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German Pages 264 Year 1988
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 45
IRMGARD ROEBLING
Wilhelm Raabes doppelte Buchführung Paradigma einer Spaltung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988
ClP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Roebling, Irmgard: Wilhelm Raabes doppelte Buchführung : Paradigma e. Spaltung / Irmgard Roebling. - Tübingen : Niemeyer, 1988 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 45) NE: GT
ISBN 3-484-32045-1
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Williams Graphics, Abergele, Clwyd, Großbritannien Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
Einleitung: Der Weg nach innen. Psychologisierungstendenzen im literarischen Diskurs des 19. Jahrhunderts als Ausdruck bürgerlichen Krisenbewußtseins 1. Reflexivität und Spaltung in Raabes Erzählwerk a. Psychologische Implikationen der Gattung Roman im Spannungsfeld zwischen Totalitätsverlust und Sinnkonstitution, Fremdbestimmung und Ichverwirklichung b. Reflexivität als Medium subjektiv-kritischer Realitätsdarstellung c. Spaltung und Melancholie. Raabes Erzählung »Zum wilden Mann« d. Spaltungsstrukturen in Raabes späten Biographenromanen 2. Wilhelm Raabes Spaltungsroman »Die Akten des Vogelsangs« a. Die »Akten« als thanatographischer Doppeldiskurs b. Figurenkonstellation als Doppelreihenbildung oppositioneller Paradigmen Exkurs: Weiblichkeit als Prototyp soziokultureller Alternativen c. Symbolische Vermittlung des Spaltungsdiskurses in signifikanter Praxis d. Thematische Vermittlung der Diskurse im Motiv von Kindheit Exkurs: Das Kind als Herold kulturepochaler Erneuerung
3. Der psychologische Diskurs als Vermittlung gleichzeitigen und >ungleichzeitiger Widersprüche« (Bloch) in der Kaiserreichsepoche a. Blochs Kategorien im Kontext der Raabe-Interpretation b. >Kulturrevolutionärer< Impetus der Chiffre >Jugend< für die Zeit der Jahrhundertwende c. Seele als focus spätbürgerlicher Selbst- und Welterfahrung
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Anhang: Beiträge der neueren Raabe-Forschung zur Analyse sozio-psychologischer Bedeutungselemente in Wilhelm Raabes Dichtung. Eine kritische Revision
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Literaturverzeichnis
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EINLEITUNG:
Der Weg nach innen. Psychologisierungstendenzen im literarischen Diskurs des 19. Jahrhunderts als Ausdruck bürgerlichen Krisenbewußtseins Liebster Freund, haben Sie auch einmal nackt vor dem furchtbaren Geheimnis des Selbstbewußtseins gestanden? Wilhelm Raabe »Altershausen«
Wilhelm Raabe gehört der Generation von Schriftstellern an, auf deren Werke Sigmund Freud als jüngerer Zeitgenosse gern zurückgriff, weil er in ihnen poetische Figurationen dessen fand, was er selbst in seinen Theorieansätzen zu entwickeln suchte. Freuds Interpretation von Wilhelm Jensens »Gradiva« hat diese berühmt gemacht; der Autor Jensen, ein Freund Raabes und Storms, wäre sonst heute wohl gänzlich vergessen. Stärker noch als die Werke seiner Dichterkollegen ist indes Raabes Werk, das vom Autor abgeschlossen wurde, als Freud mit seinen »Traumdeutungen« Berühmtheit erlangt hatte, Zeugnis eines sich ausdifferenzierenden psychologischen Diskurses in der bürgerlichen Literatur des 19. Jahrhunderts. Dieser am Ende des 18. Jahrhunderts entstehende Diskurs ist Reaktion und Antwort auf verschiedene Formen krisenhafter Verunsicherung der bürgerlichen Individualität. Was aber macht das »furchtbare Erlebnis des 19. Jahrhunderts« (Hofmannsthal) aus, und wie schreiben sich seine besonderen Strukturverhältnisse in das Bewußtsein derer ein, die meist bildungsbürgerlicher Tradition entstammend - versuchten, traditionelle Muster ästhetischen Reflektierens und narrativen Dichtens ihrem Bewußtseins- und auch Unbewußtseinszustand anzupassen? Wie kaum ein anderes Zeitalter ist das 19. Jahrhundert ein Musterbeispiel für die »Dialektik der Aufklärung«. Mit der Einführung kapitalistischer Industrieproduktion widerlegte es durch unvorhersagbare ökonomische Aufschwünge die Prognose Malthussens, daß das am Ende des 18. Jahrhunderts zum Beispiel in England stattfindende expotentiale Bevölkerungswachstum angesichts des beschränkten Agrarraums zur Katastrophe führen müsse. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts traten - erstmalig in der Geschichte der Menschheit - Krisen durch Überproduktion statt durch Gütermangel ein. Die explosionsartige Ausweitung technischer Fertigkeiten, grundlegende naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Fortschritte in der Medizin, dies alles verdankt die Zivilisation menschlichen Bemühungen des 19. Jahrhunderts ebenso wie die Auflösung und Zerstörung illusionärer Weltbilder. 1
Aber um welchen Preis? - Stichworte wie Teilung der Arbeit, Mechanisierung, Abstrahierung, Isolierung, Verdinglichung, Verelendung, Entfremdung, Bürokratisierung, - schließlich im philosophischen Bereich: Veralltäglichung, Profanisierung, Zufallsgenese, Kontingenz, Nihilismus: diese keineswegs vollständige Liste zentraler, die Erfahrung des Jahrhunderts kennzeichnenden Begriffe soll nur schlagartig vor Augen führen, daß die Errungenschaften mit einem Tanz über dem Abgrund erkauft wurden, daß sie krisenhafte Umbrüche in beinahe allen Lebensbereichen hervorgerufen haben. Das Zusammenwirken politischer, sozioökonomischer, wissenschaftlicher, moralischer Krisenelemente ist mit Kategorien des postidealistischen bildungsbürgerlichen Bewußtseins kaum mehr greifbar, so daß die vom Realen abgespaltene Rationalität und Vernunft funktionslos wird und durch Hinwendung zum Psychisch-Affektiven, gar Hysterischen kompensiert werden muß. Funktionslos gewordene diskursive Vernunft schlägt in Intuitionismus und Sehnsucht nach Unmittelbarem um. Nicht das Wissen ums Reale, sondern dessen Verdrängung wird zum Stimulans bürgerlicher Kunst. Wenn Autoren wie Koselleck, Kesting, Habermas u.a. die Genese bürgerlicher Selbstreflexion im Medium der sich aus der Krise und Umbruchssituation des 18. Jahrhunderts bildenden Geschichtsphilosophie interpretieren, so darf nicht übersehen werden, daß der (ebenfalls aus dieser Krise entstehende) Diskurs der Psychologie genauso maßgeblich das (bewußtseinsmäßige) »Werden zum Bürger« mitbestimmt hat. Parallel zur öffentlichen Reflexion und Rationalisierung des »politischen Elements« (Habermas) als Basis für Geschichtsphilosophie existierte der Versuch zu öffentlicher Reflexion und Rationalisierung »empirischer Individualität« (Jaeger/Staeuble) zwecks Aufarbeitung von Individualgeschichte. So wie nach Auflösung des ancien regime das Problem vernünftiger sozialer Ordnung virulent wird, so entsteht, mit der Auflösung der ständischen Gesellschaft, mit dem Heraustreten des einzelnen aus dem sein Leben und Bewußtsein von Geburt an prädestinierenden Sozialzusammenhang die dem psychologischen Diskurs vorlaufende Kategorie der Persönlichkeit, und es entsteht der ebenso schwierige wie notwendige Prozeß zur »Realisierung von Individualitätsformen«. »In spezifischer Form treten sowohl im Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise wie in Zeiten der Krise Realisierungsprobleme in großem Maßstab auf. Da die gesellschaftlichen Individualitätsformen von empirischen Subjekten realisiert werden müssen und die gesellschaftlichen Verhältnisse sich darstellen als sachliche Verhältnisse, erscheinen Realisierungsprobleme als Probleme der empirischen Subjekte 2
als Insuffizienzen und Widerstände.« (Jaeger/Staeuble 1978: 35) Mit der Auflösung gesellschaftlicher Zwänge fallen also auch deren Sicherungen fort, und die freigesetzten Subjekte müssen Sorge tragen für ihre IchBehauptung, müssen sich neu erkunden und neu definieren. Im Strudel konkurrierender heterogener Konzeptionen gerät auch das Subjekt in die Krise. Immer präziser erkennt der Mensch im 19. Jahrhundert, daß sein Bewußtsein nicht das Sein, sondern dieses sein Bewußtsein setzt: Er erkennt das multiple Feld biologischer, soziohistorischer und historiopsychischer Determination. Der Begriff des Subjekts als »Organon der Freiheit« (Jacobi) hebt sich auf, wird angesichts der hinter seinem Rücken real wirkenden Mächte als Fiktion destruiert. Diese sich bis in unsere Zeit radikalisierende Entwicklung wird von Foucault als spezifische conditio der Moderne beschrieben: »In dem Augenblick, in dem man sich darüber klar geworden ist, daß alle menschliche Erkenntnis, alle menschliche Existenz [...] und vielleicht das ganze biologische Erbe des Menschen, in Strukturen eingebettet ist, [...] hört der Mensch sozusagen auf, das Subjekt seiner selbst zu sein, zugleich Subjekt und Objekt zu sein.« (Foucault 1974:16). Anschließen kann Foucault mit dieser Erkenntnis an das um die Jahrhundertwende sich ausbildende Bewußtsein von Krise im Einheitsverständnis von Subjekt- und Ich-Konzepten, an Nietzsches lapidaren Worte: »Subjekt: das ist die Terminologie unseres Glaubens an eine Einheit unter allen den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls [...] >Subjekt< ist eine Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung eines Substrats wären« (Nietzsche: Der Wille zur Macht: 339) oder an H. Bahrs Verkündigung einer neuen Psychologie mit der »unwiderlegliche(n) Wahrheit: das Ich ist immer schon Konstruktion, willkürliche Anordnung, Umdeutung und Zurichtung der Wahrheit, die jeden Augenblick anders gerät [...] und man genau ebenso viel Berechtigung, sich lieber gleich hundert Ich zu substituieren [...] wodurch die Dekadenz zu ihrer Ichlosigkeit gedrängt wird.« (Bahr 1891: 84). Anschließen kann er v.a. an die durch Literatur und Psychologie immer neu reflektierte Erfahrung von Ich-Verlust, und Spaltung, und an Freuds zentrale Erkenntnis, daß das Ich nicht »Herr im Hause« ist. Die Auszehrung des idealistischen Subjektbegriffs zu einer Art PostSubjekt, einem »epi-keimenon« wird nun aber keineswegs bloß im Modus der Trauer erlebt; vielmehr schießen dadurch neue Erfahrungsmöglichkeiten auf, derart, daß das Post-Subjekt nun zur Antenne für Sensitives, für die Erfahrung des Subterranen, des Instinkt- und Triebhaften und vor allem des Unbewußten wird. Dies alles kann als lustverheißende, aber auch 3
gefahrenvolle Heimkehr des Menschen aus jahrtausendelanger Triebverbannung erscheinen, als Heimkehr aus erst metaphysischer, dann »industrieller« Entfremdung zum Sirenenklang von chthonischen EsMächten. Soll aber die zum Rohstoff verdinglichte Natur wieder zur »Mater« werden, dann muß ihre bloße »Materie« rückbeseelt werden, und dies schien unter den Voraussetzungen der Zeit nur durch Psychologisierung im Sinne von Empathie, Einfühlung, Selbstanalyse und -erkundung möglich. Psychologisierung in diesem Sinne ist ambivalent. Einerseits stellt sie einen risikoreichen, latent regressiven Reflex auf den Komplexitätsdruck in nachmetaphysisch-kapitalistischen Gesellschaften dar, einen Sprung aus Isolierung und Kontingenz in eine Nische libidinöser Utopien, die als solche Partizipation an diffusen, diskursiv nicht mehr verifizierbaren Lebensganzheiten verheißen, an verborgenen Seelentotalitäten, die nur einer neuartigen, kaum quantifizierbaren Dechiffrierkunst offenstehen. Psychologisierung in diesem Sinn ist teilweise auch Fortsetzung der Metaphysik mit unmetaphysischen Mitteln. Psychologisierung andererseits kann - wie Praxis und Reflexion der Freudschen Psychoanalyse zeigen - durch Prozesse diskursiver oder narrativ-symbolischer Selbstreflexion Wege zeigen, »um den Niederschlag der Herrschaft im Individuum zu untersuchen« (Erdheim 1982:38), Selbsttäuschungen aufzuheben und die durch die Erfahrung von Rationalität, Verdinglichung und Entfremdung unterbrochene Kommunikation der Individuen mit sich selber und untereinander wiederherzustellen. Diese andere, aufklärerisch-analytische Form von Psychologie setzt Thomas Mann gerade den regressiv-mystifizierenden Seelen-Künsten und Gefühlsfluchten als »Richtigstellung« entgegen. »Denn es ist in dieser Lehre ein Element geistiger Gesinnung, das sie untauglich macht, in irgendeinem geistfeindlichreaktionären Sinn mißbraucht zu werden; das ihren Antiintellektualismus auf die Erkenntnis beschränkt, ohne ihm zu gestatten, auf den Willen überzugreifen. [...] Der Weg, den sie vorschreibt, ist der der Bewußtmachung, der Analyse, auf welchem es kein Halt und kein Zurück, keine Wiederherstellung des >Guten-Alten< gibt; das Ziel, das sie zeigt: eine neue verdiente, durch Bewußtheit gesicherte, auf Freiheit und Wahrhaftigkeit beruhende Lebensordnung. [...] Sie ist, wir wollen die Überzeugung aussprechen, einer der wichtigsten Bausteine, die beigetragen worden sind zum Fundament der Zukunft, der Wohnung einer befreiten und wissenden Menschheit.« (Thomas Mann 1929: 179ff.) Wie lassen sich nun die soziohistorischen Prämissen im Zusammenhang 4
mit den Psychologisierungsdiskursen angemessen beschreiben. Welche Ansätze bietet die Forschung an? Die (im 18. Jahrhundert entstandenen) beiden das bürgerliche Selbstbewußtsein wesentlich konstituierenden Diskurse, der geschichtsphilosophische wie der psychologische, sind in der Folgezeit nicht in einen Dialog miteinander getreten, sondern haben sich - Reflex der intellektuellen Arbeitsteilung in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Weiterentwicklung voneinander entfernt. Der geschichtsphilosophische Diskurs mitsamt den evolutionistischen Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts hat sich von der Basis der Selbstreflexion vergesellschafteter Individuen zur »Supposition eines weltgeschichtlichen Subjekts« (Habermas) erhoben; der psychologische Diskurs hat sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der kritischen Reflexion gesellschaftlicher Zusammenhänge gelöst und dem Wissenschaftsbild exakter Disziplinen angenähert. Diese Entfernung beider Diskurse voneinander geht einher mit Objektivierungstendenzen und bedeutet in beiden Fällen eine weitgehende Eliminierung des Mediums konkreter Intersubjektivität, ein Defizit, das weittragende Folgen über verschiedene Entwicklungsstufen hinweg bis in die gegenwärtige Wissenschaftsdiskussion hat. So ist es kein Zufall, daß gleichzeitig mit Habermas' Neuformulierung geschichtsphilosophischen Denkens durch »Rückkopplung der Planungsinstanzen an diskursive Willensbildung«, durch ein »Gemeinsames, das sich erst in intersubjektiven Beratungen (Kambartel) oder in Kooperationen vergesellschafteter Individuen herstellen kann« (Habermas 1972:398), auch für die sich als »Sozialphänomenologie« verstehende moderne Antipsychologie (Cooper, Laing) die Forderung nach Dialog und »Intererfahrung« im Zentrum subjektorientierten Forschens steht. Die Forschungsergebnisse von kritischer Soziologie, von Poststrukturalismus und kritischer Psychologie der jüngsten Vergangenheit sind Hinweise darauf, daß allein in einer dialektischen Vermittlung beider Diskurse in Zukunft umfassender Aufschluß über empirische - und das heißt immer auch gesellschaftliche - Subjektivität erworben werden kann. Im Kontext dieser Arbeit werden Ansätze solcher Vermittlung schon im literarischen Diskurs der Jahrhundertwende nachgewiesen. Weiterführend in diesem Vermittlungskomplex - insbesondere in Bezug auf Literaturinterpretation - sind psycho-historische Arbeiten wie die von Jaeger/Staeuble (1978), Obermeit (1980), Erdheim (1982), die die soziohistorische Genese von Psychologie und Unbewußtheit im Zusammenhang mit der Entwicklung der bürgerlichen Literatur untersuchen. 5
Insbesondere Werner Obermeits Buch » >Das unsichtbare Ding das Seele heißt< Die Entdeckung der Psyche im bürgerlichen Zeitalter«, das (im Anschluß an Jaeger/Staeubles These von der Entwicklung bürgerlicher Individualitätsformen aus der Krise einer Gesellschaft im Umbruch) die Verbindung von Literatur und Psychologie am Ende des 18. Jahrhunderts untersucht, kann zur Basis weiterer historisch orientierter literatur-psychologischer Forschung werden. Nachdem Obermeit für den Bereich der Psychologie einen gesamteuropäischen Trend zur Literarisierung, gipfelnd in Johann Christian Reils »Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf die Geisterzerrüttung« (1803) nachgewiesen hat, verfolgt er am Beispiel von K. Ph. Moritz' »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« die Entwicklung eines psychopathologischen Diskurses, der dem Bedürfnis bürgerlicher Subjektivität nach Identitätsfindung durch Selbsterfahrung und Selbstreflexion im Medium literarischer Analyse und Selbstbeobachtung entspricht. Dieser psychologische Selbsterfahrungsdiskurs wird durch die naturwissenschaftliche Orientierung der Psychologie innerhalb dieser Disziplin nach 1800 abgeschnitten, wird aber im 19. Jahrhundert durch die literarische Psychologie - wie Obermeit mit einer Analyse von E. T. A. Hoffmanns »Sandmann« überzeugend nachweist - weitergetragen. Erst Freuds Psychoanalyse nimmt den Faden des intersubjektiv sich artikulierenden psychopathologischen Diskurses wieder auf, muß also in einer gewissen historischen Notwendigkeit an die Literatur anknüpfen. Die wissenschaftliche Neuformulierung des Diskurses und seine Entliterarisierung vollziehen sich im Rahmen der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie und Technik. Dabei knüpft die Psychoanalyse an Ergebnisse und Funktionen der literarischen Psychologie an. Sie fordert, Normalität und Anormalität als Einheit zu betrachten. Denn als stniktive Instanz für Gesundheit und Krankheit im Bereich des Psychischen wird durch die Psychoanalyse das Unbewußte bestimmt, dessen Wirksamkeit sowohl das Normale als auch das Anormale unterworfen ist. [...] Mit der Behauptung der Zusammengehörigkeit von normalen und anormalen Reaktionen im Bereich des Psychischen nimmt die Psychoanalyse ein Resultat der literarischen Psychologie auf. Sie übernimmt aber auch eine Funktion der literarischen Psychologie, die als Antipsychologie als ein gegen die wissenschaftlich sich etablierende Psychologie gerichteter Entwurf zu verstehn ist. Die implizit formulierte Kritik an der wissenschaftlichen Psychologie wird im Kontext der Psychoanalyse und ihrer Metapsychologie expliziert. Freud verwirft [...] die Prämissen der wissenschaftlichen Psychologie als unwissenschaftlich und einer Humanwissenschaft unangemessen. In doppelter Hinsicht besteht also eine Verbindung zwischen der literarischen und der psycho-analytischen Psychologie. Es handelt sich um eine geschichtliche Beziehung der Dissoziation der Psychologie um 1800 und ihrer um 1900 versuchten Aufhebung. (Obermeit 1980: 138f.)
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Auf das genaue Verständnis der gemeinsamen Gegenstandsbestimmung von Psychoanalyse und Literatur um 1900 geht Obermeit nicht ein. - Erste Ansätze einer notwendigen Analyse dieses Zusammenhangs finden sich allerdings eingeschränkt auf den österreichischen Kulturraum - in Mario Erdheims Buch »Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit« (1982). Erdheim bettet die Entwicklung Freuds von der Physiologie und Neurologie zur Tiefenhermeneutik der »Traumdeutung« ein in ein auch im Bereich der Kunst (A. Schnitzler, H. Bahr, H. v. Hofmannsthal) sich ausdrückendes bürgerliches Krisenbewußtsein. So wie er die Entdeckung des Unbewußten in der Theorieentwicklung Freuds als Überwindung der individuellen Macht- und Größenphantasien interpretiert, so scheint ihm, im Anschluß an Lepennies' (1969) Theorie vom Zusammenhang zwischen Herrschaftsverlust und Melancholie und an Schorskis (1961) These, daß die politische Frustration des Bürgertums die Voraussetzung für die Entdeckung des »psychischen Menschern sei, die Entwicklung des psychologischen Diskurses auch im Kulturdenken der Jahrhundertwende Folge soziohistorischer Verunsicherung. Der Prozeß der Entpolitisierung in Verbindung mit der Wende nach innen, zu einer neuen Psychologie, wird in der Literatur der Jahrhundertwende besonders von Hermann Bahr reflektiert: Die Wendung wieder zur Psychologie überhaupt - das pfeifen schon die Spatzen. Das immer nur: >états des chosesétats d'âmeWährend sie uns Zeit noch lassen, wollen wir uns Schönerm weih'n« (Erdheim 1982:116, das Abschlußzitat stammt von Hofmannsthal).
Mag die ästhetizistische Lösung in dieser besonderen Ausformulierung wie Erdheim zeigt - auch ein spezifisch österreichisches Phänomen sein das Grundproblem, die krisenhafte Situation des Bürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert, betrifft das deutsche Bürgertum nicht minder. Die Angst vor einer neu sich formierenden »Masse« in einer anonymen Gesellschaft artikuliert sich auch hier in ähnlicher Weise durch Rückgriff auf frühbürgerliche Lebensformen (s. Riehl, Lebon, Tönnies) und auf bildungsbürgerliche humanistische Ideale. Der von Erdheim als speziell österreichisch gedeutete Versuch der (ästhetischen) Versöhnung von Bürgertum und Adel gegen die als zunehmend bedrohlich empfundene Arbeiterund Proletarierklasse findet z.B. im Werk Fontanes durchaus gewisse Parallelen. Auch in Deutschland führt z.B., wie in Österreich, der Realitätsverlust des Bürgertums zu Ansätzen, gesellschaftliches Leben als bloßes Theater anzusehen. Erdheim zitiert aus Schnitzlers »Grüne(m) Kakadu« den Adelsdichter Rollin: »Sein ... spielen ... Kennen Sie den Unterschied so genau, Chevalier? ... Ich nicht. Und was ich hier so eigentümlich finde, ist, daß alle Unterschiede sozusagen aufgehoben sind. Wirklichkeit geht in Spiel über - Spiel in Wirklichkeit« (zit. nach Erdheim: 120). Schon hier kann - vorgreifend - auf die durchlaufende Theatermetapher in Raabes »Akten des Vogelsangs« hingewiesen werden und auf das Schein und Sein in die Schwebe bringende Schlemihl-Motto dieses Romans »Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen, / Sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen.« 8
Der Rückzug ins sprachlich-sensitive Ästhetische, in narzißtische Egospiegelungen, wie er für Österreich paradigmatisch im Motto »Ego Narcissus« von L. V. Adrians »Garten der Erkenntnis« formuliert wurde, ist in der zeitgleichen deutschen Prosadichtung, in der die realistische Tradition und neue naturalistische Ansätze ein stärkeres Gewicht behalten, nicht so ausschließlich vollzogen. Im Medium des Ästhetischen vollzieht sich jedoch auch am anderen Ende des deutschen Sprachraums, im protestantisch-preußischen Deutschland, unter völlig anderen kulturellen Voraussetzungen eine vergleichbare psychologische Sensibilisierung. Die Autoren Fontane, Storm und Raabe verwirklichen in ihrer Erzählkunst durch gesteigerte Introspektion einen psychologischen Diskurs, der durch Einbezug gerade der Erfahrung gesellschaftlicher Frustration zu - für die Entwicklung des narrativen Diskurses als Ort dichterischer Selbstvergewisserung zukunftsweisenden Inhalten und Ausdrucksformen gelangt. Das Spätwerk Wilhelm Raabes stellt in diesem Entwicklungsprozess einen bisher nicht wirklich gewürdigten Höhepunkt dar, und zwar sowohl was die in ihm zum Ausdruck gebrachte psychologische Sensibilität des Autors betrifft als auch seine Fähigkeit, hochgradig fortgeschrittenes psychologisches Wissen poetisch sinnfällig zu machen. - Zur Analyse dieses komplexen psychologischen Diskurses scheint mir eine Verbindung von sozio-psychologischen Interpretationsansätzen mit Elementen eines diskursanalytischen Deutungsverfahrens am fruchtbarsten. Durch eine solche modifizierte psychoanalytische Textinterpretation läßt sich am ehesten der von Kittler (1977) richtig erkannten Gefahr eines bloßen (verdoppelnden) Spiegelbezugs zwischen Literatur und Psychoanalyse entgehen. Nicht soll v.a. an einer außerordentlich psychologisierten Literatur mit Methoden der (maßgeblich von der Literatur inspirierten) Psychoanalyse beider Gemeinsames ans Tageslicht gebracht werden, sondern durch Einbezug soziologischer wie diskurstheoretischer Elemente das Psychologisierungsmoment selbst mitsamt seiner Artikulationsweise historisch situiert und hinterfragt werden.' Gezeigt werden soll aber auch mit der Untersuchung zum Spätwerk Wilhelm Raabes die Entwicklung eines literarischen Diskurses, der in zunehmend melancholischer Selbstverpflichtung skrupulös Buch führt über seine individual- und gesellschaftsgeschichtlichen Erkundungen. 1
Im Rahmen einer literaturpsychologischen Werkinterpretation baut die Arbeit methodisch auf Beiträgen von Kreis (1976), Lorenzer (1974,1977,1978), Mauser (1977,1981), Kittler (1977), Kristeva (1978), Wucherpfennig (1980,1983), Ohlmeier (1981), Greiner (1983), Pech (1980), Pietzcker (1983) auf.
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1. Reflexivität und Spaltung in Raabes Erzählwerk die universale Entfremdung und Selbstentfremdung fordert beim Wort gerufen zu werden, und dazu ist der Roman qualifiziert wie wenig andere Kunstformen. Th.W. Adorno
a. Psychologische Implikationen der Gattung Roman im Spannungsfeld zwischen Totalitätsverlust und Sinnkonstitution, Fremdbestimmung und Ich-verwirklichung Mit der Untersuchung zu Wilhelm Raabes Erzählwerk - insbesondere zu seinem Spätwerk - soll der für das ausgehende 19. Jahrhundert charakteristische psychologische Literaturdiskurs exemplarisch aufgewiesen werden. Natürlich ließe sich der Hang zur psychologisierend-reflektierenden Verinnerlichung und Selbstbesinnung auch in anderen Gattungen aufzeigen, doch ist der Roman, »die moderne bürgerliche Epopöe« (Hegel), seit dem 18. Jahrhundert das kritisch-reflexive (künstlerische) Medium par excellence, in dem sich das bürgerliche Individuum seiner selbst vergewissert. Ohne daß hier explizit auf Theorie und Geschichte des Romans eingegangen werden kann, sei doch daran erinnert, daß Entstehung und Aufblühen dieser Gattung mit dem allmählichen Zerfall der alteuropäischen Gesellschaft und ihres (metaphysischen) Weltbildes und mit dem Entstehen der bürgerlich-industriellen Gesellschaft samt ihren sozialen und ideologischen Krisensyndromen einhergeht. In dem Maße aber, wie metaphysisch und gesellschaftlich garantierte Ordnungssysteme zerfallen, verliert die bestimmende Urteilskraft an Autorität für die Deutung des Lebens, und die reflektierende Urteilskraft nimmt immer radikaler deren Position ein. Der Roman trägt der Forderung nach Reflexion als dem Stigma produktiver Verunsicherung Rechnung. Lukácz spricht von der Nötigung zur Reflexion, vom »Reflektieren-müssen« als der »Melancholie jedes echten und großen Romans« (Lukácz 1916/1965 : 84). Erst nach Verlust der objektiven Totalität kann für Lukácz die Form des Romans, die »Form der transzendentalen Heimatlosigkeit der Idee« (Lukácz 1916/1965:124), sich ausbilden, erst nach Erfahrung der Trennung von Subjekt und Objekt und der Unvereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit entsteht der Roman, durch 11
den in besonderer Weise (aus der Erforschung von Innerlichkeit und Seele) eine neue - subjektive - Totalität realisierbar1 wird. Das Eigenleben der Innerlichkeit ist nur dann möglich und notwendig, wenn das Unterscheidende zwischen den Menschen zur unüberbrückbaren Kluft geworden ist; wenn die Götter stumm sind ...; wenn die Welt der Taten sich von den Menschen ablöst und ob dieser Selbständigkeit hohl wird und unvermögend, den wahren Sinn der Taten in sich aufzunehmen, an ihnen zum Symbol zu werden und sie in Symbole aufzulösen« (ebd.: 63); Der Roman ist die Form des Abenteuers des Eigenwertes der Innerlichkeit; sein Inhalt ist die Geschichte der Seele, die da auszieht, um sich kennenzulernen, die 1
Die Redundanz des Seelenbegriffs in Lukácz' Werk zum Roman ist wirklich außerordentlich auffällig, entspricht aber der Inflation dieses Begriffes in der Zeit um die Jahrhundertwende. Ausgehend von der Erfahrung transzendentaler Obdachlosigkeit wende sich das moderne Subjekt, das sich nicht mehr als Zentrum des Universums erfährt, zunächst zum abstrakten Idealismus und dann zur reinen Innerlichkeit, um der Seele von hier aus einen neuen Kosmos, eine subjektive Totalität zu schaffen. In der »Typologie der Romanformen« dann arbeitet Lukácz zwei Romangrundstrukturen in einer »gottlosen« Zeit heraus, deren eine durch »Verengerung der Seele« gegenüber der Außenwelt, »die ihr als Schauplatz und Substrat ihrer Taten aufgegeben ist« (Lukácz 1916/65: 96) gekennzeichnet ist, während die andere Grundform - durch die andere »inadäquate Beziehung zwischen Seele und Wirklichkeit... die Unangemessenheit, die daraus entsteht, daß die Seele breiter und weiter angelegt ist als die Schicksale, die ihr das Leben zu bieten vermag« (ebd. : 114) charakterisiert wird, um »alles was die Seele betrifft, rein in der Seele zu erledigen« (ebd.: 115) Diese Reduzierung aufs Individuelle als subjektive Erfahrung »transzendentaler Obdachlosigkeit« läßt sich als ein Grundtenor des bürgerlichen Romans von der nachromantischen Zeit bis in unsere Tage verfolgen. - Für Hegels auf Totalität ausgerichtetes Weltbild kann dieser Individualitätsbegriff noch keine Gültigkeit haben, so daß es schließlich auch nicht wunder nimmt, daß im systematischen Teil seiner Ästhetik für den Roman, - die in seiner Zeit mit Sicherheit am meisten geschriebene und gelesene Gattung - als Ausdruck eines kritisch-aufgeklärten psychologischen Genres, kein Raum ist. Hegel erklärt sich außerstande, diese Gattung »selbst in den allgemeinsten Umrissen« (Hegel, Ästhetik II: 469) zu verfolgen, eine Unfähigkeit, die Ausdruck seiner tiefen Abneigung gegen diese nur die »blanke Subjektivität des Künstlers« (oft nur als »platter« Humor im kunterbuntesten Durcheinanderwürfeln von Gegenständen« greifbar) herausstellende moderne Schreibart ist, wie sie sich in seinem bis ans Gehässige gehenden Unverständnis für Jean Pauls Romane offenbart. (Hegel, Ästhetik I: 574ff.) Nur mit tiefem Mißtrauen verfolgt er das »Abirren« von gesicherten künstlerischen Gehalten und beschreibt resigniert das »Zurückgehen des Menschen in sich selbst, in Hinabsteigen in seine eigene Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhalts und der Auffassung von sich abstreift und zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht: die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solchen, das Allgemeinmenschliche in seinen Freuden und Leiden ... Hiermit erhält der Künstler seinen Inhalt an ihm selber« (ebd.: 581). 12
die Abenteuer aufsucht, um an ihnen geprüft zu werden, um an ihnen sich bewährend ihre eigene Wesenheit zu finden, (ebd.: 89) Anders als seine epischen Vorformen, die durch Reihung typenhaft allgemeingültig erachteter Handlungen das Kunstwerk zum Spiegel von Totalität zu machen suchten, in Absetzung auch von den preisenden oder lehrhaften Prosakleinformen der antiken Tradition, stellt sich der neuzeitliche Roman als Dichtung des Privat-Persönlichen als »subjektive Epopöe« (Goethe) durch Entwicklung subjektiv-individueller Sonderschicksale dar, anfänglich entwickelt aus und in Parallele zur breit florierenden Brief- und Tagebuchkultur. Diese Verankerung im Individuellen, die nicht als privatisierende Entscheidung freier Personen, sondern als kollektives Stigma der modernen Gesellschaft zu fassen ist, prägt die Gattung Roman bis ins 20. Jahrhundert und erklärt die grundsätzliche Tendenz vieler ihrer Formen zum psychologischen Genre. Dabei ist die Psychologisierungstendenz nicht auf eine der von Stanzel (1955) herausgearbeiteten »Erzählsituationen« beschränkt. 2 Trägt sie in der zunehmend sich komplizierenden »auktorialen« Erzählsituation vor allem zu einer Psychologisierung des Erzählduktus selbst, als Mittel erzählerischer Selbstanalyse bei, so dient sie im »neutralen« und »personalen« Erzählduktus einer immer differenzierteren psychologischen Analyse oder Selbstanalyse der dargestellten Personen.
Diese Entwicklung des Romans zum Medium individueller Reflexivität vollzieht sich im 19. Jahrhundert durch zunehmende Subjektivierung, »Verpersönlichung«, Verinnerlichung. 3 Martini beschreibt als Charakteristikum der Erzählkunst des 19. Jahrhunderts, »daß ihr ein Moment des Individuellen, Verpersönlichten innewohnt, das eine Distanzposition bezieht und in ihr ein Spielfeld der Reflexion, ja der Überlegenheit
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J. Petersen (1976: 16f.) weist mit Recht - in Korrektur Stanzeis - daraufhin, daß die Differenzierung von auktorialer, personaler und neutraler Erzählsituation sowohl auf die Er- wie auf die Ich-Erzählung anzuwenden ist. Auf die Notwendigkeit, Stanzeis tendenziell werkimmanente Romantypologie in den Kontext historischer Prozesse zu stellen, hat schon R. Weimann (1966) hingewiesen durch Herausarbeiten der historisch-ästhetischen Struktur der Erzählperspektive. Auktoriale und personale Erzählsituation werden für ihn »zum Schnittpunkt, in dem sich ein objektiver Wirklichkeitsbegriff mit einer Beziehung des Subjekts zu diesem Stoff kreuzt, künstlerisch vereinigt und objektiviert.« (Weimann 1966: 332) Das Phänomen vom reflexiv-subjektiven Erzählstil, von der >Verinnerung< des Erzählens, wurde seit Brinkmann (1957) und Kahler (1970) zum Topos der Erzählforschung. Gegen diese Verallgemeinerung s. Lobsien (1975).
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gewinnt. (...) Dies Spielfeld gibt die Möglichkeit zum Sich-Frei-Halten gegenüber Festgelegtem, Konventionellen.« (Martini 1970:118) Verbunden damit ist eine Entfernung von semantisch darstellender Erzählweise dergestalt, daß zunehmend die immanente Konsistenz des literarischen Zeichensystems als allein verbürgbarem Wirklichkeitsausweis von Kunst angesehen wird; »indem das Zeichen erkennen läßt, daß es keiner >Sache< entsprechen will, gewinnt es selbst die Substantialität der Sache.« (Blumenberg 1964: 22) Durch Verunsicherung, Verpersönlichung, Subjektivierung, Relativierung wird der Roman als Form sowohl erst konstituiert als auch in seinem Existenzanspruch sogleich problematisch. Sieht sich der Autor inmitten der entfremdeten und komplex-antagonistischen Welt auf seine eigene Subjektivität zurückverwiesen, so soll der Roman doch andererseits - zumindest in der Tradition Hegels — die »Prose des bürgerlichen Lebens« zur Darstellung bringen, ist darauf angelegt, die Partikularität des Autors zu transzendieren und — als fiktives Produkt - nach dem Muster der homerischen Epen allgemeine Verbindlichkeit anzustreben. Auf die Spannung, ja den Konflikt zwischen einer säkularen, sich zuweilen autonom und absolut setzenden Autor-Phantasie einerseits und dem Anspruch, Totalität auszusagen, andererseits, weist Lämmert (1973) hin. Dieser Konflikt generiert zum einen das Bedürfnis nach neuer, Totalität suggerierender Mythologie, so, wenn Novalis den Roman »gleichsam die Mythologie der Geschichte< nennt, oder wenn Lukácz später ideologisch von der »Gesinnung zur Totalität« spricht. Noch Thomas Mann spricht in seinem Freud-Aufsatz vom Bedürfnis nach Anerkennung des Mythos auch in der Literatur, nach »mythischer Identifikation«, die dem Menschen ein »zitathaftes Leben« ermöglicht. »Denn dem Menschen ist am Wiedererkennen gelegen, er möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typische im Individuellen. (...) Viel unbewußte Identifikation, viel Konventionell-Schematisches ist bestimmend für das Erleben - nicht nur des Künstlers, sondern des Menschen überhaupt.« (Th. Mann 1929:510) - Andererseits führt - nach Lämmert - der Konflikt zur »permanenten Krise der Romanform« derart, daß das Verhältnis des Autors zu seinem Gegenstand sich verunsichert und im Extremfall die Gesetze der Gattung geradezu gesetzmäßig zur Disposition stehen: »Die Spaltung und Auflösung des roten Fadens und ebenso das alsbaldige Verwerfen aller einmal erprobten Erzählformen, die Absage ans Erzählen überhaupt, das ja die Behauptung einer deutbaren Handlungsfolge selbst in seinen rudimentären Formen noch impliziert: dies sind zwingende Entwicklungen auf dem Wege, der Übermacht einer zweckentbundenen, 14
weil eigenmächtig gemachten Geschichte als Romanautor zu begegnen« (Lämmert 1973: 504).4 Der von Lämmert aufgewiesene Konflikt zeigt sich schließlich auch darin, daß trotz des weitgehenden Verzichts im bürgerlichen Roman auf repräsentative Darstellung eines Weltganzen, trotz des Bekenntnisses zur subjektiven Perspektive doch nahezu im gesamten 19. Jahrhundert die klassisch-ästhetische Vorstellung vom Kunstwerk als eines nicht nur kompositorisch, sondern möglichst auch inhaltlich sinnstiftenden Ganzen bestehen bleibt, dessen Ganzheit zu vermitteln ist mit und aus der Partikularität und Subjektivität des Erzählstandpunktes. In diesem Sinn spricht Lukácz vom Roman als der Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinns zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat. (Lukácz 1916/1965: 53)
Die Vermittlung dieses Konflikts - Verlust von ganzheitlicher Sinnerfahrung und Anspruch auf gestalterische Totalität - vollzieht sich im Roman des 19. Jahrhunderts auf verschiedenste Weise, sei es durch Heraustreten des Erzählers in ironisierender, humoristischer oder - durch Digressionen - materialanhäufender Manier oder sei es durch Thematisierung der Spannung von Individuum (vor allem künstlerischem Individuum) und Gesellschaft. Ortheil (1980) hält in Anknüpfung an Lukácz' geschichtsphilosophischer Begründung des Romans den Bruch zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen für das Grundthema des Romans. Vom 18. zum 19. Jahrhundert werde der Roman »zum Bewahrer einer Totalität (...), die im >Leben< nicht mehr zu erreichen sei« (Ortheil 1980: 150). Herzustellen sei die Totalität des Romans aber nur als Einheit der Reflexivität. »Die Momente eines Romans nehmen nicht einen Bezug zur >WirklichkeitUmbruchzeit< und Roman am Ende des 18. Jahrhunderts kann durchaus in Zusammenhang mit der hier thematisierten Krisenzeit am Ende des 19. Jahrhunderts gebracht werden. Dennoch gilt es einen wesentlichen Unterschied zu beachten: Bei aller krisenhaften, sich in Relativierungen und reflexiven Aufsplitterungen äußernden Komplizierung einheitsstiftender 4
Zur Krise des Romans s. Kayser 1954, Scheunemann 1978 und kritisch dazu Eisele 1984. 15
Symbolpraxis bleibt bis ins 19. Jahrhundert das Subjekt sich seiner selbst als Mitte der Welt doch bewußt, »das Ich in der Sicherheit und Wahrheit seiner Erfahrung ist unantastbar und daher fähig, tragende Mitte zu sein.« (Ruprecht 1967: 9). Diese »autoritäre Subjektivität« verliert am Ende des 19. Jahrhunderts ihre Integrationsfähigkeit. »Nicht nur die Transzendenz, auch das Ich als Mitte der Welt geht verloren. Das Erlebnis der zerfallenen eigenen Autorität bewirkt eine doppelte Krise, die des Selbstbewußtseins und - in ihrem Gefolge - die der Welterfahrung.« (Ruprecht ebd.: 9f.) Ruprecht sieht diese krisenhafte innere Dissoziierung exemplarisch in Thomas Manns »Doktor Faustus« Gestalt werden. Dem ist sicher zuzustimmen, doch scheint es wichtig, deutlich zu machen, daß schon in den von mir sogen. >Spaltungsromanen< des 19. Jahrhunderts, als deren ausgereifter Form der Doktor Faustus sicher anzusehen ist, die Krise des Ichs veräußert wird. Diesen Romanen ist in der Erzählstruktur ebenso wie im Personen- und Handlungsspektrum ein auffällig dichotomer Doppeldiskurs eigen, der in der intensiv ausgearbeiteten Reflexivität beider Diskurse als Ausfaltung und Projektion innersubjektiver Spaltungserfahrung zu deuten ist. Nicht also sind mit >Spaltungsromanen< solche gemeint, denen ein ausgeprägter Polyperspektivismus, oder - wie Arpad Klein (1982) sagt eine »Erzählungspolychromie« eigen ist, sondern in denen sich oppositionelle Perspektiven im Zusammenhang der grundlegenden Totalitätsstiftung durch Erzählduktus, Figurenkonstellation etc. deutlich machen. Ein großer Teil der Doppelgängerromane seit der Romantik gehört dazu, auch Hoffmanns »Der Sandmann«, Jean Pauls »Flegeljahre«; v.a. aber moderne Romane wie F.Th. Vischers »Auch Einer«, Raabes Spätromane, Ricarda Huchs »Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren« und viele Romane und Filme (man denke an den 1927 erschienenen Lang-Film »Metropolis«) des 20. Jahrhunderts vom Erzählwerk Thomas Manns bis zu den Erzählungen Christa Wolfs 3 zeigen dieses Spaltungsmuster. Ein sowohl stofflicher wie terminologischer Zusammenhang ergibt sich zwischen diesem Konzept eines >Spaltungsromans< und Ulf Eiseies Studie zur »Struktur des modernen Romans« (1984), in deren Zentrum vier Modellanalysen unter dem erkenntnisleitenden Begriff »Der gespaltene Diskurs« stehen. - Zur terminologischen Abgrenzung muß kurz auf diese Arbeit eingegangen werden. Eiseies von einer ganz außerordentlichen Belesenheit zeugende Arbeit leidet - gerade was den hier zu bedenkenden Spaltungsbegriff betrifft 5
Zur Spaltungsstruktur in Christa Wolfs »Kassandra« s. Roebling (1985). 16
unter einer deutlichen theoretischen Schwäche. - Wichtig und richtig sind Eiseies einleitende Ausführungen, daß im modernen Roman, den er im Spätrealismus mit Fontane und Raabe beginnen läßt, zunehmend das Sprechen selbst ins Zentrum des Interesses rückt. Der moderne Roman ist für ihn der »Roman des Diskurses« und wird zugleich der »Diskurs über den Roman«. Zwar ließe sich der festgestellte »transzendentale« Charakter des Romans (s. Peper 1970) verbunden mit der dominierenden autoreferentiellen Struktur auch schon für frühere Romane des 19. Jahrhunderts nachweisen, doch gewinnt die Reflexion über die Bedingung der Möglichkeit von Romanschreiben im modernen Roman des 20. Jahrhunderts sicher wie Eisele ausführt - an Ausschließlichkeit. Wesentliches Kennzeichen des modernen Romans ist für Eisele nun der »gespaltene DiskursSpaltung< im modernen Roman versteht Eisele die Inkongruenz von >wahrem< und >poetischem< Diskurs. Wenn zunächst der Eindruck entsteht, daß Eisele mit dieser Unterscheidung nachgerade vorkritische Differenzierungskriterien an - wie er selbst betont - erkenntniskritisches modernes Schreiben legt, so wird bald klar, daß seine Unterscheidung auf der Hegeischen Differenz von Schein und Idee aufbaut, also idealistisch fundiert ist. Von daher erklärt sich dann die problematische methodische Entscheidung Eiseies, zwar zentrale Begriffe der Diskurs-Analyse zu Schlüsselkategorien seiner Analyse zu machen (z.B. die Begriffe >Diskurs< und >SpaltungSpaltung< in vagen Zusammenhang mit einer »literarischen Schizophrenie« und mit den Problemen von Identitätsbildung gebracht, doch werden Fragen der Identität aus dem Kontext psychologischer Erkenntnisgewinnung ausgeklammert, mit der Begründung, daß es sich nicht um wirkliche, sondern nur um literarische Figuren handele.« Das ist kein psychologisch zu fassendes Identitätsproblem mehr, sondern ein strukturelles, das einer Romanfigur nämlich« (Eisele 1984: 55f.). Daß Identitätsprobleme, auch wenn sie bei literarischen Figuren auftreten, immer auch psychologische Probleme sind, machen nicht zuletzt Eiseies konkrete Textanalysen deutlich. Seine »Zauberberg«-Interpretation lebt z.B. von den Forschungsergebnissen der Psychoanalyse seit Freud, wenn auch dieser Ansatz weder systematisch reflektiert noch auf die zentralgesetzte Kategorie der Spaltung bezogen wird. 17
>Spaltung< und >Identität< werden von Eisele für den modernen Roman idealistisch gedeutet. »Im Lebensweg des Protagonisten, der die Welt durchmißt, soll die Identität von Subjekt und Objekt im philosophischidealistischen Sinn erreicht werden, Paradigma der literarisch sich realisierenden Wahrheit« (ebd.: 22). Der sich in modernes Gewand kleidende diskursorientierte Ansatz Eiseies reduziert sich so - ohne daß diese Gleichsetzung theoretisch begründet würde - auf ein idealistisches Modell von Kunst als Ort erscheinender Wahrheit. An diesem Ideal wird moderne Kunst mit ihren Schreibschwierigkeiten gemessen. Auch Eckhardt Meyer-Krentlers Studie über den »Bürger als Freund« muß im Zusammenhang der Inhalts- und Strukturmerkmale von >Spaltungsromanen< in Betracht gezogen werden. Innerhalb dieser motivgeschichtlich vorgehenden Untersuchung werden Raabes späte Biographenromane einer auch strukturgenerierenden Rubrik: »Der vernünftige Freund im Erzählprozeß« zugeordnet, in denen allen aus der Perspektive eines - nach bürgerlichen Maßstäben - »vernünftigen« und verläßlichen Freundes Leben und Schicksal eines unbürgerlichen Helden erzählt werden. Das Spaltungsmoment ist durch diese strukturelle Opposition vielen dieser Romane immanent. - Im Zuge von Meyer-Krentlers Untersuchung könnte der weitere Anschluß der »Akten des Vogelsangs« an einen Roman wie Abbé Prévosts »Manon Lescaut«, den Meyer-Krentler als Grundparadigma dieser Reihe ansetzt, zu weitertragenden Ergebnissen führen, als der Verfasser selbst sie realisiert, insofern ja auch bei Raabe - wie Meyer-Krentler es für Prévost feststellt - der Freund zum »erzähltechnische(n) Medium eines historischen Paradigmenwechsels« (Meyer-Krentler 1984: 212) wird. Richtig und für die Interpretation von >Spaltungsromanen< überhaupt fruchtbar erscheint das Insistieren des Verfassers auf der eingehenden Interpretation der Figurenkonstellation dieser Romane, der er aber z.B. in der Interpretation der Raabe-Romane kaum stringent nachkommt. Inhaltlich problematisch ist zudem seine kategoriale Interpretation des Raabeschen Erzählerfreundes als »inkompetenter Erzähler«, aus der dann verschiedene z.T. anfechtbare Einzelinterpretationen v.a. zu den Figuren im Gesamtgefüge erfolgen. Bei der auf der Oberfläche erscheinenden Strukturgleichheit der >Spaltungsromane< seit der Romantik muß sehr genau unterschieden werden zwischen einer gewissermaßen nur in der Endlichkeit unserer Anschauungsformen erscheinenden Spaltung, deren Darstellung letztlich doch verweist auf ein geglaubtes hinter der Erscheinung liegendes geistig-unendliches, ideales 18
Ganzes, wie im Fall Jean Pauls, E.T.A. Hoffmanns und Eichendorffs, und einer Erfahrung von Spaltung, die nicht vor dem Hintergrund einer postulierten (Transzendenz und Immanenz umfassenden) Totalität sich realisiert, sondern, nach der Aufgabe dieser Hoffnung, sich aus der wie immer fragilen Ganzheitsutopie der Psychen speist. Während Ästhetik und Roman von F. Th. Vischer als Dokument der Umwandlung dieser verschiedenen Totalitätsansprüche anzusehen sind, müssen Raabes Spätromane uneingeschränkt zur zweiten Kategorie gerechnet werden: gespalten erlebt sich das Individuum angesichts seines Wunsches nach ganzheitlicher Realisierung seiner auch triebhaften Ich-Anteile. Auffallend ist nun, daß in beiden Formen von >SpaltungsromanenIn-dividuum< erkennt sich als >dividuum< und trägt dem strukturell Rechnung. Dabei ist solche Spaltung nicht als statische Gegebenheit anzunehmen, sondern als dynamischer Prozeß, in dem sprachlich nicht direkt zugängliche Bedeutungsschichten erfahrbar gemacht oder konfligierende Lebensentwürfe in Form divergierender Diskurse einander ausgesetzt werden. Lorenzer (1978) zeigt, wie Dichtung gerade in Umbruchzeiten durch ihre besondere symbolische Interaktion kollektive Lebensentwürfe sichtbar macht, die an »basale Schichten«, an vorsprachliche - im entfremdenden Lebensprozeß verdrängte - Interaktionsformen anschließen. Im literarischen Text, der die »Spannung zwischen präsentativer und diskursiver Symbolik, zwischen protosymbolischen und symbolischen Interaktionen einerseits und symbolischen Interaktionen und Zeichen andererseits enthält« (Lorenzer 1978: 79), suchen diese Lebensentwürfe gewissermaßen unter der Schwelle des durch Herrschaft sanktionierten begrifflichen Redens nach Ausdruck. Lorenzer spricht in Bezug auf solche unterlaufenden Kommunikationsformen von »ikonisch präsentativen« Formen, 6 einer »Symbolorganisation, die auf einem topisch niedrigeren Stand, aber mit höherer Fassungskraft für das am Rande der Sprechorganisation verbliebene sinnliche Erfahrungsmaterial ausgestattet ist.« (ebd.: 78) Durch diesen Unterlaufensprozeß - im topischen Bild der Symbolbildung - kann es, wenn bestimmte Spannungen und Konflikte für ganze Gruppen nicht mehr tolerabel erscheinen, in künstlerischen Texten zu einer »kollektiven Auseinandersetzung zwischen Lebenspraxis und 6
Die »ikonisch präsentativen Formen« sieht Lorenzer im Anschluß an Langer (1967) nicht nur in bildhafter Kunst realisiert, sondern auch durch Sprache. Ich würde sowohl die inhaltlich stilistischen Formen von Metaphern, Symbolen, Vergleichen usw. dazu rechnen wie auch die ganze Formensprache der Kunstwerke überhaupt vom Reim über Personenkonstellationen bis zu Aufbau und Gattungsfragen.
