»Einander zu ereignen«: Rilkes diskrete Phänomenologie der Begegnung 9783495823705, 9783495491324


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Inhalt
I. Zögerndes
II. Ein Präludium
Vorfrühling
Printemps
I
II
III
IV
V
VI
VII
Frühling
Shawl
Shawl
III. Empfängnis
(Shawl)
Éros
I
IV. Anmut
Portrait intérieur
Éros
III
IV
V. Die Unbekannte
VI. Segen
Lied
VII. Reine Oktave
(I)
(II)
VIII. Vis magica
Magie
Ausklang
Personenregister
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»Einander zu ereignen«: Rilkes diskrete Phänomenologie der Begegnung
 9783495823705, 9783495491324

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Literatur & Philosophie

Guy van Kerckhoven

»Einander zu ereignen« Rilkes diskrete Phänomenologie der Begegnung

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823705

.

B

Guy van Kerckhoven »Einander zu ereignen«

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Literatur & Philosophie Herausgegeben von Jennifer Pawlik und René Torkler Wissenschaftlicher Beirat: Katharina Bauer, Monika Class, Josef Früchtl, Barbara Hahn, Vittorio Hösle Band 2

https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Guy van Kerckhoven

»Einander zu ereignen« Rilkes diskrete Phänomenologie der Begegnung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Guy van Kerckhoven »Occuring to each other« Rilke’s discrete phenomenology of encounter In his cycle of poems »Sketches from two winter evenings« (1924), R. M. Rilke described the meaningfulness of the encounter, as it revealed itself to his poetry, as »the indescribable reference«. The present book chooses Rilke’s »Poetics of Encounter« (M. Petit) as the subject of an elaborate, »discrete« phenomenology, which takes up and continues the approaches of F. J. J. Bujtendijk, O. F. Bollnow and R. Guardini.

The Author: Guy van Kerckhoven has been professor emeritus of philosophy at the Faculty of Architecture at the University of Leuven (Belgium) since 2015. Among others he has published numerous articles on Wilhelm Dilthey, Edmund Husserl, Eugen Fink and Hans Lipps.

https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Guy van Kerckhoven »Einander zu ereignen« Rilkes diskrete Phänomenologie der Begegnung In seinem Gedichtzyklus »Entwürfe aus zwei Winterabenden« (1924) bezeichnete R. M. Rilke die Sinngestalt der Begegnung, wie sie sich seiner Dichternatur offenbarte, als »den unbeschreiblichen Bezug«. Das vorliegende Buch wählt Rilkes »Poetik der Begegnung« (M. Petit) zum Gegenstand einer »arbeitsamen«, »diskreten« Phänomenologie, die die Ansätze von F. J. J. Bujtendijk, O. F. Bollnow und R. Guardini aufnimmt und weiterführt.

Der Autor: Guy van Kerckhoven ist seit 2015 emeritierter Professor für Philosophie der Fakultät für Architektur an der Universität Leuven. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. zu Wilhelm Dilthey, Edmund Husserl, Eugen Fink und Hans Lipps.

https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49132-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82370-5

https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Inhalt

I.

Zögerndes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

II.

Ein Präludium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

III.

Empfängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

IV.

Anmut

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

V.

Die Unbekannte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

VI. Segen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

VII. Reine Oktave . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 VIII. Vis magica

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Ausklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

7 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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»Wann aber war ich jemals groß genug, um aus dem unbeschreiblichen Bezug herauszufallen wie ein Stein?« Aus: R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926. Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späteren Jahren. Herausgegeben vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. InselVerlag, Wiesbaden 1953, S. 284.

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I. Zögerndes

Das »Bezug-nehmen-auf-etwas« gehört zur Kaufmannssprache; »unter Bezug auf etwas« ist Papierdeutsch. Eine Verhandlung steht an. Aufgebläht ist das »unter«, mit dem die Angelegenheit bloß »referiert« wird. Was in der Bezugnahme aufgenommen wird, soll ausgehandelt werden. Man handelt »in« etwas. Die Kaufmannssprache bleibt dem Dichter fremd. »Bezug« enthält die germanische Wurzel »tuh« bzw. »tug«, altnordisch: »taug«. Auf ihr beruht das neuhochdeutsche »Ziehen«. Von »taug« ist das niederdeutsche »Tau« (Strick, Seil) abgeleitet, aus dem das französische »touer« stammt. 1 »Bezug« meint eine Bespannung, ein Tauwerk. Das zur Seemannssprache gehörende »touer« bedeutet: »faire avancer un navire en tirant à bord sur une amarre«. 2 Man zieht das Boot am Anker fort, ohne ihn zu hieven. Nicht die Lockerung und das Lichten, sondern die Verschränkung und Bindung ist hier das Wesentliche. Die Anspannung löst sich nicht, wird unter Umständen noch gesteigert. Der Verbalwurzel »tuh« oder »tug« entspricht das indogermanische »duk«, das im Lateinischen »duco«, »führe« erhalten ist. Von dieser Wurzel ist die Sippe von »Zaum, Zug, Zucht, Zügel (Herzog – Heerführer)« abgeleitet. »Der unbeschreibliche Bezug« ist das unentwirrbare Geflecht dichterischer Begegnung, wie Rilke es mit einem geballten, gerundeten Wort ausspricht. Es entstammt den »EntVgl. F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Karl J. Trübner, Straßburg 1894, »Tau«, S. 372–373 und »Ziehen«, S. 417. 2 P. Robert, Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. Société du Nouveau Littré, Paris 1970, S. 1801. 1

11 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Zögerndes

würfen aus zwei Winterabenden«, die Rilke am 22. Mai 1924 seinem Verleger, Anton Kippenberg, zugewendet hat. Über diese in ein »einfaches Heft« eingetragenen Gedichte schreibt er »vor dem 22. Mai«: »Sie kennen längst die Eigenheit meiner Natur, ab und zu auf einen früheren Ton zurückzugreifen; solche Rückfälle führen das, was wir zwischen uns im Vertrauen das Werk nennen mögen, kaum weiter, und sie bereiten dem, dem sie widerfahren, eine große Befremdung und Verlegenheit …«. 3 Rilke sei im Begriffe gewesen, die »Entwürfe« zu vernichten, wollte mit diesen Versen Anton Kippenberg lediglich »einen Spielplatz«, eine »Erholungsstunde« bereiten. – Dennoch bedeutet der kleine Zyklus der »Entwürfe« uns weitaus mehr als nur ein Intermezzo. In ihm tritt das dichterische Wirken Rilkes nämlich in das diskrete Licht einer »Phänomenologie der Begegnung«. Nicht wollen wir dem Werk des Dichters den Zwang einer »phänomenologischen Beschreibung« antun, wo ihm gerade so vieles an der Artikulation eines »unbeschreiblichen Bezugs« gelegen war. Wenn aber das Sprechen des Dichters uns vor der »Versteinerung« eines so bewegten Ereignisses bewahrt, wie die Begegnung eines ist, und wir es uns nicht anmaßen, »groß« zu tun im Verhandeln einer Sache, wozu unsere Hände nicht einmal ausreichen, sie zu umfassen, warum sollten wir in diesem Fall nicht mit jedem Wort, mit dem er uns beschenkt hat, ernst machen? – Also auch mit demjenigen, das zwischen ihm und seinem Verleger »in Gebrauch und Schwebe« einer »Dankbarkeit« verblieb, die sich sonst dem »Sagbaren« entzieht? Gewiss – es gibt unzählige »Wege und Wandlungen« des Dichters und der Begegnungen sind R. M. Rilke an A. Kippenberg, »Vor dem 22. Mai 1924«, in: Briefwechsel mit Anton Kippenberg 1906 bis 1926. Herausgegeben von Ingeborg Schnack und Renate Scharffenberg. II. Band, Briefe aus den Jahren 1914 bis 1926. Insel, Frankfurt a. M. und Leipzig 1995, S. 331 f. – Vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik. Erweiterte Neuausgabe von Renate Scharffenberg. Insel, Frankfurt a. M. und Leipzig 2009, S. 887.

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12 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Zögerndes

viele ihm bedeutsam gewesen. Es scheint vermessen, an einer Stelle innehalten zu wollen, die im gesamten Werk nicht als die »gültigste« erscheinen darf, der der Dichter auch bei erneutem Durchsehen keinen ungeteilten Beifall spendete. Die »Entwürfe aus zwei Winterabenden« bedeuteten ihm »keine Zuneigung, nichts durch die ›Gelegenheit‹ Hervorgerufenes oder Bestimmtes; immerhin ein in diesem Jahr« – dem des fünfzigsten Geburtstags Kippenbergs – »Aufgeschriebenes«. Dennoch schien es Rilke, »als könnten sie – wenn einem – dem Freunde sich zugekehrt erweisen«. 4 Stattdessen eignete er am 22. Mai 1924 dem »aus unerschöpflichem Vertrauen mitwirkenden Freund so vieler Jahre« das Gedicht »Der Reisende« zu. 5 Wirkten die im Zuge geschriebenen, unter dem Eindruck der vorbeiziehenden Landschaft, der in ihr immer kleiner werdenden menschlichen Gestalten, entstandenen Zeilen 6 nicht unverbindlicher als das kaum verhüllte Bekenntnis einer im Frühlingslicht jäh aufleuchtenden Jugendliebe? Werden unsere Begegnungen nicht, je rascher sie sich vermehren, immer mehr stumpf? Wies der Freund nicht Worte ab, die ihm zu zärtlich zuflogen? Erwiderte er die zu freimütigen Geständnisse des Dichters vielleicht mit leichtem Spott? War er dem Dichter nicht eben darin »rein unerreichbar«? 7 Zog Rilke deshalb »Winde von Meineiden vor« 8 , die der Schnellzug über jene zusehends ins »Abseits« geratenen, kaum noch zu unterscheidenden Gestalten warf, »die sich gegenseitig mit dem bekleiden, das sie mit zärtlichen Händen R. M. Rilke, Briefwechsel mit A. Kippenberg, a. a. O., S. 332. A. a. O., S. 329 f. – Vgl. »Letzte Gedichte und Fragmentarisches«, in: R. M. Rilke, Gedichte. Dritter Teil. Insel, Leipzig 1927, S. 425 f.; vgl. ebenfalls: Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 70 f. 6 Zur Entstehungsgeschichte dieses Gedichtes, vgl.: Briefwechsel mit A. Kippenberg, a. a. O., Anmerkungen S. 527 zum Brief Nr. 618. 7 R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 288. 8 R. M. Rilke, Briefwechsel mit A. Kippenberg, a. a. O., S. 330. 4 5

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Zögerndes

weben«? 9 Wollte er dem Freund eher als ein »Über des Lebens« erscheinen, der »an zitternden Fenstern« des Zugs stehend bemerkte, wie geschwind man an den »bangen Gräbern« der »einander Freude-Einflößer« vorbeifahren kann? 10 Der Dichter zögerte und diese bislang kaum bemerkte Unterbrechung seiner hinreichenden Gebärde halten wir für maßgeblich. Die Auslegung dessen, was einem Dichter begegnete, wie es sich in seinen Wandlungen mehrte oder in seinen Abschieden »widerrief«, kann nur eine »verhaltene« sein. Die »Entwürfe aus zwei Winterabenden« sind uns eine Schwelle. Wagen wir es denn, über sie den Fuß zu setzen? Den Bereisten sind sie nur einige verwehte Blätter »der vom Winde der Sehnsucht aufgeschlagenen Bücher der Einsamen«. 11 In seiner »Préface« zu Rilkes »Lettres à une compagne de voyage« hat Marc Petit der dichterischen Begegnung ihre bloß anekdotische Bedeutung endgültig genommen. Rilkes Dichtung sei »une poétique de la rencontre« in einem grundsätzlicheren Sinne als in dem einer bloß äußerlichen Ansammlung von »faits divers«, die in dem Dichter die unterschiedlichsten poetischen Wirkungen erzeugt haben. 12 Vielmehr muss die »Begegnung« als eine »Herzkammer« der dichterischen Einbildungskraft selbst betrachtet werden – als ein Treibhaus, aus dem Schöpferisches herausströmt. Nicht dasjenige, womit der Dichter jeweils »zusammentrifft«, was ihn mehr oder weniger »betrifft«, sei das entscheidende »Ereignis« der dichterischen Begegnung. Vielmehr ist es dasjenige, was ihn in die spezifisch dichterische A. a. O., S. 329. A. a. O., S. 330. 11 R. M. Rilke, »Der Reisende« in: Briefwechsel mit A. Kippenberg, a. a. O., S. 331. 12 Marc Petit, »Préface« zu: R. M. Rilke, Lettres à une compagne de voyage. Présentées par Ulrich Kleyn. Précédées de « Poétique de la rencontre » par M. Petit. Traduction par Jacques Legrand. La Quinzaine Littéraire. Louis Vuitton, Aubenas 1995, S. 9 f. 9

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Zögerndes

»Schwingung« versetzt, in der er sich »übertrifft«. Und insofern ist Rilkes Dichtung auch eine »poétique de la noncoïncidence«. 13 Was dem Dichter in der Begegnung entgegenkommt, ist nicht etwas, womit er sich im Vorhinein schon »bekannt« gemacht hat, damit er es sich zurechtlegen könnte in einer Aussage dessen, was es damit »auf sich hat«. Rilkes dichterische Begegnung ist laut M. Petit »une rencontre de l’inconnu« 14 – die ihm den Atem verschlägt. Ihr fehlt es an vertraulicher Nähe, die einer profunden Erschütterung des Dichterherzens zuvorkommen könnte. »C’est toujours ailleurs, au loin, hors de tout repère, que se produit pour Rilke le choc décisif, l’ébranlement propice à la création.« »Immer nur anderswo, aus der Ferne, ohne jeglichen Anhaltspunkt ereignet sich der entscheidende Anstoß, die Erschütterung, die die Schöpferkraft Rilkes anzündet.« In dem Moment äußerster Verlorenheit in der Bestürzung will es ihm gelingen, ein ergreifendes Wort hervorzulocken, ein Dichterwort, das ihn dazu ermächtigt, die Entlegenheit dessen, was ihn weit übertraf, zu überwinden, ins Freie dessen, was es ihm immer nur zu versprechen schien, zu gehen. »Dans cette dérive, dans cette attente anxieuse, dans cette écoute, dans cette disponibilité de l’errant toujours ouvert à l’improbable surgissement de la merveille, nous sommes, je crois, à la source de la poésie de Rilke, et de la poésie tout court.« 15 »In dieser Abdrift, in dieser ängstlichen Erwartung, in diesem Lauschen, in dieser ständigen Bereitschaft des Herumschweifenden dafür, das unwahrscheinliche Auftauchen des Wunders offenherzig entgegenzunehmen, liegt, so meine ich, die Quelle der Dichtung Rilkes, und der Dichtung überhaupt.« Wenn ein »Wind der Sehnsucht« durch seine Bücher weht,

13 14 15

A. a. O., S. 12. A. a. O., S. 11. Ebd.

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so weckt er die lange Erregung einer »Seefahrer-Lust« 16 , »l’incitation à l’aventure qui n’est pas cette sotte accumulation d’exploits dont les médias nous soûlent, mais, étymologiquement, un certain rapport au possible, aux choses ›à venir‹« 17 , »den Anreiz zum Abenteuer, das nicht die alberne Anhäufung von Waghalsigkeiten ist, mit denen die Medien uns übergießen und berauschen, sondern im etymologischen Sinne eine gewisse Beziehung zum Möglichen, zum Zukunftsträchtigen darstellt«. Er bauscht die mit Ziehriemen angeschnallten, breit aufgespannten Segel auf. Kommt Marc Petit dem »unbeschreiblichen Bezug« nicht schon wesentlich näher – jenem noch unvorsichtigen Wort aus den »Entwürfen aus zwei Winterabenden«, die Rilke nur mit zögernder Hand dem Freund überreichte? Überwarf der Dichter sich nicht fast zu gleicher Zeit mit diesem ungewollt getroffenen Grundton seiner Dichtung, der einem »frühen Bereich« zu entstammen schien? 18 Ist dem Herumschweifenden, dem »die Küste schwand« 19 , nicht »der Reisende« überlegen, der seine Bestimmung kennt? Fährt er nicht lässig an den Geschicken des Lebens wie an mit Namensschildern versehenen Bahnsteigen vorbei? An denen dem Abenteurer der Schiffbruch ständig droht? Ist überhaupt die zielstrebige Erfahrung nicht der Widersacher der Begegnung, die uns vielleicht dies eine Mal glückt? Wenn Marc Petit in der dichterischen Begegnung Rilkes das Funkensprühen seiner Einbildungskraft erblickt, so ist er doch gleichzeitig weit davon entfernt, damit das Werk des Dichters auf den einen Nenner eines generellen »Verhältnisses« bringen zu wollen. Das F. Nietzsche, »Die sieben Siegel«, in: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Werke in drei Bänden. Herausgegeben von Karl Schlechta. II. Bd., C. Hanser Verlag, München 1966, S. 475. 17 M. Petit, »Préface«, a. a. O., S. 11. 18 R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 287. 19 F. Nietzsche, »Die sieben Siegel«, a. a. O., S. 475. 16

16 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Zögerndes

»diskrete« Licht einer »Phänomenologie der Begegnung« wirft über die Dichtung Rilkes nicht einen solchen Schimmer. Es wäre anmaßend, mit der Dichtung Rilkes derart zu verfahren, dass man sie »bereise«. Es gibt keinen Fahrplan der dichterischen Begegnung Rilkes. »Voyager avec Rilke, c’est explorer cet espace qui n’est ni celui du monde, ni celui de l’âme, ni non plus l’espace en trompe-l’œil d’un miroir que le monde tendrait à l’âme, mais un lieu d’échange.« 20 »Reisen mit Rilke bedeutet, den Raum auskundschaften, der weder der Welt noch der Seele angehört, nicht der täuschende Raum eines Spiegels ist, den die Welt der Seele vorhalten würde, sondern der Ort des Austausches.« Was an diesem Ort ausgetauscht wird, ist allenfalls keine Ware, nichts Geschäftiges, was sich im Handel und Wandel befände. »›Weltinnenraum‹, ›espace intérieur du monde‹, c’est ainsi que le poète le désigne à plusieurs reprises. On aurait tort d’abandonner ce concept aux philosophes, car il recouvre, pour Rilke, une expérience vivante et singulière. La partager est l’affaire du lecteur sensible.« 21 »›Weltinnenraum‹, so bezeichnet der Dichter mehrmals diesen Raum. Man wäre im Unrecht, wollte man diesen Begriff den Philosophen überlassen. Denn er deckt sich, nach Rilke, mit einem lebendigen und einzigartigen Widerfahrnis. Ihm teilhaftig zu werden ist Sache des empfindsamen Lesers.« Mit Absicht übersetzen wir hier das französische »expérience« mit »Widerfahren«, und nicht etwa mit den üblichen Worten »Erfahrung« oder »Versuch«. Der Ort der dichterischen Begegnung ist eben weder derjenige der »Empirie« noch der des »Experimentes«. Man macht sich hier nicht an etwas heran, bzw. versucht hier nicht etwas herauszufinden, was es insofern auch »gibt« oder an »seiner« Stelle M. Petit, »Préface«, a. a. O., S. 11. Ebd.; – vgl. dazu das Gedicht »Es winkt zu Fühlung«, in: R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 119 und »Durch den sich Vögel werfen«, in: a. a. O., S. 91.

20 21

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erstmals gesucht werden muss. Der »Weltinnenraum« ist nicht etwa ein Bereich von »Gegebenheiten«, an die man leichtfertig herantreten kann, bzw. von »Befunden«, die sich nur dann ergeben, wenn man forschend sich um sie bemüht. Während die Erfahrungswelt schrittweise durchmessen wird, die Welt des »Experiments« einer Aufmachung bedarf, damit man es anstellen kann, man hier aus sich heraustretend zu etwas fortschreitet, bzw. sich zu einer Aufmachung mit Apparaten rüstet, widerfährt einem der »Weltinnenraum« inwendig, d. h. in einer »Inständigkeit«, die in ihrer Art »singulière«, d. h. »unverwechselbar« ist. Es wird hier kein Standort gewechselt, indem man einen Gehraum durchquert; kein experimentelles »setting« eines Testverfahrens geschaffen, d. h. ein »Umfeld« eingerichtet, das ständig überwacht wird, damit sich herausstellen kann, ob dasjenige, wozu man das Experiment anstellt, auch »zutrifft«. Anstatt sich herumzutun, wird innegehalten. Man stellt sich ebenfalls nicht »prognostisch« auf geregeltes Vorkommen ein, gibt sich vielmehr – in einem Ersinnen seiner Seltenheit – Unvorhersehbarem anheim. Die Empfehlung Marc Petits, in einem »nachempfindenden Lesen« an eine Herzkammer der Dichtung Rilkes heranzukommen, machen wir uns zu eigen. Die Ansprüche einer »Phänomenologie der Begegnung« haben wir uns andernorts bereits klargemacht. 22 Im Hinblick auf das dichterische Wirken Rilkes, das von Biographen, Literaturhistorikern, Philologen, Psychologen und Philosophen vielfach erforscht wurde, nimmt sie sich als ein behutsames Erkunden eines einzelnen »Motivs« aus. 23 Sie wählt ein noch unvorsichtig Guy van Kerckhoven, De la rencontre. La face détournée. Ed. Hermann, Paris 2012; ders., Le présent de la rencontre. Essais phénoménologiques. Ed. Hermann, Paris 2014. 23 Den Ausdruck »diskrete Phänomenologie« entleihen wir der von A. Lanciani und C. Majolino besorgten Sammlung und Übersetzung der phänomenologischen Schriften G.-C. Rotas: »Phénoménologie 22

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Zögerndes

gesprochenes Wort als Motto, um sich in den Bannkreis der dichterischen Begegnung Rilkes einzufinden. »L’avènement poétique« gilt ihr insofern nicht als etwas, was sie im Vorhinein schon hinter sich gebracht hätte.

discrète. Écrits sur les mathématiques, la science et le langage«, in: Mémoires des Annales de Phénoménologie, vol. VI, Beauvais 2005.

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II. Ein Präludium

Gelegentlich, wie am Anfang des »Des ersten Buches zweiter Teil« oder zu Beginn des »Des zweiten Buches erster Teil« aus dem »Buch der Bilder« (1902 bzw. 1906) hat Rilke der durchaus »heterogenen« 1 Sammlung seiner Gedichte »Initiale« vorangeschickt. 2 In Einzelfällen, wie etwa beim Gedicht »Die Stimmen« oder »Aus einer Sturmnacht« geht den Versen ein »Titelblatt« voran. 3 In der 1909 unter dem Titel »Die frühen Gedichte« erschienenen Lyriksammlung »Mir zur Feier« (1899) finden sich einzelnen Gedichtgruppen vorangestellte Zeilen in Versform. 4 Immerhin wird man in seinem gesamten dichterischen Schaffen vergebens nach »Vorspielen« suchen, die von ihm auch als solche gekennzeichnet wurden. Eine Ausnahme dazu bildet die »Prélude«, mit der die »Entwürfe aus zwei Winterabenden« beginnen. In den Gedichtfragmenten, die »Aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden« stammen, findet sich diese »Prélude« übrigens nicht. Das bloße Wort ruft einen herrlichen Anhieb ins Gedächtnis zurück – des gewaltigen »Prologs« W. Wordsworths, für den seine Frau Mary den Titel »The Prelude« gewählt hat. Wurde denn je ein höher gestimmter Ausdruck für dasjenige gefunden, was »von weither« einem Dichter zufiel und ihn in eine breite »Strömung« versetzte, als in M. Engel, »Nachwort«, in: R. M. Rilke. Das Buch der Bilder. Insel, Frankfurt a. M. und Leipzig 2000, S. 128. 2 R. M. Rilke, Das Buch der Bilder. In: Gedichte. Zweiter Teil. Insel, Leipzig 1927, S. 39 und S. 71. 3 A. a. O., S. 121 und S. 141. 4 R. M. Rilke, »Die frühen Gedichte«, in: Gedichte. Erster Teil. Insel, Leipzig 1927, S. 255, S. 283, S. 306, S. 326, S. 345. 1

21 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Ein Präludium

Wordsworths Begrüßung eines ihn anwehenden Hauches, einer seine Wangen streichelnden Brise? OH, there is blessing in this gentle breeze, That blows from the green fields and from the clouds And from the sky; it beats against my cheek, And seems half conscious of the joy it gives. O welcome messenger! O welcome friend! A captive greets thee, coming from a house Of bondage, from yon city’s walls set free, A prison where he hath been long immured. Now I am free, enfranchised and at large, May fix my habitation where I will. What dwelling shall receive me, in what vale Shall be my harbour, underneath what grove Shall I take up my home, and what sweet stream Shall with its murmurs lull me to my rest? The earth is all before me – with a heart Joyous, nor scared at its own liberty, I look about, and should the guide I chuse Be nothing better than a wandering cloud I cannot miss my way. I breathe again – Trances of thought and mountings of the mind Come fast upon me. It is shaken off, As by miraculous gift ’tis shaken off, That burthen of my own unnatural self, The heavy weight of many a weary day Not mine, and such as were not made for me. Long months of peace – if such bold word accord With any promises of human life – Long months of ease and undisturbed delight Are mine in prospect. Whither shall I turn, By road or pathway, or through open field, Or shall a twig or any floating thing Upon the river point me out my course?

22 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Ein Präludium

Enough that I am free, for months to come May dedicate myself to chosen tasks, May quit the tiresome sea and dwell on shore – If not a settler on the soil, at least To drink wild water, and to pluck green herbs, And gather fruits fresh from their native bough. Nay more, if I may trust myself, this hour Hath brought a gift that consecrates my joy; For I, methought, while the sweet breath of heaven Was blowing on my body, felt within A corresponding mild creative breeze, A vital breeze which travelled gently on O’er things which it had made, and is become A tempest, a redundant energy, Vexing its own creation. ’Tis a power That does not come unrecognised, a storm Which, breaking up a long-continued frost, Brings with it vernal promises, the hope Of active days, of dignity and thought, Of prowess in an honorable field, Pure passions, virtue, knowledge, and delight, The holy life of music and of verse. 5

Hörte er aus dem anschwellenden Anhauch nicht die rauschende Stimme der Derwent heraus, die an seinem Geburtshaus entlang floß? Mischte sich in ihr Rieseln nicht das Lied eines Kindermädchens ein? Ging der Dichter – wenn überhaupt – anderswo an Land als an den Ufern seiner Kindheit? Vielleicht nicht um an dortiger Stelle »festen Boden zu gewinnen«, so doch wenigstens in der Hoffnung, an ihren Ufern »wildes Wasser zu trinken, grünes Kraut zu pflücken, an den Ästen noch heranreifende Früchte einzusammeln«? Allerdings drangen in diesen lieblichen Anklang einer KindWilliam Wordsworth, The Prelude of 1805 in Thirteen Books. Book First. Introduction: Childhood and School-time. Global Language Resources Inc. 2001, S. 1 f.

5

23 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

Ein Präludium

heitserinnerung alsbald auch »discordant elements« ein: »all the terrors, all the early miseries, regrets, vexations, lassitudes«, welche allein »a dark invisible workmanship reconciles«. 6 … I believe That Nature, oftentimes, when she would frame A favor’d Being, from his earliest dawn Of infancy doth open out the clouds, As at the touch of lightning, seeking him With gentlest visitation; not the less, Though haply aiming at the self-same end, Does it delight her sometimes to employ Severer interventions, ministry More palpable, and so she dealt with me.

Dem Menschen schenkt die Natur ihre Gunst nicht nur dadurch, dass sie sich ihm von Kindesbeinen an entgegenkommend zeigt, ihn mit zärtlichsten Besuchen beehrt. Sie findet großes Gefallen daran, ihn mit Strenge zu unterweisen, sein Geschick mit harter Hand zu steuern. Ihrer dunklen Werkmannskunst verdankt der Mensch den Ausgleich seiner Freuden und Schmerzen. Die Ausgewogenheit einer befriedeten Existenz ist ihr Siegespreis. Was lenkte das Segelschiff des Dichters, das sich auf hoher See herauswagte, den entlegenen Küsten der Jugend zuerst entgegenfuhr – wenn nicht die Ahnung einer geheimen Vorsehung einer wohlgesonnenen Natur, die »gentlest visitation« gegen »severer interventions, ministry more palpable« auswechselte? – Wenn nicht das Vorgefühl, dass sie alle die Besorgnisse kümmerlicher Existenz in die stille Gelassenheit überführen würde, in der ein Mensch, sich seiner würdig befindend, sein Los glücklich preist? Es ist kein Zweifel daran,

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A. a. O., Book first: Childhood and School-time, S. 10–11.

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Ein Präludium

dass William Wordsworths »glad preamble« 7 , »frohmütige Präambel« einen philosophischen Gesang anstimmte: … then I yearn towards some philosophical song Of truth that cherishes our daily life, With meditations passionate from deep Recesses in man’s heart, immortal verse Thoughtfully fitted to the Orphean lyre 8

– Einen Gesang, der das tägliche Leben nicht verschmähte, es mit Wahrheit liebkoste, mit leidenschaftlicher Besinnung umgab, die, aus tiefliegenden Schlupfwinkeln des menschlichen Herzens hervorquellend, sich in unsterbliche Versen ergoß, denen Orpheus’ Leier sich bedachtsam annahm. Der gewaltige Aufruhr, in den die ersten Versen Wordsworth versetzt hatten, ließ alsbald nach; die dithyrambische Wucht, mit der sie ihn ergriffen – wie sie gleich einer Wasserhose aus den Wolken brachen und die Himmel über dürres Land ausgossen – wurde vorzeitig unterbrochen. Der Dichter geriet ins Stocken. Für mehrere Jahre entzog das hymnische Anstimmen sich seinem Gehör – »until a little space before last primrose-time«. 9 … I heard After the hour of sunset yester-even, Sitting within doors betwixt light and dark, A voice that stirred me. ’Twas a little band, A quire of redbreasts gathered somewhere near My threshold, minstrels from the distant woods And dells, sent in by Winter to bespeak For the old man a welcome, to announce

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A. a. O., Book 7, S. 105. A. a. O., S. 7. A. a. O., S. 105.

