniger prinzipiell bedenkenswert geschieht solche Antastung (Palpation) bei jeder unmittelbaren Krankenuntersuchung. Im Blick auf die Klärung seines Leidens ist es für den Kranken nötig, dass er sich der Berührung, ja der Verdinglichung durch den Arzt auszusetzen bereit ist und sich durch sie nicht eo ipso verletzt fühlt. Ausgehend von der verbalen und der nonverbalen Mitteilung, der Kommunikation zwischen dem Kranken und dem Arzt wurde eben die Leiblichkeit als Träger solcher Ausdrucksmöglichkeiten geschildert. Darin war der Arzt eher der »Hörer«, der Empfänger dieser Sprache. Gleichwohl ist auch er »Sender« nonverbaler Signale an den Kranken. Im untersuchenden Umgang mit dem Kranken berührt er den Leib, ja den Körper als den möglichen Ort, das »Organ« der Selbstempfindung. Damit ist die personale (nicht nur die persönliche!) Dimension des Gegenübers angesprochen. Wie der Arzt den Kranken anfasst, palpiert i. w. S., kann es sich zeigen, dass er ihn in seiner sich selbst empfindenden, personalen Leiblichkeit achtet. Das ist wiederum ein kommunikativer Akt – ambivalent zwischen Nähe und Distanz. Sicher sind die Versachlichung, die Objektivierung (in zweifacher Hinsicht!) in der direkten Krankenuntersuchung, die Palpation und Perkussion i. w. S. unabdingbar. Der Kranke willigt auch darein ein. Sie verlangt aber, die mögliche Verletzung zu bedenken. Die Möglichkeit des Überschreitens der sachlich erforderlichen Berührung seitens des Arztes und des Berührt-Werdens seitens des oder der Kranken kann beide Partner überwältigen; darin liegt die Gefahr der Verletzung der personalen Leiblichkeit. Die leibliche Kommunikation bedarf der (Selbst-)Kontrolle. Hier ist die Scham als ein wechselseitiges Gefühl der Schutzbedürftigkeit und der Achtung der Person und der Würde des Gegenübers ein Wächter gegenseitiger personaler Würdeachtung. »Scham ist der zentrale Affekt des Schutzes vor Entblößung, Demütigung und Erniedrigung, also auch vor der Entwürdigung; zugleich ist es der Affekt, der eine solche Entblößung und Entwürdigung selbst zum Ausdruck bringt.« 24 Die Würde des Menschen ist ein ihn auszeichnendes 24
Fuchs, Thomas (2008e): S. 111.
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Grundgefühl, das auch im Zusammenhang mit der Leiblichkeit zu beachten ist. »Mit der Verankerung des Würdephänomens in der Leiblichkeit […] wird der Leib selbst zum organischen Träger der Würde. Denn die Selbstkultivierung des Leibes ist auch eine organische: Sie formt seine physiologischen, insbesondere seine hochgradig plastischen neuronalen Strukturen und macht ihn so zum Organ der Freiheit.« 25
Körper und Körperlichkeit des Menschen Damit kommen wir zum dritten Kernbegriff des Themas: Was ist mit dem Körper – offensichtlich nicht identisch mit dem Leib –, was ist mit der Körperlichkeit gemeint? Der auch für ärztliches Handeln bedeutsame Unterschied zwischen subjektiv erlebter, gestalteter und kultivierter Leiblichkeit und objektivierbarer Körperlichkeit dürfte aus dem Gesagten schon deutlich geworden sein. Der Körper ist dem Gesunden wie dem Kranken quasi Substrat des Leiblichen; ich möchte ihn als dessen konstitutiven Ermöglichungsgrund und Möglichkeitsfeld bezeichnen. Im Blick auf die medizinische Untersuchung ist die Beachtung der kategorialen und der erlebnismäßigen Unterscheidung zwischen Körper und Leib zwingend relevant: die unmittelbare körperliche Untersuchung des Kranken bis zu Leistungsprüfungen, die methodengemäß z. B. die Watt-Zahl einer Muskelarbeit bestimmen lassen, bringt wohl eine Fülle (meist quantifizierbarer) morphologischer und physiologischer Daten zutage. Sie lassen aber nicht den inneren Kraftaufwand der Selbstüberwindung erkennen, die vielleicht zur Untersuchung geleistet werden muss, oder die Leichtigkeit und Beherztheit, mit der selbst schwere körperliche Belastungen – sofern positiv erlebt – geleistet werden. Kategorial gehorcht der Körper (anders als der Leib) den Gesetzen räumlicher und zeitlicher Ausdehnung, der physikalischen Messbarkeit, der Abhängigkeit von Kausalität und Konditionalität. Darin ist er aber verschieden von leiblicher Selbsterfahrung. Der Körper ist die dinghaft zu vergegenständlichende Sache, als die der Kranke sich selber auch sieht (in einem Prozess partieller und temporärer Selbstobjektivierung) und sich dem Arzt zum Zweck der Untersuchung vorstellt. Die Versachlichung ent25
Ebd., S. 114 (Hervorh. im Original).
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spricht der Entfremdungsstufe ärztlichen Handelns. 26 Sie ist (wie die Verwissenschaftlichung der Sprache) unabdingbar. Sie darf Ärzte aber nicht verleiten, den Kranken insgesamt nur als Sache, als Objekt in seiner vermeintlichen Objektivität zu sehen. »Die Behandlung des Anderen als Sache macht uns selbst zur Sache, und dies wirkt als Selbstzerstörung.« 27 Der Kranke ist selbst als Objekt noch Subjekt mit seinem Selbstempfinden, seiner Biographie. Er ist es auch in dem, was ich als Arzt aus seiner Krankheit ent-decke: die Mimik des Leidenden, die Bewegung des Gelähmten. Er ist Subjekt in dem Sinne des selbständigen Handlungs- und Erlebniszentrums, des Akteurs seines Handelns und Erkennens, aktiv in seinem Kranksein, nicht nur leidend, sondern sein Leiden auch gestaltend. Wo ist hier die Grenze zu ziehen zwischen Aktivität und Passivität? Deren Ambiguität prägt die Körperlichkeit als Möglichkeits- und Ermöglichungsgrund leiblicher Intersubjektivität in Gesundheit und Krankheit. Die partielle Selbstobjektivierung kann von der sachlich notwendigen Distanzierung von dem kranken Körperteil bis zu der psychopathologischen Selbstentfremdung, ja bis zur leiblichen Depersonalisation reichen, in der nicht nur der Körper als ich-fremd erlebt, sondern die ganze Person ihrer Leiblichkeit entzogen wird. Ja, der Kranke kann sich selbst der leiblichen Selbstempfindung entziehen und Körperregionen oder Organe quasi als nicht zu ihm selbst gehörende distanzieren. Das mag sich in solch harmlos erscheinenden Formulierungen wie »mein Magen verträgt das nicht« oder »ich muss mal wieder zum TÜV« äußern, kann aber bis in die völlige Selbstentfremdung des Leibes in der Depression oder der Schizophrenie gehen. War eben von der Leib-Zeitlichkeit die Rede, so soll hier kurz auf die für das Selbst-Erleben des Leibes wichtige Leib-Räumlichkeit einschließlich des »Körperschemas« 28 eingegangen werden. 29 Wir erleben uns räumlich, nicht nur im physikalischen dreidimensionalen Raum, sondern auch im physiologisch regulierten, emotional und rational geprägten Eigen-Raum, im Erlebnis-, Erwartungs- und Möglichkeitsraum. Das ist auch im Blick auf mögliches Kranksein relevant: beispielsweise das Schwindelgefühl bei verschiedenen Or-
26 27 28 29
Gebsattel, Viktor Emil von (1954b): S. 361–378. Weizsäcker, Viktor von (1956): S. 57. Jaspers, Karl (91973): S. 74 ff. S. hierzu Plügge, Herbert (1967): S. 10–34.
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gankrankheiten, Kreislaufstörungen oder passageren toxischen Einflüssen (s. auch Klaustro- und Agoraphobie). Drei Aspekte des Raumerlebens seien hervorgehoben: (1.) das Erleben des eigenen Innenraumes, (2.) die Erfahrung der Körperoberfläche als Berührung von Eigenraum und Umwelt i. w. S. sowie (3.) das Erleben des umgebenden Außenraumes. Der Innen- oder Binnenraum wird emotional unterschiedlich erlebt: Kopf- oder Bauchschmerzen unterscheiden sich nicht allein durch ihre Lokalisation, sondern als »näher« oder »ferner«, in unterschiedlicher Distanz zum Person- und Erlebniszentrum. Körperliche Leere infolge von Hunger oder Erschöpfung (Ausschöpfung!) oder verbunden mit Niedergeschlagenheit ist ebenfalls ein leib-räumliches Empfinden. Die körperliche, leibliche Oberfläche ist Angrenzung, Berührung von physischem und psychischem Innen und Außen, offen und empfänglich oder abschließend und verschließend. Wir erleben uns auch in leiblich empfundenen Freiräumen, Spielräumen, in Antizipationsräumen, die leib-zeitlich und -räumlich konstituiert sind (s. das »Sich-Hinordnen« oder »Sich-Hinorten« des Fußballers zur Annahme der Vorlage eines Mitspielers oder die Antizipation des Tennisspielers als Beispiele raum-zeitlicher Antizipation). Unsere Leiblichkeit vereint beide Dimensionen – Zeit und Raum i. w. S. – auch mit ihren wechselnden emotionalen, affektiven und kognitiven wie auf unser Handeln ausgerichteten »Tönungen«. Zurück zu Körper und Körperlichkeit und deren Beziehung zum ärztlichen Handeln. Ich habe von ihm als von einer Sache und von der Unabdingbarkeit der Versachlichung im Zuge der unmittelbaren Untersuchung des Kranken gesprochen. Ist die Gefahr, die in der Verdinglichung bereits im direkten Umgang mit dem Patienten liegt, schon deutlich (»die Galle von Zimmer 12«), so wird sie noch größer mit der indirekten, der apparativen Krankenuntersuchung. Werden doch Kranke oft wie Werkstücke »in die Röhre« (z. B. des CT- oder MRT-Gerätes) gesteckt und ihr persönliches Empfinden, ihre Angst oder ihre Verdinglichung dabei ignoriert. Allzu oft übergehen wir die Angst und Abneigung (besonders älterer Personen) gegen die Technik, indem wir den Körper des Kranken nur als Gegenstand der Untersuchung sehen. Ich bin weit davon entfernt, solches ärztliches Handeln als generelle Praxis, die den Kranken zum Ding, zum bloßen Gegenstand versachlicht und reduziert, zu unterstellen und zu verteufeln. Die Gefahr muss aber gesehen werden. Und es muss – nach der für die Untersuchung notwendigen Entfremdungsstufe – die 117 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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Integration geleistet werden, den Kranken wieder auf der personalen Sinnstufe anzusprechen, 30 d. h. ihn als Person und als Hilfsbedürftigen, als Leidenden i. w. S. zu sehen. Das beginnt mit der mehr oder weniger ausdrücklichen, mehr oder weniger vollständigen Begründung und Erklärung der Notwendigkeit (der ärztlichen Indikation) solcher Versachlichung, die ja der Erkennung und der Linderung seiner Not gilt. Es mündet in die gemeinsame Entscheidung zur einvernehmlichen Therapie, die nicht nur formal (juristisch) im Einverständnis, sondern personal zum Wohle des Kranken vorgenommen wird. Indem in der direkten und indirekten Untersuchung der Kranke auf seine Körperlichkeit reduziert wird, wird auch sein Kranksein auf die Ebene des Somatischen begrenzt und die mehr oder weniger beeinträchtigte Befindlichkeit außer Acht gelassen. Somit hat vor und unabhängig von Psychosomatik oder Psychotherapie i. e. S. unser Umgang mit dem Körper, mit dem Leib des Kranken sehr wohl etwas zu tun mit unserem Verständnis von Krankheit und Kranksein, mit der Achtung der Person des Kranken – und vice versa.
Zusammenfassung Vor dem Hintergrund der drei Aspekte ärztlichen Handelns, es sei kommunikatives Handeln und diese Kommunikation sei multimodaler Umgang mit dem sich in seiner Leiblichkeit selbst empfindenden Kranken, der partiell und passager auf seine Körperlichkeit reduziert werde, wurde im 1. Teil der Prozess der Versprachlichung der Beschwerden, des Befindens, des gefühlten Krankseins und die Tendenz zur vermeintlichen Verwissenschaftlichung der Sprache des Kranken skizziert. Diesen Prozess setzt der Arzt fort, indem er die Informationen des Kranken in den Soziolekt und den pathophysiologischen Erklärungshorizont der Medizin übersetzt. Damit wird ein Prozess reduktionistischer Versachlichung eingeleitet. Auf die unterschiedlich informativen Gehalte verbaler und nonverbaler Verlautbarungen oder Kommunikation wurde hingewiesen. Im 2. Teil wurde die Leiblichkeit des Menschen dargestellt: als Feld oder Organ der Selbstempfindung, der Identität, auch in ihrer Kränkbarkeit und Verletzbarkeit, auch als Medium nonverbaler 30
Gebsattel, Viktor E. von (1954b): S. 371.
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Sprache, Leib und Körper des Kranken
Kommunikation in Mimik, Gestik, Haltung, Bewegung und (proleptisch und retentional) sich vollziehender Handlung (»Bewegungsgestalt«). In der Anfälligkeit für das Krankwerden wie in der leiblich erlebten und mental bewussten Leib-Zeitlichkeit erfährt der Mensch seine existenzielle Unsicherheit und die Nicht-Selbstverständlichkeit seines Lebens, aber auch seine diachrone Identität durch die wechselnde Leibgestalt hindurch. Der Leib ist Träger von Selbsthaftigkeit, Individualität, Subjekt- und Person-Sein. Leibliche Identität ist reflexiv und intentional, auch in der Rolle, die der gesunde oder der kranke Mensch einnehmen kann. Der 3. Teil hat die kategoriale und erlebnismäßige Differenz von Leib und Körper aufgenommen und den weiteren Versachlichungsprozess, die Entfremdung und Depersonalisation in der unmittelbaren und mittelbaren (apparativen) Diagnostik angedeutet. Die mit der Leib-Zeitlichkeit konstitutiv verbundene Leib-Räumlichkeit bedarf der Beachtung im Selbsterleben des Innenraumes, der schützenden und vermittelnden Oberfläche wie des erlebten, sich öffnenden Außenraumes. Für die personale Sinnstufe ärztlichen Handelns ist ein Prozess der Integration im Blick auf die Therapie zu leisten, die auf den anfänglichen Hilferuf des Kranken an den Arzt antwortet.
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Vom ärztlichen Handeln zum Blick auf den Menschen
Die Überlegungen zur Begegnung zwischen dem Kranken und dem Arzt haben mit dem Bezug auf die ärztliche Handlungsstruktur vier wichtige leitende Begriffe deutlich werden lassen, in denen der Kranke selbst seine Erwartungen an den Arzt zusammenfassen könnte: die Ermittlung des Beschwerdebildes und der Krankengeschichte (Anamnese), die Untersuchung (Diagnostik) und die Behandlung (Therapie) der gefundenen Krankheit (Diagnose) mit der zu vermutenden Prognose. Eine genauere Betrachtung dieser Schritte kann uns von dem äußeren Handlungsprozess hinführen zu einer Annäherung an eine ärztliche Anthropologie. Die rasant fortschreitende Medizin hat Ansätze zu einer ärztlichen Menschenlehre und einer anthropologischen Medizin überholt und unter dem Zeitdruck des ärztlichen Handelns ersticken lassen. Die Alltagsmedizin gibt immer wieder Anlass zur Kritik: Sie vergesse den »ganzen Menschen«, sehe nur organ-bezogen auf im naturwissenschaftlichen Denkhorizont erklärbare »Sachverhalte« und lasse das Menschliche außer Acht. Seelische Befindensstörungen oder die mögliche wechselseitige Beziehung zwischen Körper und Seele im Kranksein zu beachten, sei – so das Selbstverständnis vieler Ärzte und auch der Bevölkerung – einer spezialisierten Disziplin der Medizin (Psychotherapie, Psychosomatik oder Psychiatrie etc.) vorbehalten. Als für das ärztliche Handeln vermeintlich kaum relevante Aspekte bleiben menschlich konstitutive Bereiche des Selbsterlebens des Kranken (seine Leiblichkeit, Zeitlichkeit, Subjekthaftigkeit u. a.) meist unberücksichtigt. Somit ist – vom Umgang mit dem Kranken her – zu fragen, ob nicht aus ärztlicher Sicht doch stärker integrierend die phänomenale leiblich-seelische Einheit des Menschen gesehen und einer Fragmentierung des Kranken begegnet werden kann durch eine Besinnung auf handlungsleitende Begriffe (wie Anamnese, Diagnostik, Therapie und Prognose) und Erfahrungen. Kann sich durch deren Reflexion ein Bild vom Menschen in seiner bio-
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psycho-sozialen Konstitution zeigen, das für beide Partner der Kranker-Arzt-Beziehung prägend ist? Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist die unmittelbare Wahrnehmung des Kranken in seiner Leibgestalt und seiner Biographie. Der ärztliche Blick kann uns diese Sicht auf den im weitesten Sinne Not Leidenden öffnen. Mit der Untersuchung berühren wir den Körper, den Leib des Kranken, d. h. das »Substrat« seiner Selbstempfindung. Mit der Therapie greifen wir u. U. fundamental in den Lebensentwurf des Kranken ein mit dem Blick auf die medizinische Prognose und die eigenweltliche Lebensperspektive. So können wir mit der Reflexion der genannten Handlungsbegriffe im alltäglichen Umgang mit dem Kranken nicht nur ihm als Person, sondern auch einer allgemeinen ärztlichen Menschenlehre nahekommen.
* * * Die Beziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken und damit verbunden das Selbst- und das Krankheitsverständnis beider Partner haben in den letzten 50 Jahren einen deutlichen Wandel erfahren. Noch immer wird aber das Menschenbild der praktizierten Medizin – sofern überhaupt reflektiert – von der naturwissenschaftlichen Medizin mit dem ihr eigenen »Practicando-Dualismus« von Körper und Geist dominiert. Diese Sicht ermöglicht zwar – je nach der medizinischen Fachrichtung – eine praktisch-methodische Konzentration auf einen der beiden Aspekte menschlicher Existenz. Der lebensweltlich erfahrenen und erlebten Zusammengehörigkeit körperlicher und seelischer Phänomene steht aber eine weitgehende Fokussierung auf die naturwissenschaftlich erfassbare, körperliche Seite von Krankheit entgegen. Hier werden Defizite spürbar. Die Vereinseitigung wird zwar als partiell und temporär, als praktisch erforderlich erachtet, sie ist jedoch auch Gegenstand der Kritik an »der Medizin«. Deren zunehmende apparative Ausrüstung und die entsprechende Handlungsmethodik werden als erwartete und gefürchtete Ausuferungen wissenschaftlich-technischer Praxis gesehen, die den perspektivischen Verlust überdecken. Das lässt den Ruf nach »ganzheitlicher Medizin« und nach einer Erfassung des Menschen in seiner bio-psycho-sozialen Konstitution laut werden: weniger medizin-intern als vielmehr
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von Seiten der von dieser Medizin abhängigen Kranken und der Gesellschaft. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass die psycho-physische Aspektdualität 1 zwar praktisch-methodisch als hilfreich, ja zeitweilig unabdingbar zu berücksichtigen ist; sie muss aber nicht zur völligen Ausblendung der je anderen Seite führen. Der Blick auf die »Ganzheit des Menschen« darf und muss nicht verloren gehen. Die mögliche »körperlich-seelische Selbsterfahrung« des Kranken soll hier in einer Skizze der ärztlichen Handlungsschritte – von der Ermittlung des Beschwerdebildes und seiner Geschichte über die Diagnostik zur Therapie – dargestellt werden als konkret und unmittelbar erfahrbare phänomenale Einheit, die wir im ärztlichen Umgang mit kranken Menschen alltäglich wahrnehmen können. Das impliziert jedoch die Möglichkeit, sie gerade nicht wahrzunehmen: sei es pragmatisch in der Konzentration auf die jeweilige medizinische Fachdisziplin mit ihrer expliziten Aufgabe (z. B. Chirurgie, Innere Medizin, Psychologische Medizin), sei es konzeptionell in eindimensionaler Sicht einer rein naturwissenschaftlichen Medizin, sei es organisatorisch (z. B. durch Personal-, d. h. Zeitbudgets) oder auch institutionell (durch die fachspezifische Funktionsverteilung) bedingt. Auch kann es sein, dass der Kranke die körperlich-seelische Einheit zwar unmittelbar erlebt, sie aber für das Kranksein nicht beachtenswert und sie vor dem Arzt verborgen hält zugunsten einer ihm selbst und der Krankheit angemessen erscheinenden einseitigen Gewichtung. Die »Körper-Geist-Natur« des Menschen ist für die Medizin in verschiedenen Modellen dargestellt worden, die die cartesianische Trennung entweder in psycho-physischer Parallelität, in psychosomatischer Sicht oder auch mit dem bio-psycho-sozialen Modell von Engel (1980 und 1982) 2 und Thure von Uexküll (1988) 3 zu überbrücken versuchen. 4 Derartige Konzepte werden zwar weithin für funktionelle oder sog. psychosomatische Erkrankungen als wichtig angesehen, für die alltägliche Begegnung des Arztes mit kranken Fuchs, Thomas (12008a): S. 106 und S. 225, dort mit der plausiblen Abgrenzung von den von Fuchs bevorzugten Begriffen »Doppelaspekt« oder »Aspektdualität« der Lebewesen bzw. der Person. 2 Engel, George L. (1980); ders. (1982). 3 Uexküll, Thure von & Wesiack, Wolfgang (11988): S. 158, 200 ff., 370 ff. (passim). 4 Ich vermeide die häufigere Gegenüberstellung von »Leib und Seele«, da der Begriff des Leibes oft als »beseelter Körper« verstanden wird, also beide Teilaspekte umfasst. 1
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Menschen scheinen sie jedoch unwichtig zu sein. Im Folgenden möchte ich hingegen Aspekte des Menschen aufspüren, die in der unmittelbaren Begegnung des Arztes mit dem Kranken deutlich und handlungsrelevant erfolgsbestimmend werden können: sowohl in der Ermittlung seiner Beschwerden und der Krankengeschichte (Anamnese) als auch in der Diagnostik, der Therapie und der prognostischen Beurteilung. Das sind Handlungsschritte, die – wenngleich in unterschiedlicher fachgebotener Spezifizierung und Gewichtung – prinzipiell in allen klinischen Disziplinen ähnlich praktiziert werden. Dieser idealtypische Handlungsgang ist das Gerüst der folgenden Überlegungen zu einer pragmatischen ärztlichen Anthropologie.
A) Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt Mit der Begegnung des Kranken mit dem Arzt wird eine durchgehend dialektische Situation zweier einander sowohl überlegener als auch unterlegener Personen initiiert: ein konstitutiv symmetrisch-asymmetrisches Verhältnis, in dem der eine Partner des medizinischen Rates oder der Hilfe bedarf, der andere ihm als sachkompetenter Helfer gegenübersteht. Schon die Begrüßung weist den beiden Partnern funktionelle Rollen zu, die in wechselnder Dynamik und Dominanz den weiteren Prozess miteinander prägen. In dieser asymmetrischen Zweier-Beziehung wird meist der Arzt als die überlegene, den Gang der Handlung bestimmende Person gesehen gegenüber dem unterlegenen, von der Hilfe des Arztes abhängigen, hilfsbedürftigen Kranken, der betroffen ist von der Krankheit, seiner Sorge und der gesundheitlich existenziellen Bedrohung. So erscheint es auf den ersten Blick: eine Asymmetrie zuungunsten des Kranken. Jedoch ist er es, der dem Arzt die nötigen Informationen gibt oder vorenthält, ihm Gesprächsinhalte vorgibt oder verweigert; er ist es auch, der die Untersuchungserlaubnis gibt und – nicht zuletzt – den ärztlich angeordneten Behandlungsmaßnahmen Folge leistet (sog. Compliance). Der Arzt ist abhängig von der Offenheit, der Kooperationsbereitschaft, dem Einverständnis des Kranken. Die »symmetrische Asymmetrie« ist selbstverständlich unterschiedlich gewichtet. Sie ist abhängig von den beteiligten Personen, von der medizinischen und der persönlichen Situation und von den Bedingungen, dem je aktuellen Rahmen, in dem sich die Arzt-Kranker-Begegnung ereignet. Sie ist eine notwendig ambivalente Bezie123 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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hung, die höchstens vorübergehend und funktionsabhängig aufgehoben und zur einen oder anderen Seite hin – die beiden Personen mehr oder weniger entlastend – aufgegeben werden kann. Kennzeichnend für die Beziehung ist die sachliche und personale Zuordnung der beiden Partner zueinander. Diese doppelte Entsprechung ereignet sich oft schon im ersten wechselseitigen Blick der beiden Personen. Es ist der mehr oder weniger erwartungsvolle Blick des Hilfsbedürftigen zu dem Helfer, der den aktuellen oder befürchteten Krankheitszustand lindern oder abwehren soll. Und es ist der sachlich-funktionale, der »medizinische« und der empathische »ärztliche Blick«, der die Not des Gegenübers erkennen will. Medizinischer und ärztlicher Blick müssen einander ergänzen, wenn der Not angemessen begegnet werden soll. 5 Der funktionale Blick auf die sichtbaren und genau zu beachtenden Zeichen des (möglichen) Krankheitszustandes darf den ärztlichen Blick, der das Vertrauen begründet, nicht blind machen. Warum die vielleicht überraschende Unterscheidung? Der medizinische Blick ist funktions-orientiert. Sein Objekt sind die sichtbaren Zeichen einer Krankheit, einer Abweichung von der »Normalität«, einer i. w. S. vitalen Bedrohung der Gesundheit oder des körperlichen Wohlbefindens des Ratsuchenden. Er setzt Sach- und Fachkenntnisse über das Normale und das Abnorme voraus und impliziert Beurteilungsvermögen und Entscheidungskompetenz für Handlungskonsequenzen. Er lässt sich als sachlich, objektiv, kritisch beurteilend charakterisieren und ist operational auf diagnostisch erklärendes und therapeutisches Handeln ausgerichtet, offen für den Krankheitsverlauf und allenfalls notwendige Änderungen im diagnostischen oder therapeutischen Procedere. Oft erlaubt er ohne weitere Untersuchungsmaßnahmen bereits definitive Schlüsse. Der »ärztliche Blick« hingegen nimmt den Ratsuchenden als Person in ihrem Leiden wahr, in ihrer existenziellen Betroffenheit, vielleicht in ihrer Sorge und Angst, er ist offen für Empathie sowie für personale und persönliche Zuwendung. Beide Perspektiven müssen einander ergänzen. Auch wechseln sie im Laufe des Gesprächs, der Untersuchung, der speziellen Diagnostik, des Krankheits- und Heilungsverlaufs unter der Therapie in ihrer jeweiligen Dominanz. Dieser Wechsel wird von den fachlichen und persönlichen Vorgaben, von der medizinischen und ärztlichen 5
Wettreck, Rainer (1999).
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Sozialisation des Arztes und von seiner Befähigung zur Empathie und seiner Funktion mitgeprägt: Der Dermatologe hat eine andere Perspektive, auch eine andere Absicht als der Psychotherapeut. Auch das unbewusste Selbstverständnis des Arztes spielt hier eine wichtige Rolle: ob er sich selbst eher als der Mediziner oder als der Arzt versteht und dem Kranken widmet. Durch die Akzentsetzung des medizinischen und des ärztlichen Blickes werden Weichen gestellt, Wirklichkeiten geschaffen, die den weiteren Umgang der beiden Personen miteinander prägen. Beide Perspektiven sind durchaus störanfällig: Der medizinische Blick kann auf falsche Fährten der Wahrnehmung und der Beurteilung führen, der ärztliche Blick zu persönlichen Fehleinschätzungen. Dennoch sind beide Blickweisen unabdingbar. Sie sind sachlich und personal konstitutiv für die gegenseitige Achtung der Partner. Beide – der medizinische und der ärztliche Blick – werden durch situative, gesellschaftliche, sozio-kulturelle Einflüsse mitgeprägt. So beeinflusst die Anwesenheit ärztlicher Kollegen oder von Pflegepersonen bei der Visite im Klinikalltag den Blick des Arztes auf den Kranken als Objekt oder als ein Subjekt, eine Person. Der Blick schon leitet durch die doppelte Perspektive, durch die medizinische und die ärztliche Ausrichtung mit der jeweils notwendigen komplementären Ergänzung, die sachlich-funktionale und die mitmenschlich helfende Beziehung ein. Die Gegenseitigkeit, die Reziprozität der Blicke wie der Umgang lassen die grundlegende mitmenschliche Dimension erkennen – Mitmenschlichkeit nicht i. S. karitativen Mitleids, vielmehr als anthropologische Bezogenheit. Gegenseitigkeit und Umgang – zwei für Viktor von Weizsäckers anthropologische Medizin zentrale Begriffe – kennzeichnen die Überwindung einer Subjekt/Objekt-Zuschreibung. Denn der Arzt und der Kranke sind in dem augenblicklichen (!) Wechselspiel sowohl Subjekt als auch Objekt. Sichtbar wird darin der durchgängige Gestaltkreis in der Beziehung. Er wird sich fortsetzen (besonders) in der unmittelbaren Krankenuntersuchung, im diagnostischen und therapeutischen Prozess. Dieses »wechselseitige Geben und Nehmen« ist die Basis des Arzt-Patienten-Verhältnisses: auf der praktisch-funktionalen Ebene wie in genuin anthropologischer Gegenseitigkeit. »Als erste Kategorie des Menschlichen ergibt sich somit der Begriff ›Umgang‹. Umgang wäre z. B. jene zyklomorphe Ordnung, die beim Tastakt den
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Tastgegenstand, die Bewegung und die Wahrnehmung in kreisartiger Verbundenheit zusammenfügt […]. Umgang ist jeder biologische Akt als Lebenstatsache, und dies wird jetzt das allgemeine Beispiel auch für die Ordnung jenes Umgangs, welcher das Verhältnis von Arzt und Patient charakterisiert. Die Analogie ist präzis, denn im Umgang von Arzt und Patient bekommt jeder Partner zurück, was er gegeben hat im lebendigen Wechselspiel, d. h. ›Erkenntnis‹ und ›Behandlung‹ sind auf der Basis der ärztlichen Zuwendung ein wechselseitig sich erhellender Prozess. […] Genau wie bei der tastenden Hand des Untersuchers der Untersuchte Objekt in einem Gestaltkreis ist, so steckt hinter jeder therapeutischen Behandlung, hinter jedem diagnostischen Zugriff – sofern er umfassend genug durchgedacht ist – ein zyklomorpher Prozess: ein Geben und Nehmen zugleich: Eine echte Therapie gelingt nämlich nur solange und sofern die Zuwendung und die Bindung zum Arzt aufrechterhalten ist. ›Therapeutisches Geben‹ ist dann aber zugleich ein ›Gehorchen‹ des Patienten, und die abgegebene Kraft des Gebens wird beim Arzt zurückempfangen im Gehorchen in der Form eines Zuwachses an Selbstvertrauen […]. Dieses wechselseitige Geben und Nehmen ist die Basis des Arzt-Patient-Verhältnisses, und es ist klar, dass es hier eine Trennung ontologisch nicht gibt.« 6
Dieser Umgang ist zugleich ein von beiden Personen reflexiv zu leistender Akt, indem sich beide selbst in ihrer Funktion der »Doppelstruktur […] von sachlicher und personaler Entsprechung« sehen, in ihr agieren. 7 So wiederholt sich quasi intra-individuell, was sich intersubjektiv-interaktionell zwischen dem Arzt und dem Kranken ereignet: die Aufhebung eines Subjekt/Objekt-Dualismus und – sofern der senso-motorische Wahrnehmungs- und Interaktionsprozess mitgedacht wird – auch des leib-seelischen Dualismus. Das Stichwort intersubjektiv verlangt weiteres Nachdenken. Intersubjektivität meint hier eine dynamische Resonanz, ein verbales und nonverbales, emotional-empathisches »Zwischen«, das die beiden Partner wechselnd verbindet. Diese Resonanz ist nicht unbedingt positiv i. S. gegenseitiger Zuneigung; sie ist möglicherweise durch Animosität, Ärger, ambivalenten Widerwillen des Unterlegen-Seins belastet. Auch wird sie wesentlich durch den Prozess der Übertragung und Gegenübertragung mitbestimmt. Darüber hinaus meint Intersubjektivität eine strukturelle Situation. Beide Partner sind durch den Anlass, durch die Funktion mit ihren spezifischen Aufgaben, durch die Selbst- und Fremdverpflich6 7
Christian, Paul (1952): S. 140 ff. (Hervorh. im Original). Weizsäcker, Viktor von (1926a): S. 13.
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tung auf Sachlichkeit und Angemessenheit und damit auch durch die Verantwortung für die personale Ebene ihrer Beziehung gebunden. Der Ertrag dieser Verbindung, die erwartete bzw. angebotene Hilfe zur Überwindung der Not i. w. S. ist von der gegenseitigen Übernahme der Rollen für einander abhängig. Was im wechselseitigen Augenspiel, in der doppelten Perspektive des Blickes begonnen hat, setzt sich im Sprechen und Handeln fort als ein Umgang der beiden Personen. Er umschließt zentral den Kranken und den Arzt als zwei Subjekte, die einander zwar Objekte sind, dies aber zugleich als Subjekte. Hier ist wieder zu unterscheiden zwischen der sachlichen und der personalen Entsprechung. Der Kranke sieht den Arzt als den sachkompetenten, mitmenschlichen Helfer. Der Arzt sieht den Kranken als Gegenstand von Diagnostik und Therapie, der ihn zugleich auf »Objektivität« verpflichtet. Zur Spezifität des Umgangs gehört nicht nur die medizinische Sachlichkeit, sondern auch die auf Genesung und Heilung gerichtete Offenheit auf die Möglichkeit, was aus dem kranken Menschen wird. »Nun machen wir im Umgang mit Menschen, auch mit kranken Menschen, eine […] Erfahrung. Sie begegnen uns nicht nur als Etwas, sondern als Jemand. Und wir fragen nicht nur was ist, sondern auch was wird. Und sie sind nicht nur ein werdender Gegenstand, sondern auch Subjekte, die wollen, können, sollen, müssen und dürfen. Das Objekt enthält ein Subjekt, welches nicht ist, sondern das nicht ist, was es will, kann, soll, muss oder darf.« 8
Das ist der »pathische Umgang« des Arztes mit dem Kranken als dem Subjekt im Schwebezustand von Müssen, Sollen, Dürfen, Wollen und Können. Mit dem Schwebezustand ist nicht der medizinisch ungewisse Krankheitszustand, sondern die noch unerfüllte, nicht eingelöste Offenheit der pathischen Kategorien des Möglichen gemeint, erkennbar auch darin, wie der Kranke sich in seinem Kranksein verhält. Der Arzt ist dabei ein »Ermöglicher« von Gesundung. Die beiden Perspektiven des medizinischen und des ärztlichen Blickes setzen einen »inneren Prozess« in Gang, die nahezu instantan sich entwickelnde Folge von Wahrnehmen, Beobachten, Beurteilen und Handeln. Bei allzu schneller funktioneller Fokussierung kann der Blick eingeengt und die unmittelbare Wahrnehmung des Kranken in seiner Betroffenheit verfehlt werden, sodass die vielleicht nur 8
Weizsäcker, Viktor von (1951a): 515.
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hintergründige, aber doch als Bedrohung empfundene Not des Hilfsbedürftigen nicht wahrgenommen wird. Der Blick erfasst auch den spontanen und den reaktiven mimischen und gestischen Ausdruck des Gegenübers. Für den um Hilfe gebetenen Arzt kann sich darin das mehr oder weniger deutliche Leidensbild zeigen: das leibliche Kranksein und die individuelle Beherrschtheit, eventuell auch das appellative Moment des Hilfsanspruches. Täuschungen auf Seiten des Kranken sind ebenso möglich wie das Übersehen oder die Fehldeutung seitens des Arztes. Trotzdem spricht der kranke Mensch psycho-physisch durch seine Leiblichkeit zu dem Arzt. Im Blickwechsel mögen sich die Akzente und Absichten ändern. Beide Partner gestalten reziprok ihre Blicke auf das Gegenüber. Es ist der subtile Beginn eines Umgangs miteinander, der den ganzen Prozess des Handelns prägt, der Beginn und die Kontinuität in der entstehenden Gemeinschaft von Arzt und Krankem.
B) Die sog. Krankengeschichte, die Anamnese Mit der Begrüßung, mit dem ersten Blickwechsel zwischen dem Arzt und dem Kranken sowie der teils intuitiven, teils systematischen Folge von Wahrnehmen, Beobachten, Beurteilen und Handeln wird die Ermittlung der aktuellen Beschwerden eröffnet. Im beiderseitigen Interesse wird das Befinden des Rat- oder Hilfesuchenden versprachlicht bzw. in den Soziolekt des Mediziners operationalisiert, d. h. von beiden Partnern konstruiert. 9 Dieser Prozess zielt funktional auf eine körperlich fassbare, benennbare und erklärbare Krankheitseinheit hin. 10 Das Beschwerdebild wird ausgestaltet zu einem Gegenstand, der objektiviert, untersucht und behandelt werden kann, um die Sorge des Kranken zu lindern oder gar zu beheben. Der teils phänomenal-deskriptiven, teils erklärenden und operationalisierenden Ermittlung des Beschwerdebildes folgt die der Anamnese, der dynamischen Zeitgestalt der aktuellen Krankheit, auch diese eher i. S. eines idealtypischen Konstruktes. Gefragt wird
Zu der »Versprachlichung« der Beschwerden s. im vorliegenden Buch Kapitel »Sprache, Leib und Körper des Kranken«, S. 101–119. 10 Auf die Bedeutung der handlungslogisch wichtigen Unterscheidung von Symptom, Symptomkomplex, Syndrom und Krankheitsentität soll hier nicht eingegangen werden. 9
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nach dem Was?, Wann?, Wie?, Wo? und Warum? der Beschwerden. Unter welchen äußeren oder inneren Bedingungen sind sie aufgetreten? Es zeigt sich häufig ein unscharfer Beschwerdebeginn. Selbst da, wo die physische Beeinträchtigung scheinbar plötzlich, »aus heiterem Himmel« begonnen hat, hat sie eine Vorgeschichte – und sei es das (vermeintlich) gute Befinden vor der Verschlechterung. Vielleicht gab es frühere Erkrankungen, die eine Disposition zur Wieder- oder Neuerkrankung begünstigt haben. Vielleicht gab es lebensgeschichtliche, biographische Bedingungen für das Krankwerden. So gesehen zielt die Erhebung der Anamnese auf die Geschichte der aktuellen und eventuell disponierenden Erkrankungen, also auf die Krankheitsgeschichte (historia morbi) wie auch auf die Geschichte des Kranken (historia aegroti), auf seine Lebens- und Leidensgeschichte (historia passionis), seine Biographie. Für die aktuelle Erkrankung ist zu berücksichtigen, dass ein objektives Symptom und der klinische Befund einerseits und die Beschwerde andererseits nicht unbedingt (weder zeitlich noch ursächlich) zusammengehören; auch kann die Deutung seitens des Kranken, seine Selbstattribution fehlgehen. Aus der Geschichte der Krankheit(en) kann auch »ein konsequentes Stück der Biographie, das Krankwerden ein gar nicht ganz sinnloser Ausdruck der Lebensgeschichte« werden bzw. im Rückblick gewesen sein. 11 Weizsäcker spricht davon, dass »die Krankheit in der Lebensgeschichte […] wie die Funktionsstörung im Organismus psychophysisch gebaut« ist. 12 Das ist nicht Kausalität, eher ein möglicher Parallelismus, eine Simultaneïtät oder eine wechselseitige Stellvertretung des »Moralisch-Geistigen« und des »Natürliche[n] und Biologische[n]«, 13 die nicht voneinander getrennt werden dürfen. Auch die scheinbar rein körperliche Erkrankung geht mit einer Änderung des Befindens einher – sei es auch nur, dass der Leib aus der »Verborgenheit der Gesundheit« 14 heraustritt in das Empfinden der Veränderung gegenüber der gewohnten Befindlichkeit. Wenngleich wir im anamnestischen Gespräch vom Psychischen oder vom lebensgeschichtlichen Ereignis zum körperlichen Symptom, aber auch vom körperlichen Symptom zur Biographie, zur Persönlichkeitsgestaltung übergehen können, so sind eindeutige kausale Beziehungen von klinischen Befunden und 11 12 13 14
Weizsäcker, Viktor von (1946/47; 1947; 21951): S. 102. Ebd. Ebd. Gadamer, Hans Georg (21993).
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der Biographie nicht abzuleiten. Es gibt kaum eine feste, überindividuell nachweisbare Korrelation zwischen dem psychischen und dem biographischen Geschehen und einer angenommenen »Materialisierung« in der Krankheit. 15 Dennoch ist – vorgängig psychoanalytischer oder psychotherapeutischer Erklärung – auch die somatische Erkrankung seelisch »getönt«, wie umgekehrt »etwas in der Seele sich Ereignendes sich in der Krankheit [im leiblichen Missbefinden; K. G.] materialisiere[n]« kann. 16 Weizsäcker meint nicht, der Arzt könne aus der »Verflechtung von Krankheit und Subjekt […] ein kausales Zusammenwirken von Faktoren, die man isoliert bestimmen kann, [ableiten,] sondern dass es sich um ein nur aus einer einheitlichen Gesamtstruktur verständliches Werden handelt. […] Das Entstehen der Krankheit aus einer lebensgeschichtlichen Situation und das Eingehen der Krankheit in die Gestaltung des nächstliegenden Stückes der Biographie ist doch nicht als Kausalität zu verstehen. In ihm hat das somatische Geschehen einen psychischen Wert, das psychische Geschehen aber ganz ebenso einen körperlichen, es darstellenden Ausdruck.« 17
Unterscheiden wir bei der Anamnese die historia morbi (Krankheitsgeschichte) von der historia aegroti et passionis (Geschichte des Kranken und seines Leidens), so ist die sachlich-naturwissenschaftliche Sicht auf die Krankheit wohl angemessen. Hingegen ist dem Kranksein die biographisch bedeutungshafte Methode adäquater, die Biographik i. S. Weizsäckers, d. h. das anamnestische Gespräch auch über die Lebenssituation. Es ist offensichtlich, dass »ein biographisches Verständnis der Krankheiten, [genauer: des Krankseins; K. G.] nicht [ausschließlich] zurückgeführt werden kann auf eine naturwissenschaftliche Erklärung.« 18 Dennoch macht oft eine biographische Krankengeschichte auch ohne psychosomatische oder psychoanalytische Interpretation deutlich, wie stark selbst (im naturwissenschaftlichen Verständnis) rein somatische Krankheiten (z. B. ein Herzinfarkt) eine biographische und psychosoziale Dimension haben. Sie ist es, die in dem ärztlichen Handlungsschritt der Erhebung der Anamnese als Krankengeschichte zum Vorschein kommen kann. In der transitiv und reflexiv geleiteten und geleisteten Erinnerung erlebt 15 16 17 18
Weizsäcker, Viktor von (1947c): S. 371, passim. Ders. (1947c): S. 295. Ders. (1938a): S. 363 ff. (Hervorh. im Original). Ders. (1956): S. 274.
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der Kranke seine biographische Identität, in zeitübergreifender Vergegenwärtigung. 19 Es kann darin auch die Macht, die kränkende Wirkung des vermeintlich Vergangenen deutlich werden, besonders in der psychoanalytischen Aufarbeitung von Verdrängungen in der Biographie. Ebenso prägt die erwartete oder befürchtete Zukunft – nicht allein die medizinische Prognose – das gegenwärtige Kranksein. Die gleiche Zeitstruktur hat die die anthropologische Medizin charakterisierende Frage »Was wird daraus?«: Sie ist auf die mögliche Zukunft und das zukünftig Mögliche ausgerichtet. Darin achtet die Erhebung der Anamnese die offene, die unerfüllte, die pathische Seinsweise des Kranken. Was in der Anamnese der Krankheit, des Kranken und seiner Erkrankung oft zum Vorschein kommt, ist ein mehrdimensionales Geschehen körperlichen, leiblichen und meist auch seelischen Missbefindens bzw. biographischer Ereignisse in der Vorgeschichte der aktuellen Situation. Diese Mehrdimensionalität gilt es eben auch bei sogenannten rein somatischen Erkrankungen zu beachten; auch sie haben einen biographischen und psychosozialen Stellenwert. »Das Problem des Menschen in der Medizin – oder speziell in dieser neuen Art der Medizin – ist, dass er, der Mensch, seine Krankheit, die als Teil seiner ganzen Biographie zu verstehen ist, nicht nur hat, sondern auch macht, dass er die Krankheit, die Ausdrucksgebärde, die Sprache seines Körpers produziert, wie er jede andere Ausdrucksgebärde und jedes andere Sprechen formt.« 20
C) Die Untersuchung des Kranken – die Diagnostik Nach der Ermittlung des Beschwerdebildes und der dynamischen Zeitgestalt des aktuellen Krankseins und der Krankheit folgen wir handlungslogisch der sog. direkten Krankenuntersuchung und der apparativen sprich indirekten Diagnostik. War es in der Anamnese die Zeitgestalt, so ist es in der körperlichen Untersuchung die Leibgestalt des Krankseins und der Krankheit, die wir ermitteln. Mit der körperlichen Untersuchung wird der Kranke oder Hilfsbedürftige zum Gegenstand, zum Objekt gemacht, und er gibt sich als solches dem Arzt anheim: auf beiden Seiten ein dialektischer Einstieg 19 20
Auersperg, Alfred Prinz (1954): S. 3. Weizsäcker, Viktor von (1953): S. 370.