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Normensystem« (ebd. : 79) kommen. Wenn auch sicher in wenigen Fällen direkt der Erfolg solcher symbolischen Auseinandersetzung, »die Innovation neuer Praxisvorschläge im Zuge einer geschichtlichen Umstrukturierung« (ebd.: 80) nachweisbar ist, so wird allein das ausdrückliche »zur Debatte stellen« anderer Interaktionsformen emanzipatorische, und das heißt immer auch: erkenntniskritische Implikationen haben. Aufgabe einer (emanzipativen!) literarischen Produktion ist danach die Symbolisierung nicht-symbolischer Interaktionsformen und die Zerschlagung zeichenhaft versteinerter sprachlicher Handlungsorganisate. Aufgabe ist also eine Symbolbildung, die über die Stufe der präsentativen Symbole verläuft, (ebd.: 81)
Durch dieses Lorenzersche Konzept psychoanalytischer Literaturdeutung wird weder der schöpferisch-innovatorische Aspekt des individuellen Kunstwerks noch der grundsätzlich offene, nicht auf exakte Aussagen reduzierbare Charakter dichterischen Sprechens in Frage gestellt. Lorenzer wendet sich explizit gegen Freuds eigenes szientifístisches Mißverstehen der geisteswissenschaftlichen Grundstruktur der Psychoanalyse. Insofern steht Lorenzer Szondis Appell, Probleme der Hermeneutik stärker in literaturwissenschaftliche Fragestellungen zu integrieren, mindestens so nah wie Pech (1980), der mit Szondi (1978) gegen Lorenzer argumentiert. Wenn also - aufgrund der je verschiedenen Sprachtheorie - Pech und Lorenzer bezüglich des Kommunikationscharakters von Kunstwerken zu verschiedenen Aussagen kommen, so ist ihnen beiden doch der Grundansatz eines kritisch-hermeneutischen Verfahrens in der Analyse von Sprachstrukturen gemeinsam. Beide erkennen zudem im Innovationscharakter künstlerischen Sprechens ein Aufbrechen herrschaftsbedingter Symbolzwänge. Während Lorenzer diesen Ansatz kommunikationstheoretisch untermauert, fordert Pech - ohne dies leider genauer auszuführen - eine psychoanalytische Kunsttheorie auf der Basis der Reinterpretation Freuds durch Jacques Lacan. Fruchtbar für die Interpretation von Literatur seit dem 19. Jahrhundert und insbesondere von >Spaltungsromanen< erweist sich Lacans Ansatz durch die Aufgabe des Konzepts eines einheitlichen Subjekts. Gerade die Erfahrung von Fremdheit, Ich-Aufspaltung und -Verdoppelung, die Erfahrung subjektimmanenter divergierender Diskurse wird zum Mittelpunkt von Lacans Denken. Insbesondere das aufgezeigte Phänomen subjektiver Gespaltenheit wurde im Zusammenhang mit Problematisierung, Krise und Liquidierung des 21
autonom-gesetzten Ichs in den letzten beiden Jahrzehnten im Umkreis Lacans, der Poststrukturalisten und Diskurstheoretiker reflektiert und thematisiert. Während Lacan in seinen sprachpsychologischen Forschungen die Lehre von der sprachlichen Strukturiertheit des Unbewußten und von der Subjektkonstitution als Unterordnung des Individuums unter das ihm vorgängige Symbolgesetz entwickelt hat, 7 wird von Foucault das Subjekt als Produkt des individualisierenden und parzellierenden Vorgehens unterwerfender Machtausübung erklärt.8 Von Deleuze Guattari wird - im Sinne einer »materialistischen Psychiatrie« - das Konzept eines universellen, Natur und Technik umgreifenden Produktionsprozesses vorgestellt, in dem klassische Begriffe wie Natur und Mensch, Ursache und Wirkung, Subjekt und Objekt als idealistische Illusionen desavouiert und die Vorstellung einer personalen Identität als marginale Überbaukonstruktion einer historisch bestimmbaren Phase interpretiert werden. 9 7
Jacques Lacan: Schriften I—II (1973-1980); Das Seminar von Jacques Lacan, Band I—III, Hrsg. N. Haas (1978-1980). Zur Aufarbeitung Lacans in Deutschland sei verwiesen auf: Samuel Weber: Rückkehr zu Freud, Jacques Lacans Entstellung der Psychoanalyse (1978); Alfred Lorenzer: Lacan und/oder Marx (1977); August Ruhs: Die Schrift der Seele. Einführung in die Psychoanalyse nach Jacques Lacan (1980); Robert Heim: Lorenzer und/oder Lacan (1980); Athanasios Lipowatz: Diskurs und Macht. Jacques Lacans Begriff des Diskurses (1980); Dietmar Kamper: Die Auflösung der Ichidentität. Über einige Konsequenzen des Strukturalismus für die Anthropologie (1980). 8 In »Dispositive der Macht« schreibt Foucault: »Es gilt also nicht, das Individuum als eine Art elementaren Kern, primitives Atom, als vielfältige und träge Materie aufzufassen, auf die die Macht angewandt und treffen würde, eine Macht, die die Individuen zerbrechen und unterwerfen würde. Tatsächlich ist das, was bewirkt, daß ein Körper, daß Gesten, Diskurse, Wünsche als Individuen identifiziert und konstituiert werden, bereits eine erste Wirkung der Macht. Das Individuum ist also nicht das Gegenüber der Macht; es ist, wie ich glaube, eine seiner ersten Wirkungen.« (Dispositive der Macht 1978, S. 81f.). Zur Machtfrage bei Foucault s. auch seine früheren Werke: Von der Subversion des Wissens (1974); Mikrophysik der Macht (1976); Überwachen und Strafen (1976); Der Wille zum Wissen (1977). ' Als wesentlich für diesen Prozeß wird ein universelles Fließen zwischen verschiedenen Polen angesehen, gleich ob diese natürlicher, psychologischer oder technischer Natur sind: »Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ist. Es scheißt, es fickt. Das Es ... überall sind es Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes: Maschinen von Maschinen mit ihren Kupplungen und Schaltungen. Angeschlossen eine Organmaschine an eine Quellmaschine: der Strom von dieser hervorgebracht, wird von jener unterbrochen. Die Brust ist eine Maschine zur Herstellung von Milch, und mit ihr verkoppelt die Mundmaschine.« (G. Deleuze und F. Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I 1982: 7). Im Rahmen dieses sehr stark unter dem Einfluß intuitionistischer und lebensphilosophischer Gedanken stehenden Konzepts wird personale Identität als 22
Im Lacanschen Symboluniversum, in dem Sprache als vornehmliche Kategorie der Vermittlung des Besonderen mit dem Allgemeinen fungiert, gelangt das Subjekt allein durch Realisierung des Diskurses zum Sein, was impliziert, daß nur im Bezug zum anderen 10 dieses Sein gefunden werden kann. »Die Enthüllung des Sprechens, das ist die Realisierung des Seins« (Lacan Seminar I 1978: 341). Das Subjekt hat also keine - wie auch immer verstandene - monadische Individualität, sondern ist »referentiell auf den anderen bezogen«, ist »Korrelat zum Du« (Lacan Seminar 1 1978: 68). Lacan spricht vom »Diskurs des Kreislaufs«, in den ich integriert bin. »Ich bin eines seiner Kettenglieder. Es ist der Diskurs meines Vaters zum Beispiel« (Lacan Seminar II 1980: 118). Charakteristisch für den abendländischen Diskurs sei die Unterordnung unter das väterliche Symbolgesetz als Bedingung jeder Subjektkonstitution. »Im Namen des Vaters müssen wir die Grundlage der Symbolfunktion erkennen, die seit Anbruch der historischen Zeit seine Person mit der Figur des Gesetzes identifiziert.« (Lacan Schriften I 1973: 119) Die mit der Subjektwerdung verbundene Unterwerfung unter das Symbolgesetz stellt - nach Lacan - vor aller bewußten, individuellen Auseinandersetzung mit der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit eine erste tiefe Entfremdung dar, begründet im Subjekt »eine radikale Exzentrität sich selbst gegenüber« (Lacan Schriften
marginales Überbaukonstrukt einer historisch bestimmbaren Produktionsphase interpretiert. Die Produktion schreibt sich in verschiedenen Formen auf die Produkte ein und bildet mit ihnen eine Einheit. An den Einschreibeflächen läßt sich dann für Deleuze und Guattari etwas ausmachen, »dem der Status eines Subjekts zukommt. Ein seltsames Subjekt ist es, bar jeder festen Identität, fortwährend auf dem organlosen Körper an der Seite der Wunschmaschinen umherirrend, definiert durch das, woran es am Produkt teilhat, überall als Gratifikation ein Werden oder eine Verwandlung erhaltend, aus Zuständen geboren, die es konsumiert, und einem jeden Zustand zurückgegeben.« (ebd.: 23 f.) 10 Der Begriff des »anderen« wird hier in vereinfachter Form gebraucht; Lacan selbst unterscheidet zwischen dem großen »Anderen« und dem kleinen »anderen«. Die Vorstellung des (kleinen) »anderen« ist auf der Ebene des Imaginären angesiedelt, der Ebene der Spiegelung, des Narzißmus. Dieser (kleine) »andere« ist das imaginäre Ebenbild meines Gegenübers einschließlich meines eigenen Selbstbildnisses. Der Bezug zu diesem »anderen« ist durch die Ambivalenz von Anziehungskraft und Abstoßung, durch Konkurrenz, Kampf und Anerkennung gekennzeichnet. - Viel komplizierter ist der (große) »Andere« zu fassen; er ist nach Lacan immer abwesend, steht hinter oder neben dem (kleinen) »anderen«, ist im Prinzip des gemeinsamen Symbolgesetzes enthalten und so ein Ort der Einigung jenseits der Anerkennung. Durch den »Anderen« als dem Ort der umfassenden »Wahrheit« eines bestimmten durch Symbol- und Sprachgesetze faßbaren Kultursystems, konstituiert sich das menschliche Subjekt. 23
II 1975: 5 0 ) . "
Im Zusammenhang der Beschreibung dieser subjekt-
immanenten Exzentrizität spricht L a c a n (in z . T . mystifizierenden Bildern) vom »Klaffen«, vom »Spalt«, von der »Urkluft« sowohl des Subjekts als auch des Unbewußten, kreiert sogar, da es sich um ein Basiselement seines Lehrgebäudes handelt, ein spezielles Symbol für das gespaltene Subjekt: S Lacans Reflexion bezieht sich -
auch wenn er einen breiten Rahmen
allgemein-kultureller und wissenschaftlicher Verweisungszusammenhänge mit einbezieht - letztlich immer auf die psychoanalytische Praxis und ist somit nur mit Einschränkung auf Literaturinterpretation übertragbar. Aus Lacans Schule heraus entstanden aber Fortschreibungen, die zur Übertragung dieser Theorie 1 2 in verschiedene soziokulturelle Disziplinen dienen können.
" In Lacans 2. Seminar liest man: »Die Welt des Symbols ist entfremdend für das Subjekt, oder genauer, sie ist Ursache dafür, daß das Subjekt sich immer anderswo realisiert und daß seine Wahrheit ihm immer in irgendeinem Teil verschleiert ist ...« (Seminar II: 267) Diese dem Subjekt immanente »Entfremdung« steht - entgegen dem marxistischen Begriff von Entfremdung - für Lacan vor aller individuellen Auseinandersetzung mit der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit, ist allein Folge der Sprachwirkung und im Bereich des Unbewußten verankert. - In seinen späteren Schriften spricht Lacan in diesem Zusammenhang nicht mehr von »Entfremdung«, sondern von »Trennung«, um diese Spaltung deutlich von der Entfremdung, die im Bereich des Imaginären sich vollzieht, abzuheben. 12 Der Begriff Theorie darf im Lacanschen Fall nur in sehr eingeschränktem Sinne gebraucht werden, da die Summe des Lacanschen Denkens sich nicht als kohärentes, widerspruchsfreies System darstellen läßt. Dieses würde auch Lacans Intentionen widersprechen, da er glaubt, über einen begrifflich nicht systematisierbaren Gegenstand - das Unbewußte - auch nicht in einem logisch stringenten Diskurs reden zu können. Vielmehr wird der abendländisch-logische Diskurs als Verhinderung von Wahrheit angesehen, da Kohärenz und Widerspruchsfreiheit von Lacan als »Vertäuungen« des (angestrebten) »freien« Sprechens erkannt werden, Vertäuungen, die es zu kappen gilt. In diesem Sinne verstehen Weber (1978) und Ruhs (1980) Lacans Sprache gewissermaßen als Inszenierung der Sprache des Unbewußten, als einen Diskurs, »der nicht lediglich auf die Wahrheit zielt, sondern sie selbst ausspricht. Lacan versucht nicht, seinen Gegenstand, das Unbewußte, zu beschreiben, sondern es zu inszenieren, nicht über es zu sprechen, sondern es zu sprechen. So kennt sein Denken keine Definitionen, da es sich weigert, für einen Signifikanten eine starre Verbindung mit einem Signifikat zu bestimmen, es bricht mit herkömmlichen grammatikalischen und syntaktischen Regeln, verwendet Neologismen und gebraucht vor allem jene poetischen Figuren der Metapher und der Metonymie, die Lacan als die grundlegenden Mechanismen des Unbewußten versteht. Damit wird der Leser von vornherein mit der Grundthese, daß der Prozeß der Äußerung die Vorherrschaft über die Aussage inne hat, vertraut gemacht.« (Ruhs 1980:883f.)
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Im folgenden soll insbesondere auf Forschungsergebnisse von Julia Kristeva eingegangen werden, die sie in ihren Studien zur Interpretation französischer Lyrik vom Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat und die in bestimmter Modifizierung auch für einige Erzählformen spätrealistischer Dichtung in Deutschland neue Interpretationsimpulse geben können. Gegenüber dem Lacanschen bietet Kristevas Ansatz eine ausgeprägtere historische Dimension, entstanden aus der Beschäftigung mit dem historischen Gegenstand Literatur. Julia Kristeva interpretiert in ihrem Buch »La révolution du langage poétique« (1974) - der erste (allgemeine) Teil liegt in deutscher Übersetzung (»Die Revolution der poetischen Sprache«) vor - im Anschluß an Lacans Sprachphilosophie die französische avantgardistische Lyrik (v.a. Mallarmés und Lautréamonts) am Ende des 19. Jahrhunderts als spezifischen Ausdruck der in die künstlerische Praxis hineingetragenen subjektiven Spaltungserfahrung. Die historische Erfahrung des widersprüchlichen Verhältnisses von Sprache und triebbewegtem Körper erzeugt - für Kristeva - im Subjekt einen Grundwiderspruch, der, wenn das Subjekt nicht bereit ist, sich dem vorgegebenen Symbolgesetz unterzuordnen, als Auflehnung in Sprache und Gesellschaft getragen wird. Die Erfahrung solcher Heteronomie kann für Kristeva nicht als objektives, sondern nur subjektives Korrelat gesellschaftlicher Zustände aufgefaßt werden, insofern sie sich bemißt am Abstand der gesellschaftlichen Praxis (und seiner Erfahrung durch die Subjekte) zur Repräsentation dieser Erfahrung durch die herrschende Ideologie. »Man denke nur an die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, an die Unzufriedenheit der arbeitenden Klasse, der Bauern und Kleinbürger, die infolge der Kapitalakkumulation des bürgerlichen Staates verarmt werden und ihren Unmut in einer Reihe von Revolten Ausdruck gaben - von 1848 bis hin zur Commune. Ihre ideologische Repräsentation fand diese Unzufriedenheit jedoch lediglich im mystischen Positivismus eines Comte oder Renan, allenfalls in den revolutionären soziologischen Theorien von Marx und den französischen Utopisten. Der Kapitalismus gesteht dem Subjekt zwar Anspruch auf Revolte zu, wobei er sich auf jeden Fall das Recht ihrer Unterdrückung vorbehält [...]. Sind die objektiven Bedingungen dafür nicht erfüllt, daß sich dieser Spannungszustand zu einer Revolution entlädt, so ist das Verwerfen auf die Symbolisierung in AvantgardeTexten angewiesen wie im ausgehenden 19. Jahrhundert;« (Kristeva: 207) »Alle Avantgarde-Erfahrung des 19. Jahrhunderts, die des »poète maudit< bis hin zur Schizophrenie, beweist indes die Möglichkeit einer Sinngebung, die sich vom vereinigenden begrifflichen Prozeß des Gedankens unterscheidet.« (ebd.: 187) »Die Tatsache, daß seit dem 19. Jahrhundert die >Poesie< ihrer selbst sicher, einen Ausgleich zwischen Sozialität und Wahnsinn herstellen konnte, erscheint uns wie die Ankündigung einer neuen Epoche. Welcher? Nach den Erschütterungen der 25
Französischen Revolution entdeckt das 19. Jahrhundert die Geschichte. Hegels Dialektik zeigt deren historische Vernunft auf, genauer: daß es sich um die Geschichte des Subjekts handelt. Der Marxismus seinerseits interpretiert die Geschichte als Folge von Kämpfen und Brüchen in den Produktionsverhältnissen. Das moderne episteme offenbart sich als historisches. Doch die Errichtung der bürgerlichen Republik bewies spätestens seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, daß die Geschichte nicht abgeschlossen war, sondern daß ihre Logik jetzt zwar denkbar wurde, damit aber nicht beherrschbar. Ein »Rest« entzieht sich weiterhin der Beherrschung durch die historische ratio; das Subjekt. [...] Doch was ist mit dem Subjekt? Dies ist eine Frage, deren Beantwortung noch aussteht. Das Subjekt ist nie, das Subjekt ist Prozeß der Sinngebung und stellt sich als sinngebende Praxis dar.« (ebd.: 210)
Für Kristeva stellt sich der Grundwiderspruch als Widerspruch des »Semiotischen« und des »Symbolischen« dar. Als »semiotisch« versteht sie die (nur logisch zu rekonstruierende) Phase der Subjektentwicklung vor der eigentlichen Subjektkonstitution, vor der Unterordnung unter das symbolische Gesetz im Sinne Lacans. Die semiotische Phase, mit präödipaler, narzißtischer Ausprägung, ist in ihrer Triebmotilität v.a. auf die Mutter gerichtet, d.h. gekennzeichnet durch Energieabfuhr, die den Körper im Verhältnis zur Mutter bindet und orientiert. Die semiotische »chora«, wie Kristeva diese Phase nennt, stellt eine strukturierende Disposition der Triebe, der Primärvorgänge dar, deren Ordnung von energetischen und psychischen Markierungen in provisorischer und mobiler Artikulation geprägt ist. Entsprechend dem — im Sinne Freuds - ambivalenten Charakter der Triebe zeigt sich der »semiotische Körper« als Ort ständiger Spaltung: aneignend und destruktiv, oral oder anal fixiert, unter der Macht des Begehrens nach Einverleibung und Ausstoßung, des Lebens- und Todestriebs. Der Einschnitt des Symbolischen, des »einzigen Zugs« (Lacan), stellt sich auch für Kristeva als Bruch in der Entwicklung des Subjekts dar, da die vorsprachliche »natürliche« Trieborganisation des Semiotischen im Widerspruch zum Sprachlichen, Symbolischen steht. Sprache wird so als »Mord am Körper« verstanden. Dieser Bruch, von Kristeva »thetischer Einschnitt« genannt, geschieht dem Subjekt also durch Eintritt in die Sprache, in das Gesetz des Symbolischen, ja in das Gesetz überhaupt. Der thetische Einschnitt geht dem gesellschaftlichen Subjekt voraus, sichert ihm seine Einheit in Geschichte und Gesellschaft. Im Anschluß an die Forschungsergebnisse der modernen Anthropologie besteht für Kristeva eine Äquivalenz von Sozialem und Symbolischem »insofern (...) die unterschiedlichen Steuerungsmittel, die ein Sozialkörper bereithält (...) als Sprachen (langages) aufgefaßt« werden. (Kristeva 1974: 80) 26
Die semiotische »chora« ist mit der Subjektkonstitution aber nicht überwunden. Kristeva sagt, daß das Subjekt immer symbolisch und semiotisch ist. Die semiotische chora ist für das Subjekt, dessen Geburtsort sie ist, gleichzeitig der Ort seiner Negation, an dem seine Einheit dem Prozeß von Ladungen und Stasen weicht, der diese Einheit allererst herbeiführt. Wir nennen diesen Vorgang Negativität, die wir von der Negation als einem Akt des urteilenden Subjekts unterscheiden. (Kristeva 1974: 39) Die Negativität, die den Sinngebungsprozeß des Subjekts als ständige Wiederholung des Thetischen potentiell ständig in Frage stellt, ist so Zeichen des grundlegenden Widerspruchs von semiotischen und symbolischen Kräften, von biologischer Basis und familial-gesellschaftlicher Determination; sie realisiert sich im Prozeß des »Verwerfens« als Aufhebung der Thesis. 13 In den Praktiken der modernen (avantgardistischen) Kunst am Ende des 19. Jahrhunderts nun wird dieser Widerspruch eklatant: sie offenbaren »das Semiotische nicht nur als Bedingung des Symbolischen, sondern auch als dessen Aggressor.« (Kristeva 1974:59) Diese Textpraktiken sind für Kristeva Dokumente dafür, daß der Ansturm des Semiotischen sich als »Verwerfen« (rejet) des Thetischen und »Verweigerung« (refus) der Endgültigkeit symbolischer Sinngebung realisieren kann. Eine Überschreitung des Thetischen, der »Setzung«, muß (bei totaler Verwerfung der thetischen Phase) zur Schizophrenie, d.h. zum Verlust jeder symbolischen Funktion führen. Dieser Gefahr, die im neurotischen Diskurs offenbar wird, entgeht die Poesie dadurch, daß sie die durch Sprache realisierten Verwerfungsprozesse zugleich doch durch Sprache resynthetisiert, daß sie neue Sinngebung schafft. Als besonderer Spielraum künstlerischer Praxis erscheint so das Überschreiten des Thetischen ohne dessen Aufhebung, unter Offenhaltung der Sinngebungsprozesse . Der Text [...], der am Ort des Verwerfens steht, bringt dessen Widerspruch zur Entfaltung, indem er die Bildung dieses Widerspruchs darstellt. Er subsumiert 13
Das Verwerfen ist hauptsächlich gegen Elemente der natürlichen und gesellschaftlichen Umgebung gerichtet, mit der sich das Individuum unter biologischem und gesellschaftlichem Zwang identifiziert. Innerhalb der Familienstruktur ist im allgemeinen - doch nicht unbedingt - der gleichgeschlechtliche Elternteil dem Verwerfen ausgesetzt.« (Kristeva 1974: 178) In unserer »paternistischen« Gesellschaft werde die thetische Einheit jedoch für beide Geschlechter häufig mit dem Namen des Vaters repräsentiert. Prinzipiell könne jede Person und Struktur, sofern sie Macht verkörpere, dafür stehen. 27
also nicht das Verwerfen unter das werdende Bewußtsein und dessen wissenschaftliche Gestalten, wie das bei Hegel geschieht. [...] Den Widerspruch produktiv machen hieße demnach, die Geschlossenheit der Sinngebung durchbrechen, auf das materielle Verwerfen hin öffnen und offen zu halten. (Kristeva 1974:186,191) Indem die Texte Mallarmés und Lautréamonts das Verwerfen bis in die Sprachmaterie selbst tragen (bis in die Auflösung von Syntax und Grammatikstruktur), verdeutlichen sie am ehesten die verwerfende Kraft des semiotischen Drängens, die zur Zerstörung von Zeichen und Repräsentation führt. Diese Fähigkeit zur künstlerisch revolutionären Praxis schreibt Kristeva v.a. »Texten« (d.h. für sie modernen poetisch-lyrischen Texten) zu, da es ihr fraglich erscheint, ob auch im Medium des Erzählens der grundlegende Widerspruch im Innern des Textes offengehalten werden kann. Die Sprachstrukturen im eigentlichen Sinne (der Phänotext) bleiben in der Erzählung normativ. Sie gehorchen den Regeln der Grammatikalität, die kaum zuläßt, daß die Triebladung das Thetische, das Sprache herbeiführt, durchbricht. Vielmehr wird die Triebladung schon vorher aufgegriffen und ϊη Rahmungen eingeebnet, die von voraufgehenden Schichten strukturiert werden: dort erhält sie Sinn, wird sie Zeichen; umgekehrt ersetzen die Zeichen die Triebladung. [...] Der semiotische Triebstrom wird den gewichtigen Kraftlinien des Erzählens untergeordnet und zeugt bloß noch zaghaft vom Prozeß der Sinngebung. (Kristeva 1974: 99f.) Man wird Kristeva darin zustimmen, daß die Sprachstrukturen im narrativen Diskurs sehr viel widerständiger gegen die Semiotisierungsprozesse sind. Bei genauerer Analyse der Prosaformen im ausgehenden 19. Jahrhundert lassen sich aber auch hier deutliche Verwerfungsstrategien aufzeigen, die bis zu einer (ansatzweise) neuen Grammatik des Romans führen können. Am Beispiel der Interpretation von Raabes »Akten des Vogelsangs« soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit gezeigt werden, daß auch in erzählender Prosa des ausgehenden 19. Jahrhunderts die der Praxis zugrunde liegende widersprüchliche Heterogenität ausgetragen werden, der Widerspruch sich entfalten kann, auch wenn syntaktische und grammatikalische Strukturen weitgehend erhalten bleiben, 14 das Verwerfen des Thetischen sich also 14
Ansatzweise kann bei Raabe durchaus von einer Auflösung bis in den Erzählduktus gesprochen werden. So beobachtete schon Martini (1962/1974) in Bezug auf die Erzählung »Vom alten Proteus«: »Die Wirklichkeit des paradoxen »Proteus«Lebens löst sich in das Traumhafte auf. Eine Rhythmisierung im Doppelschichtigen des Stoßhaft-Rauhen und Gefühlvoll-Innigen wird zum wesentlichen >poetischen< Stimmungselement der Erzählsprache. Die Erzählfigur hält zusammen, was auseinanderzufallen drohte.« (Martini: 695) 28
nicht vor allem im Aufbrechen der Sprache im materialen Sinn realisiert. Die Überschreitung der thetischen Einheit vollzieht sich im Roman Raabes vielmehr als Aufbruch der sprachlich und damit gesellschaftlich vermittelten Identifikationsangebote, als Verweigerung fixer Subjektkonzepte. Eingebracht wird die Erfahrung gespaltener Subjektivität durch den komplex verschachtelten und Sinngebungseinheiten miteinander konfrontierenden Erzählduktus (die »gewichtigen Kraftlinien« werden im Ansatz unterbrochen«) und durch Aufsplitterung in eine spannungsreich-widersprüchliche Bild-, Raum- und Personenwelt. 15 Dem entspricht eine zunehmende Modifizierung
der humoristischen Schreibweise durch eine im weiteren
darzustellende melancholische Erzählhaltung und -gestaltung. Dabei verhalten sich die divergierenden Elemente zueinander nicht durchweg in feststehenden strukturalen oder metaphorischen Polaritäten. Die gleitenden, ineinander übergehenden, Bedeutung nie endgültig abgrenzenden oder abschließenden Symbolketten verweisen auf das (von Lacan sogenannte) metonymische Gleiten des Signifikats über/unter den Signifikanten und verdeutlichen so den unwillkürlichen Fluß des Unbewußten durch die Sprache hindurch. 16 15
Kristevas - im Sinne ihrer Interpretation wertende - Unterscheidung zwischen (in den Texten gestalteter) Praxis und (bloßer) Erfahrung scheint mir insofern eine künstliche, als die Grenzsetzung immer eine interpretatorische sein wird. »Wir behalten den Begriff der Erfahrung solchen Praktiken vor, in denen der heterogene Widerspruch zwar aufrecht erhalten, untersucht und in einen Diskurs eingebunden wird, (...) aber in der thetischen Phase eine rein individuelle, naturalistische oder esoterische Repräsentation besetzt: Bataille nennt das »Onanie einer Trauerpoesie«. Der Begriff der Praxis dagegen sollte Texten vorbehalten werden, in denen der heterogene Widerspruch aufrechterhalten wird als die notwendige Voraussetzung der Praxis-Dimension in signifikanten Gebilden, Texten, in denen das Repräsentationssystem, das den Widerspruch bindet, seinerseits der gesellschaftlichen Praxis entlehnt ist.« (Kristeva 1974: 195) Das »Aufrechterhalten des heterogenen Widerspruchs« muß sich ja durch den Leser vollziehen, und - um am Beispiel Raabes zu bleiben - die Vielzahl der (z.T. total kontroversen) Interpretationen zur Figur Veltens in den »Akten des Vogelsangs« und zu ihrem Verhältnis zu Krumhardt, die kontroverse Interpretation insbesondere des Romanschlusses (findet für die Figur Karls eine Versöhnung mit seiner Rolle statt?) zeigen, wie sehr eine solche Verwerfungs-Praxis auch einer entsprechenden Rezeption bedarf. Kristeva selbst weist ja andererseits darauf hin, daß, trotz aller Verwerfung bis in die Sprachmaterie selbst durch die Poesien Mallarmés und Lautréamonts, diese Dichter bald vom Bürgertum als individualistische esoterische und akademische Sonderformen ins System integriert wurden. 16 Mit dem Eintritt in das symbolische Universum, das für Lacan wie die Sprache gekennzeichnet ist durch die Strukturgesetze der Signifikanten, unterliegt der Mensch, als sinnsuchendes Wesen, notwendigerweise auch den Wirkmechanismen 29
Mit Hilfe einer durch die neuere psychoanalytische Forschung spezifizierten Strukturanalyse läßt sich für Teile der Dichtung des späten 19. Jahrhunderts zeigen, wie sich hier im Medium der Dichtung ein Bewußtsein herausgebildet hat, das im Zusammenhang mit den verschiedenen Disziplinen der Humanwissenschaft zur Ablösung eines alten nicht mehr als identitätsstiftend erfahrenen Paradigmas drängt; ein Ablösungsprozeß, der, wie ich meine, immer noch nicht abgeschlossen ist. Dieses neue Bewußtsein läßt sich mit Lacans Begriff des »Symbolgesetzes« als dem »Gesetz des Vaters« genauer beschreiben, wenn man bereit ist, diesen Begriff über Lacan hinaus — und auch dezidierter als Kristeva mit konkreten sozialgeschichtlichen Erfahrungen in Verbindung zu setzen. Damit soll nicht einer marxistischen Lacan-Interpretation oder einem LacanSoziologismus das Wort geredet werden in der Nachfolge von Althusser der Sprache, welche gekennzeichnet sind durch »jenes doppelte Spiel von Kombination und Substitution im Signifikanten nach den zwei Abhängen (versants), die das Signifikat erzeugen: Metonymie und Metapher, jene Wirkungen also, die bestimmend sind für die Einsetzung des Subjekts.« (Lacan, Schriften II, 125) Diese beiden sinnstiftenden »Abhänge« des Signifikanten, die vom Individuum in ihrer ersten Form als Objekttausch ( = Verlagerung des Begehrens von der Mutter weg) und als Objektsubstitution ( = Ersetzung der Mutter durch andere Objekte) realisiert werden, kennzeichnen hinfort sein gesamtes Kommunikationsgefüge, den menschlichen Diskurs überhaupt. Hierbei ist von wesentlicher Bedeutung, daß im Substitutionsakt, dem metaphorischen Prozeß, das Substituierte nicht total ausgelöscht wird; es wird nur von der Ebene des Signifikats verdrängt und wirkt auf der Signifikantenebene weiter, so wie die verdrängte (verbotene) Liebe zur Mutter weiterhin in allen künftigen (sie ersetzenden) Objektbeziehungen nachwirkt. In diesem Sinn kann Lacan sagen, daß das Signifizierte unaufhörlich unter (oder über) dem Signifikanten gleitet. Der so entstandene doppelte Diskurs stellt eine gewisse Entsprechung dessen dar, was Freud in seinen »Traumdeutungen« die »manifesten« und »latenten« Traumgedanken nannte, und was, mutatis mutandis, in den verschiedenen Ebenen der Interpretation von Kunstwerken zum Ausdruck kommt. So nimmt es denn nicht wunder, daß die Grundmechanismen der sinnstiftenden Signifikantenkette: Metonymie und Metapher, sich für Lacan als strukturgleich herausstellen mit den von Freud herausgearbeiteten zentralen - aus der Verdrängung resultierenden - Mechanismen des Traumgeschehens: Verdichtung und Verschiebung: »Verdichtung (...) meint die Überbelastungsstruktur des Signifikanten, in der die Metapher ihr Feld einnimmt, wobei der Name (>Ver-DichtungImmer Tochter der LuftArcheMördlingWettkampf< assoziiere, sondern auch die >AgonieTodeskampfman< es wünscht, verkörpert Mördling/Agonista das abgespaltene Leben des Unbewußten, lebt in der »anderen Welt« jenseits der Wasser ein wildes narzißtisches Leben mit allen denkbaren Emotionen, Aggressionen und Egoismen; er verkörpert ein Leben der >semiotischen chora< im Sinne Kristevas. Seine oben auf dem »Blutstuhl« hervorgestoßene 67
Halluzination, daß er den kopflosen Hingerichteten auf sich herumschleppe, der »sein diabolisches Triumphlied über mich (sang) - ein Bauchredner sondergleichen« (BA 11:216), verbildlicht sein eigenes Sein als ein Sein gewissermaßen aus dem Bauch heraus ohne die köpfgeleiteten Normen der Über-Ich-Instanzen. Ein ganz ähnliches Bild findet interessanterweise Lacan, wenn er von Freuds Konzept des Unbewußten sagt: das eines kopflosen Subjekts, eines Subjekts, das kein Ego mehr hat, das dem Ego äußerlich ist, dezentriert im Verhältnis zum Ego (Lacan Schriften I: 215)37
Die dezentrierte Komplementarität beider Personen im Text Raabes wird räumlich in der »Blutstuhl«-Szene dadurch verdeutlicht, daß beide »von der entgegengesetzten Seite her« (BA 11:192) auf die mütterliche Opferplatte (man möchte sagen) zurückstreben. Beider Bewegungslinie konturiert so die Spaltung des ehemals einen, eine Spaltung, die das Leben der Subjekte in der Gesellschaft grundsätzlich kennzeichnet. Einheitserleben kann nur noch in außergewöhnlichen Momenten kurz aufleuchten. In der Erzählung werden solche Momente in den Zusammentreffen der beiden Freunde poetisch-symbolisch dargestellt, die damit als Hinweise zu lesen sind auf des Dichters Vorstellung von der Möglichkeit auftauchenden Einheitserlebens in der entfremdeten Gesellschaft seiner Zeit. Kristeller und Agonista treffen sich beim Pflanzensuchen, in der Nähe der geliebten Johanne, beim Rausch der Punschbowle und im Akt künstlerischer Rekonstruktion, d.h. im erinnernden Erzählen. Daß solche durch Naturnähe, Liebe, Rausch und Kunsterleben aufscheinende Ganzheitserfahrung nicht festzuhalten ist, zeigt das schmerzhaft-peinliche Auseinanderdriften der beiden Protagonisten am Ende der Erzählung. Die Spaltung ist nicht reversibel. Wenn Mördling/Agonista zu Beginn seines Erinnerungsberichts metaphorisch anknüpfend an Kristellers Mutterphantasien - sein Leben mit einer kartoffelähnlichen Knolle »drei bis vier Fuß unter der Erde [...], ein abgeschmacktes Produkt der alten Mutter Erde« (BA 11:206) vergleicht, macht er selber deutlich, daß sein Leben ein quasi unterirdisches ist. Diese 37
Das Motiv des Kopflosen als Gegenmotiv zur normengeleiteten Gesellschaft erscheint - zeitgleich mit Freud und Raabe - auch in Wedekinds »Frühlingserwachen« (1890/91). Die kopflose Königin, von der Moritz Stiefel träumt, ist hier Gegenbild gegen die unterdrückende Über-Ich-Welt, die durch die Schule repräsentiert wird. Gequält von den familiären Folgen des Schulversagens begeht Moritz Selbstmord und hofft nach seinem Tod auf Vereinigung mit der »kopflosen Königin«, dem libidinösen Prinzip, dem er gesellschaftlich entsagen muß. Auf Wendlas Grab, einem Mahnmal auch gegen gesellschaftliche Zwänge, begegnet Melchior dem toten Moritz »seinen Kopf unter dem Arm«. (Wedekind 1891:64).
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subterranen Bilder deuten auf das Wirken der desymbolisierten Triebe, d.h. auf die psychischen Prozesse des Unbewußten. Es heißt, nur kurze Zeit »wucherte das Gewächs phantastisch ins Kraut« (ebd.)> dann wurde es verbannt, eben weil es für die Gesellschaft, ihre Symbole, Vorstellungen und Normen zu phantastisch war, und weil es nicht eines von den normenund zuchtgerechten »Pomeranzen und Palmenbäum(en)« zu werden versprach, von denen dann die Rede ist. Wenn der Mensch die Spaltung auch nicht rückgängig machen kann, so kann er doch - wie das Bemühen des Textes zeigt - versuchen, sich seiner Subjektkonstitution bewußt zu werden, wie Mördling wieder in einer Natur-Metapher verdeutlicht: Je früher aber der Mensch herausfindet, in welche Klasse er nach Linné oder Buffon gehört, desto besser ist es für ihn und desto schneller kommt er zur Ruhe und zur Zufriedenheit mit seinen Zuständen. (BA 11: 206)
Mit der Bildlichkeit in diesem zentralen Plädoyer für intensive Identitätssuche wird zugleich eine Brücke geschlagen zum Bild der pflanzensuchenden und -systematisierenden Protagonisten, die damit eben auch auf der Suche zu sich selber sind, nach dem »ungelöste(n) Rätsel, das Mysterium in meinem Leben geblieben ist« (BA 11:181). Das »Vermögen«, das Kristeller angeblich anstelle der gesuchten Flechte beim »Blutstuhl« findet, ist nicht der Schatz der anklingenden Harzmärchen und auch nur bedingt der »wilde« Brief mit dem Geld Mördlings. Dennoch kommt es ihm von dem zu, was Mördling personifiziert: Es ist das Vermögen, durch erinnerndes Sprechen, abgespaltene und verdrängte und mit Angst besetzte Anteile des Ichs zu erkennen und anzunehmen, es ist das Wissen überhaupt um die Gespaltenheit. Das vielfältige Thematisieren von Sprechen und Erzählen im Text deutet auf ein Wissen des Autors davon, daß v.a. über das Sprechen der Zugang zum Unbewußten gefunden werden kann. Die Therapie der Psychoanalyse ist bekanntlich immer eine sprachorientierte Therapie. Lacan, der soweit geht zu sagen, daß das Unbewußte sprachlich strukturiert ist, schreibt: Sprechen ist das Mühlrad, durch das sich das menschliche Begehren unablässig vermittelt, indem es ins System der Sprache zurückkehrt. (Lacan: Schriften 1:229)
»Volles Sprechen« hat für Lacan der erlangt, dem es gelingt, »die Kontingenz des Vergangenen neu zu ordnen« (ebd.: 95) und damit die »Wahrheit des Subjekts« zu realisieren. »Volles Sprechen«, so wird man sagen können, strebt auch der Dichter an mit seiner der freien Assoziation viel näheren Rede, mit seiner Fähigkeit, die inneren Spannungen, Wünsche, Ängste und 69
Imagines in Bilder, Rollen und Geschichten zu kleiden, die nicht nur logischen Gesetzen folgen. Damit wird eine Wahrheit anvisiert, die jenseits gesellschaftlich akzeptierter Normen und Diskurse liegt und die dennoch das Subjekt entscheidend bestimmt. Das Subjekt reicht weiter als das, was der einzelne >subjektiv< empfindet, nämlich genau so weit wie die Wahrheit, die es erreichen kann [...]. Gewiß diese Wahrheit seiner Geschichte ist nicht ganz in seinem Rollenskript enthalten, und doch ist ihre Stelle durch die schmerzliche Erschütterung bezeichnet, die es empfindet, weil es nur ihre Erwiderungen kennt, und zwar auf Blättern, deren Unordnung ihm kaum Erleichterung verschafft. (Lacan: Schriften I: 104)
Eine solche Stelle »schmerzliche(r) Erschütterung« ist zweifellos in der »Blutstuhl«-Szene erreicht. Agonista formuliert im Zustand beinahe wahnsinniger Entrückung diese Erfahrung, wenn er sagt: »Mein Herzblut ist durch diese Rinne niedergelaufen« (BA 11: 194). Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, zur beschriebenen Wirkung von Raabes Erzählung auf Freunde und Publikum, auf seinen in vieler Hinsicht sehr sensiblen Freund Wilhelm Jensen zum Beispiel. Ist es die Vergegenwärtigkeit der gespaltenen und sich selbst entfremdeten Subjektivität, die Jensen so hochnotpeinlich, ja menschenverachtend fand? Oder ist es das Vordringen überhaupt zum Raum ursprünglicher, d.h. gesellschaftlich unverstellter Ganzheitserfahrung mit allen polymorph-perversen Gelüsten, allen Ängsten und Emotionen? Gehört der Text »polizeilich verboten«, weil die Leser ebenso wie die fiktiven Zuhörer der Erzählung selbst eine Ahnung davon bekommen können, was ihnen mit der Unterwerfung unter das väterliche Symbolgesetz, unter das ganze Netz gesellschaftlicher Normen von einmal besessenem Kreatürlichen abhandengekommen ist? Das Drängen des Försters auf Bruderschaftstrinken mit Agonista deutet an, daß auch er im Oberst seinen Doppelgänger oder Bruder erahnt. Die braven Biedersieute im Dorf nennen Agonista einen »Prachtkerl«, und man erinnert sich, daß man auch selbst in »jungen Jahren [...] in die weite Welt hinauslaufen« wollte, um den »Schulmeistern, Eltern und sonstigen Vorgesetzten durch die Lappen« zu gehen (BA 11: 224). Der Arzt im Text erkennt am deutlichsten die Gefahr, die von einer Figur, einer Phantasie wie Agonista ausgeht. Er wehrt dessen Versuchungen mit Flucht in die gesellschaftliche Verantwortung ab: »Du hast sozusagen der ganzen Gegend die Phantasie verdorben. Ich kenne auf drei Meilen in der Runde niemanden, der noch ruhig auf seinem Stuhle sitzen kann. Da ist nicht einer, der nicht hin und her rückt und überlegt und berechnet, was alles er bis dato im Leben versäumt 70
habe.« (BA 11: 251) Die Männer stellen plötzlich auch bei sich ein sehnsuchtsvolles »Vergnügen« fest, mit einem »ähnlichen Burschen im Busch und Walde« die »intimste Bekanntschaft zu machen« (BA 11:249). Solche »intimste Bekanntschaft« gehört in der Tat polizeilich verboten im preußisch-autoritären System des ausgehenden 19. Jahrhunderts, denn sie stellt ein tendenziell anarchistisches Potential dar. Das Wissen des Erzählers Kristeller trotz aller gelungenen Verdrängung: »Es kommt alles wieder an einen, der Sturmwind wie die alte Zeit« (BA 11:176), ist eben kein gefragtes Wissen in dieser auf Verdrängung und deren Kompensation aufbauenden Epoche. Nur in abgewandelter, zugleich sublimierter, kanalisierter wie pervertierter Form - und hier kann an Thürmers Ausführungen zur Charakteristik der Figuren Kristellers und Agonistas aus ihrer Zeit wieder angeschlossen werden - sind in der Gründergesellschaft die Triebe auslebbar: in den unzähligen Verästelungen privater und öffentlicher Machtausübung sowie - häufig damit verbunden - im Drang nach Wirtschaftsexpansion, nach Reichtum. Der Autor Raabe ist mit den Bildern, Personen und Strukturen der Erzählung »Zum wilden Mann« zu einer Tiefe psychologischer Erfahrung gelangt, wie sie erst zwanzig Jahre später, seit Freuds Untersuchungen, theoretisch formulierbar wurde. - Die Tatsache, daß Raabe gerade diesen (vom Publikum nicht geliebten) Text zu seinem Besten zählte und ihn weit verbreitet wissen wollte, zeigt, daß er um die neue Dimension von SelbstErfahrung in diesem Text wußte. Daß solche neue Wahrheit nicht unbedingt nur positive, beglückte oder beglückende Selbsterfahrung bedeutet, ist durch verschiedene Signale in den Text selbst eingeschrieben. Außer dem ungewöhnlich pessimistischen Ende halte ich das auffallend redundante Melancholie-Thema für ein solches Signal, über das daher eingehender nachgedacht werden soll. Eingeführt wird die Melancholie schon im 1. Kapitel der Erzählung beinahe paukenschlagähnlich mit der Erwähnung von Dürers Kupferstich »Melancholia«, auf dem Übergang vom atmosphärestiftenden Rahmen zur Vorstellung des Erzählers Kristeller. Dürers Stich hängt räumlich und thematisch hervorgehoben im Zentrum des Erzählorts. Zu diesem deutlich privaten Ort, einem Nebenraum der Apotheke, werden wir durch den Geruch der »herba nicotiana« (BA 11:164) gelockt. »Wir folgen diesem Gerüche« in das Kabinett, wo man sich dann im folgenden bei leichten Drogen wie Tabak und Punsch den melancholischen Erinnerungen hingibt.38 38
Die herba nicotianae - wie es richtig heißen müßte - , insbesondere die folia 71
Die Wände des Raumes nun sind vollständig bedeckt mit Stichen und Bildern des gesamten Welt- und Kulturgetriebes: alle Gegenstände und Situationen im Himmel und in der Hölle, auf Erden, im Wasser, im Feuer und in der Luft, schwarz oder koloriert. (BA 11: 165) Piaziert ist Dürers »Melancholie« aber nicht in den Kontext kosmischuniversalistischer Bilder, sondern just »zwischen zwei Straßenszenen aus dem Jahr 1848«, wodurch zunächst ein Bezug des Themas >Melancholie< zur gesellschaftlichen Erfahrung, genauer gesagt zu den revolutionären Umbruchsversuchen sowie den gescheiterten H o f f n u n g e n des liberalen Bürgertums markiert wird. Im folgenden tritt das Melancholische beinahe leitmotivartig im Zusammenhang mit Kristellers Erinnerung auf als »melancholische Einbildungen« (BA 11: 172 und 173), »melancholische Phantasien« (BA 11: 173), »melancholisch« (BA 11: 187), »Melancholie« (BA 11: 197). Schon vor seiner Bekanntschaft mit August Mördling, dem »Mysterium meines Lebens«, erscheint uns Kristeller als der Melancholische, wird mit den klassischen Begleitattributen der Melancholie charakterisiert: von »trüben, sorglichen Gedanken« wird gesprochen, von »richtige(r) Schwerblütigkeit«, vom überall drohenden »dunkle(n) Finger« und von »Hypochondrie« (alles BA 11: 180). Wichtig scheint, daß zunächst die Phänomene nur in der Stadt, im Kontext der Erzieher und der Gesellschaft also, ihn beherrschen und daß sie erst später ihn auch »über das Weichbild hinaus« verfolgen. Nach dem einschneidenden Gespräch mit Johannes Onkel verbringt Kristeller die Nacht in der klassischen Haltung des Melancholikers: »Ich [...] hatte die Nacht über auf dem Stuhle vor meinem Bette gesessen und die Stirn mit beiden Händen gehalten« (BA 11: 188). — Als weitere explizite und wichtige Variation des Melancholie-Themas muß schließlich die im Erinnerungsbericht Kristellers vollzogene Verbindung des
nicotianae, sind sicher nicht nur als harmloses behagliches Genußmittel zu verstehen. Als sanfte Droge verweisen sie auf eine Form von Selbsterfahrung außerhalb oder jenseits der gesellschaftlichen Anpassung. Deshalb wird im Text auch mehrfach darauf verwiesen, daß dieses Kabinettchen nicht zum »Offizin« gehört. Das Wunderbare, auch tröstend Heilende, das diese Kräuter vermitteln sollen, wird in den noch im 19. Jahrhundert üblichen Volksnamen für die folia nicotianae angesprochen: man nannte sie »Heil der Welt«, »Heiliges Wundkraut«, »Heilkraut«, »Indianisches Wunderkraut«, »Indianisches Wundkraut«, »Peruvianisches Wundkraut« etc. (s. Arzneimittel-, Drogen-, Chemikalien- und Heilkräuter-Fachwörterbuch. Bearbeitet von Karl Heinz Ubertus. Berlin 19374) Die Beziehung zu Südamerika, die durch den Oberst Agonista dann später personalisiert wird, ist also schon hier als Verlockung in eine alternative, lustversprechende Welt angelegt. 72
Freundes mit Shakespeares Hamlet, der wohl berühmtesten literarischen Verkörperung melancholischer Verfaßtheit angesehen werden. Wenn in Kristellers Erinnerung der völlig zerstörte Mördling auf dem »Blutstuhl« sagt »Auch ist heute Methode in meinem Wahnsinn gewesen« (BA 11:194), so wird die in Bilder gesetzte Spaltung in Relation gebracht zu den diversen Spaltungserfahrungen in Shakespeares Drama, zum Leiden Hamlets an den Machenschaften der machthungrigen väterlichen Gesellschaft und der Notwendigkeit eines Doppellebens als Reaktion darauf. Mit dem Auftreten von Agonista selbst innerhalb des Binnenerzählraums der Geschichte tritt das Melancholiemotiv in den Hintergrund, ist mit Agonistas turbulentem Dasein offenbar nicht zu vermitteln. Nur am Ende taucht es noch einmal in bezug auf Kristellers Schwester auf, die als erste Agonistas wildes egozentrisches Treiben und Vorhaben durchschaut hat und »melancholisch« mit dem Kopf schüttelt. (BA 11: 227) Bei einer so auffallenden Dichte direkter Melancholie-Verweise scheint es sinnvoll, auch nach indirekten Verzweigungen des Motivs Ausschau zu halten; man kann schließlich davon ausgehen, daß der Autor - bei solcher Hervorhebung eines Begriffs - Quellen besaß, die für ihn in besonderer Weise sprechend waren. Zu achten ist dabei auf die Selektion des Dichters aus dem ihm vermutlicherweise vorliegenden Material. 29 Seit der Renaissance waren die humoralpathologischen Melancholievorstellungen (nach denen das melancholische Temperament sich abhob vom sanguinischen, cholerischen und phlegmatischen) verbunden mit spätantiken und arabischen astrologisch-kosmologischen Konzepten. Denen zufolge stand die Melancholie im Zeichen von Saturn und, mit ihm per Tradition verbunden, mit Kronos. Der Dürerstich selbst sowie seine Erwähnung in Raabes Text nach Bildern von Himmel, Hölle, Wasser und Erde zeigen diesen Bezug. Verbunden mit Saturn und der Melancholie wurde die Neigung zu weiten Reisen, wie im Meermotiv auf Dürers Stich angedeutet. Man ist versucht, die vielen Über-Wasser-Reisen der Helden v.a. in Raabes späten Romanen in diesen Kontext zu stellen, insbesondere aber die Flucht Mördlings nach Südamerika nach den ihn auch als Namensidentität
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In der Diskussion des Melancholie-Begriffs beziehe ich mich im folgenden v.a. auf die Arbeiten von Panofsky (1943): »Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers« (S. 2 0 6 - 2 2 9 ) ; für die Literatur im engeren Sinn auf Lepenies (1969): »Melancholie und Gesellschaft«, Schmitz (1974): »Melancholie als falsches Bewußtsein«, Schings (1977): »Melancholie und Aufklärung«, Völker (1978): »Muse MelancholieTherapeutikum Poesie«, Wucherpfennig (1981): »Versuch über einen aufgeklärten Melancholiker«, Mauser (1981): »Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts«.
