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German Pages [508] Year 1996
Roland Innerhofer Deutsche Science Fiction 1870-1914
LITERATUR IN DER GESCHICHTE GESCHICHTE IN DER LITERATUR In Verbindung mit Claudio Magris herausgegeben von Klaus Amann und Friedbert Aspetsberger Band 38
Roland Innerhofer
DEUTSCHE SCIENCE FICTION 1870-1914 Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung
BÖHLAU VERLAG WIEN • KÖLN • WEIMAR
Gedruckt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Innerhofer, Roland: Deutsche Science Fiction 1870-1914 : Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung / Roland Innerhofer. Wien ; Köln ; Weimar : Böhlau, 1996 (Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur ; Bd. 38) ISBN 3-205-98514-1 NE: GT
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1996 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG., Wien • Köln • Weimar Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. Satz: H+M.A-1210 Wien Druck: Novographic, A-1238 Wien
INHALT Vorbemerkung
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EINLEITUNG
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1. Das Genre 2. Der Zeitraum 3. Modernität
A. JULES VERNE UND DIE GENESE EINER GATTUNG 1. Die Produktion eines Erfolgsautors 2. Vernes Präsenz am deutschsprachigen Buchmarkt 3. Entlehnungen 4. Theater und Film 5. Resonanz in zeitgenössischen Rezensionen und Aufsätzen 6. Jules Verne - ein Paradigma
B. DIE MODERNISIERUNG DES ABENTEUERROMANS DURCH JULES VERNE
11 18 20
29 29 31 44 49 58 77
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1. Erzählstruktur und wissenschaftlich-technische Fiktion a) Reisemaschinen und Reisewahrnehmung b) Wissenschaft als Lösung von Rätseln c) Der Ingenieur als Held d) Der Held als Maschine - die Maschine als Held e) Der Zauber der Elektrizität
87 87 91 92 97 103
2. Typologie des technischen Abenteuers a) Abenteuerroman b) Reiseroman c) Die Robinsonade d) Der Detektivroman e) Utopie
107 109 113 116 118 120
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Inhalt
C. FLUGPHANTASIEN I: ÜBER DER ERDE 1. Die Ballonentführung 2. Im Luftballon über dem dunklen Kontinent 3. Der Herr der Luft 4. Flugromantik und Polfahrt 5. Parodien 6. Elektrische Engel 7. Mystik und Macht 8. .Aufklärung" und Eroberung 9. Luftpiraten 10. Das „Flugjahr" 1909 11. Fliegende Ritter 12. Aviatische Allmacht und Ohnmacht 13. Phantasiestrategen der Abschreckung 14. Der geniale Erfinder 15. Der Luftschiffer als Geheimagent des Guten 16. „Das Heil der Höhe" 17. Der fliegende Tod 18. Die „gelbe Gefahr" 19. Flugtechnik als „angewandte Seele" 20. Der Sturz 21. Bombenspaß 22. Flugmaschine Mensch 23. Die „Dame im Korbe" 24. Kitsch und Krieg 25. Flugliteratur als geistige Akrobatik 26. Idylle und Apokalypse
D. FLUGPHANTASIEN II: IM WELTRAUM 1. Der Schuß zum Mond 2. Robinsonade im Weltraum 3. Schwerelosigkeit 4. Der Mars als technisches und ethisches Ideal 5. Kosmische Relativierungen 6. Interplanetarischer Kolonialismus 7. Der Weltraum als Refugium des Abenteuerhelden 8. Weltraumspione 9. Der marsianische Besserwisser
133 134 136 143 150 155 157 158 160 166 167 169 173 176 183 186 191 194 198 202 207 211 213 216 217 221 225
233 234 247 249 259 262 267 272 278 281
Inhalt
10. Der Mars - die Zukunft der Erde 11. Interplanetarische Kontakte 12. Die Invasion vom Mars 13. Wissenschaftliche Märchen und exotische Weltraumreisen . . . . 14. Die sieben Schwaben auf dem Mars 15. Die Frauenwelt auf dem Mars 16. Astrale Machtpolitik 17. Mystische Weltraumreisen 18. Utopie und Satire im Weltraum 19. Fiktionale Astronomie und astronomische Fiktion: Die Pluralität der bewohnten Welten 20. Paul Scheerbarts astrale Chimären 21. Technische und biologische Evolution
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284 289 294 297 311 323 326 327 333 336 344 358
E. KATASTROPHENBILDER 1. Technische Katastrophen 2. Kosmische und erdgeschichtliche Katastrophen 3. Die Naturkatastrophe als Instrument der Kulturkritik 4. Der Pol als utopischer und apokalyptischer Ort 5. Pluralität der Weltuntergänge 6. Rettungen
361 364 370 383 388 390 392
F.KOMMUNIKATIONSMITTEL 1. Gespenster aus dem Phonographen 2. Wiedergabetreue und Authentizität 3. Optische Überwachung und simultane Vernichtung 4. Im Himmel und im Bett: Bildprojektionen 5. Zusammenschaltung von Medientechnik und Gehirnphysiologie 6. Spiritismus und Psychophysik 7. Fernsteuerung und Automaten 8. Mediale Interaktion und zwischenmenschliche Beziehungen . . . 9. Die Rückprojektion der Vergangenheit 10. Reisen in die Zukunft 11. Aufzeichnungen aus dem Reich der Toten 12. Die Verewigung durch den Phonographen 13. Der sexuelle Verkehr als Schaltkreis 14. Mediale Verkupplung und Konditionierung 15. Immaterialisierung 16. Tonfilm versus Theater 17. Das Kameraauge: Betriebsüberwachung und Vöyeurismus . . . . 18. Simulations-und Manipulationsspiele
395 396 399 402 402 404 407 409 410 412 416 417 418 420 421 422 424 425 426
8
Inhalt
19. Medienmacht der Zukunft 20. Reisesimulation 21. Kommunikationsmittel = Destruktionsmittel 22. Krieg der Medien 23. Immaterialität und Unsichtbarkeit 24. Medien - Menschen: Interferenzen
430 434 435 439 444 453
NACHWORT
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LITERATURVERZEICHNIS
463
1. Primärliteratur a) Ältere Literatur b) Romane und Erzählungen Jules Vernes mit technischphantastischem Inhalt (deutsche Ausgaben) c) Romane und Erzählungen d) Zeitgenössische Anthologien e) Dramen f) Utopische Abhandlungen und Essays g) Sachbücher, Aufsätze und Erfahrungsberichte h) Autobiographische und biographische Schriften i) Zeitgenössische Periodika 2. Sekundärliteratur
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a) Bibliographische Quellen und Lexika 479 b) Zeitgenössische deutschsprachige Rezensionen zu Jules Verne 480 c) Forschungsliteratur und Bibliographien zu Jules Verne 482 d) Zu zeitgenössischen Theater- und Filmfassungen der Romane Vernes 484 e) Zu einzelnen Autoren 485 f) Zur Science Fiction und Utopie 488 g) Zum Verhältnis von Kunst/Literatur und Technik 491 h) Zur Unterhaltungsliteratur und ihrer Rezeption 494 i) Zur Epoche und zum Begriff „Moderne" 497 j) Zur Technik- und Sozialgeschichte 498 k) Weitere Literatur 499 Namenregister Abbildungsnachweis
501 507
VORBEMERKUNG Die folgende Arbeit wurde durch ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung wesentlich gefördert. Für den damit ermöglichten Forschungsaufenthalt in Berlin bin ich sehr dankbar. Auch danke ich dem Dekanat der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien für die Unterstützung und Erleichterung meiner Arbeit durch ein Forschungsstipendium. Prof. Dr. Wendelin Schmidt-Dengler danke ich sehr herzlich für intensive Ermutigung und Beratung, für grundlegende Anregungen und eine aufmerksame Lektüre des Manuskripts. Wichtige Ideen verdanke ich auch Prof. Dr. Klaus R. Scherpe, seine Kommentare zu meiner Arbeit waren besonders hilfreich. Dr. Franz Rottensteiner, Wolfgang Thadewald und Volker Dehs bereicherten meine Studie durch ihre wertvollen Hinweise und durch Material aus ihren Privatsammlungen. Dr. Andrea Capovilla, Dr. Juliane Vogel und Dr. Hermann Schlösser danke ich für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts und für kritische Anmerkungen.
EINLEITUNG
Nicht die Madonna im Rosenhag, sondern der Kran und das Schneckenrad. Hans Magnus
Enzensberger
1. Das Genre Die Anfänge der deutschsprachigen Science Fiction sind diffus. Der Gattungsname, in Amerika seit 1929, in Europa seit Anfang der fünfziger Jahre belegt 1 , mag für das ausgehende 19. und das beginnende 20. Jahrhundert anachronistisch erscheinen. Ältere deutsche Bezeichnungen wie naturwissenschaftlicher Roman, technischer Zukunftsroman oder wissenschaftliches Märchen konnten sich nicht durchsetzen; doch ist der generische Zusammenhang der so bezeichneten Texte mit denen, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Namen Science Fiction firmierten, offenkundig. Die Bezeichnung technischer Zukunftsroman trifft am besten die literarischen Phänomene, die sich allmählich zum Gattungssystem Science Fiction kristallisierten. In der Folge werden die Termini (frühe deutsche) Science Fiction und technischer Zukunftsroman synonym verwendet. Als wichtigstes Unterscheidungskriterium von der Phantastik im engeren Sinn können die Intention rationaler Erklärung und die Erzeugung eines wissenschaftlichen Plausibilitätseffekts gelten, die Trennungslinie von der älteren Utopie markiert das Fehlen diskursiver Systematik und Geschlossenheit der alternativen Welt. Allerdings sind die Mischformen und Überschneidungen an den Grenzen dieser Gattungsbegriffe zahlreich. 2 Die Genese der Science Fiction ist von Anfang an durch kommerzielle Faktoren bestimmt. Die Publikation dieser Texte in Zeitschriften und preisgünstigen Buchreihen, der Vertrieb als Lieferungsausgaben, die Entstehung von Roman- und Heftserien zeigen dies ebenso an wie eine gezielte Werbestrategie, die Belehrung und Unterhaltung für jung und alt versprach. An die Stelle institutionalisierter und kanonisierter Gattungsnormen und -erwartungen tritt ein „System der Markenzeichen" 3 . Manfred Nagl hat die heutige 1 Vgl.: Manfred NAGL: Science Fiction. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 3. Bd. 2. Aufl., Berlin/New York 1977, S. 795-800; hier S. 795. 2 Vgl.: Reimer JEHMLICH: Phantastik - Science Fiction - Utopie. Begriffsgeschichte und Begriffsabgrenzung. In: Phantastik in Literatur und Kunst. Hg. von Christian W. Thomsen und Jens Malte Fischer. Darmstadt 1980, S. 11-33. 3 Fredric JAMESON: Das politische Unbewußte. Literatur als Symbol sozialen Handelns. Aus dem Amerikanischen von Ursula Bauer, Gerd Bürger und Bruni Rohm. Mit einem Nachwort von Ingrid Kerkhoff. Reinbek 1988, S. 106.
12
Einleitung
Science Fiction zu Recht als Medien-, Produkt- und Werbeverbund bezeichnet.4 Aus dieser unmittelbaren Marktgebundenheit der Science Fiction resultiert auch der Mißkredit, in den das Genre als „Paraliteratur" geraten ist.5 In einem Verhältnis komplementärer Korrespondenz damit steht die dem Genre innewohnende Tendenz, sich von der Hauptströmung der Literatur abzugrenzen und als autonomer Bereich zu konstituieren, mit eigenen Autoren, Theoretikern und einer „Fangemeinde" begeisterter Liebhaber, mit eigenen Zeitschriften und Kongressen. Die literaturwissenschaftliche, insbesondere die germanistische Beschäftigung mit der Science Fiction hat erst spät und zögernd eingesetzt. Obwohl sich das analytische Interesse seit etwa 25 Jahren im Zuge der Entwicklung der Literatursoziologie und der Trivialliteraturforschung verstärkte, blieb eine genaue Rekonstruktion der Genese des Genres im deutschsprachigen Raum bisher ausständig.6 Hans-Joachim Schulz unterscheidet in der deutschen Rezeption der Science Fiction zwei gleichermaßen reduktionistische Ansätze: einen ideologiekritischen, der die Texte als Vehikel technokratischer Ideologie und bürgerlich-reaktionärer Herrschaftslegitimation kritisierte, ohne daß die literarischen Muster, Strukturen und Gattungskonventionen in ihrer relativen Autonomie berücksichtigt worden wären; und einen formalistischen, der die Science Fiction als modernisierte und dynamisierte Form der Utopie verstand und ihre trivialen Erscheinungen ignorierte.7 Seit dem Ende der siebziger Jahre sind zwar zunehmend differenzierte und materialgerechte Untersuchungen zum Genre erschienen8, doch steht meist die neuere deutsche oder die angloamerikanische Science Fiction im Vordergrund. Analysen einzelner Werke der frühen deutschen Science Fiction und Biobibliographien einiger ihrer bekannteren Autoren wurden inzwischen von intimen Kennern der Materie meist als Lexikonartikel vorgelegt9, eine syn4 Vgl.: Manfred NAGL: Science Fiction. Ein Segment populärer Kultur im Medien- und Produktverbund. Tübingen 1981. (= Literaturwissenschaft im Grundstudium, Bd. 5.) Nagl analysiert Science Fiction als Text, Film, Comic, Hörspiel, Musik, Illustration, Verpackungs- und Produktdesign. 5 Vgl.: Pierre BOURDIEU: Science Fiction. In: ders.: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff und Bernd Schwibs. Frankfurt/M. 1993, S. 75-84; hier S. 75. 6 Seit der bahnbrechenden Arbeit von Manfred NAGL: Science Fiction in Deutschland. Untersuchung zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur. Tübingen 1972, ist keine umfassende Darstellung der Anfänge der deutschen Science Fiction mehr erschienen. Nagls Studie besticht durch ihre breite Materialbasis und ihre Fähigkeit zur Synthese. Doch ergibt sich schon aus dem großen Untersuchungszeitraum - vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart - die Notwendigkeit einer grobmaschigen Selektion. Eine differenzierte Analyse der Texte wird auch zuweilen durch vorschnelle ideologiekritische Verdikte vereitelt. 7 Hans-Joachim SCHULZ: Science Fiction. Stuttgart 1986, S. 78-101. 8 Vgl. den Forschungsbericht in: ebenda, S. 101-117. 9 Siehe dazu die beiden Lexika: Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur. Hg. von Franz Rottensteiner und Michael Koseier. Meitingen 1989 ff.; Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Hg. von Joachim Körber. Meitingen 1984 ff.
1. Das Genre
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thetisierende Gruppierung dieser Texte und Autoren aber nicht unternommen.10 Die Fülle der weitgehend vergessenen älteren technischen Zukunftsromane in der deutschen Literatur und die Kontinuitäten in diesem Genre bis zur Gegenwart sind angetan, die weitverbreitete Meinung eines rein angloamerikanischen Ursprungs der Science Fiction zu widerlegen. Die vorliegende Arbeit versucht, die Materialbasis zu verbreitern und zugleich das analysierte Material nach Kriterien zu ordnen, die die Typologie, Topologie und Funktion literarischer Technikphantasien sichtbar machen. Jules Verne nimmt im Entstehungsprozeß der deutschen Science Fiction eine Schlüsselstellung ein. Die Rekurrenz von Bezeichnungen wie „Geschichte in der Art Jules Vernes" oder „der deutsche Jules Verne" in den Rezensionen und in der Verlagswerbung für diese Romane verliehen Verne den Rang einer Legitimationsfigur für ein neues Genre. Für den deutschen technischen Zukunftsroman wurde er geradezu zum generischen Parameter und Synonym. Huldigende oder kritische und parodistische Anspielungen auf den Namen, auf Figuren und Themen Vernes sind Anzeichen einer frühen Selbstreferenz, die bereits die einsetzende Etablierung der neuen Gattung anzeigt. Der erste Teil der Studie soll zunächst die intensive, sozial und medial breitgestreute Rezeption Vernes in Deutschland und Österreich aufzeigen: die Vielfalt der Einzel- und Werkausgaben, deren Preisskala von der „illustrierten Prachtausgabe" bis zur „wohlfeilen" Broschur reichte und die auch in Lieferungen angeboten wurden, die Veröffentlichung in Buchreihen und die Bearbeitungen für die Jugend, der Abdruck in Zeitungen, die Verbreitung der Romane durch Volksbibliotheken und Leihbüchereien, die Aufführungen dramatisierter Versionen auf deutschsprachigen Bühnen. Die Untersuchung zeitgenössischer Rezensionen erhellt die Verflechtung von Verlagswerbung und Buchkritik, die wesentlich dazu beitrug, den Namen Verne in eine Art Markenzeichen für ein qualitativ mehr oder minder wertvolles Produkt zu transformieren. Verne konnte so zum ambivalenten Signal für die literarischpädagogische Qualität unterhaltsamer naturwissenschaftlicher Belehrung oder für wissenschaftlich unhaltbare und unseriöse Phantastik werden und dementsprechende Filiationen oder Distanzierungen herausfordern. Die Analyse der Themen, Motive und Strukturen dieser Romane soll deutlich machen, warum das Vernesche Werk zum generischen Paradigma werden und Modellcharakter erhalten konnte. Hans-Joachim Schulz hat das „Gattungssystem" Science Fiction zutreffend als „multigenerisch" bezeichnet.11 Ältere, bis in die Antike zurückrei10 Ansätze dazu finden sich bei: Claus RITTER: Start nach Utopolis. Eine Zukunfts-Nostalgie. Berlin 1978; ders.: Anno Utopia oder So war die Zukunft. Berlin 1982; ders.: Kampf um Utopolis oder Die Mobilmachung der Zukunft. Berlin 1987. 11 SCHULZ, 1 9 8 6 ( A n m . 7 ) , S . 5 .
14
Einleitung
chende Genres wie die soziale Utopie, das Märchen, der phantastische Abenteuer- und Reiseroman und der Planetenroman sowie die rezenteren Formen der Robinsonade oder des szientistisch plausibilisierenden Schauerromans gehören zu den weitverzweigten Wurzeln der Science Fiction. Doch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt eine wirtschafts-, sozial-, mentalitäts- und literaturgeschichtliche Konstellation auf, die neuartige Verbindungen dieser Stränge im Zeichen einer technischen Imagination hervorbringt. Jules Vernes Werk ist am Schnittpunkt dieser generischen Entwicklungslinien angesiedelt. Seine Originalität liegt in der neuen Funktionalisierung älterer Traditionen. Aus der Verwendung dieser traditionellen Formen zur Darstellung historisch neuer Themen resultieren Spannungen und Widersprüche, die ihrerseits zu Abweichungen und Deformationen der Gattungstraditionen führen. Die Entstehung der Gattung ist nicht als Phänomen innerliterarischer Innovation12, sondern im Kontext eines alle Bereiche der Gesellschaft erfassenden Modernisierungsprozesses zu verstehen. Nicht nur die Inhalte und Strukturen literarischer Texte werden dabei verändert, sondern auch ihre Produktions- und Vertriebsformen, und diese Änderungen wirken sich ihrerseits auf Inhalt und Struktur der Texte aus. Wichtig ist der von Nagl herausgearbeitete Übergang zur ,,serielle[n] Periodizität" seit dem Aufkommen der Groschenheftserien in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Das Einzelwerk wird durch einen Serientitel ersetzt und in einen Markenartikel verwandelt.13 Eine andere wesentliche Verschiebung erfolgte schon zuvor, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die Publikation großer Teile der Massenliteratur wurde vom Medium Buch auf die Presse verlagert. In der periodischen Presse erschienen nicht nur in Fortsetzungen Vor- und Wiederabdrucke von Büchern; unterhaltende Erzählliteratur wurde immer häufiger ausschließlich für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben und in ihnen veröffentlicht. Diese versuchten dadurch die Leserschaft stärker an sich zu binden. Die teilweise Verlagerung fiktionaler Literatur vom Buch auf die Presse hatte auch zur Folge, daß die Lesezirkel gegenüber den Leihbüchereien zunehmend an Bedeutung gewannen und in der Kolportage der Anteil der Periodika gegenüber den Bücherreihen stieg und sie immer mehr verdrängte.14
12 Der Verfasser stimmt darin überein mit: SCHULZ, 1986 (Anm. 7), S. 17 f. 13 NAGL, 1 9 8 1 ( A n m . 4 ) , S . 3 1 f.
14 Vgl.: Georg JÄGER, ValeskaRuDEK: Die deutschen Leihbibliotheken zwischen 1860 und 1914/18. Analyse der Funktionskrise und Statistik der Bestände. In: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Einzelstudien, Teil 2. Hg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe „Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770-1900" von Monika Dimpfl und Georg Jäger. Tübingen 1990 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 28), S. 188 bis 295; hier besonders S. 198 f.
1. Das Genre
15
Diese Veränderungen im Bereich der Publikationsmedien und der Vertriebswege erzählender Unterhaltungsliteratur, die auf das rasche Anwachsen der potentiellen Leserschaft infolge der steigenden Alphabetisierung15 reagierten, förderten die Entstehung einer „industriellen" Literatur, die auf rasche Produzier- und Konsumierbarkeit angelegt war, den Werk- durch den Warencharakter ersetzte und den Autorennamen zum Gütezeichen transformierte. Die Publikation erzählender Texte in den im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert äußerst zahlreichen Periodika populärwissenschaftlich-technischen Inhalts bewirkte eine weitere Funktionsverschiebung. Die technischen Zukunftserzählungen wurden hier nahtlos in einen Kontext der Informationsvermittlung, die von Reiseberichten bis zu technischen Konstruktionsanweisungen für Bastler reichte, eingefügt. Die berichtenden Texte verstärkten das Interesse an den fiktionalen und verliehen ihnen eine Scheinauthentizität: Die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation wurden bewußt verwischt. Eine für die Unterhaltungsliteratur typische Illusion der Informationsvermittlung konnte entstehen, und diese Suggestion eines journalistischen Informationswertes der technischen Zukunftserzählungen war wichtiger als ihr tatsächlicher Informationsgehalt. So kam diese Literatur, in der Nachfolge Vernes, einem Leserbedürfnis nach unterhaltsam und verständlich präsentierter Information über neue technische Apparate und wissenschaftliche Entdeckungen entgegen.16 Vermutlich war gerade auch in der Industrie, besonders in den Werbeabteilungen, der Bedarf an geschickter wissenschaftlich-technischer Informationsvermittlung größer als der an technischen Fähigkeiten selbst.17 Der Unterschied zwischen technischem Bericht und wissenschaftlicher Phantastik schien vernachlässigbar. In einer Zeit, in der die rasche Abfolge 15 Bis 1914 war das Analphabetentum in Deutschland fast vollständig abgeschafft. Vgl.: Rolf ENGELSING: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft. Stuttgart 1973. 16 Rudolf Schenda hat auf das Fehlen von populären Sachbüchern über aktuelle technische Fortschritte und Erfindungen und über neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse im 19. Jahrhundert hingewiesen. Rudolf SCHENDA: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt/M. 1970, S. 323. Diese Marktlücke füllten außer den von Schenda genannten Romanen Vernes und seiner Imitatoren, denen er sehr treffend „Informationsexhibitionismus" zuschreibt, eben auch die zahlreichen populärwissenschaftlichen Zeitschriften. 17 Vgl.: William B. FISCHER: The Empire Strikes Out. Kurd Laßwitz, Hans Dominik, and the Development of German Science Fiction. Bowling Green 1984, S. 186. Hans Dominik, der als Eisenbahningenieur und Elektrotechniker ausgebildet war, wechselte hauptsächlich aus Karrieregründen von seiner Tätigkeit als Ingenieur zum Schriftstellerberuf über. Schon während er bei der Union-Elektrizitäts-Gesellschaft und bei Siemens arbeitete, wurden vornehmlich seine Fähigkeiten als Verfasser von technischen Berichten und als Mitarbeiter in der Firmenwerbung geschätzt. Vgl.: Hans DOMINIK: Vom Schraubstock zum Schreibtisch: Lebenserinnerungen. Berlin 1942, S. 87-111.
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Einleitung
neuer Erfindungen und Entdeckungen dem Laien geradezu phantastisch erscheinen mußte, konnte eine „wissenschaftlich" argumentierende Phantastik durchaus als „realistisch" und plausibel erscheinen. Der Leser konnte die spannenden technischen Abenteuer um so mehr genießen, als ihm vom Autor und vom Verleger, vom Text und vom Publikationsmedium gleichermaßen suggeriert wurde, er könne sich durch die Lektüre nützliche wissenschaftlichtechnische Kenntnisse aneignen. Zugleich fühlten sich die Verfasser von Erzählungen für populärwissenschaftliche Periodika durch die in denselben Journalen erscheinenden wissenschaftlich-technischen Artikel von der Verpflichtung zu konkreter, detaillierter und präziser wissenschaftlicher Information entlastet und konnten um so effektiver die der Unterhaltungsliteratur eigenen Normen und Funktionen erfüllen. Die Traumwelt und die Phantasmagorien, die die neuen Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik entbanden, konnten zugleich als „Fluchthilfe"18 in eine noch unbekannte, ferne und weite Welt fungieren - eine Welt, deren Faszination um so größer war, als sie prinzipiell erreichbar zu sein schien. Die „populäre", „triviale", nicht die „gehobene" Literatur ist es, in der die neuen technischen Erfindungen und wissenschaftlichen Entdeckungen zuerst zum zentralen thematischen Vorwurf wurden. Die Leistung populärer Lesestoffe läßt sich mit den Maßstäben der „hohen" Literatur nicht adäquat beurteilen; die traditionellen ästhetischen, werkimmanenten Bewertungskriterien erweisen sich als unzureichend. Eine starre Dichotomie zwischen „hoher" und „Trivialliteratur" erscheint problematisch. Letztere ist vielmehr als autochthoner Bereich im Kontext ihrer Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen zu analysieren. Auffallend ist eine starke Tendenz zur Verbildlichung. Schon in den Romanen Vernes kommt den Illustrationen eine hervorragende Bedeutung als Kommentare und Antworten auf den Text zu. In der optischen Konkretisierung der literarischen Technikphantasie zeigt sich oft deutlicher, wie sehr die Texte dem zeitgenössischen oder gar bereits veralteten Bilderinventar verpflichtet sind. Flugzeuge sehen wie Vögel aus, Weltraumschiffe haben die Form von Zeppelinen. Die Inneneinrichtung der hochmodernen Verkehrsmittel erinnnert an das bürgerliche Wohnzimmer. Die Naivität und Banalität der imaginären Technik wird hier oft besonders deutlich sichtbar. In den äußerst erfolgreichen Bühnenfassungen der Verneschen Romane verwandelt sich die Technik in einen bilderbogenartigen Kulissenzauber, dessen Ästhetik der des Panoramas gleicht. Die Wunder der Technik, die die populärwissenschaftlichen Zeitschriften ihrem Publikum in Wort und Bild präsentierten, 18 Dies ist eines der Bedürfnisse, die nach Rudolf Schenda die Lektüre befriedigen kann. Vgl.: SCHENDA, 1 9 7 0 ( A n m . 1 6 ) , S . 4 7 9 .
1. Das Genre
17
wurden in den technischen Zukunftsromanen in ein abenteuerliches Ambiente verlegt: Die Reisemaschine erscheint eingebettet in exotische Landschaften vom Urwald bis zur Eiswüste, von der submarinen bis zur kosmischen Welt. Der betonte Einsatz der Illustrationen in der Verlagswerbung deutet auf deren Wertschätzung durch die Rezipienten hin. Das populärwissenschaftliche Jahrbuch Das neue Universum, das für den deutschen Sprachraum exemplarischen Charakter hatte, verkündete programmatisch, daß „auf bildliche Darstellung ein Hauptgewicht gelegt" 19 sei. Ein aktueller „Orbis pictus" 20 kam einem Bedürfnis nach unterhaltender Belehrung gerade auch für Laien entgegen. Die zentrale Bedeutung der bildlichen Darstellung sollte dem Jahrbuch eine Käuferschicht erschließen, die nicht primär einer humanistischen Schriftkultur zugehörte. Den Abbildungen und Illustrationen eignete ein Unterhaltungswert und eine Einprägsamkeit, die zu einem wichtigen Wirkungselement der technischen Zukunftsliteratur wurden. Sie steht im Kontext einer verstärkten Visualisierung der modernen Lebenserfahrung, in der das Beobachten, Kontrollieren und Prüfen eine Dominanz des Gesichtssinnes begründen. Zugleich teilen die bildlichen Darstellungen technischer Phänomene mit den literarischen eine wichtige Funktion: Die Schockwirkungen, die Verunsicherungen und Ängste, die das gesteigerte Tempo der Industrialisierung und Technisierung aller Lebensbereiche auslöste, sollten durch eine verniedlichende, sentimentale Bildlichkeit und durch idealistische Verklärung abgedämpft werden. Durch ihre Einordung in konventionelle literarische Schemata und vertraute Muster wie durch eine trivialisierte Allegorik des technischen Fortschritts 21 verlieren Naturwissenschaft und Technik an Bedrohlichkeit; sie werden poetisiert und ästhetisch konsumierbar. Die Veranschaulichung der Technik ist durchtränkt von Theatralik: Die Reisemaschinen werden zum aktualisierenden Element einer Bühnendekoration. Die pathetische Inszenierung der Technik kommt nicht nur der Schaulust des Rezipienten entgegen, sondern überhöht suggestiv die Maschinen und die Energien Dampf und Elektrizität zu einer Zauberwelt. Die Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Literatur und Technik im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert greifen immer wieder auf dieselben Autoren und Texte zurück, während das Gros der wissenschaftlich-technisch 19 Was das Buch will. In: Das neue Universum. Die interessantesten Erfindungen und Entdeckungen auf allen Gebieten. Ein Jahrbuch für Haus und Familie besonders für die reifere Jugend. Mit 186 Abbildungen. (Stuttgart) 1. Jg. 1880, unpag. 20 Was das Buch will. In: Das neue Universum. 3. Jg. 1882, unpag. 21 Zum Zusammenhang der Allegorik des 19. Jahrhunderts mit dem Historismus vgl.: Günter HESS: Allegorie und Historismus. Zum „Bildgedächtnis" des späten 19. Jahrhunderts. In: Verbum et Signum. 1. Bd. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Hg. von Hans Fromm u. a. München 1975 (= Festschrift für Friedrich Ohly), S. 555-591.
18
Einleitung
orientierten Unterhaltungsliteratur meist unberücksichtigt bleibt. Eine solche oft unreflektierte Selektion muß die Repräsentativität der auf ihr beruhenden Studien fragwürdig erscheinen lassen. Ein Grund für dieses Defizit mag die schwere Zugänglichkeit und die lückenhafte bibliothekarische Dokumentation dieser früher massenhaft verbreiteten Literatur sein. Viele Publikationen sind nur mehr in Privatsammlungen zu erhalten, viele Autoren sind völlig vergessen oder nur einigen Science-Fiction-Liebhabern bekannt. Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung eines wichtigen Bereichs der populären Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts - einer bisher vernachlässigten Literatur, die das Bild der Technik und Naturwissenschaft der Laien, ihre Vorstellungen und Denkweisen entscheidend mitprägte und damit bis in die heutige Zeit nachwirkt. Die Untersuchungsergebnisse sprechen auch gegen eine sich schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts herausbildende Ansicht, wonach sich Technik und Literatur immer weiter auseinanderentwickelten und sich die Literatur immer mehr vor den Phänomenen der technischen Umgestaltung des Lebens abwende. Die These der „zwei Kulturen", einer literarischen und einer naturwissenschaftlichen, zwischen denen es keine Interaktion gebe, läßt sich als strenge Dichotomie nicht halten. 22 Was als literarische Schwäche gelten mag: die formale Unbeholfenheit, die Grobschlächtigkeit, der Schematismus und die Stereotypien vieler dieser Texte, kann in literatur- und mentalitätsgeschichtlicher Sicht vorteilhaft sein. Die Genremerkmale wie die Signaturen der Epoche und ihre Denkstrukturen lassen sich in der populären Unterhaltungsliteratur oft deutlicher erkennen als in den elaborierten Produkten der „gehobenen" Literatur.
2. Der Zeitraum Wo bleibt Vulkan g e g e n Roberts et Co., Jupiter gegen den Blitzableiter und Hermes gegen den Crédit mobilier? [...] Was wird aus der Fama neben Printinghouse Square? [...] Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? [...] Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Preßbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie? 2 3
Eine vorindustrielle, auf dem Boden der Mythologie gewachsene Kunst, das implizieren die Fragen von Marx aus dem Jahr 1859, ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts obsolet geworden. Die ältere Kunst ist für Marx nur 22 Vgl.: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows These in der Diskussion. Hg. von Helmut Kreuzer unter Mitarbeit von Wolfgang Klein. München 1987. 23 Karl MARX: Einleitung. In: ders.: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859). Berlin 1974, S. 227-260; hier S. 258 f.
2. Der Zeitraum
19
mehr eine Reminiszenz an die „Kindheit der Menschheit", die als „nie wiederkehrende Stufe [...] ewigen Reiz" ausübe. 24 Deutschlands Weg zum Industriestaat beginnt, verspätet gegenüber England und Frankreich, mit der Reichsgründung 1871. Die Zeit bis 1914 ist durch einen rapiden Aufstieg der modernen Industrie, durch Massenproduktion und die Entfaltung einer industriebestimmten Wirtschaft geprägt. Neben dem raschen Ausbau der Montan- und Eisenindustrie, der Metallverarbeitung und des Maschinenbaus, also der Sektoren der „ersten" industriellen Revolution, gewannen die Chemie und die Elektroindustrie, Technologien der „zweiten" industriellen Revolution, zunehmend an Bedeutung. Technische Fortschritte wurden durch eine enge Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft begünstigt. 25 Industrielle Konzentrationen und die Intensivierung des Handels wurden durch die neuen technischen Verkehrsmittel, die die Transportzeiten radikal verkürzten, und die neuen Kommunikationsmittel, die eine Informationsübertragung ohne Zeitverlust ermöglichten, befördert. 26 Der Übergang von einem Agrar- zu einem Industriestaat und die Entstehung einer Industriegesellschaft bestimmen nach Thomas Nipperdey das soziale und politische, ja auch das kulturelle Schicksal der Deutschen, bestimmen ihr Leben in diesen Jahrzehnten. 27
In Österreich-Ungarn verlief der Industrialisierungsprozeß dagegen weniger dynamisch, es blieb bis 1914 noch vorwiegend ein Agrarstaat. Doch auch hier setzten sich zunehmend industrielle Strukturen durch. Das Wachstum der Wirtschaft und der Bevölkerung, der Ausbau des Verkehrswesens, die Technisierung und Urbanisierung waren zwar im Vergleich zu Deutschland verlangsamt, aber doch stetig. Besonders in den Industriezentren der Habsburgermonarchie veränderten die Folgen der Modernisierung die Lebensbedingungen der Bevölkerung einschneidend. 28
24 Ebenda, S. 259 f. 25 Vgl.: Rudolf VIERHAUS: Zur Entwicklung der Wissenschaften im deutschen Kaiserreich (1870-1914). In: Helmut Rumpier (Hg.): Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71 bis 1914. Historikergespräch Österreich - Bundesrepublik Deutschland 1989. Wien/München 1991, S. 195-204. 26 Vgl.: Wolfgang KÖNIG, Wolfhard WEBER: Netzwerke. Stahl und Strom. 1840 bis 1914. Frankfurt a. M./Berlin 1990. (= Propyläen Technikgeschichte. Hg. von Wolfgang König. Bd. 4.) 27 Thomas NIPPERDEY: Deutsche Geschichte 1866-1918. 1. Bd.: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, S. 226. 28 Vgl.: Karl BACHINGER, Hildegard HEMETSBERGER-KOLLER, Herbert MATIS: Grundriß der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Wien 1987; Ernst BRUCKMÜLLER: Sozialgeschichte Österreichs. Wien, München 1985.
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Einleitung
3. Modernität Der Zeitraum zwischen 1870 und 1914 ist durch einen massiven gesellschaftlichen Modernisierungsschub gekennzeichnet. Die Antworten der Literatur auf den rapiden sozialen Wandel sind komplex und widersprüchlich. Literaturgeschichtliche Termini wie poetischer Realismus, Naturalismus, Neuromantik, Neuklassik, Heimatkunst, Décadence, Impressionismus oder Symbolismus erweisen sich für die hier analysierten „paraliterarischen" Phänomene als inadäquat. Die Modernität dieser Literatur manifestiert sich nicht in ästhetischen Innovationen, sondern in der „Aufnahme neuer Erfahrungsbereiche und Wissensbestände"29. Zwar teilt die frühe Science Fiction mit dem Naturalismus das leidenschaftliche Interesse für den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt, doch fehlt ihr völlig dessen gesellschaftspolitisches Engagement und die damit verbundene ästhetische Programmatik. Der für die Neuromantik kennzeichnende „Exotismus des Raumes und der Zeit", den Reinhild Schwede mit einer Formulierung Hofmannsthals als Reflex auf die „Übergewalt technischer Ereignisse" gedeutet hat30, erscheint in der Science Fiction unter umgekehrtem Vorzeichen: Die Technik wird zum Vehikel des Eskapismus und transportiert die Reisenden zu (trivial)romantischen Lokalitäten: in Kristallhöhlen und ins Innere von Vulkanen, in die Eisregionen, in die submarine und in die Sternenwelt. Durch Elektrizität werden faszinierende Lichteffekte erzeugt, und die neuen elektronischen Kommunikationsmittel entschärfen den Gegensatz von Geist und Materie. An der frühen Science Fiction ist auch eine „Bewußtseinsgeschichte der Technik"31 ablesbar. Auf die Bedrohung der literarischen Imagination durch ihre technische Realisierung antwortet die Science Fiction, indem sie die Technik zum Stoff der ästhetischen Phantasie macht. Während Flug- und Kommunikationstechnik in Terrains vordringen, die einer literarischen Vorstellungskraft vorbehalten schienen, beansprucht die Literatur der Technik gegenüber Prioritätsrechte, indem sie die ästhetische Phantasie für den Ursprung des technischen Fortschritts erklärt. Die literarische Imagination entfaltet sich in engster Wechselwirkung mit populärwissenschaftlicher Präsentation und Reflexion von Wissenschaft und Technik - viele Verfasser technischer Zukunftsphantasien sind zugleich als 29 Jörg SCHÖNERT: Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Wtirzburg 1986. Stuttgart 1988 (= Germanistische-Symposien-Berichtsbände, 9), S. 393^113; hier S. 396. 30 Reinhild SCHWEDE: Wilhelminische Neuromantik. Flucht oder Zuflucht? Ästhetizistischer, exotistischer und provinzialistischer Eskapismus im Werk Hauptmanns, Hesses und der Brüder Mann um 1900. Frankfurt/M. 1987, S. 29 f. 31 Theo ELM, Hans H. HIEBEL: Buchstaben, Medien, Maschinen. In: dies. (Hg.): Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter. Freiburg 1991, S. 9-18; hier S. 15.
3. Modernität
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Naturwissenschaftler, Ingenieure und/oder wissenschaftliche Popularisatoren hervorgetreten.32 Die literarischen Technikphantasien machen die psychischen Energien, die Wünsche und Ängste deutlich, die von der Technik freigesetzt wurden, aber auch ihre Entwicklung vorantrieben. Nicht nur ist die Technik „Stimulans der Phantasie"33, die Literatur ist zugleich Indikator einer Einbildungskraft, die die Entfaltung der Technik stimulierte. Zwar erscheinen Wissenschaft und Technik in der fiktionalen Literatur oft als Resultat skurriler Bastelei und ihre Zukunftsphantasien als Parodie der realen technischen Entwicklung. Doch verdankt eben die Technikgeschichte eigenwilligen Bastlern viele Impulse und Innovationen. Weltraumschiffe oder Roboter, die in der Literatur, wenn auch ohne eine technische Lösung, wiederholt beschrieben wurden, wurden von den Zeitgenossen nur wenige Jahrzehnte vor ihrer Verwirklichung als reine Phantastik aufgefaßt. Umgekehrt kennt die Geschichte eine „Technik der Verlierer"34: Viele Erfindungen sind nicht aus technischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen oder aus Desinteresse der Unternehmer unverwirklicht geblieben. Die bei der Chicagoer Weltausstellung 1893 vorgestellten „rollenden Trottoirs" wurden durch das verstärkte Aufkommen von Automobilen überflüssig gemacht; der Plan zum Bau eines „Sanatorium-Luftschiffes" scheiterte an den zu hohen Kosten.35 Die frühe deutsche Science Fiction hat auf die gesellschaftliche und technologische Modernisierung nicht mit ästhetischen Innovationen reagiert. Die innere Struktur und die Formen literarischer Darstellung blieben in diesen auf massenhafte Verbreitung ausgerichteten Texten konventionell. Überspitzt formuliert: Je weiter die literarische Imagination in räumliche und zeitliche Fernen ausgreift, desto traditioneller bleiben die ästhetischen Darstellungsformen; Zukunftsthematik und ästhetische Innovation verhalten sich zueinander umgekehrt proportional.
32 Naturwissenschaftler/Techniker, Popularisatoren und Verfasser fiktionaler Literatur zugleich waren Hans Dominik, Max Eyth, Kurd Laßwitz, Max Wilhelm Meyer, Heinrich Seidel und, in Frankreich, Camille Flammarion. Die „Dichter-Ingenieure" Seidel, Eyth und Dominik haben ihre „doppelten" Berufserfahrungen in autobiographischen Aufzeichnungen festgehalten: Heinrich SEIDEL: Von Perlin nach Berlin und Anderes. Aus meinem Leben. Stuttgart, Berlin 1903; Max EYTH: Hinter Pflug und Schraubstock. Skizzen aus dem Tagebuch eines Ingenieurs. 106.-110. Aufl. Stuttgart, Berlin 1917 [l.Aufl. 1899]; Hans DOMINIK: Vom Schraubstock zum Schreibtisch: Lebenserinnerungen. Berlin 1942. - Autoren populärwissenschaftlicher Literatur und wissenschaftlich-technischer Phantastik waren u. a. Wilhelm Bölsche, Bruno H. Bürgel, Max Haushofer und Oskar Hoffmann. 33 Helene HARTH: Literatur im Dienste des Fortschritts? Die Ästhetisierung von Technik und Wissenschaft in Jules Vernes Voyages extraordinaires. In: E L M / H I E B E L , 1 9 9 1 (Anm. 3 1 ) , S . 2 7 1 - 2 8 5 ; hier S. 279. 34 Hans-Joachim BRAUN, Walter KAISER: Energiewirtschaft, Automatisierung, Information seit 1914. Berlin 1992 (= Propyläen Technikgeschichte. Hg. von Wolfgang König, Bd. 5), S. 227. 35 Vgl.: ebenda, S. 228. Zu den Vorstellungen eines „Luftsanatoriums" in der Literatur vgl. unten, S. 174 f. und 247.
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Einleitung
Rekurrente Themen sind die veränderten Wahrnehmungsformen und Empfindungsweisen, die die zunehmende Mobilität, die Steigerung der Geschwindigkeiten und die Homogenisierung von Raum und Zeit 36 durch die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel hervorrufen. Die Beschleunigung des Transport- und Informationsflusses und die daraus resultierende Aufhebung räumlicher und zeitlicher Distanzen führt zu einer Transformation traditioneller Handlungsmuster: eine „modernisierte" Form des Abenteuer- und Reiseromans wird zu einer wichtigen Komponente der Science Fiction. Die Themenkreise Flugtechnik und neue Medien sind paradigmatisch für eine „Erweiterung der Umweltreferenz" 37 , die das Phänomen einer technischen Zukunftsliteratur, trotz Rückgriff auf überkommene Verfahren, in den Prozeß gesamtgesellschaftlicher Modernisierung einbindet. Daß die Literatur ein direktes Mitspracherecht an technischen Entscheidungen forderte, blieb die Ausnahme: wenn etwa der Zeitungsmagnat August Scherl mit seinem Neuen Schnellbahn-System die Zukunft des Verkehrswesens mitgestalten wollte und sich dabei auf den „intuitiven Blick" des Laien, der „dem fachmännischen Spezialisten im Lauf seiner Arbeit leicht abhanden kommt", berief. 38 In der Regel besteht die Leistung dieser Literatur nicht im Entwurf technischer Projekte oder in der Erstellung wissenschaftlicher Prognosen. Schon der Bildungsstand des Publikums, oft aber auch die Rudimentarität der eigenen polytechnischen Ausbildung zwang die Verfasser technischer Zukunftsbilder zu radikalen Vereinfachungen. Science Fiction ist in erster Linie Fiktion, nicht Wissenschaft, sie gehorcht den Regeln der Sprache und Literatur, nicht der wissenschaftlich-technischen Logik. Ihre Zukunftsvorstellungen müssen in erster Linie sprachlich, nicht technisch plausibel gemacht werden. 39 Wenn man Harald Weinrichs Linguistik der Lüge40 folgt, so lassen sich in der Science Fiction besonders deutlich einige literarische Grundstrukturen der Lügendichtung erkennen. Zwei „Lügensignale" sind für diese Literatur kennzeichnend: die „Wahrheitsbeteuerung", die sich oft auf fremde oder eigene Zeugenschaft beruft, und die „Detailfreudigkeit" der lügnerischen Erfindung, die sich bevorzugt in der „Genauigkeit der Namen und der Zahlen" zeigt. 41 Die Plausibilität und Sachlichkeit des Details täuscht über die 36 Vgl.: Wolfgang SCHIVELBUSCH: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M./Berlin 1979, S. 35-50. 37
SCHÖNERT, 1 9 8 8 ( A n m . 2 9 ) , S . 4 0 4 .
38 August SCHERL: Ein neues Schnellbahn-System. Vorschläge zur Verbesserung des Personenverkehrs. Berlin 1909. Zitat: unpaginiertes Vorwort, Hervorhebung von A. Scherl. 39 Vgl.: Ulrich SUERBAUM, Ulrich BROICH, Raimund BORGMEIER: Science Fiction. Theorie und Geschichte, Themen und Typen, Form und Weltbild. Stuttgart 1981, S. 20 f. 40 Harald WEINRICH: Linguistik der Lüge. Heidelberg 1974. 41 Ebenda, S. 69 f.
3. Modernität
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Unwahrscheinlichkeit des Ganzen hinweg. Die Präzision technischer Daten und wissenschaftlicher Ableitungen erweist sich als Bluff, und die Strategien der Authentifizierung, die dem Erzählten den Charakter dokumentarischer Faktizität zu verleihen trachten, als durchsichtiges Spiel mit den Publikumserwartungen. Die technische Zukunftsliteratur konnte an eine Technikbegeisterung anknüpfen, die weniger vom traditionellen Bildungsbürgertum als von der schnell anwachsenden Schicht der polytechnisch Ausgebildeten und der Industrieangestellten, aber auch von einer jugendlichen Leserschaft getragen wurde. 42 Diese Literatur ist zunächst vom Impetus erfüllt, den „Technikkult" ästhetisch zu nobilitieren. Joseph Popper konstatiert 1888 in einem programmatischen Traktat 43 die Ablösung des Kultes künstlerischer Schönheit durch den der Technik: Wie in Athen der Kultus der formalen Schönheit und der Dichtkunst die Bürger dieses Staates erfüllte, so treiben wir jetzt bei vielleicht gleichzeitiger Abnahme dieser Art ästhetischer Empfänglichkeit, den Kultus der Naturwissenschaft und der Technik. (17)
Die Realisierung technischer Projekte wird dem Publikum als ästhetisch bedeutsames Ereignis vorgeführt. Nicht mehr von der Kunst, sondern von Naturwissenschaft und Technik gehen ästhetische und intellektuelle Innovation und Kreativität aus. Unter der Bedingung, daß die praktische Anwendung und damit mögliche negative Folgen ausgeblendet und die technischen Erfindungen nur als solche studiert werden, gewährt uns das Gebiet der technischen Fortschritte einen bewunderungswürdigen Reichthum an ästhetischen Anregungen, einen viel grösseren als die Leistungen auf dem Gebiete der Kunst. Man vergleiche doch das, was in unserer Zeit die Kunst, namentlich die Poesie, produzirt, mit dem, was die Technik hervorbringt; trotz vielfacher, quantitativ sehr grosser Produktion sehen wir in der poetischen Kunst nur selten neue Motive, originelle Erfindungen, ja es mangelt sehr oft der ästhetische Eindruck auf die Mehrzahl der Leser überhaupt; anderseits betrachte man die grosse Zahl technischer Zeitschriften und ausgeführter technischer Objekte, die Patentschriften aller Länder und man wird über die Menge schöner und sinnreicher und auch origineller Ideen erstaunen. (21)
Patente statt Poesie - so könnte der Leitsatz des Popperschen Programms lauten. Der Erfindungsreichtum begründet die Überlegenheit der Technik über die Kunst. Dasselbe Argument verwendet 1904 der „Techniker-Poet" Max 42 Dies läßt sich aus den Publikationsmedien und Vertriebsformen der Technikliteratur schließen. Spezifische Leseranalysen zu diesem Bereich fehlen noch. 43 Joseph POPPER: Die technischen Fortschritte nach ihrer ästhetischen und kulturellen Bedeutung. 2. Ausg. Dresden, Leipzig 1901 [1. Ausg. 1888], Die Zahlen nach den folgenden Zitaten geben die Seiten dieser Ausgabe an. Auch im folgenden wird, um die Fußnoten nicht zu überlasten, bei mehrmaligem Zitieren aus demselben Text die Quelle nur einmal angegeben, die Seitenangaben werden dann direkt an das Zitat angeschlossen.
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Einleitung
Eyth in einem Vortrag vor deutschen Ingenieuren und bezieht dabei nicht nur die zeitgenössische, sondern auch die klassische lateinische Literatur in den unvorteilhaften Vergleich mit den Leistungen der Technik ein: Die Welt, selbst die sogenannte gebildete Welt, fängt an zu erkennen, daß in einer schönen Lokomotive, in einem elektrisch bewegten Webstuhl, in einer Maschine, die Kraft in Licht verwandelt, mehr Geist steckt als in der zierlichsten Phrase, die Cicero gedrechselt, in dem rollendsten Hexameter, den Vergil jemals gefeilt hat.44
Dem veralteten humanistischen Bildungsgut wird eine dynamische technische Kultur entgegengestellt. Diese Stellungnahmen sind zu lesen als Versuche, der Geringschätzung von Naturwissenschaft und Technik durch die humanistisch Gebildeten, die sich als Vertreter der Kultur verstanden, aggressiv entgegenzuarbeiten. Eines breiten, populären Interesses konnten die technischen Erfindungen sicher sein. Doch die Integration des Themas Technik in bewährte trivialliterarische Muster wie die des Abenteuer- oder des sentimentalen Liebesromans mußte den Vorbehalt der neuhumanistisch Gebildeten gegen die technische Welt und den mit ihr verbundenen Berufsstand nur noch verstärken. Die Technik, die von einer literarisch-geisteswissenschaftlichen Intelligenz dem verachteten Bereich der Zivilisation zugerechnet wurde, sollte als Geistesprodukt die Würde eines wesentlichen Bestandteils der Kultur erhalten. Aufschlußreich für diese Invektiven ist eine in der Illustrierten Wochenschrift über die Fortschritte der angewandten Naturwissenschaften anonym erschienene ironische Abrechnung mit jenen Literaturhistorikern, die nachweisen zu können glauben, daß alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Erfindungen bereits von Klassikern der Literatur wie Ovid, Shakespeare, Schiller oder Goethe „vorweggenommen" worden seien.45 Umgekehrt verleiht aber schon der Name der Zeitschrift, Prometheus, dem Techniker die Würde des legitimen Nachfolgers einer mythologischen Figur, die zum unverzichtbaren Bestandteil des bildungsbürgerlichen Inventars gehört. Die literarischen Aufwertungsversuche des Berufstandes der Naturwissenschaftler und Techniker, deren Bedeutung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch numerisch rasant zunahm46, manifestieren sich am deutlichsten in der Figur des Ingenieur-Helden. Die Qualitäten, mit denen diese neue literarische Figur ausgestattet wird, stammen aus der Genieästhetik. Originalität, Intuition, Kreativität und Universalität kennzeichnen das Ideal des 44 Max EYTH: Poesie und Technik. In: Zeitschrift des Vereines deutscher Ingenieure 48 (1904), S. 1129-1134; hierS. 1132. 45 Rundschau. In: Prometheus. Illustrierte Wochenschrift über die Fortschritte der angewandten Naturwissenschaften. Bd. 1 (1890), Nr. 52, S. 829. 46 Beispielsweise verzehnfachte sich zwischen 1866 und 1913 die Zahl der angestellten Chemiker in der chemischen Industrie Deutschlands. Vgl.: NIPPERDEY, 1990 (Anm. 27), S. 241.
3. Modernität
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Ingenieurs, wie ihn die frühe deutsche Science Fiction präsentiert. Der Ingenieur ist hier die zeitgemäße Verkörperung des Künstlers. Die Mutation des Künstlers zum Ingenieur bleibt aber für das Charakterbild nicht folgenlos. Kaltblütigkeit, Geistesgegenwart, Organisationstalent sind die Eigenschaften, an denen die Transformation des Typus Universalgenie im Zeichen technischer Rationalität sichtbar werden. Qualitäten des traditionellen Abenteuerhelden wie Mut, Treue, Großzügigkeit und Opferbereitschaft bestimmen als weitere Komponenten diesen Typus. Die Omnipotenzphantasien, die der Abenteuerheld verkörperte, konnten durch ein bisher ungeahntes Ausmaß technischer Naturbeherrschung ins Grenzenlose gesteigert werden. Die Modernität dieser Figur blieb freilich schematisch. Der allmächtige Ingenieur bot sich einer Funktionalisierung durch eine nationalistische Ideologie an. Häufig ist es ein patriotischer deutscher Ingenieur, der seine genialen Erfindungen und Wunderwaffen seinem Vaterland und Kaiser zur Verfügung stellt und so die Hegemonie Deutschlands auf der Erde und im Weltraum sichert. Die technische Überlegenheit Deutschlands wird einer ethischen gleichgesetzt und soll seinen politischen Machtanspruch legitimieren. Die Warnungen des österreichischen Sozialreformers Joseph Popper, der trotz aller Technikbegeisterung den latenten Imperialismus eines unreflektierten technokratischen Positivismus erkannte, 47 fanden im deutschsprachigen technischen Zukunftsroman kaum einen Widerhall. Heinrich Mann hat in seinem kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges beendeten Roman Der Untertan die Figur des Ingenieur-Helden satirisch demontiert. Für Diederich Heßling ist das Chemiestudium nur eine gleichgültige Etappe seines Aufstiegs in der Hierarchie der wilhelminischen Gesellschaft. Das Selbstbewußtsein des Naturwissenschaftlers wird zur Phrase 48 , sein Sendungsbewußtsein zu hohlem Pathos. Das dem deutschen Ingenieur zugeschriebene Organisationstalent und seine Fähigkeit, alles nüchtern zu berechnen, reduzieren sich, in Verbindung mit einer sentimentalen Brutalität, zu purem Machtstreben durch bedingungslose Unterwerfung unter die herrschende Ordnung. Der Untertan liest sich auch als Karikatur des technokratischen Heldenbildes, das einen wesentlichen Bestandteil des ideologischen Nährbodens der chauvinistischen Kriegspolitik bildete. Als Ordnungsprinzipien utopischer Gesellschaftsentwürfe werden Wissenschaft und Technik in der frühen deutschen Science Fiction nur ansatzweise thematisiert. Der Ingenieur Rudolf Diesel zeichnete in seiner pro4 7 V g l . POPPER, 1 9 0 1 ( A n m . 4 3 ) .
48 In ihrer ersten Begegnung mit Heßling bringt seine spätere Geliebte Agnes Goppel das Gespräch auf die Chemie: „,Das ist überhaupt die einzige Wissenschaft, die Berechtigung hat', behauptete Diederich, ohne zu wissen, wie er dazu kam." Heinrich MANN: Der Untertan. Roman. Leipzig 1983, S. 14.
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Einleitung
grammatischen Abhandlung Solidarismus49 eine Gesellschaftsutopie nach den Grundsätzen strenger wissenschaftlicher und ökonomischer Rationalität. Die Lösung der sozialen Frage, die Diesel damit gefunden zu haben glaubte, hielt er für eine wichtigere Leistung als die Erfindung des Dieselmotors. 50 Eine derartig systematische und diskursive Darbietungsweise ist dem Genre des technischen Zukunftsromans jedoch fremd. In diesem sind die Elemente einer technischen Utopie in einen narrativen Handlungsablauf integriert. Kurd Laßwitz' Roman Auf zwei Planeten51 ist in dieser Hinsicht paradigmatisch: Die Marswelt überrascht die Besucher von der Erde mit einer Fülle technischer Innovationen. Aber nicht auf diesen beruht die Überlegenheit der Marsianer, sondern auf ihren ethischen Grundsätzen, die sich am Idealismus Kants orientieren - und ethisch begründet sind auch die Konflikte zwischen Menschen und Marsianern, die die Handlung vorantreiben. Wissenschaftliche Glaubwürdigkeit soll die Annahme einer überlegenen Menschheit auf dem Mars durch einen ins Kosmologische erweiterten Evolutionismus erhalten. Ein an Darwin und Ernst Haeckel anknüpfender evolutionistischer Determinismus, der sich häufig mit sozialdarwinistischen Vorstellungen verband, ist für die frühe deutsche Science Fiction charakteristisch. Die unilineare und notwendige Entwicklung vom Niederen zum Höheren und Wertvolleren wurde von der Biologie auf die Kulturgeschichte übertragen. 52 Eine zunehmende, auch geistige und ethische Verbesserung des Menschen wurde als quasi natürlich ablaufender Prozeß verstanden. Der Mars, der nicht nur in der fiktionalen, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur der Zeit als Planet mit ähnlichen Lebensbedingungen wie die der Erde, aber im Vergleich zu ihr als älter angesehen wurde, war ein Ort, an dem die Existenz einer fortgeschrittenen Menschheit wissenschaftlich plausibel erscheinen konnte - Gegenwart und Zukunft der Menschheit konnten so synchron dargestellt werden. Die Fortschrittsidee ist aber unlösbar mit dem Gedanken der Katastrophe verbunden. Die Faszination durch die Apokalypse dürfte keineswegs geringer als die des ethisch begründeten und wissenschaftlich-technisch hergestellten Paradieses gewesen sein. Eine Ästhetik der Destruktion nährt sich in der Frühzeit der Science Fiction mehr aus natürlichen als aus technischen Vorgängen. Während technischen Unfällen und Desastern noch bloß be49 Rudolf DIESEL: Solidarismus. Natürliche wirtschaftliche Erlösung des Menschen. München, Berlin 1 9 0 3 . 50 Vgl.: Eugen DIESEL: Diesel: der Mensch, das Werk, das Schicksal. Hamburg 1937, S. 373 f.; Donald E. THOMAS: Diesel. Technology and Society in Industrial Germany. Tuscaloosa, AI. 1987, S. 52. 51 Kurd LASSWITZ: Auf zwei Planeten. Roman in zwei Büchern. Weimar 1897. 52 Vgl.: Fritz BOLLE: Darwinismus und Zeitgeist. In: Zeitgeist im Wandel. Das Wilhelminische Zeitalter, Hg. von Hans Joachim Schoeps. Stuttgart 1967, S. 235-287.
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grenzte Zerstörungskraft zugetraut wird, wird der Weltuntergang durch Kataklysmen und kosmische Katastrophen herbeigeführt. Der Wissenschaft fällt in diesem stark von H. G. Wells geprägten Typus des Katastrophenromans die Aufgabe der Prognose zu, die Technik ist meist machtlos. Dagegen bewährt sich die Technik in der Abwehr extraterrestrischer Invasoren. Wie im Zukunftskriegsroman wird hier das destruktive Potential der Technik häufig positiv bewertet. Besonders in der Flugliteratur werden das Ineinander von Idylle und Katastrophe und die dem zugrundeliegenden Wünsche und Ängste evident. Selbst durch technisches Versagen und Unfälle wird die Heroisierung des Ingenieurs nicht in Frage gestellt; sie sind vielmehr die notwendigen Bewährungsproben des Helden. In Max Eyths Novelle Berufstragik53 ist es eine unglückliche Konstellation wirtschaftlicher, technischer und biographischer Faktoren, die zum Einsturz der Brücke, zum Eisenbahnunfall und damit auch zum Tod des Ingenieurs führen. Nicht primär die Technik, sondern ihre kommerzielle Ausbeutung ist schuld an der Katastrophe. Der Autor verleiht der Figur des Technikers eine tragische Größe, die dem industriellen Zeitalter angemessen erscheinen soll, aber doch nur ein konventionelles Muster regeneriert: der Held unterliegt im Kampf gegen eine feindliche Natur. 54 In Bernhard Kellermanns Roman Der Tunnel55 wird die Glorifizierung des Ingenieurs Mac Allan durch die Explosionskatastrophe beim Tunnelbau nur noch verstärkt. Denn gerade in den schwierigsten Situationen kann sich der eiserne Wille und die zielstrebige Härte des technischen Führers bewähren. Jules Vernes Kontrasttypus zum philanthropen Wissenschaftler, der mono- und megalomane Gelehrte, der mit seinen Erfindungen die Welt bedroht, wirkte in der frühen deutschen Science Fiction weniger prägend als der überdimensionierte Ingenieur-Held, der die Menschheit, wenn nötig mit Gewalt, zu erlösen berufen ist. Die Indienstnahme der Technikbegeisterung durch den Nationalismus und Imperialismus ist nur eine der vielfältigen Verbindungen von Wissenschaftsgläubigkeit mit irrationalistischen Ideologien. Die wachsende Bedeutung der Elektrizität in der industriellen Produktion, im Verkehrswesen und in der Medientechnologie führte zu einer zunehmenden Immaterialisierung von Energie und Information. In der Elektrizität schien sich für viele der alte Traum einer Versöhnung von Geist und Materie einer Erfüllung zu nähern. Pan-
53 Max EYTH: Berufstragik. In: Hinter Pflug und Schraubstock. Skizzen aus dem Tagebuch eines Ingenieurs. 106.-110. Aufl. Stuttgart, Berlin 1917 [1. Aufl. 1899], S. 376-501. 54 Eyth folgt darin der von Theodor Fontane in seiner Ballade Die Brück' am Tay (1880) vorgegebenen Problemstellung. Technische Fragen werden bei Fontane, im Unterschied zu Eyth, vollkommen vernachlässigt. Über den Einsturz der eisernen Brücke heißt es: „Wie Splitter brach das Gebälk entwei." 55 Bernhard KELLERMANN: Der Tunnel. Roman. Berlin 1913.