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mit problematischen Implikationen. Der Kranke erlebt sich als Subjekt in der 1.-Person-Perspektive als sich selbst im Leib und zugleich als sein eigenes Objekt, seinen Körper, den er der Objektivierung durch den Arzt aussetzt. Der Kranke ist für den Arzt und für sich selbst ein Objekt, das zugleich Subjekt ist. Dieser Prozess der Objektivierung ist durchaus doppeldeutig. Sowohl der Kranke als auch der Arzt werden sich um die erforderliche sachgemäße, medizinischfachliche Objektivität bemühen. Darin lauert aber die Gefahr der Verund Entfremdung von dem Selbst-Erleben seitens des Kranken bzw. der Verdinglichung mit dem Ausblenden seiner personalen Dimension seitens des Arztes. Die »Objektivität« verlangt die beiden sich ergänzenden Aspekte der medizinisch-naturwissenschaftlichen und der klinischen Objektivität: »Eben weil die intensive Persongemeinschaft einer psychischen [ergänze: ärztlichen; K. G.] Behandlung ein Werden zweier verbundener Menschen ist, eben darum ist Objektivität im Sinne des wissenschaftlichen Begriffes der Person des Menschen gegenüber weder Möglichkeit noch Aufgabe. Wir erfahren dabei weder, wie der Mensch objektiv in der mathematischen Zeit war, noch wie er in der mathematischen Gegenwart ist. Jener naturwissenschaftlich-erkenntnistheoretische Objektivitätsbegriff ist eine logische Fehlkonstruktion in der Anthropologie.« 21 »[…] klinische Objektivität ist mithin eine ganz andere als die der Physik, aber auch als die wesentlicher Teile der Anatomie und Physiologie […], es gibt sicheres und weder der Sinneswahrnehmung noch der Logik an Zuverlässigkeit nachstehendes Erkenntnisvermögen der Echtheit von Mensch zu Mensch. In ihr wird auch die naturwissenschaftliche Objektivität nicht durchbrochen oder als überflüssig aufgehoben, da sich auch diese besondere Form der naturwissenschaftlichen Objektivität vielmehr auf der Grundlage solcher Personengemeinschaft erhebt und bewährt.« 22
Von den vier Untersuchungsschritten Inspektion, Palpation, Perkussion und Auskultation (Betrachtung, Tast- und Klopfuntersuchung, Abhorchen mittels Stethoskop) soll hier nur die Palpation, die Betastung, hervorgehoben werden. Sie verdeutlicht etwas Grundsätzliches, das die direkte Krankenuntersuchung wie auch den Prozess der anamnestischen Exploration leitet und sich im therapeutischen Handeln fortsetzt. Ärztliches Handeln vollzieht sich im »Gestaltkreis, der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen.« Das Betasten des Kranken ge21 22
Ders. (1926d): S. 122 ff. Ders. (1926b): S. 168.
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schieht in einem teils unbewussten Prozess ertasteter Informationsaufnahme und reagierenden Kontrollierens. Was so bei der Palpation haptisches Begreifen, ist im weiteren Umgang bis in das Behandeln (!) i. e. S. und der prognostischen Beurteilung eine fort und fort sich entwickelnde Wechselbeziehung, ein Gestaltkreis. Wir stehen hier am Beginn der unmittelbaren Untersuchung. Es war vom Leib und der Leiblichkeit im Gegensatz zum Körper und zur Körperlichkeit die Rede. Der Kranke ist – sowohl aus seiner 1.- als auch aus der 3.-Person-Perspektive des Arztes – Subjekt seiner Leiblichkeit und Objekt seiner und der durch den Arzt objektivierten Körperlichkeit. Schon das Beschwerdebild war geprägt von der Ambiguität leib-seelischen Erlebens. Erleben, Befinden, Leiden sind ja nicht allein körperliche Phänomene, auch wenn der Kranke sie überwiegend in der Sprache der Körperlichkeit formuliert. Auch bei der körperlichen Untersuchung geht es um beide Aspekte: um Körperlichkeit und Leiblichkeit, die zu unterscheiden sind. Leiblichkeit ermöglicht Selbstempfindung, Selbstwahrnehmung, Ausdruck und Handlung. Es ist für den Kranken auch der erlebte Leib, das verletzbare »Organ seiner Selbstempfindung«. Vier Aspekte der Leiblichkeit seien hier skizziert: 1.) Auf der Ebene der Selbststeuerung ungerichteter und gerichteter Bewegung, in Mimik, Gestik und Haltung zeigt sich bereits leibliche Spontaneïtät, leib-seelische Ausdrucksgebärde. Mit der unbewussten inneren Selbstwahrnehmung (Proprio[re]zeptivität der Muskel- und Sehnenfunktion) und der Reagibilität in der biologischen Anpassung an innere (z. B. Gleichgewichtsauslenkungen, Belastungen des Bewegungsapparates etc.) oder äußere Signale (z. B. beim Gehen auf unebenem Boden o. ä.) wird ein Zusammenspiel zwischen Leib und Umwelt deutlich, ein »Gestaltkreis von Wahrnehmen und Bewegen.« Schon hier können sich Krankheit und Kranksein, kann sich Leiden ausdrücken – wahrnehmbar für uns alle in unmittelbarer Anschauung, z. B. in der Leidensmiene oder -haltung; für den Arzt unter Umständen speziell interpretierbar auf eine benennbare Krankheit mit ihrer charakteristischen Leibgestalt hin: seien es so unterschiedliche Erkrankungen wie eine den Körper stark verändernde Polyarthritis oder eine Depression.
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2.) In der Reflexivität, dem Sich-Erleben, dem Sich-Empfinden, dem Sich-wohl- oder Sich-unwohl-Befinden wird der Mensch sich z. B. im Schmerz seiner selbst inne, nicht als bewusste Selbstvergewisserung: »Ich fühle, also bin ich.« Es ist die Erfahrung der »selbstferentiellen Eigenständigkeit«, die durch die Leiblichkeit ermöglicht wird und durch sie erlebt werden kann. 23 So erleben wir Leibgefühle wie Hunger und Durst, Erschöpfung, Schwindel etc., die ja alle nicht rein somatisch, vielleicht messbar und hinsichtlich ihres (patho-)physiologischen Substrates partiell objektivierbar, körperlich erklärbar sind; sie sind aber keineswegs darauf reduzierbar. Auch das Sich-krank-Fühlen wird leiblich vermittelt. Solche Leibgefühle werden allesamt individuell und situativ nicht nur passiv erlitten, sondern auch aktiv gestaltet. Der Kranke ist darin Subjekt seiner Leiblichkeit – ob gesund oder krank. Er ist auch Subjekt seines Krankseins. Wie das Missbefinden leiblich spürbar wird, so kann sich aber Kranksein auch darin äußern, dass die Möglichkeit reflexiven Sich-Empfindens gerade verlorengeht bis hin zu passageren, länger anhaltenden oder gar permanenten Entfremdungsgefühlen, zur Beziehungsleere zum eigenen Körper oder zur Depersonalisation in der Depression. So kann auch nach Schock oder Narkose das Gefühl für den eigenen Leib vorübergehend gestört sein. Derartige Befindlichkeitsstörungen können partiell sowie hinsichtlich unterschiedlicher Funktionen (z. B. Sensibilität und Motorik) dissoziiert auftreten und über unterschiedlich lange Zeit anhalten. 3.) Leiblichkeit äußert (!) sich auch als Intentionalität, die auf Außenwelt, auf Mitwelt gerichtet ist. Intentionalität verstehe ich hier als präreflexive leibliche Ausrichtung der sinnesphysiologisch organisierten Wahrnehmungsfähigkeit wie auch die gezielte, bewusste oder unbewusste Bewegung sowie die antwortende Gestik und Mimik. Hier korrespondieren Intentionalität und Rezeptivität des ganzen Leibes inkl. der Sinneswahrnehmung. Die gestaltkreishafte »Einheit von Wahrnehmen und Bewegen« zeigt die wechselseitige Abhängigkeit, das In-einander-Spiel der Wahrnehmung und der Reaktion darauf; die Abhängigkeit von Offenheit und Zuwendung. Unser Erleben Christian, Paul (1989): S. 295. Die dem Begriff »psychosomatisch« implizite Verankerung der Subjektivität in der Fähigkeit, sich seiner selbst in der eigenen Leiblichkeit zu vergewissern, sei hier nur angedeutet. – Siehe auch Viktor Emil von Gebsattel (1954c): 45.
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und Verhalten, die erfüllte Gegenseitigkeit im erotischen und sexuellen Miteinander lässt uns die intentionale Leiblichkeit besonders deutlich spüren. 24 4.) Indem Intentionalität und Reflexivität verschmelzen, wird die durch die Leiblichkeit ermöglichte Beziehungsfähigkeit erlebbar als Relationalität und Intersubjektivität, in der der Mensch sich als … gerichtet auf … fühlen kann: als Mann, als Frau, als Mitmensch, als Tochter oder Sohn, als Vater oder Mutter, als Sportler, als Arbeitspartner, als Mitmensch – sich konsensuell auf den Anderen einstellend. 25 Es ist dies eine Form sozialer Leiblichkeit. Hier sei auch die Scham genannt. Als Abwehr- und Selbstbewahrungsinstinkt offenbart und verbirgt sich in ihr zugleich das reflexive Selbstempfinden: zugleich Subjekt und Objekt auch in der Verletzbarkeit der Person. Wird sie nicht wahrgenommen und in ihrer schützenden Funktion nicht geachtet, wie das in objektivierender Reduktion des Kranken auf seine Körperlichkeit geschieht, so wird die Person verletzt. Körperlichkeit ist allenfalls in der Objektivierung als »unbeseelt« aus der 3.-Person-Perspektive zu sehen. Von innen her, in unserem Befinden, unserem Selbsterleben aus der 1.-Person-Perspektive, als Subjekt sind wir leiblich. Auch das sog. rein Psychische bedarf der leiblichen Vermittlung. Der bei Kranken und Sterbenden oft zu beobachtende Prozess des krankheitsbedingten und krankhaften Schamverlustes, in dem auch die Persönlichkeit des Kranken unterzugehen scheint, darf nicht dazu verführen oder gar dazu berechtigen, den Kranken als Objekt, als »Körperding« zu behandeln. Auch die intentionale und relationale Leiblichkeit ist verletzbar: im Verlust der sich selbst erlebenden Beziehungsfähigkeit – manifestiere der sich mehr somatisch (z. B. in der sog. organisch bedingten Impotenz) oder psychisch (z. B. in der Depression). Selbst in alltäglichen Schilderungen von Kranken kann er sich äußern: z. B. in der Identitätskrise vieler Herzinfarkt-Patienten (»Ich bin über Nacht ein alter Mann geworden« – so ein 65-jähriger Mann wenige Tage nach einem Infarkt); im »Verlust des Selbstwertgefühls« (so eine Mittvierzigerin ein Jahr nach Brustamputation). Es genügt hier nicht, zu der 24 25
Gebsattel, Viktor Emil von (1954a): S. 314–329. Christian, Paul (1989): S. 282 ff.
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Kategorie der Körperlichkeit die des seelischen Erlebens, der psychischen Verarbeitung für ein adäquates Krankheitsverständnis zu addieren. Es ist das eine Kranksein, das in der Leiblichkeit verankert ist. Wir können darin als Ärzte die sich selbst empfindende Person im alltäglichen Schritt der körperlichen Untersuchung erkennen. Es geht hier nicht um die Verortung des Menschen, des Subjektes oder der Person in speziellen, kognitionsbezogenen Hirnstrukturen und nicht um Bewusstseinsakte, sondern um die Selbsterfahrung, das Selbsterlebnis des (kranken) Menschen als einer Einheit im Leiblichen. Wenn auch die skizzierten Aspekte der Leiblichkeit in individuell unterschiedlicher und wechselnder Intensität erlebt werden, so sind sie doch nicht bewusstseinsabhängig und nicht abhängig von bewusster Wahrnehmung. Der menschliche Organismus ermöglicht im Vergleich mit Tieren eine intensivere, reichere Entfaltung – u. a. aufgrund der hirnorganischen Speicherung von Sinneseindrücken i. w. S., von subkortikalen und kortikalen Verknüpfungen, der Assoziations- und Integrationsfähigkeit und des Erinnerungsvermögens, die dem Menschen eine im Tierreich sonst nicht erreichte Bewusstseins- und damit auch Selbst- und Fremderlebnispotenz eröffnen. Bewusstsein, die sog. geistige Dimension des Menschen, ist dabei ebenso an Hirnstrukturen und -materie gebunden wie die emotionale oder perzeptive Fähigkeit, Kontakt mit der Mitwelt aufzunehmen. Eine Trennung ist nicht möglich, wohl aber eine Unterscheidung geistiger und materieller Phänomene der Leiblichkeit. Wie wollte man auch in Sprache oder geplanter Handlung die leibliche und geistige Dimension trennen?! Beide greifen über die Gegenwart hinaus vom »Motiv« zur »Zielerreichung«, vom Entwurf zur Vollendung. Die nicht objektivierbare Leiblichkeit weist auf einen weiteren Aspekt hin. Der Kranke ist in seinem leiblichen Kranksein Subjekt, d. h. Akteur, spontan und reaktiv Handelnder, Agierender seines Krankseins, wie er auch der Krankheit unterworfen ist. In wechselnder Gewichtung ist er aktiv und passiv zugleich, er hat und gestaltet seine Krankheit, sein Kranksein, darin dialektisch frei und leidend. In der Schmerzempfindung, auch in anderen Leibgefühlen wird uns das besonders deutlich: sei es willentlich, emotional oder affektiv gesteuert, erleben oder erleiden und gestalten wir in kranken und gesunden Tagen das Missbefinden stärker oder schwächer. Nicht nur die stark vom sog. vegetativen Nervensystem abhängigen Leibgefühle, nein, wir können sogar den Ablauf von sog. Organkrankheiten, selbst von Knochenbrüchen mental beeinflussen. Hier verrät sich eine Wechsel136 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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beziehung von Handeln und Leiden: Zu leiden ist nicht nur passiv, sondern auch aktiv; ein Leiden anzunehmen, es zu bewältigen, vielleicht als Wandlung, als biographische Not-Wendigkeit, als Schwelle zu erleben – das alles sind ja aktive Möglichkeiten, mit dem Leiden umzugehen. Umgekehrt ist Handeln ja nicht nur aktiv, es kann auch eine Leidensform sein, indem wir von Unrast und Ruhelosigkeit in einen (krankhaften) Aktivismus getrieben werden können.
D) Der Mensch in der Therapie Mit dem vierten Schritt ärztlichen Handelns komme ich zur Therapie. Sie ist dem Kranken das wichtigste Anliegen, wenn er sich an einen Arzt wendet. Was aber ist für ihn das Ziel, der Sinn der Therapie? Und was ist es für den Arzt? Vordringliches Ziel ist meist die Linderung oder möglichst die Beseitigung von Beschwerden und deren Ursachen, ggf. die Überwindung der Lebensbedrohung oder die Verminderung des Risikos zukünftiger Erkrankung. Es geht auch um die physische und psychische Restitution und um die soziale Reintegration, um Wiederherstellung von Gesundheit – idealiter in ihrer integralen Form »körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens« (gemäß der Definition von Gesundheit nach der WHO). Jedoch ist eine perfekte restitutio ad integrum, zum Zustand wie vor der Erkrankung selten möglich, eingedenk der morphologischen und/oder der physiologischen Veränderungen, auch eingedenk der biographischen Situation. Wir tragen unsere inneren und äußeren Narben mit uns. Mit der WHO-Definition wird ein nicht realisierbarer Gesundheitsbegriff von bio-psycho-sozialem Wohlbefinden statistisch, moralisch und pragmatisch als Norm gesetzt für das Behandlungsziel des Arztes und für die Erwartungen des Kranken. Dieses Ziel ist wohl schwerlich »von außen« zu beurteilen. Und doch ist auch die objektive Intaktheit normaler Funktion und Struktur, sind Morphologie und Physiologie mitgedacht. Diese Intaktheit ist wiederum an der im sozio-kulturellen Umfeld als gesund eingeschätzten Normalität ausgerichtet. Im Rahmen des bio-psycho-sozialen Krankheitskonzeptes ist es ein Ziel der Therapie, den Kranken wieder in sein soziales Gefüge zu integrieren: in seinen sozialen Alltag, seine Familie, seine Arbeitswelt oder andere Beziehungen. War mit der »Krankschreibung« oder der 137 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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möglichen Invalidisierung auch formal die Isolierung durch das Kranksein attestiert, so sollte der Arzt bemüht sein, den Genesenden möglichst wieder in seine »Alltagsnormalität« zu re-integrieren. In den letzten ca. 30 Jahren hat der Begriff der Lebensqualität die normative Funktion des Wohlbefindens abgelöst, indem messbare, skalierbare, statistisch verrechenbare Daten in ihrer scheinbaren Objektivität erfasst werden. Mit der Lebensqualität, auf deren konzeptionelle, empirisch-methodische, statistische und interpretative Problematik hier nicht eingegangen werden kann, 26 wird neben der krankheitsbedingten körperlichen Beeinträchtigung auch die seelische Belastung, das Leiden, die soziale Selbständigkeit und Abhängigkeit ermittelt. Diese Facetten des Krankseins durch kurative oder palliative Maßnahmen zu verbessern, ist nun das Ziel der Therapie akuter oder chronischer Krankheiten. Sosehr eine Quantifizierung der Minderung oder der Verbesserung von Lebensqualität auch gutzuheißen ist, so kann sie doch u. U. den Blick auf die nicht messbare leibseelische Leidenserfahrung, vielleicht auch auf mögliche Sinnerfahrung in der Erkrankung verstellen. Auch ist eine Minderung der Lebensqualität, eine Einschränkung des Wohlbefindens im Hinblick auf ein Therapieziel u. U. passager oder permanent zu erdulden und im Einvernehmen auch zumutbar, wenn z. B. die schwere Beeinträchtigung, ja vitale Gefährdung durch eine zytostatische Therapie oder durch eine riskante Operation in der Hoffnung auf eine Überwindung oder Besserung eines Leidens in Kauf zu nehmen ist. Es geht um die Vorrangigkeit von Behandlungszielen: um momentane Verbesserung der individuellen und sozialen Befindlichkeit oder um zu erwartende Lebensverlängerung mit vielleicht reduzierter Lebensqualität. Die medizinische Behandlung stützt sich auf die bestmögliche Kenntnis des Beschwerde- und Krankheitsbildes einschließlich der Vorgeschichte und der prognostischen Beurteilung. Sie stützt sich zweitens auf die von der ärztlichen Erfahrung und den aktuellen medizinischen und organisatorischen Gegebenheiten her realisierbaren Möglichkeiten. Sie setzt drittens den Wunsch und das Einverständnis des Kranken mit den Behandlungsmaßnahmen voraus. Dem geht ein mehr oder weniger langer Entscheidungsprozess beider Partner voran. In ihm konvergieren »die sachliche und die personale Entsprechung von Mensch in Not und Mensch als Helfer bzw. Krankheit 26
Raspe, Heiner (1990): S. 23–40.
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und Medizin« 27 zu ihrem eigentlichen, spezifischen Ziel. Die Konvergenz erfüllt sich in der Überwindung der (im Verlauf der Diagnostik unabdingbaren) »Entfremdungsstufe« zur »personalen [ergänze: integrativen; K. G.] Sinnstufe ärztlichen Handelns« 28, indem der Arzt als Ermöglicher, nicht als »Bewirker« (mittels »der Medizin«) dem Kranken zur Gesundung hilft. »[…] klar, dass die ärztliche Verordnung als dynamischer Vorgang tatsächlich […] ein ambivalenter ist. Es ist ein Geben und Nehmen zugleich […], dann liegt auch in der Therapie ein Gestaltkreis vor. Dort [bei der Diagnostik; K. G.] war von der tastenden Hand des Untersuchers die Rede. Der Untersuchte war Objekt im Gestaltkreis. Jetzt sprechen wir vom therapeutischen Gestaltkreis; er umschließt den Arzt und den Patienten: er ist ein zweisamer Mensch, ein bipersonaler Mensch. Das ist die ›Ganzheit‹ der ärztlichen Handlung.« 29
Was so gradlinig abzulaufen scheint – von der Ermittlung der Beschwerden über die Diagnostik zur Behandlung –, ist, abgesehen von den sachlich-medizinischen Schwierigkeiten, doch unterlegt von den fünf »pathischen Kategorien« von Müssen, Sollen, Dürfen, Können und Wollen. 30 Der Kranke – sosehr er gesund werden will – kann es vielleicht nicht (das ist hier nicht medizinisch gemeint wie beispielsweise bei einer Krebserkrankung); vielleicht ist ihm der mögliche Krankheitsgewinn im Wege; vielleicht darf er nicht wegen möglicher Vorteile, die für ihn oder für seine Angehörigen aus seinem Kranksein erwachsen. Vielleicht kann er aber in einer Verstrickung nicht wollen, obwohl er eigentlich muss. Auch der Arzt ist in den pathischen Kategorien gefangen. Ob er die dem Wunsch des Kranken entsprechende oder die auf seine Genesung zielende Behandlung vornehmen kann oder will, ist nicht nur eine Frage des medizinisch Möglichen. Am Schwangerschaftsabbruch zeigt sich z. B. eine solche Konfliktlage, ebenso in der Intensivmedizin terminal Kranker: die Spannung von Wollen und Müssen oder Sollen und Dürfen. Beide – der Kranke und der Arzt – sind zur Entscheidung aufgefordert – mag sie für den Kranken eine existenzielle sein, so ist sie für den Arzt außer der medizinisch-sachlichen eine moralische oder auch eine das eigene Selbstverständnis und die eigene Existenz betreffende. 27 28 29 30
Weizsäcker, Viktor von (1926a): S. 13. Gebsattel, Viktor Emil von (1954b): S. 371. Weizsäcker, Viktor von (1927): S. 189. Ders. (1956): S. 70 ff.
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In der genannten Konvergenz geht es auch um das Verständnis des Krankseins als »Krise«, um die Entscheidung in einer Lebenssituation, um den Zusammenhang mit der Biographie bis hin zu der Sinnfrage der Existenz. Für den Arzt geht es auch um die Überwindung der passager und partiell unvermeidlichen Trennung von Körper und Seele im Zuge der Diagnostik als einer pragmatisch unvermeidbaren Objektivierung. Mit dieser Überwindung kommt wieder das Subjekt im Objekt hervor, die Person des Kranken, der sich in seiner Leiblichkeit fühlt, sich in ihr mindestens fühlen kann. Das erfordert oft die Akzeptanz und den Umgang mit dem chronischen Kranksein, u. U. auch mit der Möglichkeit, dass die Krankheit nicht geheilt, der Kranke nicht genesen kann, dass er vielmehr konkret auf den Tod hin chronisch krank sein wird. Auch »die Solidarität des Todes« ist als eine menschliche Gemeinsamkeit ins Auge zu fassen. Darin zeigt sich erneut die soziale Dimension möglichen Krankseins als memento mori. Krank werden zu können und sterben zu müssen, sollte auch dem Arzt in seinem Handeln für den Kranken bewusst sein. Es ist eine der verbindenden Grenzerfahrungen im Umgang des Arztes mit dem Kranken, des Menschen mit dem Mitmenschen. Diese grundlegende anthropologische Solidarität ist ontisch, unausweichlich. 31 Unser Verhalten oder Verhältnis zu ihr aber steht in der Spannung von Freiheit und Gegebenheit, von biologischer Konstitution sowie biographisch und kulturell geprägter Einstellung. Wir haben darin die Möglichkeit, der erwarteten, (glaubend) erhofften oder auch befürchteten Lebensspanne Inhalt und Sinn zu geben. Die »Gegenseitigkeit des Lebens« hingegen ist pathisch in den verschiedenen Bereichen ihrer möglichen Aktualisierungen oder Verweigerungen. Beide Dimensionen, das Ontische wie das Pathische, bestimmen die menschliche Existenz. Auf ein weiteres dialektisches Verhältnis sei hingewiesen: auf den scheinbar widersprüchlichen Sinn des Krankseins als Chance und der Therapie als Hilfe zur Genesung sowie als Individuationsprozess. Beides kann dem Kranken zu einem neuen Selbstverständnis, vielleicht zu einer veränderten, ggf. der Krankheit angepassten Lebensführung verhelfen. Beide – Kranksein und Therapie bzw. Genesung – verändern unser Verhalten in den pathischen Kategorien. Wenn (z. B.) durch das Kranksein das Können und Wollen, vielleicht Ders. (1951a): S. 311–641, dort besonders IV. Abschnitt: Die Solidarität des Todes und die Gegenseitigkeit des Lebens, hier S. 610–641.
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auch das Dürfen beeinträchtigt sind, so kann doch die Behandlung für den Genesenden neue Möglichkeiten des Lebens eröffnen, vielleicht »dem Kranken einen neuen Spielraum für seine Freiheit« geben. 32 »Jede Diagnose, jede Therapie ist ab origine Entscheidung zwischen Möglichkeiten. So auch jede Prognose. Jede Entscheidung kommt aus einer Freiheit und vernichtet sie dann. Die Zweiseitigkeit der Krankheit ist die Krankheit. Ein Mensch, der nie gesund würde, wäre keiner, aber auch nicht der, welcher nie krank würde. Die Krankheit hat das Doppelgesicht, nicht sein zu sollen und doch sein zu müssen. Die Transzendenz des Menschen hat hier den Inhalt, dass die Krankheit sich selbst übersteigt und einen Sinn bekommt, dass aber die Gesundheit, die sich nicht selbst übersteigt, sinnlos bleibt.« 33
Aber: Warum sollte sich nicht auch Gesundheit selbst übersteigen? Angesichts der möglichen physischen Übersteigerung durch Enhancement und Doping ist zu fragen, ob nicht auch eine geistige Transzendenz physischer Möglichkeiten denkbar ist, eine Überwindung leiblicher Beeinträchtigung, auch eine Sinngebung physischer Existenz in Gesundheit für Andere, für Mitmenschen oder für eine geistige oder soziale Aufgabe. Weizsäcker fragt, wie die Wirkung des Arztes in der Therapie zu verstehen sei: »[…] die Wirkung des Arztes selbst mit der ganzen Summe seines Einflusses, seiner Worte und Verrichtungen […]. Sein Rat muss nicht nur gegeben, sondern auch befolgt werden […]. Urteil, Gefühl, Wille und Instinkt des Kranken widerstreben oder gehen falsche Wege […]. Urteil, Gefühl und Wille des Kranken sind in jeder Therapie der ›Vorgang‹, der […] doch zugleich ihr unterstes Fundament ist, auf dem allein Therapie möglich wird. […] so stoßen wir hier unfehlbar mit unserem tieferen Begreifen von Aufbau und Wesen der Therapie auch an das Wesen des persönlichen Menschen, an Moralität, Freiheit und Glauben des Menschen. Sie sind nicht die Frucht der Therapie – sie sind der Grund, in dem sie wurzelt.« 34
Heute, 80 Jahre später, ist zu fragen, ob die Medizin noch in diesem Grund wurzelt, noch in ihm wurzeln kann. Sie gründet für beide Partner vielmehr in den Maximen der Nützlichkeit, der Wissenschaftlichkeit und (der Forderung) der Selbstbestimmung. Das gilt
32 33 34
Ders. (1934): S. 309 (Hervorh. im Original). Ders. (1946a): S. 81. Ders. (1934): S. 264 f.
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für den Anspruch an die erwartete Diagnostik und Therapie. Aber: Bei aller Betonung dieser drei Maximen ist das skeptische Verhältnis zu ihnen zu beachten – wohl am wenigsten zu der Nützlichkeit. Medizinische Behandlung i. w. S. soll nützen, gestörte Lebensqualität und Lebenserwartung verbessern, eingeschränkte Funktionen steigern bis zum Enhancement oder zu Anti-Aging-Maßnahmen. Skeptischer stimmt der Blick auf die Wissenschaftlichkeit, der gegenüber – zumal in ihrer Verknüpfung mit der Technik – oft ein ambivalentes Verhältnis von Voraussetzen und Gutheißen bzw. von Ablehnen oder gar Verteufeln zu spüren oder ausdrücklich zu hören ist. Selbstbestimmung schließlich zielt auf das Verlangen nach Gesundheitsversorgung, nach Therapieentscheidung bis hin zur Maximaltherapie oder gar der Sterbehilfe. Therapieziel und Lebensziel, Heilungsabsicht und -erwartung des Kranken und des Arztes werden nicht immer kongruent, auch für den Kranken selbst nicht konstant sein. Lebensalter, die individuelle und psychosoziale Situation des Kranken, die Krankheit mit ihrer spezifischen Prognose, die Verhältnismäßigkeit von einzusetzenden Behandlungsmaßnahmen und möglichem Erfolg werden Handeln und Duldung mitbestimmen. Lässt sich Gesundheit als »völliges körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden« 35 therapeutisch bei weitem nicht immer erreichen, so kann doch ärztliches Handeln auch auf die Akzeptanz von und auf den Umgang mit Einschränkungen und Behinderungen zielen – in unserer leistungsbezogenen Gesellschaft oft schlecht vereinbar mit dem Handlungsdruck von patienteneigenen, von ärztlichen und von gesellschaftlichen Therapiezielen und -erwartungen, ja -forderungen. Gelingt solche Akzeptanz, dann ist vielleicht auch durch die Überwindung von »Brüchen« im Lebensentwurf und von Verlusten ein neu orientiertes Selbstwertgefühl wiederzuerlangen. Wie Kranksein ein Stück Lebensgeschichte, so können mehr noch auch Gesundung und Heilung Schritte (mindestens potenziell) zur Sinneinheit des Menschen ermöglichen.
Gesundheitsdefinition der WHO (1948): »Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.« (»Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.«)
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E) Der Vorgriff in der Prognose Mit der Sinnfrage greift Therapie über die Gegenwart, über das akut notwendige Handeln im Blick auf Leidenslinderung oder Abwehr von Not und Bedrohung hinaus auf Zukunft, auf qualitative und quantitative Lebenserwartung. Von dieser voraus zu beurteilenden Sicht, von der Prognose her begründet und ggf. rechtfertigt der Arzt ja die Therapie. Er tut dies im ausdrücklichen oder notfalls im mutmaßlichen Einverständnis mit dem Patienten. In diese einverständliche Zustimmung geht etwas ein von dem Lebensentwurf des Kranken, der aus seiner Biographie erwächst und in den neben Hoffnung und Zuversicht, Lebenswille und Mut auch Befürchtungen und Ängste einfließen. Mit der kausalen oder deskriptiven Erklärung, der Selbstattribution des Kranken hinsichtlich seiner Beschwerden und seines Krankheitszustandes und dessen Entwicklung verbinden viele Patienten auch den weiteren erwarteten oder befürchteten Verlauf. Angesichts der Zunahme chronischer (degenerativer, altersabhängiger) gegenüber den akuten Krankheiten ist die Sorge durchaus verständlich. Die meisten Menschen haben Erwartungen, auch Lebenserwartungen und darin eigene Prognosen, die sie vom Arzt bestätigt oder widerlegt wissen wollen. Dieses Wissen-Wollen ist häufig zwiespältig: nicht nur im Blick auf das zu Wissende, sondern auch wechselnd und relativ zur jeweiligen Situation in der Beurteilung des Lebenswertes. Beide Partner werden sich mehr oder weniger fundiert auf objektive und subjektive Kriterien ihrer Voraussage stützen. Für den Mediziner sind dies vornehmlich der aktuelle Krankheitszustand mit der Kenntnis seiner Vorgeschichte, der Krankheitsentwicklung und der morphologischen und funktionellen Situation. Es ist auch die persönliche und kollektiv gestützte Erfahrung des Arztes mit gleichen Erkrankungen des Patienten oder mit deren Verlauf bei anderen Personen. Zu unterscheiden ist zwischen der Spontanprognose einer diagnostizierten Krankheit und der therapeutisch beeinflussbaren oder zu erwartenden Prognose (der »praktischen Prognose«). Deren Vergleich ist ja – abgesehen von der Begründung der akuten Behandlung der Beschwerden des Kranken – die Rechtfertigung der Therapie, die nicht immer risikofrei ist. Beide Verlaufsvoraussagen beziehen sich auf die Aussicht auf die mehr oder weniger vollständige Überwindung und die morphologische und funktionelle Ausheilung der Krankheit (prognosis quoad sanationem) oder auf die Wahrscheinlichkeit zu überleben oder zu sterben (prognosis quoad vitam). Nach 143 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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dem Grad der Sicherheit ist die stets nur mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit von Voraussagen zu beachten: ob offen, günstig, zweifelhaft oder ungünstig (infaust). So bleiben die Aussagen probabilistisch. Die medizinische, ärztliche Prognose ist stets ein auf Wissen, Erfahrung und Urteilskraft gestützter Beurteilungs- und Entscheidungsakt mit medizinisch-sachlicher und normativer Begründung. Er ist für den Kranken im Allgemeinen neben der Therapie der wichtigste Schritt des ärztlichen Handelns. Dieses ist hinsichtlich der Lebensquantität und der Lebensqualität prognose-orientiert und viel weniger diagnose-orientiert. Die je und je zu überdenkende, dynamische Prognose ist eine Beurteilung von Möglichkeiten, die die Wirksamkeit des Ungewissen, des bloß Wahrscheinlichen spüren lässt – sei es ermutigend oder zur Verzweiflung treibend. Das prognostische Urteil ist beurteilungs- und entscheidungsoffen. Dennoch ist es verpflichtend für die Handlungsverantwortung des Arztes. Spätestens hier wird deutlich, wie sehr auch die Prognose – als Beurteilungs- und Handlungsentschluss – den Kranken in seiner ganzen Existenz betrifft: nicht allein der objektive Sachverhalt sondern auch sein Zukunftsentwurf begründet die partizipative Entscheidungsfindung für die Therapie. Sie ist retrospektiv, also auch biographisch begründend und prospektiv-präventiv rechtfertigend. Die erwartete oder erhoffte Lebensqualität in ihrer bio-psycho-sozialen Komplexität steht implizit oder expressis verbis zur Diskussion. Sie muss auch im ärztlichen Gespräch angesprochen werden, soweit der Kranke zur sachlichen und zur (lebens-)wertorientierten Entscheidung befähigt werden kann und will. Wie, wann, unter welchen äußeren und inneren Bedingungen und mit welchen Konsequenzen wird die Krankheit ausheilen? Wird der Kranke genesen? Dies sind Fragen, die tief in die Biographie eingreifen. Ein solches Gespräch ist oft für den Kranken die erste (ausdrückliche) Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit. Der Arzt kann die Integration des aktuellen Krankseins, der Krankheit oder der möglichen Einschränkungen in die Zukunftsperspektive des Kranken fördern. Er muss sich aber stets der Komplexität der prognostischen Frage bewusst sein: Was müssen, sollen, dürfen, können und wollen wir wann, unter welchen Bedingungen und aufgrund welcher Daten i. w. S. wem, wie, wozu und warum voraussagen? Es ist die Prognose für den Kranken, nicht für den Arzt. Der Kranke muss ggf. mit der eingeschränkten Lebensqualität oder -quan144 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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tität leben, nicht der Arzt. So kann die Integration der Voraussage in den Lebensentwurf ein Schritt in die Individuation sein.
Ausblick Die hier vorgelegte Skizze gilt der Frage, wie wir im ärztlichen Umgang mit Kranken – von der Ermittlung des Beschwerdebildes bis zur prognostischen Beurteilung der Krankheitssituation – etwas über Wesensmerkmale des (gesunden wie des kranken) Menschen erfahren können. Es geht nicht um die Leib-Seele- oder SubjektObjekt-Einheit oder -Dichotomie, auch nicht um die Gegenüberstellung von Freiheit und Determinismus – Gegenüberstellungen, die in der grundlegenden menschlichen Möglichkeit, krank werden zu können, sich immer wieder auch aufdrängen. Es geht vielmehr um Dimensionen des spezifisch Menschlichen, die einem rein naturwissenschaftlichen Verständnis von Kranksein und Krankheit leicht verschlossen bleiben. Als solche Merkmale können sich Leiblichkeit, Subjekthaftigkeit, Zeitlichkeit, Selbstreflexivität und Sinnorientierung bereits der unmittelbaren Begegnung der beiden Partner öffnen. Mehr noch erschließen sie sich der vorwissenschaftlichen Erfahrung und der sorgfältigen, mehrdimensionalen Analyse der leitenden Begriffe. Sie sind – so die durchgängige Annahme dieser Skizze – für den Umgang von Arzt und Krankem handlungsrelevant und bedürfen der Be-Achtung – auch in der unterschiedlichen Gewichtung ihrer jeweiligen Aspekte für den kranken Menschen und für den mit ihm betrauten und mit ihm umgehenden Arzt. Die Skizze folgt den alltäglichen ärztlichen Handlungsschritten: der Ermittlung der Beschwerden und der Krankengeschichte, der körperlichen Untersuchung, der medizinischen Behandlung und der vorausgreifenden Beurteilung. Das Beschwerdebild ist ein von beiden Partnern erbrachtes operationales Konstrukt, das der Vermittlung der Befindens- oder Gesundheitsstörung an den Arzt dienen und dessen Einstieg in die Diagnostik und Therapie ermöglichen soll. Es ist auf Seiten des Kranken das Ergebnis seines Versuches der Versprachlichung seiner Befindensstörung. 36 Für den Arzt erfordert sie deren »Übersetzung« in einen anknüpfbaren fachlichen Soziolekt. Jedoch darf er den subjek36
S. das Kapitel »Sprache, Leib und Körper des kranken Menschen«, hier S. 101–119.
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tiven Unterton der Befindlichkeit des Kranken nicht überhören. Mit seiner vermeintlichen kausalen Selbstattribution versucht der Kranke vielleicht, seine Beschwerden, seine »Krankheit«, vielleicht auch sich selbst in seiner aktuellen Lebenssituation (vielleicht einer biographischen »Schwellenposition« des Krankseins) zu verstehen. Vielleicht ist ihm sein Kranksein eine »Sprache nach innen«. In diesem Versuch des (vielleicht bio-psycho-sozialen) Selbstverständnisses ist der Kranke weder sich selbst noch dem Arzt nur naturwissenschaftliches Objekt. Er ist als sich selbst (i. w. S.) Betrachtender und als (Selbst-)Betrachteter zugleich Einheit und Zweiheit seiner selbst. Die Erhebung der Anamnese fragt idealiter nach der Zeitgestalt der Krankheit und der Geschichte des Kranken in seiner Erkrankung (historia morbi, aegroti et passionis). Die erlebte, vielleicht erlittene Zeit der Krankheit, des Krankseins ist nicht allein linear-metrische Zeit, sie ist (biologische, psychologische und existenzielle) Leib-Zeit, vielleicht erlittene, unabsehbare Dauer, vielleicht erhofftes Abklingen des Leidens, vielleicht erwartetes oder befürchtetes Lebensende. Zeitlichkeit ist hier selbsterfahrene Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit. Hier können mindestens fragmentarisch Aspekte der biographischen Kontinuität und Identität deutlich werden. Der beiderseitige Prozess begrenzter Wahrnehmung nur der medizinisch-sachlich erfassbaren Krankheit und die Ausblendung der lebensgeschichtlichen und -situativen Perspektive verschließt u. U. die personale Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt. Die Beschränkung auf das im Blick auf die Diagnostik und Therapie Gebotene und das dem Kranken Zuträgliche ist aufgehoben (!) in der Achtung der selbstempfundenen Einheit des Kranken. Was in der Anamnese die Zeitgestalt der Krankheit ist, ist bei der körperlichen Untersuchung die Leibgestalt des Kranken und seiner Krankheit. Der Kranke wird jetzt zwar in seiner Körperlichkeit »objektiviert«. Er empfindet sich aber (mindestens potenziell) in seiner Leiblichkeit, seiner (möglicherweise) auch personalen Selbstempfindung und leiblichen Identität (Gegenstand seiner Selbstachtung). Wie schon im Beschwerdebild und in der sog. Krankengeschichte so zeigt sich der Kranke auch hier als Subjekt (sub-iectus), als Mit-Gestalter des zu ermittelnden Krankheitsbildes. Zu beachten ist die Gegenseitigkeit erlebter und mitgestalteter Subjekthaftigkeit und Intersubjektivität. Im Therapie-Wunsch und -Ziel können das Fremd- und das Selbstverständnis der Krankheit und des Krankseins seitens des 146 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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Kranken und des Arztes deutlich werden. Ob sie als unvermeidbares Geschick, als biologisches Geschehen, als pathologisch-morphologischer oder funktioneller Defekt, der oder das beseitigt werden muss, angesehen werden oder als für die persönliche Entwicklung wichtiges Ereignis, das angenommen und für die Individuation in die Leib-Biographie integriert werden muss, prägt das Behandlungsziel. Es stellt sich die Sinnfrage von Kranksein. Ist Therapie zweckorientierte Reparatur von Defekten oder die »Ermöglichung von Gesundung«, Wiedererlangung und Erhaltung von Gesundheit und akzeptabler Lebensqualität? Ist sie der Versuch der Abwendung der konstitutiv anthropologischen Ungesichertheit, der Kontingenz? Diese Fragen rühren nicht nur an das Selbstverständnis des Kranken sondern auch an das des Arztes – in besonders bedrängender Weise in der Intensivmedizin und in der Behandlung sterbenskranker Personen. Die vorausgreifende Beurteilung, die Prognose betrifft die auf den Lebensentwurf, auf Selbstverwirklichung strebende menschliche Existenz mit ihren Erwartungen und Hoffnungen. Dem Arzt ist die Prognose – gestützt auf Wissen, Erfahrung, Urteilskraft und Handlungsbereitschaft – die Begründung und Berechtigung der Therapie. Für den Kranken ist sie verbunden mit Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen, oft auch mit dem memento mori, der nicht auszuschließenden Möglichkeit der »Krankheit zum Tode«, der vielleicht eine selbstbestimmte Therapiezieländerung (Verzicht oder Palliativbetreuung), eine vorgreifende Abschiednahme gemäß ist. In den skizzierten ärztlichen Handlungsschritten und der Reflexion ihrer leitenden Begriffe werden somit grundlegende Wesensmerkmale des Menschen mehr oder weniger deutlich als handlungsrelevante Aspekte einer pragmatischen ärztlichen Anthropologie.
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Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken
Ärztliches Handeln war bis vor ca. 30 Jahren so sehr vom internalisierten therapeutischen Imperativ des Arztes geprägt, dass dagegen der Wille, die »voluntas aegroti«, und die Selbstbestimmung des Kranken bezüglich der Entscheidung zu diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen nachrangig schienen, sofern er bzw. sie überhaupt ernstlich in Erwägung gezogen wurden. Das in solchem Vorgehen zum Ausdruck kommende Selbstverständnis des Arztes, der sich in seiner Deutungshoheit und seiner Handlungsbefugnis an die ärztliche Fürsorgepflicht gebunden sah, prägte die Beziehung zwischen ihm und dem Kranken. Die Pflicht ließ keinen Gedanken daran aufkommen, dass der Kranke vielleicht gewissermaßen auch ein »Recht auf Krankheit« haben könnte, z. B. einen Anspruch auf Schonung, Arbeitserleichterung, Freizeit in Phasen beruflicher Überanstrengung u. a. Es bedurfte der rechtlichen Regelungen durch das Rechtsinstrument des informierten Einverständnisses mit den vom Arzt vorgeschlagenen Schritten einschließlich ihres Nutzens, ihrer Risiken und Alternativen, ehe der Arzt – seinem Wissen, seiner Erfahrung und der Verantwortung folgend – die medizinische Behandlung vornehmen konnte. Krankheit ist ja erst aufgrund des Behandlungsauftrags (sei er explizit oder durch eine Notsituation implizit gegeben) verpflichtend für den Arzt. Nicht schon die individuelle Beurteilung oder die notwendige Einschätzung seitens des Kranken berechtigen den Arzt zu medizinischen Eingriffen – es sei denn, der Zustand gefährde Mitmenschen oder sei eine abwendbare und als solche erlittene Bedrohung für den Kranken. Ihm ist ein Recht einzuräumen, sich nicht medizinisch behandeln zu lassen, auf Therapie zu verzichten, mit seiner Krankheit zu leben, sofern nicht andere Personen dadurch (physisch, psychisch, sozial oder finanziell) belastet werden. Ein solches Vetorecht mag von dem Behandlungsverzicht bei Bagatellkrankheiten bis zur Verweigerung des Einverständnisses in die Behandlung schwerwiegender Erkrankungen reichen, von der
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Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken
Non-Compliance bis zur jede Therapie untersagenden Patientenverfügung. Allerdings darf durch das Selbstbestimmungsrecht des Kranken nicht der Arzt in moralische oder juristische Konflikte geraten. Auch darf er ebenso wenig wie der Kranke zum fremdbestimmten Handlanger des Kranken, dessen Angehörigen oder anderer Institutionen entwürdigt werden. Die beiderseitige Autonomie wie das Selbstbestimmungsrecht sind potenziell spannungsgeladene Konfliktfelder im Umgang des Arztes mit dem Kranken, die der moralischen, ethischen und juristischen Reflexion bedürfen.
