Wilhelm II. und die Religion: Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds [1 ed.] 9783428504060, 9783428104062

Die biographische Erforschung von Leben und Persönlichkeit Wilhelms II. steckt durch ihre politische Engführung (Unterga

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German Pages 323 Year 2001

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Wilhelm II. und die Religion: Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds [1 ed.]
 9783428504060, 9783428104062

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Wilhelm Il. und die Religion

FORSCHUNGEN ZUR BRANDENBURGISCHEN UND PREUSSISCHEN GESCHICHTE NEUEFOLGE Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Johannes Kunisch

Beiheft 5

Wilhelm II. während eines Gottesdienstes auf seiner Yacht "Hohenzollern" um 1905 (Foto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz)

Wilhelm li. und die Religion Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds

Herausgegeben von

Stefan Samerski

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Wilhelm II. und die Religion : Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds I Hrsg.: Stefan SamerskiBerlin: Duncker und Humblot, 2001 (Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte : Beiheft; 5) ISBN 3-428- I 0406-4

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0940-1644 ISBN 3-428-10406-4

Vorwort des Herausgebers Hat es überhaupt noch Sinn, eine neue Biographie über Wilhelm II. zu schreiben? Zum einen versteht sich dieser Sammelband nicht als Lebensbeschreibung des letzten deutschen Kaisers, sondern durch eine bisher ausgesparte Thematik als weiterführende Ergänzung; zum anderen scheint die Wilhelm-Biographik neue Impulse zu brauchen. Die hier dargebotenen Beiträge von verschiedensten Fachexperten streben keine interpretatorische Synthese über Lebenswerk und Persönlichkeit Wilhelms II. an, noch ist ihnen aufgrundihres speziellen Fachgebiets die Methodik des Arbeitens gemeinsam. Das Verbindende für Historiker, Theologen, Kunsthistoriker und Soziologen ist das Materialobjekt "Religion" in seiner fachspezifischen Ausprägung. Daher stehen nicht allein Leben und Wirken des Kaisers zur Untersuchung an, sondern ebenso von außen an ihn herangetragene religiöse Äußerungen. Bereits durch die Vielzahl unterschiedlicher Disziplinen ist sichergestellt, daß am Ende kein monolithisches Ergebnis steht. Darin liegt gerade der besondere Reiz eines solchen Sammelbandes, der der Komplexität und Widersprüchlichkeit Wilhelms II. eher Rechnung tragen kann als etwa eine geschlossene biographische Skizze. Die Mühe und Geduld des Herausgebers sowie die lange Vorlaufzeit werden belohnt durch vielfach zu beobachtende Pionierarbeit und überall sich auftuende neue Perspektiven. Mein Dank gebührt vielen, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben, nicht zuletzt aber auch Herrn Prof. Dr. h.c. Norbert Simon, der spontan die Drucklegung in seinem Verlagshaus signalisiert hat. München, im Februar 2000

Stefan Samerski

Inhaltsverzeichnis Stefan Samerski Der Kaiser und die Religion -eine Einleitung

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Patrick Bahners Der dämonische Mann. Wilhelm II. in Rudolf Borchardts poetisch-politischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Martin Friedrich Die Religion im Erziehungsprogramm Hinzpeters. .. ................... . .... .. . .

59

Klaus Erich Poilmann Wilhelm II. und der Protestantismus

91

Norbert Friedrich Die Christlich-soziale Bewegung und Wilhelm II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Bastiaan Schot Wilhelm II., die Evangelische Kirche und die preußische Polenpolitik . . . . . . . . . 133

Jürgen Strötz Wilhelm II. und der Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Stefan Samerski Papst und Kaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Jiirgen Krüger Wilhelms li. Sakralitätsverständnis im Spiegel seiner Kirchenbauten . . . . . . . . . 235

Walter Eykmann Religionsunterricht Stütze für König und Vaterland, Waffe gegen den Umsturz .. . ........... . ... .. .. . ... . ... . ... . . . ... .. .. . ..... . . .. . .. .. . .. . .. ........ . ... . .. 265

Michael Spöttel Leo Frobenius: Des letzten deutschen Kaisers Ethnologe

285

Biographische Daten zu Wilhelm II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Der Kaiser und die Religion - eine Einleitung Von Stefan Samerski Auchneueste Veröffentlichungen zeigen, daß das Interesse an Wilhelm II. bis heute ungebrochen ist1 . Obgleich die Biographik über den letzten deutschen Kaiser gerade auch seit den Arbeiten von Röhl mehr und mehr an Quellenhaftung gewonnen hat, scheint sie jedoch nur unwesentlich auf die Geschichtsschreibung des Kaiserreichs auszustrahlen 2 • Neben dieser merkwürdig paradoxen Diskrepanz entdeckt man noch einen weiteren unverständlich erscheinenden Faktor: Trotz einer zunehmenden Zahl von Einzeluntersuchungen und Editionen hat sich der wissenschaftliche Diskurs, der sich mit Wilhelms Leben und Werk beschäftigt und ereignisgeschichtliche Bahnen längst noch nicht verlassen hat, keineswegs konsolidiert; mangewinnt im Gegenteil den Eindruck, als böten weitere Quellenpublikationen und frischgehobene Archivalien nur neue Munition im Streit um die rechte Interpretation des kaiserlichen Zerrbildes. Die Deutung Wilhelms II. als "Symbol der Reinheit und uneigennütziger Gesinnung" 3 ist ebenso vereinseitigend wie moderne Interpretationen von einer "größenwahnsinnige[n] Selbstverherrlichung" 4 des Kaisers, der dann wohlwollend als "komischkindisch"5 dargestellt wird, schlimmstenfalls als direkt geisteskrank6 . Sicherlich spielen seine schillernde Persönlichkeit als "Fabeltier unserer Zeit" sowie sein sprunghafter Umgang mit der politischen Materie dabei eine nicht unwesentliche Rolle, die schwerlich eine Fixierung auf ein einheitliches Deutungsmuster zulassen. Die Stilisierung als politisches, gesellI Allein an Monographien: John C. G. Röhl, Wilhelm li. Die Jugend des Kaisers 1859-1888, München 1993; ders., Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm li. und die deutsche Politik, München 4 1995; Hans Rall, Wilhelm 11.: eine Biographie, Graz u. a . 1995; Nicolaus Sombart, Wilhelm li.: Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996; Franz Herre, Wilhelm li. Monarch zwischen den Zeiten, München 1998; Christian Graf von Krockow, Kaiser Wilhelm II. und seine Zeit, Berlin 1999. 2 Vgl. Röhl, Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 1) 117. 3 Daniel Chamier, Wilhelm II. Der Deutsche Kaiser, Berlin 1989, 9. 4 John C. G. Röhl, Kaiser Wilhelm II. "Eine Studie über Cäsarenwahnsinn" (Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge 19), München 1989, 13. s Ebd., 23. 6 Röhl, Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers (wie Anm. 1) 35- 36; ders., Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 1) 29 - 34.

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Stefan Samerski

schaftliebes und personales Monsterwesen ist dann auch geradezu zwingend, wenn es darum geht, eine Brücke von 1888 bis 1933 zu schlagen, dieauf den Ausgang des Ersten Weltkriegs fokussiert - auf einen Bruch in der deutschen Geschichte verweist, dessen Ursache Wilhelm II. gewesen sei 7 . Dieser vermeintlich zentrale Punkt der Biographik wird verschiedentlich zur "Goldenen Regel" und zum Deutungsmuster für das gesamte Wesen und Wirken des Kaisers erhoben. Daß man auf solchen intentiösen Bahnen nicht weiterkommt, liegt auf der Hand. Diesehistoriographische Selbstbeschränkung kann nur gesprengt werden, wenn man sich auf eine andere, abseits des primär politischen Fragehorizontes gelegene Position begibt und sich von jedem "Moralisieren" fernhält. Ein anderenorts vielzitierter Paradigmenwechsel ist auch bei Wilhelm li. dringend geboten. Eine(!) Möglichkeit bietet die Frage nach dem Religiösen um und bei Wilhelm, selbst wenn tatsächlich Fiktion oder Attitüde beigemischt sind. Bei der Religion geht es um das Selbst- und Weltbild eines Menschen, sowohl um die Rezeption von Überkommenem als auch um die eigene Selbstauslegung. Ihr kam noch im 19. Jahrhundert breite gesellschaftliche Qualität zu, ebenso wie sie für WHhelm unangefochten persönliche Relevanz hatte. Man greift jedoch zu kurz, wenn man Wilhelm II. eine "geradezu manichäische Religionsauffassung, in der das Böse stets vom Guten besiegt wird" 8 , attestiert 9 , zumal der Begriff Manichäismus weit über das hinausgeht, was unter "Schwarz-Weiß-Malerei" verstanden wird. Unzweifelhaft muß die Auffassung des Kaisers vom Religiösen bedeutend weiter gefaßt werden, selbst über den christlichen Horizont hinaus. Ziel kann es daher nicht sein, seine kirchlich gebundene Frömmigkeit zu analysieren, sie auf ihre Echtheit und Wirkung in einer zunehmend säkularisierten Welt zu überprüfen; die Zeitgenossen, selbst die, welche mit ihm hart ins Gericht gingen, bescheinigen ihm jedenfalls einen stark religiösen Zug10, sprechen sogar von einer "ununterbrochene[n] Propaganda für das Christentum in Deutschland" 11 . Die Außenwirkung solcher 7 Eine solch dezidierte Deutung bietet: Röhl, Cäsarenwahnsinn (wie Arun. 4) 7 - 8. a Röhl, Wilhelm II. (wie Arun. 1) 422. 9 Der Manichäismus verstand sich als wirklich universale Religion mit einem zyklisch wiederkehrenden "Lichtgesandten". Er griff verstärkt gnostisches Gedankengut mit seinem scharfen Dualismus von Licht und Finsternis bzw. Geist und Materie auf. Dabei geht es weniger um den Kampf zwischen Gut und Böse, als um die individuelle Erlösung des Menschen, der sich als aus beiden Naturen (Geist und Materie) zusammensetzt versteht, und seine Besinnung auf seine urspriingliche Lichtheimat; vgl. Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, Bd. 2, Freiburg/Br. u. a. 1979, 328- 330; Hans-Joachim Klimkeit, Art. Mani, Manichäismus, in: Worterbuch des Christentums, hg. von Vol.ker Drehsen u. a., Zürich 1988, 770-771 (Lit.). 10 Vgl. dazu: Ernst Graf zu Reventlow, Von Potsdam nach Doorn, Berlin 5 1940, 383 - 396. Stellungnahme von Emil Rathenau und Max Buchner bei: Hans Rall, Zur persönlichen Religiosität Kaiser Wilhelms II., in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 95