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ausmachenden mörderischen Ereignissen. - Dem Prinzip von Saturn und Kronos wird im weiteren die Verbindung mit Erde, v.a. harter, fester, kalter Erde, mit Stein und mit Geld zugeschrieben. Dementsprechend müßte die schon erwähnte - ja durchaus ungewöhnliche - Thematisierung der Erde in bezug auf Agonistas Existenz, die háufíge Erwähnung von Steinen anläßlich der »Blutstuhl«-Szene, sowie schließlich das zentrale Movens der Fabel in Raabes Text, die Bewegung des Geldes von Mördling zu Kristeller und von Kristeller zu Agonista, auch im Bedeutungsfeld des Saturnischen verstanden werden. Folgt man der Saturn-Kronos-Spur weiter, so wird man schließlich nicht umhinkönnen, in der »Blutstuhl«-Szene und ihren Verweisen auf die »heidnische Urzeit« auch das mörderische Treiben des Vorvaters Kronos zu assoziieren, der seinen Vater Uranos überwältigte und seine Kinder auffraß. 40 Wie Kronos seine Kinder sofort nach der Geburt Rheia, der großen Mutterfigur, wegnahm und verschlang, um nicht durch sie so die Macht zu verlieren wie sein Vater durch ihn, so fordert auf der Bildebene des Raabe-Textes der »Alte« die »frischen Exemplare«, das »winzige, kriechende Ding« aus der Spalte des »Blutstuhls«. Auch das mörderische Treiben der Vorväter Mördlings gerät nun bedeutungsmäßig in den Sog der Mythen vom wilden vorväterhaften Göttertreiben. Daß der Saturn-Mythos dem Dichter nicht nur bekannt, sondern auch aussagekräftig war, läßt sich am Roman »Meister Autor« belegen, den Raabe kurz vor Beginn mit der Erzählung »Zum wilden Mann« fertiggestellt hatte. Saturn wird hier (im »Meister Autor«) zum Bild für den zerstörerischen opferreichen Ablauf von Zeit und Geschichte: Die Jahre sind hingegangen seit dem Tage. [...] Ich habe das Meinige erlebt währenddem - die Welt roch einige Male recht brandig - Saturn entwickelte mehrmals einen gott- oder göttergesegneten Appetit: die Knochen seiner Kinder knackten und knirschten unter seinen Zähnen; es flöß ihm rot an den Kinnladen herab; hier und da lief das Blut [...] in den Ackerfurchen (BA 11: 49)
In diesem Bild konzentriert sich die pessimistische Sicht des Autors sowohl auf individuelle Lebensgeschichte (»Ich habe das Meinige erlebt«) wie auf Gesellschaftsgeschichte, wie sie im Revolutionsbild der blutgetränkten Ackerfurchen an die Marseillaise anklingt. Auch auf der formalen Ebene könnte man schließlich für die Spaltungsstruktur der Raabe-Erzählung eine Entsprechung im Saturn-Kronos-Feld 40
Zu den mythologischen Fabeln s. Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Wien (5., erweiterte Auflage) S. 191 f. und 320. 74
finden. Walter Benjamin verweist im Melancholie-Kapitel seiner Abhandlung über den »Ursprung des deutschen Trauerspiels« - im Anschluß an die berühmten kunstgeschichtlichen Analysen von Dürers Melancholie-Stich durch Giehlow (1903), Panofsky und Saxl (1923) - auf den dualistischen, ja dialektischen Charakter von Saturn/Kronos, von Giehlow sogar als »Dämon der Gegensätze« interpretiert. Benjamin zitiert Panofsky-Saxl: Die KronosVorstellung ist nicht nur dualistisch in Bezug auf die Wirkung des Gqttes nach außen, sondern auch in Bezug auf sein eigenes, gleichsam persönliches Schicksal, und sie ist es außerdem in solchem Umfang und in solcher Schärfe, daß man den Kronos geradezu als einen Gott der Extreme bezeichnen könnte. Auf der einen Seite ist er der Herrscher des goldenen Zeitalters [...] - auf der andern ist er der traurige, entthronte und geschändete Gott. [...] auf der einen Seite erzeugt (und verschlingt) er unzählige Kinder - auf der andern ist er zu ewiger Unfruchtbarkeit verdammt; auf der einen Seite ist er [...] ein durch plumpe List zu übertölpelnder Unhold - und der andern ist er der weise Gott, der [...] als höchste Intelligenz [...] verehrt wird (Benjamin 1931: 327f.)
Die Aufspaltung in einen eher kontemplativ sinnenden, einen zugleich traurigen wie geistigen Helden und einen anderen in mancher Beziehung mörderisch-rohen Typ findet in Raabes Text eine deutliche Entsprechung, wenn auch auf der Komplementarität beider insistiert werden muß, auf ihrer Bedingtheit voneinander. Mit der humoralen Ableitung des Melancholie-Syndroms hängt schließlich das zentrale Motiv des berühmten Likörs mit dem Namen »Kristeller« in der Erzählung Raabes zusammen. Schon als >Likör< (von liquor = Flüssigkeit) verweist er in die humorale Provinienz des Melancholischen; als Magenbitter, der (zumeist bitter wie Gallenflüssigkeit selbst) vor allem bei Gallenproblemen Linderung verschafft, kann er als eigentliches Therapeutikum des Melancholischen, des von »schwarzer Galle« Geplagten gelten. Nicht zufällig erzählt ja Kristeller, daß er bei seinen Anfällen von Schwerblütigkeit und Hypochondrie in der Jugend »verschiedene nerven- und magenstärkende Drogen« aus der »Materialkammer« der Apotheke bezog. Die Apotheke, so scheint es nun, wird zum ausgezeichneten Ort der Melancholie-Therapie. Der schwermütig sinnende Erinnerungserzähler Kristeller hat - so kann gefolgert werden - seine Melancholie für sich produktiv gemacht. Er hat etwas geschaffen, den »Kristeller«, mit seinen persönlichen Ingredienzen und nach seinem Rezept, und dieses Produkt kann ihm selbst zur Therapie dienen, so wie es als bitter-süßer kleiner Helfer auch anderen hilft, den Unverdaulichkeiten dieser Welt zu begegnen. 75
Wenn in Kristeller durch sein erinnerndes Erzählen schon der Bezug zum Dichter-Autor hergestellt werden mußte, so wird man nun im Likör »Kristeller« eine Metapher für das Kunstwerk sehen können. Auch der Autor kann Melancholie produktiv machen, sich und seinen Mitmenschen zur gemeinsamen Therapie. Die enge Verknüpfung von Melancholie und Dichtertum, von Melancholie und Genie datiert bekanntlich schon aus der Antike, wird tradiert mit dem Aristoteles (in den »Problemata XXX, 1) zugeschriebenen Satz »omnes ingeniosos melancholocos esse« (zit. nach Schings 1977: 1). Die Melancholie als Künstler-Melancholie, als »Melancholia Artifícialis« sieht Panofsky zuerst mit Dürers Darstellung verwirklicht, insofern hier die Geometrie mit allen handwerklichen Emblemen ihrer Kunst verbunden werde mit der Konstitutionskrankheit Melancholie. In dieser Melancholiedarstellung sieht Panofsky sich die ganze Künstlerpersönlichkeit Dürers spiegeln. Er verschmilzt und verwandelt zwei große bildliche und literarische Traditionen, die der Melancholie als einer der vier Temperamente und die der Geometrie als einer der sieben Freien Künste. Sie stellt den Typus des Künstlers der Renaissance vor Augen (Panofsky 1943: 229).
Erst von dieser Melancholie-Auffassung her ist das Bild der »Muse Melancholie«, die seit dem 18. Jahrhundert als Inspiratrice poetischwehmütiger Ideen auftritt, denkbar. Ein ganzer Kanon von Dichtwerken beschwört diese neue Muse, viele sicher auch Raabe bekannt, wie z.B. Kellers »Melancholie«-Gedicht, die »Schwermut« von Kautz, von Mörike »Verborgenheit«, von Lenau »An die Melancholie« oder Eichendorffs Wehmuts- und Schwermutslieder.41 Raabe selbst hat - meiner Interpretation nach - diese >Muse Melancholie< schon angesprochen in der frühen Erzählung »Holunderblüte« (1863). Am Eingang einer Todeswohnung findet dort der Arzt-Erzähler einen Abguß »jener sinnenden Muse, die, so anmutig in ihre Schleier gewickelt, das Kinn mit der Hand stützt.« Zweifellos hat Renate Böschenstein (1987) recht, diese Muse der Mutter der Musen, Mnemosyne, anzunähern, ist doch die Erinnerung, das Eingedenken einer der Hauptimpulse Raabeschen Erzählens. Doch der Modus des Erinnerns ist ein melancholischer und die klassische Melancholie-Position vor der Haustür unterstreicht diesen Gemütsfundus. Im Todeszimmer nimmt der Erzähler dann selbst diese 41
Verwiesen sei hier auf die von Völker (1983) herausgegebene Anthologie: »Komm, heilige Melancholie«.
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sinnende Melancholikerhaltung ein, die ihn zur Erinnerung an das Judenmädchen führt. Das Judenmädchen wird nun selbst zur >Muse Melancholien der Erzähler findet sie »träge, doch nicht unzierlich« vor der Haustür, wo auch Dürers Melancholie auf dem Stein sitzt. Dieses Musen-Mädchen »ein armes, schönes, holdseliges, melancholisches Kind« (BA 9,1:103) stirbt im Verlauf der Erinnerungserzählung an »zu großem Herzen« und der Erzähler bleibt trauernd-sinnend im Todeszimmer sitzen mit einem Kranz von Holunderblüten in den Händen. Dieser Kranz stammt von dem gestorbenen jungen Mädchen, dessen Mutter er tröstend aufgesucht hat. Er erinnert ihn aber an das Judenmädchen Jemina Low, das ihm auf dem Judenfriedhof in den Holunderbüschen erschienen war, und an ihren geheimnisvollen Spruch: »Gedenke der Holunderblüte«. Den Leser erinnert im Zusammenhang der Melancholie dieser Kranz an den Pflanzenkranz, den Dürers Melancholie vor der Haustür auf den Stufen sitzend trägt. Wilhelm Raabe setzt den Begriff >Melancholie< relativ selten ein, er fließt ihm nicht wie >Humor< und >Behagen< reichlich und mit verschwommener Bedeutung aus der Feder. In der Erzählung »Holunderblüte« erscheint der Melancholie-Verweis eher indirekt, vorsichtig und ist zu verstehen im Sinne weitgehend der von Sengle herausgestellten Schwermut in der Dichtung der ersten Jahrhunderthälfte. Melancholie ist hier eine noch unspezifische Trauer! die mit Tod und frühen Verlusten zu tun hat. Es ist eine Trauer, die den Dichter inspiriert. - Gibt es Anlaß zu vermuten, daß Raabe in der Erzählung »Zum wilden Mann« ein stärkeres Gewicht auf das MelancholieThema legt? Aber: Nimmt nicht gerade der plakative Hinweis auf Dürer und die Wiederholung des Melancholie-Begriffs diesem Thema hier die tiefere Bedeutung? Zu fragen wäre, ob Raabe sich gerade durch die Benennung explizit in eine für ihn in neuer Weise wichtige MelancholieTradition stellt, indem der Autor im Medium einer Stellvertreter-Figur sich klarzuwerden versucht, ob sein Erzählen nicht einer neuen - nun nicht mehr humoristischen - Erzählhaltung entspricht. Sicher dürfte, wenn es so wäre, die Melancholie nicht v.a. auf persönliche Stimmungen des Autors reduziert werden, auch wenn diese in der Zeit der Abfassung der Erzählung »Zum wilden Mann« aus verschiedenen Gründen melancholisierend gewesen sein dürften. 42 Insbesondere fühlte er sich mit 42
Für den Autor stellte die fehlende Resonanz seiner letzten Werke (»Abu Telfan«, »Der Schüdderump«, »Der Dräumling«, »Christoph Pechlin«, »Meister Autor«) zweifellos eine große Enttäuschung nach den Anfangserfolgen dar. - Im engeren Entstehungsumkreis der Erzählung »Zum wilden Mann« müssen die Sorgen um seine Tochter Gretchen in Betracht gezogen werden, derentwegen Raabe 77
den Erwartungen seiner Leser an sein Schreiben nicht mehr im Einklang, und das betraf auch den Humor. Raabes Insistieren auf »Wahrheit« im Schreiben gerade in den letzten Jahren, sein Wissen, daß es »auf eine genaue Einsicht in die Dinge überall im hohen Grade impertinent ankommt« wie er im »Meister Autor« schreibt (BA 11: 98) - , fand wenig Gegenliebe im deutschen Publikum. Man wünschte sich vom Dichter Raabe weiter humoristische Dichtung (BA 11:454), und das hieß: Dichtung im Stile Jean Pauls und Sternes (s. BA 11: 475), Dichtung mit einem »vollkommenen Schluß« (ebd.) und mit einer klaren Verankerung in »Humanismus« und »Idealismus«, wie nicht zuletzt Jensens Kritik deutlich macht. Raabes Schreiben entfernt sich aber zunehmend vom Humor Jean Pauls und Sternes, hinter seinen poetischen Phantasien stehen andere Lebens- und Gesellschaftserfahrungen. Welcher Art sind die und wie soll man den Begriff der >Melancholie< im Zusammenhang mit diesen neuen Erfahrungen verstehen? Ist es Raabe ernst mit der Einführung des Melancholiebegriffes und bietet dieser eine Hilfe zum Verständnis nicht nur dieses kleinen Werkes, sondern möglicherweise auch für die folgenden Romane, insbesondere die Spaltungsromane des Spätwerks? Beim Bedenken dieser Fragen fällt zuerst auf, wie wenig die MelancholieVorstellung von der Raabe-Forschung beachtet wurde, obwohl Raabes gesamtes Werk, vom ersten Einsatz »Es ist eigentlich eine böse Zeit« bis zum Fragment »Altershausen« durchsetzt ist von - auch auf der Oberfläche erkennbaren - melancholischen Stimmungen, Themen und Figurationen. Das religiöse wie staatlich-politische Melancholieverdikt des 18. und 19. Jahrhunderts scheint bis in die Forschung des 20. eingedrungen zu sein. Wilhelm Jensens Ablehnung der Erzählung »Zum wilden Mann« ist im Grunde eine krasse, beinahe bewußte Exekution dieses Verdikts. Er teilt regelmäßig zu einem Apotheker Kristeller im Harz wandern mußte. So wie die »Akten des Vogelsangs« nicht ohne das Erlebnis vom Tod der Tochter Gertrud zu denken sind, so entstand die Erzählung »Zum wilden Mann« im Zusammenhang auch der Ängste um die Tochter Gretchen, die in der Zeit, als Raabe immer zur Apotheke wandern mußte,an der Roten Ruhr litt. Der schreckliche Name des Felsmassivs »Blutstuhl« wird - so peinlich es manchem auch scheinen mag mit diesem Erlebnis, mit dem blutigen Stuhl des gefährdeten Kindes, zusammenhängen. Raabe ist sich seiner nicht vergesellschafteten Elemente durch diesen Aufstand des Kreatürlichen und durch den drohenden Verlust des geliebten Kindes besonders bewußt geworden. In »Ein Frühling« schreibt Raabe: »In den Büchern, aus welchen wir unsere Moral schöpfen, steht noch viel zu viel von dem Herzen, welches auch Gemüt heißt, noch viel zu wenig von dem, welches ein zuckender, pulsierender Fleischklumpen unseres Körpers ist!« (BA 1: 195) 78
Raabes Schriften in seiner Würdigung in zwei Rubriken ein, in »humoristische« und »schwermütige« Werke. Da für ihn Raabe gerade als Humorist der »tiefsinnigste Dichter unseres Jahrhunderts« ist (Jensen 1879: 111), kann er nur die humoristischen Werke als wertvoll akzeptieren; die schwermütigen - und dazu zählt für ihn eben in besonderer Weise der MelancholieText »Zum wilden Mann« - sind ihm wohl interessant, aber wertlos. Sie entsprechen eben nicht seinen humororientierten Vorstellungen, die weitgehend dem Programm des poetischen Realismus folgen: »das Ergebnis nach Beendigung der Leetüre ist kein erhebendes, das Gemüt bereicherndes, wie jede echte Dichtung dasselbe hinterläßt.« (ebd.: 119). Jensen ist durch Raabes Erzählung - wie wir sahen - so beunruhigt, daß er dagegen protestieren muß (»Auswüchse verbitterter Stimmungen, gegen welche die Dichtkunst um so mehr protestieren muß, je überzeugender sie sich in der Form und im Inhalt darstellen« ebd.: 9), und er formuliert das bekannte Polizeiverbot. Die Interpretation der Erzählung »Zum wilden Mann« konnte zeigen, daß Jensens Verdikt nicht nur am poetologischen Programm der Epoche, sondern auch am preußischen Staatssystem angepaßt ist, und sie konnte andeuten, welche Ängste sich hinter solchen Äußerungen verbergen. Melancholiker als Kritiker waren nie geliebt von den politischen Systemen, wurden verfolgt als Schwärmer, Phantasten, Rückzügler, Querulanten, Liberale, Demokraten und Rebellen, als Vertreter schlechthin von Anomie und Unordnung, wie die Melancholieforschungen von Lepenies, Mattenklott und Schmitz ausführlich nachweisen.43 Die Raabe-Forschung hat sich an dieses Verdikt gehalten. Matschke (1975) zeigt z.B. in bezug auf das von ihm untersuchte Isolationsmotiv den verheerenden Einfluß der Jensenschen Kritik, vermehrt noch um Wilhelm Brandes »Würdigungswerk«. (»Wilhelm Raabe: Sieben Kapitel zum Verständnis und zur Würdigung des Dichters«
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Dabei gilt nicht nur für das 18. und 19. Jahrhundert, sondern ebenso für das 20., daß der Melancholie-Begriff polemisch sowohl gegen Konservative wie gegen allzu Kritische oder im falschen Sinn Kritische gewendet wird. Wird von der eher »rechten« frühen Raabe-Forschung Melancholie als Verstoß gegen >Erhebung< und >Gemüt< geahndet, so verfolgt Benjamin (»Linke Melancholie« 1931) Kästner als bloß modischen Linken, und Adorno (»Erpreßte Versöhnung« 1958) rettet gegen Lukács (1958) Negativität, Leid, Schwermut und Weltschmerz, die aus den Dichtungen von Joyce, Benn, Kafka, Beckett sprechen, als legitimen »Protest gegen geschichtlich produzierte Leiden« (Adorno 1958: 178). Habermas gar fordert in seinem Feature »Verpflichtende Melancholie« diese als adäquate Haltung heutiger Identitätssuche angesichts eines »nicht wiedergutzumachenden Unheils« in deutscher Geschichte.
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1901). Die »Gemeinde« der Leser suchte hinfort in Raabe den »Meister«, den »Moralisten«, den »ethischen Führer«; suchte bei ihm »Lebenshilfe«, »innere Werte«, suchte »Erhebung« und vor allem »Behagen«.44 Angesprochen werden wollte man im »Gefühl« und im »Gemüt«. Dem allen konnte ein humorvolles Werk entsprechen, nicht aber - oder doch nur bedingt - ein melancholisches. Die weitgehende Ausklammerung nämlich politisch-gesellschaftlicher Implikationen im Humor und in der Vorstellung von Humor machte diesen für die Leserbedürfnisse so gut handhabbar und konsumierbar. Melancholie hingegen setzt in der Literatur der Bürgerzeit implizit oder explizit ein kritisches oder leidendes Verhältnis zur Gesellschaft, zum status quo voraus. Das Attribut des Humoristen konnte Raabe seitdem essentiel anhängen, und zwar auch dann noch, wenn man in der neueren Forschung die gesellschafts- und sozialkritische Funktion seiner Literatur analytisch nachweist. Nur der Begriff des Humors wird nun erweitert und ausdifferenziert, wird zum »satyrischen«, »provokanten«, »bitteren«, »emphatischen«, »ironischen«, »spekulativen« Humor. - Da auf dem Feld des Humors den Arbeiten von Wolfang Preisendanz besondere Bedeutung zukommt, soll auf seine Beiträge zur Raabe-Forschung noch einmal im Zusammenhang eingegangen werden. Das Verdienst von Preisendanz' Interpretationen ist es zweifellos, auch in der Humordiskussion (wie schon von Brinkmann und Ohl zu Raabe im Allgemeinen) die forscherische Aufmerksamkeit weg vom Weltbild und hin zum Erzählprinzip zu wenden.45 Humor gilt Preisendanz nicht als lächelndversöhnende, auf Behagen gerichtete Weltanschauung, sondern als ein an Jean Paul und E.T.A. Hoffmann orientiertes diffiziles Erzählprinzip. Humor ist demnach Ausdruck einer »humoristischen Subjektivität«, die im Medium der Sprache Wirklichkeit in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu reflektieren vermag. Dennoch steht - auch wenn Preisendanz es abweist - hinter diesem Humorbegriff ein auf Einheit basierendes Weltverhältnis. Preisendanz schreibt im Raabe-Kapitel seines Humorbuchs (1963): Diesem Humor gelingt es, die dargestellte Wirklichkeit in ihrer Gesetzlichkeit und Zufälligkeit, ihrer Ordnung und ihrem Zusammenhang, ihrer Struktur und ihrer ** Kritisch zur Raabe-Rezeption s. zuletzt Denkler (1987). 45 Damit wird endgültig das Bild vom Dichter Raabe als dem Harmoniestifter verabschiedet, auch wenn es noch gelegentlich durch die Literatur geistert, wie z.B. in Schwenckendieks Aufsatz »Der harmonische Mensch« (1969). Schwenckendiek feiert noch vorkritisch Raabes »Ja zur Welt« aus innerer Ruhe, Behagen, und Gelassenheit als Tugenden des Autors Raabe.
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Erscheinung durchaus zwingend, verbindlich und selbständig zu vergegenwärtigen und dabei doch diese ganze identische Wirklichkeit im Ganzen wie in jedem Punkt zur Sprache einer autonomen poetischen Welterfahrung zu machen. (Preisendanz 1963: 270)
24 Jahre später greift Preisendanz das Thema noch einmal auf im Aufsatz »Provokanter Humor - Wilhelm Raabes >Horacker< « (1977). Noch deutlicher distanziert er sich hier von einer Humorvorstellung des »entspannten Lächelns«, die er als »Verflachung, Verharmlosung, Kastration des Humors bzw. des Humorverständnisses« (Preisendanz 1977:20f.) angreift. Preisendanz knüpft in diesem Aufsatz, der stärker als der frühe Beitrag die Brechungen, Widersprüche und Spaltungsphänomene in Raabes Text herausstreicht, Raabes Humorkonzept an die frühe Humortradition des beginnenden 19. Jahrhunderts an (etwa bis 1828), derzufolge der Humor als »die weltverachtende Idee«, die »große Antithese« (Jean Paul), als »weltverhöhnende Stimmung eines zerrissenen Gemüts« (Heine) aufgefaßt wurde. Schon 1838, so weist Preisendanz nach, habe sich jedoch die Vorstellung vom »weltverhöhnenden« zum »weltversöhnenden« Humor gewandelt, »die humoristische Weltverachtung wandelt sich zum humoristischen Kompromiß, zur lächelnden Kapitulation vor der Misere; und diese Domestizierung und Kastration des Humors bestimmt hoch heute weithin das Verständnis.« (ebd.: 21). Abgesehen nun davon, daß man bei einer solchen Sachlage untersuchen müßte, warum der Autor Raabe - entgegen dem expliziten Verständnis seiner Zeit - ausgerechnet einen ihm zeitlich ferneren Humorbegriff verpflichtet ist, hat diese Zuschreibung etwas Gewaltsames.46 Sie unterschlägt 46
Auch Martini (1985), der den melancholischen Gesamtkomplex in Raabes Werk unter den Begriffen »Weltleid, Schwermut« u.a. anspricht, der die Unvermittelbarkeit von Raabes gesellschaftskritischer Grundhaltung mit dem Programm des poetischen Realismus richtig hervorhebt und der mit Recht gegen Sengles (1971) Vorstellung argumentiert, die »Krise des Idealismus, Unruhe, Schwermut, Zwiespältigkeit und Zerrissenheit« (Martini 1985: 10) kennzeichne nur die Dichtung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor der mißglückten Revolution - selbst Martini stellt schon in seinem Titel dem »Weltleid« doch die »Weltversöhnung« zur Seite. Obgleich er an einigen Stellen seines Beitrags Raabes »vielberufenen Humor« (ebd.: 20) indirekt in Frage stellt, seine oft gezwungenen humoristischen Anstrengungen aufzeigt, endet er doch wieder mit einem (wenn auch differenzierten) Konzept vom versöhnenden Humor Raabes, dessen »Lachen« er nun als »Kehrseite des Weinens« versteht, (ebd.: 21) Auch die Humorstudie von Detroy (1970) begründet den (vielfach differenzierten) Humor letztlich mit der »Einheit der Erzähl-Haltung« (Detroy 1970:122) und der Vorgabe von Totalität: »die Totalität ist ein Element der konstruktiven Funktion des Humors.« (ebd.: 128) 81
unter Hervorhebung des (sicher vorhandenen) Kontinuierlichen und Gemeinsamen die hinter den Erzählhaltungen liegende grundsätzliche Differenz. Denn zwar steht Raabe in der Erzähltradition der Humoristen (v.a. Jean Pauls und E.T. A. Hoffmanns) und versucht immer wieder sicher nicht zuletzt auch aus Absatzgründen - dem Zeitgeschmack zu entsprechen. Gelernt (durch Lektüre und eigene Praxis) hat er von seinen Vorbildern einen differenzierenden, facettierenden, reflexiven Umgang mit Sprache, die ihm zum Medium komplex-widersprüchlicher Welterfahrung werden konnte. Andererseits wird aber die so gehandhabte Sprache auch Medium der Erfahrung von Ausgesetztheit an die Welt, wie z.B. Preisendanz selbst in seiner Interpretation (1982) der »Akten des Vogelsangs« nachweist. Gerade dieser freie, flexible Umgang mit Sprache hat Raabe aber offenbar sensibilisiert und befähigt zu einer fundamental neuen Welterfahrung, verbunden mit einer neuen Vorstellung von Subjektivität. Hinter der von Preisendanz zitierten »Weltverachtung« Jean Pauls und der »Weltverhöhnung« Heines steht immer noch - und hier liegt der gravierende Unterschied zum Autor Raabe - die Vorstellung der Integrität zumindest der eigenen Subjektivität. Das humoristische Subjekt bleibt — wie Schillers tragisches Subjekt - in einem idealistischen Prinzip aufgehoben; gegen den Zerfall der Welt behauptet es sich (satirisch, humoristisch, tragisch oder ironisch) doch in seiner Identität, die ihm durch die Vorstellung eines einheitstiftenden Geist- oder Gottprinzips garantiert ist. Gerade die »subjektive Autonomie«, die Preisendanz für den Humor reklamiert, ist Zeugnis dieser idealistischen Grundverfassung.47 - Am Ende des 19. Jahrhunderts zerfällt aber - wie gezeigt - die Erfahrung einheitlicher Subjektivität, in Freuds Terminologie ist das Ich nicht mehr »Herr im Hause«; Ich-Einheit zerfällt in eine Vielzahl divergierender sozialer, psychischer, biologischer Prozesse. Das Aufkommen von Psychoanalyse und Soziologie, der starke 47
Adornos Erläuterungen dessen, was er die »Schwermut« Becketts nennt, kommt zu vergleichbaren Folgerungen. »Das Endspiel unterstellt, daß Autonomie- und Seinsanspruch des Individuums unglaubwürdig ward [...] Die Position des absoluten Subjekts, einmal aufgeknackt als Erscheinung eines übergreifenden und sie überhaupt erst zeitigenden Ganzen, ist nicht zu halten;« (Adorno 1961: 200). Die Folgen seien »Dissoziation der Bewußtseinseinheit in Disparates, in Nichtidentität« (ebd.: 203) und »Regression auf eine frühe ontogenetische Stufe« (ebd.: 211). Auf dieser Stufe ist Humor unmöglich geworden. »Das Lachen, zu dem es [ = das Stück I.R.] animiert, müßte die Lacher ersticken. Das wurde aus Humor, nachdem er als ästhetisches Medium veraltet ist und widerlich, ohne Kanon dessen, worüber zu lachen wäre; ohne einen Ort von Versöhnung, von dem aus sich lachen ließe; [...] Humor selbst ist albern: lächerlich geworden« (ebd.: 211).
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Neueinsatz psychologisierender Dichtung, die vielen Spaltungsphantasien um die Jahrhundertwende dokumentieren diese Prozesse, die erst in der heutigen Psychologie, Soziologie und Philosophie angemessen aufgearbeitet werden. Wilhelm Raabe hat diese Erfahrung in sein Werk hereingetragen, hat sie versuchsweise in humoristische Redeweise integriert bzw. aus ihr entwickelt. Wird doch gerade der Versuch, sich als autonomes Subjekt in der Sprache zu realisieren, ihm die Abhängigkeit der Subjektivität selbst von fremdem Sprechen deutlich gemacht haben. Mit der pointierten Zentralsetzung des Melancholiethemas in seiner Erzählung »Zum wilden Mann«, die - wie Jensen richtig erkennt - nicht mehr humoristisch zu nennen ist, greift er zu einem anderen, z.T. dem Humor verwandten, z.T. ihm entgegengesetzten Muster. Dieses Muster war nicht neu, bot für das Selbstverständnis des Intellektuellen und Poeten viel tradierte Identifikationsmomente und hatte - wie Wucherpfennig (1981) in seiner Interpretation von Moritzens »Anton Reiser« nachweist - schon im 18. Jahrhundert verstärkt psychologische Erkundungsprozesse in sich aufgenommen. Nicht ist mit Melancholie hier der >Weltschmerz< gemeint, den Sengle in seinem Biedermeierwerk (1971) global als Charakteristikum der Epoche bis zur 48er Revolution beschreibt, 48 nicht eine Schwermut als Ästhetisierung und Emigration ins »schöne Nichts« (Sengle 1971: 231). Die Melancholie dieses Raabe-Textes (wie späterer) geht nicht in süß-sehnsüchtiger Stimmung auf, dunkel und umrahmt von Zypressenbäumen, noch gefällt sie sich im »männlich(en), spröd(en) oder heroisch(en) Ton« (ebd.: 237). Eher ist Raabes Melancholie in die Nähe des von Lepenies zitierten Mertonschen Anomie-Begriffs zu rücken. Indem Lepenies (1969) in seiner Kompensationstheorie die Melancholie im Bürgertum des 18. Jahrhunderts als Folge von Aktionshemmung, von erzwungener Passivität und von Verhinderung politischer Einflußnahme erklärt, hat er die Aufmerksamkeit der Forschung auf den Zusammenhang von Melancholie, Psychologie und Gesellschaftserfahrung gelenkt. Lepenies selbst hat dabei keinen psychologischen MelancholieBegriff entwickelt, sondern bloß einen Reaktionsmechanismus zwischen politisch-frustrierender Gesellschaftserfahrung und Melancholie behauptet. Wichtig für die Interpretation des Raabeschen Melancholiephänomens ist 48
Sengles >WeltschmerzMittelpunktDaß mein Vater nur auf das zu dem Landesorden hinzugestiftete Verdienstkreuz Erster Klasse und den Titel Rat die Anwartschaft besaß, sagt alles über unsere gesellschaftliche Stellung im deutschen Volk.< (»Akten«, BA 19/217) Der Vater erscheint also nicht einfach als Privatperson, sondern als öffentliche Instanz. Er repräsentiert die Werte eines bestimmten gesellschaftlichen Systems und vermittelt sie als die familiären Tugenden der Erziehung, Bildung usw., die sich erweitern und zu dem erwähnten weltanschaulichen Komplex zusammenschließen lassen, in den privaten Bereich. In der Familie herrscht daher uneingeschränkt die Vaterautorität, der sich auch die Mutter, die >Frau Spießbürgern», selbstverständlich beugt. (Jehmüller 1975: 50)
Die vornehmlichen Werte, die Jehmüller für die Biographen durch ihre Väter vermittelt sieht, sind: Traditionalismus, Bildung und Eigentum. Abgesehen von diesen »Ersatzcharakteristika« hält er die Biographen für farblos; sie zeichneten sich v.a. durch Mangel an individuellen Eigenschaften aus, durch den Mangel an Jugend und Spontaneität, Leidenschaft, Entschlußkraft und all jenen Qualitäten, die eine reiche Persönlichkeit erst formen. Greisenhaftigkeit, Leidenschafts- und Entschlußlosigkeit u.a. sind demnach die bestimmenden Attribute des Biographen. (Jehmüller 1975: 56) 59
Die Prägung des Biographen durch den Vater, seine Abhängigkeit von einer vom Prinzip des Väterlichen her gedeuteten Gesellschaft läßt sich, über die ist kleiner Postbeamter, so wie sein Idol, Störzer, Briefbote ist; der Vater Krumhardt ist einfacher Rat, Vater Feyerabend ist Geheimrat. Alle Kinder, das ist festzuhalten, sind mehr als ihre Väter geworden, und damit hat sich der Ehrgeiz der Väter in den Kindern erfüllt. 59 Im Bestreben, möglichst viel Gemeinsamkeiten für die Biographengestalten zu finden, kommt Jehmüller dann allerdings zu manchen Verkürzungen und Fehlurteilen. Schon die Eigentumsabhängigkeit paßt auf Fritz Langenreuter nur sehr eingeschränkt. Noch fragwürdiger wird die Charakterisierung der Biographen pauschal als unauffällige neutrale Personen ohne eigentliches Engagement in die Personen und das jeweilige Geschehnis ihrer Erzählung. Daß sie nüchterne, reservierte Beobachter der Ereignisse seien, stimmt eigentlich für keinen der Erzähler: Weiß Fritz Langenreuter seine Emotionen noch geschickt - durch wissenschaftliches Engagement - zu sublimieren, so ist Eduard schon kaum in der Lage, Stopfkuchen ruhig zuzuhören und flieht am Ende ja sogar vor seinem Freund aufs Schiff, um zur Ruhe zu kommen. Karl Krumhardt schließlich - und das hat die Raabe-Forschung besonders der letzten Jahre deutlich herausgestellt (Ohl, Preisendanz, Emrich) - ist von der Auseinandersetzung mit Velten - im Medium seiner »Akten« - so bewegt und betroffen, daß er an den Rand jeder Fassung gerät. Auch Dr. Feyerabend in »Altershausen« kann nur mühsam mit seinen Erlebnissen fertigwerden.
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Braunschweiger Trilogie hinausgehend, in noch intensiverer Weise für »Altershausen« feststellen. Hier denkt sich der »Wirkliche Geheime Obermedizinalrat Professor und Doktor Friedrich Feyerabend«, der in die Heimatstadt zurückgekehrt ist, um mit Ludchen Bocks Hilfe die Nuß seines Lebensrätsels zu »knacken«, regelrecht in die Vaterrolle hinein. Dieser Prozeß kulminiert in einer Szene, die für den heranwachsenden Knaben sicher den Höhepunkt männlich-väterlicher zivilisatorischer Exerzitien ausmachte, in der Barbierszene. Feyerabend ruft, wie sintemalen sein Vater, nach George, dem derzeitigen Nachfahren von seines Vaters Raseur. >Na, was gibt es Neues in Altershausen, Herr George?< hörte er seinen Vater fragen, und - >einen Augenblick, Herr George, ich bin sofort zu ihrer Verfügung,< sagte er selber [...]; mit der Serviette unter dem Kinn und zurückgelegtem Hals und Kopfe hörte er seinen Vater fragen und fragte ihm nach: >Na was gibt's heute Neues in Altershausen, Herr George?< (BA 20: 260f.)
In der Erinnerung reflektiert das augenblickliche Sein Dr. Feyerabends das seines Vaters in immer neuen Facetten; er muß - wie es dem Leser scheint zwanghaft Vaterwörter bilden (Vater, Vaterhaus, Vaterstadt, Landesvater, patriotische Rarität, Großvater, väterlicher Finger - alles auf 2 Seiten!). Besonders aufschlußreich ist Feyerabends Verharren bei der Erinnerung der Szenen, die ihn ins Verständnis der Weltgeschichte eingeführt haben. Mit dem Finger hat sein Vater ihm Punkte auf Karten und Stichen gewiesen60 und gedeutet, und in Erinnerung dieser Szenen sieht der Greis den »deutenden Finger« auf den Stichen und fühlt die »väterliche Hand auf dem kahlen Schädel« (BA 20:256). Feyerabend erinnert sich auch, daß nach den 48er Ereignissen ihm der väterliche Finger gefehlt hat:61 60
Für ganz außerordentlich bezeichnend für künstlerische Verarbeitungsprozesse im psychosoziologischen Kontext halte ich die Tatsache, daß Raabe, wie er berichtet (BA E 2: 467), durch den »mütterlichen Finger« Welt gewiesen und gedeutet bekommen hat und daß er diese biographische Realität umsetzt in eine väterliche Deutung. In einer dermaßen unter dem Prinzip männlich-väterlicher Normen stehenden Gesellschaft kann Lebensanleitung und -deutung nur im Sinne einer männlichen Perspektive erfolgen, wird, selbst wenn sie von der Mutter erfahren wird, als väterliches Prinzip erlebt und nur als solches vermittelbar. Das bedeutet allerdings nicht, daß diese mütterliche Deutung selbst keine Spuren in Raabes Bewußtsein hinterlassen hätte. Ganz im Gegenteil: Raabes (noch zu zeigende) außerordentliche Sensibilität für das Brüchigwerden des patriarchalischen Paradigmas und das Aufkommen neuer (mütterlich interpretierter) Werte im ausgehenden 19. Jahrhundert hängt sicher auch mit seiner engen Beziehung zur Mutter zusammen, die durch den frühen Tod des Vaters (als Raabe 13 Jahre alt war) noch verstärkt wurde. 61 Bedenkt man die Bedeutung, die das väterliche Prinzip in der Darstellung der
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Als es achtundvierzig in der deutschen Geschichte schlug, war der Vater schon tot und konnte nicht mehr seinem Sohn die Hand auf das Haupt legen, auf die Gegenwart den Finger setzen und aus Vergangenem auf Kommendes hinweisen. (BA 20: 257)
Hier artikuliert sich ein Wissen des Autors Raabe um die Interdependenz individueller und gesellschaftlicher Erfahrung in der Psychohistorie der Subjekte, das seit der Erzählung »Zum wilden Mann« ihn elementar bewegte. Was sind politische Erinnerungen im Wirbelsturm der Erdengeschichte dem armen mitumgetriebenen Menschenkinde, wenn sich ihm nichts Persönliches dranknüpft. (BA 20: 257)
Geht man von diesem Befund aus, daß nämlich Raabe in den Erzählergestalten Figuren geprägt hat, denen, bei aller Verschiedenheit, gemeinsam ist, daß sie - mehr oder weniger bewußt - das Koordinatensystem vertreten, in das ihr Vater sie eingeführt hat, so stellt sich natürlich die Frage, wie es mit den jeweiligen Kontrastfiguren aussieht, in welchen Normen oder Figuren deren gesellschaftliche Prägung verankert ist. Daß diese KontrastHelden allesamt unbürgerliche, ja antibürgerliche Merkmale aufweisen, Sonderlinge sind, wildwüchsige Talente, die von der »goldenen Straße der Mitelmäßigkeit« abweichen, Abenteurer im Leben oder im Geist, wurde schon klar. - Jehmüller vertritt die Meinung, diese Helden seien »von Anfang an allein gelassen von Familie und Gesellschaft« (Jehmüller 1975 : 73), er spricht von einem »Erziehungsvakuum«, dem sie ausgesetzt waren. Diese These ist (in so allgemeiner Form) nicht aufrechtzuerhalten, denn nur eine erfolgreiche väterliche Erziehung fehlt bei den Helden; dagegen stehen
Biographen dieser Romane, möglicherweise aber für Raabe überhaupt hat, so scheint es nicht ohne Belang, daß für den auf dem Wege der Selbstaufklärung befindlichen Dr. Feyerabend die 48er Revolution eine »Kerbe« in der Entwicklung bedeutete. Zum ersten Mal versagte hier das väterliche Deutungsprinzip (symbolisiert durch den Tod des Vaters). Ein neues Deutungsprinzip verlangt nach Sprache, das sich der alten Symbolisierung nicht fügen will. — Der Tod des Vaters stellt so das Ende eines Sinnentwurfes dar, auch wenn de facto sich nach Mißlingen der Revolution in Deutchland nichts geändert hat. Nicht nur Storms und Raabes Werk geben immer wieder Zeugnis davon, daß das Bewußtsein, das Verhalten der Subjekte zum patriarchalischen Diskurs sich verändert hat. Nicht zufällig gehen in den phantasierten Erinnerungen des greisen Feyerabends die Vaterphantasien nach obiger Reflexion in Träume von der schwarzrotgoldenen Kokarde über, »den Fahnen, Glocken, dem Kanonen- und Kleingewehrfeuer, dem flüchtigen Niedersteigen des Reichs der Himmel auf die Erde«. (BA 20: 257)
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aber Mütter oder (im Fall von Justus Everstein und Ludchen Bock) mutterähnliche Figuren als leitende Bezugspersonen neben ihnen. So lebt Justus Everstein (nach dem Tod von Mutter und Vater) unter der mütterlichen Obhut und Vormundschaft der Tante Jule Grote. Sein Vater war keiner von den Vätern, die bei den Jungen »durchgreifen«, er wußte, daß sein Geschlecht auf dem Steinhof sich auf »Hirngespinste und Spintisierereien« (BA 14:59) spezialisiert hat. Auch einen Zusammenhang mit einer jeweils dominanten Frauenrolle in seiner Familie deutet er an: So ist das bei meinem Vater gewesen und bei dem seinen und so weiterfort rückwärts. Immer hat sich noch, wenn die Not am größten war, - ein vernünftig Weibsbild gefunden, dem das Elend jammerte [...] Die Weibsleute haben uns noch immer aus dem blauen Nebel und allen Dummheiten herausgeholt (BA 14: 59).
Mit Justus* Rückkauf des Steinhofs zieht auch Jule Grote wieder dort ein, und dieser Einzug ist für Justus von besonderer Bedeutung, da für ihn die Vorstellung von Heimat, Kindheit, Selbstverwirklichung offenbar eng verbunden ist mit einer mütterlichen Person. Ewald Sixtus, der zweite Held in »Alte Nester«, lebt zwar in einem autoritären Vaterhaus, doch wird das Prinzip der väterlichen Autorität durch die fixe Idee des Vaters, seinen Namen mit der Autorität des Papstes Sixtus V. in Verbindung zu setzen, derart ins Lächerliche stilisiert, daß die verweigernde Haltung des Sohns vorprogrammiert erscheint. Beim Wiedersehen mit dem Vater nach seiner langen Abwesenheit im Ausland aber, nachdem er jahrelang nichts hat von sich hören lassen, erwidert der Sohn Sixtus auf das väterliche Grollen und Pochen auf das Papstbuch: ist denn nicht das verdammte Buch an der ganzen Geschichte schuld? Kann ich denn dafür, daß du mich alle Augenblicke mit der Nase darauf geduckt hast? [... J Um auch meinen Willen durchzusetzen, habe ich gleichfalls jahrelang das Maul gehalten (BA 14: 185).
Stopfkuchen, der Gegenpart zu Eduard im Roman »Stopfkuchen«, steht zwar unter einem gewissen Einfluß seines Vaters und auch des väterlichen Freundes Schwartner; wirkliche Erziehung üben aber die beiden nicht auf Stopfkuchen aus. Dieser selbst kommentiert das Verhältnis Vater-Sohn nach dem Zerwürfnis (der Vater ist, nachdem Stopfkuchen sein Studium abgebrochen hat, es leid, immer weiter für ihn zu sorgen) mit dem Vater so: Der gute Alte! Er hätte freilich für seine dürren Subalternenbeamtengefühle einen strebenderen, einen weniger gemütlichen, einen weniger bequemen, einen weniger feisten Sprößling verdient. (BA 18: 132)
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In seiner Behäbigkeit, Fettsucht und Gefräßigkeit (mit dem Lebenstraum, eine Qualle zu sein) stellt Schaumann so in gar keiner Weise das Idealbild eines deutschen Mannes dar. Nur zu gern schlüpft er unter die Fittiche des ihn und seine Trägheit verteidigenden Mutterwortes: >Er ist so schwach auf den Füßen< seufzte meine selige Mutter, und dieses Wort vergesse ich ihr nimmer. (BA 18: 62)
Auch der erwachsene Stopfkuchen erweckt durch seine oralen und analen Fixierungen häufig den Eindruck eines noch zu bemutternden Kindes. Zentrum seines Wohnens und Denkens ist das Eßzimmer mit einer Koprolithensammlung (!) als optischem Blickfang. Seine Frau, den ehemals kratzbürstigen Wildfang der Roten Schanze, weiß er bald in eine ihn umsorgende und fütternde Marni, deren Hauptsorge das Ersinnen schmackhafter Rezepte ist, zu verwandeln, »nett und fett herausgefüttert [...] in die behagliche Sofaecke niedergedrückt.« (BA 18:107) Kinder hat Stopfkuchen, wie übrigens alle diese Raabeschen Sonderlinge, bezeichnenderweise nicht. Daß der vaterlose Velten Andres in den »Akten des Vogelsangs« ein Kind mit ganz außerordentlich starker Mutterbindung ist, kann nicht übersehen werden und wird im weiteren ausführlich untersucht. 62 Im Fragment »Altershausen« bleibt unklar, wer genau in Ludchen Bocks Jugend die Erziehung leitete (beide Elternteile werden mit leicht erzieherischen Äußerungen genannt). Seine spätere (idiotische) Dauerjugend steht jedoch deutlich unter dem mütterlich-liebevollen Schutz von Minchen, der mit ihm alternden Jugendgefährtin. Faßbar wird die mütterliche Fürsorge Minchens an vielen Stellen, so wenn Dr. Feyerabend Ludchen beobachtet, wie er wegen seiner Verspätung ängstlich nach Hause geht, um zu erfahren, »wer für den Freund da wach blieb in Liebe und Sorge und auf den Greis wartete wie eine Mutter auf ihr Kind.« (BA 20: 253) Später, als das greise Kind am Maienborn den Berg herunterkommt, ruft Minchen besorgt: >Nicht fallen, Junge!< rief Minchen, und der Geheimrat sah seitwärts auf das verrunzelte Profil neben ihm, und wie aus weiter Ferne, von Lesbos her, kam es wie Zitherklang und verhaltenes Schluchzen: >0, süße Mutter, Ich kann nicht weben, Denn Herz und Finger Vor Liebe beben. -< (BA 20: 287) 62
Hier nur vorausdeutend ein zentraler Beleg: Nach der Umsiedlung von einer Mutterbindung zur anderen erklärt er selbst seinem Freund: »Ich habe mich von den Weibern erziehen lassen und lasse mich von den Weibern weiter erziehen. Geh du nur hin; ich bleibe bei den Müttern, bei den Frauen und bei den Mädchen.« (BA 19: 274)
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Ludchen Bock konnte sich gegen Spott und Mißachtung der Umwelt (nach seinem Unfall) nur durch bitterliches Kinderweinen wehren, und gerade dieses Weinen zusammen mit seinem Kinderlachen hat Minchen zu ihm hingezogen, so wie eine Mutter durch Weinen und Lachen zuerst mit ihrem Kind kommuniziert: >Und weißt du, Fritz, das beides ist's gewesen, was mich zu ihm gebracht hat für unser ganzes Leben, sein Weinen und sein Lachen! Ausdrücken kann ich es dir nicht, und ich weiß nicht, ob du mich verstehst; aber gewiß ist es so. Ich habe es an mir gehabt wie er mit dem Weinen und dem Lachen auf Erden, und mit ihm habe ich besonders mit weinen müssen, wenn er weinte, und mit ihm lachen, wenn er lachte. Ich ... habe aber nicht wie die anderen lachen können, wenn es weinte - es, das große ausgewachsene Kind... mein Kind, Fritz, mit dem ich heute noch lache und weine wie vor sechzig Jahren, Fritz! (BA 20: 286f.)
Es soll hier nun nicht die Meinung vertreten werden, daß mit dem Aufweis einer mütterlichen Komponente in der prägenden Entwicklungszeit diese Sonderhelden ausreichend gekennzeichnet seien. Dieses kann nur ein erster Ansatz zu weiterem Forschen sein, das der Bedeutung des Weiblichen als eines Gegendiskurses - in Raabes Werk mehr Aufmerksamkeit widmen muß. In der Interpretation der Gegengestalten, die selbst häufig noch von entsprechenden weiblichen Gestalten umgeben sind (Irene Sixtus, Tine Quakatz, Helene Trotzendorff) ist sich die Raabeforschung sehr viel uneiniger als im Begreifen der Erzählerfiguren. In der Tat ist es sehr viel schwerer, diesen »anderen«, um dessentwillen die Erzählung - auf einer bestimmten Bedeutungsebene — aufgenommen wird, und der für den Erzähler in vieler Hinsicht den Gegenpol seines (aktuellen) Selbstverständnisses ausmacht, in das Sinngefüge des Romans einzuordnen. Diese Unsicherheit und Uneinigkeit erstreckt sich bis auf die Einschätzung der Bedeutung der dem »anderen« zugeordneten weiblichen Figuren: So wird z.B. das Pendant von Velten Andres (Helene Trotzendorff) aus den »Akten des Vogelsangs« von H. Wischniewski (1974) als bloße Staffage für Velten angesehen, von H. Schultz (1979) dagegen als eigentliche Heldin interpretiert, der allein es gelingt, sich zu entfalten, ihre Träume zu verwirklichen, und für die Velten nur eine Station in ihrem Leben ist. Die Figur Velten Andres' selbst, die wohl meistinterpretierte Figur der neueren Raabeforschung, unterliegt denn auch einer zwar vielfältigen, im ganzen aber doch eher tastenden Deutung. Einig ist man sich natürlich, daß es eine Gegensatzfigur zu Karl Krumhardt ist und daß diese Figur dementsprechend gegenbürgerliche Elemente vertritt. Unklar bleibt zumeist, was 102
das genau heißt. Man umschreibt das von Velten realisierte Gegenbürgerliche mit Kategorien wie Selbstverwirklichung, (innerste und absolute) Freiheit, Unabhängigkeit, (unantastbare und zweckfreie) Selbstbestimmimg, Wagnis zur Unbedingtheit, Sich-selber-Treubleiben, an inneren (eigenen) Werten orientiert sein, und faßt das alles gern zusammen mit Raabes eigenem Wort: »Weltüberwindung«. Die Schwierigkeiten in der Beschreibung oder Definition dessen, was Velten Andres ausmacht oder was er darstellt, sind darin begründet, daß immer wieder versucht wird, Velten - bei aller erkannten Kontrasthaftigkeit - dennoch als eigenständige runde Person aufzufassen, als Figur mit eigener »Personalität« im Sinne von W. Emrich (1982), wobei Personalität von Emrich als »primär sittliches Bewußtsein der Unantastbarkeit und zweckfreien Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen« gefaßt wird. (Emrich 1982: 18) In einem Kunstwerk, das - im Sinne Blumenbergs und im Sinne einer diskursanalytischen Interpretation - seine Wahrheit nicht durch Verweis auf anderes jenseits des vorliegenden Kontextes gewinnt, können Personen nicht isoliert betrachtet werden. Nur in der immanenten Konsistenz des Romans selbst als Symbolgefüge haben sie Bedeutung. Die Figur Veltens kann insofern nicht als einzelnes sittliches Bewußtsein interpretiert werden, sondern nur im Zusammenhang mit Karl Krumhardt und den anderen Figuren. Preisendanz hat recht, wenn er Karl Krumhardt als den die Symbolkette initiierenden in den Mittelpunkt des Interesses der »Akten« rückt, die er als »Prozeß der Selbstaufklärung und Selbstdefinition« versteht, wobei für ihn die Rolle des Biographen »nur im Kontext einer aktuellen Bewußtseinskrise eines antagonistischen Selbstverständnisses« (Preisendanz 1981:21) deutlich wird. Nur wenn man diese These weiterdenkt und in Velten die Inkarnation des anderen Teils dieses antagonistischen Bewußtseins erkennt, wird deutlich, was Velten (als Funktion) genau für Karl als Möglichkeit und Bedrohung darstellt und was darüber hinausgehend für den schreibenden Autor Raabe die systematische Aufspaltung eines Gesamtsubjekts in widerstreitende Rollen bedeutet hat. Durch eine - an Lacan und Kristeva anknüpfende - diskursanalytisch orientierte Textinterpretation soll diese Spaltungskonstruktion als bedeutungstragender Doppeldiskurs in den »Akten des Vogelsangs« herausgearbeitet werden. Gerade die in Raabes späten Romanen ausschließlich gewählte Folie einer bürgerlich-väterlich geprägten Perspektive durch den Biographen und Erzähler, die, wie schon angedeutet, die väterliche Prägung deutlich als Bewußtseins- und Weltdeutungsmuster ins Spiel bringt, 103
entspricht der Lancanschen Vorstellung von der konstituierenden Kraft des Symbolgesetzes für das Subjekt. Auch die Thematisierung eines »anderen«, das nicht unter dieses (väterliche) Symbolgesetz unterzuordnen ist, das nach eigener Symbolisierung drängt, wird in allen Spätromanen deutlich, kündigt sich aber - wie gezeigt - schon im Frühwerk Raabes an. Insofern sind die sonderbaren Helden Raabes als Repräsentationsformen neuer, anderer Sinngebung anzusehen, als stets neue Versuche des Ausbrechens aus dem väterlich-symbolischen Deutungsmuster, auf das sie aber, als signifikante Praxis, immer bezogen bleiben. Denn festzuhalten ist, daß der Biograph, der (zumindest als Ausgangsposition) seinen Sitz in diesem Symbolsystem (affirmativ) innehat, Bezugspunkt bleibt. Nie reagieren die AlternativHelden auf ihn; für ihn und sein Selbstverständnis sind sie da, er kann nur auf sie reagieren, da sie Extrapolierungen eines ihm selbst innewohnenden »Anderen« sind.