* * * Die immer nachdrücklichere Betonung, ja Forderung von Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken in der öffentlichen Diskussion um Patientenrechte weist auf einen fundamentalen Wandel der Arzt-Patient-Beziehung in den letzten 20 bis 30 Jahren. Das bis dahin vorherrschende Bild des paternalistischen Arztes, der – seiner Fürsorgepflicht entsprechend – für den Kranken wusste, mindestens glaubte zu wissen, was für ihn das Wohl (»salus aegroti«) sei, ist weitgehend einem eher partnerschaftlichen Verhältnis gewichen. In gemeinsamer Entscheidungsfindung wird heute mehr als früher zwischen dem Arzt und dem Kranken das diagnostische und therapeutische Vorgehen im Krankheits- und Vorsorgefall besprochen und entsprechend umgesetzt. Ansatzweise geht das Partnerschaftsverhältnis in ein vertragliches Verhältnis von Kunde und Anbieter oder von Klient und Experte über. Die frühere Asymmetrie von Fachperson und Unterlegenen wird zusätzlich durch die Möglichkeiten der Internet-Information zunehmend verwischt. Der Kranke wird als »Infonaut« zum Experten seiner Krankheit oder seiner Beschwerden. Er bringt damit den Arzt oft in Verlegenheit, nicht »up-to-date« zu sein bezüglich aktueller Standards in Diagnostik oder Therapie. Als bestens informierter Kunde kann er sich über das Angebot von Kliniken informieren und – bei erforderlicher stationärer Behandlung – die »beste« Klinik aussuchen. Er wird darin u. U. auch durch Informationen seitens der Krankenkassen unterstützt. Diese kurze Skizze des Wandels der Arzt-Patient-Beziehung gibt nicht die inneren Veränderungen der Beziehung wieder. Das frühere Verhältnis von (fast blindem) Vertrauen des Kranken und der ihm korrespondierenden Verantwortung auf Seiten des Arztes ist dem 149 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken
eines rechtlich geregelten Vertrages gewichen, in dem Sachkompetenz und Wirtschaftlichkeit (aus der Sicht des kranken Kunden und der Krankenkassen) qualitätsbestimmende Kriterien sind. Abgesehen von der nötigen vertragsrechtlichen Korrektheit kommt in den letzten Jahren ein neues Begründungsargument hinzu: das Selbstbestimmungsrecht des autonomen Bürgers. Doch was heißt das: Selbstbestimmung in einer nicht zu verleugnenden Asymmetrie in der Situation eines Betroffenen, die ja gerade zu einer Abhängigkeit führt? Wie kommen Ärzte oder Patienten aus diesem Dilemma von Selbstbestimmungsrecht und Fürsorgepflicht heraus? Die Asymmetrie ist nicht aufzuheben, sie ist konstitutiv für die Beziehung. Aber sie ist nicht eine Asymmetrie, die einseitig zuungunsten des Kranken gesehen werden darf. Auch der Kranke hat »Trümpfe in der Hand«, darunter auch das gesetzlich geschützte Selbstbestimmungsrecht, das ihm erlaubt, in diagnostische oder therapeutische Maßnahmen einzuwilligen oder sie zu verweigern. Er hat ein Recht auf Nichtwissen wie auf Wissen. Er hat (in Grenzen) freie Arztwahl. Was sind die Konsequenzen solchen Rechtes? Die Entwicklung hat für beide Partner weitreichende Folgen. Für den Arzt erfordert die Situation (1.) sachlich eine stets möglichst gute Kenntnis aktueller medizinischer Möglichkeiten mit deren Wertigkeit, Komplikationen sowie Vor- und Nachteilen, den jeweiligen Indikationen und womöglich auch noch von zu erwartenden medizinischen Neuerungen. Die »evidence based medicine« (EbM) ist hier in einigen Bereichen sicher eine Hilfe, nicht mehr. Es erfordert (2.) eine Fähigkeit und Bereitschaft, dem Kranken medizinische Sachverhalte, Befunde, Methoden etc. zu erklären, ihn eingehend aufzuklären, sodass er im informierten Einverständnis (»informed consent«), im Einvernehmen den medizinischen Rat annehmen oder ablehnen kann, ggf. auch in Kenntnis der Konsequenzen der Nicht-Einhaltung oder des Verzichtes der (empfohlenen) medizinischen Maßnahmen. Es erfordert (3.) vom Arzt die Bereitschaft zum Verzicht auf paternalistisches Autoritätsdenken und eine Änderung angestammter Rolleneigenschaften. Es erfordert (4.) seitens des Patienten, dass er Bedingtheiten und Begrenzungen medizinischer Argumente für die Akzeptanz seiner Behandlungswünsche einsieht. Medizinische Indikation ist noch nicht ärztliche Entscheidung, die auch persönliche Belange des Kran150 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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ken berücksichtigt. Eine medizinische Handlungsbegründung allein ist keine hinreichende Rechtfertigung für durchzuführende Diagnostik oder Therapie. Für den Patienten erfordert die stärkere Betonung seines Selbstbestimmungsrechtes seine Bereitschaft zu mehr Verantwortungsübernahme. Wenn er mitentscheiden will, muss er sich über Erfordernisse und Risiken der Annahme oder Ablehnung ärztlicher Empfehlungen informieren (lassen). Aufklärung und Einverständniserklärung gewinnen einen zentralen Stellenwert. Aus der Sicht des Arztes melden sich Bedenken. Wieweit ist denn der Kranke (ungeachtet der emotionalen oder der existenziellen Betroffenheit durch die Krankheit) rational in der Lage zu einem vollumfänglichen Verständnis der medizinischen Informationen? Selbst der »Gesundheitsinfonaut« mag per Internet über Methoden und Statistiken Bescheid wissen. Wieweit aber wissenschaftliche Daten in seiner aktuellen Situation relevant und möglicherweise mitentscheidend sind für das akute Erfordernis von medizinischen Maßnahmen, kann er vielleicht doch nicht beurteilen. Auch die aus dem Internet gewonnenen Erkenntnisse über evidenz-basierte Medizin (EbM) mögen ihm ein Stück weit helfen. Die individuelle Entscheidung muss dennoch der Arzt treffen. Selbstbestimmung ist für den Kranken offensichtlich eine schwer zu realisierende Erlaubnis und Aufgabe, in ihn betreffende medizinische Maßnahmen mitentscheidend einzugreifen. Sie ist rechtlich geschützt. Wie ist aber dieses Recht, das gemeinsam mit der Autonomie in unserem Grundgesetz verankert ist, zu begründen – nicht logisch, sondern hinsichtlich der konstitutiv anthropologischen Fundierung? Das Selbstbestimmungsrecht gründet ja in der Autonomie, in der grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Menschen für fremdnützige Zwecke. 1 Die Autonomie wiederum ist ein unzerstörbarer Wert des Einzelnen. Sie begründet einen normativen, einen Sollensanspruch an den Mitmenschen: die Würde des Anderen zu achten unabhängig von dessen Befähigung zu Sittlichkeit oder Selbstbestimmung, unabhängig auch von der aktuellen Entscheidungsfähigkeit oder von kognitiven, emotionalen oder sozialen Leistungen. Die Achtung gesteht dem Mitmenschen ein Recht zur Selbstbestimmung zu. Zu beachten ist aber, dass Menschenwürde und Autonomie die Selbst1
Beckmann, Jan P. (1998).
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bestimmung begründen und diese im Selbstbestimmungsrecht geschützt ist. Die Autonomie des Einzelnen erfährt ihre Grenzen an der Autonomie des Anderen. Sie ist ein Verhältnis fundamentaler Gegenseitigkeit und der wechselseitigen Unverfügbarkeit. Dieser unverbrüchliche Selbstwert, die Selbstzweckhaftigkeit und Unverfügbarkeit können gefährdet, missachtet werden. Das zeigen alltägliche Verletzungen der in der Autonomie verankerten Menschenwürde: im gesellschaftlichen und politischen Raum wie im Umgang mit Kranken und Behinderten in der ärztlichen Praxis, in Kliniken und Pflegeeinrichtungen, ja auch in häuslicher Betreuung. Es sind aber Verletzungen nicht nur des Kranken oder Behinderten, des Abhängigen, sondern auch Verletzungen der eigenen Würde. Autonomie und Menschenwürde sind unverbrüchliche Sollensansprüche des gesunden und des kranken Menschen an den Mitmenschen. 2 Die Selbstbestimmungsfähigkeit kann jedoch – soweit überhaupt schon entwickelt – eingeschränkt oder gänzlich aufgehoben sein: passager oder definitiv, durch Leiden, Schmerz oder Krankheit, eingeschränktes Bewusstsein, auch durch verminderte rationale Verständigkeit oder Unfähigkeit emotionaler Zustimmung. Selbstbestimmungsfähigkeit geht gerade im Sterben verloren. Nicht aber gehen mit ihr die Würde und das Subjektsein, auch nicht die fundierende Autonomie verloren. Sie zu achten und zu schützen, ist verantwortliche Teilhabe an der Mitmenschlichkeit (nicht karitativ, sondern konstitutiv-anthropologisch zu verstehen) in Gegenseitigkeit mit unserem Mitmenschen. Wir sind angesichts des nicht einsichts- und entscheidungsfähigen Mitmenschen zu tutorischem Handeln in seinem Sinne aufgefordert. Sei es – wo immer möglich – der ausdrückliche aktuell oder vorausverfügt geäußerte Wille (Patientenverfügung), die durch eine vom Kranken bevollmächtigte Vertrauensperson vermittelte Willensäußerung oder ein plausibel zu erschließender mutmaßlicher Wille. Wie gehen wir mit solchen indirekten Willensäußerungen um? Zwar gibt es derzeit keine rechtsverbindliche Form der Patientenverfügung – dennoch gilt gleichermaßen der handschriftliche Zettel wie das zweiseitige gedruckte Formular, auch ohne Mitunterschrift Peter Bieri (2013) hat in kluger, einfühlsamer Weise Menschenwürde von den vielfältigen möglichen Verletzungen her – von dem gleichgültigen Übersehen und Missachten des Mitmenschen bis hin zu Missbrauch und Folter – beschrieben.
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Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken
eines Zeugen. Sie muss im Zustand der Einsichts- und freien Entscheidungsfähigkeit handschriftlich unterschrieben sein. Eine Beratung durch einen Haus- oder Klinikarzt ist dringend ratsam. Der Umfang und die Bedingungen, unter denen und auf die hin (gegebenenfalls intensiv-)medizinische Maßnahmen durchzuführen oder zu unterlassen sind, sollten möglichst genau festgehalten werden. Dazu bedarf es ärztlicher, nicht juristischer Beratung. Ratsam ist eine (vielleicht jährliche) Bestätigung oder Aktualisierung. Indizien für die Beschäftigung mit der Problematik sind hilfreich. Eine Patientenverfügung sollte für den Kranken zuhause leicht auffindbar, für den Arztbesuch (auch für den Notarzt) und für die Klinikaufnahme griffbereit sein. Der am häufigsten konsultierte Arzt oder ein ggf. häufig aufgesuchtes Krankenhaus (z. B. bei Dialysebehandlung) sollte wie die Angehörigen eine Kopie haben. Das zweite Rechtsinstrument der Selbstbestimmung ist eine Vorsorgevollmacht, am besten gemeinsam mit der Patientenverfügung ausgestellt. Sie befugt eine Vertrauensperson zu Entscheidungen in Gesundheitsangelegenheiten für den Fall, wenn der Kranke seinen Willen nicht äußern kann. Das dritte Instrument ist eine Verfügung für eine eventuell noch vom Kranken benannte oder vom Vormundschaftsgericht eingesetzte Person, einen Betreuer, der im Interesse des Kranken entscheiden kann. Sollte es sich dabei um Maßnahmen handeln, die mit dem Risiko bleibender Gesundheitsschäden oder gar mit dem Risiko des Todes des Kranken verbunden sind, ist das Vormundschaftsgericht (gemäß § 1904 Abs. 2 BGB) einzuschalten. Bei medizinisch aussichtslosen Krankheitszuständen oder im bereits erkennbaren Sterbeprozess muss weder ein Betreuer noch das Vormundschaftsgericht angerufen werden. Angehörige haben in derartigen Situationen die wichtige Funktion der Hilfeleistung in der Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Kranken. Hier ist Wachsamkeit geboten. Der Wunsch oder die Erwartungen der Angehörigen sind nicht uneingeschränkt als der angebliche Patientenwille hinzunehmen. Auch ist die psychische Belastung der Angehörigen, für den Kranken »über Tod oder Leben« zu entscheiden, nicht zu übergehen. Hingegen muss der Arzt prüfen, ob seine Beurteilung, Entscheidung und Handlung nicht eigene oder fremddienliche Tendenzen oder Zwecke verfolgen (z. B. eigene Einschätzung zumutbarer Lebensqualität oder Organerhalt für Transplantation o. a.). 153 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken
Zwei Kasuistiken zum Umgang mit Patientenverfügungen (PV) mögen hier Schwierigkeiten bei der Befolgung sowohl auf Seiten der Kranken und deren Angehörigen als auch auf Seiten der ärztlich und pflegerisch Betreuenden deutlich machen: Ein 65-jähriger Herr L. wurde uns aus einem Nachbarkrankenhaus mit einem frischen Herzinfarkt im anhaltenden kardiogenen Schock mit Linksherzversagen und beatmungspflichtiger respiratorischer Insuffizienz verlegt zur Herzkatheteruntersuchung in der Hoffnung auf die Möglichkeit einer interventionellen Therapie, sei es mittels Ballondilatation (Kranzgefäßaufweitung) oder Koronar-Operation. Ergebnis: Schwerste koronare 3-Gefäß-Krankheit mit hochgradiger Einschränkung der Pumpfunktion der linken Herzkammer, inoperabel; eine Koronardilatation nur mit hohem Risiko und fraglichem Erfolg hinsichtlich des Akut- und des Langzeitergebnisses möglich. – Ehefrau und Tochter wurden über den schwerwiegenden Befund aufgeklärt. Unsere Entscheidung zum Interventionsverzicht wurde auf der Basis des medizinischen Sachverhaltes begründet. – Im Gespräch weist die Ehefrau auf ihre Vorsorgevollmacht hin; sie sieht sich mit der aufgebürdeten Entscheidung oder Willensbekundung für ihren Mann jedoch überlastet. Die Tochter bringt das mit der Vorsorgevollmacht verbundene detaillierte »Patiententestament« ins Gespräch. Auch habe sich der Kranke ausdrücklich gegen ein »Leben an Schläuchen« geäußert. Ehefrau und Tochter berichten über einen Aktenordner des Kranken, in dem er Vorkehrungen für die Beerdigung schriftlich festgehalten habe. – Mit dieser so überaus deutlichen und zeitnahen Willensbekundung war die Entscheidung zum Therapieverzicht auch auf der medizin-ethischen Ebene klar. Die 2. Geschichte ist die einer fast 80-jährigen Frau, die nach einem vierten Schlaganfall stationär aus einem Altenpflegeheim aufgenommen wurde: wohl ansprechbar, aber nicht verbal kommunikationsfähig. Die Standardtherapie mit kalkulierter Flüssigkeits- und Kalorienzufuhr wurde eingeleitet, bis der Schwiegersohn mit Hinweis auf eine Patientenverfügung forderte, auf jede Art von medikamentöser Therapie und auf Flüssigkeitsgabe zu verzichten. Obwohl hier der Sterbeprozess nicht zu erkennen war, haben wir uns bei akzeptabler Übereinstimmung der in der Patientenverfügung antizipierten Krankheitssituation mit dem aktuellen Zustand an die Verfügung gehalten und über gut 14 Tage auf jede Art medizinischer Behandlung verzichtet unter Fortführung der selbstverständlichen Basispflege. Nach Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen wurde aufgrund einer Konferenz mit dem Verwaltungs-, dem Pflege- und dem ärztlichen Direktor, der Krankenhausseelsorgerin, dem Stationsoberarzt, der Pflegeleitung der Station und einem externen Juristen von der Verwaltung entschieden, die Kranke zurückzuverlegen in ihr Pflegeheim. Dort hatte inzwischen der Schwiegersohn das Zimmer bereits gekündigt und geräumt. Trotzdem konnte die Frau zurückverlegt werden. Sie starb in der folgenden Nacht.
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Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken
Diese beiden Beispiele der Beachtung oder Nicht-Beachtung einer Patientenverfügung zeigen Möglichkeiten und Schwierigkeiten im Umgang mit diesem Instrument der Selbstbestimmung – für den Kranken, für die Angehörigen wie für den Arzt. Es gehört zum Selbstbestimmungsrecht des Kranken, ärztlich empfohlene Maßnahmen der Diagnostik oder der Therapie abzulehnen oder sie zu akzeptieren und zu befolgen. Die Verantwortung, die er damit übernimmt, muss ihm vom Arzt klargemacht werden. Das Recht belastet den Arzt mit der Pflicht zur ausführlichen Aufklärung auch über die Konsequenzen von Verzicht und Abbruch oder der »Non-Compliance«. Die Einvernehmlichkeit der geteilten Verantwortungsübernahme und der Inhalt und Umfang der Aufklärung sollten dabei im Hinblick auf eventuelle spätere Unstimmigkeiten oder auf zivil- oder strafrechtliche Folgen der beiderseitigen Entscheidung dokumentiert werden. Es geht um die Mitsprache des einsichtsund entscheidungsfähigen Kranken. Dazu ist Entscheidungsfähigkeit im Rechtssinne der Volljährigkeit nicht erforderlich. Auch ein Jugendlicher kann – bedingt – solche Entscheidung treffen, wenngleich nicht in der Form und Rechtswirksamkeit einer Patientenverfügung. Wenn Verzicht oder Abbruch von Diagnostik oder Therapie zulässig und als selbstbestimmt zu akzeptieren sind, erhebt sich zudem die Frage, ob der Kranke auch Diagnostik oder Therapie fordern kann, die der Arzt nicht anbietet. Ja, das kann er – im Rahmen des medizinisch Sinnvollen und sozial Verträglichen. Hier zeigt sich eine weitere Schwierigkeit der Umsetzung des Selbstbestimmungsrechtes. Der Arzt muss sachlich-medizinisch, individuell-menschlich und sozial die Sinnhaftigkeit und soziokulturell wert-orientierte Rechtfertigungsfähigkeit beurteilen. Das erfordert kritische Sachkompetenz. Er wird damit u. U. genötigt, Fachkollegen oder Spezialisten zu Rate zu ziehen oder den Kranken in die Betreuung anderer Ärzte zu geben. Auch kann die Erwartung oder Forderung eines Kranken den Arzt in dessen eigener autonomer Entscheidung berühren, wenn er aus moralischen Gründen Wünsche seines Patienten nicht erfüllen kann. Das müssen nicht so schwerwiegende Konflikte sein wie der Schwangerschaftsabbruch oder der ärztlich assistierte Suizid. Auch bewährte oder neue Diagnostik- oder Therapiemethoden können Gegenstand solchen Dissenses sein. Mit dem nicht selten zu hörenden Stichwort der Sozialverträglichkeit ist (fast zynisch) die ökonomische Ebene angesprochen. Sicher ist der Arzt primär und vorrangig dem einzelnen Kranken ver155 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken
pflichtet. In dessen Sinn sind Diagnostik und Therapie zu führen. Dennoch ist der soziale, nicht nur der soziokulturelle, sondern auch der sozialökonomische Rahmen unseres medizinischen Versorgungssystems zu beachten. Eine größere Durchsichtigkeit der Aufgaben und Lasten des Systems wie schon ein verbessertes Verständnis für die aktuellen eigenen Belange wäre für die Patienten dringend zu wünschen. Viele Menschen wissen und verstehen nicht, welche Kosten für den eigenen Krankheitsfall entstehen: ob Sach-, Arznei- oder Personalkosten. Was kostet ein einziger Tag stationärer Behandlung in einer Regelversorgungsklinik, was in einem Krankenhaus der Maximalversorgung oder einer Universitätsklinik und was in einer Intensivstation? Hier tut Aufklärung der Gesellschaft dringend not. Einblick in die Finanzierung des Systems könnte eigene Ansprüche oder Erwartungen relativieren, ins »rechte Maß« bringen. Rechtsansprüche sind nicht immer kongruent mit der Berechtigung moralischer Ansprüche. Selbstbegrenzung kann auch ein Akt autonomer Selbstbestimmung sein. Im Zusammenhang mit der Frage autonomer und selbstbestimmter Therapiebegrenzung steht auch die nach einvernehmlicher Sterbehilfe. Mit dem Stichwort Selbstbestimmungsrecht ist eines der meistgebrauchten Begründungsargumente für die Forderung nach Legalisierung aktiver Sterbehilfe genannt: Der aufgeklärte, autonome Mensch könne über sein Leben frei verfügen, er habe dazu als autonomes Subjekt ein juristisch zu schützendes (Grund-)Recht. Hier sei eine Parenthese erlaubt: »Argument«, hier Begründungsargument, ist ungeachtet seiner inhaltlichen Füllung eine rationale Kategorie, nicht eine existentielle. Die Entscheidung aber, die durch das Argument gestützt werden soll, ist eine Entscheidung der Existenz, die unser menschliches Selbstverständnis und Selbstverhältnis zum Tode und zur Selbsttötung umgreift. Sie ist eine pathische Entscheidung, insofern sie nicht aus der Freiheit, sich ihr entziehen zu können, entspringt und wir mit ihr immer auch etwas schuldig bleiben: uns und unseren Mitmenschen. Das rationale Argument der Autonomie und des Selbstbestimmungsrechtes angesichts der Entscheidung, sich zu töten oder sich töten zu lassen (durch »ärztlich assistierten Suizid« oder »Tötung auf Verlangen«), ist allein nicht stichhaltig. Wir müssen berücksichtigen, dass solch eine Entscheidung und ihre praktische Umsetzung ja gerade in einer ausweglosen Lage, die wir weder aktuell hinsichtlich der Intensität noch der Dauer des Leidens beherrschen können, getroffen bzw. vollzogen werden – 156 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken
in einer Lage, in der wir bzw. der Kranke also fremdbestimmt sind. Das Leiden führt uns gerade die eigene Ohnmacht vor Augen. In ihm verlieren wir die Freiheit der Selbstbestimmung. Dies führt uns zurück zu den beiden hier zu bedenkenden Handlungen: dem ärztlich assistierten Suizid und der Tötung auf Verlangen. Mit beiden Akten wird (ungeachtet der rechtlichen Regelung) eine andere Person, hier der Arzt, instrumentalisiert für den Menschen, der den selbst zu verantwortenden Schritt aus dem Leben gehen will. Zwar geschieht Instrumentalisierung des Menschen in verlangter Hilfeleistung allenthalben. Hier aber: zur Tötung auf Verlangen (bei der die Tatherrschaft beim Arzt liegt!), einem moralisch schwer und allenfalls individuell zu rechtfertigenden und juristisch illegalen Akt, entspricht solche Indienstnahme einer Verfügung über den Anderen, die dessen Autonomie verletzt. Dies kann schon nicht auf der individuellen Ebene ohne Verletzung der Autonomie des in Anspruch genommenen Mitmenschen geschehen; umso weniger ist eine Berufsgruppe, die Ärzte, deren primärer Auftrag die Wahrung des Lebens der Kranken ist (wenn auch nicht um jeden Preis), dazu zu ermächtigen, noch gar qua Berufsrecht dazu zu ermächtigen oder gar zu verpflichten, solche Tötungen vorzunehmen. Ein fundamentaler Vertrauensverlust wäre die Folge auf Seiten der Kranken und der Gesellschaft, ein Bruch im Selbstverständnis des Arztes und seiner Verantwortungsbeziehung zum Kranken. Der (potenziell) Kranke hat neben dem Recht auf Wissen ein Recht auf Nichtwissen. Er kann und darf auf Aufklärung verzichten. Dieses Recht reicht aber weiter. Er kann beispielsweise nicht (z. B. seitens der Versicherung oder des Arbeitgebers) verpflichtet werden zur prädiktiven Diagnostik: zur Untersuchung genetischer oder habitueller Belastungen oder Risiken für bestehende oder vielleicht befürchtete Krankheiten. Das hat u. U. weitreichende Konsequenzen im Versicherungswesen oder im Berufsleben. Es kann aber auch zu Konflikten in Familien führen. So ist denkbar, dass ein Kranker die Diagnostik seiner vermutlich genetisch bedingten oder begünstigten Krankheit (z. B. Dickdarmkrebs) verweigert im Hinblick auf Verwandte, die er vielleicht nicht mit dem Wissen einer möglichen genetischen Krankheitsveranlagung belasten will. Die Verwandten wiederum könnten ihr Recht auf Wissen einklagen. Es ist zu erwarten, dass derartige Konflikte sich mit der Erweiterung der genetischen Diagnostik mehren. Hier eröffnen sich immer weitere praktische, medizinische, psy157 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken
chologische, juristische und ethische Konfliktfelder der Achtung des Selbstbestimmungsrechtes Kranker und Gesunder wie des Rechtes von deren Angehörigen. Zwar ist die Präimplantationsdiagnostik im Rahmen der In-vitro-Fertilisation in Deutschland eingeschränkt. Fruchtwasser- oder Tripeltestdiagnostik z. B. zur frühen Feststellung einer Trisomie 21, eines Down-Syndroms, sind aber erlaubt; auch der Schwangerschaftsabbruch ist bis zur 12. Woche nicht strafbar (gemäß § 218 a Abs. 1 StGB). D. h., die Verhinderung mongoloider Kinder ist rechtlich zulässig. Jedoch können Eltern, kann eine Schwangere sich selbstbestimmt zur Austragung des Kindes entschließen. Wie aber sieht die Gesellschaft, wie sehen Krankenversicherungen solche Entscheidungen? Wir ahnen in solchen Fragen etwas von dem sich anbahnenden Wandel im Selbstverständnis des Menschen im Verhältnis zu seiner biologischen Konstitution, der mit dem Selbstbestimmungsrecht gefördert wird. Krankheit und Behinderung sollen da, wo die medizinischen Möglichkeiten der pränatalen Tötung werdenden Lebens bestehen, kraft Selbstbestimmung für die Gesellschaft, für die ökonomische Solidargemeinschaft verhindert werden – so die Meinung wachsender Anteile in der Bevölkerung. Wieweit reicht hier die Selbstbestimmung und wie wird sie gesellschaftlich beeinflusst oder akzeptiert und geachtet? Könnte hier der Verzicht auf Wissen oder die Wahrnehmung des Rechtes auf Nichtwissen ein Akt der Autonomie sein – der menschlichen Konstitution in ihrer kontingenten, d. h. nicht gesichert nötigen Existenz gemäß? Ich will nicht der Natürlichkeit das Wort reden. Unsere Natürlichkeit im Feld der Gesundheits- bzw. Krankheitsversorgung ist längst durch Kultur und Sozialisation überformt. Die damit verbundene Verantwortung schulden wir nicht nur uns selbst als Einzelnen, sondern auch unseren Mitmenschen, der Gesellschaft, unseren Kindern und Kindeskindern. Ja, schulden – denn wie immer wir uns in solchen Konflikten entscheiden und einer Entscheidung handelnd folgen, wir bleiben immer Jemandem etwas schuldig: sei es dem durch Fetozid oder Frühabort getöteten Leben oder dem durch verweigerte Sterbehilfe Leidenden oder uns selbst, dem eigenen Mensch-Sein.
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Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken
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Autonomie und Selbstbestimmung müssen unterschieden werden: Autonomie ist unverbrüchlich mit dem Menschsein verbunden, sie begründet konstitutiv seine Unverfügbarkeit. Autonomie erfährt ihre Grenzen an der Autonomie des Mitmenschen und fundiert ein Gegenseitigkeitsverhältnis von Achtung und Verantwortung. Autonomie i. S. von Selbstzweckhaftigkeit und Unverfügbarkeit kommt auch dem Neugeborenen, dem dementen und dem sterbenden Menschen zu. Im Blick auf mögliche oder zu erwartende und unvermeidbare Einschränkungen der Selbstbestimmungsfähigkeit können Vorausverfügungen erstellt werden; sie sind als Ausdruck wahrgenommenen Selbstbestimmungsrechtes moralisch und juristisch verbindlich anzuerkennen. Selbstbestimmung gilt nicht nur für Entscheidungen im Blick auf das Lebensende, sondern auch für Diagnostik- oder Therapiepläne in nicht lebensbedrohlichen Krankheitssituationen. Selbstbestimmung des Kranken belastet den Arzt mit der Pflicht umfangreicher Aufklärung einschließlich der über die möglichen Konsequenzen von Non-Compliance. Sie belastet den Kranken mit der Übernahme größerer Verantwortung, die auch die Pflicht zur Selbstaufklärung erfordert. Weder die Autonomie noch das Selbstbestimmungsrecht sind als Anspruch des Einzelnen hinreichende Begründung für die Legalisierung oder Legitimierung für aktive Sterbehilfe.
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
Zu den schwierigen Aufgaben des Arztes im Umgang mit dem Kranken gehört das Gespräch über schwerwiegende, lebensentscheidende oder zum Tode führende Erkrankungen. Es ist dieser Kontext, der wohl am häufigsten als das Feld gesehen und kritisiert wird, in dem Kranke und ihre Angehörigen sich von Ärzten nicht hinreichend informiert oder gar betrogen fühlen. Andere Bereiche unwahrhaftigen Umgangs werden oft übersehen. So ist zu fragen, ob nicht auch im Prozess ärztlicher Diagnostik und Therapie Wahrheit und Wahrhaftigkeit von Ärzten im Umgang mit Kranken bedroht sind. Als der Kundige, der Heil-Kundige, der dem Kranken gegenüber meist einen Vorsprung sachlichen Wissens bezüglich der zur Diskussion stehenden Krankheit hat, kann er dem Kranken Informationen geben oder sie ihm mehr oder weniger vollständig oder mit absichtlicher Täuschung vorenthalten. Das kann, aber muss nicht unwahrhaftig sein. Anlass und Aufgabe der Begegnung des Kranken mit dem Arzt sind ungleich, sie korrespondieren einander als »Not und Hilfe«. Die Ungleichheit von Abhängigkeit und Kompetenz durchzieht den ganzen mehr oder weniger langen Prozess des Umgangs miteinander. Die physische und/oder psychische Befindensstörung bestimmt das ihr gemäße diagnostische und therapeutische Vorgehen. Dem dienen die Ermittlung der Krankengeschichte, die Untersuchung und die Therapie in der je fachspezifischen Weise. Im Kontext der »Sinnstufen ärztlichen Handelns« wurde bereits auf verschiedene Möglichkeiten der bewussten oder unbewussten Täuschung oder auch des Irrtums hingewiesen: seien es medizinisch-sachliche oder emotional-empathische »Verfehlungen«, Unterlassungen oder »Verzerrungen« wechselseitiger Mitteilungen. Hier muss auch die mögliche Dialektik vermeintlich offener Mitteilung bedacht werden: das Sich-Verbergen und Enthüllen in den verbalen und den nonverbalen Äußerungen und Vorenthaltungen
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
vielleicht im Blick auf Heilung wichtiger Informationen des aktuellen oder biographischen Krankseins und der Krankengeschichte. Die Dialektik ist vielleicht unbewusst zweckorientiert: Selbstschutz oder Angriff. Die biographische Anamnese ist mitgeprägt von Mechanismen der Verdrängung, die dem vermeintlichen Gesundsein, möglicherweise aber der (psycho-)therapeutisch erreichten Gesundung dienen. Im psychotherapeutischen oder psychosomatischen Blick kann Verdrängung nützlich wie schädlich sein (kein Entweder/Oder!). Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt oder die Ermittlung der Anamnese kann nun dazu führen, dass mit der Aufhellung der Biographie dem Kranken »die Augen geöffnet« werden, ein Verständnis für das eigene Kranksein ermöglicht wird – eine u. U. kritische Situation. Das Zerreißen des Schleiers vermag existenziell zur Heilung oder aber zur gefährlichen Lebenskrise zu führen. Auch dies ist ein Aspekt der Ermöglichung von Wahrheit in der Arzt-Kranker-Beziehung, sofern in der sach- und situationsgebotenen Weise die beiden Blickrichtungen des ärztlichen Handelns verfolgt werden: die »wissenschaftliche« und die »klinische Objektivität«. So hat die Verpflichtung des Arztes auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit nicht allein mit der Vermittlung schwerwiegender Befunde oder Diagnosen oder der Unheilbarkeit der aktuellen Krankheit zu tun.
* * * Über Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag nachzudenken, stellt die Aufgabe von vornherein aus dem theoretischen Rahmen von Begriffsbestimmungen heraus in einen praktischen Zusammenhang: in den Kontext ärztlichen Handelns. Nicht dass damit Überlegungen zur begrifflichen Bedeutung theoretisch überflüssig würden. Nein. Vielmehr wird der Arzt/die Ärztin herausgefordert zu prüfen, in welchem Sinne Wahrheit im Umgang mit dem ihm/ihr anvertrauten Kranken zu verstehen, ja zu praktizieren ist. Ist doch der Wahrheitsbegriff vielgestaltig und kontextsensibel. 1
Im Folgenden stütze ich mich auf Hartmut Kress’ »Menschenwürde im modernen Pluralismus« (1999). Ich danke Herrn Kress für die vielen Anregungen in Gesprächen und Korrespondenz. Die in diesem Absatz kursiv geschriebenen Begriffe sind Zitate aus seinem o. g. Buch (S. 95 ff.).
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
Wohl die älteste Bestimmung ist die Übereinstimmung von Aussage und Sachverhalt (Korrespondenztheorie der Wahrheit). Doch was ist hier Aussage und was ist Sachverhalt in der Beziehung des Kranken zum Arzt und angesichts von Krankheit und Kranksein? Reicht ein logischer Kohärenzbezug zu anderen Aussagen im Gespräch zwischen dem Arzt und dem Kranken hin oder ist nicht auch die Angemessenheit an der Krankheits- und Lebenssituation des Gegenübers zu berücksichtigen? Sicher ist der praktische und theoretische Nutzen der Wahrheit am Krankenbett für ärztliche Entscheidungen und für das Verständnis des Kranken zu achten. Ein solches Verständnis wird den für das ärztliche Handeln unabdingbaren »informed consent« fördern (gemäß der Konsenstheorie der Wahrheit). Solange sich dieser Konsens nur auf der Ebene des rechtlich vorgeschriebenen informierten Einverständnisses bewegt, erreicht er nicht das interpersonale kommunikative Wahrheitsverständnis, das die gegenseitige personale Achtung bestimmt. Für den Umgang von Arzt und Krankem sind Wahrheit als Wahrhaftigkeit, die Konsistenz von Verlässlichkeit und Vertrauen als Kohärenz der Beziehung unerlässlich. So erfahren die skizzierten Aspekte des Wahrheitsbegriffes im Kontext des ärztlichen Handelns ihr spezifisches Gewicht. Zu diesem Kontext gehört das Gespräch zwischen Arzt und Krankem einschließlich der nonverbalen Kommunikation, ebenso das Handeln wie dessen implizite, aber mitteilbare Begründungen und die für den Kranken spürbare Haltung des Arztes ihm gegenüber. Wahrheit aus ärztlicher Sicht soll im Folgenden in drei konstitutiven, nicht scharf gegeneinander abgrenzbaren Bereichen des Handelns skizziert werden: 1. Wie im medizinischen Alltag Wahrheit häufig mit sachlicher Richtigkeit, Tatsächlichkeit, mit Objektivität (im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit) gleichgesetzt wird; 2. in welche Konflikte die Wahrheit im Zuge der geforderten Aufklärung (im Blick auf die Konsenstheorie) über diagnostische oder therapeutische Maßnahmen führen und 3. was Wahrheit am Krankenbett eines Sterbenskranken (als existenzielle Erfahrung) bedeuten kann.
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
Wahrheit und klinische Objektivität Im Mittelpunkt ärztlichen Handelns steht der kranke Mensch. Ihm begegnet der Arzt in einer doppelten Entsprechung: »eine[r] personale[n] Entsprechung: Mensch in Not und Mensch als Helfer, und eine[r] sachliche[n] Entsprechung: Krankheit und Medizin«. 2 Die Sachbeziehung der Krankheit zu der für ihre Diagnostik und Therapie eingerichteten, institutionalisierten Medizin mit ihren Ärzten, erfordert eine mehrschichtige Reduktion (paradigmatisch sei hier das idealtypische Bild einer internistischen Erkrankung angeführt): • die Konzentration auf die Krankheitsgeschichte, d. h. die Entwicklung der aktuellen Befindensstörung, und die Konzentration auf die aktuelle Krankheit als benennbare, abgrenzbare Entität (entsprechend einer Objektivierung von Befindlichkeit); • der Umgang mit dem Körper des Patienten, der zum krankheitslokalisierenden Gegenstand, zum Objekt der Untersuchung wird (entsprechend einer Objektivierung des Menschen in seiner Leiblichkeit); • die Beurteilung von Labordaten, Ergebnissen von Funktionsuntersuchungen und bildgebenden Diagnostikverfahren mit dem Ziel, eine Diagnose zu stellen (entsprechend einer Objektivierung der Krankheit). Diese drei Schritte dienen der Objektivierung, mittels derer die Krankheit des Patienten diagnostiziert und – auf die (Arbeits-)Diagnose gestützt – behandelt werden soll. Es sind die sog. harten Daten, die die Objektivität der Verfahren sachlich und logisch begründen: Daten, die (gleiche Erfahrung in den Untersuchungstechniken und der Beurteilung der Befunde sowie gleiche Bedingungen seitens des Kranken vorausgesetzt) von dem Untersucher unabhängig wiederholbar erhoben werden könnten oder wiederholbar sein müssten. Gründlichkeit, Exaktheit und Reliabilität kennzeichnen das, was dann als richtig, »objektiv«, als »wahr« erklärt wird. Mögen die Labordaten, die Röntgen-Bilder etc. im methodischen Rahmen der Fehlerbreite solcher Untersuchungen auch richtig, objektiv sein – »wahr« sind sie nicht. Auch die Daten der Krankheitsgeschichte bieten lediglich einen Aspekt der Krankheit, soweit sie sich in objektivierbaren Zeichen äu2
Weizsäcker, Viktor von (1926a): S. 13.
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
ßert und in einem taxonomisch-nosologischen Krankheitsbild fassen lässt. Die typischen oder klassischen Zeichen mögen noch dazu passen. Die vom Kranken erlebten und geklagten Beschwerden (das sog. Beschwerdebild ist oft ja nur ein unbeholfener Versuch der Versprachlichung von gestörter Befindlichkeit, ein absichtsvolles Konstrukt – auf beiden Seiten der Zweierbeziehung!) lassen sich allenfalls partiell objektivieren. Ihr Erlebnisaspekt – von der leichten Unpässlichkeit bis zur qualvollen Lebensbedrohung – bleibt weithin unberücksichtigt. Die völlige Objektivierung, Verdinglichung oder (falsch verstandene) Versachlichung, wie eine rein naturwissenschaftliche Medizin den Patienten mit seiner Krankheit sieht, ist dem Kranken in seinem Kranksein unangemessen. »Die Behandlung des Anderen als Sache macht uns selbst zu Sache und das wirkt als Selbstzerstörung«. 3
Arzt und Kranker haben aber Phasen ihrer Beziehung auszuhalten, in denen um einer (partiell) sachgemäßen Erkenntnis, der Diagnostik willen ein Reduktionismus auf das Objektivierbare vorherrscht, ja vorherrschen muss. Es ist dies die Entfremdungsstufe, die Viktor E. von Gebsattel zwischen die elementar-sympathetische Sinnstufe des Angerufenseins des Arztes durch die Not, die Hilfsbedürftigkeit des Kranken und die personale Sinnstufe der Arzt-Patient-Beziehung stellt. 4 Auch ist zum Schutz des Kranken eine gewisse Beschränkung, eine behutsame (auch der Kompetenz des Arztes gezollte) Begrenzung auf Objektives und Objektivierbares unumgänglich. Eine solche angemessene Sachlichkeit darf aber nicht blind machen für die emotionale, die psychische Situation (Betroffenheit, Sorge, Angst u. a.) von Krankheit bzw. Kranksein wie umgekehrt nicht das psychologische oder psychosomatische Verständnis für den Kranken den Blick für die biologischen Grundlagen der Krankheit trüben darf. Der Kranke ist Objekt und Subjekt: Objekt des Arztes, der medizinischen Behandlung i. w. S., Objekt der institutionalisierten Medizin. Er ist zugleich das Subjekt seines Krankseins. Er ist auch Objekt und Subjekt seines eigenen Leibempfindens, wenn der Arzt ihn untersucht, ihn be-handelt. Er ist Subjekt seiner Verunsicherung, der Betroffenheit, der existenziellen Not, das Subjekt der Krise in und durch die Krankheit. 3 4
Ders. (1956): S. 57. Gebsattel, Viktor E. von (1954b): S. 371.
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
»[…] das Objektive ist noch nicht das Wirkliche [sc. die wahre, vom Kranken erlebte Wirklichkeit], […] wir verstehen die Krankheiten, aber wir verstehen dadurch nicht die Not der Krankheit und nicht, was dem Kranken nottut.« 5 »An der Wirklichkeit des kranken Menschen gemessen ist die streng naturwissenschaftliche Medizin nur eine Methode der Verbindlichkeiten, nicht ein Bild dessen, was ist.« 6 »Kausales, kategoriales, prinzipielles Denken, kurz Verstandesdenken und Objektivität bezeichnen Isolierung, Einengung, Abstraktion, entstaltende Gestaltung der Wirklichkeit.« 7
Wir sehen, dass die Medizin mit ihrer Objektivität und Sachlichkeit der Wahrheit der existenziellen Erfahrung des Krankseins nicht gerecht wird. Das gilt nicht allein für psychische Erkrankungen. Auch der rein somatisch Kranke mit gebrochenem Bein, einem Hautausschlag oder einer Lungenentzündung erlebt sich in seiner Leiblichkeit, die einem objektiven Zugriff oder Verständnis verborgen ist. Weizsäcker stellt der naturwissenschaftlichen die klinische Objektivität gegenüber. 8 Sie stützt sich sehr wohl auf die in der Medizin erforderliche Naturwissenschaft, aber auch auf die »gute klinische Erfahrung«, auf Wissen und Urteilskraft. »Die klinische Objektivität beansprucht nicht nur Sinneswahrnehmung und Logik […]. Statt der naturwissenschaftlichen Normen raumzeitlicher Allgemeingültigkeit treten hier diejenigen Bedingungen in Kraft, unter welchen allein zwei oder mehrere Personen eine Anschauung, eine Erkenntnis als gemeinsame teilen, weil sie sich als Personen untereinander verstehen.« 9
Das gilt in spezifischer Weise für den Arzt: dass er zwischen der klinischen und der naturwissenschaftlichen Objektivität unterscheidet. Es geht nicht allein um objektive Daten einer Krankheit, sondern auch um den biographischen Stellenwert, um die Bewältigung des Krankseins, um die möglichen lebensweltlichen und psychischen Faktoren, die die Salutogenese (Antonovsky, 1923–1994) fördern, das Gesundwerden ermöglichen können. 5 6 7 8 9
Weizsäcker, Viktor von (1926a): S. 16. Ders. (1928c): S. 228. Ebd., S. 239. Ders. (1926b): S. 168 ff. Ebd., S. 168.