(1984), 382-394, 384.

Einleitung

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Betätigung ist in diesem Zusammenhang nur von sekundärer Bedeutung. Viel entscheidender ist zunächst die Bandbreite der religiösen Manifestation, mit der Wilhelm II. in Verbindung gebracht wurde und werden muß und die einen erheblichen Anteil selbst am Politischen hatte, wie sich zeigen wird. Der Themenkomplex "Wilhelm II. und die Religion" bietet, obgleich oder gerade weil er mit Irrationalität und mit an sich unergründlicher Persönlichkeitsstruktur zu tun hat, unabdingbare Vorteile, die gerade in der Beschäftigung mit Denkstrukturen, Zeitkolorit und Motivationsherden liegen. Die eingangs präsentierten poetisch-theologischen Reflexionen Rudolf Borchardts bieten mit ihrer Verflechtung von kulturhistorischen Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine breite Hinführung in das religiös-romantische Umfeld von Wilhelms Agieren und Denken. Der Kaiser selbst wird hier zum Gegenstand der religiösen Phantasie. Verstehenshorizonte sind nicht allein an die Person gebunden. Daher sollen ferner Ausbildungsmethoden und -inhalte reflektiert werden, sowohl was die eigene religiöse Erziehung durch Hinzpeter angeht als auch WHhelms Auffassung vom Religionsunterricht, die unübersehbar politisch-gesellschaftliche Dimensionen besitzt. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, daß sich Religion nicht von Politik trennen läßt, was noch prägnanter im Verhältnis des Kaisers zu den großen christlichen Kirchen zum Ausdruck kommt. In zwei großen Synthesen wird sowohl das institutionell Verbindende zwischen Herrscher und Kirche herausgearbeitet als auch die je neue Akzentuierung in der Konfessions- und Kirchenpolitik des Kaisers, die im deutschen Kaiserreich ohne Vorbild ist. Ebenso kommt Wilhelms besondere, ganz eigentümliche Beziehung zum Papsttum zur Sprache, die hintergründig ganz neue Schichten seiner persönlichen Kaiservorstellung freilegt. Gerade mit Leo XIII. verband ihn nach beiderseitiger Auskunft ein freundschaftliches Verhältnis, das nicht zum wenigsten auf das gemeinsame Interesse an der Sozialen Frage zurückging. Inwieweit selbst das sozialpolitische Engagement Wilhelms II. religiös-christliche Wurzeln hatte und wie es beschaffen war, soll anhand der christlich-sozialen Bewegung in Deutschland gespiegelt werden. Spätestens an dieser Stelle stellt sich eine methodisch Frage. Eine tatsächlich effektive Erweiterung des biographischen Spektrums kann nicht allein durch neue Fragehorizonte bewältigt werden; auch die vielgeforderte Interdisziplinarität muß zu ihrem Recht kommen, um verkrustete Strukturen aufzubrechen. Der Historiker oder historisch arbeitende Theologe kann hier allein nicht weiterkommen. Eine kunstgeschichtliche Betrachtung der Sakralbauten, die Wilhelm II. angeregt und im Entstehen begleitet hatte, ergänzt nicht nur die historische Forschung, sie eröffnet auch neue Perspekti11

Reventlow, Von Potsdam nach Doorn (wie Anm. 10) 384.

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ven und Denkmodelle. Ebensowenig läßt sich das Religiöse bei Wilhelm im theologisch-historischen Diskurs erschöpfend behandeln. Sein vitales Interesse an kulturmorphologischer Thematik, das vor allem in seiner Doorner Zeit deutlich greifbar wird, macht das Religiöse zu einem religionsgeschichtlichen, soziologischen Phänomen, das gerade in letzter Zeit auf reges Interesse stößt 12 • Der sogenannte Bibel-Babel-Streit und Wilhelms persönliche Förderung von Forschungsreisen bekannter Ethnologen sprengen die Beschränkung auf eine rein konfessionelle Sichtweise. Die Untersuchung des Königsmythos kann hier exemplarisch einen Beitrag leisten. Eine geradezu paradoxe Thematik wird mit der Untersuchung der evangelischen Kirche im polnischen Teilungsgebiet des Deutschen Reiches angerissen, die eng mit dem Nationalitätenproblem im Kaiserreich verwoben ist. Das auch in der Politik zu beobachtende Vorurteil "Polnisch gleich Katholisch", das noch im Kulturkampf deutliche Spuren hinterlassen hatte13 , wird hier vollständig aufgebrochen und geradezu ad absurdum geführt. Auch hier zeigen sich neue, abstrakt gesehen, eigentlich konstruktive Vorstöße des Kaisers, die jedoch - wie so oft - an strukturellen Fragen scheiterten. Zu der Untersuchung von konfessionellen Fragen in der wilhelminischen Epoche gehören auch ökumenische Aspekte und das Verhältnis des Kaisers zu anderen Religionsgemeinschaften. Wilhelms ökumenische Pläne wurden verschiedentlich angeschnitten14, ebenso wie sein Verhältnis zum Judentum, das bis heute kontrovers beurteilt wird15 . Trotz intensiver eigener und fremder Bemühungen um einen Autor hat sich niemand zur Bearbeitung der letzten Thematik bereit gefunden. Verschiedene andere Aspekte und Richtungen konnten in diesem Sammelband ebenfalls nicht berücksichtigt werden, was ebenso bedauerlich wie zwangsläufig ist. Wissenschaftliche Erkenntnis kann immer nur Stückwerk sein, lebt von neuen Deutungen und braucht neue Wege, um der Komplexität des Lebens gerecht zu werden.

12 Vgl. Sombart, Wilhelm Il. {wie Anm. 1) 205 - 228; ansatzweise bei: Röhl, Kaiser, Hof und Staat {wie Anm. 1) 78-140. 13 Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, München-Berlin 1982, 368: ,.Der Beginn des Kulturkampfes war für mich überwiegend bestimmt durch seine polnische Seite". 14 Vgl. Rall, Zur persönlichen Religiosität {wie Anm. 11) 385-386. Vgl. dazu auch kurz die Beiträge von Pollmann und Krüger in diesem Sammelband. 15 Reventlow, Von Potsdam nach Doorn (wie Anm. 10) 147 - 162; Lamar Cecil, Wilhelm II, Prince and Emperor, 1859-1900, Chapel Hill-London 1989, 141-142; Röhl, Kaiser, Hof und Staat {wie Anm. 1) 203 - 222.

Der dämonische Mann Wilhelm II. in Rudolf Borchardts poetisch-politischer Theologie

Von Patrick Bahners Das achte Hauptstück von "Jenseits von Gut und Böse", "Völker und Vaterländer", eröffnete Friedrich Nietzsche 1886 mit einer Interpretation von Richard Wagners Meistersinger-Ouvertüre1 . In Nietzsches Ohren instrumentiert das "schwere und späte" Stück, indem es zwei Jahrhunderte der Musikgeschichte resümiert, das Schicksal des deutschen Nationalcharakters. Diese Nr. 240 der Sammlung ist ein klassischer Text einer deutschen intellektuellen Selbstkritik, die um die Vorstellung der verspäteten Nation kreist. Die Kritiker unterwerfen die Mentalität oder, wie sie noch gesagt hätten, den Volksgeist der Deutschen einer pathologischen Betrachtung, welche Kultur und Politik aufeinander bezieht, also die langfristig wirksamen Kräfte von Religion, Bildung und Kunstübung einerseits sowie die Erschütterungen der im europäischen Vergleich ebenso verspäteten wie beschleunigten Nationalstaatsbildung andererseits. Vom gerade einmal fünfzehn Jahre alten Deutschen Reich ist bei Nietzsche mit keinem Wort die Rede, aber es ist, gleichsam als politisches Gesamtkunstwerk der Deutschen, unüberhörbar mitgemeint. Konnte man nicht auch von der Kompromißverfassung dieses einem Monster ähnlichen Staatsgebildes sagen, sie mute "ebenso willkürlich als pomphaft-herkömrnlich" an? Und irritierte nicht die Akteure auf Europas Bühne der neue Mitspieler, weil er "Feuer und Mut" zeigte "und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten, die zu spät reif werden"? 1867 war Wagners Nationaloper uraufgeführt worden. Mit dem so drangvoll-gravitätischen wie zagend-sprunghaften Rhythmus ihres Vorspiels schien Nietzsche zugleich die Denkungsart der deutschen Philosophie und das Bewegungsgesetz der deutschen Politik zu beschreiben: "Das strömt breit und voll: und plötzlich ein Augenblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine Lücke, die zwischen Ursache und Wirkung aufspringt, ein Druck, der uns träumen macht, beinahe ein Alpdruck". Eine ganze Lückentheorie der politischen Metaphysik ließe sich hier anschließen, die von der Chance und Versuchung zu sprechen hätte, die Kausalität aufzusprengen, I Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, Band 5, 179 f.

