200 70 8MB
German Pages 392 [197] Year 1994
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1
I
PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen, geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.
Andreas Arndt, Prof. Dr. phil., Jg. 1949; apl. Prof. am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin und Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften (Schleiermacherforschungsstelle Berlin) im Rahmen der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe.
ANDREASARNDT
Dialektik Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs
FELIX MEINER VERLAG
HAMBURG
INHALT
VORWORT............................................................
XI
EINLEITUNG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs: Problemstellung und Aufgaben.................................................... 2. Reflexionsphilosophie und dialektische Ve~nunft ...... . . . . . . . . . 3. »Theoretische Mittel«. Zur Methode der Rekonstruktion....... 4. Philosophie und Wissenschaften. Zu den Grenzen des Verfahrens ...................................................
9
I.
AUFKLÄRUNG UND REFLEXION ................................... .
13
A.
Reflexion und Erfahrung: Aporien des Rationalismus (Descartes, Leibniz, Spinoza) .............................................. .
15
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Descartes: Reflexion als erste Philosophie .................... . Reflexion und Erfahrung .................................... . Die idealistische Konstruktion von Rationalität ............... . Unmittelbarkeit und Empirismus lies Transzendenten ......... . Leibniz: Innere und äußere Erfahrung ........................ . Die Abwehr des Empirismus und das Problem der kontingenten Wahrheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Spinoza: Amphibolie des Empirismus und Rationalismus . . . . . . .
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Arndt, Andreas: Dialektik und Reflexion: zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs / Andreas Arndt. - Hamburg : Meiner, 1994 (Paradeigmata ; 15) ISBN 3-7873-1132-7 NE:GT
B. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1994. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe un~. der
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1 4 7
C.
15 17
19 20 21 23 27
Gegenbilder: klassischer Empirismus (Locke) und Skepsis (Hume)
29
1. 2. 3. 4. 5.
29 31 33 36 39
Locke: Rationalismus und Empirismus ........................ Erfahrung als Verhalten in gegebenen Verhältnissen ........... '. Reflexion als spezifische Vermittlung . .'. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hume: Reflexion undintersubjektivität ....................... Voraussetzungen der Skepsis ..................................
Dialektik und transzendentale Reflexion (Kant) ..................
42
1. Verstand und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Bedingungsgefüge in Kants Kritik des Empirismus und Rationalismus ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42 44
Inhalt
Inhalt
VI
VII
3. Die Dialektik der Rationalität ............................... .
47
4. Transzendentale Reflexion ................................... . 5. Die vergessene Reflexivität der Bedingungen ................. .
50
2. Die Kant-Kritik von 1796 und die ursprüngliche Konzeption einer Dialektik
53
3. Die Dialektik als Grundlegung der Philosophie in der Vorlesung
6. Vermittlungen: Schematismus und Urteilskraft ..... , .......... .
54
1800/01 ..................................................... .
127
7. Reflexion im Stillstand ....................................... .
58
4. Widerspruch und Widerstreit ................................. .
131
D. Dialektik, Topik, System (Kant und Fichte) ...................... .
59
5. Die Ästhetisierung der Wahrheit ............................. .
134 137
1. Kant: Transzendentale Dialektik und topische Reflexion ....... .
7.. Romantische Dialektik ...................................... .
141
Fichte: Das Unbedingte im Wissen und die Reflexion ......... . System aus einem Grundsatz ................................. . Reflexion als Repräsentation eines Unmittelbaren ............ . Fichtes Konzeption der Reflexionund die topische Dialektik .. .
59 63 65 67 70
6. Schleiermachers.Konzeption von »Dialektik« ................. .
III.
DIALEKTIK UND ABSOLUTE REFLEXION (HEGEL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
A.
Begriff und Wirklichkeit: Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität ..................................................... .
148
UNMITIELBARKEIT UND REFLEXION . . . . . . . . . . . . . . . . · · · • · · · · · · · · · · · ·
73
1. Spekulatives System und empirisches Wissen ................... .
148
2~
150 152 154
2. 3. 4. 5. H.
A.
B.
C.
Ursprüngliche Identität und systematische Einheit in Fichtes Wissenschaftslehre (1794/95) ~ ................................... .
...........
76
2. Identität und Selbstbewußtsein ............................... .
78
3. Die Zweideutigkeit des obersten Grundsatzes: Unmittelbarkeit als Reflexion ........................... '.' .................... .
82
4. Die Unmittelbarkeit der Reflexion im zweiten und dritten Grundsatz ..................................................... .
85
5. Synthesis und Reflexion im theoretischen Wissen .............. .
88
6. Einbildungskraft ............... : ......... ····················· 7. Praktische Synthesis ......................................... .
91
B.
94
Unmittelbarkeit als Selbstsein im Anderen. Das frühidealistisch-frühromantische Programm....................
97
................................................
..
Denken als identifizierende Tätigkeit ......................... .
3. Die erste Stellung: Alltagsbewußtsein und Metaphysik ........ . 4. Die zweite Stellung: Empirismus und Kritische Philosophie .... .
76
1. Die Systemkonzeption der »Grundlage« ...................... .
e
5. Die dritte Stellung: Unmittelbares Wissen .................... . 6. Unmittelbarkeit als Resultat: Die Konvergenz von Dialektik und Reflexion im Zeichen der Negativität .....................
159
Die Negativität des Endlichen und das Absolute. . . . . . . . . . . . . . . . . .
167
1. Verstand und Vernunft im Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .
2. Bestimmtheit und Negation: »Schranke« und »Grenze« ........ 3. Endliches Dasein. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
167 170 175
4. Der Widerspruch im Endlichen. . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Widerspruch im Unendlichen............................. 6. Erschlichene Unmittelbarkeit ..................................
180 185 189
Die Logik der Reflexion. . .. .. .. .. .. .. . . .. .. . . .. . . .. .. .. .. . .. .. . .
194
1. Dialektik und Logik der Reflexion ............................ 2. Die Bewegung der Reflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
194 198
3. Die Konstruktion des Gegensatzes im Zeichen der Identität ................................................. 4. Der Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203 209 213 216
1. Amphibolie der Unmittelbarkeit (Jacobi) ......................
97
2. Ursprüngliche Einheit und Entfremdung (Hölderlin, Sinclair, Zwilling) ................................. 3. Die Antinomie der Reflexion (Hegel) .........................
103 107
4. Gefühl, Anschauung und Reflexion (Schleiermacher) ..........
109
5. Reflektierte Unmittelbarkeit (Novalis) . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . .... . 6. Das Verfehlen der Dialektik beim frühen Schelling . . . . . . . . . . . . .
113 116
Romantisch y Dialektik (Schlegel und Schleiermacher) ............
121
5. Wesenslogischer Widerspruch und Widerspruch im Endlichen .................... ; .. ; ................... ; . . . . .
1. Schlegel: Der Einsatzpunkt der Dialektik. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .
121
6. Schwierigkeiten im Umgang mit Hegels Widerspruchsbegriff ....
C.
123
161
VIII D.
Inhalt
Inhalt
Inversion der Dialektik: Reflexion als sich selbst vernichtende
IX
4. Empirismus, Metaphysik und die Widersprüche in der Methode
Spekulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
220
der politischen Ökonomie.. . . . . .. . .. . .. . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . .
288
1. Absolute Idee und absolute Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
220
5. Reflexion und Reflexionsbestimmungen .......................
293
2. Abstraktion und wissenschaftliches Erkennen.................. 3. Das Scheitern der absoluten Reflexion ........................
223 226
6. »Realer Widerspruch« ........................................ 7. Die Lösung des Widerspruchs und die Negativität
299
4. Die Inversion der Dialektik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
229
der Dialektik.. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . .. .. . . .. . . . . .
304
IV.
DIALEKTIK IM BRUCH MIT DER SPEKULATION .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
V.
DIALEKTIK UND VERNUNFfKRITIK . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311
A.
Im Schatten Hegels. I: Alte und neue Unmittelbarkeiten ..........
232
A. Aspekte der Vernunftkritik in der Philosophie
1. Schopenhauer als Vorläufer der nachhegeischen Hegel-Kritik . . .
232
des 20. Jahrhunderts ............................................
311 311
235
1. Wittgenstein an den Grenzen des Verstandes.... ............... 2. Die phänomenologische Abstraktion von den Vermittlungen (Husserl) .................................................... .
315
239
3. Diltheys »Kritik der historischen Vernunft« ................... .
318
4. Negative Unmittelbarkeit (Heidegger) ........................ .
321
2. Die Restitution der romantischen Dialektik beim späten Schelling ........................................ . 3. Spekulative Voraussetzungen der Trendelenburgschen Hegel-Kritik ................................................ . 4. Die Unmittelbarkeit des bestimmten Seins bei Feuerbach als
B.
Problem einer begrifflichen Alternative zu Hegel .............. .
241
5. Differenz und Bejahung: Derridas Flucht vor dem Begriff ..... .
326
5. Individuelle Existenz und Dialektik bei Kierkegaard .......... .
248
6. Widerstreit und Indifferenz (Lyotard) ..' ....................... .
334
Im Schatten Hegels. II: Kritische Affirmation der Dialektik ...... .
252
1. Realdialektik:Widerspruch als antilogisches Prinzip (Bahnsen) ................................................... . 2. Objektive Dialektik (Engels) ................................. . 3. Realdialektik als Philosophie des objektiven Geistes -
252
(Hartmann, Wein) ........... -................................ .
258
254
4. Dialektik der Befreiung: Philosophie der Tat (Hess, Lukacs) .............................................. . 5. Dialektik und Gegendialektik (Sartre) ........................ .
260 265
6. Dialektik der Aufklärung und negative Dialektik (Horkheimer, Adorno ) ...................................... . C.
269
Marx' Bruch mit der Spekulation und der Versuch einer neuen Grundlegung der 'Dialektik ......................................
278
1. Statt Unmittelbarkeit: ein anderer Begriff der Vermittlung. Zur Grundoperation der Marxschen Hegel-Kritik .............. 2. Die Funktion der Philosophie in den »Pariser Manuskripten« ...
278 282
3. Philosophie und Wissenschaften: Marx' zweideutiger Abschied von der »bisherigen« Philosophie. .. . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . .
285
B.
Dialektische Vernunft und endliche Reflexion - Resümee und Aufgaben ...................................................... .
341
1. Vernunftkritik nach Hegel ...... ',' ............................ . 2. Das Negativ-Vernünftige der Dialektik ........................ . 3. Unmittelbarkeit und Vermittlung .. '........................... .
341 344 348
4. Reflexion im Endlichen ...................................... . 5. Negative Dialektik
352
354
Literaturverzeichnis ................................................. .
359
Personenverzeichnis
377
VORWORT
»Ich weiß wohl, [ ... ] daß unsere gesamte Epoche, sei es in der Logik oder in der Epistemologie, sei es mit Marx oder mit Nietzsehe, Hegel zu entkommen trachtet. [ ... ] Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man wissen, wie weit uns Hygel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muß ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.« (Michel Foucault) In dem Begriff der Vernunft faßte sich das Selbstverständnis einer Epoche der Philosophie zusammen, die ihren Höhepunkt und Abschluß im Hegeischen System gefunden hatte. In der veränderten wissenschaftshistorischen und gesellschaftlichen Problemlage seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts ist dieses Konzept zunehmend problematisch geworden. Der Bruch mit dem spekulativen Denken, wie er in der Philosophie des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus eingeleitet wurde, hat den Vernunftbegriff selbst ins Zentrum der Kritik gerückt. Diese Kritik hält sich indessen zumeist an das, was man seine spekulative Seite nennen könnte. Mit ihr zusammen werden die Konzepte der Vernunft selbst und die in ihren Denkmitteln enthaltenen Reflexionspotentiale zum Begreifen von Zusammenhängen verworfen. Gegenüber der damit einhergehenden Entbegrifflichung der Philosophie ist es das Anliegen der vorliegenden Untersuchungen, die Diskussion durch eine historisch-systematische Rückbesinnung auf die Vernunftkonzepte der neueren Philosophie zu versachlichen, ohne die berechtigten Motive der Vernunftkritik zu ignorieren. Es geht um die Ausarbeitung einer Problemalternative sowohl zu den . traditionellen Vernunftkonzepten als auch zu einer Kritik, die sich von ihnen bloß abwendet. Die» Rekonstruktion des Vernunftbegriffs« bezeichnet demnach eine doppelte Aufgabe: (1) die historisch-systematische Rekonstruktion der Diskussionen über »Vernunft« in der neueren Philosophie und (2) die Rekonstruktion eines den Aufgaben der gegenwärtigen Situation angemessenen Vernunftbegriffs in der Auseinandersetzung mit diesen Diskussionen. Im Zentrum steht dabei die Philosophie Hegels, an welche das nachhegelsche Denken in der Tat vielfach auch dort gebunden bleibt, wo es meint, über Hegel schon längst hinaus zu sein. Ihm ist nur dann zu entkommen, wenn das Herkommen von ihm durchschaut wird und eine Zuwendung zu seinem Denken erfolgt, welche sich um eine begriffliche Alternative bemüht. In diesem Sinne geht es um ein Konzept dialektischer Vernunft, das sich mit den Mitteln des Hegeischen Denkens von seinem spekulativen Vernunftbegriff abstößt.
XII
Vorwort
Die behandelten philosophiehistorischen Positionen stehen exemplaris~h für grundlegende Aspekte des systematischen Problems. Eine vollständige Rekonstruktion ihrer eigenen Systematik wurde ebensowenig angestrebt wie ein vollständiger Überblick zur Problem- und Begriffsgeschichte. Der Absicht der Untersuchung gemäß erfolgen Verweise auf diephilosophiehistorische For.:. schungsliteratur und eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit ihr nur dort, wo mir dies im jeweiligen Kontext zur Klärung der systematischen Fragestellung unverzichtbar zu sein schien. Einzelprobleme der Untersuchungen wie auch das Gesamtkonzept waren Gegenstände meiner Lehrveranstaltungen am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin, in deren Verlauf ich vielerlei Anregung und Kritik erfahren habe. Jens Brockmeier, Wolfgang Lefevre, Andreas Müller, Ernst Müller und J ohannes Rohbeck ist dafür zu danken, daß sie frühere Fassungen gelesen und das Unternehmen durch Kritik und wertvolle Hinweise gefördert haben. Besonderen Dankschulde ich Walter Jaeschke dafür, daß er die Schlußfassung begutachtet und durch seine genaue Lektüre noch zahlreiche Korrekturen ermöglicht hat. Mein Dank gilt auch dem Lektor des Felix Meiner Verlages, Herrn Horst-D. Brandt, der sich mit Engagement und Sachkunde des Manuskripts angenommen und für seine Veröffentlichung eingesetzt hat. Der Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort hat die Publikation durch einen namhaften Druckkostenzuschuß gefördert, wofür an dieser Stelle ebenfalls herzlich gedankt sei.
EINLEITUNG
L Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs: Problemstellung und Aufgaben Ein philosophischer Begriff der Vernunft, weil er auf Allgemeinheit verpflichtet ist, sieht sich heute vielfach dem Mißtrauen ausgesetzt, nur noch ein Rationalitätsvorurteil darzustellen, das sich nicht einlösen läßt, und dem die Erfahrung widerstreitet. Allgemeinheit verspricht mehr und mehr nur noch ein formaler Vernunftbegriff, der gegenüber den Inhalten objektiver Zusammenhänge gleichgültig bleibt. Mit ihm scheint sich zu bewahrheiten, daß Vernunft nichts anderes ist als ein Herrschaftsbegriff, der Begriff des herrschenden Allgemeinen. Gegen ihn wird das aufgeboten, was sich diesem Allgemeinen nicht fügt und in ihm nicht versöhnt wird. Die Erfahrung der Unübersi~htlichkeit und Härte der Entgegensetzungen macht das Versprechen vernünftiger Allgemeinheit unglaubwürdig, und dies selbst dort, wo als Konsequenz dieser Erfahrung ein ganzheitliches Denken eingefordert wird. Nicht mehr die Vernunft, sondern ein Anderes zur Vernunft bildet den Rückhalt der Kritik dessen, was ist. In d€ren Mittelpunkt steht der Vernunftbegriff von Allgemeinheit selbst in seinen vielfachen Ausprägungen und traditionellen Bezügen. Der Begriff der Vernunft ist, so scheint es, selbst zum Opfer der Entzauberung geworden, für die er in aufklärerischer Intention einstand. Vernunftkritik, die einmal den Geltungsanspruch der Vernunft durch Selbstbeschränkung befestigen sollte, ist umgeschlagen in ihre Destruktion. Diese Destruktion freilich bestreitet der Vernunft den Anspruch auf Allgemeinheit, indem sie dem Begriff des Allgemeinen widerstreitet. Ein anderer Begriff des Allgemeinen aber könnte allererst den Geltungsanspruch der Vernunftkritik gegenüber der kritisierten Vernunft begründen. Von dieser Aufgabe hat sich die gegenwärtige Vernunftkritik zumeist dispensiert. Sie stellt ihm stattdessen Unmittelbarkeiten entgegen, an denen_ Vernunft und Allgemeinheit ihr Recht verlieren sollen. Der philosophische Diskurs der Moderne, wie Habermas ihn beschreibt, hat damit seinen Ursprung im metaphysischen Vernunftbegriff nicht aufgehoben, sondern sich von ihm nur abgekehrt.! So ist er hinter dem Rücken dieses Diskurses anwesend als das, wogegen dieser sich richtet. In solchem negativen Bezug nimmt es die Vernunftkritik freilich nicht mit dem Vernunftbegriff selbst auf, sonden:t nur mit dem, was sie ihm als Folgen zurechnet. Auf diese Weise bleibt sie im Bann dessen, wovon sie sich abstoßen will. Die Metaphysikkritik der Moderne ist vielfach Ausdruck einer negativen Wirkungsgeschichte des metaphysischen Vernunftbegriffs, in dessen 1
Vgl. Habermas 1985.
Einleitung
Problemstellung
Grundmuster und Aporien sie um so mehr verfällt, je weniger sie diese wirklich begreift. Sie ist, im strengen Sinne, kein »nachmetaphysisches Denken«2. Diese Zusammenhänge sind Gegenstand der hier vorgelegten Untersuchungen. Sie zielen auf eine Alternative zur Verwerfung des Vernunftbegriffs, welche die berechtigten Motive der Kritik nicht einfach abweist, sondern begrifflich aufnimmt und in den Vernunftbegriff selbst einträgt. Der bloßen Abkehr von der Tradition, die negativ auf sie fixiert bleibt, sollen die ungenutzten Reflexionspotentiale dieser Tradition entgegengesetzt werden. Durch den kritischen Anschluß nicht an deren Positionen, sondern an ihre theoretischen Mittel, tritt die - wenn auch in sich vielfach gebrochene -. Kontinuität des Vernunftbegriffs mit dem Projekt der Aufklärung hervor. Daß der Prozeß der Aufklärung sich wesentlich als deren Selbstkritik vollzieht und dabei differenzierte theoretische Mittel entwickelt werden, die heute noch Geltung beanspruchen können, hat Johannes Rohbeck für das gegenwärtig wohl fragwürdigste Theorem der Aufklärungsphilosophie, den Begriff des historischen Fortschritts, gezeigt. 3 So sind auch die hier erörterten Konzeptionen von Vernunft Bestandteil theoretischer Prozesse, in denen sie permanent in Frage gestellt und auf ihre Voraussetzungen hin befragt . werden. 4 In diesem Sinne ist der Rückgang auf die Tradition nicht an ein affirmatives Vorurteil gebunden, sondern kann sich in den Vollzug ihrer Selbstkritik einstellen und diese weitertreiben. Dem kritischen Verfahren entsprechend zielt der Versuch, auf diesem Wege einen philosophischen Vernunftbegriff zu legitimieren, nicht auf die systematisch gerichtete Durchführung einer Alternative, sondern allererst darauf, eine solche Alternative überhaupt sichtbar und vor dem Hintergrund der behandelten Theorien diskussionsfähig zu machen. Es geht in erster Linie um den Aufweis einer Problem-Alternative zur Verwerfung des Vernunftbegriffs als dem Ergebnis einer fortschreitenden Entbegrifflichung der von der Vernunftkritik in Anspruch genommenen Voraussetzungen. Diese sollen begrifflich reformuliert und als Begriffe mit dem konfrontiert werden, wovon sie sich kritisch abstoßen, um somit . die Möglichkeit zu gewinnen, das Verhältnis von Kritik und Kritisiertem jenseits des bloßen Festhaltens an Positionen begrifflich zum Austrag zu bringen. Für ein solches Verfahren ist die Philosophie Hegels Vorbild und zugleich das Gegenbild des dabei anvisierten Vernunftbegriffs. Vorbild, sofern sie mit vielfältigem Recht als Ergebnis einer begrifflich konsequent verfahrenden Kritik der vormaligen, metaphysisch begründeten Vernunftkonzepte verstanden werden kann, die sie aufeinander bezieht und sich begrifflich aneinander abarbeiten läßt. Im Ergebnis freilich wird der Begriff selbst spekulativ aufgeladen und mystifiziert, wodurch Vernunft zur absoluten gerinnt. Hierauf beruht wesentlich das
Mißtrauen der nachhegeischen Philosophie in den Begriff, das sie mit manchen Vorgängern und Zeitgenossen Hegels verbindet. Gleichwohl ist festzuhalten, daß sich der Bruch in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, wie inkonsequent er auch immer begrifflich vollzogen worden sein mag, nicht widerrufen läßt. In diesem Sinne ist der absolute Vernunftbegriff Hegels das Gegenbild, gegen das sich gerade die begriffliche Anstrengung zu richten hat. Aus dieser Konstellation resultiert eine zweifache Richtung der Kritik. Auf der einen Seite versucht sie aufzuzeigen, daß die Absetzbewegungen vom traditionellen Vernunftbegriff, wie Hegel ihn im Resultat seiner kritischen Bemühungen theoretisch verdichtet und abgesichert hatte, in seinem Schatten bleiben und ihm begrifflich vielfach erliegen. Die Entbegrifflichung der Voraussetzungen der Kritik ist in dieser Hinsicht dem Fehlen einer tragfähigen begrifflichen Alternative geschuldet. Gleichwohl wird dabei etwas geltend gemacht, was - begrifflich gefaßt - Hegels Konzeption gerade dort widerst~eiten könnte, wo er selbst nicht haltbaren spekulativen Vorentscheidungen erliegt. Die kritische Auseinandersetzung mit Positionen der nachhegeischen Philosophie erfolgt daher in der Absicht, sie auf dem Niveau des von ihnen Kritisierten zu realisieren. Dies geschieht, indem auf der anderen Seite versucht wird, Hegel mit demjenigen zu konfrontieren, was er begrifflich unterbestimmt läßt und aus seinem Diskurs ausschließt. Solche Bruchstellen berühren nicht nur sein Verhältnis zu den nachfolgenden philosophischen Konzeptionen, sondern auch das zu seinen Vorgängern und Zeitgenossen. An ihnen wird deutlich, was Hegel selbst an Einsichten verworfen und was er an Voraussetzungen unreflektiert mitgeschleppt hat. Dementsprechend befassen sich die ersten bei den Kapitel mit den begrifflichen Voraussetzungen des Hegeischen Vernunftbegriffs in der neueren Philosophie sowie bei den nächsten Vorgängern und den Zeitgenossen im engeren Diskussionsrahmen der deutschen Philosophie. Die Rekonstruktion dieser Zusammenhänge orientiert sich an ihrer systematischen Verarbeitung bei Hegel, wobei sie zugleich eine andere Perspektive zur Geltung bringt, die kritisch-mit derjenigen Hegels konfrontiert wird. Dies geschieht eingangs des dritten Kapitels, das Hegels dialektische Konstruktion des Vernunftbegriffs nachzeichnet. Im Mittelpunkt der Darst€llung steht· dort Hegels spekulative Interpretation des Widerspruchs im Endlichen, durch dere.n Diskussion ein anderes Verständnis dialektischer Vernunft vorbereitet werden soll. Das vierte und fünfte Kapitel sind den teils selbst noch spekulativen AbsetzbewegJIngen von Hegel in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts sowie exemRlarischen Positionen der neuesten Philosophie gewidmet, die den Bruch mit der Spekulation mit philosophischen Mitteln durchführen wollen. 5 Dem dabei weitgehend zu konstatierenden·Rück-
2
Habermas 1988. Vgl. Rohbeck 1987. 4 Vgl. - im Blick auf die Rezeption der Kantischen Vernunftkritik im Deutschen Idealismus - Horstmann 1991. 2 3
I \
3
5 An dieser Stelle ist ein Hinweis darauf angebracht, daß ich mich hier nicht mit derjenigen Richtung der Vernunftkritik auseinandersetze, deren Strategie auf eine Überbietung des spekulativen Denkens gerichtet ist. Hierfür steht vor allem die Metaphysikkritik Nietzsches und derjenigen Nietzscheaner, die auf die Mfirmation reiner Positivitäten setzen. Von
Einleitung
Reflexionsphilosophie .und dialektische Vernunft
fall in spekulative Voraussetzungen und der negativen Bindung an das Kritisierte tritt die Marxsche Auffassung von Dialektik als eine begrifflich zu präzisierende Alternative entgegen. Diese wird zum Schluß als eine Problem-Alternative im oben bezeichneten Sinne skizziert.
cartes bis Hegel, deren systematischer Vollzug sich arn Leitfaden dieses Begriffs rekonstruieren läßt.13 Sehr vereinfachend ließe sich ein gemeinsamer Nenner darin finden, daß der Gebrauch des Terminus» Reflexion« zunächst vor allem eins signalisiert: im Erkennen wird die Rationalität auf sich selbst so (zurück-)verwiesen, daß in dieser Konfrontation Selbst- und Weltbewußtsein untrennbar aufeinander bezogen sind, worin »Reflexion« zum Vermögen der Allgemeinheit wird. Die verschiedenen Konzepte von »Reflexion« geben darüber Auskunft, wie die Rationalität als Erkenntnis des Allgemeinen, des inneren Zusammenhangs der erscheinenden Wirklichkeit, verfaßt ist, und mit welchen Mitteln sie diese Erkenntnis vollzieht. Ursprünglich auf mentale Prozesse bezogen, wird der Reflexionsbegriff - beginnend mit Hume - auf praktisches Verhalten und schließlich auf objektive Verhältnisse und Prozesse übertragen, indem Verhalten und Verhältnisse generell als Realisierung von Selbstbeziehung durch die Beziehung auf Anderes aufgefaßt werden. Dieser erweiterte Reflexionsbegriff, wie er aus der Geschichte der Philosophie selbst hervorgeht, wird im Folgenden systematisch zugrunde gelegt. Aus dieser Sicht bedeutet die transzendentalpragmatische Okkupation des Reflexionsbegriffs, die in der gegenwärtigen Diskussionssituation vorherrscht, eine Engführung des Problems. 14 Seine Bindung an eine kommunikativ verfaßte, intersubjektiv situierte Vernunft erlaubt es zwar, den Reflexionsbegriff aus der bloßen Subiektivität zu befreien und auch als Reflexion auf gegenständliches Verhalten zu verstehen, gleichwohl signalisiert er vor allem die Unhintergehbarkeit einer »noologischen Reflexion« auf die »Welt«, die deren Sinn als geschichtliche Situation im Blklc auf die» Idee allgemeingültiger Wissenschaft «15 erschließt. Ihrem eigenen Selbstverständnis nach rekurriert sie gegen Hegels Konzept immanenter Reflexion auf deren Äußerlichkeit, um dem spekulativen Verständnis des Begriffs zu entgehen.16 In der Tat aber ließe sich, wie im Verlauf der vorliegenden Untersuchungen gezeigt werden soll, gerade die immanente Reflexion in Hegels »Wissenschaft der Logik« gegen sein spekulatives 'Selbstmißverständnis als »äußerliche« im Sinne der Beziehung auf Anderes rekonstruieren. Dies betrifft sowohl das Verständnis des transzendentalpragmatischen Reflexionsbegriffs als Begrenzung identitätsphilosophischer Ansprüche als auch den Begriff des Allgemeinen in der »Ide~ allgemeingültiger Wissenschaft«. Auf dieser Grundlage erst wäre über das transzendentalpragmatische Reflexionskonzept sachlich zu verhandeln, was freilich den Rahmen der hier allein angestrebten ProblemAlternative sprengen würde, zum al es dazu einer umfassenden Verständigung über »Kommunikation« bedürfte, an welche »Reflexion« gebunden wird.
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2. Reflexionsphilosophie und dialektische Vernunft Als systematische Leitbegriffe der Untersuchung fungieren »Dialektik« und »Reflexion«. Beide sind, für sich genommen, vieldeutig und können erst in den spezifischen Zusammenhängen, in denen sie hier in den Blick treten, Kontur gewinnen. Die Vagheit des Begriffs »Dialektik~< wurde vielfach erörtert und zum Anlaß für historische und systematische Präzisierungsversuche. 6 Daneben gibt es eine verbreitete Tendenz, Theorien als »dialektisch« auszuzeichnen, die nicht diesen Titel in Anspruch nehmen, während umgekehrt explizite Konzeptionen von Dialektik - wie diejenige Friedrich Schlegels - auch von der begriffsgeschichtlichen Forschung nicht wahrgenommen wurden.7 Daß Begriff und Verfahren der Dialektik sich nicht eindeutig definieren lassen, ist affirmativ als das Signum der Dialektik selbst in Anspruch genommen worden, die »keine von ihrem Gegenstand unabhängige Methode.(~ sei; umgekehrt wurde daraus kritisch der Schluß gezogen, die dialektische Rede sei ebenso leer wie der Wortgebrauch von »Dialektik« selbst. 9 Nicht sehr viel besser steht es mit dem Begriff der Reflexion. Seine Prominenz und Allgegenwärtigkeit steht im umgekehrten Verhältnis zur begrifflichen Präzisierung; so erscheint auch er geradezu als beliebiger Begriff.1° Systematische Inanspruchnahmenll und von vornherein auf einzelne Autoren hin angelegte Interp!etationen sind erst Bausteine zu einer umfassenden begriffsund problemgeschichtlichen Darstellung. 12 Angesichts dieser Situation ist der Rekurs auf die Begriffe »Dialektik« und »Reflexion« im Zusammenhang der Vernunftproblematik erläuterungsbedürftig. »Reflexion«, wo immer auch die Ursprünge des Begriffs verortet werden mögen, plakatiert ein grundlegendes Paradigma der neueren Philosophie von DesSeiten der theoretischen Mittel aus betrachtet, handelt es sich dabei um eine Umwertung von Unmittelbarkeiten, deren Setzung nicht anders erfolgt als in den hier betrachteten Gestalten des philosophischen Bewußtseins. Vgl. z. B. im Blick auf strukturelle Gemeinsamkeiten der Hegel-Kritik bei Feuerbach und De1euze Arndt 1993d. 6 Vgl. Z.B. Heiss 1959, Heintel1984, Hubig 1978, Röd 1986; in systematischer Hinsicht, aus neukantianischer Perspektive und an Schleiermacher ankriüpfend, Cohn 1923. 7 So in dem Artikel »Dialektik« im HistorIschen Wörterbuch der Philosophie. 8 Adorno 1970, 15. 9 Vgl. Simon-Schäfer 1973. 10 Vgl. Radermacher 1983. 11 Vgl. z. B. Wagner 1959; Kuhlmann 1975. 12 Begriffsgeschichtliche Hinweise finden sich bei Wagner 1973; Frey 1973, 39-197; Schnädelbach 1977; vgl. jetzt umfassender Zahn 1992.
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13 Vgl. Scheier 1971; das Verdienst dieser Arbeit besteht darin, die Engführung des Reflexionsbegriffs überwunden und diesen historisch-systematisch als Beziehung Entgegengesetzter auf ihre Beziehung entwickelt zu haben. 14 Vgl. Apel 1976; Kuhlmann 1985. 15 Ape11976, 19. 16 Ebd., 21f. -----
Einleitung
Methode der Rekonstruktion
Daß die Frage nach dem Allgemeinen im Rahmen der Reflexions-Einheit von Selbst- und Weltbewußtsein gestellt wird, kennzeichnet den Einsatz dessen, was in überkommener Terminologie als neuzeitliche Subjektivitätsphilosophie gilt. Programmatisch bedeutete dies den Rückgang auf die spezifisch menschliche theoretische und praktische Aneignung der »Welt«, und für diese Perspektive steht »Reflexion« zuallererst ein. Dabei hatte, wie es in Bacons »Instauratio magna« gültig formuliert wurde, die Aneignung der »Logik« des Angeeigneten zu folgen, so daß Herrschaft über die Natur nur dann möglich war, wenn sie sich den Gesetzen des Beherrschten unterwarf. Zwar gibt es, gerade in dieser Traditionslinie, viele Gründe, solcher Dialektik von Macht und Ohnmacht, Abhängigkeit und Freiheit zu mißtrauen, schlägt sie doch letztlich in die Perspektive-schrankenloser Verfügbarkeit über das Gegebene um; gleichwohl ist für uns die Reflexivität einer menschlichen Aneignung der Wirklichkeit unhintergehbar und Voraussetzung auch noch derjenigen theoretischen Abstraktionen, die davon absehen wollen. In diesem Sinne ist die Frage nach der Reflexion zugleich die Frage nach der objektiven Gültigkeit und Reichweite unserer, der menschlichen Rationalität. Nun ist aber der Begriff der Rationalität selbst zweideutig, sofern er sowohl als Verstandes- als auch als Vernunftbegriff von Rationalität auftreten kann. In dem Maße, wk der metaphysische Geltungsanspruch von Rationalität nur durch die Begrenzung der endlichen Reflexion aufrechterhalten werden konnte, traten Verstand (intellect~s) und Vernunft (ratio) auseinander, die vor dem Hintergrund des prinzipientheoretischen Gegensatzes zum Empirismus tendenziell gleichgesetzt worden waren. Der Vernunftbegriff von Rationalität gründete im Begriff Gottes ode~ des Absoluten. Dagegen brachte vor -allem der Empirismus einen Verstandesbegriff von Rationalität zur Geltung, dem eine Selbstbeschränkung des Erkennens auf diejenigen Felder zugrundelag, auf denen es objektiv gültiges Wissen beanspruchen konnte. In dieser Sphäre wurden Verbindlichkeit und Allgemeinheit unterstellt, ohne ihren Grund einsichtig machen.zu können. Somit geriet die Verstandesrationalität schließlich zum skeptischen Blick auf eine metaphysisch verfaßte Vernunft, deren Geltungsanspruch sie abwehrte, ohne ihre theoretischen Voraussetzungen destruieren zu ~önnen. Auch hier bleibt die Zweideutigkeit des Rationalitätsverständnisses bestehen. Diese Zweideutigkeit hat Kant zum Ausgangspunkt seiner Vernunftkritik gemacht und in seiner Konzeption transzendentaler Dialektik als Aporie festgeschrieben. Die Vernunft, die an die endlichen Erkenntnismittel des Verstandes gebunden' ist, scheitert an diesen bei dem Versuch, sich des Unbedingten zu bemächtigen. Umgekehrt aber ist der Verstand auf die Vernunft verwiesen, um objektiv gültig erkennen zu können. Mehr noch: er verhält sich selbst vernunftgemäß in der unabweislichen Beziehung der bedingten Erkenntnisvermögen auf das Unbedingte, sofern die Kritik und Restriktion des Vernunftgebrauchs von ihm ausgehen. Der Allgemeinheitsanspruch des reflexiv verfaßten Rationalitätsverständnisses treibt bei Kant über den Verstandesbegriff von Rationalität hinaus, wobei
zugleich sein Anspruch auf objektiv gültige Erkenntnis durch den Verstand kritisiert wird. Die transzendentale Reflexion schreibt diese Kritik in ihrer Topik fest, um sogleich von der transzendentalen Dialektik demonstriert zu bekommen, daß sie nicht an den Grund der Reflexion heranreicht, sondern nur deren Folgen erfaßt. Die Überprüfung des Vernunft-Anspruchs ist damit an das Konzept transzendentaler Dialektik gebunden, das historisch wie systematisch den Ausgangspunkt der nachkantischen idealistischen Systembildungsversuche bildet. Das Rationalitätsproblem wird zum Problem eines dialektisch verfaßten Vemunftbegriffs, in dem Dialektik und Reflexion konvergieren. Das Grund-Problem dieser Dialektik ist die Allgemeinheit der Reflexion; in ihr wird die Spannung von Verstandes- und Vernunftbegriff der Rationalität zum Austrag gebracht. Der Einsatz der Dialektik im Verhältnis von Verstand und Vernunft erfolgt genuin auf dem Boden der neueren Philosophie und ist insofern kein unkritischer Rückgriff an den kritizistischen Vorbehalten vorbei und hinter Kant auf antike Denkmuster. Sein spezifisches Profil erhält der Begriff der Dialektik dadurch, daß er als Reflexion auf das Bedingungsgefüge des Vernunftgebrauchs aufgefaßt wird. Hierin kommen auch die nachkantischen Konzeptionen von Dialektik mit Kant überein, und hierin verstehen sie sich, auch in dem Hinausgehen über Kant, als Durchführung und Radikalisierung der Vernunftkritik selbst dort, wo diese in elie Affirmation absoluter Vernunft umschlägt. In diesem Sinne bezeichnet »Dialektik« die Vernunftkritik im Modus einer Selbstkritik der Vernunft; die sich den Voraussetzungen und Vorbehalten der Kritik stellt, und kann als Titel der Rekonstruktion des Vernunftbegriffs in Anspruch genommen werden.
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3. »Theoretische Mittel«. Zur Methode der Rekonstruktion Diese Rekonstruktion verfährt zwar historisch, aber nicht im Sinne einer Doxographie oder Begriffsgeschichte. Ihr Verfahren wird vielmehr von dem leitenden systematischen Interesse bestimmt. Dieses konzentriert sich auf die grundlegenden theoretischen Mittel der Philosophie, mit denen innerhalb der Reflexions-Einheit von Selbst- und Weltbewußtsein die Erfassung und Darstellung des inneren Zusammenhangs der erscheinenden Wirklichkeit ins Werk gesetzt und der Vernunft-Anspruch auf Allgemeinheit realisiert werden soll. Der Vernunftbegriff selbst in seiner jeweiligen Spezifik kann als ein set theoretischer Mittel gelten. »Mittel« sind hier nic~t als Vermögen mißzuverstehen, die unabhängig von ihrem Gebrauch als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis angesehen werden könnten. Unter theoretischen Mitteln ist vielmehr, in aller Kürze, ein jeweils spezifischer Zusammenhang von Begriffen bzw. Kategorien untereinander in ihrer Beziehung auf Sachverhalte zu verstehen, welche durch diese Mittel theoretisch bestimmt, d. h. geistig reproduziert werden, wie umgekehrt die Mittel ihre Bestimmtheit erst in der und durch diese Beziehung erhalten. Der Begriff des theoretischen Mittels kommt damit dem nahe, was traditionell unter dem Er-
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Philosophie und Wissenschaften
Einleitung
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kenntnismittel des Schemas gedacht wurde, in dem sich die Resultate der Erkenntnisarbeit für den Gebrauch niederschlagen. Die Eigenart solcher Mittel besteht darin, daß sie das Allgemeine der Erkenntnisarbeit repräsentieren, indem sie in ihrem jeweils aktuellen Gebrauch nicht aufgehen, sondern diesen überdauern. Die in den Mitteln kondensierten Möglichkeiten werden in einzelnen Erkenntnisakten in der Regel auch dann nicht vollständig realisiert, wenn ihnen darin neue Möglichkeiten zuwachsen. In ihnen schlagen sich Verfahrensweisen und Resultate von Erkenntnisprozessen nieder, die dann auf andere Erkenntnisprozesse übertragbar sind. Sie werden, a~s Mittel der Erkenntnistätigkeit, von dieser produziert, ohne mit ihr identisch oder deren bloßes Moment zu seinY Das bedeutet, daß die Mittel gerade dadurch, daß sie das Allgemeine bestimmter Erkenntniszusammenhänge repräsentieren, von diesen bis zu einem gewissen Grade abgelöst werden können, ohne von der spezifischen Bestimmtheit der Mittel abzusehen. Besonders die positionellen Voraussetzungen und Intentionen ihres Gebrauchs in der Erkenntnistätigkeit müssen mit ihren Möglichkeiten nicht zur Deckung kommen. Diese können über den jeweiligen Argumentationszusammenhang hinausgehen, aber auch umgekehrt von ihm überfordert werden, und die Bewertung solcher Erfahrung von Nichtidentität kann sich ebenso in der Erweiterung der Perspektive wie in einer dogmatischen Verhärtung der Position niederschlagen. Die theoretischen Mittel sind daher auch nicht von vornherein mit dem gleichzusetzen, was die methodische bzw. methodologische Selbstreflexion theoretischer Zusammenhänge explizit macht. In den folgenden Untersuchungen tritt dies vor allem dort hervor, wo - teils unreflektiert - Annahmen über Selbstbezüglichkeit als Unmittelbarkeit im Hintergrund stehen, sei es, daß diese affirmativ als grundlegende Identität ausgezeichnet wird, sei es, daß der Verlust dieses affirmativen Bezuges negativ auf eine solche Unmittelbarkeit fixiert bleibt. In den Konzepten von »Reflexion« erfährt das für sie grundlegende Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung (Reflexion) immer auch bestimmte Ausprägungen, die, wie zu zeigen versucht wird, jenseits aller Differenzierungen und positionellen Vorbehalte im Einzelnen, auch bei sonst einander widersprechenden Positionen nur geringfügig variieren. Eine differenzierte und weithin gültig bleibende Form erhält die Bestimmung des () Verhältnisses von Unmittelbarkeit und Vermittlung in den theoretischen Mitteln der romantischen Dialektik, als deren herausragende Vertreter Friedrich Schlegel und Schleiermacher gelten können. Die romantische Dialektik bezeichnet eine profilierte Alternative zu Hegel innerhalb der gemeinsamen Voraussetzungen der nachkantischen deutschen idealistischen Philosophie. Ihre theoretischen Mittel bleiben, teils innerhalb einer explizit aufzuweisenden Wirkungsgeschichte, teils durch verdeckt bleibende Theorietransfers und die interne Logik der theoretischen Mittel nachhegelscher Philosophie, als grundlegendes Formular bis in die
Gegenwart in Geltung. So ist die Rekonstruktion des Vernunftbegriffs nicht nur immer auch ein Diskurs über Unmittelbarkeit und Vermittlung, sondern über weite Strecken zugleich ein Diskurs über die Theorieform der romantischen Dialektik, welche die Konfrontation mit der Hegelschen Dialektik überdauerte und auch dort virulent war und ist, wo ihre Ursprünge vergessen oder verworfen wurden. . Die systematisch gerichtete Rekonstruktion des Vernunftbegriffs verfährt daher in bezug auf die behandelten historischen Positionen bewußt typisierend, um die in diesem Zusammenhang grundlegenden theoretischen Mittel in den Blick zu bekommen. Dadurch unterscheidet sie sich in ihrer methodischen Anlage spezifisch von der traditionell hermeneutischen Doxographie, welche eher auf die Eigenart der Positionen im detailliert zu rekonstruierenden Kontext der Theorien abhebt, und ebenso von der Begriffsgeschichtsschreibung, die den Gebrauch der Begriffe im jeweiligen Kontext fixiert. Dabei versteht es sich, daß dies nur den besonderen methodischen Akzent der hier vorgelegten Untersuchungen bezeichnet, nicht aber eine methodische Alternative.
4. Philosophie und Wissenschaften. ~u den (Trenzen des l1erfahrens Die Allgemeinheit und relative Selbständigkeit der theoretischen Mittel bewirkt, daß es auf dieser Ebene durchaus so etwas wie einen »Fortschritt in der Philosophie«18 gibt. Die Entwicklung und Differenzierung theoretischer Mittel konstituiert allererst einen spezifischen Zusammenhang, der als Philosophiegeschichte von anderen geschichtlichen Zusammenhängen abhebbar ist, auch wenn diese die Voraussetzung der philosophischen Arbeit bilden. Jede philosophiehistorische Formation kann als historisch bestimmte, spezifische Form der geistigen Reproduktion des inneren Zusammenhangs der erscheinenden Wirklichkeit angesehen werden. Das Problem der Reproduktion ist immer aufgegeben, aber es kommt immer nur von spezifischen Voraussetzungen her in den Blick und kann immer nur ·mit historisch spezifischen Mitteln bearbeitet werden. Der Bruch in der Philosophie des 19. Jahrhunderts hat hier eine neue Problemlage geschaffen. Der Vernunft-Anspruch auf Allgemeinheit läßt sich seither nicht mehr in der Weise der spekulativen Systeme philosophisch realisieren, sondern nur noch im Zusammenhang mit den besonderen Wissenschaften. Ob diese freilich je zu einer Theorie des Gesamtzusammenhangs zu synthetisieren waren, wie es Friedrich Engels auch nach dem Scheitern des Hegeischen Systemanspruchs noch hoffte, kann bezweifelt werden.19 De facto zog sich die Philosophie vielfach auf ein ihr angeblich eigenes Terrain zurück, auf dem sie sich 18
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Zum Begriff des »Mittels« überhaupt in diesem Sinne vgl. Rohbeck 1994.
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Haag 1983. Vgl. Lefevre 1989.
Einleitung
Philosophie und Wissenschaften
gegenüber den besonderen Wissenschaften immunisieren zu können meinte.
philosophischer Begriff von Allgemeinheit, der die Voraussetzungen eines solchen Einheitsdenkens zurückweisen würde, könnte weit eher mit den tatsächlichen Ansprüchen und Verfahrensweisen der Wissenschaften vermittelt werden. Die Kritik der philosophisch reflektierten Vernunft an verselbständigten Partikularitäten wäre zugleich die una:usgesetzte Selbstkritik ihrer als einer Besonderung, die sich darin, gerade wegen ihres Anspruchs auf Allgemeinheit, vor der Verselbständigung ihrer Partikularität zur Allgemeinheit zu bewahren hätte. Die fortschreitende Arbeitsteilung in den Wissenschaften selbst mit ihren Konsequenzen für die Philosophie ist als irreversibel hinzunehmen, sofern sie Ausdruck einer neuen Qualität der Gesellschaftlichkeit in der Wissenschaft als »allgemeiner Arbeit« ist, wenn auch in einer antagonistischen Form. Diesem Antagonismus freilich ist durch Romantizismen von Ganzheit und gelingender Identität nicht beizukommen. Die Einheit der Wissenschaften, die als solche noch einmal- und sei es auf dem Wege forcierter interdisziplinärer Vernetzungen - für sich hergestellt werden könnte, ist eine romantische Abstraktion. Zu begegnen wäre dem Antagonismus nur dadurch, daß die Widersprüche, die durch den Grad der Vergesellschaftung wissenschaftlicher Arbeit notwendig erzeugt werden, in Kooperationszusammenhängen nicht nur der Wissenschaften untereinander erträgliche Bewegungsformen finden. Diese zu erzwingen, steht freilich am wenigsten in der Macht der Philosophie. Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann sie den Bornierungen, die sie kritisiert, selbst nicp.t entgehen. Sie kann nur Grundlagen dafür schaffen, daß sie in solchen Kooperati,onszusammenhängen überhaupt etwas zu sagen hätte. In einem Zustand, wo das Fach selbst in gegeneinander isolierte Arbeitszusammenhänge zersplittert ist, die schon untereinander dringend »interdisziplinärer« Kooperation.bedürften, kann es sich dabei nur um unzureichende Versuche handeln. Damit ist auch eine Grenze der hier vorgelegten Untersuchungen bezeichnet. Die Akzentuierung der theoretischen Mittel in der Rekonstruktion des Vernunftbegriffs bleibt auf einer Abstraktionsebene, die den Bezug zu den sozial- und wissenschaftshistorischen Bedingungen ihrer Evolution nur punktuell ausdrücklich macht. Er kommt dort indirekt zur Geltung, wo es in den theoretischen Mitteln um die Erfassung und Darstellung von Zusammenhängen geht, in denen auch die realphilosophischen Vermittlungen in den Sphären der besonderen Wissenschaften und die Vermittlungen von Philosophie und Wissenschaften in allgemeiner Form reflektiert werden. Dieses Verfahren läßt sich dadurch rechtfertigen, daß gerade durch diesen Zugriff das Überdauern,de in den theoretischen Mitteln gegenüber ihren spezifischen Formationsbedingungen sichtbar gemacht werden kann, welches in der Verselbständigung von Philosophie und besonderen Wissenschaften gegeneinander auf beiden Seiten auch selbständig hervortritt und als Reflexionspotential auf Zusammenhänge die Auffassungen von Vernunft und Allgemeinheit positiv oder negativ determiniert. Die Kritik ihres verselbständigten Gebrauchs kann indessen noch keine Alternative realisieren, für die es auf Kooperationszusammenhänge ankäme, in denen der Bezug auf die wissen-
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o Dieser Rückzug erfolgte parallel zu der empirisch nicht minder bodenlosen Zuschreibung weltverändernder Kritikpotentiale an die Philosophie im Junghegelianismus. In ihm wurde die Assoziation von besonderen Wissenschaften und Philosophie von Seiten der Philosophie aufgekündigt. Sie wurde aber auch von Seiten der sich spezialisierenden und hochgradig arbeitsteilig verfahrenden Einzelwissenschaften aufgekündigt, die zu Recht davon ausgehen konnten, daß der Philosophie nicht mehr das abschließende und darin zugleich grundlegende Wort im Kosmos der Wissenschaften zukommen könne. Die Verselbständigung der Philosophie ist somit nur ein :fall der Verselbständigung der Wissenschaften gegeneinander. Wo diese Verselbständigung einfach hingenommen wird, kommt CJ das Problem vernünftiger Allgemeinheit nicht mehr in den Blick und es wird dem der Boden bereitet, was oben als negative Fixierung auf den spekulativen Vernunftbegriff charakterisiert wurde. So ist Hegels dialektischer Vernunftbegriff auf adäquate, der skizzierten Problemlage angemessene Weise nur dort aufgegriffen und dabei zugleich kritisiert und transformiert worden, wo er in Zusammenhang mit den besonderen Wissenschaften gebracht wurde. Maßgebend dafür ist noch immer der Marxsche Umgang mit Hegel im Rahmen der Kritik der politischen Ökonomie. Er geht nicht nur davon aus, daß der Wirklichkeitsbezug einer Theorie nur durch das und in dem zu gewinnen ist, was die besonderen Wissenschaften über die Wirklichkeit ausmachen; er geht zll:gleich davon aus, daß diese Wissenschaften als besondere spezifischen Bornierungen unterliegen können, die sie unfähig machen, inhaltliche Zusammenhänge angemessen zu reflektieren. In diesem Süine besteht der Einsatz des dialektischen Vernunftbegriffs bei Marx nicht darin, ihn durch die Engführung auf einzelwissenschaftliche Problemzusatnmenhänge in diese aufzuheben, worin er nur ein gleichgültiges Ornament wäre. Der Einsatz besteht vielmehr darin, in der Kritik der gegeneinander verselbständigten Wissenschaften und der von ihnen produzierten Fragmentarisierungen für die besonderen Wissenschaften selbst, als Teile allgemeiner Erkenntnisarbeit, einen Begriff von Allgemeinheit zurückzugewinnen, den diese aus ihrer eigenen Praxis heraus nicht o entwickeln. Das heißt: die Philosophie unterliegt nicht nur der Kritik durch die besonderen Wissenschaften, sondern das im dialektischen Vernunftbegriff kondensierte Reflexionspotential ist zugleich Mittel der Kritik der Wissenschaften im Blick auf die Verallgemeinerung ihrer Erkenntnisse sowohl in theoretischer als auch in praktischer Absicht. Philosophie erscheint hier selbst als Besonderung im Reich des Wissens und der Wissenschaften, deren Besonderheit aber gerade darin besteht, die Besonderungen der arbeitsteilig verfahrenden Wissenschaften inhaltlich und methodisch mit dem zu konfrontieren, was in ihnen nicht aufgeht. Sowenig die Philosophie sich anmaßen kann, all dies in sich aufheben und in die Einheit eines Zusammenhangs bringen zu können, sowenig ist eine integrative Superwissenschaft vorstellbar, die dies anstelle der vormaligen Philosophie in einer scientia prima leisten könnte. Ein
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Einleitung
schaftshistorische Problemlage mehr wäre als ein Programm. Dies freilich kann nicht davon dispensieren, mit den begrenzten Mitteln innerphilosophischer Kritik wenigstens einen Teil der spezifisch philosophischen Aufgabe zu bearbeiten. Im Ergebnis kann es sich dabei nur um eine Problem-Alternative.handeln, die zu zeigen versucht, wie im Anschluß an die philosophische Tradition der Mogerne ein Vernunftbegriff zurückzugewinnen und zu verteidigen wäre, der weder 'hinter den bei Hegel erreichten Problemstand zurückfällt, noch die Problematiken leugnet, die Hegels Vernunftbegriff zur Abdankung gezwungen haben. Um einen solchen vorläufigen Vorschlag geht es schließlich, der in bezug auf die gegenwärtige Problemlage auch philosophisch weiter auszuarbeiten und zu modifizieren wäre.
I. AUFKLÄRUNG UND REFLEXION
»Reflexion« fungiert jenseits aller begrifflichen Ausprägungen zunächst als Metapher, die vor allem auf die Optik, die Theorie des Lichts, zurückbezogen ist. Damit ist ein assoziativer Zusammenhang von »Reflexion« und »Aufklärung« gegeben, der sich freilich bestimmter fassen läßt und im folgenden im Blick auf die theoretischen Mittel des Vernunftbegriffs präzisiert werden soll. Aufldärung im weitesten Sinne kann als Befreiung von der unmittelbaren Nötigung durch gegebene - natürliche oder gesellschaftliche - Verhältnisse verstanden werden. »Reflexion« ist in diesem Zusammenhang diejenige Instanz, welche die Unmittelbarkeit des Gegebenen dadurch destruiert, daß sie eS für uns in seinen inneren Zusammenhängen durchsichtig werden läßt, indem sie es rational einsichtig macht. Dabei geht es zunächst um die theoretische wie praktische Aneignung der 0 »Welt« für uns, und in dieser Rückwendung des aneignenden Subjekts auf sich v~rhält es sich, wie immer dieses Verhalten im einzelnen bestimmt werden mag, reflektierend. Soweit von der Reflexion endlich-empirischer Subjekte und deren Rationalität die Rede ist, bleibt darin die Bindung an ein gegenüber der subjektiven Reflexion Objektives bestehen, das diese beschränkt und in eine Erfahrungsstruktur einbindet, die sowohl'transzendent als auch empiristisch gedeutet werden kann. Im ersten Fall wird eine absolute, göttliche Vernunft in Anspruch genommen, welche die durchgängige Rationalität der erscheinenden Wirklichkeit sichern soll, im zweiten Fall wird diese Wirklichkeit als eine innerhalb des Endlichen selbst gegebene anerkannt. Die rationalistischen Systeme und der klassische Empirismus kommen darin überein, unserer Reflexion ein unmittelbar Gegebenes vorauszusetzen, auf das sie sich vermittelnd bezieht. Di,ese Voraussetzung schlägt auf die Auffassung der endlichen Rationalität zurück: die Reflexionsinstanz erscheint ebenso als ein unmittelbar gegebenes rationales Vermögen. Die Möglichkeiten der in diesen Konzepten vorgegebenen theoretischen Mittel erlauben eine Aufklärung auch dieser Unmittelbarkeiten in zwei Richtungen. Entweder wird, auf der Linie des rationalistischen Reflexionsmodells, die Reflexion durch die Aufhebung jeder 0 nicht von ihr gesetzten Unmittelbarkeit verabsolutiert, oder aber es wird, auf der Linie des empiristisch-skeptizistischen Reflexionsmodells, die Reflexion als gegenständliche Vermittlung im Handeln gesellschaftlicher Individuen objektiviert, welche das Gegebene als ein Unmittelbares für uns anerkennt, ohne es als Ansich 0 aus der Reflexion auszuschließen. Die erste Möglichkeit wird von der idealistischen Radikalisierung der Aufkl,ärung ergriffen und zuende gedacht. Die Totalisierung der Reflexion nimmt schließlich bei Hegel, wenn auch nur in ihrer metaphysischen Spitze, die reflexive Distanz zurück und vernichtet sich damit selbst als Reflexion in einer neuen Unmittelbarkeit. Die zweite Möglichkeit wird
1. Aufklärung und Reflexion . Descartes
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Marx gegen Hegel ins Spiel bringen, wobei er sich auf Aporien der entfesselten Reflexion stützen kann. Das bewirkt eine strukturelle Annäherung an die Philosophie der Aufklärung, die dieser eine eigenständige systematische Bedeutung verleiht, welche nicht durch Hegels Kritik der Verstandesmetaphysik widerlegt ist. Insofern müßte auch jede Annäherung an das Reflexionsproblem systematisch zu kurz greifen, die sich ein eigenständiges Eingehen auf die Aufklärungsphilosophie versagen würde. Für deren begrifflich auszubuchstabierende und zu fixierende Vorstellungen von »Reflexion« mag hier eine Formulierung Herders stehen, die deutlich macht, daß Reflexion, entgegen dem Anschein der Totalisierung der Subjektivität in der neueren Philosophie, sich an ihren Ursprüngen gegen ihre Aufhebung in die Verfügbarkeit eines Subjekts - wie immer es auch als überindividuelle Instanz gedacht sein mag - sperrte. In seiner Abhandlung »Über den Ursprung der Sprache« übersetzt Herder »Reflexion« mit »Besonnenheit«, die sich dann beweist, wenn die Kraft der Seele »so frei würket, daß sie in dem ganzen Ocean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke.« In dieser reflexiven Distanz erst treten Subjekt und Objekt als unterschiedene und unterscheidbare Seiten des Reflexionsverhältnisses hervor, wobei diese Distanz mit der sinnlichen Unmittelbarkeit des bloß konsumptiven tierischen Verhalten kontrastiert wird. 1 Erst aufgrund ihrer Distanz reflektieren sich beide Relate ineinander: das Erkennen (Perzeption) ist zugleich ein »bei sich anerkennen« (Apperzeption), welches aber zugleich noch'immer das Anerkennen von etwas ist, was in der Apperzeption nicht unmittelbar aufgeht. Dagegen folgt die Lü}ie derjenigen Aufklärung, die sich auf die Selbstvernichtung der Reflexion hin 'bewegt, einer emphatischen Unmittelbarkeit, welche die endliche Reflexion schon immer in den Schatten stellt. So diente Rousseau die Unterscheidung von Vernunftfähigkeit (reflexion en puissance) einerseits und der sich äußernden Vernunft selbst andererseits (»Reflexion« in Herders Verständnis) dazu, die Reflexion als Zerstörung natürlicher Unmittelbarkeit zu denun-. zieren. Hiergegen richtete sich ausdrücklich Herders Explikation der Reflexion als eines anthropologisch fundierten Verhaltens. 2 Tatsächlich wird der Begriff der Reflexion bei Rousseau - nach dem Vorgang Vauvanargues' - insoweit negativ ausgezeichnet, wie er dem Zustand der Entfremdung eies Menschen von seiner natürlichen Unmittelbarkeit eigen ist; der Zustand der Reflexion sei »ein Zustand wider die Natur« und der grübelnde Mensch sei »ein entartetes Tier «3 • Mit dieser Konnotation von Reflexion und Entfremdung ist der antiaufklärerische Zug der Herder: Werke 2, 276f. Vgl. ebd., 275f. 3 »l'etat de reflexion est un etat contre nature, et que l'homme qui medite est un animal deprave« (Disco urs sur l'inegalite, Schriften 98f.). 1
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Reflexion als erste Philosophie
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entfesselten Aufklärung präformiert, die in der Überbietung der endlichen Reflexion die Fremdheit alles Nichtidentischen aufheben will. Mit ihr setzt aus der Aufklärung heraus eine romantische Gegenbewegung ein, die im deutschen Idealismus auch dort noch der total gem'achten Aufklärung anhaftet, wo sie, wie bei Hegel, die Romantik vernichtet zu haben meint. Demgegenüber müßte ein durch die Aufldärung belehrter Reflexionsbegriff zwar nicht den realen Problemgehalt der unter dem Titel »Entfremdung« gefaßten sozial- und kulturhistorischen Phänomene abweisen, wohl aber die Emphase einer Utopie unmittelbaren, unentfremdeten Verhaltens zur Wirklichkeit, denn dies wäre das Ende dessen, wofür Reflexion als vermittelte Einheit von Perzeption und Apperzeption letztlich einsteht: das Verhalten der gesellschaftlichen 0 Individuen zu ihresgleichen und zur Natur, das den Bereich endlicher Vermittlung nicht transzendiert und insofern die Fremdheit niemals zu tilgen vermag.
A. Reflexion und Erfahrung: Aporien des Rationalismus (Descartes, Leibniz, Spinoza)
1. Descartes: Reflexion als erste Philosophie Die Philosophie Descartes' steht gemeinhin für die bewußtseinstheoretische, subjektzentrierte Wende der neueren Philosophie; in ihr wird die Reflexion zur philosophischen Grundlegung im Sinne einer prima philosophia. Die Wende, die Descartes einleitet, besteht nicht darin, den Rückgang auf das Subjekt zum Ausgangspunkt des philosophischen Verfahrens zu machen, sondern darin, das Subjekt in diesem Rückgang auf sich als den Grund wahrer Erkenntnis aufzufassen. »Reflexion« wird Erfassen des Sich-selbst-Erfahrens und seiner Prinzi-O pien, die allein die Wahrheit der Erkenntnis verbürgen; die »erste Philosophie« tritt auf als Philosophie der Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Metaphorisch: das »natürliche Licht«, das Wahres und Falsches unterscheidet,4 erleuchtet sich selbst und darin den Grund wahrer Erkenntnis. Diese Erleuchtung als Aufklärung des Verstandes über sich selbst ist notwendig, sofern das natürliche Licht durch Vorurteile getrübt ist, die sich nicht auf die Evidenz wahrer Erkenntnis zurückführen lassen und somit der methodischen Skepsis nicht standhalten. Diese versucht nicht so sehr, wie antike Formen der Skepsis, Urteile, die allgemeine Geltung beanspruchen, durch Hinweis auf die gegensätzliche Verfaßtheit der erscheinenden Wirklichkeit in Frage zu stellen. Vielmehr geht es ihr darum, den Geltungsgrund der in Frage gestellten Urteile nicht außerhalb des urteilendenSubjekts, sondern in ihm selbst aufzusuchen. Die Skepsis ist allererst jenes methodische Verfahren, das die reflexive Distanz des Erkennenden zu seinen Erkenntnisvollzügen, d. h. Urteilen, und damit die elementare Voraussetzung der 4
Vgl. Discours de la methode, 3, 5.
1. Aufklärung und Reflexion . Descartes
Reflexion und Erfahrung
Selbstreflexion schafft. Sie richtet sich auf den Grund der Geltung von Urteilen in der Verfaßtheit des urteilenden Subjekts als Urteilendem. Die Motivation des Zweifelns erwächst aus der Struktur des Urteilens selbst als Setzen vOn Wahrheit durch das Subjekt. Zu zweifeln ist daran, daß dieses Setzen als Setzen vollzogen wurde und nicht vielmehr ein von anderswoher Gesetztsein - ein Vorurteil - an Stelle eines Urteils Geltung erlangte. Das Urteil selbst ist der Ort der Wahrheit, an dem der Zweifel verstummt ist. Das Urteil ist, im Unterschied zum Vorurteil, eine Einheit von Verstandeserkenntnis (perceptio intellectus) und Willensbestimmung (determinatio voluntatis), wobei der beschränkte Verstand durch den Willen überboten wird, der »nur etwas Einziges, sozusagen Unteilbares ist«5. Falsch ist ein Urteil dann, wenn der Wille nicht richtig gebraucht wird, denn die Vorstellungen des Verstandes für sich genommen sind indifferent hinsichtlich Wahrheit und Falschheit. Urteilen ist ein Akt des freien Willens, diesen Vorstellungen Wahrheit und Falschheit beizulegen. Der Mißbrauch des Willens besteht darin, ihn von der Verstandeserkenntnis zu lösen, d. h. zu urteilen, ohne das, was wahr ist, klar und deutlich erfaßt zu haben. Der Willensakt des Urteilens ist abhängig von der deutlichen Erkenntnis dessen, worüber geurteilt wird. Das Urteil ratifiziert das So-sein des Beurteilten durch die Zustimmung des Subjekts, das sich als Grund seiner Erkenntnis weiß; es ist die Aneignung der »Welt« durch das Subjekt als seine dadurch, daß es in sich selbst deren Prinzipien findet, die in der Reflexion als dem Erkennen des Erkennens erkannt und zugleich anerkannt werden. In ihrem Resultat ist diese Reflexion Selbstverhältnis, verstanden als Aneignung der durch die Verstandeserkenntnis gegebenen Objekte durch die Zustimmung des Subjekts, die sie als wahr anerkennt. Seinem Anspruch nach ist das Subjekt der Reflexion nicht nur der ort, an dem sich Wahrheit ereignet, sondern der Grund der Geltung von Wahrheit überhaupt. Wahr ist nur die angeeignete »Welt«: Zwar kann zu dieser Wahrheit auch die Beschränktheit der Erkenntnis des Subjekts gehören, die mit der Annahme eines vollkommenen Wesens oder Gottes korrespondiert, und dieser Gott kann (in schei~barem Wide~spruch zur reflexiven Selbstbegründung der prima philosophia) als Grund der Vernunft in Anspruch genommen werden: aber auch diese Wahrheiten beruhen auf dem Akt der Anerkennung durch das Subjekt und sind als Folgebestimmungen aus dessen reflexivem Verhalten allererst abzuleiten und einsichtig zu machen.
2. Reflexion und Erfahrung
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Gleichwohl läßt sich dem Rekurs auf den ontologischen Gottesbeweis nicht jede Begründungsfunktion absprechen. 6 Seine Funktion besteht vielmehr darin, ein Problem auszuschalten, das sich aus der reflexiven Selbstbegründung des Wissens ergibt. Daß Wahrheit im Rückgang des Erkennenden auf sich als den Erkennenden gewonnen wird, läßt sich nur dann halten, wenn Wahrheit als Ergebnis eines Urteils verstanden und somit an die Beweisbarkeit geknüpft wird., Zu diesem Beweis gehört sowohl die klare und dt:mtliche Vorstellung des beurteilten Sachverhalts als auch die aus dieser Einsicht resultierende Zustimmung des Subjekts. Beides, Erkenntnis wie Zustimmung, beruht auf der Durchsichtigkeit einer Rationalität, die im reflexiven Vollzug des Erkennenden als eigene erkannt und anerkannt wird. Diese Rationalität aber betrifft nur die Wahrheit als »Essenz«,' nicht aber unmittelbar zugleich damit deren' Existenz. 7 Daß die Existenz nicht aus der gleichen inneren Notwendigkeit foigt, die essentiell als Wahrheit eingesehen wird, ,hat zwei Seiten: zum einen ist die Existenz der erscheinenden Wirklichkeit etwas Gegebenes, d. h. Unvermitteltes oder Unmittelbares in dem Sinn, daß sie nicht aus der reflexiven Erfassung der Rationalität folgt; zum anderen kann sie aber auch nicht das schlechthin Andere der Rationalität sein, wenn diese ihren Anspruch, Wahrheit an die Beweisbarkeit zu binden, nicht aufgeben soll. Der ontologische' GQttesbeweis sichert angesichts :') dessen die rationalistische Position in zweierlei Hinsicht ab: erstens führt er in dem Wesen, dessen Existenz aus seiner inneren Notwendigkeit folgt, die Existenz auf die Essenz als den Grund der erscheinenden Wirklichkeit zurück; zweitens wird dieser Zusammenhang so gedacht, daß er als Folge der Reflexion des urteilenden Subjekts aus dessen Rationalitätsstruktur einsichtig werden soll und in diesem Sinne nichts äußerlich Vorausgesetztes ist. Die Evidenz, auf die das reflektierende Erkennen in sich stößt, ist der Grund der Geltung dieses Grundes. Sie repräsentiert als Unmittelbarkeit in der Reflexion die Unmittelbarkeit dessen, was von der Reflexion vorausgesetzt wird. Auf den ersten Blick ist damit die Reflexion, ihrem Anspruch als prima philosophia gemäß, total geworden, indem das Primat derjenigen Rationalität zukommt, welche die Annahme eines Gottes als Folgebestimmung zwingend macht. Die Reflexion als reditus in se ipsum folgt dem Postulat einer perceptio dara et distincta, die dort zur Evidenz gelangt, wo sie auf den intelligiblen Gehalt eingeborener Ideen stößt, welche die Möglichkeit der Existenz als formale Realität enthalten. 8 Indem die Vergewisserung dieses Gehalts in dem und durch das reflektierende Selbstbewußtsein erfolgt, wird die Essentialität der Idee als Tatsache des (Selbst-)Bewußtseins gefaßt, d. h. als Tat-sache in dem Sinne, daß sie 6
»cum enim voluntas in una tantum re, et tanquam in indivisibili consistat« (Meditationes, IV, 14). 5
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8
Vgl. Schnädelbach 1977, 21 f. Vgl. Lefevre 1978, 144f. Vgl. Me4itationes, IH.