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2. Wilhelm Raabes Spaltungsroman »Die Akten des Vogelsangs« »Was versteht ihr unter - Herrschaft des Vaters?« »Alles!« führte der Alte aus. »Die Religion; denn Gott ist der Vater der Menschen. Den Staat: denn König oder Präsident ist der Vater der Bürger. Das Gericht: denn Richter und Aufseher sind die Väter von jenen, welche die menschliche Gesellschaft Verbrecher zu nennen beliebt. Die Armee: denn der Offizier ist der Vater der Soldaten. Die Industrie: denn der Unternehmer ist der Vater der Arbeiter!« Franz Werfel1
a. Die »Akten« als thanatographischer Doppeldiskurs In seinem Konzept eines dezentrierten Biographenromans schafft Raabe wie gezeigt - die Möglichkeit einer bildlichen Darstellung gespaltener Subjektivität. - Der Roman »Die Akten des Vogelsangs« bietet sich für die Erarbeitung dieser Gespaltenheit in besonderer Weise an, da schon sein Titel mit den von oppositionellen Konnotationsfeldern umgebenen Begriffen »Akten« und »Vogelsang« die Spannung von gesetzhaft Verwaltetem und spontan Kreatürlichem, den - gemäß Adorno für den Roman überhaupt paradigmatischen - »Konflikt zwischen den lebendigen Menschen und den versteinerten Verhältnissen« erwarten läßt. Durch den von der väterlichen Symbolwelt geprägten Diskurs des Biographen Karl Krumhardt hindurch wird - in der Erinnerung an den toten Jugendfreund Velten Andres und die gemeinsam verlebte Jugendzeit - ein anderer Diskurs ermöglicht, der sich zunehmend als Widerspruch und Bedingung zugleich des ersten zu erkennen gibt. Dieser Prozeß der doppelten Artikulation und Reflexion läßt sich am ehesten mit dem Begriff der »Thanatographie« charakterisieren, den Julia Kristeva von Philippe Sollers übernommen hat. Dieser Begriff soll hier über Kristeva hinausgehend - für das Raabesche MelancholiePhänomen fruchtbar gemacht werden. Philippe Sollers nennt eine solche doppelte Artikulation »Thanatographie«: ein Subjekt schreibt quer durch die Grenze des väterlichen Namens, das heißt quer durch die symbolische Grenze hindurch; es wahrt sie, um mit ihrer Hilfe Bedeutung 1
Motto aus Franz Werfel: Nicht der Mörder, sondern der Ermordete ist schuldig (1920: 207).
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zu erlangen; und es überschreitet sie, um sich quer zu ihr im >imaginären< Prozeß zu piazieren, wo es Subjekt des Todes wird. (Julia Kristeva, 1974/1978: 215)2
Um den Prozeß der »Thanatographie« als wesentliches Erzählerprinzip für die »Akten des Vogelsangs« einsehbar zu machen, muß der Roman einer detaillierten Analyse unterzogen werden. Nur unter Berücksichtigung möglichst vieler bedeutungstragender Elemente sowohl in ihren Aussageimpulsen im einzelnen wie in bezug auf den Stellenwert innerhalb des Symbolganzen kann eine umfassende Neuinterpretation des Romans gelingen. Raabe hat seinen Roman unter das (vieldiskutierte) Motto Chamissos (aus dem »Peter Schlemihl«) gestellt: Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehn, Sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehn.
ein Motto, das (unabhängig davon zunächst, wer oder was hier als Schatten oder Wesen zu fassen ist) Figuren und Geschehen des Romans in ein Spannungsfeld von Sein und Schein, Wesenhaftem und Imaginärem, von Substanz und Erscheinung bringt und das zugleich durch den (aus der griechischen Antike sich speisenden) konnotativen Umraum von »Schatten« als Seinsform der Toten, die Spannung von Leben und Tod impliziert. Der Begriff des Schattens (in Opposition zu Wesen) könnte als Symbol krisenhafter Verunsicherung oder resignativer Melancholie verstanden werden. Der eigentliche Text setzt mit einer Selbstvorstellung des Erzählers ein, aus der (durch prompte Präsentierung von Rang und Titel innerhalb der bürgerlich-hierarchischen Welt) sowohl dessen Platz wie seine Unterordnung unter Wert und Sinnsetzung in dieser Welt zu entnehmen ist. An einem Novemberabend bekam ich (der Leutnant der Reserve liegt als längst abgetan bei den Papieren des deutschen Heerbanns), Oberregierungsrat Dr. jur. K. Krumhardt, unter meinen übrigen Postsachen folgenden Brief (BA 19:213).
In diesem Brief nun, der sich als Initiator der sodann vom Verfasser angelegten »Akten des Vogelsangs« erweisen wird, unterrichtet ihn seine ehemalige Jugendgefährtin Helene Trotzendorff, jetzt Witwe Mungo, vom Tod des gemeinsamen Freundes Velten Andres. Der Brief Helenes erwähnt, bei aller Kürze, die wichtigsten zum Zeitpunkt seiner Abfassung noch lebenden Personen und Räume der gemeinsamen Kindheit und Jugend und enthält zudem eine Kurzcharakteristik des toten Freundes, der als das 2
Philippe Sollers: La science de Lautréamont. In: Logiques. Paris, 1968.
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»große, schlaue Kind« bezeichnet wird, das »immer Ernst aus dem Spaße machte« (ebd.: 214). Velten starb - so erfährt der Leser - im leeren Zimmer bei der Fechtmeisterin Feucht, in seiner ehemaligen Studierstube, und aus der unheimlichen Leere dieser Stube heraus schreibt Helene den Brief. Der thanatographischen Grundkonzeption des Romans entspricht es, daß diesem rahmenbildenden Todesmotiv am Anfang ein ebensolches Motiv am Romanende korrespondiert: Das Hauptgeschehen des Romanausgangs wird bestimmt vom Gespräch des Erzählers mit Helene auf dem Totenbett Veltens, das zeitlich bald nach Erhalt des Briefes stattfindet. Das Romaninnere ist demgemäß als erinnernder Rückgang des Erzählers durch diese Todeserfahrung aufzufassen. Die »doppelte Artikulation« der Thanatographie wird also schon zu Beginn des Romans thematisch und strukturell sinnfällig. Durch den gleich nach der Selbstdarstellung eingeschobenen Brief Helenes kann sich im Roman eine auf eindeutige Perspektivität weisende auktoriale Redeform nicht glaubhaft einführen. Einerseits wird durch die übertrieben deutliche Ich-Vorstellung des Erzählers ein Schreiben aus einem festen normativen Bezugssystem eingeleitet, zum anderen wird Sinn und Ziel des Schreibens verankert in einer Welt, die außerhalb des Biographendaseins besteht (eine andere Person übernimmt das Reden), mit ihm aber über das Medium gemeinsamer Kindheitserinnerungen kommunizieren kann. Schon hier kündigt sich an, daß der Appell, der dann zum Schreiben der »Akten« führen wird, aus einem Bereich kommt, in dem Weiblichkeit und Kindheit einen besonderen bedeutungstragenden Stellenwert haben, während, wie wenig später noch einsichtiger wird, der Symbolkontext des Biographen als väterliche Welt definiert ist. Die Wichtigkeit des - im Brief Helenes angeschlagenen - Themas von Weiblichkeit und Kindheit wird im folgenden durch Variation und Transposition in die derzeitige Welt des Biographen unterstrichen. Zugleich wird dieses Thema einer lebensgeschichtlichen Kreisförmigkeit zugeordnet, die als Reflexionsrahmen alle zukünftigen Einlassungen zum Thema Kind und Kindheit begleitet. Im Anschluß an den Abdruck des Briefes folgt im Roman die Darstellung der Reaktion von Krumhardts Frau Anna auf die Verstörung ihres Mannes. Bemerkenswert ist, daß sie, die im Roman eine eher zweitrangige Rolle spielt, in dieser Eingangsphase die Ereignisse kommentiert: Der Brief sei »entsetzlich«, das Geschehen wirkte auf sie wie »Theater«, denn trotz des Entsetzens sei das Sterben in der leeren Kammer ein »Komödienschluß!«, bei dem »aus seiner Rolle [...] keiner von beiden« gefallen sei. Die anderen Personen werden als »Hintergrund, der auf dem Theater immer dabei« ist 107
(ebd.: 216), aufgefaßt. Dieses Theatermotiv, als erster Kommentar zu den Ereignissen, wird verstärkt dadurch, daß Frau Anna - nachdem der Plan zur baldigen Abreise ihres Mannes nach Berlin gefaßt wurde - den Mann mit zu den Kindern zieht, um sich durch sie ablenken zu lassen: Ich für mein Teil werde morgen diesen unheimlichen Brief bei hellem Tageslicht lesen. Jetzt ist er mir wie ein Stein auf den Kopf gefallen, und ich gehe zu den Kindern. Die Mädchen sind eben aus dem Theater nach Hause gekommen. Das ist in diesem Augenblick meine einzige Rettung nach dieser Lektüre. Der Himmel bewahre sie uns vor zu viel Einbildungskraft und erhalte ihnen einen klaren Kopf und ein ruhiges Herz. >Ganz meine Meinung, liebe Annader Alte< im Sinne der alteuropäischen Tradition auf patriarchalische Herrschaft. Der Alte (geron, senex) hatte politische Führungsqualitäten, ist also - im Gegensatz zum Wunsch-Namen Velten - dem Feld der Tat zuzuordnen. Zum anderen ist - biologisch gesehen - der Alte immer auch der abzulösende. Sollte es Zufall sein, daß der Name Karl im Sinne von alter Mann und Greis auch auf das Prinzip des Saturnisch-Melancholischen verweist und damit zugleich auf das abzulösende Väterliche? In Saturn, dem ältesten der Götter - schreibt Panofsky - trifft sich die Vorstellung von Macht, Reichtum und doch auch vom entthronten, entmannten, grausamen Vatergott, eine Vorstellung, die mit Tod verbunden ist. (Panofsky 1943: 222). 112
Der Name Velten Andres taucht innerhalb der eigentlichen »Akten« zum ersten Mal umrahmt von den Namen Helene Trotzendorff und Karl Krumhardt auf. Eingebettet werden die Namen der drei Nachbarskinder in einen Raum, der durch die Begriffe Nachbarschaft, Kinderzeit und lebendige Hecken (die für den Roman die Bedeutung von Leitmotiven haben) gekennzeichnet werden kann. Die lebendigen Hecken vor und nach der ersten Nennung seines Namens erscheinen zunächst jeweils abgesetzt von Bildern, die deren Zerstörung in der modernen Industriegesellschaft vor Augen stellen, um dann, aus dieser negativen Perspektive heraus, den Blick zu öffnen auf eine Zeit und ein Dasein in einem letztlich intakten Naturzusammenhang. Im ersten Fall hört und reflektiert der Erzähler, daß wieder eine Stadt im deutschen Volk das erste Hunderttausend ihrer Einwohnerzahl überschritten habe, somit eine Großstadt und aller Ehren und Vorzüge einer solchen teilhaftig geworden sei, um das Nachbarschaftsgefühl dafür hinzugeben.« (ebd.: 218)
Es folgt dann der alternative Entwurf: Wir zu unserer Kinderzeit hatten es noch, dieses Gefühl des nachbarschaftlichen Zusammenwohnens und Anteilnehmens. Wir kannten einander noch im >Vogelsang< und wußten voneinander. [...] Auch Gärten, die aneinandergrenzten und ihre Obstbaumzweige einander zureichten und ihre Zwetschen, Kirschen, Pflaumen, Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nachbarschaftlich austeilten, gab es da noch zu unserer Zeit, als die Stadt noch nicht das »erste Hunderttausend« überschritten hatte, und wir, Helene Trotzendorff, Velten Andres und Karl Krumhardt, Nachbarskinder im Vogelsang unter dem Osterberge waren.« (ebd.: 218f.)
Nach der Nennung der Kindernamen schließt sich der negative Rahmen in Bildern zerstörter Natur und Städte an: Bauschutt, Fabrikaschenwege, Kanalisationsarbeiten und dergleichen gab es auch noch nicht zu unserer Zeit in der Vorstadt (ebd.: 219).
und durch diese Rahmenaussage hindurch taucht wieder die Vision des anderen Seins im »Vogelsang« auf. Die Vögel hatten dort wirklich noch nicht ihr Recht verloren, der Erde Loblied zu singen; [...] Wir hatten von ihren Nestern unsere Hecken, Büsche und Bäume voll [...], schössen jeden wackern Kater tot, der [...] herumstieg und von der sämtlichen Käfer-, Fliegen-, Raupen-, Schmetterlings- und Würmerwelt [...] geachtet wurde.« (ebd.)
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Der hier in der erinnernden Darstellung von >Kinderzeit< und »Nachbarschaft erkenntliche Bildaufbau ist nicht nur typisch für viele Raabesche Werke seit der »Chronik der Sperlingsgasse«, sondern kann auch als metaphorisch-modellhafte Konzentration der Gesamtstruktur der »Akten des Vogelsangs« angesehen werden: Aus der Rahmenperspektive einer kritischen Zeit- und Gesellschaftsbetrachtung heraus - oder vielleicht besser: durch sie hindurch - öffnet sich der Blick auf ein anderes, Vorzeitiges, Positives. Während in den Bildern des Rahmens Realität (zumeist die - für den Erzähler - aktuelle) dunkel, destruktiv, zugerichtet oder tödlich, auf jeden Fall leidvoll und naturfern erscheint, verspricht das evozierte andere im Medium erinnerter Vergangenheit Glück, Mitmenschlichkeit, Leben im Sinne einer naturhaften Existenz. Im vorliegenden Roman wird dieser Kontrast personalisiert in den beiden Protagonisten Karl Krumhardt und Velten Andres und erfährt damit eine zugleich gesellschaftliche wie psychologische Dimension. Es erscheint nämlich durch den Anfang des Romans und insbesondere durch die Selbsteinführung des Chronisten »Oberregierungsrat, Doctor juris K. Krumhardt« (wie er sich selbst nach dem ersten Eintauchen in die Bilderwelt der Jugend anspricht) dieser selbst mitsamt seinem Normensystem und dem Todeserlebnis als dunkler zugerichteter Rahmen, durch den hindurch der Blick auf ein anderes, Lebendiges, eben auf die Welt des Velten Andres gestaltet wird. Entsprechend dieser miteinander zu vermittelnden Rahmenkonstruktionen vollzieht sich auch eine gleitende Vermischung, ja In-eins-Setzung der zugehörigen Konnotate. Der Charakter des Inhumanen, der sowohl in den desolaten Bildern der Industriestadt wie in den Bildern der zerstörten Natur hervorgerufen wird, muß nun als ein Charakteristikum auch der väterlichen Gesellschaft und ihrer Sinnentwürfe verstanden werden, denen Karl sich wie seine Einlassungen zeigen - zugehörig und verpflichtet weiß. Schließlich sind die so mißhandelte Natur und die modernen Städte ja Produkte eben dieser väterlichen Gesellschaft. Schon von der Bildperspektive her findet also das thanatographische Schreiben seinen Ausgang, da es ein Schreiben durch die tödliche Welt des Väterlichen darstellt. Das Motiv der Nachbarschaft, als vom Erzähler formulierter Gegenstand seines Protokolls, wird durch die Aufreihung der Namen »Helene Trotzendorff, Velten Andres und Karl Krumhardt« sinnbildlich dargestellt. Diese Aufreihung stellt aber zugleich eine Verengung des Nachbarschaftsbegriffs dar, insofern als die drei Kinder ganz offenbar den Brennpunkt des Nachbarschaftsberichts, das Zentrum der Akten ausmachen werden. Die Reihung der drei Namen in der Zeile nimmt schließlich - neben dem Bild der 114
lebendigen Hecken - eines der Grundmotive des Daseins im »Vogelsang« voraus, das im Bild der auf der Bank sitzenden Kinder sinnbildlich wird. Das Bankmotiv wird später noch einmal bedacht werden. Nach dieser indirekten Charakterisierung der Person Veltens durch Plazierung in einen bestimmten semantischen Kontext (der inhaltlich durch die Werte: intakte Nachbarschaft und lebendiger Naturbezug ausgefüllt wird) geschieht, ähnlich wie bei der Selbstvorstellung des Erzählers, eine weitere Annäherung an seine Person durch Verengung des Kontextradius: Die Figur wird erklärt aus dem Zusammenhang des Elternhauses. Wieder werden die Eltern durch die Kriterien von Rang und Position innerhalb ihres Gesellschaftssystems vorgestellt. Als zentrales soziales Charakteristikum kommt nun das Kriterium des Eigentums als Grundlage des modern-bürgerlichen Lebenszusammenhanges überhaupt hinzu: Wer besitzt, gehört im Vogelsang »vom Anfang an dazu - nämlich zur Nachbarschaft im alten, echten Sinne« (ebd.: 220). Wesentlich für die Gesamtinterpretation des Romans ist dabei die Tatsache, daß Eigentum in den »Akten« vornehmlich als väterliche Angelegenheit eingeführt und erfahren wird. Karls Vater hat »von seinem Vater geerbt und der wieder von seinem Vater« (ebd.: 219). Auch Veltens verstorbener Vater hat sich »eingekauft«, so daß seine Witwe eine Position mitsamt Unterstützungsberechtigung einnimmt, und von daher scheint es selbstverständlich, daß der Nachbar und Familienfreund Krumhardt die Obervormundschaft über die Restfamilie einnimmt. Karls Vater vertritt also bei Velten VaterErsatz. Die Vorstellung von Veltens Mutter gerät dem Erzähler unvergleichlich liebevoller und intensiver als die der eigenen Mutter: In Frau Dr. Andres wird das Urbild einer Mutter gestaltet, einer Mutter, die für jedes Menschenbild da ist. Wie sehr diese Mutter Andres auch für Karl Mutterfunktion vertritt, wie sehr er also auch in diesem Punkt (neben dem »gemeinsamen« Vater) mit Velten eins ist, wird an vielen Stellen deutlich. Erstes Wissen erlangt der Leser über die Frau Andres nicht in Bezug zu Velten, sondern in ihrer Relation zu Karl: Sie hat an meiner Mutter Wochenbett gesessen und gut nachbarschaftlich in meine Wiege gesehen; ich habe an ihrem Sterbelager gesessen und sie in ihrem Sarge gesehen - ebenso gut nachbarschaftlich [...] Zwischen meiner Wiege und ihrem Sarge aber haben so viele gute, liebe, lange Jahre des Zusammenlebens und Verkehrs von Haus zu Haus gelegen, daß wir wahrlich zueinandergehörten (ebd.: 221).
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Frau Andres ist eine Mutter, die nur Liebe geben kann, niemals Tadel oder Zorn, auch wenn die gesamte Nachbarschaft opponiert, wie bei Streichen der Kinder oder in Bezug auf die dunklen Machenschaften des Millionärs Trotzendorff, der Frau und Tochter zurück in den Vogelsang geschickt hat, bis er in Amerika das Licht der Öffentlichkeit nicht mehr scheuen mußte. Amalie Andres versteht alles und vergibt alles, sie macht ihrem Namen Amalie ( = die Liebreiche, die Mütterliche, die Ahne) alle Ehre, auch sie ist das, was ihr Name ist.3 So ist es natürlich, daß auch Karl - nicht nur, aber besonders - in konfliktreichen Situationen sich eher zu ihr als ins eigene Elternhaus gezogen fühlt. Da bot das Häuschen und Stübchen der Nachbarin Andres einen behaglichen Unterschlupf. Es wurde dorten allen Sündern viel leichter vergeben als - bei uns. Ich habe eben wahr zu sein, wenn ich durch diese Blätter bei meiner Nachkommenschaft irgendeinen Nutzen stiften will, und so sage ich, daß auch ich selber mich lieber bei der Mutter Veltens zu den Sündern als bei meinen eigenen Eltern zu den Gerechten zählen ließ. - (ebd.: 234)
Dabei ist Mutter Andres nicht nur eine passive Figur, ein Fluchtpunkt für die Helden. Sie selber verfügt über eine Art unzerstörbarer Kraft. Sie ist die einzige, die gegen die industrielle Umwandlung im Vogelsang ausharrt, die nicht wie die anderen Personen des Romans in andere Lebensbereiche flieht. Sie bewahrt die »grüne Hecke« für ihren Sohn auf, bleibt Mutter auch gegen die Zerstörung der sie umgebenden Gesellschaft. Wann immer im Vogelsang Aufruhr, Angst, Unruhe, Streit oder Tränen sich ausbreiten - Mutter Andres ist nicht aus der Ruhe zu bringen, sie bleibt die einzige auch jetzt dem Vogelsang vollkommen Gewachsene, »unsere Amalie«, seine Mutter, Nachbar Hartlebens Frau Doktorn - die Frau Doktorin Amalie Andres! Im Grunde ist sie doch die einzige von allen, vor der auch mein Vater Respekt hat und auf die er hört (ebd.: 250). 5
Die Herkunft des Namens Amalie ist nicht ganz geklärt, leitet sich zunächst aber aus dem lat. amare a b und hängt zusammen mit unserem Wort Amme, das auf eine indoeuropäische Wurzel am(m)a, ami = Lallwort für »Mutter« zurückgeführt wird. Amalie steht - sprachgeschichtlich - in großer Nähe zum Namen Anna, einem Namen, der ja auch in unserem Roman als »Programm« über einer anderen wesentlichen Mutterfigur steht, so daß deren beider Namen sowohl von der Personen-Semantik, wie vom Lautklang (gewisse Homonymie), wie von der Sprachgeschichte im Begriff des Mütterlichen verschmelzen. Die Wurzel von Anna ist gesichert als indoeuropäische Wurzel an- = »Ahne«, die zunehmend im gesamteuropäischen Bereich die Grundbedeutung von Mutter, Großmutter, Schwiegermutter, Weib angenommen hat. (Prokorny 1959: 36)
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Mit dieser Kategorie der einzigen spätestens wird Mutter Andres als eine dem Vater Krumhardt entgegengesetzte Kraft eingeführt - sonst wird im Text er allein mit diesem Führungs-Epitheton des einzigen ausgezeichnet. So sagt Velten etwa zu Karl über den »gemeinsamen« Vater: Ist er nicht etwa auch heute nachmittag wieder der einzige gewesen, der ganz und gar recht hatte und wußte, was er wollte? (ebd.: 258)
Die hier verwendete Kategorie des/der einzigen ist durchaus dem Lacanschen Begriff des »einzigen Zugs« (tait unaire)6 vergleichbar, da in Vater Krumhardt und in Mutter Andres Personen vorgeführt werden, die durch Namen und Sein als Vertreter grundsätzlich divergierender Sinnentwürfe anzusehen sind. Die Kinder Karl und Velten stellen Subjekte dar, deren Konstitution zunächst jeweils auf Einfügung in das Symbolfeld des ihnen zugeordneten Elternteils beruht. Würden aber beide Personen ganz in dieser Zuordnung aufgehen, wäre der Roman ohne seine spezifischen Konflikte. Krisen in der Entwicklung der beiden, wenn sie überhaupt vorkämen, hätten nichts miteinander zu tun, würden nicht durch das Sein des jeweiligen Freundes reflektiert. Dadurch, daß, wie gezeigt wurde, Vater Krumhardt gewissermaßen auch der Vater Veltens ist und Mutter Andres weitgehend auch die Mutter Karls, wird schon durch die Personenkonstellation verdeutlicht, daß beide Figuren (wenn man sie schon für verschiedene Personen nimmt) jeweils - wenn auch mit verschiedener Gewichtung - den Ansprüchen beider Sinnentwürfe ausgesetzt sind. Mit der Subjektwerdung - im Sinne Lacans - verbunden ist schließlich für das sich ins Symbolsystem eingliedernde Individuum die Erfahrung der >Differenz< als Geschlechtsrollenzuweisung. In der poetischen Konstruktion eines mutterorientierten alter ego mit dem so begehrhaft sprechenden Namen >Velten Andres< gestaltet sich das männlich konnotierte Erzähler-Subjekt einen Zugang zu den Ich-Anteilen, die es in der eigenen Sozialisation im Zuge der Differenzerfahrung von sich abspalten mußte.
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Nach Lacan konstituiert sich das menschliche Subjekt durch Eintritt in die symbolische Ordnung, d.h. in unserer Kultur: durch Identifizierung mit dem Prinzip des Väterlichen. Diese erste, das Subjekt »markierende« Identifizierung nennt Lacan den »trait unaire«, da in Abhängigkeit von dieser Identifizierung das Ich seine imaginäre Ordnung aufbaut.
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b. Figurenkonstellation als Doppelreihenbildung oppositioneller Paradigmen Sieht man sich unter dem Aspekt der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bedeutungsfeld das gesamte Personengefüge7 des Romans an, so stellt man fest, daß alle wichtigen Personen diesen beiden von den »einzigen« Vertretern (Vater Krumhardt und Mutter Andres) inkarnierten Sinnsystemen zuzuordnen sind, sie nur in verschieden intensiver und eindeutiger Weise darstellen. In diesem Sinn lassen sich zwei oppositionelle Reihen von jeweils acht Gliedern aufstellen, in denen die einzelnen Elemente als Substitutionen der anführenden aufzufassen sind. Zwei Figuren (Helene und Leon) wechseln ihre Position, sie werden daher (in Klammern) auf beiden Seiten geführt. Die Reihen beginnen hier im Schema mit dem jeweils »stärksten« Vertreter der Reihe, der zugleich - im Sinne einer Familienchronologie der Gesamterzählung - die Stelle des Ur-Elternpaares vertritt, und enden mit den beiden Personen der Doppelhelden, da zu ihrem Verständnis die Substitutionsreihen führen müssen. 1 Vater Krumhardt Nachbar Hartleben Freund »Schlappe« Mr. Charles Trotzendorff Mrs. Agathe Trotzendorff (Helene Trotzendorff) (Leon des Beaux) Karl Krumhardt
II Mutter Amalie Andres Mutter Krumhardt Anna Krumhardt Fechtmeisterin Feucht Leonie des Beaux (Helene Trotzendorff) (Leon des Beaux) Velten Andres
Im folgenden soll die Doppelreihenbildung im Sinne gegenläufiger Paradigmen näher erläutert werden.
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Es ist schade, daß Dieter Kafitz in seinem Buch »Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung« (1978) sich im Raabe-Kapitel zu einer textübergreifenden (flächendeckenden) Analyse hat verleiten lassen, die dann mit dem resümierenden Aufweis einer »Organisation der Figuren nach Kontrastprinzipien« sowie der Feststellung von »appellativen Gruppen und Außenseitergestalten« (231) nichts wesentlich Neues zutage bringt. Der Ansatz der Analyse von FigurenKonstellationen erweist sich - wie Kafitz' Effi-Briest-Interpretation zeigt wegen der notwendigen Berücksichtigung auch von Kleinstrukturen vor allem in der Einzelanalyse als erkenntnisfördernd.
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Zunächst zur Reihe I. Schon nach dem bisher Ausgeführten konnte deutlich werden, daß die acht Mitglieder der Reihe 1 als Vertreter des väterlichen Symbolgesetzes im schon erläuterten Sinne eines auf Rangfolge, Autorität und Eigentum basierenden bürgerlichen Gesellschaftssystems anzusehen sind. Daß Vater Krumhardt die Reihe dieses Paradigmas anführt und ihr das spezifische Gepräge durch sein bürgerlich-hierarchisches Denken, seine Verwurzelung in Eigentumsdenken, Staatsgehorsam, Leistungsethik und Triebbeherrschung gibt, wurde schon deutlich. Als »tüchtiger Beamter«, Oberregierungssekretär »mit zu dem Landesorden Erster Klasse hinzugestifteten Verdienstkreuz« ist er dem Chronisten, der »selbstverständlich« auch Jurisprudenz studieren soll, lebenslängliches Vorbild. Daß Karl diesem Vorbild mit Erfolg nachgeeifert hat, wird deutlich in der halb selbstzufriedenen, halb selbst tröstenden captatio benevolentiae: Als ein wohlgeratener Sohn, als ein älterer, verständiger Mann, als wohlgestellter Familienvater, als »angesehener« höherer Staatsbeamter erzähle ich heute weiter vom Vogelsang (BA 19: 244).
Vater Krumhardt hat, wie gezeigt, seine Stellung im Kontext der Nachbarschaft im Vogelsang durch Autorität und Eigentum inne, wobei zweifellos die Autorität nicht nur die des Amtes, sondern eben auch die des Eigentümers ist. Wesentlich ist, daß der Besitz von Grund und Haus schon aus Vorväterzeiten stammt, also nicht Zufallsprodukt ist wie die wechselnden Reichtümer aus den Spekulationen des »Gauners« und »Erzschwindlers« Trotzendorff in Amerika. Vor solchen unsoliden Machenschaften warnt er seinen Sohn ausdrücklich: »Junge, Junge, ich rate dir, daß du bei den Grundsätzen deiner Eltern wie bei deinen Büchern bleibst und dich exakt hältst.« (BA 19: 225) Die wenigen aus Amerika kommenden Banknoten des Charles Trotzendorff können seinen Zweifel an dessen Schwindelei nicht beheben, eine »Heimatberechtigung« kann diese Familie nicht beanspruchen. Die Aufgabe seines Eigentums im Vogelsang ist Vater Krumhardt nur möglich aus Rücksicht auf die Karriere seines Sohnes, im Grunde bedeutet sie Eingriff in seine personale Ganzheit, Verletzung seiner Identität, wie sein Kommentar verdeutlicht: »der alte Pelikan hackt sich noch mal die Brust seiner Nachkommenschaft wegen auf.« (BA 19: 321). Nachbar Hartleben tritt (nicht nur durch seine Namensgebung) vornehmlich als Verstärker der Autorität Vater Krumhardts den Kindern und Frauen gegenüber in Erscheinung. Am Ende der Geschichte des Vogelsangs beteiligt er sich an dessen Verwandlung, indem er sein Grundstück zum Bau 119
einer »großartigen Konservenfabrik« verkauft. Hartlebens Grab liegt dann auch dicht neben dem von Vater Krumhardt und Dr. Andres, um die Gemeinsamkeit der Vogelsang-Eigentumshalter noch über den Tod hinaus zu verdeutlichen. Auch Freund »Schlappe«, der Schwager Karls, gehört, wiewohl von Velten vor dem Ertrinken gerettet (zwischenzeitlich »Rat der Regierung« geworden) der Vaterwelt an. Ganz deutlich wird diese Zuordnung während der Begegnung von Velten und Karl mit ihm auf dem Osterberg. Der Erzähler unterstreicht zunächst die Trennung zwischen »Schlappe« und Velten, und entsprechend fällt dann die Begrüßung von Seiten »Schlappes« aus, der beide Freunde deutlich als ein Wesen, gehörig zum Vogelsang mit Mutter (Mama!) Andres als Bedeutungsmitte, anspricht: Siehe da, die beiden Seelenverwandten! Die zwei Inseparables aus der Voliere da unten, eurem Vogelsang. Habe bei deiner Mama über die stadtbekannte, drollige letzte Hecke gesehen, Velten, und mich über die liebe alte Dame wieder einmal recht gefreut, (ebd.: 354)
Daß Familie Trotzendorff im ganzen dieser Reihe zugehört, muß nicht ausführlich belegt werden. Aller Denken kreist um die gehabten und für bald wieder erhofften Millionen, um Reichtum und Pracht. Wie wenig dieser schwankende Reichtum mit Eigentum im Sinne der durch die Nachbarn im Vogelsang vertretenen bürgerlichen Werte zu tun hat, wurde schon aus der Beschreibung von Karls Vater, dessen Weltbild dem von Charles Trotzendorff wohl am stärksten entgegengesetzt ist, deutlich. Nur im Kontext der anderen Werte dieser Gemeinschaft: Bildung, Autorität und Anerkennung von Amtsautorität, und vor allem in der Bindung an Bodenbesitz kann Eigentum identitätsstiftend werden. Alles andere wird als Schwindel, als Gaunerei abgewehrt. Selbst Helene Trotzendorff, die in vielen Aspekten als ganz verbunden mit dem Vogelsang, mit Mutter Andres und v.a. Velten gezeigt wird, äußert als ihren Wunschtraum doch in der Schlüsselszene auf dem Osterberg: daß es für mich wieder so wird, wie ich es drüben gehabt habe in Amerika als kleines Kind, ehe ich hier im Vogelsang ins Elend gebracht wurde, ehe meine Mama mit mir auf dem Arme zu euch hier im Vogelsang ins Elend kam. (ebd.: 259)
Alle diesbezüglichen Wünsche Helenes werden erfüllt werden, der Vater kehrt reich heim aus einem Land, in dem Raabes Helden grundsätzlich Reichtümer ansammeln, und Helene wird selber Millionärin durch Ehelichung des Dollarmillionärs Mungo. 120
Leon des Beaux, ein Geretteter des Velten und in der Jugend ganz dem anderen Bereich von Mütterlichkeit, Erinnerung, Kindheit und Phantasie zugeordnet, gliedert sich am Ende doch erfolgreich in die Vatergesellschaft ein, ist »Kommerzienrat des Beaux« geworden und zählt »längst zu den bedeutenderen Bankiers und Kapitalisten der Reichshauptstadt« (ebd.: 38S).8 Er hat sein bürgerliches »Behagen« gefunden, ein Behagen allerdings, dem Karl am Ende der »Akten« nicht »die rechte Teilnahme entgegenzubringen« weiß (ebd. : 407). Diese gefühlsmäßige Einschränkung gibt sich unscheinbarer als sie ist, wird doch just dieses Leonsche Behagen als die Atmosphäre um den eigenen Herd des Erzählers zitiert, an den er sich am Ende der »Akten« zurückzieht. Das Haus, die Frau und die Kinder! ... Und so gegen Mitternacht am warmen Ofen, in allem Behagen Leon des Beaux', Annas Seufzer« (ebd.: 408).
Es bleibt unklar, ob das Leonsche Behagen nun nur auf Anna und deren folgende Äußerungen anzuwenden ist oder auf das gesamte Leben Karls. Wie auch immer - die Ironie, mit der Kommerzienrat des Beaux' Position und Behagen eingeführt wurden, wird vom Erzähler in die eigene Existenz getragen. Der Grund seiner Behaglichkeit dabei wird von den verschiedenen Interpreten verschieden gedeutet; er muß im Kontext der Gesamtdeutung der Biographengestalt noch einmal bedacht werden. Selbstverständlich täte man Raabe unrecht, wollte man all diese Personen als schablonenhafte Darstellungen eines bestimmten Prinzips erklären. Bis auf »Schlappe« und die Eltern Trotzendorff sind sie durchaus komplex angelegt, vertreten z.B. auch Eigenschaften, die mehr als der anderen Reihe zugehörig gekennzeichnet werden müßten, wie z.B. die liebevolle Verantwortung, die streckenweise durchaus in Rede und Verhalten der Herren Krumhardt und Hartleben zum Ausdruck kommt. Konzipiert scheinen sie jedoch alle nach einem bestimmten Modell, insofern in aller Lebensplan eindeutig die Autorität bestimmter Normen des Besitz- und Bildungsbürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert zur Geltung gebracht wird. Vor allen anderen Werten steht ihnen Amtsautorität, Bildungsstreben, Leistungs- und Besitztrieb. Als dominantes Charakteristikum dieser Personenreihe ist zweifellos die Eigentumsbestimmtheit der Personen anzusehen. Eigentum konturiert und 8
Vater des Beaux spielt im Roman eine sehr geringe Rolle, er ist, wie Leon, eher eine Mischfigur, lebt ein Doppelleben, das gekennzeichnet ist durch den Wechsel zwischen Erinnerung und kaufmännischer Lebensbewältigung. Durch dieses Doppelleben ist auch er als Substitution der Doppelhelden zu verstehen. 121
hierarchisiert also diese Gemeinschaft, Eigentum schafft Zugehörigkeit und out-sidertum, Eigentumsveränderungen im gesamtwirtschaftlichen Sinn verändern die Grundlagen der Gemeinschaft (Industrialisierung und Zerstörung des Vogelsangs), und Eigentumsprozesse auf individueller, sozio-psychologischer Ebene lösen im Roman die zentralen Krisen und Umschwünge (wie später am Motiv der Eigentumsvernichtung gezeigt wird) aus. Entwicklung und Wandel der Eigentumsvorstellung in der bürgerlichen Gesellschaft sind bekannt. Das, was zunächst im sozio-politischen Bedeutungsfeld Selbstgewißheit, Sicherheit, innere und äußere Freiheit in Opposition zu einem Herrschaftsdiskurs (im Sinne autoritärer Vereinnahmung durch Kirche und weltliche Herrschaft) ermöglichte, wird schließlich selbst zum Machtfaktor, zum »Herrensignifikanten«, der den Menschen von sich selbst entfremdet, ihm Selbstverwirklichung gerade versperrt. Im Symboluniversum der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist es das Zentralsystem des Eigentums, das nach der »Entheiligung des Königsbildes«, nach dem großen revolutionären »Vatermord« in Frankreich den ersten Platz im Herrendiskurs der Moderne einnimmt. 9 Die politökonomische Dimension der bürgerlichen Eigentumsstruktur ist von Marx aus proletarischer Perspektive grundlegend kritisiert worden, wird aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch von Teilen des Bürgertums selbst problematisiert. Wilhelm Raabe steht mit seiner Eigentumsproblematisierung hier stellvertretend für die vielen im liberalen Denken verhafteten Intellektuellen, die seit der Reichsgründung sich vom politischen Leben abwenden, weil die Hoffnungen auf Liberalisierung und Demokratisierung, die Forderungen nach sozialen Reformen und die Wünsche nach kultureller Erneuerung in einer starken geeinten deutschen Nation nicht nur nicht eingelöst, sondern geradezu verhindert wurden. — Die Enttäuschung über diese Entwicklung und den Abscheu vor dem nur mit seinem Besitz strotzenden Bürger finden wir beinahe in allen Werken Raabes seit den 70er Jahren. Besonders deutlich artikuliert beides sich in der Vorrede zur zweiten Auflage des Romans »Christoph Pechlin. Eine internationale Liebesgeschichte«, den Raabe wie er hier angibt - vom August 1871 bis zum September 1872 verfaßt hat.
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Zur Analyse und Interpretation historischer Eigentumsvorstellungen s. z.B. Euchner 1973, Rittstieg 1975. Zur Entwicklung des Begriffs >eigen< als sprachliche Dokumentation der Auseinandersetzung individualistisch-selbstbezüglicher Bestrebungen gegen die Vereinnahmung von Kirche und Obrigkeit s. Fuchs 1972.
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Die Wunden der Helden waren noch nicht verharscht, die Tränen der Kinder, der Mütter, der Gattinnen, der Bräute und Schwestern noch nicht getrocknet, die Gräber der Gefallenen noch nicht übergrünt: aber in Deutschland ging's schon - so früh nach dem furchtbaren Kriege und schweren Siege - recht wunderlich her. Wie während oder nach einer großen Feuerbrunst in der Gasse ein Sirupsfaß platzt und der Pöbel und die Buben anfangen zu lecken, so war im deutschen Volke der Geldsack aufgegangen, und die Taler rollten auch in den Gossen, und nur zu viele Hände griffen auch dort danach. Es hatte fast den Anschein, als sollte dieses der größte Gewinn sein, den das geeinigte Vaterland aus seinem großen Erfolge in der Weltgeschichte hervorholen könnte. Was blieb da dem einsamen Poeten in seiner Angst und seinem Ekel, in seinem unbeachteten Winkel übrig, als in den trockenen Scherz, in den ganz unpathetischen Spaß auszuweichen, die Schellenkappe über die Ohren zu ziehen und die Pritsche zu nehmen? (BA 10: 205)
Nicht übersehen werden soll hier das durchaus — für den heutigen Leser problematische Verhältnis Raabes zum Geld und zu Eigentum im allgemeinen, das auch in diesem Ausbruch zum Ausdruck kommt. Peter Sprengel hat in seiner Arbeit »Interieur und Eigentum. Zur Soziologie bürgerlicher Subjektivität bei Raabe« die in Raabes Werk sich vollziehende Entwicklung des Eigentumsdenkens bis zu einer Verabsolutierung quasi romantischer Innerlichkeit aufgezeigt (s. dazu Exkurs zum Forschungsstand). Nicht genügend herausgearbeitet wird von ihm aber das immer in neue Handlungen, Bilder, Konstellationen gekleidete Anliegen Raabes, die Rolle des Fetischs >Eigentum< für die Subjektkonstitution und damit für das Selbstverständnis des (bürgerlichen) Individuums auch kritisch zu analysieren. Für den Zusammenhang der Doppelreihenbildung in seinem Roman »Die Akten des Vogelsangs« ist wichtig zu betonen, daß alle aus Eigentum resultierenden bürgerlichen Rechte und Freiheiten nur den Mann betreffen. 10 Frauen waren lange in vielen Teilen Deutschlands eigentumsunfähig, waren insofern auch keine »Bürger«11 und konnten nicht am Allgemeinen 10
Dieses wird noch heute als eine Art von Selbstverständlichkeit angesehen. So wird ausführlich in den historischen Arbeiten zur Eigentumsentwicklung dargelegt und beklagt, wer alles vom Wahl- und Eigentumsrecht ausgeschlossen werden sollte (Beispiel: Rittstieg 1975:233ff.): Unselbständige, Arbeiter, Dienstboten, Empfänger von Armenunterstützung, Tagelöhner, Handwerksgesellen usw. Die Frau kommt überhaupt nicht vor, obwohl sie die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. " Über das genaue Verfahren in Fragen ehelicher Güterverhältnisse, die Rechte der Frauen betreffend, ist selbst für das 19. Jahrhundert außerordentlich wenig bekannt. Die Rechtsbestimmungen sind da in vielen Regionen sehr vage. Man geht davon aus, daß in Gebieten unter römisch-rechtlichen Einflüssen durch das Dotalsystem (welches Gütertrennung beinhaltete)die Frauen größere Selbständigkeit 123
partizipieren.12 Eigentum ist in langer historischer Tradition ein männliches Attribut 13 und die damit verbundenen Rechte, Freiheiten und Werte sind männliche. Zunehmend wichtig für die Verarbeitung solcher geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung ist aber, daß auch die durch die Eigentumsgesellschaft auferlegten Zwänge und Entfremdungsstrukturen, daß die »verkehrende Macht« des Eigentums, die Pervertierung von Individualität und Kommunikation, wie Marx ausführt, als männlich angesehen wurden, und daß entsprechend gegenläufige Werte, Hoffnungen und Wünsche in weiblich vorgestellten Paradigmen angesiedelt wurden. In dem Maße nämlich, in dem in Raabes Epoche mit dem immensen wirtschaftlichen Aufschwung eine verstärkte Aufspaltung des Bürgertums in Bildungsbürgertum und Besitzbürgertum sich vollzog, 14 also in Kräfte einerseits, für die der Besitz klassisch-humanistischer Bildung als vornehmlicher Faktor von Sozialprestige, von Selbstbewußtsein und kollektiver Identität galt, und eine Schicht andererseits, deren Normen und Werte sich
hatten, wohingegen die deutsch-rechtliche Gütergemeinschaft immer eine starke Bevormundung und Abhängigkeit der als rechtsunfähig angesehenen Frau beinhaltete. Die Untermauerung der Legitimität dieser männlichen Vorherrschaft über die Frau nahm im 19. Jahrhundert, nachdem der Gedanke von Gleichheit und Gleichberechtigung nun einmal publik geworden war, einen nicht geringen Raum im männlichen Denken und Schreiben ein und fand natürlich auch ihren Niederschlag in deutschen Rechtssystemen. So schreibt z.B. Carl Friedrich von Gerber in seinem »System des Deutschen Privatrechts« (1863): »Die Herrschaft des Mannes im Hause im heutigen Rechte (beruht) noch immer zum großen Teil auf einer tieferen Auffassung der Familie und jener sittlichen Kraft, welche der deutsche Volksgeist dieser natürlichen Verbindung beilegt. [...] Es gibt kein Recht, welches das Band der Familie fester schließt, den geistigen Wert der innigsten Familiengemeinschaft tiefer erfaßt und den Frieden der väterlichen Stätte für ehrwürdiger erachtet, als das deutsche.« (zit. nach Ute Gerhard 1978/1981, auf deren Ausführungen über die Rechtsfähigkeit der Frau hier ausdrücklich verwiesen wird.) 12 Erst 1918 wurde in Deutschland das Wahlrecht für Frauen erkämpft, und erst seit 1958 bleibt in Deutschland mit Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes die Ehefrau Eigentümerin ihrer in die Ehe eingebrachten Besitztümer. Noch in der ersten Fassung des BGB waren dem Mann in der Tradition des patriarchalischen Familienverhältnisses im Teil des Familienrechts das Recht auf Verwaltung und Nutznießung der von der Frau in die Ehe eingebrachten Güter zugesprochen worden. 13 Verwiesen werden kann hier nur auf die Matriarchats- und Patriarchatsforschung sowie auf die Forschung zur Rezeption des römischen Rechts durch bürgerliche Rechtsvorstellungen in Deutschland. 14 Dokumente zur sozialgeschichtlichen Krisensituation im Bürgertum s. G. Ritter, J. Kocka (Hrsg.) 1974, Bd. II. 124
allein von der entwickelten kapitalistischen industrie-gesellschaftlichen Lebensform bestimmen ließen, mußte es zu einer Krise zumindest für das Selbstbewußtsein des Bildungsbürgertums kommen, das seine rückwärtsgewandten Ideale zunehmend als Fiktion, als für die praktische Realität irrelevant erkennen mußte. Um diese Krise zu überwinden, wurde die Spaltung affirmiert, mußte den abgespaltenen besitzorientierten und als väterlich empfundenen Normen ein Wertgefühl entgegengestellt werden, das die zunehmend als fragwürdig und unzeitgemäß erkannten idealistischen Bildungsgüter mit einem neuen, zukunftsöffnenden Elan belebte. Der große Einfluß lebensphilosophischen Gedankenguts in Kombination mit neuen Ansätzen psychologischer Welt- und Subjektdeutung stellt ebenso wie die Vorliebe für matristische Paradigmen einen Versuch des Auswegs aus der Identitätskrise des Bildungsbürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert dar. Der nächste Interpretationsteil und der zugehörige Exkurs zum Weiblichen im 19. Jahrhundert werden die Aufspaltung innersubjektiver Erfahrung (als Antwort auch auf gesellschaftliche Spaltungserlebnisse) und ihre Projektion in zwei Rollenkonzepte weiter reflektieren. Reihe II Die zweite, unter der Anführung von Mutter Amalie Andres stehende Personenkette vertritt Werte und Bedeutungsfelder, die, weil sie zunächst dem (nach historischer Erfahrung) patriarchalischen Symbolfeld entgegengesetzt sind, eher mit dem signum »weiblich« gekennzeichnet werden. Die Tatsache, daß auch zwei Männer diesem Bereich zugehören, muß als Signal zur Auflösung dieser Schabionisierung aufgefaßt werden, als Zeichen, daß es hier um menschliche Bedürfnisse überhaupt geht. Die einheitlich mütterliche Komponente der Frauen dieser Gruppe wird vom Erzähler dadurch realisiert, daß er sie alle - in verschiedenem Ausmaß - in Parallele, ja z.T. in Identität mit dem Idealtyp der Reihe, mit Mutter Andres darstellt. Man könnte hier, in Aufnahme von einer Kategorie der Dezendenzforschung - deren sich die strukturale Anthropologie mit Vorliebe bedient - mutatis mutandis von einer matrilinearen Reihe sprechen, die in allen Gliedern dieser Reihe (stärker noch als in der entsprechend patrilinearen Reihe) das reihenbildende Element sichtbar macht. Kennzeichen dieses weiblich-mütterlichen Paradigmas sind unbegrenzte Liebe, Toleranz und Fürsorge, dazu eine Verwurzelung im historisch Gelebten und zugleich in einem tendenziell zeitlosen Naturbereich. Die Notion des 125
Zeitlosen wird bei Mutter Andres einerseits durch ihr Festhalten an der Wohnung und dem Erinnerungsstübchen ihres »Herzensmuseums«, zum anderen durch ihre Verteidigung der »grünen Hecke« gegen die Industrialisierung, kurz, ihr Verharren im Vogelsang im Wechsel der Zeiten dargestellt. Dieser Bedeutungsraum erscheint als dezidiert antifortschrittlich gegenüber dem auf Expansion und Entwicklung gerichteten Prinzip der kapitalistischen Industriegesellschaft. Die Mütterlichkeit der Frau Andres ist keine familiär begrenzte Eigenschaft; wenn sie Mitmenschen gern mit »Kind« anredet, so bedeutet das keine Einschränkung ihres Differenzierungsvermögens, sondern steht für ein individuumübergreifendes Prinzip. Daß sie z.B. Mutter für Karl und Helene wird, tritt allenthalben zutage und wird nurmehr exemplarisch formuliert durch Veltens Äußerung über Helene: daß sie »auch bei uns zu meiner Mutter Kinde geworden wäre« ! (ebd. : 276) Selbst Leonie wird, ohne Mutter Andres persönlich zu kennen, deren Mütterlichkeit zugeordnet, wenn der Erzähler Karl sich wundert »wie gut sie bei seiner Mutter (Veltens Mutter I.R.) Bescheid wußte - damals - und wie sie vom Keller bis zum Dache sich in dem kleinen Hause unter dem Osterberg zurechtgefunden haben würde« (ebd.: 293). Als ausgezeichneter Objekt- und Tätigkeitsbereich so verstandener Mütterlichkeit werden im Roman Kindheit, Kindlichkeit und Liebebedürftigkeit vorgestellt. Mitmenschen werden nicht an Erfolg, Wohlverhalten oder Besitz beurteilt, sondern in ihren gefühlsmäßigen Bedürfnissen erkannt. Insofern ist der Vogelsang, als Raum der Kindheit, Mutter Andres' Bereich; mit ihrem Tod hört er buchstäblich auf zu sein, und Velten, der letzte »Einheimische«, flieht über London nach Berlin zur Ersatzmutter Feucht. Die Fechtmeisterin Feucht, in deren Witwenstübchen Velten - man möchte sagen: übergangslos - (sowohl nach der Schulzeit wie nach seiner Mutter Tod) aus dem der Mutter Andres schlüpft, scheint in vieler Hinsicht eine reine Dublette von Amalie Andres zu sein, »sie und Velten Andres mußten sich im Leben treffen« kommentiert dementsprechend der Erzähler (ebd.: 281). Diese Fechtmeisterin übernimmt im Roman zunehmend die Rolle der Frau Andres, wird so sehr selbst zum Muster des Paradigmas, daß schließlich Frau Andres vom Erzähler ihr substituiert wird, wenn er die beiden vergleicht: in ihrem Stiibchen, in welchem sie unter all ihren Erinnerungen saß wie die Frau Fechtmeisterin Feucht in der Dorotheenstraße zu Berlin unter den ihrigen (ebd.: 324).