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von einem Traum der Freiheit, der sich in einen Alptraum verkehren kann. Will man die Diagnose des Seelenzustandes der Deutschen auf einen Begriff bringen, dann leiden sie unter einem Fbrmproblem. Wenn Nietzsche das Stück "etwas auf deutsche Art Vielfaches, Unförmliches und Unausschöpfliches" nennt, dann klingt noch die idealistische Verheißung eines unbegrenzten Möglichkeitsraums nach. Aber die Beweglichkeit läßt sich auch als Mangel an Haltung beschreiben, die Fähigkeit zur Improvisation als Unberechenbarkeit. Die Verhaltensregeln einer Zivilisation, die Nietzsche südlich nennt, erfüllt der Deutsche nicht: "Nichts von Grazie, kein Tanz, kaum ein Wille zur Logik". Es ist freilich gerade der Reichtum des deutschen kulturellen Erbes, der dem Auftreten der Spätgeborenen "etwas Willkürlich-Barbarisches" gibt; eben die Vielzahl der Formen, unter denen sie wählen können, läßt keine Form mehr Norm sein. Die Krise der verspäteten Nation ist die politische Seite der Krise des Historismus, einer historischen Bildung, die statt Identität Entfremdung produziert, weil sie die Diskrepanz zwischen der Fülle der Vergangenheiten und der Not der Zeit zu Bewußtsein bringt. Der gewaltige Schlußakkord von Nietzsches Wagner-Auslegung weist die Deutschen aus der Gegenwart aus: "Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich von den Deutschen halte: sie sind von Vorgestern und von Übermorgen, - sie haben noch kein Heute." Dieser Satz, so meint man zu hören, verleugnet nicht, daß ihn ein Deutscher geschrieben hat. Auch Nietzsche pflegt einen suggestiven Stil der Überdeutlichkeit. Es genügt ihm nicht, seine Landsleute dem Gestern und dem Morgen zuzuschlagen, es muß schon eine uralte Vergangenheit und eine ferne Zukunft sein. Nicht nur die Gegenwart ist den Deutschen fremd, sondern die gesamte historische Zeit, die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, jener Zeitraum, in dem man aus der Geschichte lernen kann, wenn man seine Erwartungen seinen Erfahrungen anpaßt. Auch diese Betrachtung des Unzeitgemäßen am Charakter der Deutschen läßt sich ins Politische übersetzen. Insofern das Reich ein Kind nicht nur des äußeren Krieges, sondern auch des inneren Streits war, konnte das Gedächtnis der Mitlebenden keine verbindliche Tradition begründen. Eine verbindende nationale Erinnerung hatte man in tiefer Vergangenheit zu suchen. Umgekehrt ließ sich die Zukunft eines Staates schwer beschreiben, den sein Gründer saturiert genannt hatte. Die Propheten mußten ihrer Zeit weit vorauseilen und konnten desto Größeres versprechen, je allgemeiner sie sich auszudrücken wußten. Nietzsche hatte mit "Jenseits von Gut und Böse" insofern wirklich das .,Vorspiel einer Philosophie der Zukunft" inszeniert, als seine Zeitkritik und zumal seine Analyse des exzentrischen Zeitverhältnisses der Deutschen mit der Zeit an Plausibilität gewannen. Unter den Gebildeten des Wilhelminischen Reiches war das Gefühl verbreitet, man führe eine Existenz zwischen den Zeiten, zwischen einer so

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mächtigen wie fremden Vergangenheit und einer so grandiosen wie ungewissen Zukunft. Haben die Deutschen ihr Heute je gefunden? Der Dichter Rudolf Borchardt, ein Sohn des Reiches, 1877 in Königsberg geboren, der in selbstgewähltem Exil auf Nietzsches südlichem Kulturboden, in Italien, lebte, sprach es ihnen noch 1908 ab. In diesem Jahr schilderte Borchardt in Essays zwei Repräsentanten seiner Nation, verlorene Söhne, deren Daseinsweise er zwischen Vorvergangenheit und Nachzukunft gespannt sah. In einer unveröffentlichten Polemik gegen politisierende Ästheten, geschrieben als Replik auf einen Aufsatz Fiiedrich Naumanns in den Süddeutschen Monatsheften, sprang Borchardt Wilhelm II. gegen die Gebildeten unter seinen Verächtern bei. Er führt Klage über die Respektlosigkeit gegenüber dem "Mann des deutschen Schicksals", "der sich seit zwei Jahrzehnten an dem Widerstande der stumpfen Welt müde ringt und in jedem Momente das tragische Vorläuferlos seiner leidenschaftlichen Natur auskostet: daß der Dank ihn im Heut nicht findet, weil er ihn schon im Vorgestern hat wollen dürfen und schon im Übermorgen lebt" 2 . Die Zeitfremdheit, bei Nietzsche Symptom einer vielversprechenden Unreife, erscheint hier als Auszeichnung, ja als Gnade. Als Vorläufer nach dem Bilde Johannes des Täufers wird Wilhelm in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. Vor diesem letzten Horizont erscheint als prophetisch, was kurzsichtigen Zeitgenossen am Reden und Handeln des Kaisers einfach phantastisch vorkommt. In der merkwürdigen Wendung, er habe im Vorgestern seinen Dank wollen dürfen, klingt wohl eine Art Reinkarnationsglaube an, genauer gesagt, eine Vorstellung von historischer Größe, die sich in Bildern eines Reinkarnationsglaubens artikuliert. Die Politik steht nach Borchardts Überzeugung unter ewigen Gesetzen. Dem Mann des deutschen Schicksals, der diese Gesetze vollzieht, ist seit unvordenklichen Zeiten der Dank gewiß. Wessen Dank? Der Dank eines idealen Volkes, das genauso ewig gedacht ist wie die Gesetze. Wilhelms Vorfahren oder Vorgänger, in deren Hand das deutsche Schicksal lag, haben genauso gehandelt; auch sie lebten schon im Übermorgen, in Wilhelms Gegenwart. Borchardt verwirft die moderne, pseudo-naturwissenschaftliche, evolutionistische Idee eines Zeitgemäßen als des einzigen Kriteriums für die Angemessenheit einer politischen Handlung, die durch Abstimmung oder durch das Urteil der öffentlichen Meinung bestätigt wird. Dagegen setzt er - durchaus davon absehend, in welchem Maße sich Wilhelm selbst den Forderungen der Modernität aufgeschlossen zeigte - den metaphysischen Begriff einer ewigen Gegenwart, in der Verdienst und Lohn schon immer im Gleichgewicht sind und Anpassung sich erübrigt. Der Dank von Vor- und Nachwelt ist nicht einfach ein Trost 2 Rudolf Borchardt, Politiker aus dem Kunstsalon, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa V: Reden und Schriften zur Politik, hrsg. v. Marie Luise Borchardtund Ulrich Ott, Stuttgart 1979,69-85, hier 83.