1. Aufklärung und Reflexion . Descartes
Idealistische Konstruktion von Rationalität
ihre Geltung durch das vom Evidenzkriterium geleitete Urteil des Reflektierenden erlangt. Der Begründungscharakter der Reflexion bezieht sich nicht nur auf die Reflexion selbst, sondern ebenso auf das, was durch die Reflexion als wahr anerkannt und insofern von ihr als Folgebestimmung eingesehen und vorausgesetzt wird. Soll dies nicht in der Beliebigkeit subjektiver Willkür stehen, so muß die Reflexion im Urteilen gleichwohl objektiv gebunden sein. So verfolgt die Abstufung der Perzeption in der cartesischen Ideenlehre das Ziel, in der Evidenz einer klaren und deutlichen Auffassung jene Sicherheit der Erkenntnis zu gewinnen, in der sie von täuschender subjektiver Beimischung frei ist und darin die Essentialität der erscheinenden Wirklichkeit enthüllt. Daß diese Einsicht in der und durch die Reflexion gewonnen wird, verbürgt gleichwohl, daß die scheinbare Entsubjektivierung in dem Rückgang auf die innerste Struktur rationaler Subjektivität als Selbstbewußtsein erfolgt, so daß die Objektivierung der Erkenntnis zugleich ihre Subjektivierung ist. Was die Subjektivität auf diesem Wege von sich abstößt, ist in Wahrheit die Fremdheit des Erkennens und des Erkannten, in der sich die Fremdheit des Erkennenden sich selbst gegenüber spiegelt, so daß die realitas obiectiva als intelligib1e"r Gehalt der Ideen die Geltung als Wahrheit gerade daraus beziehen kann, daß sie vom Subjekt als seine anerkannt und angeeignet wird. Weil aber der Grund der Reflexion nicht in der subjektiven Verfügung des Reflektierenden stehen darf, bindet Descartes im Interesse objektiv gültiger Erkenntnis die weiterreichende Kraft des Willens an den Vorrang der Verstandeserkenntnis. Diese Bindung macht deutlich, daß das Setzen der Wahrheit durch die Reflexion nicht als Setzen der Gegenstände selbst verstanden werden darf. Vielmehr hat sich der Verstand auf die niederen Erkenntnisvermögen wie Einbildungskraft, Sinne, Gedächtnis zu stützen, um die Realität der Gegenstände zu erfassen. 9 Die Reflexion ist demnach zwar derjenige Vorgang, der zur Wahrheit führt, aber in diesem Prozeß erlangt die Rationalität keine Autonomie, sondern in ihn gehen die unterstützenden Funktionen der niederen Erkenntnisvermögen ein. Die durch sie mitgeteilten Erfahrungen werden durch den Verstand nur in der Weise. aufgehoben, daß er sie zur Wahrheit bringt, d. h. ihre rational faßbare Essentialität durchsichtig macht und als eine der rationalen Struktur des Verstandes entsprechende affirmiert. Affirmiert aber wird etwas, dessen Existenz die Rationalität nur als ein äußerliches einholen kann. Darin gerade liegt die Endlichkeit und Beschränktheit der die Wahrheit erkennenden Subjektivität, daß aus ihrer Rationalität weder ihre eigene Existenz außerhalb ihrer rationalen mentalen Vollzüge noch die Existenz der Dinge außerhalb des Bewußtseins notwendig gefolgert werden kann. Für die Reflexion bedeutet dies, daß sie als die endlicher Subjektivität schon immer in einen Zusammenhang eingebunden ist, der sich als Erfahrung beschrei-
ben ließe. Für sich betrachtet könnte man dem einen empiristischen Sinn unterlegen. Descartes freilich marginalisiert den Erfahrungszusammenhang, indem er aus der Beschränkung der Rationalität der endlichen Erkenntnissubjekte die Folgerung zieht, sie verweise eben deshalb, kraft des Anspruchs der Rationalität auf Vollkommenheit, auf eine vollkommene Rationalität. In dieser würde aus der Essenz die Existenz notwendig folgen und dadurch alle Fremdheit getilgt sein, so daß die Erfahrung an den Gegenständen auch nach ihrer formalen Realität als Selbsterfahrung der Rationalität gelten könnte.
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Vgl. Regulae, XII.
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3. Die ideallstische Konstruktion von /Rationalität Mit diesem Überstieg über die endliche Subjektivität und Rationalität zu einer vollkommenen Rationalität ist ein Kern idealistischer Theoriekonstruktionen freigelegt, der im folgenden noch vielfach begegnen wird. Die idealistischen Konstruktionen beruhen hierbei darauf, daß sie »Widersprüche« im Verhältnis von Erfahrung und Reflexion in einer bestimmten Richtung aufzulösen versuchen. Widersprüche bestehen hier hauptsächlich zwischen dem Anspruch der Selbstvergewisserung der erkennenden Subjektivität auf die objektive Gültigkeit 0 ihrer Erkenntnis einerseits und der Beschränktheit rationaler Einsicht auf die innere Notwendigkeit eines Gegebenen andererseits; generell: zwischen der Reflexion als der vermittelten und vermittelnden Selbstbeziehung einerseits und der Erfahrungsstruktur als Beziehung auf ein Gegebenes andererseits. Indem diese Beziehung auf ein Gegebenes die reflektierende (endliche) Subjektivität objektiv 0 bindet, reproduziert sich der Widerspruch als der von Verstandes erkenntnis und Willensbestimmung. Die Willensbestimmung, die als unbeschränkte die objektive Bindung der Verstandeserkenntnis gleichsam übersteigt, wird, als Moment des Urteilsvermögens, zum Index einer möglichen Entgrenzung des Verstandes im Überschritt zu einer vollkommenen Rationalität. D. h.: der »Widerspruch« des Wollens gegen das So-sein der gegebenen, erscheinenden Wirklichkeit wird in der Weise gedeutet, daß das Wollen das eigentlich Unbeschränkte und seine Bindung auf die Beschränkheit des anderen Moments im Urteilsvollzug, des Verstandes, zurückzuführen sei. Das Scheitern autonomer und unbeschränkter Willensbestimmung im Endlichen wird nicht dieser Vorstellung des Wollens angelastet, sondern der endlichen Wirklichkeit, die eben darum als endliche zu übersteigen ist. Dies soll in letzter Konsequenz die Freiheitsperspektive rationaler Subjekti- 0 vität sichern, die durch die Bindung an ein Gegebenes in der Erfahrung gefährdet wird. Die sich selbst als beschränkt erfassende Rationalität setzt sich eine unbeschränkte Rationalität voraus, an der sie teilhat, die aber ihre Beschränkung nicht teilt. Damit affirmiert sie sich in ihrer Rationalität als Wahrheit, ohne ihre Beschränktheit zu leugnen. Mit anderen Worten: die Reflexion als Selbsterfassung der Rationalität der erkennenden Subjekte setzt nicht nur die Wahrheit in der Beziehung auf Gegen-
1. Aufklärung und Reflexion . Descartes
Empirismus des Transzendenten
stände bzw. Sachverhalte außer ihr, sie setzt vielmehr ihre eigene Wahrheit als den Grund der Geltung ihres Setzens von Wahrheit; sie tut dies aber in der Weise des Voraussetzens oder außer-sich-Setzens dieses Grundes. Die Marginalisierung der Erfahrungsstruktur enQlicher Rationalität, die diesen Konsequenzen als Grundoperation vorausliegt, treibt freilich das rationalistische Reflexionsmodell in prinzipielle Aporien. Von einer Marginalisierung, nicht Aufhebung oder gar Eliminierung der Erfahrungsstruktur, ist nämlich nicht nur im Blick auf das Verhältnis von beschränkter und unbeschränkter Rationalität zu sprechen; in dieser Hinsicht wird die Erfahrungsstruktur auf die Bindung der Rationalität endlicher Subjekte beschränkt, ohne daß sie für die Rationalität als Rationalität konstitutiv sein soll. Von einer Marginalisierung ist vor allem auch im Blick auf die Reflexion selbst zu sprechen, denn in ihr erneuert sich das Problem der Erfahrung durch eben jene Konstruktion, die es beseitigen sollte; in dieser Hinsicht gewinnt es konstitutive Bedeutung für die Reflexionsstruktur selbst als blinder Fleck im Vollzug der Selbsterfassung der Rationalität. Diese Aporie ist abschließend näher zu betrachten.
Rationalität als Verweis auf eine unbeschränkte Rationalität zu interpretieren, welche von der beschränkten als Voraussetzung gesetzt wird. Ihr wird zugeschrieben, daß sie als Rationalität dasjenige zu setzen vermag, was sich der Verfügung der beschränkten Rationalität entzieht. Im Blick auf diesen Grund aber weiß die beschränkte Rationalität sich auch in der Beziehung auf das Gegebene bei sich als Rationalität. Damit aber ist die Reflexion der endlichen Subjektivität so gestaltet, daß sie in sich auf etwas stoßen muß, was sich ihrer Reflexion als endlicher entzieht und als ein Gegebenes unmittelbar präsent ist. Die Tilgung der Unmittelbarkeit der empirisch gegebenen, erscheinenden Wirklichkeit durch die Marginalisierungder Erfahrungsstruktur gelingt nur um den Preis, daß die Reflexion selbst die Unmittelbarkeit als konstitutives Moment in sich aufnimmt. Sie tut dies, indem die Erkenntnis der Ideen eine Evidenz beansprucht, die als u~mittelbares Einleuchten von Wahrheit ihren Grund nicht aus der vermittelnden Bewegung der Reflexion selbst bezieht, sondern· als mitgeteilte, von anders her hineinleuchtende, verstanden wird. Aufgrund einer unmittelbaren Erfahrung, der Evidenz, setzt die Reflexion den Grund ihrer außer sich als einen vorausgesetzten. Sie setzt ihn, denn sie beurteilt ihn affirmativ als Voraussetzung der Geltung der objektiven Wahrheit von Rationalität schlechthin und damit ihrer selbst. In diesem Setzen aber setzt sie etwas so voraus, daß sie die Einstimmung in das Vorausgesetztsein und darin das Gesetztsein ihrer durch das Vorausgesetzte mitsetzt. Sie flieht die empirische Unmittelbarkeit, um sich einem Empirismus des Transzendenten zu beugen. Reflexion wird eingebunden. in die Erfahrungsstruktur einer Unmittelbarkeit, die sich der Reflexil;m entzieht; das Setzen der Unmittelbarkeit holt sie nicht ein, sondern affirmiert das Gesetztsein der endlichen Reflexion.
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4. Unmittelbarkeit und Empirismus des Transzendenten Soll die Reflexion ihren Geltungsanspruch als prima philosophia gegenüber traditionellen ontologischen Modellen aufre·cht erhalten, so muß sie in sich selbst so begründet werden, daß ihren Urteilen allgemeingültige und objektiv verbindliche Wahrheit z1;lkommt. Wahr ist das, was rational durchsichtig ist und eben darum von der endlichen Subjektivität als eigen anerkannt werden kann. Nun konnte aber die endliche Rationalität aus ihr selbst heraus die Bindung an ein Gegebenes nicht überwinden, sofern aus ihrer essentiellen Einsicht nicht die Extstenz des· Eingesehenen mit gleicher Notwendigkeit folgte. Die Reflexion erwies sich dadurch als Beziehung auf ein Gegeben~s, die erscheinende Wirklichkeit, deren (von Descartes als fraglos gültig erachtete) Wahrheit, daß ihr formelle Realität zukomme, nicht von der Reflexion gesetzt war, sondern als Voraussetzung in sie einging. Damit ist die Autonomie der Reflexion im Sinne ihrer Selbst- und Letztbegründung gefährdet: sie hat eine Wahrheit zur Voraussetzung, die sie nicht als von ihr gesetzte einholen kann, auch wenn sie gerade in dieser Bindung den Anspruch auf die objektive Gültigkeit ihrer Erkenntnis aufrechterhält. o Die Lösung dieser Schwierigkeit, die Selbstbegründung der Reflexion einerseits und die objektive Gültigkeit ihrer Urteile andererseits zusammen zu denken, kann nicht darin bestehen, den Knoten einfach zu zerhauen und die Reflexion als subjektive so zu entgrenzen, daß sie ihre Gegenstände auch als formale Realität setzt. Ein solches Verfahren würde entweder die Einsicht in die Beschränktheit endlicher Subjektivität verfehlen, oder aber die Verbindlichkeit de~ von ihr gesetzten Wahrheit preisgeben. Die Lösung kann unter den genannten Voraussetzungen des rationalistischen Modells nur darin bestehen, die beschränkte
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5. Leibniz: Innere und äußere Erfahrung Innerhalb des rationalistischen Modells macht sich die Reflexion in ihrem immanenten VOllzug keineswegs so total, wie es zunächst den Anschein hatte. Sie verlagert in letzter Konsequenz die Erfahrungsstruktur in die Rationalität selbst, wie dies in Leibniz' Verständnis von »Reflexion« zum Ausdruck kommt: »Nun ist aber die Reflexion nichts anderes als die Aufmerksamkeit auf das, was in uns ist«10. In diese Aufmerksamkeit auf das, was in uns ist, ist die Erfahrung auf doppelte Weise eingeschrieben: als Wahrnehmung (perception) äußerer und als Denken (apperception) innerer Gegenstände. Die Einheit beider ist aber nicht bruchlos , denn in bezug auf die äußere Wahrnehmung bleibt die Präsenz der Seele allein defizitär: »Die Bilder, die die Seele unmittelbar bewegen, sind in ihr selbst; aber sie entsprechen denen des Körpers. Die Gegenwärtigkeit in der Seele ist 10 »Or la reflexion n'est autre chose qu'une attention Essais, Vorwort, XVIf.).
a ce qui est en nous« (Nouveaux -
1. Aufklärung und Reflexion . Leibniz
Kontingente Wahrheiten
unvollkommen und kann nur durch diese Entsprechung erklärt werden. In Gott aber ist sie vollkommen und bezeugt sich durch sein Wirken«l1. In diesem Sinne kann Leibniz behaupten, daß die sinnliche Wahrnehmung geradezu Voraussetzung der Reflexion sei, indem das Denken mir als das Denken von sinnlichem Material sich selbst zum Gegenstand werden könne: »Die Sinne liefern uns die Materie für die Reflexionen, und wir würden nicht einmal daran denken zu denken, wenn wir nicht an irgendetwas anderes dächten, d. h. an Besonderheiten, die uns die Sinne liefern«12. Dem entspricht, daß die »eingeborenen Ideen« (idees innees) nicht als abstrakte Prinzipien zu den Wahrnehmungen hinzutreten, sondern als »Fertigkeiten und Anlagen« (habitudes et dispositions) das Verhalten zu dem Wahrgenommenen bestimmen. So zielt Leibniz in seiner Kritik des von John Locke für seinen Empirismus in Anspruch genommenen klassischen Grundsatzes des Sensualismus auf die Einheit der Struktur innerer und äußerer Erfahrung im intellektuellen, theoretischen Verhalten, wenn er einerseits diesen Satz in bezug auf die äußere Erfahrung affirmiert, ihn aber andererseits in bezug auf den Intellekt selbst einschränkt (nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, nisi ipse intellectus) . In diesem Zusammenhang ist an die Auffassung zu erinnern, die Monade sei ein lebendiger Spiegel, der aufgrund innerer Handlungen das Universum individuell repräsentiere. Die Einheit von äußerer und innerer Wahrnehmung, die sich in der Monade als dem geschlossenen, »fensterlosen« Subjekt der Reflexion vollzieht, qualifiziert dieses als Selbstsein in der Beziehung auf die Totalität des Anderen. So ist die Monade einerseits unmittelbare, substantielle Einheit, andererseits zugleich universelle Vermittlung. Das Problem der Einheit, des »zugleich« beider Momente, beherrscht die Leibnizsche Metaphysik. Es ist das Verdienst der Feuerbachschen Leibniz-Interpretation,B gezeigt zu haben, daß diese Einheit sich nicht erst als synthesis post factum im Rekurs auf den Gottesbegriff und den mit ihm zusammenhängenden Gedimken der prästabilierten Harmonie ergibt, sondern umgekehrt der kosmologische Gottesbeweis die widersprüchliche Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung in der Struktur der Monade in einer bestimmten Hinsicht interpretiert. Feuerbachs Argumentation läßt sich pointiert dahingehend zusammenfassen, »daß die Materie das allgemeine Band der Monaden ist«14. Diese These bezieht sich darauf, daß mit der
Einheit von Wahrnehmung und Denken die sinnliche Erkenntnis in die Struktur der Monaden selbst eingeschrieben ist. Als beschränktes Fürsichsein unter anderen fürsichseienden Monaden ist die Monade nicht ihrem Gegenstand nach beschränkt (denn sie ist ein lebendiger Spiegel des Universums), wohl aber in der Modifikation der Erkenntnis des Gegenstandes, d. h. durch den Grad der deutlichen Wahrnehmungen. 15 Die verworrenen Perzeptionen drücken gerade als Beschränkungen der rein rationalen Erkenntnis die Beziehung zum Universum, d. h. zur Totalität der Monaden aus. Sie haben aber den Status sinnlicher Erkenntnis, d. h. sie sind als Repräsentationen des Körpers oder der Materie aufzufassen: da der Körper »das ganze Universum auf Grund der Verbindung der gesamten Materie im erfüllten Raum ausdrückt, stellt die Seele auch das ganze Universum dar, indem sie diesen Körper darstellt, der auf eine besondere Art und Weise zu ihr gehört«16. Die Beschränkung in der Deutlichkeit der Perzeptionen erleiden die Monaden aber nicht aus der Beschränktheit des Verstandes gegenüber einer vorausgesetzten universellen Vernunft; vielmehr ist diese Beschränkung gerade die Verbindung substantieller Einheiten, denen die Beziehung auf Anderes wesentlich ist. Diese Beziehung ist einer universellen Vermittlungsstruktur eingeschrieben, die aber von den Substanzen nur auf endliche Weise erfaßt und dargestellt werden kann. Darin liegt die Vorstellung eines Verhältnisses von Unmittelbarkeit und Vermittlung, an das noch eine nachhegeische Dialektikkonzeption anknüpfen könnteY Denn: mit Recht bemerkt Feuerbach, daß diese Konzeption von universeller Reflexion von der Voraussetzung einer absoluten Rationalität abgelöst werden kann. Die Einführung Gottes in das Spiel der Monaden stellt vielmehr ein Element dar, das quer zur Konstruktion der Monadologie steht: als Monade wäre Gott selbst seinem Wesen nach beschränkt; als universelle Substanz würde er die Substantialität der einfachen Substanzen aufheben.
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11 »Les images dont l'ame est affectee immediatement, sont en elle meme; mais elles repondent a celles du corps. La presence de l'eime est imperfaite, et ne peut etre expliquee que par cette correspondance. Mais celle de Dieu est parfaite, et se manifeste par son operation« (Vierter Brief an Clarke, Nr. 35; Clarke: Briefwechsel, 47; Leibniz: Philosophische Schriften 7, 376). 12 »Les sens nous foumissent la matiere aux reflexions et nous ne penserions pas meme a la pensee, si nous ne pensions a quelque autre chose, c'est a dire aux particularites que les sens foumissent« (Nouveaux Essais, II, 21, § 73; Bd. 1, 351). 13 Zuerst 1837; Werke 3. 14 Ebd., 64.
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6. Die Abwehr des Empirismus und das Problem der kontingenten Wahrheiten Leibniz selbst freilich wehrt solche empiristisch-materialistischen Konsequenzen seiner Erkenntnisauffassung ab. Der Wahrnehmung (perception), die sich auf äußere Gegenstände bezieht und den Stoff (matiere) der Reflexion liefert, wird das Denken entgegengesetzt. In der Wahrnehmung verhält sich die Seele passiv und befindet sich im Reich des Kontingenten, während das Denken ein aktives
Vgl. Monadologie, § 60. »exprime tout l'univers par la connexion de toute la matiere dans le plein, l'ame represente aussi tout l'univers en representant ce corps, qui luy appartient d'une maniere particuliere« (ebd., § 62; Kleine Schriften, 468f.). 17 Vgl. H.-H. Holz 1992, 24ff. 15
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1. Aufklärung und Reflexion . Leibniz
Verhalten darstellt, dem mit der Sicherheit klarer und deutlicher Erkenntnis auch Notwendigkeit zukommt. Diese Notwendigkeit folgt aus dem gegebenen Vermögen des Verstandes, das die Reflexion als eingeborene Ideen einsichtig machen kann. Sie sichern eine Allgemeinheit der Erkenntnis, die über die empiristische Verknüpfung kontingent er Erfahrungstatsachen hinausgeht. Empiriker verhalten sich für Leibniz wie die Tiere: »Die Folgerungen, welche die Tiere ziehen, stehen auf derselben Stufe, wie die von reinen Empirikern, welche behaupten, daß das, was einige Male geschehen ist, auch in einem anderen ähnlich scheinenden Falle geschehen wird, ohne daß sie dabei beurteilen können, ob wieder dieselben Ursachen vorliegen. Daher kommt es, daß es den Menschen so leicht ist, Tiere zu fangen, und daß die einfachen Empiriker so leicht Irrtümer begehen«18. Dabei besteht die Eigenart des Verstandes nicht darin, über ein apartes Wissen von abstrakten Prinzipien zu verfügen, sondern vielmehr darin, durch reflexive Distanz ein anderes Verhalten zu den kontingenten Wahrnehmungen zu ermöglichen. Dies kann sogar Erfahrung erst ermöglichen, sofern damit die Isoli.erung und Verfestigung alter Wahrnehmungen und Verhaltensweisen gegenüber dem Neuen überwunden wird. Empiriker sind es, die nicht beachten, »daß die Welt sich ändert und die Menschen geschickter werden, indem sie' tausend neue Kunstgriffe erfinden, während die Hirsche und die Hasen der Gegenwart nicht schlauer sind als die der Vergangenheit«19. Verändertes Verhalten folgt hier der vertieften Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit. Aus dieser These, welche die kulturelle Fortschrittstheorie der Aufklärung formuliert, wird deutlich, daß die Notwendigkeit der Verstandeserkenntnis sich nicht auf die Geltung abstrakter Prinzipien jenseits der erscheinenden Wirklichkeit bezieht, sondern vielmehr auf das innere Band dieser Wirklichkeit selbst. So sind Wahrnehmung und Denken nicht abgesonderte Sektoren des Erkenntnisvermögens, sondern bilden eine Einheit. Dies kommt darin zum Ausdruck, daß für Leibniz »die Seelen und geschaffenen Geister niemals ohne Organe und niemals ohne Sinneswahrnehmungen sind, da sie ohne Zeichen nicht denken könnten«2o. Die Einheit von Wahrnehmung und Denken indes macht die klare Abgrenzung von (logischer) Denknotwendigkeit einerseits und kontingenter Wahrnehmung andererseits schwierig, an der die Abwehr des Empirismus hing. Die Evidenz logischer Notwendigkeit sichert Wahrheit und Beweisbarkeit. Nun ist aber das' 18 »Les consecutions des bestes sont purement comme celles des simples empiriques qui pretendent que ce qui est arrive quelquesfois, arrivera encor dans un cas Oll ce qui les frappe est pareil, sans estre capables de juger, si les memes raisoris subsistent. C' est par la qu'il est si aise aux hommes d' attraper les bestes, et qu'il est si facile aux simples empiriques de faire des fautes« (Nouveaux Essais, Vorwort, XIIff.). 19 »que le monde change et que les hommes deviennent plus habiles en trouvant mille adresses nouveIles, au lieu que les cerfs ou les lievres de ce temps ne deviennent point plus ruses que ceux du temps passe« (ebd., XIVf.). 20 »les Ames et les Esprits crees ne sont jamais sans organes et jamais sanssensations, comme ils ne sauroient raisonner sans caracteres« (Nouveaux Essais, II, 21, § 73; Bd. 1, 351).
Kontingente Wahrheiten
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denkende Subjekt endlich und beschränkt dadurch, daß es sich zwar auf das Universum aller Vermittlungen bezieht, gleichwohl aber nicht fähig ist, mit seiner beschränkten Rationalität die Existenz der erscheinenden Wirklichkeit und seiner selbst mit der gleichen inneren Notwendigkeit zu folgern, wie die Notwendigkeit des inneren Zusammenhangs des Gegebenen, die Essentialität. Leibniz steht hier vor dem gleichen Problem wie Descartes, und er versucht, es mit gleichen Mitteln, durch den Rekurs auf eine rationale Theologie, zu lösen, die Gott als dasjenige.notwendige Seiende ins Spiel bringt, bei welchem das Wesen die Existenz einschließt und das wirklich ist, weil es möglich ist. 21 Aus dieser Konstruktion folgt, daß das kontingente Seiende als in einem notwendigen Seienden begründet gedacht und also das Kontingente selbst zum aposteriorischen Beweis der Realität ewiger Wahrheiten angerufen werden kann. Als kontingent bezeichnet Leibniz etwas, dessen Existenz nicht aus seiner Essenz 0 folgt. 22 In diesem Zusammenhang unterscheidet er zwischen notwendigen und kontingenten Wahrheiten. Notwendig sind die Wahrheiten, bei denen die Analyse der Begriffe auf identische Sätze führt, d. h. sie hängen ab von der Geltung des Satzes der Widerspruchsfreiheit. Umgekehrt sind notwendig falsch solche Sätze, bei denen die Analyse der Begriffe auf einen Widerspruch führt. Diese Rückführung auf identische Sätze kann für kontingente Wahrheiten nicht in Anspruch genommen werden, denn dann wären sie vielmehr notwendige, und die Koinzidenz von Kontingenz und Notwendigkeit würde jede Möglichkeit außerhalb dessen, was existiert, ausschließen. Woher aber bezieht dann das Kontingente jene Wahrheit, die es rationaler Einsicht überhaupt zugänglich macht? Wenn wahr das ist, was aus einer beweisbaren Notwendigkeit folgt, so ist die kontingente Wahrheit aus dem Kontingenten selbst heraus nicht zu beweisen. Da es im Wesen des Kontingenten liegt, nicht aus innerer Notwendigkeit zu existieren, kann auch die Analyse kontingenter Sätze nicht auf den Grund seiner Existenz und damit auf den Grund der Geltung seiner Wahrheit führen. Dieser Grund liegt daher für Leibniz außerhalb der unendlichen Reihe der Verknüpfungen des Kontingenten in einer notwendigen Substanz, die als zureichender Grund des Kontingenten dieses aus sich wie- eine Quelle entläßt. 23 Dieser Grund ist als unbeschränkte Rationalität für die endliche Rationalität insoweit intelligibel, wie er als notwendige Voraussetzung eingesehen werden kann. Der Gottesbeweis beweist aber auch für Leibniz nur, daß begrifflich die Existenz Gottes unmittelbar und widerspruchsfrei mit seiner Wesensbestimmung zusammenfällt. Dadurch aber ist noch nicht bewiesen, auf welche Weise die kontingenten Wahrheiten existieren, d. h. ihren Grund in Gott haben. Die Rede
Vgl. Monadologie, § 44. »Die Geschöpfe sind kontingent, das heißt, die Existenz folgt nicht aus ihrem Wesen«; »Creaturre sunt contingentes, hoc est existentia non sequitur ex ipsarum Essentia« (De contingentia, Kleine Schriften, 178f.). 23 Vgl. Monadologie, §§ 37f. 21
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1. Aufklärung und Reflexion . Leibniz
vom zureichenden Grund als Prinzip, das zu dem der Widerspruchsfreiheit hin. zutritt, schließt gerade aus, daß die Rückführung auf den zureichenden Grund für die endliche Rationalität die Beweiskraft einer notwendigen Wahrheit hat. In der Wendung auf den zureichenden Grund verhält sich daher die Reflexion nicht beweisend im Sinne rationaler Durchsichtigkeit der Wahrheit, sondern vielmehr erfahrend. Sie bezieht sich dabei auf ein vorausgesetztes Gegebensein, das sie als rational affirmiert, ohne dessen spezifische Rationalität vollziehen zu können. Dies gilt auch für die Folgebestimmungen der aus Gott hervorgehenden kontingenten Wahrheiten: »Bei kontingenten Sätzen aber geht der Fortschritt der Analyse über die Gründe der Gründe ins Unendliche, so daß man niemals einen vollen Bewei~ besitzt, obwohl immer ein Grund für die Wahrheit besteht und von Gott allein eingesehen wird, der allein mit einem Geistesblitz die unendliche Reihe durchläuft«24. Die Argumentation, die aus der Abwehr des Empirismus entsprungen war, begründet hier nicht nur einen Empirismus des Transzendenten, sondern dieser spekulative .Empirismus begründet umgekehrt wiederum einen handfesten EmOpirismus, d. h.: in der Konsequenz werden Empirismus und Rationalismus amphibolisch und schlagen ineinander um. Sofern der endliche Verstand im Unterschied zu Gott niemals im Besitz des vpllen Beweises sein kann, auch dann nicht, wenn er in Gott erkennt, ist die Erfahrungsstruktur für ihn unaufhebbar. Dieser wird, um dem Empirismus zu entgehen, eine Rationalität unterstellt, die für den beschränkten Verstand nicht vollziehbar ist. Um die Unterstellung dennoch aufrechterhalteüzu können, wird Leibniz schließlich dazu genötigt, in bezug auf kontingente Sätze die Erfahrung selbst zum Mittel rationaler Erkenntnis zu machen: »Weil wir den wahren formalen Grund der Existenz nicht in jedem besonderen Falle erkennen können, [ ... ] genügt es uns daher, daß wir die kontingente Wahrheit aposteriori, nämlich durch Erfahrungen erkennen, und dennoch zugleich das als universell und allgemein annehmen, was durch Grund und Erfahrung selbst befestigt wird«25. Indem aber der Grund selbst nichts anderes ist als ein in der Weise der Erfahrung Vorausgesetztes, .heißt dies, daß »gerade die rationalistische Bindung der Wahrheit an die Beweisbarkeit dazu zwingt, die Erfahrung nicht nur als eine Quelle der Erkenntnis, sondern sogar als ein Beweismitt~l anzuerkennen«26.
24 »in contingentibus vero progressus est analyseos in infinitum per rationes rationum, ita ut nunquam quidem habeatur >plena< demonstratio [perfecta], ratio tarnen veritatis >semper< subsit, et a solo Deo perfecte intelligatur, qui unus serieminfinitam uno mentis ictu pervadit« (De contingentia, Kleine Schriften, 180f.). 25 »Quia non possumus cognoscere veram rationem formalem existentire in ullo casu speciali, [ ... ] ideo sufficit nobis veritatem contingentium nosse aposteriori nempe per experimenta; et tarnen illud simul tenere in universum vel generatim, quod et ratione et experentia ipsa [ ... ] firmatur« (ebd., 182-184). 26 Krüger 1969, 31.
Amphibolie des Empirismus und Rationalismus
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7. SpinoZ{l: Amphibolie des Empirismus und Rationalismus
Die bei Leibniz angedeutete Amphibolie des Empirismus und Rationalismus findet ihren systematischen (und insbesondre für den deutschen Idealismus wirkungsmächtigen) Ausdruck in der Philosophie Spinozas. Die praktisch-aufklärerischen Interessen, die sie verfolgt, zielen auf die Vervollkommnung der menschlichen Natur. Dazu ist es nötig, die »Natur der Dinge« zu kennen, »damit wir davon die Unterschiede der Dinge, ihre Übereinstimmungen und Gegensätze richtig herleiten; [ ... ] damit man richtig begreife, was sie zulassen können, was nicht; [ ... ] damit man dies mit der Natur und der Macht des Menschen vergleiche«27. Die damit vorgegebene Orientierung auf die Erfassung der erscheinenden Wirklichkeit in ihrer Bestimmtheit kehrt auf der Ebene der allgemeinen Ontologie in der These wieder, die Realität oder das Sein der Substanz drÜcke sich in einer unendlichen Zahl von Attributen aus, die aus sich begriffen werden müssen. 28 Daraus folgert Spinoza, daß »jedes Seyende unter einem Attribute begriffen werden müsse, und dass, je mehr Realität oder Seyn es hat, es auch desto mehr Attribute habe, welche Nothwendigkeit oder Ewigkeit und Unendlichkeit ausdrücken«29. Sein wird hier als bestimmtes Sein vorgestellt, und die philosophische und wissenschaftliche Aufgabe bestände unter di,eser Voraussetzung darin, es in dieser Bestimmtheit zu thematisieren. An diesem Punkt freilich vollzieht Spinoza, wie dies Konrad Hecker ausführlich dargelegt hat,30 eine Wende in seiner Argumentation. Anstatt »Sein« konkret-allgemein zu denken, d. h. in seinen spezifischen Vermittlungen zu begreifen, denkt er es im Rekurs auf formale Bestimmungen als ein abstrakt-allgemeines, in das alle möglichen inhaltlichen Bestimmungen vorab integriert werden können. Er tut dies, indem er jede Bestimmtheit als Verendlichung der unendlichen Substanz auffaßt, aus der diese formal abzuleiten seien. Was so entsteht, ist ein spekulativer Begriff von Totalität, der sich indifferent zu jeder möglichen Bestimmtheit des »Endlichen« verhält und damit auch die endlichen Dinge, die in der substantiellen Einheit gedacht werden sollen, als gleichgültig auseinandertreten läßt. Damit ist zwar alle mögliche Empirie spekulativ gleichnamig gemacht und die Metaphysik ihr gegenüber immunisiert; dies gelingt jedoch nur um den Preis, daß die Intention der Erfassung konkreter Vermittlungen unterlaufen und der formale Abschluß eines Wissens behauptet wird, welches vorab die Resultate 27 »Dt inde renim differentias, convenientias, et oppugnantias recte colligamus. [ ... ] Vt recte concipiatur, quid possint pati, quid non. [ ... ] Vt hoc conferatur cum natura, et potentia hominis« (Tractatus de intellectus emendatione, Werke 2, 20f.). 28 Vgl. Ethik, I, Propositio X: »Vnumquodque unius substantiae attributum per se concipi debet« (Werke 2, 96). 29 »unumquodque ens sub aliquo attributo debeat concipi, et, quo plus realitatis, aut esse habeat, eo plura attributa, quae et neccessitatem, sive aeternitatem, et infinitatem exprimunt, habeat« (Prop. X, Scholium; ebd., 98f.). 30 Vgl. Hecker 1978.
1. Aufklärung und Reflexion . Spinoza
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aller besonderen Wissenschaften integriert hat, ohne von ihnen wesentlich affiziert werden zu können .. Diese Wendung kommt darin zum Ausdruck, daß Bestimmtheit überhaupt gemäß der vielzitierten Formel omnis determinatio est negatio - so gedacht wird, daß sich darin eine unendliche Seinsmacht negiert, die als Voraussetzung für sich gestellt werden kann. Diese ist, als causa sui, eine ihren Wirkungen immanente Ursache dadurch, daß diese ihr gegenüber das Unwahre sind und nichts außerhalb der ursprünglichen Einheit, die ihnen vorausgeht: »Die Substanz geht von Natur ihren Affectionen voraus«31. Die Verselbständigung von »Allgemeinheit« gegenüber den bestimmten Vermittlungen zu einem singularischen, abstraktAlIgemeinen, der Substanz, findet ihren Niederschlag auch in der von Spinoza installierten Hierarchie von Erkenntnisarten. Er unterscheidet imaginatio, .ratio und scientia intuitiva,32 wobei diese als Stufen gegeneinander fixiert bleiben und nicht untereinander in einen Vermittlungszusammenhang gebracht werden. Während die niedere, erste Erkenntnisart im Bereich des Meinens verbleibt, kommt den beiden höheren Wahrheit zu. Die ratio geht auf Allgemeinbegriffe (notiones communes) der Dinge, die scientia intuitiva auf die adäquate Erkenntnis formaler Wesenheiten; sie ist es, durch welche alles sub specie aeternitatis erfaßt wird. In ihr, als Intuition, verdichtet sich die Wahrheit zur Unmittelbarkeit des Einleuchtens unmittelbarer, substantieller Einheit: »wie das Licht sich selbst und die Finsterniss offenbart, so ist die Wahrheit die Richtschnur ihrer selbst und des Falschen«33. Sofern auch die ratio von diesem und in diesem absoluten Licht lebt, ist die Erkenntnis korikreter Allgemeinheit, des Zusammenhangs der Dinge, schon immer durch die intuitive Erkenntnis überboten und in dieser aufgehoben.· Sie wird, ungeachtet ihrer spezifisch-praktischen Bedeutung, zum bloßen Beispiel und Anwendungsfall. Nun hat Spinoza sehr deutlich gesehen, daß dieses spekulative Verfahren theoretische Defizite auf der Ebene rationaler, einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht einfach überbrücken kann. Besonders in seinen Briefen erklärt er wiederholt, daß er »die nähere Weise, wie die Dinge zusammenhängen und das Einzelne mit dem Ganzen übereinstimmt«34, nicht angeben könne. Dies betrifft besonders das Problem der Bewegung und den Beweis für die Mannigfaltigkeit der Dinge. 35 Gleichwohl glaubt Spinoza, daß davon die formalen Bestimmungen der Allgemeinheit, wi~ sie von der dritten Erkenntnisart eingesehen werden, nicht berührt werden. Dies führt nun umgekehrt dazu, daß die wissenschaftliche Durchdringung bestimmter Vermittlungszusammenhänge auch dort, wo sie tatsächlich geleistet ist, in einen deduktiven Begründungszusammenhang eingebun»Substantia prior est natura suis affectionibus« (Ethik, I, Prop. 1; Werke 2, 88f.). Vgl. Ethik, II, Prop. 40, Scholium 2. 33 »sicut lux seipsam, et tenebras manifestat, sic veritas norma sui, et falsi est« (Ethik, II, Prop. 43, Schol.; Werke 2, 230f.). 34 Spinoza: Briefe, 49. 35 Vgl. ebd., 4 und 219. 31
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Rationalismus und Empirismus
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den wird. Die bestimmte Vermittlung wird - wie in Spinozas politischer Philosophie, die sich einer eindringenden »ideologiekritischen« Analyse verdankt einem spekulativ-formalen Vermittlungskonzept untergeordnet und als dessen konkretisieren~e Anwendung vorgetragen, auch wenn sie sich darin nicht erschöpft. Mit seinem spekulativen Konzept will Spinoza die Aporien des Rationalismus dadurch aufheben, daß er Empirie und Spekulation prinzipiell gleichnamig macht. Er tut dies, indem er eine für sich zu stellende, substal1tielle Einheit als unmittelbare Selbstbezüglichkeit des Ganzen ausgibt und den bestimmten Vermittlungen so vorordnet, daß diese als abkünftig aus jener Einheit verstanden werden sollen. Die Unmittelbarkeit läßt Rationalismus und Empirismus gleichgültig werden, indem sie einen Indifferenzpunkt bietet, der sich der Reflexion auf bestimmte Verhältnisse unterscheidbarer Relate entzieht. Auf dieser Grundlage können Empirie und Spekulation ineinander umschlagen; sie sind ve~wechselbar 0 (amphibolisch) geworden. Gleichwohl dient diese Konstruktion dazu, die Spekulation zu lizensieren, indem sie diese gegenüber der Empirie immunisiert. Dieses Modell spekulativer Konstruktion wird in der Philosophie des deutschen Idealismus in vielfachen Modifikationen begegnen. Seine Akzeptanz freilich hängt daran, ob die im Rahmen dieser Modellbildung zwingende Überbietung der Reflexion durch eine für sich zu stellende Unmittelbarkeit und dementsprechend auch - auf der Ebene der theoretischen Mittel - ihrer Überbietung durch einen wie immer gearteten unmittelbaren Zugang zu dieser Unmittelbarkeit, fraglos hingenommen wird.
B. Gegenbilder: klassischer Empirismus (Locke) und Skepsis (Hume)
1. Locke: Rationalismus und Empirismus
Die empiristische Position Lockes ist, in der ausdrücklichen Wendung gegen den cartesianischen Idealismus sowie den Platonismus der Cambridge-Schule, wesentlich aus dem Gegensatz zum Rationalismus zu verstehen. Sie erneuert aber nicht einfach eine sensualistische Position, sondern ist vielmehr daran interessiert, auf der Grundlage des Erfahrungsbegriffs die Tätigkeit des menschlichen Verstandes wissenschaftlich zu analysieren. Dieser Begriff ist weit gefaßt: sowohl die Wahrnehmung äußerer Dinge (perception) als auch die innere Wahrnehmung (reflection) gelten als Erfahrung. Die Grenze zum Idealismus wird dort markiert, wo die Ideen, welche die objektive Gültigkeit und Allgemeinheit der Erkenntnis verbürgen, als Resultat, und nicht als Voraussetzung der Erfahrung deklariert werden: »No innate principles in the mind«36. Damit wird das Subjekt der Reflexion in seiner empiriscben Endlichkeit zur unhintergehbaren, nicht zu über36
An Essay Concerning Human Understanding, I, eh. 2.
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1. Aufklärung und Reflexion . Locke
schreitenden Voraussetzung der Untersuchung der Verstandestätigkeit. Ihre Bewährung hat Lockes Position darin zu finden, wieweit es gelingt, auf dieser Grundlage die Einheit von äußerer und innerer Erfahrung als Vermittlungszusammenhang im Blick auf die Genese von Allgemeinbegriffen einsichtig zu machen. Hier aber trifft sie auf den Einwand des Rationalismus, daß Allgemeinbegriffe den Grund ihrer Geltung auch als Verallgemeinerungen einzelner und mithin kontingenter Erfahrungen nicht aus der Erfahrung selbst herleiten können. In diesem Sinne ist seit Leibniz immer wieder geltend gemacht worden, Locke habe einen Zusammenhang von Wahrnehmung und Denken, genauer:die Ableitung des Denkens aus der Wahrnehmung, im Appell an den gesunden Menschenver- . stand bloß postuliert. 37 Sofern der Empirismus an der objektiven Gültigkeit und Allgemeinheit der Verstandeserkenntnis festhält, ist er generell eines heimlichen Rationalismus bezichtigt worden, der die Allgemeinheit der Erkenntnis durch die Allgemeinheit der Rationalität begründe. 38 Indessen ist auch die rationalistische Reflexion in eine Erfahrungsstruktur eingebunden, die schließlich dazu zwingt, Erfahrung als Beweismittel anzuerkennen. Der Vorwurf des heimlichen Rationalismus ließe sich daher an den Rationalismus als Vorwurf eines heimlichen Empirismus zurückgeben. Soweit dies zutrifft, sind Rationalismus und klassischer Empirismus 'nicht als Gegensätze, sondern als bloße Gegenbilder zu verstehen, die sich an ihren jeweiligen Aporien aneinander erneuern, weil sie sich auf einer gemeinsamen Grundlage bewegen. Diese These wird' im folgenden noch zu erläutern sein, gleichwohl ist' ihre Begründung nur eine Nebenabsicht dieser Überlegungen. Daß der Empirismus als Gegenbild zum Rationalismus fungiert, besagt ja auch, daß er selbst dann eine andere Perspektive auf die Problematik zur Geltung bringt, wenn er diese nicht durchzuhalten vermag. Durch diese Perspektive sind die Aporien des klassischen Empirismus in einem spezifischen Sinne problemanzeigend für das, was eine nichtidealistische Konzeption von Rationalität als Reflexion zu leisten hat. Soweit Locke an den gesunden Menschenverstand appelliert, hat sein Erfahrungsbegriff vor allem die Funktion der Abgrenzung gegen eine Ideenmetaphysik. Zu fragen ist aber, wie dieser Erfahrungsbegriff intern strukturiert ist, welche Vermittlungen zwischen äußerer und innerer Erfahrung dabei angesprochen sind und wieweit er es gestattet, diese Vermittlungen begrifflich zu präzisieren. Für Locke ist die empirische Endlichkeit des Erkenntnissubjekts und seiner Erkenntnisleistungen prinzipiell unhintergehbar. Die Beziehung auf ein Gegebenes, welche Erfahrung zunächst meint, ist immer die Beziehung auf ein Anderes, welches die Reflexion nicht gesetzt hat und auch nicht als von ihr gesetzt einholen kann, welches aber gleichwohl in die Vermittlung eingeht. »Reflexion« ist, nimmt man den Empirismus beim Wort, in einem Zusammenspiel gegebener 37 38
Vgl. z. B. Kambartel 1968. So, im Blick auf Hume, Kreimendah11982.
Erfahrung als Verhalten
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objektiver und subjektiver Instanzen zu situieren. Ihre objektive Gültigkeit und Allgemeinheit könnte nur darin bestehen, sie als spezifische Vermittlung in diesem Zusammenspiel aufzufassen, welche zugleich die durch dieses Spiel gegebenen Verhältnisse im Blick auf die Reflexionsinstanz erfaßt. Ein solcher Begriff von Reflexion liegt freilich jenseits jeder bloß mentalen Auffassung von Reflexion, wie sie auc? bei Locke zugrundeli~gt. Die bloß ideelle Vermittlung bleibt gerade unter den Voraussetzungen des Empirismus äußerlich und läßt das in ihr spezifisch zu Vermittelnde immer wieder in gleichgültige Relate auseinanderfallen. Dies aber ist nicht eine Aporie der Problemstellung, sondern der theoretischen Mittel, mit deren Hilfe sie gelöst werden soll.
2. Erfahrung als Verhalten in gegebenen Verhältnissen Die klassische Formulierung des Erfahrungsbegriffs findet sich am Beginn des 2. Buches des »Essay concerning human understanding«. Dort heißt es, der Geist habe das Material der Erkenntnis »mit einem Worte: aus der Erfahrung; in dieser ist unser ganzes Wissen begründet, und aus dieser leitet es schließlich sich selbst ab. Unsere Betrachtung, die entweder auf äußere sinnlich wahrnehmbare Objekte gerichtet ist, oder auf die innere T;itigkeit unseres Geistes, die von uns selbst wahrgenommen und zum Gegenstande der Betrachtung gemacht wird, versieht unseren Verstand mit allem Material für das Denken. Diese beiden sind die Quellen der Erkenntnis, aus welchen alle Ideen entspringen, die wir haben, oder natürlicherweise haben können«39. Das eine Wort, das die Antwort bilden soll, enthält das ganze Problem. Es ist das Problem der Einheit der Erfahrung, deren Begriff bei Locke sogleich in die Begriffe innerer und äußerer Erfahrung auseinandertritt. Diese verweisen, so scheint es, auf zwei unvermittelt nebeneinanderstehende Quellen der Erkenntnis. Das eine' Wort »Erfahrung«, soll es überhaupt begrifflich Sinn machen,4o muß sich also so präzisieren lassen, daß es diese Vermögen nicht nur äußerlich in Beziehung setzt. Eine solche Vermittlung deutet sich bei Locke dadurch an, daß das erkennende Subjekt im Prozeß der Wahrnehmung sein Wahrnehmen selbst wahrnimmt, d. h. sich in der Erfahrung eines Gegebenen zugleich reflexiv zu sich als einem gegebenen Erfahrenden verhält. Für diese Abwehr eines naiven Abbildrealismus steht als prominentester Beleg die von Locke herausgearbeitete Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten, die darauf abhebt, die Komplexität der 39 »in one ward, fram experience. In that all our knowledge is founded, and from that it ultimately derives itself. Our observation employed either about external sensible objects, or ab out the internaioperations of our minds percieved and reflected on by ourselves, is that which supplies our und erst an dings with all the materials of thinking. These two are the fountains of knowledge, fram whence all all the ideas we have, or can naturally have, do' . spring« (Essay, H, 1,2). 40 Kritisch dagegen argumentiert Kambartel 1972.
1. Aufklärung und Reflexion . Locke
Reflexion als spezifische Vermittlung
Erfahrungsstruktur in Anschlag zu bringen. 41 So problematisch diese Unterscheidung auch sein mag, vor allem im Blick auf das an ihr hängende Problem des Substanz-Begriffs, so kann sie doch als Indiz dafür genommen werden, daß Looke auf die Einheit von sensation und reflection in der Erfahrung wenigstens abzielt. Die Reflexion steht nicht neben der Erfahrung oder hat die Erfahrung als bloßes Moment an ihr, sondern sie ist selbst in einem eminenten Sinn"e als Erfahrung anzusprechen. Sie ist gleichsam die Verdoppelung der Wahrnehmung im Wahrnehmenden, die dessen Anteil an der Totalität der Wahrnehmung erhellt. Diese Verdoppelung kommt dadurch zustande, daß die Perzeption, die neben dem Willen als einfache Idee von der Reflexion wahrgenommen wird, als passives, wahrnehmendes Denken qualitativ nicht von der äußeren Wahrnehmung der sensation unterschieden ist. 42
neben, sondern in der Ausübung seiner physischen Vermögen Vernunft beweist«46. Die Einheit des Erkenntnisprozesses als Einheit von äußerem und innerem Sinn und entsprechend die Einheit der Erfahrung besteht darin, daß im Verhalten des erkennenden Subjekts Vermittlungen innerhalb gegebener Verhältnisse produziert werden., Der Begriff der Reflexion bei Locke bezeichnet den Knotenpunkt solcher endlich-menschlichen Vermittlungen. Er ist vom Beginn der Niederschrift des »Essay{< an terminologisch ausgewiesen und daher nicht als Hilfsmittel zu verstehen, um nachträglich Defizite eines rein sensualistischen Ansatzes zu beheben. 47 Das Defizit der theoretischen Mittel Lockes angesichts der Probleme, die sein Konzept aufgibt, besteht vielmehr darin, daß er die Vermittlung selbst als mentales Vermögen denkt. Unter dieser Voraussetzung kann zwar so etwas wie eine Topik derjenigen Edahrungsstrukturen entworfen werden, in denen sich das Vermögen äußert, nicht aber ein Begriff konkreter Vermittlung innerhalb der durch diese Topik vorgezeichneten Instanzen gedacht werden. So fehlt gerade das, worauf die Behauptung abzielt, AÜgemeinbegriffe seien nicht eingeboren: ein Begriff konkreter, in sich vermittelter Allgemeinheit.
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Damit reproduziert sich das Verhältnis von sensation und reflection in der Struktur der inneren Erfahrung als das von perception und volition. Der Unterschied der Perzeptionen zu den Sensationen besteht darin, daß es die Perzeption _ mit dem Erfahrenen C!-ls Resultat eines vorgängigen sinnlichen Erfahrungsprozesses zu tun hat. Sie reflektiert dem Reflektierenden seine Reflexion, so weit es die Perzeptionen betrifft, als Widerspiegelung äußerer Gegenstände. Die Erfahrungsstruktur wird damit zum internen Moment der Reflexion selbst. Indem die Perzeption in ihrer Passivität an die sensation zurückverweist, liefert sie in Abgrenzung zur Aktivität des Willens Kriterien zur Beurteilung dafür, ob etwas vom Denken produziert ist, oder nicht: »Wahrnehmungen [werden] in uns durch äußere auf unsere Sinne einwirkende Ursachen hervorgebracht [ ... ] Die Organe selbst [ ... ] bringen sie nicht hervor«43. Zu der Erfahrung gehört aber auch die Vermittlung durch den Reflektierenden selbst. In der Wendung auf sich, als Wahrnehmenden erfaßt sich der Geist als Vermögen im Sinne der dynamis, als »power«, »ability« bzw. »faculty«.44 Das heißt zunächst: er erfaßt sich als Vermögen innerer Wahrnehmung. Sofern aber die innere Wahrnehmung als Perzeption an das Gegebensein einfacher Ideen gebunden ist, die ihren Inhalt aus der unmittelbaren Affektion sinnlicher Wahrnehmung beziehen, nimmt der Geist sich in der Reflexion als Beziehung auf bzw. Verhalten zu den Gegenständen sinnlicher Wahrnehmung wahr. Reflexion erfaßt das Subjekt als sich verhaltend innerhalb einer Erfahrungsstruktur gegebener Verhältnisse. Von dorther ist Krüger. zuzustimmen, wenn er schreibt, die Elemente des Erkenntnisprozesses bei Locke seien »nur im Zusammenhang von Erfahrungssituationen zu vermitteln«45, denn wir haben es »mit dem einheitlichen Erkenntnisprozeß eines konkreten Lebewesens zu tun [ ... ], das nicht Vgl. Essay, II, 8, 16. Vgl. Essay, II, 9, 1. 43 »perceptions are produced in us by exterior causes affecting our senses [ ... ] The organs themselves [ ... ] do not produce them« (Essay, IV, 11, 4). 44 Vgl. ebd., II, VI, 2. 45 Krüger 1973, 69.
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3. Reflexion als spezifische Vermittlung Die Reflexion als Vermögen ist die Äußerung einer Kraft (power), wobei Locke aktive und passive Kraft unterscheidet. 48 Passive Kraft nennt Locke die, eine Veränderung zu erleiden, aktive Kraft die, eine Veränderung zu bewirken. Der Begriff der passiven Kraft ist an dem physikalischen Modell der Übertragungskausalität in der Impetustheorie gebildet. 49 Danach kann Bewegung dadurch entstehen, daß Kraft auf einen ruhenden Körper übertragen wird, der die auf diesem Wege erhaltene Kraft seinerseits auf andere Körper übertragen kann. Locke bedient sich zur Erläuterung des Beispiels von Billardkugeln: »Ein ruhender Körper gewährt uns keine Idee von irgend einer aktiven Kraft, sich zu bewegen, und wenn er selbst in Bewegung gesetzt wird, so ist diese Bewegung für ihn eher ein Leiden als eine Tätigkeit. Denn, wenn der Ball der Bewegung des Billardstocks gehorcht, so liegt darin keine Tätigkeit des Balles, sondern reine Passivität; auch teilt er, wenn er durch seinen Stoß einen anderen in seinem Wege liegenden Ball in Bewegung setzt, die von anders woher empfangene Bewegung nur mit, und verliert davon selbst so viel, wie der andere Ball empfing; was uns von einer in den Körpern enthaltenen aktiven Kraft der Bewegung nur eine sehr dunkle Idee gibt, weil wir nur sehen, daß sie Bewegung übertragen, nicht aber,
41
42
46 47 48
49
Ebd., 5. Vgl. Klemmt 1952, 47. Vgl. Essay, II, 21. Vgl. dazu umfassend Wolff 1978.
I. Aufklärung und Reflexion . Locke
Reflexion als spezifische Vermittlung
daß sie solche hervorbringen«5o. Die aktive Kraft wäre demnach nur die, die als ursprüngliche Quelle der Kraftübertragung, ohne selbst von außen angestoßen zu sein, Veränderungen zu bewirken vermag: »Die Idee des Anfangs einer Bewegung gewinnen wir nur durch einen Rückblick auf das, was in uns selbst vorgeht, wo wir erfahrungsmäßig finden, daß bloß, indem wir es wollen, bloß durch einen Gedanken des Geistes, wir die Glieder unseres Körpers, die sich vorher in Ruhe befanden, bewegen können«51. Locke bestimmt hier die beiden grundlegenden Ideen der Reflexion, volition und perception, hinsichtlich ihrer gemeinsamen Eigenschaft als Kräfte. Im Anschluß an die zitierten Stellen unterscheidet er Wille und Verstand (understanding) als zwei Kräfte, wobei der Verstand als »perceptive power« hier den Oberbegriff für die voneinanderabhebbaren Funktionen der Perzeption bildet. 52 Der Wille dagegen bezieht sich auf den Beginn oder die Unterlassung von Tätigkeiten des Geistes oder des Körpers; beide Vermögen (faculties), so betont Locke ausdrü~klich, sind nicht vorzustellen als »so viele unterschiedene tätige Subjekte in uns [ ... ], die ihre besonderen Gebiete und Behörden hätten«53, sondern bilden im Subjekt eine Einheit, indem es sich verhält. Die Perzeption erweist sich als »passive power«, in der sinnlich Wahrgenommenes mitgeteilt wird (wo auch immer der Ursprung der übertragenen Kraft liegen mag); die »active power« des Wollens bezieht sich auf die im Rahmen des Gegebenen erforderte Handlung bzw. Unterlassung einer Handlung, d. h. sie bewegt sich innerhalb gegebener Entscheidungsalternativen und repräsentiert von dorther nicht Willkür im Sinne eines emphatischen Freiheitsbegriffs. Nicht die Vermögen sind Subjekte, sondern der »agent«, das. sich verhaltende Subjekt der Reflexion. 54 Wollen ist ausgezeichnet als Herrschaft, al~ Kraft (oder Macht) über etwas. Der Äußerung des Willens als Herrschaft liegt die Kraft zugrunde, die Vollziehung oder Unterlassung einer Handlung antizipierend zu bewerten. 55
Die prinzipielle Endlichkeit der Reflexion auf empirischer Grundlage bedingt eine Beschränkung der Erkenntnis, deren Folgen Locke im Rahmen eines auf praktisches Verhalten zielenden Erfahrungsmodells diskutiert: »Es ist hier nicht unsere Sache, alle Dinge zu erkennen, sondern die, welche für unser Verhalten von Bedeutung sind. Wenn wir die Maßstäbe entdecken können, wonach ein vernünftiges Wesen in der Lage, worin sich der Mensch in dieser Welt befindet, seine Meinungen und die von diesen abhängigen Handlungen leiten kann und soll, dann brauchen wir uns nicht darüber zu beunruhigen, daß gewisse andere Dinge sich unserer Erkenntnis entziehen«56. Die Beschränkung der äußeren Erfahrung auf einzelne Gegenstände führt dazu, daß die Erkenntnis allgemeiner Zusammenhänge nicht an der Realität dieses Allgemeinen bestätigt werden kann, sondern jeder Versuch in dieser Richtung in der Kontingenz der Einzeldinge verläuft. Das Urteil (judgement) liefert daher keine zweifelsfreie Erkenntnis, sondern Wahrscheinlichkeit. 57 Die Wahrheit des Urteils bleibt problematisch. Seine Funktion besteht darin, die Erkenntnis für die Praxis zu bewerten. Hierbei kommt die »active power« der Reflexion zum Zuge, zunächst als Bevorzugung der einen oder anderen Idee in ihrer aus ihnen selbst nicht ableitbaren Verknüpfung (die Bildung zusammengesetzter Ideen ist Spezifikum dieser Seite der Reflexion), sodann als Beginn bzw. Unterlassung von Handlungen aufgrund der so gewonnenen Urteile. Das Urteil stellt einen Zusammenhang her, der in der Perzeption einfacher Ideen nicht gegeben ist und daher als eine vom Subjekt vollzogene Bewertung aufgefaßt werden muß. Sofern in dieser Bewertung der Erfahrungszusammenhang vermittelt wird, kann gesagt werden, die Erkenntnis werde »im subjektiven Urteil zustimmungspflichtig«58. Die Reflexion als Verhalten in und zu gegebenen Verhältnissen ist aber auch in der Orientierung auf das Handeln ein mentaler, 0 theoretischer Akt. Hierin kommt der Empirismus mit dem rationalistischen Modell von Reflexion überein. Das empiristische Reflexionsmodell ist nicht weniger als das rationalistische der Unmittelbarkeit eines rationalen Vermögens verpflichtet und beide beruhen auf einer gemeinsamen Voraussetzung, deren Fragwürdigkeit unerörtert bleibt.
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50 »A body at rest affords us no idea of any active power to move, and when it is set 'in motion itself, that mQtion is rather a passion than an action in it. For, when the ball obeys the stroke of a billard-stick, it is not any action of .the ball, but bare passion. Also when by impulse it sets another ball in motion that lay in its way, it only communicates the motion it had received from another, and loses in itself so much as the other received: which gives us . but a very obscure idea of an active power of moving in body, whilst we observe it only to transfer, but not produce any motion« (Essay, H, 21, 4). 51 »The idea of the beginning of motions we have only from reflection on what passes in ourselves, where we find by experience that, barely by willing it, barely by a thought of the mind, wecan move the parts of our bodies, which were before at rest« (ebd) 52 Im einzelnen unterscheidet Locke folgende Perzeptionen: (1) »of ideas in our minds«; (2) »of the signification of signs«; (3) »of the connexion or repugnancy, agreement or disagreement, that there is between any of our ideas« (Essay, II, 21, 5). 53 »so many distinct agents in us, which had their several provinces and authorities«
(Essay, II, 21, 6). 54 Vgl. Essay, II, 21, 16. 55 Essay, II, 21, 15.
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56 »Our business here is not to know all things, but those which concern our conduct. If we can find out those measures, whereby a rational creature, put in that state which man is in in this world, may and ought to govern his opinions, and actions depending thereon, we need not to be troubled that some other things escape our knowledge« (Essay, I, 1, 6). 57 Vgl. Essay, IV, 14. 58 Schmidt-Biggemann 1988, 210.
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I. Aufklärung und Reflexion . Hume
Reflexion und Intersubjektivität
4. Hume: Reflexion und Intersubjektivität
kann auf keinem anderen Prinzip beruhen. Es gäbe sonst für keinen von ihnen ein Motiv, sich auf dieses Verhaltensschema einzulassen«59. Hume hat hier den Fall im Auge, wo das Allgemeine selbst Gegenstand des Handeins ist. Da dieses Allgemeine von den individuellen Handlungen und Interessen abstrahiert (und insofern das Verhaltensschema auch in die juristische Form allgemeiner Gesetze transformierbar ist), kann es nicht aus subjektiven Zwecksetzungen hervorgehen, die sich auf individuelle Objekte richten. Umgekehrt aber soll das Allgemeine nicht als äußerliche Bindung konfligierender Privatinteressen fungieren und diesen entgegengesetzt sein. Das Lösungsmodell, das Hume vorschlägt, besteht darin, die Gesellschaftlichkeit des Verhaltens als natürliche Voraussetzung zu betrachten und auf Neigungen und Bedürfnisse zurückzuführen, die Form der daraus entstehenden Verhältnisse jedoch an die Verallgemeinerung von Affekten (passions) und Überlegungen (refleetions) zu binden: »Die Neigungen der Menschen und ihre Bedürfnisse bringen sie dazu, sich zusammenzuschließen; ihr Verstand und ihre Erfahrung sagen ihnen, daß dieser Zusammenschluß unmöglich ist, wenn sich keiner einer Regel unterwirft und Rücksicht auf das Eigentum anderer nimmt: Und aus der Verbindung dieser Affekte und Überlegungen hat sich, sobald wir bei anderen dieselben Affekte und Überlegungen wahrnehmen, das Gefühl der Gerechtigkeit zu allen Zeiten unfehlbar und sicher, in einem stärkeren oder schwächeren Grad bei jedem menschlichen Individuum entwickelt«6o. Die hier -angesprochene Allgemeinheit stellt sich im Vollzug des Handeins selbst her, indem die wechselseitige Wahrnehmung und Antizipation des Verhaltens des Anderen zu einer Angleichung in einem quasi-natürlichen Handlungssystem führt, das als solches nicht von den Subjekten des Handeins intendiert war. Diese »zweite Natur« wird von den Subjekten durch emotionale Reaktionen auf Verhalten internalisiert. Das Ergebnis ist »Konvention«, verstanden als »Sinn für gemeinschaftliche Interessen [ ... ], denjeder in seiner eigenen Brust spürt, den er b~i seinen Mitmenschen bemerkt und der ihn in Übereinstimmung mit anderen zu
Die prinzipielle Schwierigkeit des empiristischen Arguments ~est~ht ~arin, ~.as Verhalten als antizipierend-bewertendes Vermögen der ReflexIOn m dIe VerfugC/barkeit des Subjekts zu stellen, um dem drohenden Verlust der Freiheitsperspektive zu entgehen. Die Reflexion tritt jedoch als Vermögen den gegebenen Verhältnissen unvermittelt gegenüber, zu denen sie sich verhält. Das Problem liegt darin, Verhalten und Verhältnisse zu vermitteln. Ansätze dazu finden sic~ in David Humes Versuch, die soziale »Natur« des Menschen zu erfassen. DabeI wird die Ausstattung der Subjekte durch die »erste« Natur im Blick auf das gesellschaftliche Verhalten auf elementare Dispositionen einschränkt, ~m i~ Gegenzug die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer scheinbaren NatürlIchkeIt zu entkleiden und allererst aus dem Verhalten der Subjekte hervorgehen zu lassen. Dies führt zu einer Verschiebung im Reflexionsbegriff: die mentale Reflexion des Subjekts wird eingebunden in ein intersubjektives Reflexionsgeschehen. Dabei handelt es sich um aus moralphilosophischEm Kontexten rekonstruierbare Ansätze, deren forcierte Systematisierung folgendes Bild ergibt: die intersubjektive, gesellschaftliche Reflexion wird als spontanes Verhalte~ der. ~esell schaftlichen Individuen zueinander aufgrund natürlicher VerhaltensdisposItIOnen (Bedürfnisse, Emotionen usw.) verstanden, das.. nicht durch subjektive Zw~~k setzungen gesteuert wird. Durch wechselseitige Ubertragungen und I~te~nalIsIe rungen werden dabei Verhaltensmuster hervorgebracht, welch~ dIe m. dem gesellschaftlichen Verhalten eingegangenen Verhältnisse repräsentIeren. DIe Reflexion im engeren Verständnis von »Selbstreflexion« kann auf dieser Grundlage empirisch erklärt werden als Einheit der Bewertung von Erfahrun~~n i~ vorangegangenen gesellschaftlichen Verhalten einerseits, und der AntI~IpatIOn von Handlungen im Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse unter Emschluß des zu erwartenden Verhaltens der anderen Subjekte andererseits. Hume geht von gesellschaftlichen Individuen aus, die wohl individuell handeln, aber nicht als erst zu vergesellschaftende Atome anzusehen sind. Die Vergesellschaftung vollzieht sich über die Herausbildung eines Verhal~elJsscherr:as (s~hem.e of conduct), das nicht Ergebnis subjektiver Zwecksetzungen 1st und semerseIts .dIe gesellschaftliche Verfaßtheit der Subjekte bestimmt. Dieses Schema .reflektIert das Allgemeine kooperativer Arbeitszusammenhänge, ges~llschafthcher ~us tauschverhältnisse und der sprachlichen Mittel gesellschaftlIcher Kornrnumkation: »So führen zwei Männer die Ruder eines Bootes nach einer gemeinsamen Konvention aus einem gemeinsamen Interesse, ohne irgendein Versprechen oder einen Vertrag; so werden Gold und Silber zu Maßen für den Güteraustau~ch gemacht; so werden Rede, Worte und Sprache durch menschliche Konve~tIOn und Übereinkunft festgelegt. Alles, was für zwei oder mehr Personen vorteIlhaft ist, wenn alle ihren Teil erfüllen, aber ganz nutzlos wird, sobald es nur einer tut,
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59 »Thus, two menpull the oars of aboat by common convention for common interest, without any promise or contract: thus gold and silverare made the measures of exchange; thus speech and words and language are fixed by human convention and agreement. Whatever is advantageous to two or more persons, if all perform their part; but what loses all advantage if only one perform, can arise from no other principle. There would otherwise be no motive for any one of them to enter into that scheme of conduct« (An Enquiry concerning the Principles of Morals, App. III, 306f.; Übers. 239f.). 60 »Men's inclination, their necessities, lead them to combine; their understanding and experience tell them that this combination is impossible where each govems himself by no rule, and pays no regard to the posessions of others: andfrom these passions and reflections conjoined, as so on as we observe like passions and reflections in others, the sentiment of justice, throughout all ages, has infallibly and certainly had place to some degree or other in every individual of the human species« (ebd., 307; Übers. 240f.).