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Gemeinsam hat sie mit Frau Andres die familienübergreifende Mütterlichkeit und das beinahe zeitlose Verharren. Dreimal - im Abstand von vielen Jahren - trifft der Erzähler, wie er berichtet, mit ihr zusammen, immer spricht er von der »Greisin«, aber älter wird sie offenbar nicht. Beim zweiten Treffen schon sagt er: »wer sich am wenigsten verändert hatte, das war die Frau Fechtmeisterin Feucht« (ebd.: 306); und Jahre später, nach dem Tod Veltens, als Karl auf Helenes Brief nach Berlin reist, begrüßt sie ihn mit derselben Stimme, die vor Jahren mich so oft freundlich begrüßt und auch dann und wann gar mütterlich gewarnt und gescholten hatte. [...] Nun stand ich wieder so; während in den langen Jahren um mich her nichts an seinem Platze geblieben war, hatte sich hier nichts verändert. [...] Die Frau Fechtmeisterin Feucht allein von uns allen hatte ihr Eigentum noch vollständig beisammen (ebd.: 390f.) Nicht nur Velten, Leonie, Leon und Karl - auch Helene findet bei der Fechtmeisterin eine späte mütterliche Zuflucht, doch Helene muß auch von dieser Ersatzmutter in einem ähnlich bewegenden tränenvollen Abschied sich trennen wie von Mutter Andres; Helene kann nicht bleiben, aber von den Müttern erwartet sie es. Sie kauft sogar das Haus für die Fechtmeisterin auf, damit ihr der Platz sicher bleibt. Für Velten bedeutet die Muttergestalt Ursprung und Ziel seines Seins. So wie das Heraustreten in die Existenz aus dem Bereich der (eigenen) Mutteraura für ihn biologisch wie existentiell Anfang bedeutet, so gestaltet sich sein Ende als Heraustreten aus der Existenz im Rückzug in die Kammer der Fechtmeisterin Feucht. 15 Verstärkt durch den N^men »Feucht« der 15
Interessant im Zuge dieser Interpretation ist schließlich die Tatsache, daß Velten stirbt in der »Dorotheenstraße Numero 0 - Hintergebäude - Frau Fechtmeisterin Feucht« (ebd.: 389). Soll die 0 bedeuten, daß er zum Ausgangspunkt seiner Lebensreise zurückgekehrt ist, oder zeigt sie an, daß diese Mutterhöhle ganz außerhalb, oder besser : vor jeder Maßsetzung im System des väterlichen Symbolgebäudes steht? - Interessanterweise erläutert Lacan die Subjektkonstitution, die durch den »trait unaire« geschieht, im Bild der zahlenmäßigen Fortschreibung. Ein Individuum markiert auf einem Gegenstand (oder sich selbst eventuell tätowierend) eine Kerbe, um zu zeigen, daß es ein Tier getötet hat. »Das Subjekt selbst zeichnet sich durch diesen einzigen Zug aus, und zunächst markiert es sich als Tätowierung, der erste der Signifikanten. Sobald dieser Signifikant, die Eins, instituiert ist - ist es möglich ein Eines zu zählen. Das Subjekt situiert sich als solches auf der Ebene des Zählens.« (Lacan, Sem. XI: 148) Wenn der einzige Zug, die Eins gewissermaßen, fehlt, so fehlt die Funktion des Vaters, der Name des Vaters. Es fehlt damit das ganze Zuordnungssystem der symbolischen Ordnung. Das Individuum ist in psychotischen Zuständen. Die 0 ist vor der Eins (1), sie ist keine Zahl, und doch funktioniert unser ganzes Zahlensystem nicht ohne sie, sie ist die Grundlage, von der aus erst gezählt werden kann. Dorotheenstrasse 127
Ersatzmutter bekommt dieser letzte Akt die Bedeutung einer Reuterination. Velten wird wieder das kleine Kind, das zurück in die Mutterhülle strebt. Jaja, Herr Oberregierungsrat, in dem Augenblicke habe ich den Mann du genannt, als hätte ich ihn wie ein Kind auf dem Arme! (ebd.: 393)
erinnert sich die Fechtmeisterin an Veltens letzte Rückkehr zu ihr. Velten gibt ihr seine ganze Habe (Geld aus aller Welt) und löst sich so von den letzten Bezügen zur bürgerlichen Gesellschaft. Verstärkt wird die Bedeutung von Regression weiter durch das Motiv der Kinderspielsachen, die Velten sich an sein Lager bringen läßt, denn er mag hinfort lieber liegen als gehen. Auf seinem alten Studentensofa und seinem Bett hat er gelegen und den lieben langen Tag und auch manchmal die Nacht durch gelesen, alles, was ihm einmal gefallen hat in seiner Kindheit und Jugend, und immer aus den alten, schmierigen, ekligen, zerrissenen Bänden von Olims Zeiten. Brachte ich ihm ein neues Exemplar, ließ er's liegen und meinte: >Mutter Feucht, das ist das rechte nicht.< (ebd.: 394)
Bis in die Vorliebe für »schmierige« für die Erwachsenen »eklige« Dinge geht der Regress in frühkindliche Phasen. Von diesem Lager steht Velten nicht mehr auf; »eigentlich so recht krank ist er gar nicht gewesen; sein Herz hat nicht mehr gewollt.« (ebd.: 395) Nur Leonie, die nun auch in mütterlicher Funktion ihm zugeordnet ist, darf ihn ablenken, indem sie - wie wohl früher seine Mutter - ihm Lieder singt und von vergangenen Zeiten erzählt. Doch die Bedeutung der Fechtmeisterin Feucht im Gesamtgefüge des Romans erschöpft sich nicht in dieser reinen Substitution; sie stellt zugleich eine Spaltung wie eine Erweiterung des Mutterparadigmas dar. Auffallend ist ja, daß ausgerechnet diese Mutter-Frau mit einem so streitbaren Titel wie »Fechtmeisterin« (häufig ohne Verwendung des weiteren Namens) angeredet wird, und daß sie zudem umgeben ist von zwei sanften Kreaturen Nr. 0 steht für das Prinzip des Mütterlichen, für ein Leben im Bereich der semiotischen chora, der narzißtischen Befriedigungen. Diesen Bereich ganz auszuklammern, bedeutet die Unmöglichkeit, sich im Zahlensystem des Symbolgesetzes zurechtzufinden. Ohne die 0 verzählt man sich, oder man kann gar nicht anfangen zu zahlen. Doch nur in diesem Bereich der 0 kann der Mensch als Mitglied unserer entwickelten Gesellschaft auch nicht verbleiben, da er weder zu seinem Körper noch zu seiner menschlichen Umgebung ein - für ihn - sinnvolles Verhältnis findet. Ihn geht nichts mehr, im wahren Sinn des Wortes, an. Er ist absolut desorientiert. Natürlich kann man solche Reflexionen nicht rückübertragend Raabe zuphantasieren. Eine gewisse Parallele in der Weise der Veranschaulichung verwandter Gedanken über Jahrzehnte hinweg braucht aber durchaus nicht ausgeschlossen zu werden, wenn sie eingebracht wird in ein Nachdenken über Grund und genaue Struktur dieser Verwandtschaft. 128
mit Löwennamen: Leon und Leonie. Was findet Velten (und mit ihm Karl) bei dieser Frau, das nicht auch seine Mutter ihm hätte geben können? Warum erfindet der Autor Raabe eine zweite Muttergestalt? Nachdem Veltens eigentliche Kindheit (nach gesellschaftlichen Maßstäben) abgeschlossen ist, wechselt er über nach Berlin. Die Verhältnisse, die er dort »treffen muß«, stellen in starkem Maße eine Spiegelung der Verhältnisse im Vogelsang dar: Wieder findet er, wie gesagt, eine Mutterfigur mitsamt einer Mutterhöhle, einem Witwenstiibchen (der Mann ist also auch hier ausgeklammert); wieder stellt diese Mutter das Zentrum der ihn auch sonst angehenden Personen dar, die wiederum ein junger Mann und ein junges Mädchen mit einer väterlichen Hintergrundsfigur (Vater des Beaux) sind. Wieder leben diese jungen Leute in (matrilinearer) Geschwisterlichkeit zusammen, auch wenn zwischen Velten und dem jungen Mädchen Möglichkeiten zärtlicher Zuwendung angedeutet werden (dieses Mal eher von Seiten der Frau), die aber - genau wie in der VogelsangKonstellation - man möchte sagen: eben wegen der Geschwisterlichkeit nicht ausreifen können. Wieder findet schließlich das Leben dieser Gruppe, mit dem Zentrum der Mutterfigur, vornehmlich in phantasiegeleiteten Betätigungen statt, die, im Gegensatz zum Vogelsang, nun allerdings (altersgemäß) nicht mehr in Spielen und Streichen sich äußern, sondern in Exkursionen in die Vergangenheit. (Daß auch das Leben im Vogelsang stark von Vergangenheitsphantasien geprägt wurde, wird durch die die Kindheitsphase einleitende Episode vom Nachspielen des Tods des Alkibiades verdeutlicht.) Das Berliner Leben nun steht beinahe ausschließlich unter dem Zeichen der Vergangenheit, äußerlich dokumentiert in den musealen Interieurs der Witwe Feucht und der Schneiderfamilie des Beaux. Im »Witwenstiibchen« der Fechtmeisterin Feucht wird durch Aufrechterhaltung der Erinnerung und Ehrung burschenschaftlicher Aktivitäten der für den Erzähler - näherliegenden Vergangenheit gedacht: in ganz Deutschland gab es kein Witwenstiibchen, das diesem glich. Mitten in diesem Berlin diese ganze deutsche Jugend, soweit sie sich in Jena und auf ihren Verbindungsbildern zusammengefunden hatte! Alle Wände damit bedeckt; - dazwischen, wo nur ein Räumchen, alles voll von Schattenrissen mit allen Couleuren an Mütze und Band. Waffentrophäen statt des Spiegels, Schläger und Stulpen und was sonst dazu gehört, wo nur noch was aufzuhängen war. (BA 19: 281)
Die kämpferische Grundhaltung verdichtet sich in der Gestalt des Fechtmeisters Feucht aus Jena, der Stadt, deren Universität als Ursprung der Burschenschaftsbewegung, zur Trägerin nationaler und liberaler Bewegungen in Deutschland wurde, und von der aus das Wartburgfest mit seinen 129
Forderungen nach sozialer und politischer Emanzipation aller Stände veranstaltet wurde. Die Fechtmeisterin Feucht unterstreicht die kämpferische Sinnmitte ihres Kleinmuseums, wenn sie (gerade) Karl ihre Photos erklärt mit den Worten: Es sind ein paar gute Klingen drauf, die unser Herrgott nötig gehabt hat; und da haben wir den Schleifstein ihm mit gedreht; das heißt nämlich mein Seliger! Ich habe nur an ihm und euch jungen Leuten meinen Spaß - Gott verzeihe es mir! - (ebd.: 282).
Indem die Witwe unter dem Titel »Fechtmeisterin« festhält an der vergangenen »Burschenherrlichkeit«, gibt sie diesen Kampfgeist weiter.16 Durch Erweiterung des von Mutter Andres eingeleiteten mütterlichen Paradigmas um diese ganzheitliche kämpferische Dimension wird sowohl der Bedeutungsbereich von Kindheit und Jugend, der ihr zugeordnet wurde, wie auch der des Beharrens um wesentliche Sinnperspektiven erweitert. Die Wendung zu Kindheit und Jugend wird über die Erinnerung einer individuell-familiären Phase hinweg zur Anknüpfung an eine jugendlich unerschöpfte Phase bürgerlicher Entwicklung, symbolisiert durch die deutsche Jenaer Jugend. In diesem Sinne ist das nicht fortschreitende Altern der Witwe Feucht ebenso wie das Höhnen Veltens in Berlin zu verstehen als Erforderung einer Erneuerung bürgerlichen Bewußtseins und bürgerlicher Praxis. >Das ist recht, Frau Fechtmeisterin [...] renommieren Sie nur dem alten Manne da [Student Karl Krumhardt! I.R.] mit Ihrer Jugend. Er kann's gebrauchen.« (ebd.: 282)
Die andauernde Jugend der Fechtmeisterin erweist sich als Offenheit nach innen und als erinnerungsmäßiger Anschluß an kämpferische Ansätze bürgerlicher Selbstverwirklichung, während das »Alter« Karls (in diesem Sinne unterstreicht Jehmüller zu Recht die »Greisenhaftigkeit« des Erzählers), die Grundbedeutung seines Namens (s. Anm. oben), als kampflose Unterordnung der politisch passiven Generation des wilhelminischen Bürgertums unter den Geltungsanspruch verfestigter Normen darstellt. Die beiden Erinnerungsstrukturen gemeinsame kämpferische Notion, die sich im Falle der des Beaux gegen orthodox-autoritäre, im Falle der 16
Daß solcher Kampfgeist aus dem Zentrum intensivster Weiblichkeit nur phallisch vorgestellt werden kann (Fechtklingen), muß bei einem männlichen Autor in einer von männlichen Phantasien dominierten Kulturwelt nicht weiter verwundern. Es ist schon erstaunlich, wie weit der Autor sich in das weibliche Paradigma hereinphantasiert hat.
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Fechtmeisterin gegen restaurativ-repressive Mächte wendet, verbietet es, Raabes hier gestaltete Erinnerungsphantasien vornehmlich als Wirklichkeitsflucht anzusehen, da diese Mächte (wenn auch in verwandelter Form) unvermindert die politische Realität seiner Zeit, der Gründerzeit, prägten. Sicher wird in keiner »lebenden« Figur des Romans ein Muster revolutionären Heldentums vorgeführt, doch die Ausstattung der zentralen Wohnstube - dem Zentrum bürgerlicher Innerlichkeit - mit »Waffentrophäen statt Spiegeln« wendet sich dezidiert gegen eine Vorstellung von Kunst (denn als solche ist in gewisser Weise auch das Erinnerungswerk der Fechtmeisterin anzusehen), die sich im Spiegeln eben dieser deutsch-familiären Innerlichkeit erschöpft. Der Innenraum wird durch die kämpferischen Konnotationen der Fechtmeisterin und der Löwenkinder Leon und Leonie zumindest appellativ geöffnet zur Gesellschaft. In diesem Sinn sagt Folkers zu Recht: •Die Fechtmeisterin [...] repräsentiert zum letzten Mal ein vergangenes Bürgertum, das der politischen Öffentlichkeit sich noch nicht völlig verschlossen hatte (Folkers 1976: 114).
Die Einschränkung von Folkers, daß durch das stagnierende Alter der Fechtmeisterin die Tatsache der Perspektivelosigkeit beschrieben würde, wäre aber noch zu diskutieren. Raabes Romane sind Beispiel dafür, wie wenig für den modernen Helden überhaupt die kämpferischen Muster klassischer Helden noch Gültigkeit haben, wie sehr kämpferische Emanzipation in nachhegelscher Zeit sich zuerst vollziehen muß in radikaler Selbsterforschung der Subjekte, in Aufdeckung von Herrschaftsstrukturen im Innern der Personen selbst und in ihrer Rede und in der Suche nach Lebensentwürfen, die solche Herrschaft auflösen. Die Sprache wird so zum eigentlichen Ort der Handlung, und die oft beschworene »Krise des Helden« Reinhardt (1960) wird zur Krise des Erzählens (s. dazu Eisele 1984). >Passivität< als signum des >modernen< Helden17 kann sich nur auf den äußeren, handlungsmäßigen Habitus 17
Wegen der zunehmenden Verlagerung der äußeren Handlung zur inneren Handlung galt >Passivität< in der gesamten Romantheorie des 19. Jahrhunderts als Zeichen des modernen Helden. F. Th. Vischer schreibt z.B. »der Roman trägt in weit engerem Sinne den Charakter des Sittenbildlichen, als das Epos; der Held ist nicht handelnd, er macht auf dem Schauplatz der Erfahrung seinen Bildungsgang, worin die Liebe ein Hauptmotiv ist und Conflicte der Seele und des Geistes an die Stelle der That treten. Die Auffassung ist daher ungleich mehr, als dort, auf das Innere gerichtet« (F. Th. Vischer, Aesthetik Bd. 4:1307). Auch für Lucács gehört die Passivität des Helden mit zu den Gnindcharakteristika des bürgerlichen Romans, gipfelnd in Gontscharows Erfindung des absolut passiven Oblomov. (s. Lucács 1916/1965: 123)
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beziehen; die Verlagerung der Krisen, Oppositionen, Konflikte in den Erzähldiskurs selbst kommt dadurch nicht in den Blick.18 Doch zurück zu den weiteren Vertretern der zweiten Personengruppe. Die Teil-Identität der Mutter Karl Krumhardts mit Frau Andres wurde schon bezüglich beider Mutterfunktion verdeutlicht. Auch Karls Frau, Anna Krumhardt, deren Namen Frau- und Muttersein an sich symbolisiert, ist dem Prinzip des Mütterlichen zweifelsfrei zuzuordnen. Insofern Anna aber den Begriff des Eigentums, der zum Grundsignum der » Vater«-Reihe gehört, wiederholt auf von ihr geliebte Menschen, v.a. die Kinder, anwendet, kommt ihr als Vermittlerin zwischen beiden Paradigmen eine besondere Rolle zu, die noch weiter bedacht werden muß. In gewisser Weise stellt sie - bezogen auf das Raster der beiden Reihen - eine spiegelbildliche Variation von Helene dar. Denn so wie Helene trotz ihrer Grundposition in der väterlichen, auf Besitz und gesellschaftliche Anerkennung ausgerichteten Reihe, in eine gewisse Zuordnung zu Velten posiert ist, so nimmt Anna, die v.a. in ihrer Mutterrolle in Erscheinung tritt, ihren Platz neben dem mehr der väterlichen Gruppe zugeordneten Karl ein. Die Zuordnung der Geschwister des Beaux zum mütterlichen Bereich der Fechtmeisterin wurde ebenso wie Leonies (innere) Verbindung mit Mutter Andres schon hinreichend deutlich. Die geschwisterliche Ähnlichkeit aller jungen Leute wird exemplarisch verdeutlicht in der inneren Verwandtschaft Leons und Veltens, wie sie z.B. Leonie unter Hervorhebung des Mustercharakters von Velten beschreibt: Ihr Herr Freund und mein armer Leon passen zueinander wie Hand und Handschuh. Herr Andres ist freilich die Hand, (ebd.: 287)
Leon findet in Velten einen »gleich ihm verlaufenen Genossen« (ebd.: 293) und schläft schließlich in Veltens Bett unter dem Dach der Mutter Andres, der »Stammutter« dieser geistig-symbolischen Familie. Durch die Deutung dieses zweiten Bruder-Freunds gibt der Erzähler zugleich eine Vordeutung von Veltens Schicksal: Er, Leon, hat es noch nicht recht gelernt, den Traum und das Leben auseinanderzuhalten, und kommt also nur zu oft wie ein geschlagenes Kind nach Hause (ebd.: 289).
Beide Geschwister gehen als Personen auf in der Spiegelung verschiedener Seiten Veltens 18
»Nicht mehr von einem Helden handelt die Erzählung, sie handelt von sich selbst anhand eines Helden.« (G. Zeltner-Neukomm 1971/72: 12f.) 132
Kein Hund und keine Liebende konnten [...] besorgt-freudiger auf jedes Wort [...] bei jeder Lebenskomödienszene passen als Leon und Leonie des Beaux auf alles, was Velten Andres sagte und tat oder - nicht sagte und nicht tat. (ebd.: 293)
Leonie wird Velten spiegeln durch ein Leben in Eigentumslosigkeit und Leon durch Ausbildung allseitiger Fähigkeiten. Homonymie und Synonomie der Figuren verweisen auf die einheitliche Position, die sie - als Signifikanten im Gesamtgefüge der Referenzen einnehmen. Die Ambivalenz der Figur Helene in der Paradigmenzuordnung wurde schon angedeutet durch ihre Bindung einerseits an die Mutterfiguren und ihre Fixierung andererseits auf den väterlichen Reichtum. Entgegen allen üblen Meinungen im Vogelsang hält sie an dieser Vaterbindung fest: »Und ich glaube doch an meinen Vater! Ihr mögt alle sagen, was Ihr wollt.« (ebd.: 256) Welche Bedeutung hat nun diese schillernde von der Raabe-Forschung so kontrovers gedeutete Person? Durch ihren Namen verweist sie auf die schöne, attraktive, die Männer betörende und ins Unglück stürzende Helenin. Will Raabe ihre Liebe zum Geld als das männerverführende Unglück der Bürgerzeit darstellen? Abzuweisen ist diese Deutung sicherlich nicht. - Doch für Velten, der Helene als »Prinzessin« (ebd.: 246), als »Zeustochter«, als »Himmelskröte« (ebd.: 315) tituliert, kann ihr Zauber nicht in dieser (besitzbezogenen) Eigenschaft liegen. Die von Zeus und Leda abstammende antike Helena ist durch drei weitere Merkwürdigkeiten in der klassischen Sage gekennzeichnet: einmal durch ihre verschiedenen Entführungsgeschichten (denen in Raabes Roman ihre permanenten Reisen über die Meere entsprechen könnten), dann durch die Verehrung, die ihr als Vegetationsgöttin, insbesondere im Baumkult entgegengebracht wurde (im Roman korrespondiert damit die Verkletterungsszene im Baum sowie ihre ganze Zugehörigkeit zu der mütterlichen, naturnahen Welt des Vogelsangs), schließlich durch das Faktum ihrer Bindung an Menelaos zu dem Zeitpunkt, als Paris um sie freit. Auch dieses letzte Merkmal läßt sich auf den Roman übertragen: Helene ist für Velten nicht frei - schon zu dem Zeitpunkt, als er in Amerika um sie freit. Auf der Ebene der sie betreffenden Bedeutungswerte ist sie für ihn nicht frei, da sie einen reichen mächtigen Mann und einen Vaterersatz haben möchte, und das beides kann Velten ihr nicht geben. Aus der Perspektive des Velten/Paris muß mitgedacht werden, daß Velten in Helene im Grunde einen Ersatz für seine Mutter sucht, die Mutter ist aber für den Sohn immer schon vergeben, an den Vater nämlich, und in der Tat ist Helene ja an eine Vaterfigur 133
(sozusagen) vergeben, sie wird den Millionär Mungo19 heiraten. Die Identität von Helene und Mutter Andres schließlich wird zu Beginn des Romans, noch bevor Helene und Mutter Andres konkret eingeführt werden, vom Erzähler suggeriert durch die Bemerkung Wie muß ich heute mit Helene Trotzendorffs Brief vor den Augen daran denken, wie schön die Mutter Velten Andres' die Welt sah! (ebd.: 223)
Wenn Helene dem Erzähler in Veltens Totenkammer von beider Vereinigungsversuche berichtet, knüpft sie dabei an mythisch-matriarchalische Visionen von Urmüttern sowie an überhistorische Bilder geschlechtlicher Verfallenheit an. Helene, deren Schicksal ihr an der Wiege von »den Müttern viel weiter hinabwärts« (ebd.: 328) gesungen wurde, beschwört vor dem Erzähler diese Verfallenheit, gegen die Velten sich vergeblich - zuletzt mit dem Goethe-Zitat aus der »Ode an Behrisch« - zur Wehr gesetzt hat. >Wie wir uns sträuben mochten, wir mußten einander suchen - bis in den Tod [...] Da er sich nicht anders gegen mich wehren konnte und mich überall in seinem Leben, in seinen Gedanken und Träumen und in seinem Tun fand, [...] hat [er] doch vergeblich den Vers dort an die Wand geschrieben! Es war ja auch nur ein törichter Knabe, der mit seinem leichtbewegten Herzen zuerst in jenen nichtigen Worten Schutz vor sich selber suchte!< (ebd.: 401)
Durch die Verfallenheit an die Welt der Mütter »von viel weiter hinabwärts« stellt Raabes Helene auch eine Wiederauflebung der Goetheschen Helena dar, wie wir sie aus dem 2. Teil des »Faust« kennen. Das Bild der Helena muß Faust ja - zu seinem Schrecken - »von den Müttern« holen, auch seine Helena kommt ihm (wie Velten und Karl) von jenseits des Meeres zu, auch Fausts Helena ist für den Helden nur im Zusammenhang mit einer vorzeitlich-kindlichen, arkadischen Welt verfügbar. 20 Stellt Helene also auf der einen Seite eine Substitution der Mutterfigur für Velten dar (neben Leonie und der Fechtmeisterin Feucht bewacht sie am Ende das »Kind« Velten bis in seine letzten Minuten), so ist sie doch auf der anderen Seite eine metonymische Verdopplung seiner selbst, ist, wie er, ein kindgebliebener Mensch, der seinen unerfüllbaren Wünschen nachreist. Während ihrer Kinder- und Jugendzeit führt sie ein zwillinghaftes 19
Auch mit diesem Namen Mungo hat es seine symbolische Bewandtnis, sind die Mungos doch kleine Säugetiere, die Schlangen beißen, töten und fressen. Helene bezeichnet sich später einmal als »Nilschlange«, sie wäre also das Opfer des Schlangenfressers, und die patriarchalische Besitzwelt, für die dieser Mungo steht, braucht solche Opfer. Ohne die Unterwerfung unter das Symbolgesetz (Lacan) gäbe es keinen väterlichen Diskurs mehr. 20 Zur Goethe-Rezeption in den »Akten des Vogelsangs« s. Roebling (1986).
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Leben mit Velten: tritt immer mit ihm auf, hat eine gleich wilde und unkontrollierte Phantasie, überbietet ihn in gewagten Aktionen, bringt wie er die väterliche Nachbarschaft auf und liebt wie er leidenschaftlich, ungestüm Mutter Andres und die Fechtmeisterin Feucht. Zusammen mit Velten stellt Helene im Roman also das Kindhafte dar, den Komplementärwert zum Bedeutungsfeld des Mütterlichen. Dieses elementar-Kindhafte im Wesen der beiden zwanghaft aufeinander zugeordneten Figuren kommt in den »Akten« auf die verschiedensten Arten zum Ausdruck. Beide Figuren sind, wie schon H. Schultz (1979) nachweist, letztlich ohne Entwicklung, zeigen keine Reifeprozesse. Wie Kinder laufen sie hintereinander her und voneinander weg, quälen sich und lieben sich zugleich und können doch zueinander nicht kommen. Veltens >Kindlichkeit< wird durch die anhaltende Mutterfixierung deutlich, wurde ja schon angekündigt in seiner ersten Charakteristik durch Helene auf der zweiten Seite des Romans, wenn gesagt wird, die Fechtmeisterin habe das große, schlaue Kind wahrhaftig wie ein kleinstes, dümmstes, hülflosestes Kind besorgt und zu Tode gepflegt, (ebd.: 214) Helenes Kleinkind-Wesen wird durch das wiederholte Zitieren ihres Tränenreichtums, sowie den Zwang, schreien zu müssen, als kindlich-ohnmächtige Reaktion auf die Frustrationen der Erwachsenenwelt nahegelegt. In ihrem schon zitierten Traumwunsch vom Osterberg steht das (latente) Bedürfnis, Kind zu sein und zu bleiben, vor dem manifesten Wunsch nach Reichtum, wenn sie wünscht, daß es für mich wieder so wird, wie ich es drüben gehabt habe in Amerika als kleines Kind [...], ehe meine Mama mit mir auf dem Arme zu euch hier im Vogelsang ins Elend kam! (ebd.: 259) (Hervorhebungen I.R.) Betrachtet man diese >Kindlichkeit< von Velten und Helene aus dem Blickwinkel der Psychoanalyse, so könnte aus dem Gesagten gefolgert werden, daß sowohl Velten wie Helene - im Sinne Kristevas - in die semiotische Phase zurückstreben, bzw. aus ihr ihre Impulse beziehen, einer Phase, die durch die symbiotische Einheit von Mutter und Kind einerseits und durch eine zunehmende (ödipale) Fixierung auf den gegengeschlechtlichen Elternteil andererseits gekennzeichnet ist. Die kindliche Zweiheit Velten-Helene kann als Spiegelung der Aufspaltung der kindlich-semiotischen Persona in die gegensätzlichen Muster von Einverleibung und Ausstoßung, Festhalten und Lassen, Zuwendung und Destruktion, von Lebens- und Todestrieb verstanden werden, dergestalt, daß die Figuren zusammen die triebhafte Ambivalenz des semiotisierten Körpers, der sich als Ort ständiger Spaltung erfährt, verdeutlichen. 135
Es ginge zu weit, wollte man dem (natürlich) freudunkundigen Raabe in der Gestaltung seiner beiden Kindfiguren die stringente Durchformung eines bestimmten Wirk- und Verhaltensprinzips der semiotischen chora abverlangen, im Sinne etwa eines durchweg analen oder oralen Charakters. Als semiotische sind Velten und Helene Mischcharaktere. Dennoch besteht ein gewisser Ansatz zur Differenzierung in einen eigentumsfreudigen und einen eigentumsabstoßenden Menschen und eine Differenzierung in ein Mutter- und ein Vaterkind. Als gemeinsames Charakteristikum dieser Phase muß ein triebhaft-gefühlvolles, phantasiereiches bis exzentrisches, stark naturverbundenes Verhalten erkannt werden, das gegen die Zwänge des thetischen Einschnitts (bedingt durch Unterordnung unter das väterliche Symbolgesetz) andrängt. Auch von Freud wird in seinen späten Ausführungen zur Kennzeichnung der präödipalen Phase dieses Dasein vor allem durch seine Triebhaftigkeit und seinen Ausschließlichkeitscharakter gekennzeichnet: Die kindliche Liebe ist maßlos, verlangt Ausschließlichkeit, gibt sich nicht mit Anteilen zufrieden. Ein zweiter Charakter ist aber, daß diese Liebe auch eigentlich ziellos, einer vollen Befriedigung unfähig ist, und wesentlich darum ist sie dazu verurteilt, in Enttäuschungen auszugehen und einer feindlichen Einstellung Platz zu machen. (Freud 1931: 281)
Ziellosigkeit, Ausschließlichkeit und Unersättlichkeit im Sinne der Unmöglichkeit endgültiger Befriedigung - das sind die gemeinsamen Merkmale von Helenes und Veltens Leben. Beide werden getrieben durch die Welt, suchen sich und können sich doch nicht finden, weil ihr Begehren nach einer tieferen unwiederbringlich verlorenen Einheit strebt, der Einheit mit dem »Mutterprinzip«. Auf der inneren Ebene der Chronisten-Phantasie, der Ebene der Figur des Velten, erscheint Helene wie eine zweite Spaltungsfiguration. Im Sinne der Lacanschen Psychologie könnte sie als Inkarnation von Veltens Spiegelbild angesehen werden. So wie nach Lacan für das infans das Spiegelstadium »Bildner der Ich-Funktion« bedeutet, so sucht Velten Andres in Helene als Spiegelbild sich nachträglich seiner Ich-Konstitution zu versichern. Ich und Spiegelbild müssen getrennte Instanzen bleiben; Veltens Tod zeigt die Unfähigkeit, diese Trennung auszuhalten. Susanne Asche (1985) hat in ihrer Arbeit »Die Liebe, der Tod und das Ich im Spiegel der Kunst« dargestellt, wie in den Werken der Frühromantiker und E.T. A. Hoffmanns solche Spiegelphantasien gestaltet werden. Sie zeigt, daß die Frühromantiker die Alterität des Spiegels und damit das Spaltungserfahren zu verdecken suchen, indem sie das andere ihres 136
Ichs auf das Weibliche projizieren und damit dem männlichen Ich die »Erkenntnis der Wahrheit ermöglichen ohne selbst erkennend zu sein« (Asche Buchumschlag). Wilhelm Raabe war ein guter Kenner Ε. T. A. Hoffmans, und es scheint nicht abwegig, seine Velten-Helene-Phantasie als Fortschreibung von Hoffmanns narzißtischen Künstlerphantasien aufzufassen. Denkt man z.B. an die bekannteste Spiegelphantasie, an den »Sandmann«, so erscheint Helene fast wie eine Integration von Olympia und Clara. Für Velten ist sie ganz narzißtische Spiegelfunktion, Imaginäres, dem er sich zur Ganzheit vereinen möchte. Dieses Streben ist für ihn tödlich, so wie im Mythos die Vereinigung von Narziß mit seinem Spiegelbild tödliche Folgen hat. Helene selbst geht nicht auf in der Projektion, ist nicht Automat, sondern hat Eigenleben und Überleben. Der Tod Nathanaels wie der Tod Veltens aber müssen von dieser Interpretation her als Versinnbildlichung gescheiterter Ich-Konstitution angesehen werden; Wahrheitsstiftung ist auf dieser Ebene ausgeschlossen. - Für die Ebene des Chronisten wird deutlich, daß auch der Ort des Schreibens, der Ort sinnstiftender Praxis auf dieser Ebene nicht möglich ist. Aus seiner Perspektive ist daher v.a. das Kindhafte, das zu Überwindende (wenn auch dennoch schmerzhaft Ersehnte) signifikant. Seine Spiegelungen in Velten und (in zweiter Instanz) in Helene akzeptieren letztlich die Trennung. Die Figur Velten Andres schließlich, auf die die ganze zweite Personenreihe zuläuft und von der sie zugleich ihren Ausgang hat, ist nur ungenügend aus sich selbst heraus darzustellen. Bei Vorstellung der anderen Figuren war Velten zumeist mitpräsent und entsprechend bedarf die Interpretation seiner Figur der Entsprechung durch die anderen. Beinahe ist Velten eine Funktion der anderen Figuren dieser Reihe, nur in ihrem Diskurs hat er Bedeutung. Für die beiden Mütter wurde schon deutlich, daß ihre Mütterlichkeit v.a. in Bezug auf Velten zur Geltung kommt. Für den Chronisten ist Velten Ziel und zugleich Mittel von Selbstvergewisserung und Spiegelung und wird seinerseits durch weitere Figuren (Leon, Leonie, Helene) gespiegelt. Die Bedeutung beispielsweise des Lebens in Berlin um die Fechtmeisterin Feucht, insbesondere der sich hier öffnenden Vergangenheitsräume wurde von der Forschung für das Verständnis von Veltens Person verschiedentlich erarbeitet; verwiesen sei noch einmal auf die jüngsten Arbeiten von Sprengel (1974), Folkers (1976) und auf Geisler (1981).21 Gemeinsam ist den 21
Alle drei Autoren verdanken wesentliche Anregungen Adornos Kierkegaard-Arbeit (1966) und Benjamins »Illuminationen« (1955).
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Privatmuseen der Fechtmeisterin und der Familie des Beaux die Perspektivierung auf Vergangenheiten, in denen es den Individuen ermöglicht und abgefordert wurde, sich selbst ganzheitlich und kämpferisch in einer im einen Fall vorbürgerlichen, im anderen Fall revolutionär-bürgerlichen Epoche zu realisieren. Phantasie und Interesse Veltens werden von der Andersartigkeit der hier - im Medium des Interieurs - konservierten Welten angezogen. wie kurios anders das da drüben bei euch rauscht, klingt und tönt. Wie das da bunt durcheinander geht. Troubadourengeklimper, Albigenser-Schwert-undSpeergerassel, hugenottischer Orgelklang und Chorgesang (ebd.: 282f.)
Dieses den Velten Andres hier anziehende »andere« resultiert nicht v.a. aus der Attraktion einer bunten Ritterromantik, sondern verweist durch die Anbindung der Ahnengeschichte der des Beaux' an eine doppelte Minderheit, die der hugenottischen Vorfahren und die der Albigensertradition, also auf eine Vergangenheit, in der die frühen Vertreter dieser Sippe kämpferisch für ihre Glaubensüberzeugungen eintreten mußten. Geisler unterstreicht die zentrale Vorstellung einheitlichen Handelns im Zusammenhang mit dieser Tradition. Diese Einheit von Glauben und Tat ist es, die im historischen Traumstübchen der Geschwister des Beaux< (290) als Aura an den einzelnen Erinnerungsobjekten haftet. [...] Indem er [Raabe I.R.] gleich zweifach Minoritäten wählt, die militant in der Geschichte ihre Lebensformen und Überzeugungen jeweils gegen eine machthabende Orthodoxie behaupten mußten, läßt er um so deutlicher das Bild einer Praxis aufleuchten, die, um es mit der Metaphorik des 19. Jahrhunderts auszudrücken, noch nicht in Werk- und Sonntag zerfällt, sondern in der Tätigkeit und Reflexion, entschiedenes Handeln und übergreifende Sinngebung wechselweise aufeinander bezogen sind. Dem Gedenken dieser Einheit gilt das Museum. (Geisler 1981: 369f.)
Die Einheit von Reflexion und Tat, von Überzeugung und Leben bietet Velten ein für sein Leben strukturbildendes Handlungsmuster, doch will er nicht — wie Leon und Leonie in ihrer Jugend - sich mit der phantastischen Erinnerung an diese Vergangenheit begnügen, sondern will sein »Lebensmärchen« verwirklichen. Solche Verwirklichung bedeutet aber: Aufgabe der durch die bürgerliche Gesellschaft basislegenden Hypertrophie von Wissenschaft, Theorie und Reflexion (symbolisiert in seinem Abbruch des Philosophiestudiums), Hinwendung zu einer umfassenden, unspezialisierten Praxis (Karl resümiert Veltens Berufsleben: »Er, mein Freund, ist in seinem kurzen Leben alles gewesen: Gelehrter, Kaufmann, Luftschiffer, 138
Soldat, Schiffsmann, Zeitungsschreiber«), und sie bedeutet für Velten: Versuch der Rückeroberung des Kindheitsglücks in Gestalt v o n Helene. 2 2 D a ß dieses Lebensprojekt für Velten gescheitert ist, steht außer Diskussion; o b es deswegen grundsätzlich v o m A u t o r als sinnlos angesehen wird, m u ß im Zusammenhang der Gesamtdeutung des R o m a n s reflektiert werden. Für den Chronisten-Erzähler ist Velten zunächst der sieghafte strahlende Held mit dem welterobernden Lachen, ist Ziel seiner idealisierenden Vergangenheitsphantasie. In ihm, zusammen mit seiner Komplementaritätsfigur Helene, konzentrieren sich, wie wir sahen, Vorstellungen eines narzißtisch triebhaften Lebens, werden Bilder erstellt der >semiotischen choraDen Heckepfennig, den Däumling und das Tellertuch der Rolandsknappen, den Knüppel-aus-dem-Sack, das Vergnügen, Persepolis in Brand zu stecken, und ein friedliches Ende auf Salas y Gomez. Fallet, ihr Sterne, und winket Gewährung!< « (BA 19: 260f.)
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Opferungen beschreibt. 24 Velten ist ein Opfer dieses Satyrspiels. Er ist ein Flammenopfer, kann man sagen, denn mit dem Verbrennen dessen, was ihm noch von Bedeutung war im elterlichen Haus, mit diesem letzten Auflodern analsadistischer Lust, hört sein eigentliches Sein auf. Die Trennungslust, die anale Lust ist so groß, daß sie durch ödipale Fixierungen innerhalb dieses Figurenkonzepts nicht mehr aufgefangen werden kann. Schizophrenie wäre die reale Folge, denn in jedem Fall bedeutet sie endgültige Zersetzung der symbolischen Funktion, bedeutet Tod des Subjekts, das ja gerade durch Einbindung seiner primären Triebe in den Prozeß der Symbolisierung, durch ihre Verwandlung in Bedeutung gekennzeichnet ist. Veltens ruhiger einsamer Tod kann nicht - wie häufig in der Forschung angenommen - als Triumph über die Anfechtungen der Leidenschaften und die Ansprüche der Welt angesehen werden. Velten hat sich zwar das Goethe-Motto 25 an die Wand geschrieben: 24
Ausgehend von Raabes Phantasiegestalt des Affenmenschen sowie seinem Verweis auf die Satyrspiele kurz vor Auftritt des Affenmenschen scheint es durchaus legitim, die Verbindung zum Dionysos-Kult herzustellen, der gerade diese theriomorphen Phantasien ja bestätigt, da auch Dionysos gelegentlich in Tiergestalt auftrat und von Halbtieren umgeben war. Auch das Feuermotiv findet sich hier - in Parallele zur Genese des Paris - wieder: Die von Zeus schwangere Semele wünscht den Gott in seiner wahren Gestalt zu sehen, wird aber verbrannt, als er ihr wirklich in Blitz und Donner erscheint. Zeus muß danach die »Frühgeburt« Dionysos selbst weiter austragen. Die Verbindung zum Helena-Bedeutungsfeld ist besonders nah, da auch Dionysos als Sohn des Zeus galt, auch er wird - wie Helena - als Vegetationsgottheit verehrt, auch er wird als meerfahrender Gott vorgestellt, wie Helene in unserem Roman die wasserreiche, meerfahrende ist. Alle diese Konnotationen aus dem Bereich der klassischen Mythologien und Sagen unterstützen den Verschwisterungseffekt von Velten und Helene. 25 Im Zusammenhang der Konstitution moderner (bürgerlicher) Subjektivität sowie ihrer Verinnerlichung und Identitätssicherung durch die zunehmende Psychologisierung im Verlauf des 19. Jahrhunderts erscheint es außerordentlich interessant, daß Raabe - zur Schein-Charakterisierung seines Helden Velten - diese 1. Strophe aus Goethes früher Ode an Behrisch (1767) heranzieht. Diese Ode charakterisiert genausowenig Velten, wie sie Goethe charakterisiert, auch wenn Velten behauptet: »er [Goethe I.R.] hat selber sein Leben in Poesie und Prosa danach eingerichtet.« (BA 19:352) Ausgespart wird bei einem solchen Ausspruch wie im Akt des Verdrängens alles, was jeder Leser - auch Raabe - an Details aus Goethes bewegtem und z.T. leidenschaftlichem Leben und Werk weiß. Ausgespart wird insbesondere der bald nach dieser Ode geschriebene »Werther«, der dadurch besonderes Interesse verdient. Und so nimmt es nicht wunder, daß bald nach dem Erscheinen der »Akten des Vogelsangs« dieser Roman - von H. Hoffmann als der »Werther des 63jährigen Raabe« deklariert wurde. (Des weiteren dazu s. Roebling 1986) Velten und Werther haben nun in der Tat dies gemeinsam, daß sie mit 143
Sei gefühllos! Ein leichtbewegtes Herz Ist ein elend Gut Auf der wankenden Erde
Sicherheit nicht dem hier proklamierten stoischen Ideal nachleben - im Gegenteil, daß sie wegen der Unfähigkeit zu solcher Leidenschaftslosigkeit zugrunde gehen. Die Parallele kann sehr weit ausgesponnen werden - hier nur wenige Andeutungen: In einem vergleichbaren Maße wie Velten für den Erzähler eine Gefahr darstellt, die sein ganzes Leben erschüttert und desorientiert, eine Gefahr, die das Opfer Veltens nötig macht, in dem Maße stellt auch »Werther« - wie Goethes Kommentare durch alle Epochen seines Lebens bezeugen - eine Gefahr für seinen Autor dar. Was hier im ersten deutschen Roman reiner Subjektivität, im IchBriefroman vom Autor Goethe gestaltet wurde, konnte »um meines eignen Lebens Gefahr willen [...]« nicht zurückgerufen werden (1); »so etwas schreibt sich nicht mit heiler Haut« (2), bleibt für Goethe ein Stoff, »bei dem man sich zusammenhalten oder zugrunde gehen mußte.« (3) Noch 1824 sagt Goethe zu Eckermann in bezug auf »Werther«: »Das ist auch so ein Geschöpf, das ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen Herzens gefüttert habe. Es sind lauter Brandraketen. Es wird mir unheimlich dabei, und ich fürchte, den pathologischen Zustand wieder durchzuempfinden, aus dem es hervorging« (4). (Das Bild vom Pelikan taucht - wie gezeigt - auch in den »Akten« auf, nun allerdings verschoben auf die Vaterfigur, die der Autor sich soviel Mühe gibt, positiv zu beschreiben, seine Aggressionen verdrängend.) Goethe hat sich mit »Werther« nicht von »Werther« befreit, er hat aber offenbar die Gefahr solch subjektiv-narzißtischer Verausgabung begriffen, hat sie lokalisieren und deuten gelernt. An Zelter schreibt er 1812: »Ich getraute mir einen neuen »Werther« zu schreiben, über den dem Volke die Haare mehr zu Berge stehen sollten als über dem ersten.« (S) Einen neuen »Werther« hat Goethe nicht geschrieben; er hat die Brandraketen insofern entschärft, als er die im »Werther« gebündelten Sehnsüchte fortan getrennt dargestellt hat: einen Teil - den nach unentfremdetem Dasein und harmonischem Aufgehoben-Sein in der Natur - in den sein ganzes Werk begleitenden Arkadien-Darstellungen; einen anderen Teil in der wiederholten Gestaltung (bis hin zum Tasso, seinem »gesteigerten Werther«) naiv-sensibler, halb künstlerischer, halb revolutionärer Individuen, deren Unfähigkeit, sich dem soziopolitischen status quo, dem Herrendiskurs anzupassen oder zu unterwerfen, sie stets aufs neue ins gesellschaftliche oder existentielle Abseits bringt. Wie kein anderes Werk hat der »Werther« Goethe verfolgt - im eigenen Tun und Schaffen wie durch unaufhörlichen Zuspruch der Zeitgenossen im In- und Ausland - und wie kein anderes Werk hat Goethe ihn gemieden, hat z.B. nie öffentlich aus ihm vorgelesen. Besonders deutlich wird der vorsichtig-ängstliche Umgang mit dieser abgespaltenen Ich-Figur Werther durch Goethes Gedicht »An Werther«, das einzige Gedicht, das er an eine seiner Figuren-Schöpfungen schrieb. In diesem späten Gedicht vollzieht der alternde Goethe im Du der Ansprache den Abstand zur Werther-Figur, den er im direkten Erleben der Jugend, als Werther noch zu sehr mit ihm eins war, noch nicht geschafft hat, wohl auch nicht schaffen wollte. Der alte Raabe konnte seine Werther-Gestalt Velten gleich abspalten in ein Er, das jedoch durch die Konstruktion des 144
»ein törichter Knabe« kommentiert Helene, »der mit seinem leichtbewegten Herzen zuerst in jenen nichtigen Worten Schutz vor sich selber suchte« (BA 19:401). Sie weiß, daß die Flamme in Velten nicht gezügelt, nicht gedeutet, nicht - im Sinne Freuds - in Kulturarbeit umgewandelt ist, sondern ihn aufgezehrt hat. Er ist, um bei Goethe zu bleiben, »in seiner Qual verstummt«; ihm gab kein Gott »zu sagen, wie ich leide«. Daher sind für ihn die GoetheWorte »nichtig«, wie Helene sagt; einem anderen, Karl Krumhardt, blieb es vorbehalten, das Leiden in einem Symbolsystem zu fixieren. Im Kontext der Darstellung bürgerlichen Lebens im Roman wird Veltens Unfähigkeit zur Züglung seiner Triebe als Verkletterung im Baum des Lebens versinnbildlicht. Worin besteht aber nun genau dieses Verklettern, das in der Erzählung aus dem Heldenkind, dem Weltüberwinder Velten, an den der Erzähler sich zu Beginn der Akten begeistert erinnert, den Versager macht? ich sehe ihn wieder vor mir in seiner Pracht, wie man sich in der Jugend den Lord Byron und im Alter den jungen Goethe vorstellt. Mit dem treuen, lachenden, siegessichern Auge und dazu dem Schelmenzug um den Mund - den Liebling der Götter und des Vogelsangs, den Weltüberwinder' von Leichtsinns Gnaden, (ebd.: 308) Was macht aus ihm den müde resignierten Heimkehrer, der, immer am Rande des Wahnsinns, 26 geopfert werden muß? Wie ist die Verbindung von affenhaftem Verklettern und Satyrspiel zu verstehen? Biographenromans mit einem Ich - als dessen Projektion - in ständigem Dialog sich befindet. Gemeinsam haben Werther und Velten - bei aller Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch des Leidens an dieser Gesellschaft - die absolute Subjektivität, das Ausleben narzißtischer Spiegelungen, das Angezogensein von Natur und mütterlicher Geliebten. Gemeinsam eben die Unmöglichkeit, in der patriarchalischen bürgerlichen Gesellschaft einen Platz zu finden. Beide müssen geopfert werden - »Zum Bleiben ich - zum Scheiden du erkoren« im Sinne eines künstlerisch-gesellschaftlichen Lebens. Das Opfer »Werther« ist Goethe immer bewußt geblieben und den Sinn dieses Opfers beschreibt er halb ironisch in seinem Gedicht »An Werther«: »Wie klingt es rührend, wenn der Dichter singt, Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt! Verstrickt in solche Qualen, halbverschuldet, Geb' ihm ein Gott zu sagen, was er duldet.« (6) (Alle Goethe-Zitate aus der Hamburger Ausgabe in folgender Reihenfolge: 1) Bd. VI: 524; 2) Bd. VI: 537; 3) Bd. VI: 532; 4) Bd. VI: 534f.; 5) Bd. VI: 534; 6) Bd. I: 381.) 26 In der zweiten Hälfte des Romans häufen sich Wendungen, die auf Veltens Irrewerden hinweisen (wenn auch immer in uneigentlichen Zusammenhängen), Anspielungen auf seine Verrücktheit, seine Nerven, aufs Irrenhaus und immer wieder der Begriff >NarrNun Alter, noch nicht des Spiels überdrüssig?< Da habe ich denn in dieser heutigen kalten, farblosen Winternacht, mit den ewig von neuem sich aufhäufenden Aktenstößen um mich her, mit all den Enttäuschungen, Sorgen, Ärgernissen, die nicht nur das öffentliche Leben, sondern auch das Privatleben mit sich bringt, und im grimmen Kampf mit dem Überdruß, der Enttäuschung, der Langeweile und dem Ekel an der schleichenden Stunde, doch noch einmal ein »Nein!« gesagt, dem stolz-ruhigen Schatten gegenüber, der so wesenhaft Velten Andres in meinem Dasein hieß. Ich habe und halte meiner Kinder Erbteil, (ebd.: 344)
Begründet wird dieses - angesichts des intensiven Leidens an der »Prose des Alltags«, eines Alltags im Rahmen der väterlichen Normen - heroische Nein mit der Verantwortung für das Erbteil der Kinder. Das Familienleben Karls gerät in Gefahr durch den Ansturm der semiotischen Kräfte, Karls eigene Vaterbedeutung droht zersetzt zu werden. Im folgenden wird im Roman der Tod von Mutter Andres dargestellt, so daß in der Personenkonstellation wieder Symmetrie herrscht: Karl und Velten stehen sich als protagonistische Vertreter der beiden Paradigmen nun allein gegenüber, die Gespaltenheit konzentriert sich auf die Grundelemente. Inhaltlich wird erst durch den Tod der Mutter der Raum frei für die wohl berühmteste Szene des Raabeschen Werkes, die Eigentumsverbrennung. Denn erst, wenn Mutter Andres das Haus nicht mehr bewohnt, verliert es seine bisherige Aura und wird das, was es im Grunde immer schon war, das väterliche Erbe. Auf einer tieferen Bedeutungsebene muß die Szene der Eigentumsvernichtung, die einen Knoten-, einen Mittelpunkt der verschiedenen im Roman realisierten Bedeutungsketten darstellt, als Verwerfen des Thetischen (im Sinne Kristevas) angesehen werden. Im Zusammenhang der 37
Lacan beschreibt in seinen Schriften wiederholt, wie sehr das Individuum in der Analyse in dem Maße, in dem es sich dem Grund seiner Spaltung nähert, sich wehrt und auf Auswege vor dieser letzten schmerzlichen Erfahrung ausweicht.