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für den Undank der Mitwelt; beide stehen in ursächlicher Wechselwirkung. Es ist das Schicksal des Manns des Schicksals, verkannt zu werden. Daß der Prophet im eigenen Lande nichts gilt, beweist dann die Wahrheit seiner Botschaft. Es fragt sich freilich, mit welcher Absicht sich Borchardt an eine Öffentlichkeit wandte, die er unter diesen Auspizien gar nicht dazu bewegen konnte, dem Kaiser schon in seiner Zeit ihren Dank abzustatten. Wie man aber in der Wilhelmstraße, je mehr sich die Überzeugung von der Einkreisung Deutschlands verfestigte, desto hektischer den großen Versuch erwog, den Ring der Feinde zu sprengen, so machte Borchardts Publizistik die Probe auf die Tragfähigkeit seiner fatalistischen Prämissen. Und wie die Ausbruchspläne der Reichspolitik den Zusammenschluß der Feinde erst endgültig machten, so mag Borchardts Griff nach der Deutungsmacht die Gefolgschaft verschreckt haben, die seine Geste mitreißen sollte. Für Borchardt war es ritterliche Pflicht, seinem Monarchen "unter dem Eindrucke der schauerlichen Eulenburg Angelegenheit" 3 die Treue zu halten, und das hieß, die Treue öffentlich zu zeigen. Ebenso unbedingt wie diese Pflicht, die von allen Erfolgskalkulationen absah, war indes ein Wille zu wirken, der seine Ziele nicht konkretisierte. Die Verteidigung Wilhelms li. war das Herzstück eines ehrgeizigen literarischen Projekts, durch das sich der im Exillebende Dichter einen Namen als politischer Schriftsteller in seinem Vaterland zu machen hoffte. Das Bild vom Schicksalsmann, im ungedruckten Aufsatz gegen Naumann in ein paar Sätzen hingeworfen, vervollständigte er zum Porträt, das unter der einfachen Überschrift "Der Kaiser" im Septemberheft der Süddeutschen Monatshefte publiziert wurde4 • In den gleichen Zusammenhang gehört der Aufsatz "Renegatenstreiche" aus dem Juniheft derselben Zeitschrift, eine maßlose Polemik gegen Albert Langens Simplicissimus aus Anlaß einer von Langen veranstalteten französischen Ausgabe. Hier wird die Geschichte des Reiches als Bildungsgeschichte entworfen, deren Betrachtung das einstmals pädagogisch nützliche Satireblatt dem Anachronismusverdikt verfallen läßt. Der "in sich disharmonische Organismus" der nur äußerlich geeinten Nation sah sich im Simplicissimus früher der Kritik ausgesetzt, die er verdiente. Sie war ebenso formlos wie das Kritisierte, aber "es ließ auf eine enorme Fähigkeit zur Selbstheilung schließen, daß irgend wo irgend etwas sich zu seiner Häßlichkeit, seinem Hohn, seiner Feigheit und Roheit bekannte"5 • Aber die Epoche, 3 Rudolf Borchardt an Josef Hofmiller, 15. Mai 1908: Briefe 1907-1913, hrsg. v. Gerhard Schuster, München 1995, 163. 4 Rudolf Borchardt, Der Kaiser, in: Prosa V (wie Anm. 2), 86-110. 5 Rudolf Borchardt, Renegatenstreiche (Simplicissimus Edition fran,.:aise). An den Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte, in: Prosa V (wie Arun. 2), 53- 68, hier 61.

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in der nichts die Deutschen so genau abbildete wie ein Zerrspiegel, erklärt Borchardt für abgeschlossen; die Genesung, die der Simplicissimus stimuliert hat, kann er nicht mehr repräsentieren. Wilhelm tritt in den "Renegatenstreichen" nur einmal auf, aber er setzt die Zäsur, auf die es ankommt. Denn "unsere heutige Epoche" möchte Borchardt von "jenem denkwürdigen Frühling 1905" datieren, "als Marokko präzipitierte, und der Kaiser, durch eine ihrer Traditionen würdige Geschäftsführung unterstützt, die schon siegessichere Koalition angriff und im Bündnispunkte aus der Klammer brach" 6 . "Rätselhaft" erschien es Werner Kraft, daß Borchardt diese Periodisierung der Zeitgeschichte 1908 vornehmen konnte, ohne der Konferenz von Algeciras im Jahre 1906 zu gedenken, deren Ausgang für Deutschland niederschmetternd war7 . Die Lösung des Rätsels mag eine Politikauffassung sein, der die unvergeßliche Geste wichtiger ist als der vergängliche Gewinn. Auch in den "Renegatenstreichen" sind die politisierenden Literaten der Gegner, Dilettanten im ästhetischen Reich wie im öffentlichen Raum, während Borchardt, wie er in einem offenen Brief an Hermann Hesse darlegt, "als Dichter und darum als Politiker" handelt 8 . Der Kaiser-Aufsatz als auffälligste Handlung dieser Art vor 1914 ist nur die Spitze eines Eisbergs, an dem die Schiffchen der Literaten hätten zerschellen sollen. 1907 konzipierte Borchardt ein Buch mit dem schlichten Titel "Weltfragen", das Macht- und Kulturgeographie zu einer universalhistorisch begründeten Geopolitik vereinigen sollte 9 . Es nahm die Metapher des Weltbildes beim Wort, um die weltanschauliche Krise der Gegenwart aus dem Wandel der Raumvorstellungen zu erklären, und ging fast bis zum Buch Genesis zurück. Was vom ersten Kapitel der "Weltfragen" erhalten ist, bricht ab mit den Anfängen des Aufstiegs der Stadt Rom. Ein weiteres Fragment handelt von Wilhelm II. Aus der Disposition läßt sich schließen, daß die Weltgeschichte auf den Kaiser als Verkörperung seines Zeitalters hätte zulaufen sollen. "Jedermann weiß, daß der Kaiser an und für sich Weltfrage ist und daß seine Person allein ausreichte, ein Buch wie dieses mit dem nötigen Stoffe zu versehen. Jedermann weiß, daß er der mächtigste und wichtigste Mensch ist, dessen Dasein unser Dasein erlebt hat und erleben kann." 10 Diese Sätze sagen mit Absicht die Unwahrheit. Sie postulieren Evidenz und fordern den Widerspruch der Leugner geradezu heraus 11 . Das 6 7

403.

Ebd. 56. Wemer Kraft, Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte, Harnburg 1961,

B Rudolf Borchardt, Replik, in: Prosa V (wie Anm. 2), 556 ff., hier 558. Die Zuschrift des in den "Renegatenstreichen" erwähnten Hesse und Borchardts Replik wurden in den Süddeutschen Monatsheften nicht gedruckt. 9 Rudolf Borchardt, Weltfragen, in: Prosa V (wie Anm. 2), 9 - 52. 535 - 548. 1o Ebd. 545.

2 FBPG - NF, Beiheft 5

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Kunstmittel der Übertreibung soll Gerechte und Ungerechte trennen12 . Wer blind für den Ausnahmemenschen ist, der ist sowieso nicht zu retten. Das Fragment zählt die Verdammten auf; es sind die Literaten, mit Albert Langen an der Spitze. Die "erbitterten Formen des Hohns", den Wilhelm auf sich zieht, beweisen gemäß Borchardts Dialektik des Ruhms die Weltbedeutung des Kaisers, die die Verächter vergeblich bestreiten. "Der Kaiser, der die Geschichte kennt, wird wissen, daß er nur von ihr die Rechtfertigung seiner ganzen Person erwarten kann." 13 Einen Gegenentwurf zu dieser idealistisch gesehenen Weltgeschichte, in der die Gerechtigkeit triumphiert, veröffentlichte Borchardt selbst am 1. März 1908 im Feuilleton der Frankfurter Zeitung14 . Im Kriminalgericht von Old Bailey war ein deutscher Hochstapler verurteilt worden, der sich Baron von Veltheim nannte. Borchardt erinnerte sich, daß er Veltheim einmal begegnet war. Er schrieb diese Erinnerung auf, und sie verwandelte sich in ein Epos vom Anfang und Ende der Geschichte. Der Verwandlungskünstler mit dem gigantischen Appetit versinnbildlicht in der Erzählung des Dichters die alles verschlingende Urgewalt. Als Figur der germanischen Mythologie, als wiedererstandener Riese Rübezahl macht Veltheim die Unterseite des II Zur Absicht der "Herausforderung" siehe Rudolf Borchardt an Alfred Walter von Heymel, 25. Oktober 1908: Briefe 1907-1913 (wie Anrn. 3), 190 f. 12 Der wnfangreiche Aufsatz von Hartmut Zelinsky, Das Reich, der Posteritätsbliek und die Erzwingung des Feindes. Rudolf Borchardts Aufsatz "Der Kaiser" aus dem Jahr 1908 und seine Wende zur Politik, in: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, hrsg. v. Ernst Osterkamp, Berlin 1997, 281-333, hebt allein auf diese polemische Absicht des Textes ab. Zelinsky bemüht sich, Borchardt durch verschlungene, weit abführende Zitatketten an die von ihm konstruierte Tradition einer von Wagner über Houston Stewart Chamberlain und Wilhelm II. an Hitler weitergegebenen Erlösungs- und Vernichtungsideologie zu fesseln. Wenn Borchardt im Zuge brieflicher Ausfälle gegen den Literaturbetrieb herabsetzende Bemerkungen über Juden fallen läßt, spricht Zelinsky von einer "auch vom eigenen Judentum ablenkensollenden und auch antisemitischen Zuordnungstechnik" (313, Anrn. 83). Ohne Borchardts Neigung zum privaten Verbalradikalismus (in alle Richtungen) verharmlosen zu wollen, wird man doch Zelinskys "Zuordnungstechnik" problematischer finden. Bevor die Nationalsozialisten den Protestanten zum Juden erklärten, hatte Borchardt keinen Grund, von einem Judentum abzulenken, das er, weil seine Familie getauft war, nicht als sein eigenes ansah. Vgl., differenziert und klar, Jens Malte Fischer, Rudolf Borchardt - Autobiographie und Judentum, in: Rudolf Borchar dt 1877-1945. Referate des Pisaner Colloquiums, Frankfurt am Main 1987, 29-48. Bei Zelinsky erklärt der Primat des Freund-Feind-Denkens den "Kaiser" restlos, weshalb der Text in Zelinskys denkbar knappem Referat paradoxerweise seine Schroffheiten verliert. Der vorliegende Aufsatz betrachtet dagegen umgekehrt Borchardts Rhetorik der Verschärfung als Funktion seines poetischen Projekts. 13 Borchardt, Weltfragen (wie Anrn. 9), 546. 14 Rudolf Borchardt, Veltheim, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa VI: Autobiographische Schriften, hrsg. v. Marie Luise Borchardt, Ulrich Ott und Gerhard Schuster, Stuttgart 1990, 32 - 44.