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Einleitung
psychistische, spiritistische und okkulte Strömungen beriefen sich auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse. Durch den Einbau wissenschaftlich-technischer Details sollten irrationalistische und metaphysische Konzepte legitimiert werden. Die wissenschaftliche Einkleidung von Metaphysik und Esoterik erweist sich als komplementäre Entsprechung zum Technikkult und zur Sakralisierung der Wissenschaft - und macht die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Science Fiction und Phantastik evident. Auch nach einer weitgehenden Ausklammerung der verwandten Genres der Phantastik und Gesellschaftsutopie bleibt das aufgefundene Material sehr umfangreich, woraus die Notwendigkeit einer weiteren Selektion resultiert. Was die Science Fiction als eigenständige Gattung beschreibbar macht, ist ein Komplex von Themen, Motiven, Figuren und Handlungsmustern, nicht ein kompaktes Weltbild. Will man die Diskontinuitäten gegenüber früheren Genres und die allmähliche Herausbildung einer neuen Gattung aufzeigen, so ist es nicht zielführend, primär ihre ideologischen Tendenzen dingfest zu machen. Die Einteilung des Textmaterials erfolgt daher nicht nach ideologiekritischen Kriterien, sondern nach Formen und Stoffen. Die thematischen Schwerpunkte „Flugphantasien", „Katastrophenbilder" und „Kommunikationsmittel" bezeichnen Erfahrungsbereiche, in denen Überlagerungen und Interferenzen zwischen technischen Phantasien und seelischen Energien besonders intensiv auftreten. Diese Bereiche überlappen einander teilweise mit den Subgenres des Zukunftsstadt-, des Zukunftskriegs- und des Planetenromans sowie mit den Motivkomplexen technischer Großprojekte und zukünftiger Energieformen.
A. JULES VERNE UND DIE GENESE EINER GATTUNG
1. Die Produktion
eines
Erfolgsautors
Das Werk Jules Vernes war für die Anfänge des technischen Zukunftsromans in der deutschen Literatur von entscheidender Bedeutung. Vernes „wissenschaftliche" Abenteuerromane dienten nicht nur als Steinbruch, aus dem deutsche Autoren Themen und Motive bezogen. Noch wichtiger erscheint: Der Name Verne erhielt bald Signalcharakter für eine neu entstehende Literaturgattung, die sich weniger durch formale und inhaltliche Konventionen als durch einen Komplex von Markenzeichen konstituierte. 1 Seit den siebziger Jahren taucht der Name Verne in deutschsprachigen technischen Zukunftsromanen wie in Aufsätzen und Rezensionen als Parameter einer neuen Literatursorte auf. An ihm messen sich die Autoren, ihn wollen sie übertreffen, mit ihm werden sie von den Kritikern verglichen. 2 Selbst in populärwissenschaftlichen Arbeiten und Aufsätzen wird Verne zum Inbegriff der wissenschaftlichen Phantastik. Das Werk Vernes verdankt seine Stellung als Prototyp einer Gattung einer gezielten Vermarktungsstrategie. Als der Pariser Verleger Pierre-Jules Hetzel, dessen Programmschwerpunkt neben der Belletristik auf Wissenschaftsliteratur lag, den 1862 geschriebenen Roman Cinq semaines en ballon las, erkannte er die Möglichkeit, eine Marktlücke zu füllen: Der Roman verband eine spannende Reise- und Abenteuerhandlung mit naturwissenschaftlichen, besonders geographischen, und technischen Informationen. Die Eigenart der ab 1863 unter dem Reihentitel Voyages extraordinaires bei Hetzel erschienenen Romane - Verne war zuvor mit mäßigem Erfolg vor allem als Verfasser von Dramen, Operettenlibretti und Erzählungen hervorgetreten - war wesentlich vom Verleger mitgeprägt:
1 Fredric Jameson weist auf die Tendenz der kapitalistischen Warenproduktion seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hin, den institutionellen Status der Gattungen durch ein System von Markenzeichen zu ersetzen. Vgl.: Das politische Unbewußte. Literatur als Symbol sozialen Handelns. Aus dem Amerikanischen von Ursula Bauer, Gerd Burger und Bruni Röhm. Mit einem Nachwort von Ingrid Kerkhoff. Reinbek 1988, S. 106. 2 Manfred Nagl hat mit Nachdruck auf die maßgebliche Rolle, die Verne bei der Herausbildung einer deutschen Science Fiction spielte, und auf seine Stilisierung zum technischen Propheten hingewiesen: „Der Hinweis auf die einst verlachten, inzwischen aber verwirklichten oder übertroffenen Prophezeiungen Vernes wurde in der Science Fiction zu einem beliebten Topos, der allein schon als gültiger Beweis für die Realistik, Glaubwürdigkeit und Seriosität irgendwelcher Zukunftsspekulationen ausreicht." Manfred NAGL: Science Fiction in Deutschland. Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur. Tübingen 1972, S. 63.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Was Jules Verne ist, ist er durch Hetzel, und es scheint, daß Hetzel und nicht Verne auf die ertragreiche Idee g e k o m m e n ist, den Fünf Wochen im Ballon weitere Romane der gleichen Machart folgen zu lassen. 3
Vernes Werk war fortan das Produkt einer engen Kooperation zwischen dem Autor und seinem Verleger. Gemeinsam diskutierten sie Romankonzepte, Hetzel nahm wichtige Eingriffe in die Texte vor, wenn er die Absatzfähigkeit „seines" Autors gefährdet sah, und Verne hat seine Änderungsvorschläge akzeptiert und durchgeführt. 4 Gegen ein monatliches Gehalt mußte Verne ein jährliches Schreibpensum absolvieren: [ . . . ] er verpflichtete sich am 1. Januar 1864 g e g e n ein Monatsgehalt von 3 0 0 Francs jährlich drei, dann vier Bücher abzuliefern. (Von 1871 an waren es dann „nur" noch zwei Bände im Jahr.) [ . . . ] Erst am 11. Dezember 1865 wurde das monatliche Gehalt auf 7 5 0 Francs erhöht. 5
Der Vertrag legte aber nicht nur die Zahl der jährlich zu liefernden Bände fest, er verpflichtete den Autor auch auf ein bestimmtes Genre: „chaque année trois volumes composés dans le genre de ceux qu'il a primitivement édités" 6 mußte Verne vertragsgemäß fertigstellen. Dieses Genre wurde in einer dem Roman Voyages et aventures du capitaine Hatteras vorangestellten Ankündigung des Verlegers deutlich festgelegt: II [Jules Verne, R. I.] a créé un genre nouveau. Ce qu'on promet si souvent, ce qu'on donne si rarement, l'instruction qui amuse, l'amusement qui instruit, M. Verne le prodigue sans compter dans chacune des pages de ses émouvants récits. [ . . . ] Les ouvrages parus et ceux à paraître embrasseront ainsi dans leur ensemble le plan que s'est proposé l'auteur, quand il a donné pour sous-titre a son œvre celui de Voyages dans les mondes connus et inconnus. Son but est, en effet, de résumer toutes les connaissances géographiques, géologiques, physiques, astronomiques, amassées par la science moderne, et de refaire, sous la forme attrayante et pittoresque qui lui est propre, l'histoire de l'univers. 7
Unter der traditionellen didaktischen Maxime des „Prodesse et delectare" wird die neue Gattung als Universalenzyklopädie des Wissens in Romanform definiert. Nicht nur die Regelmäßigkeit der Produktion, sondern auch der generische Rahmen, die Abgrenzung im literarischen Feld wurden durch verlegerische Ziele und Verkaufsinteressen vorgegeben. 3 Volker DEHS: Jules Verne mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 2. Aufl. Reinbek 1993, S. 51. 4 Vgl. dazu ebenda, S. 54-66. 5 Volker DEHS: Die Lebensreise des Monsieur Verne. Leben und Schaffen Jules Vernes. In: Jules Verne Handbuch. Hg. von Heinrich Pleticha. Stuttgart 1992, S. 15-59; hier S. 25. 6 Verlagsvertrag zwischen Jules Verne und Pierre-Jules Hetzel. Bibliothèque Nationale, vol. 76 du Fonds Hetzel. Zitiert nach: Daniel COMPÈRE: Jules Verne Écrivain. Genève 1991 (= Histoire des idées et critique littéraire, 294), S. 17. 7 Jules HETZEL: Avertissement de l'éditeur. In: Jules VERNE: Voyages et aventures du capitaine Hatteras. Paris 1867, S. 1 f.
2. Vernes Präsenz am deutschsprachigen Buchmarkt
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Ab 1864 erschienen die Romane auch als Vorabdruck in Hetzeis Familienzeitschrift Magasin d'Éducation et de Récréation. Der Verleger hatte ein ganz bestimmtes Zielpublikum im Auge; sein Vorgehen bezeichnet Dehs als „einträgliche Strategie, seinen Autor als außerschulischen Nachhilfepädagogen zu vermarkten" 8 . Zugleich erschienen viele Romane aber auch als Vorabdrucke in der Tageszeitung Le Temps und im Journal des débats politiques et littéraires, worauf Verne immer wieder drängte, um eine anspruchsvollere, erwachsene Leserschaft zu erreichen. 9 Verne legte einen umfangreichen Zettelkasten mit Exzerpten aus wissenschaftlichen Büchern und Journalen an; dieser enthielt in den neunziger Jahren über 20.000 Notizen. 10 Eine aktuelle Enzyklopädie des Wissens sollte in die spannende Form des Abenteuer- und Reiseromans gekleidet und als Unterhaltungsliteratur mühelos konsumierbar gemacht werden. Diese Verkaufsstrategie hat der deutschsprachige Buchmarkt übernommen. Der Verne-Verleger Hartleben kündigte anfangs die einzelnen Bände seiner Schriften-Ausgabe unter dem Titel Naturwissenschaftliche Romane 11 an. Und in der Verlagswerbung für dieselbe Ausgabe wird die Neuartigkeit der Verbindung von spannender Unterhaltung und wissenschaftlicher Belehrung hervorgehoben. 12 Auch im deutschsprachigen Raum war eine Marktlücke zu füllen. Der Erfolg blieb nicht aus.
2. Vernes Präsenz am deutschsprachigen
Buchmarkt
Schon rein quantitativ ist die Verbreitung der Verneschen Werke im deutschen Sprachraum beeindruckend. Kein anderer zeitgenössischer Autor technischer Zukunftsromane war auch nur annähernd so erfolgreich wie Verne.13 Im Zeitraum zwischen 1874 und 1914 erschienen sieben deutschsprachige Werkausgaben von Jules Verne, nämlich: 8 DEHS, 1 9 9 2 ( A n m . 5 ) , S . 2 8 . 9 V g l . : DEHS, 1 9 9 3 ( A n m . 3 ) , S . 7 4 .
10 Um Wiederholungen zu vermeiden, zerstörte Verne die Notizzettel, nachdem er sie einmal verwendet hatte. Vgl.: COMPÈRE, 1991 (Anm. 6), S. 43. 11 Börsenblatt für den deutschen Buchhandel Nr. 232, 7. 10. 1873; Österreichische BuchhändlerCorrespondenz Nr. 40, 4. 10. 1873. In beiden Zeitungen erscheint die Bezeichnung auch noch in den folgenden Jahren öfters. 12 Vgl.: Verlagswerbung für Julius Verne's Schriften, zitiert nach: Julius VERNE: Abenteuer des Kapitän Hatteras. Bd. 2. Julius Veme's Schriften. Bd. 8, 2. Aufl., Wien/Pest/Leipzig 1875, S. 299. 13 Monika Bosses Behauptung, das Interesse an Verne sei in Deutschland „nie besonders groß gewesen", wofür „die geringe Zahl der Ausgaben" spreche - Bosse meint, es hätte nur „eine einzige Gesamtausgabe, deren Erscheinen vorzeitig abgebrochen wurde", nämlich die WeichertAusgabe, gegeben - , erweist sich durch den editionsgeschichtlichen Befund als eklatantes Fehlurteil. Siehe: Monika BOSSE: Verne, Jules. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Hg. von Klaus Doderer. 3. Bd. Weinheim, Basel 1979, S. 709-712; hierS. 711.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
1. Julius Verne's Schriften. 55 Bde., Wien/Pest/Leipzig: Hartleben 1874 bis 1889. 2. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne. 98 Bde., Wien/Pest/Leipzig: Hartleben 1874-1911. (Bd. 1-55, 1873-1889 auch in Lieferungen erhältlich.) 3. Julius Verne's gesammte Schriften. Illustrierte Volks- und Familienausgabe. 38 Bde., Wien/Pest/Leipzig: Hartleben 1878-1881. (Lieferungsausgabe.) 4. Collection Verne. 98 Bde., Wien/Pest/Leipzig: Hartleben 1887- 1910. 5. Jules Verne's Werke. 74 Bde., Berlin: Weichen 1901-1909. 6. Jules Verne's Werke. Mindestens 16 Bde., Styrum, Leipzig: Spaarmann [um 1905]. (Nachdruck von Weichert.) 7. Julius Verne's Reiseromane. 82 Bde., Leipzig: Bibliographische Anstalt Adolph Schumann [um 1905], (Nachdruck von Hartleben.) 14 Der wichtigste deutsche Verne-Verleger bis 1914 war Hartleben. Der 1803 gegründete Verlag baute seit den siebziger Jahren immer stärker sein populärwissenschaftliches Programm aus. Bei Hartleben erschienen zahlreiche naturwissenschaftliche und technische Handbücher, Enzyklopädien und Lexika, Fachbücher für verschiedene Handwerke und für Agrikultur, Ratgeber für das Haus, für Gesundheits- und Rechtsfragen. Die Chemisch-technische Bibliothek wurde 1875, ein Jahr nach Beginn der Verne-Ausgabe, begründet und war bis 1900 auf 242, bis 1915 auf 356 Bände angewachsen. Die Elektro-technische Bibliothek umfaßte 1900 56 Bände. Sehr umfangreich war um die Jahrhundertwende auch Hartleben's Bibliothek der Sprachenkunde (bis 1909 100 Bände), eine Reihe von Lehrbüchern und Grammatiken für Fremdsprachen. Ergänzt wurde dieses Programm durch zahlreiche Reiseberichte und -führer und durch illustrierte populärwissenschaftliche Periodika wie Neueste Erfindungen und Erfahrungen auf allen Gebieten der praktischen Technik, der Gewerbe, Industrie, Chemie, der Land- und Hauswirthschaft (seit 1874), Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik (seit 1878) und Der Stein der Weisen. Unterhaltung und Belehrung aus allen Gebieten des Wissens (seit 1879). Während unter den ersten beiden Inhabern des Verlages Conrad Adolf und Adolf Hartleben die Belletristik noch den Schwerpunkt darstellte, wurde diese unter Eugen Marx, der seit 1870 die Firma leitete und 1892 ihr alleiniger Besitzer wurde, gegenüber der Wissenschaftsliteratur zunehmend in den Hintergrund gedrängt. So heißt es 1895 im 14 Detaillierte und präzise Beschreibungen der einzelnen Ausgaben liefern Wolfgang THADEWALDS Beiträge in: Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Verlags- und Reihenbibliographie. Hg. von Heinrich Wimmer unter ständiger Mitarbeit von Werner Hoof und Wolfgang Thadewald. Meitingen 1987 ff.
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Verlagskatalog, die Firma habe „sich der Belletristik mehr und mehr entfremdet, dagegen zahlreiche Gebiete der Wissenschaften und der Technik in ihr Programm aufgenommen" 15 , und dem Verlagskatalog bis 1909 zufolge habe sie „einen Grundgedanken und den Zweck: das Wissen zu popularisieren".16 Besonders stolz zeigt sich der Verlag auf seine populärwissenschaftlichen Reihen: [...] jeder Band dieser großangelegten Sammlungen trägt gediegenes Wissen und Bildung in weite Kreise hinaus und hat Tausenden von Menschen Wohlstand und Freude am Beruf gegeben. 17
Die Verlagerung des Programmschwerpunktes von der Belletristik auf das Sachbuch und die Wissenschaftsliteratur war Ergebnis eines Geschäftskalküls, das im Mangel an populären Sachbüchern eine Marktlücke erkannte. 1878 heißt es im Vorwort des Verlagsverzeichnisses: Erst in jüngster Zeit mußte in der Pflege dieses Gebiets [der Belletristik, R. I.] nachgelassen werden, da die herrschenden mißlichen Zeitverhältnisse eine praktischere Richtung forderten.18
Auf belletristischem Gebiet will der Verlag durch „Volksliteratur" seine Absätze steigern. In seiner Selbstdarstellung versucht er, die kommerziellen Motive mit moralischen Qualitätskriterien zu vereinbaren: Mit strenger Auswahl wird auch jener Zweig der Volksliteratur, der durch Massen-Absatz in die weitesten Kreise einzudringen berufen ist, gepflegt, allen diesen Erzeugnissen liegt stets eine edle patriotische oder eine die Geister von Fesseln befreiende Tendenz zu Grunde, und sollen dieselben in diesem doppelten Sinne segensreich für das Ganze und aufklärend für den Einzelnen wirken. 19
Volksaufklärung und -bildung entsprachen als Ideale dem ökonomischen Ziel, populäre Belletristik und Sachbücher zu verlegen. Zu den erfolgreichen Romanen gehörten etwa die von Alexandre Dumas père und fils, von denen der Verlag seit den fünfziger Jahren deutsche Übersetzungen herausbrachte. 20 Hartleben rühmte sich auch, als erster in Österreich „Lieferungswerke zu wohlfeilem Preise" herausgegeben und damit „ungeahnte Erfolge" erzielt zu haben, und vergißt nicht zu betonen, er habe „sich dabei auch stets bemüht,
15 Verlags-Katalog von A. Hartleben's Verlag. Wien [1895], S. VII. 16 Verlags-Katalog 1803 bis 1909 von A. Hartleben's Verlag. Wien [1910], unpag. Hervorhebung im Original. 17 Ebenda. 18 Hugo ENGEL: Vorwort zu: Verlags-Katalog von A. Hartleben's Verlag 1803-1878. Wien 1878, S. V-VIII; hier S. VIII. 19 Ebenda. 20 Die beiden Dumas förderten die Anfänge der schriftstellerischen Karriere Vernes, mit Dumas Sohn verband Verne seit 1849 eine lebenslange Freundschaft.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
immer Edleres und Schöneres zu schaffen". 21 Das 1878 formulierte Verlagskonzept: „mit der Belehrung geht hier Unterhaltung Hand in Hand" 22 , schien genau auf Jules Verne zugeschnitten zu sein. Resümierend heißt es 1910: [...] die Übersetzung der Schriften von Julius Verne, [...] in Millionen von Bänden im Laufe der Jahre gedruckt und verbreitet, bedeutet nur die Verallgemeinerung des Wissens, die das Ideal des jetzigen Besitzers der Firma bildet [.. .]. 23
Die beiden 98bändigen Verne-Ausgaben entsprachen der Vorliebe des Verlegers für umfangreiche Sammlungen und vermittelten auch den Eindruck einer Enzyklopädie des modernen Wissens in Romanform, womit die Attraktivität dieser Bücher gesteigert werden sollte. Bezeichnend ist, daß auch historisch-geographische Sachbücher Vernes in einer Reihe mit seinen Abenteuerromanen erschienen. Wenn Vernes enzyklopädische Darstellung der Entdeckungsgeschichte in den Büchern Die Entdeckung der Erde, Die großen Seefahrer des 18. Jahrhunderts und Der Triumph des 19. Jahrhunderts in der „illustrierten Prachtausgabe" unter dem Reihentitel Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen24 erschienen, so wird umgekehrt zumindest ein semidokumentarischer Charakter auch der Reise- und Abenteuerromane suggeriert. Wissenschaftliche Gediegenheit und pädagogische Zuverlässigkeit, die das vom Verlag verbreitete Image Vernes kennzeichnen, sollten auch der gründerzeitlichen Skepsis gegenüber der französischen Literatur, besonders dem mit ihr verbundenen Verdacht der Anrüchigkeit entgegenwirken. Der eingedeutschte Vorname „Julius", der zu einer Art Markenzeichen der Hartlebenschen Verne-Ausgaben wurde, signalisierte die intendierte Einbürgerung Vernes in die deutschsprachige Literatur, entsprach aber auch einem deutschen Patriotismus, auf den der Verlag Wert legte. Hartlebens Kauf der deutschen Übersetzungsrechte für Verne hat sich gewiß gelohnt. Die anonymen Übersetzungen wurden sehr rasch angefertigt und erschienen ab 1876 oft schon im selben Jahr wie die französischen Originalausgaben. Viele Bände der Hartleben-Ausgaben erreichten hohe Auflagenzahlen. Am erfolgreichsten war die Reihe Collection Verne. Band 3 dieser Ausgabe, Die Reise um die Erde in 80 Tagen, erreichte mindestens 81, die Bände 1 und 2, Von der Erde zum Mond und Reise um den Mond, erreichten mindestens je 60, die Bände 6/7, Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer, mindestens 55, die Bände 9/10, Abenteuer des Kapitän Hatteras, mindestens 52, die Bände 14-16, Die geheimnisvolle Insel, mindestens 36 und die Bände 4 21 22 23 24
Verlags-Katalog Verlags-Katalog Verlags-Katalog Jeweils als Band
1910 (Anm. 16). 1878 (Anm. 18), S. VIII. 1910 (Anm. 16). 29/30 (1881), 33/34 (1881) und 37/38 (1882).
2. Vernes Präsenz am deutschsprachigen Buchmarkt
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und 5, Reise nach dem Mittelpunkt der Erde und Fünf Wochen im Ballon, je 30 Auflagen. Insgesamt zwanzig Bände dieser Ausgabe erreichten zwanzig oder mehr Auflagen, insgesamt einundreißig Bände zehn oder mehr Auflagen. 25 Die Auflagenhöhe läßt sich heute nicht mehr genau eruieren. Max Popp beziffert 1909 die Gesamtauflage der Verne-Bücher allein bei Hartleben mit mehr als einer Million. 26 Der Hartleben-Verlag spricht 1910 in einem Verlagskatalog vage von „Millionen von Bänden".27 Zu diesen Werkausgaben kommen noch zahlreiche Einzelausgaben. Folgende Liste versucht, einen möglichst vollständigen Überblick über die Einzelausgaben bis 1914 zu geben 28 : Autour de la lune (1870): Die Reise um den Mond. Pest: Gebr. Légrády 1873. Reise um den Mond. New York: Munro 1882. (= Die deutsche Library 105.)
César Cascabel (1890): Cäsar Cascabel. Seltsame Reisen. Mit 85 Zeichn. von Georg Roux u. a. Berlin: Meidinger [1891],
Christophe Colomb, découverte de l'Amerique (1870): Christoph Kolumbus. Übers, von Friedrich Streißler. Leipzig: Schnurpfeil 1892. (= Wissenschaftliche Volks-Bibliothek 15.)
Cinq semaines en ballon (1863): Fünf Wochen im Reiche der Lüfte. Übers, von Walter Weilen. Leipzig: (Unflad) Fock 1887. Fünf Wochen im Reich der Lüfte. Roman. 2 Bde. Berlin: Hillger 1903. (= Kürschner's Bücherschatz 335/336.) Fünf Wochen im Ballon. Entdeckungsreise dreier Engländer in Afrika. Wiedererzählt nach den Aufzeichnungen des Dr. Fergusson. Übers, von Paul Heichen. Berlin: Weichen [1911].
25 Alle Auflagenzahlen stammen von: Wolfgang THADEWALD: Collection Verne. In: Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Verlags- und Reihenbibliographien (Anm. 14), 17. Erg.-Lfg. November 1992, S. 1-36; hier S. 6-36. 26 Max POPP: Julius Verne und sein Werk. Des großen Romantikers Leben, Werke und Nachfolger. Wien, Leipzig 1909, S. 96. 27 Verlags-Katalog 1803 bis 1909 von A. Hartleben's Verlag. Wien [1910], unpag. 28 Mein Dank gilt Wolfgang Thadewald, der viele Veme-Einzelausgaben und Nacherzählungen entdeckt hat, darunter auch den ersten deutschsprachigen Abdruck eines Jules-Verne-Textes: die bereits 1857 erschienene Erzählung „Die Lianenbrücke", eine Übersetzung von Les premiers navires de la marine mexicaine (s. u.).
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Fünf Wochen im Luftballon. Eine Reise nach Afrika. Für die reifere Jugend bearbeitet von Fr. Hoffmann. Mit Farbendruckbildern nach Aquarellen von W. Schäfer. Berlin, Leipzig: Schreiter o. J. 29 De la terre ä la lune (1865): Von der Erde zum Mond. Directe Auffahrt in 97 Stunden. Roman. Pest: Gebr. Legrädy 1873. Von der Erde zum Mond. New York: Munro 1882. (= Die deutsche Library 103.) Von der Erde zum Mond in 97 Stunden. Übers, von Rudolf Damm. Leipzig: (Unflad) Fock 1887. Von der Erde zum Mond. Roman. Mit Illustrationen von W. Roegge. Berlin: Hillger [1902], (= Kürschner's Bücherschatz 306.) Aus Jules Verne's Jugendschriften. I. Die Reise nach dem Monde. II. Die Reise nach dem Mittelpunkte der Erde. Für die deutsche Jugend bearbeitet. Neuweißensee: E. Bartels o. J. Docteur
Ox, Le (1874):
Eine Idee des Doktor Ox. Deutsch von Karl Albrecht. Halle: Hendel 1891. (= Bibliothek der Gesamt-Litteratur des In- und Auslandes 488.) Enfants du capitaine
Grant, Les (1867/68):
Die Kinder des Kapitän Grant. Eine Reise um die Welt. Für die Jugend bearb. von Br[uno] Hoffmann. Mit Farbendr.-Illustr. nach Orig.-Zeichnungen von C. Koch. Berlin: Drewitz 1880. Die Kinder des Kapitän Grant. Eine Reise um die Welt von J. Verne. Für die Jugend bearbeitet von Brfuno] Hoffmann (mit 5 Farbbildern von C. Koch). Berlin: H. Liebau [um 1880]. Die Kinder des Kapitän Grant. Eine Reise um die Welt. Ins Deutsche übers, und bearb. von Br[uno] Hoffmann. Mit Farbendr.-Illustr. nach Orig.-Aquarellen von Marie Koch. Berlin: Drewitz 1885.30 Invasion de la mer, L' (1905): Der Einbruch des Meeres. Roman. Beilage zu: Der Stein der Weisen (Wien/ Pest/Leipzig: Hartleben) 38 (1906).
29 Dass. erschien nochmals in dem Sammelband: Das Buch der Reisen und Forschungen. Für die Jugend bearbeitet von Fr. Hoffmann und Bertram Grimm. Mit zahlreichen Farbdruckbildem nach Aquarellen von W. Schäfer, O. Woite und C. Koch. Berlin: Schreiter o. J., S. 1-228. 30 Dass. erschien nochmals in dem Sammelband: Das Buch der Reisen. Schilderungen aus Nord und Süd für die wißbegierige Jugend. Mit 1 Karte und zahlreichen Farbendruck-Illustrationen von Annemüller und Koch. Leipzig: Drewitz o. J., S. 1-217.
2. Vernes Präsenz am deutschsprachigen Buchmarkt
Maître-du-monde
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(1904):
Herr der Welt. Roman. Beilage zu: Der Stein der Weisen (Wien, Pest, Leipzig: Hartleben) 36 (1905).
Michel Strogoffi 1876): Der Courier des Zaren. In: In Freien Stunden. Illustrierte Romanbibliothek. Nr. 27-52. Berlin: Vorwärts 1905.
Phare du bout du monde, Le (1905): Der Leuchtturm am Ende der Welt. Roman. Beilage zu: Der Stein der Weisen (Wien/Pest/Leipzig: Hartleben) 40 (1907).
Premiers navires de la marine mexicaine, Les (1851) Die Lianenbrücke. In: Die Illustrine Welt. Teil 1: H. 29/1857, S. 229-231; Teil 2: H. 30/1857, S. 238-240.
Robur le conquérant (1886): Die Flie-Maschin oder A Reise arum der Welt in a Luftschiff. Frei bearbeitet von A. Tannenbaum. New York: J. Katzenelenbogen 1899. [Jiddisch.] Robur der Flieger. Erg. durch die Geschichte der Eroberung der Luft bis zur Jetztzeit. Mit Illustr. von Max Wulff. Berlin: Weichen [1912],
Tour du monde en 80 jours, Le (1873): Die Reise um die Welt in achtzig Tagen. Pest: Gebr. Légrâdy 1873. Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. Nach Jules Verne für die Jugend bearb. von Gustav Hofmann. Leipzig: Bergmann 1881. Reise um die Erde in achtzig Tagen. New York: Munro 1882. (= Die deutsche Library 115.) Reise um die Erde in achtzig Tagen. Übers, von R[udolf] Damm. Leipzig: (Unflad) Fock 1887. Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. Nach J. Verne für die Jugend bearbeitet von R. Hoffmann [Luise Antonie Weinzierl]. 2 Bde. Mit 6 Oelfarbendruckbildem. Berlin: J. Jolowicz [1888], Reise um die Erde in achtzig Tagen. Für die Jugend bearb. Berlin: Bruer 1891. (= Illustrierte Jugendbibliothek 3.4.) Die Reise um die Welt in achtzig Tagen. Frei nach J. Verne von Richard Krone. Berlin [1893]. (= Jugend- und Volksbibliothek 7.) Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. Nach Jules Verne für die Jugend bearbeitet von R. Hof[f]mann [Luise Antonie Weinzierl], Mit sechs Oelfarbendruckbildem. Berlin: Pohlmann o. J. Die Weltumsegelung. Nach J. Verne für die Jugend bearbeitet von R. Hoffmann [Luise Antonie Weinzierl], Mit 6 Farbdruckbildern von Hans Mützel und Emst August Rohling. Berlin: Pohlmann [1893?]. (= Gustav Pohlmann's Jugendschriften, Bd. 88.)
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Die Reise um die Erde in 80 Tagen [außen: Die Reise um die Welt], Nach J. Verne für die Jugend bearbeitet von W. Christian. Fürth: G. Löwensohn [um 1895], Reise um die Erde in achtzig Tagen. Übertr. von Rudolf Damm. Mit Illustr. von W. Roegge. 2 Bde. Berlin: Hillger 1900. (= Kürschner's Bücherschatz 210.211.) Die Weltumsegelung. Nach J. Verne für die Jugend bearbeitet von R. Hoffmann [Luise Antonie Weinzierl]. Mit Farbdruck-Bildern nach Aquarellen von Hans Mützel und Ernst August Rohling. Berlin: Globus [um 1905]. Reise um die Erde in achtzig Tagen. Vollst. Ausg. besorgt von Walter Heichen. Mit Illustr. nach Orig. von Max Wulff. Berlin: Weichert [1911]. In 80 Tagen um die Erde. Nach Jules Verne der Jugend erzählt von R. Hoffmann [Luise Antonie Weinzierl]. Mit Illustr. nach Orig. von M[ax] Wulff. Berlin: Meidinger 1911. In achtzig Tagen um die Erde. Nach Jules Verne der Jugend erzählt von R. Hoffmann [Luise Antonie Weinzierl], Mit Illustr. nach Orig. von Max Wulff. In: R. Hoffmann u. a. Das Buch der Abenteuer. Berlin: Meidinger [1913], Reise um die Erde in 80 Tagen. Vollständige Ausgabe besorgt von Walter Heichen. Mit vielen Farbendruckbildern nach Originalen von Max Wulff und mit vielen Illustrationen. Berlin: Heilbrunn o. J. Die Reise um die Erde in 80 Tagen. Deutsch von Walter Heichen. Vollständige Ausg. Mit farbigen Vollbildern und zahlreichen Textillustrationen. Berlin: Franke und Henßel o. J.
Vingt mille lieues sous les mers (1869/70): Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer. New York: Munro 1882. (= Die deutsche Library 121.) Zwanzigtausend Meilen unterm Meere. 2 Bde. Leipzig: Greßner & Schramm [um 1887]. (= Kleine Hausbibliothek für die Jugend 16.17.) Zwanzigtausend Meilen unterm Meere. Erzählung. Für die Jugend bearb. 2. Aufl. Berlin: Lewin [1901].
Voyage au centre de la terre (1864): Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Pest: Gebr. Legrädy 1873. Reise nach dem Mittelpunkt der Erde. New York: Munro 1882. (= Die deutsche Library 108.) Aus Jules Verne's Jugendschriften. I. Die Reise nach dem Monde. II. Die Reise nach dem Mittelpunkte der Erde. Für die deutsche Jugend bearbeitet. Neuweißensee: E. Bartels o. J.
Voyage en ballon, Un/Un drame dans les airs (1851/74): [Anonym:] Eine Luftfahrt mit einem Wahnsinnigen. In: Wilhelm Köhler (Hg.): Im Luftschiff. Erlebnisse und Abenteuer. Minden i. W.: Köhler 1910, S. 26-30. Der unheimliche Gast. In: Leonhard Adelt (Hg.): Der Herr der Luft. Flieger- und Luftfahrergeschichten. Mit 8 Bildern von Heinrich Kley. München, Leipzig: G. Müller 1914, S. 127-153.
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Außer diesen zum Teil stark bearbeiteten Einzelausgaben erschienen bis 1914 auch eine Reihe von Nacherzählungen: D i e Reise nach dem Mond. Nach Jules Verne für die reifere Jugend bearb. von Gustav Hofmann. Mit 8 Bildern in Farbdruck nach Zeichnungen von E. Kunad. Leipzig: Oemigke 1877. Die geheimnißvolle Insel. Berlin: W e i c h e n o. J. (= Indianer- und Volksbibliothek 8.) Reise um die Welt in 8 0 Tagen. Berlin: W e i c h e n o. J. (= Indianer- und Volksbibliothek 7.) Eine Weltreise unter dem Meer. Nach Jules Verne für die reifere Jugend bearb. von Gustav Hofmann. Mit 8 Bildern in Farbendr. nach Zeichnungen von E. Kunad. Leipzig: O e m i g k e 1878. 2 0 . 0 0 0 Meilen unter'm Meere. Erzählung nach Jules Verne. Für die Jugend bearb. Leipzig: Greßner & Schramm 1893. Zwanzigtausend Meilen unterm Meere. Erzählung. Für die Jugend bearb. Mit Titelbild v o n G. A. Stroedel. 3. Aufl. Berlin: Meidinger [1905]. 3 1 2 0 . 0 0 0 Meilen unter dem Meere. Berlin: Weichen o. J. (= Indianer- und Volksbibliothek 33.) [Emil von Nord]: Eine Reise nach dem Mittelpunkt der Erde. Berlin: W e i c h e n [1896]. (= Indianer- und Volksbibliothek 87.) [Emil v o n Nord]: Eine Reise nach dem Mittelpunkt der Erde. Berlin: W e i c h e n [1901], (= Indianer- und Volksbibliothek 317.)
Aus der Zahl der Einzelausgaben und aus der Auflagenzahl der einzelnen Titel der Werkausgaben geht deutlich hervor, daß die erfolgreichsten Romane Vernes ausnahmslos aus seiner frühen Schaffensperiode stammen. Die späteren Werke, in denen die Skepsis gegenüber Naturwissenschaft und Technik zunimmt, fanden im Vergleich zu den früheren im allgemeinen weniger Verbreitung. Zum Erfolg Vernes trug ein jugendliches Publikum maßgeblich bei. Unter den Einzeltiteln machen die Jugendbuchausgaben beinahe die Hälfte aus. Daraus aber auf eine generelle „Infantilisierung" der Verne-Rezeption zu schließen wäre voreilig. Denn die Aussagekraft der großen Zahl von Jugendbuchausgaben muß relativiert werden: Die Möglichkeit, Einzelausgaben auf den Markt zu bringen, war durch die Übersetzungsrechte des Hartleben-Verlags beschränkt. Der Konflikt mit den von Hartleben erworbenen Rechten konnte umgangen werden, indem man einzelne Romane für die Jugend bearbeitete und damit auch eine direkte Konkurrenz zu Hartleben vermied. Auf ein erwachsenes Publikum zielten dagegen die Vorabdrucke Ver-
31 Dass. erschien nochmals in dem Sammelband: Goldenes Geschichtsbuch. Sammlung bester Erzählungen für Jugend und Volk. Von G. H. von Schubert, Jules Verne, Chr. v. Schmid, O. Glaubrecht. Mit 4 Einschaltbildern von G. A. Stroedel. Vier Teile in einem Bande. Berlin: Meidinger [1905],
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
nescher Romane in Tageszeitungen, die der Verlag immer wieder anbot.32 Paradoxerweise war es neben dem obligaten Lob der belehrenden Unterhaltung gerade der vermeintlich unpolitische Charakter dieser Romane, der für die Redaktion der Augsburger Zeitung ein besonderes Qualitätsmerkmal darstellte und den Abdruck rechtfertigte.33 Schon früh begann auch die Kanonisierung Vernes als Schullektüre. Bereits 1876 erschien in Deutschland die erste einer Reihe von Schulbuchausgaben für den Französischunterricht: L e s forceurs de blocus. Altenburg: Pierer 1876. (= Collection d'auteurs français. S a m m lung französischer Schriftsteller für den Schulgebrauch hg. und mit A n m e r k u n g e n versehen v o n G. van M u y d e n und L u d w i g Rudolph. Serie 3. Lfg. 8.). Christophe C o l o m b . Für den Schulgebrauch erklärt v o n Otto Mielck. Leipzig: Renger 1893. (= Französische und e n g l i s c h e Schulbibliothek. Hg. v o n Otto E. A . Dickmann. Bd. 6 8 . ) Cinq semaines en ballon. In A u s z ü g e n mit A n m e r k u n g e n z u m Schulgebrauch hg. v o n W. B e g e m a n n . Bielefeld: Velhagen & Klasing 1884. (= Prosateurs français 4 0 . ) Le tour du m o n d e en 8 0 jours. In A u s z ü g e n mit A n m e r k u n g e n z u m Schulgebrauch bearb. v o n K. Bandow. Bielefeld: Velhagen & Klasing 1884. (= Prosateurs français 4 1 . ) V o y a g e au centre de la terre. In A u s z ü g e n mit A n m e r k u n g e n z u m Schulgebrauch hg. v o n G. Opitz. Bielefeld: Velhagen & Klasing 1884. (= Prosateurs français 4 3 . )
Ein weiteres Indiz für die Kanonisierung Vernes sind die zahlreichen Publikationen in Buchreihen seit den achtziger Jahren. Verne wurde aber nicht zum reinen Jugendbuchautor. Hartleben warb für seine Romane in den Verlagsanzeigen, die in den frühen Bänden der Collection Verne enthalten sind, indem er sie als spannende und belehrende Lektüre für „Jung und Alt", für die ganze Familie pries. Dasselbe Zielpublikum hatten auch die meisten Buchreihen. Von Anfang an läßt sich bei Verne eine parallele Rezeption durch Kinder und Erwachsene feststellen. 32 Wolfgang Thadewald hat den Abdruck dreier Romane Vernes in Fortsetzungen in der Augsburger Abendzeitung eruiert: Der Kurier des Czaar. In: Der Sammler. Belletristische Beilage zur Augsburger Abendzeitung. Nr. 135,21. 11. 1 8 7 6 - N r . 152,30. 12. 1876 und Nr. 1,3. 1. 1877 Nr. 25, 27. 2. 1877; Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. In: ebenda, Nr. 91, 10. 8. 1878 - Nr. 137, 26. 11. 1878; Die fünfhundert Millionen der Begum. In: ebenda, Nr. 123, 16. 10. 1 8 7 9 - N r . 144, 4. 12. 1879. Ebenfalls Thadewald verdankt sich der Fund von Vorabdrucken Vernescher Romane in den Humoristischen Blättern: Reise durch die Sonnenwelt. In: Neue Fliegende. Beilage der „Humoristischen Blätter von K. Klic". Verlag von R. Spitzer. Wien, Leipzig. IV. Jg. Nr. 41,7. 10. 1877 bis Nr. 53,30. 12. 1877 und V. Jg. Nr. 1,6. 1. 1878 bis Nr. 19, 12.5. 1878; Die Leiden eines Chinesen. In: Neue Fliegende. Beilage der „Humoristischen Blätter von K. Klic". VII. Jg. Nr. 42, 19. 10. 1879 bis Nr. 52, 28. 12. 1879 und VIII. Jg. Nr. 1, 4. 1. 1880 bis Nr. 4, 1. 2. 1880. 33 In der redaktionellen Vorbemerkung zu Ein Kapitän von fünfzehn Jahren heißt es: „Indem wir unseren Lesern nach den politischen Kämpfen und Aufregungen der jüngsten Zeit diesen sich auch von der leisesten Berührung politischer und sozialer Tagesfragen fern haltenden Roman bieten, glauben wir ihnen damit einen Gefallen zu tun." Der Sammler. Belletristische Beilage zur Augsburger Abendzeitung. Nr. 91, 10. 8. 1878, S. 1. Als dieselbe Zeitung ein Jahr später Die fünfhundert Millionen der Begum abdruckte, sah sich die Redaktion zu einer ausdrücklichen Distanzierung von der deutschfeindlichen Tendenz des Romans veranlaßt. Vgl.: ebenda, Nr. 123,16.10.1879, S. 2.
2. Vernes Präsenz am deutschsprachigen Buchmarkt
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Aber nicht nur hinsichtlich des Alters ist die Verne-Rezeption auf keine klar abgegrenzte Gruppe beschränkt. Auch sozial war sie breit gestreut. Die vielen unterschiedlich ausgestatteten Ausgaben und eine dementsprechend breite Preisskala sollten alle damals in Frage kommenden Käuferschichten ansprechen.34 Hartleben bot parallel zur teuren „Illustrierten Prachtausgabe" die in Leinen gebunden oder broschiert erhältlichen Bände der Reihe Julius Vernes Schriften und ab 1887 die Collection Verne an, die, wie der Verlag betont, „durch ihre beispiellose Wohlfeilheit Jedermann die Anschaffung ermöglicht".35 Außerdem offerierte Hartleben unter dem Titel Gesammte Schriften, lllustrirte Volks- und Familienausgabe eine Lieferungsausgabe seiner (in Leinen oder broschiert erhältlichen) Buchreihe Julius Verne's Schriften, die es einer sozial schwachen Leserschaft ermöglichte, die Romane aufgeteilt in mehreren Heften zu kaufen. Auch die „Prachtausgabe" war in solchen Lieferungen erhältlich. Ihr Vertrieb erfolgte zu einem guten Teil durch hausierende Kolporteure und erreichte so eine Leserschaft, die kaum Buchhandlungen frequentierte. Am erfolgreichsten wurde aber die 98bändige Collection Verne: Viele Bände erreichten sehr hohe Auflagenzahlen, Band 3, wie oben erwähnt, die höchste: 81 Auflagen. 36 Den Preis von 75 Pfennig bzw. 50 Kreuzer (einer Krone) für den broschierten und einer Mark bzw. 65 Kreuzer (einer Krone und 30 Heller) für den in Leinen gebundenen Band hat Hartleben bis zum Ende unverändert beibehalten. Veranlaßt wurde diese preisgünstige Ausgabe durch die drohende Konkurrenz eines Billiganbieters37:
34 Für einen Bücherkauf kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich die Oberund Mittelschicht in Frage. Die Unterschicht hatte dazu meist weder die ökonomischen noch die schulischen Voraussetzungen. Vgl.: Reinhard WITTMANN: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750-1880. Tübingen 1982, S. 192-231. 35 Verlagswerbung für die Collection Verne. In: POPP, 1909 (Anm. 26), S. 216. Broschiert kostete der Band eine Krone oder 75 Pfennige, gebunden eine Krone und dreißig Heller oder eine Mark. 36 Zu den Auflagenzahlen der einzelnen Bände vgl.: THADEWALD, 1992 (Anm. 25), S. 6-36. 37 Der damalige Leiter der Firma Hartleben, Eugen Marx, schrieb am 17. 2. 1887 an Peter Rosegger, der zu dieser Zeit bei Hartleben verlegt wurde: „Der berüchtigte .Verleger' Alfred Unflad in Leipzig, wegen gewerbsmäßiger Verbreitung unzüchtiger Literatur schon wiederholt mit Kerkerstrafe belegt, [...] beginnt meinen Julius Verne nachzudrucken, an dem ich (bisher 46 Bände, weitere 5 unter der Presse) seit 15 Jahren baue. Da der deutsch-französische Vertrag Uebersetzungen nur 10 Jahre lang schützt, bin ich verloren und nur auf den zweifelhaften Schutz des deutschen Buchhandels angewiesen. Nebstbei muß ich, um nicht ganz verdrängt zu werden, meine Preise auf 1/3 reduciren. In den vorhandenen enormen Vorräthen von Verne liegt ein großer Theil des Capitals, welches wir seit langem auf diese Unternehmung verwendeten." Nachlaß Peter Rosegger: Steiermärkische Landesbibliothek Graz. Zitiert nach: Karl WAGNER: Die literarische Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Völksschriftsteller Peter Rosegger. Tübingen 1991, S. 179. Wagner verweist auch (S. 180) auf eine Reihe von 1887 in der Osterreichischen Buchhändler-Correspondenz erschienenen Beiträgen, die den Streitfall dokumentieren. Dieser wird im Detail nachgezeichnet von: Martin BRUNY: Die Verlagsbuchhandlung A. Hartleben. Eine Monographie. Wien (masch. Diplomarbeit) 1995, S. 122-131.
42
A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Im Februar 1887 kündigte der U n f l a d Verlag g l e i c h drei R o m a n e v o n Verne an: Reise die Erde in 80 Tagen, Von der Erde zum Mond in 97 Stunden
und Fünf Wochen im
um Reich
der Lüfte, die j e w e i l s 1 Mark kosten sollten. D i e s e Titel lagen auch bei Hartleben vor, allerdings in der preiswertesten A u s g a b e für i m m e r n o c h 2 , 7 0 Mark. D o c h Hartleben reagierte sofort und bot innerhalb v o n nur einer W o c h e seine ersten zehn Verne-Titel für 7 5 Pfennig pro Band in einer neuen A u f m a c h u n g unter d e m neuen N a m e n C O L L E C T I O N V E R N E an. [ . . . ] N a c h w e n i g e n Tagen setzte Unflad seinen Preis auf 6 0 Pfennig herab, d o c h weigerten sich alle Buchhändler, seine Titel zu v e r k a u f e n . 3 8
Dieser weitgehende Boykott der Unfladschen Verne-Ausgaben 39 war ein Erfolg der vom Hartleben-Verlag mit moralischer Entrüstung geführten und von der Redaktion der Osterreichischen Buchhändler-Correspondenz unter40 stützten Kampagne zur Wahrung der eigenen Geschäftsinteressen. Nicht weniger energisch und besonders rasch war Hartlebens verlegerische Reaktion. Schon im Februar erschienen die ersten, im März die zweiten zehn Bände der Collection Verne. Bis zum Juli waren bereits 40 Bände auf dem Markt.41 Die Verdrängung Unflads von der Verne-Vermarktung wurde auch durch eine gerichtliche Entscheidung gefördert. Ein Urteilsspruch des Wiener Schwurgerichts vom 23. November 1887 sprach den Leiter des HartlebenVerlags, Eugen Marx, und den Redakteur der Österreichischen BuchhändlerCorrespondenz, Anton Einsle, von der Anklage wegen Ehrenbeleidigung, die der Verleger Unflad und ein Wiener Buchhändler erhoben hatten, frei. 42 Damit bekräftigte das Gericht indirekt die vom Hartleben-Verlag für Verne erworbenen Übersetzungsrechte, obwohl diese rein juristisch nur zehn Jahre 38 THADEWALD, 1992 (Anm. 25), S. 1. Eine Präzisierung ergibt sich aus einem anonym erschienenen Artikel von Eugen Marx in der Osterreichischen Buchhändler-Correspondenz: „Die VerneNachdrucke von Albert Unflad in Leipzig (drei Bände vorläufig) sind bereits in Wien eingetroffen! Unter allen Firmen des Wiener Platzes hat sich nur eine einzige [gemeint ist die Buchhandlung Josef Deubler, R. I.] gefunden, welche dieser frechen Aneignung fremden Verlags-Eigenthums und Schädigung eines einheimischen Verlegers ihre Unterstützung leiht. [...] Wie wir nachträglich erfahren, laufen seit einigen Tagen in den Wiener Gasthäusern Hausirer herum, welche den Unfladschen Verne zum Preise von 25 Kreuzer pro Band ausbieten. Wer dieselben aussendet, ist leicht zu errathen [...]." Österreichische Buchhändler-Correspondenz. Nr. 11, 12. 3. 1887, S. 132. - Diese Vorwürfe führten zu einer Ehrenbeleidigungsklage (s. u.). 39 In Österreich-Ungarn erklärten 59 Wiener, 12 Grazer, 13 Budapester, 7 Linzer und 9 Brünner, in Berlin 30 Buchhandlungen öffentlich ihre Sympathie für Hartleben und ihre Weigerung, die Ausgaben von Unflad zu vertreiben. Vgl.: Österreichische Buchhändler-Correspondenz. Nr. 12, 13. 3. 1887, S. 148; Nr. 14, 2. 4. 1887, S. 175; Nr. 15, 9. 4. 1887, S. 191; Nr. 20, 14. 5. 1887, S. 258. 40 Vgl.: A[nton] E[INSLE]: Schutz dem österreichischen Verlage! In: Österreichische BuchhändlerCorrespondenz. Nr. 8, 19. 2. 1887, S. 94 f.; ebenda, Nr. 10, 5. 3. 1887, S. 120 f.; Nr. 12, 19. 3. 1887, S. 146-148; A[nton] EINSLE: Pro domo. In: ebenda, Nr. 48, 26. 11. 1887, S. 618-620. 41 Vgl. die Verlagsanzeigen in: Österreichische Buchhändler-Correspondenz. Nr. 8, 19. 2. 1887, S. 101; Nr. 11, 12. 3. 1887, S. 138; Nr. 18, 30. 4. 1887, S. 237; Nr. 28, 9. 7. 1887. 42 Die drei Kläger waren der Verleger Unflad, der Buchhändler Josef Deubler und dessen Geschäftsführer Julius Pollak. Die ersten beiden zogen ihre Klage vor Verhandlungsbeginn zurück. Zum Verlauf der Gerichtsverhandlung vgl.: Österreichische Buchhändler-Correspondenz. Nr. 49, 3. 12. 1887, S. 629-637.
2. Vernes Präsenz am deutschsprachigen Buchmarkt
43
lang geschützt und damit für die frühen Bände der Hartleben-Ausgaben nicht mehr wirksam waren. Unflad stellte seine Verne-Reihe nach den ersten drei Bänden ein. Bis zur Jahrhundertwende beherrschten die Hartlebenschen Verne-Ausgaben den deutschsprachigen Buchmarkt. 1901 startete der Weichen-Verlag eine neue, erfolgreiche Jules-Verne-Werkausgabe. Bis 1909 erschienen 74, von Paul und Walter Heichen neu übersetzte Bände. Diese Reihe wurde in der Mitte des ersten Jahrzehnts teilweise vom Leipziger Spaarmann-Verlag übernommen. 43 Doch auch der Hartleben-Verlag blieb nicht untätig. Er versuchte zwar nicht, den Vertrieb dieser Ausgaben - wie zuvor den der Unfladschen - zu verhindern, vergab aber eine Lizenz an die Leipziger Bibliographische Anstalt Adolph Schumann, die hauptsächlich Kaufhäuser belieferte. Dieser 82bändige Nachdruck der Hartlebenschen Collection Verne erschien unter dem Reihentitel Julius Verne's Reiseromane um 1905 und sollte wohl mit der ebenfalls vornehmlich in Kaufhäusern vertriebenen Weichert-Ausgabe konkurrieren. 44 Der Verkaufserfolg von Verne-Büchern war in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg durch drei Faktoren bedroht: - den allmählichen Aktualitätsverlust der wissenschaftlichtechnischen Infomationen, - die zunehmende Konkurrenz durch technische Zukunftsromane und populärwissenschaftliche Sachbücher deutschsprachiger Autoren und - den wachsenden deutschen Nationalismus. Weichert und seine Übersetzer haben diesen Gefahren durch gravierende Eingriffe in den Originaltext entgegenzusteuern versucht. So „ergänzte" der Übersetzer eine 1912 erschienene Ausgabe von Robur der Flieger mit zwei Kapiteln zur „Geschichte der Luftfahrt von den Anfängen bis zur Jetztzeit". 45 Bei der Übersetzung von Clovis Dardentor (1896) wurden die neuesten geographischen Entdeckungen in das Vernesche Original eingebaut. 46 Schon Hartleben hatte in seiner Zeitschrift Der Stein der Weisen mit dem Artikel Wie 43 Vgl.: Wolfgang THADEWALD: Jules Verne's Werke (Verlag Ad. Spaarmann). In: Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Verlags- und Reihenbibliographien (Anm. 14), 13. Erg.-Lfg. März 1991, S. 1-8. 44 Vgl.: Wolfgang THADEWALD: Julius Verne's Reiseromane. In: Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Verlags- und Reihenbibliographien (Anm. 14), 18. Erg.-Lfg. März 1993, S. 1-31. Thadewald weist auf eine merkwürdige Folge verlegerischer Schlampigkeit bei der Festlegung der Bandfolge hin: „In den Bänden 8 - 1 0 Die geheimnisvolle Insel stirbt Kapitän Nemo am Ende, aber in den nachfolgenden Bänden 18/19 Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer durchquert er wieder ganz lebendig mit der ,Nautilus' die Ozeane" (ebenda, S. 1). 45 Siehe oben, S. 34. Vgl. Wolfgang THADEWALD: Jules Verne's Werke (Verlag A. Weichert). In: Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Verlags- und Reihenbibliographien (Anm. 14), 13. Erg.-Lfg. März 1991, S. 2. 46 Vgl.: Walter HEICHEN: Einleitung zu: Jules VERNE: Clovis Dardentor. Roman. Jules Verne's Werke. Bd. 61. Berlin 1906, S. 3-11. Dazu: THADEWALD, 1991 (Anm. 43), S. 2.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
sich Jules Verne das Luftschiff der Zukunft vorstellt47 den im eigenen Verlag unter dem Titel Robur der Sieger erschienenen Roman als einen wissenschaftlichen Beitrag zur aktuellen Diskussion über Flugmaschinen betrachtet, ohne aber in späteren Auflagen des Romans irgendwelche „Überarbeitungen" vorzunehmen. Weichen stellte nun diese Romane Sachbüchern gleich, deren Informationen der Aktualisierung bedürfen. Nicht als Kunstwerke, denen gegenüber man dem Prinzip der Werktreue verpflichtet wäre, wurden sie aufgefaßt, sondern als Gebrauchsliteratur. Das der Veme-Leserschaft vom Verlag supponierte wissenschaftliche Informationsbedürfnis beansprucht Priorität vor jeder literarischen Werktreue. Weichert hat ebenfalls auf die letztgenannte Gefahr eines Nachlassens der Verne-Rezeption mit aktiver Anpassung an den vorherrschenden Trend reagiert. Jules Verne war einer der wenigen Autoren, die in Deutschland von einem negativen Vorurteil gegen die französische Literatur weitgehend verschont blieben. Trotzdem beschlossen Verleger und Übersetzer, antideutsche Äußerungen Vernes aus seinen Romanen vorsorglich zu tilgen. So wurde in Die 500 Millionen einer indischen Prinzessin ein Kapitel weggelassen 48 und Das Dorf in der Luft von Äußerungen gegen die Deutschen „gereinigt". 49
3.
Entlehnungen
Die Verbreitung eines Autors ist nicht allein an der Zahl der verkauften Bücher abzulesen. Bibliotheken und Leihbüchereien bildeten besonders für die unteren sozialen Schichten eine wichtige Alternative zum Buchkauf. Das diesbezügliche statistische Material ist für den Zeitraum bis 1914 zwar lückenhaft und teilweise ungenau, doch kann es als Indiz und Gradmesser dienen. Rudolf Schenda hat mit Recht festgestellt, daß Verne in den Wiener „Volksbibliotheken" (öffentlichen Bibliotheken) Anfang der neunziger Jahre zu den meistgelesenen Autoren gehörte. 50 Schenda kann sich dabei auf die statistischen Arbeiten Eduard Reyers berufen, der für diese Zeit Verne unter den 26 begehrtesten Autoren in den öffentlichen Wiener Bibliotheken auf-
47 Wie sich Jules Verne das Luftschiff der Zukunft vorstellt. In: Der Stein der Weisen (Wien/Pest/ Leipzig) 12, 1894, S. 330-336. 48 Vgl.: Paul Heichen: Vorwort zu: Jules Verne: Die 500 Millionen einer indischen Prinzessin. Roman. Jules Verne's Werke. Bd. 10. Berlin 1901, S. 3 f. Dazu: THADEWALD, 1991 (Anm. 43), S. 2. 49 Vgl.: Walter HEICHEN: Einleitung zu: Jules VERNE: Das Dorf in der Luft. Roman. Jules Veme's Werke. Bd. 64. Berlin 1907, S. 3. Dazu: THADEWALD, 1991 (Anm. 43), S. 2. 50 Vgl.: Rudolf SCHENDA: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt/M. 1970, S. 467.
3. Entlehnungen
45
führt. 51 Genaueres über die Reihenfolge der beliebtesten Autoren und über Entlehnzahlen teilt Reyer leider nicht mit. Im Zeitraum von 1900 bis 1903 rangiert Verne zwar noch unter den ersten 95, aber nicht mehr unter den ersten 23 Autoren. 52 Daß Verne aber auch noch nach 1900 zum festen Bestand der öffentlichen Volksbibliotheken gehörte, zeigt ein Musterverzeichnis von Büchern der schönen Literatur für Volksbibliotheken aus dem Jahr 1904, das auch Vernes Reise um die Erde in 80 Tagen enthält. 53 Auch in den gewerblich betriebenen Leihbibliotheken gehörte Verne zu den Erfolgsautoren. Die Leihbibliothek im Kaufhaus des Westens (Berlin) führte 91 Bände von Verne, der damit der Autor mit dem höchsten Bestand war. In den Bestandsverzeichnissen von zehn großen kommerziellen Leihbüchereien Deutschlands und Österreichs zwischen 1882 und 1907 scheint Verne ausnahmslos unter den Spitzenreitern auf. 54 In 28 von den 45 deutschsprachigen Leihbibliothekskatalogen der Jahre 1879 bis 1915, die Alberto Martino ausgewertet hat, rangiert Verne unter den Spitzenreitern. 55 Eine noch prominentere Stelle nimmt Verne in den Arbeiterbüchereien ein. Arbeitervereins- und Gewerkschaftsbibliotheken begannen sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auszubreiten. Die Verne-Lektüre scheint dem allerdings spärlichen statistischen Material zufolge unter Arbeitern ihren Höhepunkt ein bis zwei Jahrzehnte später als im Durchschnitt der „Volksbibliotheken" erreicht zu haben. In einer Benützerstatistik der Arbeiterbüchereien des X., XII. und VI. Wiener Gemeindebezirks für das Jahr 1908 steht Verne jeweils an erster Stelle vor Zola bzw. Rosegger. 56 1910 und 1911 führte in der zentralen Arbeiterbücherei des XII. Bezirks (Meidling) immer noch
51 Eduard REYER: Fortschritte der Volkstümlichen Bibliotheken. Leipzig 1903, S. 99 f. 52 Ebenda, S. 101. 53 Ernst SCHULZE: Musterverzeichnis von Büchem der schönen Literatur für Volksbibliotheken. In: Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen 5 (1904), S. 143-151. Vgl.: Georg JÄGER, Valeska RUDEK: Die deutschen Leihbibliotheken zwischen 1860 und 1914/18. Analyse der Funktionskrise und Statistik der Bestände. In: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Einzelstudien, Teil 2. Hg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe „Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770-1900" von Monika Dimpfl und Georg Jäger. Tübingen 1990 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 28), S. 188-295; hier S. 229. 5 4 V g l . : JÄGER/RUDEK, 1 9 9 0 ( A n m . 5 3 ) , S . 2 6 6 u n d 2 7 2 .