1. Aufklärung und Reflexion . Hume
Voraussetzungen der Skepsis
einem allgemeinen Plan oder einem System von Handlungen hinführt, das auf öffentlichen Nutzen abzielt«61. Das Gefühl ist diejenige Instanz, durch die das gesellschaftliche Verhalten Allgemeinheit gewinnt und zugleich individualisiert wird. Die .Unmittelbarkeit des Gefühls repräsentiert gegenüber der Urteilsfähigkeit des Verstandes den Selbstzweck des moralisch als Tugend angesprochenen Allgemeinen und schließt darin ausdrücklich aus, daß dieses Allgemeine als Ergebnis rationaler Zwecksetzungen gefaßt wird: »Da nun Tugend ein Endzweck und um ihrer selbst willen, ohne Entgelt oder Belohnung, lediglich um der unmittelbaren Befriedigung willen, die sie gewährt, erstrebenswert ist, so muß notwendigerweise irgendein Gefühl vorhanden sein, an welches sie rührt, eine innere Neigung oder ein inneres Empfinden«62. Instanz der Allgemeinheit kann das Gefühl deshalb sein, weil Emotionen als übertragbar vorgestellt werden. Der psychische Mechanismus dieser Übertragung ist die Sympathie (sympathy), durch welche die Vorstellung einer fremden Emotion in eine ihr entsprechende eigene verwandelt wird. In diesem Austausch der Emotionen werden Gefühle verallgemeinert und angeglichen und dadurch wird, auf der Basis des naturwüchsigen Zusammenhangs der Gefühle, in der Psyche des Subjekts jene Instanz zur Bewertung gesellschaftlichen Verhaltens prqduziert, die Shaftesbury und Hutcheson als moral sense bzw. moral sentiment in dessen Naturausstattung gelegt hatten. Die Unmittelbarkeit des Gefühls repräsentiert die Unmittelbarkeit des Allgemeinen gegenüber den partikularen Zwecken der Individuen. Das bedeutet zuallererst, daß sich das Allgemeine der Verfügbarkeit des Subjekts entzieht und ihm gegenüber objektiven Charakter gewinnt; es ist Unmittelbarkeit gegenüber der subjektiven Reflexion. Gleichwohl ist der Prozeß der Verallgemeinerung selbst wenigstens metaphorisch unter den Titel der Reflexion zu stellen: »Ganz allgemein dürfen wir sagen: Die Menschen verhalten sich in ihrem Innern zueinander wie Spiegel. Und dies nicht nur in dem Sinne, daß sie ihre Gefühlserregungen wechselseitig spiegeln; sondern es werden auch die Strahlungen der Affekte, Gefühle, Meinungen wiederholt hin- und zurückgeworfen, bis sie ganz allmählich verlöschen«63. Nimmt man dies wörtlich, so wird »Reflexion« damit nicht mehr allein für mentale Prozesse, sondern ebenso für intersubjektive Vermittlungen in Anspruch genommen. Der Sache nach ist hier »Reflexion« von
»Selbstreflexion« im Sinne der individuellen psychischen und mentalen Introspektion unterschieden. Die subjektive Reflexion auf das Gefühl steht unter der Voraussetzung einer vorgängigen Reflexion; Selbstreflexion erscheint jetzt als »das internalisierte Resultat und zugleich die Vorwegnahme. der Reflexionen in der 6esellschaft «64.
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61 »sense of common interest; which sense each man feels in his own breast, which he remarks in his fellows, and which carries hirn, in concurrence with others, into a general plan or system of actions, which tends to public utility« (ebd., 306; Übers. 239). 62 »Nowas virtue is an end, and is desirable on its own account, without fee and reward, merely for the immediate satisfaction which it conveys; it is requisite that there shouid be some sentiment which it touches, some intern al taste or feeling« (ebd., App. 1,245; Übers. 225). 63 »In general we may remark, that the minds of men are mirrors to one another, not only because they reflect each others emotions, but also because those rays of passions, sentiments and opinions may be often reverberated, and may decay away by insensible degrees« (Treatise, H, 2, 5, 365; Übers. 98f.).
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5. Voraussetzungen der Skepsis Nun wird in beiden Fällen der Grund der Geltung der Reflexionsleistungen an eine Unmittelbarkeit gebunden, die der Reflexion schlechthin unmittelbar vorausgesetzt ist. So verzichtet Hume auf die naheliegende Möglichkeit, Sympathie als Konsequenz des durch Neigungen und Bedürfnisse bestimmten gesellschaftlichen Verhaltens abzuleiten. Sympathie gerinnt im Gegenteil zu einem unmittelbar gegebenen, nicht ableitbaren Mechanismus der Übertragung von Gefühlen, der sich in dieser Unmittelbarkeit der kausalen Erklärung widersetzt. Im 7. Abschnitt des »Enquiry concerning the Principies of Morals« erörtert Hume ausdrücklich die, wie er selbst sagt, naheliegende These, daß die gesellschaftliche Natur der Individuen diese nötigt, allgemeine Bindungen einzugehen, die sich der beliebigen Verfügung der Subjekte entziehen. In diesem Zusammenhang bestreitet er vor allem, daß solche Bindungen aus den egoistischen Motiven der Subjekte hervorgehen könnten. Daran wird deutlich, daß bei Hume - sowohl· in der Struktur des Subjekts als auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen - Egoismus und Altruismus, Partikulares und Allgemeines unvermittelt auseinanderfallen und als unmittelbare Vermögen fungieren. Der Grund der Geltung des Allgemeinen ist der Vermittlung nicht zugänglich und wird daher subjektiv in die Unmittelbarkeit des Gefühls gesetzt. Ebenso unmittelbar aber ist der Egoismus vorausgesetzt und keineswegs als Produkt bestimmter Vermittlungen aufgefaßt. Das Subjekt verklammert die widerstreitenden Tendenzen, ohne sie vermitteln zu können und ohne sie als vermittelte einzusehen. Hume denkt gesellschaftliche Verhältnisse unter subjekt-philosophischen Annahmen, die in der Konzeption des Subjekts das voraussetzen, was als Resultat gesellschaftlichen Verhaltens erst abzuleiten wäre. Nun bekommt aber die Unmittelbarkeit nicht den Status einer höheren Wahrheit zuerkannt, die einem höheren Erkenntnisvermögen auf adäquate Weise zugänglich wäre, sondern erscheint als Schranke der Reflexion, welche die Erkenntnismöglichkeiten überhaupt beschneidet. Für Hume stammt alle Erkenntnis aus sinnlicher Wahrnehmung (sensation) und Erfahrung (experience). Letztere bezieht sich auf die Erkenntnis von Zusammenhängen, welche die Erkenntnis kausaler Beziehungen durchaus einschließt. Dabei schränkt Hume Kausalität auf drei empirisch beobachtbare Erfahrungswerte ein: spaciotemporal contiguity, . 64
Rohbeck 1978, 129.
Voraussetzungen der Skepsis
1. Aufklärung und Reflexion . Hume
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priority, constant conjunction. 65 Eine Kausalität kann dann unterstellt werden, wenn die constant conjunction innerhalb dessen, was als cause und effectinnerhalb des .Erfahrungszusammenhangs fungiert, eine beobachtbare Gesetzmäßigkeit darstellt, die Prognosen für künftige und ähnliche Fälle zuläßt. Davon unterschieden ist die connexion als notwendige Verknüpfung, in der die Wirkung als Äußerung einer unter dem Titel der Ursache gedachten Kraft verstanden wird. Zielt die connexion auf eine Letztbegrüridung der beobachtbaren Phänomene aus ihrem als Kraftquelle vorgestellten Grund, so zielt die Feststellung der constant conjunction auf die Gesetzmäßigkeit eines beobachteten Funktionszusammenhangs, für den es gleichgültig ist, ob sich die Wirkung auf eine Kraftquelle als notwendige .Ursache zurückführen läßt oder nicht. Humes Sozialphilosophie und Erkenntnistheorie kommen darin überein, Erkenntnis auf die Analyse phänomenaler Funktionszusammenhänge zu restringieren und im Rahmen dieser Restriktion das Wissen praktisch zu orientieren, d. h. theoretisches und moralisches Verhalten in der Einheit von Bewertung und Antizipation zu ermöglichen. Sofern die Bewertung aufgrund der Internalisierung von Erfahrungszusammenhängen erfolgt, deren Gesetzmäßigkeit prognostische Antizipationen zuläßt, wird Erkennen letztlich als ein psychisch-intellektueller Funktionsmechanismus im Verhalten der Subjekte verstanden, welcher der Determination der Verhaltensstrukturen unterworfen ist. Daraus, daß die Funktionsweise dieser Strukturen empirisch einsehbar ist, folgert .Hume, daß die restringierte empirische Erkenntnis auch dann für den Leben~prozeß der Individuen hinreichend ist; wenn sie kausale Letztbegründung nicht zu geben vermag. Dafür ist es gleichgültig, wenn dem Wissen letztlich der Status von gemeinsamen Überzeugungen im Modus des Glaubens (belief) zugewiesen wird, sofern nur die praktische Verbindlichkeit dieser Überzeugungen gewährleistet ist. In dieser Orientierung stimmt Hume mit Locke überein, unterlegt ihr jedoch eine skeptische Begründung. Deren gesellschaftlich-praktischen Richtungssinn hat Johannes Rohbeck im Blick auf den unterstellten selbstregulativen Mechanismus der civil society überzeugend dargestellt. 66 In unserem Zusammenhang ist gleichwohl zu fragen, welche gemeinsamen theoretischen Voraussetzungen den Empirismus so an die rationalistische Metaphysik binden, daß er sich nur durch die Form der Skepsis vor deren spekulativen Folgerungen schützen kann. Mit seinem Skeptizismus (der sich zum ontologischen Agnostizismus ausweitet) erkennt Hume wenigstens die Berechtigung spekulativer Fragestellungen als wissenschaftliche an; insoweit bestreitet er lediglich deren Lösbarkeit mit den Mitteln wissenschaftlicher Erkenntnis sowie die Notwendigkeit ihrer Lösung für o den praktischen Lebensvollzug der Menschen. Worin aber besteht die Nötigung, der Spekulation diesen Kredit zu geben?
o
65 66
Vgl. Enquiry concerning Human Understanding, Sect. VII. Vgl. Rohbeck 1978.
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Bereits bei Locke wurde deutlich, daß er mit dem Rationalismus eine entscheidende Voraussetzung teilt: den Rekurs auf die Unmittelbarkeit subjektiver Erkenntnisvermögen, deren Einheit die Einheit des Erfahrungszusammenhangs verbürgt. Humes Ansatz verschärft die Aporien dieser Voraussetzung noch dadurch, daß er das Verhalten der Subjekte nicht mehr als bloß theoretisches in mentalen Reflexionen versteht, sondern das Erkennen als Funktionsmechanismus im gesellschaftlichen Verhaltenszusammenhang begreift. Für beides aber werden wiederum Vermögen angesetzt, die in dem Subjekt als Prozeßatom der subjektiven und intersubjektiven Reflexionsleistungen auf widersprüchliche Weise verklammert, aber nicht miteinander vermittelt sind, obwohl dem einen, der »Sympathie«, vermittelnde Funktion für das andere, den bürgerlichen Egoismus des Subjekts, zukommt. Solange aber an der Unmittelbarkeit solcher Vermögen festgehalten wird, sind die aus ihnen hervorgehenden Verhaltensweisen auf der empirischen Ebene nicht miteinander zu vermitteln. Dies gilt nicht nur für Hume, sondern ebenso für den Empirismus Lockes. Das Argument einer praktischen Orientierung des Wissens appelliert unter diesen Voraussetzungen an den gesunden Menschenverstand, der sich schon immer in solchen Vermittlungen bewegt und sie darum auch dann unterstellt, wenn er sie nicht zu begründen vermag. In dieser Hinsicht kommt auch ein Vertreter der common-sense-Philo. sophie wie Thomas Reid mit Hume überein. 67 Schärfer als andere aber hat Hume gesehen, daß diejenigen Voraussetzungen, die sich auf der empirischen Ebene der kausalen Erklärung entziehen, auch die Voraussetzungen der rationalistischen Metaphysik sind. Dies nötigt dazu, der Metaphysik als Skeptizismus entgegenzutreten, der weitergehende Folgerungen aus dieser Voraussetzung abweist und gegenüber der transzendenten Begründung eine Überzeugung aufrechterhält, welche die Unmittelbarkeit der Subjekte und ihrer Vermögen wie auch deren Vermittlungen als gegebene, empirische Grundlage eines gesellschaftlichen Funktionsmechanismus versteht. Diese Voraussetzung ließe sich erst dadurch überwinden, daß das Subjekt nicht nur in eine intersubjektive Reflexion eingestellt wird, sondern die Struktur der Subjektivität als bestimmte Form begriffen wird, die aus der Reflexion als der (nicht nur mental zu fassenden) Beziehung auf Anderes hervorgeht. Der Skeptizismus ist aus dieser Sicht auch Ausdruck eines bestimmten Standes der Entwicklung der theoretis~hen Mittel im Umkreis der Reflexionsproblematik, der ihn an den Rationalismus zurückbindet. Die Skepsis ist dessen Gegenbild als positionelle Abwehr seiner Folgerungen.
67
Vgl. Lobkowicz 1986.
I. Aufklärung und Reflexion . Kant
Verstand und Vernunft
C. Dialektik und transzendentale Reflexion (Kant)
schie.d zum bloßen Vermögen der Sinnlichkeit, dann aber, im engeren Sinne, das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Die schwankende Terminologie verweist auf ein Problem in der Sache. Im § 76 der »Kritik der Urteilskraft« stellt Kant eine »episodische« Betrachtung an, »welche es gar sehr verdient, in der Transzendentalphilosophie umständlich ausgeführt zu werden«72; eine Betrachtung, welche die grundsätzliche Problematik des Verhältnisses von Verstand und Vernunft betrifft, ohne daß Kant sie explizit in der Weise ausgeführt hätte, wie es ihm selbst als wünschenswert erschien.73 Es heißt dort: »Die Vernunft ist ein Vermögen der Prinzipien, und geht in ihrer äußersten Forderung auf das Unbedingte; da hingegen der Verstand ihr immer nur unter einergewissen Bedingung, die gegeben werden muß, zu Diensten steht. Ohne Begriffe des Verstandes aber, welchen objektive Realität gegeben werden muß, kann die Vernunft gar nicht objektiv (synthetisch) urteilen, und enthält, als theoretische Vernunft, für sich schlechterdings keine konstitutive, sondern bloß regulative Prinzipien. Man wird bald inne: daß, wo der Verstand nicht folgen kann, die Vernunft überschwenglich wird, und in zuvor gegründeten Ideen (als regulativen Prinzipien), aber nicht objektiv gültigen Begriffen sich hervortut; der Verstand aber, der mit ihr nicht Schritt halten kann, aber doch zur Gültigkeit für Objekte nötig sein würde, die Gültigkeit jener Ideen der Vernunft nur auf das Subjekt, aber doch allgemein für alle von dieser Gattung,. d. i. auf die Bedingung einschränke, daß nach der Natur unseres (menschlichen) Erkenntnisvermögens oder gar überhaupt nach dem Begriffe, den wir uns von dem Vermögen eines endlichen vernünftigen Wesen überhaupt machen können, nicht anders als so könne und müsse gedacht werden: ohne doch zu behaupten, daß der Grund eines solchen Urteils im Objekte liege«74. Die Sprengkraft dieser Ausführungen in der Dialektik der teleologischen Urteilskraft zeigt.sich dann, wenn sie mit der Stellung der Vernunft zum Verstand in der transzenqentalen Dialektik der »Kritik der reinen Vernunft« zusammen gelesen werden.75 Wenn dort die Vernunft den Verstand als untauglich zur Realisierung der Idee des Unbedingten kritisiert, weil er auf ein ihn Bedingendes angewiesen sei und in der Reihe der bedingenden Erscheinungen nach dem Unbedingten nur streben könne, so kehrt sich in der »Kritik der Urteilskraft« die Richtung der Kritik um. Weil dem Verstand innerhalb des Bedingten die Möglichkeit objektiv gültiger Urteile zukommt, die Vernunft auf dem ihr eigentümlichen Feld diese Möglichkeit aber nicht hat, fällt sie, was die objektive Gültigkeit der Begriffe angeht, der Kritik des Verstandes anheim. Dieser beschränkt die
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1. Verstand und Vernunft Kant selbst hat wiederholt den Einfluß Humes auf das Unternehmen der kritischen Philosophie hervorgehoben und Humes Skeptizismus in der transzendentalen Methodenlehre der» Kritik der reinen Vernunft« geradezu als Vorschule der Kritik gewürdigt. 68 Zugleich aber sah er in den »skeptischen Verirrungen« Humes den Ausdruck eines Mangels, »den er doch mit allen Dogmatikern gemein hatte, nämlich, daß er nicht alle Arten der Synthesis des Verstandes apriori systematisch ()Übersah«69. Kant wirft Hume vor, die dem Vermögen des Verstandes zukommendeSynthesis apriori mit der empirischen Synthesis der Gegenstände wirklicher Erfahrung zu verwechseln und, von der Unhintergehbarkeit dieser empirischen Synthesis ausgehend, den Verstand auf die Funktion einer »nachbildenden Einbildungskraft« zu beschränken,7° durch welche er diese Synthesis assoziativ reproduziere. Kant kritisiert somit die Einschränkung eines Vermögens, das als Vermögen unterstellt, aber nicht in seiner Leistungskraft bestimmt und dadurch begrenzt wird. Die vom Skeptizismus unterlassene »Schätzung« dieses Vermögens aber müßte genau das zum Thema machen, was bei Hume als stillschweigende Voraussetzung fungiert: den Grund der Einheit der synthetischen Leistungen der erkennenden Subjektivität. Auf diesem Wege schlägt,der Empirismus nach innen: die Unhintergehbarkeit der Erfahrungsstruktur des objektiv gültigen Wissens bleibt unangetastet und entlastet die reflexive Selbsterfassung der Rationalität von ihrem Totalitätsanspruch. Gleichwohl ist es diese Reflexion ais »Schätzung« des Vermögens, in der sich das Subjekt in seiner Rationalität als Erfahrung erfaßt. ' Diese Rationalität erscheint als in sich gespaltene: die Geltung der Synthesis a priori kommt zunächst nur der Verstandeserkenntnis zu, von deren »gegründeten Ansprüchen« Kaut die »dialektischen Anmaßungen der Vernunft« unterschieden wissen will; indem Hume diesen Unterschied nicht gesehen habe, sei der Vernunft ihr »ganz eigentümlicher Schwung hiebei nicht im mindesten gestöret, sondern nur gehindert worden«71. Demgegenüber hat die Selbsterfassung der Rationalität allererst ihre Vermögen zu bestimmen, um ihren sicheren Besitz von den Anmaßungen der dialektischen Vernunft abzugrenzen. Kants Unterscheidung von Verstand und Vernunft erweist sich freilich bei näherem Hinsehen als weniger scharf und erweckt den Eindruck, es handele sich dabei um alles andere als den Gebrauch wohl definierter Termini. So bezeichnet Vernunft zuweilen das ganze obere Erkenntnisvermögen einschließlich der Verstandestätigkeit im Unter-
KdU B, 339. Zur Bedeutung p.nd Interpretation dieses Paragraphen im Gesamtrahmen des Kantischen Kritizismus vgl. Kopper 1976. 74 KdU B, 339f. 75 Vgl. Kopper 1976, 2ff. 72
68
69 70 71
Vgl. KrV B, 797. Ebd., 795. Ebd., 794 f. Ebd., 796.
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73
I. Aufklärung und Reflexion . Kant
Kritik des Empirismusund Rationalismus
Vernunft dort, wo sie den Bereich des verstandesmäßigen Wissens verläßt, auf regulative Prinzipien (Ideen), die Gültigkeit nur für das Subjekt haben. Die bedingte Subjektivität des Verstandes, die Anspruch auf objektiv gültiges Wissen macht, kritisiert die auf das Unbedingte zielende Vernunft als bloß subjektiv. Sie kann dies aber nur, wenn sie selbst in einem Verhältnis zum Unbedingten steht, das es erlaubt, die Unangemessenheit der Vernunft zum Begreifen des Unbedingten beurteilen zu können. Dieses Verhältnis ist negativ dadurch gegeben, daß der Verstand erkennen muß, daß die Vernunft ihm in ihrer Beziehung auf das Unbedingte nicht das Bedingende seiner objektiven Erkeimtnis zu . geben vermag.7 6 Umgekehrt freilich kann die Vernunft dem Verstand vorhalten, mit seinen Mitteln das Unbedingte notwendig verfehlen zu müssen. In dieser wechselseitigen Kritik sind Verstand und Vernunft unlösbar miteinander verknüpft und auch ihre Gegenstandsbereiche notwendig aufeinander bezogen. Was hier besteht, ist ein internes Reflexionsverhältnis der Rationalität selbst; dieses macht den - gleichwohl aporetischen - Bezug des Bedingten auf das Unbedingte unabweisbar und begründet dadurch, jenseits der dialektischen Anmaßungen der Vernunft, die Notwendigkeit einer transzendentalen Dialektik.
wird in ihrer eigenen, ansichseienden Wirklichkeit als bloß äußere Voraussetzung des Erscheinenkönnens vom Verstand zugunsten der von ihm produzierten Objektivität sogleich abgestoßen. Indem sich der Verstand als unbedingte, d. h. apriorische Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung begreift, begreift er ineins damit die Realisierung dieser Möglichkeit als bedingt durch ein von ihm nicht Bedingtes und insofern (auf negative Weise) Un-Bedingtes, zu dem er sich negativ verhält. Dieses Negative bezeichnet die Wahrheit des Empirismus, aber es ist eine Wahrheit, die, indem sie erscheint, den Rationalismus in der Weise zur Geltung bringt, daß der Verstand die Möglichkeit der Erfahrung des Gegebenen bedingt und unter seine Begriffe stellt. Gegen den Rationalismus: zdgt sich für Kant ein »heimlicher Rationalismus« als Wahrheit des Empirismus, so ist umgekehrt der Rationalismus zu kritisieren, weil die Rationalität als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, um wirkliche Erfahrung zu werden, auf die Erfahrung von etwas nicht verzichten kann, das von anderwärts her gesetzt ist. Als apriorische und insoweit unbedingte Bedingung steht das Verstandesvermögen einem ihm äußerlich bleibenden Bedingenden gegenüber. Durch dessen Gegenbensein kann es die Objektivität seines Vermögens allererst realisieren, ohne daß das Gegebene an sich Gegenstand des Verstandes werden könnte. Die bloß negative Beziehung auf dieses Ansich soll die Erkenntniskompetenz des Verstandes als eine durch ihn selbst begründete sichern. Der Verstand kann dies aber nur, indem er die Entgegensetzung unendlich macht und sich damit, innerhalb dieser, als bloß :;;ubjektiv qualifiziert. Objektiv gültiges Wissen hat er nur unter der Form subjektiver Objektivität. Die (subjektive) Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis als objektiv gültiger ist nicht schon die (objektive) Bedingung ihrer Wirklichkeit als Erfahrung. Die Verstandesrationalität ist zwar die konstitutive, ermöglichende Bedingung der Objektivität als einer für uns erscheinenden Wirklichkeit, aber sie ist nicht die Bedingung derjenigen Wirklichkeit, derer sie bedarf, um wirklich objektive Erfahrung zu sein. Diese doppelte Abgrenzung läßt mit der Einkapselung objektiv gültiger Erkenntnis in die subjektiv verfaßte Verstandesrationalität ßen Empirismus nach innen schlagen. Gleichwohl bleibt diese Rationalität auf ein Bedingendes verwiesen, das sich ihr entzieht. Dessen Reflexion ist das Geschäft der als Vernunft verfaßten Rationalität; diese aber ist selbst an den Verstand gekettet und bleibt daher ebenso subjektiv. Die Stellung des Verstandes wird zur Grundstellung der Rationalität überhaupt. In der (negativen) Beziehung des Verstandes auf das Bedingende seines wirklichen, objektiv gültigen Wissens, wird er selbst als Bedingtes gesetzt. Dies zu zeigen ist Aufgabe der Vernunft, welche das in den Blick nimmt, was die Verstandeserkenntnis in der negativen Beziehung auf das Ansich wirklicher Gegenstände der Erfahrung als tote Grundlage von sich abstößt. Gleichwohl kann die Vernunft, indem sie sich auf das Unbedingte richtet, nicht das Bedingende der Rationalität zum Gegenstand machen und darüber objektiv gültige Erkenntnisse aussprechen. Vielmehr: indem die Vernunft durch die Ein-
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2. Das Bedingungungsgefüge in Kants Kritik des Empirismus und Rationalismus Die hier angezeigte Konstellation verdankt sich einer doppelten Abgrenzung: gegen den Empirismus (namentlich Lockes und Humes) einerseits und den Rationalismus (namentlich Leibniz') andererseits. In das Verhältnis von Verstand , und Vernunft ist der Gegensatz von Empirismus und Rationalismus eingeschrieben und darin zugleich relativiert. Der Kritizismus will die Aporien bei der vermeiden und zugleich dogmatische und skeptizistische Konsequenzen abweisen. Gegen den Empirismus: Die transzendentale Analytik (und namentlich die transzendentale Deduktion) zeigt, daß die reinen Verstandesbegriffe nicht empirisch aus der Erfahrung abgeleitet werden können, wenngleich sie in ihr anzutreffen sind. Sie stehen vielmehr in einer ursprünglichen Beziehung auf mögliche Erfahrung, d. h. sie sind Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und können insofern objektive Gültigkeit beanspruchen. Das ursprüngliche Vermögen der Subjektivität selbst ist es, was die Objektivität der Erkenntnis ermöglicht; es begreift sich in seiner Selbsterfassung als objektiv. Unter »Objektivität« ist hier aber nicht die wirkliche Erfahrung, sondern die Beziehung auf mögliche Erfahrung zu verstehen. Die Realisierung dieser Möglichkeit steht unter der Bedingung des Gegebenseins einer erscheinenden Wirklichkeit. Soweit diese erscheint, ist sie aber unter die Anschauungsformen und Begriffe des Verstandes gestellt. Sie 76
Vgl. Kopper 1976, 3.
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I. Aufklärung und Reflexion . Kant
Dialektik der Rationalität
sicht in das Bedingungsgefüge der Verstandeserkenntnis diese als subjektiv begreift, begreift sie die subjektive Grundstellung der Rationalität überhaupt, d. h.: auch ihrer selbst; Sie setzt sich als Vernunft der Kritik des Verstandes dort aus, wo sie die durch das Bedingtsein objektiv gültiger Erkenntnis gesetzte Subjektivität überschreitet, aber diese Kritik des Verstandes an der Vernunft als bloßer Subjektivität ist Selbstkritik der einen Rationalität, die in der Reflexion auf das Bedingende des Verstandes sich selbst auf unhintergehbare Weise als Subjektivität erfaßt. Daß die Vernunft auf das Verhältnis des Verstandes zum Unbedingten als' einem ihm entzogenen Bedingenden zurückgeworfen wird, heißt, daß sie das Unbedingte nur in der Reflexion auf die Verstandestätigkeit zu erfassen vermag. Wo der Verstand zur Realisierung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis übergeht, bezieht er sich selbst auf das Bedingende als ein Ansieh, d. h.: er steht als Verstand schon in der Grundstellung der Vernunft, die das Bedingende als Unbedingtes eigens thematisiert. Nur deshalb, weil die Rationalität überhaupt durchgängig von der Konstellation des Verstandes bestimmt ist, kann der Verstand die Vernunft auch kritisieren. Diese begreift umgekehrt die Bedingung der Möglichkeit objektiv gültigen Erkennens als ein subjektives Vermögen, dem der Grund seines Bedingtseins als Subjektivität entzogen ist. Die Bedingung der Möglichkeit des Erkennens, als welche sich die Rationalität erfaßt, ist somit dem Erkennen selbst im strikten Sinne entzogen, denn die Reflexion erlangt kein Wissen von dem Bedingenden dieser Bedingung und damit auch nicht von dem Ermöglichungsgrund des Erkennens in sich: sie ist vielmehr nachgängige Reflexion auf ein Erkenntnisgeschehen, das sie in seinen Voraussetzungen nicht durchsichtig zu machen und als solches angemessen zu erfassen vermag. Die Reflexion als Selbsterfassung der Rationalität bleibt in einem strikten Sinne äußerliche Reflexion auf das .Gegebensein der Bedingungen ihres eigenen Vollzuges. Sie kann daher die Voraussetzung ihres Gesetztseins nicht in das Sichselbst-setzen durch das Setzen ihrer Voraussetzung überführen, wie es noch die cartesische Reflexion - in einem freilich gewaltsamen Akt - versucht hatte. Damit aber besteht die Gefahr, daß sich die Reflexion in der Beliebigkeit skeptischer Vorbehalte verliert, wie Kant es Bume vorgehalten hatte. Soll dagegen die Grenze gesichert werden, innerhalb derer ein angemessenes Welt- und Selbsterkennen möglich ist, so darf das Bedingtsein der Subjektivität nicht verhindern, daß die Subjektivität selbst, als Selbstbewußtsein, in~erhalb der Grenzen objektiv gültigen Wissens ihrerseits als Bedingendes fungiert. Die subjektiv verfaßte Rationalität setzt sich als ein Vermögen voraus, das der Verfügung ihres Setzens entzogen ist. Der Grund ihrer Geltung als Rationalität entzieht sich der Rationalität in der Weise, wie sich ihr die Bedingung der Wirklichkeit des objektiven Wissens als Ansieh entzieht. Darin aber spricht sich.nur aus, daß dieses Ansieh als das Bedingende des Verstandes die Rationalität schlechthin als subjektiv gesetzt hatte, ohne daß diese ein Wissen von dem Bedingtsein ihrer erlangen konnte. So ergibt sich eine eigentümliche Konstellation, die - wie noch
zu zeigen sein wird - die idealistische Überbietung des Kantischen Kritizismus wesentlich in Gang setzen wird: die Intimität der Subjektivität als Selbstbewußtsein ist den durch sie ermöglichten Leistungen des erkennenden Subjekts in der Weise vorausgesetzt, daß dieses Vorausgesetztsein als Selbstbeziehung der Rationalität den Status eines empirisch Gegebenen erhält, auf das 'sie sich reflektierend wie auf ein Objekt bezieht. Das gewaltsame Abschneiden der Reflexion auf das Bedingungsgefüge subjektiver Rationalität ist als Resultat des Versuchs zu verstehen, unter der Annahme gegebener Erkenntnisvermögen die doppelte Abgrenzung gegen Empirismus und Rationalismus aufrechtzuerhalten. Gegenüber Kant, der dieses Resultat in seiner Konzeption erkennender Subjektivität scheinbar unproblematisch voraussetzt, ging es darum, der theoretischen Genesis derjenigen Subjektivität nachzuspüren, die sich zu sich als Bedingung ihres Objektbezuges ins Verhältnis setzen soll. Gegenüber denjenigen Interpretationen, die den Denkweg Kants von dieser Voraussetzung her immanent erhellen, indem sie die Frage nach dem Objekt des Wissens zum Ausgangspunkt einer Rekonstruktion der subjektiven Bedingungen dieses Wissens machen,77 rückt damit ein Reflexionsverhältnis hinter dem Rücken der transzendentalen Subjektivität in den Blick, durch welches diese erst zu einer Subjektivität wird, die in der Beziehung auf ein objektives Ansieh wirklich objektiv gültig erkennen kann. Dieses Reflexionsverhältnis bleibt unreflektiert, auch wenn das reine Selbstbewußtsein als »höchster Punkt« der theoretischen Philosophie zum Thema gemacht wird. 78 De~sen Einheit ist - vor aller sie nachgängig rechtfertigenden Reflexion - aufgrund dessen vorausgesetzt, was sich der Reflexion nicht nur Kants, sondern ebenso des von ihm installierten Reflexionsbegriffs entzieht.
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3. Die Dialektik der Rationalität Kant selbst hat entwicklungsgeschichtlich und sachlich die dialektischen Oppositionen, in die sich die Metaphysik verstrickt, als Ausgangspunkt seines Unternehmens bezeichnet,79 und in diesem Sinne ist die Dialektik (im Kantischen Verständnis) als »Grund der Kritik«8o anzusprechen. Diese ist allererst gegen die Ansprüche rationalistischer Metaphysik gerichtet und bezieht den Empirismus . insoweit mit ein, wie er deren Voraussetzungen und Folgerungen unberührt läßt. Die»Kritik des dialektischen Scheins« ist zunächst Bestandteil der transzendentalen Logik; sie dient dem Nachweis, wie die Dialektik zur »Logik des Scheins« herabgesetzt wird, wenn sie die formale Logik als Kanon zur Beurteilung der
77 78 79 80
Vgl. Henrich 1976. KrV B, 134. Vgl.z.B. Kant an Garve, 21.9.1798; Briefe, 779f. So Röttges 1981.
1. Aufklärung und Reflexion . Kant
Dialektik der Rationalität
formalen Wahrheit von Urteilen in ein Instrument zur Gewinnung materialer Erkenntnisse verwandelt. Eben darauf aber richtete sich die Anstrengung' des Rationalismus: die im Rückgang der erkennenden Subjektivität auf sich eingesehenen Strukturen der Rationalität ebensosehr als Strukturen der (objektiven) Wirklichkeit aufzufassen, auch wenn er sich dabei des Unterschieds seiner essentiellen Einsicht zur Existenz der erscheinenden Wirklichkeit bewußt war. Dieser Mangel der endlichen Reflexion, auf eine gegebeneiRealität angewiesen zu sein, deren Existenz sie nicht aus sich zu begründen vermochte, motivierte im Rationalismus die Flucht in den Empirismus des Transzendenten. Dagegen bestreitet Kant, daß mit dieser Rückbindung der endlichen an eine absolute Rationalität irgend etwas für die Geltung der ersteren gewonnen sei. Er stellt damit in Rechnung, daß dieser Begründungsversuch für die endliche Rationalität aporetisch verläuft und aus einer quasi-empirischen Beziehung auf ein Gegebenes nicht herauskommt. In dem bereits zitierten § 76 der »Kritik der Urteilskraft« führt Kant dies an der wechselseitigen Kritik des Verstandes und der Vernunft aneinander vor, indem er sie auf das Verhältnis der Modalkategorien »Möglichkeit« und »Wirklichkeit« zurückführt. Die Unterscheidung dieser Kategorien ist nach Kant »eine solche, die bloß subjektiv für den menschlichen Verstand gilt«, denn sie beruht darauf, daß die Möglichkeit »die Position der Vorstellung eines Dinges respektiv auf uns ern Begriff und überhaupt das Vermögen zu denken«, die Wirklichkeit aber »die Setzung des Dinges an sich selbst«8 1 bedeutet. Für das subjektive Verstandesvermögen bedeutet dies, daß es sich, indem es sich als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung erfaßt, nicht als das Bedingende ihrer Wirklichkeit erfassen kann. Die strikte Scheidung der Sphären Möglichkeit und Wirklichkeit ist indessen selbst schlechthin subjektiv. Wenn daraus folgt, daß von der bloßen Möglichkeit nicht auf die Wirklichkeit geschlossen werden kann, so gilt dieser Satz »ganz richtig für die menschliche Vernunft, ohne darum zu beweisen, daß dieser Unterschied in den Dingen selbst liege«82. An dieser Stelle argumentiert Kant, auf den ersten Blick überraschend, nicht mit der subjektiven Beschränkung des Verstandes, sondern stellt der Trennung die »Forderung der Vernunft« entgegen, »irgend ein Etwas (den Urgrund) als unbedingt notwendig existierend anzunehmen, an welchem Möglichkeit und Wirklichkeit gar nicht mehr unterschieden werden sollen, und für welche Idee unser Verstand schlechterdings keinen Begriffhat«83. Beschränktist der Verstand hier gerade deshalb, weil er eine berechtigte Forderung der Vernunft nicht erfüllen kann. Tatsächlich hilft hier jedoch die Trennung von Verstand und Vernunft auch nicht weiter" denn die Forderung der Vernunft wäre'nach deren Kantischen Prämissen ja auch bloß subjektiv. Worin besteht dann eigentlich das (objektive)
Recht der Forderung, welche Verstand und Vernunft subjektiv nicht erfüllen können? Die »Unablaßlichkeit«84 der Forderung besteht offenbar nur dann, wenn der Vernunft ein Wissen dessen zugetraut wird, was sie wissen müßte, um ihren Vernunft-Anspruch erfüllen zu können. Dieser Anspruch zielt, wie in den drei Titeln aller transzendentalen Ideen,85 auf schlechthinnige Identität. Das aber heißt: die ,als Vernunft verfaßte Rationalität ist schon immer auf das festgelegt, was der Rationalismus ihr zuschrieb, und insoweit trifft Kants Polemik gegen Hume ihn selbst. Auch in der transzendentalen Sehnsucht nach durchschlagender Identität ist der Vernunft ihr »ganz eigentümlicher Schwung [ ... ] nicht im mindesten gestöret, sondern nur gehindert worden«86. Gehindert wird die Vernunft an der Erfüllung ihrer Forderungen dadurch, daß sie in die endliche Subjektivität eingekapselt bleibt. Sie ist Reflexion des Subjekts auf ein Erkenntnisgeschehen, dessen Bedingungsgefüge ihm darin nicht durchsichtig wird und der Reflexion äußerlich bleibt. Eben deshalb zielt die unabweisliche Forderung der Vernunft auf etwas Problematisches, d. h. auf etwas, was Problem bleiben muß, wenn die Bindung der Vernunft an die Subjektivität aufrechterhalten werden soll. Dabei teilt Kant, indem er über die Reflexion der Subjektivität die Objektivität des Erkennens erfassen will, Voraussetzungen und Motive des rationalistischen Überstiegs über die endliche Subjektivität. Diese Überbietung des Verstandes durch die Vernunft aber bleibt selbst innerhalb der endliGhen Subjektivität situiert: sie vollzieht sich subjektiv in regulativen Prinzipien der Vernunft. Dies hat die scheinbar paradoxe Folge, daß die Kritik des rationalistischen Reflexionsmodells dessen Voraussetzung, das Wissen im Rückgang des Subjekts auf sich zu begründen, allererst radikal ernst nimmt. Sie setzt den Vorrang der Subjektivität auf eine Weise, die als epochale, »kopernikanische« Wende verstanden werden will. Diese Radikalisierung aber ist Folge einer Kompetenzbeschneidung, welche die Rationa}ität als eine bloß subjektive dabei erleidet. Die angedeutete Paradoxie findet ihren Ausdruck in der transzendentalen Dialektik, deren kritische Argumentation darauf hinausläuft, daß die Vernunft im Bestimmen des Unbedingten auf die Kategorien des Verstandes zurückgeworfen wird, die aber, losgelöst von den Gegenständen wirklicher Erfahrung, notwendig zu entgegengesetzten Behauptungen in Ansehung des Unbedingten führen. Die dialektischen Oppositionen, in die sich die auf den Verstand angewiesene Vernunft notwendig verstrickt, machen es unmöglich, mit den Erkenntnismitteln endlich-rationaler, d. h. bedingter Subjektivität des Unbedingten habhaft zu werden, wenngleich die Beziehung auf das Unbedingte für die Rationalitäfunabweisbar bleibt, da die Vernunft in der Reflexion auf das Erkenntnisgeschehen um das Bedingtsein des Verstandes und seiner in der transzenden-
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81 82
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KdU B, 340. Ebd., 341. Ebd.
84 85
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Ebd. KrV B, 391. Ebd., 796.
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1. Aufklärung und Reflexion . Kant
Transzendentale Reflexion
talen Analytik freigelegten Erkenntnisleistungen weiß. Kann sie so den Verstand seines Bedingtseins überführen, d. h. ihn, der objektiv gültiges Wissen geben zu können beansprucht, als subjektiv kritisieren, so vermag die Vernunft ihm doch nicht das Bedingende seines Bedingtseins zu geben, da sie selbst in der Bestimmung des Unbedingten auf die Mittel des Verstandes angewiesen bleibt, die auf die Vernunft derart zurückschlagen, daß ihr Tun vom Verstand her als bloß subjektives zu kritisieren ist.
gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnisquellen, durch welches allein ihr Verhältnis unter einander richtig bestimmt werden kann«89. Transzendental ist diese Reflexion dadurch, daß sie eine Erkenntnis liefert, die es nicht mit den Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart überhaupt zu tun hat. Sie bestimmt den transzendentalen Ort eines Begriffs in dem Erkenntnisvermögen und führt so zu einer transzendentalen Topik,· die das Verhältnis der Begriffe dahingehend bestimmt, »in welcher Erkenntniskraft sie subjektiv zu einander gehören«90; die möglichen Verhältnisse- aber erschöpfen sich in vier »Titeln« aller Vergleichung und Unterscheidung: (1) Einerleiheit und Verschiedenheit; (2) Einstimmung und Widerstreit; (3) Inneres und Äußeres; (4) Materie und Form. Die bloß logische Komparation vergleicht und unterscheidet die Begriffe formal, während es bei der transzendentalen Reflexion »auf den Inhalt der Begriffe ankömmt, d. i. ob die Dinge selbst einerlei oder verschieden, einstimmig oder im Widerstreit sind etc.«91. Dies scheint der Behauptung zu widersprechen, die Reflexion habe es gerade nicht mit den Gegenständen zu tun, und es ist zu fragen, ob es sich dabei tatsächlich nur um eine »mißverständliche Formulierung« handelt, die dadurch zurechtzurücken ist, daß Kant die »Bedingungen des Objektbezuges von Begriffen« angibt. 92 Sicher will Kant mit seiner Formulierung nicht die Unmöglichkeit einer Erkenntnis der Dinge an sich dementieren; gleichwohl geht das Problem, das er sich mit der Vermittlung von Sinnlichkeit und reiner Verstandeserkenntnis stellt, über die kritische Sichtung der Erkenntnisvermögen als Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültigen Wissens einen entscheidenden Schritt hinaus. In der Vermittlung von sinnlicher Anschauung und reinen Verstandesbegriffen wird nicht mehr nur nach der bloßen Möglichkeit apriorischen Wissens im Blick auf die Erfahrung gefragt, sondern nach den Bedingungen der Realisierung dieser Möglichkeit im wirklichen Erkenntnisprozeß als Zusammenspiel bzw. »Einheit« der unterschiedlichen Vermögen des Gemüts bzw. der »Erkenntniskräfte«. Der Mangel der logischen Komparation besteht gerade darin, nur auf die formale Gleichartigkeit der Vorstellung zu achten und damit »den Grund der Möglichkeit der objektiven Komparation der Vorstellungen unter einander«93 zu verfehlen. Der Grund dieser Möglichkeit aber ist eben das In-Beziehung-gesetztSein der Erkenntniskräfte im Subjekt des Erkenntnisprozesses, dem »Ich«, was als »Ich denke« alle Vorstellungen muß begleiten können. Die transzendentale Reflexion ist Reflexion auf ein wirkliches Erkenntnisgeschehen jm Blick auf die Verfaßtheit der erkennenden Subjektivität, sofern diese objektiv gültige Erkenntnis beansprucht. Von dorther greift der Abschnitt über die »Amphibolie der
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4. Transzendentale Reflexion An diesem, hier vom Problem her bezeichneten Schnittpunkt von transzendentaler Analytik und transzendentaler Dialektik, findet sich in der Architektonik der »Kritik der reinen Vernunft« eine Passage über die »Amphibolie der Reflexionsbegriffe«, welche die Verwechslung des empirischen und des transzendentalen Verstandesgebrauchs zum Thema hat. Obwohl dieses Stück als »Anhang« der Analytik deklariert ist und es sich der Sache nach zunächst um die Vermittlung von Anschauung und Verstandeserkenntnis handelt, ist es gleichwohl nicht als bloßer Nachtrag zu betrachten, denn im Verhältnis von Anschauung und Begriff geht es um den Vorgang des Bestimmens von Objekten, d. h. den Erkenntnisprozeß selbst in seinen objektiven Geltungsansprüchen. Hierauf bezieht sich der Begriff transzendentaler Reflexion. Setzt man die für Kant als ein bloß empirisches Verfahren in die Psychologie gehörige Reflexion als Selbstwahrnehmung beiseite, die sich als empirische Reflexion qualifizieren ließe,87 so unterscheidet er zwischen logischer Reflexion als »Komparation«.und transzendentaler Reflexion. Damit nimmt Kant eine Unterscheidung der Schulphilosophie kritisch auf, welche »Reflexion« im Anschluß an Leibniz allgemein als Aufmerksamkeit auf das verstanden hatte, was in uns ist. Diese Aufmerksamkeit (attentio) ist zweifacher Art: Übedegung (Reflexion im engeren Sinne) und Komparation. So heißt es im § 626 von Baumgartens »Metaphysica« (1779): »Attentio in totius perceptionis partes successive directa est reflexio. Attentio ad totam perceptionem post reflexionem est comparatio.« Entsprechend ordnet Kant die transzendentale der logischen Reflexion (Komparation) systematisch vor; sie ist »Reflexion« im eigentlichen Sinne. So findet auch die Komparation ihren systematischen Ort in der schulmäßigen Logik. 88 »Die Überlegung (reflexio)«, so heißt es in der »Kritik der reinen Vernunft«, »hat es nicht mit den Gegenständen selbstzu tuh, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen, sondern ist der Zustand des Gemüts, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können. Sie ist das Bewußtsein des Verhältnisses
89 90
91 87
88
Vgl. Schnädelbach 1977, 95. Vgl. Logik, ed. Jaesche, § 6.
92 93
KrV B, 316. Ebd., 317.. Ebd., 318. Vgl. Schnädelbach 1977, 92. KrV B, 319.
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Vergessene Reflexivität der Bedingungen
1. Aufklärung und Reflexion . Kant
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Reflexionsbegriffe« weit über die Funktion eines bloßen »Anhangs« hinaus: es ist das Verfahren der kritischen Philosophie Kants selbst, was hier thematisch wird und auf dem Spiel steht. 94 Auf den ersten Blick erscheint die transzendentale Reflexion nur als potenzierte logische Komparation, welche die Vorstellungen vor aller in logischer Hinsicht vorgenommenen Vergleichung und Unterscheidung in Hinsicht auf ihre Zugehörigkeit zu ErkeIintniskräften vergleicht und unterscheidet. Als komparativ-topologisches Verfahren setzt sie die Vollständigkeit und Gültigkeit der »Titel« der Komparation ebenso voraus wie die zu vermittelnden Erkenntniskräfte. Gleichwohl kommt hierbei der Zusammenhang wirklicher Erkenntnisprozesse als Problem der Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand wenigstens negativ in den Blick. Die umstandslose Rückführung beider Stämme der Erkenntnis aufeinander führt Kant zufolge auf eine »Amphibolie« der Reflexionsbegriffe. Damit ist gemeint, daß sie für sich gestellt zweideutig und verwechselbar sind. Sie müssen daher nach den vier Titeln der Komparation in Hinblick auf den Gebrauch für die Erkenntnisarten unterschieden werden. 95 Das Resultat dieser Unterscheidung ist eine transzendentale Topik, in Erm~ngelung derer Leibniz und Locke - Kant zufolge - der Amphibolie der Reflexionsbegriffe erlagen. Ersterer hob die Sinnlichkeit als bloß verworrene Vorstellungen in Verstandesbegriffe auf (Intellektuierung der Erscheinungen), während Lockedie Verstandesbegriffe umgekehrt als von der Sinnlichkeit abgezogene Begriffe ausgab (Sensifizierung der Verstandesbegriffe). 96 Seine Kritik, zu der ihm die Tafel der Reflexionsbegriffe einen »unerwarteten Vorteil«97 verschaffte, führt Kant an dieser Stelle nur gegen Leibniz durch. Dies mag daran liegen, daß Kant selbst ein Problem unterbestimmt läßt das er gleichwohl als Argument gegen Rationalismus und Empirismus benut;te: »Anstatt im Verstande und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von Vorstellung zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objektivgültig von Dingen urteilen könnten, hielt sich ein jeder dieser großen Männer nur an eine von beiden«98. Vieles spricht dafür, daß Kant beiden nicht gerecht wird; vor allem aber überspielt er mit dem Schlagwort »Sensifizierung« das von Locke aufgeworfene Problem des Zusammenhangs der Erfahrung in der Einheit von äußerem und innerem Sinn, das gerade die von ihm angemahnte »Verknüpfung« zum Thema hat. Umgekehrt müßte Kant sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht Sinnlichkeit und Verstand als »ganz verschiedene« Stämme der Erkenntnis so trennt, daß er sich, um seine eigenen Worte zu benutzen, zwar an beide hält, ihre Verknüpfung aber an dieser Stelle kaum noch einsichtig zu machen vermag. In der
94
Vgl. KrV B, 319ff.
96
Vg1. ebd., 326.
97
Ebd. Ebd., 327.
98
Tat bl~ibt .die transzendentale Reflexion, wenigstens in den Ausführungen des AmphIbolIe-Anhangs, auf eigentümliche Weise grundlos: das transzendentale Objekt »ist ein bloßes Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden was es s.ei, w~nn es ~ns au~h jemand sagen könnte«99. So ist auch die Beziehung der SinnlIchkeIt auf em Objekt, >>Und was der transzendentale Grund dieser Einheit sei« unserer Erkenntnis verborgen. Wenn, wie es Kant voraussetzt, das »Geheimni; des U~sprungs unserer Sinnlichkeit« in uns verborgen liegt, und so zugleich gilt, daß WIr »so gar uns selbst nur durch innern Sinn, mithin als Erscheinung ken100 . 1. ' ~en« , ~o 1st zug elch auch das transzendentale Subjekt der Erkenntnis entzogen; m dem dIe Erkenntnisquellen notwendig verknüpft sein sollen. Kants Resümee fällt denn auch vergleichsweise dürftig aus: die Kritik der Reflexionsschlüsse bestätige, »daß, obgleich Erscheinungen nicht als Dinge an sich selbst unter den Objekten des reinen Verstandes mit begriffen sein; sie doch die einzigen sind, an den~n unsere Erkenntnis objektive Realität haben kann, niimlich, wo den Begriffen Anschauung entspricht«101.
5. Die vergessene Reflexivität der Bedingungen Die transzendentale Reflexion bleibt insgesamt in der Topik erstarrt. Sie ist nachgängige Reflexion auf ein vorausgesetztes Bedingungsgefüge im wirklichen Erkenntnisgeschehen, welches sich in unvermittelten Vermögen und undurchschaubaren Bedingungen präsentiert. Auf der anderen Seite geht die transzendentale Reflexion über das bloße Aufnehmen von Voraussetzungen dadurch hinaus, daß sie die I:rage nach dem wirklichen Zusammenhang des Erkenntnisgeschehens stellt. Kant beantwortet diese Frage aber nicht im Blick auf den . Prozeß der Erkenntnis, sondern im Blick auf einen Grund seiner Einheit. Er setzt diesen Einheitsgrund (wenigstens problematisch) in die Subjektivität selbst als Re~exionsinstanz. Dabei gerät Kants Argumentation in eine eigentümliche SchIeflage. Während die Konzeption transzendentaler Subjektivität die Verknüpfung der Erkenntnisquellen sichern soll, bleibt das transzendentale Objekt als bloß~s ~oumenon, mit dem der Verstand die Sinnlichkeit auf Erscheinungen restnnglert, für die Reflexion unterbestimmt. Die Bestimmung der Subjektivität als unmittelbarer Reflexionsinstanz, unabhängig von der Vermitteltheit ihrer eigenen Reflexion, schließt die Vermittlungen aus, die sich hinter dem Rücken der transzendentalen Subjektivität ereignen. Diese Vermittlungen scheinen dort auf, wo das transzendentale Objekt, wenn auch als bloß äußerlich bleibende Voraussetzung, ins Spiel kommt. Kants weitgehendem Absehen von ihm wurde in der Kant-Rezeption vielfach darin gefolgt,
Vgl. in diesem Sinne Schnädelbach 1977, 93 f.; Lefevre 1980.
95
53
Ebd., 333. Ebd., 334. 101 Ebd., 335.
99
100
I. Aufldärung und Reflexion . Kant
Schematismus und Urteilskraft
daß es als konzeptionell ornamental abgetan wurde und damit zugleich ein Problemzusammenhang aus dem Blick geriet, der für die spätere idealistische Kritik und Überbietung Kants von herausragender Bedeutung war: daß in der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültiger Erkenntnis nicht nur die Einheit des Subjekts (das in der transzendentalen Reflexion als Einheit - wie immer sie auch zu bestimmen sei - von heterogenen Erkenntniskräften anzusetzen ist) erfragt wird, sondern ebenso die Einheit von Subjekt und Objekt. Wenn Kant das »Geheimnis des Ursprungs unserer Sinnlichkeit« in ihrer Beziehung auf ein transzendentales Objekt tendenziell in die Subjektivität zurückverlagert, so liegt dieser einseitigen Wendung der Problemstellung das stillschweigende Eingesti;indnis zugrunde, daß die Subjektivität sich als Subjektivität im Abstoß von dem Ansich des Objekts bestimmt. Dies hat Folgen für die Subjektivität selbst, denn indem sie diese sie als Subjektivität bedingende Reflexivität aus ihrem Erkennen ausschließt, ist sie sich selbst in ihrem Grund verborgen. Als in sich grundlos bleibt das transzendentale Subjekt mitsamt seinen Erkenntnisleistungen ein Zufälliges in dem Sinne, daß die Einheit des Ich als Bedingung der Erkenntnis mit den Mitteln der Erkenntnis nicht begründet werden kann. Ist ohne die »Harmonie zwischen dem Verstande und der Sinnlichkeit [ ... ] keine Erfahrung möglich«, so ist doch kein Grund anzugeben, »warum wir gerade eine solche Art der Sinnlichkeit und eine solche Natur des Verstandes haben, durch deren Verbindung Erfahrung möglich wird; noch mehr, warum sie, als sonst völlig heterogene Erkenntnisquellen [ ... ] doch so gut immer zusammenstimmen, als wenn die Natur für unsere Fassungskraft absichtlich eingerichtet wäre; dieses konnten wir nicht (und das kann auch niemand) weiter erklären«lo2. In diesem Punkt hält Kant das Unternehmen seiner Kritik für eine »Apologie« der Leibnizischen Philosophie und namentlich der Lehre von der prästabilierten Harmonie. In der Zusammenstimmung des Heterogenen, die vorausgesetzt werden muß, aber als diese Voraussetzung nicht von der Erkenntnis vollzogen werden kann, spricht sich die »unnachlaßliche Forderung der Vernunft« aus, einen notwendigen Grund vorauszusetzen, in dem Möglichkeit und Wirklichkeit nicht unterschieden sind und der in seiner absoluten Notwendigkeit noch das Zufällige rechtfertigen könnte.
der Amphibolie-Anhang scheint das der transzendentalen Deduktion eingefügte Schematismus-Kapitel einen Bruch in der Argumentation zu bezeichnen, sofern es hier um die »Anwendung der K.ategorie auf Erscheinungen«104 geht und nicht, wie sonst in der transzendentalen Deduktion, um ihre Anwendung auf die Formen der Anschauung.1°5 Kant stellt das Problem als das der Subsumtion empirischer Anschauungen unter reine Verstandesbegriffe und sucht in dem Schema »ein Drittes [ ... ], was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit ~er Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema« 106 . Die Funktion des Schemas besteht darin, »einem Begriff sein Bild zu verschaffen«107, wobei es selbst kein »Bild« als »Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft«, sondern »ein Monogramm der reinen Einbildungskraft apriori« 108 ist. Der Schematismus des Verstandes geht auf »die Einheit alles Mannigfaltigen der Anschauung in dem inneren Sinne, und so indirekt auf die Einheit der Apperzeption [ ... ]. Also sind die Schemate der reinen Verstandesbegriffe die wahren und einzigen Bedingungen, diesen eine Beziehung auf Objekte, mithin Bedeutung zu verschaffen, und die Kategorien sind daher am Ende von keinem andern, als einem möglichen empirischen Gebrauche, indem sie bloß dazu dienen, durch Gründe einer apriori notwendigen Einheit (wegen der notwendigen Vereinigung alles Bewußtseins in einer ursprünglichen Apperzeption) Erscheinungen allgemeinen Regeln der Synthesis zu unterwerfen«109. Das Schema ist »Produkt« eines Vermögens, der Einbildungskraft,no aber als solches nicht mit dem Vermögen oder Verfahren der Einbildungskraft identisch, sondern die »Vorstellung [ ... ] von, einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft«111, d. h. nicht Vermittlung, sondern Erkenntnismittel als Resultat (Produkt, fixierte Vorstellung) eines Verfahrens, ein Mittel,das allererst die Vermittlung von reinen Verstandesbegriffen und empirischer Anschauung ermöglicht. Als Mittel vereinigt das Schema selbst Ungleichartiges, nämlich Sinnliches einerseits und abstrakt-allgemeine Verstandesbestimmungen andererseits. Die Genese der Schemata einer jeden Kategorie erweist sie als »Zeitbestimmungen a priori nach Regeln«, wobei sie einerseits die Zeit als reine Form der Anschauung voraussetzen, andererseits (als Schema der Größe) die Zeit selbst in der Appre-
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6. Vermittlungen: Schematismus und Urteilskraft Das Problem der Vermittlung der Erkenntnisvermögen beherrscht nicht nur die »Kritik der Urteilskraft«, sondern wird auch im Schematismus-Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft« thematisch, wo Kant das Schema als »vermittelnde Vorstellung«103 zwischen Sinnlichkeit und Verstand einführt. Nicht weniger als
104 105 106
KrV B, 177.
107
Ebd., 179f. Vgl. ebd., 181. Ebd., 185. Vgl. ebd., 179. Ebd.
108 102
103
Über eine Entdeckung; Werke, ed. Weischedel, Bd. 5, 371f. KrV B, 177.
Ebd., 176. Vgl. Rohbeck1981.
109
110 111
55
1. Aufklärung und Reflexion . Kant
56
hension der Anschauung erzeugen. 112 In der Bestimmung des Erkenntnismittels als Resultat (Produkt) der Äußerung eines gegebenen Vermögens, das sich als solches auf Gegebenes bezieht, ebenso wie in der Erzeugung der Zeit unter Bezug auf das Gegebensein der Zeit, zeigt sich das Mittel als Einheit des Voraussetzens und Setzens im wirklichen Erkenntnisprozeß oder als Einheit des Subjektiven und Objektiven. Es ist das Resultat eines Erkenntnisprozesses, das empirische Erkenntnis ermöglicht, d. h.: in ihm ist die Verwirklichung der Erkenntnis an ihre Wirklichkeit gebunden, die allererst das Mittel ihrer Ermöglichung als wirkliche Erkenntnis produziert. Diese Zuspitzung formuliert eine Paradoxie, die sich aus dem Ansatz der Kantischen Kritik ergibt, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis vor aller Erkenntnis erkennen zu wollen. Das Schematismuskapitel ist das heimliche Eingeständnis, daß dieses Programm dort aus dem Gleis gerät, wo die »Verknüpfung« oder Einheit der Vermögen im Blick auf den wirklichen Erkenntnisprozeß zum Thema gemacht wird. Die Vereinigung heterogener Vermögen läuft darauf hinaus, Apriorisches und empirisch Gegebenes zu ver~inigen, weshalb die Mitte als die Ermöglichung dieser Vereinigung sie in einem wirklichen Erkenntnisprozeß bereits vereinigt haben muß, um vermitteln zu können. Im Schematismus-Kapitel liegt somit eine von Kant an das Vermögen der Einbildungskraft geknüpfte Reflexivität des Erkennens begründet, die freilich als solche nicht ausdrücklich gemacht wird. Diese Reflexivität besteht darin, daß sich das Erkennen im Prozeß des Erkennens auf von ihm gesetzte Resultate bezieht. Diese Reflexivität ist es, die der nachkantische Idealismus im Zusammenhang mit der Aufwertung der produktiven Einbildq.ngskraft ausbeuten und als Reflexion bewußt machen wird. Kant selbst scheint vor solchen Konsequenzen seiner Theorie des Schematismus zurückgeschreckt zu sein, indem er sich faktisch darauf beschränkt, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnismitteln sowie diese Mittel selbst in ihrer die Erkenntnis ermöglichenden Funktion darzustellen. Dieses Zurückweichen vor dem wirklichen Erkenntnisprozeß, den er gleichwohl voraussetzt, auf die Vermögen der Erkenntnis, erinnert an Nietzsches sarkastische Kant-Kritik, dieser habe die Frage nach der Möglichkeit objektiv gültigen Wissens apriori dadurch beantwortet, daß e~ gesagt habe, sie sei möglich vermöge eines Vermögens. l13 Dieser Befund gilt auch für die Theorie der Urteilskraft, die als ein besonderes Vermögen zwischen Verstand und Vernunft vermittelt, indem sie das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen denkt; sie verfährt bestimmend, d. h. subsumierend, wenn das Allgemeine durch den Verstand gegeben ist, und reflektierend, wenn das Allgemeine erst gefunden werden soll. In letzterem Falle verfährt die reflektierende Urteilskraft nach einem eigenen - subjektiven - regulativen Prinzip, dem der Zweckmäßigkeit, indem sie entweder (als ästhetische Urt~ils-
o
112 113
Vgl. ebd., 182.184. Jenseits von Gut und Böse, Werke 5, 24.
Schematismus und Urteilskraft
57
kraft) die formale Zweckmäßigkeit durch das Gefühl der Lust oder Unlust oder (als teleologische Urteilskraft) diereale (objektive) Zweckmäßigkeit der Natur durch Verstand und Vernunft beurteilt. Die Zweckmäßigkeit führt die Mannigfaltigkeit des Besonderen auf die Einheit zurück, aber diese Einheit ist die des Subjekts, das sich der Idee der Zweckmäßigkeit als eines regulativen Prinzips bedient. Im Sinne dieser »Als-ob«-Teleologie verfährt die Urteilskraft transzendental-reflektierend, d. h. nicht bestimmend, sondern sich selbst in Ansehung empirischer Gesetze ein Gesetz gebend, worunter diese zur Einheit gebracht werden können. Der durchgängige Zusammenhang empifischer Erkenntnisse in einem Ganzen der Erfahrung, um den es dabei zu tun ist, setzt die konkrete Einheit des Erkenntnisprozesses voraus, denn er bezieht sich im Erkennen auf Resultate des . Erkennens, um dadurch Regeln des Erkennens zu gewinnen. Im Sinne solcher Reflexivität nach dem Vorgang des Schematismus-Kapitels ist der Gegenstand des Erkennens zugleich Mittel des Erkennens als angeeignet er bzw. durch Aneignung umgeformter. Dadurch wird derjenige Bereich empirischen Wissens in die Allgemeinheit der Erkenntnis aufgenommen, Welcher sich der Bestimmung durch den Verstand entzieht. Der Sache nach handelt es sich um das Problem, das Leibniz' Theorie der kontingenten Wahrheiten zugrundelag. Die besonderen, empirischen Gesetze der Natur müssen in Ansehung dessen, was in ihnen durch die allgemeinen Naturgesetze des Verstandes »unbestimmt« gelassen würde, »nach einer solchen E~nheit betrachtet werden [ ... ], als ob gleichfalls ein Verstand [ ... ] sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte«114. Die Urteilskraft sichert die Einheit und Einheitlichkeit der Erfahrung, indem sie (1) subjektiv die Angemessenheit der Erkenntnisvermögen zu diesem Zweck in der konkreten Einheit des Erkenntnisprozesses und (2) objektiv (im Sinne der. »Als-ob«-Teleologie) den Erkenntnisgegenstand als zweckmäßig für die Erkenntnis beurteilt. Sie setzt die Zweckmäßigkeit des Gegenstandes als Regel der Erkenntnis voraus, wie sie umgekehrt die Zweckmäßigkeit der Erkenntnisvermögen. voraussetzt. Als besonderes, d. h. unselbständiges Erkenntnisvermögen115 ist sie auf ein anderweitig Gegebenes verwiesen, d. h. sie erfüllt ihre Aufgabe in der Bewertung des Erkenntnisgeschehens und seiner Resultate. Diese 0 Bewertung bleibt zwar ein theoretisches (urteilendes) Verhalten, bildet aber zugleich die Grundlage, um das praktische Verhalten aus der Kausalität nach dem Freiheitsbegriff (wie ihn die Kritik der praktischen Vernunft expliziert) mit der Naturkausalität zu verbinden, d. h. »die Kausalität der Naturdinge zu einer Wir-
114 115
KdU B, XXVII. Vgl. KdU, Einleitung, 1. Fassung, H 7..
I. Aufklärung und Reflexion . Kant
Dialektik und Topik bei Kant
kung, gemäß ihren eigenen Naturgesetzen, zugleich aber doch auch mit dem formalen Prinzip der Vernunftgesetze einhellig, zu bestimmen«116.
Wenn das reine Selbstbewußtsein, weIches Objektivität im Erkennen allererst konstituiert, nicht selbst Objekt der Erkenntnis sein kann, so ist zu fragen, mit welchem Recht es dann noch als Bewußtsein gelten und wie' es überhaupt ins Bewußtsein treten kann. Weder ist es dem Denken zugänglich, da es ihm unmittelbar vorausgesetzt ist, noch der Anschauung, die auf die Sinnlichkeit geht, während das reine Ich des Selbstbewußtseins vielmehr von aller Sinnlichkeit befreit ist. Kants Antwort ist die, daß der Satz »Ich denke« eine »unbestimmte empirische Anschauung, d. i. Wahrnehmung,« ausdrückt, »mithin beweist er doch, daß schon Empfindung, die folglich zur Sinnlichkeit gehört, diesem Existentialsatz zum Grunde liege«118. Damit ist nicht gesagt, das reine Selbstbewußtsein sei eine unbestimmte Wahrnehmung im Sinne der empirischen Reflexion, also eigentlich in die Psychologie gehörig (eine Auffassung, die freilich für die Umbildung des Kantianismus durch' E. Beneke und J. F. Fries bestimmend wurde). Die unbestimmte Wahrnehmung ist empirisch in dem Sinn, daß sie auf eine Erfahrung verweist, die aller Erfahrung vorhergeht. Wenn andererseits das Selbstbewußtsein auch keine Kategorie der Verstandestätigkeit sein kann, indem es diese allererst ermöglicht, so drückt'die von Kant diagnostizierte Unbestimmtheit der empirischen Anschauung als Selbstbewußtsein eine massive Verlegenheit aus. Der »höchste Punkt« der theoretischen Philosophie erscheint als Voraussetzung, die sicn, aus der Konstruktion der Erkenntnisvermögen ergibt, und damit als Synthesis post factum, die durch die Reflexion auf ein gegebenes Erkenntnisgeschehen.nahegelegt wird, um die im Urteilen vollzogene Identifizierung zu sichern. Dann aber wäre sie selbst ein Mittel und als solches ein Vermitteltes, das nicht eine ursprüngliche Einheit repräsentieren könnte. Indem dieses Mittel als ursprüngliches Vermögen ausge-' geben wird, wird in der Reflexion auf den Erkenntnisprozeß die Reflexivität selbst ausgeblendet. In ihm ist die Reflexion gleichsam verdinglicht und in den Stillstand versetzt.
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7. Reflexion im Stillstand
Auch hier bleibt es bei der Bewertung der Angemessenheit der Naturkausalität für den Freiheitsbegriff als Bedingung der Realisierung des Vernunftprinzips. Der Prozeß der Realisierung in seiner Reflexivität für das erkennende und handelnde vernünftige Subjekt, d. h. als Weiterbestimmung seines Selbst im Erkennen und Handeln durch umgeformte, angeeignete Gegenstände als Mittel des Gegenstandsbezuges, bleibt dabei ausgeblendet. Die Reflexion, die eine solche Vermittlung der Erfahrungsstrukturen zu einem Ganzen leisten müßte, bleibt eingekapselt in die Subjektivität als Aggregat von Vermögen. Deren konkrete Einheit wird mittels besonderer Vermögen unter Absehung von der ProzeßEinheit des Erkennens und HandeIns vorausgesetzt. Die Einheit des Heterogenen in der konkreten Einheit des Erkennens und Handeins soll durch die Einheit der heterogenen Vermögen und Instanzen der Subjektivität im transzendentalen Subjekt gesichert werden. Sie wird darin gleichsam als Vermögen des Vermögenseinkönnens vorausgesetzt, auf welche Voraussetzung sich das Subjekt als ein gegebenes in empirischer Weise bezieht: In der Hierarchie der Vermögen erstarrt die Bewegung der Reflexion. Für die so vorausgesetzte Einheit selbst gibt es freilich kein Vermögen der Erkenntnis und insofern kann sie auch nicht Gegenstand der Erkenntnis sein, begründet sie doch allererst die Vermögen der Vernunft (im weitesten Sinne). Der die Erfahrung ermöglichende.Grund bleibf der Erfahrung entzogen und alle Reflexion des Subjekts in sich muß ihn verfehlen. Gleichwohl behauptet Kant, das reine Selbstbewußtsein sei als synthetische Einheit der Apperzeption der »höchsten Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß« 117 , sof~rn es als Einheit der Apperzeption kraft dieser Identität die objektive Gültigkeit der Erkenntnis sichert. Diese Identität des Selbstbewußtseins ist dasjenige Vermögen, welches die Möglichkeit synthetischer Urteile apriori aus der Struktur der Vernurift selbst erklärt; die Einheit der Vernunft als Einheit der Apperzeption ermöglicht die im Urteilen vollzogene Identifizierung als Eingriff des Erkenntnisvermögens in das, was uns die Sinnlichkeit als heterogenes Material liefert. Dieser Eingriff konstituiert Objektivität in dem Sinne, daß er die Gegenstände als Bestimmungen des identischen Selbst setzt, d. h. als erkennbare: Erkennbarkeit und Objektivität sind eins.