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
Fragen wir also nach der Wahrheit des Krankseins, seinem möglichen Sinn, seiner Bedeutung im Leben, in der aktuellen Biographie, so erreichen wir diese nicht in naturwissenschaftlicher Objektivität. Vielmehr bedarf es der Beachtung möglicher bio-psycho-sozialer, vielleicht konditionierender Faktoren oder Auswirkungen des somatischen Geschehens in der Lebenssituation oder im Selbsterleben. Das ist nicht Psychotherapie i. e. S., sondern eine Facette der anthropologischen Medizin, indem sie das ungewollte Widerfahrnis des Krankseins als »eine Weise des Menschseins« sieht. 10 Eine weitere Facette ist angesprochen: die nur vorübergehend auf der Entfremdungsstufe zulässige, hier aber unabdingbare Reduktion auf die objektivierende körperliche Diagnostik und (selbstverständlich einvernehmliche) Behandlung – bis hin zum operativen Eingriff, ja bis zu der den Kranken in seiner Identität treffenden Organtransplantation –, eine Reduktion, die sich ihrer selbst bewusst ist als begrenzter Zugang zum kranken Menschen. Die Versachlichung, Verdinglichung des Leibes zur reinen Körperlichkeit entspricht einer Verfremdung der unmittelbaren Beziehung vom »Menschen in Not« zum »Menschen als Helfer«. Die Kategorie der Leiblichkeit, des Leibes als Organ der Selbstempfindung, des Erlebens von Selbst und Umwelt wird dabei ignoriert. Solche sich ihrer selbst bewusste Beschränkung ist aber zu rechtfertigen, wenn sie der sachgemäßen Klärung oder der Behandlung der Gesundheitsstörung, der Behandlung des Kranken dient. Auch wenn im klinischen Alltag, in der Praxis des niedergelassenen Arztes nicht annähernd genügend Zeit zur Verfügung steht, auf den möglichen biographischen Stellenwert, der vielleicht eruierbaren »Schwellenposition« 11 des aktuellen Krankseins einzugehen (z. B. Pensionierungskrankheiten), sollte doch die Offenheit des Arztes und des Kranken (ja, auch seine Offenheit ist gefragt) für die Möglichkeit dieser Dimension entwickelt werden. So kann über die Krankheitsgeschichte hinaus die Anamnese zur Krankengeschichte werden, von der historia morbi zur historia aegroti und der historia passionis. Analog kann (und muss) bei der körperlichen Untersuchung der Kranke als Person in seiner Leiblichkeit, als Subjekt seiner Selbstempfindung geachtet werden.
10 11
Ders. (1947a): S. 186 (passim). Christian, Paul (1989): S. 39 und 45.
166 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
Eine kurze Zwischenbilanz: Von der sog. »Wahrheit« naturwissenschaftlicher Objektivität sind wir dem Kranken als Person und als Objekt, das auch Subjekt ist 12, in klinischer Objektivität näher gekommen. Es ist seine Lebenssituation, in der er den ärztlichen Rat, die Hilfe sucht, seine Wirklichkeit und Leiblichkeit, seine existenzielle Erfahrung der Ungesichertheit, der wir uns »in Wahrheit« nähern, die wir aber auch verfehlen können. Damit ist ein Aspekt von Wahrheit aus ärztlicher Sicht skizziert.
Wahrheit und Aufklärung Häufiger angesprochen und problematisiert ist der Aspekt von Wahrheit, der sich im Rahmen der Aufklärung i. w. S. öffnet: die Aufklärung über diagnostische und therapeutische Handlungsschritte. Eine kurze Kasuistik mag das verdeutlichen: Frau D., 57 Jahre alt: Stationäre Aufnahme wegen tiefer Beinvenenthrombose mit Lungenembolie Anfang Dezember. Eine Ultraschalluntersuchung des Bauches erweckt den Verdacht auf pathologische Strukturen in der Leber: Anlass zur weiterführenden CT-Diagnostik, die den Verdacht erhärtet. Rat zur weiteren Diagnostik! Warum? Weil auch ein Tumor ausgeschlossen werden müsse. Nach einem ausführlichen diagnostischen Aufklärungsgespräch mit der Kranken Ärger und Zorn des Ehemannes darüber, dass bereits beim bloßen Verdacht von Tumor gesprochen werde; er habe schon zwei Frauen an Krebs verloren! Wenn eine Diagnostik nötig sei, dann erst nach Weihnachten und Aufklärung über einen Tumor erst, wenn die Diagnose gesichert sei. – Die weitere umfangreiche Diagnostik lässt einen bösartigen Tumor ausschließen; der Befund entspricht einem gutartigen Hämangiom.
Keine spektakuläre Geschichte, eine Geschichte mit günstigem Ausgang: kein bösartiger Prozess, kein Konflikt zwischen schützender Vorenthaltung und vollständiger Eröffnung der Möglichkeit einer todbringenden Krankheit. Dennoch geeignet, eine weitere Dimension des Spannungsfeldes der Wahrheit im ärztlichen Alltag deutlich zu machen. Hier geht es um Aufklärung, zu der der Arzt juristisch und moralisch verpflichtet ist: in diesem Fall um diagnostische Aufklärung mit der Begründung der für notwendig erachteten weiteren Unter12
Weizsäcker, Viktor von (1948b): S. 258 (passim).
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
suchungen, zu denen die Kranke i. S. der partizipativen Entscheidungsfindung ihr informiertes Einverständnis geben muss. Wir sehen, wie nahe eine solche Aufklärung schon an das Gespräch über eine mögliche Todesbedrohung heranführen kann. Muss doch die Dignität des (auszuschließenden) Tumors, d. h. sein antizipierter Verlauf, seine Prognose bedacht und ggf. als Stütze der Begründung angesprochen werden (sog. Verlaufs- und Prognose-Aufklärung). Auch soll ja mit der Aufklärung dem Kranken ermöglicht werden, sein Selbstbestimmungsrecht wahrzunehmen: für sich selbst zu entscheiden, ob er mit einem (vermuteten) Tumor leben oder mit gesicherter Diagnose ggf. eine Therapie durchführen lassen will. Damit sind wir an dem zentralen Punkt der Selbstbestimmungsaufklärung. Aufklärung im juristisch gebotenen und den Kranken schützenden Sinne setzt die Person des Kranken als aufklärungswürdig und zur Selbstbestimmung fähig voraus. Dem Aufklärungsgebot korrespondiert die Mündigkeit des Kranken. Mit der Verankerung des moralischen Aufklärungsanspruches und der Aufklärungspflicht im Bild vom (kranken) Menschen und im Selbstverständnis des Arztes wird der enge rechtliche Rahmen vertraglicher Verpflichtung und Bindung über den funktionalen hinaus auf einen anthropologischen Horizont von Intersubjektivität zweier gleichberechtigter, wenn auch nicht ebenbürtig sachkompetenter Personen hin überschritten. Mag die Selbstbestimmungsfähigkeit temporär oder permanent eingeschränkt, sogar aufgehoben sein, so ist doch die sie fundierende Autonomie, die Unverfügbarkeit und Personalität des Gegenübers zu achten. Eingedenk der rationalen, der emotionalen und der existenziellen Asymmetrie der Arzt-Kranker-Beziehung, eingedenk der Ungleichheit von Wissen und Handlungskompetenz, von Nüchternheit und nicht unmittelbarer, eigener Betroffenheit auf Seiten des Arztes und der Ratlosigkeit und Unkenntnis, der Sorge, des Leidens, der Verzweiflung und der unmittelbaren Bedrohung auf Seiten des Kranken kann die Korrespondenz von Aufklärungspflicht und Mündigkeit nur in der Beziehung von Vertrauen und Verantwortung aufgehoben sein. Vertrauen und Verantwortung gehen aber beide über den Inhalt von Aufklärung hinaus. Sie sind personale Kategorien. Sie verankern Aufklärung in der Mitmenschlichkeit, in der konkreten Aufgabe, die mit dem Hilfeersuchen eines Kranken dem Arzt gestellt wird. Aufklärung kann sich danach nicht in der bloßen Sachinformation über medizinische Sachverhalte, diagnostische Befunde, therapeutische 168 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
Möglichkeiten, über Risiken und prognostische Aussagen erschöpfen. Selbst da, wo der Kranke nach der Prognose seiner Krankheit fragt, will er etwas über sein Kranksein erfahren: über die Qualität ebenso wie über die Quantität seines weiteren Lebens. Nicht allein die Angst vor dem Ende, sondern die Angst vor dem Weg dorthin mit Schmerzen, Behinderung, wachsender Einsamkeit, Verzweiflung und Not bewegt ihn. Mit dem so erweiterten Horizont der Aufklärungspflicht geht es um den Kranken in seiner Personalität. Was erwartet er? Und wer erwartet etwas? Der Kranke hat – soweit der Selbstbestimmung fähig – den moralischen Anspruch, aufgeklärt, in Entscheidungen zur Diagnostik und Therapie einbezogen zu werden – ob er das ausdrücklich artikuliert oder (wie so oft in regressiver Verantwortungsabgabe) unausgesprochen lässt. Ein weiterer Aspekt der Aufklärung: Die skizzierten Inhalte von Aufklärung (diagnostische, Risiko-, Verlaufs-, prognostische und Selbstbestimmungsaufklärung) betreffen weitestgehend rational erfassbare Informationen. Der Kranke ist aber in seinem Kranksein nicht allein rational betroffen, sondern oft vielmehr existenziell verunsichert, unter Umständen gesteigert bis zur Identitäts- und Existenzkrise. Diese Betroffenheit raubt oder begrenzt ihm auch seine Freiheit zur Selbstentscheidung. Weder Information noch Aufklärung in dem juristisch gebotenen Umfang sind hinreichend tragfähig für die Wahrheit am Krankenbett – werden sie doch der Not des Kranken nicht gerecht. Es ist die ärztliche, die menschliche Hilfe, die Zuwendung und die Vermittlung von Zuversicht und Hoffnung, die er sucht, also die personale Begegnung (i. S. des o. g. interpersonalen kommunikativen Wahrheitsverständnisses). Es geht mit der vom Kranken erwarteten Wahrheit nicht allein um die rationale Übereinstimmung einer Aussage mit einem Sachverhalt, nicht um die Richtigkeit oder das Zutreffen einer Information. Deswegen ist hier der intentionale Begriff von Wahrhaftigkeit angemessener. Er bezeichnet appellativ eine Haltung, hier die des Arztes seinem Patienten gegenüber. Sicher erwartet der Kranke auch die fachliche Kompetenz, Nüchternheit, die sog. Objektivität. Wohl aber mehr noch persönliche Zuwendung, Einfühlungsvermögen, Rat und Hilfe. Auch der mündige Patient bedarf der Hilfestellung in der Entscheidungsfindung. Ein individuell, situativ und der Beziehung gerechtes Maß an Verantwortungsübernahme seitens des Arztes wird fast stets erwartet. Oft gilt die Erwartung bezüglich des Rates nicht 169 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
einem einzigen Arzt, sondern einem Behandlungsteam, einer Gruppe, oft einer Institution. Auch erwartet der Kranke mit der empathischen die kommunikative Kompetenz, die sich nicht in der Fähigkeit, medizinische Sachverhalte zu vermitteln und verständlich zu erklären, erschöpft, sondern auch nonverbale Signale oder symbolsprachliche Äußerungen des Kranken wahrzunehmen und zu beantworten weiß. Die Wahrheit beginnt auf Seiten des Arztes mit seiner Offenheit, seiner Wahrhaftigkeit, sie beginnt mit dem Hinhören, dem Wahr-nehmen.
Wieder eine kurze Zwischenbilanz Die moralisch und rechtlich geforderte Aufklärung mit ihren verschiedenen Perspektiven bringt trotz der überwiegend sachorientierten Begründung doch auch die Begegnung mit der existenziellen Betroffenheit durch die Krankheit, durch das Kranksein zu Bewusstsein. Sie erfordert Sach- und Kommunikationskompetenz für die dialogische Vermittlung von Wahrheit im ärztlichen Alltag.
Wahrheit am Sterbebett Ich komme zum dritten Aspekt von Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag: der Wahrheit am Krankenbett eines todkranken oder sterbenden Menschen. Es ist dies die häufigste Assoziation, wenn von der Wahrheit im ärztlichen Alltag gesprochen wird. Das 1965 erschienene, eindringliche Buch »Die Wahrheit am Krankenbett« von Eugen Ansohn befasst sich – wie der Untertitel »Grundfragen einer ärztlichen Sterbehilfe« verrät, nahezu ausschließlich mit diesem Aspekt. 13 Geht es im Zuge der Aufklärung mehr um objektive Daten und Sachinformationen über Diagnostik und Therapie, so wird angesichts einer Erkrankung ohne Aussicht auf Heilung, mit der Prognose bleibender Behinderung i. w. S., mehr noch angesichts des Sterbens und des absehbaren Todes das Gespräch über »weiche Daten« (so der medizinische Alltagsjargon), über Wertüberzeugungen, über Lebens-
13
Ansohn, Eugen (1965).
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
gestaltung, über Existenzfragen überwiegen. Was erwartet der auf den Tod hin Kranke? Eine erste Antwort: Die Erwartungen des Kranken an den Arzt sind höchst unterschiedlich und reichen von der strikten Vermeidung jeder nur möglichen Information über irgendeinen Sachverhalt, der etwas mit der Zukunft zu tun haben könnte, bis zur emphatischen Forderung vollständiger, rückhaltloser Aufklärung über Diagnose und deren Ursachen, Therapiemöglichkeiten und Prognose. Eine zweite Antwort: Den rationalen Anteil von Information und Aufklärung übersteigend sind die Erwartungen an die emotional-empathische Zuwendung seitens des Arztes ebenfalls sehr unterschiedlich. Vielfach wird über die fachliche Kompetenz hinaus der menschliche Rat, die Begleitung durch den Arzt gesucht bis hin zur obsessiven Anklammerung, manchmal nicht ohne Schuldvorwürfe gegen die Person des Arztes oder gegen das Versagen der Medizin (»Da können die Menschen zum Mond fliegen, aber gegen Krebs haben sie noch immer nichts!«). Nicht selten verlangt der Kranke eine klare Trennung der medizinisch-fachlichen Zuständigkeit von der psychischen, emotionalen und spirituellen Betreuung (sofern diese überhaupt gewünscht wird) in dieser Lebens- oder Sterbensphase. Hier sind die sich wandelnden Äußerungen des Prozesses der allmählichen Verarbeitung, Integration und Akzeptanz der »Krankheit zum Tode« zu berücksichtigen, wie sie Elisabeth Kübler-Ross beschrieben hat. 14 Eine dritte Antwort: Die Erwartungen hinsichtlich rational verstehbarer Aufklärung wie hinsichtlich des empathischen Engagements sind in ihrer Dynamik, der zeitlichen Entwicklung von Offenheit, Bereitschaft, Reife für die »Wahrheit am Krankenbett« zu beachten und zu respektieren. Wie die Phasen der inneren Auseinandersetzung mit der todbringenden Krankheit ist diese Dynamik nicht geradlinig, sie vollzieht sich rational wie affektiv in wechselnder Heftigkeit. Das Bedürfnis nach rationalem Verstehen wie nach warmherziger Zuwendung wechselt auch mit dem Gegenüber: ob Arzt, Pflegekraft, Angehöriger oder wer sonst als Informations- oder Vertrauensperson involviert ist. Eine vierte Antwort: Was Kranke bezüglich der Wahrheit am Krankenbett erwarten, mindestens was sie von ihren Erwartungen aussprechen, hängt vom Ansprechpartner, der -partnerin ab: weniger von dessen/deren Funktion als mehr von dessen/deren spürbarer Be14
Kübler-Ross, Elisabeth (1969) und (1978).
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
reitschaft, auf Erwartungen zu hören, von dessen/deren Sensibilität für verbale und nonverbale Signale. Die Sensibilität des (meist ja gesunden) Ansprechpartners wird wiederum mitgeprägt davon, wie er/ sie sich selbst in seiner Beziehung zum Kranken versteht: ob als krankheits- oder funktionsorientierter Mediziner oder als Jemand, der sich selbst als kränkbar und sterblich ansieht. Hier ist die fundamentale anthropologische Gegenseitigkeit der beiden sich als Subjekt einbringenden Personen deutlich. Die Meinungen darüber, wie Ärzte Kranke über eine todbringende Krankheit, über die meist nur in diesem Kontext so formulierte »Wahrheit am Krankenbett« aufklären sollen, gehen weit auseinander: von der Ablehnung bis zur rückhaltlosen Eröffnung über die Unabwendbarkeit des Sterbens und des Todes werden sie mit z. T. kasuistisch belegten Argumenten vorgetragen. Der Patient wolle die Wahrheit nicht wissen, er müsse geschont werden, er hege ohnehin ein Misstrauen in die Wahrhaftigkeit der Ärzte. Hoffnungen dürften nicht zerstört werden, die Selbsttäuschung vieler Patienten rechtfertige auch die Täuschung durch den Arzt. Der Arzt könne sich auch nicht immer seiner Diagnose und weniger noch der Prognose sicher sein, der natürliche Mantel des Schweigens erleichtere dem Kranken das Sterben – oder wie auch immer die Zurückhaltung begründet werden mag. Dem stehen Argumente für die Eröffnung der Ernsthaftigkeit der Situation gegenüber. Der Arzt dürfe nicht dem Kranken die Vorbereitung auf das Ende vereiteln, nicht letzte Wünsche von Gesprächen mit nahe stehenden Menschen vielleicht in wechselseitigem Verstehen und Verzeihen, die Befreiung von Schuld und Versagensgefühlen oder auch von Reue verhindern; die Achtung vor der Persönlichkeit des Kranken gebiete dem Arzt, dem Kranken die Möglichkeit zu geben, sich seiner Wahrheit der Endlichkeit, der Sterblichkeit, des Sterbens zu stellen; die Wahrheit könne auch Widerstandskräfte und Aktivitäten freisetzen und die Offenheit für Kommunikation ermöglichen; die Glaubwürdigkeit des Arztes, das Vertrauen zu ihm werde durch Verschweigen, Unaufrichtigkeit, Täuschung, Lüge zerstört; und schließlich: Die Wahrheit sei dem Menschen zumutbar. Alle diese Argumente – ob pro oder contra Wahrheit am Krankenbett – betreffen mehr oder weniger unmittelbar das menschliche Grundverhältnis von Gegenseitigkeit und Solidarität in ihren Vollzügen. 172 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
Der genauere Blick vor allem auf die Gegenargumente lässt deutlich werden, dass die ihnen zugrunde liegende Haltung des Arztes gegenüber dem Kranken noch immer paternalistisch geprägt ist. Der Mentalitätswandel, der insgesamt die Arzt-Kranker-Beziehung eher zu einem partnerschaftlichen Verhältnis mit gemeinsamer, sog. partizipativer Entscheidungsgestaltung hat werden lassen, wie auch das veränderte Verhältnis zu Sterben und Tod und nicht zuletzt die rechtliche Verpflichtung zur Aufklärung haben immer mehr dazu geführt, dass Kranke auch über ihre ungünstige, aussichtslose Krankheit informiert werden wollen und Ärzte diesen Wünschen viel häufiger nachkommen. Aber: Wir dürfen die Ambivalenz dieses beiderseitigen Wandels im Verhältnis zwischen dem Arzt und dem Kranken nicht übersehen. Sieht man das Wissen-Wollen als eine Form der Kontingenzbewältigung, so mag das für das rational wissenschaftliche Wissen um Krankheitsbeherrschung gelten. Angesichts von Sterben und Tod geht es aber vielmehr um unser Annehmen der Begrenztheit, Endlichkeit, der Möglichkeit zu sterben schon »mitten im Leben«, um pathisch-existenzielles Wissen. Indem wir zu unserer uns umfangenden Sterblichkeit ein Verhältnis gewinnen, gewinnen wir zugleich Freiheit in der Unausweichlichkeit: Freiheit zur Annahme des Todes und der rückschauenden Gestaltung des Lebens und des Endes. Dieses zu ermöglichen, sollte die Vermittlung von »Wahrheit am Krankenbett« dienen. Dazu ist der Arzt weniger als Funktionär der Medizin gefordert als vielmehr in seiner Haltung und Zuwendung zum Kranken, zum Sterbenden wie auch in seiner gelebten, der eigenen Sterblichkeit bewussten Einstellung. Darin zeigt sich Arzt-Sein als Existenzweise. Etwas Weiteres wird deutlich: Angesichts von Sterben und Tod geht es für den Kranken und für den Arzt nicht so sehr um die theoretische Frage, was denn Wahrheit sei, als vielmehr um die existenzielle Frage, wie beide Partner mit der Unausweichlichkeit umgehen. Gefordert ist die Wahrhaftigkeit in Bezug auf die Wahrheit von Sterben-Müssen und Tod. Gewiss, der Arzt kann den Weg des Sterbenden nicht mitgehen, es ist dessen eigener Weg. Aber es ist die »Solidarität des Todes«, 15 die nicht als biologische Gleichheit, dass Leben nicht ohne Sterben sein kann, sondern als das gemeinsam ausgehaltene Bewusstsein der Sterblichkeit erlebt wird, mindestens erlebt werden 15
Weizsäcker, Viktor von (1951a): S. 610–641.
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Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
kann, und wir darin (über unser Selbstverhältnis hinaus) ein Verhältnis auch zu unserem gesunden und kranken Mitmenschen, eine menschlich-mitmenschliche Wahrheit gewinnen können. Sie drückt sich in der Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit der Begleitung aus. Die wechselseitige Achtung der Sterblichkeit bremst auch den (besonders in der Intensivmedizin zu beobachtenden) Aktionismus gegen den Tod, die Wiederbelebung um den Preis der Menschenwürde. Das ärztliche Handeln wie der Umgang des Todkranken mit der Wahrheit und der Wirklichkeit, sterben zu müssen, kann auch noch in eine wenngleich begrenzte Zukunftsoffenheit führen – sei es der Abschied von einem erfüllten, abgeschlossenen, nicht sinnlosen Leben ohne »offene Schulden«, der Abschied von nahe stehenden Menschen; sei es das Vertrauen, geachtet, vielleicht sogar geliebt zu werden; sei es die Hoffnung des Glaubens auf ein zukünftiges Leben oder sei es auch die nicht überwundene Verzweiflung über die Endgültigkeit, die Angst vor dem Unbekannten, der Zorn über das Schicksal, gegen Gott. Auch ein solches Sterben gilt es für den Arzt, für die Zurückbleibenden, zu respektieren und nicht in gut gemeinter seelsorgerlicher Absicht dem Sterbenden direktiv ausreden zu wollen.
Nach-Denken Die skizzierten Überlegungen zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag haben über die herkömmliche Assoziation hinaus, als gehe es nahezu ausschließlich um die offene Vermittlung der Diagnose einer schwerwiegenden, gar tödlichen Krankheit, andere Aspekte der in der Verantwortung auszuhaltenden und zu leistenden Verpflichtungen des Arztes zum Vorschein gebracht. Es ist deutlich geworden, dass schon in der Weise, wie wir als Ärzte wie auch als Menschen die grundsätzliche Möglichkeit, krank werden zu können und sterben zu müssen, verstehen. Krankheit, genauer Kranksein ist eine Weise des Menschseins. Dem ist eine (natur-)wissenschaftliche Reduktion auf eine objektivierbare Krankheit nicht angemessen: wissenschaftliche ist nicht klinische Objektivität, der der Arzt verpflichtet ist. Indem letztere die Erfahrung von Anfälligkeit und Ungesichertheit, das Erleben von Kranksein berücksichtigt, kommt sie der Wahrheit, der Wirklichkeit menschlicher Existenz näher als eine wissenschaftlich objektive Medizin. Mit dem zweiten Schritt der Überlegungen ging es um die erfor174 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag
derliche Aufklärung der Begründung und Rechtfertigung ärztlichen Handelns. Sie kann dem Kranken schon vor der sicher gestellten Diagnose ein Memento einer langwierigen, schwerwiegenden, möglicherweise todbringenden Krankheit bedeuten. Wiederum ist eine Beschränkung auf die juristisch gebotene, medizinisch-sachliche Information der möglichen existenziellen Erschütterung unangemessen. Wahrheit hat auch hier den Kranken als Person in der Wirklichkeit seines aktuellen oder prospektiven Krankseins zu achten. Der dritte Schritt führte dann mit der Eröffnung der gesicherten Diagnose einer unausweichlich zum Tode führenden Krankheit in die rationale, affektive und vor allem existenzielle Auseinandersetzung mit der menschlichen Anfälligkeit, Ungesichertheit und der kontingenten Existenz. Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag stellt letztlich den Arzt und den Kranken – wenngleich in unterschiedlicher Nähe – vor die gemeinsam erfahrene Sterblichkeit, vor die Begrenztheit menschlicher Existenz, vor die Solidarität des Todes.
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Schmerz als Grenzerfahrung – Beitrag zu einer Anthropologie aus dem Schmerz 1
Wie die Gefährdung unserer Existenz durch Krankheit zu den Grunderfahrungen gehört, so ist es auch das alltäglich mögliche Erlebnis von mehr oder weniger heftigen Schmerzen, die uns die Anfälligkeit gegenüber Verletzungen i. w. S. bewusst machen und sogar an die Grenzen des Erträglichen, zur Verzweiflung treiben können. Nicht nur die Intensität, sondern auch die Qualität, die Lokalisation, die Dauer, die vermutete oder gewisse Ursache oder der Auslöser der Schmerzen prägen das Erleben – von der flüchtigen Störung des Befindens bis zur lang anhaltenden Qual mit der erdrückenden Ungewissheit oder Aussichtslosigkeit im Blick auf die Dauer der Schmerzen oder der ihnen zugrunde liegenden Krankheit. Schmerz ist Grenzerfahrung. Wenngleich meist durch eine dingfest zu machende physiologische, biologische exogene oder endogene schädigende Noxe verursacht, so ist doch der Schmerz seinem Wesen nach ein seelisches und in manchen Fällen ein existenzielles Erlebnis, das nicht »objektiviert« werden kann. Es wird gefärbt durch die individuell unterschiedliche Schmerzempfindlichkeit und die psychische Verarbeitung, die wiederum situativ, physiologisch und emotional beeinflusst wird. Mag es der kleine Nadelstich oder ein dumpfes Missempfinden sein: beides kann uns die eigene Endlichkeit, die Ungesichertheit bewusst werden lassen: »Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz, nur ein Gefühl, empfunden eben; Und dennoch spricht es stets darein, und dennoch stört es dich zu leben. Wenn du es andern klagen willst, so kannst du’s nicht in Worte fassen. Du sagst dir selber: ›Es ist nichts!‹ Und dennoch will es dich nicht lassen.
Die vorliegende Arbeit geht zurück auf einen Vortrag d. Vf. im Rahmen der Veranstaltung »Schmerz als Grenzerfahrung« der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem Braunschweig am 20./21. 4. 2012. In der hier erweiterten Fassung wird teilweise die Vortragsform beibehalten. Inzwischen publiziert in Kick, Hermes A. & Schmitt, Wolfram (Hg.) (2015): S. 15–29.
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Schmerz als Grenzerfahrung
So seltsam fremd wird dir die Welt, und leis verlässt dich alles Hoffen, bis du es endlich, endlich weißt, dass dich des Todes Pfeil getroffen.« (Theodor Storm)
Darin kommt auch ein Freiheitsverhältnis zum Ausdruck, ein gestaltbares Verhältnis zum eigenen Leib, zum Schmerz, zur eigenen Endlichkeit, die als biologische Begrenzung und als menschliche Bestimmung gesehen werden kann. Der Schmerz ist ambivalent. Der Philosoph Reiner Wiehl fasst »das menschliche Verhalten im Schmerz und angesichts des Schmerzes [… zusammen: …] der Schmerz ist dialogisch, auf Kommunikation bedacht […] als Ambivalenz und Zweideutigkeit ebenso wie [… als] unmissverständliche Gegensätzlichkeit des polar strukturierten Schmerzes [… ; er strebe] nach Kommunikation, […] nach Zuwendung [und] Abwendung […]. Der Schmerz ist immer auch ein Tun, nicht nur ein Leiden.« 2
In dieser durchgängigen Ambivalenz wollen die folgenden Ausführungen als ein Beitrag zu einer ärztlichen Anthropologie aus dem Schmerz verstanden werden.
* * * Schmerz ist – wer wollte das bezweifeln – eine Empfindung, ein mehr oder weniger intensives Erlebnis. Wir nehmen ihn wahr, wir empfinden und erleben ihn. Schon zeigt sich ein Problem: Ist Schmerz eine Wahrnehmung, wie wir mittels unserer Sinnesorgane Gegenstände, Objekte wahrnehmen? Was ist das Objekt solcher Wahrnehmung? Und mit welchem Organ nehmen wir Schmerzen wahr? Vermitteln Schmerzrezeptoren, die durch Hitze, Druck oder chemische Substanzen oder auch durch körpereigene Boten- oder Entzündungsstoffe oder anders gereizt werden, in ähnlicher Weise wie die sog. Sinnesorgane zwischen einer Außenwelt und einer Innenwelt? Oder ist der Schmerz eine Empfindung, ein Gefühl, das wir als eigenes inneres Empfinden in stets gleicher Weise, wenn auch nicht in gleicher Intensität bemerken – gleichviel, ob den Stich einer Biene, eine Haut- oder eine Organverletzung oder eine Beleidigung, eine seelische Verletzung? Oder ist er ein Erlebnis, wie wir eine Reizung peripherer Strukturen des Körpers – sei sie chemisch, thermisch oder mechanisch ausgelöst – spüren, deuten, werten und insgesamt darauf rea2
Wiehl, Reiner (2012): S. 52 ff.
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Schmerz als Grenzerfahrung
gieren? Empfindung, Gefühl, Wahrnehmung oder Erlebnis, ein mehr oder weniger bewusstes Zustandsgefühl? 3 Oder wird er durch das Erschreckende, die Unausweichlichkeit oder die Ohnmacht ihm gegenüber, durch die Bedeutung, die wir ihm zuerkennen, gar zum leiblichexistenziellen Widerfahrnis, dem wir rein passiv ausgesetzt sind? Wird der Schmerz aufgrund der Plötzlichkeit oder des schleichendunheimlichen Charakters des chronischen Schmerzes, meist des Unerwarteten, der uns hilflos machenden Qual oder dadurch, dass er uns unsere Ungesichertheit, die Endlichkeit, die Kontingenz unserer Existenz deutlich macht, zum Widerfahrnis? Er verliert ja nur z. T. diesen Charakter, wenn wir ihm eine Erklärung, eine Bedeutung zuschreiben. Jedenfalls sind es fünf unterschiedliche Realisierungen eines Eindruckes, eines Einbruchs von etwas in meine, unsere Erlebniswelt, in unsere Existenz. Doch was ereignet sich da? Ist es etwas Objektives oder etwas Subjektives? Wohl keines von beiden isoliert: nicht ein Gegenständliches der Wahrnehmung und nicht ein nur subjektiv Erlebtes. Es ist beides: objektiv und subjektiv zugleich, mit wechselnder Vordringlichkeit. Dem Schmerz bei einer weit ausgedehnten Verbrennung liegt eine schwere objektive Gewebsschädigung zugrunde; die objektiv harmlose, aber beleidigende Ohrfeige wird u. U. schmerzlicher und anders empfunden als eine zeitlich und lokal mechanische Reizung »gleicher Intensität«. Also: objektiv oder subjektiv? Eine medizinisch-physiologische Erklärung, das Eine sei ein organisch bedingter, das Andere nur ein psychischer Schmerz, greift zu kurz. Auch die ohnehin schwierige, fragwürdige Graduierung (nach welcher Skala?) der Schmerzintensität bringt uns einer Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Empfindung nicht näher. Sind doch hier subjektiv und objektiv nicht zu trennen. Einen Begriff des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) aufnehmend, möchte ich diese Gleichzeitigkeit von objektiv und subjektiv als Ambiguität bezeichnen 4 – nicht einfach ein Sowohl-als-Auch, sondern ein Eines-im-Anderen, eine Gegensatzeinheit. Diese Doppeldeutigkeit (ambiguïté) zeigt sich nicht nur in der Spannung von subjektiv
Zur klassifikatorischen Unterscheidung s. Buytendijk, Frederic J. J. (1948): S. 113 ff. Die Übersetzung zu Zweideutigkeit (so in »Phänomenologie der Wahrnehmung«, 1966; S. 110) gibt m. E. dem Begriff der ambiguïté eine unbestimmte, zumal fragwürdige, negative Konnotation, die bei Merleau-Ponty nicht gemeint ist; deswegen hier Gegensatzeinheit.
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und objektiv, sondern auch im Zugleich von Leiblichem und Psychischem, Geistigem und Physischem in der leiblichen Existenz des Menschen. Eine solche Ambiguität, wie sie schon hier in der Analyse des Schmerzphänomens im Blick auf eine Lehre vom Menschen deutlich ist, wird uns im Folgenden öfter begegnen. Was aber spüren, was empfinden wir im Schmerz? Wir erleben darin unsere naturhafte Leiblichkeit. Was heißt das? Ist der Leib das Gleiche wie der Körper? Glücklicherweise können wir in unserer deutschen Sprache (anders als im Englischen oder im Französischen) zwischen Körper und Leib unterscheiden. Der menschliche Leib ist immer beseelte Körperlichkeit einer Person. Den Körper können wir als den von außen, quasi aus der 3.-Person-Perspektive sichtbaren, objektiven Gegenstand sehen, ihn wahrnehmen. Der Leib dagegen ist quasi Medium oder Organ unserer menschlichen Selbsterfahrung aus der Ich-Perspektive, der 1.-Person-Perspektive: Ich fühle mich in meinem Leib als ich selbst in meinem Leibe. Wie ich meinen Körper habe, auch quasi instrumentell hand-habe, so bin ich mein Leib – in unterschiedlichen Schichten leiblicher Existenz. Dazu gehören auch die sog. vegetativen Leibgefühle wie Hunger oder Durst, Sättigung oder Erschöpfung (ich bin hungrig, durstig, müde – nicht mein Magen, meine Kehle oder mein Körper etc.); ebenso werden die weniger organbezogenen Allgemeingefühle wie Frische oder Mattigkeit, Müdigkeit oder das Krankheitsgefühl leiblich erlebt. Der Leib ist darin aber nicht nur Instrument unseres Bewusstseins, auch nicht nur Bedingung der Möglichkeit, kraft unserer Sinnesorgane etwas wahrzunehmen. Er ist selbst »das Subjekt unserer Wahrnehmung«, »ich erfasse meinen Leib als Subjekt-Objekt, als fähig, zu ›sehen‹ und zu ›leiden‹«, 5 indem wir mittels des Leibes Sinneseindrücke, Eigengefühle, Emotionen, Stimmungen unserer Umgebung etc. aufnehmen und einleiben. Eine kleine Anmerkung für unseren ärztlichen Umgang mit kranken Menschen: Wie wenig ist uns bewusst, dass wir bei der körperlichen Untersuchung die untersuchte Person in ihrer möglichen Selbstempfindung berühren. Wir untersuchen doch dabei ein »Objekt«, das selbst ein »Subjekt« ist – in der beschriebenen Ambiguität. Die genannten Leibgefühle werden erweitert durch seelische Emotionen und Affekte (Freude oder Lust, Wut oder Unlust etc.), die wiederum leiblich realisiert werden in dem Sinne, dass sie wirk5
Merleau-Ponty, Maurice (1945): S. 120 (Hervorh. K. G.).
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lich und wirksam sind und dass sie wahrgenommen werden. »Nichts Psychisches hat keinen Leib«. 6 Auch die Freude, das Glücklichsein ebenso wie die Trauer oder die Angst werden im Leibe und durch ihn erlebt. Der durch eine äußere Verletzung verursachte Schmerz wird seelisch empfunden wie der seelische Schmerz leiblich als Niedergeschlagenheit, Schwäche oder als ein meist unbestimmter, vermeintlich organbezogener Schmerz. Der Leib ermöglicht die Erfahrung »selbstreferentieller Eigenständigkeit«, 7 d. h. das Sich-selbstErleben, dass ich mich selbst als ich erlebe, zugleich als Objekt und Subjekt des Erlebens. Auch das Schmerzerleben wird im Leib ermöglicht und realisiert – dank der körperlichen, organismischen Organisation, Anatomie und physiologischen Funktion, der Schmerzrezeption und Leitung von der Körperperipherie zum Gehirn. Diese Strukturen sind jedoch nur Bedingung, sind Ermöglichungsgrund und Funktionsbereitschaft leiblichen Empfindens, sie sind nicht kausal für das Schmerzerleben. Der Leib ist es auch, der den erkennenden und handelnden Umgang des Ich mit seiner Umwelt und Mitwelt ermöglicht kraft der sinnlichen Wahrnehmung mit Augen, Ohren, Geruchsinn etc. in emotional, rational und motivational intentionaler Beziehung, ebenso wie kraft der Bewegung, Gestik, Mimik etc. Der Leib ist darin auch Organ der Kommunikation – Feld und Werkzeug (órganon) der Begegnung. Dass wir kraft unserer Sinnesorgane auf ein Gegenüber, einen Gegenstand, auf unsere Mit- und Umwelt gerichtet sind, kann uns im reflektierenden Selbsterleben bewusst, rational zugänglich werden, bleibt aber in der Unmittelbarkeit, der Aktualität des Vollzuges meist verborgen, vor-rational. Auch im Schmerzerleben fühlen wir uns selbst, nicht nur eine Körperregion. Es ist stets ein Ich, das den Schmerz erlebt, das geplagt, verletzt ist, das leidet: als Leib-Ich, Leibsubjekt, als Schmerzsubjekt. Wie sich unsere Person, unsere Identität in Mimik, Gestik, Haltung und Bewegung – nach außen gerichtet – ausdrückt, so empfindet und erlebt die Person sich selbst – nach innen gerichtet – auch in ihrer Leiblichkeit, in der Anfälligkeit, der Verletzbarkeit, der leiblichen und seelischen »existenziellen Vulnerabilität« (Fuchs). 8 Wir sind darin Subjekt – in dem doppelten Sinne des Autors, des Akteurs eigener Handlungen, eigener Absichten, Gedanken, Empfindungen ein6 7 8
Weizsäcker, Viktor von (1934): S. 314. Christian, Paul (1989): S. 295. Fuchs, Thomas (2008b): S. 148–171.
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schließlich seiner Schmerzen und in dem Sinne, dass das Subjekt seinen Widerfahrnissen wie seinen Schmerzen und Krankheiten unterworfen, sub-iectus ist. Der Mensch ist als Subjekt zugleich aktiv und passiv – die zweite Ambiguität, die uns die Schmerzerfahrung im Hinblick auf eine Anthropologie lehrt. Aber was heißt hier schon aktiv und passiv zugleich? Wo ist hier eine Grenze zu ziehen zwischen Aktivität und Passivität? Sind nicht viele unserer menschlichen Existenzvollzüge einschließlich des Umgangs, unserer inneren Stellungnahme zu Schmerz und Leid aktiv und passiv zugleich? Was sind leibliches Empfangen und liebende Hingabe, Vertrauen und Verantwortung, befreiende Verzeihung, entlastende Reue und tröstender Glaube? Sind sie je nur aktiv oder je nur passiv? Werden sie erlitten oder werden sie gelebt? Diese Untrennbarkeit von Aktivität und Passivität gilt auch in der Grenzerfahrung des Schmerzes, im Schmerzerleben. Das ist eine dritte Ambiguität. Das Schmerzerleben wird moduliert, indem wir zum Schmerz »Stellung« nehmen, ihn deuten und bewerten können als harmlos oder gefährlich, vielleicht kurzdauernd oder wohl länger anhaltend, als unheimlich oder erklärbar. Nicht von ungefähr spricht Viktor von Weizsäcker von der Schmerzarbeit: »Objektivierende, hingebende und triebgewollte Haltungen also sind es, zwischen denen die Schmerzarbeit entscheidet und von deren Polarität der Schmerzzustand weiterführt zur Ent-Scheidung der Person. Denn das Ergebnis der Schmerzarbeit ist Ent-Scheidung: Wiederherstellung der Einheit des Selbst mit sich nach Ausstoßung eines Es.« 9
Kehren wir zurück zum Anfang! Ich habe eingangs gesagt, Schmerz sei eine Empfindung, eine Wahrnehmung und ein Erlebnis zugleich, ja auch Widerfahrnis, und habe gefragt, was denn erlebt werde und ob es nur subjektiv oder auch objektiv sei, was wir im Schmerz erleben. Erleben wir den Schmerz gegenständlich, objektiv? Wir erleben uns selbst im Schmerz als Schmerzsubjekt. Der Schmerz ist ein Erleben unserer Leiblichkeit – und das im doppelten Sinne des genetivus subjectivus et objectivus. In meinem Leib empfinde ich mich selbst aus der Ich-Perspektive. Die organismische Leiblichkeit ermöglicht mit ihrer peripheren und zentralen neuronalen Ausstattung der Schmerzleitung (von der Peripherie des Körpers und den inneren Organen über das Rückenmark im Tractus spinothalamicus bzw. über 9
Weizsäcker, Viktor von (1926c): S. 41.
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das vegetative Nervensystem über die Formatio reticularis im Hirnstamm und Mittelhirn, zum Thalamus und Pallidum und letztlich zur Großhirnrinde) die Schmerzempfindung, die durch zentrifugale, d. h. vom Gehirn absteigende Nervenbahnen zum Rückenmark moduliert wird. 10 Über diesen Weg ist auch die psychische Einflussnahme auf das Erleben der Schmerzintensität und -dauer sowie der Bedeutung, die wir dem Schmerz zuschreiben, möglich. Darauf ist zurückzukommen. Das Schmerzerleben bringt uns zugleich unseren Leib als Gegenstand, als Objekt zu Bewusstsein. Im Schmerz empfinden wir unseren Leib. Wir gewinnen ein Verhältnis zu ihm. Wir können das, was wir im Schmerz als schmerzend erleben, quasi objektivieren und meist auch lokalisieren: Mein Fuß, meine Hand, mein Bauch schmerzt. D. h. wir können ihn zugleich mit dem vielleicht leidvollen, gar bedrohlichen Erleben aus der Ich-Perspektive und aus der 3.-Person-Perspektive quasi beobachten, ihn wahrnehmen. Wir rücken damit sozusagen aus der Mitte unseres Leibes heraus, gewinnen eine »exzentrische Position« zu ihm, zu uns selbst, wie der Soziologe und Philosoph Helmuth Plessner (1892–1985) es genannt hat. 11 Diese Möglichkeiten der doppelten Perspektivität, der 1.- und der 3.-Person-Perspektive, und die exzentrische Positionalität gelten nicht nur für das Schmerzerleben. Sie sind konstitutiv für den Menschen in seinem kognitiv-rationalen wie im emotional-affektiven Selbstverhältnis. Aber diese Möglichkeit der Vergegenständlichung, der Objektivierung des Schmerzes ist – einmal abgesehen von ihrer konstitutiven Unmöglichkeit – nicht unproblematisch. Öffnen sich doch dem Gedanken, man könne sich von Schmerzen völlig distanzieren, bis sie uns gar nichts mehr angehen, Erwartungen, gar die vermeintlich berechtigte Forderung, den Schmerz gänzlich zu beheben. Völlige Schmerzfreiheit ist eine Illusion. Schmerz gehört kon10 Nach der heute weithin akzeptierten Kontrollschrankentheorie der Schmerzrezeption (gate-control-theory; Melzack R. & Wall P. D. 1965) werden die von der Körperperipherie (Haut, Muskeln, Gelenke, Weichteile, innere Organe etc.) über Schmerzrezeptoren (Nocizeptoren) aufgenommenen Schmerzreize zum Rückenmark geleitet, wo sie durch ebenfalls zentripetale Aß-Fasern und durch vom Gehirn zentrifugal absteigende Bahnen mit dem Neurotransmitter Serotonin in ihrer Übertragung gehemmt werden; eine weitere Modulation geschieht über endogene Opioidpeptide (Endorphine u. a.) und sog. -Rezeptoren. Über dieses komplexe individuell und situativ dynamische Schmerzhemmsystem wird die Wahrnehmung der Schmerzen auch psychisch und willentlich beeinflusst. 11 Plessner, Helmuth (1928): S. 360 ff.
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stitutiv zur conditio humana von Grund auf, er gehört zu der pathischen Existenz des Menschen, in der er der steten Möglichkeit nach anfällig, verletzbar ist. Das ist Teil seiner ungesicherten Existenz, seiner selbsterfahrenen Kontingenz. Zu beachten ist, dass gerade im extremen Schmerz Leiblichkeit und Körperlichkeit so sehr miteinander verschränkt sein können, dass der Kranke selbst der Schmerz wird; er hat nicht nur, sondern ist zugleich ganz Schmerz. Wilhelm Busch hat das auf den Punkt gebracht: »Das Zahnweh, subjektiv genommen, ist ohne Zweifel unwillkommen; Doch hat’s die gute Eigenschaft, dass sich dabei die Lebenskraft, die man nach außen oft verschwendet, auf einen Punkt nach innen wendet und hier energisch konzentriert. Kaum wird der erste Stich verspürt, kaum fühlt man das bekannte Bohren, das Rucken, Zucken und Rumoren, und aus ist’s mit der Weltgeschichte, vergessen sind die Kursberichte, die Steuern und das Einmaleins, kurz, jede Form gewohnten Seins, die sonst real erscheint und wichtig, wird plötzlich wesenlos und nichtig. Ja, selbst die alte Liebe rostet – man weiß nicht, was die Butter kostet – denn einzig in der engen Höhle des Backenzahnes weilt die Seele, und unter Tosen und Gesaus reift der Entschluss: Er muss heraus!!«
Indem der Leib als ermöglichendes und (zeitlich und lokalisierend) begrenzendes Erlebnis- und Ausdrucksfeld – nicht nur für Mimik und Gestik, sondern auch im schmerzverzerrten Gesicht, den zusammengebissenen Zähnen, dem verkrampften Bauch – Ausdrucksfeld ist, wird das Leib-Seele-Problem oder die Körper-Geist-Zweiheit, der psycho-physische Parallelismus zu einem Aspekt- oder ErlebnisDualismus, sozusagen wie zwei Seiten einer Medaille, nein, besser: zu einer Gegensatzeinheit überwunden. Wir erleben uns auch im Schmerz als Leibsubjekt. Und wir erleben das, was uns schmerzt, beobachtend als zu uns gehörend – ja, noch einmal: Wir erleben uns als uns und wir selbst. Trotz oder gerade wegen der genannten Doppelperspektivität (aus der Sicht der 1. Person und der 3. Person) erleben wir uns auch im Schmerz als uns selbst. So kann das Schmerzerlebnis zur Identitätserfahrung werden. Psychiater kennen diese u. U. bis ins Extreme gesteigerte Suche nach Selbstvergewisserung bei depressiven oder eher noch bei sog. Borderline-Patienten mit einer Entfremdungssymptomatik, 12 die den Selbstbezug verloren haben und durch intenIch danke Herrn Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs, Heidelberg, für diesen Hinweis.