55 Vgl.: Alberto MARTINO: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914). Mit einem zus. mit Georg Jäger erstellten Verzeichnis der erhaltenen Leihbibliothekskataloge. Wiesbaden 1990 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 29), S. 3 5 5 - 3 9 7 . - F ü r den Zeitraum von 1889 bis 1914 nimmt Verne mit 1.248 Bänden die 14. Stelle unter den erfolgreichsten Autoren ein, unter den ausländischen Erfolgsautoren in deutscher Übersetzung die 4. Stelle (ebenda, S. 412 und 747). In den deutschsprachigen Abteilungen der Wiener Leihbüchereien der Jahre 1889-1915 belegt Verne die 5. Stelle, in den fremdsprachigen Abteilungen die 9. (ebenda, S. 850 und 853). 56 Vgl.: Bildungsarbeit. Blätter für das Bildungswesen der deutschen Sozialdemokratie in Österreich. 1. Jg. 1909/10, Nr. 4, Januar 1910, S. 5. Zur sozialistischen Kulturpolitik vgl.: Alfred PFOSER: Literatur und Austromarxismus. Wien 1980.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Verne vor Zola.57 In einer Statistik aller Wiener Zentralbibliotheken (der Arbeiterbibliotheken) für das erste Halbjahr 1913 steht Verne an zweiter Stelle knapp hinter Rosegger und vor Zola, Ganghofer und Gerstäcker.58 Nicht viel schlechter schneidet Verne Ende des 19. Jahrhunderts in den deutschen Arbeiterbibliotheken ab. A. H. Th. Pfannkuches Enquete berücksichtigt die Entlehnziffern von 37 Gewerkschafts- und sozialdemokratischen Arbeitervereinsbibliotheken in Deutschland zwischen 1891 und 1899. Hier nimmt Verne unter den meistgelesenen Autoren den dritten Platz hinter Zola und Bebel und vor Marlitt und Gerstäcker ein.59 Ein weiteres Indiz der Wertschätzung Vernes durch die Arbeiterbewegung ist der Abdruck des Romans Der Kurier des Zaren 1905 in dem sozialistischen Periodikum In freien Stunden. Warum Vernes Werke gerade auch von den Arbeiterbibliotheken häufig angekauft wurden, ist erklärungsbedürftig. Denn diese Romane vermitteln keineswegs sozialistische Inhalte, sondern sind eher einer bürgerlichen, oft religiös eingefärbten Weltanschauung verpflichtet. Manfred Nagl vermutet zwei Gründe: Neben dem allgemeinen Mangel an unterhaltender und zugleich belehrender Literatur über Naturwissenschaft und Technik dürfte vor allem das Utopie-Verbot des Sozialismus, das den bürgerlichen Autoren eine Monopolstellung bescherte, dazu beigetragen haben, daß Vernes Romane zu dieser Zeit auch eine bevorzugte Lektüre der Arbeiterschaft wurden. 60
Der zweite von Nagl genannte Grund erscheint weniger zwingend zu sein. Zwar haben sich Marx und Engels immer wieder gegen utopische Schwärmerei und die willkürliche Konstruktion zukünftiger Gesellschaftssysteme ausgesprochen und dagegen betont, man müsse vom Bestehenden und den ihm zugrunde liegenden Gesetzen ausgehen, um effektiv eingreifen und revolutionäre Veränderungen herbeiführen zu können.61 Doch hat sich die 57 Vgl.: Bildungsarbeit. 2. Jg. 1910/11. Beilage zur Aprilnr. 1911, S. IX; Robert DANNEBERG: Die Wiener Arbeiterbibliotheken. In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift. 4. Bd. 1910/11. Wien 1911, S. 320-326; hier S. 325; Bildungsarbeit. 4. Jg. 1912/13, Nr. 1/2, September 1 9 1 2 , S. 7 . 58 Vgl.: Bildungsarbeit. 5. Jg. 1913/14, Nr. 1/2, September 1913, S. 15. Weiteres statistisches Material zu den Wiener Arbeiterbibliotheken 1892-1913 hat Alberto Martino tabellarisch zusammengestellt. Vgl.: MARTINO, 1990 (Anm. 55), S. 900-914. 59 Vgl.: A. H. Th. PFANNKUCHE: Was liest der deutsche Arbeiter? Tübingen, Leipzig 1900, tabellarischer Anhang. - In einer Statistik der meistgelesenen Autoren Schöner Literatur in sozialdemokratischen und freigewerkschaftlichen Bibliotheken Deutschlands 1908-1914, die Berichte aus dem Bibliothekar (Jge. 1-7,1909-1915) auswertet, nimmt Verne die 6. Stelle ein. Vgl. MARTINO, 1 9 9 0 ( A n m . 5 5 ) , S . 5 4 3 . 6 0 NAGL, 1 9 7 2 ( A n m . 2 ) , S . 6 2 .
61 Ein sozialistischer Schlüsseltext dafür ist Friedrich ENGELS: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. In: Karl MARX, Friedrich ENGELS: Werke. Bd. 19. Berlin 1962, S. 1 7 7 - 2 2 8 .
3. Entlehnungen
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Arbeiterbewegung keineswegs strikt an ein solches „Utopieverbot" gehalten. Die sozialistische Utopie des Amerikaners Edward Bellamy, Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf1887 (Leipzig 1890) 62 , wurde von Arbeiterbibliotheken in mehreren Exemplaren angekauft und wurde viel gelesen. 63 Und auch eines der von der Arbeiterschaft vielgelesenen Bücher, August Bebels Die Frau und der Sozialismus (1883) 64 , verzichtet am Ende nicht auf einen utopischen Ausblick, wenn auch die Gesetzmäßigkeit der Verwirklichung dieser Zukunftsvision hervorgehoben wird. Vermutlich waren es in erster Linie evasive Bedürfnisse, der Wunsch nach Entlastung und imaginärem Ausbruch aus einem bedrückenden Alltag, die die Vorliebe der Arbeiterschaft für Reise- und Abenteuerliteratur erklären. Die Exotik der Verneschen Romane bietet eine Fluchthilfe aus dem Elend der sozialen und politischen Realität. Die Männergruppen in Vernes Abenteuerromanen sind Modelle der Solidarität und sozialen Harmonie, in denen jeder Egoismus überwunden ist und die Bereitschaft gegenseitiger Aufopferung herrscht. Gerade der sozial unterprivilegierte Leser findet in diesen Romanen die Möglichkeit der Identifikation mit Helden, die mit Hilfe neuester technischer Mittel unerhörte Taten vollbringen, die Bösen besiegen und für Gerechtigkeit sorgen. Die sozialistische Bildungspolitik konnte diese Bedürfnisse nicht ignorieren. Alfred Pfoser betont: Die Arbeiterbüchereien, wollten sie keine Spezialbüchereien bleiben, konnten an den Massenerfolgen der Abenteuerliteratur nicht vorbeigehen. Man mußte, wollte man die Leser nicht verlieren, solche Romane in den Regalen stehen haben. Nur eine Möglichkeit blieb: die Selektion. 65
Warum wurde gerade Verne ausgesucht? Warum ist Verne niemals zum Opfer des auch von sozialistischer Seite betriebenen „Schundkampfes" geworden wie etwa Karl May? Zur ersten Frage: Rudolf Schenda hat für das 19. Jahrhundert einen gravierenden Mangel an populären Sachbüchern über aktuelle technische Fortschritte und Erfindungen konstatiert. 66 Der „Informationsexhibitionismus" 67 in den Verneschen Romanen sei dem Bedürfnis der Leser nach wissenschaftlichen und technischen Sachinformationen entgegengekommen. Schendas Befund ist mit einer wichtigen Ergänzung zuzustimmen: Tatsächlich fehlte es an gemeinverständlichen Sachbüchern über Naturwis62 Amerikanische Originalausg.: Edward BELLAMY: Looking Backward 2000-1887. New York 1888. 63 Vgl.: Alfred PFOSER: Literatur und Austromarxismus. Wien 1980, S. 133 f. 64 Das Buch erlebte (in Stuttgart bei Dietz) zahlreiche Auflagen: lO.Aufl. 1891, 27. Aufl. 1896,34. Aufl. 1903, 50. Aufl. 1910. 6 5 PFOSER, 1 9 8 0 ( A n m . 6 3 ) , S . 134. 6 6 SCHENDA, 1 9 7 0 ( A n m . 5 0 ) , S . 3 2 3 .
67 Ebenda.
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senschaft und Technik. Zugleich aber erschienen gegen Ende des Jahrhunderts mehrere, zum Großteil neu gegründete Periodika, deren Schwerpunkt neben Reiseberichten neue Erfindungen und Entdeckungen bildeten. 68 Diese Publikationen, die ihrerseits populärwissenschaftliche Berichte und literarische Erzählungen beinhalteten, sind nicht als Konkurrenz zu den technischen Abenteuerromanen eines Verne zu verstehen. Vielmehr dürfte die Lektüre solcher Zeitschriften das Interesse an den Romanen erhöht, wenn nicht überhaupt geweckt haben. Periodika wie Das neue Universum, Der Stein der Weisen, Neueste Erfindungen in Bild und Wort, Neueste Erfindungen und Erfahrungen, Neuland des Wissens oder Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens konnten die Grundlage für ein weiteres wissenschaftlich-technisches Informationsbedürfnis legen und damit auch die Neugier auf den „technischen Zukunftsroman" erregen. Warum Verne nicht wie etwa Edgar Wallace oder Karl May 69 einer ideologiekritischen Verurteilung durch die sozialistischen Kulturpolitiker anheimfiel, liegt an einem positiven Vorurteil, das sie dem Verfasser von „naturwissenschaftlichen Romanen" gegenüber hegten. Dieses Etikett sicherte Verne eine wohlwollende Aufnahme in der Arbeiterbewegung. Denn nach der marxistischen Theorie mußte der wissenschaftliche und technische Fortschritt, die Entfaltung der Produktivkräfte zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung führen. Verne wurde, wie von einem großen Teil der zeitgenössischen Kritik, ein Fortschrittsoptimismus unterstellt, der sich bei genauerem Betrachten seines Werks als äußerst fragwürdig erweist. Aber die Rubrizierung Vernes als eines Verfechters des naturwissenschaftlichtechnischen Fortschritts machte ihn zum potentiellen Verbündeten des sich als „wissenschaftliche" Gesellschaftstheorie verstehenden Sozialismus im Kampf gegen den Kapitalismus. Auch die bürgerliche Kampagne gegen „Schmutz und Schund" hat Jules Verne vollkommen verschont. Er erhielt im Gegenteil schon bald das Image „guter Unterhaltungsliteratur". Das fast völlige Fehlen erotischer Passagen in seinen Romanen schien ihn in den Augen der „Schundkämpfer" besonders für eine jugendliche Leserschaft geeignet zu machen. Die frühzeitige Kanonisierung als Schullektüre für den Fremdsprachenunterricht machte Verne auch gegen eine mit ästhetischen Kriterien operierende Schundkritik immun. Und nicht zuletzt schützte Verne die in der Regel „seriöse" Aufmachung 68 Von den in der Fachzeitschrift für den Colportage-Buchhandel im Zeitraum zwischen 1890 und 1910 verzeichneten Periodika legen zehn ihren Schwerpunkt auf Technik, Naturwissenschaft und Reisen. 69 Zu den Auseinandersetzungen um Karl May innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie vgl.: PFOSER, 1980 (Anm. 63), S. 137-141. Zur zeitgenössischen May-Rezeption vgl.: Hainer PLAUL: Literatur und Politik. Karl May im Urteil der zeitgenössischen Publizistik. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1978. Hamburg 1978, S. 174-255.
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seiner Bücher, im Gegensatz zu der Groschenheftserie Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff, die zwischen 1908 und 1911 erschien und in programmatischer Nachfolge Vernes Flugabenteuer über der Erde und im Weltraum präsentierte. Es war weniger die geringere literarische Qualität, die den Luftpiraten wie viele andere billige populäre Lesestoffe zum Opfer des „Schundkampfes" prädestinierte 70 , sondern die verpönte Vermarktung als Groschenheft.
4. Theater und Film Zum Erfolg Vernes trug wesentlich der „Medienverbund" von Text, Illustration, Theater- und Operettenaufführung sowie Film bei, denn die verschiedenen Medien stimulierten gegenseitig die Rezeption. 71 Verne hat seine schriftstellerische Karriere als Verfasser von leichten Komödien und von Operettenlibretti zunächst mit nur bescheidenen Erfolgen begonnen, viele dieser kleinen Werke sind unaufgeführt geblieben. Wie er als Romanschriftsteller erst durch seine Voyages extraordinaires reüssierte, so brachten auch auf der Bühne die Dramatisierungen der Verneschen Erfolgsromane den Durchbruch. In Frankreich wurden die Bühnenfassungen, die Verne zusammen mit Adolphe d'Ennery erarbeitete, zu lang anhaltenden Publikumserfolgen. Im Théâtre de la Porte-St-Martin in Paris erlebten Le tour du monde en 80 jours (Premiere: 7. 11. 1874) 415, Les enfants du capitaine Grant (26. 12. 1878) 113, Michel Strogoff (17. 11. 1880) 386 aufeinanderfolgende Aufführungen. 72 Diese Ausstattungsstücke wurden mit ungeheurem Aufwand inszeniert: [...] 1200 Kostüme werden [für Michel Strogoff, R. I.] angefertigt, 30 Pferde geritten, und zeitweilig stürmen 400 Personen auf die Bühne. 7 3
Le tour du monde en 80 jours wurde nach einer kurzen Pause „wiederaufgenommen und von der Bühne verschwinden soll es erst zu Beginn der drei70 Zu den diese Heftreihe betreffenden „Schundsammelaktionen" und polizeilichen Verboten vgl. : Ernst SCHULTZE: Die Schundliteratur. Ihr Wesen. Ihre Folgen. Ihre Bekämpfung. 2., stark verm. Aufl. Halle a. d. S. 1911, S. 27; Heinz J. GALLE: Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff. In: Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Verlags- und Reihenbibliographien. Hg. von Heinrich Wimmer unter ständiger Mitarbeit von Werner Hoof und Wolfgang Thadewald. Meitingen 1987 ff. 15. Erg.-Lfg. Nov. 1991, S. 1-23; hierS. 1. 71 Dazu kamen noch photographische Porträts des Autors, die von mehreren Kunstverlagen angeboten wurden, sowie Gesellschaftsspiele zur Reise um die Erde in 80 Tagen und zu Zwanzigtausend Meilen unterm Meer. — Manfred Nagl hat am Beispiel der Science Fiction den Übergang von einer Massenliteratur zu einem Massenmedium seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dargestellt: SF. Ein Segment populärer Kultur im Medien- und Produktverbund. Tübingen 1981. (= Literatur-wissenschaft im Grundstudium 5.) 72 Diese Angaben stammen von DEHS, 1993 (Anm. 3), S. 146 f. 73 Ebenda, S. 77.
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ßiger Jahre des nächsten Jahrhunderts". 74 Solche spektakulären Inszenierungen im Stil eines prunkvollen Illusionstheaters trugen entscheidend zum Ruhm und Wohlstand des Autors bei. Die Megalomanie dieser Produktionen liegt auf einer Linie, die sich bis zur Ästhetik der Hollywoodfilme weiterverfolgen läßt. Sie sind aber auch als ein populäres Pendant zum gleichzeitig von Richard Wagner vertretenen Programm des Gesamtkunstwerks zu verstehen. Es ist zu vermuten, daß diese theatralischen Kassenschlager von Verne noch mehr Menschen erreichten als seine Bücher. Der Text trat dabei hinter den opulenten Bühnenbildern und -effekten zurück: [ . . . ] der dünne Faden der Erzählung [...] bildet nur den verbindenden Text zu etwa zwanzig Tableaux, die aber an Naturtreue, an Schönheit der Ausführung, an Pracht der Darstellung, an Glanz und Reichtum, an Phantasie und poetischer Intention Alles übertreffen, was in diesem Genre bisher zu sehen war. 7 5
heißt es in einem Bericht über die Aufführung des Tour du monde en 80 jours im Théâtre de la Porte-St-Martin. Grell kostümierte Paraden, Tänzerinnen, Akrobaten und, als größte Sensation, ein aus London importierter Elefant traten auf. Künstliche Schlangen umringelten ihre Opfer, ein Eisenbahnzug mit dampfender und rasselnder Lokomotive wurde von Indianern überfallen, ein Dampfschiff versank auf stürmischer See: Diese Szenen vereinigten sich zu einem sechseinhalbstündigen großartigen Spektakel, einer „pièce à trucs", deren Hersteller ein zeitgenössischer Rezensent benannte: [ . . . ] Decorateur w i e Maschinist haben keine Gelegenheit versäumt, ihre Kunst in vollem Glänze zu offenbaren. 7 6
Eine belehrende Wirkung konnte diesen exotischen, zirzensischen Darbietungen kaum zugeschrieben werden. Bei den Bühnenversionen der Verneschen Romane war die Prävalenz des Unterhaltungswertes über den didaktischen unbestreitbar. Ein Rezensent der Neuen Freien Presse spricht daher das Verdikt aus: Mit der Dramatisierung ist nämlich die Existenz-Berechtigung der Verne'sehen Arbeiten dahin, denn das Belehrende, das Didaktische, worin eben ihr Vorzug liegt, kann im Drama gar nicht gebraucht werden. 7 7
Die Feststellung der Überflüssigkeit der Bühnenversion hindert den Kritiker
74 75 76 77
Ebenda. Julius WALTER: Pariser Briefe. In: Bohemia Nr. 323, 24. 11. 1874, Beilage S. 1 f.; hier S. 1. „Die Reise um die Erde". In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 3668, 11. 11. 1874, S. 7. A. K.: Zwei Welt- und Wettreisen. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 3672. 15. 11. 1874, S. 1-4; hierS. 1.
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aber nicht, in neun Spalten „unter dem Strich" die Pariser Aufführung des Tour du monde in allen Details zu rekapitulieren. Die breite Rezeption der Verneschen Spektakelstücke scheint ein Indiz dafür zu sein, daß die Prävalenz der Bildlichkeit über die Schrift in der Populärkultur bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts datiert. Die üppigen Bilder des Illusionstheaters erzeugten eine andere Art von „Realitätseffekt" als den, welchen die Romane durch die Integration wissenschaftlicher Diskursformen zu erzeugen versuchen. Schon in der zeitgenössischen deutschsprachigen Kritik wurde der Erkenntniswert dieser Stücke bestritten und ihr Schauwert herausgestellt. Die Rezension in der Prager Bohemia liefert dafür einen weiteren Beleg: [...] wenn aber französische Kritiker sagen, daß das Stück einen langen geographisch-naturwissenschaftlichen Cursus aufwiegt und sehr bildend wirkt, so kann das nur da der Fall seyn, wo man den Homer aus Offenbach's Operetten studirt.78
D'Ennerys Erfolgsrezept waren Rührung und Pathos, die er massiv einzusetzen wußte. Diese Ingredienzen ersetzten zusammen mit einer grellen Exotik die naturwissenschaftlich-technischen Elemente, die oft Vernes Romane strukturieren. Das wird besonders in der Bühnenversion des Tour du monde en quatre-vingts jours manifest. Das Thema des Zeitdrucks, die präzisen Zeit- und Wegmessungen, die funktionale Korrelation von verbrauchter Zeit und zurückgelegter Strecke spielen in dieser Dramenversion keine Rolle. Was im Roman als retardierendes Hindernis auf einer möglichst schnell zu überwindenden Wegstrecke auftritt, wird im Theater zum in allen Einzelheiten ausgeschmückten Tableau. Die Reise selbst ist nur ein Vorwand und ein nebensächliches Mittel, um die Reihe der spektakulären exotischen Bilder miteinander zu verknüpfen. Auch im deutschen Sprachraum waren es hauptsächlich die in Zusammenarbeit mit d'Ennery erstellten Dramatisierungen, die auf die Bühnen gelangten. Die deutschen Übersetzungen erschienen aber erst gut zehn Jahre nach den ersten Aufführungen Vernescher Stücke im deutschen Sprachraum gedruckt im Reclam-Verlag, beim Kurier des Czaaren ohne Angabe der Mitautorschaft d'Ennerys: Die Reise um die Erde in achtzig Tagen nebst einem Vorspiel Die Wette um eine Million. Ausstattungsstück mit Gesang, Tanz, Evolutionen und Aufzügen in 5 Abteilungen und 15 Tableaus von d'Ennery und Jules Verne. Musik von C. A. Raida. Leipzig: Reclam 1886. (= Reclams Universal-Bibliothek 2208.) 18. Aufl. 81. Tsd. 1914. 19. Aufl. 86. Tsd. 1924. 79 78
WALTER, 1 8 7 4 ( A n m . 7 5 ) , S . 2 .
79 Die Auflagenzahlen der bei Reclam erschienenen Theaterfassungen hat mir Wolfgang Thadewald mitgeteilt. Dieser hat ein diesbezügliches Verzeichnis im Archiv des Reclam-Verlages eingesehen. Volker Dehs verdanke ich Hinweise auf schwer zugängliche veröffentlichte Theaterbearbeitungen Vernes.
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Die Kinder des Kapitän Grant. Ausstattungsstück in 12 Bildern von Jules Verne und d'Ennery. Deutsch bearb. von R. Schelcher. Leipzig: Reclam 1887. (= Reclams UniversalBibliothek 2229.) 10. Aufl. 32. Tsd. 1911. Der Kurier des Czaaren. Ausstattungsschauspiel mit Aufz., Gesang und Tanz in 10 Bildern nach Jules Verne's Roman: „Michael Strogoff* von R[udolf] Elcho. Bearb. des Viktoriatheaters in Berlin [Textbuch], Leipzig: Reclam [1889]. (= Reclams UniversalBibliothek 2573.) 7. Aufl. 23. Tsd. 1910.
Schon aus den Auflagenzahlen geht deutlich hervor, daß Die Reise um die Erde das bei weitem erfolgreichste Stück war. Teilweise vor den Reclam-Ausgaben erschienen andere Bearbeitungen für das Theater: Die Reise um die Welt in 80 Tagen. Posse mit Gesang in 1 Akt, von Otfried Mylius [Carl Müller], Musik: R. Thiele. Berlin: A. Kühling 1876. (= Theater-Specialität, H. 1.) Die Kinder des Kapitain Grant. Reise um die Erde in 9 Bildern mit Gesang und Tanz. Nach Jules Verne's Roman für die Bühne bearbeitet von Dr. Gustav Braun [Martin Böhm]. Berlin: M. Böhm 1882. Reise um die Erde in 80 Tagen. Schwank in 6 Bildern, nach Jules Verne u. a. frei bearb. Paderborn: Schöningh 1906. (= Sammlung leicht aufführbarer Theaterstücke 8.)
Die Aufführungen von Bühnenwerken von oder nach Jules Verne setzte schon Mitte der siebziger Jahre ein. Bereits im November 1873 brachte das Wiener Stadttheater Vernes Drama Ein Neffe aus Amerika (Un neveu d'Amérique ou les deux Frontignac).so Aber auch im deutschen Sprachraum waren es die Dramatisierungen der bekannten Verne-Romane, die die Bühnen eroberten. Die Reise um die Erde in 80 Tagen wurde 1875 im Wiener Carltheater 108mal ohne Unterbrechung aufgeführt und blieb auch weiterhin im Repertoire. 1880 wurde das Stück nochmals zwei Monate hindurch gegeben. 81 Schon 1875 feierte Die Reise um die Erde im Carltheater, einem Nachruf zufolge, so große Erfolge, daß sie Jules Verne einen dauernden Platz in der Wiener Theatergeschichte sichert. 82
Ein anderer Nachrufverfasser behauptet sogar, diese Wiener Aufführung habe „internationale Berühmtheit"83 erlangt. An dem pompösen Ausstat80 Rudolf TYROLT: Chronik des Wiener Stadttheaters 1872-1884. Ein Beitrag zur deutschen Theatergeschichte. Wien 1889, S. 237. - Dasselbe Stück wurde 1875 unter dem Titel Die beiden Frontignac im Berliner Residenz-Theater aufgeführt. Vgl.: Illustrirte Zeitung. 65. Bd. Nr. 1 6 7 4 , 3 1 . 7 . 1875, S. 87. 81 Vgl.: Leopold ROSNER: Fünfzig Jahre Carl-Theater (1847-1897). Ein Rückblick. Wien 1897, S. 33 und 36. Vgl. auch: Die Reise um die Welt in 80 Tagen. Schauspiel von Jules Verne und A. Dennery. In: Illustrirte Zeitung. 64. Bd. Nr. 1669, 26. 6. 1875, S. 495. 82 Ludwig KARELL: Jules Verne. In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift. VIII. Jg., Nr. 15, 8. 4. 1905, S. 352-355; hier S. 354. 83 Jules Verne: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 14579, 25. 3. 1905, S. 13 f.; hier S. 14.
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tungsstück, dessen Carltheater-Version mit 13 Tableaux und dreistündiger Dauer zwar kürzer als die Pariser Aufführung, aber immer noch sehr aufwendig war, wurden besonders die „zauberschnell wechselnden DecorationsEffecte aus allen vier Welttheilen", die „mit technischer Vollendung in Scene gesetzt" 84 wurden, bewundert. Auch das Theater an der Wien brachte dieses Stück, in einer eigenen Bearbeitung für Kinder nach Verne/d'Ennery, bereits im März 1875 dreimal als Sonntagnachmittagsvorstellung.85 Der Titel wurde immerhin zur Inspirationsquelle der ein Jahr später inszenierten „Posse mit Gesang" Die Reise durch Wien in 80 Stunden von Hermann Salingre.86 Vernes Titel hatte also schon einen derartigen Signalcharakter, daß Autoren des Unterhaltungstheaters sich von seiner Abwandlung und Parodie Werbewirksamkeit versprechen konnten. Ebenfalls 1875 wurde im Berliner Viktoriatheater Die Reise um die Erde in 80 Tagen 150mal aufgeführt. Das Stück wurde außerdem in Leipzig gegeben.87 Das Wiener Carltheater spielte im März und April 1876 die „phantastischburleske Ausstattungskomödie" Nach dem Monde und unterm Meer, eine
Bearbeitung Vernescher Romane von Adolph L'Arronge und E Zell (d. i. Camillo Walzel, 1829-1895), zu der Franz von Suppe die Musik geschrieben hatte. Das Stück rivalisierte mit Jacques Offenbachs Reise in den Mond, die zur gleichen Zeit im Theater an der Wien aufgeführt wurde.88 Schon drei Jahre vor der Pariser Erstaufführung brachte das Wiener Carltheater 1877 eine dramatische Bearbeitung des Courier des Czaren auf die Bühne. Die Uraufführung dieser Bearbeitung von Csepreghy fand im Pester Volkstheater statt. Im Carltheater wurde das Stück 1877 fünfzigmal gespielt und 1879 nochmals zweiundzwanzigmal wiederholt.89 Eine große Publikumsattraktion dieser Aufführung war die - von der dramatischen
84 Reise um die Welt in achtzig Tagen. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 3807, 2. 4. 1875, S. 5 f.; hier S. 6. 85 Die Reise um die Welt in 79 Tagen. 14 Tableaux nach Verne und d'Ennery, bearbeitet. Berarbeitung: Feld. Musik: Adolph Müller sen. Theater an der Wien: 7. 3. 1875-21. 3. 1875. Vgl. dazu die „Theatemachrichten" AM Neuen Freien Presse. Siehe auch: Anton BAUER: 150 Jahre Theater an der Wien. Zürich/Leipzig/Wien 1952, S. 428. 86 Theater an der Wien: 26. 5. 1876-12.6. 1876. (6 Aufführungen.) Nach: BAUER, 1952 (Anm. 85), S. 430. Salingre (eigentlich Hermann Salinger, 1833-1879) verfaßte ein Jahr später auch: Die Reise durch Berlin in 80 Stunden. Gesangsposse in 3 Akten. Berlin: A. Kühling [1877], (= VolksSchaubühne, H. 38.) 87 Vgl.: Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne. In: Illustrirte Zeitung. 65. Bd. Nr. 1679,4. 9. 1875, S. 183. 88 Vgl.: ROSNER, 1897 (Anm. 81), S. 33; Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 4153, 19. 3. 1876, S. 8; Morgenblatt. Nr. 4167, 2.4. 1876, S. 8; Morgenblatt. Nr. 4177, 12.4. 1876, S. 8; siehe auch: Jules Verne (Nachruf). In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 14579, 25. 3. 1905, S. 13 f.; hier S. 14. 8 9 V g l . : ROSNER, 1 8 9 7 ( A n m . 8 1 ) , S . 3 4 .
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Handlung her völlig unmotivierte - Zirkusnummer einer amerikanischen Trapezkünstlerin 90 . Nach der Pariser Uraufführung am 26. 12. 1878 hatten Vernes und d'Ennerys Kinder des Kapitän Grant am 16. 3. 1879 im Berliner Viktoriatheater Premiere. Hier wurde das Stück bereits zum hundertfünfzigsten Mal gegeben, als im September 1879 die Inszenierung des Theaters an der Wien Premiere hatte. Diese Aufführung wurde siebenunddreißigmal wiederholt. 91 Anton Bauer hebt die „gediegene Ausstattung" des „Spektakelstückes" hervor: Bei dem Fest der Goldgräber im 8. Bild wirkten in dem vom Ballettmeister Henri Borri arrangierten Ballett außer den Solisten Sophie Coppifni] und Henri Borri noch mit: 32 Tänzerinnen vom Ballettkorps und 100 männliche und weibliche Figuranten. 92
Ein Theaterrezensent bezeichnete das Stück als „Lebensgefahr mit Ausstattung, das neueste Genre des Spektakelstückes" 93 . Bergrutsch und Erdbeben wurden bühnenwirksam vorgeführt. Auf das Abfeuern von Schüssen verzichtete man aber bald wieder, nachdem sich das „Damenpublicum" darüber beschwert hatte. 94 Auch hier war der Vorrang der Melodramatik vor einer bloß beanspruchten wissenschaftlichen Belehrung offensichtlich: Das Ausstattungsstück modernen Geschmackes, von dem man, um mit Nestroy zu sprechen: „während früher Alles recht war, jetzt Geographie und Geschichte prätendiert", ist übrigens völlig geeignet, ein Publicum, welches starke Emotionen im Theater verlangt, anzuziehen. 95
Die Wissenschaftsthematik wird als modische Zutat verstanden - ein Urteil, das auf die Inszenierung des Theaters an der Wien wohl tatsächlich zutrifft. In ihr traten auch Komiker des Wiener Theaters, darunter Girardi, auf und lockerten die Handlung mit „Wiener Couplets und österreichischen Liedern" auf, die, wie der Rezensent der Wiener Zeitung bemerkt, weder in England, noch in Patagonien landesüblich sind, aber den größten Beifall im Laufe des Abends fanden und die manchmal etwas allzu grausame Handlung vor dem Auffahren bewahrten. 96 90 Der Rezensent der Neuen Freien Presse mokiert sich zwar über „dieses Zwangsanlehen bei der Manège", widmet aber beinahe die Hälfte seiner Rezension ebendieser Attraktion: Theater- und Kunstnachrichten. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 4557, 4. 5. 1877, S. 6 f. 91 Die Kinder des Kapitän Grant. Großes Ausstattungsstück nach Verne und d'Ennery, deutsch bearbeitet. Bearbeiter: [R.] SCHELCHER. Musik: [Louis] ROTH. Theater an der Wien: 25. 9. 187916. 11. 1879. Vgl.: BAUER, 1952 (Anm. 85), S. 432; Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 5420, 28.9.1879, S. 8. Im Berliner Viktoriatheater fand am 18.11. 1879 die 200. Aufführung statt. Vgl.: Illustrirte Zeitung. 73. Bd. Nr. 1900, 29. 11. 1879, S. 447. 9 2 BAUER, 1 9 5 2 ( A n m . 8 5 ) , S. 191.
93 [Die Kinder des Capitäns Grant.] In: Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung. Nr. 224, 29.9. 1879, S. 3. 94 Vgl.: [Die Kinder des Capitäns Grant.] In: Neue Freie Presse. Nr. 5425. 8. 10. 1879, S. 5. 95 Ebenda. 96 Ebenda.
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Das Josephstädter Theater, wo dasselbe Stück einen Tag später als im Theater an der Wien Premiere hatte, war nicht weniger auf publikumswirksame Effekte bedacht. Bei der Aufführung sollten „wirkliche Zulu's mitwirken, sie trafen jedoch nicht rechtzeitig ein" 97 . Das Absinken der Wiener Volksstückstradition nach Nestroy erzeugte eine Lücke, die Ausstattungs- und Spektakelstücke ä la Verne ausfüllen konnten. Die Thematisierung des technischen Fortschritt und die exotischen Schauplätze verliehen dem Volksstück neuen Glanz und Aktualität und erwiesen sich als äußert publikumswirksam. Wie stark und anhaltend die Präsenz der Verneschen Dramatisierungen auf den deutschsprachigen Bühnen war, machte der Herbst 1888 erneut sichtbar: Das Berliner Viktoriatheater brachte am 19. September die Premiere von Matthias Sandorf, einer Dramatisierung des Verneschen Romans durch William Busnach und Georges Maurens; im Oktober hatte im Hamburger Concordia-Theater Der Nautilus Premiere - ein Ausstattungsstück, zu dem sich die Autoren Fr. W. Wulff und Karl Pander von Verne inspirieren ließen; im Frankfurter Opernhaus wurde im November Die Reise um die Erde in 80 Tagen als Nachmittagsvorstellung „mit Tanz und Evolutionen in einem Vorspiel und 13 Bildern" gebracht. 98 Die Theaterrezeption Vernes hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. Ab 19. September 1890 wurde, 13 Jahre nach der deutschsprachigen Erstaufführung in Wien, Der Kurier des Csaaren in einer Bearbeitung von Rudolf Elcho im Neuen Theater zu Leipzig gespielt. 99 1906 benützte Carl Emil Julius die Vernesche Vorlage für seine „Große Ausstattungskomödie" Zwanzigtausend Meilen unter'm Meere.100 Die im Deutschen Bühnen-Spielplan zwischen September 1899 und August 1911 aufgelisteten Aufführungen ergeben einen eindeutigen Befund: Die Reise um die Erde in achtzig Tagen hatte auf den deutschsprachigen Bühnen unter den Verne-Stücken den größten Erfolg. Die Aufzählung der Aufführungsorte dieses Stückes liest sich geradezu wie eine Landkarte der Bühnen des deutschen Sprachraums: Altenburg i. S.-A., Augsburg, Bielefeld,
97 Ebenda. 98 Vgl.: Illustrirte Zeitung. 91. Bd. Nr. 2361, 29. 9. 1888, S. 317; Illustrirte Zeitung. 91. Bd. Nr. 2363, 13. 10. 1888; Theaterzettel des Frankfurter Opernhauses vom 18. 11. 1888 (im Besitz von Wolfgang Thadewald). Der Nautilus wurde am 21. 4. 1889 auch im Magdeburger WilhelmTheater gespielt. Vgl.: Illustrirte Zeitung. 92. Bd. Nr. 2392, 4. 5. 1889, S. 443. 99 Vgl.: Illustrirte Zeitung. 95. Bd. Nr. 2465, 27. 9. 1890, S. 335. 100 Carl Emil JULIUS: Zwanzigtausend Meilen unter'm Meere. Große Ausstattungskomödie mit Gesang und Tanz in 6 Bildern mit theilweiser freier Benützung einer Jules Veme'schen Idee. Musik von Josef Hellmesberger. Wien: Berti 1906. Carl Emil Julius hat die Vernesche Vorlage gravierend verändert. Besonders auffallend ist Julius' versöhnliches Ende: Nemo, der sich als Prinz Dakkar entpuppt, findet seinen totgeglaubten Sohn wieder und heiratet die Nichte des britischen Gouverneurs in Indien, die seinen Sohn aufgezogen hat. Der „Nautilus" wird in die Luft gesprengt.
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Braunschweig, Bremen, Breslau, Coburg, Cottbus, Dortmund, Flensburg, Görlitz, Gotha, Graz, Halle a. d. S., Harburg a. d. E., Leipzig (Stadt-Theater), Liegnitz, Mülhausen i. E., Nürnberg, Oldenburg, Pforzheim, Plauen, Prag, Riga, Stettin, Stuttgart, Ulm a. d. D., Weimar, Würzburg, Zürich und Zwickau. Die lange Liste zeigt auch eine Tendenz der Abwanderung des Stückes in die Provinz: Berlin etwa brachte in diesem Zeitraum keine VerneAufführungen mehr. Insgesamt wurde Die Reise um die Erde in diesen elf Jahren 444mal aufgeführt. Die Kinder des Kapitän Grant wurden im selben Zeitraum 104mal aufgeführt, und zwar in folgenden Städten: Braunschweig, Coburg, Graz, Halle a. d. S., Leipzig (Stadt-Theater), Nürnberg, Plauen, Reichenbach, Riga, Stettin, Zittau und Zwickau. Weniger beliebt war zu Beginn des Jahrhunderts Der Courier des Czaren: Insgesamt 25 Aufführungen fanden 1899-1906 in Braunschweig, Reichenbach, Wien (Lustspiel-Theater) und Zwickau statt. Schon diese bruchstückhafte Dokumentation belegt die starke Präsenz der Dramenfassungen Vernescher Romane auf den deutschsprachigen Bühnen vor 1914. Neben dem kommerziellen Theater war es auch die Operette, die als populäres Medium die Verne-Rezeption verstärkte. Nach Verneschen Vorlagen komponierte Jacques Offenbach die Operette Le docteur Ox (uraufgeführt 1877 in Paris). Seine Feerie-Oper Le voyage dans la lune (uraufgeführt 1875 in Paris) war zwar unabhängig von Vernes Mondromanen, doch als das Theater an der Wien von deren Pariser Aufführung Textbuch, Ausstattung und Partitur übernahm, wurde sie von der Kritik mit den erfolgreichen Romanen Vernes in Zusammenhang gebracht. 101 Offenbachs Reise in den Mond, eine „phantastische burleske Ausstattungsoperette", erlebte 1876/77 67 Aufführungen. Doktor Ox wurde im Theater an der Wien 1882 zehnmal aufgeführt. 1 0 2 Der Film hat schon sehr früh Vernesche Motive verarbeitet. Schon 1901 verfilmte in Frankreich Ferdinand Zecca Les enfants du capitaine Grant,103 1902 verwendete der Filmpionier Georges Melies Vernes Mondromane kombiniert mit H. G. Wells The First Men in the Moon (1901) als Vorlagen für seinen erfolgreichsten Film: Voyage dans la lune. Nur lose angelehnt an Verne drehte der Regisseur 1904 Le voyage ä travers l'impossible:
101 Vgl.: Jules Verne (Nachruf). In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 14579,25. 3. 1905, S. 13 f.; hierS. 14. 102 Vgl.: BAUER, 1952 (Anm. 85), S. 429 und 435; Illustrirte Zeitung. 78. Bd. Nr. 2028, 13. 5. 1882, S. 391. 103 Vgl.: Ronald M. HAHN: Literatur im Film: Jules Verne. In: Enzyklopädie des phantastischen Films. Personenlexikon. Themen/Aspekte. Alles über Science Fiction-, Fantasy-, Horror- und Phantastikfilme. Hg. von Norbert Stresau. Meitingen 1986 ff. Teil 3: Themen und Aspekte. 3. Erg.-Lfg. Januar 1988, S. 8.
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Der Kurzfilm - in dem eine Reise durchs All mit einem Eisenbahnzug unternommen wird - war nur von einer ähnlichen Illustration aus Vernes Mond-Romanen angeregt worden.104
Der Film hat aber auch einen entfernten Bezug zum Theaterstück Voyage à travers /' impossible, das Verne und d'Ennery unter Verwendung von Figuren und Motiven aus den früheren erfolgreichen Romanen Vernes 1880 verfaßt haben und das 1882 in Paris aufgeführt wurde. 105 Einen weiteren VerneRoman verfilmte Méliès 1907 - nicht ohne die Reisestrecke um das Zehnfache zu verlängern: In Deux cent milles lieues sous les mers ou Le cauchemar d'un pêcheur verkörpert der Regisseur selbst Nemo. Schließlich drehte Méliès 1912 nach Motiven von Voyages et aventures du capitaine Hatteras den Streifen La conquête du pole. Hier tritt auch ein aus Holz konstruierter, überlebensgroßer „Schneeriese" auf. 106 Das wissenschaftlich-technische Element der Verneschen Vorlagen ist in den Filmen von Méliès nur Sprungbrett ins Imaginäre, worin es völlig aufgeht. Am Beispiel von Méliès wird die enge Verwandtschaft von frühem Film und dem kommerziellen Ausstattungs- und Illusionstheater sichtbar. Für Méliès, der Besitzer und Leiter des Théâtre Robert Houdin war, stellte der Film zunächst nur eine weitere Attraktion in seinem Zaubertheaterprogramm dar. Erst allmählich wandelte er sein Theater in einen Kinosaal um. Dekorationen, Kulissen und Kostüme für die Filme, die ihrerseits an die Illustrationen der Romane erinnern, stammen aus dem Boulevardtheater; Méliès' Filme orientieren sich völlig an der Ästhetik der Spektakelstücke und des Illusionstheaters. 107 Magische Effekte wie fliegende Figuren und Verwandlungen, das Verschwinden von Personen und das Erscheinen von Gespenstern wurden auf der Bühne durch unsichtbare Seile, Falltüren, Attrappen und Spiegelsysteme bewerkstelligt. Méliès' Filmatelier in Montreuil war mit der Maschinerie des Ausstattungstheaters ausgerüstet. Zu dessen Techniken der Illusion kam noch die Erfindung neuer filmischer Verfahren: der Stopp- und der Phasentrick, die Doppel- und Mehrfachbelichtung, Überblendung und Dunkelblende wurden von Méliès eingeführt. 108 In Le voyage dans la lune treten neben dem Regisseur selbst Akrobaten des Folies-Bergère und Schau-
104 Ebenda, S. 5. 105 Zu diesem Stück vgl.: DEHS, 1993 (Anm. 3), S. 99. 106 Vgl.: Jacques SICLIER, André S. LABARTHE: Image de la Science Fiction. Paris 1958, S. 17; Ulrich GREGOR, Enno PATALAS: Geschichte des Films. München/Gütersloh/Wien 1973, S. 18 f. 107 Vgl.: Werner FAULSTICH, Helmut KÖRTE (Hg.): Fischer Filmgeschichte. Bd. 1: Von den Anfangen bis zum etablierten Medium (1895-1924). Frankfurt/M. 1994. 108 Vgl.: Jerzy TOEPLITZ: Geschichte des Films. Bd. 1: 1895-1928. Berlin 1972, S. 22-26; Georges Sadoul: Geschichte der Filmkunst. Mit 112 Abbildungen und einem Anhang: Hundert Regisseure (Filmographien). Erw. dt. Ausg. unter Redaktion von Hans Winge. Wien 1957, S. 3 5 ^ H .
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Spielerinnen des Théâtre du Châtelet auf. Im Châtelet waren zuvor schon Bühnenadaptationen von Le tour du monde en 80 jours (1877), Les enfants du capitaine Grant (1878) und Michel Strogoff (1880) aufgeführt worden.109 Die erste deutsche Jules-Verne-Verfilmung stammt aus dem Jahr 1913: Willy Zeyn und Ernst Körner drehten den Streifen Die Reise um die Welt oder Die Jagd nach der Hundertpfundnote nach Le tour du monde en 80 jours. Weltweit gab es bis 1914 mindestens 24 Verne-Verfilmungen110; damit dürfte Verne zu den am häufigsten verfilmten Autoren dieses Zeitraums gehören. Im deutschen Sprachraum spielte der Film für die Verne-Rezeption bis 1914 allerdings noch eine marginale Rolle.
5. Resonanz in zeitgenössischen Rezensionen und Aufsätzen Wenn man eine größere Zahl zeitgenössischer Rezensionen und Beiträge zu Jules Verne111 überblickt, so fällt es auf, wie weitgehend die von der Verlagswerbung vorgegebenen Schemata reproduziert werden. Vernes Image als Erfinder und Meister des „naturwissenschaftlichen Romans" scheint schon von Anfang an gefestigt gewesen zu sein, und diese vom Hartleben-Verlag lancierte Bezeichnung wird auch von den Kritikern bereitwillig aufgenommen. Werbesprüche wie der von der „Belehrung im angenehmsten Gewände"112 werden wörtlich übernommen.113 Die Verlagsreklame ist aber ihrerseits zum Großteil ein wörtliches Zitat aus einer Rezension über die französische Ausgabe der Verneschen Mondromane, die bereits 1870 in der Neuen Freien Presse erschienen ist. Hier heißt es: Der Zweck [der abenteuerlichen Erzählung, R. I.] ist Belehrung im angenehmsten Gewand, und er ist so vollkommen erreicht, daß wir keine Schriften kennen, welche sich in
109 V g l . : SICLIER/LABARTHE, 1 9 5 8 (ANM. 106), S . 14.
110 So viele verzeichnet: Ronald M. HAHN: Filmographie Jules Verne. Kleines Filmlexikon. In: Jules Verne Handbuch. Hg. von Heinrich Pleticha. Stuttgart 1992, S. 289-299. An der Spitze steht dabei - anders als bei den verkauften Büchern - Robur der Sieger mit fünf, gefolgt vom Kurier des Zaren mit vier und Die Kinder des Kapitän Grant und Die Abenteuer des Kapitän Hatteras mit je drei Verfilmungen bis 1914. 111 Die hier ausgewerteten Rezensionen und Aufsätze stellen gewiß nur einen Bruchteil aller zeitgenössischen deutschsprachigen Beiträge über Verne dar. Das Korpus der berücksichtigten Texte (vgl. das Verzeichnis im Anhang, S. 463^-99) scheint aber umfangreich genug, um aussagekräftig zu sein. Berücksichtigt wird in diesem Zusammenhang auch das erste - und bis 1914 einzige - deutsche Buch über Jules Verne: Max POPP: Julius Verne und sein Werk. Des großen Romantikers Leben, Werke und Nachfolger. Mit 25 Abb. Wien/Leipzig 1909. 112 Verlagswerbung für Julius Verne's Schriften 1875 (Anm. 12). 113 Die Süddeutsche Post (VII. Jg. Nr. 92, 16. 11. 1873, S. 2-3) druckt einfach die Hartlebensche Verlagswerbung zur Gänze ab, ohne sie als solche zu kennzeichnen. Formulierungen übernimmt wörtlich auch: J. J. HONEGGER: Julius Verne. Eine literarische Studie. In: Unsere Zeit (Leipzig). Neue Folge. 11. Jg., 1875/1. Hälfte, S. 321-335; hier S. 321.
5. Resonanz in zeitgenössischen Rezensionen und Aufsätzen
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dieser Hinsicht mit den genannten nur annähernd vergleichen können. Allerdings liegt die Gefahr nahe, daß der Leser das phantastische Beiwerk für die Hauptsache nehmen kann, daher die heranwachsende Jugend wohl darauf hingewiesen werden muß, daß die poetische Fiction neben der ernsten Lehre hergeht; letztere ist aber so geschickt in die erstere eingeknüpft, so elegant, schmackhaft vorgetragen, daß sicherlich auch in Köpfen von nicht gerade glänzender Fassungsgabe etwas davon haften bleiben muß. Es ist wirklich eine erstaunliche Fülle von Kenntnissen aus diesen Büchern fast mühelos zu schöpfen; es kann davon um so weniger verloren gehen, als gerade die interessantesten Episoden der Erzählung nur dann richtig verstanden werden und packen, wenn man zuvor ihre wissenschaftliche Begründung erfaßt hat, die der Verfasser auch dem völlig Unkundigen mit seltener Kunst, spielend beizubringen versteht. Aber nicht blos die Jugend, Jedermann wird sich erfreuen an diesen naturwissenschaftlichen Romanen, welche an Spannung und Szenenwechsel, an Lebendigkeit und Darstellungsgabe viele jener Werke, die sich sonst Romane nennen, geradezu beschämen. 114
Diese Passage enthält beinahe vollständig den Wortlaut des Werbetextes, mit dem der Hartleben-Verlag später seine Verne-Ausgabe lancierte. Der Grundgedanke: mühelose und allgemeinverständliche naturwissenschaftliche Belehrung in der Form des Abenteuerromans, ist schon im Werbetext des Verlags Hetzel für die französische Originalausgabe formuliert. 115 Im Herbst 1874, als Hartleben seit einem Jahr seine deutsche Verne-Erstausgabe gestartet hatte, rühmte sich dann auch die Neue Freie Presse, als erste auf die Bedeutung Vernes hingewiesen, eine starke Nachfrage nach seinen Werken in Österreich und Deutschland geweckt und damit das Hartlebensche Unternehmen initiiert zu haben. 116 Reklame und Buchrezension sind weitgehend identisch, letztere fügt sich oft nahtlos in die Verkaufsstrategie des Verlags ein. Dies zeugt weniger von einem kritischen Unvermögen oder einer intellektuellen Trägheit der Rezensenten, sondern dokumentiert vielmehr die Faszination und Zugkraft der Rollenzuweisung und genetischen Etikettierung Vernes. Die Novität des Verneschen Romantypus, der einen bisherigen Mangel in der deutschen Literatur behebe, liegt der Verlagswerbung zufolge in der Ver114 Dr. w . H.: Reise nach dem Mond. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 2028, 22. 4. 1870, S. 1^1; hier S. 4. Die einzigen bemerkenswerten Unterschiede, die der Reklametext gegenüber der zitierten Passage aufweist, sind: statt „daß sicherlich [...] haften bleiben muß": „daß sicherlich bei Jedermann etwas davon haften bleiben muß"; und statt: „Aber nicht bloß die Jugend [...] beschämen": „Und so wird sich Jedermann erfreuen und ergötzen an diesen naturwissenschaftlichen Romanen, welche an Spannung, an Szenenwechsel, an Lebendigkeit alles übertreffen, was die Literatur auf diesem Gebiete bisher aufzuweisen hatte." Verlagswerbung für Julius Verne's Schriften 1875 (Anm. 12). 115 Vgl. oben, S. 26. 116 Vgl.: W. v. H.: Jules Verne und seine Schriften. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 3629, 3. 10. 1874; Nr. 3636, 10. 10. 1874, S. l ^ t ; Nr. 3656, 30. 10. 1874, S. 1-3. Nach der Rezension der Mondromane 1870 war in derselben Zeitung 1871 auch eine Nacherzählung von Vingt mille lieues sous les mers erschienen: W. H.: Zehntausend [sie!] Meilen unter Meer. In: Neue Freie Presse. Morgenausgabe. Nr. 2373, 4. 4. 1871, S. 1-3; Nr. 2375, 6. 4. 1871, S. 1-3.
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bindung von phantastischem Inhalt und wissenschaftlicher Lehre. Diese, und nicht der Reiz einer abenteuerlichen Handlung, sei es, worauf es ankomme, wie die aus der Neuen Freien Presse von der Verlagswerbung fast unverändert übernommene, oben bereits zitierte Passage betont. Die Synthese von Unterhaltung und Belehrung ist ein rekurrentes Thema der Rezensionen und Aufsätze. In ihr wird die Originalität des Autors gesehen. Im Feuilleton der Neuen Freien Presse wird Verne das Verdienst zugesprochen, der Lehre eine neue Seite abzugewinnen und sie dichterisch zu gestalten, ohne daß sie dabei von ihrem Ernst und Werthe verlöre. [...] Der Heiltrank wird dadurch nicht schlechter oder unwirksamer, daß er mit Gewürzen aromatisiert oder mit Zucker versüßt wird. 1 1 7
Vernes Werk verdiene nach demselben Kritiker, der auch die Vorlage für die Verlagsreklame geliefert hat, seinen Erfolg durch die außerordentliche realistische Kraft der Schilderung, durch die reiche Phantasie, welche sich darin auf streng fachlichem Boden entfaltet, durch die fortwährend gesteigerte Spannung, in der es den Leser erhält, endlich durch die außergewöhnliche Fülle von naturwissenschaftlicher und geographischer Kenntnis, die es ihm spielend auf das angenehmste beibringt. 1 1 8
J. J. Honegger spricht von einer „Organismen schaffenden Verknüpfung der mathematisch-genauen Real- und der phantastisch-romantischen Ideal- oder besser Traumwelt" 119 , von einer „Phantastik des Materialismus" 120 und von einer „Logik des Unmöglichen" 121 . Diese Paradoxa, die sich aus der Differenz zwischen dem realistischen Anspruch und dem imaginären Charakter der technischen Erfolge in Vernes Romanen ergeben, sind bezeichnend für die Antithesen, die die Argumentation der Kritiker leiten. Ein anonymer Rezensent hat sie in eine neue Gattungsbezeichnung zusammengezogen: Verne sei „der Vater des naturphantastischen Romans" 122 . Es ist der enzyklopädische Charakter der Wissensvermittlung in Vernes Romanen, der die Rezensenten beeindruckt. Auf deren Stil scheinen dabei zuweilen die umfangreichen Verneschen Listen und Aufzählungen abgefärbt zu haben. Lange Enumerationen der behandelten Wissensgebiete ersetzen eine kritische Analyse der Texte. Sie sind aber auch bezeichnend für eine vor117 W. v. H.: Jules Verne und seine Schriften. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 3629, 3. 10. 1874, S. 1-3; hier S. 3. 118 Ebenda. 119 J. J. HONEGGER: Julius Verne. In: Illustrirte Zeitung. 65. Bd. Nr. 1686,23. 10. 1875, S. 321; ganz ähnlich auch: HONEGGER, 1875 (Anm. 113), S. 1. 1 2 0 HONEGGER, 1 8 7 5 ( A n m . 1 1 3 ) , S . 2 .
121 Ebenda. 122 Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne. In: Illustrirte Zeitung. 65. Bd. Nr. 1679, 4. 9. 1875, S. 183.
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behaltlose, positivistische Bewunderung der Naturwissenschaften. Durch ihre bloße Thematisierung erhält Verne einen ideologischen Bonus und sichert sich die Anerkennung vieler Rezensenten noch vor jeder ästhetischen Kritik. In den Nachrufen wird schon eine Tendenz zur Legendenbildung sichtbar: Verne erscheint als „Erfinder" und „Entdecker", der in seinen Romanen als erster ein Unterseeboot, ein Automobil und ein lenkbares Luftschiff „konstruierte". 123 Diese Legende von Verne als wissenschaftlichem Vorläufer, der nicht nur das Unterseeboot, sondern auch den Mondflug und das Fernsehen „vorhergesehen" habe, hat sich hartnäckig bis heute gehalten, obwohl sie nicht erst die neuere Verne-Forschung, sondern schon viele Zeitgenossen Vernes widerlegt haben. Von Anfang an fehlt es nicht an kritischen Stimmen, die den Erkenntniswert der Verneschen Romane in Frage stellen. Die Einkleidung naturwissenschaftlicher Informationsvermittlung in eine spannende, abenteuerliche Romanhandlung weckt Zweifel an der Zuverlässigkeit der Belehrung: [...] den Inhalt ganzer Bibliotheken von Lehr- und Handbüchern aller denkbaren Wissenschaften gießt er [Verne, R. I.] in anziehendster und phantastischster Präparation über den Leser aus und dieser mag nur zusehen, daß er nicht mit dem Positiven auch manchen schlau in einen Schaum von Wissenschaftlichkeit eingewickelten Humbug gläubig verschlucke. 124
Was immer wieder als Vernes Vorzug angesehen wird, die Verbindung von Wissenschaft und Phantasie, wird hier zur Gefahr einer undurchsichtigen Mischung. Die naturwissenschaftliche Erklärung erscheint als Draperie, die die Unwahrscheinlichkeit der erzählten Vorgänge verhüllt. Die Wissenschaftsthematik, die für einen Teil der Rezensenten die Verneschen Romane einer ästhetischen Kritik entzieht, ist für den anderen ein modischer Trick. Ein Theaterrezensent der Neuen Freien Presse, in der einige Monate zuvor eine Reihe lobender Besprechungen der Verneschen Romane erschienen sind 125 , macht sich schon 1875 über die prätendierte Wissensvermittlung lustig: Die Romane des Herrn Verne haben eine neue Species von Gelehrten, die Gelehrten ä la minute, geboren. Seine phantastischen Schriften sollen einen wunderthätigen Einfluß auf das Gehirn der Ignoranten üben [.. .]. 126
123 Jules Verne (Nachruf). In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 14579, 25. 3. 1905, S. 13 f. 124 Jules Verne's „Bekannte und unbekannte Welten". In: Bohemia (Prag). 47. Jg., Nr. 271, 3. 10. 1874, Beilage S. 2. 125 Vgl.: W. v. H.: Jules Verne und seine Schriften. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 3629, 3. 10. 1874, S. 1-3; Morgenblatt. Nr. 3636, 10. 10. 1874, S. 1 4; Morgenblatt. Nr. 3656, 30. 10. 1874, S. 1-3. Siehe auch oben, S. 61. 126 J. OPP.: Reise um die Erde in achtzig Tagen. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 3807, 2. 4. 1875, S. 5 f.; hier S. 5.
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Naturwissenschaft und Technik erscheinen in dieser Kritik nur als modernisierte Kulissen des Abenteuer- und Liebesromans. Die von der Verlagswerbung propagierte wissenschaftliche Belehrung wird damit zum didaktischen Alibi für die Lektüre spannender Unterhaltungsliteratur - eine Lektüre, die, wie der Rezensent vermutet, die wissenschaftlichen Passagen einfach überschlägt. Was Verne hier zugute gehalten wird, ist seine eigene Distanz zu den präsentierten technischen Abenteuern, die eine selbstparodistische und -persiflierende Komponente in die Romane bringen. Die Perspektive eines spielerischen Umgangs des Autors mit seinem naturwissenschaftlichen Roman bleibt aber den meisten Kritikern verschlossen. Das Amalgam der verschiedenen Ingredienzen Reise, Abenteuer, Exotik, Phantastik und Belehrung, mit dem die Verlagswerbung operierte, um ein möglichst breitgestreutes Zielpublikum anzusprechen, wird Ziel aggressiver Kritik, wenn dieses Programm und sein Repräsentant gegen den Strich gelesen werden. In dem Verne nicht wohlgesinnten Magazin für die Literatur des Auslandes heißt es über den Roman Les Indes-Noires (1877): Es scheint eben zahlreiche Leute zu geben, welche die von ihm [Verne, R. I.] beliebte Mischung von märchenhaften Wundern und allermodernstem naturwissenschaftlichem Detail für eine dem „Geist" unserer Zeit entsprechende zugleich unterhaltende und belehrende Lektüre halten. Unserer Meinung nach sind diese Spottgeburten aus exaktem Wissensstoff und phantastischer Willkür nur geeignet, zugleich den Sinn für Poesie und den Sinn für Wahrheit zu zerstören. 127
Freilich bleibt diese Verurteilung genauso unbegründet, pauschal und undifferenziert wie das (häufigere) Lob der Rezensenten, die die geglückte Verbindung von Naturwissenschaft und Phantastik preisen. Die puristische Zurückweisung einer hybriden Mischung zeugt von einer Irritation und Verunsicherung: Weder die traditionellen ästhetischen Beurteilungkriterien noch die Maßstäbe wissenschaftlicher Zuverlässigkeit und Stringenz erweisen sich als adäquat. Dem Kritiker bleibt in seinem Argumentationsnotstand nur übrig, den Erfolg dieser Literatur als Produkt der Mode und des ephemeren Zeitgeists abzutun. Die Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft trägt Verne eine Verbannung aus beiden Gebieten ein: [...] wenn die Wissenschaft in's Rasen kommt, und die Phantasie Logarithmen berechnet, dann kann uns das blos äußerliche Merkmal, daß diese Bilder die Buchform haben, nicht hindern zu sagen, daß sie überhaupt in keine Kategorie gebracht werden können, es sei denn in ein Chaos von Gemäldegalerien und Bibliotheken. 128 127 A. P.: Jules Verne. In: Magazin für die Literatur des Auslandes. 46. Jg., Nr. 45, 10. 11. 1877, S. 688 f.; hier S. 689. 128 Carl du PREL: Eine neue Romangattung. In: Literaturblatt. Unter Mitwirkung hervorragender Schriftsteller und Fachmänner hg. von Anton Edlinger (Wien/Leipzig) 2. Bd. 1878, H. 1, S. 23-25; hier S. 24.
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Die Reinheit der Kunst werde nach dieser Kritik durch die dozierenden Passagen des Romans verdorben, und zugleich werde durch die Vermengung mit Phantasiebildern die Wissenschaftlichkeit zerstört, indem nämlich „der Professor gewordene Künstler während des Vortrages [...] in's Phantasiren geräth" 129 . Nicht nur für wertlos, sondern geradezu für gefährlich hält der Kritiker die Verneschen Romane. Denn nur eine Minderheit naturwissenschaftlich Gebildeter könne in ihnen klar die Trennungslinie zwischen „Wissenschaft" und „Romantik" ziehen; [...] wenn aber wohl die Mehrzahl der Leser diese Linie nicht zu ziehen weiß, dann kann der Autor nicht etwa für sich geltend machen, daß er in unterhaltender Art den Leser zugleich instruiere, sondern es muß geradezu gesagt werden, daß er im Kopfe des Lesers eine Verwüstung anrichtet, wobei diesem Beides abhanden kommt: die Aesthetik und die Wissenschaft. 1 3 0
Was dieser Rezensent der Reise durch die Sonnenwelt (Hector Servadac, 1877) perhorresziert, ist ein phantastischer Überschuß, den zu erkennen und von solider Wissenschaft zu unterscheiden er dem naturwissenschaftlich ungebildeten Lesern nicht zutraut. In der Geheimnisvollen Insel (L'île mystérieuse, 1874/75) sei dagegen, abgesehen vom Schluß, die Herstellung eines „organischen Zusammenhang[s]" 131 zwischen Wissenschaft und Phantasie gelungen. Graduelle Unterschiede schlagen in dieser Perspektive in Qualitätsunterschiede um. Das Etikett des „naturwissenschaftlichen Romans" wird ernst genommen: Das Postulat einer gediegenen Wissensvermittlung erzwingt eine Mäßigung der Phantasie. Diese Argumentationslinie ist Symptom eines Ausgrenzungsbedürfnisses. Da die populärwissenschaftlichen Abschnitte und referierenden Einsprengsel der Romane als nicht in den Kompetenzbereich der Literaturkritik gehörend verstanden und anderseits die Literarizität eines Wissenschaftlichkeit simulierenden Diskurses im Romankontext nicht erkannt wird, wird die kritische Zuständigkeit für diese Romane von der Ästhetik auf die Wissenschaft abgeschoben. Wird Verne an den Kriterien der Wissenschaftsliteratur gemessen, so regen sich Zweifel an der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit und Seriosität. Der Verdacht kommt auf: die Wissenschaftlichkeit in Vernes Romanen sei nur ein Bluff. Schon in der frühesten der von mir aufgefundenen deutschsprachigen Rezensionen werden die Mondromane als eine Authentizität vorspiegelnde „Mystification" bezeichnet. 132 Die Vorspiegelung von Wissen-
129 130 131 132
Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 25. Dr. W. v. H.: Reise nach dem Mond. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 2028, 22. 4. 1870, S. 1-4; hierS. 1.