116
117
KdU B, LIV. KrV B, 134.
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D. Dialektik, Topik, System (Kant und Fichte)
1. Kant: Transzendentale Dialektik und topische Reflexion Der Kantische Begriff der Dialektik· bezeichnet einen Umschlagspunkt in der Entwicklung der neueren Philosophie. Einerseits nimmt er die Abwertung traditioneller Konzeptionen von Dialektik auf, wie sie sich im Gefolge des neuen Methodenbewußtseins der Philosophie durchgesetzt hatte,für das Bacons Forderung nach einem »Novum Organon« bestimmend geworden war. So ist die Dialektik als Logik des Scheins zunächst bloße Illusion, und noch härter geht Kant mit der aristotelischen Dialektik als Topik ins Gericht, der er bescheinigt, sie 118
Ebd., 422f.
Dialektik und Topik bei Kant
1. Aufklärung und Reflexion· Kant und Fichte
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tauge für »Schullehrer und Redner«, um »mit einem Schein von Gründlichkeit, zu vernühfteln, oder wortreich zu schwatzen«119. Andererseits setzte Kant den Maßstab eines neuen Verständnisses von Dialektik. Ihre negative Bewertung als illusio wird dadurch unterlaufen, daß der Schein als vernunftnotwendig erkannt wird. Diese Notwendigkeit des Scheins macht eine Dialektik unabweislich,. die als Kritik das Täuschende des Scheins aufdeckt, ohne ihn damit vernichten zu können. Kants Gliederung der »Kritik der reinen Vernunft« in Analytik und Dialektik nimmt auf den ersten Blick die aristotelische Unterscheidung von Analytik und Dialektik (Topik) im Zusammenhang des »Organon« auf. Tatsächlich aber ist die Dialektik als Logik des Scheins keine Lehre der Wahrscheinlichkeit im Sinne der aristotelischen Topik, denn Wahrscheinlichkeit ist »Wahrheit, aber durch unzureichende Gründe erkannt, deren Erkenntnis also zwar mangelhaft, aber darum doch nicht trüglich ist, und mithin von dem analytischen Teil der Logik nicht getrennt werden muß «120 • »Dialektik« meint aber auch nicht das dialektischrhetorische Blendwerk sophistischer Trugschlüsse, denn sie hat es mit einer »natürlichen und unvermeidlichen Illusion zu tun, die selbst auf subjektiven Grundsätzen beruht, und sie als objektive unterschiebt«121. Hieraus ergibt sich o die Unterscheidung der logischen Dialektik als Berichtigung falscher Schlüsse einerseits, die der aristotelischen Eristik entspricht,122 und der transzendentalen Dialektik andererseits, die als unvermeidlicher Selbstwiderspruch der Vernunft mit sich gedeutet wird: »spekulative Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauche ist an sich dialektisch«123. Kant löst sich in der Sache sowohl von dem traditionellen Verständnis von Dialektik als auch von dem traditionellen Verständnis von Topik. So scheint die Unterscheidung von Analytik und Dialektik in der» Kritik der reinen Vernunft« bloß eine äußere Reminiszenz an das »Organon« des Aristoteles zu sein. Gleichwohl ist zu fragen, ob das Festhalten an dem traditionellen Formular nicht mehr signalisiert. Das umgeprägte Topik-Verständnis der transzendentalen Reflexion als dem Vermittelnden von Analytik und Dialektik könnte auch für die Eigenart dieser Dialektik Folgen haben, die es erlauben, sie als Topik zu qualifizieren;124 hieran können Versuche anknüpfen, eine Selbstbescheidung der Dialektik auf die Topik vorzunehmen. 125 Kant nennt drei Arten von Schlüssen, durch welche die Vernunft von der bedingten Synthesis des Verstandes zum Unbedingten aufzusteigen sucht; diese führen zu »drei Titeln aller transzendentalen Ideen«126: der Einheit des denken119 120 121 122 123 124 125 126
KrV B, 324f. Ebd., 349. Ebd., 354: VgL ebd., 390. Ebd., 805. Zum Verhältnis von Dialektik und Topik vgl. Pöggeler 1970. Vgl. Bubner 1991. KrV B, 392.
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den Subjekts als Gegenstand transzendentaler Seelenlehre (psychologia rationalis), der Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung als Gegenstand transzendentaler Weltwissenschaft (cosmologia rationalis) und der absoluten Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt als Gegenstand transzendentaler Gotteserkenntnis (theologia transcendentalis)J27 Diese drei »Titel« können als loei der transzendentalen Dialektik angesehen werden. Sofern sie nicht der empirischen Synthesis des Verstandes in der Reihe der Erscheinungen entspringen, sondern »ein reines und echtes Produkt, oder Problem, der reinen Vernunft«128 sind, ist die transzendentale Dialektik als Topik keine Logik des Wahrscheinlichen, sondern eine Logik des Problematischen, die sich in dem Aufweis der Unabweislichkeit des Problemcharakters des von ihr Indizierten erschöpft. Die Ideen selbst sind nichts anderes als problematische Begriffe, die in unauflöslichenAntithesen gefangen bleiben. In der Antithetik der (psychologischen) Paralogismen, (kosmologischen) Antinomien und (theologischen) Ideale zeigt sich, Kant zufolge, die Unmöglichkeit, im Schluß von dem Bekannten und Erkennbaren (d. h. Bedingten) auf das Unbekannte (d. h. das Bedingende als das Unbedingte) zu einer Erweiterung der Erkenntnis der Realität an sich fortzuschreiten. Damit wird der traditionelle Begriff einer topischen Dialektik als ars inveniendi zurückgewiesen und eine prinzipielle Grenze objektiv gültigen Wissens behauptet. Indem die dialektische Opposition der widersprechenden Sätze sich logisch nicht auflösen läßt" d. h. nicht die Wahrheit des einen gegenüber dem anderen erwiesen werden kann, können beide (wie z. B. in den mathematischen Antinomien) als falsch bzw. (wie in den dynamischen Antinomien) als richtig angesehen werden. Die Gegen-Sätze der dialektischen Oppositionen zielen auf etwas, das in der Erfahrung nicht vorkommt und mithin kein Gegenstand objektiv gültigen Wissens sein kann. Weil aber die Einsicht in die Bedingtheit eine Beziehung auf das Unbedingte als ihr Bedingendes unabweisbar macht, ist es für die Vernunft eigentümlich und notwendig, über die Grenze der Erfahrung hinauszugehen und auf eine absolute Totalität der Synthesis der Bedingungen im Unbedingten zu zielen. In der »Kritik der reinen Vernunft« ist dies die Synthesis der Bedingungen eines Gedankens überhaupt, des empirischen und reinen Denkens; in der »Kritik der praktischen Vernunft« die Totalität der Bedingungen zu 0 einem gegebenen Bedingten und in der »Kritik der Urteilskraft« die Bedingung der Prinzipien der Kritik des Geschmacks. In allen Fällen geht es darum, die Totalität der Vernunft als Einheit ihrer Momente im Rückgang auf ihren Grund zu erfassen. Weil aber ein objektives Wissen dieses' Grundes nicht statthaben kann, vermag die Vernunft das Bedingende des Bedingtseins im Unbedingten nicht zu geben, sondern nur als Problem aufzugeben, welches in problematischen Begriffen (Ideen) bestehen bleibt. Die Ideen sind Schein, sofern sie über die Erschei127 128
Vgl. ebd., 390ff. Ebd., 392.
1. Aufklärung und Reflexion· Kant und Fichte
Fichte: Das Unbedingte im Vvissen und die Reflexion
nung hinausgehen zu dem abgespaltenen Territorium des Ansieh, an dessen Verschlossenheit für die Erkenntnis die Vernunft abprallt und sich als subjektive reflektiert. Der Schein der transzendentalen Dialektik ist die Reflexion des Bedingten am Unbedingten, und er ist notwendiger Schein, sofern das Bedingte als bedingte Subjektivität sich aller erst in der Beziehung auf ein Unbedingtes zu erfassen vermag. Nun ist es aber nicht das In-sich-reflektiert-Sein von Bedingendem (Unbedingtem) und Bedingten, das Kant zum Thema seiner Dialektik macht; er faßt vielmehr den Schein als notwendiges Produkt einer bloß subjektiven, äußerlichen Reflexion auf, die bei dem Versuch der Vernunft, sich als Totalität zu erfassen, mit der Erscheinung die Grenze objektiv gültigen Realitätsbezugs _überschreitet. Dem liegt eine implizite Unterscheidung des die Erscheinungen bedingenden Ansich und des bedingenden Unbedingten zugrunde. Dasjenige, was in der Beziehung auf das Unbedingte zu erscheinen scheint, hat nicht den Charakter eines Erscheinenden, sondern ist Scheinen der Subjektivität in sich. Der notwendige, dialektische Schein ist nicht der negative Vorschein eines Unbedingten, sondern Reflex des Bedingten (der Subjektivität) in sich. Hatte die transzendentale Topik die Reflexionsbegriffe hinsichtlich ihres Sitzes im Erkenntnisvermögen und dort letztlich als (logisches) Verstandesobjekt und Erscheinung unterschieden, so unterscheidet die dialektische Topik in letzter Konsequenz die problematischen Begriffe (Ideen) hinsichtlich ihres Geltungsanspruchs für Erscheinungen und Dinge an sich. Als regulative, nicht konstitutive Prinzipien sind sie der Vernunft immanent, ohne sich· auf ein außer ihr Liegendes zu beziehen. Nur nebenbei sei bemerkt, daß die vier »Titel« der transzendentalen Topik in einem wesentlichen Verhältnis zu den drei »Titeln« der transzendentalen Ideen stehen, am auffälligsten im vierten Titel (Materie und Form), der in der theologia transcendentalis aufgenommen wird, während (1) und .(2) - Einerleiheit und Verschiedenheit, Einstimmung und Widerstreit - in den mathematischen und dynamischen Antinomien wiederkehren und (3) - Inneres und _Äußeres - die Folie für die Paralogismen der reine!! Vernunft abgibt, sofern sie das transzendentale Subjekt zu substantiieren versuchen. Auch hieran läßt sich erkennen, daß die transzendentale Topik in der dialektischen bloß erweitert wird. Sie wird zur Dialektik als Logik des problematischen Scheins genau dann, wenn die subjektiv verfaßte Vernunft aus notwendigen Gründen ihrer Selbsterfassung logischen Verstandesobjekten eine ansichseiende Realität jenseits der Erfahrung zuzuweisen in Gefahr gerät. Systematisch liegt die Dialektik der transzendentalen Topik zugrunde, denn.in ihr werden die Bedingungen der Möglichkeit von· Erfahrung auf das Unbedingte als das an sich Bedingende bezogen. Entsprechend ist das Verfahren der transzendentalen Dialektik mit dem der topischen Reflexion wesentlich identisch: sie ist die Vergleichung antithetisch strukturierter Sätze hinsichtlich ihres Ortes nicht im Erkenntnisvermögen, sondern hinsichtlich der Immanenz und Transzendenz der Erkenntnisvermögen überhaupt. Indem sie die transzendente Geltung dieser Sätze für
Dinge an sich bestreitet, führt sie diese auf die immanente Verfaßtheit der Vermögen zurück und macht sie als bloß subjektiv gültige kenntlich, denen keine erkenntnis konstitutive Funktion zukommt.
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2. Fichte: Das Unbedingte im Wissen und die Reflexion Der Zusammenhang von Dialektik und Reflexion b~i Kant eröffnet ein Problemfeld, dessen sich die Philosophie des deutschen Idealismus von verschiedenen Positionen und Seiten aus annehmen wird. Innerhalb des transzendentalphilosophischen Paradigmas bestimmend ist dabei Fichtes Versuch, das Unbedingte im Wissen selbst festzumachen und auf diesem Wege das Ding an sich als ein gleichgültiges Jenseits des Wissens und Handelns aus dem Bedingungsgefüge herauszunehmen. Sollte, so Fichte in der Rezension des Aenesidemus (1794), »sich etwa in der Zukunft entdecken; daß das unmittelbar gewisseste: Ich bin, auch nur für das Ich gelte, daß alles Nicht-Ich nlJr für's Ich sey [ ... ]: so würde daraus hervorgehen, daß ein Ding an sich [ ... ] wirklich und an sich so beschaffen sey, wie es von jedem denkbaren intelligenten Ich, d. i. von jedem nach dem Satze der Identität und des Widerspruchs denkenden Wesen gedacht werden müsse; daß mithin die logische Wahrheit für jede der endlichen- Intelligenz denkbare Intelligenz zugleich real sey, und daß es keine andre gebe, als jene«129. Das Ansich wird zur leeren Abstraktion eines Denkens, das davon absieht, daß es, um zu denken und denkend zu abstrahieren, schon immer um sich als Denken wissen muß. Dieses Selbstbewußtsein ist für die Reflexivität des Erkennenden und Er- 0 kannten das eigentlich Begründende und Bedingende. Was bei Kant als bloße Subjektivität der Vernunft erschien, wird nun emphatisch zum absoluten Ich aufgewertet: -»so viel wir uns das Selbstbewußtseyn Gottes denken können, ist Gott selbst für Gott subjectiv«130. Die »Idee der Gottheit« will die Synthesis aller empirischen Entgegensetzung, d. h. absolute Synthesis: »Ein Ich, das durch"seine Selbstbestimmung zugleich alles Nicht-Ich_bestimme«131. Diese absolute Synthesis freilich ist empirisch-endlich nicht vollziehbar, sondern nur als unendliches Cl Streben, bei dem durch das »intelligente Ich« - d. h. das empirische Ich - »dasZiel desselben außer ihm vorgestellt wird«, welche Vorstellung als Glaube (an Gott) qualifiziert ist, aber darum nicht als »wahrscheinliche Meynung«, sondern unmittelbar gewiß wie das »Ich bin«132, Im Blick auf Kants Theorie der Dialektik und besonders die Funktionen des transzendentalen Ideals und des Postulates Gottes heißt dies, daß ihnen weder
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AA 1, 2, 62. Ebd., 66. Ebd., 65. Ebd.
System aus einem Grundsatz
1. Aufklärung und Reflexion . Kant und Fichte
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der Charakter des Wahrscheinlichen nach den Regeln der aristotelischen Topik, noch des Problematischen nach den Regeln der Kantischen Dialektik zukommt, sondern der Status unmittelbarer Gewißheit eines Unmittelbaren. Dieses liegt.als o absolute Synthesis der reflektierenden Tätigkeit zugrunde, kann von ihr aber auf dem Wege der Reflexion nicht erfaßt werden. Fichte selbst verweist auf die Identität dieser Gewißheit mit der intellektuellen Anschauung des Ich. Das Ich ist in der intellektuellen Anschauung, »weil es ist, und ist, was es ist; so ist es insofern sich selbst setzend, schlechthin selbstständig, und· unabhängig«133. Diese Autonomie des (absoluten) Ich freilich wird konterkariert durch das Bedingtsein des Ich im empirischen Bewußtsein, das in einer Beziehung auf Intelligibles steht. Sofern das Unbedingte der intellektuellen Anschauung als Voraussetzung der Reflexionsleistungen des Ich als Intelligenz (des empirischen Ich) für dieses unabweisbar ist, steht es in einem Widerspruch von Bedingen und Bedingtsein, Selbständigkeit und Unselbständigkeit, Freiheit und Abhängigkeit. Hieraus resultiert das Streben, »das Intelligible von sich selbst abhängig zu machen, um dadurch das, dasselbe vorstellende Ich, mit dem sich selbst setzenden Ich zur oEinheit zu bringen«134 - und dies ist die praktische Vernunft als das Praktischsein , der Einen Vernunft in der (unendlichen) Vereinigung des reinen und empirischen Ich. Unter der Voraussetzung des Unmittelbaren im Wissen wird die topische Dialektik als Logik des Problematischen durch einen dynamischen Reflexionsbegriff als Logik einer sich praktisch realisierenden Vernunft abgelöst. Das Unbedingte im Wissen, wie es als absolutes Ich modelliert wird und durch die intellektuelle Anschauung einsehbar sein soll, ist zugleich das antizipierte Ziel o eines Prozesses, in dem theoretische und praktische Vernunft in eins aufgehoben sind. Die Verschmelzung von theoretischer und praktischer Vernunft ist auch als Konsequenz der Ablösung von der (topischen) Dialektik Kants aufzufassen. Dieser hatte in den dynamischen Antinomien einen Widerspruch von Freiheit und Determiniertheit aufgestellt, in dem sich das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft innerhalb der theoretischen Vernunft reproduzierte, und indem beide Sätze im regulativen Gebrauch wahr sein konnten, verwies die theoretische auf die praktische Vernunft. Die Eliminierung der problematischen Denkfigur durch die unmittelbare Gewißheit eines Geglaubten, d. h. Antizipierten, wie Fichte sie vornimmt, gibt dieser Antinomie Realität im Widerstreit des Endlichen und erzeugt daraus das treibende Motiv einer praktischen Synthesis, in der sich beide Seiten des Widerspruchs bewegen können. Hierin allerdings wiederholt Fichte, wenn auch auf einer wesentlich veränderten Grundlage, den bei Kant präformierten dialektischen Dreischritt von thesis, antithesis und synthesis, wobei - wie auch bei Kant - die Synthesis keine reelle ist, welche die Widersprüche in sich aufhebt und »löst«, sondern nur die Form, unter der aufgrund der 133
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Ebd. Ebd.
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Anerkennung des Widerspruchs momentane Verträglichkeitsbedingungen der einander ausschließenden Seiten formuliert werden können. Im Unterschied zu Kant freilich werden diese Verträglichkeitsbedingungen nicht in besonderen, auf der Landkarte der Vernunft aufzufindep.den Vermögen fixiert, sondern als Momente eines Reflexionsgeschehens bestimmt, in dem sich der Widerspruch ebenso partiell löst wie er sich auch immer wieder erneuert und darin unendlich macht.
3. System aus einem Grundsatz Mit dieser Konsequenz ist die Rationalität in die des absoluten Ich in seiner Unmittelbarkeit einerseits und die des empirischen Ich als Moment einer in sich widersprüchlichen Reflexions-Einheit andererseits auseinandergetreten. Gleichwohl beansprucht Fichte eine im obersten Grundsatz der »Wissenschaftslehre« begrundete systematische Kohärenz, welche das Problem der Vermittlung der Rationalität in sich aufgibt. Dieser Anspruch wird von Fichte in seiner Schrift »U eber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie«135 in aller Deutlichkeit formuliert. Er knüpft dabei unmittelbar an Karl Leonhard Reinhold an, der den unendlichen Regreß des Begründens in einem Prinzip als »Fundament des philosophischen Wissens« auffangen und von dorther »Philosophie als strenge Wissenschaft« durchführen wollte. 136 Diesem Programm entsprechend heißt es bei Fichte: »Eine Wissenschaft hat systematische Form; alle Sätze in ihr hangen in einem einzigen Grundsatze zusammen, und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen«137. »System« bedeutet hier die Mitteilung der Gewißheit durch einen Grundsatz, der vor und unabhängig von aller Verbindung der Sätze gewiß ist,an heterogene Sätze, die »eben dadurch daß sie alle - Gewißheit, und die' gleiche Gewißheit hätten, nur Eine Gewißheit gemein haben, und dadurch nur Eine Wissenschaft werden«138. Erst im System erhalten die für sich nicht gewissen Sätze Gewißheit und somit ist die systematische Form Mittel, nicht Zweck der Wissenschaft; der Zweck ist die Gewißheit des Grundsatzes als sein innerer Gehalt, den er den anderen Sätzen mitteilt, und die 'Art der Mitteilung ist die Form der Wissenschaft. Die Wissenschaftslehre, die als Wissenschaft der Wissenschaft, d. h. als vollendetes Wissen des Wissens, an die Stelle der Philosophie tritt, hat als Wissenschaft den Zusammenhang von Gehalt und Form zum Inhalt und selbst systematische Form. Der innere Gehalt ihres Grundsatzes aber muß absolut sein, denn sonst wäre sie nicht oberste Wissenschaft, sondern selbst einer Begründung durch eine andere Wissenschaft bedürftig, und dieser Gehalt muß,
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1794; 21798.
136
Vgl. Philosophie aus einem Prinzip, 1974.
137 AA 1,2, 112; zum Systemcharakter der frühen Wissenschaftslehre vgl. Schurr 1974; Radermacher 1970, 39ff. 138 AA 1, 2, 114.
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I. Aufklärung und Reflexion· Kant und Fichte
da er die Vollständigkeit der Form alles Wissens begründet, mit der Form identisch sein. Alles Wissen wird an die Gewißheit eines obersten Grundsatzes geknüpft, der allen anderen Sätzen Gewißheit mitteilt und dadurch erst Wahrheit gibt. Dieser o ist in seiner Unmittelbarkeit einer nichtreflexiven, selbst unmittelbaren Selbsterfassung des Wissens zugänglich, welche das Ganze der Gewißheit darstellt. Dasjenige, was durch diesen Grundsatz begründet wird, ist nur ein äußerlich Hinzukommendes, welches erst in der wesentlichen Einheit mit dem Begründenden, d. h. durch Teilhabe an der Unmittelbarkeit, zum Wissen wird. Der oberste Grundsatz liegt aber dem Zusammenhang des Wissens so voraus, daß das Wissen als ein unmittelbares nicht aus dem Zusammenhang herleitbar ist; selbst eine vollständige Induktion könnte den Beweis der Einheit des Wissens nur innerhalb des Bedingten führen und würde daher der Aufgabe der Philosophie kein Genüge tun,139 denn sie könnte nicht zum Unbedingten im Wissen aufsteigen. Umgekehrt aber muß der unbedingte Grundsatz so beschaffen sein, daß er einen vollständigen systematischen Zusammenhang des Wissens zu begründen vermag. Die Forderung der Vollständigkeit geht darauf, »daß der Grundsatz, von welchem wir ausgegangen wären, auch das letzte Resultat sey«140. Die formale Vollständigkeit und Vollkommenheit eines solchen Kreislaufs hat aber Wahrheitsgehalt nur dann, wenn der Grundsatz als absoluter schlechthin gewiß ist und es keinen anderen neben ihm geben kann. Hier findet, Fichte zufolge, ein unvermeidlicher Zirkel statt, »aus dem der menschliche Geist nie herausgehen kann«: »Wenn der Satz X erster höchster und absoluter Grundsatz des menschlichen Wissens ist, so ist im menschlichen Wissen ein einiges System [ ... ]: Da nun im menschlichen Wissen ein einiges System seyn soll, so ist der Satz X, der wirklich (laut der aufgestellten Wissenschaft) ein System begründet, Grundsatz des menschlichen Wissens überhaupt, und das auf ihn gegründete System ist jenes einige System des menschlichen Wissens«141. Zu verlangen, daß dieser Zirkel vermieden werde, bedeutet für Fichte, zu verlangen, »daß das menschliche Wissen völlig grundlos sei«, d. h., wie er in der zweiten Auflage hinzufügt, »daß es überhaupt keine unmittelbare, sondern nur vermittelte Wahrheit gebe - und ohne etwas, wodurch sie vermittelt wird«142. Q Der Zirkel bezeichnet eine systematische Grundfigur des Fichtesehen Idealismus: er ist Ausdruck der Unmittelbarkeit des obersten Grundsatzes, welche verlangt, daß die Gewißheit des Wissens in ihrer systematischen Entfaltung als Totalität des Wissens u~mittelbar bei sich bleibt. Dem scheint entgegenzustehen, daß das Handeln aus Freiheit, wie es die Wissenschaftslehre aufstellt, in den besonderen Wissenschaften bestimmt wird. Diese Bestimmtheit freilich bleibt dem
Unmittelbarkeit und Reflexion
System des Wissens äußerlich, denn der »Gegenstand dieser freien Handlungen könnte nun kein andrer seyn, als das durch die Wissenschaftslehre überhaupt gegebene Nothwendige, da nichts vorhanden ist, das sie nicht gegeben hätte, und es überall nichts giebt, als das Nothwendige«143. Insofern kann Fichte sagen, die »besondre Wissenschaft« gebe »der Freiheit ihre Bestimmung«144; sie ist das Feld, auf dem sich die vorausgesetzte Unmittelbarkeit als Freiheit realisiert und darin bestimmt. So besteht die Naturwissenschaft als Vergleichung der in der Erfahrung gegebenen Gegenstände mit den in unserem Geiste gegebenen Naturgesetzen durchgängig aus Experimenten, »die man sich willkürlich aufgiebt, und denen die Natur entsprechen kann oder nicht«145. Zwar steht im Experiment die Urteilskraft unter einer Regel- der der Vergleichung -, aber diese Regel ist nur die Bestimmung der Freiheit im an sich freien, d. h. willkürlichen Experiment. Im Experiment sucht die Freiheit aus freien Stücken ihre Bestimmung, und darum bleibt sie darin auch auf unendliche Weise frei, sich als Freiheit in der unendlich fortgehenden »Perfektibilitätdes menschlichen Geistes«146 zu realisieren.
4. Reflexion als Repräsentation eines Unmittelbaren
Diese Struktur wird in der Betrachtung des Verhältnisses von Wissenschaftslehre und Logik als einer besonderen Wissenschaft147 näher als Reflexion bestimmt. Logik ist Abstraktion, d. h. »freie Absonderung der bloßen Form vom Gehalte«148, wodurch die Form als Form Gehalt der Logik wird und dieser Gehalt wieder unter die Form der Wissenschaftslehre gestellt wird: »Diese zweite Handlung der Freiheit, durch welche die Form zur Form der Form selbst, als ihres Gehalts wird, heißt Reflexion«149. Dieser Begriff der Reflexion ist, wie Fichte durch zahlreiche Hinweise deutlich macht, an Kants Begriff der reflektierenden 0 Urteilskraft orientiert, die das Besondere als enthalten im Allgemeinen nach teleologischen Prinzipien denkt. Vor diesem Hintergrund ist Reflexion das Nachgängige. einer Abstraktion, in der das Besondere aus dem Zusammenhang des Allgemeinen isoliert wurde; das Tun der Reflexion besteht dann darin, dieses Besondere wiederum auf das Allgemeine zu beziehen. Unter der Voraussetzung einer ursprünglichen, notwendigen Einheit des Wissens heißt dies, daß Reflexion schon immer ein Produkt der Trennung von jener ursprünglichen Einheit ist; hierin ist die für die Philosophie des deutschen Idealismus folgenreiche Gleich-
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Vgl. ebd., 129f. Ebd., 13I. Ebd., 133.
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Ebd.
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Ebd., 134. Ebd. Ebd., 136. Ebd. AA 1, 2, 137.
Ebd., 138; 2. Auflage. Ebd.
I. Aufklärung und Reflexion . Kant und Fichte
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setzung von »Reflexion« mit »TrennunglEntgegensetzung« präformiert, an welche die vereinigungsphilosophischen Konzepte anknüpfen. Sofern nun die Wissenschaftslehre selbst als Wissenschaft betrachtet wird, ergibt sich hieraus ein schwerwiegendes Problem. Ihr Objekt sind die Handlungen des menschlichen Geistes (Gehalt), wie sie auf eine bestimmte Weise (Form) »vor unserem Wissen« gegeben sind, wodurch, »wenn alle diese Handlungen unter sich zusammenhangen, und unter allgemeinen, besondern und einzelnen Gesetzen stehen, für die etwanigen Beobachter auch ein System vorhanden«15o wäre. Zu diesem ursprünglichen, unmittelbar gegebenen System des Wissens verhält sich die Wissenschaftslehre, »in so fern sie eine systematische Wissenschaft seyn soll, gerade so, wie alle möglichen Wissenschaften, in so fern sie systematisch seyn sollen~~151, d. h. sie gründet in einer Handlung der Freiheit, »welche letztre hier insbesondre bestimmt ist, die Handlungsart des menschlichen Geistes überhaupt zum Bewußtseyn zu erheben«152. Diese freie Handlung ist Reflexion und Abstraktion zugleich. Sie ist Reflexion, sofern die notwendige Handlung der Intelligenz, die »an sich Form ist, [ ... ] als Gehalt in eine neue Form die Form des Wissens, oder des Bewußtseyns aufgenommen«153 wird. Sie ist Abstraktion, sofern jene Handlungen »von aller Vermischung rein aufgestellt« werden. Da nun die Form des Bewußtseins, in welche die ansichseiende Form der Handlung der Intelligenz als Gehalt aufgenommen wird, selbst notwendige Handlungsart der Intelligenz als Form ist, ist die Form der Wissenschaftslehre von einer ausgezeichneten ursprünglichen Reflexivität: sie ist, als Form, die Form der sich zum Gehalt machenden Form der ursprünglichen Handlungsweise der Intelligenz. Indem Form und Gehalt im apriorischen Vor-Wissen des menschlichen Geistes »unzertrennlich verbunden«154 sind, heißt dies: indem sich die Form als Gehalt auf sich als Form bezieht, bezieht sie sich in der Wissenschaftslehre in der Weise auf sich, wie es in ihrer ursprünglichen Unmittelbarkeit bereits der Fall war .. Damit aber wäre die Unterscheidung des Apriorischen, welches als das dem Wissen Vorhergehende erst in das Wissen aufgenommen werden soll, von dem Wissen der Handlungsweise der Intelligenz nicht mehr durchzuhalten: »Soll die nothwendige Handlungsart des menscplichen Geistes an sich in die Form des . Bewußtseyns aufgenommen werden, so müßte sie schon als solche bekannt seyn, sie müßte mithin in diese Form schon aufgenommen seyn, und wir wären in einem Zirkel eingeschlossen«155. Dieser Zirkel ist prinzipieller Natur, denn er bezeichnet das Prinzip des Wissens so, daß es ein unmittelbares ist, das in seiner Unmittelbarkeit dem Wissen vor., hergeht, aber als der Grund des Wissens vonihm nicht in der Weise des Wissens 150 151 152 153 154 155
Ebd., Ebd., Ebd. Ebd. Ebd., Ebd.,
Unmittelbarkeit und Reflexion
gewußt werden kann. Die Reflexivität der sich als Form zum Gehalt machenden Form wäre dann auch nur der Reflexionsausdruck einer ursprünglichen Unmittelbarkeit, d. h. Vorstellung (repraesentatio) eines Geschehens, die in einer uneinholbaren Differenz zu diesem Geschehen selbst steht. In dieser Repräsentation geht die Reflexion mit ihrem Grund zusammen, ohne ihn reflektierend einholen zu können. Sie geht mit ihm zusammen, sofern die Reflexion, »in so fern sie nach Gesetzen vorgenommen wird [ ... ] auch zu den nothwendigen Handlungen des menschlichen Geistes«156 gehört. Als Reflexion aber fehlt ihr der Beglaubigungsgrund ihres Wissens, der ihr als ein Unmittelbares vorhergeht. Die Übereinstimmung des Vorausgesetzten einerseits und des Gefundenen andererseits im Vollzug der Wissenschaftslehre als System beweist nicht die Richtigkeit der im Medium der Reflexion vorgetragenen Folgerungen, denn sie ist »nur ein negativer Beweiß, der bloße Wahrscheinlichkeit begründet«157. Da dieÜbereinstimmung durch unrichtige Folgerungen entstanden sein kann (wie in der Mul- . tiplikation als Probe auf die Division der gleiche Fehler wie in der Division unterlaufen kann, So daß er als Fehler nicht hervortritt), so kann die abbildliche Darstellung des Systems des menschlichen Geistes, das als solches »absolut gewiß und infallibel« ist, zwar immer wahrscheinlicher gemacht und perfektioniert werden, »aber nie darf man auf Infallibilität Anspruch machen«158. Das Denken als Reflexion ist rekonstruierendes Denken, welches im Ausgang von einem absolut-ersten Grundsatz in der Rekonstruktion selbst die Voraussetzungen des Rekonstruierens, deren es sich immer schon bedienen muß, nur -schrittweise einholt. Die Form eilt daher dem Stoff beständig voran und Dargestelltes und Darstellung bilden zwei notwendig verschiedene Reihen, sofern in dem Dargestellten nichts Unerwiesenes vQrausgesetzt wird, was in der Darstellung notwendig geschehen muß. Die Einheit von Form (Darstellung) und Gehalt (Dargestelltem) ist daher, abgesehen von dem obersten Grundsatz, immer nur relativ und insofern fallibel. Die Reflexion als Vorstellen oder Repräsentieren ist die »höchste und absoluterste Handlung d~s Philosophen, als solchen«, woraus aber nicht folgt, daß das Vorgestellte oder Repräsentierte »auch nur ein Vorstellen seyn werde«. Vielmehr muß das Ich als Ich, das die Reflexion zum Objekt macht, schon darum mehr sein als das vorstellende Subjekt der Reflexion, »weil sich die Vorstellung vollkommen erschöpfen läßt, und ihr Verfahren durchgängig nothwendig ist; mithin einen letzten Grund seiner Nothwendigkeit haben muß, der als letzter Grund keinen höhern haben kann«159. Die polemische Spitze dieses Arguments zielt auf Reinholds »Elementarphilosophie«, welche dieser im Ausgang von seinem »Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens« (1789) entwickelt
14l. 142. 156 157
14l. 142.
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Ebd., 144. Ebd. Ebd., 146: Ebd., 149.
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1. Aufklärung und Reflexion . Kant und Fichte
hatte. Darin hatte er - durch den Aufweis der Beziehung von Vorstellung, Vorstellendem und Vorgestelltem im Bewußtsein - dc:n Begriff der Vorstellung als systematischen Grund der Transzendentalphilosophie reklamiert. Das Vorstellen aber ist für Fichte als Prinzip des Wissens deshalb untauglich, weil es mit der Reflexion identisch ist, die als Vorstellen die Differenz zum Vorgestellten nicht zu überspringen vermag.
5. Fichtes Konzeption der Reflexion und die topische Dialektik
Fichtes Begriff der Reflexion, wie er in dem systematischen Aufriß seines Projekts einer Wissenschaftslehre hervortritt, geht auf die Abbildlichkeit des Wissens als Reflex oder Widerspiegelung ~ines Unmittelbaren als Grund des Wissens, welche Unmittelbarkeit aber nicht die eines Ansieh der Erscheinung im Status eines trans~endentalen Objekts ist. Da Objektivität überp.aupt für Fichte prinzipiell intelligibel und insofern potentiell Gewußtes ist, andererseits aber das Gewußte in der dem Wissen möglichen Weise als Vorstellen gewußt werden muß, um intelligibel zu sein, fällt es in den Bereich des Wissens als Vorstellen oder der Reflexion, als welches es nicht Grund des Wissens sein kann. Der Grund des Wissens kann nur ein solches Unmitte~bares sein, das im Wissen als Unmittelbares, d. h. weder als Vorstellendes noch als Vorgestelltes, auf unmittelbare Weise präsent ist. Die Reflexion setzt ein Unmittelbares voraus, um sich als Wissen des Wissens darstellen zu können. Sie ist so in einem eminenten Sinne äußere Reflexion, ohne daß diese Äußerlichkeit nur die eines Unmittelbaren für die Reflexion wäre. Die Unmittelbarkeit, die hier unmittelbar vorau,sgesetzt wird, ist vielmehr die Unmittelbarkeit an und für sich als Einheit der Form und des Gehalts im Grund des Wissens, eine Unmittelbarkeit, die positive Bedeutung hat und nicht nur das von der Reflexion nicht Gesetzte bezeichnet. Äußere Reflexion heißt daher: sie bleibt sich selbst äußerlich als Reflexion eines Sichereignens von Wissen, in dem die Reflexion notwendig aus der Unmittelbarkeit ihres Grundes hervorgeht. Sie reflektiert sich selbst nur als entäußerte in der Äußerlichkeit gegenüber ihrem Grund, weshalb sie nur den Status eines falliblen Wissens hat, das auch in seiner systematischen Vollendung nur Wahrscheinlichkeit beanspru~ ehen kann. In dieser Hinsicht ist das System der Wissenschaftslehre in einem traditionellen Sinne dialektisch als Topik eines Sichereignens von Wissen, worin Dialektik und transzendentale Reflexion unter dem Titel der Reflexion zur Dekkung kommen. Als äußere verfährt diese Reflexion komparativ: sie vergleicht Sätze hinsichtlich ihres notwendigen Zusammenhangs untereinander, der daraus folgt, daß sich in ihnen die Gewißheit eines obersten, unbedingten Grundsatzes mitteilt und in der Vollständigkeit des Zusammenhangs erschöpft. Fichte versucht, die Totalität der Vernunft in der Einheit ihrer Momente als Prozeß'aufzuweisen und begibt sich damit, von Kant aus gesehen, auf das der transzendentalen Dialektik eigentümliche Feld, sofern er die Beziehung alles
Reflexion und topische Dialektik
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Wissens und Handeins auf das Unbedingte, den unbedingten Grundsatz der Wissenschaftslehre, zum Ausgangs.:. und Bezugspunkt aller Leistungen der Vernunft und ihrer Vermittlung zur Totalität des Vernünftigen macht. Systematisch freilich führt dieser Versuch auf einen unvermittelten Gegensatz. Soweit die Reflexion an eine Unmittelbarkeit gebunden wird, befestigt Fichte ihren bloß topischen Charakter. Soweit sie aber als Prozeß thematisch wird, wird das topi- D sehe Verfahren tendenziell unterlaufen und sie wird zur Selbstreflexion der Vernunft im Prozeß ihrer Realisierung. In diesem Sinne ist vielfach von einer eigentümlichen Dialektik Fichtes die Rede gewesen,160 die sich nicht darin erschöpfe, Wegbereiter derjenigen Systeme zu sein, die im gemeinen philosophiehistorischen Bewußtsein den Titel der Dialektik okkupiert haben. Dabei wird Fichte sogar zum Urheber und Vollender moderner Dialektik stilisiert. 161 Mag dies auch überzogen sein, so bleibt doch'festzuhalten, daß Fichte in der energischen Wendung auf diejenige Problematik, die Kants Theorie der Dialektik zugrundelag, das Problem des Zusammenhangs von Dialektik und Reflexion auf neue Weise in den Blick bringen konnte. ' Wenn überhaupt von einer Dialektik in dem Projekt der Wissenschaftslehre die Rede sein kann, so ist diese Dialektik die der Totalität des darin Dargestellten. Diese Dialektik indes ist nur die Logik des Wahrscheinlichen als der Vorschein eines Wahren, das sie nicht zu erreichen vermag. Zwingend ist allein die systematische Form des Wahrscheinlichen, denn diese gründet in der vorausgesetzten unmittelbaren Einheit von Form und Gehalt. Die Reflexion als topische Dialektik im Modus der Wahrscheinlichkeit ist um so wahrscheinlicher, je mehr sie diese Einheit repräsentiert. Diese Dialektik der Reflexion als Scheinen der Wahrheit oder des Wesens in sich)n der und durch die Erscheinung ist es, 'die schließlich von Hegel zum Begriff der Dialektik erhoben wird. Ihr Grundproblem bleibt bei Fichte in der Zweideutigkeit der Grundsätze der Wissenschaftslehre erster Fassung (1794/95) unterbestimmt, indem die Frage nach der Herkunft der Disjunktion bzw. des Scheins der Reflexion als Entgegensetzung ausgeblendet bleibt, auf die erst die späteren Fassungen mit dem Begriff eines ichlosen Absoluten eine spezifische, transzendentalphilosophisch begründete Antwort zu geben versuchen. Dagegen freilich steht in der ursprünglichen Fassung der Wissenschaftslehre die Verheißung eines evidenten Systems , das auch in der Darstellung bis an die Grenze der Gewißheit wahrscheinlich zu machen sei. Dieser Systemanspruch, wie er in der Programmschrift »Über den Begriff der Wissenschaftslehre« vorgetragen wurde, hatte die transzendentalphilosophisch-kritizistische Erkenntnisrestriktion auf die nicht mit letzter Gewißheit auszuschließende Fallibilität der Darstellung im einzelnen heruntergeschraubt. Hieran wurde die Durchführung der Wissenschaftslehre von den Zeitgenossen allererst gemessen.
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Vgl. z. B. Hartkopf 1967; Radermacher 1968; Hammacher 1980. Lauth 1988.
H. UNMITTELBARKEIT UND REFLEXION
Fichtes Wissenschaftslehre setzte Prozesse in Gang, die sogleich über sie hinaustrieben. Auf dieser Wirkung beruht die gängige Genealogie »von Kant zu Hegei«!, welche sich auf entsprechende Zeugnisse der Zeitgenossen stützen kann. 2 Dabei wurde Fichte freilich dem theoretischen Paradigma der Kantischen Philosophie zugeschlagen und zusammen mit dieser noch einmal mit der »vormaligen« Metaphysik konfrontiert. So konnten auf diesem theoretischen Feld auch Positionen mit den Ergebnissen einer Fichte-Kritik konvergieren, die sichwie diejenigen Schleiermachers und zum Teil auch Friedrich Schlegels - nicht einem »Fichte-Erlebnis« verdankten. Daß dabei Fichtes eigene Intentionen vielfach auf der Strecke blieben, kann kaum überraschen. 3 Gleichwohl hilft es im Blick auf die Diskussionszusammenhänge der Epoche wenig, den Rezipienten ein Mißverstehen der Intentionen nachzuweisen,4 ging es ihnen doch vor allem um den Anspruch der Wissenschaftslehre auf systematische Kohär.enz, den Fichte selbst zeitlebens in der Überzeugung vorgetragen hatte, die Kantische Vernunftkritik vollendet und auf festen Boden gestellt zu haben. Diese Selbststilisierung wurde weithin akzeptiert - selbst dort, wo der transzendentalphilosophische Ansatz insgesamt aus systematischen Gründen als überwunden galt - und bildete eine notwendige Quelle von Mißverständnissen. Diese konnten sich gleichwohl an ZweideutigkeiteIJ- der Wissenschaftslehre in ihrer ursprünglichen Fassung festmachen, welche Fichte selbst zu immer neuen Darstellungsversuchen veranlaßten, die schließlich auf die radikal veränderte Konzeption eines ichlosen Absoluten führten. Fichtes Versuch einer prinzip'ientheoretischen Radikalisierung Kants erwies 0 sich als Sprengsatz an der transzendentalphilosophischen Restriktion des Erkennens, die Kant zum Angelpunkt seiner kritischen Bemühungen gemacht hatte. Damit aber schlug in der Wirkung Fichtes Kantkritik auf das Projekt der Wissensehaftslehre zurück. Die systematische Verknüpfung heterogener Erkenntnisvermögen durch die Philosophie aus einem Prinzip rückte die Einheit der Momente des wirklichen Erkenntnisprozesses in den Blick und ineins damit dasjenige, was von Kant im Jenseits der Erscheinungen gelassen worden war. Fichtes erste Fassung der Wissenschaftslehre wurde sogleich als Entgrenzung des Erkennens gegenüber Kant verstanden. Als ein prominenter Beleg mag der Kroner 1921.1924. Vgl. z. B. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ed. J aeschke, Teil 4, 149ff.; Schelling: Zur Geschichte der neuern Philosophie, Werke 1, 10, 1-200; F. H. Jacobi an Fries, 26.11.1807, in: Henke 1937, 31Of. 3 Vgl. - im Blick auf Hegel- Beyer 1962; Gimdt 1965; Siep 1970. 4 Vgl. Lauth 1987. . 1 2
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II. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
vielzitierte Brief Hölderlins an Hegel vom 26. 1. 1795 dienen: »Fichtens spekulative Blätter - >Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre< - [ ... ] werden Dich sehr interessieren. Anfangs hatt' ich ihn sehr in Verdacht des Dogmatismus; er scheint, wenn ich mutmaßen darf, auch wirklich auf dem Scheidewege gestanden zu sein oder noch zu stehen, - er möchte über das Faktum des Bewußtseins in der Theorie hinaus. Das zeigen sehr viele seiner Aeußerungen, und das ist ebenso gewiß und noch auffallender transzendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Dasein der Welt hinauswollten. Sein absolutes Ich (= Spinozas Substanz) enthält alle Realität; es ist alles und außer ihm ist nichts. Es gibt also für o dieses absolute Ich kein Objekt, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Objekt ist aber nicht denkbar«5. Hölderlins· Bemerkungen deuten Motive und Richtung der zugleich mit dem Vortrag der Wissenschaftslehre 1794/95 einsetzenden Absetzbewegung von Fichte an. Wird von den Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültigen Wissens zur Einheit wirklicher Erkenntnisprozesse fortgeschritten, so ist die Einkapselung der Erkenntnis in subjektinterne Vermögen unterminiert. Das Transzendieren der von Kant aufgestellten Grenzen ist zuallererst ein Überschreiten der subjektund bewußtseinstheoretischen Begründung des Wissens. Die Frage nach der Identität als Frage nach dem Bedingenden der Einheit der Erkenntnis wird zur o Frage nach einer das Bewußtsein übersteigenden, transreflexiven Identität, die über den Gegensatz des Subjektiven und Objektiven hinaus ist. In dieser Perspektive schlägt der Transzendentalismus um in eine spinozistisch eingefärbte o Substanz-Metaphysik: (;, Gegenüber dem transzendentalphilosophischen Ansatz bedeutet dies, was oft übersehen wird, eine teilweise Rückwendung zum Vernunftprinzip der Aufldärungsphilosophie, der objektiven Gültigkeit des Wissens und Handelns aus der Vernunft. Und es ist mehr als nur eine ironische Pointe, daß diese Rückwendung sich aus der Radikalisierung des transzendentalphilosophischen Kritizismus er-· gibt und derjenigen philosophischen Bewegung immanent ist,· deren spekulatives Selbstverständnis sie den historischen Gestalten der Aufklärungsphilosophie überhob. Schließlich ist der spekulative Idealismus nicht das Ende der Aufklärung, sondern die Realisierung bestimmter Potentiale der Aufklärungsphilosophie, nämlich des Anspruchs auf eine vernunftgemäße Wirklichkeit. Die Reflexion ist das Mittel, diesen Anspruch zu realisieren; eine RefleXIon, die in dem Rückgang der vernunftfähigen Subjekte in sich das Bedingungsgefüge der von der vorkritischen Philosophie allermeist nur unterstellten Geltung der Vernunft frei-: zulegen sucht. Ihr Ziel besteht darin, die Vernunft aus der Endlichkeit der Subjektivität zu befreien, d. h. die endliche Reflexion - mit ihr oder gegen sie - zu entgrenzen und darin doch den Anspruch der Subjekte auf Freiheit, d. h. Autonomie zu wahren, der in einer ursprünglichen Spontaneität aller reflexiven
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Hegel: Briefe 1, 19f.
II. Unmittelbarkeit und Reflexion . Fichtes Wissenschaftslehre
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Erkenntnisakte als Handlungen (vom Urteil als Zustimmung bzw. Aneignung bis hin zur Tathandlung Fichtes) begründet sein sollte. Aus dieser Perspektive war Fichtes Philosophie nichts anderes als der Versuch, die Fremdheit des Gegenüber der subjektiv verfaßten Vernunft zu tilgen, und dieser Versuch mußte in dem Maße als verfehlt angesehen werden, wie sich in ihm auf der Ebene empirischer Synthesis der Gegensatz des Selbst oder des empirischen Ich gegen das Andere oder das Nicht-Ich erneuerte und das Begehren nach der Versöhnung des Selbst und des Anderen unerfüllt blieb. Dieses Begehren war 0 dem empirischen Ich als Trieb durch das absolute Ich eingepflanzt; so lag es nahe, das Prinzip gegen dessen empirische Realisation auszuspielen und einerseits den Gegensatz im Endlichen als Verfehlen des Prinzips zu denunzieren, andererseits das Prinzip selbst für unzureichend zu erklären, sofern es die Identität des Subjekts und Objekts noch immer unter der Form des Subjekts vorstellte. Diese Motive gilt es festzuhalten, weil anders kaum verständlich wird, warum die Absetzbewegung von Fichte zugleich immer wieder ~n eine Rückkehr zu seinem Prinzip umschlägt, indem sie die Subjektobjektivität als Identität und Synthesis an die Struktur der Subjektivität bindet, um die es in der Freiheitsperspektive zu tun war. Das theoretische Zentrum, um das sich alle hier betrachteten Versuche bewegen, ist das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Reflexion, wie es von Fichte (im Anschluß namentlich an F. H. Jacobi) vorgegeben worden war. Dieses Verhältnis wird unterschiedlich bestimmt, wobei aber - bis hin zu Hegel- die Voraussetzung einer emphatisch gedeuteten Unmittelbarkeit des Unbedingten in Kurs bleibt. Diese bildet gleichsam ein Formular, das mit verschiedenen Auffassungen von Unmittelbarkeit besetzt werden kann. Sie kann als ein Jenseits der Reflexion, als Bezugspunkt der Reflexion selbst oder aber eines besonderen spekulativen Organs vorgestellt werden; in jedem Falle besteht ihre Leistung darin, eine urspIÜngli.che Identität zu bezeichnen, welche als Grund des Erkennens und Handelns diesem Wahrheit und objektive Gültigkeit verleiht. In dieser theoriekonstitutiven Funktion von »Unmittelbarkeit« gründet die auf den ersten Blick erstaunliche Einheitlichkeit der Diskussionszusammenhänge in der deutschen idealistischen Philosophie jenseits aller Heterogenität der Positionen im einzelnen. Sie verträgt sich sowohl mit transzendentalphilosophischen als auch mit substanzmetaphysischen Positionen und läßt diese (wie z. B. in Schellings Entwicklung) oft ununterscheidbar werden. Darin kommt nur zum Ausdruck, daß »Unmittelbarkeit« in dem Verständnis dieser Diskurse zwar in ihrer theoretischen Funktion für die Reflexion beschreibbar ist, aber als Unmittelbarkeit begrifflich nicht fixiert wird und somit eine Projektionsfläche für unterschiedliche Grundentscheidungen bildet. Erst Hegel wird versuchen, sie begrifflich zu fixieren, indem er das Ganze der (absoluten) Reflexion mit ihr identifiziert. Dagegen bietet die nachhegeische Philosophie in der Kritik des absoluten Wissens als absoluter Vermittlung noch einmal das Theorieformular der frühidealistischfrühromantischen Philosophie auf. Was aus Hegels Sicht bloß das Vorspiel seines
11. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
Systemkonzeption der »Grundlage«
Systems war, erwies sich historisch als wirkungsmächtige Kritik dieses Systems und als bestimmend bis in die gegenwärtige Philosophie.
Grundsatz, der unmittelbar und schlechthin gilt, auf den sich die realphilosophische Differenzierung des Systems bezieht, sondern ein set von Grundsätzen? Warum überhaupt gibt es drei und nicht nur einen Grundsatz? Und weiterhin: wie sind diese Grundsätze untereinander verbunden und durcheinander vermittelt, wenn der erste die übrigen begründet und ihnen seine unmittelbare Gewißheit mitteilt, diese aber sich »selbst gegenseitig in jenem begründen« und erst in dieser Reflexionsbeziehung den Startpunkt systematischer Synthesis bezeichnen? Und schließlich: wie verhält sich die Unmittelbarkeit des ersten Grundsatzes, der, Fichtes früheren Erklärungen zufolge, durch intellektuelle Anschauung gesetzt wird, 8 zu der vermittelten Beziehung des zweiten und dritten Grundsatzes in ihrer wechselseitigen Begründung und Synthesis? An der letzten Frage hängt das Problem, wie sich Unmittelbarkeit und Reflexion überhaupt zueinander verhalten und die Reflexion als Entgegensetzung aus der unmittelbaren Sichselbstgleichheit einsichtig gemacht werden kann. In diesem Zusammenhang ist es auffällig, daß Fichte den Begriff "der intellektuellen Anschauung in der »Grundlage« vermeidet und erst in den revidierten Darstellungsversuchen seit 1797 hervorhebt. 9 Symptomatisch ist dieser Befund deshalb, weil die intellektuelle Anschauung als unmittelbares Bewußtsein eines Unmittelbaren ausgezeichnet ist.1° Dagegen bewahrt der § 1 der »Grundlage« eine Zweideutigkeit, die darin zum Ausdruck kommt, daß das absolute Ich eine doppelte Auslegung erfährt, nämlich einerseits als »Ich« im Sinne reinen Selbstbewußtseins, andererseits als Absolutes.!l Unmittelbar im strikten Sinne aber ist nur das Absolute oder Unbedingte; das reine Selbstbewußtsein wäre in der Differenz zum Absoluten selbst ein von anderwärts her Vermitteltes, Relatives. In seiner Programmschrift »Über den Begriff der Wissenschaftslehre« (1794) kündigt Fichte einen »absolut-ersten« Grundsatz an. Er soll »unmittelbar und durch sich selbst gewiß seyn,. und das kann nichts anders heissen, als daß der Gehalt desselben seine Form, und umgekehrt die Form desselben seinen Gehalt bestimme«12. Dagegen sind der zweite und dritte Grundsatz nur entweder der Form oder dem Gehalt nach durch sich selbst bestimmt und hinsichtlich der Einheit von Form und Gehalt bedingt durch den ersten. In einem 1795 veröffentlichten Aufsatz interpretiert Fichte die Einheit von Form und Gehalt als absolute Subjekt-Objektivität: »In dieser absoluten Identität des Subjects und Objects besteht die Ichheit: Ich ist dasjenige, was nicht Subject sein kann, ohne in demselben ungetheilten Acte Object, und nicht Object sein kann,. ohne in demselben
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A. Ursprüngliche Identität und systematische Einheit in Fichtes Wissenschaftslehre (1794/95)
1. Die Systemkonzeption der »Grundlage« Die »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre« von 1794/95 entfaltet die Grundlagen des theoretischen Wissens (§ 4) und der »Wissenschaft des Praktischen« (§§ 5-11) im Bezug auf drei »Grundsätze der gesammten Wissenschaftslehre« (§§ 1-3). Ausgangspunkt des theoretischen wie des praktischen Teils ist dabei der dritte Grundsatz, die gegenseitige Beschränktheit des Ich und Nicht-:Ich im Ich und durch das Ich, der für das theoretische Wissen besagt: das Ich setzt sich, als bestimmt durch das Nicht-Ich, und für die Wissenschaft des Praktischen: das Ich setzt sich als bestimmend das Nicht-Ich. Im Rückverweis auf den dritten Grundsatz wird deutlich, daß »in der ersten synthetischen Handlung, der Grundsynthesis (der des Ich und Nicht-Ich) ein Gehalt für alle mögliche künftige Synthesen aufgestellt« ist: »Aus jener Grundsynthesis muß alles sich entwickeln lassen, was in das Gebiet der Wissenschaftslehre gehören soll«6. Demnach wäre die Grundsynthesis das Resultat einer Reflexion der Grundsätze der Wissenschaftslehre in sich und der Zusammenhang dieser Grundsätze wäre schon die Struktur des lediglich noch auszudifferenzierenden Systems. In derTat beansprucht Fichte, mit den drei Grundsätzen zugleich die logischen Grundsätze aufgestellt und das synthetische Verfahren ermöglicht zu haben, wodurch die formale Gültigkeit des Reflexionsverfahrens nicht mehr nur vorausgesetzt, sondern gesichert sei. Mit der Grundsynthesis hat die Wissenschaftslehre formal den Systemanspruch erfüllt: »Wir haben nun drei logische Grundsätze; den der Identität, welcher alle übrigen begründet; und dann die beiden, welche sich selbst gegenseitig in jenem begründen, den des Gegensetzens, und den des Grundes aufgestellt. Die beiden letztern machen das synthetische Verfahren überhaupt erst möglich; stellen auf und begründen die Form desselben. Wir bedürfen demnach, um der formalen Gültigkeit unsers Verfahrens in der Reflexion sicher zu seyn, nichts weiter«7. Nimmt man in diesem Sinne die drei Grundsätze der Wissenschaftslehre von 1794 als Abbild des Systems vor dessen realphilosophischer Ausdifferenzierung in theoretisches Wissen und Wissen des Praktischen, so ergeben sich im Blick auf den Systemanspruch desProjekts, wie er vor der »Grundlage« formuliert worden war, einige Anfragen und Probleme. Zunächst: warum ist es nicht der oberste 6
AA 1, 2, 283.
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Ebd.
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Vgl. hierzu Fichtes Aenesidemus-Rezension, AA 1,2,48. Vgl. z. B. Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, AA 1,4, 216f.; Wissenschaftslehre
nova methodo, 31ft. 10 Vgl. Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, AA 1,4, 276f. 11 Vgl. dazu und zu den Folgeproblemen für den Zusammenhang der drei Grundsätze
Bader 1979. 12
AA 1, 2, 121.
H. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
Identität und Selbstbewußtsein
ungetheilten Acte Subject zu sein;· und umgekehrt, was so ist, ist Ich«13. In der immanenten Reflexivität des Ich als Subjekt-Objektivität tritt die bei Kant ausgeblendete Reflexivität des Bedingungsgefüges hinter dem Rücken der transzendentalen Subjektivität hervor. Ihre Verlagerung in das Ich führt zu Zweideutig0keiten im obersten Grundsatz. Als absolute Identität von Subjekt und Objekt ist er das Absolute selbst; als transzendentale Subjektivität ein relativ zum Absoluten stehendes. Diese Relativität kehrt in der immanenten Reflexivität wieder, wenn es heißt, Subjekt und Objekt seien »gleich ursprünglich in der Ichheit verbunden«14; was aber verbunden ist, ist relative oder relationale, keineswegs absolute Identität. In der Richtung auf eine relative Einheit geht auch die Formulierung in der zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), wenn es heißt das Ich sei ein in sich zurückkehrendes Handeln und dieser erste Akt sei für den Philosophen etwas, was er »als einen für ihn ganz unbedingten und sonach absoluten Act«15 denken müsse. In späteren Fassungen der Wissenschaftslehre unterscheidet Fichte hier zwischen der relativen und faktischen Einheit von Form und Gehalt, Subjekt und Objekt einerseits, sowie ihrer absoluten Einheit andererseits, und leitet die faktische als eine mittelbar gültig gemachte Einheit aus der absoluten her. 16 Dabei zeigt der Ausgang bei einem im Rückgang auf das Absolute zu genetisierenden Faktischen eine veränderte Darstellungsweise gegenüber dem Verfahren der Wissenschaftslehre von 1794/95 an; diese dürfte aufgrund der behaupteten Einheit von Form und Gehalt im obersten Grundsatz aber nicht nur die Form der Darstellung betreffen'. Gerade im Blick auf die unmittelbare Rezeption der Wissenschaftslehre ist die Zweideutigkeit des obersten Grundsatzes nicht vorschnell zu ~xtrapolieren. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, den Sinn von »Identität«/»Einheit« zu klären, den Fichte der Ichheit des ersten Grundsatzes zuspricht, und auf dieser Grundlage den systematischen Zusammenhang der drei Grundsätze der Wissenschaftslehre, ihre »Einheit« zu exponieren, aus dem sich die Einheit des Systems ergibt.
schlechthin unbedingten Grundsatzes ist es daher, nicht Tatsache zu sein, sondern 0 Tathandlung. Indem die Reflexion sich auf etwas bezieht, was ihr gegeben ist, ~ bezieht sie sich auf ein Unmittelbares für sie; diese Unmittelbarkeit der Tatsachen ist das, woran sie sich als Reflexion entfaltet. Sie hebt damit die Unmittelbarkeit unmittelbar in eine vermittelnde Bewegung auf, indem sie vergleichend bezieht und damit urteilt. Die Unmittelbarkeit dieser vermittelnden Bewegung des Bewußtseins als Reflexion ist das, was als Tathandlung durch die Reflexion nicht vorgestellt, aber als das erkannt werden kann, was man, »als Grundlage alles Bewustseyns, nothwendig denken müsse«17. Sie ist dasjenige, was als Voraussetzung der Reflexion von dieser nicht gesetzt und daher auch nach den Regeln der Reflexion nicht bewiesen oder bestimmt werden kann. So ist sie Unmittelbarkeit für die Reflexion, aber nicht im Sinne einer empirischen Tatsache. Als Unmittelbarkeit des Beziehens ist sie reine Beziehung ohne Bezogene oder reine D Identität im Unterschied zur relationalen (logischen) Identität. Sie ist damit Unmittelbarkeit an und für sich und als solche Identität schlechthin, die alle relation ale Identität begründen soll. Die Frage nach dem obersten Grundsatz ist daher die Frage nach dem Grund der Identität, von der das Urteilen als Synthesis Gebrauch macht. In diesem Sinne beginnt Fichte die abstrahierende Reflexion von den empirischen Bestimmungen »irgend einer« Tatsache des empirischen Bewußtseins mit dem Satz »A ist A« in der logischen Bedeutung von »A = A«18. Der Satz der Identität wird zunächst empirisch, d. h. als Tatsache des Bewußtseins aufgenommen. Die Gewißheit der Identität aber ist nicht mit ihrem Vorkommen identisch, sondern an die Zustimmung geknüpft, daß der Satz der Identität schlechthin gewiß sei: »und indem man dieses [ ... ] thut, schreibt man sich das Vermögen zu, etwas schlechthin zu setzen«19. Dieses Setzen bezieht sich nicht auf de1). Gehalt eines Satzes; geurteilt wird »nicht, daß Asey«, sondern, daß, »wenn A sey, so sey A«2o. Dieses »wenn ... so« bezieht sich auf die Form der Identität bei beliebigem Inhalt; sie ist das, was man weiß, ohne von etwas Bestimmtem zu wissen. Als gewiß gesetzt wird der notwendige Zusammenhang »wenn ... so«, den Fichte vorläufig als »x« bezeichnet. Fichte behauptet nuo, daß dieses X »ohne allen Grund«21 gesetzt wird, d. h. seine Gewißheit selbst das Begründende aller Gewißheit im Wissen sei. Dieses X, . als Gesetz des Urteilens, ist dem Ich als dem urteilenden, reflektierenden Subjekt als ein unbekanntes X gegeben, indem es urteilt. Innerhalb der Fichteschen Voraussetzungen kann das X aber nicht von anderwärts her gegeben sein, sondern nur aus dem Ich selbst. Andernfalls wäre der Grund des Beziehens ein von
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2. Identität und Selbstbewußtsein Eine Tatsache des Bewußtseins ist ein Vorgestelltes und Objekt der Reflexion; soll der erste Grundsatz der Wissenschaftslehre allem Bewußtsein zu Grunde liegen, so kann er weder als Tatsache des Bewußtseins vorgefunden noch zur Tatsache des Bewußtseins gemacht werden. Das unterscheidende Merkmal des
13 Vergleichung des von Hrn Prof Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschafts. lehre, AA 1,3,253. 14 Ebd. 15 AA 1, 4, 216. 16 Vgl. Bader 1979, 12.
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AA 1, 2, 255. Ebd., 256. Ebd. Ebd., 256f. Ebd., 257.
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H. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
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außerhalb des Beziehens her bezogener und der Zusammenhang wäre nicht durch das Ich gesetzt, wie es dadurch vorausgesetzt war, daß das Ich die Gültigkeit des »wenn ... so« gesetzt hatte. Fichtes Voraussetzung ist indes nur dann einsichtig zu machen, wenn generell behauptet werden kann, Herkunft und Sinn von Identität ließen sich nur in der Abstraktion von der Empirie bestimmen, d. h. im Rekurs auf ein Vermögen des Subjekts und nicht im Rekurs auf bestimmte Vermittlungen. Bei der Rekonstruktion der Bedingungen von Identität geht die Wissenschaftslehre zwar von empirisch konstatierten Tatsachen des Bewußtseins aus, nämlich der fraglosen Gültigkeit logischer Formen, aber nur, um deren Beglaubigung durch reflektierende Abstraktion von ihnen· einzuholen. Fichte erkennt darin einen Zirkel, den er für unvermeidlich hält, sofern Identität, die logisch als relation ale , d. h. vermittelte oder reflektierte, auftritt, dem Subjekt schon immer als apriorische Struktur einwohnen müsse. Das schlechthinnige Setzen der Identität kann unter dieser Voraussetzung genetisch nur noch als Konstituierung von Subjektivität im Subjekt selbst aufgefaßt werden. Damit gibt Fichte dem Zirkel des Voraussetzens und Setzens aber nur einen anderen Namen und verlagert ihn in das urteilende Subjekt. Die empirisch aufgefundene Tatsache der allgemeinen Beistimmung zur schlechthinnigen Gewißheit von Identität wird umgedeutet in die Fähigkeit schlechthinniger Setzung als ursprünglicher Leistung des Subjekts. Entsprechend wird in den anschließenden Stufen der Reflexion konsequent von allem empirisch Gegebenen abstrahiert. Der Titel empirischen Verhaltens aber ist die Reflexion selbst, von der in der Reflexion abstrahiert 'werden muß, d. h. auf der Suche nach dem Ursprung von Identität ist jede an einem Gegebenen vermittelte und vermittelnde Relationalität zu tilgen. Nur unter dieser Voraussetzung erhält die Frage nach dem Selbstbewußtsein als einer ursprünglichen, unvermittelten Intimität des Subjekts die Schärfe,. die sie bei Fichte schließlich gewinnt: wie konstituiert sich das Subjekt aus sich heraus als setzend oder wie setzt es sich als setzend? Dieses Setzen darf nicht als reflexiv aufgefaßt werden, weil das Subjekt sonst die Identität als nichtrelationale verfehlen würde. Dem wollte bereits Hume dadurch entgehen, daß er die Einheit des Subjekts als Einfachheit bestimmte und damit von relationaler Identität unterschied. Dieser Strategie schließt Fichte sich an, wobei er wohl von Salomon Maimon beeinflußt wurde, der das Problem der Selbsterfassung von Subjektivität so zugespitzt hatte, daß das Subjekt als Objekt seiner selbst vom Objekt verschieden gedacht und mithin im Selbstbewußtsein von dem Verhältnis des Subjekts zum Objekt abstrahiert werden müsse. 22 Von dorther erschließt sich die weitere Reflexion im ersten Paragraphen der Wissenschaftslehre: X ist »im Ich, und durch das Ich gesezt«, das als ein Gegebenes »dem Ich durch das Ich selbst gegeben seyn muß «23 . Sofern aber das X bezieht und ihm die Relate gegeben sind, ist deren Reflexionsverhältnis nicht zu entkommen; das
Identität und Selbstbewußtsein
Beziehen als das im Ich und durch das Ich gesetzte muß daher zugleich das Bezogene setzen: »X ist nur in Beziehung auf ein A. möglich; nun ist X. im Ich wirklich gesezt: mithin muß auch A. im Ich gesezt seyn, insofern X. darauf bezogen wird «24 . Für Fichte impliziert das im Ich Gesetztsein des A als Subjekt von A = A, das A sei als Prädikat »schlechthin gesezt; und der obige Satz läßt demnach sich auch so ausdrücken: Wenn A. im Ich gesezt ist, so ist es gesezt; oder - so ist es«25. Die Plausibilität dieses Arguments beruht ausschließlich darauf, daß das Prädizieren als Vermögen mittels X im Ich und durch das Ich erst das Ansieh eines, woher auch immer gesetzten, A im Ich als A zum Bewußtsein bringt, d. h. das A ist nur und ist nur A in dieser Identität mit sich durch das Gesetztsein im Ich. Identität erscheint als Funktion einer inneren Operation des Subjekts, in der die Relate als identische allererst hergestellt werden. Was Tatsache ist, ist Sache einer Tathandlung. Gesetzt wird: »A sey für das urtheilende Ich, schlechthin, und lediglich Kraft seines Geseztseyns im Ich überhaupt; das heißt: es wird gesezt, daß im Ich [ ... ] etwas sey, das sich stets gleich, stets Ein und eben dasselbe sey; und das schlechthin gesezte X. läßt sich auch so ausdrücken: Ich = Ich; Ich bin Ich «26 . Fichte versteht Identifizieren als Akt der Aneignung eines Gegebenen (A). Das Urteilen als das Identifizieren"von etwas ist zugleich das Sich-Identifizieren des Urteilenden mit etwas. Sofern dieses »Etwas« erst im Urteilen als identisch gesetzt wird, ist es nur in diesem Akt als etwas gesetzt, das sich gleich ist. Das heißt: das urteilende Subjekt (Ich) identifiziert sich mit dem »Etwas« nicht als mit dem, wovon etwas (nämlich Identität) ausgesagt wird (in diesem Sinne bleibt A ein gleichgültiges Substrat), sondern mit dem, was dieses »Etwas« ist. Dieses »was« als die Gewißheit der Identität ist dasjenige, was in dem und durch das Ich schlechthin gesetzt ist und somit nur in dem und durch das Ich ist. Die Identifikation im Urteil schlägt auf das urteilende Subjekt reflexiv zurück als Identifikation des Subjekts mit sich als Identifizierendem. Die hier erreichte Ich-Identität ist aber erst Tatsache des Bewußtseins oder faktisches, reflexives Selbstbewußtsein. Sie beruht darauf, daß sich das Ich im Identifizieren von etwas als identitätssetzend zu sich selbst verhält und sich in diesem Selbstverhältnis Identität zuschreibt. Bliebe es dabei, so müßte sich das Ich auf der Suche nach seiner Identität in sich selbst verlieren. Es müßte unendlich viele Meta-Vermögen des Setzens von Identität im Subjekt fingieren und seine Reflexivität unendlich machen. Als Ausweg Cl bleibt nur der Sprung aus der Reflexion in die Behauptung einer praereflexiven Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins. Diese Unhintergehbarkeit des Selbstbewußtseins als einer praereflexiven Einheit ist als »Fichtes ursprüngliche Ein-
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Vgl. AA 1, 2, 95-. AA 1, 2, 257.