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Projektionsszenerie ist die Vernichtung des väterlichen Erbes als Bekräftigung des Vatertodes anzusehen, und zwar im Sinne eines (symbolischen) Vatermordes. Nachdem der Chronist lange - zur Beruhigung seines Gewissens - den Vater als zwar strenge, doch gute und verehrenswerte Instanz dargestellt hat, brechen nun die durch das Symbolgesetz bisher unterdrückten Aggressionen auf. Durch seine Projektionsgestalt Velten hindurch vollzieht der Erzähler eine Destruktion all dessen, was sein Leben so nachhaltig geprägt hat, und versucht damit eine Zerstörung des väterlichen Geltungsanspruchs überhaupt. Daß er selbst nicht außerhalb von Veltens Tun steht, wird verschiedentlich signalisiert. Er wehrt sich vergebens gegen die Faszination von Veltens Zerstörungswerk, und auch das Flehen seiner Frau Anna, die die Verbrennung sehr richtig als Auflösung von Familienbanden versteht (»O bitte, da nimm uns, Ferdi und mich, doch lieber jetzt gleich mit und schieb uns in euren Ofen in deinem Vogelsang!«) (ebd. : 371), kann ihn nicht mehr zurückhalten. Ja - er (Velten I.R.)hatte mich jetzt wieder unter sich, es war von meiner Besitzfreudigkeit keine Abwehr gegen seine Eigentumsmüdigkeit; ich habe ihm geholfen, sein Haus zu leeren und sich frei zu machen von seinem Besitz auf Erden! - « (ebd.: 373) Dieses Involviertsein wird noch deutlicher durch Ausweitung der (indirekten) Partizipation auf die ihn umgebende Gesellschaft, deren Normen ja immer seine Existenz geprägt haben. Karl konstatiert, daß selbst ein »hoher« Chef (!) einen gewissen Neid äußert in bezug auf Veltens Tun, und auch die Stimmung der Stadtbevölkerung schlägt - nach anfänglichen Irrenhausverweisen - um für Velten. Besonders hervorgehoben werden im Verbrennungsakt, bei dem Karl schließlich assistiert, Gegenstände, die man als »Insignien« des Vaters ansehen könnte, die dem zerstörenden Sohn schwer aufliegen, Wie wog der Sohn des Vaters Ziegenhainer in der Hand, wie holte er aus einem Kasten mit allerhand abgängigen chirurgischen Instrumenten seine Zerevismiitze hervor und drehte sie in den Händen! (ebd.: 372) sowie ein Objekt der heranzuzüchtenden kindlichen »Männlichkeit«, das »Schaukelpferd«, von dem es interessanterweise heißt, daß das (Mutter-) Kind Velten es bald Karl überlassen hatte, »es war nichts für ihn« (für Velten) (ebd.). Karl dagegen wollte schon von früh auf gern der kleine Mann sein, zu dem man ihn stilisierte. Dieses Pferd nun, das für Karl offenbar viel bedeutet hat, hätte er gern seinem Jungen weitergegeben, doch er kann sich zu einer entsprechenden Bitte an Velten nicht entschließen. Die Kontinuität 161
der väterlichen Symbolkette, die durch die Weitergabe des Pferdchens an den Sohn symbolisch garantiert wäre, ist durchbrochen; Worte können die Lücke nicht mehr füllen. Just an dieser Stelle macht der Erzähler die für die Interpretation wesentliche Reflexion: Es wäre eine psychologisch-philosophische Abhandlung darüber zu schreiben, weshalb ich weder die Frage noch die Bitte tat, sondern selbst es mir auf die Schultern lud und es ihm die Treppe hinunter zum Küchenherd trug. (BA 19:373)
Daß diese ganze Eigentumsvernichtung eine Metapher für psychische Prozesse ist, wird damit deutlich signalisiert. Wenn Sprengel (1974) in seinem (unten besprochenen) Aufsatz »Interieur und Eigentum« bewußt an die Stelle dieser vom Autor reklamierten »psychologisch-philosophischen Abhandlung« eine »historisch-soziologische« setzt (Sprengel 1974: 174), so tut er das in der richtigen Einsicht, daß es sich hier nicht nur um den Ausdruck »individueller Verzweiflung« handelt (174). In Veltens Destruktion des Interieurs muß - jedenfalls unter anderem - das Aufbegehren der Subjektivität gegen die verhärtete Kruste des sentimentalisch aufgeladenen Eigentums erkannt werden - wobei der Grad der Auflehnung den der Verhärtung und dieser den der Verdinglichung spiegelt, gegen die >Eigentum< sich richtet. (Sprengel 1974: 175)
Doch diese historisch-soziologische Analyse kann eine psychologische nicht ersetzen, kann sie wohl ergänzen und historisch fundieren in dem Sinne, wie jede Untersuchung unbewußter Motivationen beim Handeln vergesellschafteter Subjekte Kenntnisse der objektiv-wirklichen Motivationen im sozio-kulturellen Handlungsfeld dieser Gesellschaft voraussetzt. Sprengel erkennt schließlich selbst in seiner Untersuchung, wie schillernd der Begriff des Eigentums in Raabes Werk ist, wie sehr er dazu tendiert, nur »eine Metapher aus dem Bereich der Wirtschaftsordnung« (Sprengel 1974:165) zu sein. Warum eine zentrale Metapher gerade aus diesem Bereich gewählt wird - das ist wieder eine sozio-psychologische Frage, die Sprengel mit der Deutung, diese Metapher signalisiere die Hilflosigkeit des Versuchs, sich aus der Verdinglichung der Warengesellschaft zu retten, ohne dieselbe zu reflektieren. (174)
noch nicht befriedigend beantwortet hat. Die Macht des Thetischen, der Karl sich durch seine Vernichtungsphantasien verweigert, ist eine Macht, in der Symbolisches und Soziales äquivalent sind; nur eine sozio-psychologische Deutung, die das Eingelassensein des 162
Subjekts im symbolischen Universum mitthematisiert, kann daher die Bedeutung dieses Verwerfens für das verwerfende Subjekt erkennen. Wie sehr gerade im Eigentumsverhalten ein wesentlicher Motor und Indikator von Objektbeziehungen überhaupt zu sehen ist, wurde anläßlich der Eigentumsproblematisierung u.a. am Beispiel der Marxschen Ausführungen zum Eigentum als Strukturfaktor auch psychischer Prozesse deutlich. Das Eigentum wird in der Bürgerwelt zum »Kuppler« sowohl zwischen Mensch und Welt wie zwischen Mensch und Mensch, wird also zum Konstituens letztlich des »anderen Menschen«. Eigentum - wurde gesagt in Fortführung Lacanscher Grundannahmen - nimmt im »Herrendiskurs der Moderne« zunehmend den ersten Platz ein. Mit der Phantasie einer radikalen Eigentumsvernichtung, eines Lebens »so eigentumslos wie möglich«, führt Raabe seine Figuren an den Rand der inneren symbolisch zugeordneten, ja der sie allererst als >Subjekte< konstituierenden Welt. Jenseits dieser Grenze ist die symbolische Ordnung, die sich als durch den Eigentumsbegriff maßgeblich strukturiert gezeigt hat, aufgehoben und damit zugleich die Möglichkeit gesellschaftlichen Lebens. Raabes häufig geäußerte (und in den »Akten des Vogelsangs« am weitgehendsten realisierte) Vorstellung von der Erfindung eines total eigentumslosen Menschen, eines Menschen, der »frei durchgeht«, bedeutet die Phantasie eines Seins jenseits aller Objektbeziehungen (im Abziehen der Gefühle von den Objekten) mit dem Ziel der Unverwundbarkeit. Erreichbar ist dieses Ziel jedoch nur um den Preis von Einsamkeit, Wahnsinn und Tod. In Karl Krumhardts Projektionsfigur Velten Andres, der vergeblich versucht hat, unter dem zynischen Goethe-Motto: »Sey gefühllos« zu leben, wird beispielhaft dieser Weg vorgeführt. In der Raabe-Forschung verweisen v.a. Folkers, Sprengel und Kafitz auf die wesentliche Rolle, die der Zerfall bürgerlicher Sicherheitsvorstellungen im Prozeß der Verwandlung des frühbürgerlichen Privatbesitzes zum Konsum und Kapitalbesitz der Neuzeit für das Bedeutungsfeld Raabescher Figuren hat. Insbesondere Sprengel interpretiert demgemäß die Eigentumsvernichtung Veltens als Versuch, sich durch Entledigung aller Dinge (deren Warencharakter nur durch sentimentalische Verklärung verschleiert wird) »vor der Verdinglichung der menschlichen Beziehungen in der Warengesellschaft« (Sprengel 1974: 174) zu retten. Zielpunkt dieser Befreiung sei die Leere von Veltens Sterbekammer, die von Sprengel als Ausdruck absoluter Innerlichkeit interpretiert wird. Diese Interpretation ist Folge der allgemein vollzogenen Isolierung der einzelnen Figuren als unmittelbar signifikante Zeichen. Unterschlagen wird dabei der Bezug zu ihrem (fiktiven) Schöpfer 163
und Regisseur, als welcher sich Karl zu Beginn des Romans ja beinahe aufdrängt. Es wird die Relevanz des väterlichen Diskurses, die auch noch oder gerade aus der Eigentumsvernichtung von Velten Andres, dieser Szenerie eines symbolischen Vatermordes, spricht, unterbewertet zugunsten einer Velten zugesprochenen Unabhängigkeit, Autonomie, Eigenwertigkeit. Wichtig ist der Akt aber v.a. für Karl. Nur in Relation zu ihm hat der Signifikant >Veltenzu machen gewußt< hätte [...] habe ich nicht in den Akten. (BA 19: 354)
Oder, ein anderes Beispiel: Krumhardt bringt seinen Eltern die Braut in die Mietwohnung inmitten der Stadt, wenn auch der >besten Gegend< der Stadt (BA 19: 334)
und freut sich der Gewißheit, daß auch ich ein guter, braver Sohn gewesen sei, daß ich allen ihren Erwartungen entsprochen habe (ebd.: 335) (alle Hervorhebungen I.R.)
Beinahe durchgehend - sagt Preisendanz - richte sich das Erzählen Krumhardts 164
an fremder Rede aus, bricht sich sein Wort in den Sprach- und Worthorizonten der Eltern bzw. der öffentlichen Meinung, ohne daß diese Meinung und ihre Sprache direkt objekthaft dargestellt wäre [...]. Fluchtpunkt dieses Spannungsverhältnisses ist die bereits vermerkte Dissoziation von Ich und sozialer Rolle [...]. Die Interferenz von eigener und versteckter fremder Rede, die Ausrichtung des eigenen Worts an das - konkordante oder diskordante - fremde Wort sind ein unscheinbares aber substantielles Moment des in dem aktuellen Bezug auf die Redesituation gegebenen Kontext wechseis. (Preisendanz 1981: 210f.)
Die Weise, wie direkt oder wie indirekt dieses Zitieren elterlich-gesellschaftlicher Meinung in der Rede geschieht, unterstreicht, wie sehr das Reden des »Anderen« (im Sinne Lacans) zugleich eigen und fremd ist, wie sehr schillernd und ambivalent Fragen des Eigenen und damit auch des Eigentums in diesen Akten dargestellt werden. So wie das Symbolgesetz zwar als conditio sine qua non von festem Ich-Erleben verstanden werden muß, so sehr ist es doch zugleich ein dem Individuum anderes, ist Zwang und Vergewaltigung. Es ist immer Tod und Opfer dabei. Die Eigentumsvernichtung - wurde gesagt - muß als Verwerfen des Thetischen angesehen werden, insofern das Eigentum als zentraler Signifikant der bürgerlichen Thesis aufzufassen ist. Im Verwerfen des Thetischen wird der Zwang vorübergehend aufgehoben, und die Kräfte des Semiotischen gewinnen für eine bestimmte Phase die Überhand. Die vom Erzähler durch die Person Veltens durchgeführte Verbrennung sowie die inszenierte theatralische Letztauflösung des Besitzes mitsamt Tivolieffekt, Affenmenschen etc. kann als vehementer Ausdruck der Kräfte der Semiotischen chora angesehen werden. Doch - die Frage soll wiederholt werden - warum muß auch Velten geopfert werden? Dieser letzte Akt bedeutet ja Veltens Tod, auch wenn er - wie nur angedeutet wird noch eine unbestimmte Anzahl von Jahren in der Welt herumreist. Der Erzähler - und nur für ihn besteht Velten ja — sieht ihn nie wieder, hört erst wieder von seinem Tod durch Helene. Offenbar gelangt der Erzähler in der phantastischen Gestaltung dieser Szene an einen Punkt der Verneinung, der die Konsistenz seiner eigenen Person aufzuheben droht. Schomerus (1968) sagt anläßlich seiner Interpretation von Veltens »Weltüberwindung«: »Es ist ein Sieg am Rande des Chaos und der Nacht« (Schomerus 1968:44) und trifft damit einen wichtigen Aspekt, den wir aber vor allem in bezug auf Krumhardt, auf den Erzähler anwenden würden. Die Nähe des Chaos, der Zerfall der Persona unter dem Ansturm der semiotischen Triebe macht das Opfer Veltens für Karl nötig, ein Opfer, das die Menschheit im allgemeinen ebenso wie der einzelne in 165
seiner Lebensgeschichte auf dem Weg der Entwicklung zum gesellschaftlichen Subjekt immer wieder bringen muß. Zunächst könnte man im klassisch freudianischen Sinn die Opferung Veltens als Tribut für die >Vatertötung< ansehen. Freud hat ja in seiner Schrift »Totem und Tabu« (1912/13) - im Anschluß an Darwins Hypothese von der Urhorde - im Totemismus und seinen charakteristischen Phänomenen von >Bruderhorde< und >Vatertötung< eine »Übergangsstufe zwischen dem Zustand des primitiven Menschen und dem Helden- und Götterzeitalter« (Freud 1912/13 SA IX: 387) gesehen, die Entstehung von Gesellschaft überhaupt. - Auf die überzeugende Applikation dieser Theorie auf Schillers »Wilhelm Teil« durch Peter von Matt (1972) kann hier nur verwiesen werden. Im analogen Sinn ließe sich die Gruppierung Karl/Velten als Brüder-Clan gegen eine >Vaterhorde< (die Herren Krumhardt, Hartleben, Trotzendorff, Mungo) interpretieren, die den Besitz des Mütterlich-Weiblichen (und damit auch des Naturhaft-Unversehrten) den Jungen nicht zukommen lassen wollen. Die Verlegung des »psychodramatischen Substrats« von der politisch-öffentlichen Szene(Schiller) in die Familienstruktur (Raabe) entspricht der zunehmenden Verinnerlichung der Normenkonflikte im Kontext des sozio-historischen Wandels bürgerlicher Selbstdarstellung. Dem korrespondiert auf der poetologischen Ebene die Verlagerung vom Schauspiel in den Roman. Die (öffentliche) Bühne des Lebens ist nur noch metaphorisch präsent in der durchlaufenden Theatermetapher, ist nur noch künstlerische Projektion von nach innen verdrängten Gehalten. Handlung wird auch innerpoetisch reduziert auf Sprachhandlung, so daß das Nennen des Todes den Akt des Tötens auf der Bühne ersetzt und das Nicht-mehrNennen von Namen deren Aufopferung impliziert. Daß >Vatertötung< und >Opfer< dennoch über den familiär-individuellen Rahmen hinaus auf gesamtgesellschaftliche Belange verweisen, zeigt nicht zuletzt die Vervielfältigung der Vaterbilder zum Muster mit der besonders sinnfälligen Aufreihung der toten Väter auf dem Friedhof. Die wehrhaften Namen der Väter (Hartleben, Krumhardt) sind dabei Elemente eines obrigkeitlichen Symbolzusammenhangs, der onto- und phylogenetische Spaltung und Entfremdung im Prozeß von Zivilisation und Vergesellschaftung mit sich bringt. - Zur Weiterentwicklung dieses Gedankens muß noch einmal auf Julia Kristevas Arbeit rekurriert werden. Julia Kristeva berichtet - im Anschluß an Ergebnisse der Sozialanthropologie - von der eminenten Rolle, die die Opferung im Übergang von mehr oder weniger gesetzlosen zu gesetzhaften Existenzformen einnimmt. Die Opferung stehe mit ihrer Gewalthandlung in einem Grenzbereich: 166
»Jenseits dieser Grenze befindet sich das A-Symbolische - Auflösung von Ordnung und Differenz, des Menschlichen im Tierischen« (Kristeva 1974: 85), diesseits steht die Welt des Symbolischen, die Welt von Gesetz und Ordnung, von Zurückhaltung und Vertrag, von Anpassung an soziale Normen. Die Opferung selbst stelle eine Gewalthandlung dar, die der vorgängigen semiotischen präsymbolischen Gewalt ein Ende setzt, sie in einem Opfer deponiert und sie damit in genau dem Moment in die symbolische Ordnung verlegt, wo diese Ordnung begründet wird. Mit der Opferung werden gleichzeitig Symbol und symbolische Ordnung eingeführt, und dieses >erste< Symbol - das Opfer eines Mordes - repräsentiert lediglich die strukturelle Gewalt, die das Hereinbrechen der Sprache als Mord am Körper ist. Man hat den Opfervorgang auch als Entfesselung tierischer Gewalt gedeutet, als Gedächtnisfeier vormenschlicher Bestialität. (Kristeva 1974: 83) Gewaltsam ist das Hereinbrechen des Symbolischen, die Tötung der >Substanzsemiotische< Verausgabung entfaltet, eine Praxis, die gegen die symbolische Einfassung angeht und dazu neigt, die symbolische Ordnung aufzulösen, das heißt letzüich die Grenze, von der alles Menschliche und alles Soziale seinen Ausgang nimmt. Es handelt sich um die Repräsentation, die im allgemeinen dem Opfern vorausgeht und Laboratorium für Theater, Poesie, Gesang, Tanz etc., kurz: für die Kunst ist. Daß sie den Kampf, der die Tötung einleitet, mimt, ist zweitrangig gegenüber der Tatsache, dqß sie mimt - [...] Die dionysischen Feste in Griechenland bieten das frappierendste Beispiel eines solchen Durchbruchs des Signifikanten, der in die symbolische Ordnung eindringt und im Taumel von Tanz, Gesang und Poesie deren Auflösung herbeiführt. Kunst - als Semiotisierung des Symbolischen - vermittelt die Lust mit der Sprache, (ebd.: 88) In den »Akten des Vogelsangs« gibt der Erzähler Karl Krumhardt selbst eine Interpretation von Veltens Vernichtungshandlung, die einen Vergleich mit solchen dionysischen Opferszenen geradezu provoziert, wenn er sagt, Velten Andres ließ »dem Omnia exeunt seiner Vogelsang-Tragödie [...] noch ein Satyrspiel folgen, das ihn aber diesmal beinahe - nicht mit der Sanitätsbehörde, sondern wirklich mit der Polizei in Konflikt gebracht hätte.« (BA 19: 375)
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Der aus der Theaterwelt entlehnte Ausdruck des »omnia exeunt« signalisiert für den Leser, daß das Ende des gesamten Figurentheaters dieser Erzählung naht, also auch Veltens Abtritt bevorsteht. Das Satyrspiel, der Epilog des Ganzen, wird als Veranstaltung mit zwei möglichen Ausgängen vorgestellt: Irrenhaus (denn darauf verweist, wie vorher angedeutet wird, die Sanitätsbehörde) und Polizei. Mit diesen Grenzwerten sind aber genau die Positionen diesseits und jenseits des thetischen Einschnitts benannt: Die Polizei, als Ordnungshüterin, steht für das Symbolische mit seiner Gesetzmäßigkeit und das Irrenhaus für das, was Schomerus »Chaos und Nacht« nannte, das nun genauer als Zustand des Wahnsinns, der Schizophrenie bezeichnet werden muß, in den das Individuum verfällt, wenn es die Macht der semiotischen chora nicht in neue signifikante Praxis binden kann, wenn, in psychoanalytischer Terminologie, seine narzißtischen Triebe nicht mehr durch ödipale Identifizierungen aufgefangen werden können. Die Opferung (mit dem Ritual des Satyrspiels) findet also genau auf der Grenze des thetischen Einschnitts statt. Das »Satyrspiel« wird im Szenario der Eigentumsauflösung figurai vorbereitet durch die - für das »Honoratiorentöchterlein« Anna »zweifelhafte« Gesellschaft, die Veltens Haus (auf seine Plünderungseinladung hin) gestürmt hat. Die Haustür ist ausgehängt, die üblichen bürgerlichen Sicherheitsmaßnahmen - wird man sagen können - außer Kraft gesetzt. Im Mittelpunkt dieser »zweifelhaften Gesellschaft« steht das »gesamte Personal« des im Tivoli-Garten gastierenden »Théâtre-Variété«: Miß Athleta, die stärkste Dame der Welt, und Signor Volcano, der Feuermensch, die >größte Sensationsnummer der Gegenwar tdas gefundene Mittelglied^ der unübertrefflichste Affendarsteller beider Hemisphären. (BA 19: 376)
Alle diese Künstler brillieren durch Extremleistungen (d.h. Überschreitung der Norm), durch Exzentrizität und Körperkünste. Im Ganzen geht es »nicht bloß gierig, sondern auch lustig« (BA 19: 376) zu. Gier und Lust nun sind die Grundimpulse der körperbetonten vorödipalen Phase, die in diesem Variété symbolisch Eingang gefunden hat. Das Zentrum dieser Gruppe stellt der Affenmensch German Fell dar. Er ist es, der, nachdem die Massen sich verzogen haben, mit Velten spricht, und zu dem Velten sich (auch nach Fells Abgang) am Abend dieses turbulenten Tages hingezogen fühlt, statt daß er Karls Einladung in die Sicherheit und ordentliche Ruhe der Krumhardtschen Wohnung folgt. Mit German 168
Fell hat Raabe eine außerordentlich interessante Figur erfunden, von der er selbst lange fasziniert bleibt. Velten sei, sagt er noch zehn Jahre später zu Fritz Hartmann: ein wackrer Bursch und mir auch heute noch lieb. Und die Freundschaft mit dem Affenmenschen: >Wir haben uns beide verklettertEmpfindlichkeit, Trübsinn u.a., verweist jedoch auf lat. fei. fellis ( = die Galle). Die Homonymie der Bedeutung von deutsch und ebenbürtig im Wort German wird Raabe möglicherweise besonders gereizt haben, da er den spezifisch deutschen Charakter dieser Kindheitsaufarbeitung verschiedentlich betont, so wenn er vom Vogelsang als »deutscher Kinderstube« spricht, und die durch die Verbrennung des väterlichen Besitzes erzeugte Wärme von Velten ausgerechnet höhnisch als »deutsch-gemütlich« bezeichnen läßt. Tiefgründiger kann dieses Warenzeichen deutsch-bürgerlicher Verinnerlichungs- und Verdinglichungskompensation kaum in die Debatte geworfen werden. 169
Affen- und Tierphantasien gestaltet hat, hinaus. Rohse, der in seinem Aufsatz »»Transzendentale Menschenkunde< im Zeichen des Affen« (1988) das intensive anhaltende Interesse Raabes für die Diskussion um die Abstammungslehre (Darwin, Heckel, Lyell, Virchow) nachweist, zeigt, wie zunehmend in Raabes Werk ein »Diskurs über Hominisation im Spannungsfeld zwischen Humanisation und Animalität« sich realisiert, ein Diskurs, der zentral auf »die Frage der menschlichen Personalität« ziele (Rohse 1988 - im Manuskript S.25). So wichtig es für die Einschätzung des Autors Raabe ist, auf die Rezeption und produktive Verarbeitung der aktuellen naturwissenschaftlichen Debatte hinzuweisen, die Bedeutung des Affenmenschen in den »Akten des Vogelsangs« geht nicht in der quasi biologischen Transzendentalität des Menschen auf. Die gesellschaftlich-psychologische wie die künstlerische Dimension sind der biologischen immanent. Im Affenbild wird ja nicht nur das überwundene, wenn auch in die Menschheit noch hereinragende, Tierische repräsentiert, sondern zugleich das unwiederbringlich verlorene Kreatürliche. Das vorzivilisatorisch-ganzheitliche Stadium des Affenmenschen (»Anthropoiden«) German Fell, kann als Poetisierung des 1856 gefundenen (deutschen) Neandertalers angesehen werden, sein englisch klingender Name und das Attribut »das gefundene Mittelglied« stellen die Verbindung zur Darwinschen Abstammungslehre her. Dieses vorgestellte kreatürliche Ganzheitsstadium ist für den modernen Menschen nicht mehr wiederzuerlangen. Nur im Variété, (d.h. in der Kunst) können beide Hemisphären (Tierheit und Menschheit) noch vereint vergegenwärtigt werden. Für die Welt des bürgerlichen Alltags bedeutet der Anspruch auf totales, ungespaltenes Sein eine Art hysterischer Verkletterung; dem psychologisch, medizinisch und naturwissenschaftlich Interessierten jedoch verspricht der erinnernde Rückgang auf phylo- und ontogenetisch frühere Stadien - wie nicht zuletzt die »Akten« bezeugen - Aufklärung und Identitätsaufschluß. Für den Dichter schließlich stellt diese symbolische Identitätssicherung im Rahmen der sentimentalischen Rückbesinnung eine melancholisierende Standortbestimmung dar. Melancholisch nämlich erscheinen im Verlauf von Raabes Roman v.a. diejenigen, die mit einer Art sehnsuchtsvollen Liebe geradezu magnetisch auf Velten Andres ausgerichtet sind, d.h. der Chronist Krumhardt und Leonie des Beaux. Auf sie wird das Epitheton >melancholisch< denn auch beinahe ausschließlich angewandt. Aus der Perspektive von Velten Andres allerdings, solange er noch in seiner Welteroberer-Rolle als Kontrapart des Melancholikertypus figuriert (»Es leuchtete eine solche siegessichere, lachende, 170
unverschämte Zuversicht aus seinen Augen« BA 19:276), bildet Karl mitsamt seinem Vater einen melancholischen Komplex: So gönnt Velten z.B. Karls Vater nicht das »melancholische Behagen« (BA 19: 264), den Seiltänzer Velten noch einmal am Abitur scheitern zu sehen. Angesichts von Karls »Protokollführergesicht« prognostiziert und empfiehlt Velten für die Zukunft ein »melancholisches Kopfschütteln« beim Bericht über den Jugendfreund Velten Andres. - Der Zusammenhang von Melancholie und Vaterbild wird aber auch vom Chronisten selbst bestätigt, wenn er glaubt, »melancholisch-dankbar« zum Vaterbild aufschauen zu müssen (BA 19: 336). Diesem einen Bedingungselement seiner Melancholie entspricht auf der anderen Seite der Verlust dessen, was »so wesenhaft Velten Andres in meinem Dasein hieß«. Demgemäß findet ihn seine Frau (gleich am Anfang des Romans) in einer variiert-verstärkten Melancholikerhaltung, den Kopf also nicht in eine Hand, sondern in beide Hände gestützt: »Was hältst du so den Kopf mit beiden Händen?« (BA 19:215) Karl selbst beschreibt sich in eben dieser Haltung bald nach dem Tod seines Vaters: »Ich nehme wieder einmal über diesen Blättern die Stirn zwischen beide Hände« (BA 19:357). Seine Überlegungen zu Veltens Geschick charakterisiert er an anderer Seite als »wenn auch melancholisch, so doch nüchtern« (BA 19:319). Im weiteren beschreibt er Leonie des Beaux mit ihrem sehnsuchtsvollen Lied und den »melancholisch-scheuen [...] sehnsüchtigen Augen« (BA 19:309) als zugehörig zum Kreis der Melancholiker. Die mit der Erwähnung des Vatertodes markierte Wende im Erinnerungsdiskurs zeigt auch eine Folge für das imaginierte Melancholieensemble: Velten Andres demonstriert nun selbst zunehmend Melancholie; aus dem Welteroberer wird der »schauderhaft müde« Weltüberwinder, der mit seiner Eigentumsverbrennung die Vatertodphantasien konfirmiert. - Im Affenbild nun, dem Höhepunkt des Erinnerungsprozesses, wird diesem Melancholikerbild - und damit zugleich dem Chronisten - ein vielsagender Spiegel vorgehalten. German Fell stellt neben seiner Ganzheitsbedeutung (»Affendarsteller beider Hemisphären«) zugleich einen deutschen Hamlet dar; er hat einige Semester in Wittenberg studiert. Auch Velten wurde früher im Text mit Hamlet verglichen39 und der Chronist übte sich im »Monolog über Sein und Nichtsein« (BA 19: 334). Diese bedeutungsvolle HamletKonzentrierung, die durch die fortlaufenden Theatermotive im Text noch verstärkt wird, legt es nahe, den Namen >German Fell< als >Deutsche Galle< 39
Von Velten heißt es: »Mit allen den Vorzügen und Tugenden begabt, die Ophelia aufzählt und von denen der dänische Prinz so schlechten Gebrauch machte, ging er wahrlich nicht von >Wittenberg< nach den Vereinigten Staaten« (BA 19: 318). 171
(von lat. : fei, fellis = die Galle), als >Deutscher Melancholiker also zu lesen. Selbst der Name Ke/ten gerät von da aus in den Sog des Gallig-Melancholischen (»Da liegt Symbolik drin, das ist hübsch ersonnen«). Zu fragen wäre, inwiefern dieser Affendarsteller zum auch namensmäßig ausgezeichneten Sinnbild der Melancholie werden kann. Ganz offenbar glaubt der Autor ja, mit dieser Phantasie ins Zentrum einer ihm wesentlichen Persönlichkeitserkundung zu gelangen, wenn er ihn sich mit »transzendentaler Menschenkunde« beschäftigen läßt. Die Bedeutung German Fells kann nur darin liegen, daß in seiner Figur die konfligierenden Paradigmen des Romans aufeinanderprallen, ohne daß eine Lösung des Konflikts angegeben würde. Nach der thanatographischen Durchquerung des Väterlichen, nach den Vatertod- und Vaterverbrennungsphantasien, gelangt der Chronist nicht zu einem alternativen Diskurs. Velten Andres, die Figuration eines tendenziell unentfremdeten narzißtischen Daseins entpuppt sich als geschlagener Held, selber längst ein Opfer der Vaterwelt, da er die von ihm ersehnte Helene an den Millionär Mungo verloren hat. Für das Erzählsubjekt bedeutet das die Erfahrung, an seinen Diskurs letztlich gebunden zu bleiben, auch wenn er als entfremdend und leidvoll erfahren wird. Melancholie ist Ausdruck dieser dissonanten Situation, der Sehnsucht nach einem anderen (hier aus früher Vorzeit erinnerten) Dasein und des Wissens, daß dieses Dasein letztlich verstellt bleibt, da die Bedingung der Möglichkeit eigener Individualität, eigenen Subjektseins, den Eintritt in das vorgegebene Symbolsystem verlangen. Insofern ist German Fell wirklich ein Symbol »transzendentaler Menschenkunde«, und der später erfolgende Abschied aus dem Symbolkontext der Erinnerungswelt mit Erwähnung des Monologs »To be, or not to be« (BA 19: 407) läßt die melancholische Position als gültig bestehen. Weiter zu bedenken wäre allerdings, warum diesem HamletAbschluß noch das Motiv der Kinder am Romanschluß folgt; für die Kinder sind die »Akten« ja angelegt worden. Verbunden damit ist die Frage nach dem Ertrag des melancholischen Diskurses für den Schreiber selbst und seine Kinder. Wesentliches Charakteristikum des melancholischen Subjekts ist - bei aller je historisch modifiziert gerichteten Trauer - die Fähigkeit zum Ausdruck des Leidens, die Fähigkeit zum »adamitischen Namengeben« (Benjamin 1925: 217). Diese symbolstiftende Kraft macht den Fundus an Trost in allen überlieferten Melancholieprodukten aus. Im Gegensatz zu seinem Alter Ego Velten, der auf der Ebene des Romans gewissermaßen stumm abgeht (er reicht nach der Affen-Szene Karl »seine Hand nur wie mechanisch und ohne eigentlich genaues Verständnis der Sache« BA 19: 172
380), gelingt es dem Chronisten, »zu sagen, was ich leide«. Er hat in der Figur Velten Andres zunächst die Verwerfung des Thetischen bis hin zum symbolischen Vatermord gestaltet. Durch sein Figurentheater hat er eine Öffnung des Symbolischen zum Semiotischen realisiert und ist so auf der Bildebene zum Ursprung auch seines Subjektseins vorgestoßen. Damit ist er aber in einen Bereich semiotischer Verausgabung gelangt, der das Subjekt negiert: in den Bereich des Assozialen, der Sprachlosigkeit, des Todes.40 Die Wahrnehmung dieser Apotie legt den Grund für die Melancholie. Im Sinne der rituell-symbolischen Opferungen muß auch Velten, der Traum von der Realisierung des unentfremdeten Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft, geopfert werden, denn dieses Opfer garantiert eine neue Synthetisierung der entfesselten Prozesse.41 Julia Kristeva interpretiert den mimetischen Charakter, den sie durch die Elemente von Musik, Tanz, Poesie und Theater im Umkreis ritueller Opferungen aufgewiesen hat, schon in frühkulturellen Formen als Bedürfnis, durch »Wiederaufnahme der Bewegung der symbolischen Ökonomie« (Kristeva 1974:88) aus dem Bereich jenseits der sozialen Grenze herauszugelangen. Von hier aus ergeben sich interessante Parallelen zur Interpretation der »Akten des Vogelsangs«. Karl hat zur Gewinnung und Sicherung seiner Identität in den »Akten« eine solche mimetische Handlung vollzogen. Durch Projektion seiner elementar kontroversen Kräfte, Triebe, Wünsche und Zwänge in ein zweipoliges Figurentheater ist er sich seiner selbst als gespaltenes Subjekt bewußt geworden. Er hat das Symbolische durchquert, hat in der Doppelartikulation 40
Kristeva sagt: »Die metonymische Logik der Opferung, ihre gebrochene Kontinuität, ihr symbolisches Verhältnis zu einer herrschenden Instanz: all das rückt sie in die Nähe des Unbewußten, das die unausgesprochene Bedingung sprachlicher Systematisierung ist, nicht freilich in die Nähe des Sprachsystems selbst. Das erklärt auch, warum sich Opferung, Inzest und Verrohung an den äußersten Enden des sozialen Codes befinden, dessen verdrängte Grundlage sie repräsentieren.« (Kristeva 1974: 86) 41 Im Sinne des - psychoanalytisch gedeuteten - Fortgangs der Selbstvergewisserung Karls ist es denn auch logisch, daß erst nach der Opferung Veltens, nach der Überführung des Erlebens in Bedeutung, es dem Erzähler möglich ist, zu den am stärksten durch Zensur verdrängten Bildern erotischer Mutterphantasien vorzudringen. Erst am Totenbett Veltens spricht Helene von der gegenseitigen Suche, von Finden und Vereinigung in Bildern aus dem Erinnerungsbereich des Unbewußten (s. Waldsymbolik) und der Kindheit. »Das war auch wie in unseren Wäldern zu Hause, wo er mich [...] tausendmal zum Küssen und Kratzen, zu Tränen und zum Fußaufstampfen brachte.« (BA 19: 402) - Erst hier enthüllt sich durch die (zitierten) Uberhistorischen Mutterbilder der zentrale Faktor im Aufbau menschlichen Begehrens: Der Wunsch nach Vereinigung mit der Mutter.
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seines thanatographischen Schreibakts durch »die Grenze des väterlichen Namens hindurch« einen Bereich erreicht, der im Roman durch das Paradigma des Mütterlichen (als Gegenväterliches und damit Vorsymbolisches) versinnbildlicht wird. Das Kind Velten, als Mittelpunkt dieses »mütterlichen« Bedeutungsbereiches, hat keinen Realitätswert, ist kein eigentliches Signifikat, sondern repräsentiert (als künstlerisches Produkt dieses Durchquerungsprozesses) Karls Begehren. 42 Die Arbeit des Erzählens, von der Karls Zwischenbemerkungen immer wieder zeugen, zeigt die Schwierigkeit des Erzählers, die semiotische Motilität in neuer signifikanter Praxis zu strukturieren. Veltens Verstummen verweist dabei auf die Gefahr solcher thanatographischen Praxis, auf die Nähe zu Wahn und Tod. Karl hat diese Gefahr gefühlt und formuliert, als sein geschätzter, gepflegter Geschäftsstil ihm abhanden kam (symbolische Praxis im Berufsbereich also gefährdet war), als die Akten um ihn zu wanken anfingen, als sein Besitz ihn beinahe erdrückte und als schließlich der Kontakt zu seiner Familie abzubrechen begann. Er hat gemerkt, daß seine Position aus der Symbolkette der familiären und gesellschaftlichen Gemeinschaft - durch sein In-Frage-Stellen des Väterlich-Thetischen - herauszubrechen drohte. Nur indem es ihm gelingt, die Gewalt des Semiotischen im Thetischen zu lokalisieren, aus ihr einen Signifikanten zu machen (einen Signifikanten, der in diesem Roman in der komplexen Isotopie der zweiten »mütterlichen« Personenreihe dominant gesetzt wird), kann er selbst als gesellschaftliches Subjekt weiter existieren. Der Autor Raabe führt durch seinen Erzähler Karl Krumhardt ein Individuum vor, das im Prozeß des Schreibens, durch Zeichenbildung, der Gefahr der Verausgabung im Semiotischen begegnet. Daß dieses Schreiben im wahrsten Sinne als produktiv-signifikative Praxis, und nicht als Abspiegelung von wie auch immer verstandenem Realen anzusehen ist trotz der von Karl zeitweise genährten Vorstellung eines »nüchternen« Protokolls - , erhellt aus dem redundanten Gebrauch der Theater-Metapher, auf die zu Anfang dieser Ausführung (anläßlich der Reflexion über den fiktiven Charakter der Protokolle innerhalb der Fiktion der Erzählung) hingewiesen wurde. 42
Kristeva schreibt: »Unserer Meinung nach befindet sich die mimesis dann an der Stelle, wo das Thetische überschritten wird, wenn die Wahrheit nicht mehr auf ein identifizierbares Objekt außerhalb der Sprache verweist, sondern auf ein Objekt, das durch das semiotische Netz hindurch konstruiert werden kann, jedoch im Symbolischen gesetzt wird und so immer wahrscheinlich bleibt.« (Kristeva 1974: 67f.) 174
Beispiele, Reflexionen, Bilder und Vergleiche aus dem Bereich von Theater, Tragödie, Komödie durchziehen den ganzen Roman, häufen sich, wie gezeigt, am Anfang und gipfeln dann in der Inszenierung der Eigentumsvernichtung als Theater im Theater mit entsprechendem Personal. Den Abschluß dieses Theater-Protokolls bildet die theatralische Endszene Helenes an Veltens (leerem) Totenbett. 43 Die Redundanz des Theater-Motivs mitsamt der play-scene als Höhepunkt verweist natürlich wieder im Zusammenhang des MelancholieSyndroms auf das Drama »Hamlet« mitsamt der von Hamlet selbst inszenierten play-scene. So wie dieses Theater im Theater Klärung für Hamlet bringen soll in Bezug zu Vaterinstanzen, so bringt auch für den Chronisten Krumhardt wie für seine Projektionsfigur Velten das Geschehen im Rahmen des Tivolitheaters den Selbstklärungsprozeß zu einem Abschluß. Der Übergang vom Theatergeschehen hin zur klärenden psychologisierenden Prosa des Chronisten wird im Roman selbst von Krumhardt thematisiert. In der Endszene läßt der Autor, zur Unterstreichung des theatralischen Effekts, Helene sich selbst und Velten als Komödiantin und Komödiant benennen; Helene bedauert, daß Karl kein »Versemacher« sei und überantwortet dann ihre und Veltens »Stern, Wege und Schicksale« Karls »nüchterner Prosa«, die dieser selbst melancholisch nannte und die wohl besser als Drama und Verse zur psychologischen Analyse menschlicher Seelenzustände und deren Darstellung sich eignet; dann gehe heim zu deiner lieben Frau und deinen lieben Kindern und erzähle den letzteren zu ihrer Warnung von Helene Trotzendorff und Velten Andres, und wie sie frei von allem Erdeneigentum ein trübseliges Ende nahmen. (BA 19: 403)
Und noch beim Abschied schlägt Helene Karl vor, mit ihr zum »berühmte(n) Komödiant(en)« Mr. Irving zu gehen (der »inkognito« aus London da ist), um den Monolog »to be or not to be« anzuhören. Alles Sein schlägt also in Schein um, und der Schein wird zum Sein, der Mensch wird sich seiner selbst nur in den illusionären Verkleidungen und Projektionen bewußt. In diesem Sinn schließlich kann auch nur das Motto des Romans:
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Häufig wird z.B. das Geschehen als Komödie (275, 277, 320), als Puppenspiel (320), als Tragikomödie (334), als ewig gleiches Schauspiel mit zugeteilten Rollen (334), in dem jeder seinen Theaterplatz hat (348), gekennzeichnet. - Karl spricht von Veltens »komödienhaftesten Armesündergesicht« (253), sagt: »Unter den Komödianten wäre er vielleicht noch am besten aufgehoben, der Windsack ! « (262). Velten selbst weiß, daß er im Leben Komödie spielen muß (352), vor allem vor der Mutter (365).
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Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen, Sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen. in Analogie zur Rollenzuweisung auf dem Theater als Aufhebung der festen Zuordnung von Sein und Schein, als Öffnung zur gleitenden, kontextbedingten Bedeutung verstanden werden, entstanden aus der ambivalenten exzentrischen Struktur der gesellschaftlichen Subjekte. 4 4 Eine 44
Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf F. Haugs (1977) »Kritik der Rollentheorie«, in der sie - anhand einer Untersuchung zur Shakespeare-Zeit - die These formuliert, daß Metaphern aus dem Bereich des Theaters besonders in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen inflationieren. Eine Applikation dieses Befundes auf Raabe erschiene durchaus erwägenswert. Eine Interpretation des Romans überhaupt aus der Rollenkategorie heraus würde die hier durchgeführte Analyse - auch über Schedlinskys besprochene Analyse hinausgehend - durch Historisierung der Struktur stützen. Es entwickelt ja Georg Simmel, der mit dem Cesamtwerk seiner philosophischen und soziokulturellen Arbeiten als besonders sensibler Seismograph beinahe aller kulturphilosophischen Strömungen um die Jahrhundertwende anzusehen ist, seit den 90ger Jahren des 19. Jahrhunderts erste Ansätze rollentheoretischen Denkens. Uta Gerhard (1976) zeigt, daß Simmel zwar nicht, wie lange behauptet, als »Vater der Rollentheorie« anzusehen ist; er habe nicht am Rollenbegriff gearbeitet, wohl aber das Phänomen der Rolle in besonderer Weise beschrieben. Im Zentrum seines soziologischen Denkens steht die Dialektik von Rolle und Individuum, wie sie erst in den letzten Jahren von der Soziologie erneut untersucht werde. Für Simmel bewirkt das, was wir heute gesellschaftliche Rolle nennen (von ihm selbst als Form, Lebensform, Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Kreisen, Bestimmtheit durch Gruppen gekennzeichnet) auf der einen Seite Entfremdung des Individuums, Instrumentalisierung durch Institutionalisierung, Manipulierung - im ganzen also psychischen und physischen Zwang. Andererseits aber berge diese Überwältigung der Subjekte durch das Objekte eine Möglichkeit höherer Subjektivität, insofern das Individuum im Schnitt verschiedener sozialer Kreise zu einer produktiven Distanz zu sich selbst komme und auf einer höheren Stufe individuelle Einheit als Synthesis von Subjektivem und Objektivem realisiere. »Nachdem die Synthese des Subjektiven das Objektive hervorgebracht, erzeugt nun die Synthese des Objektiven ein neueres und höheres Subjektives - wie die Persönlichkeit sich an den sozialen Kreis hingibt und sich in ihm verliert, um dann durch die individuelle Kreuzung der sozialen Kreise in ihr wieder ihre Eigenheit zurückzugewinnen.« (Simmel 1908. Soziologie: 413) Simmel ist sich dabei sehr wohl der Gefahr von Identitätsverlust bewußt, die die Überfremdung der spontanen Individualität für die Subjekte bedeutet; er weiß auch, daß solche Diskrepanzen in besonderer Weise die Kulturkrise seiner Zeit bedingen. »Die frühere Unzweideutigkeit und Sicherheit weicht zunächst einer Schwankung der Lebenstendenzen; in diesem Sinn sagt ein altes englisches Sprichwort: wer zwei Sprachen spricht ist ein Schurke. Daß durch die Mehrheit der sozialen Zugehörigkeit Konflikte äußerer und innerer Art entstehen, die das Individuum mit seelischem Dualismus, ja Zerreissung bedrohen, ist kein Beweis gegen die festlegende, die persönliche Einheit verstärkende Wirkung. Denn jener Dualismus und diese Einheit tragen sich wechselseitig: gerade weil die
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interpretatorische Festlegung des Roman-Mottos auf einen bestimmten Sinn würde dem Auftauchen und Verschwinden von Bedeutungshaftigkeit gerade zuwiderlaufen, und so scheinen folgende drei (zunehmend komplexere) Interpretationen in gleichem Maße zutreffend, ohne daß dabei weitere ausgeschlossen würden: 1. Im theatralischen Schattenspiel des Erzählers löst sich das aus dem Nichts hervorgehobene heldenhafte Wesen des Velten Andres am Ende wieder in Nichts auf. 2. Die vom Erzähler für sich und seine Existenz als wesenhaft begriffene Normenwelt des väterlichen Bedeutungsbereiches - verdichtet im Symbol des Eigentums - wird im Verlauf des Figurentheates als großer imaginärer Schatten erkannt, dem - durch die Eigentumsmüdigkeit der Helden - von seiner wesenhaften Substanz genommen wird. 3. Wesenhaft sind für den Aufbau der Erzähleridentität, derer Karl sich in diesem »Protokoll« versichert, zwei Bedeutungsbereiche gewesen: bewußtseinsmäßig zunächst das väterliche Symbolgesetz mit seinen bürgerlichnormativen Implikationen. Ihm wurde »Wesen sonst verliehen«. Durch sein Figurentheater hat der Erzähler aber auch die für ihn elementare Wesenhaftigkeit des anderen - semiotischen, narzißtischen, frühkindlichen Bereichs wiedererkannt und zugleich in ihrem (vorsymbolischen) Alleinanspruch überwunden (»sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen.«). Nur durch Verwerfen des Thetischen, in der Durchquerung des väterlichen Namens (der damit zum Schatten wird) kann der Künstler das Symbolische Persönlichkeit Einheit ist, kann die Spaltung für sie in Frage kommen: je mannigfaltigere Gruppeninteressen sich in uns treffen und zum Austragen kommen, um so entschiedener wird das Ich sich seiner Einheit bewußt.« (Simmel 414) Aus dem so Zitierten wird deutlich, daß man den Identitätsgewinnungsprozeß des Erzählers Karl Krumhardt durchaus in Nähe zu Simmeis Ausführungen als Gewinnung von höherer Ich-Einheit durch ein Sich-Aussetzen an verschiedenen Rollen erklären kann. Die Erfahrung vom »seelischen Dualismus, ja Zerreissung« wird im Roman durch die Abspaltung in verschiedene Rollen und durch das Leiden an dieser Spaltung anschaulich vorgestellt. Der Roman endet, so könnte man folgern, mit dem Entwurf eines sowohl distanzierteren als auch sensibleren Ichs, das seine Freiheitsräume kritischer einzuschätzen weiß. Im Sinne von Simmeis Kulturphilosophie, innerhalb deren gerade dem Kunstwerk - neben Philosophie und Religion - die Aufgabe zukommt, die dem modernen Menschen verlorengegangene Einheit im sinnlich-geistigen Funktionsgefüge des Werkes anschaulich zu machen, stellt dieser Roman Raabes ein letztes Gelingen eines solchen Entwurfes dar. Im Fragment »Altershausen« ist die synthetisierende Einheit nicht mehr gelungen, die Rollen driften auseinander oder kommen zu falschen Identitäten. 177
zum Semiotischen hin öffnen, und durch erneuten Mord am Körper (der nun selbst wieder Schatten wird) kann die elementar-erlebnismäßige Kraft der semiotischen Triebe wieder lokalisiert werden. Für das gespaltene Subjekt, das zugleich semiotisch und symbolisch ist, kann die Frage von Wesen und Schatten, von Sein und Schein nur eine Frage des Kontextes, der Signifikantenkette sein, wie das Motto poetisch verdeutlicht. Mit der Figurierung von Spaltungserfahrung und Resythetisierungsanspruch gelingt Raabe die künstlerische Darstellung einer um die Jahrhundertwende paradigmatischen Erfahrung. Spaltungserfahrung erscheint in der Literatur in immer neuen dublizierenden Selbstvergewisserungsphantasien, erscheint als zentrales movens der Einfühlungsästhetik, von der z.B. Prandtl sagt: »Einfühlung beruht immer auf der Lostrennung eines Erlebnisaktes vom eigentlichen Ich« (Prandtl 1910: II); 45 Spaltungserfahrung wird in der phänomenologischen Psychologie auf neuer Grundlage diskutiert (s. Oesterreich 1910). In der sich entwickelnden Psychoanalyse wird im Bereich der Hysterieforschung von Charcot, Breuer und Freud das Spaltungserleben zum zentralen Forschungsgegenstand. Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf die verschiedenen Versuche der Autoren, den hysterischen Diskurs (der in der Zeit vornehmlich als weiblicher verstanden wurde) einzugehen. Für die hier allein interessierende Affinität zu Raabes Konzept des Spaltungsromans bieten - wegen der Verbindung zur Sprachforschung - die Interpretationen des Hysterischen aus dem Umkreis der Lacanschule die meisten Anknüpfungspunkte. Christina von Braun z.B. kennzeichnet in ihrem jüngst erschienenen großen Ansatz zur Geschichtsschreibung der Hysterie (»Nicht Ich - Ich nicht« 1985) die von Charcot, Breuer und Freud beschriebenen hysterischen Szenen der Patientinnen als theatermäßige Inszenierungen. In der von allen Psychiatern beobachteten Spaltung trenne ein ICH (als Ausdruck eines 4S
Prandtl schreibt: »Im Akte der Einfühlung tritt nun eine Spaltung der Icherlebnisse ein [...]. Wir erhalten in diesem Fall daher zwei Iche, die getrennt, ja gegensätzlich nebeneinander bestehen, - während doch das Ich immer wesentlich nur eines ist.« (Prandtl 1910: 114). Daß die Ursache des Spaltungsprozesses in innersubjektiver Dissoziiertheit begründet liegt, wird wenig später deutlich, wenn er den Prozeß der Spaltung beschreibt dadurch, »daß ein Teil des Ich (das einzufühlende Gefühl) von der großen Masse der Vorgänge, welche das eigentliche Ich bilden, sich loslöst und sonach als Äußerung eines anderen vom eigentlichen Ich verschiedenen Subjekts erscheint. Ursache für diese Spaltung ist irgendein Widerspruch, ein Gegensatz, in dem das Einfühlungsgefühl zu der Masse der übrigen gleichzeitig vorhandenen Icherlebnisse steht, so daß scheinbar nicht beide Äußerungen ein und desselben Ich sind« (ebd.: 121).
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abstrakten gesellschaftlichen Über-Ichs) von sich ein ich (als Ausdruck eines unvollkommenen, wünschenden, geschlechtsbestimmten Bewußtseins) ab und beobachte dessen Agieren. (In Raabes Akten würde dem ICH Karl Krumhardt und dem ich Velten Andres entsprechen.) Das ich agiere also im Auftrag des ICH. »es spielt die Rolle, die ihm das beobachtende ICH zugewiesen hat, nämlich die des >tollen ZeugsKindheit< bedeutete nicht immer schon einen abgeschirmten Schonraum im menschlich-gesellschaftlichen Dasein, dem grundsätzlich (zumindest theoretisch) Anspruch auf liebevolle Zuwendung, sanktionsfreie Lebensäußerung und spezialisierte Beschäftigung zugestanden wurde. Erst im 18. Jahrhundert kann für unseren Kulturraum von einem gezielten allgemeinen Interesse für Kind und Kindlichkeit gesprochen werden. Abgesehen von der (dieser »Entdeckung« von Kindheit vorlaufenden) pädagogisch-seelsorgerischen Hinwendung zur Kindheit muß deren gesellschaftlich-kulturelle Auffassung vom 18. zum 20. Jahrhundert im Zusammenhang geschichtsphilosophischen und naturbezogenen Denkens und in Abhängigkeit von der Herausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie begriffen werden. α. Als besonders wirksam für die Herausbildung des Topos >Kindheit< in der Literatur erwies sich die Analogisierung der frühen Individualgeschichte des Menschen mit dessen kollektiv-gattungsgeschichtlicher Evolution. Im Umkreis verschiedenartiger geschichtsphilosophischer Grundmodelle im 18. Jahrhundert bildete sich beispielsweise bei Schiller - in Auseinandersetzung mit Rousseau, Kant, Herder - ein triadisch fortschreitendes Konzept von Ursprungszustand, dessen Aufhebung und Zerfall, sowie dessen Restitution auf einer höheren, durch die Aufklärung hindurchgegangenen Ebene aus. Das Anderssein der eigenen Zeit (im Vergleich zu vorangehenden Epochen) wird im Zeitalter des Rationalismus und der Entwicklung von Technik und Naturwissenschaften einerseits als Bewußtsein von Reife und Fortschritt erfahren; andererseits wird aber (da Geschichte organische Gattungsgeschichte ist) die Zeit früherer Kulturen und Gesellschaften zur Zeit menschheitsgeschichtlicher Kindheit stilisiert, zur Zeit positiver Naivität, Unschuld und Unwissenheit, einer »goldenen Zeit« im Urzustand der Naturhaftigkeit. So erscheint etwa für Schiller das »Arkadien« der Kindheit als Zeit unbegrenzter Möglichkeiten, wenn er sagt: In dem Kinde ist dte A nlage und Bestimmung, in uns ist die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. (Schiller 1795/96. »Über naive und sentimentalische Dichtkunst.« Schiller-Werke. Bd. V: 697)
Wenn Schiller fordert, daß der moderne »sentimentalische« Dichter - mag er sich auch noch so sehr nach »Arkadien« zurücksehnen - uns doch ins zukünftige »Elysium« führen müsse, so wird deutlich, daß schon im 18. Jahrhundert (menschheitsgeschichtlich) die Regression auf Kindheit 191
Utopisches entbergen soll. Kindheit wird zum Inbegriff sowohl des Ganzheitlichen als auch des Zukunftsoffenen, beides Werte, die ins Zentrum bürgerlich-geschichtsphilosophischer Konzepte weisen. Dabei bedeutet die angestrebte Ganzheitlichkeit im Denken des 18. Jahrhunderts v.a. Überwindung der Polarität von Natur und Vernunft, von Zwang und Freiheit durch Einbeziehung der Natur ins Moralisch-Vernünftige. Für Schiller kann die Vereinigung dieser Polarität, die Überwindung der menschlichen Gespaltenheit nur im Schönen, im »schönen Schein« gelingen, und nicht zufällig wird der Begriff des Schönen mit dem »Spielen«, einer genuin kindlichen Tätigkeit, verbunden. Im spielerischen Umgang mit dem Schönen sollen die Menschen die seit dem Kindheitszustand verlorene Einheit auf einer höheren, moralischen Stufe wieder erlernen. - Der Topos >Kindheit< wird über Schiller hinaus im Kontext bürgerlicher Kulturbilder zum Gegenbild für psychopersonale Versehrtheit der vergesellschafteten Erwachsenen-Welt. So wird - um noch ein zweites, für die Entwicklung dieses Topos in starkem Maße prägendes Beispiel zu erwähnen — die Vorstellung von >Kindheit< bei Friedrich Hölderlin mit der Aura einer (für den modernen Menschen verlorengegangenen) Ganzheit umgeben. Der Verlust der Ganzheit wird betrauert als Verlust des Einsseins mit der Natur und in der Natur, sowie als Erfahrung der Besonderung durch Vernunft, Wissen und Gesetz. Hyperion schreibt an seinen Freund Bellarmin: meines Herzens Asyl, die ewigeinige Welt ist hin; die Natur verschließt die Arme, und ich stehe, wie ein Fremdling, vor ihr, und verstehe sie nicht. Ach! Wäre ich nie in eure Schulen gegangen. Die Wissenschaft, der ich in den Schacht hinunter folgte [...], die hat mir alles verdorben. Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne. [...] Da ich noch ein stilles Kind war und von dem allen, was uns umgibt, nichts wußte, war ich da nicht mehr, als jetzt, nach all den Mühen des Herzens und all dem Sinnen und Ringen? Ja! Ein göttlich Wesen ist das Kind, solange es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschheit getaucht ist. Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön. Der Zwang des Gesetzes und des Schicksals betastet es nicht; im Kind ist Freiheit allein. In ihm ist Frieden; es ist noch nicht mit sich selber zerfallen; (Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797-1799) Hölderlin-Werke: 493f.)