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schaftlichkeit, die die Weltraumreise glaubwürdig machen soll, wird als ein bereits von Poe vorgeführter, legitimer literarischer „Trick" oder „Humbug" 133 dargestellt, der sich die Sensationslust des Publikums zunutze macht. Der populärwissenschaftliche Lehrwert wird dadurch diesem frühen Rezensenten zufolge nicht geschmälert. Wilhelm Bölsche, der sich selbst als naturwissenschaftlichen Popularisator verstand, bemängelt dagegen - schon aus größerem zeitlichen Abstand zu den ersten Verne-Publikationen - bei ihnen die Oberflächlichkeit der populärwissenschaftlichen Darstellung und die fehlende Reflexion der wissenschaftlichen Voraussetzungen. Vernes Helden hatten [...] das Konversationslexikon gefressen und gaben diese Lektüre bei allen möglichen w i e unmöglichen Gelegenheiten in starken Rationen wieder von sich, so daß der Leser niedergeschmettert in seiner Unwissenheit vor ihnen stand. 1 3 4
Das Fehlen eines gründlichen Quellenstudiums, die Verwendung von veraltetem Material: das sind Bölsches Kritikpunkte. Die Wissensgebiete, „für die gerade das Compendium fehlte", seien auch Vernes Defizite: Z o o l o g i e zum Beispiel ist immer bei ihm schauderhaft, die miserablen geologischen Details verunzieren einen seiner in der Erfindung meisterhaftesten Romane, die „Reise zum Mittelpunkt der Erde". 1 3 5
Diese Mängel wiegen für Bölsche um so schwerer, als sie dem von Verne selbst aufgestellten Prinzip „der Logik und Echtheit der Thatsachen" 136 widersprächen. Dazu komme noch das rasche Veralten der Romane Vernes. Er selbst hat sich nie die Mühe gegeben, in neuen Auflagen das Alte zu verbessern. 1 3 7
In diesem Vorwurf manifestiert sich besonders deutlich Bölsches Gleichsetzung des „naturwissenschaftlichen Romans" mit einem (populärwissenschaftlichen Sachbuch. Vernes Schwächen entschuldigt Bölsche aber durch seine Rolle als Pionier eines neuen Genres. Nunmehr, am Ende des Jahrhunderts, sei jedoch Vernes Zeit vorbei: Ich habe mir immer gedacht, es müßte ein Deutscher sein, der eines Tages nicht nur als der Nachbeter, sondern erst eigentlich als der Erfüller Verne's hervorträte [ . . . ] . 1 3 8
Zu diesem „Erfüller" erklärte Bölsche, nicht ohne patriotischen Unterton, Kurd Laßwitz, dessen Roman Auf zwei Planeten (1897) gerade erschienen
133 Ebenda. 134 Wilhelm BÖLSCHE: Naturwissenschaftliche Märchen. In: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne). IX. Jg., 1. u. 2. Quartal, 1898, S. 504-514; hier S. 505. 135 Ebenda, S. 506. 136 Ebenda, S. 507. 137 Ebenda. 138 Ebenda, S. 508.
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war. Doch weist der Kritiker abschließend auf eine grundsätzliche Aporie des „naturwissenschaftlichen Romans" hin: Als Verfechter naturwissenschaftlicher Aufklärung kritisiert er das aus unzureichender polytechnischer Schulbildung resultierende „Defizit im Wissen des Publikums" 139 . Die „notorische naturwissenschaftliche Unbildung" 140 bildet in dieser Sicht eine unüberwindliche Barriere, und dem echten „naturwissenschaftlichen Roman" fehlt daher noch die adäquate Kompetenz der Rezipienten. Bölsches Aufsatz ist hier deshalb so ausführlich zu Wort gekommen, weil er von der vorherrschenden Verne-Apologetik, die die von der Verlagsreklame gepriesene Synthese von „Unterhaltung und Belehrung" reproduziert, abweicht. Zugleich macht er die Problematik sichtbar, die sich ergibt, wenn man die Verneschen Romane primär als populärwissenschaftliche und nicht als literarische Werke liest. Die daraus resultierenden Verzerrungen sind für die Verne-Rezeption im Zeitalter des Positivismus symptomatisch. Der 1915 erschienene Aufsatz von Eugen Sulz über Unterhaltungsliteratur rückt die Perspektive zurecht, bildet aber eine Ausnahme: Es gibt aber sogar Kritiker, die die phantastischen Romane von der Art Jules Vernes mit scharfer Sonde nach der Richtigkeit ihrer wissenschaftlichen Voraussetzungen untersuchen. Daß solcher Literaturwissenschaft" gerade für die volkstümliche Unterhaltungsliteratur mit ihrem stark romantischen Einschlag jegliches Verständnis abgeht, sollte eigentlich nicht besonders betont werden müssen. Und doch ist dies notwendig, denn nach meiner Beobachtung neigen manche Leiter kleiner Volksbibliotheken dazu, sich von solchen „wissenschaftlichen" Methoden imponieren zu lassen. In Wirklichkeit kümmert sich der Romantiker dieser Gattung um wissenschaftliche Voraussetzungen höchstens so weit, als sie Allgemeingut des erwarteten Leserkreises sind. Auf dem Unterbau dieser Voraussetzungen kann er nur durch verblüffende wissenschaftliche Analogieschlüsse das luftige Gebäude der ungeheuerlichsten Ereignisse errichten. 1 4 1
In einer Anmerkung präzisiert der Autor: natürlich ist er sich völlig bewußt, daß solchen Analogieschlüssen nur suggestive, aber keinerlei exakt wissenschaftliche Bedeutung z u k o m m t . 1 4 2
Sieht man von einem verschwommenen Romantikbegriff ab, so erkennt Sulz sehr genau die Fragwürdigkeit einer Ersetzung literarischer durch wissenschaftliche Bewertungsmaßstäbe. Die Differenz zwischen einem Roman und einem Sachbuch bleibt auch dann relevant, wenn der Roman Wissenschaft thematisiert. Indem die wissenschaftliche Plausibilität der erzählten Vorgänge zum Be139 Ebenda, S. 514. 140 Ebenda. 141 E[ugen] SULZ: Unterhaltungsliteratur. In: Eckart. IX. Jg., 1914/15, Nr. 5, Feb. 1915, S. 269-274; Nr. 7, April 1915, S. 390-396; Nr. 8, Mai 1915, S. 465^179; hier Nr. 7, S. 393. 142 Ebenda.
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urteilungskriterium der Literaturkritik wird, übernimmt diese die Argumente, mit denen für den Kauf der Verneschen Romane geworben wurde. Wenn auch der Hartleben-Verlag in seiner Werbung für die Collection Verne 1887 das obligate Prodesse et delectare durch das Oxymoron „der geniale naturwissenschaftliche Romantiker" bereichert, so stützt sich die Vermarktungsstrategie weiterhin hauptsächlich auf das Image pädagogischer Nützlichkeit, das der Autor genießt. „Romantik" bildete gewiß einen werbewirksamen Zusatz, doch die „unerschöpfliche Phantasie" des Autors beruht auf seinem „gediegenen Wissen".143 Die Verlagswerbung wird prompt im Feuilleton sekundiert: Verne weiß seine hyperromantischen Einfälle in solch ein ernstes Gewand zu kleiden, daß selbst der voreingenommene Leser captivirt wird [...]
heißt es in der Neuen Freien Presse.144 Der Rezensent deutet aber mit dieser Formulierung zugleich an, daß Naturwissenschaft und Technik bei Verne gewissermaßen nur neue „Verkleidungen" des Abenteuerromans darstellen. In vielen, oft auch positiven Rezensionen und Aufsätzen werden dagegen die Romane Vernes als operative, funktionale Literatur verstanden. Ihr ästhetischer Wert gilt hier als Quantité négligeable. So betont Peter Rosegger in seiner durchaus lobenden Rezension, Verne verzichte mit dem Weglassen einer psychologischen Motivierung im vorhinein auf künstlerischen Werth seiner Schriften. Um so höher gelten diese aber in ethischer und wissenschaftlicher Beziehung. 1 4 5
Reisen dienen bei Verne nicht der Suche nach Abenteuern, sondern sind, so Rosegger, „Expeditionen in die Regionen der Naturwissenschaft"146. Der Held der Romane ist in Wahrheit nicht ein Abenteurer, sondern der wohlwollende, gewissenhafte Lehrer [...]. Aber nicht der sentimentale Moralprediger, der dogmenlustige Sittenlehrer, der Generationen verdorben hat, sondern ein Sohn unserer Zeit: der Naturforscher. 1 4 7
Der Autor selbst erscheint als lehrender Naturforscher, und als solcher verkörpert er Tugenden, die sonst, wie Rosegger dem zeitgenössischen Vorurteil gemäß impliziert, den französischen Schriftstellern abgehen: „Gediegenheit, 143 Verlagswerbung für die Collection Verne, enthalten in den frühen Bänden dieser Reihe. Die Bezeichnung „Romantiker" wird - mit dem Attribut „groß" - von Max Popp im Untertitel seines im Hartleben-Verlag erschienenen Buches über Verne übernommen. POPP, 1909 (Anm. 111). 144 [W. v. H.:] Jules Verne und seine Schriften (3). In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 3656, 30. 10. 1874, S. 1-3; hier S. 1. 145 P[eter] K. ROSEGGER: Schriften von Julius Verne. In: Literaturblatt der Tagespost (Graz). Nr. 47, 22. 11. 1874. Diese Stelle kommt nach Karl Wagner auch „einer versteckten Selbstcharakteristik" Peter Roseggers gleich. WAGNER, 1991 (Anm. 37), S. 179. 1 4 6 ROSEGGER, 1 8 7 4 ( A n m . 1 4 5 ) .
147 Ebenda.
5. Resonanz in zeitgenössischen Rezensionen und Aufsätzen
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Gründlichkeit, Sittenstrenge"148. In einer solchen Ethik der Naturwissenschaft, die auf Solidität und Wahrheitsliebe gründet, hat das Ästhetische keinen Platz; ja, es muß suspekt erscheinen. Dabei hat Rosegger im gleichen Aufsatz die Modernisierung des Reiseromans bei Verne beschrieben, ohne aber deren ästhetische Implikation zu bemerken. Er setzt Fünf Wochen im Ballon positiv von älteren Afrika-Reisebeschreibungen ab: Aber es hat immerhin viel Missliches, in trägen Karawanen die heissen, endlosen Sandwüsten zu durchwandern, ohne schliesslich doch das Innere des Continents erreichen zu können. Selbst die Beschreibung eines solch' traurigen Zuges hat für den Leser Unbehagliches. 1 4 9
„Erbaulich" ist dagegen für Rosegger Vernes Reisetempo und der weite Überblick über das Land aus sicherer Höhe. Es war wohl auch diese neue Art der Wahrnehmung ein Grund dafür, daß, wie Rosegger feststellte, „die Lust an der naturwissenschaftlichen Literatur von Tag zu Tag sich steigert"150 ein Trend, auf den Vernes und damals auch Roseggers Verleger Hartleben vertraute und sein Verlagsprogramm wie seine Strategie der Vermarktung ausrichtete. Verne wurde von Hartleben systematisch als eine Art belletristisches Pendant zu den vielbändigen populärwissenschaftlichen Lexika, auf die sich der Verlag spezialisiert hatte, propagiert. Das dem Autor von einem Rezensenten gezollte Lob, für die Konversation einen bequemen Ersatz gründlicher naturwissenschaftlicher Bildung zu liefern, ist dementsprechend ambivalent: Für Leser, die von allen diesen Dingen etwas wissen und über sie gelegentlich mitreden möchten, während es ihnen doch an Emst, Ausdauer und Vorkenntnissen für ein wirkliches Studium, und wäre es auch nur populärwissenschaftlicher Schriften fehlt, ist solche Unterhaltungslektüre dem Lesefutter gewöhnlicher, die Sinne kitzelnder und den Geist einschläfernder Romane immer noch vorzuziehen, so daß J. Verne's geschäftliche Erfolge doch auch ihre tröstliche Seite haben. 151
Es ist also in dieser Sicht der Schein wissenschaftlicher Kompetenz, den die Romane vermitteln. Freilich ist das Ideal universaler Bildung, das der Rezensent als Alternative andeutet, im späten 19. Jahrhundert nicht mehr zu verwirklichen. Die Fülle der neuen Entdeckungen und Entwicklungen besonders im naturwissenschaftlich-technischen Bereich, die Entstehung zahlreicher neuer Fachgebiete und die zunehmende Spezialisierung machten das Ziel einer Beherrschung aller Wissensgebiete vollkommen illusionär. Die Simplifizierungen der Populärwissenschaft sind daher unvermeidlich. 148 149 150 151
Ebenda. Ebenda. Ebenda. Schriften von Julius Verne. In: Deutsche Rundschau (Berlin). Bd. X, Januar-März 1877, S. 510.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Nach Abzug der Literarizität der Verneschen Romane bleiben die populärwissenschaftlichen Sachbücher der einzige Parameter, an dem jene gemessen werden. Max Popp ordnet bezeichnenderweise die Romane Vernes nicht nach literarischen Gesichtspunkten, sondern nach den Wissensgebieten, die in ihnen thematisiert werden. Wissenschaftliche Information und Plausibilität sind der Leitfaden für die Analyse und Würdigung des Werkes.152 Vorbehalte gegen Verne ergeben sich aus der rekurrenten Behauptung, seine Romane seien wissenschaftlich ungenau. Aus diesem Grund qualifiziert etwa ein Rezensent den Kurier des Zaren als „Eisenbahnlektüre besserer Art". 153 Als Ersatz für das Studium populärwissenschaftlicher Literatur wird den Verneschen Romanen immerhin eine positive Funktion zugestanden. Der Verkaufserfolg Vernes spricht jedenfalls dafür, daß die Masse der Leser ihr naturwissenschaftlich-technisches Informationsbedürfnis bevorzugt durch die Lektüre von Abenteuer- und Reiseromanen befriedigte - eine Lektüre, die zugleich den vom Rezensenten ignorierten Bedürfnissen nach Evasion und Konsolation entgegenkam. Die Argumentation der zeitgenössischen Verne-Kritik orientiert sich in erster Linie an einer Wirkungsästhetik. Sie fragt nicht nur nach dem Erkenntniswert, sondern auch nach dem moralischen Ertrag der Romane. Einhellig wurde Verne vom Verdacht moralischer Anrüchigkeit, dem die französichen Schriftsteller in der deutschen Literaturkritik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgesetzt wurden, ausgenommen. Schon Rosegger hebt hervor, daß man Verne „unbedenklich zum Gesellschafter unserer Jugend machen" dürfe. 154 Der Verne-Übersetzer Walter Heichen wird später in einem Nachruf den „gesenkten Blicken Zolas", die den Leser auch durch den „Schmutz" führten, Verne entgegenstellen, „der den Blick zu den Wolken emporhob und seine Helden durch den Weltenraum sandte".155 Charles Seignobus spricht von einer „Keuschheit der Feder", sodaß man diese Romane „ohne Ausnahme von der ersten bis zur letzten Seite von jungen Mädchen lesen lassen kann, ohne daß ihre Schamhaftigkeit auch nur im Geringsten verletzt würde". 156 Vernes „Anständigkeit"157 wird einem puritanischen
1 5 2 POPP, 1 9 0 9 ( A n m . 1 1 1 ) .
153 G. H.: Julius Veme's Schriften. In: Magazin f ü r die Literatur des Auslandes. 46. Jg., Nr. 2, 13. 1. 1877, S. 29 f.; hier S. 30. 1 5 4 ROSEGGER, 1 8 7 4 ( A n m . 1 4 5 ) .
155 W[alter] H[EICHEN] : Jules Verne - ein Nachruf. In: Deutsche Buchhandelsblätter. Monatsschrift für das gesamte Buchgewerbe und die graphischen Künste (Erfurt) 5. Jg. 1905, H. 8, S. 2 7 7 - 2 8 0 ; hier S. 278. 156 Ch[arles] SEIGNOBUS: Jules Verne. In: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift. Hg. von Paul Lindau. (Breslau) 38. Bd. 1886, S. 2 9 9 - 3 3 5 ; hier S. 334. 157 Ebenda.
5. Resonanz in zeitgenössischen Rezensionen und Aufsätzen
69
Erziehungsideal, das auf perfekte Selbstbeherrschung, Tabuisierung der Erotik und Ausschaltung aller „niederen" Lüste beruhte, zugeschlagen. Dagegen lesen sich die reinen Tugenden „Ergebenheit, Gehorsam gegen die Pflicht, Muth, Menschlichkeit, Vaterlandsliebe, Liebe zur Wissenschaft", die Seignobus in den Romanen Vernes als Grundlagen einer „moralisch gesunden Atmosphäre"158 feststellt, wie ein Wertekatalog der bürgerlichen Pädagogik des späten 19. Jahrhunderts. Verne wird hier zur mustergültigen Jugend- und Familienlektüre stilisiert, und in diese Stilisierung wird auch die Biographie des Autors mit einbezogen. Das Bild einer ruhigen, ausgeglichenen, arbeitsamen, erfolgreichen, aber doch bescheidenen und zurückgezogenen Lebensführung sollte Autor und Werk im Zeichen moralischer Integrität vereinen.159 Der Widerspruch zwischen Vernes biederem Leben in der Provinz und dem abenteuerlichen Inhalt seiner Romane macht die Kompensationsleistung der Reise- und Abenteuerliteratur deutlich. Mangelnde Erfahrung wird durch Phantasie ersetzt: Er [Verne, R. I.] besaß die seltene Gabe, sich vorzustellen, was er in trockenen Büchern las. 1 6 0
Diese Arbeit der Einbildungskraft ist zugleich der Beruf des Schriftstellers, der sich seinem Verleger gegenüber verpflichtet hat, seine Produkte zweimal jährlich in abgeschlossener Romanform abzuliefern. Arbeitsdisziplin und die Phantasie der Tagträume sollten in diesem Schriftstellerbild versöhnt sein. Als zeitgemäße Jugendlektüre wird Verne durch die Korrelation von Selbstbeherrschung und Naturbeherrschung qualifiziert. Rudolph Lothar charakterisiert in seinem Nachruf Vernes Helden wie folgt: Das sind keine Schwärmer und Himmelstürmer, das sind meistens ruhige, bedächtige, stets überlegene Menschen. Ihr Heroismus liegt im kalten Blut. 161
Das „kalte Blut" der Helden und die Überwindung spontaner Gefühle und „primitiver Instinkte" wird besonders der männlichen Jugend zur Nachahmung empfohlen. Dieser Heldentypus ist dem neuen industriellen Zeitalter angepaßt: Die Romane Jules Vernes sind das letzte Produkt einer Epoche, in der der Mensch die Welt bezwang, den Dampf und den elektrischen Funken sich dienstbar machte, da die Kultur Schritt für Schritt die Welt eroberte und der Menschengeist mit Siegergeste in die tiefsten Tiefen des Meeres und hinauf in den blauen Aether drang. 162 158 Ebenda. 159 Vgl. ebenda, S. 334 f. 160 Rudolph LOTHAR: Jules Verne. In: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur (Berlin) 22. Jg., Nr. 30, 22. 4. 1905, Sp. 4 7 1 ^ 7 3 ; hier Sp. 471. 161 Ebenda, Sp. 472. 162 Ebenda.
70
A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Diesem Mythos des technischen Fortschritts entspricht der neue Held, der „Sieger und Bezwinger" der Natur, der, anders als der Protagonist des früheren Abenteuerromans, „einem bestimmten, unverrückbaren Ziele [...] mit unerhörter Energie" nachstrebt.' 63 Und auch der Autor selbst wird dem Idealtyp des willensstarken und kühl berechnenden Ingenieurs angepaßt: „Erfindungsgabe" und „Kombinationskraft"164 zeichnen beide aus. Dem Autor und seinen Figuren wird ein gründerzeitlicher Optimismus zugeschrieben. Entschlossenheit, Disziplin und Sachlichkeit eines modernen Unternehmertums werden als pädagogische Quintessenz aus Vernes Romanen extrahiert - eine Interpretation, die deutlich das Signum der imperialistischen Epoche trägt. Die „Sehnsucht nach Weite"165, die nach Lothar nicht ein Leserbedürfnis ist, sondern den Lesern von Vernes Romanen erst beigebracht wird, erhält so den der Zeit eigentümlichen Beigeschmack kolonialistischer Expansionsinteressen. Dabei wird das vermeintliche Fehlen einer nationalistischen Tendenz in Vernes Romanen immer wieder als Vorzug hervorgehoben. Seignobus betont besonders, daß sie frei von chauvinistischen Zügen seien, da die Helden aller Nationalitäten als gleich edel dargestellt seien.166 Ähnlich urteilt Leo Silberstein-Gilbert: „Universalität und Gerechtigkeit für die Vorzüge anderer Völker"167 zeichneten Vernes Reiseromane aus. Freilich wird etwa der Roman Les cinq cents millions de la begum (1879), in dem ein brutaler,
machtgieriger deutscher Militarist die negative Folie bildet, von der sich das Bild des aufgeklärten Franzosen abhebt, in diesem Zusammenhang übergangen, andernorts aber als ästhetisch minderwertig eingeschätzt.168 Max Popp hat später, im ersten deutschsprachigen Buch über Verne, den Roman als Ausdruck einer literarischen Revanche für den deutsch-französischen Krieg erkannt.169 Im Vorwort wird der Autor dessenungeachtet ohne weiteres in die deutsche Literatur eingemeindet: Der große französische Romantiker ist so völlig der unsere geworden, daß wir mit vollem Recht ihn Julius Verne nennen dürfen, ganz als wäre er ein Deutscher von Geburt. 170
163 Ebenda, Sp. 472 f. 164 Ebenda, Sp. 473. 165 Ebenda. 1 6 6 SEIGNOBUS, 1 8 8 6 ( A n m . 1 5 6 ) , S . 3 3 3 .
167 L[eo] SILBERSTEIN-GILBERT: Jules Verne (Nachruf). In: Die Zeit. (Wien) 25. 3.1905, S. 1-3; hier S.2.
168 Ebenda, S. 328. 1 6 9 V g l . : POPP, 1 9 0 9 ( A n m . 111), S . 1 3 5 f.
170 Ebenda, S. 1. Popps Buch erschien im Hartleben-Verlag, war also auch als Reklame für die Hartlebenschen Verne-Ausgaben gedacht. Der Vorname .Julius" mußte auch schon deshalb beibehalten werden. - Auch die Augsburger Abendzeitung ließ sich durch die antideutsche Tendenz des Romans an einem Abdruck nicht hindern, sie begnügte sich mit einer distanzierenden Vorbemerkung. Vgl. oben, Anm. 33.
5. Resonanz in zeitgenössischen Rezensionen und Aufsätzen
71
Nicht von allen Kritikern werden Verne die antideutschen Elemente in seinem Werk verziehen. In der bereits besprochenen negativen Rezension der Reise durch die Sonnenwelt wird Verne vorgeworfen, er habe im „schmierigen Juden" Hakhabut einen „Vertreter Deutschlands" verächtlich gemacht. 171 Carl du Prel vermutet, Verne habe schon früher indirekt seinem „Haß gegen Deutschland" Ausdruck verliehen, indem er in seinen Büchern keine Deutschen als Zivilisationshelden auftreten lassen hätte 172 - ein offensichtlicher Irrtum: In der Reise zum Mittelpunkt der Erde sind der deutsche Geologieprofessor Lidenbrock und sein Neffe Axel die Hauptfiguren. Auch der Rezensent der Bohemia sieht in der Figur des Hakhabut „eine Caricatur, mit der Jules Verne dem Deutschenhasse seiner Landsleute auf's Kindischeste Rechnung trägt" 173 . Doch bildet in der Summe die in einigen Romanen schematische Zeichnung eines negativen deutschen Nationalcharakters keinen zentralen Kritikpunkt in den zeitgenössichen Rezensionen und Aufsätzen zu Verne. In der Kritik der Nationaltypen sind auch erste Ansätze einer ästhetischen Analyse sichtbar. Silberstein-Gilbert weist auf die konventionellen Charakterzuschreibungen bei Verne hin: Bei ihm ist der Engländer immer das Phlegma, der Franzose das Feuer, der Amerikaner die Berechnung. 1 7 4
Die Nationaltypen werden also den verschiedenen Temperamenten zugeordnet. Statt einer differenzierten psychologischen Motivierung und Durchdringung wird in der Figurenzeichnung eine Tendenz zur Typisierung, Schablone 175 und „Eintönigkeit" 176 festgestellt. Aber nicht nur bei der Personenzeichnung wird dem Autor die Reproduzierbarkeit der Verfahren als Manko angelastet: D i e Romantechnik Verne's ist allerdings mehr Technik als Kunst. 1 7 7
Das bewußt Gemachte, das technisch Hergestellte wird in einer Epoche, die einer Intuitions- und Genieästhetik huldigte, selbstverständlich als Mangel aufgefaßt. Hier findet das Klischee Raum, das der Oberflächlichkeit und Seichtheit des „Französischen" die Tiefe, das Erhabene, die philosophische und ethische Durchdringung des Stoffes als Stärke der Deutschen gegen-
171
PREL, 1 8 7 8 ( A n m . 1 2 8 ) , S. 2 5 .
172 Ebenda, S. 24 f. 173 Beilage zur Bohemia Nr. 295, 24. 10. 1877, S. 2. 1 7 4 SILBERSTEIN-GILBERT, 1 9 0 5 ( A n m . 1 6 7 ) , S . 2 . 175
V g l . : LOTHAR, 1 9 0 5 ( A n m . 1 6 0 ) , S p . 4 7 3 .
1 7 6 HEICHEN, 1 9 0 5 ( A n m . 1 5 5 ) , S . 2 7 7 . 177
SILBERSTEIN-GILBERT, 1 9 0 5 ( A n m . 1 6 7 ) , S . 3 .
72
A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
überstellt. 178 Dasselbe Schema kann aber auch ins Positive gewendet werden: Dann sind es Klarheit, Leichtigkeit, Eleganz, Lebhaftigkeit und Humor, die Verne als französischen Schriftsteller charakterisieren. 179 Impressionistisch assoziiert Silberstein-Gilbert: Auf seine [Vernes, R. I.] Schreibweise paßt vielleicht am besten das französische Wort „alerte"; in „alerte" klingt etwas von „Allegro", „Leben" und „Lerche". 180
Die Unentschiedenheit in der zeitgenössischen Verne-Kritik manifestiert sich besonders in den konträren Urteilen über die Frage der Originalität des Autors. Diese spielt als Qualitätsmerkmal eine hervorragende Rolle. Honegger etwa sieht im Muster der Vemeschen „excentrischen Fahrten [...] eine gewisse Einförmigkeit" 181 . Originell ist für Honegger allein Vernes Verwendung naturwissenschaftlicher Kenntnisse als Folie für den Abenteuerroman. 182 Silberstein-Gilbert schließt aus dem internationalen Personal und aus dem Fehlen nationaler Vorurteile auf eine „universelle Originalität" 183 Vernes, während er im Formalen Verne Eigenständigkeit abspricht. Seignobus lobt den guten Stil Vernes, fügt aber hinzu, daß er „in der Form nichts Eigenthümliches" 184 habe. Zugleich ist aber Seignobus einer der wenigen Zeitgenossen, die das dramatische Element in den Romanen Vernes erkennen. Er verweist auf den Dialogcharakter und die „Kunst der Inscenirung" 185 als Lesestimuli. Vereinzelt wird auch die spektakuläre Inszenierung der Natur und Landschaft wahrgenommen. Friedrich von Hellwald schreibt über Schwarz-Indien (Les IndesNoires, 1877): Geologie und Geognosie haben ihm [Verne, R. I.] dießmal die effectvolle Malerei der Coulissen und Decorationen besorgt [.. ,]. 1 8 6
Am deutlichsten hat Rudolph Lothar das Medium Theater als Paradigma der Verneschen Romane herausgestellt: Im Grunde war er [Verne, R. I.] ein Dramatiker, der weiß, daß das Charakteristische betont sein muß, daß die Bühne das Hervortreten der scharfen Linie verlangt, daß Bühnen-
178
V g l . : BÖLSCHE, 1 8 9 8 ( A n m . 1 3 4 ) , S . 5 1 1 .
179 V g l . e t w a : SEIGNOBUS, 1886 ( A n m . 156), S. 3 3 3 . 1 8 0 SILBERSTEIN-GILBERT, 1 9 0 5 ( A n m . 1 6 7 ) , S . 3 . 1 2 9 ) , S . 3 . 181
HONEGGER, 1 8 7 5 ( A n m . 8 7 ) , S . 3 2 7 .
182 Vgl. ebenda. 183
SILBERSTEIN-GILBERT, 1 9 0 5 ( A n m . 1 6 7 ) , S . 2 .
184
SEIGNOBUS, 1 8 8 6 ( A n m . 1 5 6 ) , S . 3 3 3 .
185 Ebenda, S. 301. 186 F[riedrich] v[on] H[ELLWALD]: [Schwarz-Indien.] In: Das Ausland. Überschau der neuesten Forschungen auf dem Gebiete der Natur-, Erd-und Völkerkunde. 51. Jg., Nr. 6, 11.2.1878, S. 117 f.; hierS. 118.
5. Resonanz in zeitgenössischen Rezensionen und Aufsätzen
73
licht und Tageslicht nicht identisch sind. S o behandelte er als Dramatiker die Landschaft. Es war Freskomalerei in starker Farbe, mit starkem Strich. 1 8 7
Eine „dramatisierte" Landschaft bildet den Hintergrund für eine weitere dramatische Komponente der Romanhandlung: die Situationskomik. Bölsche hat sie als Element der Theaterästhetik erkannt, doch betrachtete er sie vornehmlich unter dem Aspekt der Vergröberung und Banalisierung. 188 Die Frage der Originalität Vernes ist zugleich die Frage nach den Gründen seines Erfolgs. Verne wurde als generische Novität am deutschen Buchmarkt präsentiert. Die Rezensenten haben sehr schnell die vom Verlag lancierte Genrebezeichnung „naturwissenschaftliche Romane" aufgegriffen und propagiert. Der Rückgriff auf ältere Gattungstraditionen wie die Münchhauseniade 189 erwies sich als unzureichend und setzte sich nicht durch. Wenn Verne mit der Gattung des Märchens in Verbindung gebracht wird, so meist in kritischer Absicht. Ein Rezensent meint, das Wort „Märchen" im Zusammenhang mit Vernes Romanen unter Anführungszeichen setzen zu müssen, da er in der Kombination von Wunderbarem und neuester Wissenschaft einen modischen Schwindel vermutet. 190 Ein weiterer Rezensent mißtraut dem „ernsthaften Ton", in dem Verne seine „wilden Märchenträume" mit wissenschaftlicher Präzision verbinde und glaubwürdig zu machen versuche. 191 Wilhelm Bölsche betitelt seinen Aufsatz über Verne und Laßwitz mit „Naturwissenschaftliche Märchen", ordnet aber Verne abwertend mehr dem Märchen zu, da er die naturwissenschaftliche Komponente bei ihm für oberflächlich und unzuverlässig hält. 192 Bölsche ist es auch, der für romanhafte Texte mit naturwissenschaftlich-technischem Inhalt die Bezeichnung „JulesVerniaden" 193 prägt, aber nicht ohne die paradoxe Präzisierung, daß der 1 8 7 LOTHAR, 1 9 0 5 ( A n m . 1 6 0 ) , S p . 4 7 2 . 1 8 8 V g l . : BÖLSCHE, 1 8 9 8 ( A n m . 1 3 4 ) , S . 5 0 5 f.
189 Die Zeitung Bohemia (46. Jg., Nr. 277, 20. 11. 1873, Beilage S. 5) stellt ihre Rezension der Mondromane unter den Titel „Eine Münchhausniade" (sie!). Im folgenden Jahr wird aber in derselben Zeitung (47. Jg., Nr. 325,26. 11. 1874, Beilage S. 3) im Zusammenhang mit FünfWochen im Ballon der Vergleich mit Münchhausens Abenteuern für unangemessen, da veraltet, erklärt. Der Rezensent bemerkt den epochalen Unterschied und meint, daß sich zu Vernes Abenteuern „jene des berühmten Baron Münchhausen gerade so verhalten, wie der geistige Horizont und das Wissensquantum des vorigen Jahrhunderts zu der enormen Erweiterung, welche Wissensund Anschauungsreichtum durch den riesig arbeitenden Forschungs- und Erfindungsgeist der Menschen seither gewonnen." Auch die Illustrirte Zeitung (65.Bd.,Nr. 1679,4.9. 1875,S. 183) fragt rhetorisch, ob in Verne „ein neuer Münchhausen auferstanden" sei, um dann dessen „Windbeuteleien" die wissenschaftlich fundierten Phantasien Vernes gegenüberzustellen. Und die Deutsche Rundschau (Bd. X, Jan.-März 1877, S. 510) verwendet den älteren Genrenamen nicht ohne aktualisierendes Attribut: „naturwissenschaftliche Münchhausiaden" (sie!). 190 A. P., 1877 (Anm. 127), S. 688f. 191 Kr.: Julius Verne. In: Magazin für die Literatur des Auslandes. 88. Bd., Juli-Dez. 1875, Nr. 51, S. 740. 1 9 2 V g l . : BÖLSCHE, 1 8 9 8 ( A n m . 1 3 4 ) , S . 5 0 6 f .
193 Ebenda, S. 507.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Erfinder und Namensgeber dieses Genres seinem eigenen Prinzip nicht gerecht werde. Erst mit Kurd Laßwitz tritt, wie bereits zitiert, für Bölsche der „Erfüller Verne's" 194 in Erscheinung. Ein anonymer Verfasser eines Verne-Nachrufs verwendet dagegen den Namen anachronistisch: „Jules Verniaden" gebe es schon seit der Antike. Vernes Leistung bestehe in ihrer Modernisierung. 195 Der Gattungsname „JulesVerniade" 196 hat sich im Zusammenhang der Verne-Kritik wohl wegen seines tautologischen Charakters nicht behauptet. Für die literarische Ortung und Kategorisierung deutschsprachiger Autoren technischer Zukunftsromane wird der Name Verne in Ermangelung eines geeigneten Gattungsbegriffs dagegen, wie weiter unten dargelegt, geradezu inflationär verwendet. Es ist aufschlußreich, daß Eugen Sulz diese Romane in seinem Überblick über die Unterhaltungsliteratur unter der Bezeichnug „phantastische Romane von der Art Jules Vernes" 197 subsumiert. „Naturwissenschaftlicher Roman" bleibt als Gattungsbezeichnung der Verneschen Romane bis 1914 dominant. Dazu kommt seit der Jahrhundertwende gelegentlich das Attribut „phantastisch" dazu. Erich Körner spricht vom „phantastisch-naturwissenschaftlichen Roman" 198 , Popp und Sulz einfach von „phantastischen Romanen" 199 . Diese Kategorie ist zwar weiter, aber für das gesamte Romanwerk Vernes noch weniger zutreffend als „naturwissenschaftliche Romane". Von den 62 Romanen Vernes haben nur 22 einen zumindest teilweisen phantastischen Inhalt 200 : Sämtliche historische Abenteuer- und ein großer Teil der Reiseromane bleiben unberücksichtigt. Für den Rest ist der Begriff des Phantastischen wiederum zu undifferenziert. Denn Vernes Phantastik soll stets wissenschaftlich glaubwürdig und technisch realisierbar erscheinen. Aber auch die Bezeichnung „naturwissenschaftliche Romane" ist selektiv. Sie deckt zwar, wenn man auch die nicht phantastischen Reiseromane als „geographische Romane" etwas lax dem Bereich der Naturwissenschaft zurechnet, einen größeren Teil des Romanwerks ab, doch bleiben wiederum ein halbes Dutzend historische Abenteuerromane ausgeklammert. Die generische Zuordnung der Romane Vernes orientiert sich nicht an seinem Gesamtwerk, sondern an seinen erfolgreichsten Romanen. 194 Ebenda, S. 508. 195 Jules Verne (Nachruf). In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 14579, 25. 3. 1905, S. 13 f.; hier S. 13. 196 Außer Bölsche verwendet ihn noch: LOTHAR, 1905 (Anm. 160), Sp. 472. 197 SULZ, 1915 ( A n m . 141), S. 3 9 3 .
198 Erich KÖRNER: Jules Verne (Nachruf). In: Illustrirte Zeitung. (Leipzig) 124. Bd. Nr. 3222, 30. 3. 1 9 0 5 , S. 4 5 6 .
199 SULZ, 1915 (Anm. 141), S. 393; POPP, 1909 (Anm. 111), S. 208. Popp verwendet auch die Bezeichnungen „naturwissenschaftliche Romane" (S. V) und „phantastische Reiseromane" (S. 1.) 200 Bei den Erzählungen ist der Anteil derjenigen, die der wissenschaftlich-technischen Phantastik zuzuordnen sind, noch geringer: nämlich 5 von insgesamt 23.
5. Resonanz in zeitgenössischen Rezensionen und Aufsätzen
75
Dazu gehören die historischen Abenteuerromane in der Regel nicht. Es sind die wissenschaftlich-technischen Abenteuer- und Reiseromane wie Die Reise um die Erde in 80 Tagen, die beiden Mondromane, Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer, Abenteuer des Kapitän Hatteras, Die geheimnisvolle Insel, Reise nach dem Mittelpunkt der Erde und Fünf Wochen im Ballon, die Verne berühmt machten. 201 Die einzige Ausnahme bildet wohl Der Kurier des Zaren, ein Reise- und Abenteuerroman, in dem Wissenschaft und Technik keine wesentliche Rolle spielen. Besonders als Bühnenstück war Der Kurier des Zaren im deutschsprachigen Raum vor 1914 erfolgreich. Auch in den zeitgenössischen Rezensionen und Aufsätzen scheinen besonders jene Romane, in denen eine futurische wissenschaftlich-technische Komponente fehlt, oft eine negative Kritik herauszufordern. So hält der Rezensent des Magazins für die Literatur des Auslandes den 1876 bei Hartleben erschienenen Courier des Czaar wegen der Stereotypie der Figuren und Handlungsmuster und wegen der Unzuverlässigkeit der geographischen und ethnologischen Informationen für mißlungen. 202 Auch der nächste Band der Hartleben-Ausgaben, Schwarz-Indien, wird zum Teil negativ beurteilt. 203 Ein Rezensent meinte sogar, daß Verne mit diesem Roman, der in ihm die „Empfindung ungeschmälerter Langweile" hervorgerufen habe, wie schon mit seinen vorhergehenden Publikationen „grausam gegen seinen Ruhm wüthet". 204 Ein Indiz dafür, daß sich schon Ende der siebziger Jahre die Stimmen vermehrten, wonach die neueren Werke von einem Nachlassen der Schaffenskraft zeugten, ist die apologetische Versicherung des Gegenteils in einem Werbetext des Verlages,aus dem Jahr 1880: Obwohl sich Jedermann zweifelnd fragt, ob es ihm [Verne, R. I.] gelingen werde, in der Tonart, in welcher seine Werke gehalten sind, noch neue Accorde anzuschlagen, so werden doch diese neuesten Phantasie-Erzeugnisse des berühmten Autors auf eine solche Frage bejahende Antwort geben. 205
Spätere Kritiker stellen zuweilen bei einigen Werken einen Leistungsabfall durch Massenproduktion fest: Einigen seiner Werke - und es kann ja nicht anders sein - merkt man schon die Ermüdung an. Aus derselben Mine kann man nicht zwanzig Jahre lang einige fünfzig Bände ziehen, 201 Vgl. die Auflagenzahlen der Collection Verne oben S. 34 f. Auch die Einzelausgaben bestärken den aus diesen Auflagenzahlen resultierenden Befund. 202 Vgl.: G. H., 1877 (Anm. 153). 203 Vgl.: A. P„ 1877 (Anm. 127). 204 Schwarz-Indien. In: Deutsche Zeitung (Wien) Nr. 1978, 6. 7. 1877 (Abendausgabe), S. 4. Das Verdikt der Langeweile kehrt später im Zusammenhang mit Vernes Testamen! eines Excentrischen (1899) wieder: „Man langweilt sich, und das ist immer bedenklich bei - Unterhaltungslitteratur." Der Türmer. Monatsschrift für Gemüt und Geist (Stuttgart) II. Jg., Juli 1900, H. 10, 5. 400. 205 Verlagswerbung von A. Hartleben in: Österreichische Buchhändler-Correspondenz. Nr. 45, 6. 11. 1880, S. 524 f.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
ohne daß man sich endlich erschöpft, und ohne daß sich in die letzten Werke Wiederholungen oder Erinnerungen an die früheren einschlichen. 206
Hier werden Merkmale einer Serienproduktion, zu der sich der Autor seinem Verleger gegenüber vertraglich verpflichtete, angedeutet - eine Problematik, die in der zeitgenössischen Kritik im allgemeinen vernachlässigt wird. 207 Resümierend hat der Übersetzer Walter Heichen den Qualitätsverlust bei einigen Romanen Vernes auf das ihm auferlegte Schreibpensum zurückgeführt: Romane wie „Nord gegen Süd", „Clovis Dardentor", „Ein Kapitän von 15 Jahren" deuten auf solche, bei diesem Arbeitsprogramm unvermeidliche Erschöpfung. 208
Heichen bleibt aber eine Erkärung schuldig, warum gerade diese Romane ein Zeichen der „Erschöpfung" sein sollen und wie sich diese ästhetisch manifestiert. Als ein vorläufiges Ergebnis der Verne-Rezeption in Zeitungen und Zeitschriften bis 1914 läßt sich feststellen: Beinahe einmütig wird Verne eine Pionierrolle als Erfinder einer neuen Gattung zugeschrieben, und dies wird ihm als Haupverdienst angerechnet. Bezüglich des Stellenwerts von Technik und Wissenschaft in seinen Romanen divergieren die Auffassungen: Während ihnen ein Teil der Kritiker prognostischen Wert zuerkennt und in der von ihnen geleisteten neuartigen Kombination gegebener Daten eine Grundlage wissenschaftlicher Innovation sieht, bemängeln andere die Unzuverlässigkeit der wissenschaftlichen Informationen in den Romanen und eine Amalgamierung von Naturwissenschaft und Phantasie, die beiden Bereichen, der Belletristik und der Wissenschaft, abträglich sei. Beide Positionen übersehen die spezifische Poetizität der Wissenschaft im Kontext des Abenteuerromans. Im Roman hat stets die literarische Plausibilität Vorrang vor der wissenschaftlichen. Einzig bei Seignobus findet sich davon eine Andeutung, wenn er Verne mit Poe vergleicht. Verne habe wie Poe durch Detailfreude, exakte Zahlen und Berechnungen sowie wissenschaftliche Theorien danach gestrebt, den phantastischesten Schöpfungen seiner fruchtbaren Einbildungskraft den Schein einer wissenschaftlichen Gewißheit zu verleihen. Gleich dem amerikanischen Schriftsteller verstand er es, den entscheidenden Punkt zu verhüllen, wo die Kette des wissenschaft206
SEIGNOBUS, 1 8 8 6 ( A n m . 1 5 6 ) , S . 3 2 8 .
207 Erst seit einem 1902 erschienenen Interview mit Verne wird in der deutschen Verne-Kritik immer wieder erwähnt, daß Verne jährlich zwei Bücher schrieb - doch knüpfen die Rezensenten und Nachrufschreiber daran keine weiteren produktionsästhetischen Überlegungen. Vgl.: E. P. FREYBERG: Ein Besuch bei Jules Verne. In: Die Woche. (Berlin) 4. Jg., Nr. 33, 16. 8. 1902, S. 1553 f.; Siegmund FELDMANN: Jules Verne. In: Hamburger Nachrichten. Nr. 378, 14. 8. 1903 (Abendausg.), S. 1; ders.: Jules Verne. Eine Erinnerung. In: Die Gartenlaube 1909, Nr. 17, S. 3 5 8 - 3 6 0 ; h i e r S. 3 6 0 ; KARELL, 1905 ( A n m . 8 2 ) , S. 3 5 5 ; SILBERSTEIN-GILBERT, 1905 ( A n m .
167), 208
S.
2.
HEICHEN, 1 9 0 5 ( A n m . 1 5 5 ) , S . 2 7 8 .
6. Jules Verne - ein Paradigma
77
liehen Raisonnements durch eine gewagte Hypothese oder die Anwendung einer Erfindung, deren Stunde noch nicht geschlagen hat, durchbrochen wird. 2 0 9
An dieser Stelle wird ansatzweise ein Übergang von einer rein szientistischen zu einer ästhetischen Argumentation sichtbar - eine Seltenheit in der zeitgenössischen Beurteilung der Wissenschaftsthematik bei Verne. Für diese zeitgenössische Rezeptionshaltung sind zwei Faktoren verantwortlich: - Ein Infomationsbedürfnis der Leser über aktuelle wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen. Dieses Bedürfnis wurde wegen des Mangels an gemeinverständlichen Sachbüchern hauptsächlich durch populärwissenschaftliche Periodika, aber eben auch durch wissenschaftlich-technische Reise- und Abenteuerromane befriedigt. - Für die Beurteilung der populären Unterhaltungsliteratur fehlten geeignete ästhetische Analyseinstrumente. Sie wurde ästhetisch meist am Paradigma der „gehobenen" Literatur gemessen. Komplementär dazu verhält sich eine Kritik, die Literatur nur nach ihrem Informationsgehalt und ihrem pädagogischen Wert befragt, ästhetische Kriterien dagegen ignoriert. Der pädagogische Wert wird dabei ausschließlich als Resultat von Quantität und Qualität wissenschaftlicher Information gesehen. Doch scheint ein wichtiger pädagogischer Effekt der Verneschen Romane viel eher darin zu bestehen, daß in ihnen Wissenschaft und Technik als Abenteuer erlebbar werden.
6. Jules Verne - ein
Paradigma
Verlegerische Kalküle und Werbekampagnen reichen nicht aus, einen Autor zum Paradigma eines neuen Genres zu machen. Sie wirken nur, wenn das zu verkaufende Produkt so beschaffen ist, daß es sich zum Prototypen einer Gattung eignet. Es ist zu fragen nach dem Typischen und Typenbildenden, nach dem „Jules Verneschen" in diesen Romanen. Dieses erschließt sich erst einer historisch ortenden Analyse ihrer Themen und Strukturen, ihrer Topoi und Figuren. Ihr historischer Kern liegt im sozioökonomischen und soziokulturellen Komplex von „Modernität" - ein Begriff, dessen Inhalt gerade auch in der Auseinandersetzung mit Vernes Texten zu präzisieren ist. Der Name Jules Verne hatte zu einer Zeit, in der ein Terminus für eine neu sich konstituierende Gattung fehlte, nicht nur in der deutschen Literatur „einen hohen generischen Signalwert" 210 . In Amerika wurde Verne 1928 als
2 0 9 SEIGNOBUS, 1 8 8 6 ( A n m . 156), S. 3 0 3 .
210 Hans-Joachim SCHULZ: Science Fiction. Stuttgart 1986, S. 13.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
„Vater der Science Fiction"211 bezeichnet, als dieser Begriff eben erst in Umlauf kam, und schon seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde ein neuer Romantypus nach ihm benannt.212 In der deutschen Literaturkritik und -reklame sind seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Bezeichnungen wie „Geschichte in der Art Jules Vernes" oder „der deutsche Jules Verne" rekurrent. Dies zeugt von einer Rezeption, die das Typische an Verne hervorhebt. Schon seit Mitte der siebziger Jahre wird in der Kritik immer wieder auf die zahlreichen Verne-Nachahmer hingewiesen.213 Immer häufiger tritt eine wissenschaftlich-technische Zukunftsliteratur auf, die das Vernesche Erfolgsrezept zu imitieren versuchte, ohne jedoch denselben Verkaufserfolg zu erreichen. Er basierte, wie weiter unten gezeigt werden soll, auf der Verbindung verschiedenartiger Ingredienzen, von denen spätere Autoren meist nur einen Teil übernahmen. Das verstärkte „Vorkommen" des technischen Zukunftsromans ging mit dem Bedürfnis einher, eine Gattungstradition zu konstruieren. Die erfolgreichen Romanreihen Vernes prädestinierten den Autor zu der ihm zugeschriebenen Vorläuferrolle. Seine „Nachfahren" versprachen sich aus dieser Filiation eine größere Aufnahmebereitschaft beim Publikum und erhofften sich wohl auch ein Wiederholung des Verneschen Erfolgs. Zugleich war Verne für die deutschsprachigen Autoren auch der Konkurrent, dem es nicht nur nachzufolgen, sondern den es zu übertreffen galt. Für die Kritiker wurde Verne zum Parameter, an dem sie ein neues literarisches Phänomen messen konnten und mit dem sie die von einer neuen Literaturform hervorgerufene ästhetische Verunsicherung auszugleichen suchten. Selbst in populärwissenschaftlichen Werken taucht der Name Verne als Synonym für wissenschaftliche Phantastik auf. Der Astronom Wilhelm Meyer beispielsweise unterbricht in einem gemeinverständlichen wissenschaftlichen Sachbuch seine Schilderung der Klima- und Lichtverhältnisse auf dem Mond, da er befürchtet, der Leser könne sie für unglaubwürdig halten, mit der Versicherung, „daß ich mich durchaus nicht in Jules Verne'schen Phantasiestücken ergehe"214. 211 I. O. EVANS: The Father of Science Fiction Has a Centenary. In: New York Times Book Review, 5. 2. 1928, S. 5.
212 Zur Verne-Rezeption in Amerika vgl. die Darstellung des Forschungsstandes bei: SCHULZ, 1986 (Anm. 210), S. 13 f. 213 1875 heißt es beispielsweise in einer Rezension: „Der geistreiche Franzose hat schon Schule gemacht, und zahlreiche Nachahmer trotten bequem auf dem einmal geöffneten Wege fort [...]." Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 3807, 2. 4. 1875, S. 5. Der Hartleben-Verlag fühlte sich 1880 veranlaßt, angesichts „mancher aufgetauchter Nachahmer" die „unerreichte Originalität" Vernes anzupreisen. Verlagswerbung von A. Hartleben. In: Österreichische Buchhändler-Correspondenz. Nr. 45, 6. 11. 1880, S. 532. 214 Wilhelm MEYER: Die Entstehung der Erde und des Irdischen. Betrachtungen und Studien in den diesseitigen Grenzgebieten unserer Naturerkenntnis. Berlin 1888, S. 387.
6. Jules Verne - ein Paradigma
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Bei literarischen Werken dagegen gilt die Affiliation mit Verne als Qualitätsmerkmal. Oskar Hoffmanns Roman Der Goldtrust (1907) wurde als „Verniade", seine Erzählungen als „in der Art" bzw. „im Stile Jules Vernes" bezeichnet. 215 Oft besteht das Lob darin, die Phantasie Vernes zu übertreffen. Während ein Carl Grunert sich noch zu Verne bekennt und den „wunderbaren Eindruck", den er bei der Verne-Lektüre erhalten habe, hervorhebt 216 , betonen andere Autoren und ihre Kritiker stärker den Abstand zu oder besser: vor Verne. In einer Rezension zu Martin Atlas' Utopie Die Befreiung (1910) heißt es, der Roman „eröffnet so vielfache und weite Ausblicke, daß selbst ein Jules Verne davor verblassen muß" 217 . Eine beliebte Werbestrategie ist es, die Aktualität des eigenen Buches gegen die Überholtheit Vernes abzusetzen: Es war mir nicht darum zu tun, Jules Vernes unzeitgemäßer Epigone zu sein. 218
schreibt Robert Heymann im Vorwort zu seiner Romanserie Wunder der Zukunft. Heymann nennt als Vorbild seiner Romane aus dem dritten Jahrtausend, die sich sehr eng an Wellssche Vorlagen anlehnen, den „großen Amerikaner" 219 E. A. Poe. Bei Emil Sandt ist die Selbstüberschätzung und das Bedürfnis nach Distanzierung von Verne nationalistisch getönt. Sandts Roman Cavete! (1906) war von der deutschen Kritik mit Verne verglichen worden. Eine Rezension in den Hamburger Nachrichten preist Sandt als den „deutschen Jules Verne": Jules Verne? - Jemand mit dem unvergeßlichen Großmeister phantastischer Darstellungskunst, mit dem weltberühmten Verfasser der preisgekrönten Mondromane in einem Atem zu nennen, bedeutet sicherlich ein großes Kompliment, erscheint fast wie ein allzu überschwengliches Lob. Und in der Tat, die Parallele stimmt nicht! Um es ohne weiteres zu sagen: Emil Sandt, der Verfasser von „Cavete!", steht seiner ganzen Auffassung nach auf einer so hohen Warte, daß ein Vergleich mit dem guten, lieben Papa Verne überhaupt deplaziert ist. Er hat nichts, als die ungeheure Kraft und Kühnheit der Phantasie mit dem sonst recht harmlosen Franzosen gemein. Sandt ist ein tiefer Denker, der weitaus schärfere Beobachter, der feinere Psychologe. 2 2 0 215 Die Rezensionen aus der Deutschen Warte, Berlin, und aus dem Bayrischen Börsen- und Handelsblatt, Nürnberg, sind abgedruckt in: Oskar HOFFMANN: Die Eroberung der Luft. Kulturroman vom Jahre 1940. 6. Aufl. Berlin/Leipzig [1908]. (= Champion-Romane, Bd. 2), S. 2. [1. Aufl. Berlin 1902.] 216 Grunerts biographische Notizen werden wiedergegeben von: Karl-Emst KNATZ: Ein Geleitwort. In: Carl GRUNERT: Der Marsspion und andere Novellen. Illustriert von Ernst Stern. Berlin/Leipzig 1908, S. 5-11; hier S. 10. 217 Mödlinger Zeitung (ohne Datumsangabe), zitiert nach dem (unpaginierten) Anhang von: Martin ATLAS: Titan. Roman. Leipzig 1913. 218 Robert HEYMANN: Wunder der Zukunft. Romane aus dem dritten Jahrtausend. Bd. 1: Der unsichtbare Mensch vom Jahre 2111. Leipzig/Berlin 1909, S. 3. 219 Ebenda. 220 Hamburger Nachrichten, Nr. 900, 22. 12. 1906. Zitiert nach: Emil SANDT: Cavete! Eine Geschichte, über deren Bizarrerien man nicht ihre Drohungen vergessen soll. 4. Aufl. Minden i. W. o. J. [1. Aufl. 1906]. In dieser Auflage sind dem Roman zwei Rezensionen (unpaginiert) vorangestellt.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Verne wird hier gegenüber seinem deutschen Nachfolger zur überholten Jugendlektüre degradiert. Ihm wird zwar eine Vorläuferrolle zugestanden, zugleich aber mit dem Gestus ironischer Überlegenheit und mit dem obligaten Hinweis auf Oberflächlichkeit und fehlende Psychologie ein niederer Rang zugewiesen. Dasselbe deutschnationale Pathos spricht aus Emil Sandts eigenem Vorwort zu seinem Roman Das Lichtmeer. Der Autor verwehrt sich gegen einen Vergleich mit Verne, mit einem Manne, dessen Phantasie zu übertreffen keine Schwierigkeiten bot; dessen Abenteuerzone aber ein viel zu enges Gebiet war; mit einem Manne, der die an ihm vielleicht zu lobende Mäßigkeit besaß, seinen jedesmaligen Helden bei den Abenteuern von jeglichem Zusammenhange mit der Menschheit loszulösen; kurz, der keine Fäden zu spannen wußte zwischen den grotesk erscheinenden Erlebnissen eines einzelnen und dem großen Lebensgange der großen Menschheit. Wir Deutsche können mit ganz anderen Leistungen aufwarten. 221
Der Franzose Verne wird nach Sandt von zwei Deutschen „turmhoch" überragt: Max Eyth und Kurd Laßwitz. Noch höher stehe aber der Amerikaner Cooper. Schon Wilhelm Bölsche hatte Kurd Laßwitz' Roman Auf zwei Planeten einen „bewußten Versuch im Fahrwasser Jules Verne's" genannt, zugleich aber den Deutschen auf eine höhere Stufe gestellt.222 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wird nun auch die Literatur zum ideologischen Schlachtfeld, auf dem die Autoren nach ihrer Nationalität in ein Freund-Feind-Schema eingeordnet werden. Dem entspricht die Konstruktion der Sandtschen Romane, in denen Deutsche auf wissenschaftlich-technischem Gebiet eine führende Rolle spielen und die Hegemonie Deutschlands mit dem Wohl der Menschheit gleichgesetzt wird. Schon seit Mitte der siebziger Jahre wurde Verne in der deutschsprachigen Literatur zur Vorlage für Imitationen und Parodien - ein Indiz für seine frühzeitige Kanonisierung. Auf die Theaterparodien durch Hermann Salingre wurde bereits oben hingewiesen. 1876 erschien in den Neuen Fliegenden, einer Beilage zu den Humoristischen Blättern, anonym eine parodistische Nachahmung der Reise um die Erde: Professor Dr. Tritremmel's Reise um die Erde in 20 Tagen, 47 7/2 Minuten223. Der Professor und sein Diener Poldl „umluften" von Wien aus mit einer elektrisch betriebenen Flugmaschine die Erde in einem Viertel der von Fogg gebrauchten Zeit und gewinnen damit eine Wette gegen die Redaktion der Times. An die exotischen Abenteuer knüpft der Professor „wissenschaftliche Satzungen" folgender Art: 221 Emil SANDT: Vorwort zu: Das Lichtmeer. Roman. 1.-3. Tsd. Berlin 1912. 2 2 2 BÖLSCHE, 1898 ( A n m . 134), S. 5 0 8 .
223 Professor Dr. Tritremmers Reise um die Erde in 20 Tagen, 47 1/2 Minuten. In: Neue Fliegende. Beilage der „Humoristischen Blätter von K. Klic". Vlg. von Klic & Spitzer. Wien/Leipzig. III. Jg. 1876, Nr. 26-31.
6. Jules Verne - ein Paradigma
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„Der Sturz aus einer wirklichen oder figürlichen Höhe geschieht meistens durch eine absichtliche oder willenlose Abwärtsbewegung gegen unten, sei es nun in eine grubenartige Vertiefung oder sonstwohin ohne genaue vorherige Erwägung der Örtlichkeit mit Hintansetzung des persönlichen Vortheiles und ohne Rücksicht auf die Tragfähigkeit der Wirbelsäule, womit häufig der Tod, so wie auch theilweise Störung der Verdauungskraft in erster Linie, leicht rheumatische Beschwerden als Folgeübel verbunden sind, können oder wollen." Ich empfehle diese Beobachtung nicht nur allen Physikern, sondern den Ärzten, Patienten sowie dem sonstigen Publikum insbesondere. 224
Mit solchen „Lehrsätzen" parodiert der anonyme Autor den Anspruch der Verneschen Romane, naturwissenschaftliche Kenntnisse allgemeinverständlich zu vermitteln. Ein banaler Vorgang wird in eine wissenschaftliche Diktion eingekleidet, die keinen Erkenntniswert hat. Die populärwissenschaftliche Erklärung und Definition erweist sich als Bluff. In derselben Zeitschrift, die später auch die Vorabdrucke zweier Romane Vernes veröffentlichte225, erschien 1877 eine Humoreske, deren Autor sich als „Jules Verne II." bezeichnete.226 Die Besatzung eines in Seenot geratenen Schiffes versucht sich zu retten, indem sie nach mühsamen Tauchaktionen eine Verbindung zum transatlantischen Telegraphenkabel herstellt und eine Depesche nach Boston schickt. Ihre Zustellung wird aber „wegen mangelnder Francatur" verweigert. Der Name Jules Verne war bereits zu diesem Zeitpunkt synonym mit einer neuen Erzählgattung, in der Technik und Abenteuer miteinander verknüpft sind. Julius Stinde (1841-1905), der 1879 unter dem Pseudonym Alfred de Valmy Die Opfer der Wissenschaft, eine Satire auf den Häckelschen Monismus, veröffentlichte, versetzt im einleitenden Kapitel auch Verne einen Seitenhieb: Wer kennt nicht die unsterblichen Werke des großen Jules Verne, in denen die Wissenschaft mit der pikanten Sauce der Phantasie auf das schmackhafteste serviert wird? Macht die Wissenschaft pikant, und das Volk wird sie mit Appetit zu sich nehmen! [...] Die Werke des großen Jules Verne haben jedoch leider in Deutschland eine größere Verbreitung als in Frankreich gefunden. Man reißt sich um sie, denn die Zeitungen empfehlen sie als bildend und belehrend. Man dramatisiert sie, um von der Bühne herab ethnographische, physikalische, astronomische, zoologische, chemische, kulturhistorische Kenntnisse zu verbreiten. 227
224 Ebenda, Nr. 31, S , 242. 225 Siehe Anm. 32. 226 Emil H.: Eine Episode zur See. Erzählt von Jules Verne II. In: Neue Fliegende. Beilage der „Humoristischen Blätter von K. Klic". Vlg. von K. Spitzer. Wien/Leipzig. IV. Jg. Nr. 17,22.4. 1877, S. 133 f. 227 Alfred de VALMY [Julius STINDE]: Die Opfer der Wissenschaft oder die Folgen der angewandten Naturphilosophie. Drei Bücher aus dem Leben des Professor Desens. 2. illustrierte und differenzierte Aufl. Leipzig 1879 [ 1. Aufl. 1877], S. 6.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Die Behauptung, Verne sei in Deutschland erfolgreicher und beliebter als in Frankreich, ist nicht singulär. In einer Rezension aus dem Jahre 1877 heißt es: Jules Verne's zahlreiche S c h ö p f u n g e n g e n i e ß e n unbestreitbar eine große Popularität, bei uns in Deutschland eine noch größere als in s e i n e m Vaterlande. 2 2 8
Eine solche Popularität wird aber aus der für die Verne-Kritik spezifischen Skepsis gegenüber der Stichhaltigkeit der vermittelten wissenschaftlichtechnischen Informationen als unverdient betrachtet. Diese Beliebtheit Vernes macht sich auch Moritz von Reymond (1833-1919) für seine humoristisch-satyrische [sie!] Weltumsegelungsno229 velle An Bord des „ Jules Verne " zunutze. Denn obwohl er gleich im ersten Kapitel seines Supplements zu Jules Verne's sämmtlichen Werken die Geschäftstüchtigkeit Vernes und seines Verlegers Hartleben, den Werberummel und die Schreibwut aufs Korn nimmt, profitiert er zugleich vom Erfolg des Parodierten, indem er dessen Themen und Handlungsmuster oft einfach nachahmt, ohne sie satirisch zu brechen. Reymond bringt wie Stinde Verne mit Ernst Häckel in Verbindung, dessen Werke er zuvor zum Ziel einer Satire gemacht hatte 230 . Vernes Romane und Häckels populärwissenschaftliche Aufklärung sind für beide Parodisten Symptom eines großsprecherischen Fortschrittsoptimismus und einer Wissenschaftsgläubigkeit, die es sich anmaßt, alles mit szientistisch-technischen Methoden erklären und lösen zu können. Wissenschaft wird in dieser Sicht zum schlechten Religionsersatz, deren Vertreter Allwissenheit beanspruchen und die Öffentlichkeit durch geschickte Täuschungsmanöver hinters Licht führen. Das steigende Tempo der Innovationen und das rasche Veralten technischer Geräte und naturwissenschaftlicher Theorien wird zum Freibrief willkürlicher Spekulationen: Es gibt in unserer Zeit der Stegreifentdeckungen und des galoppierenden Fortschritts keine Bücher mehr, die uns auf d e m Laufenden halten. Was gestern niemand für m ö g l i c h hielt, wird heute zur Thatsache und ist morgen bereits durch etwas n o c h Überraschenderes, Großartigeres in den Schatten gestellt. 2 3 1
228 A. P„ 1877 (Anm. 127), S. 689. 229 Moritz von REYMOND: An Bord des ,Jules Verne". Eine humoristisch-satyrische Weltumsegelungsnovelle als Supplement zu Jules Verne's sämmtlichen Werken. Mit 20 Illustrationen von J. Steub. Bern/Leipzig 1879. Neben der hier genannten (Georg Frobeen & Cie) gab es noch zwei weitere, im selben Jahr erschienene Ausgaben desselben Buches: eine im Verlag Carl Garte, Leipzig, und eine bei Glaser & Garte, Leipzig. 230 Vgl.: Moritz von REYMOND: Das neue Laienbrevier des Häckelismus. I. Theil: Genesis oder die Entwicklung des Menschengeschlechts. Nach Häckels Anthropogenie in zierliche Reimlein gebracht. 3. umgearb. Aufl. Mit Illustrationen von F. Steub. Leipzig [1878], II. Theil: Exodus oder der Auszug aus Lemurien. Eine kritisch-analytische Komödie als Kommentar zu Häckels „natürlicher Schöpfungsgeschichte". Mit Illustrationen von F. Steub. Leipzig [1878]. 231 Ebenda, S. 78.