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Ebd. Ebd. Ebd.
Zweideutigkeit des obersten Grundsatzes
H. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
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sicht«27 bezeichnet und zur Interpretationsgrundlage der daran anknüpfenden Reflexionstheorien des deutschen Idealismus bis hin zu deren Aktualisierung in analytisch-philosophischen Kontexten gemacht worden. 28 Indessen ist diese »Einsicht« nicht voraussetzungslos, sondern Konsequenz einer bewußtseinstheoretischen Transformation der Frage nach einem letzten metaphysischen Grund. Vorausgesetzt ist, daß das Subjekt der Grund des Setzens von Identität, mithin auch seiner eigenen Identität sei, wie es sie reflexiv von sich aussagt. Der Sprung aus der Reflexion löst allererst eine Zweideutigkeit Kants in der Erfassung des reinen Selbstbewußtseins auf, aber diese Auflösung ist im Blick auf das, was bei Kant als Bedingungsgefüge hinter dem Transzendentalsubjekt stand, ein gewaltsamer Akt. Kant hatte ihn dadurch präformiert, daß er - unter dem Titel des reinen Selbstbewußtseins - die subjektive Form in die Bedingung der Einheit der Subjektivität aufgenommen hatte. Diese Einheit konnte nicht mehr aus den endlichen Erkenntnisleistungen der Subjektivität einsichtig gemacht werden, und genau hierin stimmt Fichte mit Kant kommentarlos überein. Das aber hat zur Folge, daß der Grund der Subjektivität als reines Selbstbewußtsein oder Ich sich von dem empirischen Subjekt abspaltet. Zugleich erneuert sich in der Subjekt-Objektivität des absoluten Ich das unreflektierte Spiel der Reflexion hinter dem Rücken des (Kantischen) Transzendentalsubjekts, das auch bei Fichte im unaufgeklärten Dunkel der Unmittelbarkeit bleibt. Mehr noch: das Ansieh der transzendentalen Objektivität (im Sinne Kants) bleibt, allen Beteuerungen o Fichtes zum Trotz, im Rücken der Subjekt-Objektivität des absoluten Ich bestehen, denn diese Subjekt-Objektivität bezieht sich auf die Ununterscheidbarkeit . beider in der ursprünglichen, unmittelbaren Selbstbezüglichkeit des Ich. Fichtes ursprüngliche Einsicht verdrängt eine Problematik, die ihn in den Zweideutigkeiten des obersten Grundsatzes wieder einholt.
3. Die Zweideutigkeit des obersten Grundsatzes: Unmittelbarkeit als Reflexion Der zunächst als Tatsache aufgefundene Satz Ich = Ich unterscheidet sich, Fichte zufolge, dadurch von einer relationalen Identität (A = A), daß in ihm Form und Gehalt unmittelbar identisch sind. Die relationale Identität dagegen hat Gehalt nur dann, wenn A gesetzt ist, aber dieser Gehalt ist nicht mit der Form gesetzt, die sich vielmehr indifferent zum Gehalt verhält. »Der Saz: Ich bin Ich, aber gilt unbedingt, und schlechthin, denn er ist gleich dem Satze X.; er gilt nicht nur der Form, er gilt auch seinem Gehalte nach «29 . Hier ist das Ich als was und wovon des Satzes zugleich gesetzt, d. h.: es ist als seiend gesetzt, und der Satz »läßt sich auch
ausdrücken; Ich bin«3o. Die hier erreichte Identität entzieht sich aller Relationalität, sofern Sein und Setzen, Produzierendes und Produkt im Produzieren (Handeln) als Identifizieren schlechthin unmittelbar identisch und als Momente nicht voneinander abhebbar sind. Das Ich »ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und That sind Eins und eben dasselbe«31. Indem sich das Ich setzt, setzt es sich in seinem Setzen und durch sein Setzen, d. h. auch in seinem Setzen oder als setzend,32 sofern Sein und Setzen als Produkt und Handlung identisch sind: »Dasjenige dessen Seyn (Wesen) blos darin besteht, daß es sich selbst als seyend, sezt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es sich sezt, ist es; und so wie es ist, sezt es sich«33. Fichte begreift die Einfachheit des absoluten Ich als Handlung, als unmittelbare Identität von Produzierendem und Produkt im Produzieren selbst. Handeln erscheint als ursprüngliche Spontaneität, deren Vollzug nicht aus dem Zusammenhang voneinander abhebbarer Momente der Handlung reflexiv einsichtig gemacht werden kann. Gleichwohl bewahrt sie unter der Form der unmittelbaren Selbstbezüglichkeit des Handelns das Tun der abstrahierenden Reflexion, das Sich-mit-sich-identisch-Setzen in der Beziehung auf das zu Identifizierende. Indem zum Grund des reflektierenden Identifizierens nicht einfach Identität als solche (Einfachheit) gemacht wird, sondern reine Tätigkeit, die sich selbst manifestiert, wird der Bezug auf das Reflexionsgeschehen offengehalten. Die Unmittelbarkeit des absoluten Ich als Erklärungsgrund aller Tatsachen des empirischen Bewußtseins soll ja geradezu das Vermittelnde der vermittelten Wahrheit in der Sphäre der Reflexion sein. 34 Die Unmittelbarkeit als Einfachheit der Tathandlung wird mit den Leistungen der Vermittlung ausgestattet, ohne selbst vermittelt oder vermittelbar zu sein; sie fungiert, indem sie der Grund der Reflexion ist, selbst als Reflexion. Die Unmittel~arkeit der Tathandlung bewahrt als Handlung einen Anklang an Reflexivität. Versteht man sie - gegen Fichte - als Antwort auf spezifische Schwierigkeiten; in einer abstrahierenden Reflexion Identität außerhalb be- 0 stimmter Beziehungen begründen zu wollen, so erscheint sie selbst als Abstraktionsprodukt. Ihre notwendige Beziehung zur Reflexion, der »Übergang« in die Entgegensetzung und (relative) Identität, wäre dann ein äußerliches Hinzufügen dessen, wovon abstrahiert wurde, eine bloße Umkehrung des Sprungs aus der Reflexion. Das Problem, das Fichtes Konstruktion paradigmatisch aufgibt, liegt in der Vermittlung von Unmittelbarke..it und ~.2!.L Dieses Problem wird nur 0 verschoben und potenziert, wenn die Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins Ebd. Ebd., 259. 32 Vgl. dagegen Henrich 1966, 202f., der diese Formel erst für die Fassungen der Wissenschaftslehre seit 1797 gelten lassen mächte. 33 AA 1,2, 259f.. 34 Vgl. Über den Begriff der Wissenschaftslehre, 2. Auflage, AA 1, '2, 133. 30 31
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Henrich 1966. Vgl. Frank 1991. AA 1, 2, 258.
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Reflexion im zweiten und dritten Grundsatz
H. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
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ihrerseits auf eine andere Unmittelbarkeit zurückgeführt wird. So hat Fichte selbst später die Einheit als Einfachheit in ein undurchdringliches Absolutes gesetzt, auf das das Selbstbewußtsein als »Bild«35 verweist, d. h. eine Zwei einheit zugrundegelegt, die in ihrem Verweischarakter Eins bleibt. Der-unendliche Regreß reflexiven Begründens wiederholt sich hier (und das gilt nicht nur für Fichte)_ als Regreß innerhalb der Unmittelbarkeit selbst, der nur durch die behauptete prinzipielle Undurchdringlichkeit des Absoluten gebannt wird. Unter anderem o dies wird Hegel veranlassen, das Ganze der Reflexion als die wahre Unmittelbarkeit zu verstehen und dadurch auch einen Übergang von Unmittelbarkeit und Reflexion ineinander zu ermöglichen. Die Schwierigkeit ihrer Vermittlung tritt bei Fichte dadurch hervor, daß »Selbstbewußtsein« als Bewußtsein ausgezeichnet ist, das zwar durch die Reflexion nicht eingeholt, aber für uns doch wenigstens intelligiert werden können und nicht ein schlechthin Unvordenkliches bezeichnen soll. In dieser Hinsicht ist Fichtes Abgrenzung gegenüber Spinoza am Schluß des ersten Paragraphen der »Grundlage« aufschlußreich: der Spinozismus ergebe sich als notwendige Konsequenz dann, wenn man das »Ich bin« überschreitet, d. h. die Subjektform der Einheit als Einfachheit ausgebe. 36 Damit wäre ein intelligibles Absolutes jenseits der transzendentalen Subjektivität angenommen, das aber selbst »nie zum Bewußtseyn gelangt«37. Nun besteht die Schwierigkeit bei dem absoluten Ich als reiner Tathandlung aber gerade darin, daß es als Selbstbewußtsein intelligibel sein und »zum Bewußtsein« gelangen soll, zugleich aber als absolutes ein Unmittelbares ist, von dem aut" dem Wege der Reflexion nur seine Nichterkennbarkeit erkannt werden kann. Das Problem der Vermittlung von Unmittelbarkeit und Reflexion reproduziert sich innerhalb des obersten Grundsatzes der WissenschaftsOlehre als Zweideutigkeit in den Begriffen des Erkennens und Bewußtseins. Fichtes Darstellungen der Wissenschaftslehre >>nova methodo« versuchen, diese Zweideutigkeit dadurch zu beseitigen, daß sie die intellektuelle Anschau-· ung als Mittel der Selbsterfassung des absoluten Ich in den Mittelpunkt rücken. Als unmittelbares Bewußtsein ist sie Anschauung im Kantischen Sinne; das Angeschaute aber ist die reine Spontaneität der Apper.zeption und dadurch ist sie intellektuelle Anschauung. 38 Wie aber kann unmittelbares Bewußtsein als unmittelbares gewußt werden? Fichtes Antwort installiert eine neue Zweideutigkeit, indem er das reflexive Moment in die Anschauung selbst trägt: »Wir müssen von diesem lezten Grunde wißen, denn wir sprechen davon, wir kommen dazu durch unmittelbare Anschauung, wir schauen unsere unmittelbare Anschauung selbst wieder unmittelbar an; dieß wäre unmittelbare Anschauung der Anschauung«39.
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Vgl. Drechsler 1955. Vgl. AA 1, 2, 263. Ebd. Zu diesem Konzept vgl. Stolzenburg 1985. Wissenschaftslehre nova methodo 31. J
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Die Anschauung der Anschauung richtet sich auf die Wahrnehmung einer zeitlosen Agilität des Ich; das Fixieren dieser Tätigkeit oder Tathandlung als Angeschautes (also eine Fixierung durch die unmittelbare, elementare Reflexivität der V~rdo~pelung der Anschauung in sich), macht aus dem Tätigen ein Gesetztes, »es WIrd em Product, aber nicht etwa ein anderes Product als. die Thätigkeit selbst [ ... ]; sondern bloß, das Handeln wird dadurch daß es angeschaut wird, fixirt· so etwas heißt ein Begriff, im Gegensatz der Anschauung welche auf die Thätigl;eit, als solche, geht«4o. Daraus leitet Fichte die Konsequenz ab, der Begriff entstehe »mit der Anschauung zugleich in demselben Moment, und ist von ihm unzertrennlich«41. Diese Konstruktion des Übergangs zur Reflexion aus der Anschauung selbst b.ereitet in~es neue Schwierigkeiten. Die Unmittelbarkeit der Anschauung ist in SIch refleX1v gebrochen durch eine zweite Anschauung, und aus dieser Reflexion der Unmittelbarkeit in sich werden Unmittelbarkeit (= reine Agilität; = Anschauung) und Reflexion (= Fixieren· der Agilität; = Begriff) als Momente isoliert. Die Frage ist aber, woher die Reflexivität der Anschauung stammt. Sofern das unmittelbare Selbstbewußtsein unmittelbar ist, ist es praereflexiv; sofern es aber Bewußtsein ist, ist es reflexiv und erfordert mindestens die Distanz der Anschauung und des Angeschauten. Im Ergebnis wird der Unterschied von 0 Bewußtsein und Selbstbewußtsein, um den es Fichte doch zu tun war, eingeebnet. So lesen wir in dem (1798 diktierten) § 1 der Wissenschaftslehre »novamethodo« alles Bewußtsein sei »begleitet von einem unmittelbaren Selbstbewustsein, ge~ nannt, intellectuelle Anschauung, und nur in der Voraussetzung dessen, denkt man. Das Bewustsein aber ist Thaetigkeit und das Selbstbewustsein insbesondere in sich zurükgehende Thaetigkeit der Intelligenz, oder reine Reflexion«42. Die reine Reflexion erscheint hier als das Allerunmittelbarste und Hegels spätere spekulative Identifizierung von Unmittelbarkeit und Reflexion könnte einen überraschenden Zeugen in Fichtes Wissenschaftslehre finden.
4 .. Die Unmittelbarkeit der Reflexion im zweiten und dritten Grundsatz
Die ausgeblendete Vermittlung von Unmittelbarkeit und Reflexion schlägt hier auf die Unmittelbarkeit selbst zurück; dieses Problem wird auch im Übergang vom obersten, schlechthin unbedingten Grundsatz zu dem zweiten, seinem Gehalt nach bedingten Grundsatz der Wissenschaftslehre manifest. Der Satz» - A nicht = A« oder der »Saz des Gegensetzens«43 ist, als Gegen-Setzen, seinem Gehalt nach ein Gesetztsein durch das Sich-Setzen des Setzens im ersten Grund-
40 41 42 43
Ebd., 33. Ebd. Ebd., 34. AA 1, 2, 267.
II. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
Reflexion im zweiten und 'dritten Grundsatz
satz: »Das Entgegensetzen ist nur möglich unter Bedingung der Einheit des Bewustseyns des setzenden, und des entgegensetzenden. Hinge das Bewustseyn der ersten Handlung nicht mit dem Bewustseyn der zweiten zusammen; so wäre das zweite Setzen kein Gegensetzen, sondern ein Setzen schlechthin. Erst durch Beziehung auf ein Setzen wird es ein Gegensetzen«44. Das Entgegensetzen braucht ein Gegenüber, von dem es sich abstößt, um nicht bloß Setzen zu sein. Es ist Reflexion an einem vorausgesetzten Unmittelbaren. Diese Reflexion ergibt sich aber nicht aus diesem Unmittelbaren selbst, sondern die Form der Handlung des Entgegensetzens ist »eine schlechthin mögliche, unter gar keiner Bedingung stehende, und durch keinen höhern Grund begründete Handlung«45. Die Reflexion selbst als Entgegensetzen tritt der vorausgesetzten Unmittelbarkeit als ein Unmittelbares gegenüber: die immanente Reflexivität der Unmittelbarkeit stellt sich auch äußerlich dar. Der strategische Sinn der Fichtesehen Konstruktion besteht darin, die Reflexivität an das Bedingte zu verweisen. Der zweite Grundsatz soll sich einerseits reflektierend auf den ersten beziehen, sofern er von ihm bedingt ist, andererseits aber soll diese Reflexion an dem Unbedingten des ersten Grundsatzes abprallen: Entgegensetzen ist nur im Verhältnis zum Gegenüber des Setzens zu verstehen, aber das Setzen ist außerhalb der Entgegensetzung. Die Verschiedenheit der Formen des Setzens und Entgegensetzens beruht für Fichte allein darauf, daß sich das Entgegensetzen auf ein Setzen bezieht. Für sich gestellt, ist es mit dem Setzen zu verwechseln. Die Unmittelbarkeit der Reflexion ist, als Unmittelbarkeit, nicht von derjenigen Unmittelbarkeit zu unterscheiden, die sie allererst ermöglichen soll. In dieser Amphibolie erscheint das Entgegen-Setzen als eine bestimmte Form des Setzens: Dann aber wäre das Entgegensetzen ein Sich-in-sich-Unterscheiden des anfänglichen Unbedingten mit der Konsequenz, daß Setzen und Entgegensetzen gleichursprüngliche Reflexionsbegriffe im Unbedingten selbst w~ren. Diese Schwierigkeiten der Vermittlung von Unmittelbarkeit und Reflexion hat Fichte in den Erörterungen zum dritten Grundsatz der Wissenschaftslehre zu beheben versucht. Dieser ist der Form nach bedingt und hat zur Aufgabe, eine Grundsynthesis von Ich und Nicht-Ich zu vollziehen, in der ein Gehalt für alle synthetisierenden Leistungen der daran anschließenden theoretischen und praktischen Philosophie aufgestellt ist. 46 Die Schwierigkeit dieser Aufgabe besteht für Fichte gerade darin, daß »nach den als gültig vorausgesezten Reflexionsgesetzen [ ... ] die Identität des Bewußtseyns, das einige absolute Fundament unsers Wissens aufgehoben«47 ist. Dies wird in fünf Punkten näher ausgeführt, die eine Antinomie des Bedingtseins und Bedingens beschreiben48 : (1) Sofern das Nicht-
Ich im Ich gesetzt ist, ist das Ich im Ich nicht gesetzt. (2) Als Entgegengesetztes aber kann das Nicht-Ich nur gesetzt werden, insofern ein Ich im Ich gesetzt ist. (3) Diese Schlußfolgerungen heben sich gegenseitig und damit den zweiten Grundsatz selbst auf. (4) Diese Aufhebung aber beruht auf einer Entgegensetzung, d. h. auf der Gültigkeit des zweiten Grundsatzes: er affirmiert sich, indem er sich negiert. (5) Nicht anders ergeht es aber dann dem ersten Grundsatz, dessen Geltung darauf beruht, daß alles im Ich gesetzt ist, was nach (1) sowohl bestätigt als auch negiert wird. - Die Antinomie ergibt sich daraus, daß die Reflexionsgesetze hier auf das absolute Fundament des Wissens, die Identität des Bewußtseins, bezogen werden. Dabei beschreibt Fichte diese Beziehung analog zur transzendentalen Dialektik Kants: auf der einen Seite soll der Bezug alles bedingten Wissens (und Handeins) auf das Unbedingte unabweislich sein, auf der anderen Seite soll die Reflexion des Bedingten auf das Unbedingte dieses als das Bedingende notwendig verfehlen. Die Diskussion der Antinomie steht daher von vornherein unter der Vorgabe, das Fundament des Wissens gegenüber der Reflexion im Bedingten zu immunisieren: es soll »irgend ein X. gefunden werden, vermittelst dessen alle jene Folgerungen richtig seyn können, ohne daß die Identität des Bewußtseyns aufgehoben werde«49. Nach den Gesetzen der Reflexion stellt sich die ursprüngliche Identität als ein Widersprechendes, als Identität von Identität und Nichtidentität dar. Damit aber ist der ursprünglich intendierte Sinn von Identität als nichtrelationaler, unmittelbarer Identität verfehlt, die gleichwohl als Grund aller synthetisierenden Leistungen der Vernunft weiterhin gelten soll. Die Reflexion muß daher mit dem ursprünglichen Sinn von Identität im ersten Grundsatz verträglich gemacht werden. Für Kant wäre die Verträglichkeitsbedingung die Restriktion des Vernunftgebrauchs in Ansehung des Unbedingten. Für Fichte ist es die Limitation der Vernunft in sich: »Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen«50. Damit sei die »Masse deßen, was unbedingt, und schlechthin gewiß ist, [ ... ] erschöpft«51. Die zitierte Formel der Limitation setzt aber schon immer die Teilbarkeit, d. h. Quantifizierbarkeit des Ich (und Nicht-Ich) voraus und bewegt sich damit von vornherein im Rahmen der Geltung relationaler Identität. Diese erscheint im Zusammenspiel der drei obersten Grundsätze der Wissenschaftslehre, indem der dritte eine Verträglichkeitsbedingung, nicht eine Synthesis des ersten und zweiten Grundsatzes formuliert. Die Unmittelbarkeit des anfänglichen »Fundaments« ebenso wie der Reflexion bleibt dabei unberührt. Verträglich werden sie nur gemacht, soweit der Reflexion deutlich gemacht wird, daß sie es schon immer mit relationaler Identität zu tun hat. Der dritte Grundsatz rechtfertigt mit dem Be-
86
44
Ebd., 266.
45 Ebd., 265. 46
VgL ebd., 283.
47 Ebd., 269. 48 Vgl. ebd., 268 f.
49 Ebd., 269. 50
Ebd., 272.
51 Ebd., 271 f.
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H. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
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griff relationaler Identität das Verfahren der Reflexion, er ist Reflexion der Reflexion, die diese unendlich macht, aber nicht die Reflexion des Zusammenhangs der Grundsätze der Wissenschaftslehre in sich. In dieser Äußerlichkeit der Reflexion gegenüber einer vorausgesetzten unmittelbaren Identität, die doch von Fichte als das Fundament des Wissens im Wissen selbst behauptet worden war, treten beide als gleichgültig auseinander. Der dritte Grundsatz als Grundlage des Theoretischen und Praktischen begründet ein Reflexionssystem.
5. Synthesis und Reflexion im theoretischen Wissen Damit im Fortgang der Wissenschaftslehre zum theoretischen Wissen und zur Wissenschaft des Praktischen überhaupt etwas zu entwickeln sei, müsse, so Fichte, in der Grundsynthesis von Ich und Nicht-Ich noch etwas enthalten sein, das durch die Reflexion aufgesucht werden könne, eine »ursprünglich nothwendige antithetische Handlung des .Ich«52 . Diese Handlung aber muß zugleich Synthesis sein, um die ursprüngliche Identität des Ich zu wahren. Hieraus ergibt sich eine Problemstellung, in der die Schwierigkeiten des Zusammenhangs der Grundsätze der Wissenschaftslehre wieder aufbrechen: »Keine Antithesis [ ... ] ist möglich ohne Synthesis. Mithin wird eine höhere Synthesis als schon geschehen vorausgesezt; und unser erstes Geschäft muß seyn, diese aufzusuchen, und sie bestimmt aufzustellen«53. Fichte geht es hierbei um das Kantische Problem der MöglichkeiLsynthetischer Urteile apriori. Sofern dabei alle synthetischen Leistungen der Vernunft in einer ursprünglichen Einheit gegründet werden, sind alle Urteile amilytisch und synthetisch zugleich. 54 Synthetisch, sofern sie alles zu Analysierende im Blick auf eine ursprüngliche Synthesis auseinanderlegen (die Analysis also nur als das Werk der Reflexion erscheint, das sich auf diese Synthesis richtet); analytisch, sofern sich darin die ursprüngliche Einheit als das Bedingende aller Vernunftleistungen in der Disjunktion dieser Einheit selbst analysiert. Die Einheit des Analytischen und Synthetischen, von der Fichte an dieser Stelle spricht, bezeichnet das Problem der Disjunktion der ursprünglichen Einheit und der Rückkehr zu ihr und betrifft daher den systematischen Zusammenhang der Grundsätze der Wissenschaftslehre. Fichte situiert diese Problematik im Rahmen des Reflexionssystems, wie es sich aus dem dritten Grundsatz ergeben hatte. In diesem liegen zwei Sätze, von denen der erste die Wissenschaft des Praktischen begründet, der zweite hingegen das theoretische Wissen: 1) »Das Ich sezt das Nicht-Ich, als beschränkt durch das Ich«;
Theoretisches Wissen
2) »das Ich sezt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich«55. Innerhalb des theoretischen Wissens bedeutet der letztere Satz: das Ich setzt oder bestimmt sich schlechthin als Ich, und setzt sich zugleich als eines, das bestimmt wird. Es setzt »das Ich Negation in sich, in sofern es Realität in das Nicht-Ich sezt, und Realität in sich, in sofern es Negation in das Nicht-Ich sezt; es sezt sich demnach sich bestimmend, insofern es bestimmt wird; und bestimmt werdend, insofern es sich bestimmt«56. Fichte führt hierfür den Begriff der »Wechselbestimmung« ein, der das bezeichnen soll, was Kant »Relation~< nennt, fügt aber sogleich hinzu, »daß durch die Synthesis, vermittelst der Wechselbestimmung für die Lösung der Hauptschwierigkeit an sich, nichts beträchtliches gewonnen ist«57, da die Frage unbeantwortet bleibt, »wie das Ich Negation in sich, oder Realität in das Nicht-Ich setzen könne«58. Fichtes Durchgang durch die Synthesen macht deutlich, daß in diesen zwar »in der Mitte alles richtig vereinigt, und verknüpft« sei, »nicht aber die beiden äussersten Enden«59. Das Geschäft der Wissenschaftslehre besteht darin, »Mittelglieder zwischen die Entgegengesezten einzuschieben; dadurch aber wird der Widerspruch nicht vollkommen gelös't, sondern nur weiter hinaus gesezt«60. Die »eigentliche, höchste, alle andere Aufgaben unter sich. enthaltende Aufgabe« aber sei die Auflösung der Frage, »wie das Ich auf das Nicht-Ich; oder das Nicht-Ich auf das Ich unmittelbar einwirken könne, da sie beide einander völlig entgegengesezt seyn sollen«61. Diese Frage indes läßt sich nur gewaltsam auflösen, »durch einen absoluten Machtspruch der Vernunft [ ... ] - durchDen: es soll, da das Nicht-Ich mit dem Ich auf keine Art sich vereinigen läßt, überhaupt kein Nicht-Ich seyn«, wodurch »der Knoten zwar nichtgelös't, aber zerschnitten würde«62. In Frage steht die unmittelbare Identität der Entgegengesetzten. Dabei handelt es sich um das Folgeproblem des Voraussetzenseiner unmittelbaren und in dieser Unmittelbarkeit mit der Entgegensetzung nicht zu vermittelnden Identität im ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre. Der Gewaltakt des anfänglichen Sprungs aus der Reflexion wiederholt sich hier, indem die sich unendlich machende Reflexion durch einen Machtspruch der Vernunft ein telos als Sollen gesetzt bekommt. Die sich selbst setzende anfängliche Unmittelbarkeit konnte sich nicht mit dem vermitteln, wofür sie sich als Grund vorausgesetzt hatte. Sie ging nicht in die Reflexion als das von ihr Bedingte über, sondern die Reflexion trat ~ als Entgegensetzung - ebenso unmittelbar neben die ursprüngliche Iden-
55
AA 1,2,285.
56
Ebd., 289. Ebd., 290. Ebd., 289. Ebd., 300. Ebd. Ebd. Ebd., 301.
57
Ebd., 284. 53 Ebd., 284 f. 54 Vgl. dazu, im Blick auf die weiteren Folgen für die Philosophie des deutschen Idealismus, Kopper 1989. 52
89
58
59 60
61
62
H. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
Einbildungskraft
tität. Umgekehrt richtet sich nun die Reflexion auf ein ihr entzogenes Substrat, in dem sie gründet, ohne es mit ihren Mitteln einholen zu können. Hierin reproduziert die Wissenschaftslehre das Grundproblem der Kantischen Vernunftkritik. Für Fichte bleibt »ununtersucht, und völlig im Dunkeln [.:.] diejenige Thätigkeit des Ich, durch welche es sich selbst als Substanz, und Accidens unterscheidet, und vergleicht«63. Im Dunkel bleibt die Einheit des Wissens, denn sie bleibt für uns in einem unendlichen Gegensatz befangen, in dem sich alle Aporien der wechselseitigen Begründung und Bestimmung von endlichem Verstandesdenken und Vernunft wiederholen. Im Durchgang durch die Wechselbestimmungen des Ich und Nicht-Ich wird schließlich jene Aporie erreicht, die der transzendentalen Dialektik Kants zugrundelag, die Aporie der notwendigen Beziehung des Endlichen oder Bedingten auf das Unendliche oder Unbedingte. Der höchste Gegensatz ist der des Endlichen und Unendlichen, auf dessen Vereinigung alles ankäme: »Beides soll Eins, und eben dasselbe seyn; das heißt kurz: [ ... ] Unendlichkeit und Begrenzung sind in Einem und eben demselben synthetischen Gliede vereinigt«64. Der Gegensatz, der hier aufbricht, ist Gegensatz schlechthin im Unterschied sowohl zur Entgegensetzung im Endlichen, die partielle Identität einschließt (alles Endliche ist durchgängig durcheinander bestimmbar), als auch zum Unendlichen, das - sollte es mehrere Unendliche geben - im Begriff der Unbestimmbarkeit übereinkommt. Dieser Gegensatz kann nicht behoben, er kann nur durch eine Verträglichkeitsbedingung zwischen den Entgegengesetzten auf Dauer gestellt werden: durch das Setzen der Grenze zwischen dem an sich Entgegengesetzten. Nun ist aber das Ich, welches die Grenze setzt, »selbst, und zwar bloß als thätiges, eins der Zusammentreffenden«, dessen Tätigkeit »in das unendliche«65 hinausgeht. Um sich zu begrenzen, bedarf es daher eines äußeren Anstoßes (durch das Nicht-Ich). Das Ich, von dem hier die Rede ist, ist nicht das absolute. Dennoch reproduziert sich hier das unvermittelte Nebeneinander von absoluter Ich-Identität und Entgegensetzung, deren Vermittlung im Unbedingten des Wissens im Dunkel bleibt und unter die transzendentalphilosophische Restriktion des Erkennens fällt. Die transzendentale Dialektik schlägt sich in der ins unendliche gehenden Tätigkeit des Ich nieder. ' Gleichwohl bedeutet Fichtes Problemstellung eine Radikalisierung gegenüber der Kantischen Theorie der Reflexion. Das komparativ-topologische Verfahren der transzendentalen Reflexion sollte Vorstellungen hinsichtlich ihres Ortes in den Erkenntniskräften vergleichen und unterscheiden und damit ein Defizit der logischen Komparation beheben, welche »den Grund der Möglichkeit der objektiven Komparation der Vorstellungen unter einander«66 nicht aufzeigen konnte. Für Fichte mußte aber auch Kant diesen Grund in dem Maße verfehlen,
wie er die Vermittlung der Erkenntniskräfte im Ich, was als »Ich denke« alle Vorstellungen muß begleiten können, nicht aufzeigen konnte. Demgegenüber fragt Fichte nach dem Grund der Möglichkeit des Vergleichens und Unterscheidens, d. h. der Komparation überhaupt, in der unmittelbaren Einheit des Ich. Indem Fichte die spekulativ begründete Einheit des Erkenntnisgeschehens schon in der Tathandlung als Geschehen zum Leitproblem machte, verflüssigte er das Kantische Tableau der Erkenntnisvermögen im Sinne einer genetischen Rekonstruktion ihrer Einheit im Erkenntnisprozeß. Dabei kommt Fichte mit Kant jedoch darin überein, diese Einheit nicht in wirklichen Erkenntnisprozessen aufzusuchen, sondern in der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültigen Erkennens und Tuns. Dies führt dazu, daß die aus ihrer Erstarrung befreite Reflexion wiederum in die vorausgesetzte Unmittelbarkeit eines Grundsatzes verbannt wird, in welchem sie in der toten Unruhe des Setzens als Tathandlung um sich selbst oszilliert, ohne die Vermittlungen leisten zu können, für die sie einsteht.
90
63 64 65 66
Ebd., 300. Ebd., 358. Ebd., 357. KrV B, 319.
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6. Einbildungskraft
Daß die Tätigkeit selbst, als Tätigkeit, unmittelbar gesetzt wird und damit an die Stelle der Kantischen Vermögen rückt, wiederholt sich auch auf der Ebene der unendlichen Entgegensetzung im theoretischen Wissen. Sofern die Antinomie des Bestimmtwerdens und Bestimmens in der unendlichen Tätigkeit des Ich durch eine Verträglichkeitsbedingung zum Widerstreit herab gestuft worden ist, kann dieser selbst als ein Vermögen deklariert werden, nämlich als das Vermögen der Einbildungskraft: »Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich, und unendlich zugleich sezt ~ ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jezt das unendliche in die Form des endlichen aufzunehmen versucht, jezt, zurückgetrieben, es wieder ausser derselben sezt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht - ist das Vermögen der Einbildungskraft«67. Fichtes Vorgehen kommt einem theoretischen Handstreich gleich: das Unvermägen, die geforderte Vermittlung innerhalb der Prinzipienkonstellation der Wissenschaftslehre leisten zu können, wird kurzerhand zu einem besonderen Vermögen erklärt, das neben die Vernunftprinzipien tritt. Die Leistung dieses Vermögens besteht dann auch gerade darin, den Widerstreit als Spiel zu organisieren und somit den Widerspruch zu überspielen. ,»Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem in der Mitte schwebt [ ... ]. lenes Schweben eben bezeichnet die Einbildungskraft durch ihr Produkt; sie bringt dasselbe gleichsam 67
AA 1,2,359.
H. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
Einbildungskraft
während ihres Schwebens, und durch ihr Schweben hervor«68. Produkt der Einbildungskraft ist das Setzen der Grenze als »Produkt des Auffassenden im, und zum Auffassen, (absolute Thesis der Einbildungskraft, die insofern schlechthin produktiv ist) «69 . Dies gilt aber nur dann, wenn an der unmittelbaren Sichselbstgleichheit des Ich fraglos festgehalten wird; diese aber hatte die Schwierigkeiten erst hervorgebracht, die hier durch das Konzept der produktiven Einbildungskraft gelöst werden sollen. Das Problem selbst wird zu seiner Lösung erklärt. Im Unterschied zur absoluten Thesis gelten Antithesis und Synthesis der Einbildungskraft nicht als produktiv, sondern als »reproduktiv«. Der Dreischritt von Thesis, Antithesis und Synthesiswiederholt insgesamt noch einmal die Folge der Grundsätze der Wissenschaftslehre, aber so, daß jetzt das Sich-Bestimmen des Ich im Setzen ein ab künftiger Modus des Sich-als'-setzend-Setzen des Ich im ersten Grundsatz ist und durch ihn, als Bedingung der Möglichkeit des Setzens, beglaubigt wird. In diesem abkünftigen Setzen sind Produzieren und Produkt, Setzen und Gesetztes nicht unmittelbar identisch, sondern es ist ein vom Produzieren abhebbares Produkt vorhanden. Die Antithesis der Einbildungskraft fixiert dieses in der Entgegensetzung zum Produzieren (der Thesis). Als Reflexion auf ein Vorgängiges - Produzieren und Produkt - ist sie reproduktiv. Das heißt: Entgegensetzung ist Reproduktion der Identität unter entgegengesetzten Vorzeichen. In dieser Antithesis aber sind Identität und Entgegensetzung, Beisich-selbst-Sein und Beziehung auf Anderes amphibolisch geworden; es bedarf einer besonderen Beglaubigung dafür, daß nicht die Identität der Schein, nicht die Thesis reproduktiv sei, und diese Beglaubigung ist die Synthesis der Einbildungskraft, die beide, Thesis und Antithesis, so vereinigt, daß »jene produktive Thätigkeit dem Ich zugeschrieben werden soll« und dabei »die Begrenzenden selbst in der Grenze zusammengefaßt«7o werden. Die Synthesis erst schreibt dem Ich die produktive Tätigkeit zu und definiert ineins damit sich (und die Antithesis) als bloß reproduktive Momente der Einbildungskraft. Liest man Fichtes Konzept der Einbildungskraft grundsätzlicher, im Blick auf den Zusammenhang der Grundsätze der Wissenschaftslehre, so wäre damit die anfängliche, unmittelbare Identität in ihrer Unmittelbarkeit ein gleichgültiges Prinzip, gleich geltend (und verwechselbar) mit dem der unvermittelten Entgegensetzung. Erst durch die vermittelnde Bewegung der Synthesis könnten beide aus der GI.eichgültigkeit heraustreten und ihre Geltung als Grundsätze bewähren. Diese vermittelnde Bewegung vollzieht die produktive Einbildungskraft, aber nur auf eine scheinhafte Art. Die zirkuläre Bewegung der Reproduktion läßt die ursprüngliche Unmittelbarkeit als unvermittelte Voraussetzung stehen. Die scheinhafte Vermittlung fällt daher unmittelbar in die gleichgültige Entgegensetzung zurück. Sie vereinigt das Setzen der Grenze und das Entgegengesetztsein in
der Grenze selbst, ohne diese fixieren zu können: »Die Einbildungskraft sezt überhaupt keine feste Grenze, denn sie hat selbst keinen festen Standpunkt; nur die Vernunft sezt etwas festes, dadurch, daß sie erst selbst die Einbildungskraft fixirt«71. Die Einbildungskraft ist Ausdruck des Unvermögens der Vernunft, die Entgegengesetzten u:gmittelbar zu vereinigen; in ihr fixiert die Vernunft eine ihr eigentümliche Antinomie als Hin- und Hergetriebensein zwischen den Extremen: »Das Vermögen der Synthesis hat die Aufgabe die entgegengesezten zu vereinigen, als Eins zu denken [ ... ] Dies vermag sie nun nicht; dennoch aber ist die Aufgabe da; und es entsteht daher ein Streit zwischen dem Unvermögen, und der Forderung. In diesem Streite verweilt der Geist, schwebt zwischen beiden; schwebt zwischen der Forderung, und der Unmöglichkeit, sie zu erfüllen, und in diesem Zustande, aber nur in diesem, hält er beide zugleich fest, oder, was das gleiche heißt, macht sie zu solchen, die zugleich aufgefaßt, und festgehalten werden können«72. Die Tätigkeit des Geistes besteht darin, die Entgegengesetzten unter die Formen der Anschauung (Zeit und Raum) und sich selbst dadurch in einen »Zustand des Anschauens«73 zu versetzen. Indem das Anschauen durch die produktive Einbildungskraft hervorgebracht wird, läßt sich aus ihr die Vorstellung als »Realität für uns« deduzieren,74 wodurch die Aufgabe der theoretischen Philosophie erfüllt wird. In diesem Zusammenhang erinnert Fichte an Kants Theorie der Einbildungskraft und seine Warnung vor den dieser Kraft innewohnenden Täuschungsmöglichkeiten. Diese Gefahr ist für Fichte deshalb nicht gegeben, weil die Einbildungskraft im Ergebnis die dem Alltagsbewußtsein eigene Überzeugung der Realität affirmiert und in ihr »die Möglichkeit unsers Bewußtseyns, unsers Lebens, unsers Seyns für uns; d.4. unsers Seyns, als Ich, sich gründet, so kann dieselbe nicht wegfallen, wenn wir nicht vom Ich abstrahiren sollen, welches sich widerspricht, da das abstrahierende unmöglich von sich selbst abstrahieren kann; mithin täuscht sie nicht, sondern sie giebt Wahrheit, und die einzige mögliehe Wahrheit. Annehmen, daß sie täusche, heißt einen Skeptizismus begründen, der das eigene Seyn bezweifeln lehrt«75. Fichte bestreitet die Täuschungsmöglichkeit, indem er die Produkte der Einbildungskraft als subjektive Vorstellungen auszeichnet, von denen das Subjekt, will es sich nicht selbst zerstören, nicht abstrahieren kann. Für Kant war umgekehrt gerade die Subjektivität Ursache der Täuschung dann, wenn den bloß subjektiven Produkten Realität im Sinne der auf Empirie bezogenen, reproduktiven Einbildungskraft zugeschrieben . wurde. Dagegen bezieht sich für Fichte die reproduktive Einbildungskraft nicht auf die Empirie, sondern auf das ursprüngliche Geschehen der produktiven
92
71 72
68 69 70
Ebd., 360. Ebd., 359. Ebd.
73
74 75
Ebd., 360. Ebd., 367. Ebd. Vgl. ebd., 369ff. Ebd., 369.
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H. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
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Einbildungskraft. Die Realität für uns ist Produkt einer Inversion des empirischen Subjekts. Die Unmöglichkeit, von dieser Subjektivität zu abstrahieren, hängt freili~h daran, daß Subjektidentität überhaupt das erste und letzte Wort aller zur Wissenschaft erhobenen Philosophie sei. Wäre sie es nicht, so würde sich das (empirische) Ich in der Nicht-Zuschreibung aller Realität an seine eigene Imagination nicht verlieren, sondern allererst Zugang zu dem gewinnen, wodurch es als empirisches bestimmt ist. . Von dem ursprünglichen Konzept der Einbildungskraft rückt Fichte in der Folge sehr schnell ab; bereits in der Wissenschaftslehre »Nova methodo« (1798/ 99) wird die Funktion der Einbildungskraft auf die Synthesis des vom Denken produzierten Mannigfaltigen reduziert; in den folgenden Entwürfen spielt sie kaum eine Rolle. Dies ist die Folge von erheblichen systematischen Eingriffen in Oden Aufbau der Wissenschaftslehre. Während seit 1797 die Anschauung als intellektuelle eine spezifische Auszeichnung erfährt, wird seit 1800 der Ausgang bei dem absoluten Ich zugunsten eines ichlosen Absoluten revidiert; damit aber entfällt die Notwendigkeit zur Selbstaffirmation der Subjektivität auch in der abkünftigen, empirischen Synthesis, für welche die Konzeption der produktiven Einbildl.mgskraft einstand. Nur als solche aber konnte sie (und mit ihr die »Grundlage« von 1794/95 insgesamt) zum Problemhintergrund und Modell systematischer Konstruktionen werden, wie sie in der Philosophie des deutschen Idealismus im Abstoß von Fichte versucht wurden.
7. Praktische Synthesis
Im Durchgang durch die theoretische Seite des Wissens schlägt diese in die praktische um. Ausgangspunkt des theoretischen Wissens warder aus dem dritten Grundsatz abgeleitete Teilsatz »das Ich setzt sich als bestimmt durch das NichtIch«. Dieser Satz verkehrt sich in sein Gegenteil. In der Synthesis der Einbildungskraft hatte das Ich sich die Realität des Nicht-Ich als eines Bestimmbaren zugeschrieben und damit den zweiten Teilsatz, der vorher noch problematisch war, in faktische Geltung gesetzt: »das Ich setzt sich als bestimmend das NichtIch«. Damit holt die Wissenschaft des Praktischen die Voraussetzung des theoretischen Wissens ein; das praktische Vermögen ermöglicht erst das theoretische. Der umgekehrte Gang der Darstellung beruht bloß darauf, daß »die Denkbarkeit des praktischen Grundsatzes sich' auf die Denkbarkeit des theoretischen GrundOsatzes gründet«76. Das theoretische Wissen erkennt in dem Praktischen das, was ihm zugrundeliegt. So ist die endliche Vernunft des empirischen Ich, sofern sie sich gegenüber dem absoluten Ich notwendig reproduktiv verhält, bestimmend oder praktisch als Reproduktion der ursprünglichen Tathandlung.
o
Praktische Synthesis
Dieser Bezug auf das absolute Ich begründet indessen eine Antinomie im Praktischen. Fichte unterscheidet im § 5 der Wissenschaftslehre das absolute Ich von dem Ich als Intelligenz, d. h. dem vorstellenden und insofern endlichen Ich, das, »als Intelligenz überhaupt, abhängig von einem unbestimmten, und bis jezt völlig unbestimmbaren Nicht-Ich«77 sei. Damit wird das Problem aufgeworfen, wie das Ich überhaupt als Intelligenz, d. h. als ein endliches Wesen gesetzt wird, und wie es seine Voraussetzung - das absolute Ich - innerhalb der Entgegensetzung wieder einholen kann, denn die Entgegensetzung des absoluten Ich und der C) endlichen Intelligenz widerspricht, so Fichte, »der absoluten Identität des Ich«. Es s011.»die Abhängigkeit des Ich, als Intelligenz, [ ... ] aufgehoben werden, und dies ist nur unter der Bedingung denkbar, daß das Ich jenes bis jezt unbekannte Nicht-Ich, dem der Anstoß beigemessen ist, durch welchen das Ich zur Intelligenz wird, durch sich selbst bestimme«78; absolutes Ich und Intelligenz sollen eins und dasselbe sein. Diese Forderung wäre indes nur zu erfüllen, wenn das Ich das (J Nicht-Ich schlechthin, ohne allen Grund setzen könnte. Das würde voraussetzen, daß die Entgegensetzung (der zweite Grundsatz) schon im absoluten Ich liegt; so wäre es »in seinem Wesen sich selbst entgegengesezt, und widerstreitend [ ... ]. Das Ich wäre gar 'nichts, denn es höbe sich selbst auf«79. Diese Antinomie im Praktischen berührt die Konzeption der Wissenschaftslehre insgesamt. Das Sich-selbst-Setzen des Ich im ersten Grundsatz wird von Fichte in diesem Zusammenhang nur noch als eine Form des Setzens verstanden. Außer diesem soll es noch ein Setzen als Entgegensetzen geben, wofür sich aber »kein höherer Grund der Möglichkeit irgend woher« ableiten läßt, »sGndern dieser· Unterschied liegt aller Ableitung, und aller Begründung selbst zum Grunde «80 . Dann aber wäre die Entgegensetzung in der Bedeutung des zweiten . Grundsatzes aus dem absoluten Ich abgeleitet und eine Modifikation des Abso. luten. Der Versuch dieser Ableitung würde indes auf einen Selbstwiderspruch des Absoluten mit sich hinauslaufen. Dieser könnte so interpretiert werden, daß sich das Absolute als ein schlechthin Verschlossenes jeder Erkenntnis entzieht. Er könnte aber auch so interpretiert werden, daß der Ausgang bei der Identität auf die spekulative Affirmation des Widerspruchs nicht verzichten könnte. Fichte umgeht das Problem dadurch, daß er das Setzen als Gegensetzen apriori zur Hypothese bzw. zum Postulat erklärt, welches durch ein Faktum des Bewußtseins beglaubigt werde. Die Realität dieses Setzens »kann jeder nur durch seine eigene Erfahrung sich darthun«81. Dieser Rekurs auf die Erfahrung hat Bedeutung für die gesamte Wissenschaftslehre : »sie stellt lediglich solche Sätze auf, die a priorigewiß sind: Realität aber erhält sie erst in der Erfahrung«82. Die Begrün77 78 79 80 81
76
AA 1, 2, 286.
95
82
Ebd., 387. Ebd. Ebd., 389 f. Ebd., 390. Ebd. Ebd.
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Jacobi
H. Unmittelbarkeit und Reflexion· Fichtes Wissenschaftslehre
dung des theoretischen Wissens durch die Wissenschaft des Praktischen erhält hier eine folgenreiche Zuspitzung: In ihr fungiert die Entgegensetzung als T31tsache die durch formale Abstraktion in den Rang eines Prinzips erhoben werden kann' das abstrakt und unvermittelt dem Grundsatz absoluter Identität entgegentritt, ohne ihn als seine Bedingung durchsichtig machen zu können. An diesem Punkt schlägt die Berufung auf die Erfahrung auf die Grundsätze zurück. In dem unvermittelten Nebeneinander einer empirisch begründeten synthesis post factum (dem Setzen des Ich als Entgegensetzen) auf der einen Seite, und scheinbar unbedingten Grundsätzen, welche diese Synthesis verfehlen, auf der anderen Seite, erscheinen die Grundsätze selbst in ihrer Unmittelbarkeit als verselbständigte At>stniktionsprodukte empirischer Synthesen, deren Momente sowohl Identität als auch Entgegensetzung sind. Die Privilegierung der absoluten Identität im obersten Grundsatz läßt sich für o Fichte nur noch als §.Qllen gegen die Realität der Entgegensetzung ausspielen. Das absolute Ich fordert »die Uebereinstimmung des Objekts mit dem Ich«83, woraus ein unendliches Streben der Intelligenz folgt, das Widerständige des o Nicht-Ich zu überwinden. In diesem unendlichen Progreß wird der Widerstreit des Ich und Nicht-Ich unendlich gemacht und das Ich befindet sich in einer fortdauernd~n, ursprünglichen »Wechselwirkung zwischen dem Ich, und irgend einem Etwas ausser demselben, von welchem sich weiter nichts sagen läßt, als daß es dem Ich völlig entgegengesezt seyn muß«84. Von dieser »Kraft«, so Fichte, sind die »endlichen Naturen« in ihrem empirischen Dasein abhängig; sie könne von ihnen nicht erkannt, sondern nur g~ werden. 85 In dem Gefühl artikuliert sich die Abhängigkeit der endlichen Subjekte von dem, was ihnen die tote, im Jenseits des Ansieh bleibende Grundlage ihres Bestimmtwerdens, aber auch das sich immer wieder erneuernde Objekt ihrer bestimmenden Tätigkeit ist. Das Ansieh dieser Grundlage ist ein Ansieh für uns, d. h. ein Noumenon, das durch das absolute Ich eingezogen wär~, für uns aber praktisch und theoretisch in Geltung bleibt. 86 Dies stellt die Antinomie des Bestimmtwerdens und Bestimmens auf Dauer und löst sie in eine empirische, raumzeitliche Bewegung auf, die gleichwohl gegenüber der postulierten durchschlagenden Identität des obersten Grundsatzes in äußerlicher Gleichgültigkeit bleibt.
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B. Unmittelbarkeit als Selbstsein im Anderen. Das frühidealistisch-frühromantische Programm· 1. Amphibolie der Unmittelbarkeit (Jacobi) Der kritische Anschluß an Fichte erfolgte im Rückgang auf diejenige Unmittelbarkeit, die dieser im obersten Grundsatz der Wissenschaftslehre vorausgesetzt hatte. Wenn dabei der transzendentalphilosophische Standpunkt im Rückgang auf Denkfiguren der Aufklärungsphilosophie unterminiert wurde, so wurde nur eine Spannung zum Austrag gebracht, die bei Fichte selbst angelegt war. Dieser glaubte, die Spekulation mit der Realitätsauffassung des Alltagsbewußtseins versöhnen und so die empirische Reflexion zum Zeugen der Wissenschaftslehre machen zu können. In diesem Sinne hatte er versucht, mit Friedrich Heinrich J acobi übereinzukommen, der - noch aus der Perspektive der common-sensePhilosophie der Aufklärung - das Wissen als unmittelbares in einem Unmittelbaren begründen wollte. In einem Brief vom 30. 8. 1795, anläßlich der Übersendung einer Lieferung der Wissenschaftslehre, betonte Fichte die »auffallende Gleichförmigkeit unsrer philosophischen Überzeugungen« und hob besonders auf den Realismus des empirisch-praktischen» Reflexionspunktes« ab: »durch die Deduktion und Anerkennung dieses Punktes von der Spekulation selbst erfolgt die gänzliche Aussöhnung der 'Philosophie mit dem gesunden Menschenverstande«, d. h.: des Realismus und transzendentalen Idealismus, der bei ihm, Fichte, noch »härter« sei als bei Kant. 87 . Umgekehrt war es nicht nur der Realismus des gesunden Menschenverstandes, der J acobi im Gefolge der common-sense Philosophie vor allem Thomas Reids besonders angelegen war. 88 Nicht anders als Fichte ging es ihm um eine Übereinstimmung des Realitätsprinzips mit dem der Freiheit, wobei das Prinzip der 0 Freiheit den systematischen Ausgangspunkt bilden sollte. In s.einer 1799 erschienenen Schrift mit dem programmatischen Titel »Ueber die Unzertrennlichkeit des Begriffes der Freyheit und Vorsehung von dem Begriffe der Vernunft« heißt es dazu: »Der Geist allein, nicht die Natur, erfindet und bringt mit Absicht hervor; Er allein dichtet und trachtet. Das Hervorbringen der Natur allein ist ein blindes, vernunftloses, nothwendiges, blos mechanisches Hervorbringen, ohne Von~ehung, Entwurf, freye Wahl und Absicht. Darum finden sich auch in unserem Bewußtseyn Vernunft und Freyheit unzertrennlich mit einander verknüpft, nur nicht dergestalt, daß von der. Vernunft (dem Adjectivo) das freye Vermögen; sondern so, daß von dem freyen Vermögen (dem Substantivo) die Vernunft abgeleitet werden muß«89. Die Autonomie des Subjekts bildet hier wie bei Fichte 0 den Ausgangspunkt. Sie ist Freiheit, verstanden als Selbsttätigkeit, in der das
Ebd., 396. Ebd., 411.
87
Vgl. ebd., 412. VgL ebd., 412f.
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AA 3, 2; 391ff., NI. 307; zum Verhältnis Jacobi-Fichte vgl. Lauth 1971. Vgl.G. Baum 1969; Hammacher1969.197l. Werke 2, 316f.; zur Freiheitsperspektive bei Jacobi vgl. Homann 1974.
Jacobi
H. Unmittelbarkeit und Reflexion· Selbstsein im Anderen
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Selbst bei sich bleibt, und somit Unmittelbarkeit. Der Grund dieser Freiheit als Unmittelbarkeit aber entzieht sich jedem Begreifen, das als Reflexion auf ein Gegebenes schon immer Vermittlung ist. So ist dann auch das Gebiet der Freiheit für Jacobi »das Gebiet der Unwissenheit«, und zwar einer »dem Menschen unüberwindlichen«9o. Gleichwohl gründet in dieser Freiheit das Wissen, denn die Wissenschaft selbst ist ein Produkt des Geistes aus Freiheit; das aber heißt: 0Wahrheit und Wissen gründen im »Glauben an Freyheit«. Es »muß die mit dem Glauben an Freyheit verknüpfte Unwissenheit [ ... ] jener der Wissenschaft unzugängliche Ort des Wahren seyn. - >Ziehe die Schuhe aus, denn hier ist heiliges Land! «>flur Schein [ ... ], nicht das wahrhafte Sein, nicht absolute Wahrheit«61. Dieses negative Moment haben der kosmologische und physikotheologische Beweis in ihrem Schluß von der Welt auf Gott übergangen; sie sind daher nur »als die Beschreibungen und Analysen des Ganges des Geistes in sich anzusehen, der [ ... ] das Sinnliche denkt«62. Die empirische Beschreibung behandelt daher auch das Nichtempirische empirisch, d. h. sie stellt Gott, das Absolute, wie ein Empirisches in einen Vermittlungszusammenhang ein, wodurch das Bedingte (die Welt) als Voraussetzung des Bedingenden (Gott) erscheint. Weil aber andererseits das Absolute nicht ein Unmittelbares gegen die Welt sein kann, die Vermittlung also notwendig ist, ist für Hegel »in dieser Vermittlung die Vermittlung selbst«63 aufzuheben. Die Wahrheit des Empirismus ist für Hegel nur zu haben, wenn sie mit der? Wahrheit des metaphysischen Denkens zusammenfällt: die erfüllte Mannigfaltig- . keit des Seins, die in die Vermittlungen im Endlichen eingeht, muß mit der Unmittelbarkeit konvergieren, mit der die Metaphysik Vemunftgegenstände setzte. Diese Unmittelbarkeit aber ist von der Abstraktion und dem Gegensatz gegen die Vermittlung zu befreien, sie ist als das Ganze der Reflexion des Absoluten in sich wiederherzustellen. Mit dieser Figur der wiederhergestellten Unmittelbarkeit (die im Folgenden noch näher zu entwickeln ist)64 meint Hegel auch, den ontologischen Gottesbeweis als formalen Begriff Gottes rechtfertigen zu können; die Kritik richtet sich allein darauf, daß dieser formale Begriff bereits für die Explikation des damit Bezeichneten ausgegeben wird: »der Begriff [ ... ] ist wenigstens die durch Aufhebung der Vermittlung hervorgehende, somit selbst unmittelbare Beziehung auf sich selbst; das Sein aber ist nichts anderes als dieses«65. Sofern das Sein in seiner Unmittelbarkeit, wie es am Anfang der »Logik«
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Zur Diskussion darüber vgl. Jaeschke 1983, 120ff. Vgl. Jaeschke 1986, bes. 361-370. Enz. 31830, § 50. Vgl. ebd., § 51.
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Ebd., § 50, Erläuterung. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Rohs 1974. Enz. 31830, § 51, Erläuterung.
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III. Hegel: Begriff und Wirklichkeit
auftritt, das ärmste und abstrakteste ist, wird deutlich, daß und wie Hegel hier das Formular der abstrakten Identität zugrundelegt und konkretisierend ausfüllt. Mit dem Problem der Unmittelbarkeit ist die dritte Stellung des Gedankens zur Objektivität angesprochen, in welcher »das Denken als Tätigkeit nur des Besondern«66 aufgefaßt wird. Dieses Denken bewegt sich nur in endlichen Entgegensetzungen, die es auf endliche Weise vermittelt, ohne den Grund der identifizierenden Vermittlung einholen zu können. Daraus wird von diesem Denken der unkritische Schluß gezogen, das wahrhafte Allgemeine sei ein Unmittelbares, das sich im Gegensatz gegen das Denken überhaupt, und nicht nur gegen das endliche Reflektieren befinde. Hegel stimmt der These zu, daß die Unmittelbarkeit das Prinzip des Wahren sei, sofern nämlich die Aufhebung der Vermittlung in die Unmittelbarkeit das Sich-Erheben des Denkens über den Schein der Endlichkeit zum absoluten Wissen kennzeichnet. Dieses aber ist nicht als Prinzip, d. h. als unmittelbare Voraussetzung, sondern nur als Resultat zu haben. In dem unmittelbaren Aufnehmen eines Unmittelbaren verfährt auch das unmittelbare Wissen ,j (He gel nennt hier namentlich F. H. Jacobi) empirisch: die Unmittelbarkeit wird, »wie sich ein Inhalt im Bewußtsein findet, eine Tatsache in diesem ist, zum Prinzip «67 . Unmittelbarkeit bezeichnet hier zunächst das wahrhafte Unendliche im Gegensatz gegen die endliche Vermittlung. Diese Unmittelbarkeit sei aber auch positiv bestimmt, nämlich als unmittelbare Einheit von Denken und Sein, wie sie besonders in der Philosophie Descartes' ausgesprochen wurde, wobei Descartes sie jedoch als Ausschluß der Vermittlung und letztlich als abstrakte Identität mißverstanden habe. 68 Hegels relativ ausführliche Erörterungen zum unmittelbaren Wissen in den Paragraphen 61-78 der »Enzyklopädie« sind nicht nur durch die systematische Dignität dieser Stellung des Gedankens begründet, sondern auch dadurch, daß in ihnen der Anknüpfungs- und zugleich Abstoßungspunkt seiner eigenen PhilosoCl phie in der frühidealistisch-frühromantischen Bewegung zur Sprache kommt. HIer hat auch die Romantik als philosophischer Widerpart ihren systematischen o Ort, ohne daß Hegel sie ausdrücklich anspricht. Dieses Schweigen ist beredt, sofern es Hegel bei aller, zum Teil schroffen Kritik und Antikritik darum geht, nicht nur das Prinzip der Unmittelbarkeit zu affirmieren, sondern auch die romantische Figur des Selbstseins im Anderen dadurch zu kritisieren, daß sie in die Selbstbezüglichkeit des Absoluten aufgehoben wird. Dieses Argumentationsziel ist nicht weniger delikat als das andere, die Kritik der Metaphysik als Rückkehr zu deren Prinzip einsichtig zu machen. In der Konzeption der konkretisierend wiederhergestellten, vermittelten Unmittelbarkeit absoluter Reflexion laufen 0Kritik der Metaphysik und Kritik der Romantik zus~men und konvergieren in der Affirmation ihrer Prinzipien als Resultat des sich begreifenden Den66 67
68
Ebd., § 61. Ebd., § 63, Erläuterung. Vgl. ebd., §§ 65.74.
Konvergenz von Dialektik und Reflexion
161
kens. Die absolute Metaphysik ist zugleich die Überbietung· der unendlichen Reflexion romantischer Dialektik durch ihre Befreiung zu dem, was Hegel die wahre Unendlichkeit nennt und welche selbst als Unmittelbarkeit begriffen werden soll.
6. Unmittelbarkeit als Resultat: die Konvergenz von Dialektik
und Reflexion im Zeichen der NegativUät Mit dem frühidealistisch-frühromantischen Programm teilte Hegel die Auffassung, die Reflexion sei auf das Endliche beschränkt und könne allenfalls negativ auf das Absolute verweisen. Dieser Gedanke einer sich selbst vernichtenden Reflexion bekommt bei ihm eine besond~re Zuspitzung, indem er aus der Ne- subsistierenden< und >inhärierenden< Bestimmungen andererseits«122 nieder. Das besagt: die substantielle Einheit wird in wechselnden Kontexten einerseits als Substrat im Gegensatz zu allen Bestimmungen aufgefaßt, andererseits aber relational als Identität von Substrat und Bestimmungen. Das Andere zum Endlichen erscheint - als Konsequenz der Grenzziehung - einerseits als abgespaltenes Ansich, andererseits als in sich reflektierte, durchgängige Relationalität. Indem an der Grenze festgehalten wird, wird sie zugleich dementiert. Fichte will diese Zweideutigkeit vermeiden, indem er das Ding an sich in die ursprüngliche Tathandlung des absoluten Ich zurücknimmt. Tatsächlich aber bleibt auch dabei eine substantielle Einheit im Rücken der endlichen Subjektivität bestehen. Es muß wiederum eine Grenze gezogen werden, durch die sich die kritische Philosophie von der Metaphysik Spinozas fernhält. Die höchste Einheit Spinozas, d. h. die Substanz, der alle Bestimmungen inhärieren, findet sich in der Wissenschaftslehre »nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll, aber nicht kann«. Hier genau liegt die »Grenze«, welche die kritische Philosophie »anerkennt«, während Spinoza sie »über\springt«123. Diese Anerkennung ist nur durchzuhalten, wenn das Ich seine ursprüngliche Identität verliert und als teilbar im Sinne der Limitation verstanden wird. Als solches ist das Ich aber nicht begrenzt, sondern beschränkt, d.h. es erfüllt sich nicht in der Beschränkung, sondern treibt darüber.hinaus, ohne sich in dieser unendlichen Bewegung des Setzens und Aufhebens der Schranke jemals positiv als Ich zu finden. Die Unterscheidung des empirischen vom absoluten Ich verdrängt das Problem der Grenze in die wechselseitige Beschränkung des Endlichen, ohne daß es darin gelöst wäre. Fichte selbst räumt ein, daß die ins Unendliche gehende Tätigkeit des Ich als Setzen und Aufheben der Schranke von außen angestoßen werden rlIuß. In dieser äußerlich bleibenden Bedingung ist wiederum ein Anderes als das Bedingende vorausgesetzt, auf das sich das Bedingte notwendig bezieht. : An dieser Antinomie des Bedingtseins und Bedingens wird Hegel anknüpfen, um die endlichen Bestimmtheiten überhaupt als Negationen gemäß dem Kantischen Begriff der Schranke zu denken. In ihrer negativen Beziehung auf Anderes erreichen sie nicht ihre Position, sondern gehen in Anderes über. Dieses Übergehen in Anderes ist die endliche Reflexionsform, welche die »Seinslogik« beherrscht. In ihrer äußersten Zuspitzung führt sie auf eine negative Totalität des
Endlichen, in der die Endlichkeit überhaupt als das Andere des Wesens selbst erscheint und in ihm sein Bestehen hat.
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122
123
Tuschling 1989, 211; vgl. KrV B, 321.232. Wissenschaftslehre 1794/95, AA 1, 2, 264.
3. Endliches Dasein
Die hier angedeutete Bewegung hat Hegel selbst Schwierigkeiten gemacht und dazu veranlaßt, in der zweiten Fassung der Seinslogik von 1832 das Kapitel über das Dasein, in dem Bestimmtheit und Endlichkeit thematisch werden, gegenüber der ersten Fassung von 1812 umzuarbeiten.124 Das Dasein ist das bestimmte, qualitative, endliche Sein, das zunächst als Etwas besteht. Im Deduktionsgang der Logik wird dieses als die Besonderung eines Allgemeinen, als das daseiende Dasein, eingeführt. Im Etwas sind Realität und Negation so vereinigt, daß es sich in der negativen Beziehung auf Anderes zugleich auf sich selbst bezieht und darin besteht. Das »Etwas« bezeichnet eine systematisch ausgezeichnete Stelle der »Wissenschaft der Logik«, denn es ist die erste in ihrem Argumentationsgang vorkommende Negation der Negation: »Das Etwas ist die erste Negation der Negation, als einfache seyende Beziehung auf sich«125. In der ersten Auflage der »Seinslogik« - und nur dort - hat Hegel deshalb auch einen eigenen Abschnitt über die Negation der Negation eingeführt und versucht, den Gegensatz von Realität und Negation von dem des Reellen und Ideellen sowie des Negativen und Positiven abzugrenzen. 126 Im Etwas ist die Unmittelbarkeit des Daseienden in die vermittelte Identität übergegangen. Es ist die »Vermittlung seiner mit sich selbst«; sie ist in ihm »gesetzt, insofern es als einfaches Identisches bestimmt ist«127. Dies ist so zu verstehen, daß die Vermittlung des Etwas mit sich noch »keine concrete Bestimmungen zu ihren Seiten« hat: »so fällt sie in die einfache Einheit zusammen«128. Sie ist abstrakte, gleichgültige Identität des Etwas gegenüber dem Anderen überhaupt, d. h. noch nicht bestimmte Beziehung auf Anderes. Dementsprechend ist auch die zweite Negation (die Vermittlung mit sich) ohne konkrete Bestimmung. In der ersten Fassung der »Seinslogik« leitet sich das Etwas aus einer Erörterung der Realität her, die in sich als »Anderssein«, »Sein-für-Anderes« und »Ansichsein« bestimmt ist. In der Fassung von 1832 dagegen werden umgekehrt das »Sein-für-Anderes« und das »Ansichsein« als Folgebestimmungen des Etwas in dem Abschnitt über die Endlichkeit abgeleitet. Damit wird der Deduktionsgang bereinigt, denn in der ersten Auflage war das Dasein bereits im Anderssein so auf Anderes bezogen, daß dieses Andere Hegel als »das Andere seiner selbst« 124 Vgl. die entwicklungsgeschichtlichen Hinweise bei Hogemann und Jaeschke 1990, bes. XXII - XXV. 125 GW 21, 103. 126 Vgl. GW 11, 75-78. 127 GW 21, 103 f. 128 Ebd., 104.