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Volksgeistes sichtbar, die nackte Macht, die Trägheit der Materie. Nicht die unwandelbaren Ideen garantieren die historische Kontinuität, sondern jemand wie Veltheim, "ewig geschichtsloser Urstoff einer im Guten wie im Bösen maßlosen, unerschöpflichen, ungeheuren nationalen Kraft" 15 . Als "ein in Rock und Hosen umgehender Rest Völkerwanderung und Faustrecht" tritt er vor Borchardt. Wie das Leben selbst kommt er aus dem Wasser: "als heimatloser Maat von einem ordinären Übersee-Zweimaster mitten in einer meuterischen finsteren Bemannung ohne Papiere, mit einem überklebten Vorgestern und einem besudelten Übermorgen im Fahrtbuche". Veltheim ist der andere Deutsche: Er hat nur ein Heute. Seine Vergangenheit ist erfunden, weil "der Anfang aller Geschichte lügenhaft ist" und "die Lüge älter ist als die Wahrheit" 16 . Aber die Wahrheit, die der Historiker am Schluß herausfindet, ist schmutzig, weil Veltheim alles zu sich hinabzieht. Am Ende seiner Erzählung läßt Borchardt seine Augen ins Übermorgen schweifen: Der Fall Veltheim wird zum Symbol für das deutsch-englische Verhältnis. Deutschland allein, heißt es in den "Weltfragen", hält die Verständigung auf, die Lösung aller politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Probleme auf dem Verhandlungswege 17 . Deutschland allein hält die Fragen der Welt noch offen, bewirkt, daß nicht alle Welt sich mit liberalen Antworten zufrieden gibt. Auch darüber, daß ein Feind der Menschheit wie Veltheim aus dem Verkehr zu ziehen ist, hätte sich gewiß leicht eine Verständigung herbeiführen lassen. England hat für Europa gehandelt, indem es Veltheim unschädlich gemacht hat, für ein Europa, "das die Gleichheit aller Welt und die Uniformität aller Kreatur in Zwangskurs bringt, den Begriff der Geschichte aus Gegenwart und Zukunft streichen will und als Theater-Requisit der Vergangenheit in Lehrbücher für mittlere Klassen relegiert". Nach den "Gesetzen einer kleiner hochentwickelten Insel im Atlantischen Ozean" mußte Veltheim verurteilt werden, aber das, was nicht diese Insel war, "die Welt selber, die alte jugendlich heilige Wildnis rings um die kleine Zitadelle von Sicherheit, die wir alleine kennen", brachte den heiligen Frevler vor seine Richter, um an die Ungleichheit der Kreaturen und den Begriff der Geschichte zu erinnern18. So stand ein deutscher Verbrecher 1908 im Old Bailey für die Ideen von 1914 ein.

Wer sich aus der säkularen Zivilisation in die heilige Wildnis zurückträumt, der malt sich aus, daß das älteste Geschlecht seine Jugendkraft bewahrt hat. Es muß dann nicht pessimistisch stimmen, wenn eine Nation auf ihre alten Tage einen Jugendstreich begeht. So setzt der Aufsatz "Der Kai15 16 17 18

2•

Ebd. 38. Ebd. 41.

Borchardt, Weltfragen (wie Anm. 9), 537 f. Borchardt, Veltheim (wie Anm. 14), 43 f.

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ser", dessen äußerer Anlaß das zwanzigste Thronjubiläum ist, mit der Beschwörung eines Wunders der Natur ein. "Der Mann, der seit zwei Jahrzehnten in den Augen der Menschheit den 'JYpus des Jungen Königs mit der ganzen Gewalt über die ,dunklen Gefühle' darstellt, die ehdem der mythischen und dichterischen Gestalt eignete, bringt ein Bedürfnis nach symbolischer und typischer Person zur Ruhe, das ohne ihn nach dem Aussterben des Mythus und der höheren Poesie auf Erden keinen Gegenstand mehr fände. Die stilisierende Phantasie der Völker hat den Kaiser aufgenommen, umgestaltet und festgestellt. Für sie kann er seitdem nicht altern. " 19 Die Arbeitsweise dieser Phantasie, der Zusammenhang von Sage, Geschichte und Dichtung, war ein Lebensthema von Hermann Usener, Borchardts Bonner philologischem Lehrer; 1897 widmete er ihr eine Wiener Akademieabhandlung. Usener suchte in der Geschichte des Geistes einen Fortschritt der Begriffsbildung, dessen Schlüssigkeit beweisen sollte, daß der Historiker ihn mit Recht unterstellte 20 . Wenn die Geschichte in diesem Sinne die Entfaltung logischer Gesetze war, dann mußte der "Trieb" zur sagenhaften Überhöhung historischer Tatsachen sich "desto ungehemmter" geregt haben, je weiter man in der Zeit zurückging21 . Useners rationalistische Schilderung des Aufstiegs vom Mythos zum Logos verkehrt sich durch Borchardts Diagnose eines Aussterbens des Mythos in eine Verfallsgeschichte. Wo Usener eine vorsprachliche Wirklichkeit annahm und ihre Verformung durch die religiösen Vorstellungen untersuchte 22 , da möchte Borchardt die Wirklichkeit in den sprachlichen Formen finden. Für Usener ist die Sage verallgemeinerte Geschichte, für Borchardt die Geschichte geschrumpfte Sage. Das Verschwinden des Sagenhaften erscheint dann nicht als Gewinn an Realismus, sondern als Verarmung der Wirklichkeitsauffassung. Der Schüler folgt dem Lehrer in der Annahme, daß auch "durch gesteigerte Bildung" der Trieb des Fabulierens "niemals gänzlich unterdrückt" wird23 . Aber was Usener als Rest einer archaischen Denkweise beschreibt, den die Aufklärung nicht beseitigt hat24 , wird für Borchardt zum Eckstein seiner Rekonstruktion der Tradition. Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 86. Siehe Roland Kany, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987, 90 ff. 21 Hermann Usener, Der Stoff des griechischen Epos, in: ders., Kleine Schriften. Band 4: Schriften zur Religionsgeschichte, Stuttgart 1912, 199-259, hier 199. 22 Siehe Kany, Mnemosyne als Programm (wie Anm. 20), 102. 23 Usener, Der Stoff des griechischen Epos (wie Anm. 21), 199. 24 Siehe programmatisch Hermann Usener, Rez. A. Bouche-Leclercq, L'astrologie grecque (1899), in: ders. , Kleine Schriften. Dritter Band: Arbeiten zur griechischen Literaturgeschichte, Geschichte der Wissenschaften, Epigraphik, Chronologie, Stuttgart 1912, 372-376. 19

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Borchardts Thesen über das Interesse der Welt an Wilhelrn II. lassen sich in Useners Begriffe übersetzen. Wenn die Menschheit den zeitlosen 'IYI>us des alterslosen Prinzen sieht, sobald sie an Wilhelm denkt, so hat das seinen Grund darin, "daß aus dem Vorstellungsschatze des Volkes verwandte Bilder aufsteigen", wenn eine imposante Gestalt ihm entgegentritt. "Eine bedeutende Persönlichkeit wird unwillkürlich unter einen Gattungsbegriff genommen, je nachdem sie sich geltend macht. Der Mann erscheint und wird gefeiert als der kriegerische Held, als der Retter in der Not" 25 oder eben als der Junge König. Es kommt dabei darauf an, daß die Ereignisse "von vornherein einen Eindruck hinterlassen", der "sie ins Große und Wunderbare" emporhebt. Die "Entstellung geschichtlicher Wahrheit" durch die Zeit ist etwas anderes als die Sagenbildung unter dem unmittelbaren Eindruck des Ereignisses 26 . Schon Usener stieß vor den dunklen Gefühlen an die Grenzen der Aufklärung. Borchardt nennt Veltheim die" Kontrastfigur im Heldengesang"; der Kaiser-Aufsatz komplettiert den Kontrast. Der Unhold ist der Gegenspieler des Helden. Veltheim vertritt das Volk, das immer schon uralt ist. Es stellt sich den König als sein Gegenteil vor und spricht ihm ewige Jugend zu. Der Lügenbaron, dessen Verbrechen seine Märchen sind, verkörpert die Identität von Geschichte und Historie. Der Kaiser vertritt dagegen zwei ausgestorbene Weltmächte, den Mythos und die Dichtung, und verbürgt insofern die göttliche Sendung der Poesie. Wenn Veltheim der erste Historiker ist, dann ist Wilhelm der letzte Dichter. Spekulationen dieser Art, zu denen Borchardt den Leser schon auf der ersten Seite des Aufsatzes verführt, mögen das entgeisterte Urteil des Grafen Kessler verständlich machen, der am 25. September 1908 an Hofmannsthai schrieb: "Etwas so groteskes ist mir überhaupt noch nicht vor die Augen gekommen. Während des ganzen Lesens haben in mir der Ekel und ein toller Lachreiz um die Herrschaft gekämpft; schließlich war die Komik doch stärker. Und dazu dieser Stil. Papieren ist noch gar kein Ausdruck dafür. Einzelne Sätze habe ich überhaupt nicht enträtseln können, zu meinem großen Leidwesen, da sie offenbar sehr komische Dinge enthielten. " 27 Der Dichterpolitiker konnte die politisierenden Literaten nicht stärker provozieren als dadurch, daß er dem allerhöchsten Kunstbanausen eine Heimstatt auf dem Parnaß zuwies. Der König, der die Quelle der ewigen Jugend gefunden hat, ist nicht nur der Stoff, aus dem die Träume der Dichter waren, bevor die höhere Poesie ausstarb, sondern auch der Stellvertreter des Poeten. Borchardt schreibt dem Dichter die Macht zu, die dunklen Gefühle des Volkes auf seine eigene strahlende Gestalt zu ziehen. Die Verlebendigung der göttliUsener, Der Stoff des griechischen Epos (wie Anm. 21), 199. Ebd. 202. 27 Harry Graf Kessler, Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel1898 - 1929, hrsg. v. Hilde Burger, Frankfurt am Main 1968, 196. 25 26