6. Jules Verne - ein Paradigma
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Mit diesen Worten beteuert der Ingenieur die Glaubwürdigkeit der anschließenden Maschinenbeschreibung. Zugleich wird hier aber auch die Ratlosigkeit wie die Faszination deutlich, die die rasante Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorrief. Das Handlungsgerüst von An Bord des Jules Verne basiert auf der Reise um die Erde in 80 Tagen, die bei Reymond mit futurischen Vehikeln - dem Amphibienfahrzeug „Jules Verne", das als Schiff, Unterseeboot und Ballon fungiert, und einer Rakete - bewältigt wird. Zahlreiche Unfälle und Hindernisse sorgen für Abwechslung. Freilich wird auch deutlich, wie sehr die Verneschen Motive an Reiz verlieren, wenn der Anspruch auf technische Plausibilität aufgegeben wird. Gelungen sind Reymonds Parodien auf die Verneschen Maschinen, da sie zeigen, wie das technisch Unwahrscheinliche gerade durch detaillierte Beschreibungen kaschiert wird. 232 So besteht etwa das „Geheimnis" des Ingenieurs, wie man Sauerstoff und Wasserstoff, die als Bestandteile des Knallgases die Antriebskraft des „Jules Verne" sind, auch bei höheren Temperaturen in verdichtetem Zustand aufbewahren kann, in folgendem: „Erst ungeheurer Druck und große Kälte" sagte er; „dann Erhitzung unter Fortdauer des Druckes und gleichzeitiger Einwirkung eines außerordentlich kräftigen elektrischen Stromes, welcher die expansive Tendenz der Atomkräfte umkehrt; endlich Isolierung mittelst einer stark aufgetragenen Fimißschicht." 233
Die Wirkung dieser Erklärung auf den Ich-Erzähler dürfte der Reaktion vieler Leser entsprechen: Das klang alles so einfach und selbstverständlich, und doch ward ich davon nicht klüger als zuvor. 234
Klar ist lediglich das Ziel der Reise: Am Ende steht wie bei Verne nicht nur eine gewonnene Wette, sondern auch eine Hochzeit. Doch während es bei Verne ein Mann ist, der durch die Reise um die Erde sich von einem automatenhaften Verstandesmenschen zu einem Menschen mit edlen Gefühlen entwickelt, verwandelt sich bei Reymond auf dieselbe Weise eine Frau. Über ihren Bildungsgang heißt es anfangs: Das pädagogische Prinzip, welches an ihr zur Anwendung kam, läßt sich in das eine Wort zusammenfassen: Großhirntreibhauskultur. - Die Anhänger dieses Prinzips überlassen den Pumpmuskel, „Herz" genannt, den - Pathologen [.. .]. 235 232 Das vom „Nautilus" inspirierte Amphibienfahrzeug , Jules Verne" hat einen beweglichen Kopf und Schwanz. Vgl. besonders die Beschreibung seines Motors: REYMOND, 1879 (Anm. 229), S. 8 0 - 8 2 .
233 Ebenda, S. 79. 234 Ebenda. 235 Ebenda, S. 10.
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A. Jules Verne und die Genese einer Gattung
Auf der Reise wird aus der resoluten Intellektuellen eine anlehnungs- und schutzbedürftige Frau. Deutlich ist die defensive Haltung des Autors gegenüber den Phänomenen der Modernität. Die Technik erweist sich letztlich nur als humoristisch gezeichnete Kulisse für eine Liebesgeschichte, die auf altbekanntem Gefühlshaushalt und geschlechtsspezifischer Rollenverteilung beruht. Reymonds Roman parodiert damit Vernes Werke unter der Prämisse, daß Wissenschaft und Technik auch hier bloß austauschbare Requisiten einer Abenteuerhandlung seien. Eine solche Rezeptionsweise konnten besonders die Theaterfassungen nahelegen. Eine genauere Betrachtung der Verneschen Romane wird aber das Verhältnis von moderner Thematik und überkommenen literarischen Formen differenzierter erscheinen lassen.
B. DIE MODERNISIERUNG DES ABENTEUERROMANS DURCH JULES VERNE Die technologisch-utopischen Momente in Vernes Romanen können nicht bloß als austauschbare Versatzstücke des Abenteuerromans gesehen werden. Denn die naturwissenschaftlich-technische Imagination ist auf eine spezifische Art mit der Erzählstruktur, der Motivik und den Figuren dieser Romane vermittelt. Zwar geht die Modernisierung des Abenteuerromans bei Verne von der Thematisierung neuer Entdeckungen, Erfindungen und Erfahrungen, nicht von einer ästhetischen Erneuerung aus. Doch bleiben auch die literarischen Formen durch die neue Thematik nicht unverändert. 1 Die Naivität von Vernes „wissenschaftlichen" Phantasien ist trügerisch, seine Verharmlosung zur pädagogisch wertvollen Jugendlektüre fragwürdig. Und keineswegs erschöpft sich das Interesse an seinen Romanen mit dem Veralten des in ihnen verarbeiteten Wissens, so daß ihnen nur mehr eine nostalgische Patina anhaftete. Die zweiundzwanzig Romane Vernes, die technisch-utopischen Charakter tragen, sind nicht daran zu messen, inwieweit ihre wissenschaftlichen Spekulationen ernst zu nehmen seien oder ob ihre technischen Prognosen eintrafen. Vernes Leistung besteht vielmehr darin, schon früh die literarischen Möglichkeiten neuer Technologien und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gesehen zu haben. Hans Christoph Buch betont zu Recht den Vorrang der literarischen Form vor der Funktion der Wissensvermittlung: [...] die literarische Form dient hier nicht der Vermittlung außerliterarischen Wissens, vielmehr wird dieses als Rohmaterial der Literatur zugeführt; nicht der Roman wird zur Wissenschaft, sondern umgekehrt: die Wissenschaft wird zum Roman. 2
Es ist die ästhetische Qualität von Tabellen, mathematischen Symbolen und Gleichungen, von enzyklopädischen Aufzählungen, nüchternen technischen Beschreibungen und wissenschaftlichen Erklärungen, die Verne sich zunutze macht. In diesem poetischen Überschuß wird für Michel Butor die epochale Bedeutung des Verneschen Werkes sichtbar - als Mythologie des wissenschaftlichen Zeitalters:
1 Zur innovativen Funktion des Ästhetizismus und des Realismus vgl. den zusammenfassenden Bericht von: Jörg SCHÖNERT: Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Würzburg 1986. Stuttgart 1988 (= Germanistische-Symposien-Berichtsbände, 9), S. 393—4 f 3; hier S. 396. 2 Hans Christoph BUCH: Jules Verne: Eine Enzyklopädie des 19. Jahrhunderts. In: Kritische Wälder. Essays, Kritiken, Glossen. Reinbek 1972, S. 28-50; hier S. 47.
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
Der ganze tiefe Traum, der die Wissenschaft am Ende des XIX. Jahrhunderts erfüllte und durch den sie als Faktum der Zivilisation und der Mentalität Wurzeln schlug, wird allmählich durch diese Gesamtheit [der Verneschen Texte, R. I.] enthüllt und beurteilt. 3
Die ideologische Matrix der Verneschen Texte kann in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit als repräsentativ für die literarische Wissenschaftsund Technikrezeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelten. Denn nur auf den ersten Blick scheint Vernes utopisches Projekt ganz in der zunehmenden Naturbeherrschung aufzugehen. Die Wissenschaft verleiht zwar die Kraft, das Erträumte in die Wirklichkeit umzusetzen. Sie verbürgt so den Wert der utopischen Fiktion, die nur eine Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft darstellt: Die Fiktion wird als zukünftige Realität ausgewiesen. Naturbeherrschung erscheint bei Verne immer dynamisch als Erforschung und Eroberung. Die Reise hat die Erschließung und Inbesitznahme des bisher Unbekannten zum Ziel. Dies beinhaltet aber auch die Unterwerfung und Kolonisation der „Primitiven" durch die Zivilisationshelden. Auf der anderen Seite machen die Verneschen Romane deutlich, daß der Mensch nur dann die Natur beherrschen kann, wenn er sich völlig im Einklang mit ihr befindet. Nur eine solche Harmonie ermöglicht es dem Menschen, die Natur zu verändern. Diese Veränderung wird als Perfektionierung begriffen, die die der Natur selbst immanenten Intentionen, gewissermaßen ihren verborgenen Traum verwirkliche. Zugleich macht Verne die Aporien einer rein wissenschaftlich-technischen Bestimmung des Fortschrittsbegriffs und der Utopie sichtbar. Das Scheitern zentraler Figuren wie Hatteras', Nemos oder Roburs erweist den illusorischen Charakter des technokratischen Projekts. Dieses wird durch Mythen der Rückkehr zum Ursprung und der Regression kontrastiert. In der literarischen Imagination sind die Verheißungen der Technik und Katastrophenbilder, Fortschrittsglaube und konservatives Beharrungsstreben aufs engste miteinander verknüpft. Voraussetzung für die Entfaltung dieser Dialektik ist es aber zunächst, Wissenschaft und Technik als Elemente der Romanstruktur zu begreifen.
3 Michel BUTOR: Das Goldene Zeitalter und der Höchste Punkt in einigen Werken von Jules Verne. In: ders.: Repertoire 3. Aufsätze zur modernen Literatur und Musik. München 1965, S. 172-219; hier S. 175.
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1. E r z ä h l s t r u k t u r u n d w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h n i s c h e F i k t i o n
1. Erzählstruktur
und wissenschaftlich-technische
Fiktion
a) Reisemaschinen und Reisewahrnehmung Die modernen Verkehrsmittel bedingen zunächst eine neue Wahrnehmung und Beschreibung der Reise; die abenteuerliche Reise erhält eine neue Qualität. Die Verkehrsmittel Eisenbahn, „Stahlelefant", Dampfschiff, Unterseeboot, Luftschiff, Helikopter oder Rakete verändern die Schauplätze und die Wahrnehmung der Reisenden; sie bestimmen aber auch den Ablauf und den Rhythmus des abenteuerlichen Geschehens. Wolfgang Schivelbusch hat die Verwandlung des Landschaftsraums in einen geographischen Raum bei der Eisenbahnreise aufgezeigt. Durch die Geschwindigkeit verflüchtigt sich die Wahrnehmung der Landschaft, nahe
Abb. 1 : Le tour du monde en quatre-vingts jours: Frontispiz von Léon Benett.
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
gelegene Objekte werden verwischt, der Vordergrund verschwindet. 4 An die Stelle einer sinnlichen Einbettung des Reisenden in die durchreiste Umgebung tritt das „panoramatische Reisen" 5 . Jules Verne beschreibt diese Wahrnehmungsform in Le tour du monde en quatre-vingts jours wie folgt: Dieses ganze Panorama flog blitzschnell vorüber, und oft hinderten weiße Dampfwolken seine Details zu sehen. 6
Es folgt eine lange Liste indischer Sehenswürdigkeiten, welche die Reisenden „kaum flüchtig in Augenschein zu nehmen" 7 vermögen. In Cinq semaines en ballon zieht ein distanziert von oben betrachtetes Landschaftspanorama filmartig an den Blicken der Reisenden vorbei. 8 Im Frontispiz der Originalausgabe des Tour du monde en quatre-vingts jours9, einer farbigen Illustration von Léon Benett, sind verschiedene Landschaften, die von Verkehrswegen und -mittein durchquert werden, ineinander montiert. Die Montage spiegelt den panoramatischen Blick der Reisenden: Durch die neuen Verkehrsmittel wird der Raum zwischen Abfahrt und Ankunft tendenziell aufgehoben, die Landschaften werden einander und dem Reisenden nähergerückt. 10 Der Blick der Figuren im Bildvordergrund ist aber auf einen über der Landschaft schwebenden Erdball mit seinem Netz der Längen- und Breitengrade gerichtet. Die Erde ist erforscht, vermessen und klein geworden. Das Ideal der zielgerichteten Reise ist die gerade Linie, die sich allerdings durch die Kugelform der Erde zum Kreis krümmt. 11 Die Gerade ist der Triumph der Vernunft und der Logik über die Unregelmäßigkeiten und Zufälle der Natur. Die Erde ist erforscht und vermessen, an die Stelle des Landschaftsraums tritt ein geographischer Raum. Vernes Reiseromanen liegt eine Geometrisierung des Raumes zugrunde, die aus der geographischen Vermessung und Kartographierung sowie aus der zunehmenden verkehrstechnischen Erschließung der Erdoberfläche im Zuge der Industrialisierung resultiert. Der Verlauf der imaginären Reise wird durch
4 Vgl.: Wolfgang SCHIVELBUSCH: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1979 (= Ullstein-Materialien Anthropologie), S. 52 und 61. 5 Ebenda, S. 51. 6 Julius VERNE: Reise um die Erde in 80 Tagen. Collection Verne, Bd. 3. 8. Aufl. Wien/Pest/Leipzig o. J. [1. Aufl. 1887], S. 117. 7 Ebenda. 8 Vgl.: Julius VERNE: Fünf Wochen im Ballon. Mit 78 Illustrationen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen. 9. Bd. Wien/Pest/Leipzig 1876. Näheres dazu siehe unten, S. 147-154. 9 Jules VERNE: Le tour du monde en quatre-vingts jours. Paris 1873. 1 0 V g l . : SCHIVELBUSCH, 1 9 7 9 ( A n m . 4 ) , S . 3 9 f f .
11 Vgl.: Michel SERRES: Jouvences sur Jules Verne. Paris 1974, S. 11 f.
1. Erzählstruktur und wissenschaftlich-technische Fiktion
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Koordinaten exakt bestimmbar. „Im Unterschied zu früheren Reiseromanen", formuliert Rainer E. Zimmermann, „finden Reisen nicht mehr ins Utopische statt, sondern führen ins Topische." 12 Aus der Maschinisierung der Reise resultiert auch eine Maschinisierung der Zeit. Zeit und Reisestrecke sind funktional aufeinander bezogen. Die Objektivierung und Standardisierung der Zeitmessung ist ebenso wie der durch präzise Zeitmessung erzeugte Zeitdruck ein Produkt der industriellen Gesellschaft. Pierre Macherey stellt den sozialhistorisch und sozialpsychologisch bedingten Unterschied zwischen Robinson Crusoe und den Figuren Vernes heraus. Während Robinson einen „unerschöpflichen Zeitvorrat" besitzt, sind die Personen J. Vernes immer in Eile. Das Thema der Hast steht ja psychologisch für den Leitgedanken der Industrie [ . . . ] . 1 3
Die Hast ist als psychologisches Pendant der industriellen Produktion zu verstehen. Bei Verne ergeben sich die Abenteuer aus der Notwendigkeit, in knapper Zeit Hindernisse zu überwinden: ständig drohen Verzögerungen, Zeitverluste. Die Abenteuer bilden ein retardierendes Moment. Die vorgegebene Zeit einzuhalten ist dabei nicht nur eine Geldfrage, sondern wird auch durch die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen erzwungen. Im Wettlauf gegen die Zeit geht es um Leben oder Tod, wenn die Gefahr einer Erschöpfung des Proviants droht. Bei Polarexpeditionen bildet das Festfrieren, das Eingemauertwerden im Eis eine letale Gefahr. Zerquetschtwerden oder Ersticken sind die Todesarten, die den Insassen des „Nautilus" drohen, als das Unterseeboot auf seiner Rückfahrt vom Südpol im submarinen Eis steckenbleibt. 14 Leben wird mit Bewegung gleichgesetzt. Genaueste Zeitmessung und Ortsbestimmung sind Voraussetzungen für das Gelingen des Unternehmens. Der Wettlauf gegen die Zeit bildet ein agonales Element, dessen Analogien zum Konkurrenzprinzip der Geschäftswelt unübersehbar sind. Im Thema der Geschwindigkeit, die ein entscheidendes Konstituens des technischen Fortschrittsbegriffs bildet und deren utopischer Fluchtpunkt die Auflösung der Materie in reine Bewegung darstellt, wird der innovative Charakter des Verneschen Reise- und Abenteuerromans sichtbar. Literarisch und mentalitätsgeschichtlich partizipieren sie am umfassenden 12 Rainer E. ZIMMERMANN: Das Technikverständnis im Werk von Jules Verne und seine Aufnahme im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Berlin (masch. Diss.) 1987, S. 189. Zimmermann geht in seiner Dissertation ausführlich auf den Raumbegriff und Geometriebezug Vernes ein. 13 Pierre MACHEREY: Jules Verne: Erzähltes und Nichterzähltes. In: ders.: Zur Theorie der literarischen Produktion. Studien zu Tolstoij, Verne, Defoe, Balzac. Darmstadt/Neuwied 1974 (= collection alternative, 7), S. 73-175; hier S. 130. 14 Julius VERNE: Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer. Mit 114 Illustrationen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen. Bd. 4/5. 2. Aufl. Wien/Pest/Leipzig 1876, S. 386-397.
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
Phänomen der Modernisierung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 15 Die neuen Verkehrsmittel bewirken eine „Beschleunigung des Abenteuers"16. Doch ist es nur die kontrollierte Bewegung, die bei Verne das Lebensprinzip darstellt und mit einer Utopie der Kommunikation verbunden ist. Das Ideal einer solchen Bewegung ist die gerade Linie. Sie wird besonders durch Orientierungsverlust bedroht. Er bildet eine der Hauptgefahren in den Polarregionen, zu denen die Reisenden in Un hivernage dans les glaces (1855), Voyages et aventure du capitaine Hatteras (1866) und Le sphinx des glaces (1897) aufbrechen: Hier versagen die Meßinstrumente, der magnetische stimmt nicht mehr mit dem geographischen Pol überein, der Kompaß wird unbrauchbar. Nebel und Schneestürme machen die Verwendung des Sextanten unmöglich. Verlust der räumlichen und zeitlichen Orientierung ist die Folge, die Reisenden laufen Gefahr, sich zu verirren, im Kreise zu gehen, sich in der endlosen Eiswüste zu verlieren. Aber auch eine gesteigerte Reisegeschwindigkeit birgt die Gefahr eines Verlusts der Wahrnehmungsfähigkeit. Das zeigt eine Szene gegen Ende von Vingt mille lieues sous les mers. Nach der Versenkung eines englischen Schiffes, dessen Untergang Professor Aronnax wie gebannt betrachtet - „Unwiderstehlich zog mich's an das Fenster" 17 - , bewegt sich der „Nautilus" mit solcher Geschwindigkeit, daß die Unterwasserwelt nur mehr an den Blicken der Reisenden vorbeihuscht. Mais d'observer, d'étudier, de classer, il n'était plus question alors. 1 8
Immer mehr verschwinden die Objekte, und die Bewegung, die bisher als wohl berechnete Kreisbahn verlaufen ist, endet im Wirbel des Mahlstroms. Die Beschleunigung kulminiert in der Katastrophe: Das gilt auch für Vernes 15 Sporadisch klingt das Thema der Geschwindigkeit schon in der Romantik an. Achim von Arnim, der mit Erfolg Physik studierte und ursprünglich Physiker werden wollte, stellt an den Beginn seiner Reisegeschichte Owen Tudor (1821) eine Hymne auf die Geschwindigkeit. Zwar ist dieses Loblied noch von einer Fahrt in der Kutsche inspiriert, doch nimmt es bereits die späteren Motive der beschleunigten Reise vorweg: „Göttlich ist auf Erden die Geschwindigkeit,/ Sie besiegt den weiten Raum, die enge Zeit,/ Gegenwärtig macht sie überall zugleich/ Spiegelnd hoher Götter ewig Reich [...]" (Achim von ARNIM: Owen Tudor. Eine Reisegeschichte. In: ders.: Erzählungen. Hg. von Gisela Henckmann. Stuttgart 1991, S. 252-292; hier S. 252.) Allgegenwart ist ebenso Produkt der Geschwindigkeit wie die Aufhebung der Schwerkraft: „Ja die Welt erschiene tot in Leere,/ Hübe nicht Geschwindigkeit die Schwere" (253). Das gesteigerte Tempo, das als Lebensprinzip erscheint, ergibt sich aus einem Wettkampf: Zwei konkurrierende Postkutschen versuchen, dieselbe Strecke in möglichst kurzer Zeit zurückzulegen. Auch wenn der Kutscher einen Unfall riskiert - früher anzukommen ist für ihn Ehrensache (284 f.). 16 MACHEREY, 1974 (Anm. 13), S. 131. (Hervorhebung im Original.) 17 VERNE: Zwanzigtausend Meilen, 1876 (Anm. 14), S. 450. 18 Jules VERNE: Vingt mille lieues sous les mers. Illustré de 111 dessins par de Neuville. Préface et commentaires de Jean Delabroy. Paris 1991, S. 589. Die Stelle fehlt in der Hartleben-Übersetzung.
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Flugromane. Im Schußszenario des zweiten Robur-Romans, Maître-dumonde, weicht der größenwahnsinnige Held mutwillig von der kontrollierbaren Flugbewegung ab und lenkt seine Flugmaschine ins magnetische Zentrum eines Gewitters; Flieger und Apparat werden vernichtet. Die Thematisierung der modernen Reisemaschinen bei Verne spiegelt die Ambivalenzen des verkehrstechnischen Fortschritts. Einerseits bewähren sich die Romanhelden, indem sie die Hindernisse auf dem Wege zu ihrem Ziel durch geschickte und mutige Handhabung der Technik überwinden und damit die Eroberung und Kolonisierung bisher unbekannter Räume vorbereiten. Andererseits wird in Figuren wie Nemo und Robur die manische und destruktive Komponente der technischen Mobilität sichtbar.
b) Wissenschaft als Lösung von Rätseln Die Wissenschaft hat in vielen Romanen Vernes eine analytische Funktion. Die Handlung wird durch ein Rätsel, ein Geheimnis, einen unerklärlichen Vorfall in Gang gebracht. Simone Vierne hat die Suche nach dem Verborgenen und die Entdeckung des Geheimnisses in den Verneschen Romanen als mythische Grundmuster der Initiation dargestellt. 19 Die Mittel dieser abenteuerlichen Entdeckungs- und Erforschungsreisen sind wissenschaftlicher und technischer Art. Wie Poe zeigt Verne eine besondere Vorliebe für Geheimschriften, für verschlüsselte oder schwer zu entziffernde Botschaften. In Voyage au centre de la terre findet der Geologieprofessor Lidenbrock die Einstiegsstelle ins Erdinnere durch ein chiffriertes Dokument aus dem 16. Jahrhundert, das er mit Hilfe seines Neffen entschlüsselt. In Les enfants du capitaine Grant wird die Suche nach dem verschollenen Kapitän nach dem Fund einer Flaschenpost, deren Botschaft aber nur mehr bruchstückhaft leserlich ist, aufgenommen. Erst nach wiederholten Irrtümern und daraus resultierenden Irrfahrten gelingt es, den fragmentarischen Text richtig zu vervollständigen. Die Entzifferung eines verschlüsselten Dokuments führt in der Jangada20 zur Freisprechung eines unschuldigen Mordverdächtigten. Auch hier ist die Dechiffrierung der Geheimschrift eine Frage von Leben oder Tod. Erst nach langen vergeblichen Versuchen wird das nötige Codewort gefunden. Die Entschlüsselung der Geheimschrift ist dabei identisch mit der Aufdeckung der Wahrheit. 19 Vgl.: Simone VIERNE: Jules Verne et le roman initiatique. Contribution à l'étude de l'imaginaire. Grenoble 1972. 20 Jules VERNE: La Jangada. Huit cents lieues sur l'Amazone. Paris 1881. Deutsche Erstausg.: Julius VERNE: Die Jangada. Achthundert Meilen auf dem Amazonenstrom. 2 Bde. Julius Veme's Schriften. Bd. 39 und 40. Wien/Pest/Leipzig 1882.
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In Mathias Sandorf (18B5) ist die Entzifferung einer verschlüsselten Botschaft entscheidend für die Vereitelung des Aufstandes der ungarischen Freiheitskämpfer und für die Verhaftung ihrer geheimen Führer. Die Dechiffrierung ist eine besondere Ausprägung des Musters der Aufdeckung und der Enträtselung von Geheimnissen, das zahlreichen Romanen Vernes zugrunde liegt. Entdeckungsfahrten wie die in Cinq semaines en bailón, in den beiden Mondromanen, in Voyages et aventures du capitaine Hatteras, Vingt mille lieues sous les mers, Le sphinx des glaces (1897) oder Le village aérien (1901) sind von einem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse motiviert. Wie die Technik, so wird bei Verne auch die Wissenschaft in der Form der Reise thematisiert.
c) Der Ingenieur als Held Wissenschaftler, Gelehrte, Ingenieure, Erfinder und Entdecker sind beliebte Heldenfiguren in Vernes Romanen. Wissenschaftliche Methoden und technische Verfahren bilden das Muster und prägen den Charakter dieser Figuren: Zuverlässigkeit, Nüchternheit, technische Kompetenz, Kalkül und unerschütterliche Ruhe auch in schwierigen Lagen zeichnen sie aus. Zu ihren Vorzügen zählen die Freude an der Aktivität und die Fähigkeit zu rascher Entscheidung. Technische Funktionalität erscheint als Paradigma auch des erfolgreichen menschlichen Handelns. Die Figuren gehen ganz in ihrer Funktion, in ihrer Rolle auf. Sie sind modellhaft und repräsentativ: ihre Psychologie wird selbst zum berechenbaren Schema. Cyrus Smith, der Protagonist von L'île mystérieuse, verkörpert diesen Heldentypus beispielhaft. Seine naturwissenschaftlich-technische Ausbildung ist universal. Seine wissenschaftliche Kompetenz ist nicht nur die praktische, sondern auch die moralische Grundlage der Führungsrolle, die er innerhalb des Robinson-Teams einnimmt. Unter seiner Leitung kolonisieren die Gestrandeten die Insel. Die vorbildliche polytechnische Bildung verbürgt eine moralische Integrität und prägt den Charakter des Helden. Kühle Sachlichkeit, Umsicht und Geistesgegenwart bei der Bewältigung schwieriger und gefährlicher Lagen schließen aber nicht selbstlose Hilfsbereitschaft und Solidarität aus, sondern erscheinen als deren Voraussetzung. Verne konstruiert in dieser Figur den Idealtypus eines Ingenieurs, der durch seine technischen Fähigkeiten und charakterlichen Vorzüge zur gesellschaftlichen Führungsrolle prädestiniert ist. Rainer Zimmermann stellt dem von Cyrus Smith verkörperten „ingeniösen" den „monomanen Typ" gegenüber. 21 Der ingeniöse ist vielseitig, krea21 ZIMMERMANN, 1987 (Anm. 12), S. 193 und 238. Zu den ingeniösen Typen zählt Zimmermann außerdem Clawbonny aus Hatteras, den englischen Ingenieur Banks aus La maison au vapeur
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tiv und flexibel. Er vereinigt in sich Rationalität und Intuition. Der monomane Erfindertypus ist dagegen auf ein einziges Ziel fixiert. Für dieses Ziel ist er bereit, alles zu opfern. Die Wissenschaft wird in seinen Händen zum Mittel der Zerstörung, der monomane Wissenschaftler endet im Wahnsinn oder im Selbstmord. In dieser Polarisierung des Wissenschaftlertypus in Vernes Romanen wird die Dialektik des technischen Fortschritts manifest. Aus ihr resultiert eine Dramatisierung der Handlungsabläufe. Das Widerspiel zwischen Figuren wie Nemo und Aronnax, Clawbonny und Hatteras, Ardan und Barbicane trägt zur Dynamik des Romangeschehens bei. Zugleich gehören diese konträren Verkörperungen des Wissenschaftler- und Ingenieurtypus derselben Reisegruppe an. Sie sind weitgehend auf Kooperation angewiesen. Wo sie gelingt, erscheint auch das Vertrauen in den technischen Fortschritt gerechtfertigt. Die Mondromane sind paradigmatisch für eine solche Harmonisierung kreativer Intuition und technischer Effizienz. Barbicane ist der Technokrat, der, von einer Idee besessen, mit militärischer Disziplin und energischer Rücksichtslosigkeit sein Ziel anstrebt. Er findet in dem ideenreichen, unternehmungslustigen, naiv begeisterungsfähigen Abenteurer Ardan die ideale Ergänzung. Seine Spontaneität und Phantasie bilden das unverzichtbare Komplement zum mathematischen Kalkül und zur strengen wissenschaftlichen Methodik. Künstler und Wissenschaftler haben dabei eines gemeinsam: Beiden geht es um die Sache selbst, nicht um gesellschaftliches Ansehen und Machterweiterung. Ingenieurswissen und Phantasie vereinigt in sich beispielhaft der Engländer Banks, der Konstrukteur des „Stahlelefanten" im Roman La maison ä vapeur (1880). Diese neuartige, dampfbetriebene Reisemaschine bewegt sich nicht auf Rädern, sondern, in Nachahmung der Natur, auf Beinen. Sie erinnert an die Automatenkunst des 18. Jahrhunderts. Die maschinelle Tierimitation zieht zwei geräumige Waggons, die der Ingenieur nach den neuesten Stand der Innenarchitektur mit allem Komfort eingerichtet hat. Banks' Lösung des Fortbewegungsproblems im indischen Dschungel verbindet ästhetische mit technischer Raffinesse. Banks verkörpert beispielhaft den Typus des erfinderischen und schöpferischen Ingenieurs. Doch läßt sich eine binäre Wertopposition von monomanen und ingeniösen Wissenschaftlern und Technikern bei Vernes Figuren keineswegs eindeutig feststellen. Professor Lidenbrock etwa, den Zimmermann zum ingeniösen Typus zählt, wird durch eine obsessive wissenschaftliche Neugier getrieben. Er verschmäht so lange jedes Essen, bis das geheimnisvolle Kryp(1880), Lidenbrock aus Voyage au centre de la terre und Ardan aus den Mondromanen. Zu den monomanen Typen gehören Hatteras, Nemo, Robur, Ox und Wilhelm Storitz.
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Abb. 2: La maison à vapeur. Illustration von Léon Benett.
togramm entschlüsselt ist. Die Wissenschaft hat Vorrang vor den leiblichen Grundbedürfnissen. Das Verhältnis des Geologen zu natürlichen Vorgängen ist durch Ungeduld bestimmt. Lidenbrock hat es „eiliger als die Natur": Seine Topfpflanzen „zupfte er jeden Morgen an den Blättern, um zu erreichen, daß sie schneller wuchsen".22 In der Figur Lidenbrocks schlägt die Begeisterung für den wissenschaftlichen Fortschritt ins Parodistische um. Der Hamburger Professor verkörpert das Prinzip einer beschleunigten technologischen Entwicklung. Seine cholerische Reizbarkeit ist, als deformation professionelle, der Preis, den er für den hektischen Forschungseifer zu bezahlen hat. Ein zwanghafter Perfektionismus läßt den Professor nicht eher ruhen, bis er alle Phänomene wissenschaftlich restlos erklärt hat. Die Lust an Entdeckung und 22 Jules VERNE: Reise zum Mittelpunkt der Erde. Übersetzt von Hansjürgen Wille und Barbara Klau. Mit 53 Illustrationen von Riou. Zürich 1971, S. 13. - Aus neueren deutschen Übersetzungen wird auch im folgenden immer dann zitiert, wenn sie im Vergleich zu den älteren treffender erscheinen.
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Eroberung der Natur ist das entscheidende Movens der abenteuerlichen Reise. Allerdings wird der Forschrittsgedanke in Voyage au centre de la terre durch eine gegenläufige Bewegung kontrastiert: eine Rückkehr zum Ursprung, die sich psychologisch als Regression deuten läßt. 23 Verne entfaltet in seinen Romanen und im besonderen in seinen Romanfiguren eine Dialektik von pragmatisch-technokratischer Problemlösung und regressiver Evasionsbewegung: Nemo bildet das Paradigma dieser widersprüchlichen Einheit. In Les enfants du capitaine Grant nimmt der Wissenschaftler eine andere Position in der Figurenkonstellation ein. Hier ist er nicht der führende Organisator, sondern der kommentierende Begleiter, dem die Reise Anlaß zu gelehrten Vorträgen bietet. Verne bedient sich des Klischees vom zerstreuten Professor, der das Reiseabenteuer nur deshalb mitmacht, weil er in das falsche Schiff eingestiegen ist. Doch tragen Professor Paganels wissenschaftliche Kompetenz wie sein Mut und seine Findigkeit zum erfolgreichen Abschluß des Unternehmens bei. Ihm verwandt ist der Astronom Palmyrin Rosette aus Hector Servadac. Der ehemalige Physiklehrer des Protagonisten Hector Servadac liebt nur die Wissenschaft, er geht ganz in den Objekten seiner Forschung auf. Seine Mitmenschen behandelt er mürrisch und ungeduldig, wie schlechte und lästige Schüler. Die von ihm selbst vorausberechnete, unvermeidliche Rückkehr zur Erde ärgert den Misanthropen. Seine grobe Menschenfeindlichkeit wird jedoch durch seine hervorragende wissenschaftliche Kapazität ausgeglichen. Die moralische Ambivalenz des Erfinders und Ingenieurs, die schon an Figuren wie Hatteras, Nemo oder Robur sichtbar ist, wird in einigen späteren Romanen eindeutiger ins Negative aufgelöst. Protagonist des 1896 erschienenen Romans Face au drapeau ist der geniale französische Ingenier Thomas Roch, der eine neue Wunderwaffe erfunden hat. Aber niemand nimmt ihn ernst, und kein Land findet sich bereit, das Patent des „Fulgurator Roch" zu kaufen und seine Herstellung zu finanzieren. Anzeichen von Geisteskrankheit führen zu einer Einlieferung Rochs ins Irrenhaus. Der Anführer einer Piratenbande, der sich für einen spanischen Grafen ausgibt, entführt den Erfinder und stellt ihm in einem versteckten Labor auf einer unbewohnten Insel alle Mittel für die Verwirklichung der Waffe zur Verfügung, um mit ihr die Weltherrschaft zu erobern. Der Erfinder erscheint hier als Verblendeter: Es geht ihm nur um die Realisierung seiner Erfindung, um ihre Anwendung kümmert er sich nicht. Umsonst appelliert der französische Ingenieur Simon Hart, der Gegenspieler der Piraten, an das Verantwortungsgefühl seines Landsmannes. Roch denkt nur an Rache dafür, daß er von allen verkannt wurde. Erst „vor der Flagge des Vaterlandes", die das französische Kriegs23 Vgl.: Friedrich WOLFZETTEL: Jules Verne. Eine Einführung. München/Zürich 1988, S. 65-81.
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schiff, das er mit dem „Fulgurator" vernichten soll, hißt, kommt er zur Besinnung. Er bringt den auf der Insel gelagerten neuen Sprengstoff zur Explosion und tötet damit die ganze Piratenbande - und sich selbst. Mit ihm geht auch das Geheimnis seiner Erfindung verloren. Die technokratische Blindheit, die das technisch Machbare um jeden Preis auch realisieren will, wird nicht durch rationale Einsicht, sondern allein durch das patriotische Gefühl besiegt. Bezeichnend ist aber auch an dieser bedrohlichen Vision des technischen Fortschritts, daß sein Verlauf von der Person und der freien Entscheidung der maßgeblichen Wissenschaftler und Erfinder abhängt. Der Ingenieur bleibt, positiv oder negativ, der Held der Geschichte. Einen ähnlichen Typus wie Roch repräsentiert der Ingenieur Marcel Camaret in dem 1919 postum erschienenen Roman L'étonnante aventure de la mission Barsac24. Der Erfinder neuer Waffen und Überwachungssysteme steht seit langem in Diensten eines Verbrechers, ohne ihn zu durchschauen. Eingeschlossen in seiner Fabrik, wo die innovativen technischen Geräte hergestellt werden, bemerkt Camaret nicht, daß Harry Killer in der futuristischen Stadt Blackland mit Hilfe dieser Apparate ein Terrorregime ausübt. Ohne den Plan des Verbrechers zu kennen, führt ihn der Techniker aus. Er fühlt sich als Demiurg, obwohl er nicht einmal weiß, wozu sein Werk gebraucht wird. Harry Killers Gegner müssen ihm erst die Augen für die kriminelle Instrumentalisierung seines Wissens öffnen. Wissenschaftliche Intelligenz ist mit Weltfremdheit und Praxisferne verbunden. Camaret bleibt gegenüber den Auswirkungen seiner Erfindungen auf die Menschen achtlos und gleichgültig, auch nachdem er die Fronten gewechselt hat und zusammen mit den Expeditionsteilnehmern die Verbrecher bekämpft. Während er auf einem Bildschirm beobachtet, wie eine Gruppe von Gegnern durch elektrische Stromschläge malträtiert wird, erklärt der Ingenieur den neuen Freunden in einem sachlich-distanzierten Vortrag die Funktionsweise des Apparates, den er gerade auf seine Gegner anwendet und in einer Art televisiver Live-Übertragung vorführt. 2 5 Im Unterschied zur Blindheit des Ingenieurs gegenüber seiner Indienstnahme durch Verbrecher, die vom Autor eindeutig satirisch dargestellt wird, läßt der Text keine kritische Intention in der Darstellung der Folterung und Vernichtung der Feinde als Schauspiel erkennen. Sie erscheint 24 Der Roman wurde von Jules Vernes Sohn Michel auf der Grundlage von Notizen und einem fünfseitigen Manuskript des Vaters ausgearbeitet. Vgl.: Volker DEHS: Jules Verne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 2. Aufl. Reinbek 1993, S. 123. - In deutscher Übersetzung erschien der Roman erstmals 1978. 25 Vgl.: Jules VERNE: Das erstaunliche Abenteuer der Expedition Barsac. Deutsch von Eva RechelMertens. Mit 54 Illustrationen von G. Roux. Zürich 1978, S. 384. - Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie, die im selben Jahr (1919) wie die französiche Erstausgabe des Verneschen Romans erschien, geht von einer ähnlichen Situation aus: Die maschinelle „Bearbeitung" des Körpers, die das Opfer zu Tode foltert, wird dem Reisenden in ihrer Funktionsweise sachlich und detailliert erklärt.
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nicht nur als gerechte Strafe für die Unverbesserlichen und Hartnäckigen, die genüßliche und voyeuristische Schilderung der Kämpfe hat auch die Funktion, die beschreibenden Passagen über die dystopische Zukunftsstadt und ihre technischen Einrichtungen immer wieder durch eine spannende Handlung aufzulockern. Nicht nur als Instrument, sondern als Inbegriff des Verbrechens wird ein ganz bestimmter Typ des Wissenschaftlers in Les cinq cents millions de la bégum dargestellt. Der Jenaer Chemieprofessor und Rassenforscher Schultze stellt sich ganz in den Dienst des deutschen Imperialismus. Schultzes Idiosynkrasie richtet sich gegen die „keltische Rasse". Ihrer Vernichtung bzw. Unterwerfung unter die überlegene „sächsische Rasse" sind alle wissenschaftlichen Anstrengungen des Professors gewidmet. Durch diese Obsession werden Wissenschaft und Kriegstechnologie identisch. Die Waffenfabrikation wird selbst vollkommen zentralistisch und militärisch organisiert. Der politische Charakter der von der Kriegsindustrie geprägten „Stahlstadt" wird in der Figur Schultzes beispielhaft verkörpert. Er ist der megalomane Egozentriker, der einsame Diktator, der völlig isoliert in seinem befestigten „Stierturm" lebt und der andere Menschen nur als Befehlsempfänger sieht. 26 Technische Effizienz wird durch emotionale und kommunikative Verkümmerung erkauft. Schultzes Gegenspieler und Kontrastbild, der gesellige, kultivierte und philanthropische Hygieneprofessor Sarrasin aus Frankreich, wirkt im Vergleich zur grellen Karikatur des Deutschen beinahe blaß. Einen größenwahnsinnigen deutschen Wissenschaftler hat Verne nochmals in Le village aérien porträtiert. Der Anthropologe Dr. Johausen läßt sich im Kongo von einem Volk von Menschenaffen als König verehren. Der Gelehrte, der die Sprache der Affen erforschen und ihre Menschenähnlichkeit beweisen wollte, ist selbst zur Affenähnlichkeit degeneriert. An Figuren wie Johausen und Schultze demonstriert Verne, daß der Weg von der Wissenschaft zum Wahnsinn nicht weit ist.
d) Der Held als Maschine - die Maschine als Held Die Maschinen, die in den Romanen Vernes Handlungsmuster und Bildlichkeit prägen, sind in erster Linie Fortbewegungsmittel. Sie sind also nicht an einen bestimmten Platz gebunden, sie befinden sich nicht in einer künstlichen Umgebung wie etwa die Produktionsmaschine in einer Fabrik. Sie bleiben
26 Vgl.: Dirk HOEGES: Grün ist der Franzose und eisern der Deutsche. Jules Vernes ,Les Cinq Cents Millions de la Begum' und die Technisierung nationaler Stereotypen. In: Literatur in einer industriellen Kultur. Hg. von Götz Großklaus und Eberhard Lämmert. Stuttgart 1989, S. 185-196.
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Abb. 3: Vingt mille lieues sous les mers: „Millionen Kalmar". Illustration von Alphonse de Neuville.
sichtbar, nicht weggesperrt in einer Maschinenhalle. 27 Sie bewegen sich inmitten der Natur: durch Urwald, Wildnis und Wüste, über das und unter dem Meer, in der Luft. Diese Vehikel sind für die Verneschen Helden nicht bloße Instrumente. Sie werden vielmehr zu einem unablösbaren Bestandteil der Heldenfigur. Wenn die Identifikation des Helden mit der von ihm konstruierten Maschine weit genug getrieben wird, kann die Maschine selbst die Stelle des Helden einnehmen. Kapitän Nemo etwa hat sich mit seinem „Nautilus" eine eigene kleine Welt geschaffen. Die Fortbewegungsmaschine ist ein Gehäuse, das den Insassen von der Gesellschaft völlig unabhängig macht. Die Maschine ist einzig von der Natur abhängig, die die notwendigen Energiequellen bereitstellt. Das Verhältnis der Maschine zur Gesellschaft ist negativ definiert: 27 Vgl.: Lydia MURAUER: „Die verschobenen Abbilder der Hebel und Räder". Zur Darstellung der Maschine in der deutschen Literatur von 1830 bis 1870. Wien (masch. Diss.) 1983, S. 199.
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Der „Nautilus" ermöglicht es, sich dem Herrschaftsbereich der Sozietät zu entziehen und in einem unerreichbaren Abseits einen beinahe grenzenlosen Freiraum zu schaffen. Die schützende, nahtlose Hülle des „Nautilus" ist für Nemo wie eine zweite, gepanzerte Haut. Er verschmilzt mit seinem Fortbewegungsapparat zu einer Einheit. Der „Nautilus" ist aber selbst Teil der Meereswelt. Als riesiger Fisch bewegt sich das Unterseeboot lautlos zwischen den anderen Fischen. Bilder der Harmonie lösen den Kontrast von Maschine und Natur auf. Auch als Zerstörungsmaschine verhält sich der „Nautilus" zoomorph. Nicht durch Geschosse versenkt er Schiffe und zerfleischt er Pottwale, sondern durch seinen „Schnabel", den er in den Rumpf des feindlichen Schiffes bzw. in den Körper der häßlichen Wale stößt. Nicht zufällig verwechseln am Anfang die Mitglieder der Expedition zur Verfolgung des „Nautilus" die Maschine mit einem Meeresungeheuer. Die Identifikation des Menschen mit der Maschine wird durch die Gleichung von Maschine und Tier umgekehrt und ergänzt. In der Verschmelzung des Abenteuerhelden mit der Maschine kulminieren die Phantasien einer unbeschränkten Macht über die Umwelt. Die Elektrizität verleiht dem Apparat ungeheure Kräfte. Bei der Beschreibung von Motoren, Batterien und Materialien der Fahrzeuge werden rationale Erklärung und poetische Suggestion miteinander verquickt. Das Geheimnisvolle der Technik in den Romanen wird auch durch die in sie eingefügten Erklärungen nicht völlig aufgelöst. Nachdem Nemo dem Professor Aronnax erklärt hat, wie das Antriebssystem funktioniert und woher die Triebkraft bezogen wird, kommentiert der Ich-Erzähler Aronnax: Hier fand ein Geheimnis statt, aber ich bestand nicht darauf, es kennen zu lernen. Wie ward es möglich, daß die Electricität mit solcher Kraft wirkte? Woher entsprang diese fast unbegrenzte Kraft? Etwa aus einer übermäßigen Spannung durch eine neue Art von Wellen? Oder aus der Hinüberleitung, welche durch ein System unbekannter Hebel bis zum Unendlichen gesteigert werden konnte? Dieses war mir unbegreiflich. 28
Die Maschine vermag die Naturkräfte zu überwinden. Nicht nur die Kräfte des Meeres werden bezwungen, auch die Schwerkraft wird besiegt. In Maitre-du-monde ist Robur mit seinem vogelartigen Amphibienfahrzeug, das eine Fortbewegung auf der Erde und in der Luft sowie auf und unter dem Wasser ermöglicht, völlig eins geworden. Bilder der Harmonie von Technik und Natur werden durch die Darstellung der Maschine als Wunderwaffe und Zerstörungsmittel kontrastiert. Aber immer ist es der Apparat, der die Abenteuer besteht, der Mensch ist Bestandteil des Apparats, den er steuert.
28 Julius VERNE: Zwanzigtausend Meilen, 1876 (Anm. 14), S. 99.
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Die Affinität von Mensch und Maschine wird in Vernes Romanen aber nicht nur durch die Figur des Piloten, der mit seinem Apparat eine Einheit bildet, thematisiert. Ihr Pendant ist der maschinisierte Mensch. Sein Prototyp ist Phileas Fogg. Er ist am Anfang des Tour du monde en quatre-vingts jours die Inkarnation technischer Rationalität und Intelligenz, deren Prinzip die restlose Funktionalität ist. Der Reisende erscheint hier als Uhrwerk, als Präzisionsapparat, der ausschließlich mechanischen Kräften gehorcht: Sah man diesen Gentleman in seinen verschiedenen Thätigkeiten, so gab er die Idee eines Geschöpfes, dessen sämmtliche Theile wohl im Gleichgewicht standen und richtig abgewogen waren, so vollkommen, wie ein Chronometer von Leroy oder Earnshaw.29
Die kritische Pointe liegt darin, daß die technische Perfektion, eine Grundkomponente des modernen Fortschrittsbegriffs, hier völlig funktionslos ist. Foggs Leben besteht hauptsächlich im Zeitungslesen und Whistspiel. Diese Tätigkeiten werden aber mit äußerster Disziplin verrichtet. Der Tagesablauf dieses Privatiers ist auf die Minute genau geregelt und erfährt über Jahre nicht die geringste Veränderung. Die Zwänge industrieller Produktion werden auf die Organisation eines Mannes, der nicht zu arbeiten braucht, übertragen. Die Ordnungssucht als Selbstzweck wird von ihm bis zur höchsten Perfektion getrieben; der Asoziale erweist sich als der Disziplinierteste. Im Wettlauf gegen die Zeit bei der Reise um die Erde, deren Ziel mit ihrem Ausgangspunkt zusammenfällt, kann sich die Präzision des Maschinenmanns bewähren. Fogg wird durch eine Idée fixe angetrieben: eine vorgezeichnete Bahn in einer vorgezeichneten Zeit zu durchlaufen. Doch läßt Verne im Verlauf der Reise seine Figur mutieren. Großmut und Hilfsbereitschaft werden sichtbar. Die verwunderte Bemerkung eines Reisegefährten, Fogg habe ja ein Herz, quittiert dieser mit den Worten: Bisweilen, [...] wenn ich dazu Zeit habe. 30
Auch nachdem Fogg sein „gutes Herz" gezeigt hat, bleibt sein Erfolgsrezept den technischen und industriellen Verfahren analog. In der Wahl des günstigsten Zeitpunkts und in der präzisen zeitlichen Abstimmung verschiedener Verhaltensweisen und Handlungen liegt der Schlüssel zum Erfolg: das Timing. Nicht zufällig wird der Held der technischen Ära mit einem Uhrwerk gleichgesetzt. Die Uhr als Präzisionsinstrument gehört auch zum unverzichtbaren Rüstzeug des Kolonisators. In L'île mystérieuse ist es eine genaue Uhr, die eine Bestimmung des Meridians, auf dem sich die unbekannte Insel be29 Julius VERNE: Reise um die Erde in 80 Tagen. Collection Verne. Bd. 3. 8. Aufl. Wien/Pest/Leipzig o. J„ S. 9. 30 Ebenda, S. 98.
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findet, ermöglicht. Im Unterschied zum „Wilden" kann der „Zivilisierte" gerade durch die Uhr seine Lage in Raum und Zeit bestimmen.31 Die räumliche und zeitliche Orientierung bildet den ersten Schritt, die eigene Situation in den Griff zu bekommen und das Projekt der Kolonisierung und zunehmenden Naturbeherrschung zu initiieren. Das psychologische Gegenstück des Uhrwerks ist die Obsession. Viele Figuren Vernes werden von einer Idée fixe beherrscht. Unbeirrbar verfolgen sie ein einziges Ziel. Bei Hatteras schlägt die Besessenheit vom Wunsch, den Nordpol zu erreichen, in Wahnsinn um. Auf geradem Wege stets nach Norden zu gehen wird zum einzigen Lebensinhalt des Forschungsreisenden.32 Dem Phileas Fogg wird der Spleen nur deshalb nicht gefährlich, weil er durch Liebe und Hilfsbereitschaft ausgeglichen wird. Dem Meister Zacharius aus Vernes früher gleichnamiger Erzählung33 wird dagegen die Gleichsetzung von Mensch und Maschine zum Verhängnis. Der Genfer Uhrmacher, Erfinder der „Ankerhemmung" (39), identifiziert sich so sehr mit seinem Produkt, daß er den Menschen selbst als Uhr sieht. Seinem Lehrling erklärt er; Verstehst du denn nicht, daß es zwei klar unterschiedene Kräfte in uns gibt: Seele und Körper, das heißt also: ein Uhrwerk und einen Regulator? Die Seele ist der Urquell des Lebens, das Werk also. Ob sie nun durch ein Gewicht, durch eine Feder oder durch einen unkörperlichen Einfluß bewegt wird, jedenfalls befindet sie sich im Herzen. Doch ohne den Körper wäre dieses Werk ungleich, unregelmäßig, unmöglich! Darum muß es so sein, daß der Körper die Seele reguliert, und wie die Unruhe ist er regelmäßigen Schwingungen unterworfen. Und das muß wahr sein, denn wir fühlen uns krank, wenn Trinken, Essen und Schlaf nicht einigermaßen geregelt sind! Genau wie bei meinen Uhren gibt die Seele durch ihre Schwingungen dem Körper die verlorene Kraft wieder! Nun denn: Was bewirkt also jene enge Verbindung zwischen Seele und Körper, wenn nicht eine wunderbare Hemmung, durch welche das Räderwerk der Seele und das Räderwerk des Körpers ineinanderzugreifen vermögen? Das also ist es, was ich erraten und ausgewertet habe, und deshalb gibt es für mich keine Geheimnisse des Lebens mehr: denn das Leben ist letzten Endes nichts als eine geniale Mechanik!" (56)
31 Auf diesen Gegensatz zwischen dem auf einer einsamen Insel ausgesetzten Ayrton, dessen Verwilderung sich gerade im Verlust des Zeitbewußtseins äußert, und den „Schiffbrüchigen der Luft", die die lie mystérieuse schon dadurch „vermenschlichen", indem sie ihre Lage feststellen, weist Michel Butor hin. Vgl.: BUTOR, 1965 (Anm. 3), S. 202. 32 Zur Figur des Hatteras vgl.: Alfred ADLER: Hatteras: Verzweiflung im Namen der Wissenschaft. In: ders.: Möblierte Erziehung. Studien zur pädagogischen Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts. München 1970, S. 82-113. 33 Maître Zacharius ou l'horologer qui avait perdu son âme. In: Musée des familles. Bd. 21, 1854, Nr. 7 - 8 , S. 193-200, 225-231. Deutsche Erstausgabe in: Eine Idee des Doctor Ox. Meister Zacharius. Ein Drama in den Lüften. Eine Überwinterung im Eise. Eine Mont-Blanc-Besteigung. Deutsch von Martha Lion. Julius Verne's Schriften. 20. Bd. Wien/Pest/Leipzig 1875, S. 101-158. Im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Jules VERNE: Meistererzählungen. Aus dem Französischen von Erich Fivian. Zürich 1977, S. 35-94.
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
Der Gedanke des „homme machine" wird von Verne als dämonischer dargestellt. Der Uhrmacher fühlt sich als gottähnlicher Demiurg, denn sein Werk, die Uhr, ist Gottes Werk, dem Menschen, nachgebaut. In seiner Verblendung glaubt Zacharius, mit der Uhr die Zeiteinteilung und -messung, damit aber die Zeit an sich erschaffen zu haben. Der Schöpfer der Zeit beansprucht für sich Unsterblichkeit. Doch bleiben aus unerklärlichen Gründen allmählich alle von Meister Zacharius gebauten Uhren stehen. Alle Reparaturversuche scheitern, es sind keine Konstruktionsfehler im Uhrwerk zu finden, allein die Federn haben ihre Sprungkraft verloren. Zugleich verliert der Uhrmacher immer mehr an Kraft: denn sein Leben, seine Seele steckt in den von ihm konstruierten Uhren. Ein geheimnisvoller Greis bietet Zacharius an, die Uhren wieder in Gang zu bringen, wenn dieser ihm seine Tochter vermacht. Zacharius verspricht sie ihm. Als im Schloß des Greises um Mitternacht der Heiratsvertrag unterzeichnet werden soll, zerspringt die letzte Uhr des Meisters. Der Greis, der sich als der leibhaftige Teufel erweist, packt die Feder der Uhr und verschwindet im Boden; Zacharius stirbt. Meister Zacharius steht ganz im Zeichen der Erzählungen von E. T. A. Hoffmann und E. A. Poe.34 Verne verwendet das Motiv der Obsession des Kunsthandwerkers durch sein Werk. Der tödliche Frevel des Meister Zacharius besteht darin, sein Leben ausschließlich der Wissenschaft geweiht zu haben. Am Ende der Erzählung zeigt die teuflische Uhr zu den Stundenschlägen auf kupfernen Tafeln folgende Worte: Man soll die Früchte vom Baum der Erkenntnis essen. [...] Der Mensch kann Gott gleich werden. [...] Der Mensch soll Sklave der Wissenschaft werden und für sie seine Eltern und seine Familie opfern. (90-92)
Zur Todesstunde erscheint aber der Satz: Wer versucht, Gott gleich zu werden, ist verdammt in alle Ewigkeit! (93)
Die Gotteslästerung des Uhrmachers besteht darin, die Wissenschaft absolut zu setzen und sie zur Religion zu machen. In späteren Werken hat Verne auf das Eingreifen des Teufels verzichtet. Es ist die Natur, die die Hybris des Menschen bestraft: Nemo wird mit dem „Nautilus" durch ein Erdbeben in einer unterseeischen Grotte eingesperrt, er kann nicht mehr auslaufen; Robur stürzt zusammen mit seiner Maschine tödlich ab, als er die Naturkräfte herausfordert, indem er mitten durch Gewitterwolken fährt. Und Hatteras, der von seinen Gefährten gerade noch abgehalten werden kann, sich in den Krater des Vulkans am Nordpol zu stürzen, bezahlt seinen Eigensinn mit dem Wahnsinn. 34 Vgl. dazu: Volker DEHS: E. T. A. Hoffmann et „Maître Zacharius". In: Bulletin de la Société Jules Verne (Neue Serie), Nr. 72 (1984), S. 167-174; ZIMMERMANN, 1987 (Anm. 12), S. 43-55.
1. Erzählstruktur und wissenschaftlich-technische Fiktion
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Anders endet Le tour du monde en quatre-vingts jours. Phileas Fogg, dessen Leben anfangs als völlig maschinisiert erscheint, ist kein Ingenieur, der sich mit seinem technischen Produkt identifiziert. In der Sicht seines Dieners ist er selbst die Maschine, die bedient werden muß. Doch kann der Held des erfolgreichsten der Verneschen Romane seine Monomanie relativieren und am Ende das Glück finden. Technische Perfektion und die Tugenden eines Gentlemans finden in Fogg einen harmonischen Ausgleich, weil Wissenschaft und Technik für ihn nicht Lebenszweck, sondern Mittel eines abenteuerlichen Wettspiels um das Lebensglück sind.
e) Der Zauber der Elektrizität Von den Kräften, die der technische Fortschritt entfaltet, übt die Elektrizität in den Romanen Vernes die größte Faszination aus. Sie ist die ideale Antriebskraft der Verneschen Reisemaschinen. Kapitän Nemo erklärt dem Professor Aronnax: Es giebt einen starken, folgsamen, raschen, willigen, zu Allem dienlichen Agenten, der an meinem Bord herrscht. Er leistet mir alles, beleuchtet, erwärmt, ist die Seele meiner mechanischen Werkzeuge. Dieser Agent ist die Elektricität. 3 5
Elektrizität als saubere, sichere Energie bildet die Grundlage einer Utopie der Bewegung, die als völlig frei von den Schlacken des Produktionsprozesses, von Ausbeutung und Unterdrückung erscheint. Das Meer enthält die Stoffe, die zur Herstellung der Elektrizität notwendig sind: das Natrium, das im Meerwasser enthalten ist, und in unterseeischen Bergwerken Steinkohle, die als Brennstoff zur Extraktion des Natriums erforderlich ist. Wie die Elektrizität ungeheure Kräft zu entwickeln erlaubt, so birgt das Meer den reichsten Vorrat der Natur. Und wie die Potentiale der Elektrizität noch unerforscht sind, so stellt auch das Meer in seiner Weite und Unberechenbarkeit eine unwiderstehliche Herausforderung an den Menschen dar: seine Schätze zu entdecken, seine Reserven auszubeuten und auch in diesen Bereich ordnend einzugreifen. Eine ordnende Macht, nicht nur eine unerschöpfliche Energiequelle stellt die Elektrizität dar. Denn sie ist nicht nur die Antriebskraft des „Nautilus". Elektrisch funktionieren auch Meßinstrumente wie das Tachometer, das die Bewegung der Reisemaschine zu kontrollieren hilft. Ein elektrischer Draht ermöglicht die Kommunikation zwischen dem „Nautilus" und einem mitgeführten Fischerboot. Und nicht zuletzt dient die Elektrizität der Herstellung von Trinkwasser und hilft beim Kochen. 35 VERNE: Zwanzigtausend Meilen, 1876 (Anm. 14), S. 92.
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
Die Elektrizität, die „Seele der industriellen Welt"36, ist auch die Antriebskraft der Flugmaschinen „Albatros" und „Epouvante" in Vernes beiden Robur-Romanen. Die Energie wird aus Akkumulatoren gewonnen, deren Aufbau das Geheimnis des Erfinders bleibt. Nicht nur die Produktions- und Verkehrsmittel, auch die Destruktionsmittel erhalten durch die Elektrizität eine neue Qualität. Der Wissenschaftler und Ingenieur Camaret in L'étonnante
aventure de la mission Bar sac ist in der
Lage, durch elektromagnetische Wellen die Maschinen von Blackland fernzusteuern, aber auch Sprengsätze fernzuzünden. Die Fabrik, in der sich Camarets technische Kommandozentrale befindet, gleicht einer Festung. Ihre Mauern bestehen aus einem leitungsfähigen Material und werden bei einem feindlichen Angriff unter Strom gesetzt. Die Betätigung eines Schalthebels genügt, um die Feinde zu vernichten. Einen noch größeren Stellenwert nimmt die Elektrizität in dem Roman Mathias Sandorf ein. Sie bildet die technische Grundlage des utopischen Kleinstaates Antékirrta. Nicht nur Wasserversorgung, Beleuchtungssystem, Telegraph, Telephon und Eisenbahnen werden elektrisch betrieben, auch die Zündung und Abfeuerung von Torpedos und anderen Geschossen erfolgt auf nicht näher erläuterte Weise elektrisch. „Elektriks", elektrisch angetriebene Schnellboote, bilden ein effizientes Kampfmittel zur See. Die magischen Kräfte, die der Elektrizität zugeschrieben werden, werden sinnfällig, wenn dem Gründer und Beherrscher des Zukunftsstaates, Dr. Antékirtt alias Mathias Sandorf, eine „elektrische" Ausstrahlung zugesprochen wird. Sie befähigt ihn, Menschen zu „magnetisieren", zu hypnotisieren und dadurch ihren Willen zu beeinflussen und in ihnen beliebige Halluzinationen hervorzurufen. Die Elektrizität wird also mit einer Manipulationstechnik assoziiert, die ihr eine dämonische Macht verleiht. Durch diese Verbindung von Magie und Technik erhält Sandorf unbegrenzte Macht, die er auch zur Vernichtung seiner Feinde einsetzt. Der Elektrizität wird Allmacht zugeschrieben. Im Roman L'île à hélice (1895), dessen Schauplatz eine künstliche, mittels Elektromotoren fahrbare Insel ist, heißt es: Glücklicher Weise haben die Elektrotechniker so große Fortschritte in ihrem Fache gemacht, daß man von der Elektrizität, der Seele des Weltalls, so gut wie Alles verlangen kann. 37
36 Jules VERNE: Robur der Eroberer. Aus dem Französischen von Peter Laneus. Mit 48 Illustrationen von L. Benett. Zürich 1970, S. 97. 37 Julius VERNE: Die Propeller-Insel. Mit 81 Illustrationen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen. Wien/Pest/Leipzig 1897, S. 71.