176
III. Hegel: Die Negativität des Endlichen
galt und das Dasein dementsprechend gemäß der Reflexionsbestimmung . des Widerspruchs beschrieben wurde: »Das Daseyn erhält sich in seinem Nichtdaseyn; es ist wesentlich eins mit ihm, und wesentlich nicht eins mit ihm«129. Bereits hier ist eine vermittelte Identität mit sich - Selbstbeziehung in der Beziehung auf Anderes - erreicht, die gleichwohl erst dem Etwas zukommen soll. Auf die Einheit des Daseins und des Anderen wird dann äußerlich reflektiert, so daß Sein-für-Anderes und Ansichsein nicht eine immanente Vermittlung bezeichnen, sondern einen Verweisungszusammenhang konstituieren: »Das Seyn-für-Anderes [ ... ] ist Nichtdaseyn, das auf das Ansichseyn hinweist, so wie umgekehrt das Ansichseyn auf das Seyn-für-Anderes hinweist«13o. Dagegen betont di'e Fassung von 1832, daß die vermittelte Identität des Daseins als Einheit des Seins und Nichtseins nur für uns, in der äußeren Reflexion, erscheint, aber noch nicht »gesetzt« ist, wie es erst im Etwas der Fall ist. l3I Das Anderssein ist daher nicht mehr das des Daseins überhaupt, sondern das Andere itn Verhältnis zum Et. was. Die größere Stringenz hat zweifellos die überarbeitete Fassung; dennoch machen die Inkonsistenzen der Erstauflage auf ein Problem aufmerksam, welches den Gang der Logik überhaupt berührt. In der Einheit das Daseins und Andersseins wird dort gleich am Beginn ausgesprochen, daß das Andere von einem übergreifenden Ganzen aus zu denken sei, dessen Moment es als das Andere dieses Ganzen selbst ist. Anderssein, Endlichkeit und Bestimmtheit erscheinen als Produkte einer Totalität, welche sich negativ auf sich selbst bezieht. Endlichkeit überhaupt erhält den Status der Verendlichung bzw. Entäußerung einer o unendlichen Seinsmacht, die sich darin reflektiert und wieder zu sich zurückkehrt. Dies scheint in der ersten Auflage der Seinslogik im Vorgriff auf die Resultate der weiteren Entwicklung kurz auf, um dann von der äußeren Reflexion wieder fallengelassen zu werden. Nun handelt es sich bei diesem Vorgriff nicht um eine äußere Voraussetzung, die in der überarbeiteten Fassung nur besser versteckt wird. Der Vorgriff auf das Resultat ist aber symptomatisch dafür, daß in Hegels Verständnis der Gang der Reflexion erst, dort zum Ziel kommt, wo sie es nicht mehr nötig hat, über sich hinauszugehen, d. h. dort, wo sie sich derart absolut gemacht hat, daß das Andere als ihr eigenes Moment ganz in sie selbst o fällt und von ihr gesetzt wird. Das bedeutet, daß die Reflexion Hegel auch dort noch als äußere gilt, wo sie die immanente Reflexion des Endlichen selbst erreicht. In der Differenz von Denken und Wirklichkeit wäre die gedankliche Reproduktion des Konkreten noch immer Beziehung auf ein Anderes, welches e.> sie nicht selbst ist. Dies ist im Auge zu behalten, wenn Hegel die Reflexion im Endlichen durch die Aufhebung realer Differenz in die Momente eines Ganzen überwinden will.
Endliches Dasein
Für das Gelingen dieses Unternehmens scheint Hegel in der zweiten Fassung der »Seinslogik« die Bedingungen zu verschärfen, indem er das Etwas als Element einer Totalität von Daseiendem zur ersten in sich vermittelten Identität macht. Diese ist aber noch gleichgültige Identität gegen Anderes, das ebenfalls Etwas ist. Der Unterschied fällt in die äußere Reflexion, denn beide »sind sowohl als Etwas als auch als Anderes bestimmt, hiemit dasselbe und es ist noch kein 0 Unterschied derselben vorhanden. Diese Disselbigkeit der Bestimmungen fällt aber ebenso nur in die äussere Reflexion, in die Vergleichung beyder«132. Die abstrakte Identität des Etwas im Unterschied zu Anderem entspricht dem ge-Ci) meinten »Dieses« der sinnlichen Gewißheit in der »Phänomenologie des Geistes«;133 sie ist das Resultat von Vermittlung unter der Abstraktion von der immanenten Vermittlung betrachtet. Es fragt sich nur, von welchen Vermittlungen hier abstrahiert wird. In der ersten Fassung der »Seinslogik« wird das Etwas am Anfang des mit »Bestimmtheit« (1832: »Endlichkeit«) überschriebenen zweiten Abschnitts des Daseinskapitels sogleich als Grenze bestimmt. Diese ist nicht äußerlich aufzufassen, wie in der Vorstellung einer Grenze im Raume, sondern immanent. In der Gleichgültigkeit des Etwas gegen Anderes, das ebenfalls Etwas ist, ist es nicht gleichgültig gegen seine Grenze: »die Gleichheit des Etwas mit sich beruht auf seiner negativen Natur; oder das Nichtseyn ist hier das Ansichseyn selbst; also ist die Grenze das Insichseyn«134: »So ist die Grenze Bestimmtheit«135. Von dieser Bestimmtheit des Etwas selbst hatte die abstrakte Identität abstrahiert und dem Etwas äußerlich Bestimmungen (Identität und Unterschied) beigelegt. In ,einem weiteren Schritt wird nun die Bestimmtheit als Sein-für-Anderes einbezogen. In dem reflektierten Ansichsein hat das Etwas eine Bestimmung durch die Grenze. Sofern die Grenze die negative Beziehung des Etwas auf sich durch die Beziehung auf Anderes ist, ist es aber zugleich »der Aeusserlichkeit preisgegeben« und erscheint in diesem »Bestimmtwerden durch ein Anderes [ ... ] als etwas Zufälliges«136, als Beschaffenheit. Beide Momente - Bestimmung und Beschaffenheit - gehören aber zur Bestimmtheit des Etwas, das Ansichsein nur durch Sein-für-Anderes ist und umgekehrt: »beyde sind wesentlich Momente eines und desselben [ ... ]. Die Beschaffenheit, insofern sie zugleich als in einem Aeusserlichen [ ... ] gegründet erscheint, hängt also auch von der Bestimmung ab, und die fremde Bestimmung ist durch die eigene, immanente zugleich bestimmt«137. Diese Einheit des Bestimmtwerdens und Bestimmens ist die Qualität. Mit dieser Kategorie gerät der Vermittlungszusammenhang im Endlichen, wenn auch nur elementar, allererst vollständig in den Blick. In der Fassung von 1832 132 133
134 129 130
131
GW 11, 61. Ebd., 63. Vgl. GW 21, 97 f.
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135 136
137
Ebd., 106. Vgl. ebd., 105. GW 11, 69; vgl. GW 21, 115. GW 11, 69. Ebd., 71. Ebd.
IH. Hegel: Die Negativität des Endlichen
178
kommt das darin zum Ausdruck, daß Hegel an der entsprechenden Stelle erstmals den Fortgang als dialektische Bewegung des Widerspruchs bezeichnet138 : »Etwas mit seiner immanenten Grenze gesetzt als ·der Widerspruch seiner selbst, durch den es über sich hinausgewiesen und getrieben wird, ist das Endliche«139. Die systematische Bedeutung dieser Bezugnahme wird dadurch unterstrichen, daß Hegel, wie unschwer zu erkennen ist, mit dem bisher referierten Gang das Panorama der neueren Philosophie in wesentlichen Problembereichen exponiert hat. Der Spinoza-Bezug in der Entwicklung der Einheit von Realität und Negation bedarf dabei ebensowenig der Erläuterung wie die Kritik am Empirismus im Zusammenhang mit der Gleichgültigkeit des Etwas und des Anderen. Darauf, daß das Ansichsein bloß Abstraktion von der Beziehung auf Anderes ist, Dinge an sich im Sinne Kants mithin »ohne alle Bestimmung, als Nichtse gedacht werden«140, weist Hegel ausdrücklich hin: Die Pointe besteht -darin, daß das Ding-an-sich als Residuum des Inbegriffs aller Realität als Inbegriff aller Negationen erscheint und damit, nolens volens als unabgearbeiteter Rest von Substanzmetaphysik. Was Fichte betrifft, so nimmt die Einheit von Bestimmung und Bestimmtwerden in der Qualität die Antinomie auf, die sich im Gefolge des dritten Grundsatzes der »Wissenschaftslehre« ergab und die den Widerspruch im Endlichen unendlich machte. Hiermit befassen sich die folgenden Erörterungen Oder Seinslogik. Auf den Zusammenhang des Widerspruchs im Endlichen mit Hegels Leibniz-Kritik hat Paul Guyer aufmerksam gemacht.141 Für Hegel hat Leibniz die Bewegung des Bestimmens und Bestimmtwerdens in der substantiellen, fürsichseienden Einheit der Monade als vorstellendem Wesen fixiert und somit die Vermittlungen von der Unmittelbarkeit des Fürsichseirts abgespalten. 142 J
Der Widerspruch in dieser Auffassung besteht zwischen der behaupteten Selbständigkeit (Unmittelbarkeit) der Monaden einerseits, die sich in sich vollständig bestimmen, und der vorstellenden Repräsentation aller anderen Monaden, in der sie jeweils zugleich von der Bestimmung der anderen Monaden abhängen und unselbständig sind. 143 Dieser .Widerspruch ist bei Fichte im Blick auf das empirische Ich im Verhältnis zum Nicht-Ich entwickelt, sofern er zeigt, daß die immanente Grenze des Endlichen keine Entelechie des Begrenzten in sich zu begründen vermag. Dies führt dazu, daß der Begriff »Grenze« für die Vermittlung im Endlichen aufgegeben und das Endliche als beschränkt gedacht werden muß. Was beschränkt ist, erfüllt sich darin nicht, sondern wird über die Schranke hinausgetrieben. Hier kommt die Kategorie der Veränderung als Übergehen in Anderes
Endliches Dasein
ins ~piel.144 Dies gilt nun, Hegel zufolge, auch für die Endlichkeit insgesamt: »die Entwicklung des Endlichen zeigt, daß es an ihm als dieser Widerspruch in sich zusammenfällt, aber ihn dahin wirklich auflöst, nicht daß es nur vergänglich ist und vergeht, sondern daß das Vergehen, das Nichts, nicht das Letzte ist, sondern vergeht«145. Das heißt: das Endliche ist der daseiende Widerspruch und die End- 0 lichkeit die Form, worin er sich bewegt. Die Auflösung des Widerspruchs aber ist die Auflösung der Endlichkeit selbst im Zusammengehen des Absoluten mit sich. 0 Die Form der Bewegung des Widerspruchs im Endlichen übernimmt Hegel von Fichte: sie ist die der wechselseitigen Limitation des Ich und Nicht-Ich (bei Hegel: des Etwas und des Anderen) im Bestimmen und Bestimmtwerden, wobei der Trieb zum ständigen Überschreiten der Schranke als Mangel an entelechetischer Erfüllung, als ~Lollel! erscheint. Im Unterschied zu Fichte will Hegel dabei das SoÜen immane~t aus der Dialektik von Grenze und Schranke herleiten und nicht als unendlichen Anstoß von Außen im Jenseits belassen. In der Antinomie des (Selbst-)Bestimmens und Bestimmtwerdens als Qualität ist im Widerspruch zu der in sich reflektierten Identität des Etwas zugleich und in derselben Hinsicht seine Nichtidentität gesetzt. In derselben Hinsicht, weil die negative Beziehung auf sich in der Beziehung auf Anderes zugleich das Bestimmtwerden dl.~rch Anderes ist. Die Grenze, innerhalb derer das Etwas das ist, was es ist, ist ebenso immanent wie äußerlich gesetzt. Sein Ansichsein »ist als die negative Beziehung auf seine von ihm auch unterschiedene Grenze, auf sich als Schranke, Sollen«146. Die Schranke selbst ist ein Widerspruch, sofern im Sollen das Etwas schon immer über sie hinaus ist. Das Sollen »ist nur an sich, somit für uns, beschränkt«147, in Wahrheit aber beginnt in ihm »das Hinausgehen über die Endlichkeit, die Unendlichkeit«148. Die Entgrenzung der Reflexion in der Schranke und dem Sollen macht sie unendlich. Nur in dieser unendlichen Beweglitng könnte das Endliche, Hegel zufolge, seine Bestimmung realisieren, d. h. im uhendlichen Überschreiten der Schranken, in denen es sich noch auf Anderes bezieht und von ihm bestimmt wird. Das Sollen ist die Bestimmung als telos, als das, wohin Etwas sich entwickelt, und diese BestiJ?1mung ist nach der Maßgabe in sich reflektierter Identität erst dort erreicht, wo es nicht mehr in Anderes übergeht. Das letzte Andere, worauf das Endliche am Ende verwiesen wird, ist das Unendliche als das Andere des Endlichen. Mit ih:rp. ist das Absolute in einem ersten Schritt wieder erreicht. 149 Es ist »das wahrhafte Seyn; die Erhebung aus der Schranke. Bey dem N ahmeJ;l des Unendlichen geht dem Gemüth und dem Geiste sein Licht auf, denn er ist darin nicht nur abstract bey sich, sondern erhebt sich zu
Ebd., 116. 140 Ebd., 109.
144 So ausdrücklich in der ersten Fassung; GW 11, 72ff. 145 GW 21, 118. 146 Ebd., 119.
141 Vgl. Guyer 1978. 142 Vgl. GW 21, 149ft. 143 Vgl. Guyer 1978, 241; Enz. 31830, § 194.
Ebd., 121. 149 Vgl. ebd., 124.
138
Vgl. GW 21, 115 f.
139
179
147 Ebd. 148
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Widerspruch im Endlichen
IH. Hegel: Die Negativität des Endlichen
sich selbst, zum Lichte seines Denkens, seiner Allgemeinheit; seiner Freyheit«150. Worauf es ankommt, ist, den Begriff des Unendlichen richtig zu fassen und »das Unendliche der Vernunft von dem Unendlichen des Verstandes zu unterschei0den«151. Letzteres ist entweder die schlechte Unendlichkeit des unendlichen Progresses oder die Befestigung des Unendlichen im Gegensatz zum Endlichen. Beide Ansichten kommen darin überein, das Unendliche zu verendlichen, indem sie den Widerspruch im Endlichen nicht auflösen, sondern verabsolutieren. Im unendlichen Progreß geschieht dies dadurch, daß die Verstandesreflexion den Widerspruch unendlich erneuert. Die andere Variante stellt die Reflexion im . Angesicht des Unendlichen still und macht es damit in der Konsequenz zu einem o Nicht-Unendlichen, Nicht-Absoluten, indem sie den Gegensatz zum Unendlichen in der Form des Widerspruchs im Endlichen fixiert. Beide Auffassungen beruhen für Hegel auf einem Mangel der Reflexion in der Erfassung und Auflösung des Widerspruchs, »eine Flucht über das Beschränkte, die sich nicht in sich sammelt, und das Negative nicht zum Positiven zurückzubringen weiß. Diese unvollendete Reflexion hat die beyden Bestimmungen des wahrhaft Unendlichen: den Gegensatz des Endlichen und Unendlichen, und die Einheit des Endlichen und Unendlichen, vollständig vor sich, aber bringt diese beyden Gedanken nicht o zusammen«152. Damit ist daseinslogisch der Punkt erreicht, der auf die wesenslogische Auflösung des Widerspruchs verweist.
. 4. Der Widerspruch im Endlichen Wenn es auch richtig ist, daß Hegel den Begriff des Widerspruchs erst wesenslogisch voll expliziert und deshalb auch erst dort zeigen kann, was seineAuflösung ist, so ist dennoch der Widerspruch im Endlichen der eigentliche Springpunkt, wo er sich als Begriff zu bewähren hat und damit der Springpunkt der kritischen Auseinandersetzung mit ihm als Begriff. Wesenslogisch nämlich operiert die Reflexion schon immer im trüben Licht jener Unmittelbarkeit, in der das Andere gleichgültig geworden ist und als bloßes Momentder Identität des Wesens mit sich angehört. Sie ist, nach Hegels eigenem Verständnis, Beziehung ohne Bezogene, in der alle Relate zurückgelassen sind, weil sie ihre scheinbare Bestimmtheit in der wesentlichen Bestimmung zugleich verloren und erfüllt haben. Übrig bleibt nur noch der. Gegensatz des Positiven und Negativen, der dort zu Grunde geht. Der wesenslogische Begriff des Widerspruchs setzt damit voraus, was der daseinslogische Widerspruch im Endlichen zeigen soll, die Nichtigkeit des Endlichen, 0und affirmiert dessen Resultat auf der Grundlage dieses Resultats. Ausdruck der systematischen Schwierigkeiten eines solchen Wechselerweises sind die erwähn-
ten Vorgriffe innerhalb der Logik des Daseins, am auffälligsten in der Feier der Negation der Negation in der ersten Fassung der »Seinslogik«. An deren Stelle tritt in der veränderten Fassung der Rekurs auf den Widerspruch im Endlichen, der die Konsequenz zwingend machen soll, mittels der Negation der Negation das Negative als das Positive zu erweisen. Ungeachtet zahlreicher, »realdialektisch« motivierter Versuche, die wesenslogischen Reflexionsbestimmungen sachhaltig ~ls Formen von Vermittlungszusammenhängen im Endlichen zu erweisen, hat dabei der daseinslogische Widerspruch als Voraussetzung und Fall desjenigen Widerspruchs, wie er in der Wesenslogik entwickelt wird, kaum Beachtung gefunden. 153 Zurecht hat Michael Theunissen betont, daß der Verstand am Widerspruch des Endlichen mit si"ch daraufbehar;:~n könne, »daß das an sich Nichtige gleichwohl ist~;Der Verstand denkt demnach durchaus Selbstfindung. Erst die über ihn sich erhebende Ver- ij' nunft verkehrt diese in die ewige Wiederholung des Gleichen, in der so etwas wie L Identität mit sich nicht zu gewinnen ist«155. Am Widerspruch im Endlichen also ist zu fragen, ob es gelingen könnte, in diesem Widerspruch einen anderen Begriff von Vernunft zur Geltung zu bringen und die von Hegel als Endlichkeit angesprochene Sphäre begrifflich so zu erfassen, daß sie der Aufhebung ins Absolute 0 entbehren könnte. Im Übergang des Endlichen in das Unendliche wird die oben erwähnte These aufgenommen, daß das Endliche im Widerspruch sich selbst erreicht und insofern darin befestigt. 156 Das Endliche als »der Widerspruch seiner in sich« hat seine Bestimmung darin, zu vergehen. Es besteht nur im Widerspruch, d. h. so, daß es in anderes Endliches übergeht. Wenn der Widerspruch unhaltbar ist, dann besteht seine Lösung darin, daß das Endliche nicht das bleiben kann, was es ist, sondern sich verändert und darin schließlich vergeht. Darin freilich hat es für Hegel auch »sein Ansichseyn erreicht, es ist darin mit sich selbst zusammengegangen«157. Dieser Befund wird nun aber so interpretiert, als sei darin das Endliche in das Unendliche als das Andere des Endlichen übergegangen: »Diese Identität mit sich, die Negation der Negation, ist affirmatives Seyn, so das Andere des Endlichen«158. Die Unendlichkeit als affirmative Bestimmung ist zwar das Resultat des Widerspruchs im Endlichen, aber zugleich »ist das Endliche im Unendlichen verschwunden, und was ist, ist nur das Unendliche«159. So ergibt sich die paradoxe 6 Folge, daß das Endliche, indem es mit sich zusammengeht, als das Subjekt in dem Augenblick eliminiert wird, wo es seine Bestimmung erreicht. Seine Bewegung 153 154 155 156
Ebd., 125. Ebd., 124. 152 Ebd., 138; vgl. GW 11, 83. 150 151
181
157 158 159
Vgl. aber Fink-Eitel 1978; Kesselring 1984. Theunissen 1978, 275. Ebd., 295 f. Vgl. GW 21, 123f. Ebd., 123. Ebd., 124. Ebd., 125.
UI. Hegel: Die Negativität des Endlichen
182
wird in die Selbstbezüglichkeit eines absoluten Subjekts umgedeutet, d. h. Hegel [onimmt genau jene Vert~l!~~hl!!1g vg!!§':l.2j~~!!lJ1Jj-erädikat vor, die Feuerbach und ' die Junghegelianer ihm vorhalten werden, denn das Unendliche als Resultat der Selbstfindung des Endlichen ist dessen Bestimmung oder Prädikat. Ein Motiv für dieses Vorgehen findet sich in der Vorgeschichte des Hegeischen Unendlichkeitsbegriffs 160 : der Begriff des Unendlichen präsentiert sich schon immer metaphysisch aufgeladen im Sinne einer absoluten Bedingungstotalität. Das Unendliche wird dabei aber aus der Sicht Hegels auf die eine oder andere Weise, positiv oder negativ, VOn der Endlichkeit aus gedacht und mittels endlicher Verstandesbegriffe zu erfassen gesucht. Dies führt zum Verfehlen dessen, worauf es ankam: des Bedingenden des Endlichen, in dem das Endliche allererst sein Bestehen hat. Noch Fichtes Wissenschaftslehre, in der die Endlichkeit letztlich als durchgängiger, prozessierender und sich unendlich erneuernder Widerspruch vorgestellt wurde, setzte für diese Tätigkeit der Veränderung als Anstoß und Ziel ein VOn außen Bedingendes an. Diese Äußerlichkeit des Bedingenden will Hegel vermeiden, indem er umgekehrt die Endlichkeit als Entäußerung eines darin bei sich selbst bleibenden Absoluten interpretiert. Dieser Weyhsel der Perspektive (rlaubt es nach seiner Auffassung erst, die Verstandesansicht des Unendlichen zu l vermeiden und einen Vernunftbegriff von Wirklichkeit zu etablieren. Vom Ab, soluten her muß dafür diejenige Reflexion, die sich innerhalb der Sphäre des Endlichen bewegt, als äußere Reflexion durchschaut und in die immanente Reflexion des Absoluten aufgehoben werden. :0, Der Verdacht ist nicht abzuweisen, daß Hegel den Widerspruch im Endlichen • von vornherein unter der Voraussetzung einer Selbstbezüglichkeit des Absoluten denkt. Das Absolute wäre dann, wie in Fichtes Sollen, eine Verträglichkeitsbedingung des Widerspruchs im Endlichen, eine Form, worin er sich bewegen kann, ohne nur - da er ja auch nach Hegels Ansicht unhaltbar ist - in Nichts zusammenzusinken. Indessen will Hegel das Absolute nicht von der Endlichkeit und vom Widerspruch reinhalten und in ein Jenseits der verstandesmäßig bestimmten Endlichkeit setzen. Es soll daher nicht vorausgesetzt, sondern vielmehr als Re. sultat der Bewegung des Endlichen aus diesem selbst heraus zwingend gemacht werden, so daß der Wechsel der Perspektive durch die immanente Logik des Endf lichen gerechtfertigt werden kann. Gerade mit diesem Vorhaben aber gerät Hegel I in massive systematische Schwierigkeiten. Die Entgegensetzung des Endlichen und des Unendlichen (im Sinne des Absoluten) beruhte letztlich auf der von Identität und Widerspruch. Zunächst in dem Sinne, daß die gelingende, relative oder relationale Identität im Endlichen, die Synthesis, auf eine ursprüngliche Identität zurückgeführt und in ihr begründet werden sollte. Für Hegel versuchte die Verstandesmetaphysik, ein durchgängiges Kontinuum widerspruchsfrei auseinander ableitbarer Sätze herzustellen und darin eine';-ontologische Hierarchie zu begründen. An ihre Spitze trat ein Begriff S
160
Vgl. Baum 1976.
Widerspruch im Endlichen
183
von Identität, in der sie unmittelbar, als gegensatzlose Einheit, verstanden wurde und insofern den synthetisch vermittelten Entgegensetzungen im Endlichen entgegengesetzt war. Indem dieses Verfahren von Kant als unkritisch abgewiesen wurde, trat hervor, daß dieses Kontinuum nicht mit dem Anspruch auf objektiv gültige Erkenntnis zu haben ist. Widerspruchsfrei konnte die Erkenntnis nur dort sein, wo sie das Bedingende ihres Prinzips von sich ausschloß, da sie sich in Ansehung des Unbedingten notwendig in Widersprüche verstrickte. Die Geltung der Widerspruchsfreiheit, so der Befund, von dem der deutsche Idealismus ausging, verlangte notwendig die Anerkennung von Widersprüchen dort, wo dieser Geltungsbereich in Richtung auf das ihn Bedingende überschritten wurde. Daraus zog die frühidealistisch-frühromantische Kritik der Vernunftkritik den \ Schluß, die Endlichkeit überhaupt sei der Bereich der Entgegensetzung im Ge-I gens atz zu einer ursprünglichen Identität. Diese Bindung der Vernunft an eine wahrhafte Identität hat Hegel nie aufgegeben; noch das Absolute der »Logik« soll ein ausweisbares Plus an Identität und damit Sein gegenüber der gegensätzlich verfaßten Endlichkeit besitzen. Dieses aber konnte nicht im äußeren Gegensatz gegen die Endlichkeit festgehalten werden, sondern bedurfte der Vermittlung mit ihr, um die Vernunft zu rechtfertigen und dem Verstand seine Bedingung aufzuweisen. Als in sich vermittelte Identität muß sie die Vermittlungen' im Endlichen einholen und zu Momenten CI ihrer Selbstvermittlung machen. Das kann nur gelingen, wenn der Widerspruch im Endlichen so in das Absolute aufgenommen wird, daß er darin aufgelöst ist und zugleich als Moment eines im Widerspruch mit sich Identischen bestehen kann. An die Stelle der Hierarchie widerspruchsfrei vereinigter Sätze tritt die Bewegung des Widerspruchs, die sich dort erfüllt, wo durch den Ausschluß der Beziehung auf ein entgegengesetztes Anderes die Prävalenz der Identität gesichert ist und sie den Unterschied unmittelbar an ihr selbst hat. Zu überwinden war die Entgegensetzung von Identität und Widerspruch, ohne sie als gleichgültig-indifferent auseinandertreten zu lassen. Damit mußte der Widerspruch im Endlichen zugleich mehr sein als der negative Vorschein der Wahrheit des Absoluten,nämlich der begriffliche Umschlagspunkt in das Absolute selbst. Als Begriff aber stand er in der Gefahr, diesen Umschlagspunkt zu verfehlen und die Endlichkeit im Gesetz des Widerspruchs in sich zu befestigen. Hegel nimmt die Entgegensetzung von Identität und Widerspruch in der von Fichte vorgebildeten Form auf: der Schranke steht das Sollen als Bestimmung gegenüber, das auf eine nur im unendlichen Progreß zu erstrebende Identität verweist. Indem er die Schranke und das Sollen zusammenbringt und unter der Form des Widerspruchs im Endlichen denkt, will er die Endlichkeit so unter das Gesetz des Widerspruchs stellen, daß sie darin notwendig in das Unendliche übergeht. Dies setzt jedoch voraus, daß sich das Endliche im Widerspruch selbst 0 zur Totalität zusammenschließt und als solche reformulieren läßt, weil es sonst Restbestände zurücklassen würde, die nicht in das Absolute eingehen und damit dessen Absolutheit zerstören würden. Indem Hegel das Sollen in die Endlichkeit
184
IH. Hegel: Die Negativität des Endlichen
zurücknimmt, faßt er das Endliche als Widerspruch so, daß es sich als Endliches mit sich zusammenschließt. Er hat nun nicht nur zu beweisen, daß dieser Widerspruch unhaltbar ist (das sind alle Widersprüche), sondern auch, daß er im Endlichen selbst nicht seine Bewegungsform finden kann. Der Widerspruch muß daher - ungeachtet des erreichten Zusammengehens des Endlichen mit sich dieses als ~chein erweisen und damit den Übergang in ein Anderes zum Endlichen zwingend machen. Hier gerät Hegel in Beweisnot, denn der Sinn seiner Dialektik von Schranke und Sollen war es ja, das Residuum jenseitiger Voraussetzungen zu zerstören. So hat er vorerst nichts zurückbehalten, worin ein oAnderes zur Endlichkeit noch ausweisbar wäre - außer den Widerspruch selbst, in dem das Endliche seine Bestimmung erreicht. Worin aber sollte dann noch die Nötigung bestehen, über den Widerspruch im Endlichen hinauszugehen? Er besagt wenigstens soviel, daß die Endlichkeit innerhalb ihrer eigenen Voraussetzungen den Verstandesbegriff von Identität dementiert, ohne sich dabei auf ein Jenseits des Verstandes und der Endlichkeit zu ;f beziehen. Dieser Aspekt einer im Endlichen begründeten Vernunft entgeht He~Ii gel völlig weil er Verstandesdenken und Denken des Endlichen in sich ungeprüft \~ gleichset~t. Dies nährt den Verdacht, er operiere mit Voraussetzungen von Identität und Absolutheit, die er nur scheinbar immanent zur Geltung bringen kann. Die Vertauschung von Subjekt und Prädikat, die er am Ende des Endlichen vollzieht, ist nicht dadurch zu rechtfertigen, daß das Endliche als das Negative nicht als Subjekt festgehalten werden kann,161 obwohl Hegel zweifellos dieses Argument benutzt. Sein Befund könnte aber auch so interpretiert werden, daß es falsch ist, überhaupt an der Annahme eines festzuhaltenden Subjekts festzuhalten, zumal das Subjekt an dieser Stelle das (singularische) Subjekt der Veränderung sein müßte. Gegen die Suche nach einem Kandidaten für dieses Subjekt stände dann die keineswegs triviale Einsicht, daß die Vermittlungszusammenhänge im Endlichen Subjekt-Identität nur als instabile Einheit unterhalb dieser f{JSchwelle hervorbringen, mithin ohne übergreifendes Subjekt und letzte Finalität zu denken wären. Wenn der Widerspruch im Endlichen, Hegel zufolge, darin besteht, daß die endlichen Dinge als negative Beziehung auf sü::h nur sind, indem sie vergehen und an ihr Ende kommen,162 so ist es gerade der Widerspruch, der ihr Sein ausmacht. Im Widerspruch im Endlichen hat die Bestimmtheit als Negation ihr Sein, wenn auch ein endliches. Dieses Sein ist dann freilich nicht als solches festzuhalten, wie es der Verstand tut, wenn er ihm eine bleibende Seinstotalität des Endlichen unterlegt; umgekehrt aber läßt sich daraus auch nicht zwingend einsichtig machen das Endliche leide unter einem unendlichen Mangel an Sein, der nur durch o ' ein unendliches Sein behoben werden könne. Dieses Sein wäre nur durch den Aufweis der Gleichgültigkeit des bestimmten Seins des Endlichen zu gewinnen.
Vliderspruch im Unendlichen
Damit aber wäre der Sinn dessen verfehlt, was im Endlichen Totalität allein heißen könnte, nämlich die bestimmten Beziehungen Bezogener. Hierauf läuft Hegels Unternehmen in der Tat hinaus, indem er wesenslogisch relatlose Relationalität zu denken versucht. Legitimiert wird dies durch den Versuch, im Endlichen überhaupt einen Zug zur Totalität des Endlichen überhaupt aufzuweisen, C) an dessen Ende nur die Totalität selbst als (zunächst endlich gedachte) Unendlichkeit übrigbleibt, in der das bestimmte Sein des Endlichen dadurch seine Bestimmung erreicht, daß es in ihm vergeht. Die Indifferenzierung des bestimmten Seins beruht auf der Annahme, das Endliche treibe als Widerspruch so über sich hinaus, daß es sich nur im Unterschied zu sich selbst an einem Anderen, der (9 Unendlichkeit, als Endlichkeit festhalten könne.
5. Der Widerspruch im Unendlichen Seinem einfachen Begriff nach ist das Unendliche »bestimmungslose Beziehung auf sich«, das »intensiver«163 wiederhergestellte Sein. Indem dies näher als die affirmative Bestimmung des Endlichen gilt, zu der es sich erhebt, ohne dabei »fremde Gewalt« zu erleiden, ist das Endliche »im Unendlichen verschwunden«164 und' dieses ist allein. Hierin hat sich freilich das Endliche, das im Widerspruch sein Sein hat, nicht gefunden, wie Hege! behauptet, sondern verflüchtigt. Die systematische Berechtigung dieses Umschlags und damit der Status ö des. »Unendlichen überhaupt« ist prekär.165 Indem das Endliche über sich in anderes Endlich.es hinausgeht, wäre das Unendliche überhaupt zunächst nichts weiter als eine Verstandeskategorie, die Totalität des Endlichen als ein ihm unter Abstraktion von der Bestimmtheit untergeschobenes bleibendes Sein. Dieses Q freilich hatte sich bereits im Dasein als unhaltbar erwiesen und Hegel könnte seine Behaüptung nicht rechtfertigen, daß ausgerechnet an dieser Kategorie dem Geiste ein Licht aufgehen soll. Indem Hegel am Beginn des nächsten Abschnittes (Wechselbestimmung des Endlichen und Unendlichen) das Unendliche in den Status des Etwas als eines Bestimmten zurückfallen läßt, das dem Endlichen gegenübersteht, hat er es allererst als Verstandeskategorie wiederhergestellt und damit, wie er es ausdrückt, das Sein des Endlichen »wiedererweckt«.166 Die .Ausführung zum Unendlichen überhaupt erhält dadurch den Status eines an dieser Stelle gar nicht ausgewiesenen und ausweisbaren Vorgriffs, der dem in der Bestimmung des Daseins in der ersten Fassung der »Seinslogik« gleichkommt. Im Lichte dieses Vorgriffs erscheint die Verstandeskategorie der Unendlichkeit als eine äußere Reflexion auf das Verhältnis des Endlichen und Unendlichen, die
163 161 162
So F. Wagner 1980, 184. Vgl. GW 21, 116.
185
164
165 166
Ebd., 124f. Ebd., 125. VgL Theunissen 1978, 281 ff. Vgl. GW 21, 126.
186
Widerspruch im Unendlichen
IH. Hegel: Die Negativität des Endlichen
sich in einem äußeren Gegensatz herumtreibt. Damit ist freilich das Problemniveau des Übergangs vom Endlichen in das Unendliche unterboten. »Unendlichkeit« ist hier schon immer das Metaphysikum einer Gegenwelt zum Endlichen, nicht aber das Resultat der immanenten Reflexion des Endlichen im Widerspruch, das ja gerade darin bestehen sollte, daß das Endliche mit sich zusammengeht. Als das andere Endliche, worauf das Endliche sich bezieht, erscheint hier ein mißverstandenes, verendlichtes Unendliches. Dieses greift Hegel an, indem er (metaphysikkritisch zurecht) unterstellt, es diene dazu, den Widerspruch im Endlichen in einer anderen Sphäre dadurch zu versöhnen, daß er stillgestellt wird. 167 Indem er zeigt, daß dies so nicht geleistet werden kann, vielmehr die Widersprüchlichkeit dadurch nur potenziert wird, bereitet er eine andere Lösung des Widerspruchs im Endlichen vor. Der Umweg über ein naturwüchsig in der Verstandesmetaphysik vorgefundenes Unendliches expliziert aber die Auflösung des Widerspruchs von einem in die Fänge des Verstandes geratenen Unendlichen her, dessen Prävalenz bereits aufschien, bevor es der Verstand auf sein Niveau zurückholte. Das Verharren im Widerspruch des Endlichen gegen das verendlichte Unendliche bewirkt für Hegel, daß das Verstandesdenken überhaupt in Widersprüche verfällt. Diese Wendung überrascht, denn nicht nur der Verstand war ja schon in Widersprüche verfallen, sondern das Endliche selbst hatte sein bestimmtes Sein nur als Widerspruch. Dieser gehörte, sofern sich das Endliche in ihm - im Ausgang vom Etwas als in sich reflektierter Einheit - erreicht, nicht mehr nur der äußeren Reflexion an. Die Äußerlichkeit-bestand hier nicht in dem subjektiven Setzen von Bestimmungen an gleichgültigen Substraten, sondern in der bestimmten Beziehung Bestimmter aufeinander. Von diesem Typus der Reflexion und des Widerspruchs ist hier nun nicht mehr die Rede, sondern die Widersprüche erscheinen als Folgebestimmungen eines Widerspruchs, der aufgrund der äußeren Verstandesreflexion auf das Unendliche unaufgelöst bleibt. In der Entgegensetzung des Endlichen und Unendlichen befindet sich der Verstand »in dem unversöhnten, unaufgelößten, absoluten Widerspruche«, wodurch er »nach allen ö'Seiten« in Widersprüche »verfällt«168. Die Qualifizierung des einen Widerspruchs als »absolut« ist ebenso bemerkenswert wie die Rede von Widersprüchen im Plural. Absolut kann der Widerspruch nur sein, wenn er alle anderen Widersprüche in sich zusammenfaßt und auf den Punkt bringt, so daß diese sich aus ihm herleiten lassetl. Hegel unterstellt fraglos, daß Totalität im Endlichen zwingend auf einen Begriff von Endlichkeit hinausläuft, in dem sie von einem Widerspruch, dem Widerspruch der Endlichkeit mit sich, regiert wird. Als absoluter Widerspruchist er dann freilich auch nur noch absolut, d. h. in die affirmative Unendlichkeit des Absoluten aufzulösen. Der Rückfall vom Unendlichen ins Dasein nimmt den Widerspruch im Endlichen
nicht dort auf, wo er begrifflich ausgewiesen war - beim Zusammengehen des Endlichen mit sich in der Beziehung auf Anderes -, sondern verwandelt ihn in den Schein einer äußerlichen, verstandesmäßigen Reflexion auf ein verendlichtes Unendliches. So ist der Widerspruch, in dem das Unendliche als endlich festgehalten wird, derjenige Widerspruch, der die seinslogischen Widersprüche überhaupt charakterisiert; in diesem Sinne heißt es auch in der Wesenslogik, das Unendliche sei der Widerspruch, »wie er in der Sphäre des Seyns sich zeigt«169. Dieser Widerspruch, so führt die »Seinslogik« aus, »entwickelt seinen Inhalt zu ausdrücklichem Formen«170. Diese Formen ergeben sich aus der »Wechselbestimmung des Endlichen und Unendlichen«, in die jetzt, nach dem Rückfall des Unendlichen in das endliche Dasein, die Beziehung des endlichen Etwas auf anderes Endliches eingetragen wird: »Sie sind untrennbar und zugleich schlechthin Andere gegeneinander; jedes hat das Andere seiner an ihm selbst; so ist jedes die Einheit seiner und seines Andern, und ist in seiner Bestimmtheit Daseyn, das nicht zu seyn, was es selbst und was sein Anderes ist«171. Die Form dieses Widerspruchs ist der unendliche Progreß, der überall dort eintritt, »wo relative Bestimmungen bis zu ihrer Entgegensetzung getrieben sind, so daß sie in untrennbarer Einheit sind, und doch jeder gegen die andere ein selbstständiges Daseyn zugeschrieben wird. Dieser Progreß ist daher der Widerspruch, der nicht aufgelöst ist, sondern immer nur als vorhanden ausgesprochen wird«l72. Diese Beschreibllng trifft indessen nicht das, als was der Widerspruch im Endlichen sich dort zeigte, der ja kein selbständiges Dasein mehr in dem Sinne zurückbehalten hatte, daß es als substantielle, verstandesmäßige bestimmte Identität mit sich gelten konnte. Nur eine solche Identität aber könnte dann in einer äußerlichen Reflexion relativiert und als verstandesmäßig bestimmter Gegensatz im Gegensatz gegen die Identität festgehalten werden. Als bestimmte Beziehung auf Anderes, als Qualität, war das Etwas vermittelte Identität, negative Beziehung auf sich durch die Beziehung auf Anderes. Indem das Negative als Einheit des Bestimmtwerdens und Bestimmens seine Bestimmung ausmachte, war es der Widerspruch, d. h. es hatte in ihm sein Sein als vergehendes. Das Festhalten an diesem vermittelten und in sich gebrochenen Sein ist aber nicht gleichzusetzen mit der Abstraktion von der Vermittlung durch die Bestimmung verstandesmäßiger Identität als Selbständigkeit. Indem Hegel dies unterstellt, behält er vom Widerspruch im Endlichen nur die 0 pure Negativität des Nichts zurück. Damit abstrahiert er umgekehrt von der Spur des Seins, den die Bewegung des Widerspruchs im Vergehen zurückgelassen hatte. Dieses Sein wird nicht dort affirmiert, wo es als vergehendes gleichwohl ist, (') im Endlichen, sondern dort, wo sich der Widerspruch in die affirmative Unend-
169 170
167 168
Vgl. ebd., 127. Ebd.
187
171 172
GW 11, 287. GW 21, 127; vgl. Theunissen 1978, 285ff. GW 21, 129. Ebd.
IH. Hegel: Die Negativität des Endlichen
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lichkeit auflöst. Wenn sich die Bestimmung im Vergehen erfüllt, so bleibt sie im Vergehen Bestimmung in den bestimmten Beziehungen auf Andere. Die Zumutung an den Verstand, sie nicht als bleibend festhalten zu können, nötigt nicht dazu, der Vernunft zuzumuten, ein Bleibendes festhalten zu müssen, in dem das Endliche sein Bestehen hat. Die Qualität eines Daseienden Etwas besteht ja nicht als einfache Bestimmung, die sogleich vergehen mag, sondern in einem Komplex bestimmter Beziehungen (und so gesehen in einer Komplexion von Widersprüchen), die - ungeachtet ihrer Veränderungen und ihres Vergehens - als endliche Totalität eine relative Stabilität erreicht, die sie überhaupt erst empirisch aus0weisbar und für den Verstand und die Vernunft bestimmbar macht. Hegel denkt dies in der Unterscheidung von Bestimmung und Beschaffenheit mit, ohne es dort angemessen zum Ausdruck zu bringen, indem er Veränderung und Vergehen miteinander verschleift. Was sich verändert, ist aber noch in der Beziehung auf Anderes. Dieser blinde Fleck läßt ihn, innerhalb des Endlichen, die Erfüllung der Bestimmung im Vergehen schließlich zur rastlosen Unruhe des Verschwindens werden, in der das Endliche überhaupt in sich zusammensinkt. Es erscheint daher als Fallen ins Nichts, das etwa nur durch ein Nichts als Nirwana trügerisch Ö aufgefangen werden könnte. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, daß Hegel die »Zeitvergessenheit der Metaphysik«173 teilt und die Zeit so in die Äußerlichkeit fallen läßt, daß sie als das äußerliche Werden momentaner, unmittelbar sich aufhebender Unterschiede gilt. Ihr systematischer Ort ist nicht die Logik, sondern zuerst die Naturphilosophie als Sphäre der Äußerlichkeit der Idee;174 ebenso äußerlich legt sich der Geist in der Weltgeschichte zeitlich aus.175 Die 'Zeit erscheint so nur als die »Oberfläche«176 der Veränderung, deren wahrer Begriff die Rückkehr des Begriffs in sich selbst ist. Das heißt: der Begriff ist schon immer der Äußerlichkeit der Zeit enthoben und als ihr Inneres die Macht der Zeit in der Vernichtung des Endo lichen. Logisch wird Veränderung im Entzug von Zeit gedacht, so daß die zeitliche Indifferenz der Indifferenz der Bestimmungen in der Veränderung korre6 spondiert. Das Festhalten an der Oberfläche führt, Hegel zufolge, hier wie dort in den schlecht-unendlichen Progreß. Dieser »ist daher nur die sich wiederholende Einerleiheit, eine und dieselbe langweilige Abwechslung dieses Endlichen und Unendlichen«17? Indem Sein und Begriff logisch der Zeitlichkeit von vornherein enthoben sind, entfällt auch die Möglichkeit, das Sein des Etwas im Widerspruch als Einheit von Qualität und Quantität zeitlich zu begreifen. Jeder Versuch in dieser Richtung würde der »Logik« den Boden entziehen. Für Hegel könnte die Temporalisierung des Widerspruchs nur die Äußerlichkeit und Nichtigkeit des
173 Theunissen 1991. 174 Vgl. Enz. 31830, § 257-259. 175 176
Vgl. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, 153 f. Ebd.
177 GW 21, 129.
Erschlichene Unmittelbarkeit
189
Endlichen bekräftigen. An dieser Voraussetzung bestätigt sich, daß die Einführung des Unendlichen als affirmative Bestimmung des Seins, in dem das Endliche verschwunden ist, der Rekurs auf ein unreflektiertes Metaphysikum war. Von dieser Voraussetzung aus wird auch erst Hegels Bestimmung des unendlichen Progresses einsehbar. Er ist Hinausgehen über das Unendliche, sofern das verendlichte Unendliche in die Endlichkeit hineingenommen und ein Unendliches als Gegenüber neu statuiert wird. Es ist ein Horizont, der sich verschiebt und zurückweicht, indem wir uns auf ihn zu bewegen. Die Langeweile der Abwechslung, von der Hegel spricht, ergibt sich erst, wenn das wahre Ziel im Horizont selbst verhüllt ist, so daß m'an in ihn hineintreten müßte, um in der Wahrheit zu sein. Die unendliche Bewegung auf den Horizont hin könnte aber auch so verstanden werden, daß es auf diese Bewegung selbst in ihrer Bestimmtheit ankäme. Das Nichts, in das die Endlichen nach Hegel dann fallen würden, wäre ihre eigene Negativität in der Veränderung, die Produktivität des Wider-. spruchs im Endlichen, wie sie ohne Finalisierung im Horizont offener Möglichkeiten als Noch-Nicht erscheint. 178 Dies freilich schließt Hegel aus, denn der Mangel des unendlichen Progresses besteht für ihn darin, die affirmative Unendlichkeit zu verfehlen. Damit verfällt zwar auch die perennierende Langeweile der Abwechslung der Kritik, gleichwohl war es erst die Verflüchtigung der Bestimmtheiten in diesem Prozeß, die alternativ dazu das Unendliche als einen interessanteren Gegenstand vor das Bewußtsein brachte: in ihm ruht das Versprechen auf eine Fülle bestimmter Mannigfaltigkeit, die dem Endlichen nicht zuerkannt wurde, weil sie im Vergehen als pures Nichts erschien.
6. Erschlichene Unmittelbarkeit Die affirmative Unendlic:hkeit gibt sich als die erste Auflösung des Widerspruchs im Endlichen, wie er zwischen dem Endlichen im Gegensatz zu dem verendlichten Unendlichen besteht. Indem keines ohne die Beziehung aufeinander ist, was es ist, enthält jedes »sein Anderes in seiner eigenen Bestimmung, ebensosehr als jedes für sich genommen, an ihm selbst betrachtet, sein Anderes in ihm als sein eigenes Moment liegen hat«179. Hieraus will Hegel eine Konfiguration herstellen, die er als die »- verruffene - Einheit des Endlichen und Unendlichen«18o vorstellt. Sie ist dreifach: die Einheit ist (1) selbst das Unendliche sowie (2) das Endliche 0 und (3) das Unendliche als Einheit ihrer Selbst und ihres Gegenteils im Unterschied. In dieser Konfiguration besetzt das Unendliche den Ort, worin der Widerspruch sich auflöst; sein wahrer Begriff ist die reflektierte Einheit, die der 178 Vgl. dazu Kesselring 1984; besonders die Beziehung seines hegelkritischenDialektikVerständnisses auf die Daseinslogik 283-318.
179 GW 21, 132. 180
Ebd.
IH. Hegel: Die Negativität des Endlichen
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Verstand verfehlt, indem er den Widerspruch bloß als vorhanden ausspricht. Demgemäß steht das Unendliche im Zeichen der Identität. Wie diese schließlich die in sich reflektierte Identität ihrer selbst und der Entgegensetzung ist, indem sie über sich selbst und ihr Gegenteil übergreift, so ist auch das Unendliche so Ökonzipiert, daß es über sich selbst und sein Gegenteil, das Endliche, übergreift. Dieses Ergebnis soll indessen nicht auf einer Prävalenz der Identität oder der Unendlichkeit beruhen, sondern das Endliche soll aus ihm selbst heraus, ohne äußeren Zwang, in die affirmative Unendlichkeit aufgehoben werden und darin die Lösung der Widersprüche im Endlichen finden. Nach der Verstandes ansicht des unendlichen Progresses »ist das Unendliche nur als das Hinausgehen über das Endliche; es ist seiner Bestimmung nach die Negation des Endlichen; so ist das Endliche nur als das, worüber hinausgegangen werden muß, die Negation seiner an ihm selbst, welche die Unendlichkeit ist«181. Diese Verstandes ansicht affirmiert und benutzt Hegel, um darzutun, daß im Aufheben »keines vor dem andern einen Vorzug des Ansichseyns und affirmativen Daseyns hätte« und das Endliche »nicht vom Unendlichen als einer außer ihm vorhandenen Macht aufgehoben«182 werde. Tatsächlich aber wird die Symmetrie der Relate der Gegensatzbeziehung nur gewahrt, soweit die Unendlichkeit als verendlichte selbst dem Gesetz des Endlichen unterliegt. Das Unendliche als Negation des Endlichen wäre nichts anderes als die Negation des Endlichen an ihm selbst, oder das Unendliche würde sich an ihm selbst negieren. Prima fade läuft die .Verstandesansicht des Endlichen und Unendlichen dadurch ins Leere, daß sich das Endliche nur in Endliches negiert. In Wahrheit tut sich hier gar kein Unendliches auf: dieses ist das Leere. ,Zugleich aber soll das Unendliche mehr _sein als das Endliche. Indem es als Negation des Endlichen gefaßt wird, wird es »durch den Beyschlag einer Qualität solcher Art verdorben«,und ebenso wird umgekehrt das Endliche, indem es das Unendliche an ihm selbst hat, »über seinen Werth, und zwar so zu sagen unendlich erhoben«183. Diese Konsequenz gilt aber nur für eine Ansicht des Unendlichen, die es rein und affirmativ haben will, wie umgekehrt schon immer vorausgesetzt wird, das Endliche sei unrein und nichtig. Es fällt schwer, hierbei die Verstandes- von der Vernunftansicht zu unterscheiden. Im Blick auf die Depotenzierung des Unendlichen und die Potenzierung des Endlichen spricht Hegel von einer Verfälschung, die der Verstand vornimmt. Diese besteht darin, die Beziehung beider so aufzufassen, daß sie sich als qualitativ verschieden positiv festhalten lassen. Dagegen wird nun' die negative Symmetrie beider als Relate einer Gegensatzbeziehung ausgespielt, die der Verstand »vergessen« habe, obwohl sie sein eigener »Begriff dieser Momente«184 war.
181 182 183 184
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
131. 133. 132. 133.
Erschlichene Unmittelbarkeit
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Nun bestand aber die Verfälschung gerade darin, das Endliche und das Unendliche zu nivellieren, d. h. die Asymmetrie, die Potenzierung des Unendlichen zum Übergreifenden, wäre die gesuchte Wahrheit, die im Gegensatz nicht zu haben ist. Das Falsche der Verfälschung ist nach dieser Seite der symmetrische Gegensatz selbst, dessen Struktur zum Einsturz gebracht werden muß, um einen wahren Begriff von Unendlichkeit zu affirmieren. Nun hatte dieser zum Widerspruch verschärfte Gegensatz wenigstens die Wahrheit der vom Verstand' selbst vergessenen Verstandesbegriffe hinter sich, während das Argumentationsziel Hegels, der potenzierte Unendlichkeitsbegriff, bisher nur als äußere Voraussetzung gelten kann, die aus der Metaphysik hergenommen ist. Sie blieb ganz subjektiv, ein Sollen und Meinen, sofern sie immer nur auf den Widerspruch im Endlichen projiziert werden konnte und somit nur als verendlichtes Unendliches erschien. Dieser Schein indessen ist in Wahrheit die Verfälschung, denn das Unendliche war nie mehr als eine Projektion, eine metaphysische Verklärung des Endlichen als dessen Verunendlichung. Was Hegel begrifflich in der Hand hat, ist allein die »schlechte« Unendlichkeit des Progresses, die für sich gestellt eine leere Abstraktion ist, weil sie immer wieder beim Endlichen ankommt und durch dieses erfüllt wird. Die äußerlich auf den Progreß aufgetragene Aufhebung des Endlichen bleibt ein ohnmächtiges Sollen und erlischt im Widerspruch, den das Endliche an ihm selbst hat, sich in anderes Endliches zu negieren.1 85 Damit aber ist die Unendlichkeit als das Hinausgehen über das Endliche nur insoweit ein Hinausgehen, wie sich das Endliche selbst in anderes Endliches negiert. Beides fällt zusammen. Was als das Unendliche gilt, ist nur die abstrakte Prozessualität selbst, losgelöst von ihren Bestimmtheiten, die sich in bestimmten Vermittlungszusammenhängen im Endlichen selbst unter der Form des Widerspruchs realisieren. Als Verstandesabstraktion und Projektionsfläche eines subjektiv bleibenden Sollens ist aber das Unendliche in der Bestimmung des Hinausgehens über das Endliche von anderer Dignität als die Bestimmung des Endlichen als Negation seiner an ihm selbst. Hegel suggeriert, es handle sich um den symmetrischen Gegensatz gleichrangiger Verstan- c" desbegriffe.186 Tatsächlich aber steht auf der Ebene des Endlichen das Unendliche als äußerliche Abstraktion und Setzung dem Begriff des als Widerspruch gefaßten Endlichen gegenüber. Dies dementiert Hegels Versicherung, das Endliche erleide seine Aufhebung nicht von außen, indem ja aUGh das Unendliche des Verstandes negiert werde. Vielmehr kann der Begriff des Endlichen die äußere Voraussetzung einer Unendlichkeit schon immer als Illusion kritisieren. Unendlichkeit käme dann immer nur als Prozeßform des Endlichen selbst in bestimmten
185 Vgl. Enz. 31830, § 94. 186 Daß die Extreme von dialektischen Oppositionen in objektiver Bedeutung asymme- 0 trisch sind, ist bereits Marx' Einwand gegen Hegel in seiner Kritik des Hege/sehen Staatsrechts von 1843; vgl. MEW 1, 293 f. Zum Begriff des asymmetrischen Gegensatzes vgl. Furth 1991b.
192
Vermittlungen in den Blick und eine Asymmetrie würde, entgegen Hegels Ar'" .. (;,,~. gumentationsziel, zugunsten der Endlichkeit bestehen, innerhalb derer der Wi°derspruch im Endlichen aufzulösen wäre. /. Um dem zu entgehen, ist Hegel gezwungen, beide, das verunendlichte Endliche und das verendlichte Unendliche, indifferent zu machen, um sie dann SO aufzuheben, daß im Resultat eine Asymmetrie zugunsten der affirmativen Unendlichkeit herausspringt. Hierfür wertet er den illusorischen Gegensatz des verselbständigten Unendlichen und des Endlichen zugunsten des Unendlichen um, indem er sich an die Verstandes abstraktion der Prozessualität, das bloße Hinausgehen über Endliches, hält. Diese bekommt einen Schein von Wahrheit dadurch, daß diese Abstraktion dem Endlichen selbst, seiner Selbstnegation, zugerechnet wird. Ohne die - freilich bodenlose - Voraussetzung, daß der Widerspruch im Endlichen innerhalb der Sphäre der Endlichkeit nicht aufgelöst werden könne, sondern nur ein negatives Resultat habe, das rastlose Verschwinden der Bestimmtheiten, käme Hegel an dieser Stelle keinen Schritt weiter in der von ihm intendierten Richtung. Die Selbstnegation des Endlichen wird in die Selbstnegation der Endlichkeit umgedeutet, deren Bestimmtheiten in ihr gar nicht bestehen können. Die Vergleichgültigung der Bestimmtheiten im Endlichen als bloß verschwindende ist Voraussetzung dafür, daß vom Begriff der Endlichkeit nichts anderes übrigbleibt als die leere Verstandesabstraktion von Unendlichkeit und beide ihrerseits als Begriffe indifferent gemacht und der Unwahrheit über'führt werden können. Damit fallen beide in eine äußere Reflexion, so daß die immanente Reflexion des Endlichen in sich auf der Ebene der Endlichkeit selbst nicht mehr eingeholt werden kann, sondern von einer affirmativen Unendlichkeit o aus zu begreifen ist, als deren Reflexion sie besteht. Mit dieser Operation ist, was Hegel immer noch an begrifflichen Differenzierungen bieten mag, der Zug zum Absoluten abgefahren und alle Folgebestimmungen sind von nun an schon immer in die Perspektive des in der Unendlichkeit aufscheinenden Absoluten gerückt. () An Hegels Verfahren wird die Nähe zur r9mantischen Reflexionsform und Dialektik sachhaltig greifbar. Wie jene setzt er darauf, daß eine ins Unendliche laufende Reflexion die endlichen Bestimmtheiten hinter sich läßt, indem sie gleichgültig werden. In dieser Indifferenz konvergiert das Endliche mit dem Unendlichen. Im Unterschied zur romantischen Dialektik ist damit aber für Hegel erst der Verstandesbegriff der Unendlichkeit erreicht. Diesen benutzt er gleichwohl, um ihn überbieten zu können. Die Indifferenz gilt als der negative Vorschein einer Unmittelbarkeit, die als das Ganze der Reflexion auch positiv zu bestimmen und in ihrer Bestimmtheit zu begreifen ist. In ihr haben die Widersprüche im Endlichen ihre Lösung und damit ihr Bestehen, so daß von ihr aus die ilimmanente Reflexion des Endlichen als Selbstreflexion des Absoluten rekoni! struiert werden kann. Hegel bleibt also bei der Indifferenz nicht stehen; sie hat Wahrheit allein für das Verstandesdenken, das den Entgegensetzungen im Endlichen innerhalb des End-
7,
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Erschlichene Unmittelbarkeit
UL Hegel: Die Negativität des Endlichen
193
lichen selbst zu entrinnen versucht. Sie ist das Resultat einer äußeren Reflexion auf die Einheit der Entgegengesetzten. Gleichwohl hehauptet Hegel, damit habe sich der Verstand schon auf die Spur der Vernunft begeben. Die Auflösung der Widersprüche, die er anbietet, löst zugleich den Schein der Indifferenz auf, aber der Ort ihrer Lösung wird nur dadurch erreicht, daß die Indifferenz als Wahrheit de~ Endlichen. genommen wird. Im Umschlagspunkt der Indifferenz sind speku- c) latIve WahrheIt und Behauptung des Verstandesdenkens selbst gleichgültig geworden. Die paradoxe Folge davon ist, daß erst im Rekurs auf das Absolute der Erfahrungsgehalt d,er Widersprüche im Endlichen unverkürzt eingeholt werden kann, aus deren Begriff es doch allererst resultieren sollte. Die Auflösung der Widersprüche im Absoluten gibt der Sphäre des Endlichen die Härte der Entgegensetzungen zurück und damit das fragile Sein, in dem sie gelebt und erlitten werden. Dieses war dem Endlichen verweigert worden, um es dem Absoluten zu vindizieren; als erborgtes nur erhält es das Endliche zurück. Erst vom Absoluten aus vermag Hegel sich mit dem Eigensinn des Endlichen zu verständigen, indem 0 er ihm zugleich versichert, es bedeute etwas anderes als das, worin es sein Sein erfährt. Die Indifferenzierung des verstandesmäßigen Unendlichen und des Endlichen trägt Hegel so in die Figur des unendlichen Progresses ein, »daß sie darin nur als Momente eines Ganzen vorkommen und daß sie nur vermittelst ihres Gegentheils aber wesentlich ebenso vermittelst des Aufhebens ihres Gegentheils herv.ortreten «187. Indem es gleichgültig geworden ist, womit nun der Anfang gemacht wirddem Endlichen oder dem Unendlichen - sind die Momente des Progresses indifferenziert und damit auch der Prozeßcharakter als Bewegung auf einen Horizont von Unendlichkeit hin entfallen. Die so gedachte, auch noch gegen ihren Richtungssinn gleichgültig gewordene Prozessualität ist das unendliche Werden des Endlichen und Unendlichen als den Momenten des Prozesses. Für diese Prozessualität, die sich durch die Vergleichgültigung ihrer Momente nur noch auf sich selbst bezieht und damit die Linie des Progresses in den Kreis zurückbeugt, behält Hegel weiterhin den vom Verstandesdenken erborgten Titel der Unendlichkeit bei. Als nur noch in sich selbst rotierende ist sie aber mit sich selbst zusammengeschlossen und damit von -der schlechten zur schlechthinnigen geworden: »Wie also das Unendliche in der That vorhanden ist, ist der Proceß zu seyn, in welchem es sich h,erabsetzt, nur eine seiner Bestimmungen, dem Endlichen gegenüber und damit selbst nur eines der Endlichen zu seyn, und diesen Unterschied seiner von sich selbst zur Affirmation seiner aufzuheben und durch diese Vermittlung als wahrhaft Unendliches zu seyn«188. Das Unendliche ist somit »In-sich-Zurückgekehrtseyn, Beziehung seiner auf sich selbst«, das die Negation'und Bestimmtheit enthält und somit seine Präsenz in der Bestimmtheit bezeugt: »Es ist, und ist da« - d. h.: es ist Sein und Dasein 187 188
GW 21, 135. Ebd., 135 f.
194
Dialektik und Logik der Reflexion
III. Hegels Logik der Reflexion
»present, gegenwärtig«189. Nur dieses vom Unendlichen aus gedachte Dasein hat Realität, denn: »Das Endliche ist nicht das Reale, sondern das Unendliche. So wird die Realität weiter als das Wesen, der Begriff, die Idee u. s. f. bestimmt«190. Diese Weiterbestimmungen haben aber die Endlichkeit als das an sich Nichtige ,_":) schon immer hinter sich gelassen und ihm Realitätsgehalt nur in einem affirma-' tiven Unendlichen zugebilligt. Mit der Unendlichkeit ist daher erstmals eine absolute Selbstbezüglichkeit modelliert, die in der Beziehung auf sich selbst aus sich die Bestimmtheiten entläßt und in sich zurücknimmt. Sie ist das erste Paradigma einer reflektierten Unmittelbarkeit auf dem Boden der »Seinslogik«, die das Ganze der Reflexion in sich zusammenfaßt. Ihre Konstruktion indessen war bodenlos, da die behauptete Unmittelbarkeit nur durch eine Indifferenz erschlichen werden konnte, die Hegel erst dann ganz dem Verstand unterschob, nachdem er von ihr spekulativen Gebrauch gemacht hatte. Auf diesen blinden () Fleck des Verfahrens wird auch im Fortgang der »Logik« nicht reflektiert, vielmehr wird er in allen Weiterbestimmungen mitgeschleppt.
C. Die Logik der Reflexion
1. Dialektik und Logik der Reflexion Die Wesenslogik ist in Hegels Verständnis eine Abhandlung »der wesentlichen, sich setzenden Einheit der Unmittelbarkeit und Vermittlung«l91. Ihr spekulatives Thema ist die in der dritten Stellung des Gedankens zur Objektivität angezeigte Erhebung des Geistes über das zufällige Sein der Welt. Dabei werden zugleich die begrifflichen Mittel ausgewiesen, mit denen Hegel sie ins Werk setzen will. Als solche Mittel sollen sie hier näher betrachtet werden, wobei ihre im vorigen Abschnitt erörterten daseinslogischen Voraussetzungen kritisch mit einzubeziee,hen sind. Dort zeigte sich, daß der Widerspruch im Endlichen unterbestimmt blieb und von ihm ein spekulativer Gebrauch nur unter der Voraussetzung der Vergleichgültigung der Bestimmtheiten und Relate gemacht werden konnte. Auf dieser Grundlage bewegt sich die wesenslogische Explikation des Widerspruchsbegriffs, in welche daher - gegen Hegel - dasjenige als unaufgehobene Voraussetzung einzutragen ist, wovon mit der Indifferenzierung abstrahiert wurde. Die Entwicklung des Widerspruchs erfolgt unter den Titeln logischer Bestimmungen, deren notwendiger Zusammenhang genetisch einsichtig gemacht werden soll. Der nächste Zeuge dieses Verfahrens ist Fichte, welchem für Hegel »das tiefe Verdienst« zukommt, »daran erinnert zu haben, daß die Denkbestimungen
in ihrer Notwendigkeit aufzuzeigen, daß sie wesentlich abzuleiten seien«192, wor- , aus sich allein schon eine neue Methode der Bearbeitung der »Logik« hätte ergeben sollen. Hierbei denkt Hegel offenbar an die drei obersten Grundsätze der Wissenschaftslehre, die unter die logischen Titel Identität, Gegensatz und 0 Limitation gestellt sind, wobei der letztere das Problem des Widerspruchs im Endlichen mit sich führt. In einer Anmerkung äußert sich Hegel dabei zu dem Verfahren, die Reflexionsbestimmungen in Form von Sätzen aufzunehmen.193 Dies führe notwendig zu einer schiefen Ansicht, denn sie seien keine qualitativen Bestimmungen, sondern »Beziehungen an sich selbst«194. Was das heißt, erhellt aus einer späteren Bemerkung: »Die Reflexion ist die reine Vermittlung Über-I:; haupt [ ... ]. Die reine Vermittlung ist nur reine Beziehung, ohne Bezogene«195.! Die Reflexionsbestimmungen sind daher, so kann vorläufig gesagt werden, nicht solche, die von einem Etwas ausgesagt werden, d. h. in diesem Falle: »das Seyn, Alles Etwas«l96 zum Subjekt haben. Gleichwohl aber sind sie in einem noch zu präzisierenden Sinne Bestimmungen, d. h. sie verhalten sich selbst als »bestimmte gegen einander; sie sind also durch ihre Form der Reflexion, dem Übergehen und dem Widerspruche nicht entnommen. Die mehrern Sätze, die als absolute Denkgesetze aufgestellt werden, sind daher, näher betrachtet, einander entgegengesetzt, sie widersprechen einander und heben sich gegenseitig auf« 197 . Die Reflexionsbestimmungen stehen als in sich reflektierte unter dem Gesetz des Widerspruchs; in ihnen kehrt wesenslogisch der Widerspruch im Endlichen auf der Grundlage der Vergleichgültigung der Relate so zurück, daß sie sich als Bestimmungen widersprechen und dadurch »in den Uebergang und in ihre Negation«198 fortgerissen werden. In dieser Negativität ist die Logik der Reflexion in besonderer Weise mit dem Begriff der Dialektik verbunden. In der »Enzyklopädie« gibt Hegel im Anschluß an den »Vorbegriff« einen »näheren Begriff« der Logik, indem er drei Momente des Logischen hervorhebt: (1) das abstrakte oder 0 verständige; (2) das »dialektische oder negativ-vernünftige«; (3) das »spekulative oder positiv-vernünftige«199. Hierbei handelt es sich nicht um Teile der Logik, sondern um Momente jedes Logisch-Reellen. Die Einheit dieser Momente wird durch das sp~lative Moment selbst erzeugt, sofern dieses »die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung«2oo auffaßt und damit das negative Resultat der Dialektik des Widerspruchs affirmativ in sich aufnimmt. Das Dialektische als das »eigene Sichaufheben« der endlichen Bestimmungen ist somit als 192 193 194 195 196 197
189 190 191
Ebd., 136. Ebd. Enz. 31830, § 65, Erläuterung.
195
198 199 200
Ebd., § 42, Erläuterung. Vgl. GW 11, 258 ff. Ebd., 259. Ebd., 292. Ebd., 259. Ebd., 260. Ebd. Enz. 31830, § 79. Ebd., § 82.