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sive, manchmal geradezu autodestruktive Schmerzreize sich selber wieder zu finden suchen. Man denke auch an masochistische Persönlichkeitsstörungen. Abgeschwächt kennen wir wahrscheinlich alle dieses Phänomen der durch Selbstbetastung oder eigene Schmerzzufügung gewonnenen Selbstvergewisserung. Der Schmerz, den ich spüre, ist nicht der Schmerz eines anderen, sondern ist jeweils mein Schmerz, dein Schmerz. Der Schmerz des Kranken ist seiner. Diese »Meinigkeit«, diese Individualität des Schmerzes, macht es unmöglich, dass ein Anderer dem Schmerzgeplagten den Schmerz nimmt. Ja, schon das Mitempfinden des Schmerzes eines Anderen ist kaum möglich. Es ist der Schmerz eines Ichs, der Schmerz des Kranken, des Leidenden. Ja, es ist jeweils ein Ich, das den Schmerz spürt – sei es den Schnitt in den Finger, die Nierenkolik, den sog. Vernichtungsschmerz des Herzinfarktes oder den Schmerz über eine verlorene Liebe, die Trauer über einen persönlichen Verlust. Man beachte die immer zentralere Nähe der Schmerzen zum Personkern: von dem peripher blutenden Finger bis zur existenziellen Bedrohung und Erschütterung der Person. Je zentraler desto mehr wird es mein Schmerz, den mir niemand abnehmen kann. Der Schmerz wird unterschiedlich erlebt je nach seiner Ich-Nähe, je nach seiner ihm rational oder emotionalaffektiv zuerteilten Bedeutung. Diese Bedeutungsattribution wird auch durch unsere Biographie, unser Schmerzgedächtnis mitgeprägt im Sinne von: »Gebranntes Kind scheut das Feuer«. Wir lernen aus der Schmerzerfahrung, aus dem Widerfahrnis. So sehr der akute Schmerz oft zeitverzerrend erlebt wird, so sind im Blick auf unsere biographische Zeit zwei Aspekte zu unterscheiden, wenngleich sie pathogenetisch eng zusammenzuhängen scheinen: die Schmerzerinnerung (das Schmerzgedächtnis) und der chronische Schmerz. Der chronische (nach medizinischer Definition mehr als sechs Monate anhaltende) Schmerz entspricht quasi seiner Verselbständigung ohne eindeutige pathophysiologische Erklärbarkeit. »Schmerzen gehen ein in das Gedächtnis des Leibes.« 13 Wie wir aktiv vollzogene Handlungen – z. B. den eben geleisteten Zugriff zum Stift oder durch Üben erlernte Bewegungen – leiblich erinnern, so entwickeln wir auch für den Schmerz ein »implizites oder leibliches Gedächtnis.« 14 Dem liegen senso-motorisch stimulierte neuronale 13 14
Fuchs, Thomas (2008c): S. 65. Ebd., S. 66.
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Änderungen im Gehirn zugrunde. Diese Vorgänge sind wichtig für die noch unbewusste frühkindliche Erkundung der Körper- oder Leibgrenzen, des sog. Körperschemas, 15 der Leib-Räumlichkeit. Fuchs spricht dem Schmerz den Charakter eines principium individuationis zu. 16 Es ist die Entwicklung des Leibsubjektes aus dem Schmerz. So sehr mein Schmerz mein Schmerz ist, der je eigene Schmerz, so gibt es dennoch das Phänomen der empathischen Schmerz-Wahrnehmung und -Linderung. Wer kennt nicht den lindernden Trost, das Mitleid, das uns den Schmerz erleichtert? Schon der Anblick, das Angeschaut-Werden oder das Anschauen des den Schmerz erleidenden Kindes oder auch des Erwachsenen mindert den Schmerz. Neurowissenschaftler haben für dieses Empathie-Phänomen als mögliches anatomisches und funktionelles Substrat das System der Spiegelneuronen im Gehirn, der »mirror neurons« 17 im sog. prämotorischen Großhirnareal entdeckt, das für die Organisation und Regulation von Bewegungen zuständig ist. Dieses System verknüpft intermodal zwischenmenschliche, intersubjektive oder interpersonale Wahrnehmung mit Eigenbewegung, sei sie Zuwendung oder Abkehr. Die Resonanz ist also senso-motorisch gekoppelt. Es ist dabei nicht nur die auf ein Objekt gerichtete Bewegung, es ist auch der wahrgenommene Affekt, der eine Gefühlsresonanz, ein Mitschwingen, ein Mitleiden auslöst. Das System der Spiegelneuronen ist quasi ein neuronaler Ermöglichungsgrund von Intersubjektivität, Interpersonalität oder Interaffektivität, die im eigenen Schmerzerleben oder in der Wahrnehmung des Schmerz leidenden Mitmenschen mitschwingen. Die Intensität dieser Resonanz ist selbstverständlich abhängig von der Grundschwingung, der emotionalen Nähe der sich begegnenden Personen. Der Schmerz ist also doch nicht nur mein Schmerz, er ist potenziell zudem der Schmerz der Mutter, der Liebenden, des sich dem Leidenden zuwendenden Mitmenschen. Wir erleben die Intersubjektivität eben auch leiblich als »Zwischenleiblichkeit«, intercorporéité (M. Merleau-Ponty) 18, und das nicht nur im Schmerz, sondern auch in alltäglichen Ereignissen zwischenmenschlicher Emotionalität, wohl besonders intensiv in der leidenschaftlichen Liebe. Der eingeführte Begriff des Körperschemas bezeichnet das Innewerden des eigenen Körpers in Gestalt eines aus Bewegungserleben und Sinnesempfindungen sich entwickelnden räumlichen Vorstellungsbildes vom eigenen Körper. 16 Fuchs, Thomas (2008c): S. 68. 17 Rizzolatti, Giacomo et al. (1996). 18 Merleau-Ponty, Maurice (1959): S. 256. 15
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Schmerz hat darin über das empathische Mitgefühl hinaus eine soziale Dimension. Zunächst ist da der Appell an den möglichen Helfer: ob es die kleine Schwester in Viktor von Weizsäckers Aufsatz »Über die Schmerzen« (1928) ist, 19 der zufällig anwesende Mitmensch oder der konsultierte Arzt. Der Schmerz veranlasst uns zur Hilfesuche bzw. zur Hilfeleistung. Unsere Schmerzempfindung ist sehr stark mitgeprägt von unserm Selbstanspruch, der qua Erziehung, Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung unsere Haltung dem eigenen Schmerz gegenüber, unsern Umgang mit ihm, unsere Schmerzarbeit prägt. Das gilt für den soziokulturellen Raum der Familie, die Kultur einer Gruppe, einer Ethnie in je unterschiedlichem Maße. »Ein Junge weint nicht!«, »Ein Indianer kennt keinen Schmerz!« – das sind doch soziale Erfahrungen und kulturelle Prägungen. Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit dem im Schmerzerlebnis bewusst werdenden Subjekt-Sein des Menschen, seiner Subjekthaftigkeit, wurde eben zu schnell übergangen. Der Mensch ist seinem Schmerz unterworfen, sub-iectus. Das trifft wohl zu. Doch dürfen wir das nicht allein passivisch sehen, als könne das Schmerzsubjekt nicht auch das Erleben – sowohl die Intensität und die Dauer als auch die Bedeutungszuschreibung – aktiv beeinflussen. Wir können den Schmerz lindern, indem wir die Zähne aufeinander beißen, indem wir unsere Aufmerksamkeit von ihm ablenken, indem wir ihn durch Atem- oder Entspannungsübungen bis hin zu Yoga oder andere Praktiken unterdrücken oder ausblenden. Wir können ihm einen positiven Wert beilegen: ob als Initiations-, Deflorations- oder Lustschmerz, als physiologischen normalen Geburtsschmerz oder als »Geburt des Subjektes aus dem Schmerz«. 20 Diese Schmerzerfahrungen können befreien, beglücken und stärken. Wir erleben unser Subjekt-Sein dank unserer Leiblichkeit – darin zugleich, dass wir leiblich sind, nicht reines Bewusstsein oder bloße Vorstellung. »Als Leib sind wir uns selbst gegeben […]. Diese Selbstgegebenheit ist eine [vom Leibsein mit seinen negativen Erfahrungen wie Schmerz und Krankheit, Alter und Sterben; K. G.] betroffene Selbstgegebenheit […]. Wir verdanken dieser Erfahrung […] das wichtigste Moment unseres Subjektseins, nämlich die Subjektivität. […] Diese Konstitution des Subjektes aus der
19 20
Weizsäcker, Viktor v. (1926c): S. 27–47. Böhme, Gernot (2008): S. 16 ff.
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Erfahrung betroffener Selbstgegebenheit bringe ich auf die Formel von der Geburt des Subjektes aus dem Schmerz.« 21
Natürlich, d. h. seiner physiologischen Natur nach hat der Schmerz daneben negative Seiten: in seiner Intensität oder Dauer, in der vermeintlichen oder objektiven Sinnlosigkeit, seinem die Lebensqualität beeinträchtigenden, quälenden und die Existenz destruierenden Charakter. »Der Schmerz ist [u. U.] wehrloses Zurückgeworfensein auf den eigenen Körper [… ;] der Schmerz wirkt als Einbruch, als Zerstörung, als Desorientierung, als eine in bodenlose Tiefe einstrudelnde Gewalt.« 22
Diese leidvollen, quälenden, u. U. zerstörerischen Seiten des Schmerzes sollen nicht beschönigt werden, schon gar nicht mit einem moralischen Appell an Tapferkeit oder Duldsamkeit oder an christlich-religiöse Demut. Auch will ich die psychopathologische Schmerzlust des Masochisten nicht gut, nicht gesund heißen. Aber es gibt den beherrschenden Umgang mit dem Schmerz. Er hat neben der positiven Qualität des Werdeschmerzes die ambivalente Qualität des Vernichtungsschmerzes. Die Bodenlosigkeit, die u. U. tiefgreifende existenzielle Erschütterung kann als schier ausweglose Todesnähe, als unausweichliche Grenze der Erträglichkeit des Lebens erfahren werden. Der Arzt sieht den Schmerz meist als Warnsignal für etwas Abnormes, Krankhaftes, möglicherweise Destruktives; er misst ihm darin eine Schutzfunktion bei. Indem der Schmerz uns unserer Leiblichkeit in ihrer Anfälligkeit und natürlichen Ungesichertheit, unserer existenziellen Kontingenz bewusst werden lässt, kann er uns auch auf unsere Verantwortlichkeit für die Gesunderhaltung aufmerksam machen. So bekommt der Schmerz auch normativen, wertorientiert das Verhalten bestimmenden Charakter. Er gewinnt eine ethische Dimension: nicht nur appellativ, den Schmerz zu ertragen, sondern auch für die Sorge um den uns anvertrauten Leib, um unser selbst und unserer Nächsten willen, auch für die Gemeinschaft. Mit der Therapie des Schmerzes kommt ein weiterer Aspekt der ethischen Dimension ins Spiel. 23 Das so stark subjektiv geprägte Schmerzerleben ohne objektivierbare Messbarkeit oder Korrelation 21 22 23
Ebd. (Hervorh. im Original). Plessner, Helmuth (1941, 21950, 31961): S. 352. Albrecht, Christian (2001): S. 69–82.
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zu körperlichen Befunden erfordert (zumal bei chronischen Schmerzen) eine auf den einzelnen Betroffenen abgestimmte, individuelle Behandlung. Sie muss dem Leidenscharakter gerecht werden. Das verlangt die Achtung der Person. Der Arzt muss über die Kenntnis der differenzierten Schmerzbehandlung hinaus die psychische, biographische, soziale und metaphorische Bedeutung, die der (chronische) Schmerz für den Leidenden hat, zu erfassen suchen: ob die körperliche oder seelische Beeinträchtigung kompensierbar ist, ob sie als ein zu erduldender Preis für selbstbestimmte überfordernde Lebensführung oder als hinzunehmende Strafe für Verfehlung oder Schuld angesehen wird. Diese Dimension der Selbstzuschreibung außer Acht zu lassen, wäre ein reduktionistischer, inadäquater Umgang mit dem Leiden des Betroffenen. Ich will nicht einer absoluten Schmerzbekämpfung, einem Hedonismus der Schmerzfreiheit das Wort reden. Es gibt kein schmerzfreies Menschsein, kann es aufgrund unserer Naturgebundenheit nicht geben. Der Schmerz kann uns aber an die Grenze der Sinnhaftigkeit bzw. der Sinnlosigkeit bringen. Das Schmerzerleben verlangt quasi eine Entscheidung – eine praktische: Muss ich etwas dagegen tun? – und eine moralische: Wie soll ich mich verhalten? Darin wird die Doppelnatur des Menschen als Natur- und Freiheitswesen deutlich. Der Mensch ist gebunden an seine Anatomie und Physiologie einschließlich ihrer krankhaften, oftmals schmerzhaften Veränderungen, denen gegenüber er nicht frei ist. Und doch ist er kraft der Freiheit der Bedeutungszuweisung dem Schmerz gegenübergestellt. Der Mensch steht also zwischen Freiheit und Notwendigkeit, d. h. hier Naturabhängigkeit! Die Bindung der Schmerzen an die naturhafte Körperlichkeit als den Ermöglichungsgrund macht wieder eine Doppelsinnigkeit deutlich: Der Mensch erfährt im Schmerz seine Einbindung in seine eigene organismische Natur, und zugleich nach außen sein Verhältnis zu der ihn umgebenden Natur. Auch das ist eine Grenzerfahrung im Schmerz. Bisher wurde überwiegend vom Schmerz und Schmerzerleben gesprochen, ohne seine Intensität oder Dauer zu berücksichtigen. Es ist uns allen aus eigener Erfahrung geläufig, dass beide Dimensionen das Erleben mitprägen. Das prinzipiell dissoziative Moment der Schmerzen – das Ich, das den Schmerz erlebt, und das Mich, das ich als das Schmerzende erlebe – erfährt eine Umgewichtung: von dem möglicherweise distanzierbaren Schmerzort zu dem den ganzen Leib, die 188 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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ganze Person ergreifenden Schmerz. Er verliert in der Chronizität seine biologische Sinnhaftigkeit, die dem akuten Schmerz diagnostisch und als Mahnung zur Vermeidung zugesprochen werden kann – es sei denn, der chronische Schmerz werde als Ausdruck anhaltender Verletzung oder (i. S. der Psychoanalyse konvertierter) Verdrängung oder als Verhaltens- oder Beziehungsstörung verstanden. 24 Ein Weiteres wurde bisher ausgelassen: die Begleitphänomene des Schmerzes. Sehr unterschiedliche vegetative Reaktionen von Übelkeit, Kreislaufreaktionen, Herzklopfen etc. können den Schmerz begleiten wie auch das psychische Erleben: von der banalen Verstimmung bis zur erschütternden Angst und dem Gefühl existenzieller Bedrohung, dem Identitätsverlust bis zum Todeswunsch in der Verzweiflung, der besonders den Dauerschmerz-Patienten überfallen und gefangen halten kann. So ist Schmerz immer ein multimodales Ereignis. Eine Isolierung nur des einen, zugegeben vordringlichen Aspektes, dass er wehtut, ist reduktionistisch im Blick auf die menschliche bio-psycho-soziale Konstitution. Außer der Leiblichkeit sei ein weiteres Konstituens einer Anthropologie benannt, das in der Schmerzerfahrung deutlich wird: die Zeitlichkeit. Der Mensch lebt in unterschiedlicher Weise in der Zeit, die Zeit in ihm: physikalisch, biologisch, psychologisch, im Daseinsentwurf sich selbst voraus, qua Gedächtnis in der Vergangenheit verwurzelt. Beide Zeitrichtungen ragen in die Gegenwart herein: Erinnerung und Reue bzw. Hoffnung und Erwartung vergegenwärtigen unsere Zeit in der Aktualität des Jetzt. Sie sind aber nicht nur Bewusstseinsphänomene, sondern auch leiblich (z. B.) in der hormonalen und muskelphysiologischen Vorbereitung einer Handlung oder im Leibgedächtnis einer eben durchgeführten Bewegung etc. verankert. 25 Dieses Zeiterleben kann im Schmerz völlig verändert oder zerstört sein: von der Fehleinschätzung der Schmerzdauer oder der Dauer des (messbaren) Wartens auf schmerzlindernde Zuwendung oder Behandlung bis zur Hoffnungslosigkeit des Schmerzpatienten, der keine Zukunft mehr sieht. Hierin sind wieder zwei Aspekte anthropologischer Konstitution durchdrungen: als Leib-Zeitlichkeit. Mit der im Schmerz betroffenen Leib-Zeitlichkeit verbunden ist auch das räumliche Erleben des eigenen Körpers, die Leib-Räumlichkeit, mehr oder weniger verändert. Unter gesunden Bedingungen na24 25
Kütemeyer, Mechthilde (2008). Fuchs, Thomas (2008d).
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hezu verborgen in das Körperschema integrierte Körperteile oder -regionen können mit dem Schmerz ins Zentrum des leiblichen Selbsterlebens rücken. So kann das Missempfinden von Schwellung oder Streckung die Vorstellung des eigenen Körpers entstellen oder die integrale Beziehung zu Körperpartien und -bewegungen verloren gehen. Der Leib ist darin sowohl Eigenraum als auch »Subjekt des [ihn umgebenden] Raumes.« 26 Wiederum weist uns der Schmerz auf eine anthropologische Grundkonstitution hin: die leib-räumliche Selbsterfahrung – vorgängig aller psycho(patho)logischen Normabweichungen oder »body-image-disturbances.« Schließlich soll in dieser Skizze einer Anthropologie aus dem Schmerz die Frage nach dem Sinn von Schmerzen nicht unbeachtet bleiben. Mit der scheinbar partialen Frage nach dem Sinn des Schmerzes geht es im Grunde auch und eigentlich um die zentrale Sinnfrage menschlicher Existenz. Welchen anthropologischen Sinn kann der Schmerz haben? Vordergründig und am augenfälligsten ist Schmerz Ausdruck einer äußeren oder inneren Verletzung. Insofern hat der Schmerz Warn- oder Signalbedeutung, also einen objektiven Funktionssinn. Das gilt für den akuten mehr als für den chronischen Schmerz, der – sofern keine physiologische ursächliche Erklärung für ihn gefunden werden kann – sich verselbständigen kann zu einer eigenständigen Erkrankung mit zunehmender Schmerzempfindlichkeit (»zentrale Sensibilisierung«) infolge neuronaler Umbauvorgänge (»Neuroplastizität«). Ist schon der akute, auf eine körperliche Schädigung zurückführbare Schmerz immer auch ein psychisches Erlebnis, so wird mit der Chronifizierung mehr und mehr das Quälende, Leidvolle bestimmend, dem gegenüber der Betroffene ohnmächtig ist und das ihn in die Verzweiflung bis in den Suizid treiben kann. Indem der chronische Schmerz ohne behandelbares Substrat die Signalfunktion verliert, wird er biologisch als sinnlos erlitten. Wird oft schon der absehbar kurzfristige Schmerz selbst-attributiv als eine Mahnung zu Vorsicht oder Schonung, zu Änderung in der Lebensführung oder als Strafe oder Demütigung für Verfehlung bis hin zu existenzieller Schuld gesehen, so mehr noch unter der Bürde chronischer Schmerzen. Hier zeigt sich eine mehr als nur individuelle Kränkung, ein psychophysisches Phänomen; vielmehr sieht sich der so Leidende in Beziehungen, die gestört, verfehlt, verweigert werden 26
Merleau-Ponty, Maurice (1945): S. 292 ff.
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Schmerz als Grenzerfahrung
können – Beziehungen, die über die unmittelbare lebensweltliche Situation hinausreichen können in die »Rückbindung« = religio der eigenen Existenz auf Gott hin. So kann im Schmerz die Ungesichertheit, die Gefährdung, die Endlichkeit menschlichen Daseins erfahren werden. Der Mensch ist das Wesen, das über sich und die gegenwärtige Zeit, über die aktuelle Gegebenheit hinaus auf Zukunft, zu möglicher Transzendenz befähigt ist – nicht zwingend rational, wohl aber existenziell. Kann Schmerz als Sinnerfahrung nur als unausweichliches Leid erlebt werden? Gibt es dem zum Trotz die Möglichkeit positiver Sinngebung im eigenen Lebensverständnis? Die im Schmerz erlebte Endlichkeit bringt uns eine nicht empirisch, sondern nur antizipierend existenziell erfahrbare Grenze zwischen dem vorstellbaren, im Lebensentwurf plan- und gestaltbaren Leben und dem unvorstellbaren Danach zu Bewusstsein. Von diesem Danach wissen wir nur, dass unser Körper allmählich zerfällt und nicht mehr als Leib erlebt werden kann. Glaubend kann diese Grenze überschritten werden: in das Nichts der individuellen Existenz oder in ein »neues Leben« von anderer, glaubend erwarteter Gestalt. Solche Doppelperspektivität der Grenze ist dem Menschen rational und mehr noch für seine Existenzgestaltung möglich. Transzendenz ist dem Menschen konstitutiv möglich, wenngleich nicht in qualitativer Vorstellbarkeit. Auch das ist ein aus der Schmerzerfahrung sich eröffnendes Kennzeichen menschlichen Daseins, ist Sinnerfahrung aus dem Schmerz. Von ihr her gewinnen andere anthropologische Konstitutiva wie Zeitlichkeit und Leiblichkeit ihre zu Verantwortung verpflichtende Bedeutung. Ich fasse diese Skizzen einer Anthropologie aus dem Schmerz zusammen – einer fundamentalen leiblichen und raum-zeitlichen Ich-, Selbst- und Grenzerfahrung in der Welt: 1. Schmerz ist vor allem eine bio-psycho-soziale Selbsterfahrung. 2. Der Körper mit seiner morphologischen und funktionellen Organisation ist Ermöglichungsgrund und Funktionsbereitschaft. Als Leib ist der Körper zugleich Realisationsfeld für Selbst- und Fremderfahrung wie für die Beziehung des Menschen zu seiner Mit- und Umwelt, so auch Ermöglichungsgrund für das Schmerzerleben. Der Schmerz ist darin ein leibseelisches, multimodales Phänomen. 3. Schmerz ist grundsätzlich ein mehr oder weniger dissoziatives Erlebnis: eines Ichs, das sich erlebt, das sich den schmerzenden 191 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Schmerz als Grenzerfahrung
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Körperteil vergegenständlichen kann. Der den Schmerz leidende Mensch ist darin Subjekt und Objekt zugleich. Er erlebt sich in der 1.-Person-Perspektive und sieht sich aus der 3.-Person-Perspektive: von der distanzierenden Beobachtung der schmerzenden Körperregion bis zur totalen Schmerzdurchdringung der ganzen Person. Im Schmerzerlebnis wird auch die menschliche Gegensatzeinheit (Ambiguität) von Natur- und Freiheitswesen deutlich. Es bringt uns unsere naturhaft, körperlich gebundene Leiblichkeit zu Bewusstsein, der gegenüber wir bedingt frei sind zur Stellungnahme, zu exzentrischer Positionalität (Plessner). Das Schmerzerleben betrifft uns existenziell, indem es uns der eigenen Identität vergewissern wie auch die Vulnerabilität und Ungesichertheit unseres Daseins bewusst machen kann. Es vermittelt die Erfahrung unserer Endlichkeit auf eine Grenze hin, die antizipativ wissend auf den körperlichen Verfall oder glaubend auf ein neues Leben hin überschritten werden kann. Das Schmerzerleben kann auch intersubjektiv, interaffektiv, empathisch erfahren, zwischenleiblich miterlebt werden. Es ist darin zugleich ein kommunikatives, soziales und soziokulturell geprägtes Phänomen. Schmerz ist in mehrfacher Hinsicht Grenzerfahrung: Kraft seiner Naturhaftigkeit und organismischen Gebundenheit macht er uns Grenzen – die Grenzen psychischer, affektiver oder willentlicher Einflussnahme, u. U. die Grenze der Tolerabilität und der zwischen Sinnhaftigkeit und destruktiver Sinnlosigkeit – deutlich, so wie er uns die Nähe des Todes kognitiv-rational und existenziell vergegenwärtigt. Schmerz ist schließlich auch mögliche Transzendenzerfahrung.
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Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln – eine Annäherung 1
Über Menschenwürde aus ärztlicher Sicht zu sprechen, verlangt den Rückgriff auf Bestimmungen dieses Begriffs aus normativer juristischer, ethischer und theologischer Sicht. Auch ist eine Eingrenzung auf wenige Felder des ärztlichen Handelns und der Erfahrung geboten, in denen Menschenwürde für eben dieses Handeln relevant ist und die in der gegenwärtigen Bioethik-Diskussion als handlungsund wertentscheidend kontrovers diskutiert werden. Ebenso muss – angesichts der multikulturellen, multireligiösen und vorgeblich z. T. a-religiösen Gesellschaft – im Auge behalten werden, dass das Verständnis von Menschenwürde aus ärztlicher Sicht über den Geltungsbereich christlicher Anthropologie, für die die Gottebenbildlichkeit des Menschen konstitutiv ist, hinausgehen muss, wo immer sie – am Lebensbeginn, in der Lebensmitte oder am Lebensende – in den Blick genommen und für Handlungsentscheidungen betont wird. Das in der Gottebenbildlichkeit gründende Verständnis ist jedoch nicht für Menschen anderer Religionen als allgemeine fundamentale Kategorie vorauszusetzen. Deswegen soll hier von einem heute m. E. weitgehend prinzipiell konsensfähigen Verständnis ausgegangen werden, das Menschenwürde unabhängig sieht von spezifischen entwicklungs- und sozialisationsgeprägten Eigenschaften oder intellektuellen Befähigungen wie autonomer Selbstbestimmung, Interessenansprüchen, Selbstbewusstsein oder Moralfähigkeit. Es ist ein interpretationsoffener und -bedürftiger Begriff. Im Folgenden wird versucht darzulegen, wie die Menschenwürde in drei Bereichen ärztlichen Handelns geachtet werden kann: (1.) im Kontext der Reproduktionsmedizin, (2.) im Umgang mit dem
Das Folgende geht zurück auf einen Beitrag d. Vf. zu einem sozialethischen Symposium der Evangelischen Akademie der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig vom 6.–8. Oktober 2010 in Goslar. Der Vortrag wurde seinerzeit dem im Dez. 2010 verstorbenen Professor der Philosophie Dr. Reiner Wiehl, Heidelberg, in Dankbarkeit zugeeignet.
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Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
geborenen und dem entscheidungsfähigen erwachsenen Menschen sowie (3.) angesichts von Sterben und Tod.
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Menschenwürde im Kontext der Reproduktionsmedizin
Am Lebensbeginn geht es um die Frage des Menschenwürde-Status des Embryos: Ist der frühe menschliche Embryo Mensch? Ist er Person? Kommt ihm Menschen- oder Personwürde zu (die beiden Begriffe werden hier gleichgesetzt)? Von welchem Zeitpunkt der Entwicklung hat der Embryo Menschenwürde? Nach dem in Deutschland gültigen Embryonenschutzgesetz (Datum des Gesetzes 13. 12. 1990, Inkrafttreten 1. 1. 1991, letzte Änderung 8. 12. 2011) ist die befruchtete Eizelle nach abgeschlossener intrazellulärer Befruchtungskaskade und Rekonstitution des chromosomal-diploiden Zellkerns ein Embryo mit der genetischen Ausstattung zur Entwicklung als Mensch (nicht zum Menschen!) – so die (durchaus nicht zwingende) biologische und rechtliche Definition. Entspricht das der alltäglichen Intuition oder einer philosophischen oder theologischen Definition? Welche Implikationen und welche Konsequenzen hat diese Definition – auch im Hinblick auf ärztliches Handeln? Im Blick auf reproduktionsmedizinische Praktiken (In-vitro-Fertilisation IVF 2, Präimplantationsdiagnostik PID 3, single-embryotransfer SET 4, Embryo-Adoption oder Leihmutterschaft), die es ja alle mit dem so definierten Früh-Embryo zu tun haben (ihre mögliche Illegalität außer Acht gelassen 5), muss das wertorientierte Nachdenken im Blick auf die Begründung ärztlichen Handelns schon vor der Erzeugung menschlicher Embryonen einsetzen: • mit der exakten Diagnostik der ungewollten, als Leiden empfundenen, nicht ohne reproduktionsmedizinische Maßnahmen
IVF = In-vitro-Fertilisation, Befruchtung von Eizellen in der Petrischale. PID = Präimplantationsdiagnostik, d. h. morphologische und genetische Untersuchung des Embryos vor seiner Übertragung aus der Petrischale in die Gebärmutter (Implantation). 4 Beim single-embryo-transfer SET wird nur ein befruchteter Embryo in die Gebärmutter übertragen. 5 Im Juli 2010 wurde aufgrund einer Selbstanzeige eines Berliner Arztes, der bei zwei Paaren, die mit einer schwerwiegenden Erbkrankheit belastet waren, nach IVF eine PID durchgeführt hatte, ein BGH-Urteil gefällt, demgemäß jetzt PID legal ist. 2 3
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Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
überwindbaren Kinderlosigkeit, d. h. der Untersuchung beider prospektiven Eltern; • mit deren eingehender medizinischer, psychosozialer, evtl. seelsorgerlicher Beratung über die zu begründende Rechtfertigung der Nutzung reproduktiver Techniken; • mit der Klärung, wie mit den erzeugten Embryonen in vitro (»überzählige«?) und (seltener) in utero verfahren werden soll (»selektiver Fetozid« bei medizinischer Gefährdung der Frau oder des anderen Embryos oder der anderen Embryonen? – d. h. der Umgang mit Mehrlingsschwangerschaften). Ärztliches Handeln sub specie dignitatis, in Achtung des Menschenwürdegebotes, muss also einsetzen, bevor Reproduktionsmöglichkeiten genutzt werden. Steht doch bei ihnen allen menschliches Leben auf dem Spiel – menschliches Leben, das laut Gesetz (Grundgesetz Art. 2 Absatz 1) zu schützen ist; menschliches Leben, das biologisch die Potenz zur vollen Entwicklung eines singulären Individuums unserer Gattung, zur Entwicklung eines Mitmenschen hat. Damit sind die vier tragenden SKIP-Argumente (Spezieszugehörigkeit, Kontinuität, Individualität und Potenzialität der embryonalen Entwicklung) in der Diskussion um den Embryonenschutz angesprochen. Dieses individuelle menschliche Leben steht (ungeachtet der Möglichkeit der Entwicklung zu eineiigen Zwillingen) von seinem Beginn an unter dem Schutz des Art. 2 Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes. Die abgeschlossene Befruchtung setzt den Beginn neuen individuellen Lebens – laut Gesetz unabhängig davon, ob natürlich gezeugt oder in vitro erzeugt. Diesem Leben kommt laut Bundesverfassungsgericht Menschenwürde zu. Das Kernargument in der Diskussion um deren Schutz aber ist die reflexive Selbstidentifikation des erwachsenen Menschen, der in seiner Würde in gleicher Weise geachtet zu werden beansprucht. Das »Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« (Art. 2, Abs. 2 GG) und das Gebot des Menschenwürdeschutzes (Art. 1 / Abs. 1) werden im Grundgesetz auseinandergehalten. Gilt das Prinzip der Menschenwürde absolut und unantastbar, so kann hingegen das Lebensschutzrecht eines Einzelnen hinter dem eines anderen verfassungskonform zurückstehen: z. B. bei Triage-Entscheidungen bei Massenunfällen mit mehreren unwiederbringlich tödlich verletzten Personen, die Entscheidung zwischen einer Gebärenden und dem lebensbedrohten Nasciturus, das Risiko von Soldaten, die für den Schutz anderer Menschen eingesetzt werden.) Nicht aber wird eo ipso 195 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
damit die Würde dieser Menschen verletzt. Sie wird vielmehr dort verletzt, wo der Mensch zum bloßen Objekt degradiert, instrumentalisiert oder auch verächtlich und erniedrigend behandelt, seiner Subjekt- und Personqualität prinzipiell beraubt wird. Im Kontext von Reproduktionsmedizin kann u. U. der Lebensschutzanspruch des Embryos den Schutzrechten der (potenziellen) Mutter untergeordnet werden: z. B. dort, wo einer Frau die Implantation eines mit der Disposition zu einer schwerwiegenden, gar vorzeitig (vielleicht schon in utero) tödlichen Erbkrankheit belasteten Embryos nicht zumutbar ist. Eine solche Entscheidung setzt voraus, dass eine nicht nur morphologische, sondern auch eine genetische Präimplantationsdiagnostik, die bislang in Deutschland strafbar war, durchgeführt worden ist an extrakorporalen Embryonen, die im Zuge der Behandlung von ungewollter, leidvoller Kinderlosigkeit erzeugt wurden. Das ärztliche Handeln fordert vor dieser zweiten Stufe der Entscheidung zu reproduktionsmedizinischen Maßnahmen, nämlich vor der Erzeugung von Embryonen in vitro, die genaue Kenntnis der genetischen Familiensituation bezüglich der befürchteten Krankheit, auch die Kenntnis der psychosozialen Belastbarkeit und der möglichen Betreuung der Mutter. Diese Voraussetzungen müssen eingehend mit der Mutter, mit dem potenziellen Elternpaar besprochen werden – noch bevor die erforderliche hormonelle Stimulation des Eisprungs erfolgt. Dann sind mit der Eizellentnahme bis zur IVF und zur Implantation des frühen extrakorporalen Embryos die bestmögliche Kenntnis und die einzelfallbezogene interdisziplinäre Beurteilung sowie die verantwortungsbewusste Entscheidung Gebote des ärztlichen Handelns, gerade auch im Blick auf die Achtung der Menschenwürde. Sie verbietet eine Instrumentalisierung sowohl des Embryos – sei er das bloße Mittel der Therapie der Kinderlosigkeit oder die gezielt erzeugte Quelle für embryonale Stammzellen oder bloßes Forschungsobjekt – als auch eine Instrumentalisierung der Frau zum »Brutkasten« für den erzeugten Embryo. Eben wurde das Problem des Umgangs mit »überzähligen« oder im Rahmen morphologischer oder genetischer Beurteilung im Rahmen der IVF als »abnorm«, wohl aber als entwicklungsfähig eingeschätzten Präimplantationsembryonen angesprochen – ein Konflikt, der auch bei der gesetzlich auf drei Eizellen begrenzten künstlichen Befruchtung nicht zu eliminieren ist. Was soll, was darf mit diesen Embryonen geschehen – unter Achtung des Menschenwürdegebotes? Solche Embryonen werden eingefroren, kryokonserviert und – wenn 196 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
möglich und gewünscht – nach späteren unfruchtbaren Zyklen transferiert oder aber »verworfen«. Die nicht für eine Schwangerschaft vorgesehenen Embryonen werden also »verwaist« sterben. Damit drängt sich die Frage auf, warum sie nicht im Blick auf Heilzwecke für Menschen verwendet werden dürfen, deren chronische Krankheit durch embryonale Stammzellen gelindert, vielleicht gar geheilt werden könnte (z. B. neurodegenerative Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder ein Insulinmangel-Diabetes oder hämatologische Erkrankungen). Auch diese Kranken haben ein »Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«. Soll dieses Recht zurückstehen hinter dem Gebot der Unantastbarkeit der Würde von Embryonen, die zum Sterben »verurteilt« sind? Selbstverständlich ist größte Wachsamkeit gegen Missbrauch geboten. Nicht darf mit dem Signum der Fürsorgeethik die Menschenwürde auch dieser Frühformen menschlichen Lebens leichthin zur Disposition gestellt werden zugunsten von Personen, die ihre wohlverständlichen Interessen und Bedürfnisse artikulieren können. Eine diskursfähige Verantwortungsethik hat beide Seiten zu beachten. 6 Noch kritischer zu beurteilen, aber m. E. nicht kategorisch abzulehnen ist die Verwendung, d. h. hier die Fremdnutzung solcher Embryonen zu Forschungszwecken, sei es im Blick auf eines Tages sich daraus ergebende Therapie-Möglichkeiten oder zur entwicklungsbiologischen Grundlagenforschung. Nur und allein wenn ausgeschlossen ist, dass die angestrebten Ziele derartiger Forschung gar nicht anders als mit Verwendung frühembryonaler menschlicher Entwicklungsstadien zu erlangen sind, ist eine vom Embryo ausgehende Forschung allenfalls zu rechtfertigen – vorausgesetzt dass dieser nicht mehr für eine Schwangerschaft vorgesehen ist. Möglichkeiten, die einen solchen konfliktbelasteten Weg umgehen, zeichnen sich mit der Entwicklung der Reprogrammierung von pluripotenten Stammzellen oder mittels des therapeutischen Klonens ab. Ich möchte aber kurz auf eine seit Jahrzehnten geübte, gesellschaftlich (wenn auch nicht katholisch-kirchlich) akzeptierte und seinerzeit m. W. ohne gesetzgeberische Diskussion eingeführte Praxis der Embryo-Vernichtung zu sprechen kommen: auf die alltäglich Die Analogie zur Transplantation von Organen Verstorbener ist nur partiell zutreffend. Der Organspender hat über die postmortale Nutzung seiner Organe frei entschieden. Im Falle des Embryos wird über ihn entschieden und ihm ein mögliches Leben vorenthalten.
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Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
und tausendfach zur Tötung von befruchteten Eizellen im Mutterleib, zur anti-konzeptiven Nutzung der Spirale und anderer Nidationshemmer (die »Pille danach«). Kann die Frau ihren Wunsch, kann der Arzt, die Ärztin die Implantation der Spirale rechtfertigen – wohl wissend, dass durch sie Embryonen getötet werden? Schon das Gebot moralischer Redlichkeit, ethischer Rechtfertigungsfähigkeit und der rechtlichen Konsistenz der Anerkenntnis der Menschenwürde für die befruchtete Eizelle als Embryo, als potenziell zum Mitmenschen sich entwickelndes Wesen sollten zu denken geben, ob einerseits ein derartiger Embryozid durch die Spirale oder die »Pille danach« zulässig, aber die Nutzung dagegen weitaus seltenerer »überzähliger«, nicht zu transferierender Embryonen für hochrangige, zu rechtfertigende Zwecke abzulehnen ist. Unter den vorgenannten Kautelen kritischer Prüfung ist es m. E. vertretbar, die (auch forschende) Verwendung mit nicht oder nicht mehr für eine Schwangerschaft vorgesehenen Embryonen zur Erhaltung oder Verbesserung von Leben und Gesundheit kranker Menschen zu akzeptieren und zu legalisieren – auch unter dem Aspekt der in Artikel 1 Abs. 1 unseres Grundgesetzes verankerten MenschenwürdeGarantie.
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Achtung der Menschenwürde im Umgang mit erwachsenen Menschen
Wie kann Achtung der Menschenwürde »mitten im Leben«, wie kann das alltägliche ärztliche Handeln sub specie dignitatis für erwachsene Personen, für die nicht akut »Grenzentscheidungen« zu treffen sind, aussehen? Wenn es auch schwierig ist, Menschenwürde zu beschreiben, so ist doch weithin mindestens gefühlsmäßig, intuitiv klar, was menschen-unwürdig ist: die Missachtung, die Degradierung des Menschen, in unserem Zusammenhang des Kranken zum bloßen Zweck, zum bloßen Objekt von Untersuchung und Behandlung, die Verdinglichung und Instrumentalisierung, auch die Verletzung der Privatheit und Scham, Demütigung und Zerstörung der Selbstachtung des Gegenübers, Isolation und soziale Ausgrenzung. 7
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Bieri, Peter (2013).
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Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
Hier schon zeigen sich umgekehrt Möglichkeiten der Achtung der Menschenwürde: die Anerkennung und Achtung des Anderen als Subjekt, die Einbeziehung des Kranken in ihn betreffende Entscheidungsprozesse (heute vielfach »partizipative Entscheidungsfindung« oder »shared decision making« genannt) nicht erst am Lebensende, sondern in Alltagssituationen. Das ist auch heute noch nicht überall selbstverständlich. Es geht um die Berücksichtigung seiner vertretbaren Wünsche und Zielsetzungen – selbstverständlich sollen dabei individual- und sozial-ethische Rechtfertigungsmöglichkeiten gewahrt werden. Nicht als Bedingungen von Menschenwürde, wohl aber als im ärztlichen Handeln zu achtende menschliche, anthropologische Wesensmerkmale seien hier nur fünf in möglicher Selbsterfahrung des Kranken für den Arzt vordringliche Charakteristika kurz skizziert. Ihre Missachtung oder Verletzung tangiert auch die Menschenwürde des Kranken und so auch die des Arztes. Ist sie doch ein reziprokes Verhältnis, ein Verhältnis gegenseitiger Achtung und die Achtung der Selbstachtung des Anderen. Fünf Charakteristika also, die den Menschen in seinem Selbstverhältnis, in seinem Subjekt- und Person-Sein und seinen mitmenschlichen Beziehungen auszeichnen: seine Leiblichkeit (1) auch einschließlich ihrer möglichen biologischen Unzulänglichkeit in der Krankheit, seine Zeitlichkeit (2), seine Subjekthaftigkeit (3) und Sozialität (4) sowie schließlich seine alle diese Merkmale durchgreifende Vernunftfähigkeit (5). 1) Zur Leiblichkeit: Was ist damit gemeint? Den Leib verstehe ich (im Gegensatz zum objektivierbaren Körper) als »Ort« und »Medium«, quasi Organ der Selbsterfahrung: von den vegetativen Leibgefühlen bis zu den psycho-physisch erlebten ekstatischen Zuständen von Freude oder Liebe und Lust, Niedergeschlagenheit und Trauer, Schmerz oder Glück. Sie können wohl willentlich oder emotional, situativ und sozial gesteuert, gestaltet werden – dennoch ist der Mensch diesen Leibgefühlen in unterschiedlicher Weise unterworfen. Auch unsere Mimik, Gestik und Haltung sind psychophysische Einverleibungen und Ausdrucksweisen, ebenso in der Kommunikation. Der Leib ermöglicht Empfänglichkeit (Rezeptivität) und Zuwendung (Intentionalität), er ist darin Beziehungsorgan. Er ermöglicht auch die Erfahrung der Zeitlichkeit, Leib-Zeitlichkeit in Wachstum, Reifung, Endlichkeit. Die Erinnerung des Vergangenen, der Augenblick der Gegenwart in der Aktualität von Handlung und Sprache wie der 199 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
Entwurf auf Zukunft sind ebenfalls leiblich sich vollziehende und erlebte Phänomene. Die leiblich ermöglichte selbstreferentielle Eigenständigkeit 8 ist es auch, die uns trotz aller Entwicklung und Veränderungen leibliche Identität erleben lässt. Sie bringt uns in gesunden und mehr noch in kranken Tagen die Begrenztheit unserer Möglichkeiten zu Bewusstsein, unsere Vulnerabilität und Ungesichertheit. Es ist dieses »Organ« der Selbstempfindung, der Selbsterfahrung, das wir Ärzte bei der körperlichen Untersuchung berühren, behandeln und zum Gegenstand machen, »objektivieren«. Zu der menschlichen Grundkonstitution der Leiblichkeit gehört auch die dem Menschen eigene biologische Unvollkommenheit und der aus ihr entspringende Wunsch nach Verbesserung, nach Steigerung seiner physischen und psychischen Möglichkeiten (»enhancement«) – ein für den Arzt im Blick auf soziale Fairness wie auch auf die Menschenwürde konfliktbeladenes Tätigkeitsfeld. Der Mensch ist unabweisbar ein Mängelwesen (Arnold Gehlen). Durch Gewohnheiten, Training, durch Technik einschließlich medizinischer Techniken und der pharmakologischen Möglichkeiten kann er Defizite teilweise kompensieren. Die Medizin ist daher eine Form der institutionalisierten, damit aber nicht eo ipso durchweg legalisierten Bewältigung von Unvollkommenheiten oder Kontingenz, auch in gesunden Tagen. 2) Zur Zeitlichkeit: Wir erfahren sie als biologische, biographische, existentielle Werde- und Vergehzeit, als physisch und psychisch konditionierende Vergangenheit und offene Zukunft. Beide reichen in die erlebte, erlittene Gegenwart herein und prägen sie: leib-zeitlich, biographisch, emotional, als Erinnerung und Erwartung, vielleicht als einverleibte Sorge und Angst, Zweifel oder gar Verzweiflung, oder als Kraft und Leistungsfähigkeit, Mut und Zuversicht, schließlich als Endlichkeit und Sterblichkeit. Als biographische wie als Leib-Zeitlichkeit konstituiert sie unsere diachrone, aus der Vergangenheit in die Zukunft durchlaufende Identität. Wird im Vergehen und Vergessen der Verlust der Eigen-Zeit spürbar, so kann in der Erinnerung und der Erwartung erlebte und gelebte Zeit, d. h. Lebenszeit vergegenwärtigt werden, in »zeitüberbrückender Vergegenwärtigung.« 9 »Mitten im Leben« erleben wir – ob rational, als Stimmung oder auch ohne dass wir sie realisieren – unsere Endlichkeit in der Zeit, die uns stets 8 9
Christian, Paul (1989): S. 295. Auersperg, Alfred Prinz (1954): S. 3.