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Ein Präludium

With preparation artful and benign – Yea, the most gentle music of the year – That their rough lord had left the surly north, And hath begun his journey. A delight At this unthought-of-greeting unawares Smote me, a sweetness of the coming time, And, listening, I half whispered, ›We will be, Ye heartsome choristers, ye and I will be Brethren, and in the hearing of bleak winds Will chaunt together.‹ And, thereafter, walking By later twilight on the hills I saw A glow-worm, from beneath a dusky shade Or canopy of the yet unwithered fern Clear shining, like a hermit’s taper seen Through a thick forest. Silence touched me here No less than sound had done before; the child Of Summer, lingering, shining by itself, The voiceless worm on the unfrequented hills, Seemed sent on the same errand with the quire Of winter that had warbled at my door, And the whole year seemed tenderness and love. The last night’s genial feeling overflowed Upon this morning, and my favorite grove – Now tossing its dark boughs in sun and wind – Spreads through me a commotion like its own, Something that fits me for the poet’s task, Which we will now resume with chearful hope 10

Wordsworths Worte sind längst verklungen. Wir wissen heute, dass sein »Prolog« das Vorspiel zu einem dreiteiligen Gedicht bildete, dem er den Titel »The Recluse« geben wollte, aber nie zum Ziel geführt hat. »Der kleine Raum bevor Primel-Zeit«, während dessen »Klang« und »Stille« ihm Hoffnung machten, seine Aufgabe weiterzuführen, ist uns, da wir uns Rilkes »Entwürfen aus zwei Winterabenden« zuwenden 10

A. a. O., S. 105–106.

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Ein Präludium

wollen, noch immer kostbar. Ein noch winterlicher Chor kam dem Dichter damals entgegen, und in der Stille des Waldinneren erwachte sprachlos schon ein Kind des Sommers. Wie erging es Rilke an diesen Winterabenden? Was machte ihm Mut? Aus der von I. Schnack verfassten »Rilke-Chronik« geht hervor, dass der kleine Zyklus »Prélude« und »sieben Gedichte« (I) am 13. bis zum 15. Februar 1924 entstanden ist. Am 20. Februar habe Rilke ihm zwei weitere Gedichte hinzugefügt (II). 11 I. Schnack weist ebenfalls daraufhin, dass Rilke »zwei zugehörige Entwürfe in die Reinschrift nicht aufgenommen hat«. 12 Es handelt sich angeblich um die beiden unter den Nummern hIi und hIIi gedruckten, auf »Mitte Februar 1924« datierten Gedichtfragmente »aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«. 13 Auch habe sich eine französische Vorstufe erhalten: »Soudain il me souvient d’une place« – was uns Rilkes Wahl der französischen Aufschrift »Prélude« erklärlich macht. In der Zeitspanne vom »Ende Februar« bis »Ende Mai 1924« sind dem Gedichtzyklus fünf weitere Gedichtfragmente nachgetragen worden, mit denen der »Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden« sich allmählich abrundete. 14 Der »vor dem 22. Mai 1924« an A. Kippenberg gerichtete Brief bestätigt, dass Rilke die »Entwürfe« nochmals durchgesehen hat, bevor er sie seinem Verleger zum fünfzigsten Geburtstag zuwendete. 15 Über den »dritten Muzot-Winter« 16 , in dem die »Entwürfe« entstanden sind, hat Rilke in mehreren Briefen beI. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 868. Ebd. 13 R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 609–610. 14 A. a. O., S. 610–612. 15 R. M. Rilke, Briefwechsel mit A. Kippenberg, a. a. O., S. 332. 16 R. M. Rilke, Briefe aus Muzot 1921 bis 1926. Herausgegeben von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Insel, Leipzig 1935, Brief an L. Andreas-Salomé vom 22. April 1924, S. 266; vgl. R. M. Rilke – L. Andreas11 12

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richtet. An Frau E. Amann Volkart schreibt er darüber am 7. April 1924: »Ihr Winter ist, seh ich, nicht der Beste gewesen, den meinen (hélas) müsste ich fast schlecht nennen, wenn ich ihn mit den beiden vorhergehenden Wintern vergleichen wollte. Die Val-Mont-Unterbrechung war mir sehr widers Gefühl in einer Zeit, da Arbeit und Einsamkeit in Muzot auf der Tagesordnung standen.« 17 Die seine Arbeit sonst »so rein begünstigende Einsamkeit«, so teilt er am 25. April 1924 Baronin Ledebur mit, habe »diesen Winter erst« angefangen, »etwas auf mir zu lasten, sei es, dass die Isolierung doch zu streng, zu vollkommen ist auf die Dauer, sei es, dass alles ein anderes Aussehen bekommt, wenn man sich weniger wohl fühlt«. 18 Am ausführlichsten schildert Rilke die Geschichte dieses Winters kurz nach Ostern 1924 seiner früheren Lebensgefährtin Lou Andreas-Salomé: »Was Du nach jener ungeheuren Fähigkeit des ersten Winters auf Muzot vorausgesehen hattest, der Rückschlag, ist eingetroffen, und er war einen Moment so heftig und verwirrend, dass ich, kurz nach Weihnachten, Muzot verließ und in die Kuranstalt ValMont … ging, außerstande (zum ersten Mal seit vielen Jahren) mit mir selber fertig zu werden. … Ich halte aus. Und war auch nicht ganz untätig dabei: ein ganzer Band französischer Gedichte … ist (irgendwie unabweisbar) entstanden,

Salomé, Briefwechsel. Mit Erläuterungen und einem Nachwort herausgegeben von Ernst Pfeiffer. M. Niehans Zürich und Insel Wiesbaden 1952, S. 489. 17 R. M. Rilke, Briefe aus Muzot 1921 bis 1926, Brief an Frau E. Amann Volkart vom 7. April 1924, a. a. O., S. 256; vgl. R. M. Rilke, Briefe an Schweizer Freunde. Erweiterte und kommentierte Ausgabe. Herausgegeben von Rätus Luck. Unter Mitwirkung von Hugo Sarbach. Insel, Frankfurt a. M. und Leipzig 1994, S. 404. 18 R. M. Rilke, Briefe aus Muzot 1921 bis 1926, Brief an Baronin Ledebur vom 15. April 1924, a. a. O., S. 264.

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sonst manches daneben, und meine Lektüre war den ganzen Winter über lebhaft und von ergiebigster Aufnehmung.« 19 Am 20. Februar 1925, am selben Tag, an dem er als Ergänzung zu dem kleinen Gedichtkreis vom 13. bis zum 15. Februar 1924: »Entwürfe aus zwei Winterabenden« zwei weitere Gedichte notierte, entstand das Gedicht »Vorfrühling«.

Vorfrühling Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung an der Wiesen aufgedecktes Grau. Kleine Wasser ändern die Betonung. Zärtlichkeiten, ungenau, greifen nach der Erde aus dem Raum. Wege gehen weit ins Land und zeigens. Unvermutet siehst du seines Steigens Ausdruck in dem leeren Baum. 20

Das Thema des in die Bäume steigenden Saftes setzte Rilke in den darauffolgenden Wochen fort. Anfang März 1924 widmete er ihm ein neues Gedicht: Schon kehrt der Saft aus jener Allgemeinheit, die dunkel in den Wurzeln sich erneut, zurück ans Licht und speist die grüne Reinheit, die unter Rinden noch die Winde scheut.

A. a. O., Brief an Lou Andreas-Salomé vom 22. April 1924, S. 266– 267; vgl. R. M. Rilke – L. Andreas-Salomé, Briefwechsel, a. a. O., S. 489–491. 20 R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 73; R. M. Rilke, Gedichte. Dritter Teil. Letzte Gedichte und Fragmentarisches, a. a. O., S. 428. 19

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Die Innenseite der Natur belebt sich, verheimlichend ein neues Freuet-Euch; und eines ganzen Jahres Jugend hebt sich, unkenntlich noch, ins starrende Gesträuch. Des alten Nußbaums rühmliche Gestaltung füllt sich mit Zukunft, außen grau und kühl; doch junges Buschwerk zittert vor Verhaltung unter der kleinen Vögel Vorgefühl. 21

In den sieben »Poèmes français«, die Rilke in den ersten Märzwochen 1924 aufzeichnete – »Printemps I–VII«, die er später in »Vergers« aufgenommen hat 22 –, verwandelte sich unter der Hand das freudige Grußwort, das der Dichter von der aufwachenden Natur entgegennahm.

Printemps I Ô mélodie de la sève qui dans les instruments de tous ces arbres s’élève –, accompagne le chant de notre voix trop brève. C’est pendant quelques mesures seulement que nous suivons les multiples figures de ton long abandon, ô abondante nature. R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 154. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 872; R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français. Préface de Ph. Jaccottet. Gallimard, SaintAmand 2011, S. 65–68.

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Quand il faudra nous taire, d’autres continueront … Mais à présent comment faire pour te rendre mon grand cœur complémentaire ?

II Tout se prépare et va vers la joie manifeste ; la terre et tout le reste bientôt nous charmera. Nous serons bien placés pour tout voir, tout entendre ; on devra même se défendre et parfois dire : assez ! Encor si on était dedans ; mais l’excellente place est un peu trop en face de ce jeu émouvant.

III Montée des sèves dans les capillaires qui tout à coup démontre aux vieillards l’année trop raide qu’ils ne monteront guère et qui en eux prépare le départ. Leur corps (tout offensé par cet élan de la nature brute qui ignore que ces artères où elle bout encore supportent mal un ordre impatient)

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refuse la trop brusque aventure ; et pendant qu’il se raidit, méfiant, pour subsister à sa façon, il rend le jeu facile à la terre dure.

IV C’est la sève qui tue les vieux et ceux qui hésitent, lorsque cet air insolite flotte soudain dans les rues. Tous ceux qui n’ont plus la force de se sentir des ailes, sont invités au divorce qui à la terre les mêle. C’est la douceur qui les perce de sa pointe suprême, et la caresse renverse ceux qui résistent quand même.

V Que vaudrait la douceur si elle n’était capable, tendre et ineffable, de nous faire peur ? Elle surpasse tellement toute la violence que, lorsqu’elle s’élance, nul ne se défend.

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VI En hiver, la mort meurtrière entre dans les maisons ; elle cherche la sœur, le père, et leur joue du violon. Mais quand la terre remue sous la bêche du printemps, la mort court dans les rues et salue les passants.

VII C’est de la côte d’Adam qu’on a retiré Ève ; mais quand sa vie s’achève, où va-t-elle, mourant ? Adam serait-il son tombeau ? Faut-il, lorsqu’elle se lasse, lui ménager une place dans un homme bien clos ?

Mit der sich aufschwingenden Natur kann der alternde Dichter nicht Schritt halten. Ihr zärtliches Geflüster erschreckt ihn; er ist ihrer Liebkosung nicht gewachsen. In ihrem Anstieg wirft sie ihm seine Kurzlebigkeit vor. Während sie sich zur Feierlichkeit aufmacht, den Dichter zum Zeugen ihrer Anmut anruft, verweigert sie ihm, ihrem Überfluss uneingeschränkt teilhaftig zu werden. Ihr flüssiger Saft ist für die Dürre seines Alters ein tödliches Gift. Die Gestalt der Geliebten, die in ihm einst aufblühte, wird sie nicht wieder zum Leben erwecken. Ist er nicht schon lange ihr Grab?

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Einige französischen Verszeilen, die ebenfalls in »Vergers« Eingang fanden, dem Zyklus »Printemps« wohl auch zeitlich nachstanden, deuteten an, wie der Dichter die verwandelte Stille, die er in diesen Frühlingstagen wahrnehmen konnte, in sich aufnahm: Le silence uni de l’hiver est remplacé dans l’air par un silence à ramage ; chaque voix qui accourt y ajoute un contour, y parfait une image. Et tout cela n’est que le fond de ce qui serait l’action de notre cœur qui surpasse le multiple dessin de ce silence plein d’inexprimable audace. 23

Noch während der ersten Maiwochen, wenige Tage nach dem Besuch der Kippenbergs an Muzot, schrieb Rilke die Strophe nieder, in der er das Anklingen der Frühlingsstimmen festhielt: … Wie sich die gestern noch stummen Räume der Erde vertonen; nun voller Singen und Summen: Rufen und Antwort will wohnen …. 24

23 24

R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 71. R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 155.

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Ingeborg Schnack weist in ihrer »Rilke-Chronik« daraufhin, dass Rilke diese Zeilen zu dem Gedicht »Frühling« gedacht hatte, das er in diesen Tagen Frau Kippenberg widmete:

Frühling Für Katharina Kippenberg Nicht so sehr der neue Schimmer tats, daß wir meinen, Frühling mitzuwissen, als ein Spiel von sanften Schattenrissen auf der Klärung eines Gartenpfads. Schatten eignet uns den Garten an. Blätterschatten lindert unsern Schrecken, wenn wir in der Wandlung, die begann, uns schon vorverwandelter entdecken. 25

Am 15. Mai 1924, kurz bevor er die »Entwürfe aus zwei Winterabenden« an Anton Kippenberg abgehen ließ, sandte Rilke an Frau Katharina Kippenberg als »kleine persönliche Zuwendung« das Gedicht zu, das den sonnigen Fortschritt des Frühlings verfolgte. Schon bricht das Glück, verhalten viel zu lang, höher hervor und überfüllt die Wiese; der Sommer fühlt schon, der sich streckt, der Riese, im alten Nußbaum seiner Jugend Drang.

R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 291; vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 883.

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Die leichten Blüten waren bald verstreut, das ernstre Grün tritt handelnd in die Bäume, und, rund um sie, wie wölbten sich die Räume, und wieviel morgen war von heut zu heut. 26

Der Zeitraum von Mitte Februar bis zum 22. Mai 1924 erfüllte sich für Rilke zunächst mit zärtlichen Anspielungen auf einen jugendlichen Drang, dann aber mit betonten Anfeuerungen zu raschem Anwuchs, denen er, des beschwerlichen Alters und der ihn beschleichenden Krankheit wegen, nur nachgeben konnte, indem er mit Ausdauer arbeitete. Wie ihm in diesem »Raum der Schlüsselblumen-Zeit« zumute war, findet sich in seinem Brief an Frau Amann Volkart vom 7. April 1924 27 am klarsten ausgesprochen: »… Aber noch weniger als die vorigen Jahre hat der Wallis heuer einen wirklichen Frühling, dem man im Gefühl parallel folgen könnte. Föhntage, die schon fast schwül sind und ihre eigentümliche Spannung in den Nerven ausüben, wechseln ab mit kalten, ja eigentlich noch harten Tagen, oder vielmehr dieser brüske Wechsel geht sogar im Wechsel der Stunden vor sich: nichts von der unbeschreiblichen Milde, die in gewissen Gegenden sich dann fühlbar macht, niemals jene ruhig und sanft fallenden Regen, in denen einzelne Vogelstimmen sich vertiefen … : denn hinter dem hiesigen Auf und Ab steht schon eine viel zu starke, fast möchte man sagen, eine jähzornige Sonne, die, wenn man sie gewähren lässt, alles Wachstum wie mit Pfropfenziehern aus dem Boden zieht. Ich begreife immer mehr, dass das eine Wein-Sonne ist, die an nichts Freude und Interesse hat als an den Reb-Hügeln. Denen gestattet sie sogar, langsam zu sein, und wacht über sie und ist ganz für sie da. Das übrige im Land behandelt sie

26 27

Ebd., S. 887. R. M. Rilke, Briefe aus Muzot 1921 bis 1926, a. a. O., S. 255–256.

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streng und ohne Güte, erzieht es an den Haaren, wie ein Dorfschullehrer die Kinder, die er nicht mag. Eine solche Sonne ist nicht fähig, Frühlinge zu sticken mit Nachdenklichkeit, Freude und Geduld. Auch mit den Menschen geht sie kurios um … Mit dieser Sonnen-Essenz unmittelbaren Verkehr zu haben, ist anstrengend und ermüdend. … Nun leb ich so mit einem Viertel Lebens-Freude mit fast unterbrochenem Vertrauen, immerfort abgelenkt durch meine Übelstände: ein Zustand, den ich, seit meiner kränklichen Kindheit, nicht gekannt habe.« »Soudain il me souvient« – mit diesen Worten setzt die von Rilke zurückbehaltene französische Vorstufe der »Entwürfe aus zwei Winterabenden« ein. 28 »il me souvient« – und nicht etwa »je me souviens«. »Es kommt mir in den Sinn« – deutet auf etwas anderes hin als auf eine Erinnerung, die ich »habe«. Etwas fällt mir ein, von dem nicht bereits ausgemacht ist, dass und wie es meiner Vergangenheit angehört. Wie es aufdämmert, noch bevor es mir die Vergangenheit zurückruft, hat Paul-Jean Toulet in einer seinen »Chansons« ausgesprochen: Longtemps si j’ai demeuré seul Ah! qu’une nuit je te revoie. Perce l’oubli, fille de joie, Sors du linceul. D’une figure trop aimée, Est-ce toi, spectre gracieux, Et ton éclat, cette fumée Devant mes yeux ?

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I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 868.

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Ta pâleur, tes sombres dentelles, Le bal qui berçait nos pieds las. Un corps qui plie entre mes bras : Je me rappelle … 29

Dass er nächtens das Freudenmädchen, dem er seine Liebe bewies, wiedersieht, hält der Dichter nicht für im vorweg schon entschieden. Von seiner langen Einsamkeit hängt es nämlich ab, dass ihm eines Nachts ein solches Wiedersehen gelinge – das insofern nicht schon eingetroffen ist, vielmehr vom Dichter sehnlichst herbeigewünscht wird. Womit die Sehnsucht des Einsamen sich trägt, befindet sich auf der Schwelle zwischen Vergessen und Erinnerung – als eine leichenfahle Gestalt, deren »Existenz« nur als »umfragt« aufgenommen, nicht eigentlich »wahrgenommen« werden kann. »Flüchtigste Figur« 30 der maßlos Geliebten – ist sie mehr als ein bezauberndes Nachtgespenst? Und ihre blitzartige Ausstrahlung – ist sie mehr als eine Rauchwolke? Was dem Dichter in den Sinn kommt, erstmals hervorzurufen, damit es, zum Schluss, ihn dazu ermächtigt, Vergangenes zurückzurufen, das aber unausgesprochen bleibt, ist die Blässe ihres geliebten Antlitzes, – sind die dunklen Schatten des mit Spitzen besetzten Kleides, die die Geliebte umhüllen, ist das wiegende Tempo müder Tanzschritte, ist die Biegung ihres Körpers während der Umarmung. Es sind die tiefen, die geheimen Falten des liebenden Begegnisses, die sich zu Wort melden – um deren reine Aussprache der Dichter wirbt. Stiftete es nicht seine Einsamkeit an, machte es diese nicht lange, füllte es sie nicht mit sehnlichster Erwartung? War es ihm nicht ein unumgängliches Ereignis, das alle Gegenwart überPaul-Jean Toulet, Chansons. Romances sans musique III, in: Œuvres complètes. Édition présentée et annotée par Bernard Delvaille. R. Laffont, Paris 1986, S. 29–30. 30 Vgl. R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 286. 29

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steigt? – Unvergessliches, das einem nur im Schimmer beikommt? Am 15. Februar 1924, am selben Tage, an dem er den kleinen Zyklus der »Entwürfe aus zwei Winterabenden« vorläufig abschloss, erhielt Rilke ein Exemplar der Biographie, die der Hausarzt, Herausgeber der Zeitschrift »Le divan« und späterer Pariser Buchhändler Henri Martineau dem Dichter Paul-Jean Toulet gewidmet hatte. 31 Mit roter Tinte trug er darin einige Verszeilen mit dem Vermerk »À Toulet« ein, die später in der Gedichtsammlung »Vergers« aufgenommen wurden 32 : Dans la multiple rencontre faisons à tout sa part, afin que l’ordre se montre parmi les propos du hasard. Tout autour veut qu’on l’écoute –, écoutons jusqu’au bout ; car le verger et la route c’est toujours nous !

Aus ihnen geht hervor, wie die »Nachdenklichkeit, Freude, Geduld«, die er sich vom nahenden Frühling als sein kostbarstes Geschenk erwünschte, sich zur dichterischen Andacht vor dem sonderbaren Ereignis eines Begegnisses steigerte, das sein Geheimnis nicht vorderhand schon preisgab. Wie hat es in den »Entwürfen aus zwei Winterabenden« einen prekären Ort finden können, an dem es sein Intrigenspiel entfaltete?

Henri Martineau, La vie de Paul-Jean Toulet. Éditions du Divan, Coulonges-sur-l’Autize 1921. 32 I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 869; R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 39. 31

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Soudain il me souvient d’une place auprès d’une source prise de manière qu’un banc en pierre qui l’enlace vous invitait à vous taire.

So lautet die in »Ébauches et Fragments« erstmals veröffentlichte Skizze in französischer Sprache der Anfangszeilen einer »Prélude«, eines »Vorspiels«. Als »Einfall« ist sie kein bloßer »Vorschlag des Zufalls«, kein »fait divers«, den der Dichter zum Gegenstand einer zu erzählenden »Anekdote« wählte. Der Anfang eines »Vorspiels« ist niemals ein bloßer Vorfall. Er ist eine Geste, eine Gebärde. Vom Dichter wird sie in einem einzigen Anstrich ausgemalt. Denn sie bedeutet ihm eine rätselhafte Einladung. Und die Intrige, die sie einfädelt, fängt den Leser ein. Die Gebärde, die Rilke in den Sinn kommt, ist die Art und Weise, in der ein Platz in der Nähe einer Quelle eingenommen ist. Diese »manière« hat nichts Aufsässiges oder Anmaßendes an sich – wenn es sich auch um eine »prise«, um ein Platz »Greifendes« handelt, das bereits zum Abschluss gekommen ist. Nicht etwa wer auf dieser Art zugegriffen hat, sondern wie darin etwas »Ergreifendes« lag, darüber sinnt der Dichter nach. Was die Nähe zur Quelle prägt, ist das »Benehmen« einer Steinbank, die sie liebevoll umfängt. Es ist die Geste der Umarmung, die sich an diesem Ort vollzogen hat. Sie ist etwas Rührendes, das voll Anspruch ist. Er wendet sich nicht nur an den sinnenden Dichter, sondern an einen jeden, dem dieser Vorgang jemals teilhaftig ward. Wer von uns meint denn, der Fülle dessen, was in dieser Gebärde lag, je auf den Grund gekommen zu sein? Die Geste der Steinbank lädt nicht dazu ein, diesen Platz zu »besetzen«. Er ist durch ihr Benehmen bereits anderwärts belegt. In die Nähe einer Quelle, die sie liebevoll anrührt, kann man nicht dadurch kommen, dass man sich etwa in die Lage versetzt, die die Steinbank bereithalten würde. Ein solches Angebot macht die Steinbank nicht. Ihre »invitation« 40 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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hat nichts zu »bieten«, was in diesem Sinne »machbar« wäre. Die Nähe, die durch die Geste einer Umarmung geschaffen wird, ist keine solche, die auf Schritt und Tritt verfügbar wäre, die man »antreten« könnte. Eine einladende Geste regt zur lebhaften Beteiligung an. Wie beteiligt man sich lebhaft an demjenigen, was in der Umarmung Platz greift? Was, eine Quelle anrührend, voll Anspruch ist? Regt sich nicht ein Schweigen in einem jeden, der derart Ergreifendem je beiwohnte? Der Auftakt zu einer »Prélude« endet abrupt. Er beschränkt sich auf das In-Szene-setzen einer rätselhaften Gebärde. Die Komplizenschaft zwischen einer rauschenden Quelle und einer steinernen Bank, die sie umrandet, wird im französischen Vorentwurf der »Prélude« nicht ausgesponnen. Das rege Schweigen des Dichters stößt sich an einer Begegnung, die, so anspruchsvoll sie sein mag, es ihm dennoch verweigert, ihr Geheimnis zu lüften. Der erste Takt der »Prélude« verbreitet nur Stille. Rilke zerbricht sie in der deutschen Fassung mit einer Frage: Warum, auf einmal, seh ich die gerahmte Park-Quelle unterm Ulmen-Dach? 33

Das Fragezeichen markiert einen Moment der Verwunderung. Das auf einmal Gesehene interpelliert. Was ist denn eigentlich dieses »auf einmal Gesehene«? Inwiefern trifft es den Dichter dergestalt, dass es eine Frage aufwirft? Es ist nicht der in der Nähe einer Quelle bereits eingenommene Platz, nicht die »manière« ihrer »enlacement« durch eine Steinbank. Es ist – gewiss – die Quelle in einer Parkanlage, aber in einer Einfassung, die ihr den Aspekt eines Bildes oder eines Fensters verleiht. Was darin erscheint, gehört zum R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 283.

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überwölbenden Himmelsbogen. Es ist ein Dach, das durch das Blätterwerk der Ulmen gebildet wird. Was als das »auf einmal Gesehene« den Dichter dermaßen trifft, dass es ihn interpelliert, ist – diesmal – nicht die rätselhafte Geste, sondern die Spiegelung, wie sie räumig wirkt. Ist es der Quelle nicht eine Wonne, unter einem Dach zu wohnen? Spiegelt diese Häuslichkeit, um die die Park-Quelle wirbt, nicht eben dasjenige vor, nach dem die dichterische Frage unausgesprochen dürstet? Ausgesprochen wird nicht die Vorspiegelung, sondern die Nachbildung des Gespiegelten: Das Wasser in dem alten Rande ahmte dem Hintergrund in Bildnissen nach. 34

Nicht vom Hintergrund, vor dem die »gerahmte Quelle« sich für den in die Parkanlage Hineinschauenden abzeichnen würde, ist die Rede. Der Platz, an dem die Park-Quelle sich genau befindet, tut hier nichts zur Sache. Hauptsache ist die spiegelnde Nachahmung in Bildnissen, wie sie im Wasserspiegel stattfindet. Nur wer schräg in den Wasserspiegel hineinblickt, wird die sich gestaltenden Bildnisse, sei es auch in einem Zerrbild, gewahren. In dem Moment, in dem er in diesen Bildnissen etwas vom »Hintergrund« der Park-Quelle vernimmt, in dem sein Blick sich in dieser Spiegelung verfängt, entzieht sich ihm allerdings die gerahmte Park-Quelle als solche, wie ein »alter Rand« sie umfängt und einfasst. Der in Frage kommende »Hintergrund« ist das von der Wasseroberfläche reflektierte Gewölbe, das räumlich als »tieferliegend« als den reflektierenden Wasserspiegel aufgefasst wird. Gerade der Umstand, dass das die Park-Quelle überdachende Blätterwerk hintergründig im Wasserspiegel erscheint, ruft eine eigentümliche Spannung hervor. Die durch 34

Ebd.