IH. Hegels Logik der Reflexion
196
das mittlere das eigentlich vermittelnde Moment, »wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt«201. Der Zusammenhang der Reflexionsbestimmungen ist durch das Dialektische overmittelt und in diesem Sinne konvergieren Dialektik und Logik der Reflexion. {Das Dialektische ist das Ganze der Reflexion nach der negativen Seite, deren [affirmatives oder positiv-vernünftiges Resultat das ~Q~kulative aussp!!~~t. Das . Dialektische ist somit zwar das Ganze der immanenten Vermittlung der Reflexion in sich und nicht eine äußere Reflexion auf das Reflexionsgeschehen, aber es erreicht nur die halbe Wahrheit der Reflexion. So ist die in sich reflektierte Unmittelbarkeit, die das Ganze der Reflexion in sich zusammenfaßt und sich als deren Resultat weiß, als positiv-vernünftige, spekulative Figur der Negativität des Dialektischen insoweit enthoben, wie sie nur als aufgehobenes Moment in ihr ist, so daß sie schließlich - als absolute Idee - die Negativität des Dialektischen nicht Imehr erleidet. Bis dahin bricht im Gang der »Logik« am Dialektischen selbst immer wieder jene Negativität auf, die in den unendlichen Progreß trieb und durch die affirmative Unendlichkeit ins Positive umgebogen werden sollte. In der Vermittlung ihres Zusammenhangs durch das Dialektische ist die »Logik« ständig in der Gefahr, sich in die Daseinslogik zu verlieren, so daß die Weiterbestimmungen immer wieder aufs neue zu indifferenzieren sind, um in das Absolute getrieben zu werden. Das Dialektische, wie es zuerst im dasein~logischen Wid~r spruch erschien, ist somit selbst als Mittel ein unvermittelter WIderspruch: es 1st 0Treibsatz und Sprengsatz der Spekulation in einem. Seine Funktion als Mittel besteht darin, den inneren Zusammenhang des Wissens hervorzubringen. Das Wissen richtet sich zunächst auf das Sein als ein unmittelbares und faßt es wesentlich als ein in sich vermitteltes. Dies kann vorerst unabhängig von der spekulativen Aufladung dieser Begriffe im Kontext der »Logik« als Beschreibung der Erkenntnistätigkeit verstanden werden, die auf die ~geistige Reproduktion der erscheinenden Wirklichkeit in ihrem inneren ~usam !menhang geht. Indem das anfängliche Unmittelbare wesentlich als Vermittlung gefaßt wird, wird es in seiner Unmittelbarkeit zum Unwesentlichen, zum Schein herabgesetzt; somit ist die Unmittelbarkeit »reflectirte Unmittelbarkeit«202, d. h. bloßer Reflexionsbegriff gegen die Vermittlung. In dieser Entgegensetzung enthält der Schein »eine unmittelbare Voraussetzung, eine unabhängige Seite gegen das Wesen «203; da aber das Wesen nichts anderes ist als der innere Zusammenhang ~ des ursprünglichen, unmittelbaren Seins, so ist »zu zeigen, daß die BestimmunO gen, die ihn vom Wesen unterscheiden, Bestimmungen des Wesens ~elbst sind«204: Dieser Beschreibung der Erkenntnistätigkeit unterlegt Hegel eme metaphysIsche Bedeutung, weil ihm im Ergebnis der »Seinslogik« »Sein« und »Wesen«
Dialektik und Logik der Reflexion
schon immer als Bestimmungen des Absoluten gelten. 205 Der Schein ist die »Unmittelbarkeit des Nichtseyns« und seine »Nichtigkeit an sich«206 _macht die negative Natur des Wesens aus. Hieran läßt sich wiederum der notwendige Zusammenhang der Konstruktion positiv gefaßter Unmittelbarkeiten mit der Indifferenzierung ablesen. Die Unmittelbarkeit kann nach Hegel zum internen Moment der Reflexion des Wesens in sich gemacht werden, so daß dieses sich selbst als unmittelbar affirmiert und als die »schlechthin vermittelte oder reflectirte Unmittelbarkeit, welche der Schein ist«207, darstellen kann. Dies geht aber nur, weil die anfängliche Unmittelbarkeit des Scheins als Unmittelbarkeit des Nichtseins in der Gleichgültigkeit gegenüber dem Sein und der Bestimmtheit ihrer Inhalte festgehalten wurde. Die Nichtigkeit der Unmittelbarkeit im Schein wird in die Nichtigkeit des als unmittelbar Erscheinenden umgedeutet, womit die Unmittelbarkeit negativ, als die des Nichtseins, affirmiert wird. Sie (') ist, als der Indifferenzpunkt der Erscheinungen, das in der AufhebunK zu Bewahrende. Der kritische Sinn der Hegelschen Argumentation besteht darin, diejenige metaphysische Auffassung des Skeptizismus und Idealismus zu widerlegen, die den Schein als Phänomen oder Erscheinung vom Sein abtrennt und unmittelbar als Bestimmtheit nimmt. 208 Dies hält Hegel auch Kant vor, womit im Kontext von Schein und Sein der Begriff der Dialektik eine überraschende Rechtfertigung an Kants Sprachgebrauch erfährt. Dieser hatte die Dialektik als Logik des Scheins denunziert, sofern sie bloß subjektiv verfuhr und dieses Verfahren nicht kritisch im Blick auf die Grenzen der Rationalität reflektierte. Zugleich aber konnte die endlich-subjektiv verfaßte Vernunft nicht bei der Erkenntnis der Erscheinungen durch Verstandesbegriffe stehenbleiben, ohne sich auf das Unbedingte als das Bedingende der erscheinenden Wirklichkeit und der sie erfassenden Vermögen zu richten. Indem Hegel beides dadurch zusammenzieht, daß er das Sein des Scheins in das Wesen zurücknimmt, welches sich letztlich als die absolute Subjektivität erweist, ist die Inversion der subjektiv verfaßten Rationalität, die Kant als Zu- _ rückgeworfenwerden der .Vernunft auf den Verstand versteht, gerade deren c.-,,~ Bei-sieh-Sein im Wesen der erscheinenden Wirklichkeit. Wenn der Schein aus dieser Perspektive zum Scheinen des Wesens in ihm selbst wird, so ist die Dialektik gerade darum die Logik der Sache, weil sie Logik des Scheins ist. Ihre Bewegung folgt der Selbstbewegung des Wesens als Reflexion so, daß dieses als »die unendliche Bewegung in sich« verstanden wird, »welche seine Unmittelbarkeit, als die Negativität, und seine Negativität als die Unmittelbarkeit bestimmt und so das Scheinen seiner in sich selbst ist«209.
205 201 202 203 204
Ebd., § 81, Erläuterung. GW 11, 246. Ebd., 247. Ebd.
197
206 207 208 209
Vgl. ebd., 24l. Ebd., 247. Ebd., 248. Vgl. GW 11, 246f. Ebd., 249.
198
Bewegung der Reflexion
IH. Hegels Logik der Reflexion
l
In dieser Konvergenz von Unmittelbarkeit und Negativität schlägt die Negativität der Dialektik in die Selbstaffirmation der Unmittelbarkeit um. Die Unmittelbarkeit selbst ist die »Bewegung von Nichts zu Nichts, und dadurch zu sich selbst zurück«210 und darin reine, absolute Reflexion - rein von allen seinslogischen Bestimmtheiten und Relaten. Als Negieren ihrer selbst als Negativität soll ihr jedoch ein positiver Sinn zuwachsen. Sie ist Unmittelbarkeit als einfache Gleichheit mit sich, indem sie ebenso »aufgehobene Negativität« wie Negativität ist. Demnach ist sie der Widerspruch, »sie selbst und nicht sie selbst und zwar in Einer Einheit zu seyn«211. Unter der Voraussetzung der Unmittelbarkeit resultieren Nichtidentität und Identität nicht aus der Beziehung auf Anderes, sondern stehen unter dem Primat einer übergreifenden Einheit, der Unmittelbarkeit. Diese fungiert als der Träger dessen, was in der Indifferenz zusammenfiel und o daher umstandslos wieder aus ihr herausgeholt werden kann. »Unmittelbarkeit« ist, auf dieser Ebene, nur der spekulative Name für die verleugnete Indifferenz. In der aufgehobenen Negativität hebt sich die Dialektik der Negativität selbst auf. Beharrt diese jedoch auf dem vergehenden Sein im endlichen Widerspruch, der negativen Selbstbeziehung durch Beziehung auf Anderes, so wäre der NeO gativität bereits im Endlichen ein positiver Sinn zugewachsen, den Hegel ihr nicht zugibt. Davon wäre kein spekulativer Gebrauch im Sinne Hegels zu machen, sondern diese Negativität würde gegenüber der Indifferenzierung auf den Be!stimmtheiten der Vermittlungen insistieren und die Voraussetzung der spekula/tiven Unmittelbarkeit zerstören. I
2. Die Bewegung der Reflexion.
Die kritische Auflösung der anfänglichen, erscheinenden Unmittelbarkeit wird zur Wiederherstellung der Unmittelbarkeit. 212 Kritisiert wird der Schein, es gäbe eine unvermittelte Unmittelbarkeit, aber die Vermittlung selbst stellt sich als Unmittelbarkeit wieder her. Dafür behält Hegel, jenseits der Kritik an dem !Konstruktionsmechanismus der erschlichenen Unmittelbarkeit, ein starkes erIkenntnis- und ideologiekritisches Argument zurück. Unter der Voraussetzung, daß mit dem Wesen nicht eine metaphysische Hinterwelt aufgebaut, sondern der limmanente Vermittlungszusammenhang der erscheinenden Wirklichkeit erlaßt \werden soll, muß der Schein der Unmittelbarkeit aus dieser Vermittlung selbst notwendig hervorgehen. In der kritischen Auflösung des Scheins unvermittelter Unmittelbarkeit ist daher nach der Genese, dem Setzen von Unmittelbarkeit in· der vermittelten und vermittelnden Bewegung der Reflexion zu fragen, und
demgemäß ist die erste Gestalt der Reflexion in der »Wesenslogik« die g,tzencle 0 Re[lexiQ!1. Als schlechthin un-mittelbar wäre das Unmittelbare in gar keiner Weise kommunizierbar und nur ein leeres Wort. Sinn macht es nur als Reflexionsbegriff im Verhältnis zur Vermittlung. Oamit ist die Unmittelbarkeit wenigstens als unmittelbar für die Reflexion und als von ihr unterschieden bestimmt. Diese Bestimmtheit gewinnt sie nicht aus ihr selbst, sondern sie erhält sie dadurch, daß die Reflexion einen Unterschied zu ihr feststellt. Diese Bestimmung der Unmittelbarkeit ist, in Hegels Worten, »schlechthin nur als diese Beziehung oder als Rückkehr aus einem, somit sich selbst aufhebende Unmittelbarkeit« oder »Ge- () setztseyn« als »Bestimmtheit«213. Die Unmittelbarkeit als Bestimmtheit ist eine Bestimmung der Reflexion, die von der Reflexion ~Jzt ist. Bis hierher wäreJ Hegel zu folgen; die Frage ist nur, was d~~n bedeutet. Für Hegel ist es nicht das Resultat einer Beziehung der Reflexion auf ein (für sie) Unmittelbares, \ Un ,',"" sondern besagt, daß die Unmittelbarkeit ganz und gar in die Reflexion fällt. Diese i ist se~bst unmittelbar als ein Selbstverhältnis, das rein in sich selbst bleibt und nicht durch Anderes vermittelt ist. In dem »Aufheben ihres Andern, der Unmittelbarkeit«, ist das Andere schon immer sie selbst, denn »es ist nemlich nicht ein anderes vorhanden, weder ein solches, aus dem sie, noch in das sie zurückkehrte«214. Die Reflexion selbst ist es, die sich als »reine« die Bestimmtheit der Unmittelbarkeit gibt. In diesem Setzen setzt sie sich zugleich als dasjenige voraus, welches setzt und in welches sie zurückkehrt: »Es ist das Aufheben seiner Gleichheit mit sich, wodurch das Wesen erst die Gleichheit mit sich ist. Es setzt sich selbst voraus, und das Aufheben dieser Voraussetzung ist es selbst; umgekehrt ist diß Aufheben seiner Voraussetzung die Voraussetzung selbst«215. Das hierin modellierte Selbstverhältnis als »absoluter Gegenstoß«216 des Wesens in sich selbst orientiert sich ersichtlich an der ursprünglichen Tathandlung,dem Sich-Setzen 0 des absoluten Ich als setzend, im obersten Grundsatz der Fichteschen Wissenschaftslehre. Wie jener basiert die setzende Reflexion auf einer abstrahierenden Reflexion, die Hegel freilich im Unterschied zu Fichte nicht wahrhaben will, da er; sie im Resultat der Seinslogik als Selbstvernichtung der endlichen Verstandesbe-I stimmungen abgeleitet zu haben meint. Erst unter dieser Voraussetzung der Unmittelbarkeit kommt überhaupt so etwas wie Gegenständlichkeit ins Spiel. Auch hierin folgt Hegel der systematischen Struktur der »Wissenschaftslehre«, dem Setzen des Unterschieds zum Ich als Nicht-Ich im zweiten Grundsatz. Hegels Vorwurf an Fichte bestand darin, daß dieser Grundsatz nicht aus dem obersten abgeleitet worden sei, mithin auch keine
213 210
211 212
Ebd., 250. Ebd. Vgl. Henrich 1971, 95-156.
199
214 215 216
GW 11, 251. Ebd. Ebd., 25lf. Ebd., 252.
ur. Hegels Logik der Reflexion
200
Rückkehr in die unmittelbare Identität des Absoluten stattfinden könne. Dagegen ist der Übergang in die Entgegensetzung der äl!..Q~ren Reflexi2!l bei Hegel im strengen Sinne als Entäußerung konzipiert, als Auseinandertreten der unmittelbaren Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung, Setzen und Voraussetzen, wie sie in der setzenden Reflexion erschIen. Entsprechend erkennt Hegel in der setzenden Refle?Cion rückblickend bereits die »absolute Reflexion«, während es sich hier um »die äusserliche oder reale Reflexion«217 handle. Diese ist Doppelung der ersten,.der s~j:~end~I.LRef1~xi~!l (oder, was dasselbe sagt: Ur-teilung der absoluten), sofern die Selbstbeziehung einmal als »das Vorausgesetzte, oder die Reflexion in sich, die das Unmittelbare ist«, erscheint, zum anderen als »negativ sich auf sich beziehende Reflexion «218. In dieser negativen Beziehung bezieht sich die Reflexion »auf das UII:mittelbare als auf ein Gegebenes«219. Indem sie von der Reflexion-in-sich, dem Gesetztsein der Voraussetzung abstrahiert, nimmt die äußere Reflexion das Unmittelbare als ein Gegenüber, an' [dem sie »demselben äusserliche Bestimmungen«22o setzt. Diese Struktur ist als Konsequenz der Verendlichung eines Unendlichen zu verstehen~ die vorausgesetzte Unmittelbarkeit als Reflexion-in-sich erscheint im Gegensatz gegen die Reflexion als Endliches, von dem die Reflexion anfängt. Gegenüber diesem End..: lichen nun macht sich die endliche Reflexion, indem sie bis ins Unendliche Bestimmungen setzt, unter der Form des Gegensatzes selbst unendlich: »das Unendliche ist die gegenüber stehende Reflexion in sich«221. Mit der äußeren Reflexion ist damit die daseinslogische Reflexionsform der Beziehung auf Anderes aus der Sicht Hegels auf den Punkt gebracht, wobei er glaubt, sich ihrer Scheinhaftigkeit schon vorher versichert zu haben, sofern sie aus der UnmittelObarkeit der absoluten Reflexion erst hervorgeht. Diese Ableitung freilich kann nur durchgehalten werden, wenn sich in der Vergleichgültigung der Relate Unmittelbarkeit und Reflexion als· indifferent erweisen lassen. Hegel will dies dadurch erreichen, daß die Reflexion selbst sich unendlich macht und dadurch die Bestimmung mit der Unmittelbarkeit tauscht, die nun als endlich erscheint. Damit wird unter der Form eines äußeren Gegensatzes das realisiert, was schon in der setzenden Reflexion lag: Unmittelbarkeit und Reflexion sind austauschbare Bestimmungen. Darin liegt zugleich auch, daß der äußere Gegensatz sich nicht festhalten läßt und mit der Einseitigkeit der äußeren Reflexion die Endlichkeit überhaupt überwunden werden kann. e; In der äußeren Reflexion wird thematisch, was Hegel als Reflexionsphilosophie der Subjektivität vehement kritisiert hatte. einer Anmerkung verweist er dementsprechend auch auf das Rtiflexionsverständnis der Kantischen »Kritik der
I
In
217 218 219 220 221
Ebd. Ebd., 252f. Ebd., 254. Ebd., 253. Ebd.
Bewegung der Reflexion
201
Urteilskraft« und bekennt selbstkritisch: »Die äusserliche Reflexion war auch gemeynt, wenn der Reflexion überhaupt, wie es eine Zeitlang Ton in der neuern Philosophie war, alles Ueble nachgesagt und sie mit ihrem Bestimmen als der Antipode und Erbfeind der absoluten Betrachtungsweise angesehenwurde«222. Hegel hält der äußeren Reflexion vor, nach Belieben und Willkür zu verfahren; sie setze allgemeine Bestimmungen an endlichen Substraten und damit sich selbst, als endliche Reflexion, allgemein. So erzeugt sie eine Austauschbarkeit des Einzelnen und Allgemeinen, welche (ohne daß Hegel diesen Gegner ausdrücklich erwähnt) in der Reflexionsform romantischer Dialektik zum Extrem getrie- ') ben wurde. 223 Diese Kritik zielt jedochnichUmi -die indifferenz selbst, sondern darauf, daß diese Indifferenz gegenüber dem in der äußeren Reflexion vorausgesetzten Gegensatz festgehalten wird, ohne daß beide in ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit gefaßt werden. Hieraus ergibt sich eine durchgängige Amphibolie des Individuellen und Allgemeinen, Unmittelbaren und Vermittelten, ein Oszillieren zwischen den Relaten der Reflexion innerhalb der Entgegen-c setzung im Endlichen selbst. Der Vorwurf besteht darin, daß die sich zwischen den Extremen hin- und herwerfende romantische Dialektik auf halbem Wege stehenbleibt, weil sie deren Einheit nicht zu begreifen vermag. Diese Einheit nämlich ergibt sich erst im Begriff des Unendlichen oder Absoluten. Kehrte sich die Kantische Dialektik an der Grenze des Begriffs dort um, wo die Verstandesbegriffe notwendig Widersprüche erzeugen mußten, so konnte sich die romantische Dialektik, beflügelt von der produktiven Einbildungskraft, immerhin allegQ~isch über jene Grenze in die Sphären des Absoluten aufschwingen. Was ihr v aus der Sicht Hegels fehlt, ist nicht der wahrhafte Inhalt, sondern derBegriff ihrer eigenen Reflexionsform. Hierauf beruht die tiefgehende Gemeinschaft Hegels und der Romantik; aufgrund solcher Nähe bedarf die Hegelsche Kritik an der Romantik einer Heftigkeit, wie sie der versuchten Befreiung aus symbiotischen Verhältnissen eigen ist. • Der ßegriff der Reflexion, in dem die Äußerlichkeit überwunden wird, ergibt sich aus der aufgezeigten Indifferenz des Vorausgesetzten und der Reflexion. Damit ist, so Hegel, die Reflexion selbst ein »Setzen des Unmittelbaren« und das Unmittelbare ist »nicht nur an sich [ ... ] dasselbe was die Reflexion ist, sondern es ist gesetzt, daß es dasselbe ist«224. Damit ist die unvermittelte Einheit des Setzens und Vor~ussetzens als reflektierte, d. h. vermittelte wiederhergestellt; was aber gesetzt und vorausgesetzt wurde, war die Unmittelbarkeit. Mit dieser Rückkehr . zur Unmittelbarkeit als vermittelter kann Hegel beanspruchen, das geleistet zu haben, woran seiner Ansicht nach die Fichtesehe »Wissenschaftslehre« in systematischer Hinsicht gescheitert war: die Vermittlung der Grundsätze als Vermitt- Ö lung des Absoluten mit sich aufzuzeigen. Dies freilich setzt etwas voraus, wovor 222 223 224
Ebd., 254 f. Vgl. De Domenico 1983. GW 11, 253.
202
nicht nur Fichte, sondern auch seine frühidealistisch/frühromantischen Kritiker zurückgeschreckt waren: die Kritik der unbedingten Geltung des Satzes vom Widerspruch nicht nur im Blick auf reale, sondern auch im Blick auf dialektische Oppositionen. CJ Hier tritt bei Hegel die b~meng~Re.il~JfjQii)eiI), die in letzter Konsequenz als »Einheit ihrer selbst und ihres Andern«225 gefaßt wird. Sie ist bestimmende Reflexion, sofern sie angibt, worin die endlichen Bestimmtheiten ihr Bestehen haben. Bestimmtheit wird nicht in der Weise der äußeren Reflexion an etwas gesetzt, vielmehr ist das Gesetztsein ein Unmitte.lbares im.Sinne der setzenden Reflexion, d. h. ein in die Reflexion in sich aufgehobenes. Gesetztsein ist Dasein, aber Dasein in Rücksicht auf das Wesen, d. h. »eine Bestimmtheit oder Negation nicht als seyend, sondern unmittelbar als aufgehoben«226. in der Affirmation des Prinzips, daß Bestimmtheit Negation sei, wird dieser Negation von Hegel zugleich der substantielle Boden entzogen; der »Boden« des Daseins ist vielmehr »das Seyn, als Wesen oder als reine Negativität«227, als aufgehobenes Sein. Die Bestimmtheit, das Dasein in der Sphäre des Wesens, tritt damit an die Stelle des Scheins als des wahrhaft Nichtigen; sie ist gesetzt durch die Reflexion »als Negatives, ein schlechthin nur auf die Rückkehr in sich bezogenes«228. Sie ist, in einem noch zu präzisierenden Sinne, Moment der Sichselbstgleichheit des Wesens als Rückkehr in sich. Dies war zunächst die setzende Reflexion; als Moment dieser Reflexion ist das Gesetztsein (Dasein, Bestimmtheit) Negation »als die Negation des Zurückgekehrtseyns in sich selbst«229. Die Wahrheit der äußeren Reflexion besteht demnach für Hegel darin, daß sie Bestimmungen setzt, die ganz in die Reflexion selbst fallen. Sie täuscht sich nur o darin, daß sie ihnen ein Sein zuschreibt, an dem sie sich festhalten können. Indem diese Illusion zerstört wird, führt die äußere auf die setzende Reflexion zurück und die bestimmende ist die Einheit beider. In dieser Perspektive ist das Gesetztsein der äußeren Reflexion, von dem diese als Voraussetzung ausgeht, eine Bestimmung der Reflexion. Sie hat nicht das Sein zu ihrem Grund, sondern »das Reflectirtseyn in sich selbst«; die Reflexion ist »Gleichheit mit sich selbst in ihrem Negirtseyn [ ... ]; ihr Negirtseyn ist daher selbst Reflexion in sich. Die Bestimmung besteht hier nicht durch das Seyn, sondern durch ihre Gleichheit mit sich«230. Der reflexionslogische Begriff der Bestimmung ist von anderer Art als . der seinslogische einer Qualität am Sein. Jene war »übergehendes, im Andern verschwindendes Moment«231, dagegen ist die Reflexionsbestimmung dieser Be~ ziehung auf Anderes enthoben: »Es ist das Bestimmte, das sein Uebergehen und 225 226 227 228 229 230 231
Gegensatz im Zeichen der Identität
IH. Hegels Logik der Reflexion
Ebd., 257. Ebd., 255. Ebd. Ebd., 256. Ebd. Ebd. Ebd.
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sein bloßes Gesetztseyn sich unterworfen, oder seine Reflexion in anderes in Reflexion in sich umgebogen hat«232; das Andere in ihr ist schon immer das Andere ihrer selbst. Halt also findet die Bestimmung allein in der Sichselbstgleichheit der Reflexion, die mit der wahrhaften Unmittelbarkeit identisch ist. 0 Als Gesetztsein ist die Bestimmung »Nichtseyn gegen ein anderes, nemlich gegen die absolute Reflexion in sich oder gegen das Wesen«233, zugleich aber is"t sie in sich reflektiert, und insofern das Gesetztsein »zugleich Reflexion in sich selbst ist, so ist die Reflexionsbestimmtheit die Beziehung auf ihr Andersseyn an ihr selbst«234. Das Ganze der Reflexion als Einheit der setzenden und äußeren reflektiert sich in der Reflexionsbestimmung als Einheit von Gesetztsein und Wesenheit, die ihr Anderssein in sich zurückgenommen hat. Die Abwesenheit des Anderen macht die Bestimmtheit selbst zu einer flüssigen in der unendlichen Beziehung ihrer als Wesenheit auf sich; sie ist nicht »als eine seyende, ruhende Bestimmtheit, welche bezogen würde auf ein anderes, so daß das Bezogene und dessen Beziehung verschieden von einander sind«235. Beziehung überhaupt ist damit wesenslogisch in die Unmittelbarkeit reiner Selbstbeziehung umgedeutet, 0 in der dem Dasein das Sein ausgetrieben ist, so daß von den Relaten nichts zurückbleibt, außer, Moment einer absoluten Selbstbezüglichkeit zu sein. Auf dieser Ebene erscheint die romantische Reflexionsform des Selbstseins. im Anderen in potenzierter Gestalt als wesentliche Bestimmung der Wirklichkeit, nur ? daß dieses Selbst alle Endlichkeit hinter sich gelassen hat.
3. Die Konstruktion des Gegensatzes im Zeichen der Identität
Im zweiten Kapitel des ersten Abschnitts der »Wesenslogik« werden die Reflexionsbestimmungen (Identität, Unterschied, Widerspruch) vor diesem Hintergrund eigens thematisch. Dabei weist die spätere Fassung der »Logik« innerhalb der »Enzyklopädie« die Abweichung auf, den Grund als dritte R~flexionsbestim mung anzuführen, der in der Fassung von 1813 ein eigenes Kapitel bildet. 236 Der Durchgang durch diese Bestimmungen vollzieht noch einmal den Gang der Reflexion durch ihre Gestalten nach. Das Wesen erscheint hierbei als »nicht unmittelbare, sondern negative Einfachheit; [ ... ] absolute Vermitthing mit sich«237. Die Reflexionsbestimmungen werden als Momente einer Reflexion gefaßt und sind somit selbst »dem Uebergehen und dem Widerspruche nicht
Ebd.,256f. Ebd., 257. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 Zur Entwicklungsgeschichte der »Wesenslogik« vgl. Jaeschke 1992; zur Einbeziehung des Grundes in die Reflexionsbewegung !ber 1990, 485ff. 237 GW 11, 258. 232 233
IH. Hegels Logik der Reflexion
Gegensatz im Zeichen der Identität
entnommen«238. Auch sie haben daher als Bestimmungen ihr Bestehen nicht in sich selbst, sondern müssen in den Grund zurückgehen, in dem sich daher erst die Reflexion mit sich selbst zusammenschließt. Dieser ist die »letzte« Reflexionsbestimmung des Wesens, nämlich »nur die Bestimmung, daß sie aufgehobene Bestimmung ist«239, d. h.: daß die Bestimmtheit nur als aufgehobene in einem mit sich identischen Wesen ihr Bestehen hat. Nun betont Hegel in der »Enzyklopädie«, der »bestimmte Grund« sei nur »etwas Formelles; irgend eine Bestimmtheit, insofern sie als bezogen auf sich selbst) als Affirmation gesetzt wird«24o, und entsprechend werden Kategorien wie Existenz, Ding, Wirklichkeit als Folgebestimmungen entwickelt. Gleichwohl ist mit dem Grund eine Struktur erreicht, in der grundsätzlich die »Reflexion-in-sich [ ... ] ebensosehr Reflexion-in-Anderes und umgekehrt«241 so ist, daß diese Reflexion in Anderes als Selbstbeziehung modelliert werden kann. Das Konstruktionsverfahren, das bereits seinslogisch Gültigkeit hatte, wird hier - noch einmalauf den Punkt gebracht, aber es funktioniert nur unter den dort erschlichenen Prämissen von Unmittelbarkeit, Unendlichkeit und Totalität, die in einem emphatischen Verständnis von Identität zusammenlaufen. Was immer an FolgebeOstimmungen hinzukommt, die Grundfigur der Konstruktion war schon längst festgelegt. So ist auch der Ausgang der Bewegung bei der Identität analog dem Begriff der Unendlichkeit konzipiert und eine vergleichbar starke Unterstellung. Hegel betont ausdrücklich, sie sei »wesentliche« und »insofern nicht abstracte Identität«242. Die Kritik des abstrakten Verstandesbegriffes von Identität, wie sie in den Anmerkungen expliziert wird, erfolgt somit vor dem Hintergrund eines emphatischen Identitätsverständnisses und ist Effekt, aber nicht Hauptziel der Argumentation. Diese geht vielmehr darauf, die Identität des Wesens mit sich festzuhalten . und an dieser die Nichtigkeit des endlichen Verstandesbegriffs zu demonstrieren. Die Identität als die einf.ache, unmittelbare Identität des Wesens mit sich ist »die ganze Reflexion, nicht ein unterschiedenes Moment derselben«243. Diese war freilich nicht die eines ruhenden, positiven Seins, sondern als Refle~ion war das Wesen absolute Negation, d. h. eine Negation, die unmittelbar sich selbst negiert. Sofern hier also unterschieden wird, findet ein Unterscheiden statt, »wodurch nichts unterschieden wird, sondern das unmittelbar in sich selbst zusammenfällt«244. Hegels Formulierung bringt eine massive Verlegenheit zum Ausdruck, die darauf beruht, daß die Unterschiedenen wesenslogisch schon immer in die ne-
gative Selbstbezüglichkeit des Wesens aufgelöst wurden. Ihre - zuerst seinslogisch vollzogene - Indifferenzierung läßt hier Identität und Unterschied amphibolisch werden. Gleichwohl muß Hegel den unmittelbar in sich zusammenfallenden Unterschied so aufbauen können, daß nicht nur eine bestimmungslose All-Einheit behauptet wird, ohne daß er dabei in die seinslogischen Voraussetzung einer Beziehung auf Anderes zurückfällt. Die Konstruktion der absoluten Identität hat zur Folge, daß aus ihr der Unterschied wieder herausgeklaubt werden muß. Beruhte diese Identität auf der Vergleichgültigung der Unterschiedenen, so rächt sich diese Indifferenz darin, daß ihr nun der Unterschied entgleitet. Im trüben Licht der Wesensunmittelbarkeit bekommt er etwas Gespenstisches, ein Schattendasein, welches sich dem endlichen Sein der Unterschiedenen verweigert und damit als nichtig zerrinnt. Das Unterscheiden unterscheidet nicht etwas, sondern setzt das Nichtsein als das Nichtsein des Anderen, worin das Andere und damit das Unterscheiden selbst aufgehoben wird. Als ein solches »innerliches Abstossen«245 entspricht es der setzenden Reflexion. Indem diese sich als unmittelbare Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung durch die Momente der reinen Identität (ohne Bezogene) und des reinen Unterschieds (ohne Unterschiedene) bewegt, hat sie Bestimmungen, nämlich die der Identität gegen die Nichtidentität. Die Identität ist das »Gesetztseyn« der setzenden Reflexion, »aus welchem sie die Rückkehr in sich ist«; so ist sie »Moment [ ... ] als Bestimmung der einfachen Gleichheit mit sich selbst, gegen den absoluten Unterschied«246. Damit aber ist der Satz der Identität reflexionslogisch schon immer als synthetisch zu verstehen, indem er eine Reflexionsbewegung enthält,' die auch darin zum Ausdruck kommt, daß er im Satz des Widerspruchs eine negative Form findet, in der der verschwindende Unterschied aufscheint. 247 Der Unterschied ist zunächst »die Negativität, welche die Reflexion in sich hat«248. Dieser »absolute Unterschied« ist nichts anderes als das, was als einfache Identität eingeführt wurde, nämlich »negative Beziehung auf sich oder Unterscheidung ihrer von sich selbst«249. Identität und Unterschied werden aus ihrem Wesens-Ursprung heraus als strukturell identisch'gedacht: beide sind »ihr Ganzes und ihr Moment«25o, sowie als Moment die Beziehung auf ihr Anderes, die Identität bzw. den Unterschied. So ist die Identität Einheit der Identität und des Unterschieds, wie auch der Unterschied »Einheit seiner und der Identität«251 ist.
204
238 239 240 241 242 243 244
Ebd., 260. Ebd., 291. Enz. 31830, § 122, Erläuterung. Ebd., § 12l. GW 11, 260. Ebd., 26l. Ebd.
205
245 Ebd., 262. 246 Ebd. 247 Vgl. ebd., 265; Hegel gibt ihm die Form »A kann nicht zugleichA und Nicht-A sein«, da hier von Prädikationen noch gar nicht die Rede ist, die vielmehr erst in der Betrachtung des Widerspruchs als Reflexionsbestimmung .thematisch werden. . 248 Ebd. 249 Enz. 31830, § 116, Zusätze (HW 8, 239). 250 GW 11, 266. 251 Ebd.
III. Hegels Lügik der Reflexiün
206
Als Mümente sind Identität und Unterschied gegeneinder bestimmt; es hat sich aber gezeigt, daß nicht nur die Identität, sündern auch der Unterschied in sich reflektiert ist, d. h. daß beide auch in ihrem Gesetztsein als Mümente in si,ch reflektiert sind: »Der Unterschied, indem er zwey sülche Mümente hat, die selbst die Reflexiünen in sich sind, ist Verschiedenheit«252. Das besagt: Identität und Unterschied sind als Mümente »gegen einander gleichgültig«; jedes ist das, was es ist, in der Beziehung auf sich, d. h. in der Identität mit sich, aber jedes ist zugleich »das Ganze«253. In der gleichgültigen Verschiedenheit realisiert sich die in der Unmittelbarkeit des Wesens vürausgesetzte Amphibülie der absüluten Identität bzw. des absüluten Unterschieds. Identität und Unterschied sind äußerliche Bestimmungen an einem, das gegen den Unterschied beider gleichgültig ist und das, als das Ganze, beides und zugleich weder das eine nüch das andere ist. So. ist die Reflexiün-in-sich (des Ganzen) und eine Reflexiün vürhanden, die äußerliche Bestimmungen der IdenOtität und des Unterschieds an ihm setzt. Das heißt: die Verschiedenheit stellt die Struktur der äußeren Reflexiün wieder her. Sie zeigt sich hier, entsprechend der traditiünellen Bestimmung der Reflexiünals Kümparatiün, als äußere Bewegung des Vergleichens an Verschiedenem, bei der Gleichheit und Ungleichheit als Hinsichten auf ein und dasselbe erscheinen. In der Gleichgültigkeit gegenüber dem Substrat ist diese Reflexiün »sich selbst äusserlich« üder die Gestalt einer »sich entfremdeten Reflexiün«2,54. Für Hegel bedeutet dies, daß sich die Reflexiün, die sich in die Äußerlichkeit verloren hat, selbst zerstören muß. Die Bestimmungen der Gleichheit und Ungleichheit schließen sich wechselseitig aus; sie sind, in Hegels Würten, »Bestimmungen des Unterschieds«, »Beziehungen aufeinander; das eine, zu seyn, was das andere nicht ist«255. Dieses Ausschließen fällt aber in gleichgültige Hinsichten auseinander; das Gleiche ist das Gleiche und das Ungleiche ist das Ungleiche, so. daß sich die Bestimmungen gleichsam nicht berühren und amphibülisch werden, eben gleich-gültig; wiederum in Hegels Würten: »Durch .ihre Gleichgültigkeit aber gegen einander ist [ ... ] der Unterschied [ ... ] verschwunden [ ... ]; üder jede ist hiemit nur Gleichheit«256. Der Unterschied besteht nur in der Rücksicht auf die Gleichheit der Unterschiedenen mit sich; diese werden aber als Bestimmungen auf ein Drittes bezügen, an dem sie als Hinsichten unterschieden werden, ühne seine Gleichheit mit sich zu verletzen. In diesem Beziehen der Bestimmungen der Gleichheit und Ungleichheit durch die äußere Reflexiün auf ein Drittes aber sind Gleichheit und Ungleichheit miteinander vermittelt; auf diese Vermittlung nun kümmt es Hegel an, um die Verschiedenheit zum Gegensatz und Widerspruch zuzuspitzen.
252 253 254 255 256
Ebd., 267. Ebd. Ebd., 268f. Ebd., 269. Ebd.
Gegensatz im Zeichen der Identität
207
Die äußere Reflexiün bezieht, indem sie die Bestimmungen der Gleichheit und Ungleichheit setzt, beide aufeinander. Hegel drückt dies auch so. aus, daß der vo.n den Gegenständen ferngehaltene Widerspruch sich in dieser Reflexiün erneuert. 257 Die Spitze dieses Arguments richtet sich, übwühl im Küntext der Anmerkung namentlich nur Leibniz erwähnt wird, vür allem gegen Kants Künzeptiün transzendentaler Reflexiün. 258 Indem Kant die tüpülügische Hinsicht der Kümparatiün auf reine Verstandesbegriffe und Anschauungen einführt, will er die Gegensatzbeziehungen als »reale« Oppüsitiünen in der Anschauung widerspruchsf!ei vürstellen, d. h. vün ihnen den Begriff des Widerspruchs als analytischer Oppüsitiün fernhalten. Dies hat zur Fülge, daß die dialektischen Oppüsitiünen nicht mehr zu dem Reflexiünsgeschehen selbst in Beziehung gesetzt, sündern nur apüretisch interpretiert werden können. Aus Hegels Sicht ist dies nichts anderes als eine Entfremdung der Reflexiün vün sich, ein Verzicht auf die Thematisierung des Reflexiünsgeschehens, der die Püsitiünen und Bestimmungen der äußeren Reflexiün grundlüs werden läßt. Dies gilt, mutatis mutandis, ebenso. für Fichte, dessen dritter Grundsatz der Wissenschaftslehre bei der Verschiedenheit stehenbleibt. Darüber hinauszugehen heißt nun bei Hegel nicht, im Gegenzug die Geltung des vün der: äußeren Reflexiün vürausgesetzten Widerspruchsprinzips zu bestreiten; es heißt vielmehr,dieses in die Gegensatzbeziehung so. aufzuheben, daß allenfalls erst der Grund seiner Geltung eingesehen werden kann. Die Stufe des Gegensatzes entspricht der bestimmenden Reflexiün als Einheit 0 der setzenden und äußeren; sie ist, im Blick auf die Reflexiünsbestimmungen, Einheit der Identität und der Verschiedenheit. Der Gegensatz ergibt sich dann, wenn die Vüraussetzungen der äußeren Reflexiün so. thematisiert werden, daß Bestimmung und Gegenstand der Bestimmung in ihrer Beziehung aufeinander hervortreten. Wird das Geschehen der äußeren Reflexiün reflektiert, so. sind, Hegel zufülge, Gleichheit und Ungleichheit so. aufeinander bezügen, daß das Gleiche nicht das Gleiche seiner selbst, sündern eines Ungleichen ist; und ebenso. ist das Ungleiche eines ihm Ungleichen selbst das Gleiche. Die Gleichheit ist somit sie selbst und die Ungleichheit und die Ungleichheit sie selbst und die Gleichheit. 259 Jedes Müment der (vergleichenden) Reflexiün »ist also. in seiner Bestimmtheit das Ganze«260., Die Amphibülie in der äußeren Reflexiün beruht demnach darauf, daß ihre Bestimmungen in ihr schün immer aufeinander bezügen sind. Hegel veranschaulicht dies durch die Überlegung, daß das Unterscheiden die Gleichheit der Unterschiedenen vüraussetzt und umgekehrt das Vergleichendie Ungleichheit. 261 Damit aber ist zu fragen, in welchem Verhältnis die
257 258 259
260 261
Vgl. ebd., 272. Ebd., 270-272; vgl. dazu auch Wolff 1981, 116-123. Vgl. GW 11, 269f. Ebd., 272. Vgl. Enz. 31830, § 118; Zusatz (HVY 8, 242f.).
208
Widerspruch
IIL Hegels Logik der Reflexion
Bestimmungen der Gleichheit und Ungleichheit zu ihren Gegenständen stehen. Der Verstand unterscheidet Bestimmungen und deren Substrate, die er äußerlich aufeinander bezieht; diese Unterscheidung spitzt Kant mit der Trennung von Dingen an sich auf der einen und den Erscheinungen auf der anderen Seite so zu, daß zugleich deren Beziehungen weder vorgestelit noch begrifflich durchdrungen werden können; negative Auskunft über die Vergeblichkeit solchen Tuns geben die dialektischen Oppositionen. 262 Indem Hegel das Substrat der äußeren Reflexion in die Reflexion selbst einzieht, wird die Bestimmung als objektive, der »Sache« zukommende und ihr nicht äußerlich beigelegte verstanden. 263 Das bedeutet zugleich, daß die Reflexion von der Äußerlichkeit befreit und zur immanenten Reflexion der »Sache« selbst wird. Ihr selbst kommen die gleichgültigen Bestimmungen der Gleichheit uIid Ungleichheit zu, wodurch sie als komplexes Ineinander von »Selbständigkeit« (Unmittelbarkeit) und »Gesetztsein« (Vermittlung) ,charakterisiert ist. Dies macht nun die Gegensatzbeziehung selbst aus. Die in sich reflektierte Gleichheit bezeichnet Hegel als das Positive, die in sich reflektierte Ungleichheit als das Negative. 264 Hierbei hat er Kants Übertragung des Begriffs der negativen Größen auf die Weltweisheit im Auge, d. h. reale Oppositionen des Typs, die Kant als Realrepugnanz bezeichnet hatte. 265 Bereits Friedrich Schlegel hatte ja einen. entsprechenden dialektischen Gebrauch von dieser Konzeption gemacht, um die Einheit entgegengesetzter Bestimmungen zu denken. Dabei ging es ihm nicht nur darum, die Entgegensetzungen im Endlichen indifferent zu machen, sondern die Entgegensetzung überhaupt in der Indifferenz erlöschen zu lassen. Diese wurde als analogische Repräsentation einer jenseitiogen, gegenüber der Sphäre der Vermittlungen unmittelbaren, an und für sich seienden, wesentlichen Identität interpretiert. Auf diese wesentliche Identität !jwill auch Hegel hinaus, aber so, daß sie nicht in einem Jenseits zur Entgegenl.setzung verbleibt, sondern aus dieser selbst hervorgeht. Dafür braucht er auf der einen Seite die Vergleichgültigung der Relate der Gegensatzbeziehungen (und °insofern stimmt er mit der romantischen Dialektik überein) , auf der anderen Seite jedoch darf aber der Gegensatz als Gegensatz keineswegs in einer Indifferenz erlöschen, die nur der negative Vorschein der gesuchten Identität ist. Um diese auch positiv zu gewinnen, darf mit den Relata zugleich nicl:tt auch die Relation der Indifferenz geopfert werden. Hierauf beruht Hegels Konstruktion des Widerspruchs.
262 Vgl. dazu WoIff 1981, 128-138. 263 Dies ist, worauf Düsing 1990, 121 ff. aufmerksam macht, zugleich Kritik an der traditionellen metaphysica specialis und an der Kantischen Metaphysikkritik. 264 Vgl. GW 11, 273. 265 Vgl. die Beispiele in Enz. 31830, § 119, Erläuterung und mündl. Zusätze (HW 8, 243-247); zu Kants Konzept realer Opposition Wolff 1981, 69ff.; zu Hegels Aufnahme des Konzepts in bezug auf die Mathematik ebd., 83-100.
209
4. Der Widerspruch
Das Positive und das Negative sind, im Hegeischen Verständnis, als »Reflexion des Ganzen in sich« selbständig gewordene Seiten des Gegensatzes; zugleich gehören sie dem Gegensatz an, »insofern es die Bestimmtheit ist, die als Ganzes in sich reflectirt ist«266. Das Positive und das Negative sind, als Momente des Gegensatzes, zunächst »entgegengesetzte überhaupt; oder jedes ist nur das entgegengesetzte des andern«267 und durch das Andere das, was es ist. Diese Beziehung auf Anderes, die es zu einem Gesetztsein (Vermittelten) macht, interpretiert Hegel hier jedoch so, daß es durch »sein eigenes Nichtseyn«268 das ist, was es ist. Als das, was es ist, ist es aber selbständig und insofern nur, »insofern das andre nicht ist«269 , d. h. es schließt in der Weise der setzenden Reflexion in der Beziehung auf Anderes das Anderssein so von sich aus, daß es zu seinem Anderssein wird, zum Moment dessen, was Hegel die Reflexion-in-sich nennt. Zugespitzt formuliert: das eigene Nichtsein ist das Nichtsein des Anderen, weil das Andere schon immer das Andere des Nichtseienden selbst ist und ganz seiner Reflexion-in-sich angehört. Das Positive und das Negative sind somit Momente einer ReflexionsEinheit, die sich gegenseitig bestimmen, deren wechselseitige Ausschlußbeziehung jedoch auf dieser Stufe ihre wesentliche Einheit undurchsichtig läßt. Sie;, erscheinen als alternative Bestimmungen, die ,als verschiedene Hinsichten auf die \ Einheit unvermittelt auseinanderfallen. Dies führt dazu, daß sie auf einer zweiten Stufe der Gegensatzbeziehung in der Weise der äußeren Reflexion als Bestimmungen auf ein zugrundeliegendes Substrat bezogen werden können. Sie erscheinen dann als bloß verschiedene, die gleichgültig gegeneinander sind. Als solche sind sie >>TIur Bestimmtheit überhaupt« und amphibolisch: »sie können verwechselt werden, und jede Seite ist von der Art, daß sie eben so gut als positiv wie als negativ genommen werden kann«27o. Diese Äußerlichkeit eines amphibolischen Gegensatzes271 formuliert eine Auffassung realer Opposition, in der. die Entgegengesetzten dadurch vergleichgültigt sind, daß von der Gegens~tzbeziehung abstrahiert wird. Im Argumentationsgang der »Wesenslogik« bedeutet dies die »Restitution bloßer Verschiedenheit«272 . Dieser Rückfall bedarf der Erklärung. In ihm schlägt durch, daß, Hegel aufgrund der schon seinslogisch vollzogenen Vergleichgültigung der Unterschiedenen reale Oppositionen nur noch durch einen Wechsel der Perspektive von der D immanenten zur äußeren Reflexion zu gewinnen vermag. Diese erscheint als die 266 267 268 269 270
GW 11, 273. Ebd. Ebd. Ebd., 274. Ebd. 271 Vgl. Wolff 1981, 116ff. 272 Iber 1990, 410.
IH. Hegels Logik der Reflexion
210
entfremdete Gestalt des immanenten Reflexionsgeschehens, welche wiederum in dieses aufzuheben ist. Dazu muß die entfremdete äußere Reflexion auf die anfängliche setzende Reflexion-in-sich zurückbezogen und beide müssen in der Weise der bestimmenden Reflexion als Einheit gefaßt werden. Hierdurch wird zunächst die Ausschlußbeziehung des Positiven und Negativen in die beiden Seiten zurückgenommen, so daß sie an und für sich positiv bzw. negativ sind. An sich heißt: bestimmt gegen Anderes; für sich: unter Ausschluß des Anderen. ;Etwas ist, was es ist, in der Beziehung auf Anderes so, daß es darin das Andere Il' zugleich von sich ausschließt. Damit ist der Widerspruch als dritte Stufe der t Gegensatzbeziehung erreicht. . Der Widerspruch erscheint bei Hegel als in sich reflektierte Einheit der Reflexionsbestimmungen; der Unterschied selbst war »schon der Widerspruch an sich «273 . Das bedeutet, daß der Widerspruch der Reflexionsbewegung insgesamt zugrundelag,- indem die Reflexionsbestimmungen als Momente Selbständigkeit nur dadurch gewinnen konnten, daß sie das Andere als ihr Anderes in ein und derselben Hinsicht zugleich enthielten und von sich ausschlossen. 274 Der Widerspruch bezeichnete bereits seinslogisch diejenige Struktur objektiver Gegensatzbeziehungen, aufgrund derer sich die Entgegengesetzten nicht als selbständige festhalten ließen. Damit war zunächst der Verstandesbegriff von Identität destruiert und eine Negativität im Endlichen aufgezeigt worden, die Hegel zum Aufheben des Endlichen selbst in der Indifferenz der Endlichen steigerte. Diese Indifferenz ist mit der zweiten Stufe der Gegensatzbeziehung in der Amphibolie der ReflexionsbestimIimngen wieder erreicht worden. Wie im Übergang vom Endlichen zum Unendlichen muß nun aber das negative Resultat des Widerspruchs in eIn positiv-affirmatives umgewendet werden, sofern sich das Wesen dfnicht in der Negativität verlieren und seinslogisch in sich zusammensinken . ' soll. In diese Gefahr gerät die »Wissenschaft der Logik« immer wieder deshalb, weil der Widerspruch im Endlichen so angesetzt war, daß er als Widerspruch die· °Nichtigkeit der endlichen Entgegengesetzten erweisen sollte. Seins logisch ließ er ein negatives Resultat zurück, daß durch die erschlichene Unmittelbarkeit des Unendlichen affirmativ interpretiert wurde. Seine Funktion bestand dort darin, die endliche Reflexion an ihr selbst zu vernichten. Wesenslogisch soll dieses Verfahren begrifflich allererst gerechtfertigt werden, indem gezeigt wird, was überhaupt ein Widerspruch dem Begriffe nach ist. Damit wächst seiner Bestimmung aber zugleich die Aufgabe zu, am Widerspruch selbst das Hervorgehen eines positiven Resultats aufzuweisen. Gelänge dies nicht, so wäre die intendierte Aufhebung des Endlichen in das Unendliche und der Vermittlung durch sie selbst in die reflektierte Unmittelbarkeit gescheitert. Gerade weil der Widerspruch der ganzen bisherigen Reflexionsbewegung (einschließlich· der seinslogischen) zu-
Widerspruch
211
grundelag, trifft es zu, daß mit der Reflexionsbestimmung des Widerspruchs eine krisenhafte Zuspitzung.erreicht ist, in der die Macht des Absoluten auf dem Spiel steht. 275 Um diese Krise zu überwinden, beutet Hegel wiederum die Amphibolie der Reflexionsbestimmungen aus, wie sie sich auf der Grundlage der Abstraktion von der Bestimmtheit als Qualität ergeben hatte. Das Positive und das Negative sind in der Einheit der ersten und zweiten Stufe der Gegensatzbeziehung (in der Einheit der setzenden und äußeren Reflexion) Momente, die sich als gleichgültig gegeneinander gegenseitig ausschließen. »Die gleichgültige Selbstständigkeit für sich hat jedes dadurch, daß es die Beziehung auf sein anderes Moment an ihm selbst hat; so ist es der ganze in sich geschlossene Gegensatz«276. Damit wird die Amphibolie zunächst auf die Spitze getrieben: jedes der Momente repräsentiert für sich bereits das Ganze des Gegensatzes, womit der Unterschied zwischen ihnen und damit der Unterschied der Entgegengesetzten erlischt. Was übrigbleibt, ist eine relatlose Relation, die das Ganze und seine Momente durchherrscht. An di;S;e~nichtrelationalen Identität seiner Vorgänger und\\O Zeitgenossen tritt bei Hegel die Identität der relatlosen Relation mit sich, die 1 dann. als Formel des Absoluten gebraucht werden kann: Identität der Identität und des Unterschieds. Auf dieser Grundlage wird der Gegensatz der Entgegengesetzten zum Selbstwiderspruch des Gegensatzes selbst. Die selbständige Reflexionsbestimmung schließt »in derselben Rücksicht«, wie sie die andere enthält (und dadurch selbständig ist) die andere aus; »so schließt sie in ihrer Selbstständigkeit ihre eigene Selbstständigkeit aus sich aus«277, die sie nur durch den Einschluß des Anderen hat. An dieser Stelle gebraucht Hegel zur Bezeichnung derselben Rücksicht, die das Vorliegen eines kontradiktorischen Gegensatzes anzeigt, aber als terminus technicus für ihn der äußeren Reflexion im Sinne der Vergleichung entlehnt ist, auch den Ausdruck »ebensosehr unmittelbar«.278 Die Rücksicht, die hier genommen wird, geht auf die reflektierte Unmittelbarkeit selbst, die aus der Entwicklung des Widerspruchs herausspringen soll. Sie kündigt an, daß die Amphibolie der Relate jetzt in die Amphibolie des Positiven und Negativen an und für sich umschlägt, die es Hegel erlauben wird, das negative Resultat der sich im Widerspruch selbst vernichtenden endlichen Reflexion ,in ein positives Begreifen des I Absoluten umzumünzen und damit die Reflexion selbst absolut zu machen. Betrachtet man nämlich die Reflexionsbestimmungen für sich, so ist Hegel zufolge »der absolute Widerspruch des Positiven« zugleich und »unmittelbar der
275
Vgl. Theunissen 1975.
276
GW 11, 279.
273
GW 11, 279.
Ebd. 278 Vgl. ebd.: die Selbständigkeit besteht »ebensosehr unmittelbar darin, sie selbst zu seyn und die ihr negative Bestimmung von sich auszuschliessen. Sie ist so der Wider-
274
Vgl. Iber 1990, 447.
spruch«.
277
absolute Widerspruch des Negativen«279; das Negative ist aber »überhaupt nicht ein unmittelbares«, sondern die Reflexion oder Vermittlung als solche, »die ganze, als Entgegensetzung auf sich beruhende Entgegensetzung, der absolute sich nicht auf anderes beziehende Unterschied«28o. An dieser Negativität hing der Begriff des Dialektischen, und insofern könnte man - auch, wenn Hegel diesen Begriff vermeidet - den Widerspruch, der das Negative ist, als den dialektischen Widerspruch bezeichnen; umgekehrt zeigt sich von hier aus rückblickend die Dialektik der Negativität als Dialektik des Widerspruchs. »Der Widerspruch löst sich auf«281; - mit diesem Satz beschreibt Hegel das Resultat der sich selbst ausschließenden Reflexion. Das Negative als der absolute Unterschied bestimmt sich in der Beziehung auf sich »als die Identität selbst, die er ausschließt«282. In ihrer unmittelbaren Einheit erzeugen sich Positives und ~egatives aneinander 'so, daß sie unmittelbar inein'ander umschlagen. Dieses Ubergehen freilich ist nicht seinslogisch ein Übergehen in Anderes, sondern »jedes ist schlechthin [ ... ] das sichUebersetzen seiner in sein Gegentheil«, das »rastlose Verschwinden der Entgegengesetzten in ihnen selbst«283. Im Blick auf den metaphysischen Ort dieses Arguments als Aufhebung der Vermittlung in der Vermittlung selbst ist es nicht unerheblich, daß Hegel in der Charakteristik dieser »nächste[nJ Einheit«, wie sie sich aus dem Negativen ergibt, der »Null« als der Onegativen Einheit284 , die r2!!!.ill!tische ReQexionsform der Oszillation, des unvermittelten Ineinanderschlagens entgegengesetzter B~stimmungen, bemüht. In der ersten Anmerkung zu dem Abschnitt »Der Widerspruch« gibt Hegel auch zu, daß der »Ausdruck« dieser Figur der äußeren Reflexion, dem Vergleichen, angehöre; daran könne das Vorstellen verwiesen werden, »insofern es das 'Positive und Negative nicht betrachtet, wie sie an und für sich sind«285. Die wiederhergestellte Unmittelbarkeit als Aufhebung der Vermittlung in der Vermittlung stellt sich zunächst dar als Aufhebung der Vermittelten in die gleichgültige indifferenz. Damit ist der Punkt erreicht, an dem die Theorie des Widerspruchs ihre äußerste Zuspitzung erfährt. Die Kri.s:is des Wesens, die ihm Widerspruch kulminiert, muß es die negative Einheit überwinden lassen, damit es nicht inden Sturz des Endlichen hineingerissen wird. Die Amphibolie des Positiven und Negativen wird noch einmal auf die negative Einheit selbst aufgetragen. Die negative, sich selbst ausschließende Reflexion sei, so Hegel, zugleich setzend und habe damit ein positives Resultat: »Das Positive und Negative machen das Gesetztseyn der Selbständigkeit aus; die Negation ihrer durch sie selbst hebt das Gesetztseyn der 0Selbständigkeit auf. Diß ist es, was in· Wahrheit im Widerspruche zu Grund 279 280 281 282 283 284 285
Verhältnis zum Widerspruch im Endlichen
In. Hegels Logik der Reflexion
212
Ebd., 280. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 283.
213
ge~t«286. Z~grunde geht demnach das Vermitteltsein der Selbständigkeit als negatIver BeZIehung auf sich; was übrig bleibt, ist die Selbständigkeit als Unmittelbarkeit) näher als wiederhergestellte Unmittelbarkeit der einfachen Einheit des Wesens mit sich. Denn keineswegs sind das Positive und das Negative als Relate nunm.ehr .un"!itte~bar Selbständige geworden; vielmehr: »Die Selbständigkeit [ ... ] 1st dIe EmheIt des Wesens, durch die Negation nicht eines Andern sondern ihreLselbst identisch mit sich zu seyn«287. Es ist bekannt, daß Hegel da~ Zugrundegehen des Widerspruchs als Rückgang in den Grund versteht; dieser ist selbst der Widerspruch, oder der Widerspruch war bereits der Grund; »es kam nur die Bestimmung der Einheit mit sich selbst hinzu, welche dadurch hervortritt, daß die selbständigen Entgegengesetzten jedes sich selbst aufhebt und sich zu dem andern seiner macht, somit zu Grunde geht, aber darin zugleich nur mit sich selbst zusammengeht, also in seinem Untergange, das ist, in seinem Gesetztseyn oder in der Negation vielmehr erst das in sich reflectirte, mit sich identische Wesen ist«288.
5. Wesenslogischer Widerspruch und Widerspruch im Endlichen In spekulativer Hinsicht vermeidet Hegels Theorie des Widerspruchs die unmittelbare Affirmation eines Positiven jenseits der Entgegensetzungen im Endlichen. Gleichwohl erhält sie ihren Richtungssinn nicht dadurch, daß sie auf bestimmte reale Vermi!tluug~,Rzie1t, sondern dadqrch, daß sie diese Vermittlungen im Endlichen auf ein Absolutes bezieht. Die spekulativ-metaphysische Spitze des Hegelschen Begriffs des Widerspruchs besteht darin, den traditionellen Schluß vom Endlichen auf das Absolute umzukehren. Der »wahre Schluß von einem Endlichen und Zufälligen auf ein absolut-nothwendiges Wesen« besteht, Hegel zufolge, »nicht darin, daß von dem Endlichen und Zufälligen als dem zum Grunde liegenden und liegen bleibendenSeyn) sondern daß, was auch unmittelbar in der Zufälligkeit liegt, von einem nur fallenden, sich an sich selbst widersprechenden Seyn aus, auf ein absolut-nothwendiges geschlossen«289 wird. Es ist nicht das Sein des Endlichen, das auf das Absolute verweist, sondern: »Die Wahrheit ,aber ist, daß darum, weil das Endliche der an sich selbst widersprechende Gegensatz, weil es nicht ist) das Absolute ist. [ ... ] Das Nichtseyn des Endlichen ist 0 das Seyn des Absoluten«29o. Das nächste Resultat des Widerspruchs, die Null, wäre demzufolge die Bedeutung des Widerspruchs für das Endliche. Ihm wird damit, wie es schon im
286 287 288 289 290
Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.,
281. 282f. 289. 290.
214
III. Hegels Logik der Reflexion
seinslogischen Widerspruch im Endlichen praktiziert wurde, das Sein entzogen, und es erlischt, als Endliches, in der Negativität. Für reale Oppositionen in den realphilosophisch thematisierten Kontexten endlicher Wirklichkeit bedeu~et dies, daß die Entgegengesetzten als »sich gegenseitig aufhebende und gegen einDander gleichgültige«291 erwiesen werden. Diese Vergleichgültigung der endlichen Bestimmtheiten hat j~doch für die .Endliche~ die. Bedeutung des ~ic~tseins, des ~,. Todes. Mit dem ErreIchen der Indifferenz sllld SIe aus dem Daselll hlllausgetrer ten; daraus folgt umgekehrt: in ihrem Dasein können sie die Entgegensetzungen ,Jim Endlichen nicht verlassen, deren Härte durch ihre Hinfälligkeit bezeugt wird. Mit dieser Position setzt sich Hegel in den schärfsten Gegensatz zur RplUantik und es zeigt sich, daß er von der Bestimmtheit des Endlichen auch dann nicht einfach absieht, wenn er dessen Nichtsein behauptet. Es ist nicht »Nichtsein« als solches, sondern Zugrundegehen. Der Widerspruch ist wesentlich prozessierender Widerspruch, oder vielmehr, in Hegels Worten: die Bewegung ist »der daseyende Widerspruch selbst«292 und insofern »die Wurzel aller Bewegung urid Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Thätigkeit«293; er ist »das Princip aller Selbstbewegung, die in nichts weiter besteht, als in einer Darstellung desselben«294. Man darf 'sich freilich über die Bedeutung dieser gern zitierten Sätze nicht täuschen, denn mit ihnen hat Hegel keineswegs den Einwand entkräftet, daß er dem Fallenden das Sein nicht wirklich zugesteht, das es hat, solange es sich im Widerspruch bewegt. Zwar ist das »Ding, das Subject, oder der Begriff, [ ... ] als in seiner Sphäre in sich.reflectirt, sein aufgelöster Widerspruch, aber seine ganze Sphäre ist auch wieder eine bestimmte, verschiedene; so ist sie eine endliche, und diß heißt eine widersprechende. Von diesem höhern Widerspruche ist nicht sie selbst die Auflösung; sondern hat eine höhere Sphäre zu ihrer negativen Einheit, . zu ihrem Grunde. Die endlichen Dinge in ihrer gleichgültigen Mannigfaltigkeit ;. sind daher überhl!,upt diß, widersprechend an sich selbst, in sich gebrochen zu seyn - j und in ihren Grund zurückzugehen«295. Hegels Argument beruht auf der Unterstellung, daß Widersprüche sich letztlich nur dadurch auflösen lassen, daß ihr hinfälliges, endliches Sein einen Halt findet, in dem es durch sich selbst dauerhaft °besteht und nicht mehr in eine andere Sphäre hinübergetrieben wird. Dieser Punkt kann erst dort erreicht sein, wo es sich mit sich selbst so zusammenschließt, daß kein Anderes mehr neben ihm besteht, d. h., wo sich das Absolute als Unendliches selbst affirmiert. Die Widersprüche im Endlichen sind nur die Hülle eines durch sie hindurchziehenden Seins des Absoluten, die es als gleichgültige Man-
r
, I
291 292 293 294 295
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
288. 287. 286. 287. 289.
Verhältnis zum Widerspruch im Endlichen
215
nigfaltigkeit hinter sich läßt, die Schädelstätte, aus der das Absolute seine Lebendigkeit dadurch bezieht, daß es sich dessen Sein angeeignet hatte. Hegel stellt die Bewegung des Widerspruchs in eine ontologische Hierarchie ein, in der schließlich die Sphäre der Endlichkeit überboü~n wird. Gemäß dieser Hierarchie wird ein Aufhebungsmechanismus konstruiert, der erst im Absoluten Halt findet. Von diesem Halt aus läßt sich rückläufig die Bewegung des Widerspruchs als die Entäußerung des Absoluten und die Rücknahme dieser Entäußerung interpretieren, als Reflexion des Absoluten in sich. Die Bewegung des Widerspruchs ist die Dialektik, die den Aufhebungsmechanismus durchgängig vorantreibt. Dabei hat Hegel den Begriff des Widerspruchs so konzipiert, daß '2. seine Lösung strukturell auf allen Ebenen gleich bleibt. Das Weitertreiben der ' Bewegung hängt davon ab, ob die Sphäre, in der er aufgelöst ist, an ihr selbst wiederum der Negativität des Endlichen erliegt. Mit Hilfe dieser Konstruktion soll gesichert sein, daß. das Endliche seine Vernichtung und Aufhebung in das Absolute nicht von außen, sondern durch sich selbst erleidet. Sie beruht indessen darauf, daß Hegel zwischen verschiedenen Formen der Lösung des Widerspruchs nicht klar unterscheidet und sie tendenziell verschleift. Das heißt: er abstrahiert von der Formbestimmtheit des Widerspruchs. Dabei sind bei Hegel selbst implizit (0 wenigstens vier Formen der Lösung von Widersprüchen zu unterscheiden. (1) Das Endliche ist lebendig, wenn und solange es die »Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten«296. Dadurch ist es selbst eine Auflösung des Widerspruchs, die gerade darin besteht, daß der Widerspruch als Widerspruch besteht. 297 (2) Von dieser Lösung des Widerspruchs, die in seiner Bewegung besteht, ist diejenige Lösung des Widerspruchs zu unterscheiden, in der sich die bestimmte Gegensatzbeziehung dadurch auflöst, daß das bestimmte Dasein, welches den Widerspruch aushielt, an ihm zerbricht. Diese Lösung bezeichnet im engeren Sinne das negative Resultat des Widerspruchs. (3) Schließlich wird dieses negative Resultat positiv gewendet: der Widerspruch geht zugrunde, indem die vergleichgültigten Seiten des Gegensatzes in eine Einheit aufgehoben werden. Diese Einheit ist selbst der Widerspruch, aber als Grund. Damit ist, innerhalb der Voraussetzungen der Hegeischen Argumentation, die erste Lösung wiederum erreicht, die dadurch charakterisiert ist, daß »ein Existierendes [ ... ] in seiner positiven Bestimmung zugleich über seine negative überzugreiffen und eine in der andem festzuhalten [ ... ] vennag«298. (4) Auf Dauer gestellt wird dieses Festhalten dort, wo der Widerspruch über das Endliche hinaustreibt; es kommt zu der eigentümlichen, von Hegel nicht zureicllendreflektierten Dialektik im Stillstand, 0 von der bereits die Rede war. 299 Sie beruht darauf, daß die Negativität im Sein des Absoluten zwar nicht verschwunden, aber gebannt und festgehalten ist.
296 297 298 299
Ebd., 287. Vgl. ebd., 289. Ebd., 287. Vgl. oben UI, A, 6.
216
IH. Hegels Logik der Reflexion
G
Die erstgenannte Lösung des Widerspruchs bezeichnet eine fragile, temporäre Form, worin er sich bewegt. Diese Lösung ist selbst der Widerspruch, genauer: derjenige Zustand in seiner Entwicklung, in dem die Negativität noch festgehalten werden kann. Diese Form ist endlich und hängt von der bestimmten Beziehung, der Formbestimmtheit der Sphäre ab, in welcher der Widerspruch besteht. So erliegt er schließlich der Negativität und löst sich nach den Regeln von (2) auf. Nun ist Hegel der Überzeugung, daß daraus unmittelbar zugleich ein positives Resultat zu gewinnen sei, in dem strukturell die Lösung des ersten Typs wiederhergestellt wird. Bereits diese. Überzeugung beruht auf der spekulativen Annahme, daß die ontologisch niedere Stufe teleologisch auf die höhere bezogen und in dieser vollständig aufgehoben sei. Unter dieser Voraussetzung erscheint die jeweils höhere Stufe als diejenige, worin die 'niederen Wahrheit und Realität haben, indem sie darin mit sich ~usammengehen. Dadurch glaubt Hegel berechtigt zu sein, die Selbigkeit des Widerspruchs als sich durch alle Sphären hindurchziehend festhalten zu können. Die Vergleichgültigung der Bestimmtheiten im Begriff des Widerspruchs selbst] so wird hier deutlich, führt dazu, daß seine Formbestimmtheit innerhalb der spezifischen Sphäre, worin er sich bewegt, aus o dem Blick verschwindet. Nur so kann behauptet werden, der Widerspruch gehe, indem er zugrundegeht, .zugleich in seinen Grund zurück. Dieser Einwand bezieht sich bereits auf Hegels Konstruktion des Widerspruchs im Endlichen. Schon dort wird ein teleologischer Aufhebungsmechanismus in Gang gebracht, der den existierenden Widersprüchen stufenweise ihr Sein entzieht, indem das negative Resultat, dem sie erliegen, teleologisch in die aus dem Widerspruch hervorgehende Affirmation einer höheren Sphäre umgemünzt wird. Dieser Mechanismus kulminiertin der These, das Endliche überhaupt sei nichtig, ein Nichtsein, aus dem sich das Sein des Absoluten herauspressen lasse. Wie jedem realen Widerspruch eine Bedeutung unterlegt wird, die er erst durch seine Aufhebung gewinnt, so wird dem als negative Totalität konstruierten Endlichen insgesamt eine Bedeutung unterlegt, die es durch das Sein des Absoluten ge,'~ winnt. Läßt sich dieses als Begriffnicht zwingend machen und festhalten, so steht {[,,,,',,,., I Ifreilich das WirkliChkeitSVer.ständnis der HegeIschen Philo.soph~~ und mit ihm die Hegeische Dialektik des Widerspruchs umfassend zur DIsposItIOn.