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Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
begleitende Sterblichkeit und Kontingenz, die nicht erst im (physiologischen) Sterben und angesichts des Todes aktuell werden. Auch ist unser Zeiterleben über die individuelle Dimension hinaus eine soziale Erfahrung. In den Ordnungen von Gleichzeitigkeiten wie durch die Vergleichbarkeit meiner Zeiterfahrung mit der meiner Mitmenschen ist sie soziale Zeit, überindividuell im Erleben gemeinsamer Freude oder Trauer, Hoffnung oder Besorgnis. 3) Ein Drittes ist die Subjekthaftigkeit des gesunden und des kranken Menschen. Er ist willentlich oder unbewusst Akteur und Träger seines Lebens – wieder in der Ambiguität von Aktivität und Passivität, wie sie in vielen spezifisch menschlichen Lebensvollzügen deutlich ist: in Empfangen und Hingabe, in Buße und Reue, in Liebe und Trauer. Sie alle setzen nicht Bewusstsein, kognitive oder rational-reflexive Fähigkeiten voraus. Der Mensch ist darin Subjekt des Handelns wie des Erleidens, der Rezeptivität und der Intentionalität. Und für das Kranksein sagt der Arzt Viktor von Weizsäcker, dass er, »der Mensch, seine Krankheit, die als Teil seiner ganzen Biographie zu verstehen ist, nicht nur hat, sondern auch macht.« 10 Indem hierin nicht klar entschieden ist, ob es sich um die medizinische Sachkategorie Krankheit oder die Befindlichkeitskategorie des Krankseins handelt, kommt das Sowohl-als-Auch, die Ambiguität dieses Zustandes zum Vorschein: erlebte und gestaltete Krankheit und erlittenes Kranksein, auch in der biographischen Zeitlichkeit, der Leib-Zeitlichkeit aus Vergangenheit in eine offene Zukunft. 4) Zur Sozialität: Der Mensch ist Individuum und Sozialwesen, er ist nicht nur biologisch und psychisch eingeordnet in wechselnde Gemeinschaften. Er ist es in seiner Sprache, seiner Kultur, er ist es leiblich und seelisch. Selbst noch in der Verweigerung von Gesellschaft ist er Beziehungswesen. Das mit Entfremdungsprozessen einhergehende Phänomen der Desozialisation ist im psychopathologischen Bereich nicht selten. Im alltäglichen Erfahrungsbereich des Kranken wie des Arztes sind aber verschiedene externe, von Mitmenschen verursachte Mechanismen sozialer Ausgrenzung virulent: von der Krankschreibung bis zur Klinikeinweisung, von der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeitserklärung bis zur Invalidisierung und der Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung etc. 10
Weizsäcker, Viktor von (1953): S. 370.
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Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
Die hier skizzierten, den Menschen kennzeichnenden Merkmale durchdringen und prägen einander wechselseitig konstitutiv. Sie sind nicht festgelegte, konstante Eigenschaften oder Selbsterfahrungen, sie sind vielmehr fluktuierend in der individuellen und sozialen Bedeutung und Aktualisierung. Das gilt in besonderer Weise für die wesentliche Grundbestimmung der Geistigkeit, der (mindestens potenziellen) Vernunftfähigkeit (5). Mit dem Philosophen Reiner Wiehl möchte ich hier drei Formen der Vernunft unterscheiden: die instrumentelle, die kommunikative und die reflektierende, abstrahierende, nicht funktional gebundene spekulative Vernunft. Wenn instrumentelle und kommunikative Vernunft in gewissem Grade auch höheren Wirbeltieren eignet, so bleiben vermutlich die selbst-reflexiven, selbst-referenziellen Grundbestimmungen und die spekulative Vernunftfähigkeit dem Menschen vorbehalten. D. h. er hat leiblich, zeitlich und subjekthaft (mindestens potenziell) ein Verhältnis zu sich selbst und von daher auch – sich selbst transzendierend – zu seinen Neben- und Mitmenschen. »Aufgrund dieser spekulativen bzw. metaphysischen Vernunft ist der Mensch ständig im Begriff, die Grenzen seines Seins in der Welt zu überschreiten. Aufgrund dieser seiner Vernunft hat er die Idee der Ganzheit und Unbedingtheit des je eigenen Seins und des Seins seiner Neben- und Mitmenschen. In dieser Vernunft entspringt die Idee des Menschen als Selbstzweck, als desjenigen Wesens, das Würde besitzt und dessen Selbstachtung Achtung geschuldet wird.« 11
Es ist diese Achtung, verbunden mit dem Schutz möglicher Selbstachtung des Kranken, der die Menschenwürde im ärztlichen Alltag gerecht werden muss. Wir erleben gerade im medizinischen Bereich Situationen und Prozesse, in denen die Selbstachtung des Kranken bedroht ist: Zustände von Verwirrung, des physischen und psychischen Kontrollverlustes, des Verlustes des Schamgefühls und der Diskretion. Hier gilt es für den Arzt wie für die Pflegepersonen, für den Kranken behutsam den Schutz der Selbstachtung zu wahren. Sei es das angemessene Zudecken, die (Hilfe bei der) körperliche(n) Pflege, das verständnisvolle Eingehen auf Absonderlichkeiten des Kranken ggf. unter Einsatz von medizinischen oder organisatorischen Maßnahmen. In dem Maße, wie im Kranksein die Selbstkontrolle, das selbst-schützende Schamgefühl verlorengehen, müssen die Be11
Wiehl, Reiner (2008): S. 376 ff.
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Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
treuenden für den Kranken den Schutz übernehmen. Wie die Menschenwürde so ist auch die Scham (in unserem Kulturkreis) ein wechselseitiges, reziprokes Konstituens des Menschen verletzlich. Die skizzierten anthropologischen Spezifika sind zwar nicht Bedingungen von Menschenwürde, wohl aber können sie durch menschenunwürdiges Verhalten verletzt werden: die Leiblichkeit durch Verdinglichung und Schamlosigkeit, die Zeitlichkeit durch Missachtung der biographischen Identität und des Endlichkeitsbewusstseins, die Subjekthaftigkeit durch Erniedrigung und Zerstörung der Selbstachtung, die Sozialität durch Entfremdung und Isolation, die Vernunftfähigkeit schließlich durch Bevormundung und Entmündigung. Dies sind nur Beispiele der Verletzung spezifischer Kennzeichen des Menschen und darin auch der Verletzung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln »mitten im Leben«.
3.
Menschenwürde angesichts des Sterbens und des Todes
Es ist dieser Zusammenhang, in dem am häufigsten von der Menschenwürde gesprochen, ihre Achtung am häufigsten als Richtschnur angemahnt wird. Die Hilfe für ein menschenwürdiges Sterben solle die Maxime des ärztlichen Handelns wie auch des gesellschaftlichen, des soziokulturellen Umgangs mit Schwerkranken und Sterbenden sein. Nicht von ungefähr nennt sich eine Sterbehilfeorganisation »Dignitas«. Wie aber kann die Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln, im medizinischen Alltag gestaltet werden? Von ihren möglichen Verletzungen her ist wohl eher zu sagen, was in den äußeren Bedingungen und Umständen erfüllt sein muss, um ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen. Ist es aber damit getan, dass Sterbende in Pflegeheimen oder Krankenhäusern nicht isoliert, vielmehr in angemessener Umgebung, sei es im Einzel- oder Zweibettzimmer untergebracht, gut gepflegt und mit der bestmöglichen medizinischen und pflegerischen Versorgung behandelt werden? Sicher nicht! Was Sterbende, wohl die meisten von ihnen, brauchen, ist persönliche Zuwendung, jedoch bedarf es der Sensibilität, ob, wann, von wem, wie Zuwendung gewünscht wird: ob als schweigende Anwesenheit, als Gespräch, als besondere Musik oder andere Rituale. Nicht nur äußere Begleitbedingungen sollen menschenwürdiges Sterben ermöglichen. 203 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
Wo eine antizipierende Willensäußerung, eine Patientenverfügung der kranken, der sterbenden Person nicht vorliegt, bleiben der vom Arzt zu eruierende mutmaßliche Wille oder das Votum eines vom Kranken (noch bei klarem Bewusstsein rechtskräftig) Bevollmächtigten oder eines vom Vormundschaftsgericht bestellten Rechtsbevollmächtigten als Ansprechpartner. Das alles trifft aber noch nicht den Kern der Menschenwürde als Maxime ärztlichen Handelns am Lebensende. Wurde vorausgehend von der instrumentellen, der kommunikativen und der moralischen Vernunftfähigkeit gesprochen, so ist gerade angesichts des Todes auch die Dimension der spekulativen, der metaphysischen Vernunftfähigkeit in den Blick zu nehmen. Reiner Wiehl spricht in diesem Zusammenhang vom Transzendenzverhalten des Menschen, das seine Würde auszeichne. 12 Versteht man Vernunft von ihrem Wortsinn her als Befähigung, etwas zu vernehmen, so wird über die mehrheitlich konnotierte aktiv-kognitive Fähigkeit hinaus etwas von der passiven, der empfangenden Dimension der Vernunft deutlich: empfangend aus der den Menschen umfangenden, umgreifenden Wirklichkeit. Zu ihr gehört die menschliche Umgebung, der soziokulturelle Raum gemeinsamer Wertungen, für den Einzelnen auch der über den empirischen Horizont hinausgehende Raum religiöser, glaubender und hoffender Erfahrung. Diese Dimension menschlicher Vernunft i. w. S. mag verborgen, ja vielleicht im gesunden Leben sogar bewusst verweigert worden sein. Sie mag vielleicht erst im seelsorgerlichen Gespräch als Orientierung des Kranken auf den Tod hin in glaubender Hoffnung und Erwartung auf ein Leben nach dem physischen Tod deutlich werden. Die potenzielle (nicht unbedingt aktualisierte) konstitutive Richtung des Menschen über sich und seine empirische Umwelt hinaus – solches Transzendenzverhältnis bestimmt seine Würde, die es zu achten gilt. 13 Sie gehört zu deren Kern. Sie zeichnet als unhintergehbare Konstitution den Menschen aus. Darin sind wir als Ärzte wie als Mitmenschen dem Sterbenden solidarisch. Das gilt es auch zu bedenken in den Aktivitäten der Intensivmedizin: in der Entscheidung für oder
Wiehl, Reiner (2008): S. 387. Reiner Wiehls Begriff »Transzendenzverhalten« lässt m. E. zu sehr ein aktives Verhalten assoziieren; er impliziert die Möglichkeit willentlichen Verhaltens. Im »Verhältnis« ist mehr eine Grundverfasstheit, eine konstitutive Relation gedacht, in die der Mensch gestellt ist.
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Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln
gegen lebensverlängernde Maßnahmen. Diese einschließlich der Wiederbelebung bedürfen wie Sterbehilfe der strengen medizinischen Begründung – beide aber gleichermaßen vor dem Hintergrund der Menschenwürde. Im Hinblick auf eine auch für ärztliches Handeln relevante Kennzeichnung der Menschenwürde möchte ich sie verstehen als Ebenbildlichkeit mit dem menschlichen Gegenüber, das zu achten das eigene Menschsein gebietet. Sie ist ihm unverbrüchlich eigen auch in der Hilflosigkeit, der Not von Leiden und Sterben, in denen wir einander solidarisch sind. Diese Kennzeichnung ist offen für das Bewusstsein eigener Sterblichkeit wie für ein durchaus unterschiedliches religiöses Selbstverständnis. Sie bindet den (vielleicht vorausverfügenden) Kranken oder Gesunden wie den möglicherweise behandelnden Arzt und die Gemeinschaft in die Solidarität gegenseitiger Achtung. Sie kommt allen Menschen aufgrund ihres Menschseins zu. Sie toleriert keine fremdzweckhafte Verfügbarkeit und macht den Menschen unabhängig von willkürlicher (persönlicher oder sozialer oder politischer) Würdezuschreibung. Menschenwürde impliziert konstitutiv einen unzerstörbaren Wert des Einzelnen und begründet gleichzeitig einen normativen, einen Sollensanspruch an den Mitmenschen: die Würde des Anderen zu achten unabhängig von dessen Befähigung zu Sittlichkeit oder autonomer Selbstbestimmung, unabhängig auch von der aktuellen Entscheidungsfähigkeit oder von kognitiven, emotionalen oder sozialen Leistungen oder besonderen Eigenschaften. Das Stichwort »Sterbehilfe« eröffnet das weite Feld der aktuellen Diskussion um Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht. Damit ist eines der meist gebrauchten Argumente für die Forderung nach Legalisierung aktiver Sterbehilfe genannt. Der aufgeklärte, sich autonom denkende Mensch könne über sein Leben frei verfügen, er habe dazu qua autonomes Subjekt ein juristisch zu schützendes (Grund-) Recht, auch ein Verfügungsrecht über sein Sterben wie über sein Leben. Wir müssen hier einen Schritt in die Begründung, nicht die argumentative, sondern die konstitutive Begründung der Selbstbestimmung tun. Selbstbestimmungsfähigkeit kann eingeschränkt sein und vollständig verlorengehen. Sie geht gerade bei schweren Erkrankungen und im Sterben verloren. Nicht aber geht mit ihr auch die nicht an kognitive oder emotionale Fähigkeiten oder Eigenschaften ge205 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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bundene Personwürde oder das Subjektsein, die fundierende Autonomie der Selbstzweckhaftigkeit verloren. Sie zu achten und zu schützen, ist verantwortliche Teilhabe an der Mitmenschlichkeit (diese ist hier nicht karitativ, sondern konstitutiv-anthropologisch gemeint) in Gegenseitigkeit mit unserem Mitmenschen. Indem die Autonomie des Einzelnen ihre Grenzen an der Autonomie des Anderen erfährt, kommt darin ein Gegenseitigkeitsverhältnis zum Vorschein. 14 Die fundamentale Unverfügbarkeit des Gegenübers heißt nicht, dass der Andere um einer Hilfe willen nicht in Verantwortung und Verpflichtung genommen werden könnte – aber nur, soweit seine Autonomie damit nicht verletzt wird. Instrumentalisierung des Mitmenschen, hier die des Arztes zu Selbstzwecken – und sei es der der Befreiung von schwerem unerträglichen Leiden – verletzt die personale Autonomie. Die Menschenwürde wird oft mit dem Pathos absoluter Gültigkeit als Argument gegen aktive Sterbehilfe angeführt. Sie dulde weder Fremd- noch Selbstverfügung des Menschen über das Leben. 15 Die Unbedingtheit der Würde entziehe den Menschen jeder Verfügungsvollmacht; es liege in seiner Natur, dass der Mensch als sittliches Subjekt sich nicht selbst oder durch Andere das Fundament seiner Würde, seine Existenz, zerstören, auch nicht zerstören lassen dürfe. »Um seiner Selbstbestimmung willen [dürfe] ein Mensch die [existentielle; K. G.] Bedingung seiner Selbstbestimmung nicht zerstören.« 16 Die unantastbare, für jeden Menschen – unabhängig von individuellen, sozialen, ökonomischen Eigenschaften oder Bedingungen, von Rasse oder Nation – gültige Menschenwürde ist das Fundament dieser Argumentation. Mit gleichem Nachdruck wird ebenfalls unter Berufung auf die Menschenwürde und ihre Manifestation in der Autonomie die Freiheit zur Selbstbestimmung gefordert, die dem Menschen das moralische Recht der Verfügung über sein Leben und sein Sterben gebe. So sei auch die Freiheit zur Selbsttötung höchste Verwirklichung selbstverantwortlicher Existenz. Weder habe der Mensch die Pflicht, ein Leben in unerträglichem, inkurablem Leiden zu ertragen, noch das Recht, seine Mitmenschen physisch und psychisch, sozial und moralisch zu belasten. 14 15 16
Vgl. hierzu Beckmann, Jan P. (1998). Böhr, Chr. (2004). Ebd., S. 26.
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Angesichts dieser beiden diametralen Positionen stellt sich die Frage, wie sich Menschenwürde, Autonomie und Selbstbestimmung handlungsrelevant miteinander vereinbaren lassen. Obwohl kategorial unterschieden, werden Autonomie und Selbstbestimmung in der öffentlichen Diskussion häufig synonym gebraucht. Der »autonome Mensch«, der »mündige Patient« könne und dürfe selbst über seinen Körper, auch über sein Sterben und seinen Tod entscheiden. Hier zeigt sich die Dialektik solcher Selbstverfügung. Ist doch der Kranke, der Sterbende – wenngleich in seinem Menschsein auch dann noch autonomes Subjekt – meist nicht mehr selbstbestimmungsfähig. Schon als bewusstseinsklarer, entscheidungsfähiger Mensch ist er unfrei, er entscheidet ja in existenzieller Not, er ist abhängig von dem behandelnden Arzt, eingefügt in den Funktionsapparat einer Klinik und in die Mentalität sowie die Organisationsabläufe einer naturwissenschaftlich ausgerichteten und institutionalisierten Medizin, deren Segen er auch genießt – neben den Lasten und Begrenzungen, die diese Medizin ihm menschlich auferlegt. Menschenwürde prägt neben der mitmenschlichen Ebenbildlichkeit auch unsere moralische Vernunftfähigkeit, die unsere gegenseitige Achtung und Verantwortung einschließt. Diese kann sich in der Verantwortung und in der Rücksichtnahme den engsten Mitmenschen und der Gemeinschaft gegenüber realisieren. In solcher Verantwortung kann auch (z. B.) der zur postmortalen Organspende bereite Mensch, der Lebendorganspender oder der Inuit um eines Anderen willen die eigene Existenz zur Disposition stellen. Selbstbestimmung kann jedoch den Menschen nicht zu beliebiger, solipsistischer Selbstverfügung um isolierter Eigeninteressen willen ermächtigen. Die christlich-abendländische wie die nach-aufklärerisch geprägte Werte-Tradition aufnehmend und unsere wachsende multikulturelle Gesellschaft mit den so unterschiedlichen Wertorientierungen berücksichtigend, soll hier die Menschenwürde als Ebenbildlichkeit denkbarer und gedachter Humanität im Sinne anthropologischer Konstitution, als Mitmenschlichkeit und potenzielle Vernunftbegabung verstanden werden. Diese Kennzeichnung lässt die Möglichkeit auch des Bewusstseins eigener Sterblichkeit und des (durchaus unterschiedlichen) religiösen Selbstverständnisses offen. Und sie bindet den vorausverfügenden Kranken oder Gesunden wie den möglicherweise behandelnden Arzt wie die Gemeinschaft (von Angehörigen, Freunden, Behandelnden) in die Solidarität gegenseitiger Achtung 207 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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ein. Damit gewinnt Menschenwürde ihre Handlungsrelevanz auch in der Extremsituation der Intensivmedizin wie in der Achtung einer Entscheidung zum Behandlungsverzicht und einem Sterben in Frieden. Sieht man die Vernunftfähigkeit einschließlich der religiösen Transzendenzbeziehung als die stärkere Verpflichtung für die eigene Existenz, so wird die Selbstbestimmung sich schwerlich in der freien Verfügung über das unveräußerliche, geschöpflich geschenkte Leben äußern können. Wie es empfangen wird, so wird es auch als unveräußerliches Gut bis an sein ertragenes Ende gelebt. Beide Positionen können sich m. E. auf das Menschenwürdekonzept und die moralische und Vernunftfähigkeit berufen. Auch verlassen sie beide nicht eo ipso den unhintergehbaren Existenzverhalt der Sozialität, in die der Mensch eingebunden ist. Wie die Autonomie des Einzelnen ihre Grenzen an der Autonomie des Anderen erfährt, so erfährt auch die moralisch und grundrechtlich geschützte Selbstbestimmung ihre Grenzen an der Gemeinschaft. Die Frage, ob vor dem Hintergrund der Menschenwürde und der Heiligkeit des Lebens ärztliche Sterbehilfe ethisch zu rechtfertigen sei, möchte ich hier mit vier immer wieder neu zu überprüfenden und zu vertiefenden Thesen beantworten: 1. Stets unter der Voraussetzung des (ausdrücklichen, direkten oder durch einen vertrauten Vertreter vermittelten) Einverständnisses, der Zustimmung oder des plausibel belegbaren mutmaßlichen Willens des Kranken ist Therapie-Begrenzung (Therapie-Abbruch oder -Verzicht) als Form der passiven Sterbehilfe juristisch und moralisch zulässig sowie geboten – auch da, wo medizinische Chancen einer Umkehrung einer »Krankheit zum Tode« möglich erscheinen. In diesem Sinne sind Patientenverfügungen rechtsverbindlich und moralisch als Willensbekundung einer autonomen Person zu achten. 2. Wo Leidenslinderung medizinisch möglich ist, muss sie im Sinne des Kranken und mit dessen Einverständnis versucht werden – selbst mit dem Risiko der Beschleunigung eines Sterbeprozesses, d. h. der Sterbensverkürzung statt medizinisch(-technischer) Lebensverlängerung (sog. indirekte Sterbehilfe), deren Absicht nicht die Tötung ist. Zu den medizinischen Möglichkeiten der Leidenslinderung ist auch die terminale Sedierung zu bedenken, die dem Leidenden ein schmerzfreies, ruhiges Sterben gewähren kann. 3. Aktive Sterbehilfe, d. h. die absichtliche, vorsätzliche Tötung eines Menschen – gar ohne dessen ausdrücklichen Willen – kann und 208 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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darf nicht zur ärztlichen Berufspflicht erklärt und unter keinen Umständen legalisiert werden, auch nicht die ärztliche Suizidassistenz. Sie sind nicht SterbeHILFE. Auch darf nicht irgendeine (andere) Berufsgruppe zu solchem Handeln verpflichtet werden. Das könnte zu einem fundamentalen Bruch des Vertrauens des Kranken und der Gesellschaft, zu einer Krise in der Arzt-Patient-Beziehung und des Selbstverständnisses des Arztes führen, ja führen müssen. 4. Wo unter Ausschöpfung bestmöglicher medizinischer inkl. palliativmedizinischer und seelsorgerlicher Betreuung das Leiden nicht zu lindern ist, kann im Einverständnis mit dem Kranken (und nur mit seinem Einverständnis!) ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung (die Tatherrschaft liegt hier beim Sterbewilligen!) gerechtfertigt sein. 17 Es kann in solchem Leiden keine Pflicht zu leben begründet werden, m. E. auch nicht mit dem Hinweis auf die Menschenwürde, die es dem Menschen verbiete, sein Leben willentlich zu beenden oder durch eine andere Person beenden zu lassen. Obwohl nicht legal, so verbietet doch der inhärente, nicht aufhebbare Wertekonflikt m. E. eine strafrechtliche Verfolgung dieser angesichts der Not des Kranken vollzogenen Formen der Sterbehilfe. Ob schließlich der Arzt glaubt, Tötung auf Verlangen – rechtlich ein Tötungsdelikt, bei dem die Tatherrschaft beim vollziehenden Arzt liegt – ethisch vertreten sowie psychisch, moralisch und juristisch schuldfrei im Einzelfall größtmöglicher Nähe zum Kranken leisten zu können, ist ein Konflikt, den nur er allein aushalten kann. Beides: der in unserer Gesellschaft immer lauter werdende Ruf nach Legalisierung aktiver Sterbehilfe unter Berufung auf die Selbstbestimmung und auf das Recht auf Selbstverfügung über das eigene Leben und Sterben ebenso wie die Dringlichkeit ihres Verbotes im Blick auf die Würde und Geschöpflichkeit des Menschen – beide Positionen müssen ernst genommen werden, auch im gegenseitigen Respekt derer, die sie vertreten. Aus der ärztlichen Erfahrung schweren physischen Leidens ist zu sagen, dass die Not eines Kranken trotz bestmöglicher Beschwerdelinderung und menschlicher Zuwendung so überwältigend sein kann, dass in gemeinsamer Verantwortung ärztliche Suizidassistenz zu rechtfertigen sein kann in der Weise, dass auch ein Arzt – nicht in beruflicher Funktion oder gar mit StandesDie (juristische) Tatherrschaft liegt hier beim Suizidenten, dem Sterbewilligen; der Arzt ist nicht der Verursacher, sondern Helfer. Anders ist es bei der Tötung auf Verlangen, bei der der Arzt der Verursacher des (beabsichtigten) Todes ist.
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auftrag – als Freund dem dringenden Verlangen nach Erlösung nachgibt. Ob er einen solchen in engster Zuneigung vollzogenen Akt mit seinem Gewissen vereinbaren, mit seiner Freundschaft zu dem getöteten Menschen in Einklang bringen kann, kann nur er entscheiden. In dieser Entscheidung und in dem Aushalten des Wertekonflikts kann ihm keine Legalisierung helfen, ihn auch nicht entlasten. Mag ihn vielleicht der übergesetzliche Notstand juristisch entlasten – es bleibt die unaufhebbare moralische Schuld der Suizidassistenz oder die Schuld, den Mitmenschen in seinem Leiden allein zu lassen.
Zusammenfassung Die Achtung der Menschenwürde – hier bewusst im säkularen Bedeutungshorizont, wohl aber offen für ein religiöses Verständnis – wird für das ärztliche Handeln in den drei Phasen menschlichen Lebens – in seiner Entstehung, seiner Blütezeit und seinem Sterben – handlungsrelevant: 1. Im Kontext der Reproduktionsmedizin ist es die reflexive Selbstidentifikation des Arztes mit dem wachsenden Leben vom Embryo bis zur Geburt, die der von ihm erwarteten Achtung seiner eigenen Menschenwürde korrespondiert. Der mit der Menschenwürde nicht gleichzusetzende Lebensschutz kann unter besonderen Bedingungen hochrangiger Bedürfnisse oder anderes Leben bedrohender Situationen untergeordnet werden. 2. Für den Umgang mit dem geborenen, heranwachsenden, erwachsenen Menschen sehe ich in der Achtung der skizzierten anthropologischen Charakteristika im ärztlichen Handeln den Vollzug wechselseitiger Achtung auch der Menschenwürde, die die Selbstachtung des Kranken einschließt. 3. Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln angesichts des Sterbens und des Todes, dieser letzten Äußerung des Lebens im Leibe, heißt in besonderer Weise Achtung der Zeitlichkeit und Endlichkeit wie auch des Transzendenzverhältnisses des Kranken und Sterbenden – sei dieses wechselseitig mitmenschlich oder metaphysisch über das Geheimnis des Todes hinausgerichtet. Ärztliche Sterbehilfe (ob passiv, indirekt und in der Form der einvernehmlichen Tötung auf Verlangen oder des assistierten Suizids vollzogen) ist auch vor dem Hintergrund der Menschenwürde und der mit ihr nicht identischen Autonomie und Selbstbestimmung denkbar; der inhären210 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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te Wertekonflikt der Schuld von Tun oder Unterlassen gegenüber dem Sterbenden ist jedoch unaufhebbar – es sei denn durch die Gnade der Vergebung.
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Palliativmedizin – ein neues Paradigma der Medizin
Die eingangs knapp skizzierte Entwicklung der Medizin zu einer technologischen Hochleistungsdisziplin hat in den letzten ca. 30 Jahren mehr und mehr ein Bedenken hervorgerufen, ob die Medizin in Diagnostik und Therapie »alles darf, was sie kann« – Bedenken sowohl auf Seiten der Ärzte und der medizinischen Mitarbeiter als auch auf Seiten je einzelner Kranker und der Gesellschaft. Besonders in der älteren Bevölkerung mehren sich Zweifel. Solches Bedenken wird zwar einerseits gespeist von der Sorge um die Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens mit der Zunahme z. T. extrem kostenaufwendiger Therapie (z. B. in der Onkologie) wie auch alter Menschen, die in stärkerem Maße umfangreicher Pflege bedürfen. Andererseits kommen Bedenken aus Überlegungen zur selbstbestimmten Therapiebegrenzung: sei es aus Gründen des Lebensüberdrusses, der zunehmenden Isolierung und Vereinsamung, des Verlustes der Selbständigkeit, der sozialen Abhängigkeit oder der religiös motivierten Akzeptanz altersbedingter Einschränkungen oder der Hinnahme des von Gott gegebenen Schicksals. Diese Anlässe, über die persönliche, familiäre oder gesellschaftliche Rechtfertigung aufwendiger medizinischer Hilfe nachzudenken, führen mehr und mehr dazu, gemeinsam mit dem behandelnden Arzt oder der Klinik über einvernehmliche Entscheidungen zum Therapie-Verzicht nachzudenken, besser: zur gemeinsam getroffenen Entscheidung zur Änderung des Therapiezieles von der auf Heilung, auf Überwindung der Krankheit zielenden kurativen Behandlung zur leidenslindernden palliativen Betreuung. Dieser Paradigmenwechsel geht einher mit einem veränderten Verständnis von Krankheit, Kranksein und wie der Kranke damit umgehen kann. Auch ändert sich das Selbstverständnis des Arztes, der die Therapiebegrenzung nicht mehr resignativ, als narzisstische Kränkung, sondern als gemeinsame Lebenshilfestellung für den Kranken erlebt. Insofern geht die Palliativmedizin, mehr noch eine
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Palliativmedizin – ein neues Paradigma der Medizin
konzeptionell und organisatorisch entwickelte Palliativkultur, weit über die Medizin i. e. S. hinaus in die Wertewelt der sozio-kulturellen Gesellschaft. Die Förderung der Palliativkultur sollte die Überlegungen zur Verbesserung der Sterbekultur in unserer Gesellschaft begleiten. Sie sind aufs engste miteinander verknüpft. So möchten auch die beiden folgenden Kapitel im Kontext gelesen werden.
* * * Seit eh und je, seit es ärztliche und pflegende Betreuung kranker Menschen gibt, ist es auch das Ziel, deren Leiden zu lindern, ihre verbleibenden Kräfte i. w. S. zu fördern und sie im Sterbeprozess möglichst auch zu begleiten. Doch ist das, was sich aus dieser vor stärkerem Schaden »beschützenden«, »ummäntelnden« Medizin als Palliativmedizin (PM) zu einer medizinischen Disziplin eigenen Ranges entwickelt hat, kaum mehr als 30 Jahre alt. Mit unterschiedlichen Definitionen und Selbsterklärungen ist es das Anliegen der PM, in terminalen Krankheitsphasen Leiden zu lindern und den Kranken vor stärkerem Leid zu behüten, wenn (einvernehmlich mit dem Kranken oder seinem rechtlichen Vertreter) das Ziel ärztlichen Handelns nicht mehr die Überwindung der Krankheit sein kann. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert (2002) die PM folgendermaßen: »Palliative Care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problem associated with life-threatening illness, through the prevention and relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psychosocial and spiritual.« 1
Entsprechend einer Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften zur »Palliativversorgung in Deutschland« (2015) wird im Folgenden der Begriff der Palliativversorgung (»palliative care«) bevorzugt und als »Oberbegriff für sämtliche Aktivitäten verwendet, die Menschen mit nicht heilbaren, lebensbedrohlichen Erkrankungen gelten« 2 (ibid., S. 11). 1 2
http://www.who.int/cancer/palliative/definition/en/ – Stand 17. Jan. 2019. Leopoldina (2015): S. 11.
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Die European Association for Palliative Care (EAPC) kennzeichnet das Ziel als »ganzheitliche Behandlung von Patienten mit progredienter, weit fortgeschrittener Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung […] Beherrschung von Schmerzen und anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen.« Unter dem doppeldeutigen Akronym SUPPORT wurde vor vielen Jahren von der Palliativabteilung der Universitätsmedizin Göttingen ein Projekt durchgeführt, das sich der ambulanten palliativmedizinischen Versorgung stellte: SUPPORT = Study to Understand Prognosis and Preferences for Outcomes and Risk Treatment, also die kritische Prüfung von möglichen Voraussagen (Prognosen) und Präferenzen, d. h. Wertvorstellungen oder Güterabwägungen medizinischer einschließlich pflegerischer Behandlung in der Beurteilung ihrer sachlichen und moralischen Belastungen oder Risiken. 3 Liest man das Akronym SUPPORT so, dann steckt darin weitgehend das Programm der palliativen Betreuung. Im Prozess der (Entscheidung zur) palliativmedizinischen Betreuung gewinnen Medizin und Pflege sowie die Sinnfrage eine spezifische menschliche, anthropologische Bedeutung. Die »Medizin«, zentriert auf ärztliches Handeln an der Lebensgrenze, verliert hier ihr übliches, für den Kranken funktionserhaltendes Ziel zugunsten der Linderung, Stützung und Begleitung. Dieser junge Zweig der Gesundheitsversorgung, der ambulanten oder klinisch-stationären oder hospizlichen Pflege unheilbar kranker, auf den Tod hin lebender Menschen hat sich inzwischen zu einem Feld physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Betreuung entwickelt, das gesellschaftlich und gesundheitspolitisch akzeptiert und gefördert wird. Sie hat weithin den Nimbus resignativer Medizin angesichts unheilbarer Krankheit verloren und eine Vielfalt medizinisch-ärztlicher, pflegender, psychosozialer und spiritueller Betreuungsmöglichkeiten gewonnen. Trotz der Ausweitung ist – angesichts auch der zunehmend älteren Gesellschaft mit einer wachsenden Zahl von polymorbiden, nicht (mehr) kurativ behandelbaren Kranken – der wachsende Bedarf, die große Diskrepanz zwischen Erforderlichem und Realisierbarem immer deutlicher. Der hohe Bedarf bringt neue Anforderungen an das Gesundheitswesen einschließlich der Ausbildung in Medizin und Pflege, zugleich auch an die Gesellschaft, an das
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Ensink, Franz Bernhard (2001).
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Sozialgefüge, an das sozio-ökonomische System und an das soziokulturelle Umfeld der Krankenversorgung. Es sind gerade die zuletzt genannten Ansprüche der PM, die Berücksichtigung von Gesundheitskosten = die Ökonomisierung und die Verwissenschaftlichung der Medizin in toto und der PM im Besonderen, die ihr eigentliches Anliegen gefährden können. Sind doch die spezifischen Charakteristika gerade nicht verrechenbar bzw. nicht nach streng (natur-)wissenschaftlichen Kriterien von Wiederholbarkeit, Verallgemeinerbarkeit und Beweisbarkeit zu fassen. Dennoch muss auch die PM den Regeln von »good clinical practice« einschließlich ihrer sozio-ökonomischen Rechtfertigung folgen. Der Blick auf die Makroebene sollte nicht den Blick auf die Mikroebene, auf die Einstellung des Einzelnen, des einzelnen Kranken und des einzelnen Betreuenden zum eigenen Älterwerden mit Einschränkungen und Behinderungen sowie auf die eigene letzte Lebensphase verstellen. Es geht auch nicht allein um Medizin i. e. S., sondern um die Entwicklung einer Palliativkultur, d. h. um den individuellen und den gesellschaftlichen Umgang mit unserer Sterblichkeit: wie wir sie erleben und gestalten. Es geht um menschliche Sterbekultur. Man kann hier von einem Paradigmenwechsel in der Medizin i. S. von Thomas S. Kuhn 4 sprechen. Der palliativmedizinisch tätige Arzt sieht sich (1.) nicht mehr unter dem Gebot, in jedem Fall Krankheiten bekämpfen und beheben zu müssen. Auch ist (2.) die institutionalisierte Medizin nicht mehr allein auf Krankheitsheilung und -beseitigung strukturell organisiert. (3.) Schließlich erwarten der Kranke und die Gesellschaft nicht mehr von der Medizin und den in ihr tätigen Ärzten, jede Krankheit und jedes Leiden überwinden zu können. Diese Medizin wird zunehmend in die gesundheitspolitischen Regularien und Programme wie in das Rechts- und Finanzierungssystem des (deutschen) Gesundheitswesens integriert und abgesichert. 5 Für den Arzt bedeutet dieser Paradigmenwechsel, sich von dem (oft narzisstisch kränkend empfundenen) Gefühl der Niederlage und Ohnmacht gegenüber der Natur, das ihn resignieren lässt, zu befreien. Er wird vielmehr zurückgeführt auf seine ureigenste menschliche Kuhn, Thomas S. (1976): S. 57. Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland (Hospiz- und Palliativgesetz – HPG) vom 01. 12. 2015.
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Aufgabe der Hilfe für den Kranken, der Linderung von dessen Leiden. Er wird sich als Begleiter des schwerstkranken und sterbenden Mitmenschen sehen, dem eine überwiegend funktional-medizinische Versorgung angesichts des Lebensendes oft nicht angemessen ist. Das schließt nicht aus, dass er auch medizin-technische Verfahren der Behandlung inkl. Operationen und Bestrahlung (z. B. Entlastungsoperation bei Darmverschluss, PEG-Sonde bzw. Schmerzbestrahlung bei Knochenmetastasen u. a.) palliativ durchführt. Seine Zielsetzung ist jedoch nicht kurativ sondern palliativ. Hier wird deutlich, dass eine scharfe Abgrenzung des methodischen Vorgehens nicht möglich ist – abgesehen von der palliativen statt kurativen Therapiezieländerung. Strittig ist in der terminalen Phase des Krankheitsverlaufes die Flüssigkeitszufuhr: als Substitution eines durch spontanes Trinken allein nicht zu stillenden Durstgefühls (Flüssigkeitsmangel) oder als Therapeutikum (z. B. bei osteolytisch bedingter Hyperkalziämie). In der Sicht vieler Angehöriger der Palliativpatienten ist die Flüssigkeitszufuhr – wie die Kaloriengabe – eine lebenswichtige Maßnahme bis zum Tod, sie vorzuenthalten komme einem willentlichen Sterbenlassen gleich. Hier ist sorgfältig individuell zu entscheiden, auch unter Berücksichtigung vielleicht noch geäußerter Wünsche des zu Betreuenden. Die gemeinsame, partizipative Entscheidungsfindung kann in die Therapiezieländerung münden. Selbstverständlich muss auch die PM Grundlagen- und Versorgungsforschung wie Struktur-, Prozess- und Ergebniskontrollen verfolgen. Eine eher spezifische Aufgabe ist die mit der Zieländerung verbundene »palliative care planning«, das den zu erwartenden Verlauf der terminalen Krankheitsphase mit der Beeinträchtigung der täglichen Lebensaktivität und die Symptome möglichst frühzeitig ins Auge fasst. Dazu gehören auch mit dem fortschreitenden Leiden Gespräche über mögliche Therapie-Begrenzungen oder -Verzicht (Vorausverfügungen wie Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung). In diese Gespräche sind nach Möglichkeit Angehörige oder nahestehende Personen, Pflegekräfte und Seelsorger einzubeziehen. Die Medizin mit ihrem diagnostischen und therapeutischen Methodenarsenal, in ihren personellen und organisatorischen Strukturen und ihrem ökonomischen Aufwand wird sich partiell umstellen müssen. Das betrifft die medizinisch-ärztliche und pflegerische Ausbildung der in diesem Bereich (zukünftig) Tätigen. Es betrifft die personelle und arbeitszeitliche Regelung der Stellenplanungen und 216 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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Dienstzeiten. Es betrifft die enge Kooperation ambulanter und stationärer Versorgung der betroffenen Kranken. Und es betrifft schließlich die finanzielle Ressourcenzuteilung für diese (weniger sach- als mehr) personalaufwendige Aufgabe der institutionalisierten Medizin (ambulante, stationäre und Hospiz-Betreuung). Mit der ideellen Akzeptanz der PM (als einer bewusst und einvernehmlich Verzicht leistenden Medizin) werden sich für den Kranken und für die Gesellschaft die Erwartungen an und das Vertrauen in die behandelnden Ärzte festigen, dass sie um bestmögliche Leidenslinderung, aber nicht um »alles erdenkbar Mögliche«, wozu die hochtechnisierte Medizin in der Lage ist, bemüht sein werden. Dieser Wandel der Medizin bedeutet durchaus einen Paradigmenwechsel. Geht es doch auf den drei angesprochenen Ebenen nicht allein um konzeptionelle, Sach-, Organisations- und Strukturänderungen für eine nach beibehaltenen Richtlinien (Indikation, erfahrungsbasierte Medizin = EbM) vorgehende Medizin, sondern mit diesem äußeren Wandel zugleich um eine Bewusstseinsänderung aller Beteiligten inkl. der Angehörigen, eine Besinnung auf die vordringliche ärztliche, medizinische und pflegende Sorge um den kranken Menschen angesichts des Todes. Es geht auch um ein neues Verständnis von Krankheit, genauer: von Kranksein, das als eine »Weise des Menschseins« 6 gesehen wird. Es geht schließlich um das Bild der Medizin (unter den drei Aspekten bio-psycho-sozialer »Ganzheit«), das sie vom Menschen als einem krankheitsanfälligen, sterblichen Wesen hat, das der mitmenschlichen Zuwendung bedarf. Grundlage der PM i. e. S. ist die einvernehmliche Therapiezieländerung. Diese partizipative Entscheidung ist ein interaktiver, kommunikativer Prozess, der sich über Wochen hinziehen kann. Bei vielen Krebskranken ist ein solches Gespräch über die eines Tages zu treffende Entscheidung oft schon Monate im Voraus möglich. Sie verlangt neben der verständlich vermittelten Aufklärung die beiderseitige Zustimmung zu der (immer auch widerrufbaren) Entscheidung und die Bereitschaft zu deren Umsetzung im Rahmen medizinischer, organisatorischer und gesetzlicher Möglichkeiten. Soweit die medizinischen Handlungsoptionen ins Auge gefasst werden, muss sich PM – wie die kurative Medizin – auf begründbare und vermittelbare Indikationen sowie ggf. auf evidenz-basierte Medizin stützen. Zu der medizinischen Sachbegründung kommt stärker 6
Weizsäcker, Viktor von (1947a): S. 186 (passim; Hervorh. K. G.).
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eine individuelle Wertbegründung hinzu. Das vom Kranken erwartete ärztliche Handeln wird mehr unter dem Aspekt der Sinnhaftigkeit gesehen: Wozu, auf welche Konsequenzen hin wird z. B. eine diagnostische Maßnahme durchgeführt? Wozu ist die Gabe eines Medikaments erforderlich? – wenn keine plausibel begründbaren Aussichten auf Leidenslinderung oder Unterstützung noch vorhandener Fähigkeiten mehr bestehen.