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chen Macht, die über die Zeit erhaben ist, ist schon ein dichterischer Akt. Auch der Dichter kann für das Volk nicht altern. Klassizität, führte Borchardt 1907 im Nachwort zum "Buch Joram" aus, einer Dichtung im Stil der Lutherbibel, ist von keiner Zeit und für keine Zeit. Homer stirbt nicht und ist auch nicht geboren, sein Ton ist dem Volk eingeboren, "wie die schutzhelfenden Volksgötter ihm eingeboren sind, ohne die es sich sein geschichtliches Dasein nicht vorstellen kann, wie die Heroen seines Ursprungs, von denen es sich ableitet" 28 . Die Helden haben also eine Art transzendentale Funktion für den Geist eines Volkes, sie sind Bedingungen der Möglichkeit des Selbstbewußtseins. In ihnen bringt sich eine Kraft der Verbildlichung, der Gestaltung von '!YPen, zur Geltung, die mit der Sprachfähigkeit ursprünglich identisch ist. Indem der Dichter das Volk zum Reden bringt, übt er ein königliches Amt aus, und umgekehrt ist der König, der dem Volk sein Gesetz gibt und es sein Schicksal erkennen läßt, eine Art Dichter. Die Wiederbelebung einer archaischen Sprachform im "Buch Joram" ist legitim, weil "die Sprache in allen Phasen, in denen sie sich einmal königlich erfüllt und Königliches ausgedrückt hat, mindestens im Stilgefühle aller zu sprechen Berufenen gleichzeitig" fortlebt 29 . In Deutschland ist dieses Fortleben des Stilgefühls indes fraglich geworden. Ein vielleicht für das Feuilleton der Frankfurter Zeitung gedachter Aufsatz erläutert an der "Krisis der höheren Sprachform in Deutschland" den Zusammenhang von nationalem Stil und nationalem Schicksal. "Roheit, Armut und Schwulst" grassieren in der Alltagssprache, die Literatursprache ist dilettantisch und forciert 30 . Die "politischen Krisen" seiner Zeit kann Borchardt als "Ausdruck" der Sprachkrise deuten. Die Unfähigkeit der zum Regieren Berufenen, über Herkunft und Zukunft der Nation Rechenschaft abzulegen, folgt aus dem "Verlust der Tradition", der das Grundübel der modernen deutschen Kultur ist31 . Auch für Borchardt wirft der kritische Zustand der Nation das Formproblem auf. "Ohne Proportion zu allem, was ihn umgab", stand Veltheim da, als Borchardt ihn erblickte32 . Aber die unerschöpfliche Energie des Lügenbolds, seine Lust am Geschäft und sein Geschmack an der Expansion lassen ihn "das wilde Werden einer 28 Rudolf Borchardt, Nachwort zu "Joram", in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I, hrsg. v. Marie LuiseBorchardt, Stuttgart 1957,319-327, hier 320. 29 Ebd. 322. 30 Rudolf Borchardt, Nationaler Stil und nationales Schicksal. Zur Krisis der höheren Sprachform in Deutschland, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa IV: Europäische Geschichte und Literatur. Zur zeitgenössischen deutschen Literatur, hrsg. v. Marie Luise Borchardt, Ulrich Ott und Ernst Zinn, Stuttgart 1973, 185-196, hier 189. 31 Ebd. 194 f. 32 Borchardt, Veltheim (wie Anm. 14), 35.

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jugendlichen Gesellschaft" darstellen, "die ihre eigene Form erleben und finden muß" 33 . Borchardt versteigt sich nun nicht dazu, Wilhelm Il. als Vorbild der Sprachbeherrschung zu preisen. "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch": Die Hölderlin-Verse standen in der ersten Auflage über dem "Buch Joram". Wo die Phantasie der Völker sich damit begnügen kann, im Kaiser den alterslosen König zu bewundern, dem die Zeit nichts anhaben kann, da muß der Dichterpolitiker sich auf die Zeit einlassen, da er nur in der Zeit das Material finden kann, um die Zeit zu überwinden. Die Wirkung auf die Geschichte, die Borchardt sich von seinen Worten verspricht, verlangt es, Wilhelms Wirken in der Geschichte zu würdigen. Nicht so sehr als zeitlosen '!YPus schildert Borchardt im Fortgang des Aufsatzes den Kaiser, vielmehr als '!YPus seiner Zeit. Von der populären Ansicht grenzt der Schriftsteller die eigene Einsicht ab. Über diese ostentative Zäsur in der Argumentation geht der Wortfluß freilich hinweg. Das Bild vom Jungen König, der die Zeit wegzaubert, bleibt insgeheim präsent, wenn Borchardt Wilhelms Anstrengungen schildert, die Zeit zu beherrschen. Die Huldigung, die das Volk dem Dichterfürsten instinktiv entgegenbringt, wird nicht zurückgenommen, sondern mit einem der Epoche angemessenen Rechtstitel begründet. Wie die Archaismen des "Buches Joram" dem modischen Kunstgeschmack formlos erscheinen werden, so gleicht Wilhelm dem Dichter gerade durch die Risiken, denen er sich hingibt. Die gute Gesellschaft beklagt, daß er Formen verletzt. Bezwingend ist sein Wille zur Form. Wo "das Konvulsivische und Problematische seiner Art, sich des Lebens zu erwehren", Anstoß erregt hat, da bestreitet Borchardt, daß es ein moralisches Forum gibt, vor das Schöngeister, die sich besser zu beherrschen wissen, den Kaiser zitieren dürfen. "Wo ist im Volke der Gegensatz zu ihm, an dem gemessen er der Aufgabe, die Gesamtheit des Volkes politisch zu vertreten, nicht genügen soll? Er ist im Positiven wie im Negativen so absolut eins mit seinem Volke, daß Lob und Verdikt beide trifft, eins mit dem anderen steht und fällt. " 34 Daß Wilhelm Il. unvorbereitet auf den Thron gekommen war, war nach Borchardts Ansicht gar keine schlechte Vorbereitung gewesen: Er hatte eine Nation von Emporkömmlingen darzustellen und war als einziger so ehrenhaft oder so ungeschickt, seine Geschichte nicht zu vertuschen. "Die Krone kam vom Sarge des Großvaters und des Vaters in die Hand eines jungen Offiziers, der in das junge Amt nichts mitbrachte als das Blut seiner Ahnen und das geistige Chaos einer zerrissenen Übergangsgeneration, durch das er mit uns Zerrissenen, mit uns Formlosen, mit dem ganzen Fluche und der ganzen Sehnsucht der Zeit zusammenhing. Wir wissen 33

Ebd. 43.

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Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 100 f.