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Ein Präludium

den »spiegelweltlichen« Schein erregte räumliche Verwandlung übt eine seltsame Anziehungskraft aus, die den Blick in die Tiefe hineinzieht. Und diese Wirkung scheint dem Wasser einzuwohnen. Es zog mich hin. 35

Wie ist diese »hintergründige« Erscheinungsform der Ulmenwipfel, die sich im Wasser spiegelten, – offensichtlich die zuerst gesehene, die ursprünglich wahrgenommene –, dem Dichter fragwürdig geworden? Und zwar so, dass er, auf einmal »sehend« geworden, das Trugbild durchschaute? – Dass er im tieferliegenden, den Blick in sich hineinziehenden, hintergründig wirksamen Gebilde plötzlich die Höhe des überwölbenden Blätterdaches wahrnahm? Aus welchem »Grund« gelang ihm dieser Durchbruch, der das spiegelverkehrte räumliche Verhältnis zurechtrückte? Diese Frage ist genau diejenige, um die seine besinnliche »Prélude« sich dreht. Der Dichter lässt uns an dieser Drehbewegung teilhaben. Sah ich vielleicht davor die Möglichkeit des sanftesten Ovals? 36

Diese neue Frage skizziert eine Antwort auf die zuerst gestellte. Sie erwägt das Auftauchen einer vordergründig werdenden Erscheinung – derjenigen des die Park-Quelle einrahmenden steinernen Randes. Ihm verdankt die Quelle es, ein »Gesicht« zu bekommen. Seine Emergenz bedeutet nicht nur, dass der sich in der Tiefe des gespiegelten Hintergrundes einsenkende Blick wieder an die Oberfläche kommt. Die spiegelnde Wasseroberfläche selbst äugt in diesem Gesicht, in35 36

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dem der freikommende Blick sich zusehends vor der Spiegelung zu lagern beginnt. Dass in der Einfassung eines »Gesichts« die spiegelnde Park-Quelle »Augen macht«, modelliert den Vorgang, in dem sie »nachahmend in Bildnissen« einen Hintergrund spiegelte, der sich über sie hinauswölbe, den sie jedoch in sich aufnahm, zu einem vergangenen Blick. Und was sie so in ihre Tiefe hineinzog, ist umso mehr vergangen, je energischer die »Vorlage« ihrer Gegenwart sich behauptet, in der sie sich auszeichnet. Das vordergründig werdende »sanfteste Oval« des »alten Randes« zwingt den nachdenklich gewordenen Dichter dazu, sich vom nachgeahmt Gespiegelten, dem »Bildnissen« Verhafteten abzuwenden. Zum Gegenstand wird das verfängliche Blätterspiegelbild als solches, dem er »auf den Grund gehen« möchte. Was hatte es mit der »Höhe« des Ulmen-Daches auf sich, bevor sie, vor dem Spiegel tretend, sich in seinen Bildnissen verfing, die den Blick in die Tiefe zogen? Wie breitete das Blätterwerk der Baumwipfel sich zu einem Dachgewölbe aus, das über die Park-Quelle seine schützende Hand hielt, bevor ihr steinerner Rahmen die großzügige Breite in die Enge eines Bildes trieb? Wie beschnitt das »sanfteste Oval« diese Himmelsgegend, indem es sich in ein offenes Fenster verwandelte? Und wenn es dem Dichter während eines Augenblicks zu einem »Gesicht« wurde, dem Augen eingesetzt waren, welche Seelenwanderung hatte sich darin vollzogen? Sank ein göttlicher Blick jäh in dessen dunklen Grund hinein? Hinterließ er, indem er aus seinem Kulminationspunkt herausfiel und in den tiefen Augen verschwand, eine Spur seiner unerhörten Bahn? Seines abgründigen Taumels? War es die Hoffnung eines Kaschmirshawls, die ich ans Blätterspiegelbild verlor? 37

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Das farbenprächtige Patchwork des Blätterwerkes rief dem Dichter die Kaschmirshawls in die Erinnerung zurück, die er wenigen Monaten zuvor, im Oktober 1923, im Berner Historischen Museum bewundert hatte. Darüber hatte Rilke noch am 16. Dezember 1923 in aller Ausführlichkeit an Gräfin Sizzo berichtet: »Wie eingeschränkt ist doch immerfort das Gebiet unseres Beredtseins; in Bern kürzlich (ich ging dorthin von Malans über Zürich) überlegt ichs wieder. Dort ist jedesmal das ›Historische Museum‹ das groβe Ereignis für mich durch seine unerhört herrlichen Wand-Teppiche, die die Schweizer des fünfzehnten Jahrhunderts aus dem Burgunder-Schatz Karls des Kühnen sich erobert hatten. Diese prächtigen Sammlungen sind seit kurzem nach anderen Seiten hin bereichert durch den Nachlaß eines Sammlers von Orientalien; Miniaturen, Waffen, Kacheln, Bronzen von ungleichem Wert; diesmal kam ich auf eine besondere Entdeckung: Shawls: persische und turkestanische KaschmirShawls, wie sie auf den sanft abfallenden Schultern unserer Ur-Großmütter zu rührender Geltung kamen; Shawls mit runder oder quadratischer oder sternig ausgesparter Mitte, mit schwarzem, grünen oder elfenbein-weißem Grund, jeder eine Welt für sich, ja wahrhaftig, jeder ein ganzes Glück, eine ganze Seligkeit und vielleicht ein ganzer Verzicht, – jeder alles dies, voll von menschlichem Einschlag, jeder ein Garten, in dem der ganze Himmel dieses Gartens miterzählt, mitenthalten war, wie im Citronen-Duft wahrscheinlich der ganze Raum, die ganze Umwelt sich mitteilt, die die glückliche Frucht in ihr Wachstum Tag und Nacht einbezog. Wie vor Jahren in Paris die Spitzen, so begriff ich plötzlich, vor diesen ausgebreiteten und abgewandelten Geweben, das Wesen des Shawls! Aber es sagen? Wieder ein Fiasko. Nur so vielleicht, nur in den Verwandlungen, die ein greifliches langsames Hand-Werk erlaubt, ergeben sich vollzählige, verschwiegene Äquivalente des Lebens, zu denen die Sprache immer nur umschreibend gelangt, es sei denn es gelänge ihr ab und zu, 45 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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im magischen Anruf zu erreichen, dass irgendein geheimeres Gesicht des Daseins uns, im Raume eines Gedichts, zugekehrt bleibt.« 38 Welche Hoffnung machte ihm nun, indem sein Blick sich allmählich dem aus Farbnuancen zusammengesetzten Spiegelbild der Ulmen-Blätter entzog, der bunte Kleiderstoff, den es seitlings hervorrief? Welches »geheimeres Gesicht des Daseins« kehrte sich ihm in diesem »magischen Anruf« des Kaschmir-Shawls zu? Zwei Gedichte, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Rilkes Besuch an die Sammlung von Henri Moser in Bern entstanden sind 39 , beide die Aufschrift »Shawl« tragen, erlauben es, den kaum verschleierten Verweis zu verstehen. 40

Shawl O Flucht aus uns und Zu-Flucht in den Shawl, und, um die stille Mitte, das Begehren, es möchte noch einmal und noch einmal die unerhörte Blume wiederkehren die sich vollzieht im schwingenden Geweb (Bern, Oktober 1923)

R. M. Rilke, Die Briefe an Gräfin Sizzo 1921–1926. Herausgegeben von I. Schnack. Insel, Frankfurt a. M. 1977, S. 78–79; vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 845. 39 I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 845. 40 R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 604–605. 38

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Shawl Wie, für die Jungfrau, dem, der vor ihr kniet, die Namen zustürzen unerhört: Stern, Quelle, Rose, Haus, und wie er immer weiß, je mehr der Namen kamen, es reicht kein Name je für ihr Bedeuten aus – … so, während du sie siehst, die leichthin ausgespannte Mitte des Kaschmirshawls, die aus dem Blumensaum sich schwarz erneut und klärt in ihres Rahmens Kante und einen reinen Raum schafft für den Raum … : erfährst du dies: dass Namen sich an ihr endlos verschwenden: denn sie ist die Mitte. Wie es auch sei, das Muster unsrer Schritte, um eine solche Leere wandeln wir. (Bern, Oktober 1923)

Kaum heraufzubeschwören war im schimmernden Spiegelbild der drohende Verlust der »stillen«, der »leichthin ausgespannten« Mitte des Shawls, die für die »Wiederkehr der unerhörten Blume« einen »reinen Raum« schuf. Worauf das »Vorspiel« nur anspielt, ohne es beim Namen zu nennen, ist ein jungfräuliches Erscheinen, wie es sich aus dem Blumensaum des Shawls schwarz erneuerte und in der Kante des Rahmens, der seine Mitte herausschnitt, aufleuchtete. In ihrem »Bedeuten« blieb das nur blümerant Vorgespiegelte vorerst wortlos. Der Dichter verzichtete bisweilen darauf, dem, was er einmal zu sehen bekommen hat, nämlich wie es die das Ulmen-Dach spiegelnde Park-Quelle in sich barg, auf den Grund zu gehen. Wer weiß es jetzt, da Jugend nicht mehr täuscht? 41 R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 283.

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Dieses »jetzt« ist das Jetzt des meditierenden, des Wissenwollenden alternden Dichters. Er berät sich über das, was ihm so unerwartet zustieß, wozu es anscheinend nicht den geringsten Anlass gab. War es ein Nachbild fernster Erinnerung? Eine flüchtige Reminiszenz? Wie es in der französischen Vorfassung hieß: »soudain il me souvient«? »Jetzt, da Jugend nicht mehr täuscht« – indem er, hellsichtig geworden, sich durch die Phantasmen der Jugendzeit nicht länger irreführen läßt? Jetzt, wo ihm dasjenige, was die spiegelnde ParkQuelle borgte, abhold geworden ist, wo sie jedes »magischen Anspruches« entbehrt, – wo nur noch ihre stumme Präsenz für ihn zählt? Wieviele Griffe in das Leere hat reines Wasser wunderbar verkeuscht und glänzt noch jetzt herauf, dass es den Traum vermehre. 42

Es ist keine offene Frage, mit der die »Prélude« schliesst. Und ebenso wenig eine Antwort auf die Verwunderung, mit der sie anfing. Der Dichter grübelt nicht über das, was ihm widerfuhr. Er zieht unter dasjenige, was ihm auf einmal in den Sinn kam, keinen Schlussstrich. Es durchleuchten zu wollen wäre anmaßend. Dennoch geht die »Prélude« nicht leer aus. Denn die Quelle ist nicht versiegt. Sie sprudelt und rinnt. Ihr reines Wasser glänzt auch jetzt noch herauf. Es bestärkt die kaum begonnene »rêverie«, die der Dichter unterbrach, als er sich in Gedanken verlor, mit denen er die Vorspiegelungen, die sie ihm vorhielt, nicht in den Griff bekam. Es verschont seine Fehlgriffe, macht sein Nachsinnen »keusch«, damit er für würdig befunden werden mag, die jungfräuliche Erscheinung zu empfangen. Denn nur so kann die »invitation à nous

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taire«, die die jungfräuliche Erscheinung – ursprünglich – ergehen ließ, verwunden werden. Die rinnende Quelle wäscht die Hände des Dichters.

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III. Empfängnis

Vom 24. bis zum 27. Juni 1924 machte Rilke zusammen mit Frau Nanny Wunderly-Volkart eine Autoreise durch die Schweiz. Wie aus der »schnellen kleinen Aufzeichnung« hervorgeht, die Frau Wunderly-Volkart von den Etappen dieser Autofahrt machte, sah der Dichter am 27. Juni 1924 sich die Sammlung Moser im Berner Historischen Museum wieder an und weilte »10 minutes au Musée devant les shawls«. 1 Lange genug, um am 1. Juli 1924 in Ragaz, wo ihn die Fürstin von Thurn und Taxis erwartete, ein drittes Mal »das Thema ›Shawl‹ in einem Gedicht zu fassen«. 2

hShawli Wie Seligkeit in diesem sich verbirgt, so eingewirkt, dass nichts mehr sie zerstöre; wie bloßes Spiel vollkommener Akteure so ungebraucht ins Dauern eingewirkt. So eingewirkt in schmiegende Figur ins leichte Wesen dieser Ziegenwolle, ganz pures Glück, unbrauchbar von Natur rein aufgegeben an das wundervolle

Beilage 11: »Schnelle kleine Aufzeichnung der Autoreise von Nanny Wunderly-Volkart und R. M. Rilke vom 24. bis 27. Juni 1924«, in: R. M. Rilke, Briefe an Nanny Wunderly-Volkart. Im Auftrag der Schweizerischen Landesbibliothek und unter Mitarbeit von Niklaus Bigler besorgt durch Rätus Luck. Insel, Frankfurt a. M. 1977, Bd. II, S. 1189–1191. 2 I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 893. 1

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Geweb in das das Leben überging. O wieviel Regung rettet sich ins reine Bestehn und Überstehn von einem Ding. Ragaz, um den 1. Juli 1924 3

Eher unauffällig schlich es sich aber auch in die Anfangsstufen des Gedichtes »Éros« (I) ein, dessen Schlußpartie (IV) Rilke erst im Januar 1925 für die französische Gedichtsammlung »Vergers« bestimmt hat: 4

Éros I Ô toi, centre du jeu où l’on perd quand on gagne ; célèbre comme Charlemagne roi, empereur et Dieu, – tu es aussi le mendiant en pitoyable posture, et c’est ta multiple figure qui te rend puissant. – Tout cela serait pour le mieux ; mais tu es, en nous (c’est pire) comme le noir milieu d’un châle brodé de cachemire. 5

Durchschoss sein feuriger Blick nicht die Feuillage? War es nicht »sein strahlendes Gesicht«, das »wie die Sommer-

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R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 614. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 923. R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 35.

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sonnenwende frühlingliches Vorspiel unterbricht«? 6 Indem er Sonnenlicht in den dunklen Grund der Quelle hineinschleuderte? – »Ô faisons tout pour cacher son visage d’un mouvement hagard et hasardeux«! 7 »Masken! Masken! Daß man Eros blende.« 8 »Il vient si près de nous qu’il nous sépare de l’être bien-aimé dont il se sert«. »Entrant en nous avec son grand cortège, il y veut tout illuminé«. 9 War er es nicht, der »dieu barbare«, 10 der in der Kante, die die Mitte des Kaschmir-Shawls herausschnitt und einrahmte, aufdämmerte? »Il veut qu’on touche«, – »lui, qui après se sauve comme d’un piège, sans qu’aux appâts il ait touché«. 11 Stiftete er es nicht an, dass man die Geliebte anrührte – spannte er einem nicht diese Falle? Aus der er sich selber gleich darauf rettete, indem er auf den eigenen Lockruf nicht hereinfiel? Wie ein in einen dunklen Grund jäh einfallendes Licht auf einmal davor zurückschreckte, sich ins Bodenlose zu verlieren? »Einen reinen Raum« zu schaffen für den Raum des liebenden Begegnisses, wer von uns vermag es denn? Wie vermag es ein Dichter? Ein Gedicht, das Rilke zuerst in »Commerce. Cahiers trimestriels publiés par les soins de Paul Valéry, Leon-Paul Fargue, Valery Larbaud, Paris, Automne 1924« veröffentlichte, bevor es in »Vergers« unter der Nummer 18 erschien, deutet an, wie er seine Hände in fließendes Wasser hielt.

»Eros«, in: R. M. Rilke, Gedichte. Dritter Teil, a. a. O., S. 430. Das Gedicht wurde, wie die »Entwürfe«, Mitte Februar 1924 geschrieben, fand im »Insel-Almanach auf das Jahr 1925« Aufnahme. 7 »Éros«, in: Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 35. 8 »Eros«, a. a. O., S. 430. 9 »Éros«, a. a. O., S. 36. 10 Ebd. 11 Ebd. 6

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Eau qui se presse, qui court –, eau oublieuse que la distraite terre boit, hésite un petit instant dans ma main creuse, souviens-toi ! Clair et rapide amour, indifférence presque absence qui court, entre ton trop d’arrivée et ton trop de partance tremble un peu de séjour. 12

Die sonst griffbereiten Hände halten sich diesmal offen. Die Höhle des Handinneren formt eine Mulde aus. Nur eine Zögerung des Zeitflusses nimmt sie in Empfang, eine leichte Aufwallung der Erinnerung. Wie das liebende Begegnis zerrann, wie es bis zur Abwesenheit schwand, in Gleichgültigkeit zerfiel – dagegen bäumt diese sich nicht auf. Für den Verbleib dieses Begegnisses ist ihr die Schwingungsdauer zwischen einem Übermaß an Ankunft und einer übereilten Abfahrt ausreichend. Was quoll so auf, dass es dem Dichter durch die Finger rieselte, im Handinneren nur die Welle einer Erregung hinterließ? Noch im selben Frühling, Anfang April 1924, notierte Rilke sich folgende Zeilen: Quellen, sie münden herauf, beinah zu eilig. Was treibt aus Gründen herauf, heiter und heilig? Läßt dort im Edelstein Glanz sich bereiten, um uns am Wiesenrain schlicht zu begleiten. R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 34; vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 919. Das Gedicht ist auf »September 1924« datiert.

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Wir, was erwidern wir solcher Gebärde? Ach, wie zergliedern wir Wasser und Erde! 13

Gelang es dem Dichter, das, was »noch jetzt heraufglänzt, daß es den Traum vermehre«, ungetrübt in Verwahrung zu nehmen? Wühlte sein »Handwerk« nicht die Tiefe auf, jenen Grenzbereich zwischen flüssigem Wasser und hartem Gestein, wo der Passant den Glanz eines versunkenen Schatzes vermutete? In den »Entwürfen aus zwei Winterabenden« begegnen wir den Verwandlungen des liebenden Begegnisses, wie sie aus dem langsamen Handwerk des Dichters hervorgehen. Welche »vollzählige, verschwiegene Äquivalente des Lebens, zu denen die Sprache immer nur umschreibend gelangt«, sich daraus ergaben, verdient unsere volle phänomenologische Aufmerksamkeit. 14 Die »vis magica« eines Gedichtes, uns in ihrem Raum »irgendein geheimeres Gesicht des Daseins zuzukehren« 15 , das dem täglichen Leben entgeht, halten wir für philosophisch besonders bedeutsam. Sie darf aber, wie Rilke selbst zu erkennen gab, nicht »generell« vorausgesetzt werden. 16 Im Zuge seiner »Entwürfe« soll sich zeigen, wie ihm ein »magischer Anruf« gelang – und welche Gedichtform ihm dazu geeignet schien, einen solchen zu verlauten. 17

R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 157; vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 878. 14 Vgl. Rilkes Brief an Gräfin Sizzo vom 16. Dezember 1923, in: R. M. Rilke, Die Briefe an Gräfin Sizzo 1921–1926, a. a. O., S. 79. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Vgl. weiter unten S. 138 f. unsere Analyse des Gedichtes »Berühre ruhig mit dem Zauberstabe …« aus dem »Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«, in: R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 610–611. 13

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Nichts blieb so schön. – Nein, dies blieb schön! 18

In diesen Verszeilen der ersten und letzten Strophe wendet sich das erste der sieben Gedichte, die Rilke in der Zeitspanne vom 13. bis zum 15. Februar 1924 entwarf. Was wendet es uns zu? Eine Ausnahme, ein »so schön« – wie dies: ein Bleibend-Schönes, das seine Vergänglichkeit verleugnete, ein allen fadenscheinigen Glanz Überbietendes. – »Wie dies«, das das »so schön« verschweigt, weil es mit »nichts« vergleichbar ist, nur so sich herausnimmt. Eine unverhältnismäßige Ausnahme. Ist diese Art Schönheit keine Verstiegenheit? Widerspricht dem »so« der unverhältnismäßigen Ausnahme nicht das unerbittliche Gesetz, dass »nichts schön bleibt«? »Nein, dies blieb schön!« Unangefochten behauptet es sich, wenn auch alles dagegen spricht. »Dies« – ist es denn überhaupt nachweisbar? War es je »da«? Wann und wo gab es denn »so etwas«, was sich so unvergleichlich herausnahm? Etwas »so Schönes«? In dem französischen Gedichtkreis »Vergers«, der sich um das gleichnamige Gedicht gesellte, welches Rilke am 22. Februar 1924 Paul Valéry zueignete und daraufhin immer größere Wellen schlug, finden sich folgende Verszeilen: Le sublime est un départ. Quelque chose de nous qui au lieu de nous suivre, prend son écart et s’habitue aux cieux.

R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 284.

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La rencontre extrême de l’art n’est-ce point l’adieu le plus doux ? Et la musique : ce dernier regard que nous jetons nous-mêmes vers nous ! 19

Entschlägt das über alle vergängliche Schönheit Erhabene sich der Bahn, die wir beschreiben? Reist es so aus uns ab, dass es uns zurücklässt, während es sich an die Himmel gewöhnt? Schafft es diese Distanz – die Entfernung, die sich in uns zwischen Erde und Himmel auftut? Treibt es die Kunst zum Äußersten, wenn sie einer solchen Schönheit zu begegnen versucht? – Zum Punkt des zärtlichsten Abschieds? Ist die Musik, die erklingt, wie der Rückblick, den wir während dieser Himmelfahrt uns letztlich zuwerfen? »Dies« über allen vergänglichen Glanz Erhabene, wie wurde es ursprünglich empfangen? Ich war damals zu klein.

»Damals«, als es sich ereignete. Ein Nachmittag. Sie wollten plötzlich tanzen und rollten rasch den alten Teppich ein. (Was für ein Schimmer liegt noch auf dem Ganzen.) Sie tanzte dann. Man sah nur sie allein. Und manchesmal verlor man sie sogar, weil ihr Geruch die Welt geworden war, in der man unterging. Ich war zu klein. 20

Kaum eine Erzählung, da der Plot fehlt, ist die dargebotene »Umschreibung« des Geschehnisses eher eine vage SchilR. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 54. R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 284.

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derung. In knappen Sätzen evoziert sie eine Szene. Die Angaben über Zeit und Raum: »ein Nachmittag«, »ein Gartensaal« – gehen nicht ins Detail. Die Gesamtansicht ist verschwommen. Weder die Frauengestalt noch die Tanzfigur werden als solche ausgemalt. Aus dem »Gestaltkreis« sondert die kurze Beschreibung zwei Momente aus. In ihnen verdichtet sich das Geschehen zu einem »Ereignis«. Zum einen die »Vereinzelung«, die dadurch entsteht, dass die tanzende Gestalt den Blick aufsaugt. Zum anderen die »Auflösung«, die dadurch bedingt ist, dass der berauschende Duft, den sie in ihrem Wirbel verbreitet, die Konturen verwischt, in denen man sie wahrnehmen kann. Gerade diese Absorption und Dilution, dieses Aufgehen in das Sich-Herausnehmende und Untergehen in das zur »Welt« Gewordene hebt der Dichter heraus. Es bedeutet ihm Gewinn und Verlust in einem. Wer diesem Ereignis beiwohnte, bleibt unbestimmt. »Man sah nur sie allein.« – »Manchesmal verlor man sie sogar.« – »Ihr Geruch war die Welt geworden, in der man unterging.« – In diesen Zeilen spricht sich ein anonymes Zeugnis aus. Ich war zu klein. Damals.

Dem Ereignis nicht gewachsen. Ein »Kind« noch. Ein »bestürztes Kind«, heißt es im zweiten Gedicht. 21 Fiel es ihm teilnahmslos zu? Überfiel es ihn voreilig? Verfiel er einer Perplexität? Stand er dem Vorgang ratlos gegenüber? Weil ihm jede »Einführung« in den Tanz fehlte, er sich auf das verführerische Spiel, wozu der Tanz ihn einlud, nicht verstand? Weil er sich selbst heillos verlor in dem »Gebäude aus Geruch und Schein« 22 , das der Tanz in seinem Leben errichtete, – darin nur herumirrte? »Der Eintritt und die Einführung in R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 285. 22 Ebd. 21

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den ›Tanz des Lebens‹ ist das wesentliche Merkmal der kindlichen Existenz, und darum ist die Jugend erfüllt von Begegnungen«, bemerkt F. J. J. Bujtendijk in seinem Beitrag »Zur Phänomenologie der Begegnung«. 23 Von entscheidendem Gewicht ist dabei nach Bujtendijk die »Paarung«, d. h. die in der Begegnung sich ausbildende Koppelung und »Verschränkung« der Partner zu einem »Tanzpaar«. 24 Eine solche, in den wiederholten Begegnungen sich immer wieder erneuernde »Paarbildung« schließt »adaptive« Mit- und »expansive« Gegenbewegung eines Kontertanzes ein. 25 In der »mitgängigen« Vollzugsform der nachgiebigen »Hingabe« und der »gegnerischen« des Sich-Entgegenstemmens bekundet sich laut Bujtendijk die »zweideutige Struktur der echten Begegnung«. 26 All das ist – hier – nicht »der Fall«, obwohl es genau dasjenige ist, was »es gab«: eine Tanzgelegenheit an einem Nachmittag in einem Gartensaal, die sich zwanglos ergab. Aber sie »bot« sich nicht, schenkte nicht die Gunst einer Anteilnahme. Aus dem geselligen Beisammensein, das zur Feierlichkeit anstimmte, scherte ein »Ich« aus, das die Gunst dieser Stunde nicht zu erlangen wußte. »Ich war zu klein.« Wie kam es zu kurz? Wann aber war ich jemals groß genug, um solchen Duftes Herr zu sein? Um aus dem unbeschreiblichen Bezug herauszufallen wie ein Stein? – 27

F. J. J. Bujtendijk, »Zur Phänomenologie der Begegnung«, in: Das Menschliche. Wege zu seinem Verständnis. K. F. Koehler, Stuttgart 1958, S. 73. 24 A. a. O., S. 72. 25 A. a. O., S. 73–74. 26 Ebd. 27 R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 284. 23

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»Wann … jemals« spannt einen Zeitbogen, der sich über das »damals« weit hinausstreckt. Er erstreckt sich bis zur Gegenwart des nachsinnenden Dichters. Am Wachstum des eigenen Lebens mißt er die Größe des Ereignisses. Wann erreichte er den Augenblick, an dem er über dieses Ereignis hinauswuchs? Wann konnte er die Herrschaft über sein Geschick an sich reißen? Wie meistert man einen Geruch, der »die Welt geworden war, in der man unterging«? »Wann … jemals« schlägt die Brücke zu einem noch ungewissen anderen Ufer. Zu den deutschen Gedichten, die Rilke in der Zeitspanne vom Mitte Februar bis in den Juni 1924 niederschrieb, die er zu keiner geschlossenen Sammlung zusammengefasst hat, gehört das Gedicht, das die Aufforderung zum Brückenbau, wie sie an den Dichter erging, rein ausspricht. Es ist auf »Mitte Februar 1924« datiert, fällt demnach in die Entstehungszeit der »Entwürfe aus zwei Winterabenden«. 28 Da dich das geflügelte Entzücken über manchen frühen Abgrund trug, baue jetzt der unerhörten Brücken kühn berechenbaren Bug. Wunder ist nicht nur im unerklärten Überstehen der Gefahr; Erst in einer klaren reingewährten Leistung wird das Wunder wunderbar. Mitzuwirken ist nicht Überhebung an dem unbeschreiblichen Bezug, immer inniger wird die Verwebung, nur Getragensein ist nicht genug.

Vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 869–870; R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 152 und S. 664 (Inhaltsverzeichnis).

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Deine ausgeübten Kräfte spanne, bis sie reichen, zwischen zwein Widersprüchen … Denn im Manne will der Gott beraten sein.

Der »Bug« ist der Schiffsvorderteil, der die Wellen durchfurcht, eine »Bugwelle« erzeugt. Bug ist das Schulterstück des Rindes, des Pferdes, das man zum Pflügen anschirrt. Bug ist der Arm, das Achselgelenk, die Achselhöhle. »Die Ableitung von Bug aus Biegen ist unmöglich.« Das Wort »gehört zum allerältesten Wortbestande des Indogermanischen«. 29 Der »kühn berechenbare Bug« besitzt eine Spannkraft, die zum Tragen des Verbindungsstückes, das den Abgrund überbrückt, ausreicht. Er gewährleistet eine dauerhafte Überwölbung des Abyssus, der zwar überdacht, aber nicht verdeckt wird. Er gähnt nach wie vor. Der Bug beschwört die Gefahr des Fluges herauf, den Absturz, der dem jugendlichen Entzücken ständig droht. Er schultert die Überquerung. Er dichtet aber nicht den tiefen Spalt. Seine Tragfähigkeit wird nicht angezweifelt, wie die des Luftwirbels. Sie ist eine »klare reingewährte Leistung«, während man sich über die Tragkraft der Luftmasse ständig wundert. Der Bug schafft eine stabile Verbindung. Die »ausgeübten Kräfte« sind die des seitwärts und niederwärts ausgeübten Druckes. Der erstere erzeugt Propulsion, der zweite Elevation. Nur ihre »Verspannung« erlaubt es, den Überstieg zu bestreiten, zum anderen Ufer hinzulangen. Die zuckende Flugbewegung verrät die Labilität des jeweils geleisteten Ausgleichs. Mit jedem Flügelschlag verlagert sie den Schwerpunkt, hebt sich immer wieder über den Moment hinweg, an dem der Absturz droht.

F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, a. a. O., S. 59.

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Empfängnis

Gleichmütig überspannt die Brücke den Abgrund. Der Bug ist über das ständige Aufwiegen der Druckverhältnisse gegeneinander wohlberaten. Diese überlegene Reife im Manne gehört zu Eros. Er schlägt die Brücke. Ein solcher »wunderbar« vollendeter Brückenschlag, der eine dauerhafte Verbindung schafft, das wagemutige Anfliegen des anderen Ufers durch ein kühnes Überspannen ersetzt, kommt dem nachdenklichen Dichter der »Entwürfe« nicht auf Anhieb in den Sinn. Er denkt an einen jähen Abbruch des »geflügelten Entzückens«, an einen Bruch der Flügel, an einen Sturz aus dem sonnigen Himmel. »Wie ein Stein« – dessen Härte sich dem »blumigen Geruch« verschließt. »Groß genug« zu sein um den Fall zu vollziehen, meint nicht die Mannesreife, in der man den kunstvollen Bug »leistet«. Bedeutet es eine Enttäuschung? Erwacht man aus einem Traum? Erblickt man das Geschehene im nüchternen Tageslicht? Löst sich das, was sich duftig ereignete, in dünner Luft auf? Bleibt uns nur ein bitterer Nachgeschmack? Notre avant-dernier mot serait un mot de misère, mais devant la conscience-mère le tout dernier sera beau. Car il faudra qu’on résume tous les efforts d’un désir qu’aucun goût d’amertume ne saurait contenir. 30

Diese Verszeilen, die Rilke unter den Gedichten ordnete, die am Anfang von »Vergers« stehen, sind zutreffend für die στροφη, mit der das erste Gedicht der »Entwürfe« beschließt:

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R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 24.

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Empfängnis

Nein, dies blieb schön! Ihr blumiger Geruch in diesem Gartensaal an jenem Tag. Wie ist er heil. Nie kam ein Widerspruch. Wie ist er mein. Unendlicher Ertrag. 31

Es sind keine vorletzten Worte, die dem damals Geschehenen nachhängen. Es sind die allerletzten Worte des ersten Gedichtes, die »devant la conscience-mère« gesprochen werden. Es sind keine bitteren Worte. Es sind schlichte Aussagen. Sie erzählen nichts Neues. »Ihr blumiger Geruch in diesem Gartensaal an jenem Tag« – das alles wurde bereits erwähnt. Sie sprechen Bleibend-Schönes, Heiles, Unwidersprochenes, Meiniges, unschätzbaren Gewinn aus. Nichts von all dem ist nachweisbar. Es fiel dem Dichter unabweisbar zu. »La conscience-mère« ist nicht die Erinnerung an dereinst Geschehenes. Sie ist die Empfängnis des unwägbaren Ereignisses.

R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 284.

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IV. Anmut

Nicht den bitteren Nachklang des Geschehnisses, sondern den wunderbaren Anklang des Ereignisses macht das Dichterwort zu seiner eigenen Sache. Das Begegnis wird nicht ins Gedächtnis hinaufgehoben und darin verwahrt. Es lebt in der sonderbaren Anwandlung des Dichters, die es nicht besiegelt. Er legt es nicht zu den Akten als ein »fait divers« aus seiner Kindheit. Das Begegnis ist unversehrt. Es währt ohne Gegenwehr einer an ihm nagenden Bitternis. Wie ist es »Meiniges«? Wie trage ich unendlich an ihm? Wie ist es mir eine Wonne? Nicht die äußere Gestalt, sondern das »innere Porträt« der Geliebten taucht im Bündel »Vergers« auf.

Portrait intérieur Ce ne sont pas des souvenirs qui, en moi, t’entretiennent ; tu n’es pas non plus mienne par la force d’un beau désir. Ce qui te rend présente, c’est le détour ardent qu’une tendresse lente décrit dans mon propre sang.