Palliative Grundhaltung Nach dieser kurzen Kennzeichnung der PM soll nun ein zweiter Kreis der Annäherung an den Kern der Sache erfolgen. Sie gilt gleichermaßen – wenngleich mit unterschiedlichen Funktionen, Kompetenzen und juristischen Verpflichtungen – für die ärztlich und die pflegend Betreuenden. Worum geht es in der Palliative Care? (Ich ziehe dieser angloamerikanischen, sich hierzulande ausbreitenden Benennung oder ihrer Übersetzung als Palliativversorgung die Palliativbetreuung vor, spricht sie doch das wesentliche Element der Empathie an.) Es geht um Lindern – Stützen – Begleiten, also um drei sehr aktive Vollzüge menschlich-mitmenschlicher Tätigkeit und keineswegs um ein »wir können nichts mehr für Sie tun!« oder um das Beenden jeder therapeutischen Maßnahme, wie der Entschluss zu palliativer Betreuung (wohl besonders von Ärzten) auch heute noch gelegentlich gesehen wird. Palliative Betreuung entspringt nicht einer Resignation, nicht der Einsicht in die Vergeblichkeit medizinischen Handelns angesichts der Aussichtslosigkeit eines Krankheitsverlaufes. Vielmehr fußt sie auf der gemeinsam getroffenen Entscheidung zu einer Änderung des Handlungs-, vor allem des Therapie-Ziels: von der kurativen Absicht hin zu einer palliativen Zuwendung. Diese Entscheidung bedarf der Begründung, die außer dem medizinischen Sachverhalt und den Möglichkeiten therapeutischer, pflegender und leidenslindernder Maßnahmen die Wertbegründung aufnimmt. Wertbegründung – das heißt hier auch die Achtung, die Beschützung (Palliation) des Kranken als Person in ihrer Unverfügbarkeit, ihrer Autonomie und der darauf gegründeten Selbstbestimmung, ihren Wertvorstellungen eines sinnvollen Lebens. Mag die Selbstbestimmungsfähigkeit eingeschränkt oder völlig aufgehoben sein und vielleicht nur vertretungsweise durch eine dem Kranken 218 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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nahe stehende Person vermittelt werden können, so ist dadurch nicht seine Autonomie zerstört. Jedoch kann die Person in ihrer Würde durch unser medizinisches oder pflegendes Handeln, durch unseren beruflichen und nicht-beruflichen Umgang mit ihr verletzt werden. Wertbegründung – darin geht es auch um Wertvorstellungen des Kranken, die nicht aus der momentanen Situation psychischer Belastung durch die Krankheit, aus der Verzweiflung, der Einsamkeit, der erlebten Aussichtslosigkeit entspringen, sondern aus seiner Wertoder Sinngebung des ihm verbleibenden Lebens unter der Voraussetzung bestmöglicher Leidenslinderung und menschlicher Begleitung. Solche Wertung ist – zwar von der aktuellen Situation einschließlich der Zuwendung, die dem Kranken zuteilwird, abhängig – dennoch auf die Zukunft gerichtet, sie ist eine Form der Hoffnung. Sie zu stützen, ist »palliative care«, beschützende Sorge und Betreuung, sie ist in der palliativen Zukunftsplanung zu berücksichtigen. Palliative Betreuung gilt dem Schutz des Kranken als Person. Sie ist nicht nur persönliche Umsorgung, sondern auch eine personale Haltung wechselseitiger Achtung. Sie gründet in der Beziehung von Verantwortung und Vertrauen. Wertbegründung als tragendes Element palliativer Betreuung ist auch von Ärzten und von Pflegekräften gefordert: die Prüfung des medizinischen und pflegenden Handelns auf seine Sinnhaftigkeit und seine Rechtfertigung. Weder (1.) das medizinische Argument der »Machbarkeit« oder (2.) die stets zu berücksichtigende prognostische Unsicherheit noch (3.) die vermeintliche rechtliche Verpflichtung zu therapeutischem Handeln (die Angst vor dem Rechtsvorwurf unterlassener Hilfeleistung) oder (4.) das Gebot prinzipieller Lebensrettung (»in dubio pro vita!«) sind stichhaltig für die Rechtfertigung des professionellen Handelns in der aktuellen Situation des Kranken. Sie sind vielmehr je aktuell zu hinterfragen – das heißt nicht, dass nicht auch diese Argumente einmal eine anteilige Begründung, i. e. S. medizinisch einzugreifen, sein können. Zu prüfen ist aber stets, ob sich unser Handeln nach der gemeinsam getroffenen Entscheidung zur palliativen Betreuung für den Kranken in der gegebenen Situation wertorientiert rechtfertigen lässt. Palliative Betreuung setzt neben der sachbezogenen und juristischen auch die wertbegründete Rechtfertigung medizinischer und pflegerischer Maßnahmen voraus; d. h. auch gegebenenfalls den gemeinsam getragenen Verzicht und die Zurückhaltung allgemein geltend gemachter Argumente medizinischer Indikation oder evidenz219 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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basierter Behandlungsmöglichkeiten und deren statistisch begründeten Ergebnissen. Im Kontext der Betreuung der Kranken und Sterbenden ist die medizinische, d. h. überwiegend von Ärzten zu treffende und zu tragende Entscheidung eine wesentliche Ebene. Zwar können Maßnahmen, die medizinisch-sachlich (i. S. der »Schulmedizin«) nicht zu begründen sind (z. B. besondere Therapieformen), hier doch sinnvoll sein. Das gilt für medizinische wie für Pflegemaßnahmen. Für den Arzt kommen zusätzliche Argumente ins Spiel. Sie decken sich großenteils mit denen der Pflegekräfte und bestimmen deren Grundhaltung mit: die nicht zu unterlassende Hilfeleistung, die Achtung der vier (von der amerikanischen in die deutschsprachige Medizinethik-Diskussion übernommenen) »Prinzipien mittlerer Reichweite«: die »Autonomie« des Kranken zu achten, das Prinzip, nicht zu schaden, wohlzutun und den Kranken gerecht zu behandeln. 7 Diese vier auf den ersten Blick einleuchtenden Grundsätze sind Orientierungsmöglichkeiten, sind Begründungsargumente für unser Handeln. Sie kennzeichnen aber auch eine Grundhaltung dem Kranken gegenüber. Sie sind nicht allein für das ärztliche Handeln, sondern ebenso für die Pflege gültige Maßstäbe – freilich mit der gleichen Begründungsverpflichtung wie für die Ärzte. Sie bedürfen in der konkreten Situation der Prüfung, wie sie dem Einzelnen angemessen zu gestalten sind. Das Prinzip der Autonomie und die Achtung der Selbstbestimmung des Kranken erfahren ihre Grenzen an der Autonomie der Handelnden, sei es der Arzt oder die Pflegekraft. 8 Auch sie sind – wie der Kranke – nicht verfügbar (z. B. für die Indienstnahme zum Zwecke der Lebensbeendigung), auch sie müssen als Personen geachtet werden. Autonomie ist als nicht hintergehbare Verfasstheit des Menschen auch ein soziales Prinzip: ein reziprokes Verhältnis von Achtungs- und Sollensanspruch des Einzelnen gegenüber seinem Mitmenschen – unabhängig von der aktuellen Äußerungsfähigkeit oder -möglichkeit des Kranken oder des Sterbenden. Hier ist Behutsamkeit, ein hohes Maß an Sensibilität für nonverbale und den Ton verbaler Mitteilung bestimmende Nuancen und Gesten im Verhalten erforderlich. Es ist eine Phase erhöhter Vulnerabilität des Menschen an der Lebensgrenze, die besonderen Respekt verlangt. 7 8
Beauchamp, Tom L. & Childress, James F. (11979, 62009, 72012). Zu Autonomie und Selbstbestimmung s. S. 148–159 im vorliegenden Buch.
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Der Grundsatz 9 des Nicht-Schadens, das traditionelle »nil [oder: non] nocere«, ist nur in Abwägung mit dem des überwiegenden Nutzens gültig. Sind doch in der modernen Medizin viele diagnostische und therapeutische Maßnahmen nicht ohne (und nur zum Teil vorübergehenden) Schaden anzuwenden – wenn auch stets mit der Absicht des vorrangigen Wohls des Kranken. Risiko und Schaden müssen abgewehrt, der mögliche Nutzen und die praktikablen Konsequenzen erwogen werden. Die notwendige Abwägung muss dem Kranken oder seinem (rechtmäßigen) Vertreter in Abstimmung mit dem »informed consent« oder dem mutmaßlichen Willen vermittelt werden (können). Darein gehen auch das Bedenken der Sinnhaftigkeit und der individuell, sozial und sozio-kulturell wertorientierten Vertretbarkeit ein. Mit der Maxime vom Wohl des Kranken als »oberstem Gesetz« (»salus aegroti suprema lex esto!«) ist am deutlichsten das Ziel der PM erfasst: pflegendes und ärztliches Handeln sollen dem bestmöglichen Wohlbefinden des Kranken dienen. Nicht Heilung, sondern Beschwerdelinderung im beiderseitigen Einvernehmen, Unterstützung der physisch und psychisch eingeschränkten Person, Hilfe angesichts des vermeintlichen Persönlichkeitsabbaus, Achtung des ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willens, auch die projektive Selbstidentifikation der betreuenden Person mit dem abhängigen Gegenüber – das alles sind Kennzeichen einer Grundhaltung palliativer Betreuung. Könnte oder dürfte um des Wohles des Kranken willen, der vielleicht gewünschte, ärztlich assistierte Suizid oder die aktive Sterbehilfe, die erbetene und ersehnte Erlösung ein denkbarer, vielleicht legitimierbarer, (als absichtliche Tötungshandlung des Arztes) aber nicht legaler Weg sein? Es gibt doch (wenn auch nur) wenige Kranke, deren Beschwerden selbst durch beste palliative Maßnahmen, vor allem durch intensive Schmerzbehandlung nur unzureichend zu lindern sind, wo dann der Ausweg durch eine Beschleunigung des Sterbens gesucht wird. Leidenslinderung darf nicht Sterbensverlängerung sein. Hier wird deutlich, dass die Befolgung des Handlungsprinzips, dem Leidenden wohl zu tun und seinem Willen zu folgen, nicht ohne weiteres konfliktfrei möglich ist. Ein weiteres ist im Zusammenhang mit dem Wohl, der salus aegroti zu bedenken. Galt über Jahrhunderte hinweg das Heil – Ich vermeide den Begriff nicht-hintergehbarer Prinzipien zugunsten von situativ verhandelbaren Grundsätzen.
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durchaus auch mit der religiösen Konnotation des Wortes – als suprema lex, als höchstes Gebot ärztlichen Handelns, so ist mit der Betonung des rechtsgeschützten Selbstbestimmungsrechtes in den letzten ca. 50 Jahren mehr und mehr der Wille, die voluntas aegroti als (mit-)bestimmend in der Entscheidung, was für den Kranken zu tun sei. Stets ist vor jedem Eingriff in die körperliche Integrität eine Aufklärung gefordert und der »informed consent«, das informierte Einverständnis einzuholen. So selbstverständlich das ist, so ist doch andererseits zu beachten, dass sich Auswüchse entwickeln können: sowohl in der Richtung überzogener Forderungen seitens des Kranken und seiner Angehörigen als auch allzu penibler und dadurch abschreckender Aufklärung seitens des Arztes. Der Grundsatz der Gerechtigkeit meint zuvörderst Verteilungsgerechtigkeit, d. h. dass Kranke in gleicher Weise (formale Gerechtigkeit) bzw. je nach Bedarf und Bedürfnis (materiale Gerechtigkeit) mit gerecht verteilten Ressourcen einschließlich der den Kranken gewidmeten Zeit behandelt werden sollen – ihren Bedürfnissen entsprechend, ungeachtet ihres Versicherungsstatus, ihrer sozialen, kulturellen oder ethnischen Herkunft oder auch möglicher Sympathie. Dazu gehört die abwägende individuell und sozial-ethisch vertretbare Nutzenbewertung der Zielsetzung, des Aufwandes und des zu erwartenden Ergebnisses der getroffenen Maßnahmen. Gerechtigkeit meint auch das gleiche Maß an Zuwendung und Hilfe. Darüber hinaus gilt es, dem Kranken als Individuum und als Person gerecht zu werden, seiner Not und Hilfsbedürftigkeit, seinen vertretbaren, zu rechtfertigenden Erwartungen an die Pflegenden, an die Ärzte und an die Medizin. Diese normativen Grundsätze prägen die Grundhaltung von Fürsorge und Verantwortung in der Spannung zwischen medizinischer und juristischer Pflicht und akzeptierter Patienten-Selbstbestimmung. Das auf den ersten Blick plausible Argument der Fürsorge-Ethik birgt auch Gefahren. Kann sie doch unter dem Deckmantel der Sorge um den (kranken) Menschen den überwunden geglaubten ärztlichen Paternalismus wieder akzeptabel machen, der qua ärztlichem Beruf oder Berufung für den Kranken weiß, was zu tun und zu unterlassen ist; als könne und müsse der Arzt/die Ärztin dem Kranken Entscheidungen abnehmen, ihn – dem ärztlichen Behandlungsprivileg oder therapeutischen Imperativ folgend – bewegen, den medizinischen Anweisungen Folge zu leisten. Solange der Kranke selbst entscheiden kann, ist er darin zu fördern. Deshalb ist ein 222 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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möglichst früher Einstieg in die kooperative Entscheidungsfindung für medizinische Maßnahmen wichtig. Der Arzt sollte sich aber bewusst sein, dass er allenfalls auf der medizinischen Sachebene weiß, was zu tun und zu lassen ist. Auch ist die juristisch gestützte Behandlungspflicht vor der kranken Person zu rechtfertigen. Beide – die empathisch konnotierte Fürsorge und die gebietende Behandlungspflicht – sind aufgehoben in der personalen und persönlichen Achtung des leidenden Menschen. In der palliativen Betreuung ergänzen sich pflegerische und ärztliche Handlungsbegründungen und ihre Orientierung an den genannten Prinzipien mittlerer Reichweite, die es für den einzelnen Kranken abzuwägen gilt. Ärztliches und pflegendes Handeln müssen argumentativ, d. h. auch (ggf.) kommunikativ begründbar sein – auf der Sach- und der Wertebene, also auch ethisch begründbar. Nun ist mit der Grundhaltung mehr und anderes angesprochen als die ethisch argumentative Begründung des Handelns. Haltung, Grundhaltung ist mehr als rationale Überzeugung, mehr auch als bloßes Pflichtgefühl oder Disziplin. Sie meint die den ganzen Menschen in seinem Handeln prägende Einstellung, seine praktizierte, gelebte Wertüberzeugung und Zuwendung zu dem auf ihn angewiesenen Mitmenschen, hier: zu dem Kranken an der Lebensgrenze. Grundhaltung meint auch eine existenzielle Bereitschaft, für Grundwerte menschlicher und mitmenschlicher Existenz einzustehen. Ein solcher Grundwert ist die Achtung der Person des Gegenübers. Ein anderer ist die Anerkennung, der Respekt vor der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit des Lebens – mag sie auch vorübergehend, vielleicht sogar bleibend durch physisches Leiden belastet, durch Depression verdunkelt oder zerrissen sein in Verzweiflung, Angst oder psychischer Zerrüttung. Selbst wenn ein Kranker die Sinnhaftigkeit nicht mehr für sich sehen kann, gehört sie dennoch als Aufgabe, als zu vermittelnde und zu ermöglichende Sinnhaftigkeit zur Grundhaltung der Betreuenden in der palliativen Fürsorge. Darin zeigt sich die für die Betreuenden und den Betreuten geltende Gegenseitigkeit, in der die Grundwerte gelebt werden. Der Begriff der Sinnhaftigkeit – zumal im Kontext von Kranksein und Sterben – bedarf der genaueren Betrachtung. Geht es um die Sinnhaftigkeit des Lebens individuell oder generell, um die Sinnhaftigkeit des Leidens und Sterbens? Geht es um die Sicht der Betreuenden oder des Kranken? Ist sein Leben (noch) sinnvoll? Diesen Fragen
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nachzukommen, gehört zu den schwierigen Aufgaben und zugleich zu den Grundfesten palliativmedizinischer Krankenbetreuung. Angesichts eines schweren, unheilbaren Leidens ist sehr oft die Antwort: nein! Ein solches Leben könne nicht (mehr) sinnvoll sein. Wer aber kann das beurteilen? Doch allenfalls der Kranke selber: ob er der ihm verbleibenden Spanne noch einen Sinn zumisst; ob er vielleicht einer ihm nahestehenden Person noch etwas mitteilen will, vielleicht nur noch in der Berührung, von ihm mitgeteilt bekommen möchte; ob er in sich Frieden finden will; ob er sich in das Ende seines Lebens fallen lassen will. Wir gehen von der zwischenmenschlichen, der interpersonalen Beziehung der Betreuenden zu den Betreuten aus, in der zunächst noch eine klare verbale Kommunikation möglich ist. Hier wird die Sinnfrage – sofern überhaupt explizit oder implizit berührt – vielleicht noch auf das Warum und Wozu der Krankheit und des Leidens zielen. Sie wird vorwiegend den Kranken im Auge haben, wenngleich beide, Arzt und Kranker, die Adressaten der Frage sind. Der Arzt könnte vielleicht kausal begründend antworten mit dem Verweis auf disponierendes Verhalten oder Faktoren, die die Krankheit begünstigt oder ausgelöst haben. Solcher Rückblick kann allenfalls somatischbiographische, medizinisch-sachliche Erklärungen geben; ein SinnVerstehen vermittelt er nicht. Und die Wozu-Frage bleibt ihm gänzlich verschlossen – wenn sie nicht als Appell an eine gesundheitsbewusste Lebensführung gerichtet ist. Der Kranke fragt sich möglicherweise nach biographisch oder habituell schädigenden Verhaltensfaktoren. Offen bleibt die Frage, ob solche Selbstattribution hinreichend ist und mit ihr das Warum und das Wozu sinngebend deutlich werden. Für beide Personen, den Arzt wie den Kranken, bleiben allermeist im naturwissenschaftlichmedizinischen Horizont i. e. S. verbleibende Antworten vordergründig, vage und unvollständig. Mag auch die psycho-biographische Dimension einer Deutung näher kommen, auch sie wird aber die in der existenziellen Frage gemeinte Rechtfertigung von Leiden in der Welt und Leiden für den Einzelnen nicht gültig beantworten können. So bleibt die Sinnfrage von Krankheit und Leiden offen. Der Leidende wird im Blick auf sein Ende nicht auf rationale Sacherklärungen warten, sich auch nicht mit entsprechenden Vermutungen abfinden. Vielmehr bedrängen ihn Fragen und gar Ängste vor dem Ungewissen des Sterbens und des Danach. In dieser letzten Lebensphase bleibt für die Sinnfrage vielleicht 224 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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nur noch die persönliche Beziehung, die Sinn stiftende Berührung. Die Hand des Kranken ergreifend, sein Gesicht fühlend, berührt der Betreuende nicht nur die Hand, das Gesicht, sondern die Person in ihrem Leib, den ganzen Menschen des Gegenübers. Die als gegenseitige wahrgenommene Berührung entspringt hier der emotionalen Nähe, Zuwendung und – vielleicht im Blick auf die eigene Bestimmung zum Tode – auch projektiver Selbstidentifikation. Ist doch der Sinn solcher Handlung und Haltung nicht allein für die kranke, sterbende Person gedacht. Sinn ist hier praktizierte wechselseitige Beziehung, Sinnfluidum. 10 Sehr eindringlich beschreibt der Philosoph Hartwig Wiedebach die abschiedliche Situation des Sterbebegleiters, der die Hand des Sterbenden hält bis über den letzten Atemzug, die letzten Lebenszeichen hinweg in das endgültige Loslassen, in dem erst die unmittelbare Gegenseitigkeit des Sterbens ihren Abschluss findet. 11 Ein weiterer Grundwert ist die Mitmenschlichkeit – diese nicht (mindestens nicht allein) im Sinne eines karitativen Mitleids (»seid menschlich zueinander!«) sondern verstanden als unsere menschliche, anthropologische Konstitution, in Gemeinschaft zu leben, eine – wie die Würde – nicht hintergehbare Grundverfasstheit des Menschen: das emotionale und rationale Miteinander und Zueinander von Menschen, wie es sich äußert in Mimik, Gestik, Sprache, Kommunikation und Kooperation – auch mit der Möglichkeit des gemeinsamen Bezugs auf Grundwerte. Solidarität und Gegenseitigkeit kennzeichnen diese Grundhaltung. Solche Gegenseitigkeit lässt auch die zur Hilfeleistung befähigten Personen den Kranken in seiner Hilfsbedürftigkeit wahrnehmen, die zur Hilfeleistung auffordert; wie Wilhelm Kamlah es formuliert: »Beachte, dass die Anderen bedürftige Menschen sind wie Du selbst und handle demgemäß!« 12 Zur Grundhaltung gehört auch die Wahrhaftigkeit im Umgang mit dem Kranken, die Offenheit für ausdrückliche oder verdeckt geäußerte Fragen zum Krankheitsverlauf und zur Prognose – Prognose nicht nur im medizinischen Sinne einer auf Daten gestützten Voraussage bezüglich der Dauer, sondern auch i. S. der auf ärztliche und menschliche Erfahrung gestützten Erwartung des Leidens, der Le-
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Rombach, Heinrich (1998): S. 39. Wiedebach, Hartwig (2014): S. 40. Kamlah, Wilhelm (1972): S. 95.
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bensqualität mehr als der Lebensquantität. 13 Offenheit heißt hier, aufmerksam zu sein für Fragen, für Signale, die auf Seiten des Kranken vielleicht zu schweigen gebieten oder zu reden; offen zu sein, heißt auch ehrlich zu sein in dem, was wir dem Kranken sagen. Wir müssen wissen, was wir sagen, aber nicht alles sagen, was wir wissen. Es gibt zudem das Recht, den Schutz, die Barmherzigkeit des Nichtwissens. Darin soll aber der Kranke das Maß sein, nicht der Arzt und nicht die Pflegekraft. Wie das praktische Handeln, so haben auch das Reden, das Zuhören, das Schweigen ihre Zeit. Selbst das Schweigen ist aktiv, Öffnung für den Anderen. Es kann auch die dem Sterben und dem Geheimnis des Todes gegenüber angemessene Haltung sein. Im Hinblick auf das Leben angesichts des Todes gehört auch die Haltung, die grundsätzliche Begrenztheit unseres Lebens anzunehmen – die biologische, individuell-persönliche, soziale und die religiöse Begrenzung unserer Zeit, unserer Existenz. Diese Unsicherheit, die konstitutive Unberechenbarkeit, die uns Menschen in besonderer Weise auszeichnet, heißt es im wechselseitigen Umgang miteinander auszuhalten – auszeichnend, indem wir zu ihr wohl als einzige Lebewesen ein Verhältnis haben – mindestens haben können. Wir wissen um diese Anfälligkeit und Unbestimmtheit unseres Lebens, um die brutale Vergänglichkeit und die Zerstörung, den Verfall des Leibes. Aber: auch dieses Sterben gehört zum menschlichen Leben hinzu.
Aufgaben der PM Ist die einvernehmliche Entscheidung zur Änderung des kurativen zum palliativen Behandlungsziel getroffen, so heißt das nicht, dass die medizinische Behandlung zu Ende gekommen wäre. Vielmehr konzentriert sich diese auf die Kontrolle der Beschwerden, vor allem
Siehe dazu Atul Gawande (2014). Der US-amerikanische Arzt, Chirurg, beschreibt in dieser Phänomenologie, Psychologie und Soziologie des Alterns und des Lebens mit terminalen Zuständen nicht mehr kurativ behandelbarer Kranker sehr eindringlich die häufigen Spannungen zwischen den offen besprochenen Wünschen und Hoffnungen der Kranken und den medizinischen Möglichkeiten. Die im Vergleich zu Erfahrungen in Deutschland viel ausdrücklichere Beachtung, die längeren Gespräche und das Bemühen um die Ermöglichung und Erhaltung selbstbestimmten Lebens werden sehr eindrucksvoll und überzeugend als menschliche und mitmenschliche, weniger als eine medizinische Aufgabe geschildert.
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der Schmerzen, ggf. auf die Behebung von Übelkeit und Brechreiz oder auf Unruhe, Schlafstörungen oder andere psychische Störungen. Die Kennzeichen einer palliativen Grundhaltung prägen die Betreuung sterbenskranker Menschen, das Bemühen um Lindern, Stützen und Begleiten. Sie meinen ein sehr konkretes Handeln, das von solcher Grundhaltung getragen wird: • Linderung von Leiden, von Schmerzen, Unbehagen, Übelkeit, Brechreiz, von Hunger und Durst (sofern sie als Leiden empfunden werden!). Die Linderung der psychischen Belastung, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, der Schutz der Scham wegen des möglichen Kontrollverlustes über natürliche Körpervorgänge wie Stöhnen, Weinen, Schreien, Schnarchen, Flatulenz, üble Körpergerüche oder Harn- oder Stuhlinkontinenz. Scham ist in unserem Kulturraum ein gegenseitiges Gefühl von leiblich-seelischer Verletzbarkeit und Schutzbedürftigkeit. Selbst wenn in der Krankheit oder im Alter oft seitens des Patienten dieses Gefühl verloren zu gehen scheint und damit vermeintlich ein Würdeverlust verbunden ist, so ist eingedenk der Gegenseitigkeit und der Verknüpfung von Scham und Würde zu beachten, dass wir dem Kranken und Sterbenden die Achtung seines Schamgefühls und seiner Würde schulden. Dieser Schutz der Scham wegen des sog. Persönlichkeitsverlustes und der vermeintlichen Würdelosigkeit des Sterbens wie auch die Linderung des Leidens an der zunehmenden Vereinsamung gehören mit zu den Aufgaben palliativer Betreuung. • Stützung von Mut und Zuversicht, von Aktivität und Selbständigkeit, die Stützung in seelischer Not angesichts des unabwendbar auf das Lebensende gerichteten Verlaufs der Krankheit, die Ermöglichung von Freude z. B. durch Musik, Bilder oder Literatur (Gedichte!) gemäß dem Wunsch des Kranken. Die Hilfe im Prozess der von Elisabeth Kübler-Ross beschriebenen Phasen der Auseinandersetzung oder Bewältigung und Akzeptanz, sterben zu müssen, ist nicht allein Aufgabe der Krankenseelsorge, sondern auch der pflegerischen und ärztlichen Betreuung. 14 Diese Phasen, die nicht in zeitlicher Reihenfolge regelhaft ablaufen, sondern sich immer wieder anders überlagern oder ablösen können, zu »verstehen«, ihre verbalen und nonverbalen Äußerungen wahrzunehmen, verlangt Sensibilität und Zuwendung. 14
Kübler-Ross, Elisabeth (1969).
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Begleitung in der letzten Lebensphase heißt vor allem, den Kranken nicht in vermeidbarer Einsamkeit allein zu lassen, ihn – soweit er das will – Nähe spüren zu lassen, sei es durch Gespräche oder Berührung. Begleitung kann auch heißen: mit dem Kranken in die Röntgen-Abteilung oder zu anderen Untersuchungen außerhalb der vertrauten Stationsumgebung, in den OP zu gehen, um Angst zu lindern. Begleitung ist Seelsorge auch da, wo scheinbar nur pflegerische Funktionen ausgeführt werden – sofern sie in der Zuwendung aus der Grundhaltung heraus erbracht wird. Sie ist nicht allein Seelsorge i. e. S. des geistlichen Beistandes durch eine spezielle Berufsgruppe. In unserer weitgehend säkularen Welt ist vielleicht konfessionelle Seelsorge dem Kranken gar nicht recht und seiner Verwurzelung und soziokulturellen Zugehörigkeit nicht angemessen. Hier wird eine behutsame, vielleicht sehr zurückhaltende Offenheit dem Kranken besser gerecht als ein Aufdrängen religiöser Bestimmungen. Wachsamkeit und Sensibilität wie auch die Bereitschaft, sich selbst zurückzunehmen, sind gefordert.
Die Palliativmedizin hat es sich auch auf ihre Fahnen geschrieben, menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen. Doch was heißt das? Was ist menschenwürdiges Sterben? Wir wissen wohl, wie unwürdig Menschen auch unter den Bedingungen unseres Gesundheitswesens sterben können: vernachlässigt, in Elend und Not, in Missachtung berechtigter persönlicher Wünsche und Bedürfnisse, von Privatheit und Scham, in Einsamkeit und sozialer Ausgrenzung ohne die Nähe und Zuwendung von Mitmenschen. Zur Würde des Menschen gehört aber seine Mitmenschlichkeit im o. g. Sinne. Sie ist ein konstitutiver, unzerstörbarer Wert des Einzelnen und begründet gleichzeitig einen normativen Sollensanspruch an den Mitmenschen: die Würde des Anderen zu achten unabhängig von dessen aktueller Entscheidungsfähigkeit oder von kognitiven, emotionalen oder sozialen Leistungen, auch unabhängig von der Befähigung zu Sittlichkeit oder autonomer Selbstbestimmung. Menschenwürde ist Grund gegenseitiger Achtung – nicht ein abstraktes Grundrecht i. S. des Grundgesetzes, das zwar missachtet und in höchstem Maße verletzt werden, aber nicht grundsätzlich zerstört werden kann; in diesem Sinne ist sie unantastbar gemäß dem GG § 1. Verletzungen, wie sie durch die Versachlichung und Verdinglichung des abhängigen, hilfsbedürftigen Menschen, durch eine allein fremdnützige Verfügung, durch oktroyierte 228 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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Vereinsamung, Ausgliederung allzu häufig geschehen – im alltäglichen, im nicht-beruflichen Umgang und in der häuslichen oder der stationären Pflege –; derartige Verletzungen der Menschenwürde werden an dem Grundgefühl menschlicher Solidarität und Gegenseitigkeit gemessen. 15 Menschenwürde bleibt der Maßstab für ihre Verletzungen. Auch der Sterbende als das mögliche Gegenüber der emotionalen und solidarischen Grundhaltung, das Gegenüber von Liebe, Verantwortung und Verpflichtung trägt noch das Siegel der Menschenwürde.
Strukturen und Methoden der PM PM ist ganz stark geprägt von interdisziplinärer Teamarbeit von Ärzten, Pflegenden, Sozialarbeitern, Seelsorgern und Spezialtherapeuten. Wie sich die PM zunehmend auf die persönliche Betreuung konzentriert (hat), so sind im Laufe der nunmehr ca. 30 Jahre auch Strukturen gewachsen, in denen solche Zuwendung konzeptionell, organisatorisch, personell und schließlich auch finanziell realisiert werden kann. So haben sich ambulante und stationäre Versorgungsstrukturen entwickelt (»allgemeine ambulante Palliativversorgung«; seit 2007 »spezialisierte ambulante Palliativversorgung« SAPV; eigenständige spezialisierte PM-Stationen). Viele Krankenhäuser und Kliniken haben multiprofessionelle, z. T. einrichtungsübergreifende Palliativdienste. Schließlich sind die ambulant und stationär arbeitenden Hospizeinrichtungen zu nennen als weitere Möglichkeiten der i. w. S. palliativmedizinischen Betreuung therapieresistenter, auf das Sterben hin lebender Menschen. 16 Das setzt auch spezielle Aus- und Weiterbildung voraus – sowohl für Pflegekräfte als auch für Ärzte. Im Vordergrund der i. e. S. medizinischen Aufgaben der PM steht die Symptomkontrolle, vor allem die Schmerztherapie, neben der Sedierung, der antiemetischen und anxiolytischen (gegen Brechreiz gerichtete und angstlösende) Behandlung. 17 Die 2015 heraus-
Bieri, Peter (2013). Leopoldina (2015). – Simon, Steffen T. / Pralong, Anne / Welling, Uta & Voltz, Raymond (2016). 17 Rolke, Roman / Rolke, Sonja, / Hiddemann, Sonja / Mücke, Martin / Cuhls, Henning / Radbruch, Lukas / Elsner, Frank & Peuckmann-Post, Vera (2016). 15 16
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gegebenen S3-Leitlinien für die Palliativmedizin geben konsens- und evidenz-basierte Empfehlungen zur Behandlung der häufigsten Beschwerden dieser Kranken: Atemnot, Schmerz, Obstipation und Depression, darüber hinaus Hinweise zur Kommunikationsführung und zur Betreuung in der Sterbephase. 18 Sollten die Beschwerden nicht befriedigend gelindert werden können, ist auch die palliative Sedierung zu erwägen. 19 Neben den Behandlungsverfahren der konventionellen Medizin werden seit einigen Jahren auch »tier-gestützte Zuwendungen« 20 und Musiktherapie in der PM eingesetzt. 21 Soweit noch möglich, sind kreative Anregungen (malen, töpfern, Blumen pflanzen, Gedichte, Lieder, Literatur etc.) für eine von den Betreuten oft positiv erfahrene Gestaltungsform dieser Lebensphase. Sie gehen auf persönliche Vorlieben und Wünsche ein, sie können den verbleibenden Tagen an der Grenze des Lebens noch Freude und Inhalt, noch Leben geben. Sehr wichtig ist die stärkere Einbeziehung der Angehörigen in die Pflege, in die Leibsorge, in besonderer Weise in die Kommunikation und die Ermittlung von Wünschen und Wertpräferenzen, ggf. auch des mutmaßlichen Willens, wenn keine Vorausverfügungen vorliegen.
Anthropologische und ethische Aspekte der Palliativmedizin Kommen wir zurück zum Anfang: zur PM als bewusst und einvernehmlich mit dem Kranken entschiedene Form ärztlich-medizinischer Betreuung, zurück zu ihrem Grund, ja zu ihrem Proprium, dann stellt sich die Frage nach ihrer ethischen und anthropologischen Rechtfertigung. Fragen wir zuerst nach der anthropologischen Begründung. PM gründet auf der i. e. S. medizinischen Beurteilung der Vergeblichkeit kurativer Behandlung einer Krankheit. Dahinter steht aber auch die Einsicht in die für den Menschen geltende konstitutive Unsicherheit und Anfälligkeit seiner (biologischen) Existenz für Krankheit und
Simon, Steffen T. / Pralong, Anne / Welling, Uta & Voltz, Raymond (2016). Simon, Alfred / Kar, Magdalene / Hinz, José & Beck, Dietmar (2007). 20 Gottschling, Sven / Tews, Cora / Niewald, Marcus / Schneider, Claudia & Gronwald, Benjamin (2014). 21 Warth, Marco / Keßler, Jens / Hillecke, Thomas / Bardenheuer, Huber J. (2015). 18 19
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Altern mit dem Ausgang in Sterben und Tod. Diese unausweichliche Gegebenheit ist zwar, soweit sie behandelbare, zu lindernde Krankheit und Leiden betrifft, zu erleichtern. So gesehen ist die Medizin mit ihrer Institutionalisierung ein Modus der partiellen Kontingenzbewältigung. Die fundamental sterbliche Existenz ist aber damit nicht zu überwinden. Anders jedoch als andere Lebewesen hat der Mensch – in besonderer, konkreter Weise der kranke Mensch – ein Verhältnis zu dieser seiner Sterblichkeit: sei es die schlichte Überzeugung, dass er wie alle Menschen, ja wie alle Lebewesen sterben muss und damit alles, was ihn betrifft, zu Ende ist, oder der Glaube, dass seine biologische Konstitution wohl vergänglich, seine Seele oder ein immaterielles Etwas in ihm aber den materiellen Tod überlebt. In beiden Weisen seiner Vorstellung des eigenen Todes setzt er sich in eine Beziehung: ein Verhältnis zur Transzendenz oder zum Nicht-mehrSein über den Tod hinaus. Ob er damit sein eigenes Fortleben in der Erinnerung seiner Hinterbleibenden oder nur deren Schmerz des Abschieds im Sinn hat oder aber sich selbst auf eine »zukünftige Statt«, ein geglaubtes oder erhofftes »Neues Jerusalem«, einen Richter oder ein alles verschlingendes Nichts sieht – es ist ein Verhältnis, das der Mensch zu seinem Ende hat. Das Verhältnis prägt vielleicht auch sein inneres oder äußeres Verhalten: etwa den Rückzug in die Stille und Einsamkeit oder den Wunsch nach Ritual und Gebet. Diesem Verhalten will die PM auch Raum geben, will es individuell, dem Wunsch des Sterbenden gemäß ermöglichen und akzeptieren. Das ist nicht (konfessionell-religiöse) Seelsorge i. e. S., sondern praktizierte Anerkenntnis der anthropologisch konstitutiven Sinnbeziehung menschlicher Existenz. Diese Anerkenntnis basiert (hinsichtlich der medizinisch-praktischen Konsequenz der PM) auf der gemeinsam gewonnenen Einsicht der Endlichkeit unseres Daseins, gegen die weder Aufbegehren noch Aktivismus gewinnen können. PM hat es mit dem Sterben zu tun – dem Sterben des Leibes, der auch dem Kranken noch bis in den Tod hinein Ermöglichungsgrund und Selbsterlebnisfeld der Person ist. Sie ist darin bis in den endgültigen Verfall im biologischen Tod zu achten. Das Sterben ist nicht nur biologisches Erlöschen von Lebendigkeit. Es ist – wir wissen kaum, ob und wieweit noch erlebter, erlittener oder nur faktisch ablaufender Verfall – möglicher Übergang, Transzendenz der Leiblichkeit in die Leblosigkeit, Auslöschung der leib-gebundenen Subjekthaftigkeit, möglicher Übergang unserer Seele in ein neues, ewiges Leben. Die formale Basis der PM ist die Achtung der Autonomie und 231 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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des Selbstbestimmungsrechts für die gemeinsam getroffene Entscheidung zum Verzicht auf kurative medizinische Behandlung. In der Entscheidung ist vorrangig vor der medizinisch-sachlichen Begründung (dem therapeutischen Privileg und Imperativ) der persönliche, nach einsichtigem Wissen getroffene Verzicht des Kranken, den es zu achten gilt. Die Sachkompetenz des Arztes ist für die Beratung, die umfängliche Aufklärung (über das juristisch gebotene Maß hinaus) erforderlich. Dem gilt die Verantwortung des Arztes. Die existenzielle Entscheidung obliegt dem Kranken – mag sie aus der Verzweiflung im Leiden oder der persönlichen, selbstreferenziellen oder (z. B. familiären) sozialen Verantwortung getroffen sein. Und mag sie auch entgegen der medizinischen Erfahrung und Einschätzung der akuten Krankheit sein. Der Arzt muss schließlich akzeptieren, wenn der Kranke Aufklärung und Behandlung und Hilfe ablehnt. Anthropologisches Fundament der PM ist aber die akzeptierende Einsicht in die konstitutive Begrenztheit unserer leib-seelischen und sozialen Existenz. Hintergrund ist auch die selbst-identifizierende Gegenseitigkeit von Betreuenden und Betreuten und die Solidarität in der Achtung des Todes.
Schluss Eingangs wurde der Paradigmenwechsel der Medizin skizziert: die Änderung des Therapiezieles von der curatio zur palliatio und der darauf bezogenen konzeptionellen, der Sach-, Organisations- und Strukturänderungen. PM wird mehr und mehr zu einer medizinischen Disziplin sui generis, die nicht in die organ-bezogenen Disziplinen gängiger Art eingegliedert werden kann (ebenso wenig wie Präventions- oder Rehabilitationsmedizin). Mit der (berechtigten) Forderung, die PM aus einer nur karitativ motivierten und entsprechend ausgerüsteten Disziplin zu einer mit wachsendem empirischwissenschaftlichem Anspruch i. S. von Grundlagen- und Versorgungsforschung zu entwickeln, wächst aber die Gefahr, dass sie (wie die kurative Medizin) dem Diktat wissenschaftlicher und ökonomischer Be- und Verrechenbarkeit erliegt. Palliative Care ist wohl in ihren Ermöglichungsbedingungen, aber nicht in ihrem Kern berechenbar. Sie muss sich hinsichtlich ihrer Methoden und des quantifizierbaren Aufwandes – soweit möglich – auf die evidenz-basierte Medizin (EbM) wie auf die medizinische Indikation stützen. Sie muss 232 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
Palliativmedizin – ein neues Paradigma der Medizin
den für pflegendes und ärztliches Handeln geltenden arbeits- und berufsrechtlichen Regelungen gehorchen. Das oberste Gebot jedoch ist die verstärkte, kompetente menschliche Zuwendung zum kranken und sterbenden Mitmenschen. Gewiss, PM ist keine neue Disziplin der Medizin. Auf das Leiden – sei es vorwiegend durch Schmerz, Angst oder Übelkeit geprägt – zielende Behandlung war stets ein wichtiges Ziel medizinischen, ärztlichen Handelns, zumal in Zeiten, solange gegen viele Krankheiten eine (kausal eliminierende) Behandlung nicht möglich war. Im Zuge der durch den rasanten Fortschritt der Medizin seit der 2. Hälfte des 19. Jhd. mit den medikamentösen und operativen Möglichkeiten fokussierte sich die Medizin bis in die Gegenwart hinein auf die Beseitigung, die Befreiung, auf die Heilung von Krankheiten (dieses »von« meint zugleich ein separativ-eliminierendes wie ein objektives Element – separativ = die Krankheit von ihrem Träger trennend und eliminativ = sie auslöschend). Die letzten ca. 40 Jahre medizinischer Entwicklung wurden aber zunehmend mitgeprägt von der Einsicht, dass nicht jede Krankheit, nicht jeder Leidenszustand zu überwinden ist und die Linderung des Leidens, der körperlichen und seelischen Einschränkungen vordringliche Aufgabe werden können: eine sorgende, palliative Hilfe und Versorgung der Kranken in der auf den Tod hin fortschreitenden Erkrankung. Aus solcher Betreuung hat sich inzwischen eine eigenständige medizinische Disziplin entwickelt. Die hier vorgetragenen Überlegungen gelten der Frage nach der Bedeutung einer ethischen Grundhaltung palliativmedizinischer Betreuung schwerkranker Menschen. Sie ist der tragende Grund für die Arbeit der palliativ Betreuenden im Blick auf die Betreuten. Es sollte aber deutlich geworden sein, dass es darin auch um unser berufs- und funktionsunabhängiges Selbstverständnis als Menschen unter Mitmenschen geht: um die Achtung und den Schutz des Anderen, in Sonderheit des hilfsbedürftigen und auf sein Ende hin lebenden Mitmenschen, um ein nicht nur sach- und fachgerechtes Handeln, sondern um eine personale Gegenseitigkeit und Solidarität, um Vertrauen und Verantwortung im Umgang miteinander. Darin liegt die Bedeutung einer menschlichen Grundhaltung für palliative Betreuung.
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Wie wollen wir sterben?
Mit den Überlegungen zur Therapie-Einschränkung und dem Paradigmenwechsel von der kurativen Behandlung zur palliativen Betreuung sind wir der Frage nahegekommen, wie wir als Ärzte mit der so häufigen Konfrontation mit Sterben und Tod umgehen. Es geht nicht nur um das Gespräch, die Vermittlung einer todbringenden Krankheit, um das Gespräch über das Lebensende des Kranken, es geht auch um das Bedenken der eigenen Sterblichkeit, des eigenen Todes. Das ist wohl kaum aus dem gesunden Leben zu antizipieren. Das Erleben und Erleiden des eigenen Sterbens, der psychophysische und -soziale Sterbeprozess sind nicht vorauszusehen. Das Bedenken der eigenen Sterblichkeit hingegen ist die existenzielle Erfahrung, jederzeit im gesunden und im kranken Leben »umfangen« zu sein von der Möglichkeit zu sterben – eine anti-stoische Haltung! Der Tod geht uns doch etwas an, auch wenn er »nicht da« ist, nicht zeitliche Gegenwart ist. Als ständige Möglichkeit begleitet er uns – sei es plötzlich oder mit dem mehr oder weniger langen Vorlauf eines Sterbens infolge einer chronischen Krankheit. Die Begleitung ist nicht, mindestens nicht nur das rationale Wissen um die Gefährdung des biologischen Zusammenbruchs. Sie ist vielmehr eine emotionale, situativ vielleicht stark affektiv getönte Unsicherheit. Sie kann sich in akuter, gegenwartsbezogener oder in Zukunftsangst spürbar machen: als Hektik, schnell selbst- oder fremdgestellte Aufgaben erledigen zu wollen oder zu müssen, dies oder das noch erleben zu wollen; sie kann sich äußern in der Apathie der Sinnlosigkeit, der verzweifelten Wut über Aussichtslosigkeit oder die Begrenztheit des Lebens. Wie auch immer biographische oder kommunikative Bedingungen das wechselhafte Lebensgefühl prägen mögen, so hat doch der Arzt durch die häufige Begegnung mit Sterben und Tod seiner Patienten immer wieder Anlass, für sich selbst darüber nachzudenken, wie er sterben möchte. Wenngleich häufiger zu solchem Nachdenken angestoßen, wird wohl auch er kaum zu einer gültigen Ant-
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wort kommen; vielleicht eher zu einem Wunsch, wie er nicht sterben möchte. Es mag auch sein, dass gerade die häufige Begegnung ihn, den Arzt, veranlasst, den Gedanken zu verdrängen. Die Beobachtung häufig zynischen Umgangs von Ärzten mit Situationen im Umfeld von Sterben und Tod, auch in der Sprache, lässt solche Verdrängung als Mechanismus, mit dem Tod »fertig« zu werden, vermuten. Umso wichtiger scheint mir das offene Gespräch über die Frage, wie wir sterben wollen. Es ist auch zu vermuten, dass die Selbstreflexion und projektive Selbstidentifikation den Umgang des Arztes mit dem Sterbenden, ja noch mit dem Leichnam beeinflussen können – das NachDenken, die Reflexion des zirkulären Weges aus der eigenen Position in die des Kranken und von dort zurück, ein Umgang, der nie im Gleichen enden wird. Das gilt sicher auch für Pflegende, die an der Betreuung schwerkranker und sterbender Menschen beteiligt sind. Es kann sich aus solchem Nachdenken eine Sterbekultur entwickeln, sei es im engen Bereich des einzelnen Arztes oder der Klinik oder der Familie bis in die Gesellschaft.