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wohl, daß heute, da Kultur ein Gassenwort geworden ist, alle Parvenus ihre eigene Vergangenheit und damit diesen Zusammenhang leugnen. Ein Grund mehr für uns, uns zu ihm zu bekennen. " 35 Wer hätte ein Volk, dessen Schicksal der Verlust der Tradition war, besser repräsentieren sollen als der junge Mann, der in seinem Beruf ein Autodidakt sein mußte, weil er gegen die Bildungswelt seiner Eltern rebelliert hatte? Borchardt hat 1924 im "Eranos-Brief" an Hofmannsthai geschildert, wie er seine Illusionen über eine humanistische Bildung verlor, die in der Universität nicht hielt, was sie in der Schule versprochen hatte, und "die Geschichte seiner Erziehung in die Sozialgeschichte der deutschen Bildung, ja des deutschen Nationalempfindens eingeordnet" 36. Daß diese "sichere Verlängerung der Schule in die Hohe Schule, die ich geträumt hatte", sich als "nicht möglich" erwies, lastete er der "Katastrophe" der jungen Nation an, die "keine Geschichte" hatte und "sich eine falsche" schrieb. Die geistige Integration von Hunderttausenden "aus geschichtslosen und geschichtsfremden Volkstiefen frisch Aufgestiegener" hielt nicht Schritt "mit der rasenden Eile des wirtschaftlichen und handelnden Aufstieges" 37 . Die Einsicht in die "idealistisch verkleidete Unwahrhaftigkeit" der allgemeinen Bildung spricht Borchardt auch dem "energischen, praktischen, stofflustigen Knaben" zu, den die Eltern "als ersten und vermutlich letzten Hohenzollernprinzen durch die pseudogelehrte Schule gezwungen hatten". Wilhelm wird durch sein Leiden an der Schule zum Vorkämpfer einer "neuen Generation", der ersten, die im Reich aufgewachsen ist und sich vom Geist der Reichsgründungszeit abwenden muß: "chaotisch trat der Kaiser in das deutsche Chaos", dessen "Formierung" sein Beruf war38 . Schon 1906 hat Borchardt in einem nicht publizierten offenen Brief an seinen Verleger Julius Zeitler die Erfahrung von "Zerklüftung, Spaltung, Losgerissensein und Wurzellosigkeit" als das Verbindende bezeichnet, das "eine neue Brüderlichkeit der Lose, eine gemeinsame Stammsage gewissermaßen" begründe, "ja den mythischen Hintergrund unsres Daseins" 39. 1908 verdichtet sich die Sage in ihrem Helden. Die "ästhetische und kulturelle 35 Ebd. 93. Auch Hofmannsthai konnte, wie Borchardt ihm am 11. Oktober 1906 eröffnete, seine "verwildernde Epoche" den "Trieb zur ursprünglichen Reinheit der Fbrm" nicht mehr "durch Erziehung und Bildung" mitteilen, vielmehr verdankte er diesen Trieb seinem "hohen Instinkt für Urformen" : Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, hrsg. v. Gerhard Schuster, München 1995, 33. 3& Gustav Seibt, Der verlorene Sohn. Rudoli Borchardts Gegenwärtigkeit, in: ders., Das Komma in der Erdnußbutter. Essays zur Literatur und literarischen Kritik, Frankfurt am Main 1997, 107-117, hier 111. 37 Rudolf Borchardt, Eranos-Brief, Prosa I (wie Anm. 28), 90-130, hier 95 ff. 38 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 98 f. 39 Rudolf Borchardt, Der Brief an den Verleger, Prosa VI (wie Anm. 14), 11-31, hier 31. Vgl. Seibt, Der verlorene Sohn (wie Anm. 36), 111.

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Reaktion" gegen die Bildungsreligion und die "politische Reaktion" gegen den Liberalismus gehören zusammen; Wilhelm und seine Altersgenossen sieht Borchardt verbunden im "Kampf um ein neues Weltbild, um den neuen Ausgleich zwischen Tradition und Zukunft" 40 . Der Kaiser sei "scheinbar an die Vergangenheit, in Wahrheit an die Zukunft mit ganzem Herzen" hingegeben, stellt eine "Politische Notiz" fest, die Borchardt wohl nach den Reichstagswahlen 1912 diktierte41 . Das neue Weltbild der wilhelminischen Generation hatte Borchardt in den "Weltfragen" ausmalen wollen. Der Disposition zufolge sollten die "Katastrophen" der "Utopien" geschildert werden, der republikanischen, bürokratischen, humanitären, parlamentarischen und egalitären Hoffnungen. Für die Gegenwart wurde der "Sieg des allgemeinen Königsbegriffs als Sieg des Individuums" festgestellt 42 . Borchardt schwebte wohl ein antiliberaler Individualismus vor, der im König das Idealbild des souveränen, des freien, aber ungleichen Menschen erblickt hätte. Ein Unterkapitel hätte eine Gestalt mit dem Titel "Der neue Eroberer" aufrufen sollen. Man darf an den bonapartistischen Volksherrscher denken und an den Gründer eines Kunstreiches wie Stefan George, aber vielleicht sogar eher noch an den amerikanischen Großunternehmer und den politischen Boß. Denn im Fragment des Wilhelm-Unterkapitels, das offenbar unmittelbar anschließen sollte, heißt es rekapitulierend, das Auftauchen dieses "großen und anonymen '!YPus", der für die "höchsten Aspirationen des Zeitalters" maßgeblich sei, sei "von Amerika über England und Italien, von Rußland bis Mexico verfolgt" worden43 . 1906 plante Borchardt einen halb realistischen, halb utopischen Roman über die "Gründung einer Neustadt auf deutschem Lande" 44 mit dem Titel "Kaisersfreistadt, der Untergang einer Colonie" 45 • Erfüllt Wilhelm die Aspirationen des Zeitalters? Gibt er dem anonymen '!YPus seinen weltberühmten Namen?

40 Borchardt, Der Kaiser (wie Arun. 4), 98 f. Über den "vagen und großen Begriff der Generation" siehe auch Rudolf Borchardt, Rede über Hofmannsthal, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden. Reden, hrsg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1955, 45-103, hier 93. 1905 hatte Borchardt ein Italienbuch geplant, das nach dem Muster der Germania des Tacitus "sich der lateinischen Contraste" nur hätte bedienen sollen, "um herauszuheben was ich deutsch finde, was ich deutsch wünsche". Hier wollte er im "Stil der Denkschrift, um nicht zu sagen, des politischen Pamphlets" darlegen, daß die Epoche der Jahrhundertwende "zur Kultur nicht über Goethesche WeltBildungsbegriffe sondern über die politischen" strebt, über die Weltbilder und Entwicklungspostulate des Imperialismus. 41 Rudolf Borchardt, Politische Notiz: Prosa V (wie Anm. 2), 548-555, hier 554. 42 Borchardt, Weltfragen (wie Anm. 9), 535. 43 Ebd. 545. 44 Rudolf Borchardt an Philipp Borchardt, 14. März 1906: Briefe 1895-1906, hrsg. v. Gerhard Schuster, München 1995, 411. 45 Rudolf Borchardt an Julius Zeitler, 27. Juli 1906, ebd. 423.

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Er verkörpert jedenfalls nicht bloß den 'IYI>us des Königs; im Kaiser-Aufsatz schreibt Borchardt ihm auch den Willen zur "'IYI>usbildung" zu, zur Erziehung königlicher Menschen46 • Ein neues Geschlecht, das zu handeln verstünde, würde das Formproblem des Reiches lösen. Die Reichsgründung erscheint in dieser Sicht als unabgeschlossener Vorgang. "Der Übergang der binnendeutschen Existenz und der binneneuropäischen Existenz Deutschlands zum Imperium, nominell vollzogen nach den drei Kriegen, war virtuell von der Generation, die diese Kriege geschlagen hatte, nicht abzuschließen", heißt es in den "Renegatenstreichen" 47 ; der Simplicissimus wurde altmodisch, weil er den "Übergang der Rasse von einem alten 'J:Ypus zu einem neuen" nicht mitvollzog48. Und die Einleitung zu den "Weltfragen" erblickte im "Zwiespalt zwischen Schein und Sein", im "Unverhältnis zwischen dem geschichtlich notwendig gewordenen Anspruch und der inneren Verfassung des Volkes", das Grundproblem der Nation49 . Diese Auffassung, wonach das Reich nach 1871 zunächst nur dem Namen nach bestand und sich dieses Namens erst würdig erweisen mußte50 , bekräftigt Borchardt im Kaiser-Aufsatz. Hier enthüllt er den Philosophen der Züchtung des höheren Menschen als geheimen Lehrer des Kaisers. Nietzsche und Wilhelm II., so scheint es, arbeiteten beide an Regeln für den Menschenpark. "Der große Richter des neuen Reichs und der erste ins Reich hineingeborene Imperator teilen miteinander mindestens den Ausgangspunkt und den Endpunkt des geistigen Weges: für beide ist das Reich Phrase, bis es sich realisiert." Borchardt glaubte sogar, daß sich die Geisteswege der beiden einsamen Wanderer tatsächlich gekreuzt hatten. In einem seiner letzten wachen Momente habe Nietzsche, den der "herrisch grelle Ton" des neuen Kaisers wie ein Echo eigener innerer Schreie traf, "zwei Zeilen Prophezeiung" niedergeschrieben, die eine "Bestätigung" von Wilhelms Programm Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 97. Borchardt, Renegatenstreiche (wie Anm. 5), 59. 48 Ebd. 65. Borchardts Rassebegriff ist ein geistiger oder moralischer, gegenüber dem Volksbegriff nicht Ober-, sondern Unterbegriff. Die Rasse ist keine übergeschichtliche Einheit verschiedener Völker. Im Gegenteil folgen in der Geschichte eines Volkes verschiedene Rassen aufeinander: Gemeint ist die Schicksalsgemeinschaft auf Zeit, geeint durch geteilte Erfahrungen und gemeinsame Handlungen. Die biologische Vokabel unterstreicht also gerade die Gewalt historischer Veränderungen, des Mentalitätswandels, wenn man so will. Siehe Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 107. Vgl. zum Rassebegriff auch Jacques Grange, Rudolf Borchardt 1877-1945. Contribution a l'etude de la pensee conservatrice et de la poesie en Allemagne dans la premiere moitie du xx• siecle, Bem 1983, Band 1, 397. 49 Borchardt, Weltfragen (wie Anm. 9), 537. so Der "politische Vorgang", so heißt es noch im Eranos-Brief (wie Anm. 37), 97, "war als geistiger Vorgang noch zu legitimieren und nachzuholen" . Bismarcks Revolution von oben war also zu vollenden durch eine nachholende Revolution, eine Umprägung des nationalen '!YPus als geistige Revolution von oben. 46 47