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Anmut

Je suis sans besoin de te voir apparaître ; il m’a suffi de naître pour te perdre un peu moins. 1

Wenn überhaupt in der Begegnung von »Besitzergreifung« die Rede sein soll – wie J. J. Bujtendijk es nahelegt, da nach ihm ihre innere Dynamik nicht nur die »adaptive« MitBewegung, sondern auch die expansive, aggressive GegenBewegung in sich schließt 2 –, so ist das Griffbrett, das der Dichter am Anfang des zweiten Gedichtes berührt, dieses »innere Bildnis«. Dies ist Besitz. 3

Die unterhaltsame Nachbildung in der Erinnerung entspringt, wie die vorbildende Kraft des Begehrens, dem Bedürfnis nach einer sichtbaren Erscheinung. Danach dürstet der Dichter nicht. Weder ein Nachbild noch ein Vorbild soll den Realitätsverlust, den Mangel an leibhaftiger Gegenwart wettmachen. Was die Einbuße an Wirklichkeit aufwiegt ist »der feurige Umweg, den eine im eigenen Blut langsam ansteigende Zärtlichkeit beschreibt« – der Herzkreislauf eines heißen Sehnens nach Innigkeit. Dem Dichter schenkt er das Leben, das sich ins Unsichtbare ergießt. Aus unendlicher Ferne liebt er es namenlos ein. Dies ist Besitz. »Meiniges« – ist es denn anders gemeint als »minnend«? »Unendlicher Ertrag« – bedeutet es nicht: »Liebgewonnenes«? Sticht die innere Einbildung des Dichters ins Herz, wenn man diese Worte ausspricht, die Rilke R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 52. F. J. J. Bujtendijk, »Zur Phänomenologie der Begegnung«, in: Das Menschliche, a. a. O., S. 75. 3 R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 285. 1 2

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Anmut

sich in dem in »Vergers« aufgenommenen Gedicht untersagte? Dies ist Besitz: dass uns vorüberflog die Möglichkeit des Glücks. 4

Nichts Handfestes, das gehandhabt werden kann. Nichts Kantiges, Griffiges. Nichts Handsames, das man verwendet. Sondern: Flüchtiges, Gasiges, Luftiges, Diffuses, Zerstäubendes. Ein Hauch von Parfum, leicht verweht, kaum gespürt, bald verflogen. Den Sinn nur streichelnd, ihn nicht anfassend. Nichts in ihm hervorrufend, wozu er sich entscheiden könnte, es an sich zu binden, – nichts in Geruch Stehendes, ruchbar zu Machendes. Den Sinn: »Blumiges« nur wähnend. Ohne Gewähr, die Stimme des Duftes zu vernehmen. Einund ausatmend die Essenz in seinen Kreis einbeziehend. Im eigenen Blut den Anstieg einer langsamen Zärtlichkeit gewährleistend. Noch keine Ahnung von der Blüte habend, die die Essenz verrät. Die stille Kurve zum feurigen Herzen zeichnend, das in seinem Überschwang den göttlichen Funken der Beglückung entfacht. Nein. Nicht einmal. Un-Möglichkeit sogar; 5

Nicht einmal die flüchtigste Berührung des aufnahmefähigen Sinnes Erzeugendes. Nichts Anwehendes, das ihn beflügeln würde. Nichts Widerstehendes, das er weiterleiten könnte. Schleunigster Schwund dünnster Höhenluft. Der Sinn auf der Leeseite, im Windschatten des Unübersteigbaren, wie gelähmt. Seine Zärtlichkeit zu langsam für das Unerwartete, das ihn nicht duldet. Atemlos staunend. Vom Schauer über4 5

Ebd. Ebd.

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Anmut

rannt, der die Beglückung im Keime erstickt. Un-Möglichkeit: das sich aufbäumende Geschick tiefster Betroffenheit. Dies ist Besitz.

Ist es unangreifbar Ergreifendes, das uns den Sinn für jeden Zugriff verschlägt, auch für den leisesten, zärtlichsten, zu dem wir fähig sind? Wie ist es dennoch »Besitz«, und keine Besessenheit? Gewähntes, aber kein Wahn? nur ein Vermuten, dass dieser Sommer, dieser Gartensaal, – dass die Musik hinklingender Minuten unschuldig war, da sie uns rein betrog. 6

Es wird vermutet, dass einem etwas geschehen ist – genauer: dass »uns« etwas geschah, die in das Geschehnis verwickelt wurden. Es passierte an diesem Sommer, in diesem Gartensaal, als die Tanzmusik verklang, die in wenigen Minuten den Raum erfüllte und sich in die sommerliche Luft einmischte. Es war zu flüchtig, um es erfahren zu können, um darin einem Lauf der Dinge geschickhaft verbunden zu sein, der das eigene Beginnen bestimmen würde. Es verdichtete sich darin kein »Geschick«, dem wir daraufhin so verfielen, dass wir in unserem Tun dessen nicht mächtig wären. Das Geschehen war insofern »unschuldig«, als es uns nichts zuschickte, wofür wir mit dem eigenen Tun haftbar seien. »Durch Schicksal fällt man in Schuld.« 7 Seine »Unschuld« war, genau genommen, Schuldlosigkeit. »Während in der Besessenheit dem Menschen ›etwas geschehen ist‹, er sich hier überhaupt als an die Dinge begeben findet, sie nicht erschließt durch Einbezug in den Sinnkreis seines Lebens, nicht Ebd. H. Lipps, Die menschliche Natur. Werke, Bd. III. V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1977, S. 40.

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Anmut

ihr Prinzip ist. Man erfährt hier eine Nichtmächtigkeit.« »In seinem Beginnen ist man« – hier – »dem Lauf der Dinge geschickhaft verbunden«. 8 Man trägt sich mit einer mutmaßlichen Schuld, für die man aber keine Probe geben kann. Dies ist Besitz.

Das ist nicht die Zumutung, die die Musik an uns stellen würde. Als hätten wir, indem wir ihr Verklingen vernahmen, frevelhaft an etwas gerührt, was wir über uns brächten. Als hätten wir im Genuss der Schlussakkorde etwas berufen, was »über« uns kam. Als verwirkten wir, was wir berufen uns aufgeladen hätten, dessen Sitz wir würden. Als verfielen wir im Abklingen der Töne dem Untergang dessen, was uns, sei es auch kurzfristig, eine »Welt« geworden war, – was uns herrlich verführte. Als durchschauten wir ernüchtert ihren Betrug, wegen dessen wir die schuldige Zeit anklagen möchten, obwohl diese ihr Mutterboden sei. Hegen wir angesichts der Musik nicht die Vermutung, dass sie unschuldig sei, da sie uns rein betrog? Ungetrübt, ohne Hinterlistigkeit? Ohne die Zeit für das Geschick eines Weltunterganges haftbar zu machen, in dem alles Schöne, das uns zufließt, versiegt? Wogegen wir niemals aufkommen können? Aber wie? Wie anders als in ihrem Gebären aus dem Schoß der Zeit, den sie nicht verhehlt? Wie anders als im Beschwingen der Luft durch das Vibrieren einer aufgezogenen Saite, eines aufgespannten Vokalakkordes, einer hauchdünnen Membrane? Wie anders als im zitternden Verbreiten einer Schallwelle, an der entlang wir gerührt dem Zeitlauf gewahr werden, ihm in den sich auf ein Minus absinkenden Klangintensität auf die Spur kommen? Wie anders als indem wir die Erstreckung vollziehen, zu der diese Welle verführt, weil sie uns in die Länge zieht? Ist denn diese Ver8

A. a. O., S. 43.

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Anmut

führung ihrerseits nicht die keuscheste Regung des Gemüts? Die unverhohlenste Offenbarung des »unbeschreiblichen Bezugs«? Das Malzeichen der Anmut? In seinem zweiten Gedicht der »Entwürfe« fällt dieses Wort nicht. Seltsamerweise fehlt es ebenfalls in der Handschrift seiner Übertragung der französischen Gedichtsammlung »Charmes«, die Rilke eine Woche zuvor, am 7. Februar 1924, an Paul Valéry sandte mit der Widmung: »À Paul Valéry, qui aime les résultats purement réalisés, cette somme de consentement, d’obéissance et d’activité parallèle«. 9 Entzog gerade das Titelblatt sich der »Summe von Zustimmung, Gehorsam und Entsprechung«, die Rilke dieser Gedichtsammlung P. Valérys zutrug? Oder verweigert die Anmut es schon von sich aus, ihren »Besitz« offenkundig zu machen? Sowohl in dem Sinne, dass man über sie verfüge als auch in demjenigen, dass man schicksalshaft ihr »Sitz« geworden sei? Ist sie etwa die schlichteste Verführung, die uns am reinsten betrügt – ohne uns hinterlistig irgendetwas Täuschendes vorzuführen, ohne jeglichen Vorwand? »Die Koketterie ist nicht einfach auf die Formel eines Spiels zwischen Zeigen und Vorenthalten zu bringen – verfangen soll das zur Schau Getragene.« 10 Eben diese Exhibition »narrt« den anderen, »sofern er seinerseits herausgefordert wird«. 11 Die Bezauberung wird durch Eitelkeit unterwandert. Der Casanova ist nicht einfach ein Charmeur. Er ist ein »Frauenheld«. Sein aufopferndes Sich-Verschwenden verrät, wie er gerade dem Charme verfällt, den er durch seine Berufung auf sich geladen hat. Er täuscht sich über seine verstellte Liebeskunst hinweg, in der verfangen er sich als siegessicher behaupten möchte. Sein zweifelhafter Ruf macht I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 865; vgl. R. M. Rilke, Übertragungen. Gesammelte Werke Bd. VI. Insel, Leipzig 1927, S. 273 f. 10 H. Lipps, Die menschliche Natur, a. a. O., S. 37 Anm. 1. 11 Ebd. 9

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Anmut

ihn nicht rühmlich. Eben der Ruch, der sein Heldentum umgibt, bringt seinen Namen in Verruf. – Gerade von der seltsam verschwiegenen »Anmut« muss gefragt werden, ob sie vielleicht die »Fuge« der Dichtung Rilkes ist. Nicht in dem Sinne einer nachgespielten Komposition, die Paul Valéry ihm eingeflüstert hätte. Eher im Sinne einer geheimen Begegnung mit der Muse von »Charmes« selbst. 12 Denn die Anmut wird der Geliebten zugeschrieben, die es ablehnt, sich ihrer anzunehmen. Sie weigert sich, eine solche Beigabe für sich in Anspruch zu nehmen. Nicht, weil sie mit dieser geheuchelten Ablehnung die eigene Schönheit schmeicheln möchte. Oder weil sie gerade mit Vorliebe auf den Schwindel des beruflichen Charmeurs hereinfällt, in der ihr gestellten Falle wie ein gefangener Lockvogel herumflattert, da es ihre Selbstgefälligkeit streichelt, wenn sie durch diese verstellte Gegenwehr sein Jagdfieber befeuert. Sondern, weil sie es »kann«, vor den Liebhaber »einfach da« zu sein. »Kann« es in diesem Sinn der Dichter? Wenn er darauf beharrt, ihre Anmut nicht namentlich aufzurufen? Sie in sich zu verschweigen? War es nicht im sommerlichen Licht, in einem Saal, der ihre blumige Erscheinung wie ein Garten umrandete, dass er ihr begegnete – wie es die »rêverie« ihm nahelegte, über die er nachsann? »Man trifft hier bzw. verbindet einander in etwas. Man ist nicht einfach ›da‹ voreinander – wie das z. B. Liebende können.« 13 Die »Fuge« des Liebesgesanges, die μοῦσα von »Charmes«, die Rilke als »ein rein verwirklichtes Ergebnis« fromm in sich hineinnahm, ist, auch wenn sie das erste Auffliegen des Liebesreizes vertont, wie er es verträumt ersann, immerhin durch den Hauch der Stimme geprägt, die dieses Liebeslied anstimmt. Und sogar, Sie ist keine Person. Sie trägt eben keine Maske. Und während man Eros eine Maske vorbinden sollte, weil man »sein strahlendes Gesicht nicht ertragen« kann, liebt man ihren Anblick. – Vgl. R. M. Rilke, »Eros« in: Gedichte. III. Teil, a. a. O., S. 430. 13 H. Lipps, Die menschliche Natur, a. a. O., S. 36. 12

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dass der Sänger Atem holt, da ihn Atemberaubendes anrührte, prägt sich in dieser Fuge aus. Welch prekäres, zerbrechliches Wort ist doch das »uns«, das jedes Mal, wenn man es ausspricht, zerspringt, den Anspruch auf Gemeinsamkeit, den es mitteilt, eben zu einem Sprechakt, den nur ein Einzelner vollzieht, herabsetzt! Gerade dann, wenn es ein »pluralis majestatis« ist, wandelt eine Überheblichkeit die Vornehmheit dieser Ausdrucksweise an. Es ist anmaßend, im Namen eines Andern zu sprechen, Gemeinsamkeit für sich zu beanspruchen. Ergab sich in der flüchtigen Verführung, die fassungslos werden ließ, schon »Gemeinsames«? »Übergreifendes« im Sinne einer Fügung, die die an dem bezaubernden Geschehen Beteiligten zusammenband? War es gerade das unbegreifliche Ereignis, in dem sie »einander treffen bzw. verbinden« konnten? Blendete es die eben darin einander Begegnenden, indem es die Führung ihres Lebens übernahm? Indem es das Malzeichen unendlicher Vermehrung in den voreiligen Schwund hineinschrieb? Stiftete es die Liebesbeziehung an – im geheimen, in der Anmut, die in der Geliebten sich »rein verweigerte« und in dem Dichter sich verschwieg? Das »uns« ist ein gewagtes Wort. Wer vermag von Eros schon zu sagen, dass ihn Anteros begleite? Du, schon Erwachsene, wie denk ich dein. Nicht mehr wie einst, als ein bestürztes Kind, nun, beinah wie ein Gott, in seiner Freude. 14

Diese Anrede markiert die äußerste Grenze der Träumerei, die sie überschreitet. Sie ist, genau genommen, ein Nachruf. Was sie beruft, ist nicht etwa Vergangenes, das verbleichte. Sie beruft die Fülle der Gegenwart, die strahlt. Diese ist kein R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 285.

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Gegenstand eines Denkens, das darüber nachdenkt. Sie ist ebenfalls kein ehrenvolles Andenken, das man einem schenkt. Sie ist dasjenige, dessen man inständig eingedenk ist. Diese strahlende Gegenwartsfülle am Rande der Träumerei ist das angeredete »Du«. Sie verwindet die Liebkosung, die schon versteifte als sie sich in den Raum hinauswagte. Die seltsame Erscheinung der Erwachsenen machte das Kind stutzig. Sie wird eindringlich in das Gedenken hineingeflochten. Dieses vollzieht nicht nachträglich die Gebärde, die einst aus Unvermögen stockte. Der Schwung des freudigen Gottes bildet sie um. Er wirft Blitze aus heiterem Himmel, die tödlich sind. In der Nähe dieser göttlichen Blitzschläge will der Dichter sich aufhalten. Ihm sind sie keine bloßen Einbildungen, die die seltsame Erscheinung der damals so unbeholfen Geliebten verwandeln, sie etwa in ein neues, helleres Licht aufleuchten lassen. Sie sind die Übersteigungen seiner Minne. Die Sage berichtet davon, dass Eros nicht wachsen konnte, bis die Göttin Themis Aphrodite dazu riet, ihm Anteros an die Seite zu stellen. Bohren sich seine Pfeile seitdem ungestraft in die blutende Brust der Geliebten? Ist dieses Blut der Saft ihrer offenherzigen Blüte? Durchtränkt ihn die Süße zugestandener Gegenliebe? Im dritten und vierten Gedicht aus dem bereits herangeführten Gedichtzyklus »Éros« besang Rilke die Bluttaten des Gottes, dem er in den Weingärten auf die Spur kam.

Éros III Là, sous la treille, parmi le feuillage il nous arrive de le deviner : son front rustique d’enfant sauvage, et son antique bouche mutilée …

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La grappe devant lui devient pesante et semble fatiguée de sa lourdeur, un court moment on frôle l’épouvante de cet heureux été trompeur. Et son sourire cru, comme il l’infuse à tous les fruits de son fier décor ; partout autour il reconnaît sa ruse qui doucement le berce et l’endort.

IV Ce n’est pas la justice qui tient la balance précise, c’est toi, ô Dieu à l’envie indivise, qui pèses nos torts, et qui de deux cœurs qu’il meurtrit et triture fais un immense cœur plus grand que nature, qui voulait encor grandir … Toi, qui indifférent et superbe, humilies la bouche et exaltes le verbe vers un ciel ignorant … Toi qui mutiles les êtres en les ajoutant à l’ultime absence dont ils sont des fragments. 15

Der Liebesdienst ist kein Kinderspiel. Der Frühling ist zu Ende. Das sommerliche Glück trügt. Ein namenloser Schauder streift die Weingärten. 16 An den reifen Früchten trägt der Weinstock schwer. In seinem Laube lauert der schlaue Gott. Er weiß, welche List in den Trauben gärt. Er hat sie mit seinem grellen Lachen in die Reben eingefädelt, als sie aufblühten. Nun wiegt und verschläft er sich in ihnen und wartet R. M. Rilke, »Éros«, in: Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 36–37. 16 Vgl. R. M. Rilke, »Eros«, in: Gedichte. III. Teil, a. a. O., S. 430. 15

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darauf, dass man auf sie hereinfallen wird. Er hat Zeit. Für seinen Lustmord braucht er Volltrunkenheit. Er muss sich gedulden, bis ein auserlesenes Erwachsensein es ihm gestattet, seine herrliche Übeltat zu vollbringen. Auf seiner Waage liegt die ungeteilte Leidenschaft. Er wägt mit Präzision, wie weit die sich an ihr Beteiligenden vom Gleichgewicht abweichen, inwiefern sie sich gegenseitig ausgleichen, wenn sie sich aneinander vergeuden. Diesem hochgefahrenen, gleichgültigen Gott ist es recht, ihre Herzen launisch zu zermalmen und zu zerfetzen, um ein Gemeinsames zu schaffen, das die Natur überragt und immer weiter wachsen möchte. Nur so teilt er sich ihnen mit, dass er sie entmündigt und das Zeitwort rühmt, das zu einem Himmel der Unwissenheit aufsteigt. Er verstümmelt die, die sind. Er zählt sie der letzten Abwesenheit hinzu, die sich in ihnen zersplitterte. In dem kleinen Gedicht »Nul ne sait«, das in »Vergers« Eingang fand, nennt Rilke das Herz »le Grand Maître des absences«, wenn es sich zum Vertrauten des Unsichtbaren macht. 17 Das rühmende Zeitwort, das sich im Mund derjenigen nicht runden will, denen nur ein Seufzer unstillbarer Sehnsucht sich entrang, gehört dem Gotte an. In den Himmel der Unwissenheit einzubrechen wäre vermessen. – Hier sei nur gesagt, dass έρος von έραω abgeleitet ist, das so viel wie heißes, feuriges Liebgewinnen bedeutet. Mittels des Kindes, dessen Mund durch ein grelles Lachen verzerrt wird, ruft Rilke die antike Vorstellung in Erinnerung. Wie er aussah, als Anteros ihn zur Seite getreten war, davon fehlt jedes Bild. Der Anblick seines »strahlenden Gesichtes«, wenn es »wie die Sommersonnenwende unversehens anders und ernsthaft« wurde und man einen durchdringenden Schrei hörte, der das plaudernde »frühlingliche Vorspiel« jäh abbrach, den idyllischen Raum mit Entsetzen erfüllte, sei »unerträglich«.

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R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 22.

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Vom »Inneren« dieses in einen »Tempel« verwandelten Raumes, den der Gott einwohnt, heißt es, dass in ihm ein Quell sich ausweint. 18 Der Gott schreit nicht zum Himmel. Er lobpreist. »Lieb«, althochdeutsch »liob«, gotisch »liufs«, niederländisch »lief«, »entstammt regelrecht aus dem vorgermanischen ›leubho‹«. »Da das hochdeutsche ›Lob, geloben, erlauben, glauben‹ zu derselben Wurzel germanisch ›lub‹ : ›leub‹ (vorgermanisch: ›lubh‹, ›leubh‹) gehören, hat man dieser eine weitere Bedeutung, etwa die des ›Gefallens‹ und des ›Gutheißens‹ zu geben.« 19 Der ferne Gott ist unnahbar. Seine Streifzüge durch die Gegend sind ruchbar. Keiner begegnet ihm unmittelbar. Er verwischt seine Spur. Wenn der Dichter »beinah wie ein Gott, in seiner Freude« der Begegnung der Geliebten inständig eingedenk ist, so spricht er jedoch nicht die Sprache des Gottes. Der Minnesang des Dichters ist nicht das Lobsingen des Gottes. Kein Menschenohr vernimmt es. Der markerschütternde Schrei sei nur der Anhieb eines betäubenden Tobens, das das Raunen der fließenden Quelle übertönt. Am rühmlichen Gott zu rühren ist »tabu«. »Tabu ist den Polynesiern etwas, woran zu rühren man sich scheut, sofern hierbei etwas verwirkt würde.« Man kann demjenigen, woran man rührt, »nicht frei begegnen«. »Eine besondere Anfälligkeit durch die Dinge tritt darin zutage.« »Es gehört zum Begriff des tabu, ›ansteckend‹ zu sein: sichanstecken bedeutet, dass die Initiative bei mir liegt, – ohne dass ich indessen frei dazu wäre.« Im Anrühren »beruft man etwas, was ›über‹ einen kommt.« »Der Frevler verfällt dem, woran er rührte.« »Man verwirkt hier, was man berufen sich aufgeladen hat.« Man wird von der Nemesis eingeholt. »Nicht ein Erfolg des Frevels bringt die Nemesis. Als ein eitR. M. Rilke, »Eros«, in: Gedichte. III. Teil, a. a. O., S. 430. F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, a. a. O., S. 237–238.

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les Beginnen zeigt er sich.« »Eine andere Art ›zu sein‹« als diejenige, in der man sich die Dinge frei vorhalten kann, wird sichtbar. Man scheut sich vor den Dingen, die tabu sind. »Die Scheu ist keine Furcht. Was tabu ist, gilt es nicht wegen seiner Bedrohlichkeit zu meiden. Man rechnet ja doch hier nicht mit etwas – als ob es in seiner Bedeutung verstanden worden wäre.« »Nichts verbietet, nichts hindert gerade an das zu rühren, was tabu ist.« »Daran zu rühren ist nur ähnlich unmöglich, wie etwa der ›etwas Unmögliches‹ tut, der Scham oder Takt vermissen läßt.« »Man vermisst sich in bezug auf die dem Menschen gezogenen Grenzen, wenn man daran rührt.« »Man täuscht sich darüber hinweg, dass man dessen, was man tut, darum nicht auch schon mächtig ist.« Eben darin zeichnet sich die Eitelkeit seines frevelhaften Beginnens aus. »Nicht mächtig« meint hier: »dass etwas überhaupt nicht bei mir steht, dass man nicht selbst ›ist‹, was man tut, dass man hierbei sich seiner begeben hat, so dass man nicht frei dafür aufkommen kann«. 20 Das Minnelied ist »der Dame du loinh« zugeneigt. Die Höflichkeit seiner »Geste« verleiht einer »Tangibilität« Ausdruck, die eine andere ist als diejenige, die gerade in der »Unanrührbarkeit« des rühmlichen Gottes zum Vorschein kommt. 21 »Göttliche umarmen schnell.« »Leben wand sich, Schicksal ward geboren.« »O verloren, plötzlich, o verloren!« 22 sei die Unschuld des zärtlichen Umwerbens. Der »dieu barbare« steht in dem Ruf, ein Verbrecher zu sein. Er gesellt sich oft den Panthern, die in der Wüste herumschleichen. 23 Legendär sind seine Raubüberfälle, während deren er die Falle, die man ihm stellen möchte, meidet. Die Lockspeise

H. Lipps, Die menschliche Natur, a. a. O., S. 42–43. A. a. O., S. 41. 22 R. M. Rilke, »Eros«, in: Gedichte. III. Teil, a. a. O., S. 430. 23 R. M. Rilke, »Éros«, in: Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 36. 20 21

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läßt er unberührt. 24 Auf frischer Tat ertappt ihn keiner. Es heißt, dass die blutrünstige Raubkatze nächtliche Triumphe feiert, Siegesgeschrei ausstößt, wenn sie ihre Beute erschlägt. Dem Menschen ist das in der Nacht verhallende Geheul ein Ungeheuer. Er empfindet es als eine Anfechtung seiner furchtsamen Scheu, wenn er dem Rühmen einer Bluttat das Ohr leiht. Das bis zu ihm dringende Gerücht, dass der Gott sich an einer solchen Untat beteilige, kann er aber nicht zurückweisen. Das findige Bedenken (»trobar«) des »trouvère« gilt nicht dem Verhängnis eines Schicksalsschlages, der dem blitzschnellen Gott ein Jubel wäre. Er bekennt sich nicht – zweideutig – zu etwas Unzumutbarem. Sein freudiges Geständnis übt Nachsicht, keiner göttlichen Fügung den Weg zu ebnen, dem Aufkommen einer Scheu vor dem Frevel schon im Vorfeld einen Riegel vorzuschieben. Langmütig gesteht er, den Verlockungen der Anmut zu erliegen, die ihm – unzweideutig – reines Entzücken bedeuten. Die Stunde der liebenden Begegnung ist ihm nicht deshalb »unvergänglich«, weil darin Unwiderrufliches geschah, das ihrer Verflüchtigung endgültig Einhalt gebot. Unaufhaltsam rinnt die Quelle dahin. Wenn sie in Tränen zerfließt, so sind es »volle« – der Rührung. 25 Wenn solche Stunden unvergänglich sind, was dürfte dann das Leben für Gebäude in uns errichten aus Geruch und Schein. 26

Ebd. Vgl. A. Camus, »La femme adultère«, in: L’exil et le royaume. Gallimard, Saint-Amand 1957, S. 34. 26 R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 285. 24 25

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V. Die Unbekannte

Die Minne verschont. Sie hat keusche Hände. Sie ruft Rührung hervor, ohne sich an dasjenige heranzumachen, was sie in Verruf bringen könnte. Wer sie besingt, ist kein Lehnsmann des Eros. Er ist der Vertraute der Erato. Sie behütet – umsichtig – die anmutigste Schönheit. Sie tritt keinem Liebesgott zu nah. Ihre Freude ist eine verhaltene. Sie weiß um die Schleichwege des schlauen Gottes, um den Verrat in dem Augenblick höchster Beglückung. Wem meint die Minne sich so schonend zu nähern? Wie übergibt sie die flüchtig Begegnete dem Leben, damit es sie hoch aufrichtet – sie, die schon Erwachsene, deren jungfräuliche Erscheinung den Knaben so heftig bewegte? Deren blumiges Anwesen ihm die »Welt« geworden war? Alles ist mir lieb – dieses alles: die Sommersprossen und die Spange, die den Ärmel schloss. 1 All das, was die mit dem Blick nur flüchtig Gestreifte so graziös, so entzückend aussehen ließ. – Das kindliche Gesicht, sommerndes Landleben ausstrahlend. Eine schmucke Tracht, sittsam, ohne den Stachel des Modischen um die Schultern gelegt. Schalkhafte Freimut mit einfacher Eleganz vermischend. All das an ihr, was ihrem Auftreten einen ungezwungenen, zierlichen Schwung verlieh. Leichtfüßig, gewandt, aber ohne Leichtsinn. Einen unwiderstehlichen Charme wie Duft um sich verbreitend. All das an ihr, was einem nicht bloß äußerlich gefällt. Vielmehr – was ihr »einnehmendes« Äußeres, die Gunst und Gnade ihrer unverwechselbaren Erscheinung ausR. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 285.

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macht: die Einmaligkeit ihres unbefangenen, schlichten Anwesens. Wie aus gesprossenen Knospen äugelnd, mit frischem Blick, ohne jegliche Spur von Frechheit. In ihrem Kleid aufblühend, das weder zum Behagen aufgemacht, noch aus Prüderie hochgeschlossen wurde. oh wie unerhört und unverflossen blieb die Süßigkeit, drin nichts verdroß. 2

Dieser Blüte sei der Nektar nicht entströmt. Unerfüllt blieb das süße Glück, in das sich kein Missmut einmischte. Es blieb, indem es winkte, ohne seine Gunst ganz zu verschenken. Wer um dieses blühende Glück warb, der wurde nicht unverzüglich erhört. Wie muss die Liebesmühe sich in Geduld fassen, wenn die blumige Geliebte ihrem Liebhaber äußerste Zurückhaltung auferlegt! Verschließt sie ihre Süßigkeit doch im Inneren ihres Blütenkelches. Wies die minnend Gemeinte bereits im Augenblick der ersten Begegnung den bestürzten Knaben in die Schranken? Verweigerte sie sich ihm, der vor Sehnsucht fast verging? Oder gereichte die Einschüchterung, die der unerfahrene Knabe empfand, nicht zur Erfüllung des demütigsten Liebesdienstes? Erhob sich am Firmament der verschonenden Minne ein dunkler Stern – des stummen Versagens? Taumelnd stand ich, in mir hingerissen von des eignen Herzens Überfluß, in den kleinen Fingern, halbzerbissen, eine Blüte des Konvolvulus. – 3

Der überwältigende Eindruck, die »surimpression«, hinderte ihn daran, sich mit der flüchtig Begegneten zu verbinden.

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Ebd. Ebd.