* * * Im Umgang des Arztes mit dem Kranken wird immer wieder auch die Grenzerfahrung todbringender Erkrankung, unserer Sterblichkeit zur Sprache kommen. Wann immer das geschieht, ist diese menschliche Grundsituation beider Gesprächspartner angesprochen – die des Kranken wie die des Arztes, wenngleich dessen Konfrontation mit seiner eigenen Endlichkeit selten thematisiert wird. Es ist wahrlich keine leichte Aufgabe, darüber nachzudenken und zu sprechen, wie wir sterben wollen. Wer ist denn dieses wir? Wie kann ein Außenstehender darauf antworten, wie ich sterben will? Kann ich als Einzelner denn die Frage beantworten, wie wir sterben wollen? Wohl kaum. Was ich allenfalls versuchen möchte, und was jeder von uns versuchen kann: den Anderen an Überlegungen oder Annäherungen über bzw. hin zu dem eigenen Sterben teilnehmen zu lassen. Aber: Weiß ich, wissen wir heute, wie wir sterben wollen? Und wollen wir vielleicht morgen schon anders sterben, als wir es heute denken und wünschen? Eine Fülle von Fragen, von Ungewissheiten, von möglichen Falschaussagen. Antworten können hier nur vorbehaltlich sein. Dennoch müssen wir uns – angesichts gesellschaftlicher, demographischer und soziokultureller Veränderungen 235 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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und angesichts der zunehmenden (medikamentösen, apparativen und operativen und intensivmedizinischen) Möglichkeiten der Medizin – diesen Fragen stellen: im Fernblick auf das Ende oder im Nahblick auf den vielleicht unaufhaltsamen Weg einer Krankheit zum Tode. Den Tod bedenken heißt: das Leben bedenken. Leben und Tod gehören zusammen. Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker fragt eingangs eines kurzen Buchbeitrages »Der Tod«: »Kann man wagen, über den eigenen Tod zu sprechen? Wird, was ich sage, angesichts meines Todes standhalten? Hält es stand angesichts des Todes meiner Nächsten? Hält es stand angesichts des uns allumgebenden Todes? … Aber eben darum: Kann man wagen, nicht vom Tod zu sprechen?« 1 Ich möchte die Fragen Weizsäckers zu der einen Frage zusammenfassen: Wie wollen wir sterben? Das macht die Fragen besonders eindringlich und konkret, insofern als das »Man« der ersten Frage Weizsäckers, ob man wagen kann, über den eigenen Tod zu sprechen, zum Ich jedes Einzelnen wird. Also: Kann ich wagen, über den Tod zu sprechen? – sei es im Selbstgespräch, im Gespräch mit meinen Nächsten oder sei es mit einem Kranken oder einem Sterbenden? Und: Kann ich es wagen, nicht vom Tod zu sprechen? Kann, darf oder muss ich gar den Tod ausklammern aus dem Gespräch mit einem Mitmenschen oder mit mir selbst? Konkreter: Können (das ist eine psychologische und eine Erkenntnisfrage), dürfen (das ist eine moralische Frage) oder müssen wir (das ist eine praktische Frage) dem Gespräch über Sterben und Tod ausweichen? Können wir, jeder Einzelne von uns, es wagen, vom Tod oder nicht vom Tod zu sprechen? Können wir das Nachdenken über das eigene Sterben, den eigenen Tod verdrängen, ohne dass unser eigenes Handeln, unser Leben verändert wird? Wenngleich gerade die Erfahrung von Sterben und Tod zu schweigen gebieten kann, müssen wir uns doch auch selbst dieser Frage, dem Gespräch über Sterben und Tod stellen. Mir ist bewusst, dass Antworten zu diesen Fragen aus der Mitte des Lebens im Alter, im Leiden, in einer Krankheit zum Tode sehr unsicher werden und ihre Tragfähigkeit für Wünsche und Erwartungen einbüßen können, wenn es für uns zum Sterben kommt. Antworten können hier wohl immer nur vorsichtige Annäherungen sein. 2 1 2
Weizsäcker, Carl Friedrich von (1976, 21980): S. 319. Burbach, Christiane & Heckmann, Friedrich (Hg.) (2011).
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Der Gedanke, stets mitten im Leben vom Tod umfangen zu sein, meldet sich wohl uns allen in seiner Ambivalenz immer wieder – auch unabhängig von Krankheit oder markierbaren Ereignissen konkreter Lebensbedrohung – als ein memento mori. Ihn aber dauerhaft für die Lebensgestaltung wirksam zu halten, ist schwer, weil er allzu leicht unsere positiven, befreienden, auf Zukunft gerichteten Perspektiven verdunkeln und die Entfaltung unserer Möglichkeiten, das Geschenk der Zeit, der Erlebnisfähigkeit, auch das Miteinander mit geliebten Mitmenschen, auch die Hoffnung trüben kann. Diese Dimension der Ambivalenz von Freiheit und Gegebenheit, von möglicher Offenheit für Neues trotz der vielleicht altersbedingten Einschränkungen der eigenen Kapazitäten wahrzunehmen und gegenüber der bedrohenden Anfälligkeit und Unsicherheit unseres Lebens überwiegend bestimmend sein zu lassen und aus dieser Zuversicht unser Leben noch gestalten zu wollen, will nur schwerlich gelingen. So wird häufig das mitten im Leben auf ein unbestimmtes fernes Ende verschoben: als seien wir nur am Lebensende sterblich. 3 Sterben ist meist ein Prozess: aus mehr oder weniger guter Gesundheit oder einer sich allmählich verschlechternden chronischen Krankheit heraus in eine Phase nachlassender körperlicher und geistiger Kräfte, möglicherweise bis zur Hinfälligkeit oder zur Demenz oder in ein kürzeres oder längeres Leiden. Darin werden wir meist abhängig von nahen oder fernstehenden Pflegepersonen. In einer solchen uns möglicherweise bevorstehenden Einschränkung oder der Hilfsbedürftigkeit möchten wir aber auch dann noch je als Subjekt unserer Leiblichkeit, unserer Selbst-Empfindung, auch in unserem Person-Sein geachtet werden bis in den Tod. Subjekt der Leiblichkeit, des Selbstempfindens und das PersonSein – diese beiden menschlichen Grundbestimmungen meinen nicht dasselbe. Subjekt ist hier das leiblich-geistige, selbständige (d. h. nicht unabhängige!) Handlungs- und Erlebniszentrum. Subjekt – das sind wir selbst. Das Subjekt muss sich nicht – schon gar nicht im Krankheits- oder Sterbeprozess – seiner selbst bewusst sein. Aber auch wenn es sich nicht seiner leiblichen und seelischen Hintergründe des Handelns und Empfindens, seines Willens oder seiner Absichten bewusst ist, so ist es dennoch Träger, Initiator, eben das Subjekt all dessen, auch seiner Emotionen und Affekte, seines körperlichen und seelischen Leidens. Der Mensch, wir selbst sind als Subjekte in solchen 3
Gahl, Klaus (2011).
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Widerfahrnissen von Krankheit und Sterben aktiv und passiv zugleich, wir erleiden und gestalten sie. Dieses Zugleich von Aktivität und Passivität zeichnet viele unserer leiblichen, seelischen und geistigen Lebensvollzüge aus: das Sowohl-als-Auch von Empfangen und Hingabe, Glaube und Hoffnung. Sie alle sind ja zugleich aktiv und passiv. Auch Zuwendung und Wahrnehmung, ja auch die ärztliche Haltung der Fürsorge trägt diesen Doppelaspekt. Als Subjekte solchen Verhaltens und Empfindens wollen wir im Sterben geachtet werden: nicht reduziert auf die schwächer, hinfälliger werdende Körperlichkeit, sondern bis in den Tod hinein Zentrum unseres Selbstempfindens. Von der Subjekthaftigkeit ist das Person-Sein des Menschen als Beziehungswesen nicht scharf abzugrenzen. Wir leben – aktiv und zugleich passiv – in vielerlei Beziehungen: zu unseren nächsten Mitmenschen, zur Umwelt, über uns hinaus, ja schließlich in der Beziehung auf Transzendenz. Sei diese verstanden als das unsere Erkenntnis übersteigende »höher als alle Vernunft« oder das unsere Existenz umgreifende Geheimnis des Glaubens. Auch diesen Erlebnis-, Erfahrungs- und Möglichkeitsraum wollen wir noch im Sterben geachtet wissen.
Wie aber wollen wir sterben? Wohl die meisten Menschen in unserer Gesellschaft wünschen sich einen plötzlichen, raschen Tod – am liebsten im Schlaf und ohne vorausgehendes Leiden. Selten ist der Wunsch zu hören, durch ein allmähliches, langsameres Sterben Zeit innerer Vorbereitung auf das Sterben und auf den Tod erleben zu dürfen. Wohl kaum jemand wünscht sich einen langen Prozess allmählichen Verscheidens im Koma, in der Nicht-Ansprechbarkeit. Denken wir dagegen an das Mittelalter zurück, als es als Strafe Gottes galt, plötzlich, ohne Möglichkeit der Rückbesinnung auf das eigene Leben, ohne Reue und Buße, ohne Vergebung sterben und unvorbereitet in ein Leben nach dem Tode eingehen zu müssen. Der Tod bricht in weniger als 10 % der Fälle plötzlich, ohne Vorboten herein. Die Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft stirbt infolge einer mehr oder weniger lang dauernden Erkrankung (50–60 %). Über 80 % der befragten Personen möchten am liebsten zuhause, in vertrauter Umgebung sterben. Mit dem deutlichen Rück238 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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gang von gewohnten Familienstrukturen hin zu Ein-Person-Haushalten, besonders in den Städten, schwinden die Möglichkeiten häuslicher Versorgung pflegebedürftiger Menschen. So resultiert in der bundesdeutschen Bevölkerung eine Zunahme auf inzwischen mehr als 2/3 aller Todesfälle in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen. 4 Damit werden die unmittelbare Wahrnehmung von Sterbenden und die Möglichkeit, noch mit ihnen zu sprechen, sich auch gemeinsam auf den Abschied und den Verlust vorbereiten zu können, weitgehend ausgegrenzt. Warum möchten aber die allermeisten Menschen zuhause sterben? Was wünschen sich Menschen »in vertrauter Umgebung«: • die menschliche Nähe und Wärme, die Geborgenheit bei vertrauten Angehörigen oder Freunden, die nicht nur als Besuch zum Kranken- oder Sterbebett kommen; • vielleicht wünschen sie sich in der vertrauten Umgebung auch ihre Bilder, ihre Musik, ihre Bücher, die Blumen am Fenster, vielleicht den Blick in den Garten, vielleicht das Vorlesen von geliebten Texten oder Gedichten oder aus der Bibel; • vielleicht auch nur die Stille, das Alleinsein ohne die Betriebsamkeit und Funktionalität einer Klinik oder des Pflegeheims mit überwiegend fremden Menschen; • vielleicht wünschen sie sich nur den gewohnten, selbstbestimmten Tagesablauf mit den vertrauten Hilfen und Unterstützungen. Warum wollen sie nicht unter der medizinischen und pflegenden Obhut von Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen sterben? Wovor haben sie vielleicht Angst? Ist es • die Unpersönlichkeit, die Anonymität, der häufige Wechsel der Personen, die Kälte der Institution mit ihren nicht individuellen Funktionsabläufen, ihren starren Organisationsstrukturen, mit den geteilten Zuständigkeiten in Pflege und medizinischer, ärztlicher Behandlung und Betreuung, die Angst vor der fragmentierten Versorgung, den ungewohnten Zeitabläufen etc.? • die Angst vor dem Verlust von Zuwendung seitens der Angehörigen? Die Angst vor der Isolation oder der unvermeidlichen Enge oder Nähe zu fremden Personen, seien es Kranke oder das Personal i. w. S.? 4
Dasch, Burghard / Blum, Klaus / Gude, Philipp & Bausewein, Claudia (2015).
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die Angst vor »Überversorgung«, vor einem Aktionismus der Ärzte in Diagnostik und Therapie, vielleicht Angst vor der Behandlung wider Willen (PEG-Magensonde, Infusionsschläuche, nicht gewollte Intensivmaßnahmen etc.)?
Es sind persönliche, z. T. psychologische, z. T. aber auch institutionsabhängige Gründe, die viele Menschen abschrecken vor dem Gedanken, in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung sterben zu müssen. Der Wunsch der meisten Menschen geht dahin, in Würde sterben zu dürfen und zu können.
Was kann das heißen: »In Würde sterben«? Mit den skizzierten Kennzeichen des Menschen als Subjekt und Person sind wir der Bestimmung dessen, was Menschenwürde auszeichnet, nahe gekommen. Menschenwürde ist wie die Autonomie ein unveräußerliches Prinzip, das dem Menschen als solchem eignet – unabhängig von Eigenschaften oder Befähigungen, von emotionalen, mentalen oder sozialen Leistungen. Sie geht nicht mit der physischen oder psychischen Selbstkontrolle, mit der Selbstbestimmungsfähigkeit verloren. Sie ist auch für den vorübergehend oder permanent bewusstlosen, den dementen oder den sterbenden Menschen noch zu achten. Menschenwürde meint grundlegend einen unzerstörbaren Wert des Einzelnen und begründet gleichzeitig einen normativen, einen Sollensanspruch an den Mitmenschen: die Würde des Anderen zu achten auch unabhängig von dessen aktueller Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit. Sie macht das ihm Eigene des Menschen aus. Sie begründet Schutz- und Anspruchsrechte, ist darin aber nicht abstufbar und nicht abzuwägen (wie beispielsweise Selbstbestimmung und Lebensschutzrecht). 5 Sie ist ein Verhältnis der grundsätzlichen menschlichen Gemeinsamkeit, – das heißt in unserem Zusammenhang – der Solidarität, selber auch sterben zu müssen. Ich zitiere den Kirchenrat Helmut Dopffel: »Jeder Mensch [hat] als Mensch ohne jede weitere Qualifikation als Person zu gelten … und [ist] entsprechend zu achten und zu schützen.« 6 Im christlichen 5 6
Beckmann, Jan P. (2017). Dopffel, Helmut. (2002): S. 79.
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Glauben ist die Menschenwürde in der Gott-Ebenbildlichkeit begründet. Wenn dieser Glaube nicht das Fundament sein kann, ist in säkularer oder areligiöser Werthaltung dennoch die Achtung aus einer Mir-Ebenbildlichkeit möglich. Menschenwürde, Autonomie und Personstatus des Menschen sind gegenseitige Achtungsbeziehungen. Das verbietet auch die Instrumentalisierung und die Totalverfügung eines Menschen über einen Mitmenschen, zumal gegen dessen Autonomie und Selbstbestimmung. Das in unserer Gesellschaft vorherrschende Verständnis von Autonomie lässt meist deren sozialen Charakter unberücksichtigt. 7 Die Autonomie des Einzelnen erfährt ihre Grenzen an der Autonomie des Mitmenschen, der – wie wir selbst – auch nicht verfügbar ist gegen seinen Willen. Autonomie fundiert die Selbstbestimmung, sie ist aber nicht das Gleiche, sie ist ein Prinzip, aber kein verhandelbares Recht. 8 Als Gegenüber von Achtung und Verantwortung ist der Mitmensch auch Verantwortungsobjekt.
Was aber ist menschen-unwürdig? Diese Frage soll hier nur im Zusammenhang mit dem Sterben bedacht werden. • Die Missachtung des Individuums in seiner Einzigartigkeit als Person in ihrem Selbstbezug und in ihren Beziehungen zu ihren Angehörigen oder anderen Personen; • die Missachtung der Subjekthaftigkeit des Anderen, der sich auch noch im Sterben als Erlebniszentrum seiner selbst, als die Person, die sich auch noch in ihrem hinfälligen Leib als sich selbst fühlt oder mindestens diesen Achtungsanspruch an uns stellt; • die Missachtung der erlebten, erwünschten oder ersehnten Hoffnungen auf einen Bezug zur Selbstüberschreitung, zur Transzendenz auf ein Gegenüber, eine Gemeinschaft oder auf Gott; • die Missachtung physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Bedürfnisse des schwerkranken und sterbenden Menschen, d. h. auch die Ignoranz gegenüber seinen Wünschen zureichenBielefeldt, Heiner (2017): S. 45–66. Bielefeldt spricht von Autonomie als humanem Beziehungsbegriff und von relationaler Autonomie. 8 Vgl. das Kapitel »Autonomie und Selbstbestimmung«, hier S. 148–159. 7
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der Sorge um sein leibliches Wohl einschließlich adäquater pflegerischer und hygienischer Maßnahmen; menschen-unwürdig ist zudem die Unterlassung erforderlicher und erwünschter medizinischer Versorgung mit der Behandlung von Schmerzen und anderen körperlichen Beschwerden, der Milderung von Angst und Unruhe. Auf diese möglichen Verfehlungen der Menschenwürde im Umgang mit dem Schwerkranken und Sterbenden zu achten, ist vornehmlich eine Aufgabe der Betreuenden. Dagegen zielt der Wunsch, in Frieden sterben zu dürfen, mehr, aber nicht ausschließlich auf die innere Verfassung des Sterbenden: loslassen und Abschied nehmen zu können, auch im Vertrauen darauf, dass Unerledigtes, Ungesagtes, offen Gebliebenes, ja dass auch Schuld verziehen, vergeben werden kann. Dieser Friede zeichnet oft das letzte, das gelöste Gesicht, das wir vom Verstorbenen wahrnehmen können. Menschenwürde wie Autonomie begründen Selbstbestimmung, die wiederum im Selbstbestimmungsrecht geschützt ist. Wenn auch mit dem Verlust meiner, unserer physischen und psychischen Kontrolle sehr wohl die Selbstbestimmungsfähigkeit verloren gehen kann und meist verloren geht, sodass ein Anderer für mich, für uns stellvertretend entscheiden muss, so geht doch nicht die Autonomie und nicht die konstitutive, nach dem Grundgesetz unantastbare Menschenwürde verloren. Diese ist als Prinzip menschlicher Existenz in der gegenseitigen Achtung der aus ihr erwachsenden Schutz- und Anspruchsrechte bewahrt. Zu beachten ist auch die soziale Dimension der Menschenwürde als ein Gegenseitigkeitsverhältnis. Der eigenen fundamentalen Unverfügbarkeit entspricht die Unverfügbarkeit des Gegenübers gegen dessen Willen. Eine Instrumentalisierung des Mitmenschen zu Selbstzwecken – und sei es der Zweck der Befreiung von schwerem, unerträglichem Leiden durch die Beihilfe zur Selbsttötung oder der Tötung auf Verlangen – verletzt die personale Autonomie.
Und wieder: Wie wollen wir sterben? Es gibt heute im Vergleich zu der Situation in Krankenhäusern oder in vielen Pflegeheimen früherer Tage bessere Möglichkeiten, ein gewünschtes Sterben in Würde zu gestalten. Die Hospizbewegung und 242 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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die Palliativmedizin haben hier in den letzten ca. 30 Jahren – zwar noch längst nicht bedarfsgerecht und nicht flächendeckend – die äußeren und inneren, die psychosozialen und organisatorischen Bedingungen des Sterbens erfreulich verbessert. Es sind vor allem drei organisatorische Säulen der Hospiz-Idee: • die multiprofessionelle Besetzung der Betreuerteams von Pflegefachkräften, Ärzten, Sozialarbeitern, Therapeuten, Seelsorgern, Hauswirtschaftskräften und in nicht geringem Maße von ehrenamtlich Tätigen; • die gleichberechtigte Integration von Ehrenamtlichen, soweit möglich auch von Angehörigen in die Mitarbeit; • die Vernetzung anderer Einrichtungen und ambulant tätiger Gruppen (die ambulante Hospizbetreuung, die spezialisierte ambulante Palliativversorgung oder ambulante Seelsorgedienste u. ä.), die in die Betreuung und Versorgung sterbender Menschen einbezogen sind. So weit zur Organisationsstruktur der Hospizbewegung. 9 Die individuelle Arbeit zielt auf • die physische Betreuung, vor allem die Beschwerdelinderung im Leiden, • den psychischen Beistand im Sterben, • die Ermöglichung spiritueller Sinnfindung und die Offenheit für religiös-existentielle und Glaubensfragen und schließlich auf • soziale Aspekte, d. h. auf persönliche Zuwendung und auf das Gefühl der Geborgenheit der betreuten Personen. Die erreichten und weiter verfolgten Verbesserungen hospizlicher oder palliativmedizinischer Versorgung dürfen jedoch nicht dazu führen, dass eine zunehmende Institutionalisierung des Sterbens, ein Abschieben, eine Isolierung und De-Sozialisierung älterer Menschen und Sterbender in eine neue Form der Betreuung erfolgt. Deswegen müssen Hospiz- und stationäre Palliativeinrichtungen so weit wie möglich offen sein für die Mitwirkung von Angehörigen in der Sorge für die dort betreuten Personen. So kann auch ein Stück vertrauter Mit- und Umwelt in die Einrichtungen getragen werden.
Der Palliativmedizin ist im vorliegenden Buch ein eigenes Kapitel gewidmet; s. S. 212–233.
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Wie können und wollen wir selbstbestimmt sterben? Eingangs waren die Fragen, ob und wie wir über unser eigenes Sterben sprechen oder nicht sprechen dürfen, zusammengefasst und bewusst an jeden Einzelnen von uns gerichtet. Aus der Gesundheit heraus und noch im Vollbesitz der Selbstbestimmungsfähigkeit wünschen wir uns wohl zumeist, selbstbestimmt sterben zu dürfen und zu können. Dem kann eine im Vorgriff auf das Sterben besonnen aufgesetzte Patientenverfügung (PV) dienen, mit der wir unsere Wünsche bezüglich der medizinischen Maßnahmen einvernehmlicher Leidenslinderung am Lebensende festhalten können. Nur drei Punkte seien dazu hervorgehoben: • Patientenverfügungen sollten Anlass und Gegenstand intensiver Gespräche des Verfügenden – ob noch gesund oder krank – mit dem betreuenden Arzt oder der Ärztin oder den Ärzten (gerade auch in der Klinik) sein. Nur ein erfahrener Arzt kann uns beraten, unter welchen Bedingungen welche Möglichkeiten der Leidenslinderung oder auch der Lebensverlängerung für mich, für jeden auf den Tod hin Kranken persönlich bestehen – nicht generell, sondern in einer voraussehbaren Situation. • Patientenverfügungen sollten auch Gegenstand der Gespräche mit meinen Angehörigen zu ihrer Entlastung sein. Meine nächsten Angehörigen sollen in der Situation, in der ich nicht mehr meinen Willen äußern kann, wissen, was ich für mein Lebensende, für mein Sterben wünsche. Die Ungewissheit darüber soll nicht meine Nächsten belasten und ihnen gar ein schlechtes Gewissen bereiten, in der einen oder anderen Weise meinen Willen übergangen zu haben. Ich möchte auch meine Angehörigen nicht mit dem Schuldgefühl einer vielleicht falsch getroffenen Entscheidung belasten. • Sowohl die nötige Aufklärung über die Abfassung einer PV als auch deren Beachtung sind prozesshaft, d. h. es genügt nicht ein einmaliges Gespräch mit dem Arzt oder mit meinen Angehörigen, es erfordert vielmehr Beratung und Begleitung bis zur einvernehmlichen Erstellung und ggf. der Umsetzung einer PV. Sie erfordert sowohl von mir, vom Verfügenden, als auch vom behandelnden Arzt/der Ärztin, ggf. im Krankenhaus, das Gespräch über deren je aktuelle Gültigkeit oder Verbindlichkeit. Rechtlich ist eine PV verbindlich – jedoch nicht unwiderrufbar. Auch dazu wünsche ich mir die Möglichkeit und Offenheit zur Selbst244 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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bestimmung. So ist erst dann eine PV handlungsrelevant für den Arzt. Das Wichtigste bei der Erstellung einer Patientenverfügung ist wohl das wiederholte Gespräch mit den engsten Mitmenschen, mit nahen Angehörigen und mit den behandelnden Haus- oder Klinikärzten. Es hängt von den aktuellen persönlichen Bedingungen ab, unter denen sich vielleicht die medizinische Notwendigkeit zu solchen Maßnahmen einschließlich der Wiederbelebung aufdrängt. Die medizinische Entscheidung und das ärztliche Handeln wie das Geschehenlassen müssen sich rechtfertigen lassen angesichts meines geäußerten oder mutmaßlichen Willens und der klinischen Situation. Die besonnen bedachte Sinnhaftigkeit ärztlichen Handelns sollte in meinem Einvernehmen die Richtschnur sein – auch mit dem Risiko des Irrtums der vielleicht für eine Patientenverfügung getroffenen Entscheidung. Eng mit der Erstellung einer PV verknüpft ist die Frage der Therapiebegrenzung, des Therapieabbruchs und des Therapieverzichts in verantwortungsbewusster Selbstbegrenzung. Alle diese TherapieBegrenzungen sind in hohem Maße Äußerungen der Selbstbestimmung – Entscheidungen, die u. U. lange vor dem Sterbeprozess getroffen werden können und die keineswegs nur Maßnahmen der medizinischen Behandlung und auch nicht nur für das Lebensende betreffen: • bereits die bewusste, in freier Willensentscheidung getroffene Konzentration auf kleinere Aktivitätsradien körperlicher oder mentaler Selbstanforderungen, individueller oder gesellschaftlicher Erwartungen oder gar Forderungen; • die Kompensation allmählicher Einschränkungen physischer, psychischer und kognitiver Leistungsfähigkeit durch Interessenverlagerung oder »Umgewichtung« (Bildbetrachtung, Lesen, Malen, Tonarbeiten, Blumen hegen, Fotos betrachten, Erinnerungen aufschreiben u. a.); • die Selektion relativ leicht erreichbarer Aktivitäten, die besondere Freude, Befriedigung und Zufriedenheit bringen können. So viel zur möglichen verantwortungsbewussten und selbstbestimmten Selbstbegrenzung in der alltäglichen Lebensführung. Für den medizinischen Bereich sind gleichermaßen Selbstbegrenzungen möglich: 245 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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der besonnene Umgang mit und die Behandlung von physischen Zeichen unserer Alterung mit leichten Schlafstörungen, Einschränkungen der Beweglichkeit, mit Appetitminderung oder Stuhlgangunregelmäßigkeiten, soweit diese Zeichen des normalen Alterns nicht mit stärkeren Beschwerden einhergehen; in Absprache mit dem behandelnden Arzt die Einschränkung medikamentöser Therapie auf vital Nötiges, die Beachtung aktueller und prospektiver, auf Zukunft des alternden Menschen gerichteter Begründbarkeit medizinischer Maßnahmen. Hier liegen auch auf Seiten der Behandelten Möglichkeiten der Selbstbegrenzung. Damit ist selbstverständlich nicht die erforderliche Linderung altersbedingter Beschwerden und Einschränkungen ausgeschlossen. Nur muss sich das ärztliche Handeln nicht allein auf der medizinischen Sachebene, sondern orientiert an den Bedürfnissen und dem Willen des Kranken oder Sterbenden begründen lassen.
Ich möchte mir auch das Vertrauen in die betreuenden Personen wünschen, dass sie dann um meine, unsere aktuelle Einstellung hinsichtlich individuell oder sozial nicht zu rechtfertigender und vielleicht nicht gewünschter Lebensverlängerung wissen und die Erwartungen hinsichtlich medizinisch kritischen, ärztlich besonnenen und verzichtbereiten Handelns berücksichtigen. Auch dürfen wir um die Einsicht in gebotene Therapiebegrenzung bitten, sofern medizinisch keine Aussicht auf eine Besserung des Krankheits- und Leidenszustandes besteht. Wir dürfen und vielleicht sollen wir uns auch Gedanken machen über die Frage, ob wir mit den modernen Methoden der Reanimation und der Lebensverlängerung wiederbelebt werden wollen. Auch darüber, ob ich, ob wir im Falle einer akuten oder chronischen Krankheit über die Diagnose oder den aktuellen und den zu erwartenden Krankheitszustand oder altersbedingte Einschränkungen und die mögliche Lebenserwartung aufgeklärt werden wollen, dürfen wir uns Gedanken machen – im Blick auf die noch mögliche Lebensgestaltung oder auf medizinische und pflegerische Maßnahmen wie auch auf den Umgang mit unseren Nächsten. Will ich, wollen wir die Prognose hinsichtlich der uns verbleibenden Lebenszeit und der zu erwartenden Lebensqualität wissen? Informationen über medizinisch-technische Daten oder vermeintlich exakte Zeitangaben sind dabei meist fragwürdig und wenig hilfreich in dem Leiden und 246 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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der Not, schon gar in einer Phase verminderter Verständnisfähigkeit, vielleicht auch in der Angst vor oder im Sterben. Und doch möchte ich – soweit möglich – über den Krankheitszustand und den zu erwartenden weiteren Verlauf aufgeklärt werden. Dabei sollten aber nicht nur medizinische Aspekte benannt, sondern Möglichkeiten eröffnet werden für eine Gestaltung des Lebensendes, für praktische oder rechtliche Regelungen, für Trauer und Abschied.
Sterbehilfe und Sterbebeistand – wollen und können wir uns im Sterben helfen lassen? Entgegen der Hilfe zum Sterben ist Hilfe im Sterben, Sterbebeistand rechtlich zulässig. (Ich ziehe »Sterbebeistand« der »Sterbebegleitung« vor; können wir doch niemanden durch das Eigentliche des Sterbens begleiten.) Sterbebeistand lässt dem Sterbeprozess seinen Lauf, bemüht sich aber um bestmögliche Linderung von Schmerzen, Unruhe und Angst. Wir können einander bestenfalls beistehen, dem Sterbenden Nähe, Zuwendung spüren lassen durch verbale oder nonverbale Zuwendung. Sterbebeistand ist eine Form mitmenschlicher Beziehung. Ihr tragender Grund ist unsere Solidarität im Leben auf den Tod hin. Das erfordert die Sensibilität, die Wahrnehmungsfähigkeit für Nuancen des Tones, des Sprechens, der Mimik und Gestik des Sterbenden. Es verlangt Duldung von sich überlagernden und vielleicht ständig wechselnden Stimmungen des Kranken, 10 auch das Aushalten der Spannung von erwarteter und angebotener Nähe und notwendiger und noch tolerierter Distanz, der Achtung meiner Person in ihren leiblichen, emotionalen und spirituellen Bedürfnissen und Wünschen. Wünsche ich mir, wünschen wir uns in unserer Sterbephase den Beistand eines Angehörigen, eines engen Freundes, einer Freundin oder welcher Person auch immer? Soll überhaupt Jemand bei meinem, unserem Sterben anwesend sein? Will ich, wollen wir seelsorgerlichen, geistlichen Beistand im Sterben, die Möglichkeit des seelsorgerlichen Gesprächs über Schuld und Hoffnung? Will ich, wollen wir zeitig Abschied nehmen können von Familie, von Freunden, Wegbegleitern? Abschied auch vom eigenen Leben, von Wünschen und Erwartungen für Lebzeiten? Wir müssen nach und nach Selbst10
Kübler-Ross, Elisabeth (11969, reprint 1985).
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bestimmung (nicht Autonomie!) abgeben und uns mehr und mehr in die Abhängigkeit von uns vielleicht mehr funktional als emotional verbundenen Mitmenschen fügen. Der Erlebnishorizont wird enger oder er bekommt eine neue Richtung in der Hoffnung auf Erlösung, in die Verzweiflung oder in die ergebene Akzeptanz, sterben zu müssen. In dieser letzten Lebensphase ist die Gefahr der Entmündigung, der Missachtung und Würdeverletzung des Schwerkranken und Sterbenden groß. Wissend, vielleicht im Einzelfall nur ahnend, dass der von schwerer, unheilbarer Krankheit Betroffene durch wechselnde Phasen der Auseinandersetzung mit der Unausweichlichkeit des Todes hindurchgeht, können wir ihm vielleicht in seinem emotionalen mehr als rationalen Kampf zuhören. Bei Menschen, die in Altersschwäche und Hinfälligkeit auf ihr Sterben hin leben, sind Phasen der Auseinandersetzung nicht so deutlich wie bei Personen, die (z. B.) an einem Tumorleiden erkrankt sind. Hier sind die von Elisabeth Kübler-Ross eindringlich beschriebenen Phasen des längeren Krankheits- und Sterbeprozesses oft sehr deutlich: von dem Nicht-wahr-haben-Wollen, der Verleugnung einer ernsten Diagnose über die Auflehnung und den Zorn gegen das Schicksal, gegen Gott oder gegen »die Medizin«, den Hader und die Depression bis zur ergebenen Annahme des Unvermeidlichen. Diese Phasen laufen keineswegs streng in gleicher Folge oder gleicher Deutlichkeit und Dauer ab, sie überlagern einander meist, sie wechseln im Fortgang der Krankheit, wechseln auch mit der Zuwendung von Angehörigen oder Betreuern. Wir können aber darin dem Kranken, dem sich auf das Sterben vorbereitenden Menschen beistehen. Antworten zu geben auf die dann hervorbrechenden Fragen ist meist schwer. Oft fehlt uns die Sprache, zu hören und zu verstehen, die Bildsprache, auch die nonverbale Sprache der Kranken, in der sich ihre Ahnung, ihr »Wissen« um ihr Schicksal ausdrücken kann. Meist sind es nicht Fragen rationaler Auseinandersetzung, denen rationale Antworten angemessen wären; vielmehr oft emotionale, affektive Äußerungen. Gelegentliche Mitleidsäußerungen seitens der Betreuenden sind dem inneren Protest des Kranken gegen das Sterben vielleicht ein unangemessenes, wenig tröstliches Gerede. Zu wünschen ist eine zunehmende Verbesserung unserer Gesprächskultur ebenso wie eine verbesserte Wahrnehmungsfähigkeit für das, was Sterbende wünschen. Dazu gehört die verbale und z. B. haptische Kommunikation durch Berühren, Anfassen, Streicheln etc. Vielleicht möchte der Kranke, der Sterbende aber gar nicht mit mir, 248 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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sondern mit einem anderen Menschen sprechen, vielleicht mit einem Seelsorger über Sterben und Tod. Die auf beiden Seiten vorhandene Unfähigkeit zu sprechen darf nicht zur Mauer wechselseitigen Verweigerns und Schweigens werden. So gilt Sterbebeistand über die basale Leibsorge hinaus dem psychosozialen, dem menschlichen Beistand, auch der Vermeidung eines eventuell berechtigten Gefühls der Isolation, der Einsamkeit. Dazu ist eine sorgfältige und sensible Beobachtung des Kranken mit seinen Reaktionen auf Beruhigungs-, Schlaf- oder Schmerzmittel einerseits und die Kenntnis der Möglichkeiten der Behandlung mit Psychopharmaka andererseits vonnöten. Sterbebeistand ist darüber hinaus eine seelsorgerliche Aufgabe – soweit der Kranke, der Sterbende sie wünscht und zulässt. In unserer multireligiösen und -kulturellen, teilweise säkularen, areligiösen Gesellschaft ist es nicht selbstverständlich, dass Sterbende um solchen Beistand bitten, gar in einer eng konfessionellen Form. Dennoch sollten alle Beteiligten offen sein für diese Dimension der Wünsche, wie wir sterben wollen – auch da, wo wir selbst seelsorgerlichen Beistand nicht wünschen. Vielleicht wird es Menschen geben, die uns nahe, weil für das berufliche oder das persönliche Leben wichtig gewesen sind, von denen wir uns nicht ausdrücklich, wohl aber gedanklich werden verabschieden wollen. Um welchen Zieles willen und um welchen Preis will ich mein Leben verlängert haben? Mit welchem Risiko hinsichtlich nicht gelingender intensiv-medizinischer Maßnahmen der Reanimation? Will ich das? Das gilt auch für die Fragen, wann und wie lange und unter welchen Bedingungen eine medizinische Behandlung unverändert fortgesetzt oder aber (vielleicht schrittweise) abgebaut und beendet werden soll. Solche Entscheidungen zur Selbstbegrenzung der Therapie durch Unterlassen oder Verzicht sind Akte der Freiheit und Selbstbestimmung und der sie begründenden Autonomie und der Menschenwürde.
Können Überlegungen zu einer ärztlichen Menschenkunde unsere Erwartungen für unser Lebensende beeinflussen? Ich habe durch meine Berufsjahre hindurch immer wieder mehr oder weniger intensiv und konkret über Aspekte einer für ärztliches Handeln relevanten Menschenkunde, einer ärztlichen Anthropologie 249 https://doi.org/10.5771/9783495820964 .
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nachgedacht. Was ist mir im Blick auf das Sterben und den Tod davon wichtig geworden? In der Begegnung mit dem Sterben Anderer ist mir die Solidarität des Todes 11 immer wieder deutlich geworden – nicht als nur gewusstes biologisches Gesetz, dass alle Lebewesen einschließlich des Menschen sterben müssen, sondern als jeden von uns existenziell angehende menschliche Grundbestimmung, als die uns auch mitten im Leben und nicht erst am Ende begleitende Unabweisbarkeit des Todes. Wir wissen nicht, wann wir sterben müssen oder auch sterben dürfen. Der Tod gehört nicht allein im Naturablauf zum Leben hinzu. Wir erleben uns als endlich und vergänglich. So ist auch jede ernstliche Erkrankung ein memento mori, Erfahrung von Zeitlichkeit und Endlichkeit, Freiheit und Notwendigkeit, Vergänglichkeit und der ständigen Unsicherheit. Der Mensch lebt in der Doppelbewegung von der Gegenwart in die Zukunft hinaus und von der Zukunft des Todes her in die Gegenwart, in die gegenwärtige Lebensgestaltung; zudem in der Erinnerung von der Vergangenheit in die Gegenwart herein. Dieser konstitutive zeitliche Grund unserer Existenz dringt im Kranksein und angesichts des Sterbens und des Todes (auch des Anderen) an die Oberfläche emotionaler und rationaler Erfahrung – sei es als Angst oder Hoffnung, als Verzweiflung oder Ergebung.
Zusammenfassung Der an mich, an uns alle gestellten Frage »Wie wollen wir sterben?« können wir kaum ausweichen – ob ausdrücklich im Gespräch mit unseren Angehörigen, mit unseren Ärzten oder Betreuenden oder mit Seelsorgern oder im Selbstgespräch oder im Gebet – ganz ausweichen können wir der Frage nicht. Die medizinischen, soziokulturellen und demographischen Entwicklungen stellen uns die Frage, wie wir sterben wollen, immer dringlicher. Der Mensch weiß um seine Endlichkeit und Sterblichkeit. Das setzt ihn in ein doppeltes Verhältnis zu Sterben und Tod: vor die Unausweichlichkeit und Notwendigkeit, wie alles biologische Leben sterben zu müssen, und vor die Freiheit und Verantwortung, sich auf seinen Tod vorbereiten zu können. Beides wiederum – der Schritt in die bedingte Abhängigkeit und 11
Weizsäcker, Viktor von (1948b): S. 280 (passim).
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die Einsicht in die eigene physische und psychische Einschränkung – erfordert möglichst selbstbestimmte Selbstbegrenzung. Gründet diese doch in der rechtsgeschützten Selbstbestimmung, der wiederum konstitutiv die Autonomie und Menschenwürde zugrunde liegen. Wir alle wünschen uns vermutlich ein menschenwürdiges Sterben, d. h. die Achtung unserer Person bis in den Tod, den Respekt unserer Subjekthaftigkeit im Erleben und im Erleiden einer Krankheit – vielleicht gerade in der Sterbephase. Wir wünschen uns – soweit möglich – die Linderung von Schmerzen und anderen Leiden wie auch von Unruhe, Angst, Einsamkeit. Wir wünschen uns, in Frieden sterben zu können, mit der Möglichkeit des Trostes seitens unserer Angehörigen oder der Betreuenden oder die pflegende und seelsorgerliche Zuwendung, die Nähe, die Abschiednahme bis in die Hingabe in den Tod. Wir wünschen uns auch die Wahrnehmung und Achtung unseres möglichen Transzendenzverhältnisses im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe, dass wir über den Tod hinaus in der Erinnerung unserer Nächsten und im Erbarmen Gottes bewahrt bleiben.
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Nachwort
Wir sind am Ende der skizzenhaften Beiträge zu einem handlungsrelevanten Menschenbild, wie es uns der alltägliche Umgang mit dem kranken Menschen zeigen kann. Er stellt uns immer wieder vor die Herausforderung, über die menschliche Konstitution, die bio-psycho-soziale Verfasstheit, unsere Leiblichkeit, Zeitlichkeit und Subjekthaftigkeit nachzudenken: von dem ersten Anvertrauen seiner Not bis zur Akzeptanz, sterben zu müssen. »Begegnung und Verantwortung« sind im Umgang – diesem kreisartig, besser: elliptisch fortschreitenden Prozess hinaus zum Kranken und von ihm wieder zurück in die eigene funktionale und empathische Situation – auch Selbstbegegnung und Selbstverantwortung gegenüber eigener Gesundheit und eigenem Krankwerden und Kranksein. Es ist die Erfahrung der Gegenseitigkeit und Solidarität menschlicher Existenz. So schließt der Dank des Autors für die vielen Impulse durch meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die Kolleginnen und Kollegen, durch nahe Freunde und Freundinnen auch den Dank an die unendlich vielen kranken Menschen ein, die mich zu nachdenklichem Handeln angeregt haben. Ohne sie wäre dieses Buch nicht entstanden.
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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Die Begegnung des Kranken mit dem Arzt – eine doppelte Entsprechung (nicht publiziert) Vertrauen und Verantwortung in der Beziehung zwischen dem Arzt und dem Kranken (nicht publiziert) Krankheit als Sprache – über Herzschmerzen Veränderte Fassung eines Vortrags anlässlich einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum am 28. 02. 1986 unter dem Titel »Krankheit als Sprache« (nicht publiziert). Aspekte eines für ärztliches Handeln relevanten Menschenbildes Der Artikel geht zurück auf einen Vortrag des Vf. unter dem Titel »Die Einheit des Menschen aus ärztlicher Sicht« bei einem Workshop »Das Hirntodkriterium und die Frage der Einheit der Person« des Philosophie-Institutes der FernUniversität Hagen am 08. 09. 1995; Leitung Prof. Dr. Jan P. Beckmann. Eine erweiterte Fassung wurde aufgenommen in das Jahrbuch 2001 der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Braunschweig 2002: J. Cramer Verlag, S. 27–39. Futurische Krankheit Teil eines Vortrags des Vf. anlässlich der Internationalen Fachtagung »Generell krank oder chronisch gesund?« an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg 2009, erschienen in »Das Gesunde, das Kranke und die Medizinethik«, hg. von Markus Rothaar & Andreas Frewer, Stuttgart 2012: Verlag Franz Steiner, S. 121–129.
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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Sprache, Leib und Körper des Kranken Veränderte Fassung eines Vortrags des Vf. im Rahmen des 19. Öffentlichen Symposiums der Gesellschaft für Ethik und Medizin, Marburg, unter dem Titel »Klinikseelsorge: Menschen – Berufe – Institutionen« am 1. 1. 2005 (nicht publiziert). Vom ärztlichen Handeln zum Blick auf den Menschen Stark veränderte Version eines Vortrags des Vf. anlässlich der Internationalen Fachtagung »Generell krank oder chronisch gesund?« an der Friedrich Alexander Universität Erlangen 2009; ursprüngliche Version erschienen unter dem Titel »Aspekte medizinischer Anthropologie und Krankheit« in »Das Gesunde, das Kranke und die Medizinethik«, hg. von Markus Rothaar & Andreas Frewer, Stuttgart (2012): Verlag Franz Steiner, S. 105–129. Autonomie und Selbstbestimmung des Kranken Vortrag anlässlich einer Klausurtagung der St. Franziskus Stiftung Münster in Krefeld am 27. 01. 2006 und in Recklinghausen am 03. 02. 2006 (nicht publiziert). Wahrheit und Wahrhaftigkeit im ärztlichen Alltag Veränderte Version des Vortrags »Wahrheit aus ärztlicher Sicht« anlässlich eines Symposiums eines Arbeitskreises der Evangelischen Landeskirche Braunschweig, erschienen in »Braunschweiger Beiträge zur Sozialethik«, hg. von Hans-Georg Babke; Frankfurt a. M. 2011: Peter Lang GmbH, S. 123–135. Unter »Nachdenken über Wahrheit im ärztlichen Alltag« verändert publiziert in Hans-Christian Deter (Hg.): »Die Arzt-PatientBeziehung in der modernen Medizin«. Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH, S. 103–116. Schmerz als Grenzerfahrung – Beitrag zu einer Anthropologie aus dem Schmerz Die vorliegende Arbeit geht zurück auf einen Vortrag des Vf. im Rahmen einer Veranstaltung »Schmerz als Grenzerfahrung« der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem in Braunschweig am 20./21. 04. 2012. In der hier erweiterten Fassung wird teilweise die Vortragsform beibehalten. Inzwischen publiziert in Hermes A. Kick & Wolfram Schmitt (Hg.): »Leib und Leiblichkeit –
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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
als Krisenfeld in Psychopathologie, Philosophie, Theologie und Kunst«. Münster 2015: LIT-Verlag, S. 15–29. Achtung der Menschenwürde im ärztlichen Handeln – eine Annäherung Veränderte Version eines Beitrags des Vf. zu einem sozialethischen Symposium der Evangelischen Akademie der EvangelischLutherischen Landeskirche in Braunschweig vom 6.–8. 10. 2010 in Goslar. Der Vortrag wurde seinerzeit dem im Dez. 2010 verstorbenen Professor der Philosophie Dr. Reiner Wiehl, Heidelberg, in Dankbarkeit gewidmet. Palliativmedizin – ein neues Paradigma der Medizin (nicht publiziert) Wie wollen wir sterben? Veränderte Fassung eines Vortrags des Vf. im Wohnstift Augustinum Braunschweig am 27. 02. 2012 (nicht publiziert).
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