Schwierigkeiten mit dem Widerspruchsbegriff
217
l
einer Substantiierung des Widerspruchsprinzips in der sich selbst bewegenden Cl Materie nicht immer widerstehen konnte und so das Hegeische Absolute unter . anderem Namen wieder in Umlauf brachte. Solches Lehrbuchwissen wurde nicht erst seit Stalins Abriß über dialektische~ und historischen Materialismus von 1938 bestimmend für eine an Marx anschließende Theorieform,300 in der es, trotz aller Entstalinisierungen, bis in die jüngste Vergangenheit virulent blieb. 30 ! Stalin selbst konnte sich vielmehr in eine Tradition einstellen, die durch die Handwerkerphilosophen (von Weitling und Hess bis Dietzgen) und intellektuelle~ P.arteigänger der Sozialdemokratie vorgeprägt war, die Tradition eines ganzheItlIchen Denkens, das Spinoza und Hegel recht umstandslos in einer monistischen Prinzipienlehre zusammenschmolz. 302 Soweit dabei überhaupt auf den Begriff des Widerspruchs rekurriert wurde, kam zumeist eine (so von Hegel nicht- vorgenommene) Unterscheidung von »dialektischem« und »formallogischem« Widerspruch zum Zuge, die den ersteren nur als mit ontologischen Voraussetzungen aufgeladene Metapher, nicht aber als Begriff verstand. Dies galt auch dort, wo - unter Berufung auf Marx - der »dialektische Widerspruch« als Kern einer »materialistischen Dialektik« reklamiert wurde. 303 Dies führte dazu, daß - trotz alles Redens über dialektische Widersprüche - diese Rede begrifflich unausgewiesen blieb. Damit reagierte die parteiamtliche Philosophie eher hilflos auf die bereits im 19., Jahr?undert zu weitgehender Akzeptanz gelangte Kritik, Hegels Auffassung des WIderspruchs untergrabe das Fundament der formalen Logik. Diese Kritik wird zumeist auf Trendelenburg zurückgeführt, obwohl dieser selbst Hegel nur mangelnde Abgrenzung seines Widerspruchsbegriffs gegen den formallogischen vorgeworfen hatte. 304 Erst Eduard von Hartmann sollte - unter Berufung auf Trendelenburg die Behauptung in Umlauf bringen, durch den Hegelschen Begriff des Widerspruchs werde die Rede des Dialektikers absurd und kommunikationsunfähig; diese Behauptung wurde dam:i von Karl Popper in den Rang eines anzuerkennenden Vorurteils gehoben, dem gegenüber Differenzierungen sich kaum mehr Gehör verschaffen konnten. 30s Die Gegenkritik steht freilich dadurch unter Rechtfertigungsdruck, daß Hegel offenkundig doch das behauptet, was ihm seine Kritiker vorwerfen: daß echte kontradiktorische Urteile nicht schon deshalb falsch sein müssen, weil sie kon-
6. Schwierigkeiten im Umgang mit Hegels Widerspruchsbegriff Vgl. zu den sich daran anschließenden Konstruktionen Labica 1986. Vgl. Z. B. Bartsch u~ a. 1986, bes. 51-99. 302 .Ygl. Arndt 1982, 597-609. ., . 303 Auch die eingehende Studie von Conze (1932) versteht den »dIalekt:schen« W~der-: spruch als Aufhebung einer theoretischen Abstraktion - des »formallogischen« WIderspruchs - durch die Praxis; Narskij (1973) entschärft das Pr~blen:: d~durch, ?aß er den dialektischen Widerspruch forschungslogisch als Prob1em-Antmomle mterprehert. 304 Vgl. Trendelenburg 1870, Bd. 1, 44; dazu Schmidt 1977, ~08-121. . . 305 Vgl. Hartmann 1868; Popper 1965; zur Diskussion des Wlderspruchsbegnffs vgl. dIe Übersicht bei Sarlemijn 1971, 82ff. 300
Die hier vorgeschlagene Interpretation der HegeIschen Theorie des Widerspruchs im Rahmen der spekulativen Prämissen seines Systems erschwert den Umgang mit dem Widerspruchsbegriff gerade dort, wo er in dialektischen Theoriebildungen wenigstens als deskriptive Kategorie beansprucht wird. Seinen metaphysischen Voraussetzungen und Konsequenzen ist nicht dadurch zu entgehen, daß die spekulativen Spitzen einfach abgeschnitten werden, wie es besonders in der marxistisch-leninistischen Tradition gang und gäbe war, die dann ja auch
301
218
UI. Hegels Logik der Reflexion
tradiktorisch sind. Der Versuch, diese Konsequenz von Hegel fernzuhalten und die Vereinbarkeit von formallogischer und »dialektischer« Argumentation zu sichern, geriet daher auf den Ausweg, den Widerspruchsbegriff auf den formallogischen zu beschränken und für die damit abgespaltenen begrifflichen Bestimmungen und Konnotationen Hegels auf andere Kategorien (wie z. B. die der Realrepugnanz) zu rekurrieren. 306 Damit wird jedoch genau das behauptet, was auch die »formallogische« Kritik Hegel als Grundfehler ankreidet: er verwende den Ausdruck »Widerspruch« homonym. 307 Hierin also treffen sich Affirmation und Kritik Hegels, denn die »formallogische~< Kritik ist ja durchaus geneigt, Hegel die Ausnutzung (und insofern auch Beachtung) des formallogischen _Widerspruchsbegriffs zuzugestehen; für sie besteht der Skandal darin, daß Hegel für metaphysisch begründete Aussagen über die Realität durch einen homonymen Gebrauch des Terminus »Widerspruch« Verwirrung stifte und die argumentative Überprüfung seiner diesbezüglichen Aussagen unmöglich mache. Dagegen ist mit Recht geltend gemacht worden, daß Hegel weder die traditionelle Logik außer Kurs setzen noch durch eine höhere überbieten, sondern allererst den Gebrauch des Widerspruchsbegriffs rechtfertigen wollte. 308 Dabei hat besonders Michael Wolff umfassend zu zeigen versucht, daß Hegels Theorie des Widerspruchs ein Problem bearbeitet, welches aus dem Rahmen der formalen Logik fällt, gleichwohl aber mit ihr zu tun hat. 309 Anders als Kant versteht Hegel die Begriffe als objektive, den »Dingen« selbst zukommende Bestimmungen, d. h. der Begriff des Widerspruchs läßt sich für ihn durch ein äußerliches (formales) Verfahren im Sinne der äußeren Reflexion gar nicht rechtfertigen, sondern nur behaupten. Das bedeutet: die Unterscheidungen von »analytischen«, »realen« und »dialektischen« Oppositionen sind nur dann stringent durchzuhalten, wenn das Verfahren der äußeren Reflexion als fraglos gültig unterstellt wird. Nun konnten aber von Hegel schwerwiegende Mängel eines solchen Reflexionsverständnisses nachgewiesen und gezeigt werden, daß Kant (und Fichte) selbst auf ein vorgängiges, im Ansieh verbleibendes Reflexionsgeschehen verwiesen waren, um das Verfahren der äußeren Reflexion überhaupt explizieren zu können. Daraus zieht Hegel gegen Kant die entscheidende Konsequenz, daß sich der Widerspruchsbegriff innerhalb dieses Verfahrens selbst nicht -analytisch begründen läßt. »Widerspruch« läßt sich für jhn überhaupt nicht auf Analytizität zurückführen, sondern nur auf »objektive« reflexionslogische Beziehungen. Mit der Rede vom objektiven, den Dingen selbst zukomme~den Widerspruch macht sich Hegel demnach keiner Homonymie schuldig, sondern fixiert auf begrifflicher 306 In diesem Sinne hat zuletzt Vittorio Rösle (1987, Bd. 1, 156-179) zwischen ·argumentationslogischer und ontologischer Fassung des Widerspruchs zu differenzieren versucht. 307 Vgl. Wolff 1986a, 107-114. 308 Von unterschiedlichen Ansätzen aus Berti 1981; Wolff 1981.1986a; Tuschling 1988.1989; Iber 1990, 448ff. 309 Vgl. Wolff 1981.
Schwierigkeiten mit dem Widerspruchs begriff
219
Ebene paronyme (bedeutungsverwandte ) Ausdrucksweisen so, daß überhaupt gesagt werden kann, was das Wesen eines Widerspruchs sei, in dem der Begriff seine Rechtfertigung findet. Das freilich heißt auch, daß kontradiktorische Ur- 0 teile dann nicht falsch sind, wenn sie einen objektiven Widerspruch aussagen. Dabei wird der »klassische« Widerspruchsbegriff insoweit aufrechterhalten, daß damit in gewisser Weise tatsächlich »Nichts« gesagt wird, weil ein Widerspruch ausgesagt wird. Dieses »Nichts« besteht darin, »daß alle Einzeldinge, aufgrund ihrer Bestimmtheit gegeneinander, sich negativ zu sich selbst verhalten«310. Aus dieser Ansicht folgt, daß in der Sphäre dessen, was Hegel die subjektive, »äußere« Reflexion nennen würde, strenggenommen gar nicht ein Widerspruch ausgesagt werden kann, sondern nur Bestimmtheiten als gleichgültige Hinsichten , verglichen und durch Präzisierung stimmig gehalten werden können. Der Satz des Widerspruchs im Sinne des zu vermeidenden Widerspruchs gilt hier uneingeschränkt gerade deshalb, weil er erklärtermaßen »nicht ein Gesetz über die Realität« aussagt, sondern nur, daß sich bei seiner Nichtbeachtung ein Widerspruch ergäbe, der »unser Reden selbst aufheben würde«311. Hegel könnte dem uneingeschränkt zustimmen. Seine Kritik am Satz des Widerspruchs als Voraussetzung abstrakter Verstandesidentität besteht ja gerade darin, daß diese in der Gleichgültigkeit der Hinsichten nichts über die Realität selbst, sondern nur über die Weise der äußeren Reflexion aussagt, Bestimmungen zu gebrauchen. Das bedeutet selbstverständlich auch, daß auf dieser Ebene Widersprüche nicht vorkommen dürfen, wenn sich die Rede der äußeren Reflexion nicht selbst aufheben soll. Umgekehrt: wenn ein Widerspruch behauptet wird, kann sich dies nur auf die Ebene der »objektiven« Gegensatzbeziehung (im Hegeischen Sinne), also auf die $phäre der immanenten Reflexion beziehen. Dann hat sich, in der Tat, die äußere 0 Reflexion als Rede von oder über etwas selbst »aufgehoben«. Gleichwohl dürfen auf der Ebene der immanenten Reflexion nicht nach Belieben Widersprüche behauptet werden. Ein solches Verfahren würde - gegen Hegel - die äußere Reflexion entgrenzen und unmittelba~ substantiieren, d. h. »objektiv« oder »ontologisch« wenden. Dies wäre - mit anderen Vorzeichen - das () Verfahren der »vormaligen« Verstandesmetaphysik, in deren Kritik Hegel sich mit Kant an diesem Punkt einig weiß. Sein Einwand gegen Kant besteht ja auch gerade darin, ihm vorzuwerfen, daß er den Grundsatz der Widerspruchsfreiheit so verstehe, daß über die äußere, subjektive Reflexion gar nicht hitiauszukommen sei, womit eine unkritische, weitgehend unreflektierte ontologische Vorentscheidung dahingehend getroffen sei, daß der Widerspruch von den »Dingen selbst« in jedem Fall fernzuhalten sei. Insofern bleibt Kant für ihn in der Kritik der »vormaligen« Metaphysik auf halbem Wege stehen. Im Blick auf das Verhältnis zum »klassischen« Widerspruchsbegriff bedeutet Hegels Position: ob ein bloß 310 Wolff 1986a, 128; zu Regels Selbstmißverständnis dieser Struktur im »Zugrundegehen« des Widerspruchs vgl. auch Wolff 1986b. 311 Tugendhat und Wolf .1983, 63 f.
220
IIr. Hegel: Inversion der Dialektik
subjektiver Widerspruch vorliegt, der gar kein echter Widerspruch sein kann, oder aber ein »objektiver« Widerspruch, entscheidet sich nach den Regeln einer »LoCl gik« der objektiven Reflexion als Logik der »Sache selbst«. Deren Auffassung freilich hängt nicht nur davon ab, was unter »Wirklichkeit« zu verstehen ist, sondern auch und zunächst davon, ob man der Ansicht ist, überhaupt objektiv gültige Aussagen über das, was die »Dinge« an und für sich sind, treffen zu können. Damit ist noch nicht entschieden, daß man Hegels »Ontologisierung« des Widerspruchszu folgen habe und schon gar nicht, daß man ihm darin zustimmen müsse, der Widerspruch habe nicht nur ontologische, sondern auch metaphysische Bedeutung, indem er in Wahrheit das Nichtsein des Endlichen und darin das Sein des Absoluten anzeige. Solche Identifizierung des Hegeischen Widerspruchsbegriffs mit dem spekulativen Verfahren selbst fällt notwendig in einen Skeptizismus zurück, der um jeden Preis an der Verstandesidentität festhält. 312 Demgegenüber ist auch in einzelwissenscbaftlichen Kontexten die »Produktivität der Antinomie«313 geltend gemacht worden, ohne damit die spekulativen Konsequenzen Hegels zu affirmieren. 314 Das heißt: man könnte Hegel wenigstens experimentell darin folgen, daß die Behauptung eines objektiven Widerspruchs weder von vornherein sinnlos ist noch die klassische Logik auf dem ihr eigentümlichen Gebiet außer Kurs setzt. Die Erörterung dieser Möglichkeit setzt indessen eine Verständigung darüber voraus, an welchem Punkt und o mit welchen Mitteln Hegel seine s.e.ekulative Auffa~~~~g~er Wi!lMoment< macht«57. Aus der Vereinigung des Unvereinbaren geht jenes monologisch Sichauf-sich-Selbst-beziehende Substanz-Subjekt hervor, das die endlichen Subjekte zu seinen Momenten oder Prädikaten herabsetzt. Hegels Konzeption des Widerspruchs erscheint als Mittel zur Indifferenzierung der endlichen Bestimmungen, 0 um sie in das Absolute aufheben zu können. Der Widerspruch ist daher für Feuerbach »in die mit dem alten logischen Identitätsgesetz des gesunden Menschenverstandes übereinstimmende Einheit, nicht in die mystische, confuse Einheit der Gegensätze der modemen Absolutisten«58 aufzulösen. Mit der Spekulation fällt auch die Dialektik des Widerspruchs. An deren Stelle tritt, als der wahre Begriff der Dialektik, der Dialog im Verhältnis von Ich und Du: »Die wah~e Ö
53 54
49 50 51 52
Feuerbach: Werke 9, 230. Werke 9, 23lf.; vgl. Arndt 1994b. Zweifel; Werke 10, 156. Werke 9,247.
243
55
56 57
58
Werke 11, 15l. Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Werke 9,321, § 39. Ebd., 305, § 27. Zur Kritik der Hegelsehen Philosophie, ebd., 36f. FSW 10, 234. Ebd., 238.
IV. Bruch mit der Spekulation' Unmittelbarkeiten
Bestimmtes Sein bei Feuerbach
Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du«59. Um die Voraussetzungen dieser Alternative zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß Feuerbach das bestimmte Sein affirmiert, indem er von der Negativität und vom Widerspruch absieht. Das Nichts ist für ihn eben deshalb nichts, null und nichtig, weil es nichts ist; ein Gespenst, Selbsttäuschung, Selbst~ betrug, absolute Gedankenlosigkeit und Lüge in sich selbst. 6o »Das Denken kann nur Seiendes denken«61, also bestimmtes Sein. Bedeutung hat das Nichts nur als »Nichtsein«, als vorgestellter Gegensatz gegen das bestimmte Sein. 62 Die Möglichkeit, Nichtsein zu denken, beruht auf dem Verhältnis des »Einzelseins zum Allgemeinsein, des Individuums zur Gattung, und zwar nur des vorstellenden und reflektierenden Individuums«. Indem dieses »das Bewußtsein der Gattung in sich« hat, kann es »über sein wirkliches Sein hinausgehen, dasselbe als gleichgiltig setzen und sein Nichtsein [ ... ] antizipieren.« Was antizipiert wird, ist die »Indifferenz der Gattung oder des Bewußtseins der Gattung gegen das Einzelsein«, und in dieser Indifferenz habe die Einheit von Sein und Nichts »positive Bedeu! tung«63. Wirklich sei aber nur das Sein, während das Nichts nur in der Reflexion ~ existiere. Feuerbach schreibt das Nichtsein der äußeren Reflexion, einer logischen Komparation zU,und nur in diesem Rahmen wird bei ihm auch die Bedeutung der Negation erörtert. Die Genesis des Nichts bestehe darin, daß sich der Mensch willkürlich mit Anderem vergleicht. Darin wird die eigene Identität als Nichtidentität mit dem Anderen festgehalten. Weil jedes Urteil zugleich ein negatives und ein positives ist, erscheint jedes bestimmte Urteil auch als eine bestimmte Verneinung. In der Abstraktion von der Bestimmtheit gerinnt das Positive zum Sein, d~s Negative zum Nichtsein. 64 Für Feuerbach gilt die Negation als äußere Reflexion auf ein unbedingt zu affirmierendes, bestimmtes Sein. Die bisherige Philosophie »bringt es nie zu einer wahren Position des Endlichen und Bestimmten« , weil sie dieses zugunsten des Unendlichen negiert, welches dann seinerseits negiert wird, um das Endliche wiederum daraus hervorgehen zu lassen: »Aber das negative Unwesen des Absoluten bleibt zugrunde liegen; die gesetzte Endlichkeit wird daher immer wieder aufgehoben. Das Endliche ist die Negation des Unendlichen und wieder das Unendliche die Negation des Endlichen. Die Philosophie des Absoluten ist ein Widerspruch«65. Sie bewegt sich ständig im Widerspruch von Denken und Sein, indem sie ihren Anfang auf den »unvermittelten Bruch mit der
sinnlichen Anschauung«66, die Negation des wirklichen Seins gründet, um dieses dann aus dem Denken wieder hervorgehen zu lassen. Die Abstraktion soll innerhalb der Abstraktion selbst aufgehoben werden. Hegels Dialektik der Negativität gilt Feuerbach allein als der Ausdruck dieser Aporie; sie »negiert das Denken, [ ... ] aber selbst wieder im abstrakten Denken, so daß die Negation der Abstraktion selbst wieder eine Abstraktion ist«67. Darin widerspreche Hegel sich selbst: die »Bejahung des Wirklichen« erfolge »in der Verneinung desselben«68
244
.
Der dialektische Widerspruch ist für Feuerbach Ausdruck eines Argumenta-l tionsfehlers, der Verwechslung des gedachten und wirklichen Seins. Seine Zurückweisung macht auch einen konkj'eten Begriff undenkbar: »der Satz: >Der' Begriff ist konkretLogik< entdeckten Gesetzes, daß bloß quan~ titative Verändrungen auf einem gewissen Punkt in qualitative Unterschiede umschlagen«111. Und schließlich verteidigt Engels als den »Kern des Ganzen«1l2 das »Gesetz« der Negation der Negation im Ausgang von der Marxschen Behauptung über die postkapitalistische Wiederherstellung des individuellen Eigentums auf der Basis gesellschaftlicher Kooperation. 1l3
MEGA2, i, 27, 330. Vgl. das 2. Kapitel; MEGA2, 1, 27, 600~607. 116 Ebd., 601. 117 Ebd., 602. 118 Ebd., 603; zur Rekonstruktion des Gesamtkonzepts von »Dialektik« bei Engels vgl. Kuhlmann 1978. 119 Vgl. ebd., 604ff. 120 MEGA2, 1,27,68. 114
Dühring 21875, 480. 109 »XII. Dialektik. Quantität und Qualität«; »XIII. Dialektik. Negation der Negation«; vgl. MEGA2, 1,27,317-338. 110 MEGA2, 1,27,317-320. 111 Marx: Das Kapital 1, MEW 23,327. 112 MEGA2, 1,27,335. 113 Ebd., 326-331; vgl. MEW 23, 791. 108
255
115
IV. Bruch mit der Spekulation . ReaJdialektik
Engels
ken, dessen Inhalt »die Welt und die Denkgesetze«121 sind, begrifflich-kategorial von den identitätsphilosophischen Folgerungen, die Hegel aus eben dieser Annahme zog, abgrenzen könnte. Daß die Dialektik als ein allgemeines Resultat nicht schon immer gegebene Voraussetzung sei, würde ja auch Hegel nicht bestreiten. Wenn es aber zutrifft, daß die »Einheit der Welt und der Blödsinn des Jenseits« (gemeint ist wohl die Kritik des Jenseits als Resultat der Feuerbachschen Religionskritik) »Resultat der ganzen Weltuntersuchung«122 ist: wodurch unterscheidet sich solche Einheit der Welt von dem HegeischenAbsoluten, das ja auch kein: Jenseits im äußerlichen Verständnis ist, vielmehr Begriff für den inneren· Zusammenhang der erscheinenden Wirklichkeit und als solcher Resultat zu sein beansprucht? Auf diese Fragen gibt Engels keine Antwort, und es scheint, als seien sie gar nicht in seinen Problemhorizont eingetreten. Seine Darstellung der Dialektik beschränkt sich auf die thetische Nennung abstrakter Allgemeinheiten (»Gesetze«). Diese »Gesetze der Dialektik« seien die »allgemeinsten Gesetze« sowohl der Natur als auch der menschlichen Gesellschaft, »sowie des Denkens selbst«123. Dabei betont Engels selbst die Abstraktheit dieser Thesen: »Wir haben hier kein Handbuch der Dialektik zu verfassen, sondern nur nachzuweisen, daß die dialektischen Gesetze wirkliche Entwicklungsgesetze der Natur, also auch für die theoretische Naturforschung gültig sind. Wir können daher auf den innern Zusammenhang jener Gesetze unter sich nicht eingehn«124. Tatsächlich ist festzustellen, daß Engels auch andernorts nicht auf diesen Zusammenhang eingegan:gen ist. Die »Dialektik der Natur« ist denn auch in erster Linie als der Versuch zu verstehen, Philosophie und Naturwissenschaften unter Reflexion auf die seit Hegel veränderte Problemlage wieder zusammenzubringen. 125 Sie beschränkt sich allerdings weitgehend darauf, die »Gültigkeit« der dialektis·chen »Gesetze« anhand einer Interpretation der Resultate und Problemstellungen der N aturwissenschaften nachzuweisen. Das Fazit dieses Nachweises für die verheißene >>umfassendere Weltanschauung« zieht Engels freilich nicht, sofern er ausdrücklich nur bei den erwähnten Gesetzen der Dialektik stehen bleibt. Die Rekonstruktion der bestimmten Form der von Engels intendierten »Dialektik der Natur« ist daher - wie auch die Rekonstruktion der Dialektik in Marx' »Kritik der politischen Ökonomie« - Aufgabe ihrer Interpreten geblieben. Vieles spricht dafür, sie als »Spiel der Gegensätze«126 zu verstehen, wobei jedoch der Begriffdes Widerspruchs, der dem Denken eines solchen Spiels zugrundeliegt, unterbestimmt bleibt: der Verweis auf Hegel und den objektiven Charakter des Wider-
spruchs läßt im Dunkel, worin sich dieses Spiel von dem des Absoluten mit sich unterscheiden soll. Hierin, in einer begrifflichen Schärfung der Problematik und nicht in der Auffassung der »Natur« als eines Ensembles dialektisch proz~ssie render Totalitäten, besteht denn auch der entscheidende Unterschied zwischen Marx und Engels in dieser Frage. 127
256
o
121 Ebd. 122 Ebd. 123 MEGA2, 1, 26, 355 (Umschlag von Quantität in Qualität und umgekehrt, Durchdringung der Gegensätze, Negation der Negation). 124 Ebd., 356. 125 Vgl. Lefevre 1989. 126 Liedmann 1986.
257
Engels' »Dialektik der Natur« ist nun freilich ihrem eigenen Anspruch gemäß nicht als »Lehrbuch der Dialektik« zu behandeln, sondern als der Versuch, Problemstellungen zu erarbeiten. Die Art und Weise, wie dabei mit Hegel umgegangen wird, ist indessen selbst problematisch, sofern Engels der begrifflichen Zuspitzung des Problems - also der eigentlich philosophischen Aufgabe - ausweicht. Ursache dafür ist ein blinder Fleck bei Engels und Marx: die Unentschiedenheit, ob aus dem bereits in der »Deutschen Ideologie« proklamierten Bruch mit der selbständigen Philosophie 128 ein Bruch mit der Philosophie überhaupt folgt, der die Wissenschaften an ihre Stelle treten läßt. Diese Unentschiedenheit führte dazu, daß in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte auf der einen Seite ein philosophisches Defizit des Marxismus konstatiert werden konnte, welchem durch den philosophischen Zeitgeist abgeholfen werden sollte. 129 Auf der anderen Seite konnte die szientifische Aufladung der von Engels mitgeschleppten, unabgearbeiteten Hegelianismen - auch wenn dies nicht auf der Linie seiner Intentionen liegen mochte - zur Konstruktion einer Superwissenschaft benutzt werden, welche als Statthalterin des absoluten Wissens auftrat und letztlich quasireligiöse Formen annahm. 130 Die Ersetzung des Hegeischen Absoluten durch eine materialistische Substanz-Metaphysik ist indessen kein Spezifikum der »marxistisch":leninistischen« Philosophie, sondern bereits ein vorherrschendes Element in den Theorien der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Hierin! 0 vereinigten sich spinozistische Elemente mit evolutionär begründeten, linearenl Fortschrittstheorien. l3l .
127 Zu Marx naturwissenschaftlichen Studien vgl. Reiprich 1969; Jäckel und Mueller 1991. 128 »Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium«; MEW·3, 27. 129 Z. B. Neukantianismus - vgl. die Dokumentation in Marxismus und Ethik - und Empiriokritizismus (vgl. Amdt 1982, 152-252). 130 Vgl. dazu Amdt 1992b. 131 Vgl. Arndt 1982, 597-609.
258
IV Bruch mit der Spekulation . Realdialektik
3. Realdialektik als Philosophie des objektiven Geistes (Hartmann, Wein)
Die hier angedeuteten Konsequenzen können freilich nicht im nachhinein das von Engels aufgeworfene Problem erledigen, ob es so etwas wie eine (für uns) objektive Dialektik geben könne. Hierauf zielen auch außerhalb des Marxismus die Versuche etwa von Nicolai Hartmann und Hermann Wein, in Anknüpfung an Hegel eine »Realdialektik« zu begründen. Im Unterschied zu Engels ist deren Exerzierfeld freilich nicht die Natur, sondern die Geistesphilosophie. Das »Eindringen« in die »Gebiete des konkreten Geisteslebens« habe, so Nicolai Hartmann, »die Form der Dialektik; und hier ist die Form vom Inhalt - dem. aufgerührten Problemmaterial- nicht abzulösen. Es sind die Gebiete des Ethos, des Rechts, des Staates, der Kunst, der Geschichte«132. Daß die Dialektik hier objektive Gültigkeit beanspruchen und ontologisiert werden kann, folgt aus der geisteswissenschaftlichen Grundstellung, der Annahme einer prinzipiellen Identität von Subjekt und Objekt in diesem Bereich, in dem Vicos Axiom- verum et factum convertuntur - gelten soll. So ist die Dialektik »die Art des Schauens selbst, die intelligierende Bewegung des Eindringens; sie ist das sukzessive Sichtbarwerden neuer und neuer Seiten am Gegenstande und stellt so wirklich relativ auf das Schauen eine Art BeweguJ;lg des Gegenstandes dar«133; dabei aber ist das »Bewegungsgesetz im dialektischen Denken« nicht bloß subjektives Denkgesetz, sondern »eher noch ein Seinsgesetz«134. Auf Hegel bezogen heißt dies, daß auch jenseits der identitätsphilosophischen Prämissen »die Begriffsbewegung das Gegenbild einer Realbewegung, das dialektische Denken Widerspiel einer Realdialektik ist«135. Diese dialektische Begriffsbewegung freilich ist nicht so sehr das Ergebnis begrifflicher Anstrengung, sondern Äußerung eines nicht erlernbaren Anschauungsvermögens, einer seltenen »dialektischen Gabe«136. Diese Rücknahme der dialektischen Kompetenz in die Unmittelbarkeit eines Vermögens ist die Konsequenz dessen, daß die Be.. griffs form des Widerspruchs Indikator sowohl für einen logischen Fehler wie auch für einen »Widerstreit« oder eine »Realrepugnanz in der Sache«137 sein kann. Auf. diese Weise ist der Widerstreit selbst, obwohl er - als Verhältnis eines Positiven zu einem anderen Positiven - d~r für den Widerspruch charakteristischen Negativität entbehrt,138 im Verlauf des »Eindringens« zunächst nicht vom Widerspruch zu unterscheiden. Post festum freilich kann dieser Unterschied auch begrifflich vollzogen werden, worin sich die realdialektische Aufdeckung des Widerstreits als
N. Hartmann, Wein
Überwindung des Widerspruchs bewährt haben muß. Insofern ist die Herausar~ beitung der Widerspruchsstruktur durch Hegel geradezu das Maß des Verfehlens realer Dialektik. 139 Anknüpfend an Hartmann, aber auch an die allgemeine Prozeßtheorie Whiteheads, entwickelt Hermann Wein diesen Ansatz weiter in Richtung auf eine dialektische Anthropologie, wobei er grundsätzlich die »schwerwiegende metaphysische Vorentscheidung Hegels [ ... ]gegen den Wert des Individuellen und für den Vorrang des Allgemeinen«140 kritisiert. Im Begriff des objektiven Geistes werde die Spannung von Individualität und Allgemeinheit zum Austrag gebracht; er sei real als »Zeitgeist« bzw. »Volksgeist«,141 führe aber nicht auf Makrosubjekte wie »Weltgeist« bzw. »absoluter Geist«142. Das Realproblem der Dialektik sei das der synthetischen Einheit oder »Einheit-aus-Andern«143; so könne sie auch apostrophiert werden als »Wissenschaft von den verschiedenen Arten von Einheit· oder: Versuch der Darstellung jener in unserer Geistesgeschichte zu kurz gekom: menen Art von Einheit, welche wir mit synthetischer Einheit meinen«144. Der Ausschluß universeller Einheit im Sinne eines überindividuellen Subjekts läßt eine relationale Einheit als bipolare Struktur zurück, in der auch die Selbstbeziehung immer schon Beziehung auf Anderes ist. So ist die Geschichte Produkt des Menschen, der sich darin in der Beziehung auf Anderes als geschichtliches Produkt selbst produziert;145 die »Arbeit des Negativen« ist nichtspekulativ zu fassen als »Handlung dei Selbst-Verwirklichung des Menschlichen am Anderen«146. Dieses »Am-Anderen« freilich ist das kategorial problematische Stück der Hegeischen Dialektik, das sich nicht einfach durch eine Beschneidung ihrer Ansprüche auf den absoluten Geist herauspräparieren läßt. Hegels Metaphysik der Relationalität beruht ja gerade darauf, daß sie die Beziehung auf Anderes so in die Selbstbezüglichkeit des Absoluten aufheben will, daß von den Relaten nichts zurückbleibt und sie zu bloßen Momenten des Ganzen werden. Weins Einspruch gegen die metaphysische Vorentscheidung Hegels trifft somit den entscheidenden Punkt, aber er wird nicht begrifflich durchgeführt, wenn auf »Hegels Dialektik des >Ganzen< und seiner >Momente«in der Welt< verknüpfenden Verknüpfungsweise als die Sätze vom Widerspruch, von der Identität, vom ausgeschlossenen Dritten«148, d. h.: adäquater als die formale Lo-
139
Vgl. ebd., 346.
140
Wein 1957, 39.
141
132
Hartmann 1935, 325.
133
Ebd., 327. Ebd., 331. Ebd., 333 Ebd., 327.' Ebd., 337. Vgl. ebd., 345.
134 135 136
137 138
259
142 143
144 145 146 147 148
Vgl. ebd., 42-45. Ebd., 42. Ebd., 89. Ebd., 91. Vgl. ebd., 42. Ebd., 77. Ebd., 99; vgl. auch 84. Ebd., 99.
IV. Bruch mit der Spekulation '. Dialektik der Befreiung
260
gik. Dagegen käme es - im Sinne der von Wein selbst explizierten Struktur menschlicher Arbeit - gerade darauf an, den »Moment«-Charakter der Elemente eines Vermittlungszusammenhangs gegenüber Hegel neu zu bestimmen. Der Verzicht darauf macht auch die anthropologische Fundierung der Realdialektik begrifflich unscharf. Als »das paradigmatische Modell für Realdialektik« gilt einerseits die »Dialektik der Anerkennung«149, andererseits zeigt sich für Wein die Realdialektik »im weitesten und realsten [I] Sinne am Grundakt des menschlichen Arbeitens«150. Beide Modelle sind bei Hegel dadurch charakterisiert, daß in ihnen die Relate nur als aufgehobene, als Momente einer übergreifenden Einheit Bestand haben. In Bezug auf die Dialektik der Anerkennung ist dies das »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist«15I, in bezug auf die Arbeit die »Arbeit des Geistes«, welche erst den Begriff dei Arbeit erfüllt und die menschliche Arbeit zu ihrem Moment herabsetzt. 152
4. Dialektik der Befreiung: Philosophie der Tat (Hess, Lukacs)
Die Thematisierung der 'Dialektik als objektiver Prozeß, ihre Affirmation gerade für gesellschaftlich-geschichtliche Prozesse, bedeutete auch, daß sie theoretisch im Blick auf revolutionäre Konsequenzen zugespitzt und schließlich praktisch gewendet werden konnte. 153 Dieser Wendung lag die Vindizierung des HegeIschen Absoluten für die menschliche Wirldichkeit zugrunde, wobei es im Extremfall - wie in Stirners anschauendem Anarchismus des »Einzigen« - in die empirische Subjekfu;illit z~rückgenommen werden kOllnte. Die Orientierung auf Objektivität und Allgemeinheit einerseits (die ja, wie erinnert, auch im Innern des Stirnerschen Subjekts aufrechterhalten wird), und die Zueignung dieser Objektivität an das (individuell bzw. kollektiv verfaßte) revolutionäre Subjekt andererseits sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die darin angezeigte Amphibol~e des Subjektiven (Individuellen) und Objektiven beruht dara"!1f, daß die internen Vermittlungen der als Steinbruch in Anspruch genommenen HegeIschen Dialektik vielfach abgeschnitten werden, ohne sie durch andere, begrifflich ausgewiesene Vermittlungsstrukturen zu ersetzen. Dies zeigt sich schlagend darin, daß mit dem Verlust des Hegeischen Systemzusammenhangs zwei seiner wesentlichen Bausteine freigesetzt und - wie in der frühidealistisch-frühromanÖltischen Philosophie - wieder zusammengebracht werden: Spinozismus und (prak'tischer) Fichteanismus. Exemplarisch hierfür ist das Projekt einer VerWirklichung
Philosophie der Tat (Hess, Luklics)
der Philosophie, die damit den Auszug aus der bisherigen, kontemplativen Philosophie und den Übergang zu einer »Philosophie der Tat« meint. Exponent dieser Philosophie ist ~os~)J~~s, dessen Vorstellung einer nicht- 0 entfremdeten Einheit auf spinozistische Einflüsse zurückgeht, während die Form der Herstellung dieser Einheit einer (mit Anleihen bei Hegel historisch dialektisierten) Tathandlungüberantwortet wird. 154 Das Ende der deutschen Philosophie hatte Hess schon 1841 in seiner »Europäischen Triarchie« proklamiert: da das Prinzip der deutschen Philosophie bereits in das Leben übergetreten, mithin die Philosophie hinter dem Leben zurückgeblieben sei, habe sie ihre Sendung erfüllt. 155 Die neue Welt, die sich jenseits der Philosophie auftut, ist die der »absoluten Geistesthat«156; diese aber ist das Resultat einer Entwicklung, in der das Formular der vereinigungsphilosophischen »Romantik der Entfremdung«157 mit allen bereits wohlbekannten Bestimmungen noch einmal zum Zuge kommt. Die Unmittelbarkeit des antiken Ursprungs wird abgelöst durch die Welt der Vermittlungen, an deren Ende aber (bei Hegel) die Unmittelbarkeit auf vermittelte Weise wiederhergestellt werde, womit die Tat diese auch als unvermittelte I wieder realisieren kann. Die neue Philosophie ist »Philosophie der Tat«, so der Titel eines 1843 publizierten Aufsatzes. Deren Schlüsselbegriff ist die Aufhebung der Reflexion: »Ich stellt sich (oder setzt sich) sich selber vor, als ein Anderes, kommt aber durch die Aufhebung dieser Reflexion wieder zu sich, nachdem es gleichsam durch die Entdeckung seines eignen Lebens im Spiegel außer sich gekommen«158; das Leben selbst aber ist wesentlich »That« und zielt auf die freie Selbstbestimmung in einer von der Naturbestimmtheit ·befreiten Sozialität, als welche die sozialistische Gesellschaft der Zukunft erscheint: »der Geist und seine Welt, das soziale Leben, der Mensch und die Menschheit kommen endlich zu ihrem sichselbstgleichen Dasein, wo [ ... ] nichts als die Thätigkeit übrig bleibt "wo sich alle Naturbestimtheit in freie Selbstbestimmung u,mgestaltet«159. »Tat« 0 und »Tätigkeit« stehen hier für eine Praxis, welche die Reflexion als Entfremdung, Bestimmtsein durch Anderes, aufhebt, und durch diese Aufhebung un- (') mittelbare Identität des Selbst in seiner Entäußerung stiftet. Die Dialektik der Entfremdung und Aufhebung der Entfremdung, wie sie der »Philosophie der Tat« als geschichtsphilosophisches Konstrukt unterlegt ist, kehrt wieder in den Romantizismen des »westlichen Marxismus«, der wesentlich durch Georg Lukacs und vor allem durch dessen Werk »Geschichte und Klassenbewußtsein« (1923) geprägt wurde. 160 Seine oft als »hegelmarXistisch« apostrophierten Rositionen bereiteten die affirmative Rezeption der Marxschen »Pariser 154 155
150
Ebd., 114. Ebd., 126.
151
Phänomenologie des Geistes, GW 9, 108.
158
Vgl. Arndt 1988. Zur »Theorie-Praxis-Diskussion im Anschluß an Hege1« vgl. Theunissen 1970.
159
149
152 153
261
156 157
160
Vgl. im einzelnen die Einleitung von Wolfgang Mönke zu Hess 1980. Vgl. Hess: Schriften, 77. Ebd. Vgl. Furth 1991a, 44ff. Schriften, 210. Ebd., 218. Vgl. Anderson 1978.
262
IV. Bruch mit der Spekulation . Dialektik der Befreiung
Manuskripte« von 1844 vor, die zum Kern der Marxschen Philosophie stilisiert wurdenJ61 Tatsächlich aber ist dieser »Hegelmarxismus« an seinem Ursprung weniger von Marx geprägt als vielmehr von der revolutionären Tat der Oktoberrevolution und ihrer (gescheiterten) Nachfolgerinnen. Und er ist, was Lukacs betrifft, auch nicht die Selbstkritik eines HegelianersJ62 In seiner Schrift »Taktik und Ethik« (1919), die erstmals prägnant das dialektische Problem der Totalität in .~ den Vordergrund rückt, wird diese Kategorie....:. im Rekurs auf Fichte - mit dem °Begriff der »Entscheidung« in Verbindung gebracht.163 So synthetisiert die Genese des »Hegelmarxismus« im nachhinein noch einmal das Prinzip spinozistischer Philosophie mit dem autonomer Subjektivität, wobei auch Moses Hess Pate gestanden haben dürfte, dem Luk>unorganisierte oder weniger organisierte Elemente«185 sind. In nuce ist schon hier das Unorganische als das bloße Material, die tote Grundlage des Organische~ bestimmt. Die Negation der Negation als Überschreiten des Organischen zum Anorganischen hin läßt zwar den Organismus »sein Sein außerhalb seiner selbst im unbelebten
Sein«186 finden; diese Beziehung des Organismus auf Anderes läßt ihn jedoch im Anderen sein Sein so finden, daß es sich dadurch nicht nur auf sich selbst zuruckbezieht, sondern das Andere als sein Selbst findet, denn schon in der Assimilationsfähigkeit liegt, daß Organisches und Anorganisches »zwei Zustände derselben Materialität«187 sind. Diese These verweist auf das, was für Sartre die »entscheidende Entdeckung der dialektischen Erfahrung ist [ ... ], daß der Mensch genau in dem Maße durch die Dinge >vermittelt< ist, wie die Dinge durch den Menschen >vermittelt< sind«188; umgekehrt gilt: »die Dinge sind menschlich in gen au dem Maße, wie die Menschen Dinge sind«189. Nicht zufällig, so scheint es, steht die Vermittlung hier in Anführungszeichen, ist sie doch eine Dialektik des Scheins an dem, was unmittelbar schon immer als indifferent gesetzt ist. So ist denn auch die Praxis »nichts anderes als die Beziehung des Organismus als äußerer zukünftiger Zweck zum gegenwärtigen Organismus als bedrohte Totalität: sie ist die entäußerte Funktion«190. Noch grundsätzlicher wird dies im Blick auf die Auszeichnung der Dialektik als »materialistische« formuliert: »die Dialektik ist eben gerade gen au in dem Maße ein Monismus, wie die Widersprüche ihr als Momente erscheinen, die sich einem Augenblick für sich setzen, bevor sie sich auflösen«19l. Diese Identitätsprämisse behält zwar ein Ansich zurück, aber dieses ist gleichsam nur 0 der Fundus zur Transzendierung der schon erreichten Totalisierung, keineswegs aber ein Mangel an wahrhafter Identität, die für die menschliche Praxis unmittelbar in Anschlag gebracht wird. So ist die Frage eigentlich nicht die nach den Bedingungen der synthetischen Einheit, sondern vielmehr nach den Bedingungen für das Verfehlen der schon immer gegenwärtigen Identität in der entfremdeten und entfremdenden Praxis, sind doch »Verinnerung« des Äußeren und »Entäußerung« des Inneren gleich konstitutive Momente derjenigen Praxis, die Ursprung und Ziel in der Einheit des empirischen Organismus als »Selbst« hat: »die freie Subjektivität entdeckt zunächst in sich selbst ihre Objektivität als intelligible Notwendigkeit ihrer Perspektivierung in Totalisierungen, die sie totalisieren«192. So gilt: »Der Mensch als totalisierender Plan ist selbst die aktive Intelligibilität der Totalisierungen «193. Woher kommt dann aber die Möglichkeit der Entfremdung? Sie entsteht dort, wo das Prozeßatöm »Individuum« in die Sozialität eingestellt wird, was ebenfalls elementar an der Arbeit gezeigt werden soll, welche, -Sartre zufolge (und in Übereinstimmung mit Marx), schon immer gesellschaftliche Arbeit ist. Diese 186 187 188
181
Vgl. ebd., 46f.
189
182
Ebd., 47. Ebd., 84. Ebd. Ebd.
190
183 184 185
267
191 192 193
Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
85. 83. 19l. 87. 19l. 74. 99.
268
IV. Bruch mit der Spekulation· Dialektik der Befreiung
Gesellschaftlichkeit sei - auch in kooperativen Arbeitszusammenhängen - auf äußere Weise vermittelt durch die Materie, was, Hegel in seiner Dialektik der Anerkennung übersehen habe;194 die Intersubjektivität des wechselseitigen Anerkennens stiftet keine wahrhafte Identität: »In der gegenseitigen Anerkennung [ ... ] liegt die Grenze der Vereinigung: So weit die beiden Integrationen auch getrieben werden, so respektieren sie sich doch und werden immer zwei bleiben, von denen jede das ganze Universum einbezieht«195. Das Scheitern unmittelbarer Identität in der intersubjektiv konstituierten »Dyade« erfordert eine äußere, materiell vermittelte Einheit durch ein Drittes, wodurch im (keineswegs sicheren) Fall des Gelingens der Vermittlung individueller Praxen die Anerkennung eines gemeinsamen Fluchtpunktes in einem Dritten erzielt werden kann, die als Basis der (nichtentfremdeten) Fusionierung von Praxen in Grupp'enstrukturen dienen könnte. Die in der Gruppe vollziehbare »Überschreitung der Notwendigkeit auf eine gemeinsame Freiheit hin« hat ihren Ursprung indes selbst in der Gruppe als einer »passiven Alteritätseinheit«196, d. h.: in der Entfremdung. Die passive Totalität der Individuen ist Resultat des bereits im Bedürfnis elementar aufbrechenden Mangels, der das menschliche Universum unter das Prinzip der Knappheit stellt. 197 Die dadurch begründeten Verteilungskämpfe konstituieren antagonistische Beziehungen, in welchen das Selbst und der Andere als »Gegen-Finalität« erscheinen. Diese Welt der Entfremdung ist jedoch nicht total, auch wenn sie prinzipiell nicht aufgehoben werden kann, sondern als ein Reich der Notwendigkeit geradezu die Basis seiner Überschreitung bildet, womit Sartre sich offenbar an Marx' Unterscheidung des (bleibenden) Reichs der Notwendigkeit in der Produktion vom wahren Reich der Freiheit als Reich der Selbstzwecke anlehnt. 198 Dabei erscheint die fusionierende Gruppe als gelingende SubjektSubjekt-Identität auf der Grundlage der Gegendialektik einer prinzipiell antagonistischen Subjekt-Objekt-Struktur. In der Trennung beider Welten und der Unaufhebbarkeit der Entfremdung in der Welt der Notwendigkeit liegt ein entscheidender Unterschied zu Lukacs Konstruktion der Klasse als Subjekt-Objekt. Dennoch: im Ausgang von der Unmittelbarkeit des Selbst als dem Identitätskern, der sich im totalisierenden o ITranszendieren zur Intersubjektivitätder Gruppe erweitert, ist das Gegenüber des Anderen und der Materie prinzipiell als zu einer organischen Identität assimilierbar gedacht, so daß das Reich der Notwendigkeit - nicht anders als bei Lukacs die Natur - zurücktritt und zur toten Grundlage wird. Gegenüber dem Hegelmarxismus Lukacs' indessen erweist sich das Sartresche Konzept gleichsam
I
Dialektik der Aufklärung . Horkheimer und Adorno
als die Radikalisierung von Ivrotiven der romantischen Dialektik, sofern die individuellen Identitätskerne in der Konsequenz nicht mehr ausdrücklich an eine vorausgesetzte übergreifende Identität und Allgemeinheit gebunden werden. Die 0 Identität der materiell vermittelten Intersubjektivität, in welcher sich das empirische ego transzendiert, ist vielmehr prinzipiell fragil und nur im Vollzug des Totalisierens aufrecht zu erhalten. Sie ist daher - urid hierin scheint in der Gegendialektik das Motiv einer llygativen Dialektik auf - permanent in der Gefahr, die Solidarität an den Antagonismus, die Freiheit an die Notwendigkeit zu ver- ':::) lieren. Das gibt der Sartreschen Dialektik-Konzeption, jenseits der Romantik wechselseitiger Anerkennung zum »Wir« der Gruppe, Wahrheit als Realitäts- und Problemgehalt im Verzicht auf die Konstruktion stabiler, übergreifender Einheiten. Dies kommt vor allem dort zum Ausdruck, wo Geschichte als subjektloser Prozeß in den Blick genommen und das »Problem der Totalisierung ohne Totalisierer«199 gestellt wird, mit dem Sartre auch gegenüber der a-humanistischen Marx-Interpretation Althussers hätte bestehen können, wenn es zu einem echten Dialoggekommen wäre. 2oo Mit diesem hätte Sartre die ~ategorie der Geschichte 0 als Prozeß ohne Subjekt teilen können, gleichwohl hätte er Althusser das Pro- ' blem der Einbindung empirischer Subjekte in diesen Prozeß vorausgehabt, auch wenn er es aufgrund der Emphase der Unmittelbarkeit praereflexiver Subjektivität kaum zureichend lösen konnte.
6. Dialektik der Aufklärung und negative Dialektik (Horkheimer, Adorno) Die Gegendialektik als negative Dialektik, welche bei Sartre in der Anstrengung von Gruppenprozessen noch neutralisiert wird, die auf die Errichtung einer Gegen-Identität zielen, ist - so scheint es - in der »Kritischen Theorie« der »Frankfurter Schule« freigesetzt und schlägt dort gerade auf die Auffassung von Sozialprozessen durch. Die Grundfigur der »Dialektik der Aufklärung«, die nicht erst in den so betitelten Fragmenten sich andeutet, führt eine Logik des Zerfalls vor, in der die Vernunft sich selbst zerstört in dem Verfallensein an ihr Anderes, die Natur, welche die Aufklärung schon im Mythos von ihr abgespalten habe. Auch hier freilich wird der Verfall an einem Gegenbild gemessen, das als Glücksversprechen gelingender Identität auf unterschiedliche Weise bei den Protagoni- 0 stendieser Theorie, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, präsent ist. Herbert Marcuse, der von ersterem berechnend, von letzterem eifersüchtig auf Distanz gehaltene Dritte der Kritischen Theoretiker auf den Feldern der Philosophie, läßt, als Kontrast, das Besondere dieses Gegenbildes deutlicher hervor-
194
Vgl. ebd., 120.
195
197
Ebd. Ebd., 346. Vgl. ebd., 129ff.
199
Kritik der dialektischen Vernunft, 865.
198
Vgl. Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, 828.
200
Zu Althussers Positionen in dieser Sache vgl. Arndt 1981.
196
269
270
IV. Bruch mit der Spekulation . Dialektik der Aufklärung
treten. Marcuses »Dialektik der AufklärungNichtseinsollendenBegriff< bringt es fertig, sich ohne äussern Stoff zu objektiviren«314. In den Vorarbeiten zur Überarbeitung der ersten Auflage heißt es in diesem Sinne, das »Werthsein« der Ware könne nur in der Wertform dargestellt werden, »sofern es gegenständlich ausgedrückt wird, also nur im Waarenkörper selbst«; hieraus zieht Marx den Schluß: die »Form der Gegenständlichkeit ist eingeschlossen im Werthbegriff«315. Was dargestellt wird, ist der Wert; in ihm sind die verschiedenen Waren gleichgesetzt als Produkte menschlicher Arbeit überhaupt; die Waren sind in ihrer »Gegenständlichkeit auf dieselbe Einheit bezogen; sie sind auf abstrakt menschliche Arbeit reducirt [ ... ]. 'Sie sind also alle schon relativ ausgedrückt, nämlich relativ zu der menschlichen Arbeit, als der sie bildenden gesellschaftlichen Arbeit«316. Diese Arbeit freilich - obwohl Marx im Zusammenhang mit ihr auch den Ausdruck Wertsubstanz gebraucht - ist keine substantielle Einheit im Sinne eines selbstbezüglichen Substanz-Subjekts, sondern (1) »eine bestimmte gesellschaftliche Form der Arbeit«, nicht Form der Arbeit schlechthin, demnach selbst eine historisch, durch Anderes vermittelte Form; sieist ferner (2) Verhältnisbestimmung nicht als Verhältnis von Verhältnissen, sondern als auch intern durch andere Verhältnisse bestimmtes Verhältn~s: »Die abstrakt menschliche Arbeit ist Verausgabung menschlicher Arbeitskraft [ ... ] als Theil der gesellschaftlichen Arbeitskraft und das Maß ihrer Verausgabung wird daher nicht in der einzelnen Arbeitskraft gefunden, sondern in Verhältnissen, worin sie als Bestandtheil der Gesellschaftlichen Arbeitskraft wirkt«317. Die Arbeit selbst aber ist schon immer gegenständliches Verhältnis, d. h. von der Gegenständlichkeit der von Marx so genannten konkret-nützlichen Arbeit gar nicht zu trennen, so daß die Gegenständlichkeit tatsächlich, wie Marx behauptet, dem Wertbegriff eingeschrieben ist. Zu
im
Reflexion und Reflexionsbestimmungen
Recht hält Marx daher den von ihm aufgewiesenen Doppelcharakter der in den Waren enthaltenen Arbeit, konkret-nützliche und abstrakt-menschliche Arbeit zugleich zu sein, für den »Springpunkt [ ... ], um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht«318. In der Terminologie der Hegel-Kritik von 1843 ist hier der »Widerspruch der Erscheinung«, wie er für Marx in der Äquivalentform hervortritt, nicht auf die »Einheit im Wesen«, sondern auf einen »wesenF\ lichen Widerspruch« zurückgeführt. 319 Dieser »wesentliche« Widerspruch ist J dadurch charakterisiert, daß er seinerseits die Form der »Überdeterminierung« eines gegenständlichen (und in diesem Sinne »seinslogischen«) Verhältnisses durch ein anderes Verhältnis hat: der Arbeit als Stoffwechselprozeß mit der Natur durch die spezifisch gesellschaftliche Form dieser Arbeit, die Warenproduktion als gesellschaftliche Beziehung unabhängig voneinander betriebener Privatarbeiten. An dieser Beschreibung des Widerspruchs fällt auf, daß der von Marx durchgängig vorausgesetzte Unterschied »dinglicher« und »gesellschaftlicher« Verhältnisse320 nur in der Weise zutrifft, daß in den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht »Dinge«, sondern Personen, gesellschaftliche Individuen, aufeinander bezogen sind und als »Träger« der Verhältnisse fungieren. In diesem Sinne ist, wie in dem Marxschen Bild von dem Verhältnis König/Untertanen, das Verhältnis vom Verhalten endlicher Subjekte abhängig. Der Unterschied zu »rein physischen« Verhältnissen besteht also nicht darin, daß diese ersteren »dingliche« Relata voraussetzen und die gesellschaftlichen nicht; der Unterschied besteht vielmehr darin, daß die letzteren im Rahmen der Spezifik menschlich-gesellschaftlicher Evolution gegenüber der natürlichen Evolution abgehoben werden können. Die Bestimmtheit natürlicher Verhältnisse folgt für Marx aus den natürlichen Eigenschaften der darin aufeinander bezogenen Dinge, während die Bestimmtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht aus einer Naturausstattung der gesellschaft-{] lichen Individuen folgt, sondern aus ihrem spezifischen Verhalten zueinander und zur Natur. Dieses Verhalten ist gleichwohl selbst materiell-gegenständlich durch die ProduktIonsmittel vermittelt und steht insofern unter Naturbedingungen. Charakteristikum der Arbeit ist demgemäß auch nicht die Realisation eines subjektiven telos,321 sondern Formveränderung, die Umformung eines Gegebenen. 322 Hieraus folgt Marx' Kritik derjenigen Auffas~ung, wonach der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft als Quelle des Reichtums eigne;323 für ihn dagegen hat die Arbeit, gleich in welcher gesellschaftlichen Form, die Natur nicht bloß als äußere Voraussetzung, sondern als internes Moment und wird dadurch in ihren Mög- Cl lichkeiten determiniert. Dies ließe sich im übrigen für menschliche Handlungen Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, 56. Vgl. Zur Kritik des Hegeischen Staatsrechts, MEW 1, 295 f. 320 Vgl. Das Kapital, B,d. 1, MEW 23, 86. 321 Vgl. Ruben und Warnke 1979. 322 Vgl. MEW 23, 57f. 323 Ebd.; vgl. ebenso die Kritik des Gothaer Programms von 1875, MEW 19, 15.
318
319 314
315 316 317
Kapital!, 18. MEGA2, 2, 6, 32. Ebd., 30. Ebd., 31.
297
298
»Realer Widerspruch«
IV. Bruch mit der Spekulation . Marx
überhaupt auch dann geltend machen, wenn sie nicht als materieller Produktionsprozeß im ökonomischen Sinne von »Arbeit« zu verstehen sind. 324 In diesem Sinne bleibt, wie Marx: in den Manuskripten zum dritten Band des »Kapital« ausführt, das gesellschaftliche Verhalten auch dort an ein Reich der äußeren Notwendigkeit in der ökonomischen Sphäre gebunden, wo es sich selbst auf dieser o Basis als Reich der Freiheit, d. h. der Selbstzwecke verstehen Will. 325 Der Unterschied »natürlicher« bzw. »dinglicher« Verhältnisse einerseits und »gesellschaftlicher« Verhältnisse andererseits beruht also auf der menschlich-artspezifischen Differenz der Reproduktion des Lebensprozesses gegenüber anderen Arten: seiner Vermitteltheit durch Werkzeugherstellung, die ihrerseits als spezifische »Überdetermination« natürlicher Verhältnisse mittels Naturkräften zu verstehen ist. Es handelt sich demnach um keine prinzipielle Differenz, obwohl MaIX es offen läßt, ob solche Reflexionsformen ausschließlich für den menschlich-gesellschaftlichen Bereich Geltung haben oder auch (wofür vieles spricht) sonst vorkommen mögen. Ein Versuch, das hier Geschilderte im Blick auf einen Marxschen Reflexionsbegriff zu systematisieren, müßte diesen unter ganz anderen Prämissen entwikkeIn als bei Hegel. Im Gegensatz zur »Wissenschaft der Logikallzu viele Schriften< überwältigt,' die Abwesenheit des Buches also beklagen«73. Der Entzug der Einheit hinterläßt uns die »Welt« als die der Beliebigkeit, die insgeheim noch immer an ihrem Gegenteil gemessen wird. Damit daraus nicht Metaphysik entstehe, haben wir uns des Begriffs zu entschlagen. In dem Verzicht auf den Begriff aber blüht auch die romantische Blume der c, Hoffnung auf eine nichtentfr~mdete Welt wieder auf, mag diese auch nie zu \-' erreichen se,in. »Philosophie«, so heißt es bei Novalis, »ist eigentlich Heimweh, Trieb überall zu Hause zu seyn«74. Dies ist der Stoff, aus dem »Heideggers Hoffnung« stammt, die am Ende gleich viel gilt wie die Differenz. Derrida verweigert sich dem Begriff, um dem Sog der »metaphysischen begrifflichen Oppositionen« zu entgehen:1?i~lu~!!.~~.!.SI.~.~_~,~gr.jjl~i.rQc~.!!r!.~§!lQ~~p. ~~,~~~?~~_~.!.~~~~~::~~~~ ~~~!~~~~~t,!!~~~~gK,e,l!tQ~E.,§Q1t["st~,I".-M~.ta,p.hY,~i!s,:."~i§,JQ~gt,i.pr bis do!thiJ1 , 'W().I::l:eg~.1.dieEntgegensetz~ngen im Endlichenunte,r Absehung von
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'Verstandes15e'stiiiimungen"stellt:' 'Nichts ande~~~ 'bildet' de~iiint~~gm~d' de~'~~~, -·wä~;1Jefrl(Ura:ls"Spierd·ei dijJJraiz'ce vorführt. 75 Sie ist, im strikten Sinne, negative Unmittelbarkeit als Totalität dessen, was der Fall ist. Negativ, sofern diese Totalität nicht einen Ursprung, ein Subjekt bezeichnet. An genau dieser Stelle nun verschließt sich das Denken der Differenz dem Begriff, liegt hier doch die Umkehrung der- prinzipiell amphibolischen - Unmittelbarkeit auf der Hand, welche die negative Totalität affirmativ in die Selbstreflexion des Absoluten überführen würde. Der Ausschluß der absoluten Reflexion durch die gehemmte Reflexion, die es sich verbietet, diese Umkehrung zu vollziehen, läßt freilich deren Voraussetzungen unberührt. So kommt sie nicht zum Begriff des Absoluten, wohl abermit der romantischen Dialektik - zum Entzug des Absoluten, das als verborgener Gott gleichwohl negativ präsent bleibt. Seine unmögliche Möglichkeit muß dazu herhalten, die negative Unmittelbarkeit der differance zu entsubstantialisieren. Damit aber verfehlt das Unternehmen der Dekonstruktion seinen möglichen begrifflichen Halt. Um diesen zu gewinnen, käme es darauf an, Derridas ursprüngliche Intention aufzunehmen und eine irreduzible Komplexität zu begreifen. Ein solches Begreifen freilich hätte den Begriff nicht zu fliehen, sondern sich ihm zuzuwenden in einer Kehre, die die Metaphysik auf ihre Begriffe festlegt, um ihren Konsequenzen durch begriffliche Alternativen zu entgehen. Im Zentrum einer solchen Bemühung stünden, in der Tat, die dialektischen Oppositionen, die Derrida 1976a, 2l. Schriften 3, 434. 75 Vgl. auch Derrida: Grammatologie, 45: bei Hegel finde »sich versammelt, was das Sein als Präsenz begrenzt«. 73
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V. Dialektik und Vernunftkritik . Philosophie des 20. Jahrhunderts
Lyotard
als Widersprüche im Endlichen in antimetaphysischer Absicht zu reforrnulieren wären. Dies aber müßte, gegen Hegel wie Derrida, heißen: das Denken bestimmter Verhältnisse aus jeder Beliebigkeit zu befreien.
Problems, weil er über das Spiel hinausgeht. Dem entspricht im »Widerstreit« die starke Behauptung, Widerstreit als Unmöglichkeit der Vermeidung von Konflikten sei gleichbedeutend mit der »Unmöglichkeit von Indifferenz«83. Diese Zuspitzung, mit der Lyotard gegenüber der Differenzphilosophie Derridas einen begrifflichen Markstein setzt, radikalisiert das Verständnis von Differenz erheblich. Worauf es dann ankäme, wäre der bestimmte Zusammenhang solcher, die als nicht-gleichgültige, aufeinander Bezogene, Identität und Differenz zugleich realisieren und darin die Indifferenz vermeiden. Lyotard freilich geht einen anderen Weg, der, so scheint mir, wiederum in die Aporien der Indifferenz hineinführt. Das Paradox seines durchaus auf begrifflich strenge Reflexion hin angelegten Versuchs besteht darin, letztlich den Widerstreit selbst als Unmittelbarkeit zu setzen, als Moment, der in .der sprachlich vermittelten Reflexion so auseinandertritt, daß er darin nur als Widerstreit ausgedrückt werden kann, dieser Ausdruck (die ihm entsprechenden Idiome) aber nicht an den Widerstreit so heranreicht, daß er es mit ihm selbst zu tun bekäme, was Voraussetzung einer Indifferenzierung wäre: »Der Widerstreit ist der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muß, noch darauf wartet. Dieser Zustand enthält das Schweigen als einen negativen Satz, aber er appelliert auch an prinzipiell mögliche Sätze. Was diesen Zustand anzeigt, nennt man normalerweise Gefühl. [ ... ] Es bedarf einer angestrengten Suche, um die neuen Formations- und Verkettungsregeln für die Sätze aufzuspüren, die dem Widerstreit, der sich im Gefühl zu erkennen gibt, Ausdruck verleihen können, wenn man vermeiden will, daß dieser Widerstreit sogleich von einem Rechtsstreit erstickt wird und der Alarmruf'des Gefühls nutzlos war«84. Der Widerstreit als ein Zustand, den das Gefühl »anzeigt«, der sich darin »zu erkennen gibt« und dem - jenseits des Gefühls - im sprachlichen Diskurs ein »Ausdruck« verschafft werden soll - was anderes ist dies, als das traditionelle Formular der Trennung von Unmittelbarkeit (»Gefühl«) und Reflexion (»Diskurs«)? Das Gefühl fungiert dabei als das Organ »von etwas«, d. h.: die Gefühlsunmittelbarkeit ist dasjenige, worin sich etwas zu erkennen gibt, was das Gefühl transzendiert, aber nicht in Richtung der reflexiven Struktur der Diskurse, sondern in Richtung einer prae- bzw. transdiskursiven Differenz, die in den Diskursen reflektiert wird. Sie reflektiert sich in ihnen derart, daß sie den Widerstreit universalisiert:. er kann »erstickt«, aber nicht abgeschafft werden. Die unmittelbare Voraussetzung des Satzes ist demnach zugleich die Voraussetzung des Widerstreits, aber dieser Widerstreit muß in der Verkettung der Sätze heterogener Regelsysteme erst zur Sprache gebracht, d. h. eigens reflektiert werden, damit er nicht von totalisierenden, Gewalt habenden Diskursarten unterdrückt wird. Die Diskurse selbst - obwohl in ihnen der Widerstreit unmittelbar in der Weise »präsent« ist, daß er sich nicht beseitigen läßt - sind daher nicht »Organ«
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6. Widerstreit und Indifferenz (Lyotard) Das Problem solcher Beliebigkeit mit aller Schärfe gesehen und sich ihm gestellt zu haben ist das Verdienst von Lyotards Buch »Der Widerstreit« (Le Differend) . Inmitten der >>>Sprachwende< der abendländischen Philosophie« rekurriert es auf den »Kant der >dritten< Kritik und der historisch-politischen Texte (>vierte< Kritik)« sowie den »Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen und der Nachlaßschriften«76. Der Fall, der zur Verhandlung ansteht, ist der Widerstreit als »Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt«77; Gegenstand der Verhandlungen sind Sätze, sofern der Satz unzweifelhaft ist, »weil er unmittelbar vorausgesetzt wird«78. Das Problem besteht darin, daß Sätze, die nach heterogenen Regelsystemen gebildet werden, nicht ineinander übersetzt, wohl aber durch unterschiedliche Diskursarten miteinander verkettet werden können, wobei sich diese Diskutsarten untereinander nicht gleichnamig machen lassen. Die »>Sprache< [langage] im allgemeinen« ist daher ebenso Fiktion wie der Diskurs im allgemeinen, der »universale schlichtende Autorität«79 besäße. Hieraus folgt sowohl die Unvermeidlichkeitvon Konflikten als auch die Unmöglichkeit, sie dadurch zu schlichten, daß einer Seite »Recht« gegeben wird. »Recht« ist vielmehr selbst nur eine bestimmte Diskursart. Mit anderen Worten: für Lyotard wird gerade das anything goes, die Beliebigkeit, zum Problem, weil diese Konflikte aller Art (und die Eskalation von Konflikten) einschließt, so daß jede Verbindlichkeit eingebüßt wird. Dieser Verlust an Verbindlichkeit hinterläßt ein moralisches Vakuum, das verlangt, wir müssen »wenigstens eine Möglichkeit aufsuchen, die Integrität des Denkens zu retten«80. Es geht also darum, eine Verpflichtung zu begründen, die der Heterogenität der Diskurse standhält. In »La condition postmoderne«81 hatte Lyotard dieses Problem noch nach dem Motto »Leben und leben lassen« zu lösen versucht: »laßt spielen und laßt uns in Ruhe spielen«82, so hieß es dort in bezug auf Sprachspiele. Demgegenüber bedeutet der Gedanke der Verpflichtung eine Verschärfung des 76
77 78 79 80
81
82
Der Widerstreit, 12. Ebd., 9. Ebd.; auch Schweigen ist »Setzen«; vgl. ebd., 10. Ebd., 10f. Ebd., 11. 1979; deutsch: Das postmoderne Wissen (1986). Ebd., 131.
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Der Widerstreit, 11. Vgl. ebd., 33.
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des Widerstreits, sondern bedürfen einer unmittelbaren Vergewisserung der Differenz im Gefühl, um ihm in der ihnen eigenen, reflexiven Weise Ausdruck verschaffen zu können. Die strategische Funktion der Unmittelbarkeit des ·Widerstreits besteht also darin, ihn gegenüber allen totalisierenden Diskursen behaupten und gegen sie auch dann ausspielen zu können, wenn sie dem Widerstreit widerstreiten. Sie sichert die objektive Gültigkeit des Widerstreits gegenüber jedem Subjektivismus. Tatsächlich ist damit ein Formular auch für das gegeben, was Lyotard als Verpflichtung der Beliebigkeit entgegensetzen will. Er rekurriert hierbei sowohl . auf die dritte Kritik Kants, die Kritik der Urteilskraft, als auch auf die von ihm behauptete »vierte« Kritik in den politisch-historischen Schriften. 85 Ausgangspunkt ist der Befund, daß die Verpflichtung nicht ableitbar sei: »Man kann strictu sensu nicht behaupten, die Freiheit ermögliche die Erfahrung von Moralität, die Verpflichtung. Diese ist kein Faktum, das man belegen könnte, sondern nur ein· Gefühl, ein Faktum der Vernunft, ein Zeichen«86. Das »Gefühl« ist hier von Lyotard gegen Kant in seine Rechte eingesetzt, wobei er sich darauf beruft, daß in der »Kritik der Urteilskraft« Übergänge zwischen Diskursarten durch Symbole angegeben werden; so werden dialektische Sätze, die eine objektive Teleologie behaupten, als »Als-ob«-Sätze, d. h. in Beziehung auf Symbole affirmiert;87 ebenso verfahre Kant bei der Symbolisierung des »Sittlichguten« durch das Schöne. 88 Entsprechend gebe es im politisch-geschichtlichen Bereich (dem der »vierten« Kritik) Geschichtszeichen, Gefühle, die verpflichtenden Charakter haben. Hierbei bezieht sich Lyotard ·auf den Paragraphen 5 des »Streits der Fakultäten«, wo Kant von dem Enthusiasmus spricht, den die Französische Revolution bei den Betrachtern ausgelöst und der diese vereint habe. »Enthusiasmus« als Modalität des »erhabenen Gefühls« freilich ist eine prekäre Instanz; er bewegt sich, wie Lyotard einräumt, »am Rande der Demenz, ist ein pathologischer Anfall und besitzt als solcher in sich keine ethische Gültigkeit [ ... ]. Dennoch bewahrt das enthusia,stische Pathos in seiner vorübergehenden Fesselung ethische Gültigkeit, es ist ein energetisches Zeichen, ein Tensor des >Wunsches«