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»Wie hdiei Begegnung mit dem anderen dann auch im Blick, durch die Gesten meiner Hand usw. bestimmt und gestaltet wird.« 4 Keinen »regard appuyé«, keinen stechenden Blick warf er ihr zu, die ihn keines Blickes würdigte. In der zugekniffenen Hand klemmte er einen Blütenzweig seiner zärtlichen Zuneigung, den er ihr nicht zu überreichen vermochte. Verbiss er die Schmach unerwiderter schwärmerischer Hingabe? Brachte dieser sein überschwängliches Gefühl zum Stocken? Erstarrte die sich zum Schenken bereit machende Gebärde? Welche Gewalt übte der Eindruck, den die jungfräuliche Erscheinung in ihm hervorrief? Wie wirkte er sich nachhaltig aus? Oh wie will das Leben übersteigern, was es damals, schon erblüht, beging, als es von dem eigenen Verweigern wie von Gartenmauern niederhing. 5

Er bekannte sich nicht zu ihr, die er minnend meinte. Sie blieb ihm zeitlebens »die Unbekannte«. Nicht die Fremde, der er nicht vertraute – sondern die Trauliche, der sich ganz anzuvertrauen er immer in sich selber verschwieg. War sie ihm nicht unendlich überlegen? Führten nicht alle seine Lebenswege immer wieder zu ihr zurück, deren anmutige Schönheit ihm unerreichbar schien? Füllte sich nicht jedes Wort, an das er sich klammerte, da sie ihm zu Herzen ging, mit Sprachlosigkeit? War ihre unaussprechliche Schönheit ihm nicht zu Lebzeiten wund? Dass er sich vor ihrer unabweislichen Anmut verneigte, sich ihr gehorsam unterwarf, trieb es sein steiles Sehnen danach, der Gunst ihrer feierlichen Blüte eines Tages teilhaftig zu werden, nicht in die

H. Lipps, Die menschliche Natur, a. a. O., S. 36. R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 285–286.

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Höhe? Ward ihm die frühlinghafte Begegnung nicht zum lebensgroßen Geschick? Mit welchem Angebot ersteigert man, was einen so maßlos übertraf? Verneigung ist keine Niedertracht. Sie ist Überhang des schwerbeladenen Herzens, seine Biegung unter der Überfracht des ihm zufallenden Glücks. Sie ist Demut. Was sie eigens verweigert, ist die Selbstsucht in der Erfüllung des Glücks, der habgierige Überfall auf Glückbringendes. Sie ist tiefe Ergebenheit, deren zärtliche Zuneigung keine Besitzergreifung des durch seine Anmut Berührenden duldet, die seine erglühende Verheißung niederzwingen könnte. Das sich verneigende Herz scheut den Leichtsinn öffentlicher Bekenntnisse. Was es liebend meint, verschweigt es in sich. Es weiß um die Hinfälligkeit des Beglückenden, um die Anwandlungen von Selbstgefälligkeit, wenn man es allzu nachdrücklich für sich in Anspruch nehmen möchte. Es erwehrt sich der überheblichen Ergüsse einer übereifrigen Seele, vermauert mit Stille die Überschwänge ihres überbordenden Glücksgefühls. Neigung ist die Gebärde der Demut. Wie wichtig sie dem Dichter geworden war, geht aus den Versen des gleichnamigen Gedichtes hervor, das während der Niederschrift des zweiten Teils der »Sonette an Orpheus« entstand 6 , von Rilke in leicht veränderter Fassung am 5. Dezember 1923 Anton und Katharina Kippenberg mit den Worten zugeeignet wurde: »das wünsch ich mir ungefähr, dass diese (hier, auf Muzot, errungene) Verfassung, die sie ausdrücken, immer gültiger und dauernder, die meine bleiben möchte«. 7

R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 278; vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 770. 7 I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 853. Vgl. R. M. Rilke, Briefwechsel mit Anton Kippenberg. II. Bd., a. a. O., S. 313–314. 6

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Neigung: wahrhaftes Wort. Daß wir jede empfänden, nicht nur die neue, die uns ein Herz noch verschweigt; wenn sich ein Hügel langsam mit sanften Geländen zu der empfänglichen Wiese neigt: sei uns auch dieses unser. Sei uns vermehrlich. Oder des Vogels reichlicher Flug schenke uns Herzraum, mache uns Zukunft entbehrlich. Alles ist Überfluß. Denn genug war es schon damals, als uns die Kindheit bestürzte mit unendlichem Dasein. Damals schon war es zuviel. Wie sollten wir jemals Verkürzte oder Betrogene sein: wir, mit jeglichem Lohn schon Überlohnten …

Nicht den Hang des nach erneuter Erfüllung trachtenden Glücksgefühls hat der Dichter im Sinn, wenn es sich um die geistige Verfassung handelt, die ihm in seiner Walliser Wahlheimat allmählich zuteil wurde. Gerade dieses aufstrebende Glücksgefühl wendet sich, indem es zur Neige geht. Was an die Oberfläche kommt ist sein im Verborgenen gebliebener Bodenschatz: der reine Empfang, das schlichte Entgegennehmen des Erhebenden, das unsere Sanftmut vermehrt, des unseres Herz Erweiternden, das nicht länger entbehrt. Wurden wir denn nicht, noch ehe wir das Glück begehrten, schon mit unermesslichem Reichtum beschert? Fiel uns nicht unendliches Dasein in die Hände, – uns, den von Kindesbeinen an mit dem Erbe einer Welt Beschwerten? Wie sollten wir je zu kurz gekommen sein, – wir, die mit reinem Überfluss Überhäuften, um den wir uns niemals verdient gemacht haben? Bildet dieses Geschenk einer Welt, das uns so unverhofft zufiel, nicht den Horizont einer jeden Begegnung, für die wir unsere Liebe verwenden? Sie, die uns einen Überfluss des eigenen Herzens bedeutet, kommt sie uns nicht wie aus früher Zeit entgegen? Und wie jeder Tag seit unserer Weltkindschaft sein Versprechen eines neuen Sonnenaufgangs gehal83 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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ten hat, verbürgt ihre lichte Erscheinung nicht den jähen Einzug eines holden Lenzes unseres Herzens? Nein, ich vergesse dich nicht, was ich auch werde, liebliches zeitiges Licht, Erstling der Erde. Alles, was du versprachst, hat sie gehalten, seit du das Herz mir erbrachst ohne Gewalten. 8

Niemals ist »die Unbekannte« ihm völlig fremd gewesen. Immer war sie die Trauliche, die frühestens Versprochene, dem Lebenslicht Geborgte. Wie es am Frühlingsanfang morgenfrisch aufschien, wie an ihm die Erde sich erwärmte und zum Wachstum regte, so erschloss sich das verkrustete Herz, das während der Kindheit lange überwintert hatte, als in dieser Helle sie erschien: Flüchtigste frühste Figur, die ich gewahrte: nur weil ich Stärke erfuhr, rühm ich das Zarte. 9

Weder Gesicht noch Bildnis, überhaupt keine dauernde, stillstehende Gestalt, in sich Geschlossenes, das die Wahrnehmung im Griff hat, Gerundetes, fest Umrissenes, Eingefrorenes. Vielmehr: schwunghafte Bewegungsfolge, nach allen Seiten luftigen Raum eröffnend, Freizügiges, jeglichen Zugriff verspottend – eine Tanzfigur. In ihrer Flucht wie R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 286. 9 Ebd. 8

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einen Blumenduft wehen lassend, windig verstreut, unumwunden aufwirbelnd: Geruch der Frühe, der eine blühende Tageszeit vermuten lässt. Gewahrtes ist nicht bereits »Wahr-Genommenes«. Es ist nicht daraufhin schon gewendet worden, was man dabei dem Sinne nach erfasst, der die Wucht des Eindrucks beschneidet. Gewahrtes ist nichts Kantiges, Geschnitztes, scharf Ausgeprägtes. Vielmehr: Es ist Emergentes, Flottierendes, von diffuser Einprägsamkeit. Umwölkt von einem Schimmer, unaufgeklärt für den Blick, der sich in dem Wirbel des Tanzes verliert. Umflossen von Wehendem, das von weither kommt, undurchdringlich für den Spürsinn, der in den Wirren des duftigen Andrangs untertaucht. Nicht anders berührt uns das Anmutige, dem wir liebevoll begegnen, als dass wir es verträumt gewahren, damit es uns Rätsel aufgibt, anstatt es über die Schwelle der Wahrnehmung hinaus der Erkenntnis zutragen zu wollen. Gerade die Zärtlichkeit der Rührung ruft in uns Anschwellung hervor, Sich Aufbäumendes, unsere sehnlichste Hoffnung Aufrichtendes. Wer diese Zärtlichkeit rühmt, dem fuhr dieser Aufschwung durch alle Glieder. Jedes seiner lobsingenden Worte feiert die sanfte Gewalt der Minne – den »unbeschreiblichen Bezug«, dessen Spannung das Herz aufspringen ließ. Gegen welche Bewegung wog es auf, als es sich überschlug? Wie versuchte es, in sich Raum zu schaffen für dasjenige, was es so innig rührte? Welche flüchtige Gebärde der liebevoll Begegneten, welche ihrer unfreiwilligen Posen war so voll berauschende Anmut, dass sie das bestürzte Gemüt in Aufruhr glühender Leidenschaft versetzte? War es etwa ihr Bücken zur Erde, ihr Pflücken einer Blume, ihr plötzlich im Lauf Anhalten, ihr im tiefen Schlaf Liegen? Welcher Zauber ging von diesen Gesten aus, wie hielt sich in ihnen Anmut auf? Wie wurde er der Geliebten eben hierin anhänglich – er, der in seiner »rêverie« diesen Gesten fortwährend nachhing, den diese entzückende Haltung immer noch in ihren 85 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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Bann schlug? Er, der die heiße Spur seiner Verliebtheit bis zu ihrem Ursprung verfolgte? Wenn er sich nicht offenherzig zu ihr bekannte, so verleugnete er jedoch nicht »ihren Einfluß«, »die lange Erregung auf ihrer Spur«. 10 »Nein, ich vergesse dich nicht, was ich auch werde.« 11 Dass er sich ihr biegsam zuneigte, geschah es vielleicht deshalb, weil er sich in die Bahn, die ihre Gebärde beschrieb, hineinbewegt hatte? Ergriff ihn die zeitlose Bedeutung ihrer Tat in dem Augenblick, da ihre Hand einer zitternden Blume den Stiel brach? Er kannte doch den Rhythmus ihres geschmeidigen Ganges, den jugendlichen Schwung ihres elastischen Körpers. Wie verwirrend war es, dass er stockte, dass sie in einem atemberaubenden Moment vor ihm stand, als ob sie von ihm etwas erwartete. Er wachte an ihrer Seite, während sie schlief. Ihre rosige Handfläche war weit geöffnet wie ein Blütenkelch. – Erdgeborene, Glücksbringer, Atemlose, Rose – es sind die verheißungsvollen Einflüsterungen, die ihr Bücken zum Boden, ihr Zögern, ihr Versinken in tiefem Schlaf dem werbenden Gemüt einflößten, wenn es von der Rührung, die ihre Gestik hervorrief, durchglüht wurde. Dass ich die Früchte beschrieb, kams vielleicht durch dein Bücken zum Erdbeerbeet; und wenn keine Blume in mir vergeht, ist es vielleicht, weil Freude dich trieb, eine zu pflücken? Ich weiß, wie du liefst, und plötzlich, du Atemlose, warst du wartend mir zugewandt.

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A. a. O., S. 287. A. a. O., S. 286.

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Ich saß bei dir, da du schliefst; deine linke Hand lag wie eine Rose. 12

Wie behutsam nähert der Dichter sich den Zündflammen seines noch immer lodernden Liebesfeuers! Mit welcher Scheu gedenkt er der stillsten Augenblicke seines Liebgewinnens! Wie weit entfernt von den Rühmungen siegreicher Liebesübergriffe sind die taktvollen Anspielungen auf früheste Verstrickungen in Verlockendes! Was er in den Herzraum als eine innere Blume aufgenommen hat, die ihm mit ihrer Ahnungslosigkeit aufwartete, ist Rilke mit großer Eindringlichkeit in dem Gedichtkreis nachgegangen, den er wenige Monate später, im September 1924, während seines Aufenthaltes in Ouchy-Lausanne, niedergeschrieben hat: »Les Roses«. 13 Der ausströmende Rosenduft erschloß ihm die Weite seiner Sehnsucht: »de cet espace d’amour où à peine l’on avance, ô rose, ton parfum fait le tour«. 14 »Ultime amante si loin d’Ève, de sa première alerte« 15 , verflüchtigte die Geliebte sich in den sinnlichsten Liebkosungen ohne Hinterlistigkeit. »Je te respire comme si tu étais, rose, toute la vie«. 16 Keine innige Einverleibung der liebend Gemeinten sei schonender als diese in reiner Luft sich auflösende. Wie sollte er ihr je ebenbürtig sein, die ihm das ganze Leben zu schenken schien? Wann wäre er dem »vergöttlichten Vergleich« 17 je gewachsen, in den die Liebenden sich gegenseitig hineinsteigerten? Gravitierte er nicht unaufhörlich um A. a. O., S. 286–287. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 903; vgl. R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 125 f. 14 R. M. Rilke, Les Roses III, a. a. O., S. 127. 15 R. M. Rilke, Les Roses IX, a. a. O., S. 133. 16 R. M. Rilke, Les Roses XI, a. a. O., S. 135. 17 R. M. Rilke, »Aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 609. 12 13

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diesen Morgenstern seiner Minne, dessen Anziehungskraft ihn in die kreisförmige Umlaufbahn zwang, der er nicht entkam? Wo käme er ihr sosehr in die Nähe, dass er sie erkenne? Welche Entfernung gestattete es ihm, dass er sich ihr endgültig entziehe? Dass er aus dem unbeschreiblichen Bezug »herausfiel wie ein Stein« – in den reinen Himmel, den kein Liebeskummer trübte? Umschloss ihn nicht ihr früher Bereich, der helle Lichtkreis, den sie um sich warf? War ihr Erscheinen nicht wie der Sonnenaufgang am Beginn aller seiner Tage seither? Beschrieb er nicht die Bahn, die sie bestimmte? Entging ich je deinem frühen Bereich? Bist du mir nicht auf allen Wegen noch immer voraus und überlegen; wann werden wir gleich? 18

Was ihm in der liebenden Begegnung so unvorhergesehen zufiel, was ihn so plötzlich überfiel, lockte es in die Irre, indem es ihn verführte? Erließ es nicht vielmehr ein strenges Gesetz, gegen das sein Herz sich nicht verging? Wieviel Härte birgt die Zärtlichkeit liebevoller Berührung in sich? Wieviel Gehorsam liegt in einer schweigenden Verneigung? Du warst so recht, dass nicht einmal die Mode an deinem Kleide mich beirrt. 19

So recht: so bar jeglichen Truges, so treuherzig, so aufrichtig, so voll Zuversicht, so rechtschaffen. So wahr, so ohne Vorwand, so unausweichlich, dass er sich vor ihr still verneigte. So recht, dass nur die leiseste Begegnung uns dazu berechtigt, hier von einer »reinen«, ungetrübten Erscheinung zu sprechen, deren Strenge unverstelltes Anwesen bedeutet, das R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 287. 19 Ebd. 18

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schlichte Ergebung gebietet. »Unverstelltes Anwesen« heißt: Dasein, vollste Gegenwart, unmittelbarste, unverrückbare Aktualität, brennende Präsenz. – Und doch, in diesem Treffpunkt liebender Begegnung flüchtend, entschwindend, unfassbar, rückt die minnend Gemeinte zu der entlegensten Stelle fort, wo wir nie sind, die wir zwar »Du« nennen, die wir aber nicht mitteilen können. Quelle der Einsamkeit, ständig widersprochenes Mit-Sein, Schicksal, gegen das wir uns auflehnen. Wie mir dein Flüchten gehört ….. Wird es hinschwinden in meinem Tode? 20

Werden wir der in der liebenden Begegnung rein Unerreichbaren erst dann gleich, wenn wir ihr Entschwinden noch inniger in uns aufnehmen – wir, die wir ständig schwinden? Vermählen die Geliebten sich erst in der Todesstunde? Sind sie einander erst in demjenigen Augenblick ganz ergeben, an dem sie sich gleichgültig werden? Oder werf ich in die Natur, als meines Untergangs Widerlegung deinen Einfluß zurück? die lange Erregung auf deiner Spur? 21

Eilt die Liebeslust auf den Tod zu? Oder wagt diese sanfteste der Naturgewalten einen weiteren Wurf? Verspricht sie der Erde nicht in der Sonne reifende Frucht, unsterbliche Blumenpracht? Wartet sie nicht geduldig darauf, aus einem vermauerten Herzen aufzusteigen? Blüht sie nicht wie die Rose, die sich dem nächtlichen Himmel entgegenstreckt? »Rose, venue très tard, que les nuits amères arrêtent par leur trop sidérale clarté«, »rose qui, en naissant, à rebours imites les 20 21

Ebd. Ebd.

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lenteurs de la mort« – »ton innombrable état te fait-il connaître dans un mélange où tout se confond, cet ineffable accord du néant et de l’être que nous ignorons ?« 22 »Vous encor, vous sortez de la terre des morts, rose, vous qui portez vers un jour tout en or ce bonheur convaincu.« 23 Trägt die Liebgewordene ihre unabweisliche Beglückung in den goldenen Tag? Gelingt es ihr, den unsäglichen Akkord zwischen dem Nichts und dem Sein zu greifen, der allen Untergang widerlegt, der uns jedoch unbekannt bleibt? An dem wir uns nur unwissend beteiligen, wann immer ihre anmutige Schönheit unseren Liebeseifer befeuert, unsere Auferstehung gebietet? »Précise bien, ô inconnue discrète, mon coeur distrait, en levant ton regard« 24 , notierte Rilke Anfang März 1924 in einem Gedicht, das im Juli 1925 in der Nouvelle Revue Française erschien. 25

22 23 24 25

R. M. Rilke, Les Roses XXIII, a. a. O., S. 147. R. M. Rilke, Les Roses XXII, a. a. O., S. 146. R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 60. Vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 944–945.

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Das letzte der sieben Gedichte, die Rilke zusammen mit der »Prélude« Mitte Februar 1924 niederschrieb, bringt den kleinen Zyklus der »Entwürfe« zu einem nur vorläufigen Abschluss. Denn kaum fünf Tage später, am 20. Februar 1924, fügte er diesem Gedichtkreis noch zwei weitere Gedichte hinzu: »Entwürfe« (II), bevor er seine Reinschrift Mitte Mai 1924 an Anton Kippenberg zusandte. 1 Außerdem entstanden Mitte Februar 1924 zwei weitere Entwürfe hIi und hIIi, die Rilke allerdings nicht in der Reinschrift aufnahm. 2 Vom Ende Februar 1924 bis zu Ende Mai 1924 weitete sich der »Umkreis« der »Entwürfe« nochmals um fünf Gedichtfragmente aus. 3 Zu einem in sich geschlossenen Ganzen haben die »Entwürfe aus zwei Winterabenden« sich nicht verdichtet. Fiel ein neues, grelles Licht in den stillen Spiegel des Vergangenen, in den der Dichter sinnend hineinschaute? Verglomm der Glanz des schicksalhaften Begegnisses, dem er in seinem Gedenken nachhing? Zerriss eine Hellsichtigkeit den Schleier, der sich über fast Vergessenes gebreitet hatte? In den Schlusszeilen des kleinen Zyklus der »Entwürfe« (I) bekundete sich ein rascher Umschwung in der Gesinnung des Dichters:

I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 868; vgl. R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 289–290. 2 R. M. Rilke, »Aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 609–610. 3 A. a. O., S. 610–612. 1

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Auch dies ist möglich: zu sagen: Nein. Und stolz bei den Knaben zu bleiben; statt eines Mädchens Widerschein in sich zu übertreiben. 4

Zu sagen: »nein« ist eine Entgegnung, eine Erwiderung, mit der man eine Anfrage ablehnt. War er denn je der in der liebenden Begegnung Erfragte? Erhob die flüchtig Geliebte je den Blick zu ihm, dass sie sein zerstreutes Herz feinfühlig stimmte? Dass sie ihn aus der bunten Gesellschaft aussonderte und zu ihrem Partner machte? Lähmte ihn nicht vielmehr seine kindliche Bestürzung? Wirkte ihr Auftreten nicht souverän? Nun an einem winzigen Augenblick schien sie ihm »wartend zugewandt« zu sein. Sicherte sie ihm freies Geleit zu, um seine Scheu abzulegen? Erdrückte ihn nicht vielmehr die »eigene Verweigerung«, frei aus sich heraus auf sie zuzugehen, sich freimütig zu ihr zu bekennen? Welche Möglichkeit zum Nein-Sagen lässt die liebende Begegnung offen, wenn die liebevoll Umworbene keine Anfrage an den Dichter ergehen ließ, dem sie immer fern blieb, »auf allen Wegen noch immer voraus« und ihm unendlich überlegen? Verfällt er auf den Ausweg, den engherziger Stolz bietet? Erteilt nur dieser dem unwiderstehlichen Andrang seines Liebgewinnens eine klare Absage? Bleibt man im Stolz nicht »bei sich« und unter seinesgleichen, anstatt sich soweit vorzuwagen, wie es die unstillbare Sehnsucht will? Denn: »Der Sehnsüchtige greift aus in die Ferne seiner selbst«. »Sich nach etwas Sehnen heißt: von sich in seiner Unerfülltheit weg zu einem anderen kommen wollen.« »Man sehnt sich nach dem anderen, sofern man nur bei und mit ihm ›sein‹ kann, was man ist.« »Eine Sehnsucht nach dem anderen entspringt h…i der Einsamkeit. Und sie ist unbedingt.« 5 R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 288. 5 H. Lipps, Die menschliche Natur, a. a. O., S. 119. 4

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Eben hierin zeigt sich die »Übertreibung« des »Widerscheins«, den die anmutige Erscheinung der Jungfrau erzeugte, die auch dann nicht nachließ, als »Jugend nicht mehr täuschte«, – als der Dichter sinnend den verträumten Eindrücken seiner verflogenen Knabenzeit nachhing. In dem empfindsamen Gemüt des bestürzten Knaben regte sie nicht etwa ein flüchtiges Verlangen an, das vorübergeht. »Verlangen bezieht sich auf Erreichbares.« »Verlangen werden erfüllt, sofern ihnen entsprochen wird.« »Der andere wird hierbei in etwas beansprucht«, wenn einer z. B. »nach dessen Gegenwart« verlangt. 6 Das Verlangen ist in dieser Hinsicht bedingt. Gerade ein solcher spezifischer Anspruch erhob sich in der schicksalhaften Begegnung nicht, die den Jüngling vielmehr über seine Kindheit weit hinwegtrug und aus der freudigen Geselligkeit seiner Altersgenossen ausscheiden ließ. Die ungeheure Tragkraft eines den Anderen nicht in Anspruch nehmenden Liebgewinnens hat Rilke in dem Lied Abelone’s am Schluss des »Malte« zum Ausdruck bringen wollen. 7 Mit diesem Lied befasste er sich ein weiteres Mal, als er dem französischen Übersetzer des »Malte«, Maurice Betz, die Arbeit ersparen wollte, »sich nochmals um die zwei Gesangstrophen zu bemühen, die sich im zweiten Band des Malte finden«. Wie er um den 20. Juni 1925 aus dem Pariser Hôtel Foyot an M. Betz schrieb, wollte er in seiner französischen Version vor allem den »rhythmischen Schwung«, »l’élan rythmique« dieses »über die Prosa hinauswachsenden« Gesanges wiedergeben. 8 Rilkes französische ÜbersetEbd., S. 119. R. M. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Schriften in Prosa. II. Teil. Insel, Leipzig 1927, S. 287–288; vgl. R. M. Rilke, Gedichte. III. Teil, a. a. O., S. 433. 8 M. Betz, Rilke in Frankreich. Erinnerungen, Briefe. Dokumente. H. Reichner, Wien-Leipzig-Zürich 1938, S. 202–203; vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 942. 6 7

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zung, die M. Betz unverändert in die französische Ausgabe des »Malte« aufgenommen hat, weist gegenüber der ursprünglichen deutschen Fassung einige bedeutsame Akzentverschiebungen auf.

Lied Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht weinend liege, deren Wesen mich müde macht wie eine Wiege, du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht meinetwillen: wie, wenn wir diese Pracht ohne zu stillen in uns ertrügen? … Sieh dir die Liebenden an, wenn erst das Bekennen begann, wie bald sie lügen. …. Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen. Eine Weile bist du’s, dann wieder ist es das Rauschen, oder es ist ein Duft ohne Rest. Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren, du nur, du wirst immer wieder geboren: weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest. Toi, à qui je ne confie pas mes longues nuits sans repos, Toi qui me rends si tendrement las, me berçant comme un berceau ;

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Toi qui me caches tes insomnies, dis, si nous supportions cette soif qui nous magnifie, sans abandon ? … Car rappelle-toi les amants, comme le mensonge les surprend à l’heure des confessions. … Toi seule, tu fais partie de ma solitude pure. Tu te transformes en tout : tu es ce murmure ou ce parfum aérien. Entre mes bras : quel abîme qui s’abreuve de pertes. Ils ne t’ont point retenue, et c’est grâce à cela, certes, qu’à jamais je te tiens.

Es ist die Dürre einer Sehnsucht, die sich verschweigt, die in Abelone’s Lied anklingt. Sie entbehrt den Ausdruck einer Gegenliebe, die Erweisung der Auserwählung. Was Abelone’s Gesang verlauten lässt, ist die Unerfülltheit ihres trachtenden Herzens. Sollte solches Herzeleid ertragreich sein, eine Pracht, mit der wir uns ausstatteten, ohne dass sie irgendein Begehren stillte? Die französische Fassung setzt einen anderen Akzent. Sollten wir dieses schmerzliche Entbehren durchstehen wie ein Dürsten, das uns rühmenswert mache, ohne Verzicht zu leisten? Fallen die Liebenden in dem Augenblick, da sie sich zueinander bekennen, nicht der Verlogenheit zum Opfer? Verfallen sie nicht dem Laster einer Beschlagnahmung des Anderen um des eigenen Begehrens willen? Verzichten sie nicht darauf, »die Lust ruhig hinauszuschieben«? Verdanken wir »Langsamen« es nicht gerade der zeitweiligen Unterbindung unserer Lust, dass wir »unser ganzes Herz« verschenken? Ist ihnen »die überlegene Geliebte« nicht fremd geblieben, die niemals »Liebesgegenstand« 95 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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sei, von der »keine Gegenliebe zu fürchten« wäre? 9 Wie, wenn diese Dürre der Sehnsucht uns ein Seelengut wäre? Wie, wenn die diskrete Zurückhaltung der Geliebten, zu der wir uns nie bekannten, deren Blick sich niemals zu uns erhob, unser Herz mit einem »an Fernen gewohnten Gefühl« beschenkte? 10 »Die Richtung der Sehnsucht ist die entgegengesetzte des Verlangens und Gierens.« 11 »Verlangen werden erfüllt, sofern ihnen entsprochen wird.« »Und gierig ist man, sich etwas nehmen zu können.« 12 Wie anspruchsvoll ist doch die Umarmung, die in den Dienst der Liebe zwingt! Wie beklemmt uns ihre »dichte Traurigkeit« 13 , wenn sie festhält, um besitzen zu können! Geht in solchen Umarmungen nicht dasjenige verloren, was einen in seinem sehnsüchtigen Liebgewinnen in die Weite treibt: der Andrang, seine ganze Natur »unter unsäglicher Angst um die Freiheit des anderen« zu verschwenden? 14 Ohne Anhalt dafür zu finden, in der Liebe erhört zu werden, völlig entsetzt, wenn sie erwidert wird? Im zweiten Gesang Abelone’s spricht diese unbändige Sehnsucht sich in Worten aus, die ihr schicksalhaftes Preisgegeben-Sein verklingen lassen. Das Unerfüllte, aus dem heraus sie sich sehnt, ist die Unerreichbarkeit der immer nur aus der Ferne Geliebten. Dasjenige, wodurch sie zu sich selbst kommen will, ist die gegenstandslose Ergebenheit ihres Liebgewinnens. Was dieser Sehnsucht fernliegt ist ein Liebesübergriff, der aus einem selbst hervorgeht, – der umschließen will. Hat sie nicht langsam gelernt, was sie liebevoll umwarb, R. M. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, a. a. O., S. 289. 10 A. a. O., S. 297. 11 H. Lipps, Die menschliche Natur, a. a. O., S. 119. 12 Ebd. 13 R. M. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, a. a. O., S. 295. 14 A. a. O., S. 294. 9

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»mit den Strahlen ihres Gefühls zu durchscheinen«, statt es »darin zu verzehren«? 15 Liebte sie nicht, hat sie nicht immer wieder geliebt aus einer Einsamkeit heraus, unaufhaltsam und bedingungslos? Durchleuchtete ihre Sehnsucht nicht die »immer transparentere Gestalt der Geliebten« 16 , damit sie die Weiten erkannte, die sich ihrer ins Unendliche zerfließenden Liebe auftat? Steigerte sie sich nicht in die Unergründlichkeit der Geliebten hinein, die immer, wenn sie schwand, wie neugeboren aufstand? War sie nicht »verwöhnt von dem Entzücken« 17 , das die unaufhaltsamen Verwandlungen hervorriefen? Jeder Satz der französischen Version verleiht der deutschen Fassung des zweiten Gesanges Abelone’s einen neuen Wert. Du machst mich allein. – Toi seule, tu fais partie de ma solitude pure. Dich einzig kann ich vertauschen. Eine Weile bist du’s, dann wieder ist es das Rauschen, oder es ist ein Duft ohne Rest. – Tu te transformes en tout: tu es ce murmure ou ce parfum aérien. Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren, du nur, du wirst immer wieder geboren. – Entre mes bras: quel abîme qui s’abreuve de pertes. Weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest. – Ils ne t’ont point retenue, et c’est grâce à cela, certes, qu’à jamais je te tiens. Ein so »großartiges Gefühl« wie dasjenige, das das »unbekannte deutsche Lied« verkündete, welches Abelone eines Tages in Venedig anstimmte, hat Rilke in den Schlußsätzen des ersten Entwurfs seines Gedichtzyklus »Aus zwei Winter15 16 17

A. a. O., S. 294. Ebd. Ebd.

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abenden« wohl nicht widerrufen wollen. Die »sanfte Gewalt«, die er schon als Knabe erfuhr, ließ ihm nicht den Ausweg offen, in die sorglose Geselligkeit einer Tanzgelegenheit hinein zu flüchten. War ihm frühzeitig das harte Los beschieden, geduldig lieben, eine lange Liebe leisten zu müssen? Eine Liebe, die auf Gegenliebe zu verzichten lernte, sie eines Tages sogar zu fürchten begann – wie die Troubadours, denen nichts abschreckender schien als die Aussicht, erhört zu sein? 18 Konnte er etwa auf diesem Erlebnis der Kindheit zurückblicken als auf etwas, was er längst überwunden hätte? War für ihn die flüchtige Begegnung nicht vielmehr immer noch schmerzhaft? Wurde der frühlinghafte Liebesreiz, den er in kindlicher Unschuld empfand, nicht immer noch durchwartet, die schuldige Liebe aber nie geleistet? Kam die Kindheit, auf die er sich besann, ihm deswegen nicht umso »ungetaner« vor? Hatten die verträumten Erinnerungen, denen er nachhing, nicht deshalb »das Vage von Ahnungen« an sich? 19 Waren sie ihm deswegen nicht »nahezu zukünftig«, während sie doch als vergangen galten? Wo schafft das Leben einen Ausgleich für dasjenige, was die Jugend in einer unvergänglichen Stunde so unsäglich hinriss? Sind die Jünglinge später vergleichbar einer so sanften Gewalt? Ach, auch der Freund bleibt im Hinterhalt, rein unerreichbar. 20

Auch dem Freund, nicht nur der aus der Ferne Geliebten, »l’inconnue discrète«, eignet »l’imperceptible fuite«, die unscheinbare Flucht, die es einem untersagt, sein Anwesen dauA. a. O., S. 295. A. a. O., S. 299. 20 R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 288. 18 19

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erhaft festzuhalten. Auch wenn es sich nicht vermeiden lässt, dass ein verstohlener Blick, eine unvorsichtige Gebärde es, sei es auch nur einen winzigen Augenblick, offenkundig macht. »Les inconnus. Ils ont leur large part à notre sort que chaque jour complète.« 21 – »Die Unbekannten. Sie haben ihren großen Anteil an unserem Lebensschicksal, das jeder Tag vollbringt.« Und wenn es die Freunde sind, so verleugnet der Dichter keinen von ihnen – »ni même ce passant qui n’était de l’inconcevable vie qu’un doux regard ouvert et hésitant«. 22 »Nicht einmal dieser Vorübergehender, der vom unfaßbaren Leben nur ein Blick war, sanft, offen und zögernd.« Er nennt allerdings keinen. Nicht, weil er sie nicht kennt, nicht mehr weiß, wie sie alle heißen, weil er all die Namen vergessen hätte. Sondern, weil diese ihm unbedeutend sind. Mit dem Namen macht man sich bekannt, spricht jemanden an – beginnt das Bekennen, das der Dichter Lügen strafen möchte. »Man begegnet einander« hierin »als der und der«. 23 Nicht nur »die Kleidung«, auch das Nennen der Namen »schafft reine Verhältnisse«. »Man gewinnt dadurch die Ebene der Öffentlichkeit.« 24 »Man kann sich begegnen lassen.« »Man trifft hier, bzw. verbindet einander in etwas«, worin man umgänglich ist. Eben hierin ist der Gebrauch der Eigennamen »gemein«. Man kann sich hierdurch miteinander beschäftigen, macht sich hierin einander annehmlich, passabel. »Man ist nicht einfach ›da‹ voreinander – wie das z. B. Liebende können.« Denen das Ansprechen mit den Eigennamen alsbald überdrüssig ist, weil darin nichts vom unverwechselbaren Anwesen liegt, das geradezu unaussprechlich ist, – das sie einander reichen möchten. Die Minne liebkost. Wenn sie

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R. M. Rilke, Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 60. Ebd. H. Lipps, Die menschliche Natur, a. a. O., S. 36. Ebd.