1. Erzählstruktur und wissenschaftlich-technische Fiktion
105
Abb. 4: L'île à hélice: „Die Propeller-Maschinen". Illustration von Léon Benett.
Schon drei Jahre zuvor hatte Verne in Le château des carpathes ( 1892) die Elektrizität als „Seele des Universums" bezeichnet. 38 Sie ist nicht bloß die ideale treibende Kraft der Maschinen, sondern auch das Lebensprinzip der Organismen. Zutreffend ist Evelyn Füttys für Verne aufgestellte Gleichung: „Elektrizität = animalischer Magnetismus = Lebensprinzip" 39 . Diese Gleichung ist typisch für die naturwissenschaftliche Weltsicht der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der „Elektrizität, Energie und Leben Synonyme" 40 bildeten.
38 Jules VERNE: Das Karpathenschloß. Aus dem Französichen von Hansjürgen Wille und Barbara Klau. Mit 40 Illustrationen von L. Benett. Zürich 1973, S. 242. Vgl.: Evelyn FÜTTY: Vom positivistischen Fortschrittsoptimismus zur finisekularen Zukunftsangst: Jules Vernes wissenschaftlich-fiktives Weltbild vom Frühwerk zum Spätwerk. Wien (masch. Diss.) 1987, S. 201. 39 Ebenda, S. 201 f. 40 Wolfgang SCHIVELBUSCH: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1986, S. 74.
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
Wer also die Elektrizität in den Griff bekommt und über sie frei verfügt, kann sich zum „Herrn der Welt" aufschwingen. Mathias Sandorf steht nicht nur eine perfekte Fortbewegungs- und Kriegstechnik zu Gebote, er vermag es auch, durch elektrischen Magnetismus den Menschen seinen Willen aufzuzwingen. Die Elektrizität als „reine, geruchlose und körperlose Energie"41 ist wesentlicher Bestandteil einer epochalen Erfahrung um die Zeit der Jahrhundertwende: der Entstofflichung.42 Materie löst sich in Energieströme und elektrische Schwingungen auf. Der geniale Wissenschaftler Zéphyrin Xirdal aus dem Roman La chasse au météore (1908) 43 vertritt die entsprechende Theorie: Für Zephyrin Xirdal ist die Materie nur eine Erscheinung; sie hat keine wirkliche Existenz. Er glaubt das beweisen zu können durch die Unmöglichkeit, ihre letzte Zusammensetzung zu erkennen. Man zerlege sie in Moleküle, Atome, in die winzigsten Partikel, immer bleibt noch ein letzter Rest zurück, der die Lösung des Problems vereitelt, und man müßte ewig von neuem anfangen, bis man endlich ein erstes Prinzip anerkennt, das aber nichts mit Materie, mit einem greifbaren Körper zu tun hat. Dieses erste Prinzip ist immaterieller Natur, es ist die Energie. (112)
Diese Energie ist aber nach Ansicht Xirdals nicht mit den Sinnen erkennbar, da diese nur Materielles wahrnehmen können. Deshalb lasse sich die Umsetzung von Materie in Energie nicht beweisen. Jene nicht nachweisbare Zersetzung oder Vernichtung [von Materie, R. I.] ist gleichwohl vorhanden. Der Schall, die Wärme, die Elektrizität sind dafür ein indirekter Beweis. Diese Erscheinungen sind solche der strahlenden Materie, und durch sie offenbart sich, wenn auch unter gröberer und halbmaterieller Form, die freigewordene Energie. Die reine, gewissermaßen sublimierte Energie kann nur jenseits der materiellen Welten bestehen. Sie umgibt diese Welten wie mit einer Dynamosphäre mit einer deren Masse entsprechenden Dichtigkeit, die um so geringer ist, je weiter man sich von ihrer Oberfläche entfernt. Das Zutagetreten dieser Energie und ihres Strebens nach immer stärkerer Verdichtung, das verstehen wir unter Anziehungskraft. (113)
Materie ist also nichts anderes als konzentrierte Energie, und da die Energie im Weltraum ungleichmäßig verteilt ist, befindet sie sich ständig in Bewegung. In deutlicher Abgrenzug gegen ältere naturwissenschaftliche Vorstellungen läßt Michel Verne seine Figur des genialen Erfinders eine universale 41 Ebenda. 42 Für den Bereich der Ästhethik vgl. dazu: Christoph ASENDORF: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900. Berlin 1989. 43 Dieser postum erschienene Roman wurde von Michel Verne stark umgearbeitet. Insbesondere verdankt sich ausschließlich ihm die Figur des Zephirin Xirdal. Vgl.: Volker DEHS: Jules Verne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 2. Aufl. Reinbek 1993, S. 125. Im folgenden wird der Roman zitiert nach der Ausgabe: Julius VERNE: Die Jagd nach dem Meteore. Mit 36 Illustrationen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen. Bd. 93. Wien, Leipzig 1909.
2. Typologie des technischen Abenteuers
107
physikalische Theorie formulieren, deren Prinzipien Dynamisierung und Immaterialisierung genau den Tendenzen entsprechen, denen Vernes Romane mit der Thematisierung neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel folgen. Wissenschaftliche Reflexion und technische Imagination verbinden sich, um das Phänomen „Elektrizität" literarisch fruchtbar zu machen: Darin manifestiert sich die thematische Modernität der Verneschen Abenteuerromane.
2. Typologie des technischen
Abenteuers
Vernes Werk füllte eine Lücke im literarischen Angebot seiner Zeit. Die Verkaufsstrategien des Verlegers zielten, wie oben dargestellt, auf die Transformation des Autors in ein Markenzeichen. Der Name des Autors sollte für ganz bestimmte typologische Qualitäten einstehen. Jules Verne wurde vertragsmäßig auf ein Genre verpflichtet, dessen Definition er zusammen mit seinem Verleger festlegte. Dem Publikum wurde eine Enzyklopädie des Wissens in Romanform versprochen, leichtverständliche Belehrung und spannende Unterhaltung sollten in einem neuen Romantypus verbunden werden. 44 Verne selbst hat sein Werk als Produkt eines verlegerischen Programms empfunden. Einen Brief an seinen Verleger Hetzel unterschreibt er mit „votre Verne, celui que vous avez inventé" 45 . Obwohl sich Verne gelegentlich über die von der vereinbarten Gattung auferlegten Beschränkungen seiner literarischen Phantasie und ausdrücklich über den notwendigen Verzicht auf Vergewaltigung, Ehebruch und außergewöhnliche Leidenschaften beklagt 46 , zeigt er sich stets bereit, sich an den verlegerischen Vorgaben zu orientieren. Das Programm der Wissensvermittlung ließ dem Autor jedoch einen großen Spielraum in der Wahl des Romantypus. Verne nützte ein breites Spektrum bestehender Romanarten, um den intendierten Effekt der populären Wissensvermittlung zu erreichen. Dabei ist der erklärten Zweck-Mittel-Relation, nach der die literarischen Mittel dem didaktischen Zweck einer spannenden und unterhaltsamen Belehrung dienstbar gemacht werden sollen, nicht unreflektiert zu vertrauen. Dagegen läßt sich der Verdacht anmelden, die wissenschaftlich-technische Thematik fülle nur als austauschbares Versatzstück bewährte narrative Handlungsmuster und Romanschemata aus. 44 Vgl. oben, S. 30. 45 Brief Jules Vernes an Pierre-Jules Hetzel, September 1867. Zitiert nach: Daniel COMPÈRE: Jules Verne Écrivain. Genève 1991 (= Histoire des idées et critique littéraire, 294), S. 30. 46 „Sans viol, ni adultère, ni passions extra", wie es in einem Brief Jules Vernes an Pierre-Jules Hetzel vom 3. 12. 1883 (zitiert nach: COMPÈRE, 1991 [Anm. 45], S. 28) heißt, also ohne die beliebten Ingredienzen des Kolportageromans muß der Autor die Leser für sich gewinnen.
108
B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
Doch läßt sich die Auffassung, die Verneschen Romane seien nur neuer Wein in alten Schläuchen, nicht halten. Schon allein quantitativ lassen sich die endlosen Aufzählungen wissenschaftlich-technischer Termini, die enzyklopädischen Listen und Inventare, die Beschreibungen von Apparaten und die wissenschaftshistorischen Exkurse, die ganze Kapitel füllen, nicht als bloßes Beiwerk abtun. Sie erhalten im Romankontext selbst einen poetischen Charakter. Das gesamte Arsenal des zeitgenössischen naturwissenschaftlichen und technischen Wissens wird vor dem Leser ausgebreitet. Wissenschaft und Technik werden weniger erklärt denn als Wunder präsentiert, die in Staunen versetzen und ungeahnte Phantasie- und Handlungsräume eröffnen. Auch die Erzählstruktur der Romane ist durch die technische Imagination geprägt, wie das vorhergehende Kapitel zu zeigen versucht. Der Befund Manfred Nagls, die Science Fiction sei das Produkt eines generischen Amalgamierungsverfahrens 47 , wäre zumindest für Jules Vernes Romane unter Beibehaltung der chemischen Metaphorik mit dem Begriff der „Reaktion" zu ersetzen. Denn die übernommenen generischen Elemente und Muster werden nicht nur neu kombiniert, sondern erhalten auch durch die Thematisierung neuer Erfahrungsbereiche und Wissensgebiete eine andere Funktion. In der neuartigen Verbindung und Funktionalisierung älterer Traditionen liegt die Originalität des am Schnittpunkt mehrerer Entwicklungslinien angesiedelten Verneschen Werkes. Spannungen ergeben sich aus der Ungleichzeitigkeit von Vernes Thematik mit überkommenen literarischen Formen: Die Aktualität des verarbeiteten historischen Materials und die zur Verfügung stehenden literarischen Muster überlagern sich. Daraus resultiert nicht nur eine Transformation der Formen - es wird auch der historische Charakter der Themen sichtbar.
47 Nagl kommt aufgrund einer ideologiekritischen Analyse der frühen deutschen Science Fiction zu folgendem abwertenden Urteil: „Als relativ späte genrehafte Verfestigung im Kanon der Massenliteratur erweist sie [die Science Fiction, R. I.] sich als typisches Sekundärphänomen. Nicht nur ideologisch liefert die Science Fiction Mythen aus zweiter Hand. Auch literaturmorphologisch stellt sie weniger eine festgefügte Gattung als vielmehr eine parasitäre Aufbereitungsmethode dar, ein Amalgamierungsverfahren, das - nach dem „Prinzip des totalen Plagiats" - die schon vorhandenen, „ausgeschriebenen" Genres der Populärliteratur, vom Märchen bis zur Detektivliteratur, durch Kulissenschieberei, Kompilations- und Verfremdungstechniken verwertet, wobei pathologische Projektionen, infantile Omnipotenz- und regressive Kompensationsphantasien die eigentlichen, Naturwissenschaft und Technik die sekundär-rationalisierenden Motivationen liefern." Manfred NAGL: Science Fiction in Deutschland. Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur. Tübingen 1972, S. 134. Gegen Manfred Nagl hat Hans-Joachim Schulz mit Recht eingewandt, daß hier „gattungskonstituierende Konventionen zu bloßen Ideologemen", „die Unterschiede zwischen Ideologie und literarischem System" eingeebnet werden und deshalb „die Multifunktionalität des SF-Gattungssystems" als rein plagiatorisch verstanden wird. Hans-Joachim SCHULZ: Science Fiction. Stuttgart 1986, S. 92.
2. Typologie des technischen Abenteuers
109
a) Abenteuerroman Eine große Zahl Vernescher Romane greifen auf Muster des Abenteuerromans zurück. Die Bezeichnung „wissenschaftliche Abenteuerromane" bedarf jedoch der Erklärung. Zunächst sind die Merkmale, die den Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts prägen 48 , in ihnen deutlich erkennbar. Einige signalisieren die Gattungszugehörigkeit schon im Titel: Voyages et aventures du capitaine Hatteras, Aventures de trois russes et de trois anglais dans l'Afrique australe (1872), Mirifiques aventures de maitre Antifer (1894), L'¿tomante aventure de la mission Barsac. Die illustrierte 98bändige „Prachtausgabe", die Hartleben 1874 bis 1911 herausbrachte, trägt den Reihentitel: „Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen". Autor und Verlage kalkulierten deutlich mit der Popularität des Genres, und die Romane verabsäumen es nicht, die in die Form des Abenteuerromans gesetzten Erwartungen der Leser zu erfüllen. Die Eigenart der Verneschen Abenteuerromane ergibt sich aber aus einer Dialektik von Wiedererkennbarkeit der bewährten Muster und ihrer thematisch bedingten Veränderung. Volker Klotz hat eine Korrespondenz zwischen abenteuerlicher Handlung und zurückgelegter Wegstrecke festgestellt. 49 Die neuen Verkehrsmittel und die erhöhte Reisegeschwindigkeit führen zu einer Beschleunigung und Steigerung der abenteuerlichen Handlung. Einer solchen Intensivierung des Abenteuers wirkt aber gerade der Einsatz der Technik zugleich auch entgegen. Dies wird am neuen Heldentypus sinnfällig und greifbar. Denn der Machtgewinn, den die technischen Apparate dem Helden verschaffen, verhält sich komplementär zur Abnahme der Körperkraft, die zum Bestehen des Abenteuers nötig ist. Kapitän Nemo erwehrt sich in Vingt mille Heues sous les mers der feindlichen Papuas, nicht indem er von Mann zu Mann mit ihnen kämpft, sondern indem er die Treppe, über die sie in den „Nautilus" eindringen wollen, unter Strom setzt. Die Originalillustration zu dieser Szene zeigt Nemo und seine Reisegefährten, die ungerührt und gelassen beobachten, wie die Angreifer elektrisiert zusammenzucken. Diese Szene wiederholt sich mit nur geringfügiger Abweichung in L'étonnante aventure de la mission Barsac. Der Wissenschaftler Marcel Camaret führt seinen Kampfgefährten auf dem Bildschirm vor, welche Wirkung elektrisch geladene Festungszinnen auf die Angreifer haben. Auch hier beobachtet eine Männergruppe distanziert die Folgen einer neuen Kampftechnologie, 48 Vgl.: Volker KLOTZ: Abenteuer-Romane. Sue. Dumas. Ferry. Retcliffe. May. Verne. München/ Wien 1979; Bernd STEINBRINK: Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Studien zu einer vernachlässigten Gattung. Tübingen 1983; Wendelin SCHMIDT-DENGLER: Der deutsche Abenteuer- und Reiseroman im 19. Jahrhundert. Lernbehelf zur Vorlesung im WS 1985/86. Wien (masch.) 1986. 4 9 KLOTZ: A b e n t e u e r - R o m a n e , 1979 ( A n m . 4 8 ) , S . 16.
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
während deren Erfinder über ihre Funktionsweise doziert. Die Kampfgegner stoßen nicht mehr unmittelbar aufeinander, der Feind wird zum Opfer eines technischen Apparats, der die Überlegenheit des Helden begründet. Der Kampf ist nicht mehr eine Bewährungsprobe für den Helden als Person, sondern ein Test für die von ihm erfundene Apparatur. Das Risiko besteht nicht mehr in der Unzulänglichkeit der körperlichen Kräfte, der Ausdauer und der Geschicklichkeit des Helden, sondern im technischen Versagen. Nicht bedenkenlose Waghalsigkeit, sondern wissenschaftliche Kompetenz und kaltblütige Berechnung sind Voraussetzung für das Gelingen des Abenteuers. Indem sich der Held mit der Maschine identifiziert, übernimmt die Maschine die Rolle des Helden. Es ist der „Nautilus", der im vorletzten Kapitel von Vingt mille lieues sous les mers den Gegner, ein britisches Kriegsschiff, vernichtet: Inzwischen nahm die Schnelligkeit des Nautilus wirklich zu. So nahm er seinen Anlauf; er zitterte am ganzen Körper. Plötzlich schrie ich auf. Ein Stoß war versetzt worden, doch verhältnismäßig leicht. Ich spülte, wie der stählerne Schnabel kräftig eindrang; ich hörte ein Kratzen und Schaben. Aber der Nautilus drang mit der mächtigen Gewalt seines Stoßes durch die Schiffsmasse, wie die Nadel des Segelmachers durch die Leinwand! 5 0
Die Maschine wird zur handelnden Person; Kapitän Nemo beobachtet durch eine Luke „stumm, düster, unversöhnlich" 51 das Ergebnis des Angriffs: das Kriegsschiff geht unter und die Besatzung ertrinkt. Aus dem Abenteuerhelden wird der Zuschauer eines Schauspiels. Seine Motive sind keineswegs edel. Die Nemo völlig unbekannte Schiffsbesatzung wird Opfer seiner persönlichen Rachsucht. Seine Feinde sind nicht ausgemachte Schurken und Bösewichter, sondern anonym, die Vertreter einer Nation. Auch wenn die Widersacher eindeutig als bösartig und vernichtungswürdig dargestellt werden, verändern die technischen Kampfmittel und -methoden die Charakteristik des Abenteuerhelden. Robur-le-conquerant kämpft gegen das barbarische Volk der Dahomey und befreit deren zum Tode verurteilten Gefangenen, indem er von seiner Flugmaschine aus Dynamitpatronen abwirft. Die Vernichtung des Gegners durch Sprengstoff ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: Sie erfolgt augenblicklich und schaltet jeden Kampf als Kräftemessen aus; sie kann aus sicherer Distanz durchgeführt werden und erspart einen direkten Kontakt mit dem Gegner; sie ist meist vollständig und bringt oft sogar die Leichen des Gegners spurlos zum Verschwinden. Die schurkischen Verräter in Mathias Sandorf werden auf einer kleinen Insel von Minen zerfetzt: 50 VERNE: Zwanzigtausend Meilen, 1876 (Anm. 14), S. 447.
51 Ebenda, S. 448.
2. Typologie des technischen Abenteuers
111
Von der Insel Kencraf war nichts übrig geblieben, die drei Verurtheilten waren durch die E x p l o s i o n in unendlich v i e l e Stückchen zerrissen w o r d e n . 5 2
Eine solche Erledigung der Feinde entspricht nicht dem Bild des traditionellen Helden, der sein Leben vorbehaltlos im Kampf gegen seine Widersacher riskiert.53 Nicht mehr der Einsatz von Körperkräften, Geschicklichkeit und Geistesgegenwart und emotionale Energien wie Mut und Entschlossenheit entscheiden den Kampf, sondern die Verfügung über eine überlegene Technik. Ein ähnliches Ende finden die Verbrecher in Face au drapeau. Die Insel „Back Cup", auf der sie sich verschanzt haben und von wo aus sie mit Hilfe einer Wunderwaffe die Weltherrschaft übernehmen wollen, wird am Ende in die Luft gesprengt; keiner der Banditen überlebt. Von der Insel bleiben nur einige Klippen übrig. Hier ist es aber der Helfer der Banditen, der verkannte französische Erfinder Thomas Roch, der schließlich seinen Fehler erkennt, den von ihm erfundenen Sprengstoff zündet und damit nicht nur die Bande, sondern auch sich selbst tötet. Der positive Abenteuerheld, der französische Ingenieur und Spion Simon Hart, ist in den entscheidenden Momenten der Handlung zur Rolle des ohnmächtigen Zuschauers verdammt. Die Initiative geht zuerst von dem Piraten Ker Karraje aus und zuletzt auf Thomas Roch über: einen vom Wahnsinn gefährdeten genialen Ingenieur, der im Selbstmord endet. Diesem Protagonisten fehlt offensichtlich die ermutigende Vorbildlichkeit und moralische Integrität des traditionellen Abenteuerhelden. Der Zweikampf, der wichtigste Bestandteil und Kulminationspunkt der heldischen Bewährung, wird im technischen Abenteuerroman zwischen Maschinen ausgetragen. Höhepunkt des Romans Robur-le-conquerant ist ein Duell zwischen dem Flugschiff „Albatros" und dem Ballon „Go ahead". Es erweist die aeronautische Überlegenheit des „Schwerer-als-Luft-Prinzips" über dem „Leichter-als-Luft-Prinzip". Der Zweikampf ist also nicht mehr ein Vorgang, durch den ein Abenteuerheld seine körperliche und geistige Überlegenheit über seinen Widersacher beweist, sondern ein Test, der die Vorzüge und Nachteile konkurrierender Technologien sichtbar macht. Dem entsprechen auch andere Kampfmethoden. Die Sabotage ist ein effektives Mittel, den technischen Vorsprung des Gegners zunichte zu machen. Das erste Modell der Flugmaschine „Albatros" wird von Mitgliedern des gegnerischen Ballonclubs durch eine in ihrem Innern gezündete Dynamitkartusche zerstört. 52 Julius VERNE: Mathias Sandorf. Mit 111 Illustrationen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen. Bd. 47^49. Wien/Pest/Leipzig 1887, S. 558. 53 Volker Klotz hat darauf hingewiesen, daß in diesem Roman die beiden Helfer Sandorfs, die Akrobaten Pointe Pascade und Kap Matifu, die Attribute des traditionellen Abenteuerhelden tragen und damit den Leser für die Mängel des Haupthelden entschädigen. Vgl.: KLOTZ: AbenteuerRomane, 1979 (Anm. 48), S. 202.
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
Die Figur des Abenteuerhelden ist durch die weitgehende Identifikation mit der von ihm gebauten Maschine bestimmt. Robur entführt den Präsidenten des Aero-Clubs zusammen mit seinem Neffen und seinem Diener nur deshalb, weil er den Ballonverfechtern die Superiorität seiner Flugmaschine praktisch vorführen will. Das Handeln des Präsidenten Prudent ist seinerseits ganz von dem Starrsinn gelenkt, mit dem er an die Richtigkeit der eigenen technischen Lösung glaubt. Um seinen Entführern zu entkommen, entschließt er sich dazu, die Flugmaschine und damit auch die gegnerischen Insassen zu vernichten. Robur und seine Gefährten können sich retten und einen neuen „Albatros" bauen; nach dem siegreichen Duell gleicht er das Unrecht der früheren Entführung aus, indem er die Insassen des abgeschossenen Ballons rettet. Doch kehrt er in Maitre-du-monde als megalomaner Flieger zurück, der mit einem neuen Apparat, einer Mischung aus Flugzeug und Amphibienfahrzeug, die Weltherrschaft antreten möchte. Der technische Apparat ist es, der bei Verne den Abenteuerhelden definiert. Nicht die körperlichen und geistigen Eigenschaften begründen primär die Überlegenheit des Helden über seine Gegner, sondern die Technik. Das technische Produkt und der Held bilden eine so vollkommene Einheit, daß der Held bedenkenlos mit seinem Leben für die Zuverlässigkeit des Produkts einsteht. Der amerikanische Wissenschaftler Nicholl, ein Spezialist für die Herstellung von Panzerplatten, will sich in De la terre ä la lune persönlich hinter seine neu entwickelte Platte stellen, wenn sein Konkurrent, der Hersteller von Projektilen Barbicane, auf sie schießt. Dieser ist seinerseits bereit, sich in seinem Projektil zum Mond schießen zu lassen, so sehr ist er vom Gelingen seines Projekts überzeugt. Barbicane wird in den Augen Nicholls selbst zu einem Projektil, das ihn zu durchbohren droht, und Nicholl umgekehrt für Barbicane zu einem „undurchdringlichen Panzer".54 Im Zeichen gemeinsamer wissenschaftlicher und technischer Interessen wird schließlich der Streit geschlichtet. Die Psyche der Figuren Barbicane und Nicholl ist, ähnlich wie die von Samuel Fergusson (Cinq semaines en ballon), Kapitän Nemo, Phileas Fogg, Cyrus Smith, Banks oder Robur, weitgehend nach dem Muster wissenschaftlicher Rationalität und technischer Funktionalität konstruiert: Kaltblütigkeit, Kompetenz, Präzision, Zuverlässigkeit, Effizienz, rasche Entscheidungsfähigkeit, Kalkül und unerschütterliche Ruhe auch in der größten Gefahr prägen den Charakter dieser Figuren. Der stärkste emotionale Überschuß ist bei den eher positiv gezeichneten Ingenieur-Helden oft eine unendliche Begeisterungsfähigkeit für ihre wissenschaftlichen und technischen Projekte. 54 Julius VERNE: Von der Erde zum Mond. Directe Fahrt in 97 Stunden 20 Minuten. Mit 45 Illustrationen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen. Bd. 1. 5. Aufl. Wien/Pest/ Leipzig 1903, S. 68 f.
2. Typologie des technischen Abenteuers
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Aber selbst wenn weniger lautere Motive wie Gewinn- oder Rachsucht, Ehrgeiz, Neid, Haß oder Größenwahn die Protagonisten antreiben, bleibt die Technik unverzichtbarer Bestandteil der Person. Nemo ohne „Nautilus", Banks ohne „Stahlelefant", Robur ohne „Albatros" bzw. „Epouvante" sind unvorstellbar. Der modernisierte Abenteuerheld wird nicht nur mit neuen technischen Instrumenten ausgestattet, er ist selbst Resultat einer sozialen Umwelt und einer Lebenserfahrung, die immer stärker von Wissenschaft und Technik geprägt werden. Die Abenteuerkonzeption, die sich in diesem Heldentypus manifestiert, ist zwiespältig. Ein grundlegendes Handlungsmuster beruht auf einem Experiment, einer Entdeckungsfahrt, der Suche nach einem noch unbekannten Ort, nach einem Verschollenen, nach einem Geheimnis. Die Technik, gehandhabt von einem versierten Ingenieurhelden, wird zum Mittel der Bewältigung von Schwierigkeiten, Hindernissen und Gefahren. Auf der anderen Seite bilden Phänomene, die durch eine neue Technik hervorgerufen werden, selbst das Geheimnis. Der Erfinder und Gelehrte wird oft selbst zur Gefahr: Mit einer Geheimwaffe oder einer neuen Fortbewegungsmaschine versetzt er die gesamte Erde in Schrecken und strebt die Weltherrschaft an. Dieser negative Held wird in der Regel nicht von seinen Gegnern besiegt; er kommt entweder durch einen Unfall (Professor Schultze in Les cinq cents millions de la bégum), durch waghalsige Fahrlässigkeit (Robur in Mattre-du-monde) oder durch Selbstmord (Thomas Roch in Face au drapeau)55 um. Immer werden dabei die Erfindungen zusammen mit dem Erfinder vernichtet. So steht dem vielseitigen, kommunikativen, philanthropen Ingenieur-Helden der monomane und megalomane Gelehrte gegenüber, der dem Wahnsinn zu verfallen droht. Auf diese beiden divergenten Heldentypen sind auch zweierlei Abenteuerstrukturen zentriert: Das Abenteuer der wissenschaftlichen Entdeckung und technischen Eroberung kontrastiert mit dem Kampf gegen einen verbrecherischen Einsatz neuer Technologien.
b) Reiseroman Seit dem 18. Jahrhundert erscheint der Abenteuerroman häufig als Reiseroman. Auch Vernes technische Abenteuerromane sind meistens zugleich Reiseromane. Wie die neuen Reisemaschinen dabei die Form der Reise-
55 Eine weitere Variante bildet Marcel Camaret in L'étonnante aventure de la mission Barsac. Er wird von den Verbrechern, für die er früher gearbeitet hat, erschossen. Doch auch er hatte Selbstmord geplant. Kurz nachdem er getroffen wird, wird der Turm, auf dem er steht, gesprengt. Camaret hatte selbst den Sprengstoff gezündet.
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Wahrnehmung verändern, wurde oben gezeigt. Die Aktualität von Vernes Reiseromanen war aber zugleich politischer Art. Das Material für Vernes exotische Reiseromane lieferten die Berichte der Entdeckungs- und Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts. Die Entdeckungs- und Forschungsreisenden waren - wenn auch nicht immer bewußte - Vorboten oder Begleiter des Kolonialismus. Ihr wissenschaftliches Interesse ist von der politischen Funktion nicht abzulösen. Vernes Reiseromane präsentieren sich als authentische Reiseberichte und sind von solchen zuweilen auch kaum zu unterscheiden. Der exotische Reiseroman schien dem programmatischen Anspruch einer Verbindung von Belehrung und Unterhaltung beispielhaft gerecht werden zu können. Zugleich konnten auf das noch unbekannte exotische Terrain epochale Wunsch- und Angstvorstellungen des Autors und seiner Leser projiziert werden, gerade weil weder der Autor noch sein Publikum es bereist hatten. In Cinq semaines en ballon ist es einzig das Fortbewegungsmittel, der Ballon, der den Roman von den zeitgenössischen Expeditionsberichten über Zentralafrika absetzt. Aber gerade die Verwendung dieses Reisemittels macht die ideologische Affinität zum Kolonialismus und Imperialismus sinnfällig. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich ein Roman wie Cinq semaines en ballon als Wissensvermittlung präsentierte und als solche vermarktet wurde, verdeckte seine politischen und ideologischen Implikationen. In diesem Roman sind die Eingeborenen grausame Barbaren. Ihre Funktion besteht für die Romanhandlung hauptsächlich darin, gleich den Naturgewalten und den wilden Tieren die Reisenden zu gefährden und zu behindern. Die Ballonreisenden sind die überlegenen Vertreter der Zivilisation, die die „Wilden" möglichst bald domestizieren und die ihnen den „Aberglauben" wenn nötig mit Gewalt austreiben wollen. Aus der technischen resultiert in der Sicht des Autors eine selbstverständliche kulturelle Überlegenheit der Europäer. Der Wert des wissenschaftlichen Fortschritts unterliegt keinem Zweifel. Da er als unvermeidlich angesehen wird, ist auch die Eroberung und Kolonisation Afrikas durch die Europäer unausweichlich und von vornherein gerechtfertigt. Ein ähnlicher Nexus von technischer Superiorität und politischem Herrschaftsanspruch liegt dem Roman La maison ä vapeur zugrunde. Die Reise durch das nördliche Indien mittels eines „Stahlelefanten" verwandelt sich im Lauf des Romans in einen Kampf der englischen Reisegruppe gegen aufständische Inder. Der „Stahlelefant" bewährt sich nicht nur im Kampf gegen „echte" Elefanten, die er an Kraft und Widerstandsfähigkeit übertrifft. Er wird auch gegen die feindlichen Hindus eingesetzt. Zum Schluß werden sämtliche Rebellen getötet, indem der dampfbetriebene Elefant durch absichtliche Überbelastung der Ventile zum Explodieren gebracht wird. Wie in Cinq semaines en ballon wird auch hier der einzige Unterschied zwischen
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den aufständischen Hindus und den wilden Tieren darin gesehen, daß jene gefährlicher sind. Im übrigen erscheinen beide als Objekte einer legitimen und nützlichen englischen Jagdlust. Gegenüber der Struktur der Initiation56 dominiert in den Reiseromanen Vernes, die innovative Reisemaschinen vorführen, der „instrumentelle Charakter des Abenteuers"57. Die Maschinen werden imaginär „getestet": Ihre praktische Anwendbarkeit und Nützlichkeit wird demonstriert. Technische Mängel sorgen immer wieder für zusätzliche Abenteuer. Der reisende Wissenschaftler ist stets ein Praktiker. Er besteht die Abenteuer und entdeckt unbekannte Teile der Welt, indem er sein Wissen durch technische Vorrichtungen, Messungen und Experimente in die Praxis umsetzt. Die Maschinen verkörpern zugleich den Herrschaftsanspruch der Zivilisation über die Wildnis. Sie sind Instrument und Symbol des Fortschritts in einem. Den wissenschaftlichen Fortschritt propagieren diese Romane, indem sie nicht nur die Überlegenheit des „Zivilisationshelden" über die „Primitiven" zeigen, sondern auch naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse vermitteln wollen.58 Selbst Nemo und Robur, die Außenseiter der Gesellschaft, verdanken ihre Souveränität und Autarkie allein ihren überragenden wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten. Die Verschmelzung ihrer Individualität mit der Eigenart ihrer Fahrzeuge macht den Test des Gefährts, nicht die Entfaltung der Psyche des Erfinders und Entdeckers, zum Sinn der Reise. Im Interesse des Apparates scheuen die Konstrukteure selbst vor kriminellen Handlungen nicht zurück. Nemo hält Professor Aronnax und seine Gefährten im „Nautilus" gefangen, um dessen Geheimnis zu schützen. Robur entführt den Präsidenten des Aero-Clubs aus dem umgekehrten Grund: er will die Vorzüge seines Flugapparates vorführen. Das Ende der Reise fällt mit der Zerstörung des Apparates zusammen. In Cinq semaines en bailón stürzt der Ballon kurz vor dem Ziel der Reise ab, die Reisenden können mit knapper Not gerettet werden. In La maison á vapeur wird der „Stahlelefant" zum Schluß gesprengt, nachdem die Engländer ihn verlassen haben. Die Hindus, die in ihn eindringen wollen, werden getötet. Am Ende von Vingt mille Heues sous les mers wird der „Nautilus" vom Mahlstrom verschlungen. Er taucht in L'ile mystérieuse nochmals auf. Der sterbende Nemo läßt ihn fluten und versinkt mit ihm. Das U-Boot wird zu seinem Sarg. Robur vernichtet seine Flugmaschine und tötet sich selbst, indem 56 Vgl.: VIERNE: Jules Verne et le roman initiatique, 1972 (Anm. 19). 57 Gert Ueding verwendet diese Formulierung, um die Bildung Robinson Crusoes zu kaufmännischer Tüchtigkeit hervorzuheben. Gert UEDING: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt/M. 1973, S. 71. 58 In den Reiseromanen Vernes, in denen die Skepsis gegenüber Wissenschaft und Technik dominiert (z.B. Le rayort vert [1882], Le sphinx des glaces [1897], Le süperbe Orinoko [1898], Le village aérien [1901]), spielen technisch innovative Reisemaschinen keine Rolle.
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er sie in ein Gewitter steuert. Die Reise, die die abenteuerliche Handlung strukturiert, ist ihrerseits durch die Maschine bestimmt. In den beiden letztgenannten Romanen fällt das Ende der Reise mit dem des „Lebensweges" nicht nur der Maschine, sondern auch ihres Erfinders zusammen. Die Maschine hat dabei einen entscheidenden Vorteil: Sie kann aufgrund des Testverfahrens in einer verbesserten Version neu gebaut werden.
c) Die Robinsonade Die Robinsonade als Sonderform der Reise- und Abenteuerliteratur erfährt bei Verne eine wichtige Veränderung. Nicht die Einsamkeit eines Helden wird thematisiert, sondern der Zusammenhalt einer Gruppe. In L'île mystérieuse wird diese von einer Unternehmerfigur geführt, die hervorragende wissenschaftliche, technische und organisatorische Fähigkeiten in sich vereinigt. Die Gruppe der Gestrandeten verkörpert das Idealbild eines hierarchischen Kollektivs, in dem die Kompetenzen klar verteilt sind und in dem sich die Fähigkeiten und Funktionen gegenseitig ergänzen. Die Führerrolle und die Rangordnung innerhalb der Gruppe wird von allen vorbehaltlos anerkannt, wechselseitige Loyalität bestimmt die Beziehungen zwischen oben und unten. Die Intelligenz übernimmt die Leitung und Planung, die Arbeiter führen die Anweisungen durch. Suggeriert wird eine naturgegebene Teilung der Menschen in Kopf- und Handarbeiter, die ihrerseits einer Aufteilung in Unternehmer und Arbeiter entspricht und sie rechtfertigt. In Daniel Defoes Robinson herrscht während des 28jährigen Inselaufenthalts eine Eintönigkeit vor, die nur punktuell durch überraschende Ereignisse unterbrochen wird. Robinson ist vorwiegend mit der Absicherung seiner Inselexistenz, mit der Errichtung von Schutzmaßnahmen gegen drohende Gefahren beschäftigt. Es sind die Bedrohungen von außen, die Robinson zu systematischen Nachforschungen und Zivilisationsleistungen zwingen. Die Sorge um die Sicherheit macht Robinsons Inselexistenz zu einer mehr reaktiven als aktiven. Einzig die Sehnsucht danach, der Einsamkeit zu entkommen und in die zivilisierte Gesellschaft zurückzukehren, bewegt ihn zum Handeln.59 Robinsons soziale Beziehungen während seines Inselaufenthaltes sind, nach der Begegnung mit Freitag, auf ein einfaches Herr-Knecht-Verhältnis reduziert.60 Der Individualismus Robinsons zeigt sich im Blick auf das Innere der Person. Die Konzentration auf den Innenraum, auf die Selbst59 Vgl.: Horst BRUNNER: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur. Stuttgart 1967 (= Germanistische Abhandlungen 21), S. 91-102. 60 Vgl.: Karl Heinz BOHRER: Der Lauf des Freitag. Die lädierte Utopie und die Dichter. Eine Analyse. München 1973, S. 116-120.
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entdeckung und -findung des Individuums drängt in dem - aus der Ich-Perspektive erzählten - Robinsonroman über weite Passagen die Erforschung der Außenwelt, die Erschließung der Insel in den Hintergrund.61 Vernes Robinsongruppe ist dagegen von vornherein darauf aus, unter der Bedingung isolierter Inselexistenz den Prozeß der wissenschaftlich-technischen Zivilisation möglichst rasch nochmals durchzuführen. Zielstrebig beteiligen sich alle Mitglieder an dieser Nachholarbeit. Durch den Schiffbruch und die Strandung auf einer entlegenen Insel kehren die unfreiwilligen Abenteurer zu den Anfängen der Zivilisation zurück. Wie im Zeitraffer werden die verschiedenen Stadien technischer Entwicklung durchlaufen und rekonstruiert.62 Zu den Robinsonaden Vernes zählen neben L'île mystérieuse die Romane L'oncle Robinson (1870-72, Fragment), Hector Servadac, L'école des Robinsons (1882), Deux ans de vacances (1888), Seconde patrie ( 1900) und Les naufragés du Jonathan ( 1909)63. Elemente der Robinsonade enthalten außerdem die in den Polarregionen spielenden Expeditionserzählungen Un hivernage dans les glaces (1855), Le pays des fourrures (1873) und Le sphinx des glaces. All diese Romane bilden Prüfungen, Bewährungsproben. Das Inseldasein, das Überleben in der Isolation stellt eine Experimentalanordnung her, mit der aufgezeigt werden soll, wie sich eine Gruppe von Menschen, ausgerüstet mit Naturkenntnissen und technischem Können, in einem bisher von Menschen unbewohnten Gebiet bewährt. Die Romane erinnern dabei passagenweise an die Anweisungen für Bastler in den zeitgenössischen populärwissenschaftlichen Zeitschriften. L'île mystérieuse enthält immer wieder Herstellungs- und Konstruktionsanleitungen für chemische Stoffe und technische Geräte. Die geographische Information über fremde Länder, die schon Defoes Robinson kennzeichnete, wird bei Verne durch technische Wissensvermittlung ergänzt. Mit dem Hauptthema der Verneschen Robinsonaden, dem zivilisatorischen Fortschritt durch technische Natureroberung, kontrastiert die zyklische Struktur, die L'île mystérieuse und auch den Les naufragés du Jonathan zugrunde liegt. In L'île mystérieuse wird die mühselig errichtete Inselzivilisation am Ende durch einen Vulkanausbruch, der zum Untergang der Insel führt, vernichtet; alle Spuren kolonisatorischer Arbeit werden wieder ausgelöscht. Mit diesem zirkulären Schluß löst Verne ein Paradoxon auf, das aus einer sich als faktographisch präsentierenden wissenschaftlichen Phantastik 61 Vgl.: Erhard RECKWITZ: D i e Robinsonade. Themen und Formen einer literarischen Gattung. A m sterdam 1976 (= Bochumer anglistische Studien. Hg. von Ulrich Suerbaum, Bd. 4.), S. 1 0 0 - 1 0 4 . 62 Zu den Differenzen zwischen Verne und D e f o e vgl.: MACHEREY, 1974 (Anm. 13). 6 3 Dieser postum erschienene Roman beruht auf Jules Vernes Manuskript En Magellanie (entstanden 1895). Michel Verne hat die Vorlage stark bearbeitet und ihren Umfang auf das Doppelte erweitert. Vgl.: DEHS, 1993 (Anm. 43), S. 126.
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resultiert: Wie erklärt sich, daß die Welt trotz der dargestellten Erfindungen und Entdeckungen so ist, wie sie ist? Durch die abschließende Zerstörung wird das Neue wieder in den Bereich des Imaginären entrückt. Hector Servadac, ein Roman, in dem das Schema der Robinsonade in den Weltraum transponiert wird, endet genau an der Stelle, an der sie begonnen hat. Der kosmische Status quo ist wiederhergestellt, die Katastrophe wurde von niemandem bemerkt, und niemand schenkt den Weltraumreisenden Glauben. In Les naufragés du Jonathan werden die Kolonisationsleistungen und der wirtschaftliche Wohlstand immer wieder von sozialpsychologischen Konstanten: dem Egoismus und der Habgier einzelner Kolonisten bedroht und zerstört. Die Modernisierung der Robinsonade im Sinne planvoll organisierter kollektiver Kolonisations- und Zivilisationsarbeit beinhaltet zugleich die Vision des Scheiterns dieses Projekts. Der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt wird als Etappe einem längerfristigen Zyklus untergeordnet: In ihm folgt auf jeden Aufbau einer Zivilisation deren Zerstörung, die wiederum zu einem Neubeginn führt. Geschichte ist durch den notwendigen Wechsel von Progression und Regression bestimmt.64
d) Der Detektivroman Das Schema des Detektivromans65, dessen Entstehung sich auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datieren läßt, hat eine Affinität zur analytischen Methode der Naturwissenschaften. Verne hat, wie bereits gezeigt, seinerseits viele seiner Romane in Analogie zu dieser Methode konstruiert: Die systematische Entzifferung von Geheimschriften, die Lösung „wissenschaftlicher Rätsel" und die rationale Erklärung scheinbar übernatürlicher Erscheinungen strukturieren als Mittel der Spannungserzeugung den Handlungsverlauf dieser Romane. Verne knüpft dabei bewußt an E. A. Poe an66: Le sphinx des glaces ist als Fortsetzung zu Poes Romanfragment The Narrative of Arthur Gordon 64 Dieser Gedanke liegt auch Vernes 1903 entstandener, in einer vom Sohn Michel bearbeiteten Fassung 1910 erschienener Erzählung L'éternel Adam zugrunde. 65 Vgl.: Viktor ZMEGAC (Hg.): Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München 1971; Pierre BOILEAU, Thomas NARCEJAC: Der Detektivroman. Neuwied/Berlin 1964; Hans-Otto HÜGEL: Untersuchungsrichter, Diebsfànger, Detektive. Die deutsche Detektiverzählung im neunzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zu ihrer Gattungstheorie und ihrer Geschichte. Mainz 1976. Zu den vielfältigen Verbindungen zwischen Science Fiction und Detektivroman vgl.: Franz ROTTENSTEINER: Verbrechen und Detektion in der utopisch-phantastischen Literatur. Ein Überblick. In: Lexikon der Kriminalliteratur. Hg. von Klaus-Peter Walter. Meitingen 1993 ff. Teil 3: Themen-Aspekte. 1. Erg.-Lfg. September 1993, S. 1-15. 66 Schon 1864 veröffentlichte Jules Verne den Essay Edgar Poe et ses œvres. In: Musée des familles. Bd. 31. Nr. 7, S. 193-208. Wiederabgedr. in: Jules VERNE: Textes oubliés. Hg. von Francis Lacassin. Paris 1979, S. 112-114.
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Pym ofNantucket (1838) konzipiert. Das Rätselhafte des Poeschen Romanendes wird bei Verne durch eine Expedition aufgeklärt. Die „Eissphinx" erweist sich als ein im Nebel gehüllter Magnetberg. Der Schwebezustand zwischen dem Erklärbaren und dem Mysteriösen wird bei Verne ins Eindeutige aufgelöst. Geheimnisvoll ist das, was noch nicht auf rational Begründbares zurückgeführt wurde. Dementsprechend offenbaren sich auch die mysteriösen Vorfälle auf der Geheimnisvollen Insel, die zuerst der Vorsehung zugeschrieben werden, als gezielte Eingriffe Kapitän Nemos. Zur Aufklärung eines Verbrechens wird die moderne Technik im Roman Les frères Kip (1902) eingesetzt. Durch eine Photographie werden die wahren Mörder überführt und die unschuldig Verurteilten wieder freigesprochen. Die vergrößerte Photographie des Ermordeten zeigt in seinen Augen ein Spiegelbild der Täter, das die Netzhaut im Augenblick des Todes gespeichert hat. 67 An diesem Beispiel wird eine bevorzugte Strategie Vernes manifest: Einer Phantasmagorie wird durch wissenschaftlich-technische Einfälle der Anschein des Wahrscheinlichen gegeben. Die Nähe des „wissenschaftlichen" zum Detektivroman zeigt sich besonders dann, wenn es um die Entdeckung einer geheimgehaltenen Erfindung geht. Dieses Handlungselement spielt in den Romanen Vingt mille lieues sous les mers, Les cinq cents millions de la bégum, Robur-le-conquérant, Le château des carpathes, L'île à hélice, Face au drapeau, Maître-du-monde, La chasse au météore, Le secret de Wilhelm Storitz (1910) und L'étonnante aventure de la mission Barsac eine wichtige Rolle. Die wissenschaftliche Spionage erscheint als gerechtfertigt, wenn die Erfindungen bedrohlich sind. Die Auskundschaftung der Geheimnisse kann Verbrechen aufklären und das Schlimmste verhindern. Wissenschaft und Technik erweisen sich in diesem Kontext als lebensgefährlich. Mit der Figur des wissenschaftlich und technisch versierten Retters vor der Vernichtung durch neue Kriegstechnologien und Wunderwaffen führt Verne in seine Romane ein moralisches Korrektiv gegen einen unreflektierten positivistischen Fortschrittsglauben ein. Voraussetzung für einen erfolgreichen Eingriff gegen die Betreiber destruktiver Technologien ist es aber, daß die Protagonisten selbst durch eine adäquate wissenschaftlich-technische Kompetenz ausgezeichnet sind. Die Gefahren, die monomane und megalomane Ingenieure und Wissenschaftler über die Menschheit bringen, können nur durch moralisch integre Ingenieure und Wissenschaftler abgewendet werden. Detektion und Bekämpfung einer Kriminalität, die mit technischen Innovationen operiert, gehören zu den zahlreichen Aufgaben des neuen Verneschen Heldentypus: des „universalen Ingenieurs". 67 Näheres zu diesem Roman s. u., S. 458.
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e) Utopie Alternative Gesellschaftsentwürfe haben bei Verne nur marginale Bedeutung.68 Die Struktur seiner Romane ist durch spannende, abwechslungsreiche Aktion bestimmt. Die Technik scheint sich dabei gegenüber dem utopischen Ziel zu verselbständigen. Heimito von Doderer hat in einem 1962 erschienenen Aufsatz den Unterschied in der Wahrnehmung der Technik des 19. und 20. Jahrhunderts auf den Begriff der Sichtbarkeit gebracht. Im 19. Jahrhundert sei die Technik noch sichtbar gewesen: sie habe eine Ausstrahlung, eine Aura gehabt. Die Physiognomien der Erfinder des 19. Jahrhunderts seien Inkarnierungen des Begriffs der Technik und des Fortschritts überhaupt gewesen. Heute dagegen sei die Technik anonym geworden, sie habe ihre Aura verloren, die Intensität des Technikerlebnisses sei unwiederbringlich verschwunden: Es finden sich keine starken Subjekte für dieses Objekt mehr.69
Die Technik sinnlich erfahrbar zu machen gehört zu den hervorragenden Qualitäten der Verneschen Romane. Träger und Vermittler dieser Erfahrung ist die Figur des Reisenden. Sie ist der Augpunkt einer utopischen Perspektive, in der die Bewegung zum Lebensprinzip wird. In der Form der technisch beschleunigten Reise zeichnet sich eine Utopie der Bewegung ab. Auf der Zeitachse ist die Richtung dieser Bewegung ambivalent. Denn die Reise ist oft eine Suche nach dem Ursprung und stellt damit eine zeitliche Inversion der Utopie dar. Ihre Intention ist nicht Antizipation der Zukunft, sondern Verteidigung der Vergangenheit.70 Vernes utopisches Projekt ist widersprüchlich. Einerseits erhalten Wissenschaft und Technik die Aufgabe, unbekannte Welten zu erschließen und die Natur zu beherrschen. Andererseits werden die historischen Fortschritte von Katastrophen bedroht, denen gegenüber der Mensch ohnmächtig ist. Die zyklische Struktur natürlicher Prozesse ist stärker als der lineare Fortschritt. Katastrophen erzeugt aber nicht nur die Natur, sondern auch die industrielle Progression. Ihre Zwiespältigkeit zeigt sich in Vernes Visionen utopischer/dystopischer Städte. Die futuristische Stadt Blackland in L'étonnante aventure de la mission Barsac wird von einem hochtechnisierten Terror68 Zu Begriff und Geschichte der Utopie vgl.: Wilhelm VOSSKAMP (Hg.): Utopieforschung. 3 Bde. Stuttgart 1982; Wolfgang BIESTERFELD: Die literarische Utopie. 2. neubearb. Aufl. Stuttgart 1982; Klaus L. BERGHAHN, Hans Ulrich SEEBER (Hg.): Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Königstein/Ts. 1986; Götz MÜLLER: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989. 69 Heimito von DODERER: Die Technik war sichtbar. In: Magnum 40, Februar 1962: Der Großvater, S. 33 f.; hier S. 34. 70
V g l . : BUTOR, 1 9 6 5 ( A n m . 3 ) , S . 2 1 8 .
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Abb. 5: L'étonnante
aventure de la mission Barsac: Plan von Blackland. Illustration von Georges Roux.
regime beherrscht. Der Schwerverbrecher Harry Killer ist der unumschränkte Diktator eines völlig von der Außenwelt isolierten Stadtstaates in Zentralafrika. In der streng hierarchisch organisierten Gesellschaft bilden ehemalige Strafgefangene die Spitze, die Arbeiter sind Europäer, und eingeborene Schwarze werden als Sklaven gehalten. Um die vollkommene Isolation des Verbrecherstaates aufrechtzuerhalten, werden die europäischen Arbeiter nach Beendigung ihres Kontraktes heimlich ermordet. Die umliegenden Siedlungen der Einheimischen werden durch ferngesteuerte Waffen terrorisiert. Von ihrer hochmodernen Festung aus unternehmen die Verbrecher Raubzüge in die ganze Welt. Ermöglicht wird diese Dystopie durch einen ahnungslosen Wissenschaftler, der sich um die Art der Verwendung seiner Erfindungen nicht kümmert und erst von den Expeditionsteilnehmern darüber aufgeklärt wird. Die Romanhandlung mündet in eine eskalierende technische Autodestruktion, die die Zukunftsstadt und ihre Innovationen vollkommen auslöscht. Anders als Camaret vereinigt Professor Schultze in Les cinq cents millions de la begum in seiner Person politische und wissenschaftliche Macht. Die in einer unbewohnten Gegend von Oregon errichtete Stahlstadt ist Eigentum Schultzes und zugleich Produkt seiner Planung. Stahlstadt ist eine reine Industriestadt. Ihr Zweck ist nicht nur ein kommerzieller: nämlich internationaler Handel mit den produzierten Waffen, sondern auch ein politischer: Durch neue Wunderwaffen sollen alle Länder, die sich einer deutschen Welt-
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herrschaft widersetzen, militärisch erobert werden. Die von Verne imaginierten Zukunftswaffen ähneln in ihrer Wirkungsweise bereits den späteren Atomwaffen: Weitreichende Geschosse, die mit flüssiger Kohlensäure gefüllt sind, vernichten nicht nur direkt durch ihre Explosivkraft, sondern auch indirekt, indem sie in der Umgebung des Einschlags der Luft den Sauerstoff entziehen. Andere Geschosse enthalten brennbare Stoffe wie Phosphor und führen zu vernichtenden Bränden. Die Anlage von Stahlstadt ist streng geometrisch. Sie ist eine perfekte Festung. Die zentrale Fabrikationsanlage wird von konzentrischen Wachkreisen umschlossen, ihre einzelnen Sektoren werden durch undurchdringliche Stacheldrahtzäune abgeteilt. Im geometrischen Mittelpunkt der Waffenfabrik residiert, hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt, in einem bunkerartigen Bau der Diktator Schultze. Von hier aus lenkt er die ausschließlich der Waffenproduktion dienende Stahlstadt und arbeitet zugleich geheim an der Entwicklung neuer Waffen. Die Waffenfabrikation wird streng rational, zentralistisch und militärisch organisiert. Die extreme Spezialisierung der Arbeit ermöglicht auch die vollkommene Geheimhaltung der jeweiligen Projekte. Für die Einhaltung der harten Arbeitsdisziplin sorgt ein hoher Lohn, der die Arbeiter an Stahlstadt bindet. Dem rücksichtslosen Umgang mit der Arbeitskraft entspricht eine radikale Zerstörung der Natur. In Stahlstadt gibt es keine Vegetation, die gesamte Flora und Fauna ist ausgestorben, selbst die Insekten sind verschwunden. Der Himmel wird ständig durch schwarze Rauchschwaden verdunkelt. Dazu zeichnet Léon Benett eine geometrisch gegliederte, bedrohliche, geradezu infernalisch anmutende Industrielandschaft, die nur mehr einen Beobachter, aber keinen Bewohner mehr zuläßt. Im Vergleich mit Stahlstadt wird das erste Objekt von Schultzes Zerstörungswillen, die französische Musterstadt „Franceville", weit weniger effektvoll ausgemalt. 71 Sie ist in jeder Hinsicht als positives Gegenbild zu Stahlstadt konzipiert. Die Symmetrie der beiden Städte 72 resultiert aus gemeinsamen Ausgangsbedingungen. Die finanzielle Grundlage beider Städte ist die Erbschaft der Begum, die sich Schultze und Sarassin teilen müssen. Beide sind nicht nur Besitzer und Leiter der neugegründeten Städte, sondern auch hervorragende Gelehrte. Doch der französische Arzt Dr. Sarassin ist nicht wie Schultze auf kapitalistischen Profit und auf militärische Vernichtung der Konkurrenten aus, sondern handelt aus selbstlosen Motiven und verfolgt wohltätige Zwecke. Franceville ist die von Verne am ausführlichsten beschriebene positive 7 1 V g l . : FÜTTY, 1 9 8 7 ( A n m . 3 8 ) , S . 1 3 0 . 7 2 V g l . : HOEGES, 1 9 8 9 ( A n m . 2 6 ) , S . 2 0 0 .
2. T y p o l o g i e d e s t e c h n i s c h e n A b e n t e u e r s
Abb. 6: Les cinq cents millions de la bégum: „Stahlstadt". Illustration von Léon Benett.
utopische Stadt. In Franceville gibt es genaue städtebauliche Vorschriften: Form, Konstruktion, Baumaterialien und Einrichtung der Einfamilienhäuser sind wie die Anlage der Gärten und Beete bis in alle Einzelheiten genau reglementiert. Die Gartenstadt-Idylle droht ins Groteske umzuschlagen 73 , wenn Verne die Richtlinien für das Alltagsleben darlegt. Jeder Bürger von Franceville muß eine Fibel studieren, in der „die wichtigsten Bestimmungen für ein geregeltes Leben auf wissenschaftlicher Grundlage in leichtverständlicher Sprache aufgeführt sind" 74 . Darin steht geschrieben, daß ein vollkommenes Gleichgewicht seiner Funktionen die Grundforderung für eine gute Gesundheit darstellt; daß für seine Organe eine Wechselwirkung von Arbeit und Rast wichtig ist; daß nicht nur seine Muskeln, sondern auch sein Gehirn der täglichen Übung bedarf; daß neun Zehntel der Krankheiten von der Luftverpestung oder von verdorbenen 73 Vgl.: ebenda. 7 4 J u l e s VERNE: D i e f ü n f h u n d e r t M i l l i o n e n d e r B e g u m . A u s d e m F r a n z ö s i s c h e n v o n E r i c h F i v i a n . M i t 4 3 I l l u s t r a t i o n e n v o n L. B e n e t t . Z ü r i c h 1977, S. 2 1 0 .
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
Lebensmitteln herrühren. Er könnte also um seine Wohnung und um seinen Körper herum nicht genug sanitäre Schutzzonen errichten. 75
Es folgt ein „ABC der Gesundheit": -
Vermeide den Gebrauch von aufpeitschenden Giften! Mache täglich deine Körperübungen! Erledige jeden Tag gewissenhaft eine geistig anspruchsvolle Arbeit! Trinke nur gutes, sauberes Wasser! Iß Fleisch und unverdorbenes, einfach zubereitetes Gemüse! Schlafe regelmäßig deine 7 bis 8 Stunden nächtlich! 76
Für die Einhaltung dieser Regeln sorgt eine Hygiene-Polizei und ein gegenseitiges Uberwachungs- und Denunziationssystem, das sich als Dienst am allgemeinen Wohle rechtfertigt. Der Kampf gegen die allgegenwärtigen Bakterien wird durch ständiges Waschen und Putzen geführt. Zwar wird Franceville demokratisch regiert, doch herrscht auch hier monotone Uniformität und Kontrolle bis in den privatesten Bereich hinein. Paradoxerweise ist das von Verne als Paradies gesunder Lebensführung und glücklicher Arbeit konzipierte Franceville seinem Gegenbild Stahlstadt nicht ganz unähnlich. Verne dynamisiert das utopische Muster, indem er eine utopische Stadt in Konkurrenz zu einer dystopischen treten und dieses Konkurrenzverhältnis zuletzt in einem Zweikampf kulminieren läßt. Zugleich aktualisiert er das Schema des Kampfes zwischen Gut und Böse, indem er diesen als Konflikt zwischen konträren Formen der Technik- und Wissenschaftsverwendung darstellt. Die Rolle der Technik bleibt unentschieden und ambivalent: Sie beinhaltet zugleich ein Glücksversprechen und eine Apokalypsedrohung. Zwar siegt am Ende des Romans das Gute: Die Zerstörung Francevilles scheitert an einem Kalkulationsfehler Schultzes, und dieser kommt darauf bei einem technischen Unfall ums Leben. Doch vermag das Ende, daß Stahlstadt nunmehr von Franceville als Produktionsstätte zu guten Zwecken genutzt werden wird, nicht zu überzeugen.77 Auch nimmt in der Ökonomie des Romans die Schilderung Stahlstadts den weitaus größeren Raum ein. Das negative Telos der technischen Entwicklung macht das Bild vom Ende Schultzes sichtbar: Er kommt durch eine Explosion flüssiger Kohlensäure um, er wird zugleich erstickt und eingefroren: Dort saß der Stahlkönig an seinem Schreibtisch, eine gewaltige Feder in der Riesenfaust, in der sie sich ausnahm wie eine kleinere Lanze ... und schrecklich! er schien noch im75 Ebenda, S. 210 f. 76 Ebenda, S. 211. 77 Vgl.: Hans-Jörg NEUSCHÄFER: Faszination durch die Technik: Die voyages extraordinaires von Jules Verne. In: ders.: Populärromane des 19. Jahrhunderts. München 1976, S. 103-162; hier S. 1 5 3 .
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mer zu schreiben! - Wären nicht der starre Blick seiner Pupillen und der bewegungslose Mund gewesen, man hätte geschworen, er sei noch am Leben. Wie die im ewigen Eise eingefrorenen Mammuttiere der Polarzone saß die Leiche dort seit einem Monat, allen Augen verborgen. Um ihn herum war noch alles gefroren: die Reagenzien in ihren Gläsern, das Wasser in den Behältern, sogar das Quecksilber im Barometer.78
In diesem Bild wird das Zerstörungspotential der Technik sichtbar. Durch den Unfall erstarrt die Dynamik einer destruktiven Technik zu Eis. Die Zeit, das Medium des Fortschritts, ist in der Hibernalisierung zum Stillstand gekommen. Schultze stirbt einen typengerechten Tod: der egomane, gefühllose, isolierte, hochintelligente und dabei bornierte Technokrat und Militarist wird am Ende auch physisch zu dem, was er sozial bereits ist. Durch Unterkühlung wird der Körper mortifiziert, in eine Eisstatue verwandelt. Während die kristalline Erstarrung in Les cinq cents millions de la begum
als Schreckensbild und letzte Konsequenz einer imperialistischen und militaristischen Instrumentalisierung von Wissenschaft und Technik erscheint, werden in Voyage au centre de la terre die unterirdischen Kristallhöhlen als magische Verschmelzung von Natur und Kunst gesehen79 - der Illustrator Edouard Riou stellt sie als leuchtende natürliche Geometrie dar.80 Der Erzähler betont, daß „diese im Erdinnern verborgenen Schätze [...] nie einer habgierigen Menschheit in die Hände fallen" und „weder Hacke noch Schaufel sie ihrem Grabe entreißen können" würden.81 Es ist bezeichnend, daß Verne seine Helden das Wunder einer kunstvollen Natur auf einer Reise, die als Rückkehr zum Ursprung, als Regression erkennbar ist, entdecken läßt, während eine widernatürliche technische Progression im Schreckbild einer künstlichen Kristallisation des Lebens endet. Das Utopische in Vernes Romanen ist nicht in alternativen gesellschaftlichen Ordnungen zu suchen, die nur selten dargestellt werden und dann, wie Franceville, in ihrer Rigidität und Uniformierung einer unfreiwilligen Parodie gleichen. Utopische Qualität hat vielmehr die unberührte Natur, die noch keine Spuren des Eingriffs durch Menschen aufweist. Deshalb üben besonders die Polarregionen auf die Helden Vernes eine besondere Anziehungskraft aus.82 Sie gehörten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den wenigen noch weißen Flecken auf der Erdlandkarte.