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Kindheit wird identisch mit Schönheit, und beides impliziert Natur und Ganzheit,57 beides Werte, die der »moderne«, den »Dissonanzen« von Wissen, Staat und Gesellschaft ausgesetzte Dichter nur in der Erinnerung, im »elegischen Charakter« eines Hyperion und in der Darstellung des Schönen (personifiziert im »Hyperion« durch die Gestalt Diotimas) aufheben kann. Um 1800 ist in Deutschland der Topos der Kindheit zu einem der wesentlichen panegyrischen Topoi geworden (s. das Kindheitsmotiv bei Kleist, Jean Paul, Novalis, Tieck, Dorothea Schlegel, Brentano) und verschmilzt weitgehend mit dem Topos des goldenen Zeitalters.58 So nimmt es nicht wunder, daß Kindheit auch für die Romantik zu einer zentralen Kategorie wird, nun erweitert um den Aspekt der künstlerischen Anlage im Kind. Wurde schon von G. Vico in seiner »Scienza Nuova« (1725) die Welt des Kindes als die Welt der Phantasie und Poesie gefeiert, so wird das Kind nun zum Sinnbild des künstlerischen Genies.59 Als Genie gilt für die Romantik der, der sich den Zugang zum Kindlichen erhalten hat, und das heißt: der kann nur wahrer Künstler sein, der noch im kindähnlichen Vollbesitz von Spontaneität, Gefühlstiefe, Ganzheitlichkeit und Phantasie ist, da er diese Kräfte noch nicht (wie die »normalen« Erwachsenen) im Dienste (entfremdeter) Bedürfnisbefriedigung unterdrückt, deformiert oder kanalisiert hat, sie nicht den Konventionen, Normen und Zwängen der Bürgerwelt untergeordnet hat. Das zunehmende Bewußtsein der eigenen Zeit als einer Zeit des »Geteilten«, des »Zergliederten«, der »Zerstückelung«, der »Dissonanz« und der »Entfremdung«, 60 das Bewußtsein also des Verlusts ganzheitlicher Welterfassung und -erfahrung, läßt das Motiv Kindheit unter verschiedenen Perspektiven bis ins 20. Jahrhundert als teils eskapistische, teils regressive Utopie61 auftreten. 51
Zur beinahe archetypischen Vorstellung der Ganzheitstopoi im Zusammenhang idealisierter Kindheit s. Schaub (1973) und Neumann (1953). 58 Zum Topos des »goldenen Zeitalters« in der Romantik s. z.B. Petersen (1926) und Heiner (1977). 59 Zum Kindheitsmotiv bei Kleist s. Durzak (1969), in der Romantik s. Schaub (1973), Wucherpfennig (1980). 60 Schon in Winckelmanns »Gedanken über die Nachahmung griechischer Werke« findet sich zur Kennzeichnung modernen Bewußtseins und moderner Natur der Begriff des »Getheilten«, der in Hölderlins Vorstellung vom »Ur-teilen«, in der Schlegelschen Vorstellung des »Chemischen« und »Zergliederten« und dann in Hegels Begriff des »Partikularen« und »Besonderen« weitergeführt wird. (S. dazu Szondi 1974: 34f.). 61 Zum eskapistischen und regressiven Charakter von Kindheitsphantasien s. v.a. Wucherpfennig (1980).
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Daß dabei (insbesondere in Deutschland) der regressive Aspekt weitgehend dominant wird, mag an der im 18. Jahrhundert vollzogenen Bindung des Kindheitsmotivs an das Konzept der Geschichtsphilosophie und (eng damit verzahnt) an das Selbstbewußtsein des sich emanzipierenden Bürgertums liegen. Mit der Erfahrung anhaltender Verhinderung politischer Selbstrealisierung (trotz ökonomischer, bildungsmäßiger und »moralischen Emanzipation) zerfällt das geschichtsphilosophische Denken - im Sinne des deutschen Idealismus - und wird geschichtsphilosophische Hoffnung zunehmend auf den bloß technisch ökonomischen Fortschrittsglauben eingeschränkt. Es ereignet sich im Bereich der Kulturwissenschaften das, was Odo Marquard als das »Grundereignis des 19. Jahrhunderts« ansieht, die »Mäßigung der Geschichtsphilosophie zur Historie« (Marquard 1973:81).62 Für die bürgerlichen Individuen bedeutet der Verlust ganzheitlicher, zukunftsorientierter Weltbilder (verbunden mit der Erfahrung weitgehender politischer Ohnmacht) den Verlust von Identität, den Verlust eines Standpunktes innerhalb einer (ihnen sinnvollen) Gesamtinterpretation von Welt, Natur und Geschichte. Deutlich ist im deutschen Bildungsbürgertum ein Rückzug vom politischen Engagement nach der Reichsgründung zu beobachten und eine Zunahme regressiver Phantasien, bei denen im Medium Aktiver Kindheitsparadiese Sehnsüchte nach (angeblich) vergangenen - de facto jedoch so nie dagewesenen - ganzheitlichen Verwirklichungsformen, nach Freiheitsräumen und nach unentfremdeten naturnahen Kommunikationsweisen gespiegelt werden.63 ß. Rousseaus Entdeckung des »Menschen an sich«, wie Kant es formulierte, steht leitbildartig über Aufklärung und Idealismusepoche. Diese anthropozentrische Wende, die Erhöhung des »natürlichem Menschen zum Zentrum allen Interesses konkretisiert sich im 18. Jahrhundert als bürgerlich-moralischer Angriff auf die Un-Natur der gesamten absolutistischen Ära und gibt dem Interesse am Kindhaft-Unverbildeten neue Bedeutung.64 Dabei 62
Auf die Tatsache, daß bürgerliches geschichtsphilosophisches Denken unter anderen Prämissen (z.B. materialistischen) teils weitergeführt, teils umgekehrt (Zerfallstheorien), teils total negiert (Strukturalismus) wird, kann hier nur hingewiesen werden. 63 Zum Kindheitsmotiv in der Literatur s. Karst/Overbeck/Tabbert (1976/77), zum Aspekt Kindheit in der Literatur unter geschichtsphilosophischen Prämissen s. G. Strauss (1979) S. 59ff. 64 Weiterführende Literatur zum Thema Bürgertum-Natur s. Leo Balet (1939), H. Blumenberg (1965) »Natur und Geschichte« (1973), »Das Naturbild des Menschen«, Hrsg. Jörg Zimmermann (1982).
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kommt dem Kind und der Vorstellung von Kindheit innerhalb des beschriebenen Naturkonzepts eine ambivalente Stellung zu. Einerseits wird es als Unschuldiges, rein aus der (vernünftigen und moralischen) Natur Entsprungenes glorifiziert, umhegt und umsorgt und möglichst lange in diesem positiven Naturzustand belassen. Diese positive Vorstellung naturhafter Kindheit prägt einen großen Teil von Kindheitsphantasien (als Phantasien für Kinder und über Kinder) der verschiedensten Gattungen bis ins 20. Jahrhundert. Exemplarisch dafür ist, was Balet den »Mythos Werther«65 nennt, den Mythos des unabhängigen, ganzheitlichen, naturverbundenen, sich selbst total realisierenden Bürger-Ichs. Dieser Mythos findet sowohl Eingang in die Heldenkonzeptionen der gesamten Abenteuerliteratur wie in die Kindheits- und Schulerzählungen und -Romane des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Auch die Helden in W. Raabes Inszenierungen von Kindheit legen Zeugnis ab von dieser zutiefst bürgerlichen Sehnsucht. 66 Neben einer so verstandenen Idealisierung des Kindheitsstadiums steht aber andererseits die Realität einer absoluten Unterdrückung und Reglementierung dessen, was wir heute im eigentlichen Sinne als kindlich-naturhaft ansehen würden, nämlich der sinnlich-vitalen Lebensäußerung und Spontaneität. 67 Die Überbewertung der bürgerlichen Tugenden: Verstand, 63
Balet schreibt: »Werther war nämlich nicht nur ein Ich, das sich behaupten, sich frei ausleben, seine ihm angeborenen Rechte voll gelten lassen wollte, sondern ein Ich, das sich so übersteigert hatte, daß es keine Rechte, Pflichten, Bindungen von anderen mehr anerkannte, ein Ich, das sich lieber selbst aufgab, als daß es auf seine vollste Souveränität verzichtete. Als ein so hoch hinaufgeführtes bürgerliches Ich, daß es wieder in Absolutismus umschlug, das die Verbürgerlichung bis zur Unbürgerlichkeit trieb. In dem Werther fand sich der deutliche Bürger selbst wieder, aber mythisiert, kanonisiert.« (Balet 1936: 192) In diesem Ausschließlichkeitsanspruch, der sich nicht mit Anteilen zufriedengeben kann, mit der Fixierung aufs Mütterliche (s.o.) wird im Werther aber auch der erste Roman mit dem Typ des kindhaften Helden gestaltet, in den alles das an Wünschen projiziert wird, was der erwachsene Bürger im modernen Staats- und Gesellschaftssystem verdrängen muß. 66 S. dazu G. Ueding (1973); zur Goetherezeption in Raabes »Akten des Vogelsangs« s. Roebling 1986. 67 Zum Begriff der bürgerlichen Kultur als einer triebverdrängenden Kultur s. schon Norbert Elias (1936/1969), Jos. v. Ussel (1970). Über die projektiven Reaktionen Erwachsener im Umgang mit Kindern s. v.a. Lloyd de Mäuse (1974) in der Einleitung zu seinem Reader: »Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit«. Zur Triebverdrängung in der bürgerlichen Pädagogik s. »Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung«, Hrsg. Kátharina Rutschky (1977). Rutschkys Quellenband steht im Zusammenhang eines seit den endsechziger Jahren beobachtbaren neuen kritischen Ansatzes 195
Wille, Moral gehen zu Lasten einer Unterbewertung und Verdrängung des Sexuellen, das dann auf die Kinder projiziert und in ihnen verfolgt wird. Die Ambivalenz dieses Kindheitsbildes müßte im Zusammenhang mit der verklärenden Darstellung von Kindheit im gesamten 19. Jahrhundert einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden. Auffallend ist ja, daß erst spät - mit Wedekind, Hesse und Musil - das Tabu des Geschlechtlichen im Zusammenhang mit Kindheitsdarstellung gebrochen wird. In den Bereich der Jugendliteratur hat es ernst (zögernd) seit den 70er Jahren unseres Jahrhunderts Eingang gefunden. 7. Das bis ins 20. Jahrhundert anhaltende Interesse am Thema Kind und Kindheit in der Literatur muß schließlich verstanden werden aus der besonderen Struktur der bürgerlichen Kleinfamilie, der in der Regel auch die Literaturproduzenten entstammen. 68 Konnte der Beginn der Privatisierungstendenz, der Rückzug der Familie von Straße und Öffentlichkeit ins Innere des Hauses vom 17. zum 18. Jahrhundert als strukturelle Spiegelung und Bedingung zugleich bürgerlicher Verinnerlichungs- und Individualisierungsprozesse verstanden werden, als Ausdruck eines Bewußtseins, das seine moralisch begründete Abwehr von Staat und Öffentlichkeit, die dualistische
in Familiensoziologie und Sexualwissenschaft, der - mit Arbeiten wie die von Haensch (1969) und Giese/Schmidt (1968) - anknüpft an frühe Forschungsergebnisse von Reich (1930 und 1934) und Horkheimer (1936). Im Gegensatz zur Familienforschung der 50er und 60er Jahre wird die durch die bürgerliche Familie vermittelte sexualverneinende Psychostruktur und damit die Sexualmoral überhaupt der bürgerlichen Gesellschaft als repressives Mittel zur Aufrechterhaltung von Herrschaft über Klassen und Gruppen dargestellt. Balet (1939), van Ussel (1970), Eischenbroich (1977) weisen auf die Verlogenheit bürgerlicher Asexualität im 18. Jahrhundert hin. - Im Zusammenhang mit dem Vorwurf bürgerlicher Doppelmoral in der viel diskutierten Frage, wie weit das freie Ausleben von Sexualität öffentlich anzuerkennender Teil der vielgepriesenen Natur des Bürgers sei, berichtet Balet ausführlich vom Kampf Wielands, der, unter Berufung auf die klassische Kunst Griechenlands, um Aufnahme auch des Geschlechtlichen in den geheiligten Bereich des Menschlich-Natürlichen und damit künstlerisch Gestaltbaren rang. (Balet 1939: 417-435) 68 Zur Entwicklung der Familie aus der »großen Haushaltsfamilie« (WeberKellermann) zur bürgerlichen Kleinfamilie des 19. Jahrhunderts sei auf die entsprechenden Forschungsergebnisse in Geschichte, Anthropologie, Soziologie und Psychologie verwiesen. Exemplarisch seien hier folgende Arbeiten genannt, in denen ausführliche Literaturhinweise zum Bereich der Familiensoziologie zu finden sind: J. Habermas (1962), O. Brunner (1966), L. de Mäuse (1974): »Schizophrenie und Familie«, Bateson, Jackson, Laing, Lidz, Wynne u.a. (1974), P. Arriès (I960), darin das Vorwort von H. v. Hentig (1975); A. Armengaud (1975), J.-L. Flandrin (1976), H. Rosenbaum (Hrsg.) (1978); H. Rosenbaum (1982). 196
Aufspaltung in die Welt der Politik und der Moral auch durch seine Lebensform realisierte, so stellt die »Kontraktion« (Durkheim) der bürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert sich als Ergebnis auch der allgemeinen neuen Produktions- und Verwaltungsweise dar, die eine Trennung von Arbeits- und Wohnplatz fast ausnahmslos erforderte. Da zudem der größte Teil der Familienkonsumgüter nicht mehr zu Hause produziert, sondern außer Hause gefertigt wurde, wird die Wohnung nunmehr Ort der Ruhe und der Erholung, sie wird zum Raum der Kompensation (von den Versagungen der Berufswelt und den Enttäuschungen im politisch-gesellschaftlichen Bereich) und der gemütvollen Retraite. Die z.T. schon im 18. Jahrhundert einsetzende Konzentration auf das familiäre Innenleben, auf emotionalen Ausgleich und auf Erhaltung oder Bewirkung psychischer Stabilität bewirkt - mit der räumlich-sozialen Abgrenzung - einen differenzierten Ausbau familiärer Binnenstrukturen und eine intensive Entwicklung von Gefühlsbindungen, Empfindsamkeit und psychischer Sensibilität. Das bürgerliche Kind des 19. Jahrhunderts sieht sich doppelt gebunden durch das emotional konzentrierte Interesse einer sozial entmündigten Mutter einerseits und durch den utrierten Gehorsamsanspruch einer nicht mehr gegenstandsorientierten, sondern traditionsgebundenen, ideologisch konservativen patriarchalischen Ordnung andererseits. Beide Elternteile wird man sagen können - kompensieren durch extreme Aufwertung des Innerfamiliären einzeln ihre (sozialen) Frustrationen und gemeinsam - in ängstlicher Rücksicht auf die immer noch am Adel orientierten Standesnormen - Minderwertigkeitsgefühle und Resignationsformen der bürgerlichen Klasse überhaupt. Nur durch die faktische >Desymbolisierung< der Familie (N. Elias) ist ihre ideologische Aufwertung, ist auch der durchschlagende Erfolg von Riehls Familienbuch, der »Bibel« deutscher Familien, zu verstehen, dessen (ungleichzeitige) Postulate ihre Überzeugungskraft aus einer tradierten Form gegenstandsorientierter Autorität in der Produktionseinheit der großen Haushaltsfamilie gewannen. Für das bürgerliche Kind bedeutet die innerfamiliäre Aufwertung Zugewinn an Freiheit und Zuwendung einerseits (Entwicklung kindgemäßer Kleidung, Beschäftigungen und Spielzeuge) und strikteste Reglementierung und Disziplinierung andererseits.69 Im Dreieck dieser Kleinfamilie (VaterMutter-Kind) wird das bürgerliche Kind zunehmend lange abgesondert 69
Hierzu noch ein Zitat von Ariès, das sein Engagement für die »alte Sozialität« zum Ausdruck bringt: »Die Familie und die Schule haben das Kind mit vereinten Kräften aus der Gesellschaft der Erwachsenen herausgerissen. Die Schule hat das einstmals freie Kind in den Rahmen einer zunehmend strengeren Disziplin 197
gehalten von den gesellschaftlichen Realprozessen (deren Spiegelungen es nur indirekt erlebt), mit allen Folgen der künstlichen Verhinderung von Erkenntnis, gesellschaftlichem Wissen, moralisch-sexueller Aufklärung und Emanzipation. Bildung wird ihm zwar zuteil, aber nur dosiert, »kindgemäß«, nicht in der Art, daß es in der Lage wäre, die ökonomischen und familiären Mystifikationen zu durchschauen und seine Position im Kreuzfeuer mütterlich-emotionaler und väterlich-sozialer Projektionen zu verstehen.70 Folgen dieser Desorientierung sind - realiter - die dann durch die Psychoanalyse zutage geförderten bürgerlichen Phantasmen, Träume und Neurosen, die sich alle auf verfehlte oder übersteigerte Vater- und Mutterbindungen oder auf Spaltungserfahrungen zwischen konfligierenden Ansprüchen zurückführen lassen. Kulturale Folgeerscheinungen sind die sich häufenden künstlerischen Gestaltungen derartiger Phantasmen und Desorientierungserfahrungen, sowie — lange vor Freud - der darstellerische Rückgriff auf (fiktionale) Kindheiten in der zwar unbewußten, doch begründeten Einsicht, daß hier, im unbewältigten Bereich familiärer Aussetzung, in der Primärsozialisation durch die moderne Kleinfamilie, ein Grund bürgerlicher Identitätsprobleme zu finden ist.71 gepreßt, die im 18. und 19. Jahrhundert in die totale Abgeschlossenheit des Internats münden wird. Die Besorgnis der Familie, der Kirche, der Moralisten und der Verwaltungsbeamten hat dem Kind die Freiheit genommen, deren es sich nur unter den Erwachsenen erfreute. Sie hat ihm Zuchtrute, das Gefängnis, all die Strafen beschert, die den Verurteilten der niedrigsten Stände vorbehalten waren.« (Ariès 1960: 562) 70
Habermas (1962) zeigt die Brüchigkeit und Scheinhaftigkeit des bürgerlichfamiliären Selbstbewußtseins auf, das - auch hier immer noch in Konkurrenzstellung zum A d e l -
seinen ökonomischen Ursprung verleugne. Die Kleinge-
meinschaft der Familie scheine nur »freiwillig und vom freien Einzelnen begründet und ohne Zwang aufrechterhalten zu werden; sie scheint auf der dauerhaften Liebesgemeinschaft der beiden Gatten zu beruhn; sie scheint jene zweckfreie Entfaltung aller Fähigkeit zu gewähren, die die gebildete Persönlichkeit auszeichnet« (Habermas 1962: 64) Unterschlagen werde, daß auch die bürgerliche Familie eine gezwungene Position im kapitalistischen Verwertungsprozeß innehabe, die Liebesehe zumeist eine Nutzehe (zur Erhaltung und Mehrung des Kapitals) sei und die »rein menschlichen Beziehungen« allzusehr die außerfamiliären Herrschafts Verhältnisse spiegeln. 71
In seiner Interpretation der Kindheitsträume in Ε. T . A . Hoffmanns »Sandmann« kommt Kittler -
im Anschluß an Michel Foucault (1977): »Psychologie und
Geisteskrankheit« - zu ähnlichen Reflexionen. Er sagt: » D e r sein Unglück auf die Kindheit zurückschreibt, bleibt Kind und Gefangener seiner Kindheit bis in den T o d . Denn erst die bürgerliche Familie, die als Reich der Innerlichkeit von der Öffentlich gesondert ist, sondert in ihrem Binnenraum noch einmal èine Welt der Kinder und setzt damit >das Kind, um ihm Konflikte zu ersparen, einem besonders schweren Konflikt aus, dem Widerspruch nämlich zwischen seiner
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Der Topos der unschuldigen, ganzheitlich-schönen, naturnahen Kindheit als Korrektiv gegen die Erfahrung von subjektiver und gesellschaftlicher Entfremdung hält sich - wenn auch mit je verschiedenen weiteren Konnotationen - vom ausgehenden 18. Jahrhundert durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch bis hin in die Unterhaltungsliteratur unserer Zeit. Immer korrespondiert ihm die Erfahrung von Gespaltenheit, Zerrissenheit, Desorientierung und Entfremdung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend als innerpsychische Erfahrungen verstanden und gestaltet wird; deren Ursprung wird dann einerseits im Kindheitszustand gesucht, andererseits mit retuschierten Bildern idealisierter Kindheit verdrängt. Das Aufkommen der Psychoanalyse mit dem Grundsatz der Aufarbeitung kindlicher Konflikte und Spaltungen erscheint beinahe als historische Notwendigkeit. Dazu parallel entwickelte sich - wie am Fall Raabe gezeigt — in der Literatur ein Diskurs, der durch den historischen Gehalt der ihn konstituierenden Bilder den Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Prozessen - wie auch immer indirekt und symbolisch präsent hält.
Kindheit und seinem wirklichen Leben.< Literarisch erscheint diese Aporie als der Diskurs der Innerlichkeit.« (Kittler 1977: 161f.)
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3. Der psychologische Diskurs als Vermittlung >gleichzeitiger< und >ungleichzeitiger Widersprüche< (Bloch) in der Kaiserreichsepoche Es geht Psychognostikern und Psychologen wie in der Fabel den Söhnen, die einen Weinberg geerbt hatten, in dem sich ein Schatz befinden sollte; sie graben vergeblich nach dem Schatz, aber sie machen durch ihre Arbeit den Weinberg ertragfähiger. Weder das reale noch das logische Wesen der Seele läßt sich wirklich fassen, beide bleiben Grenzwerte, regulative Begriffe, die unserm Denken Ruhepunkte gewähren. Max Dessoir 1897
a. Blochs Kategorien im Kontext der Raabe-Interpretation Raabes »Akten des Vogelsangs« enden mit einer »Opferung« des Repräsentanten semiotischer Triebhaftigkeit zugunsten der Anerkennung der Symbolik des Objektiv-Gesellschaftlichen, wobei aber zugleich eine Öffnung dieses Symbolischen zum Semiotischen hin realisiert wird. Familiengeschichtlich gesprochen: Unterdrückt wird die Neigung zum auratisch Kindhaften im Zeichen des legitimierten Anspruchs der patriarchalischen Gesellschaft, welcher Anspruch aber (durch das dominant gesetzte Kindheitsmotiv am Ende des Romans) zugleich unterlaufen wird, nun allerdings nicht mehr im Sinne einer regressiv-fiktionalen Kindheitsvision, sondern als Öffnung der Zukunft aus dem Geist einer neuen, realgedachten Jugendlichkeit. Von hier aus bekommt die oben gestellte Frage, warum Velten geopfert werden muß, und was es im weiteren bedeutet, daß Raabe mit Velten nicht einen noch idealeren Justus (»Alte Nester«) oder einen moderneren Stopfkuchen als Gegenbild zeitgenössischer Zerrissenheits- und Entfremdungserfahrung gestaltet, ein zentrales, die Entwicklung von Raabes Werk betreffendes Gewicht. Die Tatsache, daß Justus sich aus seinem »Dschinnistan-Genieland Geisterland« (Raabe 14: 67) befreien, den Eigentumsverlust in einer vita activa rückgängig machen und eine ganzheitliche Verwirklichung seiner Person gestalten kann, erklärt Sprengel (1974) anläßlich seiner Interpretation der Steinhof-Utopie mit der (konservativen) Tendenz Raabes zur Regression in vorbürgerliche Produktionsverhältnisse. In der von Justus vorbildlich gelebten Lebensform »ganzes Haus« (Brunner) sei »die bürgerliche 201
Trennung von Arbeits- und Lebensraum, ökonomischen und menschlichen Beziehungen noch nicht vollzogen« (Sprengel 1974: 16). Diese an sich vom Einzelbild her - richtig gesehene Interpretation stellt dennoch eine Vereinfachung der im Werk gestalteten Aussagen Raabes gerade im historisch-gesellschaftlichen Kontext dar. Zum genaueren Verständnis solcher von Raabe inszenierten regressiven Utopien muß - wie schon Schmidt (1977) kritisch zu Sprengel anmerkte - das Zusammenwirken »ungleichzeitiger« Elemente (Bloch) nicht nur in den dichterischen Werken Raabes, sondern in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts überhaupt mitbedacht werden. Ernst Bloch schildert in »Erbschaft dieser Zeit« (1935) eindringlich die subjektiv und objektiv »ungleichzeitigen »Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts 1 und gibt damit indirekt auch eine Hilfe zum Verständnis der diese Widersprüche in besonderer Weise spiegelnden Raabeschen Romane. Deutschland überhaupt, dem bis 1918 keine bürgerliche Revolution gelungen war, ist zum Unterschied von England, gar Frankreich das klassische Land der Ungleichzeitigkeit, das ist der unüberwundenen Reste älteren ökonomischen Seins und Bewußtseins. Grundrente, großes Grundeigentum und seine Macht wurden in England, andere in Frankreich ziemlich durchgängig in die kapitalistische Wirtschaft und ihre politische Macht eingegliedert; im lange zurückgebliebenen und länger noch vielfältigen Deutschland dagegen bildet sich der Sieg der Bourgeoisie nicht einmal wirtschaftlich, geschweige politisch und ideologisch im gleichen Maße aus. Das »unegale Verhältnis der Entwicklung«, wie es Marx in der »Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie« der materiellen Produktion im Verhältnis etwa zur künstlerischen zuweist, bestand hier lange genug ebenso materiell allein und verhinderte derart in der wirtschaftlichen Kräftehierarchie den eindeutig dominierenden Einfluß des Kapitaldenkens, also der Gleichzeitigkeit.« (Bloch 1935/1981: 114)
In dem Maße, in dem Raabe seinen Ekel an der Gewinnsucht, der Besitzfetischisierung, der »Geldsackmentalität« des deutschen Bürgertums seiner Epoche, seine Reserven gegen Industrialisierung und Naturzerstörung und seine Klage um die Verkümmerung zwischenmenschlich lebendiger Beziehungen zum Ausdruck bringt, knüpft er in der Bilderwelt der Romane zunehmend an »untergehende Reste wie vor allem unaufgearbeitete Vergangenheit, die kapitalistisch noch nicht >aufgehoben< ist« (Bloch 1935/81 : 117) an. Daß dieses Fortschreiben >ungleichzeitiger< Bilder in Raabes Romanen nicht unkritisch-unbewußt (wie Sprengeis Kritik glauben machen 1
Ausführlicher dazu s. K. Mueller-Vollmer (1978). 202
könnte) geschieht, wird durch verschiedene poetologische Strategien signalisiert. Als deutlichste Signale sind -
auf der Formebene - die (qua
Gattung) rückwärtsgewandte Form des Erinnerungsromans und - auf der Inhaltsebene des angesprochenen Romans »Alte Nester« - die Gestaltung des (für Raabe ungewöhnlichen) bäuerlichen Milieus anzusehen. Ermöglicht wird so im Raum erinnerter Vorzeitigkeit eine Absonderung von der modernen Industriegesellschaft: Justus lebt auf seinem Steinhof wie Stopfkuchen auf der Roten Schanze im ausgegrenzten Lebensbereich. Die Realisierung >ungleichzeitigRevolteRenegatentumSkeptizismusLeidelegische GlücksideeEinsamkeitWundeVergessen entstellten LebensKunst ohne Mythos< oder als >UtopieTraumEpiphanie< beschreibt. Möglicherweise assoziiert der Autor aber noch ganz andere Vorstellungen mit dem Melancholie-Begriff. Wirklich thematisiert wird Melancholie nur gewissermaßen am Rande, wenn (bezeichnenderweise nicht im Benjamin-Aufsatz, sondern im Essay über Adorno und Lukács) kurz über Benjamins »melancholische Kunst- und Geschichtskonzeption« gesprochen wird. (S. Raddatz 1979,166-168). Weiter führt hier Michael Schneider: »Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder: Die melancholische Linke« (1981), der aber Melancholie historisiert als »generationsspezifische Melancholie der 70er Jahre«. 207
Die Sehnsucht nach einem paradiesischen Ganzen und das Entsetzen über dessen Zerstörung halten diesen Engel an die Vergangenheit fixiert, so daß er Zukunft und Fortschritt, in die er sturmartig vom Paradies weggetrieben wird, nur erleiden kann.6 Dem Rezipienten bleibt überlassen zu folgern, ob diese Zukunft grundsätzlich als das dem Paradies Gegensätzliche zu verstehen ist, oder ob der Sturm, da er ja aus dem Paradies kommt, bei anderer Verfaßtheit der Subjekte auch Paradiesartiges in der Zukunft eröffnen könnte. In diesem Sinne ist das Utopische immer vom Leser einzulösen. Noch im sublimiertesten Kunstwerk birgt sich ein Es soll anders sein; [...] Vermittelt aber ist das Moment des Wollens durch nichts anderes als durch die Gestalt des Werkes, dessen Kristallisation sich zum Gleichnis eines Anderen macht, das
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Interessant im Kontext von Melancholie und Humor gerade für das Verständnis von Raabes Texten wäre ein Vergleich des Benjaminschen Klee-Engels mit dem >Vogel Merops< von Jean Paul. Vom Humor sagt Jean Paul ja »seine Höllenfahrt bahnet ihm die Himmelfahrt. Er gleicht dem Vogel Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Richtung in den Himmel auffliegt. Dieser Gaukler trinkt, auf dem Kopfe tanzend, den Nektar hinaufwärts.« (Vorschule der Ästhetik § 33 s.o.) Beide geflügelten Wesen befinden sich in einem bestimmten Abstand zur Erde und versinnbildlichen so die ästhetische Distanz, die sowohl Humor wie Melancholie (als künstlerische Haltungen) zu ihrem Gegenstand einhalten. Beide sind in einem Rttckwärtsflug begriffen und beide richten den Blick auf eine Realität des Endlichen, Schmerzlichen, Deformierten, Defizienten, beim einen als Höllenfahrt, beim anderen als wachsender Trümmerhaufen konzipiert. Verschieden ist aber zum einen Richtung des Fluges, zum anderen der Kontext des Bildes. Während der Vogel Merops letztlich im aktiven Vollzug (er fliegt selbst auf) sich dem Himmel nähert, bleibt der Angelus Novus tendenziell passiv und wird vom Paradies weggetrieben in eine über ihn hereinbrechende Zukunft. Der Flug des Vogels Merops vollzieht sich im Kontext eines ungeschichtlichen Oben-Unten-Bildes, das auf ein überzeitliches christliches Weltbild verweist. Auch Benjamins Beschreibung impliziert mit den Worten >Himmel< und >Paradies< noch christlich-jüdische Glaubenselemente, doch diese werden durch die Einbettung in Geschichte (der Flug vollzieht sich zwischen Vergangenheit und Zukunft) beinahe zu metaphorischen Größen verallgemeinert. Während der Humor im Wissen um Aufhebung des Endlichen im Unendlichen selbst symbolisch die Versöhnung vollzieht und so »Nektar hinaufwärts« trinkt, bleibt die Melancholie im Bannkreis von Zerstörung und Defizienz und evoziert das Verlorene (oder noch nicht mögliche) nur indirekt im Modus kontemplativer Trauer. Wenn auch dem Vergleich von Raabes und Benjamins Geschichtsverständnis sowohl historische wie ideologische Grenzen gesetzt sind, so lassen sich doch wenn auch in verschiedenen Aussagemodi - gemeinsame Einschätzungen finden. Verwiesen sei auf Schräder 1973, der das intensive Geschichtsstudium Raabes an Beispielen nachweist und zusammenfaßt: »Immer deutlicher hat er (Raabe I.R.) dabei das Bild vom in die Geschichte hineingeworfenen Menschen gezeichnet, der nur mit Mühe seinen Weg in ihr finden kann. (Schräder 1973: 39) 208
sein soll. Als rein gemachte, hergestellt, sind Kunstwerke, auch literarische, Anweisungen auf die Praxis, deren sie sich enthalten: die Herstellung richtigen Lebens. (Adorno 1962: 134) In der Gestaltung v o n Kindheitsthemen wird das symbolische Mitwirken a n neuen kollektiven Lebensentwürfen besonders deutlich. D e n n was bei Raabe noch Kind und Kindheit genannt wird, weist in seiner Konzeptualisierung zweifellos auf den neuen Jugendkult des beginnenden 20. Jahrhunderts voraus. Im Kontext dieser Erneuerungsbewegung hatte sich
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neben dem T o p o s von >Kindheit< als vergangener Welt goldener Erfüllungszeiten - »Jugend« zum Ort der Verdeutlichung dessen entwickelt, was an Erwünschtem aus der vergangenen Zeit >goldener< Kindheit nicht eingelöst wurde und als Desiderat ganzheitlich-menschlicher Befriedigungsansprüche nun z u k u n f t s e i n f o r d e m d formuliert wird. 7 Dabei kündigt sich eine Vorstellung v o n >Jugend< an, der nach >Jugend< im Sinne Nietzsches als Trägerin und Symbol einer Kulturrevolution erscheint 8 - einer Revolution allerdings, die immer noch mehr Impulse aus neuen Innerlichkeitskonzepten (der Begriff der Seele erringt eine seit dem Mittelalter nicht gekannte Bedeutungsfülle und Verbreitung) denn aus konstruktiven Programmen einer (soziopolitischen) Realitätsveränderung erhält. 9 Wandervogel- und
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Im Sinne dieser differenzierten Bedeutung von >Jugend< und >Kindheit< sind die Ausführungen von Schaub (1973) und Wucherpfennig (1980), die den Jugendkult um 1900 als eine Neuauflage des Kindheitskults um 1800 ansehen, korrekturbedürftig. 8 Nietzsche hatte in seiner zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« (1874) durch die kommende Jugend das Entstehen einer neuen »ersten Generation« beschworen, die sich aus der »Dekadenz«, den Sünden, Mängeln und Irrtümern der alter Geschlechter lösen könnte. »Schenkt mir erst das Leben, dann will ich Euch auch eine Kultur daraus schaffen! - so ruft jeder einzelne dieser ersten Generation, und alle diese einzelnen werden sich untereinander an diesem Rufe erkennen. Wer wird ihnen dieses Leben schenken? Kein Gott und kein Mensch: nur ihre eigene Jugend: entfesselt diese und ihr werdet mit ihr das Leben befreit haben. Denn es lag nur verborgen, im Gefängnis, es ist noch nicht verdorrt und erstorben [...] Das Übermaß von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen. Das Übel ist furchtbar, und trotzdem! wenn nicht die Jugend die hellseherische Gabe der Natur hätte, so würde niemand wissen, daß es ein Übel ist und daß ein Paradies der Gesundheit verlorengegangen ist. Dieselbe Jugend verrät aber auch mit dem heilkräftigen Instinkte derselben Natur, wie dies Paradies wieder zu gewinnen ist.« (Nietzsche-Werke Bd. I: 281) 9 Am ehesten vergleichbar scheint diese Vorstellung von Jugend und auch die Impulse, die aus dem neuen Jugendkonzept entstehen, mit der Jugendbewegung um 1770, wie sie uns von den Stürmern und Drängern und (mit Einschränkung) vom Hain-Bund her bekannt sind. Muchow (1962) zeigt in seiner sehr erhellenden 209
Jugendbewegung, Jugendstil und viele Elemente der Reformbewegung sind Ausdruck dieser neuen jugendzentrierten Programmatik. Im Sinne einer an realpolitischen Ergebnissen messenden Zeitanalyse wird man das »Verschieben« von Erneuerungswünschen auf die zukünftige Generation als Ausdruck eines biologisch fundierten Kulturpessimismus interpretieren müssen. »Wo immer die wirklichen Revolutionen ausblieben, beschwor man Mythen der Jugendlichkeit, um die radikale Ablösung von der Geschichte zu manifestieren. Jugendmythen sind leichter herzustellen als Revolutionen«. (Trommler 1985: 14) Die historische Entwicklung der Jugendverbände, das Fiasko ihrer vehementen Forderung nach allseitiger Lebenserneuerung hat gezeigt, daß >Jugend< in der Wirklichkeit der deutschen Geschichte wahrlich nicht zum Schlüsselsymbol umfassender Erneuerung geworden ist. 10 Aus der epochalen Krisensituation hatte sich die Generation des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Leitbild >Jugend< ein Medium erhöhter, dynamischer, zukunftsoffener, aber unspezifischer Selbstreflexion geschaffen, das in verschiedener Hinsicht die Funktion von Kunstwerken übernahm und so selbst zum ästhetischen Stilprinzip erhöht und formalisiert werden konnte. Für die Jugend selbst bedeutete die Vagheit der in sie projizierten Werte wie Leben, Natur, Seele, Ganzheitlichkeit, Freiheit und Idealismus die Verhinderung einer gesellschaftlich fundierten Identitätsbildung und die ständige Versuchung zur Selbststilisierung. So
Analyse »Jugend und Zeitgeist - Morphologie der Kulturpubertät« am Beispiel des »ewigen Jünglings« Christoph Kaufmann (dem Erfinder des »Sturm- und Drang«-Etiketts) den Prägecharakter dieser ersten Jugendbewegung für das bürgerliche Verständnis von Jugend überhaupt. Auffällig sind jedoch v.a. die Parallelen zur Jugendbewegung der Jahrhundertwende: Rousseauistisches Zuriickzur-Natur-Gehabe in Nahrung, Lebensart und Kleidung, die Lebensform des Jünglingsbundes, das große Engagement für pädagogische Fragen (s. den Einfluß des »Bruderbundes« auf Basedows Dessauer Philantropin) und die Dominantsetzung stark verinnerlichter Werte: Gefühle, Seelenkräfte, Freundschaft und Liebe. Beidemal richtet sich die Bewegung im Grunde gegen die Vatergesellschaft und beidemal nimmt sie dennoch keine wirklich kämpferischen Züge an, lebt sich allein im Kulturellen aus und wird von der etablierten Gesellschaft als wünschbare Erneuerungsbewegung akzeptiert, ja begrüßt - begreiflich, da die soziopolitischen Realitäten nicht in Frage gestellt werden, die Revolution eine innere bleibt. Die Redundanz des Begriffs »Seele« in Goethes »Werther« z.B. ist von daher in Parallele zur Inflation des Seelenbegriffs seit 1900 anzusehen. 10 Verwiesen sei auf die breite Forschung der letzten Jahre in Geschichte, Soziologie und Literaturwissenschaft zum Thema Jugendbewegung und Wandervogelbewegung, besonders auf den jüngst erschienenen sehr kritischen und informativen Forschungsband zum >Mythos Jugend< Hrsgg. T. Koebner, R.-P. Janz, F. Trommler (1985). 210
wurde noch die aufbegehrende Jugend zum Spiegel der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit ihrer Eltern." Im Kulturdenken der Epoche blieb die Perspektivierung auf Kindheit und Jugend zwar ein produktiver Impetus permanenter Selbsthinterfragung und Erneuerung, wie nicht zuletzt durch die kurzfristig aufeinanderfolgende Entstehung so divergierender und in ihrem Anspruch auf Kulturverjüngung doch vergleichbarer Kunstepochen wie Jugendstil und Expressionismus deutlich wird. Daß aber auch diesem Verjüngungskonzept letztlich ein eskapistischer biologistischer Kulturbegriff zugrundeliegt, hat schon Benjamin (1930) für den Jugendstil deutlich gemacht, von dem er schreibt, daß hier
" Aufmuth (1979) z.B. beschreibt ausführlich und überzeugend die kulturelle und soziale Entfremdung des Bildungsbürgertums in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und erklärt die Wandervogelbewegung als Ausdruck einer psychosozialen Krise der Jugendlichen wie ihrer Eltern am Jahrhundertende. »Die Aneignung der nurmehr von einem sehr verschwommenen allgemeinen Konsensus abgestützten, dabei aber mit äußerst gebieterischem Geltungsanspruch ausgestatteten schichtspezifischen Werttraditionen stellte einen höchst krisenhaften Vorgang dar. Der zentrale, geradezu leitmotivische Konflikt der Jugend des Bildungsbürgertums bestand hierbei darin, daß sie hell entflammt war von einem diffusen, idealen Wollen (das hauptsächlich als Funktion der Sozialisationsfaktoren »Jugendkult« und »Wertbetonung« zu verstehen ist), sich aber der genauen Richtpunkte dieses Wollens nun aber erst nach und nach, in einem jahrlangen, mühseligen inneren Ringen versichern mußte. Die Adoleszenten glühten vor Idealismus, fanden aber in den »entmaterialisierten« schichtspezifischen Traditionen keine klar umrissenen Ziele und eindeutigen Formgebungen für ihr ideales Streben mehr; sie mußten sie selbst entwickeln. Der brennende Idealismus der jungen Bildungsbürger hatte einen deutlichen missionarischen Einschlag, kein Wunder, stand er doch im Dienste der Absicht des Bildungsbürgertums, die Überlegenheit seiner Ideale und Attitüden über diejenigen der technisch-industriellen Welt darzutun. In der psychosozialen Aufgabenstellung, mit der das Bildungsbürgertum seine Jugend konfrontierte, war implizit die Forderung nach der perfekten Verwirklichung einer spezifischen Konfiguration von formalen Persönlichkeitsqualitäten enthalten, die in der Terminologie der modernen psychoanalytischen Entwicklungstheorie als »Ich-Identität« bezeichnet wird. Gerade diejenigen soziokulturellen Bedingungen nun, die die Ausbildung von Ich-Identität bei der Jugend des Bildungsbürgertums zum dringenden Gebot machten, machten den Vorgang der adoleszenten Identitätsfindung, der schon unter günstigen soziokulturellen Voraussetzungen Krisencharakter besitzt, besonders problematisch. Die historisch spezifische, besonders problematische Krise der Ich-Identität, der die Adoleszenten der Bildungsbürgerschicht unterworfen waren, bildete eine wesentliche Triebkraft des Zusammenschlusses der jungen Bildungsbürger zu nonkonformistischen altershomogenen Gruppen. So vereinigten sich bei der Jugend des deutschen Bildungsbürgertums der Jahrhundertwende direkt gelernte Aspirationen mit krisengeborenen Triebkräften zu einer starken, jugendspezifischen Disposition zur kollektiven, kulturell-sozialen Innovation.« (Aufmuth 1979: 103ff.)
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das alte Bürgertum das Vorgefühl der eigenen Schwäche tarnt, indem es kosmisch in alle Sphären schwärmt und zukunftstrunken die >Jugend< als Beschwörungswort mißbraucht. Hier taucht, zunächst nur programmatisch, zum ersten Mal die Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität auf, welche seitdem wachsend sich als Symptom der Krise bestätigt hat. (Benjamin 1933, wa 9: 394)
Für den Bereich der Humanwissenschaften, insbesondere für Pädagogik und Psychologie, gab die Hinwendung zu >Jugend< als neuem Problemund Forschungsbereich grundständige, z.T. noch heute nicht erschöpfte Erneuerungsimpulse. Wilhelm Raabes thematisch auf Kindheit und Jugend perspektivierter psychologischer Diskurs partizipiert natürlich - auch in der Vorausdeutung - an der (realhistorischen) Ohnmacht des sich herausbildenden Jugendkults und an der (progressiv-regressiven) Ambivalenz mutterbezogener und kindhafter Kulturparadigmen. 12 Auf der Inhaltsebene der »Akten des Vogelsangs« ist die tendenziell resignative »Rückkehr« des Erzählers in die bürgerliche Welt seiner Familie deutliches Zeichen sowohl der Ohnmacht wie der Ambivalenz. Und doch scheint die Radikalität seines Doppeldiskurses, die Darstellung von Spaltung bis in die kleinsten Motiv- und Strukturelemente seiner Spätromane über die jugendbewegte Epoche der Jahrhundertwende hinweg auf die Vatermordphantasien der Expressionisten und die Spaltungsfiguren bei Kafka und Thomas Mann vorauszudenken. >Jugend< oder >Kindheit< bedeutet in seinen Erinnerungsromanen nicht den Verweis auf ein bestimmtes (auch außerhalb der Romane bestehendes) festes Wißbares oder Lebbares, sondern bleibt Funktion in einem bestimmten Symbolkontext, deren Bedeutung für die anderen Textelemente (und damit auch für historische Interpretationen) immer neu produktiv gemacht werden kann. Die durchgehende Theatermetaphorik unterstreicht diese autoreferentielle Struktur. Im Sinne der dargestellten Subjektivität des Erzählers ist z.B. Kindheit symbolisches Objekt sowohl der Einfühlung wie der Abspaltung, um den dialektischen Prozeß der Selbstanalyse offenzuhalten. Vermieden wird dadurch die Gefahr der Evokation falscher Unmittelbarkeit, die dem 12
Die Ambivalenz der Aussagekraft, die von den Chiffren >Jugend< und >Kindheit< für die Epoche des angehenden 20. Jahrhunderts ausging, wird beispielhaft verdeutlicht durch den sich wandelnden Umgang Benjamins mit diesen Begriffen. Nach enthusiastischer Beschwörung von > Jugend< als revolutionärem und zugleich religiösem Potential im Umkreis Gustav Wynekens distanziert sich Benjamin durch schärfste Kritik von diesem »biologischen« Kulturmodell, wendet sich aber in den späten Schriften >Jugend< und >Kindheit< in eschatologischer Perspektive wieder zu. S. dazu Schiavoni 1978, Witte 1985, Trommler 1985. 212
Prozeß der (in den »Akten« intendierten) Seelenanalyse im Sinne von Aufklärung gerade zuwiderliefe.
c. Seele als focus spätbürgerlicher Selbst- und Welterfahrung Für die Inflation des Seelenbegriffs, der neben den Codeworten >JugendNatur< und >Schönheit< zu den Zentralchiffren bürgerlicher Kulturprogramme und -produkte der Jahrhundertwende zählt, ließe sich Ähnliches wie zum Jugendbegriff sagen. Eine soziokulturell orientierte Geschichte dieses Begriffes könnte zeigen, wie auch das Konzept »Seele« aus der fundamentalen Bewußtseinskrise des Bürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert erneut relevant geworden, von Nietzsche (parallel zum JugendBegriff) zum Kernwort kultureller Erneuerung erhöht und im folgenden zum focus spätbürgerlicher Selbst- und Welterfahrung geworden ist.13 13
Zwar gilt >Seele< für Nietzsche in seinen philosophischen Schriften zusammen mit >Geist< als Antipode des Lebens und insofern als abzuschaffender da verlogener Begriff. Wenn trotz dieser Einschränkung bezüglich der systematischen Fundierung des neuen Seelenbegriffs in Nietzsches Werk im O-Seele-Pathos der Jahrhundertwende immer Nietzsche mitspricht, so ist das durch die einseitige Rezeption Nietzsches als Autor von »Also sprach Zarathustra« zu erklären. In diesem hymnisch-ekstatischen Werk erscheint Seele durchaus losgelöst von Christentum und Jenseitigkeit als Inbegriff ganzheitlicher Bedürfnisse sowie ganzheitlicher Erfahrungsmöglichkeit. Die Seelenpoesie dieses Werkes gipfelt im Lied »Von der großen Sehnsucht« mit 22 anaphorischen Selbstansprachen: »o meine Seele«, wobei die Seele zum Ort der Überwindung aller Einschränkung und der Bejahung von Freiheit, Gefühl und Wollust im Medium des Gesanges wird. Über Nietzsche hinaus gehen die Wurzeln des Seelenbegriffs der Jahrhundertwende in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, also zu Fechners Vorstellung von der Allbeseelung der Welt (»Nana oder über das Seelenleben der Pflanzen« 1848) und von der Weltseele (»Zendavesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits« 1851), zu Lotzes und Klenkes Konzept einer steten Wechselwirkung von Körper und Seele oder zur romantischen Philosophie, Psychologie und Dichtung (Schlegel, Carus, Tieck, Novalis) zurück. So spricht Schlegel in seiner Vorlesung über eine »Philosophie des Lebens« von der denkenden Seele als des Lebendigen, als Ort der Vermittlung von Gedanke und Realität, Carus entwickelt in seinen Werken (»Psyche« 1846 und »Zur Symbolik der menschlichen Gestalt« 1853) im Anschluß an antike und mittelalterliche Vorstellungen das Konzept der Seele als einem geistkörperlichen Lebensprinzip. Nach 1900 wird diese, die Epoche kennzeichnende Seelenphilosophie v.a. in Drieschs Lehre von der »Ganzheitskausalität« (»Philosophie des Organischen« 1909, »Ordnungslehre« 1912 und »Wirklichkeitslehre« 1917) vertreten, durch Spenglers geschichtlich-organisches Modell der verschiedenen Kulturseelen (»Untergang des Abendlandes« 1918) und schließlich in Klages berühmter SeelenApotheose (»Der Geist als Widersacher der Seele« 1929-1932) resümiert und auf 213
Im Kontext
lebensphilosophischer
Modelle
ist
>Seele< um
die
Jahrhundertwende der zentrale Oppositionsbegriff zu Verstand, Vernunft, Zergliederung, Zweckdenken, Materialismus, auch Patriarchalismus und philiströser Bürgerlichkeit. Seele wird verstanden als Sitz der Gefühle, als Zentrum von (nur eingeschränkt religiösem) Empfinden und Erleben. Seele ist gleichbedeutend mit Psyche, wird aber auch erweitert gedacht als Prinzip des Humanums an sich. Seele wird bei Klages zum Leben und Universum an sich. Bekenntnis zur Seele heißt Bekenntnis zur Schönheit. So beginnt George den Gedichtband »Das Jahr der Seele« mit der Vorrede: »selten sind sosehr wie in diesem buch ich und du die selbe seele«, und noch 1952 faßt Sternberger, einer der treuesten Jugendstilforscher, diese Epoche zwischen Dekadenz und Aufbruchstimmung als Seelenzauber zusammen: Wie ein Zauberbann erscheint uns in der Tat, was den Lebenden und Wirkenden »um 1900« Aufbruch, Befreiung, großer Anfang, Geburt, >NaissanceSeele< zu einem antiintellektuellen gemeinschaftsbindenden Ideologem wird. Seele als Individual- und als Volksseele soll in krisenreicher Epoche die Menschen in familiären, volkstümlichen, naturnahen Gemeinschaftsformen (s. Tönnies 1887) miteinander verbinden. Gegen den »demokratisierende(n) nivellierende(n), atomisierende(n) Geist der Jahrhundertwende« (Langbehn 1890: 45) muß für Langbehn der große deutsche Charakter als seelenvolles, natürliches, volkstümliches und zugleich aristokratisches Individuum gerettet werden, ein Individuum bezeichnenderweise nach dem Beispiel eines Künstlers: Rembrandts. »Individualität haben, heißt Seele haben; die Individualität eines Menschen ist seine Seele;« (ebd. : 62) von Rembrandt heißt es: »Einzelseele, Stammesseele, Volksseele treffen sich und steigern sich gegenseitig in diesem Manne.« (ebd.: 60) Seele als Heilschiffre gegen jede Art von Entfremdungserfahrung, gegen Zerrissenheit, Trennung, Spaltung wird im Umkreis der Langbehn-Ideologie zum geistigen Vehikel einer Kulturrevolution von rechts - eine Tendenz, die in der Totalisierung, Kollektivierung und Politisierung des Seelenbegriffs im Nationalsozialismus katastrophale Folgen zeigte. 14 14
Aufnahme und Verbreitung findet der neuartige Seelenkult in (volks-)kulturphilosophischem Schrifttum, das im Gewände aufklärender (germanisierender) Volksseelenanalysen zunehmend unverstellte Kriegspropaganda betreibt. Hier nur einige Beispiele aus der Fülle des Materials: Es weiß Else Hasse 1917 (mit Blick nach hinten) auch noch nach dem allgemeinen Gemetzel, »Daß es die deutsche Seele war, die die ersten Kriegsgewinne zu buchen hatte« (1917: X), weil »Patriot sein, heißt vor allem nach seelischen Gewinnen trachten, um das Reich von innen heraus zu beschirmen, damit es uns in Herrlichkeit bleibe!« (ebd.: XI). Nachdem dann in einer kurzen Atempause z.B. R. W. Trine in »Geistige und seelische Hochspannung« (1922) für Deutschland eine gesunde Volksseele und individuellen Seelenfrieden im Rahmen eines christlich-demokratischen Kapitalismus prognostiziert, erläutert Wilhelm Schäfer in seinen berühmten »Dreizehn Büchern der deutschen Seele« (1922) im Zarathustra-Pathos dem Deutschen Wunder und Substanz seiner Seele durch hymnische Vergegenwärtigung deutscher Kindheit und Jugend von den germanischen Göttern bis zur Beschwörung eines neuen »dritten Reiches«. Dieses Reich ist für die deutsche Seele nur jenseits der »roten Zwietracht« im Osten und der »goldenen Spinne« im Westen (Schäfer 1922:401 f.), nur durch Eisen und Blut zu erlangen. Auch Johannes Bühler folgt in seinem Büchlein »Spannweite der deutschen Seele« (1934) diesem vulgarisierten Muster volkspsychologischer Anamnese, um durch Erinnerung der fünf einschneidenden Kapitel deutscher Geschichte (Heliand, Barbarossa, Meister Eckehart, Luther, Potsdam und Weimar) das allzu meditative Volk der Dichter und Denker politisch zu therapieren, auf daß es »mit glühendem Herzen und tatbereiter Hand« (Bühler 1934:60) »mit der Aufrichtung des Dritten Reiches« begänne, »unserem eigenen Volke und damit der ganzen Menschheit zum Heil.« (ebd.: 62) Die faschistuide Ausweitung des Seelenbegriffs in Poesie und bildender Kunst ist bekannt. Selbst
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Durch dezidiertes Abrücken vom »Zeitalter des wissenschaftlichen Geistes« (Wyneken), von Erkenntniswille und Begrifflichkeit überhaupt, durch Distanzierung zudem von allen sozialpolitischen Emanzipationsbestrebungen und durch Ablösung vernunfts- und geschichtsbestimmten Denkens durch lebensphilosophische Anschauungsweisen bleiben die ganzen vitalistischen, emotionalen, seelenvollen Aufbruchs- und Erneuerungsbestrebungen letztlich ohne Ziel. Sie erschöpfen sich in ästhetisch-lebensphilosophischen Gebärden und werden von zielgerichteteren politischideologischen Kräften aufgesogen. Dennoch verweist - wie Wucherpfennig (1980) zu Recht betont - auch diese hilflose Erhebung von Seele, Vitalität und Jugend zum Endzweck, die von Lukács beklagte »Zerstörung der Vernunft« auf das individuelle Leiden und deis Glücksbedürfnis dieser Gesellschaft im Umbruch. Sie antworten, wenngleich in pervertierter Weise, auch auf Bedürfnisse, die bei der Allgemeinheit der Individuen unbefriedigt geblieben sind (wenn sich das auch auf sozialspezifisch unterschiedliche Weise kompensieren läßt), Bedürfnise nach Zuwendung, Anerkennung, Hilfe, Selbstbestimmung, Lust, die zumindest für jeweils ein Geschlecht in der patriarchalischen Erziehung unterdrückt, in der bürgerlichen insbesondere soweit wie möglich unbewußt gemacht werden. Im Hinblick darauf haben philosophische Lehren noch eine dritte Funktion (neben einer erkenntnismäßigen und einer sozialen I.R.): sie sind Rationalisierungen im psychoanalytischen Sinn, ein Kompromiß zwischen dem Ausdruck solcher Bedürfnisse und der sozialen Funktion (Wucherpfennig 1980: 223).