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zu Namen greift, so sind es Kosenamen. Wenn sie sprechen will, so findet sie die seltsamsten Koseworte. Bereits an dieser Stelle legt der zweifellos autobiographische Einschlag der »Entwürfe aus zwei Winterabenden« es nahe, in der Auslegung auf biographische »Fakten« zurückzugehen, die die Jugendzeit des Dichters zutiefst geprägt haben. Auf mustergültige Weise hat z. B. Ralph Freedman in seiner Biographie »Rilke. La vie d’un poète« 25 die frühesten Freundschaftsverhältnisse und Liebesabenteuer geschildert, die in dem empfänglichen Gemüt des jungen Dichters einen unauslöslichen Eindruck hinterlassen haben. Wenn wir den Wert solcher biographischer Aufschlüsse nicht bestreiten wollen, so mahnt der Dichter der »Entwürfe« uns jedoch selbst dazu, nicht um jeden Preis die Diskretion der Minne, wie er sie meinte, zu unterbrechen. Gerade sie ist uns in phänomenologischer Hinsicht bedeutsam für eine Auslegung, die sich nicht aus dem Schatten des dichterischen Schaffens Rilkes lösen will. Ah, combien nous aimons l’inconnu: bien trop vite, de semblables et de dissemblables, se compose un cher visage ! Ach, wie wir das Unbekannte schätzen: nur zu rasch, aus Gleichund Gegensätzen, bildet sich ein liebes Angesicht! 26

So lautet Rilkes erste Antwort für Erika Mitterer, die wenige Tage nachdem er Ende Mai 1924 die »Entwürfe aus zwei Winterabenden« unabgeschlossen zurückgelassen hatte erR. Freedman, Rilke. La vie d’un poète. Biographie traduite de l’anglais par Pierre Furlan. Solin. Actes Sud, Arles 1998. 26 R. M. Rilke, Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer 1924– 1926. Insel, Wiesbaden 1950, S. 7: Erste Antwort vom 3. Juni 1924; vgl. R. Freedman, a. a. O., S. 727. 25

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folgte. Dem Knüpfen einer Bekanntschaft geht das namenlose Erschlossen-Sein reiner Ergebung voran. Was die dichterische Begegnung Rilkes zuinnerst prägt, ist die tiefe Anonymität ihres Sich-Ereignens. Es liegt all denjenigen Ansprüchen weit voraus, mit denen die einander jeweils Begegnenden sich gegenseitig zu Gesicht bringen – all den Assonanzen und Dissonanzen ihrer umständlichen Liebeserklärungen, zu denen sie sich vorwagen. Das Lieben ist in der dichterischen Begegnung Rilkes ein duldsames. Es findet am anspruchslosen Dasein der liebevoll Begegneten Genüge. Es erfreut sich ihres Anwesens. Denn dieses ist dem Dichter ein »ganzes«. Und es ist makellos. Kein Verlangen trübt, kein Anspruch verzerrt es. Ihr Anwesen ist »wahr« in der Sphäre, in der sie wirklich ist. Und diese Sphäre des Wirklich-Seins umschließt »alle Stufen der Verwandlung«, welche die Einbildungskraft des Dichters zu ergreifen vermag. Seine Imagination beschränkt sich nicht auf ein allzu eilfertig hervorgerufenes »Angesicht«, wie dasjenige, das sich etwa aus Zusammenklang und Gegenstimme zusammensetzt. Vielmehr leistet sie dem »inneren Aufgebote« der liebevoll Begegneten Folge, das bei weitem alle die Gründe übertrifft, aus welchen heraus man im gewöhnlichen Liebesdienst um sie wirbt. Denn das Liebgewinnen des Dichters nimmt an dieser inneren Verfügung leise teil wie an ihn »ernährendem Brot«. Er bildet sich die Geliebte so einfühlsam ein, wie sie – noch völlig verschwiegen – in den herzhaften Quellgrund seines Dichtens eingetaucht ist, aus dem heraus er selber »geschieht« – aus dem heraus sein Sprechen er-steht. Welche Verfügung erlässt die vom Dichter so duldsam Geliebte, wenn nicht die des leisen Anstimmens der μοῦσα, des flüsternden Anhebens eines Vor-Gesanges? Das nicht schon im eigenen Namen geschieht, und keinen solchen verwendet, mit dem man sich der bloßen Präsenz einer Geliebten vergewissere? Schätzt der Dichter an ihr »das Unbekannte« nicht deshalb, weil sie ihn doch insofern »erkannte«, als sie 101 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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sein Dasein nicht völlig in der »Schwebe« hielt? Da sie seinen Herzraum schon beflog, noch bevor seine Einbildungskraft alle die ergreifenden Verwandlungen meisterte, in denen ihre Wirklichkeit sich ergoß? Bis sie als ein Ganzes, als ein Vollzähliges anwesend war, dessen frohes Dasein »jedem Zweifel« an ihrer Existenz spottete? Und er, auch wenn er »der abgetanste Tote« gewesen wäre, an ihr die Auferstehung seines Dichtertums feierte? 27 Wie weit sind wir, wenn wir uns das namenlose Erschlossen-Sein Rilkes vergegenwärtigen, von irgendwelchen biographischen »Fakten« entfernt! Als »faits divers« sind sie für den Lebens- und Wirkungszusammenhang des Dichters durchaus bedeutsam. Die verwandelte Gestalt, die diese Lebensgeschehnisse durch seine dichterische Einbildungskraft erlangen, wird uns phänomenologisch erst in den Fundgruben jener Wortbildungen zugänglich, zu denen der Dichter sich durchringt. Wie leichtsinnig sei es doch, diese für literarisch verschleierte »Bekenntnisse« zu halten, in denen »der späte Rilke« zögernd längst verflogene Freund- und Liebschaften eingesteht, deren er sich flüchtig erinnert! Was sind sie dem Dichter? Sind sie nicht seine stillen Gesuche an Erato, die Anmutige, die die Saiten der Leier bespannt – dass sie ihn mit ihrem Vor-Gesang beschenke? Damit sie ihm für den »unbeschreiblichen Bezug«, der ihn zwar betraf, aber zugleich maßlos übertraf, den unaussprechlichen Ausdruck heranreiche, der sich ihm »rein verweigerte«? Denn keine Menschensprache gestattete es bislang, dass man einen solchen schon in den Mund nimmt. Einen herrlichen Gesang an die Muse ließ John Milton in den Anfangszeilen des ersten Buches seines »Paradise Lost« erklingen: Vgl. Rilkes erste Antwort für Erika Mitterer vom 3. Juni 1924, in: R. M. Rilke, Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer 1924–1926, a. a. O., S. 7.

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Sing heavenly Muse h…i I thence Invoke thy aid to my adventurous Song, That with no middle flight intends to soar Above the Aonian mount, while it pursues Things unattempted yet in prose or rhyme. 28

Wie soll ein Dichter die Heimat der Musen unentwegt anfliegen können, wenn nicht ihr luftiger Anhauch ihn zu der Himmelsgegend, die sie bewohnen, hinauftrage? Er wagt sich weit heraus, zu Dingen, die in Prosa oder Reim bislang unversucht blieben. Soll sein abenteuerlicher Flug ihm je gelingen, wenn nicht eine von ihnen ihn unterweise? Instruct me, for thou know’st; thou from the first Wast present, and with mighty wings outspread Dove-like sat’st brooding on the vast abyss And mad’st it pregnant: what in me is dark Illumine, what is low raise and support; 29

Ein solcher heiliger Einfall war nach Milton der ewigen Vorsehung vorbehalten – »eternal providence«. Da sie erkannte, vermocht sie ihn zu unterrichten. Vom Anfang an weste sie an und brütete wie eine Taube über Abgründe und schwängerte sie. Denn sie ist das Wort das die Welten schuf. Sie erleuchtete seine Dunkelheit, hob sein Herz aus der Niedrigkeit empor und trug es zu den Himmeln hinauf. Wen aber besang Rilke in seiner stillen Ode an die Muse? Wie bescheiden klingen die Schlussverse des ersten »Entwurfs«:

J. Milton, Paradise Lost. Edited with an Introduction and Notes by Stephen Orgel and Jonathan Goldberg. Oxford University Press, New York 2008, S. 3–4. 29 A. a. O., S. 4. 28

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Übe dich schweigend am Zarten und Harten. Manche, die dir leise begegnen, werden dich segnen, wider Erwarten. Werden dich segnen. 30

Beriet er den Leser oder sogar den Freund, dem er nachher seine »Entwürfe« widmete, mit hohlen Phrasen? Sollte man längst verflogene Liebesillusionen durch neue Liebschaften überholen? Ist es segensreich, wenn man auf dem Gebiete der Liebeskunst sehr beschlagen wäre? Wenn man aus den überraschendsten Begegnungen die Lehre zog, dass man die größten Liebesgewinne erzielen könnte, ohne sich Mühe zu geben? Eine solche Binsenwahrheit verkündet der Dichter nicht. Seine Sache ist es nicht, guten Rat auf alle Märkte zu tragen. Er hält sich selbst die Maxime seines Dichtens vor in einer Zusage, die weder an den Leser, noch an den Freund ergeht. Sondern an denjenigen, den er selber zu werden immer noch hofft. Schweigend soll er sich am »Zarten und Harten« üben. Ein einzelner Buchstabe trennt sie von einander – diese Worte, die sich so klangvoll aneinander fügen, dass sie sich gegenseitig hervorrufen. Sie sind der musische Vor-Gesang seiner Berührung und Erstehung in der liebevollen Begegnung. Die sich einander jeweils Begegnenden vernehmen ihn oft nicht, da sie einander zureden. Der Dichter hört auf ihn, weil er schweigt. Den meisten ist das Zarte verächtlich. Sie möchten sich gegenseitig behaupten. Der Dichter rühmt es, weil es ihm Gehör dafür verschafft, dass in ihm ein Wort voller Treuherzigkeit erklingen mag. Denn nur ein demütiges Sprechen lobsingt die Anmut einer Jungfrau. Nicht erinnert der Dichter sich einer verflogenen Liebe, die wiederzubeleben er sich zum Vorwand nimmt für neue R. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 288.

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Liebesaffären. Er giert nicht nach Begegnungen, wie es die Liebhaber tun, die ihre Trophäen einsammeln. Er hält sich offen, damit »leise« zu ihm gelangen mag, was ihm in den zahlreichen Begegnungen als eine einzige, geheimnisvolle Verheißung entgegenkommt. Das Unerwartete, das aus der Ferne kommt, nimmt er mit offenen Armen auf. Nicht dem Äther ewiger Vorsehung stellt der Dichter seinen Flug anheim, in dem er den Wandel der Gestalten, die seinen Liebeshimmel bevölkern, überschaut. Für ihn gibt es keine Heimkehr zum »verlorenen Paradies«. Erkannte sie denn, die ihm immer unbekannt blieb? War ihre Unterweisung unzweideutig genug, damit er sich auf sie verlassen konnte? Kam sie ihm nicht eher wie ein Traum vor, den er nie austräumte? Trug sie ihn über alle Abgründe hinweg, die sie im Vorhinein ausgebrütet und befruchtet hatte? Riss sie ihn nicht vielmehr in einen Taumel hinein, der ihm trotz aller Verbissenheit, mit der er sich dagegen wehrte, immer noch bodenlos schien? War sie vom Anfang an anwesend – wie das schöpferische Wort, das Himmel und Erde voneinander schied? Ihr liebliches Licht war doch ein »Erstling der Erde«, ein schattenhafter Schein? Dass sie auf einmal erschien, verschlug es ihm nicht etwa die Sprache? Hob sie denn, die allen Eigendünkel austrieb, das niedrige Herz des Menschenkindes hinauf? Hing es nicht von dem »eigenen Verweigern« danieder, sich einer solchen Übersteigerung auszusetzen? Was dem Dichter zusagt, dass er ein Gesegneter werde, ist von Gnaden der Begegnung selbst. Es ist ihr Geschenk. Es ist das Wort der Erhörung. Dieses ist jedoch ohne Gewähr. Wer preist sich glücklich, dass er ein solches bereits empfangen hätte? Es ist unwägbar. Denn es ist voll Antwort. Es eröffnet dem Dichter keine Himmelsgegend, keinen Tempel, in den er einziehen könnte. Vielmehr leiht es ihm ein von Winden umwehtes Haus, einen umzäunten Weingarten, einen Streifen Land, das urbar gemacht werden könnte. Wie Rilke in einem

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Anfang August 1924 niedergeschriebenen Gedicht aus »Les Quatrains valaisans« 31 andeutet: Pays, arrêté à mi-chemin entre la terre et les cieux, aux voix d’eau et d’airain, doux et dur, jeune et vieux, comme une offrande levée vers d’accueillantes mains : beau pays achevé, chaud comme le pain !

Der Topograph mag herausfinden, wo es sich befindet. Von allen Häusern, die Rilke bezog, hat er die Adresse. Er kennt alle die Gärten, in denen der Dichter das Rauschen der Fontänen hörte, die lauten Vogelstimmen vernahm. Er hat die sanft geneigten Landstriche bereist, die Hänge der Vorgebirge bestiegen, die einander anrufen und voll Widerhall sind. Er ist ein im Herumschweifen des Dichters bewanderter Fachmann. Wer sind wir denn, dass wir uns anmaßten es zu bestreiten, dass der ganze Segen, der auf dem Dichter ruhte, so weitherzig gewesen sei? Unsere Absicht ist eine bescheidene. Wir möchten den Stützpunkt eines einzigen Flugs seiner Dichterseele aufsuchen. Die »Entwürfe aus zwei Winterabenden« führen uns zu einem sehr entlegenen Ort hin. Nicht etwa zu demjenigen, an dem Miltons »taubenartiges« Vogeltier seine mächtigen Flügel ausstreckte, während es in der Nähe des Abgrundes nistete, ihn dunkel bebrütete und mit einem Blitzstrahl schwängerte. Sondern zu demjenigen, an dem Rilke der ihn angehenden Neigung einer ihm leise Entgegenkommenden den Segensspruch der »Grazie« (χαρίς) entnahm. Laut PauR. M. Rilke, »Les Quatrains valaisans«, in: Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 88; vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 896. 31

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sanias 32 war sie nach der Lakedämonischen Tradition zwiefacher Natur und trug die Namen Cleta und Phaenna. Το κλέος bedeutet: Ruf, Gerücht, Gerede, weiterhin: guten Ruf, Name, Ruhm. Τα κλέα sind die Rühmlichen (cfr. κλεινός). Φαεννός bzw. φαεινός bedeutet: leuchtend, glänzend. Φαειννα ist die Helle. An die Stelle der Cleta trat nachher Thalia (θάλεια). Θαλία bedeutet: Blüte, blühendes Glück, Überfluss, Festesfreude. Sie war zugleich eine der μοῦσαι. Es wird gesagt, dass die »Charites« die Gesellschaft der mit ihnen nahe verwandten Musen suchten. Worüber sie sich miteinander unterhielten, wurde nicht überliefert. Zu uns gelang allerdings die orphische Hymne, die sie anrief: Chariten ihr, hochnamige, glänzender Ehre, Mütter der wonnigen Lust, o gefällige, fröhliche, reine, Ewiger Blüt’, in Wechselgestalt, der Sterblichen Sehnsucht! Rosige, wünschenswerth, im Rundtanz, strahlender Anmut, Segenspendende, kommt, den Geweiheten immer genädig! 33

Pausanias’ Description of Greece. Translated into English with Notes and Index by Arthur Richard Shilleto. Vol. II. George Bell and Sons, London 1886, Book IX Boeotia, Chapter XXXV, S. 204–205. 33 Hymnen des Orpheus. Griechisch und Deutsch. In dem Versmaße des Urtextes zum erstenmale ganz übersetzt von David Karl Philipp Dietsch. I. I. Palm und Ernst Enke, Erlangen 1822, S. 146–147: LX. Der Chariten Rauchopfer mit Styrax. 32

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VII. Reine Oktave

Schaute der Dichter des ersten »Entwurfs aus zwei Winterabenden« in den Spiegel der Erinnerung? Zauberte er ihm ein Trugbild aus seiner Jugend vor? Wurde es verschont, da von dem, was es ins Gedächtnis rief, vieles tief zurücksank? Glänzte es an der Spiegeloberfläche, damit der Dichter ihm verträumt nachhing? Mitte Februar 1924, zu dem Zeitpunkt, an dem Rilke die »Prélude« und die sieben Gedichte seines »ersten Entwurfs (I)« geschlossen vorlagen, ließ er in knappen Versen einiges verlauten, was einer so naheliegenden Deutung seines ersten Gedichtzyklus »Aus zwei Winterabenden« zu widersprechen schien. Wie ein Ton, der in Spiegel schaut, klang im November ein Amsellaut oder als rührte ans eigene Haar einer, weil’s einmal geliebkost war. Aber am Morgen im Februar darf es ein Fink schon wagen etwas was kein Erinnern war offen ins Jahr zu sagen. 1

Dieses kleine Gedicht gehört zwar noch zu dem Umkreis der »Sieben Gedichte aus dem Wallis oder das kleine Weinjahr«, die im November 1923 entstanden waren. Im Wandel der Jahreszeit ließ es jedoch eine morgendliche Stimme fühlsam verlauten, die eine neue Tonart anschlug. Diese Stimme hing

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R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 608.

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Reine Oktave

nicht nach, was im Ausgang eines Weinjahres sich allmählich vollendet hatte. Sie wagte sich hinaus in ein beginnendes Jahr. Der Ton, den sie von sich gab, war nicht derjenige, mit dem Erinnertes hervorgebracht wird. Er streichelte nicht innig Gewordenes. Er blickte nicht selbstgefällig in Rückspiegel. Was in ihm angesagt wurde, war noch offen. In der Zeitspanne, die sich zwischen dem Abschluss des ersten und dem Beginn der beiden Gedichte des zweiten »Entwurfs aus zwei Winterabenden« auftat, schob Rilke ein zweiteiliges Gedicht ein. 2 Es ist ebenfalls auf »Mitte Februar 1924« datiert. In diesen Versen stellte er die Kraft seiner dichterischen Einbildung auf eine harte Probe. »Zu fühlen wie das flüchtigste Gebilde das, was dich bleibender umgab, vertrat« – was gibt einem Dichter dazu die Kraft? Fühle man nicht »wie Einhorn oder Hirsch im Wappenschilde verweilen über adeliger Tat«? 3 Stellen sie nicht »gemeine Figuren« dar, die auf einem Feld frei heraustreten? Schildern sie nicht die Würde, die Vornehmheit eines Wappens aus? Rühmen sie nicht Kraftentfaltung und Hurtigkeit derjenigen, die diese Figuren im Wappen führen, indem sie steigend, aufgerichtet, springend, schreitend oder liegend und mit gesenktem Kopf dargestellt werden? Sind diese Wappentiere, deren Darstellung sorgfältig blasoniert wurde, nicht zugleich Sinnbilder, deren Bedeutung weit über ihre Funktion als »insignia« hinauswuchs? Vermag es ein Dichter, ein Herold zu sein für die »flüchtigste, frühste Figur«, die er gewahrte? Was führte sie im Schilde, indem sie das Feld in harten und zarten Farben spaltete? Sollte sie zu seinem Wappen werden, zur Auszeichnung seines Adels? »Insigne« seines stolzen Dichterdaseins – und

R. M. Rilke, »Aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 609–610 hIi und hIIi. 3 R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 608. 2

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Reine Oktave

darüber hinaus unerschöpfliches Sinnbild eines jeden Gesanges sein? Bleibende Umgebung, Haus? Name seines Geschlechts? Sein gegen die Hiebe der rasenden Zeit gehobenes Schild? Wie geschah es, dass sie frei heraustreten konnte? Gelobte sie ihm Treue auf Lebenszeit? War sie ihm bis in den Tod hinein getreu? Trug sein Epitaph ihren Namen? Reichte ihm die Kraft dafür, sie so innig zu durchbilden, dass jedes seiner Worte zu Wimpel und Fahne wurde, die ihr Gelübde in alle Winde trugen?

hIi Einmal kam die Frau, die reiche, reife die zerstreut den Jüngling unterwies, wenn er störend, noch mit Knabensteife, an die blumige Geliebte stieß. 4

Sie kam – auf einmal, nur das eine Mal, einst? War sie die Kommende, die voll Ankunft sei, die Zukünftige? War sie denn schon »da«? Begrüßte er sie, da er ihr Anwesen erfuhr? Er, der ein unerfahrener Knabe war? Kam sie auf ihn zu? Wußte er, wer sie war? Konnte er in der Unbeholfenheit seiner Buhlschaft überhaupt erahnen, wer sie war? Seine Aufdringlichkeit empfand die Geliebte doch als recht anstößig, die verstört ihre Blüte in sich verschloss. Griff er nicht ins Leere, als er sie liebzugewinnen sich anmaßte? Nun kam sie, die Reiche, die Reife, ihn zerstreut zu unterweisen. Ohne dass sie ihn meinte. Indem sie aus ihrem Reichtum, aus ihrer Reife schöpfte, die sie auf ihn lud. War es des Dichters schwerste Stunde, als sie kam?

R. M. Rilke, »Aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 609.

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Dann erschienen reizende Gestalten, traten ins gesteigerte Bereich wo sich Menschen aneinanderhalten zum vergöttlichten Vergleich. 5

Sie erschienen, wie in Aphrodite’s Gefolge die entzückenden »Charites«, oder die geflügelten Götter, die den Menschen ihre Liebeskünste einflüsterten, die »Erotes«. Sie füllten den Liebeshimmel mit Glanz, Freude, blühendem Glück. Wo sie die Liebenden beflogen, waren Gegenliebe, heißes Verlangen, Schmeichelei, Hochzeitsfeier, Zwittrigkeit und Sehnsucht immer mit im Spiel. Kann es sein dass er, wenn er sie lobte aus ursprünglicher Natur jene nie Erfahrene erprobte an den Seligen, die er erfuhr? 6

Stimmte er den hymnischen Gesang dazu an, diejenigen zu loben, die ihn mit ihrem Reigentanz umdrängten, die von den Anhängern des seligen Fluggottes Betäubten? Ersuchte er nicht die immer nur Kommende – die Götterkönigin, Fürstin, Mutter der Sehnsucht, die alles Gebärende – dazu, dass sie sich ihm offenbare? Wie die orphischen Hymnen sie anriefen: Komm, o selige Göttin, in deiner reizenden Anmut! Reines Herzens ja ruf’ ich dich an mit heiligen Worten. 7

Ebd. Ebd. 7 Die Hymnen des Orpheus, a. a. O., LV, Hymnos an Aphrodite, S. 134– 135. 5 6

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Trat sie ein, die in der Gesellschaft der Nymphen gesehen wurde, »am sandigen Strand leichthüpfenden Fußes«? 8

hIIi Ach, sie versank, sie versank … Im Leben? Im Grabe? Steht eine Gartenbank neben dem Grab? Und wo bin ich, der untröstliche Knabe? Oder im Leben … Wohin? Wo man sich flacher verliert, still in die Brust. Wo den Verlust nie eine Blume ziert. Wo ich nicht bin. 9

Verhallte ihre Unterweisung, ohne dass sie erhört wurde? War sein überladenes Herz so voll Schwermut, dass es nicht einmal eine Klage verlauten ließ? Sank sie in seinem Dichtergrab zurück, wo keiner ihm aufwartete, das keine Aufschrift trug, die an sie erinnerte? Wohin verschlug es den trauernden Jüngling, dass sie nie ankam – in welcher Einsamkeit? Verschwand sie im Flachland seines keiner Regung mehr fähigen Daseins? Hing sein Herz nicht länger an sie? Blühte es nicht trotzdem, da sie ihn im vorweg schon verlassen hatte, nochmals auf, wie es die verspäteten Rosen manchmal tun, die eine bittere Nacht überraschte? Wer ertrüge es, dass es Ebd., S. 135. R. M. Rilke, »Aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 610.

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nicht mehr schlug? Wessen Leben gliche einem starren Dasein? Wie bestand Rilke diese Krise? Ging er in all den verwandelten Gestalten, denen er begegnete, der Spur derjenigen nach, deren »lange Erregung« ihn »unbeschreiblich« mitgerissen hatte? Geschah es, dass die frühe Beglückung, die ihm zuteil geworden war, sich in allen Verwandlungen »überklingend übertrug«? Dass sie nicht abklang und er dem stummen Schmerz verfiel? Wie ermutigend klingt das Gedicht, das er Anfang Februar 1924 niederschrieb: Gieb deinem Herzen ein Zeichen, dass die Winde sich drehn. Hoffnung ist ohne gleichen wenn sie die Göttlichen sehn. Richte dich auf und verharre still in dem großen Bezug; leise löst sich das Starre, milde schwindet der Bug. Risse entstehn im Verhängnis das du lange bewohnt, und in das dichte Gefängnis flößt sich ein fühlender Mond. 10

Bekanntlich ist der Mond Symbol der Epiklese Aphrodite Ourania, der himmlischen, sternhellen, die den Tau über die Erde breitete, damit sie fruchtbar wurde. Gefeiert wurde aber von allen die Aphrodite Pandemos. Aus dem Westen führte ein Hauch des ἀνεμος Zephyros sie, die aus dem Meer aufgetaucht war (»Anadyomene«), ans Land, wo sie den Lenz brachte, Blumen säte und ein jedes Lebewesen entzückte. Die Horen trugen sie zu den unsterblichen Göttern hinauf. 10

R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 607.

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Der helle Morgenstern erfüllte den Herzraum des Dichters mit seinem fühlsamen Einfluss. Sein Frühlingslicht schloss ihm das Gemüt auf, das dem freudigen Aufschwung noch harrte, mit dem alles Aufwachende begrüßt, alles Erstarrte zurückgedrängt wurde. Wie der feuchte Tau den versteinerten Boden aufweichte, das leise Wehen des Westwindes den Lenz heranführte, der auf Schritt und Tritt Blumen hervorsprießen ließ, sobald er an Land ging, – so unterwies die Naturgöttin den Dichter, sich aufzurichten und »still in dem großen Bezug« zu verweilen, dessen unübertroffene Schönheit sich über Land und Meer ausbreitete. Aus dem ebenfalls Anfang Februar 1924 zusammengestellten Gedichtbündel »Tendres impôts à la France« stammt noch folgendes Gedicht: Il faut croire que tout est bien, si tant de calme suit à tant d’inquiétude ; la vie, à nous, se passe en prélude, mais parfois le chant qui nous surprend nous appartient, comme à son instrument. Main inconnue … Au moins est-elle heureuse, lorsqu’elle parvient à rendre mélodieuses nos cordes ? – Ou l’a-t-on forcée de mêler même aux sons de la berceuse tous les adieux inavoués ? 11

Auf der Woge eines frühlingshaften Vorgesanges fuhr eine hochgestimmte Dichterseele. Sie schaukelte nicht bloß auf den Wellen, während sie ein Wiegenlied anstimmte. In den Saiten, die sie zum Erklingen brachte, vibrierte ebenfalls nicht eingestandener Abschied mit. Welche reine Oktave fügt

R. M. Rilke, »Tendres impôts à la France«, in: Vergers et autres poèmes français, a. a. O., S. 171.

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Süße und Bitternis harmonisch zusammen? Welche unbekannte Hand greift sie glücklicherweise? Am 20. Februar 1924 notierte Rilke zwei weitere Gedichte »als Ergänzung zu dem kleinen Gedichtzyklus vom 13. bis 15. Februar 1924: ›Entwürfe aus zwei Winterabenden‹«. 12 Sie sagen nichts bereits Abgeschlossenes aus, dem noch diese und jene Einzelheit der Vollständigkeit halber nachgetragen werden sollte. Sie sagen Offenes aus, das noch aussteht – Geschehnis, das sich der Vergänglichkeit entzieht, segenbringendes Begegnis, dessen kostbares Geschenk zu empfangen einem noch immer bevorsteht. Wie geschah es? Wie kam es dazu, dass man dieses Geschehnis nicht ad acta legen, der Vergessenheit anheimgeben konnte? Dass es sich nicht mühelos in eine Vergangenheit einordnete, die man längst hinter sich gebracht hätte? An die man sich zwar noch erinnere, die einen jedoch nicht weiter beschäftige, da sie sich in Flugsand verflogener Augenblicke auflöste? Wie geschah es, dass man dem Geschehen nicht »entging«? Dass man sich in seinen »frühen Bereich« immer noch verstrickte? Was kam in dem segenspendenden Begegnis auf einen zu? Welche Freisprechung würde die Ankunft derjenigen bedeuten, die immer noch die Kommende war? Zu der sich zu bekennen man sich eigenwillig »verweigerte«? Geschah es vielleicht deshalb, weil man sie in ihrer Wahrheit nicht erkannte? Aber wie erkennt man, dass jemand »in Wahrheit« sei – in der vollen Wahrheit seines Daseins? Nicht in derjenigen, die man sich vorhält? Wie in einem Spiegel? Erfordert der Freispruch das Geständnis, dass man bei aller Verneigung, die man zeigte, die ganze Liebe noch nicht leistete? Bedeutet »das Leisten der ganzen Liebe« unmittelbarste Daseinserkenntnis in der Wahrheit, die frei ist von jedem Spiegelschein? Erfreut sie sich der unverrückbaren Gewissheit, dass die Kommende als die »Wahre« anwest? Begrüßt die 12

I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 870–871.