78 VERNE: Die fünfhundert Millionen, 1977 (ANM. 74), S. 301. 79 Vgl.: Friedrich WOLFZETTEL: Jules Verne. Eine Einführung. München/Zürich 1988, S. 73 f. 80 Vgl. die entsprechende Illustration von Edouard Riou in der Originalausgabe von Voyage au centrede la terre (1864), wiederabgebildet in: VERNE: Reise zum Mittelpunkt der Erde, 1971 (Anm. 22), S. 197. 81 Ebenda, S. 196. 82 Die Polargebiete sind der Schauplatz mehrerer Werke Vernes: Schon die frühe Erzählung Un hivernage dans les glaces (1855; deutsch: Eine Uberwinterung im Eise, 1875) thematisiert eine
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
In der literarischen Imagination wurden die Polarregionen zum Ort neuer Grenzüberschreitungen. Der Pol ist bei Verne nicht nur ein Objekt wissenschaftlich-technischer Eroberung, er ist zugleich mythischer Ort, der Attribute des Paradieses trägt. Das Klima ist mild, da der geographische nicht mit dem Kältepol zusammenfällt. Das eisfreie Meer am Pol ist ein universelles Aquarium, in dem es von Fischen wimmelt; eine Unzahl von Vögeln überfliegt das Wasser; alles ist von blühendem Leben erfüllt. Die Tiere haben keine Furcht vor den Menschen, da sie ihnen noch nie begegnet sind. Alle Gegensätze scheinen aufgehoben zu sein: Tag und Nacht, Himmel und Meer gehen ineinander über.83 Zwar werden die Polfahrer als Pioniere des technischen Forschritts dargestellt: Die Zivilisation hat sich im Kampf gegen eine unwirtliche Natur, gegen widrigste klimatische Bedingungen zu bewähren. Doch ist die zunehmende Erschließung der polaren Regionen nicht nur Paradigma des zivilisatorischen Fortschritts, sondern sie geht zugleich mit der Ästhetisierung dieser Gebiete einher. Die Lichttreflexe und Strahlenbrechungen, die Spiegelungen und das Farbenspiel in den Eisregionen erzeugen ein prachtvolles Schauspiel. Die Schönheit der Natur übertrifft die menschlichen Artefakte: Die Eismassen nehmen faszinierende Formen an, sie bilden eine natürliche Architektur, die die Reisenden an gotische Bauten oder an orientalische Minarette erinnert.84 Durch neue Kristallisierungen und durch wechselnde Beleuchtung verändert sich diese kunstvolle Landschaft ständig. Den Blicken der Reisenden zeigen sich wandelbare Panoramen spektakulärer Landschaften. Auch in extremen Lagen finden sie immer wieder Gelegenheit, von einem sicheren Standpunkt aus das Naturschauspiel zu beobachten, geborgen in einer gut geheizten Hütte, in einer bequemen Wohnung im Eisberg oder im gemütlichen Salon des „Nautilus". Die Schönheit der Landschaft birgt aber tödliche Gefahren. Luftspiegelungen und Strahlenbrechungen erzeugen optische Täuschungen. Die Entfernungen und Dimensionen werden falsch eingeschätzt, auf die Sinnesorgane scheint kein Verlaß mehr zu sein. Schmerzhafte Augenkrankheiten treten auf. Die Eisregionen bewirken eine Irritation der Sinnesorgane, einen
Expedition ins Nordpolargebiet. Der Roman Voyages et aventures du capitaine Hatieras (1866) handelt von einer Fahrt zum Nordpol. In Vingt mille lieues sous les mers (1869/70) erreicht das Unterseeboot den Südpol. In Le pays des fourrures (1873; deutsch: Das Land der Pelze, 1875) treibt eine Gruppe von Menschen auf einer abgebrochenen Eisscholle durch das nördliche Polarmeer. In Robur-le-conquérant (1886) überfliegen die Reisenden den Südpol mit einem Hubschrauber. Der Roman Le sphinx des glaces ( 1897) schließlich handelt von einer Schiffahrt durch das Südpolargebiet. 8 3 V g l . : BUTOR, 1 9 6 5 ( A n m . 3 ) , S. 1 9 6 .
84 Julius VERNE: Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras. Mit 257 Illustrationen. Bd. 1. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen. Bd. 7. Wien/Pest/Leipzig 1875, S. 54.
2. Typologie des technischen Abenteuers
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„Schwindel der Weiße"85. Das Versagen der Meßinstrumente führt zum vollständigen Orientierungsverlust. Utopisch wirkt eine freie, ungehinderte, beinahe schwerelose Bewegung, sei es auf oder unter dem Wasser, sei es auf oder über der Erde. Eine solche Bewegung ermöglichen Vernes Reisemaschinen. Sie bilden den geschützten, geborgenen Innenraum, von dem aus die Reisenden die Natur als Schauspiel genießen können. Roland Barthes bemerkt, daß die Schiffe Vernes weit eher Wohnung als Transportmittel sind: Die Weite ihrer Reisen steigert noch das Glück ihrer Abgeschlossenheit und die Vollkommenheit der in ihnen wohnenden Menschen. Der .Nautilus' ist die ideale Höhle, und das Genießen der Abgeschlossenheit erreicht dann seinen Paroxismus, wenn es möglich ist, aus dem Schoß dieses nahtlosen Innern durch eine große Scheibe das unbestimmte Außen des Wassers zu sehen und damit durch ein und dieselbe Bewegung das Innere durch sein Gegenbild zu bestimmen. 86
Das Innere des „Nautilus" ist ein Inbild bürgerlicher Idylle. Wandtäfelungen, Tapeten, Mobiliar aus Edelhölzern, Polstersessel, kostbares Tafelgeschirr sorgen für ein gediegenes Interieur im Stil des Deuxième Empire. Eine reich ausgestattete Bibliothek enthält den Kanon der Weltliteratur und die Standardwerke der Wissenschaft und Ingenieurkunst. Gemäldegalerie, Musikaliensammlung und Konzertsaal, die in einem großen Salon vereinigt sind, vervollständigen den Mikrokosmos des Bildungsbürgers. Den Mittelpunkt und das Kernstück dieses musealen Raumes, den Nemo in seinem fahrbaren Refugium eingerichtet hat, bildet aber die meereskundliche Sammlung. Alle Kostbarkeiten und Raritäten aller Ozeane, die der Naturforscher Nemo selbst zusammengetragen hat: Fische, Meerespflanzen, Mollusken, Muscheln, Korallen, Perlen aller Art, sind hier klassifiziert und in Schaukästen ausgestellt. Das Pendant dieser Kollektion ist die enzyklopädische Vollständigkeit der Meereswelt, die den Reisenden als Spektakel dargeboten wird: die Familiarisierung des Fremden. Innen wie außen hat sich der Traum des Sammlers verwirklicht: Innen- und Außenraum sind systematisch unterteilt und vollständig ausgefüllt. Wie die Sammlungen im künstlichen Raum des „Nautilus" nach Sparten geordnet und aufgestellt sind, so ist in der Natur jeder Kategorie von Lebewesen ein bestimmter Lebensraum zugewiesen. Die künstlichen Paradiese entsprechen genau den natürlichen, sie gehorchen den Regeln der Taxonomie. Die Natur hat sich in einen zoologischen und botanischen Garten verwandelt, der Wohnraum in einen Museumskomplex. Die 85 Julius VERNE: Eine Überwinterung im Eise. In: ders.: Eine Idee des Doctor Ox. Deutsch von Martha Lion. Julius Verne's Schriften Bd. 20. 3. Aufl. Wien/Pest/Leipzig 1880, S. 193-293; hier S. 277. 86 Roland BARTHES: Nautilus und Trunkenes Schiff. In: ders.: Mythen des Alltags. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1982, S. 39^*2; hierS. 41.
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
Abb. 7: Vingt mille lieues sous les mers: „Der große Salon".
Inszenierung des Interieurs, dessen üppige Möblierung und Dekoration an Makartsche Innenausstattungen erinnert, wird dem Leser in der Form einer Besichtigungstour präsentiert. Der Rundgang endet jedoch an einem Punkt, an dem die Serie historistischer und musealer Aneigungen und Besetzungen des Raumes abgebrochen wird: im Maschinenraum. Nicht die Konservierung eines kanonisierten Kulturguts und einer mortifizierten Natur wird hier vorgeführt, sondern die Erzeugung elektrischer Energie und ihre Umsetzung in Bewegung. In dieser an den Mannschaftsraum angrenzenden Halle herrscht das Prinzip der technischen Funktionalität. Erst sie komplettiert das Gehäuse des autarken Bürgers, der nicht nur über die Objekte und Wissensgebiete der Kultur- und Naturgeschichte, sondern auch über die fortgeschrittensten Techniken der Naturbeherrschung zu verfügen beansprucht. Der „Nautilus" ist ein Paradigma bürgerlicher Unabhängigkeit. Diese
2. T y p o l o g i e d e s t e c h n i s c h e n A b e n t e u e r s
Abb. 8: Vingt milles lieues sous les mers: „Die Maschinenkammer". Illustration von Alphonse de Neuville.
verdankt der Apparat paradoxerweise der Elektrizität, einer Energieform, die, wie Wolfgang Schivelbusch beweist, im 19. Jahrhundert durch die Konzentration und Zentralisation der Energie in den Großkraftwerken das Ende des individuellen Unternehmertums und der autarken Energieversorgung besiegelte. 87 Die Innovationen der Technik und der Industrieproduktion werden im Roman von ihren sozioökonomischen und politischen Bedingungen - der Umwandlung des liberalen Konkurrenz- in den korporativen Monopolkapitalismus - abgekoppelt. Die Elektrizität stellt also die auch in sozialer Hinsicht „reine" Energie dar und garantiert damit unbeschränkte Bewegungsfreiheit. Die Versöhnung von Technik und Natur wird als Spektakel inszeniert. Verne versucht Naturwissenschaft und Romantik miteinander zu verbinden, 8 7 V g l . : SCHIVELBUSCH, 1 9 8 6 ( A n m . 4 0 ) , S . 6 7 - 7 8 .
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B. Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Verne
indem er die Aneignung des geographischen Raumes mit einer Ästhetik kombiniert, die in der Natur das Wunderbare, Zauberhafte, Theatralische erblickt. Die modernen naturwissenschaftlichen Forschungsgegenstände werden an ihren „natürlichen" Plätzen aufgesucht, durch abenteuerliche Reisen „erfahren". Vernes Abenteuer sind Abenteuer des Wissens, seine Reisen sind inszeniertes Wissen. Topographie ist daher bei Verne immer zugleich auch Topologie. Im geographischen Raum sind die Wissensgebiete systematisch angeordnet. Der enzyklopädischen Rubrizierung des Wissens entspricht ein panoramatischer Blick, dem sich die Natur als ein vollkommenes Spektakel darbietet, wobei der naturwissenschaftlich gebildete Zuschauer mit Freude die Gegenstände seines Wissens wiedererkennen kann. In Vernes Werk herrscht eine Spannung zwischen einem dynamischen Fortschrittsbegriff und einer Suche nach dem Absoluten, Unveränderlichen. Ein Bild dafür ist die Ordnung der kosmischen Bewegungen. In Hector Servadac spielt Verne einen Gedanken durch, nach dem im Weltraum die Zeit aufgehoben ist: denn ein weit entfernter Beobachter könnte die Vergangenheit der Menschen in Form optischer Signale gegenwärtig empfangen. Die Zeit wird zur Funktion der zurückgelegten Wegstrecke. In den unermeßlichen Weiten des Weltraums geht nichts verloren - zumindest ästhetisch wird alles bewahrt. Auch in der Welt unter der Meeresoberfläche, die der „Nautilus" erkundet, scheint Geschichte stillgelegt zu sein. In diesem geschichtslosen und politikfreien Raum mündet alle Bewegung in Ruhe. Die Ablagerungen der Geschichte, versunkene Schiffe und untergegangene Städte, können wie Schaubilder eines Dioramas besichtigt werden. Die Natur wird durch Benennung und Klassifikation ihrer Bestandteile in eine ideale Ordnung gebracht. Sie wird zum Museum, zum Gegenstand ästhetischer Betrachtung gleich den Kunstgegenständen eines Sammlers. Kapitän Nemo ist als reisender Sammler ein „Jäger in den Jagdgründen des Inventars"88. Seine Leidenschaft ist es, ein vollständiges Inventar der Natur in seinem Privatmuseum zur Verfügung zu haben. Nicht nur Beherrschung, auch Betrachtung der Natur ist Vernes Thema. Die Helden der areonautischen und submarinen Fahrten, der Expeditonen zu den Polen, zum Mittelpunkt der Erde und in den Weltraum verweilen lange in passiver Kontemplation des Neuen, noch nie Gesehenen. Geschichtsflucht verbindet sich mit einer Ästhetisierung der Wissenschaft. Die von Verne aufgezeigte Ambivalenz der Technik spiegelt sich so auch in der Erzählstruktur der Romane. Die abenteuerliche Handlung, die struktu88 Walter BENJAMIN: Eduard Fuchs, der Sammler und Historiker. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II/2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Frankfurt/M. 1977, S. 465-505; hier S. 490.
2. Typologie des technischen Abenteuers
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rell dem Schema wissenschaftlich-technischer Natureroberung entspricht, wird immer wieder durch eine kontemplative Naturbetrachtung unterbrochen. Die Reisemaschine, das Inbild technischer Leistung, wird in solchen Augenblicken Teil des wunderbaren Naturspektakels: Eingebettet in der Natur verschwindet sie in ihr, indem sie in Magie aufgeht.
C. FLUGPHANTASIEN I: ÜBER DER ERDE Betrachtet man die rapide Entwicklung der Flugtechnik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts1, so fällt sofort auf, daß sich die aviatorischen Neuerungen nicht nur einem erreichten technologischen Standard der Zeit, sondern in wesentlichem Ausmaß den Einfällen und Plänen, den hartnäckigen Versuchen und Basteleien eigenständiger Erfinder verdanken. „Der Traum vom Fliegen"2, der sich in allen Kulturen findet und bis zu den alten Mythen, Sagen und prähistorischen Zeichnungen zurückverfolgen läßt, erhielt einen anderen Charakter und eine neue Grundierung, seit er auch technisch implementiert werden konnte. In der fiktionalen Flugliteratur werden die Pläne und Entwürfe der Flugpioniere fortgesetzt, die Technik, unbelastet von der Nachweisbarkeit tatsächlichen Funktionierens, ins Imaginäre gesteigert. Nicht nur werden neue Flugapparate zuweilen detailliert beschrieben, es werden den Romanen auch Zeichnungen und Skizzen dieser Apparate beigegeben. Umgekehrt muten aber auch die oft zum Scheitern verurteilten Projekte und Konstruktionen der Flugpioniere manchmal skurril, phantastisch an. Besonders in den zahlreichen Periodika und Sammelbänden zum Thema Aviatik dieser Zeit läßt sich die wechselseitige Stimulation von Literatur und Technik erkennen.
1 1868 wird im Cry stal Palace zu London die erste Luftfahrtausstellung der Welt gezeigt. 1881 erscheint in Berlin die erste aviatorische Fachzeitschrift, die Zeitschrift für Luftschiffahrt. Flugversuche nach dem Prinzip „schwerer als die Luft", durchgeführt hauptsächlich von französischen, deutschen, englischen und amerikanischen Pionieren, zeitigen Erfolge: 1891-1896 gelingen Otto Lilienthal in Berlin zahlreiche Gleitflüge, 1900 führen die Brüder Wright in Kitty Hawk (North Carolina) ihren ersten erfolgreichen Gleitflugversuch durch, 1903 den ersten längeren gesteuerten Motorflug. (Vgl.: Valerie MOOLMAN: Der Weg nach Kitty Hawk. Amsterdam 1981.) Der Wettlauf um das Motorflugzeug kulminierte im Jahre 1909, in dem die neuen Flugmaschinen bei Flugmeetings in Reims, Brescia, Berlin, Doncaster und Blackpool vorgestellt wurden. In Frankfurt am Main war vom Juli bis zum Oktober desselben Jahres die Internationale Luftfahrt-Ausstellung zu sehen. (Vgl.: Charles H. GIBBS-SMITH: The Invention of the Aeroplane 1799-1909. New York 1965.) - Die Luftschiffahrt nach dem Prinzip „leichter als die Luft" verdankt dem Grafen von Zeppelin die wichtigste Neuerung: 1900 stieg sein propellergetriebenes, mit neuen, leichten Benzinmotoren von Daimler-Benz ausgestattetes Starrluftschiff auf - das erste steuerbare Luftschiff. (Vgl.: Heinz LUEDECKE: Vom Zaubervogel zum Zeppelin. Eine Geschichte der Luftfahrt und des Fluggedankens. Berlin 1936.) 2 So der Titel einer neuen Studie, die die Flugvorstellungen bis in die alten Mythen, Märchen und Sagen zurückverfolgt und eine Synthese von Kultur- und Technikgeschichte anstrebt: Wolfgang BEHRINGER, Constance OTT-KOPTSCHALUSKI: Der Traum vom Fliegen. Zwischen Mythos und Technik. Frankfurt/M. 1991.
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C. Flugphantasien I: Über der Erde
1. Die
Ballonentführung
Für die literarische Darstellung und Verwertung der neuen Flugtechniken lieferte Jules Verne wichtige Muster. Das gilt zunächst für die Ballonfahrt: Ihre Anfänge datieren zwar auf das ausgehende 18. Jahrhundert zurück.3 Aber nach einem heftigen „Flugfieber" in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts stagnierte die Entwicklung, bis sie Mitte des 19. Jahrhunderts erneut Auftrieb erhielt. Die Geschichte der Luftschiffahrt wird von Anfang an von zahlreichen Erfahrungsberichten der Flieger begleitet.4 Andererseits wurde der Ballonflug schon früh als literarische Metapher verwendet, etwa von Jean Paul5 und Adalbert Stifter6, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen.7 Was aber von diesen die Texte Jules Vernes - und zuvor schon Edgar Allan Poes 8 - unterscheidet, sind die Beschreibung technischer Einzelheiten, der Entwurf technischer Neuerungen und der Versuch, diese Neuerungen auch wissenschaftlich plausibel zu machen.9
3 1783 wurde der erste bemannte Ballonflug durchgeführt: In Frankreich stiegen Jean-François Pilâtre de Rozier und François-Laurent d'Arlandes in einer Montgolfière in die Höhe. Zur Geschichte der Ballonfahrt vgl.: Michael STOFFREGEN-BÜLLER: Himmelfahrten. Die Anfange der Aeronautik. Weinheim 1983; und: LUEDECKE, 1936 (Anm. 1). 4 Einen sehr genauen und eindrucksvollen Erfahrungsbericht von einer Ballonfahrt lieferte in dem hier untersuchten Zeitraum Max Maria von WEBER: Unter den Wassern und in den Lüften (1879). In: Carl Weihe: Max Maria von Weber. Ein Lebensbild des Dichter-Ingenieurs mit Auszügen aus seinen Werken. Berlin 1917, S. 93-106. Weber schildert die perspektivischen Veränderungen der Wahrnehmung während des Ballonflugs: die mikroskopische Verkleinerung all dessen, was auf der Erde liegt; die scheinbare Bewegung der Erde; die verschwimmenden und sich ineinander verschiebenden Bilder und das Schwindelgefühl. 5 Jean PAUL: Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch. Komischer Anhang zum Titan II [1800/01]. In: ders.: Werke. 3. Bd. Hg. v. Norbert Miller. Nachwort von Walter Höllerer. 4. durchges. Aufl. Münc h e n 1 9 8 0 , S. 9 2 5 - 1 0 1 0 .
6 Adalbert STIFTER: Der Condor [1846]. In: ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Bd. I, 1. Stuttgart u.a. 1978, S. 9-31. 7 Eine materialreiche Sammlung literarischer Texte zu diesem Thema bietet: Karl RIHA (Hg.): Reisen im Luftmeer. Ein Lesebuch zur Geschichte der Ballonfahrt von 1783 (und früher) bis zur Gegenwart. München/Wien 1983. 8 Hans Phaall - A Tale (1835), The Balloon Hoax (1844) und Mellonta Tauta( 1849). In deutscher Übersetzung sind die drei Texte gesammelt in: Edgar Allan POE: Der Ballon-Jux und weitere Phantastische Fahrten. Aus dem Amerikanischen übertragen von Hans Wollschläger. Mit einem Nachwort von Bernd Lenz, Anmerkungen, einer Zeittafel und Literaturhinweisen. München 1986. 9 Wie meisterhaft es Edgar Allan Poe verstand, Authentizität vorzuspiegeln, beweist die Tatsache, daß seine erst später so betitelte Erzählung The Balloon Hoax, die 1844 zuerst als Sondernummer der Zeitung New York Sun (13. April) erschien und eine Atlantiküberquerung in einem lenkbaren Ballon schildert, von den zeitgenössischen Lesern durchaus als journalistischer Report ernst genommen wurde und große Aufregung verursachte. Vgl.: Bernd LENZ: Nachwort zu: POE: Der Ballon-Jux, 1986 (Anm. 8), S. 117-128; hier S. 120 f.; und: Max POPP: Julius Verne und sein Werk. Des großen Romantikers Leben, Werke und Nachfolger. Mit 23 Abb. Wien/Leipzig 1909, S. 101.
1. Die Ballonentführung
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Abb. 9: Un voyage en ballon. Illustration von Emile-Antoine Bavard.
Jules Verne war mit der Theorie und Praxis des Ballonflugs durch seinen Freund, den Photographen und begeisterten Aeronauten Nadar (Felix Tournachon), vertraut. Poes Balloon Hoax und Hans Phaall kannte Verne seit 1862.10 In Vernes früher Erzählung Un voyage en ballon (1851)11 springt ein verrückter Herostrat, unmittelbar bevor sie abhebt, in die Gondel eines Ballonfahrers. Durch Abwurf von Ballast will er den Ballon immer höher steigen lassen und damit letztlich Selbstmord begehen. Während die Lage immer gefährlicher wird, rekapituliert der Entführer enthusiastisch die Höhepunkte in der Geschichte der Ballonfahrt. Nur mit knapper Not kann sich der Ballonführer, am Ballonnetz festgeklammert, retten, während der gefährliche Fahrgast nach einem Zweikampf in der gekappten Gondel in die Tiefe stürzt.
10 Vgl.: Peter COSTELLO: Jules Verne. Inventor of Science Fiction. London u. a. 1978, S. 70. 11 Deutsch erschienen zuerst in: Julius VERNE'S Schriften. Bd. 20: Eine Idee des Dr. Ox - Meister Zacharius - Ein Drama in den Lüften - Eine Überwinterung im Eise - Eine Mont-Blanc-Besteigung. Deutsch von Martha Lion. Wien/Pest/Leipzig 1875, S. 159-192.
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C. Flugphantasien I: Über der Erde
Die Lust am Fliegen schlägt in Wahnsinn um, das Fortschrittspathos wird ins Absurde gesteigert: ein Beweis, daß das schematische Bild des Fortschrittsoptimisten Verne, das in der Verne-Rezeption und -Kritik vorherrscht, schon durch dessen Frühwerk in Frage gestellt wird. Die Anfänge der technisch orientierten Ballonerzählung sind an der Schnittstelle von Aviatik und Verbrechen zu orten. Dabei setzt der kriminelle Akt ein sensationslüsternes Publikum voraus, welches das aereonautische Spektakel vom sicheren Boden aus betrachtet. Während es bei Poe der journalistische Betrug, der wissenschaftliche Bluff ist, der den Auftakt der fiktionalen Flugliteratur bildet, inszeniert Verne eine durch Ruhmsucht motivierte tödliche Ballonentführung. Ein düsteres Double begleitet von Anfang ihrer technischen Realisierbarkeit an die von alters her als Sinnbild des Reinen und Sehnsucht nach dem Transzendenten verstandene Flugleidenschaft. Kompromittiert erscheint sie durch ihre Koppelung mit dem Schauer verborgener krimineller Energien und dem Nervenkitzel der Schaustellerei.
2. Im Luftballon über dem dunklen Kontinent Ein exotisch strahlendes Bild vom Ballonflug malt Vernes Erstlingsroman Cinq semaines en ballon (1863) 12 . Verne beschäftigt sich hier nicht nur mit erstaunlicher Kompetenz und Detailfreude mit den Problemen der Lenkbarkeit, der Höhenregulierung und des Ballonflugs über lange Strecken. 13 Sein Spürsinn für das Aktuelle zeigt sich besonders darin, daß er den Ballon als Instrument der Forschungs- und Entdeckungsreise, der Kartographierung der letzten unerforschten Gebiete auf der Erde literarisch einsetzt. Der Flug des Engländers Dr. Samuel Fergusson, seines Dieners Joe und seines schottischen Freundes Dick Kennedy von Sansibar über das Quellgebiet des Nils und das Kongobecken bis zu den Katarakten des Senegal gibt dem Erzähler Gelegenheit, eine abenteuerliche, spannende Handlung mit den neuesten Ergebnissen der Expeditionen ins Innere des afrikanischen Kontinents zu verbinden. Flugs erfährt der Leser den letzten Stand der Geographie. Die Land-
12 Erste deutsche Ausgabe: Fünf Wochen im Ballon. Julius VERNE'S Schriften. Bd. 9. Wien/Pest/ Leipzig 1875. Im folgenden zitiert nach der „Illustrierten Prachtausgabe": Julius VERNE: Fünf Wochen im Ballon. Mit 78 Illustrationen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen. Bd. 9.Wien/Pest/Leipzig 1876. 13 Thomas OSTWALD geht in seinem Buch: Jules Verne. Leben und Werk. Braunschweig 1978, S. 29-36, auf die Frage der Glaubwürdigkeit der Verneschen Ballonbeschreibung ein und kommt zum Ergebnis: Vernes imaginäre Konstrukte erschienen im Horizont des zeitgenössischen Wissens realisierbar, wenn auch die Zukunft ihm nicht in allen Punkten recht gab. Die Höhensteuerung durch Erwärmen und Abkühlen des Wasserstoffgases erwies sich als zu gefährlich.
2. Im Luftballon über dem dunklen Kontinent
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schaft selbst erhält aus der Vogelperspektive den Charakter einer Reliefkarte. Durch das neue Verkehrsmittel wird die Wahrnehmung zunehmend abstrakter. Scheinbar gegenläufig zu dieser Distanzierung der fremden Objekte verhalten sich Vernes Strategien der Authentifizierung des Dargestellten. Nicht nur ist der Name von Vernes Ballon, Victoria, eine Hommage an Poes Balloon Hoax. Wie Poe versucht auch Verne, eine Faktizität des Erzählten vorzutäuschen. Der Roman, der die Entdeckung der Nilquellen schildert, erschien Anfang 1863, als Speke und Grant von ihrer Forschungsreise, bei der sie tatsächlich die Nilquellen orteten, noch nicht zurückgekehrt waren. Ihre wirkliche Entdeckung erfolgte am 28. Juli 1862, einen Monat nach der literarischen.14 Außerdem unterscheiden sich die dem Roman beigegebenen Landschaftsillustrationen von Riou, wie Peter Costello richtig bemerkt, kaum von denen der zeitgenössischen illustrierten Journale oder denen in den Berichten der Forschungsreisenden selbst - Riou hat 1869 auch ein Erinnerungsbuch zur Eröffnung des Suezkanals gestaltet.15 Nur scheinbar ist diese Gegenläufigkeit aber deshalb, weil gerade auch in den Berichten der reellen Forschungsreisenden der distanzierte Blick der Landvermesser und ethnographischen Klassifikateure dominiert. Die fremde Welt der afrikanischen Eingeborenen stellt Verne aggressiv verzerrend dar: Immer wieder werden die Schwarzen mit wilden Tieren gleichgestellt; ja, sie sind sogar schlimmer als Löwen, Affen oder Hyänen, weil sie gefährlicher sind. Der Aufstieg des Ballons wird als Triumph der Aufklärung über primitiven Aberglauben inszeniert. Die schwarze Bevölkerung Sansibars versucht den Ballonaufstieg mit Gewalt zu verhindern, denn „die Neger [...] bildeten sich ein, daß er [der Ballon, R. I.] gegen die Sonne und den Mond in den Kampf ziehen wolle" (63 f.)16. Da aber die Insel, von der aus der Ballon aufsteigen soll, streng bewacht wird, wollen die Einheimischen durch magische Riten Hagel und Orkane heraufbeschwören - vergeblich: Aber trotz ihrer C e r e m o n i e n blieb der H i m m e l klar, und sie hatten ihren H a m m e l umsonst geschlachtet und ihre Faxen vergeblich gemacht. (68)
Die Überlegenheit der „zivilisierten" Europäer über die „primitiven" Afrikaner ist ein Topos, der den gesamten Roman durchzieht und die kolonialisti14 COSTELLO, 1 9 7 8 ( A n m . 10), S . 7 6 .
15 Ebenda, S. 76 f. 16 Die Seitenangabe bezieht sich hier und im folgenden auf die in Anm. 12 genannte Ausgabe. Auch alle weiteren eingeklammerten Zahlen im Text beziehen sich auf die Seitenzahlen der in den jeweiligen vorhergehenden Fußnoten ausgewiesenen Quellen. Römische Zahlen vor den arabischen bezeichnen den Band.
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C. Flugphantasien I: Über der Erde
sehen Ansprüche der Europäer rechtfertigt. Die Eingeborenen erscheinen als Teil der Natur, die es zu bändigen und zu beherrschen gilt. Die Einheimischen sind es auch, die neben den Widrigkeiten der Natur der Fahrt immer neue Hindernisse entgegenstellen und die Reisenden oft in Lebensgefahr bringen. Der Topos von der natürlichen Feindschaft des erdverbundenen Ortsansässigen wird vom kolonialistischen Ideologem der Rückständigkeit der Kolonisierten überlappt. Die Erkundung des Inneren Afrikas ist nur der Vorbote seiner gewaltsamen „Erschließung". Die Forschungsreisenden bereiten den Kolonisatoren den Weg, die ihrerseits den Wissenschaften - der Ethnologie, Zoologie, Botanik, Geographie, Geologie, Mineralogie etc. - neue Gebiete eröffnen. Vernes literarische Imagination vermag nun die supreme und distanzierende Wahrnehmung der modernen Wissenschaften narrativ umzusetzen: durch die Flugperspektive. Eine reale Ost-West-Überquerung Afrikas per Ballon wurde erst 1962 durchgeführt - natürlich als ein mehr sportliches denn wissenschaftliches Unternehmen. Im Roman betonen der Diener und der Freund im Gespräch die Vorzüge des Ballons gegenüber Kutschen, Dampfern und Eisenbahnen, „auf denen man die Länder durchreist, ohne sie zu sehen!" „Ja, ein Ballon, das ist eine andere Sache!" begann Joe wieder; „man merkt gar nicht, wie es weitergeht, und die Natur rollt sich vor unserem Auge auf wie ein großes Gemälde!" „Welch herrliches Schauspiel!" [...] „Wie wär's, wenn wir frühstückten?" schlug Joe vor, dem die frische Luft Appetit gemacht hatte. (73 f.)
Während das ästhetische Erlebnis der Landschaft, die mit den Augen verschlungen wird, auf Joe appetitanregend wirkt, wird es von dem asketischen Wissenschaftler Dr. Fergusson zugunsten der nüchtern kontrollierenden Beobachtung von Meßinstrumenten und Armaturen zurückgestellt. Joes Ausruf: „Wie schön ist das Alles!" (71) ignoriert Fergusson, da er sich mit technischen Vorgängen beschäftigt. Sein Interesse ruft aber an anderer Stelle die Mobilisierung der Landschaft hervor, in der sich die Reisegeschwindigkeit spiegelt: „Blickt herab und überzeugt euch, wie schnell das Feld zu unsem Füßen verschwindet. Dieser Wald sieht aus, als wollte er sich auf uns losstürzen!" (142)
Der Notwendigkeit einer Beschleunigung der Reisegeschwindigkeit kann jederzeit das Interesse an Besichtigungen geopfert werden: Die Reisenden konnten nur im Fluge die maurischen Moscheen und das rege Kommen und Gehen der Fähren, welche die Einwohner nach den verschiedenen Stadtvierteln bringen, gewahren; der Südostwind trieb sie zu schnell vorüber, um ihnen einen genaueren Einblick in die Stadt zu gewähren, und so zogen sie schnell, ohne zu sehen oder gesehen zu werden, vorüber. (287)
2. Im Luftballon über dem dunklen Kontinent
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so heißt es über „Sego, die Hauptstadt von Bambarra" (287). Je höher und ruhiger aber die Ballonfahrt verläuft, desto harmonischer und friedlicher wirkt die Natur. Nach der Durchquerung der Wüste Sahara, in der die Reisenden wegen einer lang anhaltenden Flaute beinahe verdurstet wären, gelangen sie wieder über fruchtbares Land: Ein See von mittlerer Größe erstreckte sich unter ihnen und wurde von einem Amphitheater von Hügeln eingeschlossen [...]; dort schlängelten sich zahlreiche, fruchtbare Thäler mit ihrem unentwirrbaren Durcheinander der mannigfaltigsten Bäume; die Ölpalme mit ihren fünfzehn Fuß langen Blättern auf scharfdornigen Stengeln war hauptsächlich unter ihnen vertreten; der Bombyx (Seidenwollenbaum) füllte den Wind mit dem feinen Flaum seines Samens; der strenge Geruch des Pendanus, des „Kenda" der Araber, durchduftete die Lüfte bis zu der Zone, in welcher der Victoria dahinschwebte. Der Melonenbaum mit gefingerten Blättern, der Stinkbaum, auf dem die Sudanischen Nüsse wachsen, Baobabs und Bananen vervollständigten diese üppige Flora der Tropengegenden. (211)
Nicht nur die Pflanzenwelt gruppiert sich in diesem exotischen Fest der Sinne zum synästhetisch wahrnehmbaren Ensemble eines botanischen Gartens. Auch die Tierwelt präsentiert sich in paradiesischer Komplettheit: Es war eine förmliche Menagerie seltener Thiere in einem wunderbaren Treibhaus, das zahllose, buntfarbig schillernde Vögel durchschwirrten. (212)
Dieser Utopie tropischer Üppigkeit und natürlicher Vollständigkeit entspricht die Fortbewegungsart der Reisenden: Widerstands- und schwerelos schweben sie durch eine milde, wohlduftende Luft. Gefährdet wird diese Geborgenheit und sichere Leichtigkeit durch zweierlei: durch klimatische Widrigkeiten wie Gewitter und Stürme, durch hoch emporragende Felsspitzen, an denen der Ballon zu zerschellen droht - also durch die Natur selbst; oder durch technisches Versagen. Auf dem Boden lauern dann weitere Gefahren: wilde Tiere und fanatische Eingeborene trachten den Reisenden nach dem Leben. Die größte Gefahr stellt aber der Stillstand selbst dar: seine Folge ist die Erschöpfung des Vorrats, das Verdursten. Die Romanhandlung folgt konsequent einem Muster, das etwa in Schillers Bürgschaft exemplarisch gestaltet ist: Im Kampf gegen die Zeit müssen lebensgefährliche Hindernisse überwunden werden, die Rettung erfogt stets im letzten Augenblick. So muß, um einen Absturz oder unerwünschten Abstieg zu verhindern, notfalls alles geopfert werden. Joe muß sämtliche kostbaren Goldblöcke, die er aus einer Goldmine mitgenommen hat, als Ballast wieder abwerfen, um den Flug nicht zu behindern. (173) Die wissenschaftliche Expedition verlangt von ihren Teilnehmern höchste Askese. Die irdischen, materiellen Güter, deren Inbild das Gold ist, müssen nicht für das ewige Leben, sondern für das Gelingen des technischen Projekts hingegeben werden. Nicht zufällig
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C. Flugphantasien I: Über der Erde
Abb. 10:
Cinq semaines en ballon: „Die Einwohner Kaole's schießen nach dem Ballon". Illustration von Edouard Riou.
erinnert ein solches „Heil der Höhe" 17 an das jenseitige der christlichen Religion, an dessen Stelle es tritt. Uber dem Tschadsee ritzen Lämmergeier die Ballonhülle auf. Die Reisenden werfen sämtlichen Ballast ab, ohne den Sturz aufhalten zu können. 18 Da springt Joe aus der Gondel in die Tiefe: „[...] denn es ist ja ganz natürlich, daß ein Mensch sich opfert, um zwei zu retten. Das ist mathematisch richtig." (248)
So denkt Joe, nachdem er den Sturz in den See überlebt hat. Im Grunde betrachtet sich der Diener selbst als Teil der technischen Ausstattung, der im 17 So derTitel eines Romans von Richard O. Frankfurter, s. u. S. 191. 18 Der rettende Ballastabwurf ist fester Bestandteil der aviatischen Bilderwelt. Dafür bietet die Technikgeschichte der Ballonfahrt schon in ihrer Frühzeit ein höchst symbolträchtiges Ereignis: Bei der ersten Ärmelkanalüberquerung 1786 mußten die Luftschiffer Jean Pierre Blanchard und John Jeffries sich angeblich sämtlicher Kleider bis zur Unterwäsche entledigen, um das Ufer bei Calais zu erreichen. Vgl. die Tagebuchaufzeichnungen von John Jeffries, zitiert bei: Wolfgang LOCHNER: Weltgeschichte der Luftfahrt. Vom Heißluftballon zum Überschallflugzeug. Das Abenteuer des Fliegens. Würzburg 1970, S. 5 7 - 5 9 .
2. Im Luftballon über dem dunklen Kontinent
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Notfall zur Entlastung des Ballons abgeworfen werden muß. Die edelmütige Entscheidung bestätigt nur die funktionelle Perfektion des vom Ballonführer mitgenommenen Ausrüstungsmaterials - was die zitierte Rechtfertigung Joes noch bekräftigt. So spricht der Diener mit der Stimme seines Herrn. Dr. Fergusson steht im Mittelpunkt des Reisetrios. Er besitzt die Eigenschaften, die den neuen Heldentypus des „wissenschaftlichen Romans" Vernescher Prägung ausmachen. Kaltblütigkeit und eine eiserne physische Konstitution befähigen ihn, den extremsten Belastungen standzuhalten und auch noch in lebensgefährlichen Situationen kühl kalkulierend zu agieren. Verne bedient sich einer reichlich grobschlächtigen Physiognomik, wenn er diesen Charakter mit folgenden Gesichtszügen ausstattet: Die erhöhte Färbung seines Gesichts verrieth ein sanguinisches Temperament; er hatte kalte, regelmäßige Züge, und eine starke, einem Schiffsschnabel ähnlich sehende Nase schien ihn zu Entdeckungsreisen prädestiniert zu haben. (7)
Zum Expeditionsführer und Organisator befähigen ihn nicht nur seine wissenschaftliche und technische Kompetenz, sondern auch die Hartnäckigkeit und Unerbittlichkeit, mit der er ein einmal gestecktes Ziel verfolgt. Darin wird der Held einer Maschine gleichgesetzt: Er behauptete, daß er viel mehr in seine Reisen hineingeschleudert würde, als daß sie ihn anzögen, und daß er einer Locomotive zu vergleichen sei, die sich nicht selbst lenkt, sondern deren Richtung vom Schienenwege bestimmt wird. „Ich verfolge nicht meinen Weg, sagte er oft, mein Weg verfolgt mich." (11 f.)
Fergussons Maxime lautet: „Hindemisse [...] sind erfunden, um besiegt zu werden." (22) Ein solcher Reisender ist der Verneschen Intention kongenial, mit seinem Roman eine geographische Karte des Inneren Afrikas zu ersetzen. Fergusson spricht es selbst aus: „[...] unter meinen Augen entrollt sich die Karte von Afrika im großen Atlas der Welt!" (23)
Seine Unerschütterlichkeit kulminiert im fatalistischen Credo einer ewigen Wiederkehr des Gleichen, nämlich „[...] daß Alles, was bereits geschehen ist, auch wiederum geschehen wird, daß die Zukunft nur eine etwas entferntere Gegenwart ist." (20)
Eine solche Einstellung scheint sich prima vista schlecht mit Abenteuerlust und Unternehmungsgeist zu vertragen. Doch dient gerade dieses etwas verschwommene Philosophem der Überwindung der Angst vor Gefahren und dem Vertrauen in das Gelingen der eigenen Mission. Die Aufgabenstellung
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des Forschungsreisenden erhält so einen geradezu metaphysischen Anstrich. Zu Recht hat Reinhold Grimm daraufhingewiesen, daß in diesem Roman die Wissenschaft wie der Wissenschaftler religiös überhöht werden.19 Die Wissenschaft ist jeder Legitimationsbedürftigkeit enthoben. Sie wird aus der souveränen Flugperspektive zur reinen Kontemplation einer geheimnisvollen und faszinierenden Natur. Mit dieser Ästhetisierung der Naturwissenschaft als zweckfreier Betrachtung korrespondiert die Lust der Reisenden am Schweben in den Weiten des Luftmeers. Die Erleichterung beim Aufstieg, der Abwurf des Ballastes ist nicht nur wörtlich zu verstehen. Aber auch der Widerspruch zwischen dem ideologischen Projekt des Romans, der Verbindung von technischem Fortschritt und kolonialistischer Unterwerfung, und der Sehnsucht nach völliger Bewegungsfreiheit und Unbeschwertheit in einer freundlichen, euphorisch erlebbaren Natur ist nicht unvermittelt. Denn dieses Wunschbild ist durch jede engere Berührung mit der Natur gefährdet, sofern sie nicht der bloßen Vervollständigung des Reiseproviants dient. Sobald die Einwohner Afrikas nicht mehr weit unten als „klein wie Insekten" (71) erscheinen, sondern ein näherer Kontakt zur Vervollständigung der Ausrüstung nötig wird, kommt es zu brutalen Kämpfen. Verständnis für oder Verständigung mit der fremden Kultur ist ausgeschlossen. Auch den Tieren nähern sich die Reisenden nur, um sie zu erlegen. Selbst in der Hierarchie der Reisegruppe kehrt dieses Verhältnis, positiv gewendet, wieder. Dem prononciert als Einzelgänger gezeichneten Leiter des Unternehmens Dr. Fergusson, der alle wichtigen Entscheidungen alleine trifft und dessen Führung völlig unbestritten ist, dienen Joe mit seiner Geschicklichkeit und Ergebenheit wie Dick mit seiner Jagderfahrung letztlich zusätzlich zu den Armaturen des Ballons zur Komplettierung seiner Ausrüstung. Die Ambivalenz von Freiheit und Kreativität einerseits, Berührungsangst und Aggressivität andererseits, ist nicht zufällig: sie definiert geradezu den Typus des fliegenden Helden.20 Eine strenge Hierarchie kennzeichnet auch die Männergruppe, die am Anfang von Vernes Roman L'île mystérieuse (1874/75)21 aus der Gefangen19 Vgl. Reinhold GRIMM: Der „wissenschaftliche Roman" als Paradigma des Populärromans. Zu Jules Vernes Cinq semaines en ballon. In: Peter Brockmeier, Hermann H. Wetzel (Hg.): Französische Literatur in Einzeldarstellungen. Bd. 2: Von Stendhal bis Zola. Stuttgart 1982, S. 171-207; hierS. 187-191. 20 Psychoanalytisch rekonstruiert Michael Balint den Typus des „Philobaten", der in einem harmonischen, objektlosen Raum zu schweben trachtet. Sein Gegenbild ist der sich an den Objekten festklammernde „Oknophile". Vgl.: Michael BALINT: Angstlust und Regression. Mit einer Studie von Enid Balint. 2. Aufl. Stuttgart 1988. (Originalausg.: Thrills and Regressions. London 1959.) Vgl. auch: Hermann ARGELANDER: Der Hieger. Eine charakteranalytische Fallstudie. Frankfurt/M. 1972. (= Literatur der Psychoanalyse. Hg. von Alexander Mitscherlich.) 21 Deutsche Erstausgabe: Die geheimnisvolle Insel. Deutsch von Dr. Reyher. Julius Verne's Schriften. Bd. 14-16. Wien/Pest/Leipzig 1875/76.
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schaft der Südstaatler in Richmond (Virginia) mit einem Ballon flieht. 22 Der Ballon ist also auch hier zunächst Mittel der Befreiung. Zugleich läßt Verne seine Robinsonade mit einem „Luft-Schiffbruch" beginnen. Cyrus Smith, der unbestrittene Führer der „Luft-Schiffbrüchigen", ist das Inbild der neuen, im technischen Zukunftsroman dominierenden Heldenfigur. Er ist Ingenieur, Gelehrter und Soldat, zeichnet sich durch Unerschrockenheit, vollkommene Selbstbeherrschung, zähe Ausdauer, leidenschaftliche Tat- und Willenskraft aus. Er vereinigt in sich körperliche und intellektuelle Begabung, theoretisches und praktisches Genie. Dieser Held ist Produkt härtesten geistigen Trainings und körperlichen Drills. Physiognomisch äußert sich das Ergebnis streng asketischer Lebensweise so: Sein schöner „numismatischer" Kopf schien bestimmt zu sein, auf Münzen geprägt zu werden; dazu hatte er brennende Augen, einen festgeschlossenen Mund, überhaupt das Aussehen eines Lehrers an der Militärschule. (XIV, 12)
Ziviltechnische und militärische Tugenden konvergieren im Konzept physischer und emotionaler Abhärtung und (Selbst-)Beherrschung, die den Helden zum Leiter des - nur im Team zu bewältigenden - Projekts der Naturbeherrschung und Kolonisierung befähigen.
3. Der Herr der Luft Den Typus des einzelgängerischen Fliegerhelden verkörpert dagegen Robur, der Protagonist des Romans Robur-le-conquerant {1886)23. Robur ist der Erfinder einer Flugmaschine nach dem Prinzip „schwerer als die Luft", nämlich eines Hubschraubers in der Form eines Schiffes: Auf dem Verdeck erhoben sich lothrecht siebenunddreißig Achsen, von denen je fünfzehn an Back- und Steuerbord und sieben höhere in der Mitte errichtet waren, so daß das Ganze einem Schiffe mit siebenunddreißig Masten ähnlich wurde; nur trugen diese Masten anstelle der Segel jeder zwei horizontale Schrauben von kurzer Steigung und geringem Durchmesser, denen aber eine ungeheure Umdrehungsgeschwindigkeit ertheilt werden konnte. (63)
Verne beschreibt den neuen Flugapparat detailliert: Die Schrauben drehen sich paarweise in entgegengesetztem Sinn, um zu verhindern, daß das ganze, aus einem stahlharten Papier gebaute Luftschiff ins Schwingen gerät. Die 22 Im amerikanischen Sezessionskrieg wurden auch tatsächlich Ballons eingesetzt. 23 Erste deutsche Ausgabe: Robur der Sieger. Julius Verne's Schriften. Bd. 50. Wien/Pest/Leipzig 1887. Im folgenden zitiert nach der „Illustrierten Prachtausgabe": Julius VERNE: Robur der Sieger. Mit 45 Illustrationen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen. Bd. 50. Wien/Pest/Leipzig 1887.
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Abb. 11: Robur-le-conquérant: Die „Albatros". Illustration von Léon Benett.
horizontale Fortbewegung wird ebenfalls durch Propeller ermöglicht. Angetrieben werden die Propeller durch Elektromotoren. Diese werden aus leistungsstarken Akkumulatoren und Batterien gespeist, deren Beschaffenheit Roburs Geheimnis bleibt (65) - nicht zufällig, denn gerade am Fehlen ausreichend leistungsstarker und zugleich leichter Motoren scheiterte bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Motorluftschiffahrt. Ein deutschsprachiger Jules-Verne-Imitator hatte schon 1876 seinen Helden Professor Tritremmel mit einer Flugmaschine nach dem Prinzip „schwerer als Luft" die Welt umkreisen lassen, also zu einem Zeitpunkt, als Verne noch ausschließlich Ballonfahrten thematisiert hatte. 24 Der anonyme Autor, dessen Held für die Zukunft die Ersetzung aller anderen Verkehrsmittel durch 24 Professor Dr. Tritremmel's Reise um die Erde in 20 Tagen, 47 1/2 Minuten. In: Neue Fliegende. Beilage der „Humoristischen Blätter von K. Klic". Vlg. von Klic & Spitzer. Wien/Leipzig. III. Jg. 1876, Nr. 26-31. Vgl. oben, S. 80 f.
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die Flugmaschine prognostiziert25, hält sich nicht lange mit technischen Erklärungen auf. Seine Flugmaschine ist nach der Art eines Drachenfliegers konstruiert und mit einem Elektromotor ausgestattet. Die Unbekümmertheit, mit der der Motorflug als realisierbar präsentiert wird, ist ironisch eingefärbt: Er liest sich gleichsam als eine vorwegnehmende Parodie auf die pseudowissenschaftlichen Erklärungen späterer Flugromane. Auch in Robur der Sieger geht Verne vom Wissen und vom technischen Standard seiner Zeit aus, wenn er seine neue Flugmaschine imaginiert.26 Was über dieses Wissen hinausgeht, muß daher „Geheimnis" bleiben. Betrachtet man die Zeichnung des „Aeronefs" in der Originalausgabe ohne den beschreibenden Text, so mutet das merkwürdige Gefährt eher wie ein Geisterschiff an, das sich durch das Wolkenmeer bewegt, als wie ein Flugapparat. Robur, der Erfinder und Kapitän dieses Luftschiffs, tritt am Anfang des Romans bei einer Versammlung der Ballonanhänger im Weldon-Institut auf: Von mittlerer Größe mit geometrischer Gestalt, ein regelmäßiges Trapez bildend, deren größte Parallelseite von der Schulterbreite ausgefüllt wurde; auf dieser Linie saß wieder auf einem kräftigen Halse ein gewaltiger sphäroidaler Kopf. [...] Darin [im Gesicht, R. I.] funkelten ein Paar Augen, welche der geringste Widerspruch sicherlich in volle Gluth versetzte, und über letzteren waren die Augenbrauenmuskeln - ein Zeichen entwickelter Energie - fortwährend zusammengezogen. (28 f.)
In der Kombination einer geometrisierten Körperform mit den Schematismen der traditionellen Temperamentenlehre ist schon physiognomisch der Typus des kühl berechnenden, energiegeladenen Einzelkämpfers festgelegt. Die geometrische Symmetrie der Gestalt ist das Analogon eines Charakters, der völlig auf Sachlichkeit und technische Funktionalität ausgerichtet zu sein scheint. Doch zeichnet der Roman tatsächlich eine andere Figur. Hinter der nüchternen Fassade verbergen sich heftige Gefühle: Ehrgeiz, Geltungs- und Rachsucht. In seiner Rede stößt Robur die gesamte Versammlung vor den Kopf, indem er den Ballonflug als Sackgasse bezeichnet und erklärt, die Zukunft liege einzig im Prinzip „schwerer als die Luft". Um dies zu beweisen und seinen neuen Apparat vorzuführen, entführt er sodann den Präsidenten und den Sekretär des Ballonfahrerclubs. Sie müssen ihn auf einem Flug rund um die 25 Ebenda, Nr. 31, S. 241. 26 Schraubenflug-Spielzeuge waren in Europa seit dem 14. Jahrhundert bekannt. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch wurden verstärkt Bemühungen gemacht, einen funktionstüchtigen Hubschrauber zu konstruieren. Ein bemannter Hubschrauberflug gelang aber erst 1907. Vgl.: Charles H. GIBBS-SMITH: Aviation. An Historical Survey from Its Origins to the End of World War II. London 1970, S. 6; Giorgio APOSTOLO (Hg.): Weltenzyklopädie der Flugzeuge, Bd. III: Hubschrauber von den Anfängen bis heute. München 1985. (Erstausg.: Atlante enciclopedico degl'elicotteri civili e militari del mondo da Leonardo a oggi. Mailand 1984.); BEHRINGER/OTTKOPTSCHALUSKI, 1 9 9 1 ( A n m . 2 ) , S . 4 3 4 f .
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Welt begleiten und können sich nur befreien, indem sie den Albatros, das Luftschiff, mit Dynamit sprengen. Bei einem Ballonaufstieg werden die beiden aber von Robur ein zweites Mal gefangengenommen; dieser hat mittlerweile einen zweiten „Albatros" gebaut. Er läßt sie aber diesmal sofort wieder frei. In einer Rede an die „Bürger der Vereinigten Staaten" verkündet er, daß die Menschheit noch nicht reif sei für seine Erfindung. Er habe eingesehen, daß man auch den Fortschritt nicht übereilen dürfe. (220) Er beschließt, sich zurückzuziehen, aber verspricht, er werde eines Tages wiederkehren und das Geheimnis einer Erfindung offenbaren, welche die sozialen und politischen Verhältnisse der Erde gänzlich umgestalten dürfte. (221)
Im Vergleich zu Fünf Wochen im Ballon fehlt in Robur der Sieger weitgehend
die kontemplative Landschafts- und Naturbetrachtung aus der Höhe. Der Flug dient nicht der geographischen Erkundung, sondern einzig der Vorführung des technischen Apparates. Dabei fliegen die Reisenden auch über die Antarktis zum - damals in Wirklichkeit noch nicht erreichten - Südpol. Die Fahrt des „Albatros" ist so schnell, daß die Schwerkraft aufgehoben scheint: Es „verzehrte" seine Geschwindigkeit sozusagen seine ganze Schwere [...]. (168)
Robur ist ganz damit beschäftigt, den Apparat unter Kontrolle zu halten: Inmitten dieser Gefahren erteilte der Ingenieur seine Befehle mit größter Kaltblütigkeit, und die Mannschaft gehorchte ihm, als ob die Seele des Chefs auch in ihr lebte. (168)
Das perfekte Zusammenspiel zwischen dem Ingenieur als Führer und der Mannschaft, die bedingungslos seinen Befehlen gehorcht, dient dem Zweck, eine komplizierte Maschine einwandfrei zu bedienen. Für Landschaftsbetrachtung bleibt kein Raum. Von dem Gebiet am Südpol sehen die Luftschiffer nichts, da „diese ganze Gegend in Finsternis lag!" (170) Verne ist in seinen Romanen stets um wissenschaftliche und technische Plausibilität bemüht. Dem Dargestellten versucht er den Charakter des Dokumentarischen zu verleihen. Dem entspricht ein Bedürfnis der zeitgenössischen Leser, sich über die neuesten Entwicklungen und Erfindungen in Technik und Wissenschaft auf unterhaltsame und spannende Weise zu informieren. Auch Robur-le-conquerant wurde als ein in Romanform gekleidetes Sachbuch vermarktet. So wurde in einer deutschen Ausgabe die Romanhandlung „ergänzt durch die Geschichte der Eroberung der Luft bis zur Jetztzeit".27 Der Übersetzer hängte an den Roman zwei selbstverfaßte neue 27 Jules VERNE: Robur der Flieger. Übers, von Paul Heichen. Ergänzt durch die Geschichte der Eroberung der Luft bis zur Jetztzeit. Berlin [1912]. Vgl.: Wolfgang THADEWALD: Jules Verne's Werke. In: Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Verlags- und Reihenbibliographien. Hg. von Heinrich Wimmer unter ständiger Mitarbeit von Werner Hoof und Wolfgang Thadewald. Meitingen 1987 ff. 13. Erg.-Lfg. März 1991, S. 2 und 19.
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Kapitel an, die über die aktuellen Fortschritte in der Luftschiffahrt informierten. Das Südpolargebiet war zur Zeit der Entstehung des Romans noch unerforscht. So sehen die Reisenden bei ihrer weiteren Fahrt über den Südpol bloß faszinierende Lichtspiele und optische Effekte: Kurz vor Mitternacht erhellte ein Südpolarlicht einmal die tiefe Finsternis. Mit seinen silbernen Ausläufern, seinen weit hinausreichenden Strahlen, bildete das Meteor die Gestalt eines ungeheuren Fächers, der etwa die Hälfte des Himmels einnahm. Die letzten elektrischen Effluvien desselben verloren sich am südlichen Kreuz, dessen vier Sterne im Zenit brannten. Diese Erscheinung war von wirklich unvergleichlicher Großartigkeit und ihre Helligkeit reichte hin, einen Überblick über diese in grenzenloses Weiß verhüllte Gegend zu geben. (170)
Das erhabene Schauspiel, das die Natur darbietet, wird zugleich mit einem wissenschaftlichen Vokabular erklärt. Die Geographie der Antarktis bleibt jedoch verborgen. Wegen der kälteren Jahreszeit sind das „hydrographische Netz" und die „orographische Anordnung" nicht erkennbar: Wohl sah man eine ganz weiße Fläche, aber nichts verriet, was sich unter ihrem Eispanzer verbergen mochte. (170)
Das Luftschiff ermöglicht einen scheinbar paradoxen Vorgang: Seine Passagiere können das Fremde, Unbekannte „erfahren", ohne dessen Geheimnisse lüften zu müssen. Mit der Verbindung von wissenschaftlicher Beschreibung der Natur und ihrer Inszenierung als geheimnisvolles Spektakel korrespondiert die Ambivalenz der Heldenfigur: In ihr überlagern sich rätselhafte Leidenschaftlichkeit und kühle Berechnung. Dieser Zwiespalt wird in dem späten Verneschen Roman Maitre-du-monde (1904) 28 völlig in Richtung des Irrationalen aufgehoben. Hier kehrt Robur mit einem neuen, von ihm konstruierten Gefährt zurück. Die „Epouvante" ist ein Apparat, der gleichzeitig fliegen, auf dem Wasser schwimmen, unter Wasser tauchen und auf festem Boden fahren kann. Der Apparat wirkt aber schon im Vergleich mit dem technischen Standard der Zeit veraltet. Der Flug wird in Vogelart durch Flügelschlag ermöglicht. Zwar wurden Ende des 19. Jahrhunderts noch Omithopter gebaut, doch es zeichnete sich bald ab, daß die Zukunft der Flugtechnik nicht in dieser Naturnachahmung lag. 29 Sieht man von den Rädern ab, so gleicht die Illustration der „Epouvante" auch mehr einem fabelhaften Vogel als einem technischen Gerät, und dieser Eindruck wird 28 Deutsche Erstausgabe: Julius VERNE: Herr der Welt. Collection Verne. Bd. 86. Wien/Leipzig 1904. Im folgenden zitiert nach der „Illustrierten Prachtausgabe": Julius VERNE: Der Herr der Welt. Mit 36 Illustrationen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen. Bd. 86. Wien/Leipzig 1905. 2 9 V g l . : GIBBS-SMITH, 1 9 6 5 (ANM. 1), S. 1 6 - 2 2 .
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Abb. 12: Maître-du-monde: Die „Epouvante". Illustration von Georges Roux.
noch dadurch verstärkt, daß das Bild das Amphibienfahrzeug inmitten „natürlicher" Vögel zeigt. Mit diesem Apparat scheint die Utopie der totalen Mobilität verwirklicht. Der Held ist mit seiner Maschine vollkommen eins geworden. Mit seinen Armaturen kann er sich in Luft und Wasser frei bewegen. Die Technik ermöglicht ihm höchste Geschwindigkeit der Fortbewegung und verleiht ihm unerschöpfliche Energien. Doch die damit verknüpften Omnipotenzphantasien schlagen in Wahnsinn um. Verne verbindet die technische Utopie mit Elementen des Kriminalromans. Die Polizei versucht des rätselhaften Fahrzeugs, das die Bevölke-
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rang in Schrecken versetzt, habhaft zu werden. Dabei wird der Ich-Erzähler Inspektor Strock gefangengenommen und muß fortan als passiver Zuschauer Roburs Reisen begleiten. Dieses Muster hat Verne bereits in Vingt mille Heues sous les mers und dann in Robur-le-conquerant angewandt. Es ist ein wichtiges Element der Struktur des solitären, nomadisierenden Helden, der aber in seinem Geltungstrieb der Zeugen seines Tuns bedarf. Der Inspektor ist es auch, der eine Beschreibung von Roburs multifunktionalem Vehikel liefert. Indem der Autor diese Aufgabe einer eher musisch veranlagten, technisch unbedarften Person, die noch dazu die Maschine nur von außen betrachten kann, überträgt, spart er es sich, Einzelheiten ihrer Konstruktion und Funktionsweise preiszugeben. Aber nicht nur der Konstraktionsplan des Gefährts bleibt weitgehend im Dunkeln. Auch die Fahrten des „Herren der Welt" führen nicht mehr vorwiegend wie in Cinq semaines en ballon durch lichte Höhen. Nicht nur befindet sich Roburs Versteck in einer Grotte im Innern eines Vulkans. Auch die Flüge erfolgen häufig bei Nacht. Sie dienen nicht mehr wissenschaftlicher Zusammenschau aus erhöhter Perspektive. Eine der spektakulärsten Szenen des Romans spielt sich bei Mondlicht ab. Die „Epouvante" wird auf dem Niagara von Torpedobooten verfolgt. Als sie sich den Katarakten nähert und schon fast in den Fall hineingezogen wird, erhebt sie sich in die Luft und schwebt inmitten des Spektrums eines Mondregenbogens über die donnernden Fälle hinweg. (152)
Das Inventar romantischer Szenerien wird noch durch den Schluß des Romans bereichert. Der wahnsinnige Ingenieur stirbt einen typenadäquaten Tod. Durch ein Gewitter fühlt er sich herausgefordert, seine göttliche Allmacht zu beweisen. In lästerlicher Hybris fliegt er ins magnetische Zentrum des Gewitters. Der Apparat wird von Blitzen getroffen und in Stücke zerrissen, Robur und seine Mannschaft stürzen ins Meer und kommen um; nur Strock wird gerettet. So enden Vernes Flugphantasien mit einer technischen Katastrophe, die in quasimythischer Form als Strafe für menschliche Überhebung und als Demonstration der Allgewalt und Übermacht der Natur erscheint.30 Die neuen Flugapparate sind bei Verne die Leistung einzelner genialer Erfinder. Das gilt auch für die Flugmaschine in Leopold Engels (*1858) Roman Mallona31: Auf dem Planeten Mallona, der zwischen Erde und Mars liegt, hat 30 Ein weiterer geheimnisvoller Flugapparat wird in Michel Vernes 1919 unter dem Namen seines Vaters erschienenem Roman L'étonnante aventure de la mission Barsac dargestellt. 31 Leopold ENGEL: Mallona. Die letzten Zeiten eines untergegangenen Planeten. Lorch 1911. (Neubearbeitung: ders.: Mallona. Der Untergang des Asteroiden-Planeten. Vorwort und Neubearbeitung von M. Kahir. Bietigheim 1961.) Vgl. dazu: Franz ROTTENSTEINER: Leopold Engel. Mallona. In: Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur. Hg. v. Franz Rottensteiner und Michael Koseier. Meitingen 1989 ff. 11. Erg.-Lfg. Februar 1993, S. l^t.