Als verhängnisvoll-regressiv im Sinn der Verhinderung konstruktiver, erkenntnisfördernder, Subjekt-Objekt-vermittelnder Konzepte hat sich die Verbindung psychologisierender und lebensphilosophischer Paradigmen im Zuge ihrer Vulgarisierung und Totalisierung erwiesen. Einerseits verhinderte nämlich die anhaltende Verinnerlichungstendenz im deutschen Geistes- und Kulturleben, verbunden mit dem eingeübten Untertanengeist eine Konkretisierung lebensphilosophischer Gegenwartskritik in Richtung auf praktikable, den ganzheitlichen Bedürfnissen aller Bürger entsprechenden, soziopolitische Reformen; andererseits verstellte die irrational-vitalistische Aufladung der die Musik bleibt nicht verschont von der Ausuferung des germanischen Seelenkults. R. Eichenauer z.B. beweist umständlich in seinem der Jugend des Dritten Reichs gewidmeten Buch »Polyphonie - die ewige Sprache deutscher Seele« (1938), daß der »allertiefste Keim« der nordischen Rasse »harmonische Urbegabung« sei. »Dem Süden ist die Tonkunst fessellos strömender Ausdruck menschlicher Leidenschaft, dem Norden ist sie gebändigter Ausdruck göttlicher Ordnung.« (Eichenauer 1938: 6f.) 216
Seelen- und damit Persönlichkeitsvorstellung in einer Zeit kollektiven Sinnund Wertverlusts eine vernunftgeleitete (sozio-psychologische) Analyse individueller wie gemeinschaftlicher Bedürfnisse und Möglichkeiten. Fähigkeit und Wille, die Leiden der Entfremdung im soziopsychologischen Kontext zu analysieren (statt sie mit Kultbegriffen und -Programmen verdrängend zu ästhetisieren), bleibt in dieser Kulturepoche negativ abhängig vom Einfluß lebensphilosophischer Prämissen. So stellt noch Hugo von Hofmannsthal in seiner umstrittenen Münchener Rede »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation« (1927) zwar das Bedürfnis der Deutschen nach seelenhafter Ganzheit richtig in den Kontext europäisch-deutscher Psychohistorie seit dem 18. Jahrhundert, der leidenschaftlich-einsame Dienst an der eigenen Seele als einziger Daseinsinhalt, einzige Pflicht, die alles aufzehrt - jener Geisteszustand des einsamen weltlosen Deutschen, seit ihn die Revolution zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts von der Sitte, dem Herkommen, dem Väterglauben jäh losgerissen und ihm nur die schrankenlose Orgie des weltlosen Ich anheimgegeben hatte. Auch unseren Suchenden (die neue, aktive deutsche Geistigkeit in der Nachfolge Nietzsches I. R.) ist die Tiefe des Ichs, die dunkle, eigene Seelenwallung das einzig Gegebene, und einzige Aufgabe dieses titanische Beginnen. (Hofmannsthal 1927: 409)
Die Emanzipation des Individuums aber, im 18. Jahrhundert gewonnen durch Loslösung von Traditionen und Autoritäten, schließlich von allem Äußeren überhaupt, führt - nach Hofmannsthal - am Ende zur »Weltlosigkeit«, d.h. zum Verlust jeder inhaltlichen Bestimmung und damit zur Selbstnegation. Doch antwortet das bürgerliche Selbstbewußtsein hierauf nicht mit einer Neuanfüllung des leergewordenen Selbstbewußtseins durch neue Vermittlung mit dem gesellschaftlich Objektiven, sondern das »furchtbare Erlebnis des neunzehnten Jahrhunderts«, das von Hofmannsthal sehr wohl als dieses »tragische Sichübernehmen der einzelnen Seele« interpretiert wird (ebd.: 410), soll doch wieder nur aus der »Tiefe des Ich«, für die »Seelenwallung das einzig Gegebene« sei, überwunden werden. Die so angesprochene »Tiefe des Ichs« und die »Seelenwallungen« sind nicht Erkenntnisziel eines Aufklärung bewirkenden analysierenden Verfahrens, sondern subjektive Erscheinungsform des Lebens, in das Individualität so aufgelöst wird. Dementsprechend ist die Hoffnung Hofmannsthals, daß nach Auslotung der besagten »Tiefe des Ichs« es dem Deutschen möglich werde, jenes Ganze da außen mit den bloßen zwei Händen auszureißen aus seinem Stand, den es einnimmt in der Welt scheingeistiger Ordnungen, und es mit sich hinabzureißen in die tiefere Lebenswoge und von da es wieder emporzureißen zu neuer Wirklichkeit (ebd. 409f.)
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exemplarischer Ausdruck des epochalen Irrtums, daß nämlich aus der romantisch-verinnerlichten Lebensbejahung eine neue konstruktive - und das heißt auch im Sinne Hofmannsthals: geútíg-seelische - Vermittlung von Individuum und Gesellschaft, eine »neue Wirklichkeit« erwüchse. Sosehr >Seele< und >Leben< als (in vieler Hinsicht) legitime Chiffren für kritische Gegenbilder in der krisenreichen Epoche der Jahrhundertwende sich darstellen, so ruinös erscheint die Inanspruchnahme von >SeeleLeben< und >Gefühl< als rettendes Totalkonzept, in dem mit der Abschaffung leidbringender Entfremdung die Erfahrung von Entfremdung überhaupt auch in ihrer aufklärerischen Dimension — suspendiert werden soll. Die Interpretation von Raabes Roman »Die Akten des Vogelsangs« konnte zeigen, daß im Bereich der Dichtung schon vor Hofmannsthal ein Diskurs entwickelt worden ist, der auf die krisenhafte Erfahrung von »Obdachlosigkeit«, von Spaltung, Ich- und Weltlosigkeit zwar auch mit emphatischer Hinwendung zur seelisch-psychologischen Dimension des eigenen Ichs reagiert, ohne sich aber in die Psyche als »dunkle, eigene Seelenwallung« gegenstandslos zu verlieren. Empathie im narrativen Diskurs Raabes stellt sich deutlich als eine dialogische - die unrevidierbare differenzierende >Entfremdung< modernen Bewußtseins bewahrende — Subjektanalyse dar. Sie ist nicht monadologisch wie die die Grenzen von Subjekt und Objekt verwischende Einfühlung der zeitgenössischen Einfühlungsästhetiker oder der neoromantisch-ästhetizistischen Produktionen vieler Zeitgenossen; vielmehr bleibt sie abgrenzend bezogen auf den anderen als Konstituens des gemeinsamen Diskurses. Die den analysierten Raabe-Roman strukturierende Aufspaltung in ein väterliches und ein mütterliches Paradigma verweist auf den Zusammenbruch von identitätsstiftenden Kulturmustern um die Jahrhundertwende. Daß das Weibliche in dieser Epoche nicht nur als Metapher für verdrängte Körperlichkeit oder ersehnte Unmittelbarkeit, sondern auch für alternative umfassende Sinnstiftung steht, suchte die Interpretation der Raabe-Texte zu zeigen. Als besondere Leistung literarischen Sprechens stellte sich zudem die (zwar nicht begriffliche, aber doch poetisch produktive) Anverwandlung eines geschichtsphilosophischen Modells an den psychologischen Analyseprozeß dar. Durch die Verbindung dieser beiden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend getrennt tradierten und entwickelten Erfahrungsmodelle erlangt der literarische Diskurs seit Raabe eine neue Sensibilität für das Zusammenwirken gesamtgesellschaftlicher und individualhistori218
scher Prozesse in Herausbildung und Darstellung bürgerlichen Identität. Die >Aufhebung< tradierter Elemente im je gegenwärtigen Zeichenkontext dieses Diskurses gestaltet sich dabei nicht als regressive Einfühlung in vergangene Epochen; vielmehr werden diese Elemente dem Bedeutungskontext je gegenwärtiger Symbolwelten ausgesetzt, um sowohl ihre anhaltende Macht und Gültigkeit wie ihre Fremdheit, Historizität oder Überwindungsbedürftigkeit künstlerisch erfahrbar werden zu lassen. Die interdiskursiven Vermittlungsversuche können als Ansatz eines neuen - moderne Subjektivität kritisch reflektierenden - literarischen Sprechens angesehen werden. Aufgenommen und fortgeführt wird der Raabesche Diskurs dann in aller Deutlichkeit im Erzählwerk von Thomas Mann, der mit den »Buddenbrooks« - wie er sagte - die »Seelengeschichte des deutschen Bürgertums« schreiben wollte und f ü r den das Modell des Spaltungsromans dann im »Dr. Faustus« (in erstaunlich großer Nähe zu Raabes »Akten des Vogelsangs« 15 ) nicht nur zum Ausdrucksträger einer innerlich-geistigen Kulturund Bewußtseinskrise, sondern zum Darstellungsmedium einer umfassenden Destruktion bürgerlicher Identitätsmuster vor dem Hintergrund des im deutschen Faschismus politisch-praktisch manifestgewordenen Krisensyndroms wird.
15
Auf die Nähe des »Dr. Faustus« (bezüglich der narrativen Struktur) zu Raabes Biographen-Romanen ist in der Raabe-Forschung verschiedentlich hingewiesen (Meyer 1953, Pascal 1964/1968, Fairley 1960/61, JehmüUer 1975). Meyer-Krentler (1984) kommt im Kontext seiner Studie »Der Bürger als Freund« im Vergleich des »Dr. Faustus« mit den »Akten des Vogelsangs« nicht über interpretatorisch verkürzte Hinweise hinaus. Preisendanz (1981) hält die Interpretation der Analogie beider Romane für »oberflächlich«, da sie - entgegen seiner eigenen Interpretation - Krumhardt nur als Biographen des eigentlichen Helden Velten verstehen könne. - Im Sinne der von mir am Beispiel der »Akten des Vogelsangs« analysierten Struktur eines Spaltungsromans müßte der »Dr. Faustus« im Vergleich zu Raabe neu interpretiert werden. 219
ANHANG:
Beiträge der neueren Raabeforschung zur Analyse sozio-psychologischer Bedeutungselemente in Wilhelm Raabes Dichtung. Eine kritische Revision
Nachdem 1971 die Ergebnisse des Amherster Kolloquiums (1970) über Literatur und Psychologie (Hrsg. W. Paulsen) auch ins Deutsche übersetzt wurden, erschienen 1972 vier für die Verbreitung psychoanalytischer Literaturdeutung bahnbrechende Veröffentlichungen: Peter von Matts Einführung »Literaturwissenschaft und Psychoanalyse«, Norbert Groebens Arbeitsbuch »Literaturpsychologie«, Wolfgang Beutins Sammelband »Literatur und Psychoanalyse« und Alexander von Mitscherlichs »PsychoPathographien I«. Es folgten verschiedene weitere Aufsatzsammlungen (Urban 1973, Cremerius 1974, Wolf 1974, Curtius 1970, Goeppert 1978, Schönau 1983) mit literaturpsychologischen Beiträgen, das Thema wurde in den einschlägigen Fachzeitschriften aufgenommen, Einzelpublikationen, Einführungen, Publikationsreihen, regelmäßige Tagungsreihen entstanden. Mit diesen Aktivitäten wurde versucht, über die große Zeitspanne ausgesetzter psychologischer Reflexion in der Literaturwissenschaft hinweg an die - für dieses Gebiet - letzten bedeutenden Arbeiten von Muschg (1930) und Pongs (1933) wieder anzuknüpfen und zugleich die seitdem in Frankreich und den angloamerikanischen Ländern fortgesetzte literaturpsychologische Forschung aufzunehmen. Die Lücke, die die nationalsozialistische Psychologiefeindlichkeit geschlagen hat, ist aber noch nicht wirklich wieder gefüllt. Auch in der Raabe-Forschung zeigt sich ein erheblicher Nachholbedarf. Zwar finden sich Beiträge zu einer psychologischen Interpretation in verschiedenen Analyseansätzen. Wies doch schon Pongs (1958) auf die Nähe von Raabes Alterswerk zu Sigmund Freuds Psychoanalyse mit großem Nachdruck hin. Implizite psychologische Argumentationen finden sich darüber hinaus in beinahe allen Biographien und den meisten RaabeMonographien. Indirekte psychologisch relevante Fragestellungen sind aber auch in Sonderstudien wie beispielsweise H. Meyers »Der Sonderling in der deutschen Dichtung« (1963), Renate Möhrmanns »Der vereinsamte Mensch« (1976), Hans Kolbes »Das Exzeptionelle bei Wilhelm Raabe« (1981), 221
Wilhelm Emrichs »Personalität und Zivilisation in Wilhelm Raabes >Akten des Vogelsangs< « (1982) enthalten. Im folgenden soll nur auf die jeweils wichtigen Forschungsergebnisse der letzten zwanzig Jahre eingegangen werden, die eine soziopsychologische Interpretation des Raabeschen Erzählmodus vorbereitet haben, d.h. auf Studien zur Erzählstruktur, sowie auf explizit psychologische und auf im weiteren Sinne soziologische Arbeiten. Für diesen Zusammenhang relevante Ergebnisse der älteren Raabeforschung sind von der behandelten Literatur selbst aufgearbeitet und brauchen hier nicht mehr im einzelnen rekapituliert zu werden. Im Rahmen dieser Arbeit waren v.a. solche Beiträge von Interesse, die Raabes Spätwerk zum Gegenstand der Untersuchung machen. Weitere Literatur wurde im Verlauf der Interpretation kritisch aufgenommen. Wesentliche Impulse bekam die Raabe-Forschung in den 60er Jahren durch eine neue Zuwendung zur Erzählweise spätrealistischer Prosa. Hubert Ohl versucht in seiner Raabe/Fontane-Monographie »Bild und Wirklichkeit« (1968) in der Nachfolge Hegels durch eine Analyse von Erzählstruktur und Bildsymbolik die Frage zu beantworten, »worin in der Dichtung ein seinem Wesen nach geistiger Gehalt als sinnlich Konkretes erscheint« (Ohl 1968: 11). Gegen die in vieler Hinsicht richtigen Kritiken von Schlaffer (1970), Reuter (1969), Richter (1970) u.a. bleibt Ohl doch das Verdienst, den reflektierenden Erzählduktus Raabes in der Tradition Sternes und Jean Pauls ausdrücklich wieder zum Mittelpunkt der Untersuchung gemacht zu haben. Im Anschluß an wesentliche Ergebnisse der Erzählforschung (Brinkmann (1957), Preisendanz (1963) und Killy (1963)) zeigt Ohl, wie - exemplarisch verdeutlicht in Raabes Dichtung - »die Perspektivität alles individuellen Erlebens zum eigentlichen Strukturmerkmal des neueren Romans wird.« (ebd.: 93). Durch verschiedene Formen subjektiv gebrochener Perspektivierung, »Zeitvertiefung«, »Zeitvertauschung«, »Verzeitlichung des Raumes«, »Verräumlichung der Zeit« dokumentiere sich eine Dominanz des Erzählers vor dem Erzählten dergestalt, »daß der Zusammenhang des Erzählten nicht durch die (>objektivebewußten Symbolik< - nicht mehr beschreibbaren) psychologischen Diskurs. Richtig bemerkt Ohl zwar abschließend, daß Deutung und Sinngebung der Raabeschen Geschichten nicht mehr von einem Jenseitigen oder Überzeitlichen, von einem »platonischen Sinne« her sich konstituieren; »was als Sinn in einem Geschehen aufleuchten kann, ist selbst von der Seinsart der Geschichte« (ebd. : 155). Doch wohin die so angedeutete Sinn-Perspektive zeigt, was sie mit der Seinsart von Geschichten und Reden überhaupt zu tun hat, läßt Ohl offen und kapituliert damit im Grunde vor seiner eigenen leitenden Frage nach der besonderen Vermittlung von Geist und Sinnlichkeit in Raabes Werk. Sehr viel expliziter von einer psychologischen Fragestellung her wird Raabe in der gleichzeitig mit Ohls Buch erscheinenden Monographie Eduard Beaucamps »Literatur als Selbstdarstellung« (1968) interpretiert, einem Buch, das, wie H. W. Peter in seinem kleinen Raabe-Forschungsbericht mit Recht beklagt, »immer im Schatten von Ohls Raabe-Verzeichnung stand« (Peter 1981: 543). Beaucamp geht von einem konflikthaften Verhältnis des Raabeschen Ich zur Welt aus. »Immer geht es diesem Ich, in welcher Gestalt es auch erscheint, um seine Selbstbehauptung gegenüber einer als antinomisch und undurchdringlich empfundenen Welt. Es sucht seine volle Selbstverwirklichung gerade in seiner eigenen problematischen Verfassung, seiner Zwiespältigkeit und Labilität.« (Beaucamp 1968:2). Diese »Zwiespältigkeit« projiziere der Autor auf verschiedene Figuren. Dem Reden komme dabei, so Beaucamp, »in hohem Maße eine psychologische Funktion zu«, die er 223
als Selbstdarstellung, Selbstbehauptung und - in den Altersromanen als Kompensation interpretiert. Warum dem Reden solch wesentlicher Stellenwert zukommen kann, bleibt ungeklärt. Unklar bleibt auch, worin genau die Bewußtseinskrise, die durchgehende Ambivalenz und Spaltung, aus denen heraus Beaucamp den Raabeschen Erzählmodus erklärt, begründet ist. Mal wird sie als Konflikt des Autors und Erzählers mit den Normen der bürgerlichen Gesellschaft erklärt, ohne daß dies an den Texten überzeugend klar gemacht wird; mal wird sie als Konflikt mit »Welt« und »Leben« an sich behauptet, mal als diffuses Schwanken zwischen Rationalität und Logik einerseits und Irrationalität, Herz und Gemüt andererseits aufgefaßt. So wird etwa die richtig festgestellte und nachgezeichnete Krise des Erzählens Krumhardts sehr fragwürdig damit begründet, daß »die rationalen Methoden, der Denk- und Darstellungstil und der Pragmatismus des Juristen versagen vor der Unfaßbarkeit und Irrationalität des Lebens« (ebd.: 71). Richtig beharrt Beaucamp gegen Killys (1962) These vom »antirealistischen« Erzählen Raabes auf dessen besonderem psychologischen Realismus. »Dieser Realismus besteht nicht in einer Wiedergabe von Wirklichkeit, sondern in der Auseinandersetzung mit ihr, im Versuch, sie zu bewältigen, zu durchdringen« (ebd.: 176). Die in Beaucamps Buch vage bleibenden Vorstellungen von Realität, gekennzeichnet durch den redundanten Gebrauch der Begriffe »Welt« und »Leben«, verhindern aber an vielen Stellen eine befriedigende Darstellung und Analyse eben dieser Auseinandersetzung im Raabeschen Werk. Vor allem Beaucamps Psychologie-Konzept, das viele Elemente einer Bewußtseinsphilosophie (von noch Wundtscher Provenienz) enthält, läßt eine den Texten in ihrer Vielschichtigkeit angemessene Analyse nicht zu. So wie Beaucamp dem Autor Raabe eine »Psychologie« zuschreibt, die sich v.a. in der Fähigkeit zur Charakterisierung seiner fiktiven Personen durch konkrete (typische) Gegenstände verdeutlicht, so versucht Beaucamp verschiedene im Bewußtsein des Autors quasi nebeneinanderliegende Bewußtseinszustände als ihn charakterisierend im Werk wiederzufînden. Besonders aufschlußreich für dieses Konzept ist seine wirklich unzureichende Interpretation der Bedeutung von Kindheit und Erinnerung im Spätwerk Raabes. Kindheit ist für Beaucamp nur ein »spezifisches Bewußtseinsphänomen«, das neben anderen im Bewußtseinsstrom aufbewahrt wird und nach Ausdruck verlangt. Der zentrale Stellenwert dieses Themas, der schon fast zu einem »mythe personel« (Mauron) für Raabe wird, kann durch eine derartige Vorstellung gar nicht in den Blick kommen. Beaucamps halb 224
zustimmende Zitation der Interpretation Barker Fairleys vom Erinnerungsdrang Raabes als seiner »verwundbar(en) Stelle«, als einer »lauernden, wenn nicht morbiden Neigung seiner sonst so gesunden Natur zum Rückwärtsschauen« (Fairley 1961: 2S9), läßt die ganze Problematik dieser Erinnerungsinterpretation deutlich werden. Schließlich hindert dieses psychologische Konzept von simultan vorgestellten Bewußtseinsphänomenen, die vom Autor abwechselnd nach außen projiziert werden, auch eine stringente Interpretation des psychologischen Diskurses Raabes als eines Prozesses dynamischer Sinnkonstitution. Die einzelnen Figuren der Romane bleiben für Beaucamp isolierte Momente (Stopfkuchen, Justus und Velten werden gar zu »Idealmenschen«), die in den Prozeß der Sinnerstellung nicht wirklich einbezogen werden. Beaucamp versteht zwar richtig Raabes Erzählen als »Versuch zur inneren Lösung« (ebd.: 62), doch liegt diesem Klärungsmodell eine zu positivistische Vorstellung psychologischen Verstehens zugrunde, so als gelänge es dem Autor Raabe, mit seinem Werk klar feststehende Elemente seines Bewußtseins dichterisch vorzuzeigen. Die Vorstellung, daß auch unbewußte Prozesse in dichterischem Reden nach Ausdruck gelangen, hat in solchem PsychologieModell keinen Platz. Am weitesten fortgeschritten in der Analyse des psychologischen Diskurses in Raabes Spätwerk ist Wolfgang Preisendanz mit seinem Aufsatz »Die Erzählstruktur als Bedeutungskomplex der >Akten des Vogelsangs< « (1981), auch wenn Preisendanz - in der Tradition Ohls - einen explizit psychologischen Ansatz meidet. Aufbauend auf den Arbeiten Ohls und Beaucamps und auf MüllerSeidels (1975) am Beispiel Fontanes herausgestellte These vom hohen Reflexionsgrad dichterischen Sprechens im Spätrealismus, stellt Preisendanz für Raabe fest, daß »der narrative Diskurs, die Konkretisierung der Erzählfunktion zu einem fundamentalen Bedeutungsträger werden, daß das Erzählverfahren und die Schreibart einen Bedeutungskomplex bilden, den der Leser thematisch machen und als Begründungszusammenhang des Dargestellten erfassen muß.« (Preisendanz 1981: 203) Er beschreibt die Grundstruktur der »Akten des Vogelsangs« als doppelte Dialogizität, entstanden aus einer elementaren »Identitäts- und Sinnkrise«. Die schriftliche Objektivierung des Erinnerungsprozesses fundiere »die Selbstreflexion, die Selbstkonfrontation, die Selbstentzweiung« (ebd.: 206) des ErzählerVerfassers. Die Dialogizität reiche von der Makro- bis in die Mikrostruktur des Erzählens, »indem sich das Erzählen als innerer Dialog des Erzählers mit sich selbst wie als innerer Dialog des Erzählers mit den Figuren der Geschichte entfaltet.« (ebd.: 208) 225
Besonders überzeugend sind Preisendanz' - im Anschluß an M. Bachtin formulierte - Ausführungen zur »Interferenz von eigener und versteckter fremder Rede« (ebd.: 211) im Erzählduktus, die für Preisendanz das Hauptmotiv der Bewußtseinskrise ausmacht und ihn bestärkt in seiner These von der Selbstzentriertheit dieser Rede. Die Begründung dieser Implikation eines »fremden, kollektiven Redekontext(es)« in eigener Rede bei Preisendanz bedarf allerdings einer weitergehenden soziopsychologischen Erklärung. Die doppelte Dialogizität führt zu einer doppelten Reflexivität, insofern innerhalb des Erzählprozesses das Erzählen selbst reflektiert wird. Preisendanz schreibt am Ende seines Aufsatzes, es erzeuge der Roman »in sich eine Metaebene: er wird zur kritischen Reflexion des sprachlich-ideologischen Codes, dem er sich verdankt.« (ebd.: 216) Diesem Resultat kann nur zugestimmt werden, es müßte jedoch aus den »Akten« heraus genauer begründet werden. Die Interpretation der Figur Veltens für den Selbstanalyseprozeß Krumhardts ist noch zu sehr von der traditionellen Interpretation des »Helden« Velten, als des freien, unabhängigen romantisch-geniehaften Individuums bestimmt, als Vertreter des »Unbürgerlichen, Unbedingten, von gesellschaftlichen Werten Unabhängigen, an inneren eigenbestimmten Werten Orientierten« (ebd.: 214). Nicht nur ist Krumhardt, wie Preisendanz richtig gegen die tradierte um den Helden Velten zentrierte — Raabeforschung insistiert, Ausgangspunkt, Ziel und damit Zentrum des Aufklärungsprozesses, sondern Velten kann nur als (allerdings zentrale) Ich-Abspaltung Krumhardts im Figurentheater des Romans angesehen werden, existiert nur funktional zu Krumhardt, wie der Ablauf der Handlung, Veltens Verschwinden und Auftauchen an ganz bestimmten Handlungspunkten deutlich macht. Dieser Ablauf ebenso wie die Figurenkonstellation des Romans und die Raumgestaltung gehorchen psychologischen Gesetzen, die Preisendanz nicht thematisiert und damit produktiv machen kann, auch wenn seine außerordentlich differenzierte Interpretation genaues Wissen über psychologische und auch psychoanalytische Gesetze im Grunde voraussetzt. Ulrich Adolphs Aufsatz »Schreibtakt als Suche nach Identität. Wilhelm Raabes >Altershausen< « (1985) stellt vier Jahre später eine gewisse Parallele zu Preisendanz' Ergebnissen dar, ohne daß allerdings deren Differenziertheit und Erkenntnisträchtigkeit im ganzen erreicht würde. Offenbar hat Adolph Preisendanz' Aufsatz nicht rezipiert. Unter den wenigen psychoanalytisch orientierten Raabe-Interpretationen kommt Paul Derks Monographie »Raabe-Studien. Beiträge zur Anwendung psychoanalytischer Interpretationsmodelle: Stopfkuchen und das Odfeld« 226
(1976) eine gewisse bahnbrechende Bedeutung zu, insofern hier an zwei Raabe-Texten sowohl eine »binnenliterarische« wie eine autorbezogene psychoanalytische Textinterpretation vorgeführt wird. Die Problematik von Derks »Studien«, die bei allem Materialreichtum und einer Fülle interessanter und neuartiger Einfälle keine wirklich überzeugende Gesamtinterpretation realisieren, ist hinreichend nachgewiesen worden (s. v.a. Denkler 1978 und Kittler 1976) und braucht hier nicht erneut dargelegt zu werden. Bedenkenswerte neue Aspekte bringt Franz Zwilgmeyer (1985) in seiner »anthropologisch-tiefenpsychologischen« Interpretation Raabes in der Tradition C.G. Jungs. Ohne auf die genaue Struktur der behandelten Romane einzugehen, gelingt es Zwilgmeyer, durch Anwendung des Jungschen Anschauungsapparates die Facettierung einzelner Figuren als Teilaspekte von Erzählprojektionen zu verdeutlichen und den Blick so für eine symbolische Interpretation auch der Figurenkonstellation zu öffnen. Der durchweg unhistorische Ansatz der Jungschen Archetypenlehre gibt jedoch allen ihren Übertragungen auf Literaturinterpretation ein gewisses Maß an Zufälligkeit und Unkontrollierbarkeit. Es wäre an der Zeit, die auffallende Affinität der Jungschen Vorstellungen zu Bildkomplexen von im weiteren Sinne zeitgenössischen Autoren (z.B. Raabe, Storm) unter einer erweiterten kulturhistorischen Fragestellung genau zu untersuchen und zu interpretieren. Auch Wolfgang Giegerichs 1967/68 als Dissertation verfaßte, erst jetzt aber vorgelegte Arbeit »Der verlorene Sohn. Vom Ursprung des Dichtens Wilhelm Raabes« geht von der Jungschen psychoanalytischen Theorie aus. Abgesehen von der Problematik, eine Arbeit vorzulegen, die 20 Jahre Forschungsliteratur nicht zur Kenntnis nimmt, vermittelt die Lektüre von Giegerichs Buch einen zwiespältigen Eindruck. Giegerich glaubt im Mythos vom verlorenen Sohn einen oder - besser gesagt - den Archetypus im Raabeschen Schaffen gefunden zu haben. Was genau unter diesem Archetypus vorzustellen ist, wird aber nur schwer klar. Nicht gemeint ist das Motiv von Ausfahrt und Heimkehr, wie es sich in zahllosen Beispielen bei Raabe findet. Nicht ausschließlich gemeint ist das persönliche Erleben des Autors, dem Giegerich aber doch einen zentralen Stellenwert einräumt. Als Grundkonflikt in Raabes Leben sieht er nämlich den innerlich nicht akzeptierten Übergang aus der Kindheit in die Welt der Normen und Leistungen an, paradigmatisch erlebt im Wechsel zur Wolfenbütteler Schule. Das Erlebnis von Ehrverlust durch Scheitern in der neuen Schule und dann in der Lehre in Magdeburg werde zum persönlichen Mythos, der sich im Werk durch antinomische Strukturen, dualistische Personenkonstellationen darstelle. 227
Rückgebunden an die Biographie erscheine dieser Dualismus als VaterMutter-Kontrast. Über diese durch individuelle Sozialisation und Erfahrung erlangte Spannung sieht Giegerich im Mythos vom verlorenen Sohn aber zugleich »eine(n) überpersönlichen Dualismus beziehungsweise eine ganze Anzahl von überpersönlichen Antinomien« (Giegerich 1987:123). Das Überpersönliche möchte der Autor aber nicht an gesellschaftliche Antinomien bezogen wissen, sondern auf einen zugleich inneren wie kosmischen Grundkonflikt, dem er sich von verschiedenen Seiten anzunähern versucht, ohne ihn doch wirklich plausibel machen zu können. - Gesehen wird in dieser Arbeit viel Wichtiges und Richtiges, die Deutung kommt aber zu keiner überzeugenden oder auch nur diskursiv verständlichen Grundaussage. Horst Denkler versucht in seinem Beitrag »Wohltäter Marienborn. Ängste und Bewältigung im Werk Wilhelm Raabes« (1984) von einer Gesamtsicht über Raabes Werk und unter Berücksichtigung der Historizität Raabeschen Schreibens zentrale psychoanalytische Begriffe wie Angst und Aggression sowie ihre Bewältigungsstrategien in den Texten aufzuweisen und zu interpretieren. Von besonderem Interesse, da in der neueren Forschung weitgehend vernachlässigt, sind dabei seine Einlassungen zur Geschlechtsrollenthematisierung bei Raabe.1 Insbesondere das sehr ambivalente epochentypische Verhältnis zum Weiblichen, von dem Raabes Werke ausführlich Zeugnis geben, wird durch die Freudschen Stichworte »Gebärerin«, »Genossin«, »Verderberin« in einem ersten Zugriff verdeutlicht. Die zentrale Funktion weiblicher Paradigmen auch für die symbolischen Identitäts- und Sinnfindungsprozesse konnte durch die vorliegende Arbeit weiter verdeutlicht werden. Von soziologischer Seite bekam die Raabe-Forschung in den 70er Jahren wesentliche Anregungen durch drei Arbeiten zur Eigentumsthematisierung und -problematisierung in Raabes Werk: Gundel Mattenklott: »Sprache der Sentimentalität. Zum Werk Adalbert Stifters« (1973) mit einem Exkurs zu Raabes »Akten des Vogelsangs«, Peter Sprengel: »Interieur und ' Zum Thema Frau bei Wilhelm Raabe liegen nach einer Flut von Veröffentlichungen in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, die v.a. den Beitrag Raabes zu einem emanzipatorischen Frauenbild untersuchen, in neuerer Zeit informative Arbeiten von Robert Graves (1979), Irene Stocksieker di Maio (1981) und Margrit Bröhan (1981) vor. Bemerkenswert is Bröhans Arbeit durch den Versuch, einen Überblick über die Entwicklung des Frauenbildes bei Raabe im Zusammenhang mit der Geschichte der Frauenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts und mit Fakten aus Wilhelm Raabes Leben herzustellen. Stocksieker di Maio gestaltet einen kurzen Forschungsbericht über die Rezeption Raabes durch die frühe Frauenbewegung und über Raabe-Interpretationen überhaupt durch Frauen.
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Eigentum. Zur Soziologie bürgerlicher Subjektivität bei Wilhelm Raabe« (1974) und Gernot Folkers: »Besitz und Sicherheit. Über Entstehung und Zerfall einer bürgerlichen Illusion am Beispiel Goethes und Raabes« (1976). Im folgenden soll auf Sprengeis Arbeit, die in der Analyse des komplizierten Phänomens Eigentum in Raabes Werk am weitesten fortgeschritten ist, im einzelnen eingegangen werden.2 Sprengeis Arbeit steht in der Tradition einerseits von Lukács' (1940) These von der — in vieler Hinsicht verblüffenden — Übereinstimmung Raabescher Eigentumsproblematisierung mit der Marxschen Analyse des Kapitalisierungsprozesses in Deutschland; andererseits knüpft sie an Benjamins, Sternbergers und auch an Adornos — im Zusammenhang mit Analysen bürgerlichen Interieurs entstandene - Theorien zur Soziologie der Innerlichkeit an. Die im Werk Raabes sich vollziehende Problematisierung von Eigentumsverhalten versteht Sprengel - im Sinne dieser Tradition - aus der »Zerstörung der Aura des persönlichen Eigentums durch die Umwandlung des Gebrauchs-in Tauschwert« (Sprengel 1974:138). Der Eigentumsbegriff bleibe in Raabes ganzem Werk an eine vorbürgerliche Vorstellung, die persönliche Bindung an Eigentum impliziert, gebunden. Der mit der Freiheit bürgerlichen Eigentumserwerbs einhergehende Verlust persönlichen Eigentums werde durch zunehmend intensive Ausstaffierung der Innenräume zu einer Welt autonomer Innerlichkeit und Phantasie kompensiert. Sprengel zeigt in Raabes Werk zunächst Beispiele solcher phantastischen Innenräume auf, als Beleg kompensatorischer Weltflucht nach »Eigentumsverlust«. Im Verlauf von Raabes Werk, z.T. auch parallel mit der Gestaltung von Innerlichkeitsräumen, findet aber durch Konfrontation mit Realitätserfahrungen eine Entlarvung solcher Verinnerlichung als Illusion statt, und - als Gegenbewegung gegen die mit der Illusionsdestruktion einhergehende Resignation - erscheinen Darstellungen von »Eigentumserwerb« als Überwindung reiner Innerlichkeit. In einer dritten Bewegung wird auch dieser Versuch der Wiederherstellung persönlicher Vermittlung von Ich und Welt durch Eigentumserwerb als Illusion und Verdinglichung erkannt und in Bildern und Schicksalen von »Eigentumsmüdigkeit« reflektiert und überwunden. Diese ansatzweise in »Stopfkuchen«, zentral dann in den »Akten des Vogelsangs« durch »Eigentumszerstörung« dargestellte »Eigentumsmüdigkeit« wird von Sprengel als Verabsolutierung romantischer Innerlichkeit 2
Zur Kritik an den Beiträgen von Mattenklott und Folkers sei auf die gute Sammelrezension von Michael Schmidt (1977) verwiesen.
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verstanden, die jede Bindung an Welt und Realität als fetischisierende und verdinglichende Objektfixierung aufkündigt. »In Veltens Destruktion des Interieurs muß [...] das Aufbegehren der Subjektivität gegen die verhärtete Kfuste des sentimentalisch aufgeladenen persönlichen Eigentums erkannt werden - wobei der Grad der Auflehnung den der Verhärtung und dieser den der Verdinglichung spiegelt, gegen die >Eigentum< sich richtet.« (ebd. : 175) Die so im dialektischen Spannungsfeld zwischen Besitzfreudigkeit und Eigentumsmüdigkeit verdeutlichte Erfahrung von Entfremdung und Verdinglichung bürgerlicher Objektbeziehung geht, wie Sprengel am Schluß seines Beitrages nur kurz andeutet, bis in die Struktur des Familien- und Ehelebens. Durch die sehr gründliche Reflexion des für das 19. Jahrhundert zentralen Eigentumswerts im Verhältnis zu bürgerlicher Subjektivität, Innerlichkeit und Identität leistet Sprengel einen unverzichtbaren Beitrag zu einer soziopsychologischen Interpretation des Raabeschen Werkes. Auffallend ist allerdings auch bei ihm die rigorose Abstinenz in der Thematisierung psychologischer Erklärungsmodelle, obwohl seine Themenstellung sie nachgerade herausfordert. Schon in der einleitenden, in vieler Hinsicht sehr überzeugenden Interpretation von Raabes »Prinzessin Fisch« legt Sprengeis Argumentationsduktus mitsamt der angeführten Raabe-Zitate eine psychoanalytische Interpretation außerordentlich nahe. (Theodor wünscht mit seinem »unschuldigen Kinderverstand« eben auch die Mutter als sein »ewiges unbestrittenes Eigentum« sich wieder und sieht so - zu Recht - mit ambivalenten Gefühlen in »seines Vaters Garten« wie in ein »verbotenes Reich«, das ihm ein »verlorenes Paradies« bedeutet.) Daß entsprechend auch in den »Akten des Vogelsangs« durch Hereinnahme der psychologischen Dimension für das Verständnis des Eigentums weitere Dimensionen sich aufturi, konnte oben im Text entwickelt werden. Sprengeis Beharren auf der rein historisch-soziologischen Methode gegen Raabe selbst, der auf dem Höhepunkt der »Akten« auf die Notwendigkeit einer »psychologisch-philosophischen Abhandlung« zur genaueren Analyse des Geschehens hinweist, ist jedoch nicht als Ausschluß psychologischer Argumentation zu verstehen, sondern als (zunächst sinnvolle) Begrenzung eines komplex vorliegenden Forschungsfeldes auf eine bestimmte Perspektive. Legt doch schon die von Sprengel skizzierte Reflexion des Eigentumsbegriffs von Kant bis Marx eine Weiterinterpretation im Sinne einer die psychologische Identität verbürgenden und gefährdenden Dimension von Eigentum nahe. Stellt für Kant Eigentum die conditio sine qua non politischer Freiheit 230
dar, so gewinnt für Hegel das Individuum seine Substanz als Eigentümer nur durch Entäußerung seiner selbst in Eingliederung in die abstrakte Welt der Gesellschaft. Es bleibt jedoch dieser Eigentumsbegriff von Hegels auf Negativität angelegter Dialektik nicht ausgenommen. Vor allem in der »Phänomenologie des Geistes« (1807) wird der entfremdende Charakter, den die Sphäre des Rechts und des darin aufgehobenen Eigentums für die Individuen bedeutet, immer wieder zum Ausdruck gebracht. In der Unterordnung unter die abstrakte Allgemeinheit werden die Eigentümer zu Personen, verlieren ihre lebendige Realität, verlieren das je eigene Meinen und Wollen. Für Marx hat Eigentum, besonders in der abstrakten, quantifizierten Form des Geldes bis hin zum »Kapital« (1867) Doppelcharakter: Einerseits ist das verfügbare Kapital Mittel des Besitzenden, Existenz und Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft sicherzustellen; andererseits hat sich - nach den Regeln der Dialektik von Herr und Knecht - das Kapital von seiner Dienstfunktion emanzipiert und wird so zum onto-genetischen Faktor. Besonders im entwickelten Kapitalismus setzt sich nach Marx die Kapitalbewegung dem Individuum gegenüber gleichsam autonom. Der phänotypisch Macht ausübende Kapitalist ist genotypisch aus dem System abgeleitet, dem er dient. Die von Lacan beschriebene psychoanalytische Gespaltenheit des Subjekts findet im sozioökonomischen Status des Besitzenden seine Parallele. So liegt es nahe, Zentraltermini der Lacanschen Analyse in Marx' sozioökonomisches Modell einzuschreiben. Demnach wäre das Eigentum so etwas wie der geschichtsphilosophische »Phallus« der bürgerlichen Gesellschaft. Durch ihn wird die spezifische Form des bürgerlichen »Herrendiskurses« präjudiziert. 3 Allerdings ist der »Phall« in sich dialektisch. Seine aggressiven Tendenzen werden durch das System begrenzt und zurückgebogen und wenden sich schließlich gegen den Träger des Phallus selbst, ablesbar z.B. am Masochismus des Bürgers, der sich den Zwang einer ethisch hochstilisierten Arbeit auch dann noch auferlegt, wenn die Arbeit ökonomisch überflüssig geworden ist. Ebenso wird die Eigentumssteigerung zum Selbstzweck, dem sich der Besitzende unterwirft, während ursprünglich das Eigentum als Ausdruck und Medium der Subjektivität konzipiert war. Schlägt Eigentum als Konstituens bürgerlicher Subjektivität in deren Bedrohung und Negation um, so kann nur die Negation des Eigentums die 3
Zum Verhältnis von Lacans Diskurstheorie zur marxistischen Gesellschaftsanalyse s. A. Lipowatz (1982): »Diskurs und Macht« und die dort aufgeführten Forschungsergebnisse.
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unbeschädigte Subjektivität restituieren. Eigentlicher als der Eigner wird so der Eigentumslose, wenn auch ohne Basis solange nicht das System des Eigentums selbst umgewälzt wird. Wie sehr das Eigentum für Marx zum Wesensmerkmal des Menschen, zum Strukturfaktor auch seiner psychischen Prozesse wird, zeigen seine in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« (1844) veröffentlichten Ausführungen zum Stichwort »Geld«, die als Ansätze einer soziopsychologischen Theorie von Objektbeziehungen gelesen werden können, historisch begründet aus der Entwicklung des Privateigentums. So wie - nach Erkenntnis der Psychoanalyse-Forschung - der Mensch durch die Weise der Realisierung seiner ersten konstituierenden Objektbeziehungen quasi vorprogrammiert wird für alle späteren Beziehungsformen, so wird von Marx die besondere Beziehung zum »wesentlichen«, »eminenten« Objekt (Gegenstand) Privateigentum zum Strukturmuster, ja Motor aller weiteren Gegenstandsbeziehungen (unter die er Dinge wie Menschen faßt). Eigentum und Geld werden zum Zentralsymbol, gegenüber dem alle nicht auf Geld bezogenen und basierenden Wünsche und Forderungen imaginären Charakter haben. Das Eigentum wird also zum sinnbildlichen Ausdruck des Anderen (Lacan) im Sinne eines die Symbolgemeinschaft bindenden und Kommunikation überhaupt generierenden Elements.4 Unterschieden wird von Marx eine auf Geld basierende demande von einer bloß in mir existierenden Wunschvorstellung, die also ohne Bezug zum eigentlichen Symbolsystem ist, nicht anschließt an die intersubjektive Kette der die Menschen bestimmenden Eigentumsbedeutungen. Das zentrale Begehren - denn als solches kann man die demande schließlich auch übersetzen - ist das 4
»Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d.h., was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine - seines Besitzers Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt. Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. [...] Ich - meiner Individualität nach - bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füße; [...] ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein? [...] Wenn das Geld das Band ist, das mich an das menschliche, das mir die Gesellschaft, das mich mit der Natur und den Menschen verbindet, ist das Geld nicht das Band aller Bande. [...], die g&lvmochemische Kraft der Gesellschaft. [,..] die Verbrüderung der Unmöglichkeiten - die göttliche Kraft - des Geldes liegt in seinem Wesen als dem entfremdeten, entäußernden und sichveräußernden Gattungswesen der Menschen. Es ist das entäußerte Vermögen der Menschheit.« (Marx und Engels SA I: 127f.)
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Begehren des Anderen als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem gemeinschaftlichen Bedeutungssystem, das in diesem Fall über dem Generalsignifikanten Geld/Eigentum steht.3 Das Auseinandertreten beider Arten von Begehren durch bildliche Aufspaltung in verschiedene Personenketten und Räumlichkeiten in Raabes Werk kann nicht nur (im Sinne Sprengeis) als regressiv-romantisches Verhalten abgetan werden. Hier muß einerseits stärker auf die sich in Raabes Werk spiegelnde »Ungleichzeitigkeit« (Bloch) im bürgerlichen Gesellschaftsbewußtsein des ausgehenden 19. Jahrhunderts sowie auf die Durchsetzung eines psychologischen Diskurses eingegangen werden, der dem Begriff des Eigenen einen neuen identitätsaffirmierenden Wert gibt. Thematisierung und Analyse der Diskrepanz von Eigenem und Fremdem nimmt auch in Walter Schedlinskys Buch »Rolle und industriegesellschaftliche Entwicklung. Die literarische Vergegenständlichung eines sozialgeschichtlichen Phänomens im Werk Wilhelm Raabes« (1980) einen zentralen Stellenwert ein. In kritischer Aufnahme des aus der amerikanischen Soziologie v.a. durch Rolf Dahrendorf (19S8) eingeführten Rollenbegriffs interpretiert Schedlinsky drei Raabesche Prosatexte (»Die Chronik der Sperlingsgasse«, »Die Leute aus dem Walde«, »Unruhige Gäste«) unter der Fragestellung von Rollenreflexion und -darstellung. In allen untersuchten Texten scheint ihm Rolle ein »konstitutives Moment« Raabeschen Erzählens. Dabei stehe dem erzählenden Subjekt kein festumrissener Rollenbegriff zur Verfügung; »Rolle in der hier behandelten Literatur hebt vielmehr ab auf die Vorstellung einer >zweiten Natur< des Menschen, an die er ungewollt seine Subjektivität verliert. Der ungeliebte Doppelgänger wird zum Paradigma der Nichtidentität des Subjekts mit seinem vergesellschafteten Sein. [...] Durch das Hinzutreten eines literarisch vermittelten Rasters von Werten wird es möglich, die unscharf abgeleiteten Konturen fremdbestimmter Existenzbedingungen zu einem Abbild des sich in Rollen verhaltenden Menschen zu verfestigen. Damit erscheint Rolle als ein erst im Abbild des Menschen sichtbarwerdendes Moment seiner gesellschaftlichen Existenz, 5
»Was ich qua Mensch nicht vermag, das vermag ich durch das Geld [...] es verwandelt meine Wünsche aus Wesen der Vorstellung [...] in ihr sinnliches, wirkliches Dasein. [...] Als diese Vermittlung ist das Geld die wahrhaft schöpferische Kraft. Die demande existiert wohl auch für den, der kein Geld hat, aber seine demande ist ein bloßes Wesen der Vorstellung, das auf mich, auf den 3ten, auf die anderen keine Wirkung, keine Existenz hat, also für mich selbst unwirklich, gegenstandslos bleibt. Der Unterschied der effektiven, auf das Geld basierten und der effektlosen, auf mein Bedürfnis, meine Leidenschaft, meinen Wunsch etc. basierten demande ist der Unterschied zwischen Sein und Denken« (ebd.: 127f.).
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das, selbst vermittelt, auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zurückverweist, in der es seinen Ursprung hat.« (Schedlinsky 1980: 445). Einher mit der im literarischen Medium sich vollziehenden Rollenreflexion gehe eine Zuwendung zur Geschichte des eigenen Lebens, die allerdings nicht im Stile historischer Romane die Kontinuität privatisierter Geschichte ermittle, sondern im Gegenteil Problematik, Unsicherheit und Fremdheit mit sich und der Gesellschaft. Schedlinskys letzte These, daß gerade durch die bildhaft unbegriffliche Reflexion des Rollenphänomens die Gefahr positivistischer Verfestigung verhindert würde zugunsten einer potentiell unabschließbaren Interpretationsbewegung, läßt sich auch auf den unbegrifflich-narrativen psychologischen Diskurs Raabes übertragen, der mit der Reflexion der Rollenerfahrung natürlich engstens verbunden ist. Im Gegensatz zur psychologisierenden Ästhetik-Theorie seiner Epoche vermeiden Raabes Geschichten die reduktionistische Enge bestimmter psychologischer Schemata durch Offenhalten des hermeneutischen Prozesses. — Über Schedlinsky hinausgehend muß die »Problematik der eigenen Lebensgeschichte« in Bezug zur Gesellschaft, aber auch in Bezug zum Medium der Versprachlichung dieser Problematik einer systematischen Analyse unterzogen werden, um das in der soziologischen Untersuchung unklar gebliebene - Verhältnis von »zweiter Natur« und »Subjektivität« präzise zu formulieren.
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