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Liebe jubelnd ihre Ankunft? Eine solche, jedem Anspruch enthobene feierliche Aussprache, zersprengt sie schließlich nicht vollends den prekären Raum, in dem das Gedicht das flüchtige Bild der Geliebten auffing? Zerschmettert sie letztlich nicht den keuschen Wasserspiegel der »umrahmten Park-Quelle«, in dem der Dichter »die Möglichkeit des sanftesten Ovals« gewahrte, die es ihm gestattete, dass er, wenn auch nur in einem winzigen Augenblick, ihre »frühste Figur« zu Gesicht bekam? Aus Rilkes eigener Vergangenheit, aus der in der Villa Discopoli auf Capri verbrachten Zeit, kommt uns ein Gedicht entgegen, das ohne Umwege zu uns spricht über das NichtVergessen-Können dessen, was sich dem Dichter in der liebenden Begegnung ereignete. 13 Werd ich vergessen? Und wenn irgendwas viel später zu mir kommt und mich daran erinnert: werd ich fremdhin fragen –: wann –? Kann Leben heißen: zu vergessen, dass mir Seligkeit, endlose unverkürzte an einem Tage ward der rasch verrann und dass dein Wesen sich in meines stürzte aus deinen Augen, da ich kaum begann dich anzusehn. Ich weiß von dir nicht mehr; nur kommen mußtest du um jeden Preis, und eine Stelle in mir ist jetzt leer für alles das von dir was ich nicht weiß.

Nicht die Frage, wann dasjenige geschah, an das er sich aus irgendeinem zufälligen Anlass erinnerte: eine längst vergessene Begegnung die an einem Tag, der schnell vorbeiging, R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 494, Mitte März 1907, Capri.

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»passierte«, beschäftigt den Dichter. Wie es geschah, wie es dazu kam, dass ihm der »Segen« der Begegnung zuteilwurde – unversehens, schlagartig, unentrinnbar – diese Frage rückt in die Mitte seines Gedichtes ein. Wurde er in diesem Ereignis nicht um einen Teil vollständiger, der in ihm eine Leerstelle bildete? Erweiterte sich sein inneres Wesen nicht um eine Lücke seines Daseins? Wurde er nicht teilbar auf eine für ihn unberechenbare Weise? Es geschah, dass er »kaum begann«, sie »anzusehen«, die auf ihn zukam. Er wusste von ihr nur dies eine: dass sie »um jeden Preis kommen musste«. Ihr Kommen war unabdingbar. Es war keine Gelegenheit, die sich bot, die er zu irgendeinem Zweck ausnutzen konnte. Ungebeten stand dieses Kommen ihm zu Gebote, unabweisbar. Es riss in ihm eine Stelle ein für alles Unbekannte, Geheimnisvolle, das die Kommende umgab. Für all dasjenige, was seinem beginnenden Anschauen noch nicht freigegeben wurde. Denn sie war nur in ihrem Kommen »da«. Er gab keine »Ansicht« von ihr, die sie zu sich selbst entbunden hätte – der man es verdanke, dass man bereits wußte, wer sie war. Dieses uranfängliche Schauen fing nur einen Schimmer auf, Flüchtiges, in dem es die Kommende nicht schon »zu Gesicht bekam«. Wie vollzog es sich? »Dein Wesen stürzte sich in meines aus deinen Augen.« Das eigene Sehen wurde in dem Augenblick, da es auf einen Gegenblick traf, übertroffen. Etwas Unansehnliches ereignete sich, das den Dichter zutiefst bestürzte. Dem eigenen Wesen stieß eines zu, das aus einem reinen Augenschein hervorbrach. Dieser reine Schein strömte aus, ohne gespiegelt zu sein. Ins eigene Wesen warf er kein Bild hinein, das diesen Ausfluss irgendwie »vertreten« könnte. Er sparte in ihm vielmehr eine Leerstelle aus, die unausgefüllt blieb. Anfang Juni 1924, als Rilke seinen Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer begann, fand er für diese wunde Stelle behutsame Worte:

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Noch fast gleichgültig ist dieses Mit-dir-sein … Doch über ein Jahr schon, Erwachsenere, kann es vielleicht dem Einen, der dich gewahrt, unendlich bedeuten: Mit dir sein! Ist Zeit nichts? Auf einmal kommt doch durch sie dein Wunder. Dass diese Arme, gestern dir selber fast lästig, einem, den du nicht kennst, plötzlich Heimat versprechen, die er nicht kannte. Heimat und Zukunft. Dass er zu ihnen, wie nach Sankt-Jago di Compostella, den härtesten Weg gehen will, lange, alles verlassend. Dass ihn die Richtung zu dir ergreift. Allein schon die Richtung scheint ihm das Meiste. Er wagt kaum, jemals ein Herz zu enthalten, das ankommt. Gewölbter auf einmal, verdrängt deine heitere Brust ein wenig mehr Mailuft: dies wird sein Atem sein, dieses Verdrängte, das nach dir duftet. 14

Anfangs nur eine Aussparung im eigenen Wesen, weitete diese Leerstelle sich immer mehr aus. Zunächst noch fast gleichgültig, wurde sie ihm mit der Zeit unendlich bedeutend. Wie formte sie sich zu einer Raumgestalt aus, wie wurde sie ihm zur »reinen Figur«? »Mit-dir-Sein« heißt hier nicht: einer Bekannten Gesellschaft zu leisten, mit der man sich schon öfters an irgendeinem gemeinsam verabredeten Ort traf. Gerade das »Wunder« der Begegnung wird umgangen, wenn einer sich an einem vereinbarten Zeitpunkt zu seiner Bekannten gesellt auf ausgefahrenen Lebenswegen. »Mit-dir-Sein« bedeutet 14

R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 160.

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vielmehr: immer mehr vereinsamt zu werden um die Unbekannte, die einen unversehens übertraf, ihn an einen Ort verschlug, zu dem kein Weg hinführte – »ins Unbekannte, Nicht zu Betretende«. 15 Die Stelle, die sich in ihm aushöhlte, war diejenige, an der ein reiner Schein ihren Augen entströmte. Es ist nicht diejenige, an der eine aufgenommene Sehrichtung sich »im Blick eines Menschen pointiert«. Eine solche sich zuspitzende Verdichtung des In-die-Welt-sehens, wie sie z. B. die Züge eines Gesichts bestimmt, ihnen die für sie »konstitutive« Spannung verleiht, »sofern sie nichts Natürlich-Morphologisches, sondern etwas Geistiges sind«, wurde in dem Augenblick, da er »kaum begann, sie anzusehen«, nicht schon wahrgenommen. Er bekam sie eben nicht »zu Gesicht«, wenn »Gesicht die Doppelbedeutung hat: in die Welt sehen und gerade in der hierbei aufgenommenen Richtung sichtbar werden«. 16 Wie sie z. B. ihn ansah, blieb seltsam unbestimmt – genauso, wie ihr Blick etwa »die Dinge traf«. Sofern »Gesicht eine Frontstellung zur Welt bedeutet«, weidete sein beginnendes Anschauen sich an dem ihren Augen entströmenden Lichtschimmer, der eben gegen ihn keine Front machte. Dass ihr Wesen sich in das seine stürzte, war geradezu eine schlichte Offenbarung. Sie räumte das Feld für diejenige, die um jeden Preis kommen musste, der ahnungslos entgegengesehen wurde, wann und wo sie ankam. Durch die Zeit kam auf einmal das Wunder ihres Anwesens. Nur diese warf ihm unversehens ihr Dasein zu, das ihm »Mit-dir-Sein« bedeutete. Er lief ihr in die Arme, die sie aufhielt. Nur so gewann die Offenbarung Raumgestalt, dass sie sich nicht in der Geste der Umschließung, sondern in der der herzhaften Begrüßung ausformte. 15 J. W. Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: www.digbib.org/ Johann Wolfgang von Goethe 1749/Faust II, 02. 07. 2006, S. 38. 16 H. Lipps, Die menschliche Natur, a. a. O., S. 25.

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Diese Gebärde bedeutete keine Inbesitznahme. Sie versprach in einem »Heimat und Zukunft«. Die diese Gebärde machte, hieß keinem willkommen, dem sie bereits begegnet war. Keinem, der wusste, aus welcher Heimat er kam, welche Zukunft er sich wünschte. Als sie ihm ihre Gunst schenkte, sah sie ihn nicht einmal an. Machte sie ihre Geste nicht unwillkürlich? Fühlte er es tatsächlich, dass sie ihn ans Herz drückte? Dieser offene Raum zwischen ihren Armen, der ihm vielversprechend schien, formte er sich in ihrer Geste zu einer »Figur« aus, deren Bedeutung unzweideutig feststeht? Die die empfundene Herzwärme nur unterstrich? Bildete er sich diese ihre Gebärde vielleicht völlig ein, während sie den Raum, den sie ahnungslos offenhielt, nicht in diesem Sinne figurierte? Dass ihr Wesen sich in das seine stürzte, bestürzte doch die Selbstgewissheit, in der er bislang mit sich selbst verkehrte. Vor allem die Bewegtheit ihres In-die-Erscheinung-Tretens erschütterte ihn zutiefst; sie ragte über den reinen Augenschein, den er zunächst gewahrte, hinaus. Diese Bewegtheit befeuerte seine Einbildungskraft. Trat sie denn in dieser Bewegtheit auf ihn zu? Verlangsamte sich ihr Zustrom in dieser Raum ausformenden, ihn plastisch gestaltenden Gestik? Wendete sie, die aus heiterem Himmel fiel und leuchtete wie ein Stern, sich allmählich ihm zu, indem sie in die Bahn, die eine Gebärde im Raum beschreibt, einlenkte? Denn ihr Augenlicht warf in sein Wesen kein Bild hinein, erzeugte darin nur Schimmer. Tat sie in der Bewegtheit ihres In-dieErscheinung-Tretens einen Schritt, der ihm unendlich bedeutend wurde – und allem voran in ihrem Gebaren, wie schüchtern dieses auch war, wie wenig Zeit die flüchtigste Geste brauchte, um sich im Raum auszumalen? Unterwies sie ihn, dessen Imagination, kaum entzündet, bislang noch keinen Anhaltspunkt finden konnte? In welche Weite schaute er hinein, damit er dieses »Mit-dir-Sein« wahrnahm?

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Zu ihren geöffneten Armen wollte er »den härtesten Weg gehen«, »lange, alles verlassend« – wie ein Pilger, der nach Santiago de Compostela wallfährt, das Büßerhemd anzieht und seine Sühne leistet. »Die Richtung zu ihr« sollte ihn »ergreifen«, als er ihr in die Arme lief. Er wollte den Weg zu ihrem Herzen finden. »Allein schon die Richtung« war ihm »das Meiste« – die ihm dadurch, dass sie die Arme aufhielt, gewiesen wurde. Über diese Anweisung wagte er sich nicht hinaus. »Jemals ein Herz zu enthalten, das ankommt«, – diese Anmaßung wies er zurück. Es wanderte unaufhaltsam aus in die Weite des offenen Raumes, den sie bereithielt. »Ein Gruß ist etwas Grenzenloses«, notierte Hugo von Hofmannsthal sich in »Die Wege und die Begegnungen«. 17 Er ist keine Gebärde, deren Tiefgang man ausloten könnte. Die Herzhaftigkeit dieser Geste, wie eine Körperhaltung, eine leichte Biegung, eine flüchtige Bewegung der Gliedmaßen sie instilliere, vermocht ein Dichter wie Rilke sie in Worte zu fassen? Nur den Anbeginn, die Vorgeburt einer lautlosen Begrüßung sparte er sich für sein Dichterwort auf – und nicht, wie Hofmannsthal, den gewaltigen Aufschrei, den »seltsamen, einsamen vor-weltlichen Laut«, den schauderhaften Ruf des »großen Vogels«, wie er »im Morgengrauen« erklingt. Der angehaltene Atemzug der Geliebten presste ein wenig Frühlingsluft zusammen, die sich an ihrem Herzmuskel erwärmte, den Duft ihres Anwesens in sich aufnahm. Die in ihrer Brusthöhle aufgestaute Heiterkeit, wie ein Morgen im Mai sie verbreitete, sollte den Anhauch bestimmen, mit dem er den Vorgesang beginnen wollte, der ihre heiß ersehnte Ankunft verkündete. Ein solcher Vorgesang durchstimmte nun die beiden »Ergänzungen« (II) zu den »Entwürfen aus zwei WinterabenH. von Hofmannsthal, »Die Wege und die Begegnungen«, in: Wege und Begegnungen. Mit einem Nachwort von W. Brecht. Ph. Reclam, Stuttgart 1959, S. 28.

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den« (I) die Rilke um den 20. Februar 1924 niederschrieb. 18 Sie besingen nicht etwa all das, was die ganze Liebe leisten konnte, da sie von der Geliebten erhört wurde. Der Segen der Begegnung, den Rilke bekam, enthielt nicht eine solche Antwort, in der sich seine ungestillte Liebesbegier rasch erfüllte. Sie stimmen an, was derjenige, der die Liebe anfing, ausstand – all das, womit er sich lange tragen musste, weil seine stillschweigende Sehnsucht sein inneres Wesen immer mehr aushöhlte. Die Heiterkeit einer flinken Vorjahrsstimme dürfte ihn dazu beschwingt haben, einen solchen Vorgesang ins neue Jahr zu sagen. Er trug nicht nach, was im Spiegel der Erinnerung aufbewahrt worden war, wovon noch zu berichten wäre. Er wagte sich vor in dasjenige, von dem es kein solches Spiegelbild gab, das ihm aber zum Richtmaß für alles Künftige wurde. Er besang nichts Verflogenes. Er sang Verheißenes an: das Wunder der Ankunft der Geliebten, die durch die Zeit ging – nicht die Spur ihrer Anwesenheit, die mit der Zeit verging. Wie geschah es? Es gelang zu lieben, da noch in der Schule nichts gelang! Das Unendliche bleibt unbeschrieben zwischen Auf- und Niedergang. 19

Gelang dem an seinen Aufgaben scheiternden Schüler immerhin eine Knabenliebe, die allerdings zu früh kam, die Wirren der Adoleszenz nicht überstand? Beschrieb diese Liebe nur die kurze Bahn, die sich von der Knabenzeit bis zur Jugendblüte erstreckte? Wurde derjenige, der ansonsten nie etwas lernte, doch weise genug, dass er begriff, wie es um eine Knabenliebe bestellt sei? Dass sie rasch schwindet, nur wenig Zeit ihr Auf- von ihrem Niedergang trennt? Betraf die UnterR. M. Rilke, Entwürfe aus zwei Winterabenden, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 289–290. 19 Ebd. 18

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weisung, die an den aufwachsenden Jüngling erging, nicht die Art und Weise, wie die erotische Bewegung sich vollzieht? Verwirkt sie nicht die endlichste, vergänglichste aller unserer Regungen? Dass »das Unendliche unbeschrieben bleibt zwischen Aufund Niedergang«, sich in diese Zeitspanne nicht einschreibt, ist gerade das, was der Dichter Rilke aussagen möchte. Das Gelingen des Liebens, wie es geschah, war gar nicht die Sache eines Knaben, den dieses Lieben »unendlich« hinriss. Kein Schüler, wie gescheit er mit der Zeit auch wurde, wäre je in der Lage, auszuklügeln, was es mit diesem »unbeschreiblichen Bezug« auf sich hätte. Die Zeit bis zum Gelingen der Liebe ist nicht befristet, nicht rhythmisiert durch das Tempo, das dem erotischen Akte innewohnt. Dieses Lieben wirkt sich lange aus, wie es dem Stillen der Liebesgier widersteht. Es prägte die Lebenserfahrung des Dichters. Wie geschah es dennoch, dass es »gelang«? Wie kam der Dichter diesem Gelingen auf den Grund, da es sich doch nirgendwo in seiner vollendeten Gestalt zeigte? Heimlich hat es sich in dem vollzogen, dessen Mund nicht mündig war; doch das Herz beging den großen Bogen um das namenlose Liebesjahr. 20

Leistete der unmündige Knabe, der unter der Vormundschaft des Lehrers aufwuchs, insgeheim eine ihm noch verbotene Liebe? Horchte er nicht auf den Warnruf, dass »was sich liebt, sich neckt«? Schlug er den altväterischen Rat in den Wind, die Liebe nicht zu früh zu beginnen? Hielt er den Jahrgang seines Liebesabenteuers verborgen? Hing sein Herz noch an dieser Liebesgeschichte, die zu erzählen er, seitdem sie einen unglücklichen Ausgang nahm, vermied? Überwand er die 20

Ebd.

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Unbeholfenheit der ersten Versuche, indem er von da an das Liebesspiel fleißig lernte? Der »unbeschreibliche Bezug« wurde vollzogen, indem er einen Mund heimsuchte, der sich nicht dazu eignete, ihn zu verlauten. Das »Unendliche« verklang in dieser lautlosen Stille, mit der es denjenigen überfiel, dessen vorlautes Wesen auf dessen seltsamen Klang nicht hörte. Sein Mund war ja nur zum Reden geformt worden. Wie konnte die lautlose Stille des »unbeschreiblichen Bezugs« in ihn einmünden? Wie anders, als dass er den Atem anhielt, sich öffnete, um ganz Ohr zu sein? Als dass er die Vormundschaft des Redens und Sprechens über das innere Ohr bestritt? Denn in diesem befand sich der Resonanzraum, in dem die Vibration des »unbeschreiblichen Bezugs« gerundet wurde, den keine Mundhöhle zum Schallen brachte. Diese Rundung, die den Boden schuf für den zitternden Anklang der lautlosen Stille, die aller Sprache entging, formte »der große Bogen«, den das Herz beschrieb, aus. Er wich dem Zeitpunkt nicht aus, an dem die Liebesgeschichte stattfand, die insofern verheimlicht werden sollte, als man ihn nicht nannte. Wußte man nicht um ihren unglücklichen Ausgang? Sollte man an diesen schmerzhaft erinnert werden, trotz aller Innigkeit, die man empfunden hatte? Er bog vielmehr in die Anonymität ein, mit dem das Gelingen eines Liebens sich ereignete, das nicht verjährte. Denn das Herz ist nicht der Statthalter seiner Liebesgeschichten, deren Einzelheiten es nach Gutdünken kundgibt, sofern sie ihm »schicklich« seien. Wenn ihm das Lieben gelingt, so geschieht es schicksalhaft, im namenlosen Erschlossen-Sein, ohne Ausblick auf Ausgänge, in denen es das Lieben überstand.

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Was war Mahlzeit, Schule, Ballspiel, Strafe, was war Wachen, was war Schlaf? da in jäh geordneter Oktave aller Zukunft Klang zusammentraf. 21

Entkam der Knabe in einer kurzlebigen Liebesaffäre all den Geschehnissen, die seinen Schüleralltag bestimmten, der sich durch die Pausen, Zwänge, Ablenkungen allerhand hindurch in die Länge zog? Fand er eine kleine »Oase des Liebesglücks«, das eine Weile seine Tage und Nächte erfüllte, ihn die Zeit vergessen ließ? Griff er mit glücklicher Hand eine Oktave, deren Format richtig war, da es die übergreifende Tonart schon traf für all die Liebesgeschichten, die noch kommen sollten? Es war doch der Himmel des Herzens, der die Mahlzeit, die Schulzeit, die Spielzeit, die Strafzeit überwölbte. Es skandierte doch sein Herz, was ihn ernähren, woran er sich laben konnte, bei wem er in die Lehre ging, in welche Zucht er genommen sei, welchen Wurf es aufzufangen galt. Es diktierte, wie er nachts wach lag, wie er tagsüber schlafwandelte. Es nahm den Klang aller Zukunft nicht in einer Oktave vorweg, die es als einen ersten Akkord anschlug, dem sich alles weitere unterordnete, als wäre es nur eine seiner Variationen. Der »Klang aller Zukunft« traf zusammen in einer Oktave, die »jäh« die Akkorde »ordnete«, in denen er ausschwingen konnte, von denen aber keine einzige als solche schon zum Anschlag bereitlag. Die »reine Oktave«, die den Oberton fand, der mit dem Grundton übereinstimmte, war für das Stimmen aller anderen Saiten der Leier bestimmend, die nicht im vorweg schon zu dem Zweck zusammengestimmt worden waren, dem Sänger alle die möglichen Akkorde an die Hand zu geben. »Der Klang aller Zukunft« ist keine Melodie, die man sich ausdenken könnte, um sie dann auf einem 21

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Instrument zu bringen, das sich für das Wiedergeben ihrer Harmonien besonders eignet. Er ist ein Phänomen der Resonanz. Auf sie achtet derjenige, der einen Vorgesang anstimmen möchte, die Korden der Leier anzieht. Oh so war es damals schon genossen, und das Herz nahm überhand, – während noch das Leben unentschlossen um die Knabenspiele stand. 22

»Damals« – wer kann sagen, wann es war, dass er in den Genuß von einem Lieben kam, das gelang? Wann es war, dass das »namenlose Liebesjahr« begann? Wann es war, dass der »Klang aller Zukunft zusammentraf« in einer Oktave, die »jäh geordnet« wurde? Nur »so« kann davon gesprochen werden, dass dieser Genuss unbeschreiblich sei, dass das Liebesjahr keinen Jahrgang kennt, dass die »reine Oktave« nicht ohne weiteres in der Hand desjenigen liegt, der die Akkorde greift, sondern ihr vorgeordnet sei. Dass es das »ÜberhandNehmen« des Herzens sei, das Überwiegen desselben über das zögerliche Verhalten eines Knaben, der sich an einem Spiel beteiligen möchte. – Der es scheut, sich selbst aufs Spiel zu setzen, wenn er zum Mitspielen geladen wird. Er vermag die Höhe des Einsatzes nicht richtig einzuschätzen, fürchtet, dass er in seiner Unbeholfenheit zu Schaden kommen könnte. – Ein liebendes Herz kennt eine solche Scheu nicht. Es rechnet sich die Erfolgschancen seines Liebgewinnens nicht vor. Es fürchtet nicht, dass seine Hingabe sich nachteilig auswirke. Es setzt sich restlos ein, ohne Vorbehalt. Ohne sich die Vergewisserung abzuringen, dass es das Lieben »richtig« macht, – die das zögernde Verhalten bedingt.

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Damals ward ihm Übermaß gegeben, damals schon entschied sich sein Gewinn; ihn zu messen, später, war das Leben, – ihn zu fassen, reichte hin. 23

Das dem Herzen zufallende »Übermaß« ragt über jeden »Einsatz« eines Liebesspiels hinaus. Die Wonne des Herzens übersteigt jeden »Gewinn«, den man im Liebesspiel erzielt. Indem es sich selbst aufs Spiel setzt, gibt das liebende Herz sich dem Schicksal hin. Es wird zum Gespielten des Unbekannten. Wie das Schicksal des Liebens sich entscheidet, hat das »überhandnehmende« Herz nicht in der Hand. Es erliegt demjenigen, das in ihm mächtig wurde. Was, indem dieses Schicksal sich entschied, »Leben« nachher noch bedeuten könne, ist der Versuch, für dieses »Übermaß« ein Maß anzulegen. Reicht es, um die Unfassbarkeit seines Ereignisses in der vollen Weite seines Gehaltes zu erfassen? Dass das Leben zu diesem ergreifenden Ereignis »hinreicht«, bedeutet noch nicht, dass es dafür ausreicht, es in seinem ganzen Ausmaß zu begreifen. Denn der Gott, der Partnerin verschwiegen, fühlte sich in diesem Kinde ganz, da er in des Knaben Unterliegen gründete das Überstehn des Manns. 24

Ist er Eros? Bekanntlich wurde er als ein Kind mit lachendem Mund gesehen. Wählte er das ahnungslose Liebesspiel eines Knaben zum Vorspiel für eine Mannesreife, die darin bestand, dass er seine Gewaltstreiche ungehemmt ausführte? Liebte er die Verwandlung als Vorwand für seine hinterlistigen Machenschaften? Sollte er der Partnerin seine grausame Natur nicht rechtzeitig verborgen halten, ja schon von Kin23 24

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desbeinen an? Schoss er ihr nicht Pfeile ins Herz, die tödlich sind? Oder ist er vielleicht Orpheus, der Dichtergott? »Fühlte er sich ganz« in der Kinderseele, in der Unschuld, in der sie aufwuchs? Als der Knabe spielend von der Liebe getroffen wurde, ahnungslos noch, verweigerte er sich, sich zu der Geliebten zu bekennen. War dieser stillste Verzicht des Knaben dem Dichtergott von grundlegender Bedeutung? Bestand die Mannesreife es nicht, sich der Unbekannten im namenlosen Erschlossen-Sein hinzugeben, ohne Gewähr, ohne Zuversicht? Dass Orpheus der Partnerin verschwiegen blieb, lag es vielleicht daran, dass er sich nicht anmaßte, ihr das singende Herz zu offenbaren, das ihm als Knabe schon zugesprochen wurde? Sein Gesang erklang erst, als die Nachricht ihres Todes herumging, er ihr stockendes Herz ins Leben entführen wollte.

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VIII. Vis magica

Nirgendwo ist dem Dichter Rilke das schicksalhafte Ereignis der Begegnung so unter die Haut gedrungen als in seinen »Entwürfen aus zwei Winterabenden«. Wir hielten uns fortwährend in ihrer Nähe auf, da wir vernehmen möchten, was einem Dichter dieses Schicksal bedeutete. Auf die Artikulation seiner konkreten Lebensbedeutung legten wir großen Wert. Diese Artikulation wurde Rilke in seinen »Entwürfen« für die Ergründung seines dichterischen Schaffens selbst bedeutsam. Unsere diskrete »Phänomenologie« neigte das Ohr zu diesem seltenen Sprechen des Dichters, in dem er einen verschwiegenen Liebes-Gott berief. Dessen geheimnisvolle Natur barg eine Fügung in sich, die sein Dichterdasein berührte. Versiegelte der Dichter um den 20. Februar 1924 seine »Entwürfe« mit einer ungelösten Rätselfrage? Als er Mitte Mai 1924 das einfache Heft, das die »Entwürfe aus zwei Winterabenden« enthielt, seinem Verleger Anton Kippenberg in Freundschaft zuwendete, ließ Rilke die Gelegenheit, das unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute Geheimnis zu lüften, ungenutzt verstreichen. Griff der Dichter, indem er über die konkrete Lebensbedeutung einer schicksalhaften Begegnung, die ihm widerfahren war, nachsann, auf einen »früheren Ton« zurück? Erlitt er einen schmerzlichen »Rückfall«, der das, was man »im Vertrauen das Werk nennen« darf, kaum weiterführte? Bereitete eine solche Regression ihm nicht »eine große Befremdung und Verlegenheit«? Was hielt Rilke davon ab, diese »Entwürfe« zu vernichten? Sollten sie seinem Verleger, dem er diese »Entwürfe« zu seinem Geburtstag zugehen ließ, bloß einen »Spielplatz« bedeuten, ihm 131 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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»eine Erholungsstunde« inmitten seiner Betriebsamkeit bereiten? Berief er sich nicht auf einen verschwiegenen LiebesGott, dessen rätselhafte Fügung sein Werk insgeheim durchstimmte? Übernahm dieser nicht jedes Mal die Führung, wann immer er seine Leier anstimmte, um Widerfahrenes zu besingen, das ihn fremd werden ließ, an einen entlegenen Ort verschlug? Wie nichtig sei wohl der eigene Vorgesang – ein kleiner Spielplatz nur, für Kinderspiele, an denen der verschwiegene Gott sich ergötze? Was verschwieg diese rätselhafte Gottheit in sich, wenn nicht das Geheimnis, wie die Minne zum Gesang wird, wie ein liebendes Herz sich zum Singen bestimme? Fasste es das Dichterdasein nicht an der Wurzel? War die Geliebte, zu der in seiner Knabenzeit der Dichter sich nicht bekannte, eben die »Partnerin« des Gottes, die sich mit ihm uranfänglich in Schweigsamkeit verbündet hatte? Sank sie, die dem Dichter zeitlebens »die Unbekannte« blieb, zu Schutt und Asche, als er seinen Vorgesang anstimmte? War sie ihm fast wesenlos geworden – ein flüchtiger Schimmer nur, ein Lichtreflex auf einem Wasserspiegel? Als er den Gott anrief, den er unbenannt ließ, welche geheimnisvolle Macht berief er, dass sie ihn in ihrer Gewalt habe, dass wesenlos Gewordenes »voll Figur« wurde, ergreifendste Wirklichkeit, zum quellenden Leben erweckt, das nimmer versiegte? Die »Entwürfe aus zwei Winterabenden« liegen an einem abgelegenen Ort, der von den Auslegern des dichterischen Werkes Rilkes nur selten aufgesucht wurde. 1 Auf sie fällt der Schlagschatten der »Sonette an Orpheus«, die knapp ein Jahr zuvor, im März 1923 beim Insel-Verlag erschienen. Ein Sonett, das Rilke zwischen dem 15. und dem 17. Februar 1922 niederschieb, in die endgültige Fassung des »zweiten Teils« Vgl. dazu: A. Stahl, Rilke-Kommentar zum lyrischen Werk. Unter Mitarbeit von Werner Jost und Reiner Marx. Winkler, München 1978, S. 328.

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seiner großen Gedichtsammlung nicht aufnahm 2 , wirft allerdings ein bezeichnendes Licht auf den kleinen Zyklus der »Entwürfe«, der genau zwei Jahre später entstand. DENK: Sie hätten vielleicht aneinander erfahren, welches die teilbaren Wunder sind –. Doch da er sich langsam verrang an den alternden Jahren, war sie die Künftige erst, ein kommendes Kind. Sie, vielleicht –, sie, die da ging und mit Freundinnen spielte, hat er im knabigen schon, im Erahnen, ersehnt, wissend das schließende Herz, das ihn völlig enthielte, und nun trennt sie ein Nichts, ein verfünftes Jahrzehnt. Oh du ratloser Gott, du betrogener Hymen, wie du die Fackel nach abwärts kehrst, weil sie ihm Asche warf an die grauende Schläfe. Soll er klagend vergehn und die Beginnende rühmen? Oder sein stillster Verzicht, wird er sie erst machen zu jener Gestalt, die ihn ganz überträfe? 3

Uns beschäftigt nicht die Frage, ob Rilke im Zuge der Niederschrift seiner Sonette, in denen er der jungen Tänzerin Wera Ouckama Knoop ein »Grab-Mal« errichten wollte, die flüchtige Erinnerung an die früh Geliebte bereits gestreift habe, auf die er nachher, in den »Entwürfen aus zwei Winterabenden«, ausführlich zurückkam. Was uns interessiert, ist die Verwandlung, die die Gestalt der Geliebten während des Gesanges des Dichters erfährt. Über die Tonart dieses Gesanges ist die Entscheidung nicht bereits getroffen. Eben sie stellt das Sonett in Frage.