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der freigelassene Zwangsarbeiter Upal aus einem neuen Leichtmetall einen Hubschrauber gebaut. Sein Treibstoff ist „Nimah", eine chemische Verbindung, die unvermischt als Sprengstoff dient. Upal bleibt aber der einzige Flieger auf Mallona, da die Luftschiffahrt von seinen Bewohnern aus Aberglauben unterlassen wird. Der Erfinder kann den König und den höchsten Priester, beide Verkörperungen des Bösen, töten, doch ist der Planet bereits dem Untergang geweiht - ein Untergang, der durch den technischen Eingriff in die Geologie verursacht wird. Nicht nur die technischen Innovationen, alle Lebewesen werden zerstört.
4. Flugromantik und Polfahrt Frankreich war lange Zeit in der Entwicklung der Flugtechnik und -praxis führend. Erst ab 1910 - aber dann sehr rapide - gelang es den deutschen Aviatikern, den Vorsprung aufzuholen. Dieser Sachverhalt hat in der Literatur eine bezeichnende Parallele. Auch als Romanstoff tritt Aviatik im deutschen Sprachraum später auf als in Frankreich. Jules Verne lieferte wichtige Prototypen. Doch haben deutsche Autoren nicht nur diese nachgeahmt, sondern sind zuweilen auch eigene Wege gegangen. Es war Kurd Laßwitz, der einen Ballonflug auf wissenschaftlicher Grundlage zuerst in eine Romanhandlung einbaute, ohne ihn, wie Jean Paul, vorwiegend als Vehikel einer neuen literarischen Perspektive zu verwenden. Dem Giannozzo verschafft der Ballon die poetische Distanz, die nötig ist, um die deutsche Misere zu überblicken. Die aeronautische Erfahrung ist völlig in einer neuen Ästhetik romantischer Ferne eingebettet und ihr untergeordnet. Der Rückblick auf den von einem Zeitgenossen Jean Pauls, von Julius von Vöß, stammenden, ästhetisch weniger ambitionierten Roman Ini (1810) 32 verdeutlicht auf andere Weise den historischen Abstand und die literarischen Konsequenzen eines veränderten technischen Standards im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der im 21. Jahrhundert spielende Roman präsentiert ein ganzes Arsenal technischer Innovationen. Darunter befindet sich auch ein von zwanzig Adlern gezogener Ballon, der „ein Häuschen von dünnem Schilfrohr geflochten" (24) trägt: 32 Julius von Voss: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin 1819. [l.Ausg. Berlin 1810.] Claus Ritter bezeichnet Ini als den „allererstein] deutsche[n] Zukunftsroman" (S. 62) und rekapituliert im Detail den Inhalt des Romans. Claus RITTER: Anno Utopia oder So war die Zukunft. Berlin 1982, S. 62-98. Zu Person und Werk Julius von Vossens vgl.: Die Eintagsliteratur in der Goethezeit. Proben aus Werken von Julius von Voß. Mit einer Einleitung von Leif Ludwig ALBERTSEN. Bern/Frankfurt a. M. 1975.
4. Flugromantik und Polfahrt
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n (iin .Siontan au» t u n
Abb. 13: Julius von Voss: Ini
Das Dach war platt, mit einem Geländer und Sitzen umgeben, sich dort bei angenehmer Witterung aufzuhalten. An dies Dach waren die seidenen Stränge befestigt, welche von der oben schwebenden Azotkugel herabhingen. (24)
Weniger idyllisch mutet das Luftschiff an, das Voß zur Hebung der militärischen Kampfmoral ersinnt: Er [Guido, der Held des Romans, R. I.] ließ eine Luftgallione bauen, von fünfzig Adlern gezogen, die für einige Hundert Menschen Raum enthielt. Zwei Silberpauken, mäßigen Häusern an Umfang gleich, befanden sich darauf, und wurden mit eichenen Knebeln durch Maschinen gerührt. Zudem metallene Hörner von der Länge einer Tanne, deren hintere Mündung an einen großen Blasebalg gebunden war. Diesen konnten zwei Männer durch einen Schnellhebel leicht niederstoßen. [...] Ähnliche Trompeten waren auch in guter Zahl vorhanden, und Posaunen, welche sehr tief und kräftig ansprachen. Darüber
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hing ein Glockenspiel, dem akkustische Kunst eine gewaltige Resonnanz gegeben hatte. (124 f.)
Mit dieser Musikmaschine werden die Soldaten von oben herab in der Schlacht angefeuert, und der Erfolg der „bezaubernd ergriffenen" (125) Streiter kann nicht ausbleiben. In Vossens literarischer Imagination vermischen sich Elemente der Märchenwelt, der Feerie wie der Bühnen- und Jahrmarktsmaschinerien.33 Ganz anders liest sich der Beginn von Kurd Laßwitz' 1897 erschienenem Roman Auf zwei Planeten34. Drei Männer stehen in der Gondel eines modernen Aerostaten. Sie sind mit den besten Meßgeräten ausgerüstet. Der Flug geht in Richtung auf den Nordpol. Laßwitz hat dabei seinen Roman mit einer realen Expedition synchronisiert. 1897 startete der schwedische Ingenieur und Polarforscher Salomon Andrée mit zwei Begleitern von Spitzbergen, um mit einem Ballon den Nordpol zu erreichen. Die fatale Expedition blieb lange Zeit verschollen, erst 1930 wurden ihre Überreste gefunden. 35 In Laßwitz' Roman ist die schwedische Expedition zurückgekehrt und behauptet, den Nordpol erreicht zu haben. Um dies zu überprüfen, startet ein deutsches Forscherteam zum Nordpol. Nicht zufällig weist der von den Deutschen verwendete Ballon große Ähnlichkeiten mit dem Andréeschen auf. Das männliche Forschertrio teilt Laßwitz nicht nur mit Vernes Cinq semaines en bailón, sondern hat auch ein historisches Vorbild. Eine wichtigere Gemeinsamkeit mit Verne ist aber die Annahme einer eisfreien, milden Zone am Nordpol. Allerdings wurde eine solche Vermutung in der zeitgenössischen geographischen Fachliteratur immer wieder vorgebracht, so daß man aus dieser Übereinstimmung keine Filiation ableiten kann. Laßwitz vergleicht die Polregion mit einem „herrlichen Alpenthal" (1,16), Verne beschreibt in Voyages et aventures du capitaine Hatte ras (1866) eine üppige Fauna und Flora am Nordpol. Hier sind nach Verne alle Gegensätze aufgehoben: Tag und Nacht, Himmel und Erde gehen ineinander über. Laßwitz betont die Verunsicherung aller Orientierungskriterien am Pol. Der Astronom Grunthe doziert: 33 So war auch der Ballonflug nach der anfanglichen Begeisterung im ausgehenden 18. Jahrhundert bald zur artistischen Sensation und Jahrmarktattraktion herabgesunken. Das änderte sich erst wieder in der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts. Vgl.: BEHRINGER/OTT-KOPTSCHALUSKI, 1991 (Anm. 2), S. 351-354. 34 Kurd LASSWITZ: Auf zwei Planeten. Roman in zwei Büchern. Weimar 1897. 35 Per Luftschiff oder Flugapparat den Nordpol zu erreichen blieb noch lange Zeit nach der Andréeschen Expedition eine veritable Obsession. So berichtete die Halbmonatsschrift Luftschiffahrt, Flugtechnik und -sport 1910(1. Jg., Nr. 1/2, 19. Januar, S. 35 f.), ein Jahr, nachdem Robert Edwin Peary den Nordpol erreicht hatte, daß Roald Amundsen für eine Nordpolexpedition Flugdrachen zu benutzen und Zeppelin eine Luftschiffahrt zum Nordpol plante. Tatsächlich wurde 1914 zum ersten Mal ein Flugzeug zur Polarforschung eingesetzt. Die erste Überfliegung des Nordpols mit einem Luftschiff gelang Amundsen zusammen mit Lincoln Ellsworth und Umberto Nobile 1926.
4. Flugromantik und Polfahrt
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„Der Pol ist ein Unstetigkeitspunkt. Prinzipien sind Grundsätze, die unter der Voraussetzung gelten, daß die Bedingungen bestehen, für welche sie aufgestellt sind, vor allem die Stetigkeit der Raum- und Zeitbestimmungen. Am Pole sind alle Bedingungen aufgehoben. Hier giebt es keine Himmelsrichtungen mehr, jede Richtung kann als Nord, Süd, Ost oder West bezeichnet werden. Hier gibt es auch keine Tageszeit; alle Zeiten, Nacht, Morgen, Mittag und Abend sind gleichzeitig vorhanden. Hier gelten also alle Grundsätze zusammen oder gar keine. Es ist der vollständige Indifferenzpunkt aller Bestimmungen erreicht, das Ideal der Parteilosigkeit." (1,15)
Die Suspendierung der Kategorien von Raum und Zeit, die Verne im ästhetischen Schauspiel einer paradiesischen Natur an einem mythischen Ort darstellt, wird bei Laßwitz in einem wissenschaftlich-philosophischen Diskurs begründet. Aber nicht nur stilistisch unterscheidet sich Laßwitz von Verne. Am Nordpol beginnt bei ersterem eine Handlung, die auf den Themen der Weltraumfahrt und außerirdischer Intelligenzen beruht. Damit wird sich das nächste Kapitel beschäftigen. Die Luftschiffe von Laßwitz' Martiern sind nach Prinzipien konstruiert, die aus der Weltraumfahrt stammen. Die Martier haben ein Material entwickelt, das zugleich widerstandsfähig und gravitationsdurchlässig, „diabar" ist. Durch eine teilweise Aufhebung der Schwerkraft kann das Luftschiff nach Belieben gehoben oder gesenkt werden. Zum Antrieb ihrer Luftschiffe verwenden sie das „Repulsit": das ist „kondensierter Äther", den sie „allmählich [...] entspannen". Den bei der Zündung der „Repulsitbomben" entstehenden Rückstoß verwenden sie zur Fortbewegung. (1,310) Dementsprechend braucht das martische Flugzeug weder Schrauben noch Flügel. Gelöst ist das Problem der Verbindung von Auftrieb und Fortbewegung, das Laßwitz so beschreibt: Wandte man den Luftballon an, um Lasten in die Höhe zu heben, so mußte der Apparat riesige Dimensionen annehmen, und es war dann schwierig, ihn gegen die Windrichtung zu bewegen, weil er dem Winde eine zu große Angriffsfläche bot, oder nicht genügend widerstandsfähig gegen seinen Druck gemacht werden konnte. Wählte man aber die dynamische Form des Luftschiffs, wobei durch Schrauben oder Flügel die Erhebung bewerkstelligt wurde, so fehlte es lange Zeit an Motoren von genügender Stärke und Leichtigkeit, um eine wirklich erhebliche Geschwindigkeit und Fahrtdauer zu erzielen. (1,308)
Schon in Laßwitz' erster Erzählung Bis zum Nullpunkt des Seins (1871), die im Jahre 2371 spielt, sind Luftwagen und Luftvelozipede zum Hauptverkehrsmittel geworden. Nähere Auskünfte über die Funktionsweise dieser Gefährte gibt der Autor jedoch nicht.36 36 Vgl.: Kurd LASSWITZ: Bis zum Nullpunkt des Seins. Kulturbildliche Skizze aus dem 23. Jahrhundert. In: Schlesische Zeitung, 21. 6. 1871. Wiederabdruck in: ders.: Traumkristalle. Hg. und mit einem Nachwort von Hans Joachim Alpers. München 1981, S. 202-239; hier S. 202.
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In der Erzählung Gegen das Weltgesetz (1877) 3 7 , die den Leser in die noch entferntere Zukunft des Jahres 3877 versetzt, bewegt sich über den großen Städten ein „Gewühl der Luftschwimmer": Das Material des Schwimmapparates bestand aus einer Platin-Silizium-Kohlenwasserstoffverbindung, einem kompliziert zusammengesetzten Körper, der bei außerordentlich geringem spezifischen Gewichte die Eigenschaften des Platins mit der Duchsichtigkeit des Glases und der Biegsamkeit des Kautschuks verband, aber auch wie dieser gehärtet werden konnte. Dieser Körper führte seiner Nützlichkeit wegen den Namen Chresim (von „Chresimos" = brauchbar) und fand die mannigfaltigste Anwendung in den Gewerben. Eine völlig durchsichtige, den Körper umhüllende, innen luftleere Glocke von Chresim, der ,Luftschwimmgürtel', hielt den Körper in Gleichgewicht. Nach vorn ging der Apparat keilförmig zu und diente zugleich als Schirm gegen die mit größter Geschwindigkeit durchschnittene Luft. Von ihm hingen zwei Steigbügel herab, in denen die Füße einen Stützpunkt fanden, während eine große auf der Rückseite befindliche Schraube (von gehärtetem Chresim) dem Körper eine Geschwindigkeit erteilte, deren Richtung durch geschickte Bewegungen beliebig zu lenken war. Die treibende Kraft gab eine Büchse voll flüssigen Sauerstoffs, den man bei sehr tiefer Temperatur durch einen ungeheuren Druck bis zur Kondensation komprimiert hatte und nun als lang anhaltenden Kraftvorrat verwenden konnte. Jeder hatte natürlich eine Schwimmschule durchgemacht, und die Eleganz des Fliegens galt nicht nur als ein Zeichen guter Erziehung. (290) Daß die Passage nicht als Konstruktionsplan zu lesen ist, liegt auf der Hand. Ihr Reiz liegt darin, daß sie durch Einfallsreichtum in einer Art literarischer Bastelei eine magisch-märchenhafte Vision technisch konkretisiert. Eine Polfahrt im Ballon hat schon vor Laßwitz Michael Georg Conrad in seinem Roman In purpurner Finsternis38 thematisiert. Wie in Vernes Geheimnisvoller Insel wird der Ballon als Fluchtfahrzeug verwendet: Der Held flieht aus dem dekadenten technokratischen Staat Teuta durch eine Ballonfahrt über den Nordpol ins archaisch-paradiesische Nordika. Die technische Errungenschaft der Ballonfahrt wird paradoxerweise zum Mittel der Befreiung von einer technischen Zivilisation.
37 Kurd LASSWITZ: Gegen das Weltgesetz. Erzählung aus dem 39. Jahrhundert. In: Schlesische Presse, 27. 3.-15. 4. 1877. Im folgenden zitiert nach: ders.: Traumkristalle, 1981 (Anm. 36), S. 2 7 0 - 3 4 2 .
38 Michael Georg CONRAD: In purpurner Finsternis. Romanimprovisation aus dem dreißigsten Jahrhundert. Berlin [1895],
5. Parodien
5.
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Parodien
Eine andere symbolhafte Bedeutung erhält die Andréesche Ballonexpedition zum Nordpol in Ludwig Hevesis (1843-1910) früher Parodie des technischen Zukunftsromans und des heroischen Forschungsreisenden. 39 Das erste Kapitel von Hevesis Buch lautet: „Jules Verne in der Hölle. Ein Brief des verstorbenen Schriftstellers an den Herausgeber". Der in der Hölle gelandete Verne beschreibt diese als technisch veraltet. So werde beispielsweise, um Menschen in Öl zu sieden, immer noch die „Holzfeuerung" verwendet. Vernes Kommentar: So primitive Methoden kommen immer noch vor. Ich konnte gar nicht zusehen, mir war das zu unwissenschaftlich. (6)
Er unterbreitet Luzifer Vorschläge, „den Höllenbetrieb auf das Niveau der modernen Wissenschaft zu heben" (14). Hevesi, der sich als Chronist und Mitkämpfer der Wiener Sezession und der mit ihr verbundenen neuen Kunstrichtung profilierte, wendet sich gegen einen technischen Fetischismus, dem es allein um die Anwendung „wissenschaftlicher" Methoden, nicht um deren Ziele geht. Es ist bezeichnend, daß Hevesi dieses Quidproquo von Mittel und Zweck gerade an Verne, der in seinen Romanen ja nicht nur den technischen Fortschritt verherrlicht, sondern auch seine Schattenseiten zeigt, festmacht. Verne ist hier bereits zum unüberprüften, fixen Etikett technischen Fortschrittsoptimismus geworden. Der wissenschaftliche Pionier wird bei Hevesi mit dem Peregrinus Proteus des Lukian von Samosata verglichen: Der Polarforscher Salomon Andrée ist davon überzeugt, daß es möglich ist, den Nordpol zu überfliegen - entgegen allen Prognosen der anerkannten Wissenschaftler. Das Publikum zwingt ihn, den Beweis zu erbringen und damit Selbstmord zu begehen, will er nicht jede Glaubwürdigkeit verlieren und sich lächerlich machen. Der antike Text erscheint als „Vörausparodierung einer heroischen Situation" (280) im technischen Zeitalter. Aber nicht nur für seine Satire auf ein ruhmsüchtiges Heldentum hätte sich Hevesi auf Lukian als Zeugen berufen können. Dieser lieferte mit seiner Wahren Geschichte40 die erste Parodie der imaginären Weltraumreisen. Parodistische Züge trägt auch Heinrich Seidels (1842-1906) Höchst merkwürdiges Abenteuer eines Luftschiffers41. Ein ansonsten schweigsamer Gast39 Ludwig HEVESI: Die fünfte Dimension. Humore der Zeit, des Lebens, der Kunst. Wien 1906. 40 LUKIAN von Samosata: Lügengeschichten und Dialoge. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Christoph Martin Wieland. Nördlingen 1985. (= Die andere Bibliothek, 1.) 41 Heinrich SEIDEL: Höchst merkwürdiges Abenteuer eines Luftschiffers. In: ders.: Erzählende Schriften. Bd. 6.: Phantasiestücke. Stuttgart 1900, S. 327-340.
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hausbesucher erzählt bei einer Flasche guten Weines von einer Ballonfahrt, die ihn, ebenfalls nach ausgiebigem Weingenuß, bis vor die Tore des Himmels führte. Petrus gewährt dem Flieger einen Blick durch das Schlüsselloch ins Paradies, dieser wird von einem scharfen Lichtstrahl geblendet. Nachdem er Petrus noch mit einem Glas Wein erfreut hat, kehrt der trunkene Luftschiffer auf die Erde zurück. Das begeisternde Flugerlebnis ist aus dem Weingeist hervorgegangen. Die Flugbegeisterung um 1910 wird in Erwin Rosenbergers Humoreske Im Zeitalter des lenkbaren Luftschiffes42 zum Thema einer satirischen Humoreske. Einer adeligen Dame werden in ihrer Gondel die Tagesnachrichten vorgelesen. Alle handeln von der Luftschiffahrt. Nostalgisch denkt sie an eine längst vergangene Zeit zurück, in der man noch den bestirnten Nachthimmel sehen konnte, eine Idylle, die man nur mehr aus alten Gemälden kennt. Inzwischen ist der Himmel vollkommen von den „Blendlaternen" der Luftschiffe bedeckt. Auch Sigmund Wilheim gibt seinen Zukunfts-Phantasien43 einen humorvoll-übertreibenden Einschlag. Das Wiener Leben spielt sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich in der Luft ab. Die reicheren Leute leben in „Drachenflieger-Villen". Eine Episode aus der aviatischen Zukunft spielt in einer „Rasierstube in der Luft", in der der Erzähler malträtiert wird. Als Verkehrsmittel werden neben Automobilen hauptsächlich Luftballons, „Monoplane", „Multiplane" und „Geodrome" verwendet, die Eisenbahnen sind mittlerweile vollständig abgeschafft worden. Das Verhalten der Wiener Bürger hat sich in dieser hochtechnisierten Zukunft aber keineswegs geändert. Die Rituale der „guten Gesellschaft", von der Mode diktierte Skurrilitäten und bürokratische Eulenspiegeleien prägen das Leben des Erzählers. Wien hat im Jahre 1950 88 Operettenhäuser, aber keine Markthallen mehr, die nunmehr alle in Bilderausstellungen umgewandelt wurden, da die Menschen vor lauter Wissens- und Bildungsdrang sich langsam das Essen abgewöhnen. [...] Aber am Ende glaubt man mir das nicht. (307)
Genausowenig ernst zu verstehen ist die vom Autor entworfene aviatische Zukunft. Wilheims humoristische Zukunftsbilder entbehren jedes visionären Pathos. In der österreichischen Literatur um die Jahrhundertwende scheint die Tendenz zu einem distanzierten, unpathetischen, oft spielerischen Umgang mit technischen Zukunftsvisionen stärker als in der gleichzeitigen Literatur aus Deutschland gewesen zu sein. 42 Erwin ROSENBERGER: Im Zeitalter des lenkbaren Luftschiffes. In: ders.: 1 + 1 = 3 und andere Geschichten. Leipzig 1913 (= Reclams Universal-Bibliothek 5496), S. 45-50. 43 Sigmund WILHEIM: Zukunfts-Phantasien. In: ders.: Wiener Wandelbilder. Hg. und eingel. von Heinrich Glücksmann und Lola Lorme. Wien/Leipzig [1912], S. 247-307.
6. Elektrische Engel
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Die satirische Behandlung des Flugthemas bleibt aber in der deutschsprachigen Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die Ausnahme. In der Regel erscheint das Fliegen ohne Ironie als unabdingbarer Bestandteil utopischer Entwürfe.
6. Elektrische
Engel
In Theodor Hertzkas (1845-1924) Roman Entrückt in die Zukunft44, der im Jahr 2093 spielt, werden zwei Arten von Flugapparaten vorgestellt: „Aeroptere" und „Gäodrome". Der Flieger eines Aeropters vermittelt den Eindruck eines Engels: Er ist „in ein weißschimmerndes, langnachschleppendes Talarartiges Gewand gekleidet" und trägt „an den Schultern zwei flügelartige Apparate" (18). Der Apparat und das Kleid des Fliegers bestehen aus einem leichten und zugleich festen Stoff, dem „Elektron", der „elektrophorische Eigenschaft" (28) besitzt. Er wird durch die Luftreibung elektrisch aufgeladen und setzt Flügel und Schrauben in Bewegung. Der Besucher der Zukunftswelt - und damit der Leser - wird darüber aufgeklärt, daß die sammetartige Oberfläche des Stoffes [des Fliegerkleides, R. I.] aus Myriaden mikroskopisch kleiner Schräubchen und Flügelchen gebildet sei, die durch unerhörte Raschheit der Bewegung ersetzen, was ihnen an Größe abgeht. [...] Sie sind es, welche die treibende Kraft entwickeln [...]. (28 f.)
Der Engelsflug wird durch eine merkwürdige Mischung aus Feinmechanik und Mikroelektronik realisiert. Solches Fliegen wird schon den Kindern „in zartester Jugend" (29) beigebracht. Körper und Maschine sind zu einer organischen Einheit verbunden, die Flugtechnik erfordert größte körperliche Geschicklichkeit. Die Geodrome dagegen sind Massenverkehrsmittel. Sie können tausend Menschen transportieren und erreichen eine Geschwindigkeit von vierhundert Knoten. Als Antriebskraft nutzen sie die „Polarkraft", die magnetische Kraft der Erde. Denn es ist den Wissenschaftlern gelungen, „einseitig elektrische Körper mit bloß einem Pole herzustellen" (31), die dann vom Nordbzw. Südpol abgestoßen bzw. angezogen werden. Hertzka verbindet die technische mit der sozialen Utopie einer frei und gleichberechtigt in Friede und Wohlstand lebenden Menschheit.
44 Theodor HERTZKA: Entrückt in die Zukunft. Sozialpolitischer Roman. Berlin 1895. Die Wahl des Vornamens Jules für seinen Helden Raymont ist angesichts des Signalwertes, den der Name Verne für das Genre des technischen Zukunftsromans hatte, wohl nicht zufällig.
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7. Mystik und Macht Ein solcher Konnex ist aber durchaus nicht die Regel. Zugkräftiger erwies sich vielmehr eine Form des Fliegerromans, wie ihn Emil Sandt (1864-1938) 1906 mit Cavete!45 vorlegte. Sandt wurde von der Kritik als „deutscher Jules Verne"46 gefeiert. Er übertreffe mit seinem Roman sogar den „Großmeister phantastischer Darstellungskunst" an Beobachtungsgabe und psychologischer Sensibilität.47 Jules Verne dient als Maßstab, sein Name bezeichnet bereits einen Typus. Sandt verwendet als Muster Vernes Roman Robur-le-conquerant, auf den er mit der Übernahme des Namens für ein Luftschiff auch explizit Bezug nimmt. Auch seine Beschreibung des neuen propellergetriebenen Luftschiffs, dessen Funktionsweise allerdings unklar bleibt, weist große Ähnlichkeiten mit der Verneschen auf. Eine solche Affinität zeigt noch deutlicher das Titelbild von Cavete!: Auch hier hat der Flugapparat die Form eines Schiffes. Sandts Held Fritz Rusart, ein deutscher Ingenieur, ist ebenfalls deutlich Vernes Robur nachgebildet. Auch er vereinigt in sich Kaltblütigkeit und Leidenschaft. Seine Führereigenschaften übertreffen aber noch das Vorbild: Die Besatzung trat ein. Zehn Mann. Stämmige Gestalten und intelligente Gesichter. Es war sorgsam ausgesuchtes Material. Sie sahen in stummer Erwartung nach ihrem Chef. (28)
Rusart will das Geheimnis seiner Erfindung erst dann preisgeben, wenn sich alle Staaten zur Einhaltung des Friedens verpflichten. Als die Emissäre mehrerer Staaten versuchen, sich mit Gewalt des Luftschiffes zu bemächtigen, beschließt der Ingenieur, seine Erfindung dem deutschen Kaiser zur Verfügung zu stellen. Auffallend ist die Analogie zu Vernes Roman Face au drapeau (1896) 48 , in dem am Ende der geniale - französische - Erfinder zum Patriotismus bekehrt wird. In Sandts Roman wird der Glaube an den technischen Fortschritt einer nationalistisch-imperialistischen Ideologie untergeordnet. 49 Als Vorbild dient Graf Zeppelin, der auch ein Vorwort zu Sandts Roman verfaßte. Die technische Überlegenheit Deutschlands soll seinen politischen Hegemonieanspruch begründen. 45 Emil SANDT: Cavete! Eine Geschichte, über deren Bizarrerien man nicht ihre Drohungen vergessen soll. Minden i. W. 1906. 46 So in einer Rezension der Hamburger Nachrichten vom 22. 12. 1906. Sie ist in der vierten Auflage dem Roman vorangestellt. 47 Ebenda. 48 Deutsche Erstausg.: Julius VERNE: Vor der Flagge des Vaterlands. Collection Verne. Bd. 69. Wien/ Pest/Leipzig 1896. 49 Vgl.: Manfred NAGL: Science Fiction in Deutschland. Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur. Tübingen 1972, S. 76 f.
7. Mystik und Macht
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Abb. 14: Emil SANDT: Cávete!
In seinem Bericht Eine Fahrt ins Reich der Lüfte mit dem Grafen Zeppelin für den Band Die Luftschiffahrt50 wird von der Erfindung des lenkbaren Luftschiffs durch Zeppelin der Beginn einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte datiert. Pathetisch wird die Luftschiffahrt zum Symbol und Höhepunkt der Naturbeherrschung deklariert. Die Pioniere der Luft sind nach Sandt die Heroen der Zeit, und unter ihnen kommt den Deutschen eine führende Rolle zu. Die Flieger sind „Edelmenschen", die, ausgestattet „mit einer durch nichts zu störenden Beharrlichkeit, mit einer physischen und psychischen Elasti50 Emil SANDT: Eine Fahrt ins Reich der Lüfte mit dem Grafen Zeppelin. In: Die Luftschiffahrt. Hg. v. Graf Ferdinand von Zeppelin jr. und anderen Fachmännern. Stuttgart [1908], S. 121-133.
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zität, die antäisch genannt werden muß", den Weg zur „Hebung der Kultur" bereiten.51 Der Roman Im Äther52 versucht, dieses Fliegerbild erzählerisch umzusetzen. In der Rahmenhandlung finden der Ich-Erzähler und sein Reisegefährte auf ihrer Wanderung durch Labrador das Wrack eines Flugzeugs und das Tagebuch eines Fliegers. In diesem Tagebuch erzählt der Held, ein Deutscher aus Hamburg, von seinem Flug von Paris nach New York. Das von ihm konstruierte Flugzeug ist ein Omithopter, dessen bewegliche Flügel durch Pedale geschlagen werden. Auf seinem solitären Flug mit dem „Frigidus" hat der deutsche Edelmensch, der die ihm zujubelnde Masse als „tierisch" (78) verachtet und den „nicht nach einer Verständigung" verlangt (92), Gelegenheit, zuerst die Passagiere eines Luftschiffes, später Schiffbrüchige zu retten. In diesem Roman wird die Flugfähigkeit in messianischem Ton als Offenbarung und Erlösung gepriesen. Der Held, der anfangs jeden Gottglauben als „Ammenmärchen" (112) verwirft und für den es „nur ein Ewigkeitswort gibt: Entwicklung" (37), wird in der Einsamkeit seines Fluges geläutert und kommt zur Erkenntnis: Die Wissenschaft kann und darf den Glauben nicht ersetzen, da sie auf die letzten Fragen keine Antwort wisse. Der Erfinder zerstört am Ende sein Produkt, kündigt aber an, ein neues Flugzeug zu bauen, „der Menschheit zunutze" (247). Die Koppelung zweier Erlösungsmotive: der Erlösung der Menschheit durch die Flugtechnik und der religiösen Erleuchtung des Aviatikers beim einsamen Fliegen, vermag Sandt in seinem langatmigen, von mystizistischen Phrasen und schiefen Metaphern durchsetzten Roman kaum glaubwürdig darzustellen.
8. „Aufklärung" und Eroberung Der Militärschriftsteller Julius Hoppenstedt sieht in seinen Zukunftskriegsromanen die Bedeutung der Luftschiffe hauptsächlich in der Aufklärung. 53 Dabei erweisen sich auch in der Aviatik die Deutschen als überlegen. In Die Millionenstadt an der Saar setzt sich ein deutscher Zeppelin im Kampf gegen französische Flugzeuge durch; „die Überlegenheit des Luftschiffs über den Flugdrachen ist jetzt erwiesen" (37) - so lautet das Fazit. Etwas weiter 51 Emil SANDT: Die Erfinder und die Kultur. In: ders.: Das Karussell des Lebens. Novellen, Skizzen und Essays. Gesammelte Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 4. Hamburg 1924, S. 275-281; hier S. 2 8 1 .
52 Emil SANDT: Im Äther. Das Testament eines Einsamen. Roman. Gesammelte Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 2. Hamburg 1924. [Erstausg. Berlin 1910.] 53 Julius HOPPENSTEDT: Die Schlacht der Zukunft. Berlin 1907; ders.: Ein neues Wörth. Berlin 1909; ders.: Die Millionenschlacht an der Saar. Berlin 1913.
8. „Aufklärung" und Eroberung
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als der am bestehenden Stand der Militärtechnik orientierte Hoppenstedt geht Karl Bleibtreu in seinen Vorstellungen über den Zukunftskrieg. In einer Schlacht werfen französische Motorluftschiffe „entgegen Abmachungen der Haager Konferenz" Sprengstoffe über die deutschen Truppen ab.54 Zur Aufklärung und zum Angriff dienen Ballons in Michael Wagebalds Europa in Flammen55. Von einem Perseval-Ballon aus bombardieren die Deutschen ein englisches Kriegsschiff mit Granaten und versenken es. Auch in der militärischen Aufklärung aus der Luft sind die deutschen Militäraviatiker äußerst erfolgreich. Dem englischen General Kitchener dagegen wird die Aufklärung aus dem Ballon zum Verhängnis. Deutsche Artilleristen durchschießen das Seil des Ballons, der dann ins feindliche Territorium abtreibt; der General gerät in deutsche Gefangenschaft. Höchste Erwartungen setzt Rudolf Martin (1867-1916) in die Aviatik. „Deutschlands Zukunft liegt in der Luft", verkündet der deutsche Kaiser am 1. Januar 1910 in seinem Zukunftsroman Berlin-Bagdad.56 Der Regierungsrat im Kaiserlichen Statistischen Amt kann, anders als Sandt, auf mystische Flugerlebnisse bei der Propagierung der Luftschiffahrt als Mittel imperialer Expansion verzichten.57 Martin verfolgt mit seinem Roman deutlich lehrhafte Intentionen. Nach Ausbruch eines deutsch-russischen Krieges bombardiert ein russisches Luftschiffgeschwader Berlin. Aber bald macht sich die numerische Überlegenheit der deutschen Luftwaffe bemerkbar. Durch Funkspruch von Luftschiffen aus gelingt es außerdem den verbündeten deutsch-österreichischen Truppen, die russische Armee einzuschließen und zur Kapitulation zu zwingen. Österreich vereinigt sich mit Deutschland, und das neue „Alldeutschland" schließt mit dem türkischen Sultan einen Bund. In Europa und auf der Welt hat Deutschland 1930 eine unbestrittene Hegemonie erreicht: Holland, Antwerpen, die Schweiz und Marokko treten dem deutschen Staatenbund bei. Selbst Großbritannien muß Deutschland um Hilfe bitten, als Rußland Indien annektieren will. Als Preis erhält Deutschland das britische Südafrika. Deutschlands Suprematie basiert auf seiner Luftwaffe, die Martin zufolge jeden künftigen Krieg entscheidet. Die zivile Luftschiffahrt verbreitet sich in Martins prognostischem Roman nach der militärischen. Sicherheit gewährleistet die „drahtlose Telephonie" 54 [Karl BLEIBTREU]: Völker Europas ...! Der Krieg der Zukunft. l.-15.Tsd. Berlin [ 1 9 0 6 ] , S . 247. 55 Michael WAGEBALD: Europa in Flammen. Der deutsche Zukunftskrieg von 1909. Berlin 1908. Vgl. dazu: Franz ROTTENSTEINER: Michael Wagebald. Europa in Flammen. In: Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur (Anm. 31), 10. Erg.-Lfg. August 1992, S. 1-4. 5 6 Rudolf MARTIN: Berlin-Bagdad. Das deutsche Weltreich im Zeitalter der Luftschiffahrt 1910-1931. Stuttgart 1907. 57 Den Willen zum Weltkrieg als Mittel der einseitigen Abschreckung propagiert Rudolf Martin auch in seinem Buch: Stehen wir vor einem Weltkrieg? Leipzig 1908.
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(98), durch welche jederzeit Hilfe herbeigerufen werden kann. Als zutreffend hat sich Martins Vorhersage erwiesen, das Fliegen werde billiger als die Seefahrt sein. Der alte Topos der Reinheit der oberen Welt wird bei Martin in hygienischem Sinne konkretisiert. Die Zukunftsmedizin hat entdeckt, daß der Aufenthalt eines Lungenschwindsüchtigen in der Höhe von 6000 Metern durch 12 bis 20 Stunden völlig genügt, um der Tuberkulose das Leben zu erschweren. Erwiesenermaßen kam die Lungenschwindsucht unter Luftschiffern überhaupt nicht vor. (98)
Jules Verne hat die heilsame Wirkung der Höhenluft schon 1863 in Cinq semaines en ballon vorgeführt. Dick Kennedy, der Begleiter des Expeditionsleiters Fergusson, wird von einem gefährlichen Fieber, das vom heißfeuchten Klima in einer tiefen, miasmengeschwängerten Luftschicht über Afrika verursacht worden ist, schlagartig geheilt, indem er vom Ballon in eine frischere Atmosphäre emporgetragen wird. In der 1910 erschienen Erzählung Über Paris und London im Jahre 1930 vervollständigt Martin sein Bild der Zukunftsmedizin durch fliegende Sanatorien: Diese etwa zwei Quadratkilometer großen, viereckigen Inseln, die an den Ecken an mächtigen Luftschiffen angeseilt waren, schwebten je nach der Jahreszeit und der Witterung in einer Höhe von fünfhundert bis zweitausend oder gar dreitausend Meter über dem Wald und blieben zuweilen tagelang sogar in einer Höhe von vier- bis fünftausend Meter. 58
Berlin-Bagdad berichtet von deutschen Großgrundbesitzern in Mesopotamien, die im Sommer in Lufschiffen auf 1000 bis 4000 Meter Höhe schlafen. Auch der Sultan hat seinen Harem in die Luft verlegt. Die Vorstellung, den deutschen Kolonialherren in Zukunft die Unannehmlichkeiten tropischen oder subtropischen Klimas durch Lufthäuser ersparen zu können, geistert durch die Zukunftsliteratur der Zeit. In Carl Peters' (1856-1918) Die Kolonien in hundert Jahren59 besitzen die Kolonisten in Afrika Lufthäuser und Schlafballons, die durch elektrische Lifte mit dem Boden verbunden sind. Nicht nur der Langstreckenverkehr, auch der innerstädtische Verkehr spielt sich in Martins Roman in der Luft ab. Der Krankentransport erfolgt durch „Krankenluftschiffe" (127). Der Flugtourismus verbreitet sich immer mehr. Durch die verbesserten Verkehrs- und Kommunikationsmittel - jedes Haus ist mit einem Empfänger und Sender der „drahtlosen Telephonie" ausgestattet - wird selbst die von den Sozialdemokraten geforderte soziale Um58 Rudolf MARTIN: Luftpiraten und andere Fluggeschichten. 1 -lO.Tsd. Berlin 1910, S. 153. 59 Karl PETERS: Die Kolonien in 100 Jahren. In: Arthur Brehmer (Hg.): Die Welt in hundert Jahren. B e r l i n [ 1 9 1 0 ] , S . 1 0 5 - 1 1 4 ; h i e r S . 105 u n d 110.
8. „Aufklärung" und Eroberung
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wälzung hinfällig. Die kapitalistische Gesellschaft scheint bei Martin ihren Antagonismen durch das gesteigerte Tempo ihrer technischen Entwicklung zu entkommen. Die Luftschiffahrt ist für Rudolf Martin das Allheilmittel gegen politische und soziale Mißstände. In einer dichten Reihe von Schriften propagiert er eine forcierte Entwicklung der (deutschen) Aviatik.60 Die Aufhebung räumlicher und zeitlicher Distanzen und Grenzen durch das Flugzeug preist Martin in einer Reihe von Superlativa: Das lenkbare Luftschiff macht auf den Beobachter den Eindruck, als wenn es die Eigenschaft der Allgegenwart besitze. Für den Motor in der Luft ist jeder Punkt, sowohl auf dem Lande, als auf dem Wasser, als in der Luft erreichbar. Er ist aber nicht nur erreichbar, sondern er ist auf dem kürzesten Weg, mit der größten Geschwindigkeit, mit den geringsten Kosten, mit der größten Sicherheit und mit der größten Annehmlichkeit zu erreichen. 6 '
Die Hymne des Autors auf die Mobilität gipfelt in der Sentenz: „Je kleiner die Welt, um so größer ist der Mensch." (82) Dem Regierungsrat Martin zufolge macht die private Motorluftschiffahrt das Individuum unabhängiger von der „Allmacht des Staates" (83) und fungiert als Instrument der Aufklärung: Der Motor in der Luft wird sich erweisen als der stärkste Feind aller Rückständigkeit, allen Aberglaubens, aller Unwissenheit. (83)
Das Wort „Aufklärung" verwendet Martin aber in einem anderen Kontext: im militärischen. Entgegen aller Humanitäts- und Befreiungsrhetorik sieht Martin im Wettrüsten der europäischen Staaten die entscheidende Triebkraft technischer Innovation. Der Erste Weltkrieg hat dieses Urteil bestätigt: erst in ihm erreichte das Motorflugzeug serienmäßige Reife.62 Als Machtmittel bewähren sich Flugapparate auch bei der kolonialen Erschließung Afrikas und Asiens, deren Einwohnern „Trägheit" und „Aberglaube" von der Luft aus gewaltsam ausgetrieben werden sollen. (78) In Franz Trellers Erzählung Durch die Luft63 helfen deutsche Wissenschaftler und Techniker dem türkischen Generalgouverneur von Tripolis im Kampf gegen Aufständische. Ein Aufklärungs- und Botenflug bietet Gele60 Rudolf MARTIN: Das Zeitalter der Motorluftschiffahrt. Leipzig 1907; ders.: Der Verlust des Luftkreuzers. Eine Anklage. Stuttgart 1908; ders., Gustav SCHALK: Von Ikarus bis Zeppelin. Ein Luftschifferbuch für die Jugend. Berlin, Leipzig [1908]; Rudolf MARTIN: Wright und Zeppelin. Berlin 1909; ders., Gustav SCHALK: Die Eroberung der Luft. Ein Luftschifferbuch. Mit 22 Tonbildern. Berlin [1909]; Rudolf MARTIN: Der Krieg in 100 Jahren. In: Arthur Brehmer (Hg.): Die Welt in hundert Jahren. Berlin [1910], S. 63-76. 61 Rudolf MARTIN: Die Eroberung der Luft. Kritische Betrachtungen über die Motorluftschiffahrt. Mit 5 Abbildungen. Berlin 1907, S. 39. 62 Vgl.: Hans-Joachim BRAUN, Walter KAISER: Energiewirtschaft, Automatisierung, Information seit 1914. Berlin 1992 (= Propyläen-Technikgeschichte. Hg. von Wolfgang König. Bd. 5), S. 139. 63 Franz TRELLER: Durch die Luft. In: Das neue Universum. 20. Jg. 1899, S. 1-40.
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8. „Aufklärung" und Eroberung
genheit, Elemente der Kolonial-, Reise- und Luftschiffererzählung miteinander zu verbinden. Verpackt in einer abenteuerlichen Handlung werden dem Leser, nach dem Muster der Verneschen Romane, geographische und aviatische Informationen vermittelt; zugleich wird die technische und militärische Überlegenheit der Deutschen über die Araber demonstriert. Als Mittel der Aufklärung und des Fortschritts begreift die Luftschiffahrt auch Otto Lehmann-Rußbüldt (1873-1964) in seiner anonym erschienenen Zukunftsvision Die Schöpfung der Vereinigten Staaten von
EuropaM.
Im Jahre 1934 berichtet der deutsche Techniker van Uhlen dem Reichskanzler von seinen drei neuen Erfindungen: dem Heißluftschiff, dessen Auftriebsluft durch die Abgase des Motors erhitzt wird, der elektrischen Femzündung und einem neuen Herstellungsverfahren für Radium. Der Femzündapparat enthält in einer Bleikapsel ein Kilo Radium. Mit ihm lassen sich explosive Stoffe in großer Entfernung zünden. Das Radium wird aus dem von der Sonne auf die Erde gestrahlten Helium „zusammengesetzt". Den technischen Unstimmigkeiten und Unglaubwürdigkeiten steht eine sehr klare und dezidierte politisch-militärische Nutzanwendung der Erfindungen gegenüber. 1937 wird das rückständige zaristische Rußland, der „Störenfried" (26) in Europa, in einem nur fünf Tage dauernden „Blitzkrieg" besiegt. Für diesen Sieg benötigen die Deutschen nichts anderes als zweiundzwanzig mit elektrischen Fernzündapparaten ausgestattete Heißluftschiffe. Sie zerstören die russischen Luftschiffe sowie die russischen Kriegsund Munitionslager, indem sie den mitgeführten bzw. gelagerten Sprengstoff zur Explosion bringen. Kaiser Wilhelm III. kann dem kampfunfähig gewordenen russischen Weltreich die Friedensbedingungen diktieren. So wird durch den „Zauberstab der Technik" (39) der Weg frei für die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa". Deutschland, England, Frankreich und Österreich schließen sich zusammen und gründen ein gemeinsames europäisches „Kulturparlament". Lehmann-Rußbüldt versteht seine Erzählung, die erst nach Kriegsbeginn erschien, als Aufruf zur Vernunft. Als unvernünftig erscheint der Erste Weltkrieg dem Autor insofern, als in ihm die fortgeschrittensten Völker sich gegenseitig schaden. Technischer und kultureller Fortschritt sind eins. Der Propagandist der „Vereinigten Staaten vom Europa" fordert eine Solidarität der höchstentwickelten Industriestaaten, die als Zentrum die übrige Welt als Peripherie zu beherrschen berufen sind. 64 [Otto LEHMANN-RUSSBÜLDT]: Die Schöpfung der Vereinigten Staaten von Europa. Eine Phantasie von 1910 und eine Betrachtung von 1914. Berlin 1914. Wie aus dem Vorwort hervorgeht, wurde die Erzählung bereits 1910 geschrieben, blieb aber zunächst unveröffentlicht, da der Verlag, dem sie der Autor verkauft hatte, fallierte. Zwei weitere diesem nicht namentlich genannten Verlag überlassene „Plaudereien", Die telegraphische Verbindung zwischen den Planeten Erde und Venus und Die Erfindung der synthetischen Herstellung des Goldes, blieben unveröffentlicht. (S. 7.)
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9. Luftpiraten Rudolf Martin entfaltete nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst 190865 stärker die literarischen Potentiale der Flugthematik. Die Titelgeschichte des Erzählbandes Luftpiraten66 folgt dem Muster des Detektivromans. Dem Helden, einem begeisterten Aviatiker, gelingt es mit seinem Luftschiff, die Bank von London und die Spielbank von Monte Carlo auszurauben. Der Räuber ist ein guter Familienvater und handelt nach dem Grundsatz, Menschenleben zu schonen und möglichst nur Banken und ähnliche Sammelstellen des Geldumlaufs zu erleichtern. (34)
Das Flugzeug sichert dem noblen Verbrecher die Freiheit, die Luft ist das ideale Medium der Flucht: Zu Lande und zu Wasser konnte man ihn verhaften und für immer seiner Freiheit berauben. In der Luft brauchte er derartiges nicht zu befürchten; hier gab es keine Wege, die ihm die Polizei absperren konnte. (41)
Durch die Luft flieht in einer anderen Geschichte des Bandes auch der von den Jungtürken gefangengenommene Sultan, nachdem er von dieser Möglichkeit eben durch Martins Erzählung erfahren hat.67 Sieht man von den amourösen Fliegerabenteuern und von dem Einsatz des Luftschiffs zur Großwildjagd ab, so ist die Befreiung durch Aviatik das tragende Thema des Martinschen Erzählbandes. Fliegende Suffragettes68 überraschen die Londoner Bevölkerung mit einer Werbekampagne für das Frauenwahlrecht. Von Luftschiffen aus werden öffentliche Gebäude und die Privathäuser der Minister mit frauenrechtlerischen Spruchbändern und mit Blumenschmuck bedeckt. Härter gehen die russischen Aufständischen in Eine Revolution von oben69 vor. Die fliegenden Revolutionäre landen auf dem Balkon der Wohnung des Zaren und zwingen ihn, die Verfassung wiedereinzusetzen und ein neues Ministerkabinett zu ernennen. Durch die Luftschiffahrt wird das rückständige Zarenreich modernisiert, und es verschwinden sogar „die Korruption, die Trägheit und die Unsauberkeit"70.
65 Vgl.: Wilhelm KOSCH: Deutsches Literatur-Lexikon. 3. Aufl. Bd. 10. Bern 1986, Sp. 497. 6 6 MARTIN, 1 9 1 0 ( A n m . 5 8 ) , S . 5 - 4 3 .
67 68 69 70
Wie der Exsultan davonflog. Ebenda, S. 115-122. Ebenda, S. 44-50. Ebenda, S. 51-57. Ebenda, S. 57.
10. Das „Flugjahr" 1909
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1909
Rudolf Martins enthusiastische Propagierung des Fluggedankens, die von der offiziellen Priorität des Seeflottenausbaus abwich und ihm sogar seinen Ministeriumsposten gekostet zu haben scheint, dürfte zwar in ihrem literarischen Aufwand und in ihrer Hartnäckigkeit einzigartig sein, ist aber zugleich symptomatisch für die Zeit. Im Jahr 1909 erreichte die Flugbegeisterung einen Höhepunkt. 71 Das Jahrbuch über die Fortschritte auf allen Gebieten der Luftschiffahrt verzeichnet allein für das Jahr 1909 in Deutschland 34 Neuerscheinungen über Luftschiffahrt, Flugtechnik und verwandte Gebiete. 72 Im deutschsprachigen Raum erschienen zur gleichen Zeit vierzehn Fachzeitschriften für Luftschiffahrt. 73 Das Interesse beschränkte sich keineswegs auf einen Kreis von Adepten und Fachleuten, sondern prägt das öffentliche Leben. Ein Bericht über den am 24. Dezember 1908 eröffneten Ersten Salon de l'Aéronautique im Rahmen des elften Pariser Salons zeigt die Flugbegeisterung als multimediales Phänomen: Alle Zeitungen berichten ausführlich über die Fortschritte, die Fachblätter über Luftschiffahrt werden in allen Zeitungskiosken verkauft, ebenso Photographien und Ansichtskarten der Flugapparate, Motorballons und der berühmten Aeronauten. In den Schaufenstern der Spielwarenläden und den Verkaufsbuden des Weihnachtsmarktes sieht man mehr Luftschiffe und Drachenflieger aus Blech als andere Spielzeuge. Auf Reklameplakaten sieht man Motorballons und Flugmaschinen, und hoch in den Lüften fährt ein kleiner Motorballon mit der Aufschrift „Le petit Journal" zur Reklame für diese Zeitung. Ein großes Warenhaus hat bereits sein Dach als Landeplatz für Luftfahrzeuge eingerichtet. 74
Nicht nur im Konsum-, sondern auch im literarischen Leben gewann die Flugeuphorie eine hervorragende Bedeutung. Hugo von Hofmannsthals Aufsatz Zeppelin75 ist dafür paradigmatisch. Das Verbrennen eines Luftschiffes des Grafen Zeppelin gibt Hofmannsthal Anlaß zu einer Heroisierung des Flugpioniers, dessen Größe gerade im Augenblick der Katastrophe sichtbar werde: Auf keine Art konnte das Heroische an der Figur dieses tapferen alten Mannes und das ganze Pathos seines Daseins blitzartig in die Gemüter von Millionen von Menschen 71 Vgl.: Felix Philipp INGOLD: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909-1927. Mit einem Exkurs über die Flugidee in der modernen Malerei und Architektur. Basel/Stuttgart 1979; BEHRINGER/OTT-KOPTSCHALUSKI, 1 9 9 1 ( A n m . 2 ) , S . 4 0 0 - 4 0 3 .
72 Jahrbuch über die Fortschritte auf allen Gebieten der Luftschiffahrt. [ 1 .Jg.] 1911. Hg. v. Ansbert VORREITER. M ü n c h e n 1 9 1 0 , S . 3 2 6 - 3 2 9 .
73 Ebenda, S. 323-326. 74 Ansbert VORREITER: Der erste Salon de l'Aéronautique in Paris. In: Allgemeine Automobil-Zeitung. Wöchentlich erscheinendes illustriertes Fachblatt. 10. Jg. 1909, Nr. 1, S. 26-31; hier S. 26. 75 Hugo von HOFMANNSTHAL: Zeppelin [1908]. In: ders.: Prosa II. Hg. von Herbert Steiner. Frankfurt/M. 1951, S. 4 0 9 - 4 1 1 .
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geschleudert werden als durch diese während einer halben Minute aufschlagende Riesenflamme. (409)
Zeppelin führe den Kampf des Individuums mit den chaotischen oder zumindest namenlosen und verschleierten Mächten [...], die uns umlagern. (409)
Der einzelne wird zum „Stellvertreter für ein ganzes Volk" (411), und dem von ihm vorangetriebenen Fortschritt der Technik und Naturbeherrschung eignet eine ethische Qualität. Zeppelin erscheint als ein Napoleon der Luftschiffahrt: Hofmannsthal charakterisiert jenen mit dem von Goethe auf diesen gemünzten Wort von der „Produktivität der Taten" (411). Daraus resultiert für den Autor eine „Synthese zwischen sittlicher Kraft und Materie" (411).76 Das dichterische Pathos hat bei aller hyperbolischen Rhetorik doch ein Fundamentum in re, da das Jahr 1909 tatsächlich in der Flugtechnik einen Durchbruch brachte, und der zeitgenössische publizistische Gemeinplatz vom Beginn einer neuen Ära ist, wenigstens was die Technikgeschichte betrifft, nicht ohne Berechtigung. Skepsis oder Kritik werden nur selten laut. Karl Kraus' Glossen zur Luftschiffahrt aus dem Jahr 191377 sind in ihrer satirischen Haltung untypisch für die Zeit. Kraus richtet seinen Blick zunächst nicht auf den Flieger, sondern auf die Sensationslust der Zuschauer und der Berichterstattung in der Presse. Deren Stupidität ist für Kraus Indikator eines kulturellen Niedergangs, der mit brutaler Natureroberung einhergeht: Der Rückschritt von Montgolfier bis Zeppelin dürfte augenfällig schon daran zu beweisen sein, daß den Aufstieg der Montgolfière Jean Paul beschrieben hat, während das Luftschiff „Sachsen" seinen Paul Zifferer findet. (Jean Paul Zifferer, 16)
Der Journalismus, für den ein Paul Zifferer steht, verrät ungewollt selbst die Verkümmerung der Menschen durch die neue Flugtechnik. Ironisch greift Kraus die Sprache des Presseberichts auf, nach dem Graf Zeppelin nach seiner Landung in Wien zur Rednertribüne „geführt" wurde: Daß einer als Überwinder der Luft, als Flieger geführt werden muß, das ist eben der Triumph der Technik. Er kann nicht mehr gehen. (Auf dem Flugfeld, 15 f.)
Vorherrschend bleibt aber eine unkritische, oft geradezu naiv anmutende Flugbegeisterung. Auch in der fiktionalen Literatur erreicht die Flugthema76 Zu den Bewunderern Zeppelins gehörte auch Kurd Laßwitz. Vgl.: Kurd LASSWITZ: Das Wunder des Zeppelin. In: Blätter für höheres Schulwesen. 26. Jg. 1909, Nr. 41. Literaturbeilage zum Berliner Tageblatt, 27. 8. 1909. 77 Karl KRAUS: Aus der Vogelperspektive. Auf dem Flugfeld. Jean Paul Zifferer. In: Die Fackel Nr. 378-80, Juli 1913, XV. Jahr, S. 14-17.
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tik um 1909 eine erstaunlich dichte Frequenz. Felix Philipp Ingold hat die Aviatik im Jahre 1909 als Schlüsselthema der literarischen und künstlerischen Avantgarde herausgestellt. 78 Dieser Befund kann durch die Intensität aviatischer Themen in der populären Erzählliteratur dieser Zeit ergänzt werden. Dabei sind die Übergänge zwischen authentischen Erlebnisberichten und fiktionalen Erzählungen oft fließend. Der 1910 erschienene Band Im Luftschiff9 ist paradigmatisch: Flugberichte und Fluggeschichten mit oft phantastischem Inhalt stehen gleichberechtigt nebeneinander, die Differenzen im Genre werden bei der Anordnung der Texte nicht berücksichtigt. Die Errungenschaften der neuesten Flugtechnik mußten die Leser als so erstaunlich, so phantastisch empfinden, daß die Grenze zwischen Erlebnisbericht und literarischer Phantastik verwischt wurde.
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Die Flugtechnik stellte eine neue Bildlichkeit bereit, die es erlaubte, bewährte Muster der Liebes- und Abenteuergeschichte zu transformieren oder zu variieren. In Paul Heyses (1830-1914) kurzer Erzählung Ein Luftschifferm versucht der Erfinder und Pilot eines lenkbaren Luftschiffes in Fischform, den Geliebten seiner Frau - einen Literaturhistoriker und Vortragskünstler - durch den Abwurf eines Sandsackes zu töten. Danach steigt das Luftschiff weiter auf und entschwindet den Blicken der Zuschauer. Drei Tage später wird das Wrack des Luftschiffes im Meer gefunden. Die exzessive aeronautische Leidenschaft, die den Ingenieur seine Frau und Familie vernachlässigen läßt, führt zur Katastrophe. Nicht aus Ruhmsucht wie in Vernes Un voyage en ballon, sondern aus Eifersucht verfällt der Luftschiffer dem Wahnsinn. Die Verknüpfung von Flugthematik und Kriminalität erhält dagegen in A. Ulrichs Luftdroschke Nummer 5599 8 1 eine moralische Rechtfertigung. Die Erzählung spielt im Jahr 1968 - einer Zeit, in der der öffentliche Verkehr längst in die Luft verlegt wurde. Der verarmte Baron Artur von Lipski erpreßt den Millionär und „Wurstkönig" Völlbrecht, ihm die Hand seiner Tochter zu 78 S . A n m . 71. 79 Wilhelm KÖHLER (Hg.): Im Luftschiff. Erlebnisse und Abenteuer. Mit Beiträgen von Graf Bernstorff, Dr. Funcke, Hauptmann Härtel, Dr. Jänecke, Rudolf Martin, Friedr. Pajeken, Dr. Pohlmann, Erwin Rosen, Dr. Wiese u. a. Mit 96 Abbildungen im Text und 1 Illustrations-Beilage. 110. Tsd. Minden in Westfalen 1910. 80 Paul HEYSE: Ein Luftschiffer. In: Westermanns Monatshefte. Bd. 102/1, April 1907, H. 607, S. 1 - 1 2 f. 81 A. ULRICH: Luftdroschke Nummer 5599. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens. Jg. 1909, Bd. 12, S. 208-214. Vgl. dazu: RITTER, 1982 (Anm. 32), S. 286-289.
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geben, indem er ihn in einer selbstmörderischen Aktion mit einem Ballon auf über zehntausend Meter entführt und in den Weltraum hinauszufliegen droht. Den tollkühnen Rüg unternimmt nicht mehr ein Herostrat, sondern ein Adliger, der mit dem Mut der Verzweiflung über den kleinlichen und ängstlichen Bürger und dessen ökonomische Macht triumphiert. Ein gängiges Schema wird durch das aviatische Motiv neu ausgefüllt. Die Beliebtheit der Luftschiffahrt als Thema populärer Lesestoffe belegt besonders deutlich die frühe Heftserie Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff 82 . Die 165 Bände der von einem unbekannten Autor83 stammenden Groschenheftserie - ein Heft kostete 10 Pfennige - waren den Zeugnissen des „Schundkampfes" zufolge 84 besonders unter Jugendlichen sehr beliebt und verbreitet. Zusammengehalten wird die Serie durch ihre Hauptfigur, Kapitän Mors. Ihm stehen ein Riesenluftschiff und ab Heft 32 ein Weltenfahrzeug zur Verfügung. Ab Heft 32 spielen die Abenteuer von Mors abwechselnd auf der Erde und im Weltraum. 82 Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff. 165 Hefte. Berlin [1908-1912]. Ein Teil der Serie wurde im selben Verlag (Verlag moderner Lektüre) unter dem Titel: Der Fliegerteufel. 22 Hefte. Berlin [1914], neu aufgelegt. 1915 wurde die Serie, zusammen mit 151 weiteren Groschenheftserien, im Rahmen des „Schmutz- und Schund-Kampfes" verboten und mußte eingestellt werden. Der Luftpirat ist heute äußerst schwer zugänglich, da die Heftserie in Bibliotheken nicht vorhanden ist. Nur Privatsammler besitzen Hefte aus dieser Reihe. Einzelne Hefte wurden wieder abgedruckt: Bde 1-4: Der Beherrscher der Lüfte [1908]. Ein Kampf um Millionen [1908]. Kapitän Mors in Indien [1908]. Der Luftpirat im Diamantenlande [1908], Faksimile-Nachdruck. Buchschlag 1976; Bd. 42: Im Todeskrater des neuen Planeten [1909], In: Anabis 21, März 1968; Bd. 80: Der Tempel in der Mondlandschaft Plato [1910]. In: Werner G. SCHMIDTKE: Das phantastische Abenteuer in 70 Jahren deutscher Heftgeschichte. Ein Serienbericht von damals bis heute. Braunschweig [1980]. (= Texte zur Heftromangeschichte. Hg. v. Thomas Ostwald, Bd. 3.) Eine Auflistung sämtlicher Hefttitel und eine Beschreibung der bis dahin bibliographisch nicht nachweisbaren Serie bietet: Heinz J. GALLE: Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff; Der Fliegerteufel. In: Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Verlags- und Reihenbibliographien. Hg. von Heinrich Wimmer unter ständiger Mitarbeit von Werner Hoof und Wolfgang Thadewald. Meitingen 1987 ff. 15. Erg.-Lfg. November 1991, S. 1-23; S. 1-5. 83 Unter den Hypothesen, wer der Verfasser sein könnte, ist die glaubwürdigste die, welche Oskar Hoffmann für den möglichen Autor hält. (Vgl.: GALLE, 1991 [Anm. 82], S. 2 f.) Dafür sprechen nicht nur, wie Galle betont, die vielseitige populärwissenschaftliche Kompetenz dieses Autors, sondern auch stilistische Ähnlichkeiten zwischen dem Luftpiraten und Hoffmanns Romanen. (Zu Hoffmanns Romanen vgl. unten, S. 179-183.) Ein auffallendes Beispiel für eine inhaltliche Übereinstimmung ist die Vorstellung eines „toten Punktes" zwischen Erde und Mond, an dem die entgegengesetzten Gravitationskräfte einander genau die Waage halten. Vgl.: Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff. Bd. 80: Der Tempel in der Mondlandschaft Plato [1910], S. 15; und: Oskar HOFFMANN: Mac Milfords Reisen im Universum. Von der Terra zur Luna oder Unter den Seleniten. Astronomische Erzählung. Mit 60 Illustrationen von Fritz Brändel. Papiermühle b. Roda S.-A. 1902, S. 81. (Mit diesem Roman wird sich das nächste Kapitel beschäftigen.) Mit solchen Parallelstellen ist aber noch nichts bewiesen, der Autor des Luftpiraten könnte die Ideen von Hoffmann oder einfach gängige Vorstellungen seiner Zeit übernommen haben. Es besteht daher auch die Möglichkeit, daß die Serie von einem bisher unbekannter Autor - oder mehreren - verfaßt wurde. 84 Vgl.: GALLE, 1991 (Anm. 82), S. 1; und: Hans-Jürgen EHRIG: Aufruf zur Mitarbeit. In: Anabis 21, März 1968, S. 60-63; hier S. 62 f.
11. Fliegende Ritter
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