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I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 768. R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 594–595.

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Was der Dichter zu bedenken gibt, ist das Ereignis der Begegnung, in der die Liebe entflammte. Es ist ihm keine unverrückbare Gegebenheit. Es ist das Vermutete seines Nachsinnens. Was der Liebeszauber hervorbringt – dass die SichVerliebenden es aneinander wie ein Wunderwerk erfahren können –, ist ein »Teilbares«. Es ist weder etwas, an dem sie sich gegenseitig beteiligt, noch etwas, was sie einander gegenseitig mitgeteilt hätten. Es war ihnen niemals Besitz, worüber sie verfügen könnten. Es ist eine magische Fügung, die über sie kam, der sie teilhaftig wurden. Von diesem wundervollen Ereignis rückte das Altern den Dichter fort. Es stellte dieses Geschehen nicht ohne weiteres einer Vergangenheit anheim, in der die magische Fügung ihre Zauberkraft rasch einbüßte. Denn der Dichter rang »langsam« mit sich, indem er dauernd erwog, wie dieses Fortrücken der Zeit, das er an sich selbst erfuhr, das wunderhafte Ereignis berührte, das ihm immer noch zumutete, dass er es teilhaftig geworden sei. Was ihm in den Sinn kam, war das »Künftige« der ihm in der liebevollen Begegnung Entgegenkommenden, die Jugend ihrer Ankunft, das Kindhafte ihrer Anmut. Unvermutet kam sie ihm voll Versprechen entgegen, der sie unversehens liebzugewinnen begann. Als Knabe erahnte er nur die Sehnsucht, die ihn befiel, als er ihr begegnete, die »da ging und mit Freundinnen spielte«, arglos noch, in ihrem sorglosen Spiel aufgehend, ohne dass sie sich ihm je zugekehrt hätte. Nahm es ihn nicht Wunder, als sie ihm so erschien, dass er dunkel schon um die Empfängnis wußte, um die Sternstunde der Liebe? An der ein Herz, das sein sehnendes Herz völlig enthalten würde, sich schließe? Erlosch seitdem dieses Funkeln himmlischer Beglückung? Der Jüngling habe die blendende Leuchtkraft der Liebe noch kaum gewahren können. Sie erfüllte für einen Augenblick sein Gemüt mit Unruhe. Aus welcher Entfernung blinkt sie dem Dichter entgegen, der mit raschen Schritten sich seinem fünfzigsten Geburtstag 134 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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näherte? Was trennt sie, die ihm eine Offenbarung der Liebschaft zu bedeuten vorgab, von ihm? Ein »Nichts« – ein Wahn, der sich mit der Zeit wie Dunst verflüchtigte? Oder überhaupt »nichts« – da sie ergreifendste Wirklichkeit sei, die der an dem Wunder ihres unabweislichen Kommens nagenden Zeit spottet? Wie bestürzt es den Gott, der die Ankunft der Braut besingen möchte, dass er sie nicht ins Haus führen kann, die ihm ungreifbar bleibt, während sie unangreifbar währt, ihm ständig ihr Kommen verkündet! Wie ratlos steht Hymen, von den geflügelten »Erotes« der zum Singen Begabteste, der die leuchtende Fackel in der rechten Hand hält, diesem schillernden Vorgang gegenüber, der zwischen Schein und Sein, Trug und Wirklichkeit zittert! Wie geht man einer Offenbarung der Liebschaft auf den Grund, die offensichtlich voll Zuspruch sei, dem aber nicht offenkundig entsprochen wurde? Leuchtet der hymnische Gott mit seiner Lampe in das unterirdische Schattenreich, in die Welt der Gespenster herum, weil die ihm angeblich heiß Versprochene sich als ein lange schon verflogenes Hirngespinst seiner Einbildungskraft entlarvte? Als ein leblos, kraftlos gewordenes »Bild«, – als zu Schutt und Asche Gewordenes, das dem mit Blumen umkleideten Gott als die trübste seiner Erinnerungen an den Kopf geworfen wurde? Durchdringt er sie nicht etwa mit der Innigkeit seines Besingens? Auch wenn dieses Singen zunächst eine Klage sei – dass er mit dem Älter-Werden hingehe und über die Macht des rühmenden Wortes, das die Ankunft der ersehnten Braut in die Heimat der Liebe feiern würde, nicht schlechthin verfüge. Denn dieser feierliche Eintritt ist in keiner Erinnerung aufbewahrt als etwas, das darin, als ansprechbar, aufgehoben worden sei. Er ist der unerhörte Zuspruch der liebevollen Begegnung, dessen Entsprechung noch aussteht, – die unausgesprochene Antwort. Bricht der singende Gott das Schweigen, in dem diese un135 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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ausgesprochene Antwort verharrt, die außerhalb des Bereichs dessen liegt, worüber er selbst frei verfügt? Mit welchem unaussprechlichen Gesang hebt er sie in den Liebeshimmel – dass es der Einbildungskraft seines Dichtens gelinge, sie den fahlen Schattenbildern verschwommener Eindrücke zu entreißen, ihre schwindende Gestalt mit pulsierendem Leben zu füllen, damit sie kraftvoll heraustritt – sie, die weit Aufblühende, wenn sie in das Haus des Bräutigams einzieht? Was dieses aus dem Gedichtkreis der »Sonette an Orpheus« ausgeschiedene Gedicht Rilkes in Aussicht stellt, ist die Aufstufung des Minnesangs zu einem Hochzeitslied. Die Verwandlung, die die Gestalt der Geliebten in diesem einzigartigen Wechsel des Stimmenzugs erfahren sollte, zielt auf ihre Vermählung in der Liebesgemeinschaft hin. Diese vollbringt die magische Fügung des »teilbaren Wunders« durch die bejahende Antwort, die die Auserwählte auf den Heiratsantrag gibt. Die Hymnodie begleitet allerdings nur den Aufzug des Brautpaares. Sie wagt es nicht, den Fuß über die Schwelle des Gemaches zu setzen, in das die Eheleute eintreten. Die bejahende Antwort, die an der Eingangspforte der Liebesheimat erklingt, »übertrifft ganz« das dichterische Einbildungsvermögen. Über sie bricht das Dichterwort zusammen. Sie ist keine Gabe, die zu empfangen seiner Begabung je entspräche. Wir werden an dieser Stelle gewahr, dass Rilkes Liebeslyrik sich in Schranken hält. Es ist die Stelle des »stillsten Verzichts«, den sein Gesang leistet, an die wir uns nur mit Umsicht heranmachen. Kein überragendes Wort der Liebesbeglückung lässt er fallen. Er bricht nicht in lauter Jubel aus. Keine Auserkorene, die seinen Heiratsantrag ehrt, preist er hoch. Sein Dichtermund ist nicht zum Jauchzen aufgemacht. Seine Dichterhand krönt das Haupt der Geliebten nicht mit einem Brautkranz. Sein Lobsingen der Liebe ist ein verhaltenes. Es hält den Atem an, damit es die Antwort vernimmt, die das stille Herz der Geliebten noch vorbehält. Wenn es sich 136 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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mit Blumen umkleidet, die es auf ihren Weg streut, so wartet es voll Andacht darauf, dass ihre zarten Hände sie auflesen, zu einer Girlande winden und ins Haar stecken werden. Dieses Singen ist reines Geleit. Das Loblied auf die Geliebte singt en mineur, indem der Dichter ihrer eingedenk bleibt. Dieses Gedenken prägt zuinnerst die »Entwürfe aus zwei Winterabenden«. Die Lebensbedeutsamkeit, die aus ihren Versen spricht, haben wir uns zu eigen gemacht. In der dichterischen Berufung auf die Götter gelangen wir an den Rand dessen, was wir lesend nachempfinden konnten. An dieser Berufung zu rütteln ist eine heikle Sache. Man vermisst sich in Bezug auf die der Aussagekraft dieses kleinen Gedichtzyklus gesteckten Grenzen, wenn man sich zu übertriebenen Behauptungen versteigt. Denn der Dichter hat seinen unvollendet gebliebenen Gedichtentwurf nicht hemmungslos in die himmlischen Gefilde gehoben, über die die Sage berichtet. Ein solches Machtwort sprach Rilke nicht. Er setzte Fragezeichen an jene Gedichtstellen, an denen er einen Gott anrief. Innerhalb des gesamten lyrischen Werkes Rilkes stellen die »Entwürfe aus zwei Winterabenden« einen auserlesenen Ort dar für die Frage, inwiefern der existentielle Tiefgang schicksalhafter Begegnung den Quellpunkt seines dichterischen Schaffens unmittelbar berührt habe. Sie ist das im Eingedenk-Sein Rilkes nach wie vor Denk-Würdige. Es ist bemerkenswert, dass der Dichter seine »Entwürfe« nicht abrupt abgebrochen hat an der Stelle, die ihm die noch offene Rätselfrage seines Gedichtes vor die Füße warf. Wessen »Partnerin« die Geliebte sei, derer er andachtsvoll eingedenk blieb, ob des unheimlichen Eros, der sie raubte, oder des hymnischen Orpheus, der sie heimführen möchte, – diese »Grundfrage« seiner Liebeslyrik wird durch keinen Schiedsspruch gelöst, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel einschlagen würde. Vielbesprochen ist der Hintersinn des Eros, dessen Ruhm in üblem Ruf steht. Zu seiner Geliebten ist er gemein. Unangefochten ist die Offenherzigkeit des Orpheus, 137 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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dessen Huld ein stilles Geleit ist. Seiner Geliebten ist er rein ergeben. Diese Gestalten machten Rilkes Dichtersinn strittig, als er dem schicksalhaften Ereignis einer Begegnung, die ihm durch den Sinn fuhr, Minnendes, dessen er innewurde, anzudichten begann. Auf eine billige Ausrede ist er nie verfallen. Auf die Nachklänge seiner »Entwürfe aus zwei Winterabenden« wollen wir hören. Sie sind kein zu verwahrlosender Restbestand. An den seidenen Fäden vereinzelter kleiner Gedichtentwürfe, die sich vom Ende Februar bis zu den letzten Maitagen des Jahres 1924 hinzogen, hing die Frage nach der Grundverfassung seiner Liebeslyrik, wie sie Rilke unumgänglich geworden war. Wo ist die Stelle, an der die Leier sich tönend hob, »die unerhörte Mitte«? 4 Wie geschah es, dass das Liebgewinnen in der schicksalhaften Begegnung nicht ohne Sang und Klang ausging? – Dass ein »unbeschreiblicher Bezug« es durchwaltete, der eine Bestimmung in sich enthielt, die nur die Dichtung erfüllte? Warum beschrieb Rilke nicht vielmehr das Liebhaben, wie es sich leiblich vollzog? Geht die Liebe nicht ganz auf in dem leiblichen Gehaben, das sie »leistet«? Erscheint die Begegnung selbst nicht etwa im weiten Lichtkreis leiblichen Verhaltens als »die eigentliche entscheidende erotische Pantomime«? 5 Als ein Gebärdenspiel, das alles das schon vorwegnimmt, was das Liebesspiel vollzieht? Ist sie nicht ohnehin das Vorspiel der Liebeslust, die Parade der in Liebesbegier aufflammenden Leiber? Was überwog, als Rilke den Minnesang anstimmte? Was warf er dabei in die Waagschale? Ein kleines, gegen Ende Februar 1924 niedergeschriebenes R. M. Rilke, Die Sonette an Orpheus, in: Gedichte. III. Teil. Insel, Leipzig 1927, Zweiter Teil, Sonett XXVIII, S. 373. 5 H. von Hofmannsthal, »Die Wege und die Begegnungen«, in: Wege und Begegnungen, a. a. O., S. 27. 4

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Gedicht setzt die Gestalt eines Magiers in Szene. Sie tauchte schon früher, am 12. Februar 1924, in den beiden Gedichten »Der Magier« – »Le Magicien« auf, die Rilke am 15. Februar 1924 an Baladine Klossowska schickte mit dem Vermerk: »C’est un petit jeu, rien de plus …«. 6 Das seltsame Nachsinnen, dem er in den »Entwürfen aus zwei Winterabenden« nachging, vergleicht Rilke in dem kleinen Gedicht vom Ende Februar mit dem Vollbringen einer magischen Handlung. Berühre ruhig mit dem Zauberstabe das Ungenaue, das du um dich scharst, und du wirst wieder wissen, wie du Knabe und in der Dinge Freundschaft warst. Berühre nochmals, und es wird sich zeigen, dass dich die Liebende empfing, weil aller Glanz, den Himmlische verschweigen aus deinem Neigen in sie überging. Ein drittes Mal berühr, um zu erfahren, dass Macht sich giebt und sich entzieht, und nun sei rein in deinem Offenbaren und sage dienend, was geschieht. 7

Das Berühren mit dem Zauberstab wird als eine Wunderhandlung bezeichnet. Durch die direkte Berührung mit dem Zauberstab im Ritual kann der magische Effekt unmittelbar eintreten. Außerdem erfüllt das Hantieren des Zauberstabs durch einen Zauberkünstler den wichtigen Zweck, den Blick des Zuschauers auf einen bestimmten Punkt zu lenken bzw. von einem solchen wegzuziehen. Das Wunderwerk des Dichters bedient sich der Einbildungskraft. Sie rührt nicht gewaltI. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 867 und S. 869. R. M. Rilke, »Aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 610–611.

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sam, sondern behutsam an dasjenige, was sich im Gemüt des Dichters ansammelt. Es wird nur vage vermutet. Wundervoll ist das Wiederbeleben der innigen Vertrautheit, die die Welt der frühesten Kinderzeit prägte. Wundersam die Intimität, in der man sich mit den Dingen angefreundet hat. Noch beharrlicher, noch dringender besteht die Einbildungskraft auf das im Gemüt nur dunkel Geahnte. Nicht nur freundschaftlichen Umgang, sondern Liebesempfang birgt der Tiefgang des empfindenden Gemüts in sich. Wie glänzt die Geliebte in der glühenden Zuneigung auf, die ihr zuteil geworden. Diese helle Liebesflamme halten die Götter vor den Sterblichen verborgen. Schließlich wird die Einbildungskraft ihrer selbst gewahr. Die Quelle, aus der sie schöpft, entzieht sich ihr. Noch geheimnisvoller als die Zündflamme des Liebesfeuers ist die Ladung der funkensprühenden Einbildungskraft mit magischer Energie. Wer die magische Handlung vollzieht, wer das Dichterwort spricht, der ist der Wundertat, dem Funkenschlag einer zauberhaften Offenbarung rein ergeben. Sein Zauberspruch, sein Dichten steht dem Geschehen einer einzigartigen Epiphanie zu Diensten. Einige Verszeilen, die Rilke Anfang August 1924 niederschrieb, als er den Zyklus »Im Kirchhof zu Ragaz« beendete 8, tragen die Aufschrift »Magie«. 9 Sie gewahren einen Einblick in das epiphanische Geschehen, wie es der »vis magica« des dichterischen Sprechens entspringt.

8 I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 896; vgl. »Im Kirchhof zu Ragaz Niedergeschriebenes«, in: R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 163 f. 9 A. a. O., S. 174.

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Magie Aus unbeschreiblicher Verwandlung stammen solche Gebilde –: Fühl! und glaub! Wir leidens oft: zu Asche werden Flammen; doch, in der Kunst: zur Flamme wird der Staub. Hier ist Magie. In das Bereich des Zaubers scheint das gemeine Wort hinaufgestuft … und ist doch wirklich wie der Ruf des Taubers, der nach der unsichtbaren Taube ruft.

Der Dichter übersetzt nicht etwa eine körperliche Liebessprache, wenn er den Minnesang anstimmt. Sein Gesang entstammt vielmehr einer »unbeschreiblichen Verwandlung«. In ihr wird das Glücksspiel, das die entzückten Leiber miteinander treiben, seltsam übertroffen. Die erotische Verrückung ist ein versengendes Feuer, das die glühende Leidenschaft der Liebhabenden verzehrt. Die Flamme der Liebe erlischt. Aus dem ekstatischen Paroxysmus verfallen die von Sinnenlust trunkenen Leiber in eine dumpfe Lethargie. Die kunstvollen Gebilde, die die dichterische Einbildungskraft hervorbringt, kleiden nicht etwa die erschöpfte Liebesbegierde in Worte. Ihnen wohnt eine magische Kraft inne. Durch sie wird, was durchgängig mit der Liebschaft gemeint war, in den Bereich eines Zaubers hinaufgehoben, der über den der sinnlichsten Entzückung hinausragt. Sie hängen nicht einer verflogenen Liebeslust nach, indem sie mit einer leidlichen Stimme an die kurzfristige Wonne erinnern, die längst zum Staub geworden ist. Über das Liebhaben singen sie kein Klagelied. In ihnen flackert die Minne auf. »Fühl! und glaub!«. Sie knüpfen das »vinculum fidei et amoris«, das Band der Treue und der Ergebung. Sie sind innig ausgesprochene, herzergreifende Worte – wahrhaftige Ergüsse. Sie fallen nicht auf Schmeichelei herein. Sie reden nie141 https://doi.org/10.5771/9783495823705 .

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mandem zu Gefallen. Sie sind nicht anschmiegsam. Sie sind winkende Worte, die heimbringen möchten. Es fällt auf, wie milde doch der Ton von Rilkes Taubenruf ist, wenn man ihn mit Miltons hochtöniger Invokation des »taubenartigen« Vogeltiers am Anfang seines »Paradise Lost« vergleicht. 10 Wir werden gewahr, wie ruhig die Glut der Minne noch unter der Asche glimmt, an der Rilke seine Dichterworte wärmt, wenn man sie gegen das Orphische Rauchopfer des Eros abwägt, das sich in Hitze redet. 11 Keine geflügelten Worte erhaschen den Heimflug einer durch die göttliche Vorsehung gesteuerten himmlischen Muse. Kein Weihgesang im Musentempel beweihräuchert den »glutbrausenden, im Sturme rennenden Fluggott«, den »süßen lieblichen Eros«, den »sinnreichen, der zu allem die Schlüssel bewahrt«. 12 Rilkes Lyrik lobpreist keine Bogengewalt. Sie predigt kein gottgewolltes Liebesparadies. Das Band der Treue und der Ergebung knüpft sie in Wort-Gestalten, die weder Heilrufe noch Weissagungen sind. Wie der Dichter zu Weihnachten 1919 aus Locarno an Frau Theodora von der Mühll schrieb, »bleibt« in ihnen »die Flamme herrlich«. »Die Zeit geht hin und kann sie nicht verwehen.« 13 Von dem kleinen Gedicht, das angeblich aus April 1924 stammt, wird vermutet, dass es den »Entwurf einer Widmung« darstellt. 14 Der Anfang ist fast wortwörtlich identisch mit der ersten Verszeile eines Gedichtes, das Rilke Anfang Mai 1924 in ein Frau Gertrud von Mumm zugewandtes Exemplar des »Cornet« eintrug. 15 In diesem Gedicht, sowie J. Milton, Paradise Lost, Book 1, a. a. O., S. 4. Die Hymnen des Orpheus, a. a. O., LVIII, S. 141. 12 Ebd. 13 R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 375; vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 662. 14 R. M. Rilke, »Aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 611. 15 Vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 884; vgl. R. M. Rilke, Die 10 11

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in dem unmittelbar darauffolgenden, Anfang Mai 1924 niedergeschriebenen 16 , denkt der Dichter über das »Leitmotiv« seiner »Entwürfe aus zwei Winterabenden« nach. – Dem wundervollen Offenbarungsgeschehen der Begegnung widmete Rilke dieses seltsame Lied. Es ging uns ins Ohr, die dieses melodische Motiv dankbar entgegennahmen. Seine Klangschönheit berauschte unseren phänomenologischen Sinn. – Warum tauchte es auf einmal auf? Wie wurde es laut? Wie sollte es aufgenommen werden? Was besagte es? Wer begreift warum, seit welcher Stunde ihn ein Schicksal, das verging, bewegt? Längst war es verstummt. Doch seinem Munde scheint es plötzlich dringend eingelegt: dies Vergangne, das ihn kaum betrifft. Unvermutet wird er sein Vermuter und Verschollnes stürzt sich ausgeruhter in ein Dasein oder in den Stift.

Es tauchte – unbegreiflich – im Leben auf, aus einem völlig verborgenen Grund. Der genaue Zeitpunkt, an dem es das Gemüt in Aufruhr versetzte, kann nicht ermittelt werden. Als die Rührung regsam wurde, die es im Inneren hervorrief, war die schicksalhafte Bestimmung, die es dem Leben noch vorbehielt, fast verklungen. Aus einer schieren Anspruchslosigkeit drang es hervor und meldete sich zu Wort. Welchen Sinn redete es demjenigen ein, dem es so abrupt ins Wort fiel? Fast gleichgültig gewordenes Lebensgeschick ging ihn unversehens an. Was dieses ihm zumutete, war ihm ein Rätsel. Für tot Gehaltenes schien es ins Leben zurückzurufen. Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, in: Schriften in Prosa. I. Teil. Insel, Leipzig 1927. 16 R. M. Rilke, »Aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 612.

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Indem er über diese sonderbare Zumutung sann, wich die Bestürzung nach und nach, die sich seines Gemütes bemächtigt hatte. Was wie ein Phönix aus der Asche zu steigen schien, dem galt seine tiefe Andacht. Er hörte hin auf dasjenige, was es ihm offenbarte. Es reichte bis an die Wurzeln seines Daseins. In seiner Existenz stiftete es kein Unheil an. Es wurde in ihr zum Gesang. Über dieses Motiv, wie es in seinen »Entwürfen aus zwei Winterabenden« eine Weile lang mächtig wurde, notierte Rilke weiterhin: Wir sollen nicht wissen, warum dieses und jenes uns meistert; wirkliches Leben ist stumm, nur, dass es uns begeistert, macht uns mit ihm vertraut. 17

Das wundervolle Offenbarungsgeschehen der Begegnung hebt uns über den schweigenden Lebensvollzug nicht völlig hinweg. Es zaubert uns keinen irrealen Liebeshimmel vor, in den wir uns flüchten könnten. Es macht uns vielmehr mit dem Lebensgeschick innig vertraut, das uns unentwegt anspricht, wenn es die Stille unseres Lebensweges unterbricht. Dieses Geschick bemächtigt sich unseres Lebens, wenn wir liebgewinnen. Es betrifft uns unmittelbar, ohne dass wir die Gründe kennen, aus denen heraus es hervorgegangen ist. Es erfüllt die Wirklichkeit unseres Lebens mit Begeisterung. Dem Dichter der »Entwürfe aus zwei Winterabenden« ist dieses Geschick, das sein Leben in flammender Begeisterung versetzte, die Minne. Dasein ist ihm Gesang; Liebe die Brandstiftung im Herzen eines Liedermachers. In jeder seiner Begegnungen geistert die μοῦσα – die Unbekannte, zu der sich R. M. Rilke, »Aus dem Umkreis der Entwürfe aus zwei Winterabenden«, in: Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 612.

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zu bekennen er sich weigert. Er wartet geduldig auf ihre unaussprechliche Antwort. Der stillen Besinnlichkeit, die in Rilkes Dichternatur obwaltete, war die Bestrebung, das »Wesen« der Begegnung in phänomenologischen Begriffen zu fassen, fremd. Er erhob sein inneres Lebensgeschick nicht zu einer unabänderlichen Bestimmung des menschlichen Daseins. In den kleinen Korb seiner »Entwürfe aus zwei Winterabenden« legte er die Früchte eines dichterischen Nachsinnens über ein Ereignis, das ihm die Breite und den Tonus des eigenen Lebenswandels offenbar werden ließ – das ihn »in einen unbeschreiblichen Bezug« verwickelte. In welchem Sinne der Dichter selber »sehend« wurde, als er das Ereignis der Begegnung mit einer Nachdenklichkeit umgab, die seinem inneren Wesen entsprach, ist in einigen Verszeilen zum Ausdruck gebracht, mit denen der kleine Gedichtkreis der »Entwürfe aus zwei Winterabenden« sich gegen Ende Mai 1924 schloss: O Wie sehnen wir uns nach den zustimmenden Göttern, da uns die weigernden hart von uns selber entzweit; lieben und wissen: der Gott ist ein Gott dieser Liebe, ihm in den Händen entbrennt dieses unfaßliche Herz. 18

Über die Schwelle des Liebeshimmels tritt der Dichter nicht. Für seinen Vorgesang ist sie zu hoch. Zu den Göttern fleht er um ihren Beistand. Die Härte derjenigen, die ihm den Zugang zur Liebesheimat entsagen, bricht seine flehende Stimme. Die Liebe, um die er weiß, ist eine schicksalsergebene. Der unergründliche Entscheid des obersten Gottes, der das Liebesglück verteilt, facht die Glut seines Dichterherzens an. In seine entflammende Leidenschaft schaut der Dichter hinein. Wie geht sie hoch, wie bekommt sie freien Lauf? Wie steigt seine glühende Minne zum Himmel? 18

Ebd.

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Wo wir, bang, tragen am Herzen, da weilt in den leichteren Göttern ein ständiger Auftrieb. Immer, vom Herzen aus, steigen sie durch sich selbst in die reinere Aussicht über das dumpfe Gewölk. 19

Wo die ehrfurchtsvolle Scheu das Liebesbekenntnis noch verschweigt, da schwingen die geflügelten Götter sich zu ihrem Höhenflug auf. Sie sind die Wortführer der Minne. Was sie sagen, ist dem Dichter aus dem Herzen gesprochen. Es ist ihm reine Liebessprache. Nur dunkel meinte er, was ihre Flüge ans helle Licht zerren. Sie sind die bedeutenden, sie sind die singenden, sie sind die weitblickenden Aussagen, die für sich selbst sprechen. Sie halten auf immer die »unerhörte Mitte« seines Dichterlebens offen. Sie sind reines Geschenk. Sie sind die Fürsprecher seiner stillen Einfahrt ins Elysium.

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Ebd.

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Ausklang

Das Lebensphänomen der Begegnung hielten wir ins kristalline Licht eines einzigen Gedichtzyklus Rilkes. Unser nachempfindendes Lesen diente dem bescheidenen Zweck, die Sinngestalt zu vernehmen, die dieses unumgängliche Geschehen unseres realen Lebensvollzugs im besinnlichen Dichten Rilkes erhielt. Diese sich ihm offenbarende Sinngestalt der Begegnung bezeichnete Rilke als »den unbeschreiblichen Bezug«. Er wurde zum Leitstern unserer phänomenologischen Erwägungen. Welche ungeheuerliche Kraft dem dichterischen Werk Rilkes innewohnt, diejenige Phänomene, die unseren lebendigen Wirklichkeitsbezug prägen, innerlich aufzuschließen, hat Luke Fischer in seinem Buch »The poet as phenomenologist. Rilke and the New Poems« 1 auf überzeugende Weise dargelegt. An den »Entwürfen aus zwei Winterabenden« erfuhren wir, dass diese Potenz »existentieller Erhellung« sich über den Umkreis der »Neuen Gedichte« hinausweitete. Den Lichtkristall einer »epiphanischen Phänomenologie« entdeckten wir an einer entlegeneren Stelle seines Spätwerkes, an der ein »Mit-dir-Sein« den Dichter wundernahm, das dem stillen »Mit-uns-Sein«, wie wir es den Dingen zuschreiben, nicht entspricht. Sein andachtsvolles Eingedenk-Sein dieser Wunderlichkeit, mit der sein Lebensgeschick sich zu wenden schien, gab den Maßstab für eine Auslegung des Lebensphänomens der Begegnung ab, mit der wir in diesem Beitrag vorliebnahmen. In: New Directions in German Studies. Bloomsbury, New York – London – New Delhi-Sidney 2015.

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Ausklang

Das vielfältige Phänomen der Begegnung auf einen Nenner zu bringen – etwa auf den einer »Existentialontologie« oder einer »Analytik der Grundphänomene des menschlichen Daseins« –, ist eine Bemühung, die uns fernliegt. Vom phänomenologischen Handwerk, wie wir es betreiben, möchten wir niemals behaupten, dass es »goldenen Boden hat«. Was es fertiggebracht hat, überreicht es mit beiden Händen. Wem diese Probe einer »diskreten Phänomenologie der Begegnung« die Hand reicht, mag dahingestellt bleiben. Zugestehen möchten wir aber gern, was Rilke Ende August 1926 in Ragaz an Fräulein Alice Bürer schrieb: Wieviel Begegnen in dem Händereichen, Nachholen vieler Zukunft, das begann … Und wie ist doch, von solcher Freude an, einander zu ereignen ohne gleichen! 2

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R. M. Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, a. a. O., S. 439; vgl. I. Schnack, Rilke-Chronik, a. a. O., S. 1020–1021.

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Personenregister

Amann Volkart, E. 28, 36 Andreas-Salomé, L. 28 Betz, M. 93, 94 Bujtendijk, F. J. J. 59 f., 66 Bürer, A. 148

Martineau, H. 39 Milton, J. 102 f., 106, 142 Mitterer, E. 100, 118 Moser, H. 46, 51 Mumm, G. von 142 Ouckama Knoop, W. 133

Casanova, G. 70 Pausanias 106–107 Petit, M. 14 f., 16 f.

Fargue, L.-P. 53 Fischer, L. 147 Freedman, R. 100

Schnack, I. 27, 35 Sizzo, M. Gräfin 45

Hofmannsthal, H. von 122 Kippenberg, A. 12 f., 27, 34 f., 82, 91, 131 Kippenberg, K. 35 f., 82 Klossowska, B. 139 Larbaud, V. 53 Ledebur, D. Freifrau von 28 Lipps, T. 70 f., 76 f., 92 f., 96, 99, 120

Thurn und Taxis, Fürstin M. von 51 Toulet, P.-J. 37, 39 Valéry, P. 53, 56, 70 f. Wordsworth, W. 21, 22, 25, 26 Wordsworth, M. 21 Wunderly-Volkart, N. 51

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