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der zweiten Reichsgründung enthielten. "Das Zusammentreffen ist für einen Zufall zu schön" 51 . Zu schön, um wahr zu sein, wie wir heute wissen. Der 1904 publizierte Brief von Ende Oktober 1888, in dem Nietzsche an Wilhelm li. rühmt, daß der Wille zur Macht "ihm schon verständlich" wäre, ist eine Fälschung von Elisabeth Förster-Nietzsche. Eine Nachlaßnotiz über die Deutschen wurde auf ihren Kaiser übertragen, ihr Sinn ins Gegenteil verkehrt. Korrekt ist: "Der Wille zur Macht wäre ihnen schwer verständlich. " 52 Dem von Borchardt in Nietzsches Richtsprüchen und Wilhelms Machtsprüchen entdeckten Programm der Realisierung des bislang nur als Phrase existierenden Reiches liegt ein besonderer Realitätsbegriff zugrunde: Es gilt nicht, Namen so zu interpretieren, daß sie auf die Wirklichkeit passen; vielmehr ist wirklich nur das, was den Namen wahr macht. Es ist dann eine witzlose Ausrede, das 1871 gegründete Reich sei ein anderes als das 1806 untergegangene. Politik wird zur Probe auf die Wirkung einer Wortmagie. Auch der Dichterpolitiker, dessen Worte Taten sind, will diese Probe herbeiführen. Die '!YPusbildung ist eine dichterische Absicht. Im "Gespräch über Formen", einem platonischen Dialog über Bildung und Philologie, veröffentlicht 1905, wird die Arbeit des Bildhauers mit der Liebe des Pädagogen gleichgesetzt, der "am Individuum den '!YPus schafft" 53 . Dasselbe läßt sich auch vom Politiker sagen, der gleichfalls mit Menschen im Raum arbeitet, und sie alle faßt der Dichter zusammen, dem "alles generell und individuell zugleich" ist54 . Insofern Wilhelm II. den '!YPus des Jungen Königs darstellt, trotzt er "der historischen Kritik", nach deren Sieg die Geschichte eigentlich keine Helden mehr hervorbringen darf55 . Die Gestalt des Kaisers verheißt einen Ausweg aus der Krise des Historismus. Borchardt kultiviert eine typologische Betrachtungsart als antihistoristische Methode. Der '!YPus verspricht Dauer inmitten des Wandels, Einheittrotz aller Zergliederung. Jacob Burckhardt wies der Geschichtsschreibung das Amt zu, aus dem Wechsel der Erscheinungen die wiederkehrenden Gestalten hervorzuheben; die Erkenntnis des '!YPischen sollte ihn vor dem Relativismus seiner deutschen Kollegen bewahren, denen in der Bewunderung für den permanenten Wandel die Maßstäbe abhanden kamen. Auch Borchardt, der schon als Student 51 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 97. Wie Nietzsche wollte Borchardt als Dichter und Kritiker "Recht sprechen": Rudolf Borchardt, Über Alkestis, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa II, hrsg. v. Marie Luise Borchardt und Ernst Zinn, Stuttgart 1959, 235-294, hier 266. 52 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885-1887, Kritische Studienausgabe (wie Anm. 1), Band 12, 450. Siehe den Kommentar, Band 14, 743 mit dem dort zitierten Brief von PeterGast an Ernst Holzer vom 26. Januar 1910. 53 Rudolf Borchardt, Das Gespräch über Formen: Prosa I (wie Anm. 28), 328-373, hier 362. 54 Borchardt, Über Alkestis (wie Anm. 51), 236. 55 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 86.

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einen Aufsatz über Burckhardt verfaßte, beschwört den Typus als antimodernen Gegenzauber: Seine Erkenntnis soll Differenzierung, Relativierung und Individualisierung aufhalten. Auf die Formlosigkeit der positivistischen Geschichtswissenschaft reagiert eine Strategie der Stilisierung. Borchardts Typenschau hat freilich anders als Burckhardts Kontemplation keinen Rückzug des Betrachters aus dem historischen Prozeß im Sinn; Borchardt sucht eine Formenlehre der geschichtlichen Dramatik56 . Für ihn ist die Distanz gerade Voraussetzung der Macht und als solche Königseigenschaft57 . Wilhelms Streit mit Bismarck wird nicht nur als Generationenkonflikt gedeutet, sondern gemäß dem mythischen Muster solcher Konflikte dargestellt, als Kampf gegen einen Titanen58 : "der Kaiser hatte sich gegen den greisen Riesen, dem er geschichtlich alles verdankte, mit der Verzweiflung einer um ihren Lebenswert ringenden Natur in Prozeß versetzt, und war nicht nur ohne Erbweisheit, sondern in einem Streite mit ihr, den zu überspannen die Kolossalität des Gegners ihn zwang" 59 . Der Geschichtsprozeß ist in Borchardts tragischer Auffassung zugleich Rechtsverfahren und Gewaltgeschehen; in einem Aufsatz über deutsche Dante-Übersetzungen, der im selben Band der Süddeutschen Monatshefte erschien wie "Der Kaiser", rühmt Borchardt das "tiefe Gefühl" Dantes "für das lautlose Drama jedes Augenblickes, und für das tragische von Prozessen, in denen Recht gegen Recht gleichsteht, aber die Jugend das Alter erschlägt" 60 . Vom Historismus hebt sich Borchardts typologisches Verfahren durch einen markanten Begriff der Kontinuität ab. Die "Rede über Hofmannsthal", gehalten 1902, gedruckt 1905, setzt gegen die "groben Merkmale", aus denen "die anarchische Historie Kontinuität zu entwickeln liebt", eine "wahrere Kontinuität", die sich "durch Haltung" ausspricht61 . ·Anarchisch ist eine Historie, der für die Haltung königlicher Menschen das Auge fehlt, weil sie sich "dem schärf56 Michael Neumann, Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg, in: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen (wie Anm. 12), 157-193, hier 175. 57 Siehe Borchardt, Nachwort zu "Joram" (wie Anm. 28), 323 und Rede über Hofmannsthai (wie Anm. 40), 68 f. 58 Ein Thema Bonner Studien Borchardts; siehe Rudolf Borchardt an Vera Borchardt, 26. Februar 1898: Briefe 1895-1906 (wie Anm. 44), 25. 59 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 94. Vgl. Usener über den Marskult "Den Alten zu überwinden und zu vertreiben war die erste Heldentat des jugendlichen Gottes, in dessen Stelle später in christlicher Zeit der heilige Georg einrücken konnte." (Hermann Usener, Italische Mythen [18751: Kleine Schriften. Vierter Band [wie Anm. 21], 93-143, hier 133). Umgekehrt ist "die Demütigung einer götterverbündeten, über Leichen weg nach Leben hungernden Jugend" unter das "gesetzaussprechende Alter" der Gegenstand der moralisierenden Bearbeitung der Alkestissage durch Euripides: Borchardt, Über Alkestis (wie Anm. 51), 238. so Rudolf Borchardt, Dante und deutscher Dante, in: Prosa II, (wie Anm. 51), 354388, hier 369. 61 Borchardt, Rede über Hofmannsthai (wie Anm. 40), 87.

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sten Gifte des Historismus" verschrieben hat, "dem ,relativen Maßstabe', der Lüge vom ,Milieu', der Lüge von den ,Umständen"' 62 . Der Historiker, der keine Herrscher mehr erkennt, hat die Herrschaft über die Zeit verspielt, nach der Borchardt, der Dichterpolitiker, greift. Wo für den Historismus am Ende alles mit allem zusammenhängt und die Kontinuität sich zur formalen Voraussetzung von Geschichte überhaupt verflüchtigt, da sieht der typologische Blick wiederkehrende Gestalten. So erweist sich Wilhelm, gerade indem er die geistige Hinterlassenschaft seiner Eltern ausschlägt, als "Erbe seines Geschlechts, in dem die Halbfähigen und Langsamen nichts besagen gegen die durchgehende Tradition, das Schwere aufzusuchen, das Unmögliche zu begehren, das Schicksal ins Genick zu greifen und herakleisch, auf seinem Wege herumzudrehen" 63 . Er ist wie der Admet der Alkestissage "füglich vaterlos, ein Person gewordener Geschlechtswille" 64 . Das lebendige Bild vom Mann des Schicksals hinterläßt einen nachhaltigen Eindruck. Es verdeckt, daß die Tradition dieses Heroismus nicht im landläufigen Sinne durchgehend ist, da zumeist auf jeden Herakles - man muß wohl an den Großen Kurfürsten, den Soldatenkönig und Friedrich den Großen denken - ein Schwächling folgt oder sogar eine ganze Reihe. Nicht erst der Betrachter erkennt die Ähnlichkeit und stiftet die Kontinuität; damit die Tradition durchgehend heißen kann, muß geschichtliches Handeln sich selbst in Form von Bildern vollziehen, nach den Regeln des Schauspiels oder der Liturgie. Das lebendige Bild ist eine Erzählung, ist Erinnerung und Nachvollzug, Historie und Geschichte zugleich. Nach Usener ist die "heilige Handlung die ursprünglichste und lauterste Form der Göttersage"65. Für den echten Hohenzollern gibt es keine natürlichere Pose, als dem Schicksal in den Nacken zu greifen. Das Doppelgesicht des Begriffs der Haltung, die Spannung zwischen äußerer Stellung und innerer Einstellung, erlaubt es, Kontinuität auch dort anzunehmen, wo sie gar nicht ersichtlich ist. Borchardt gab auf Nachfrage zu, daß "die politischen Leistungen des Kaisers" es "bisher an äusserer Profilkraft" mit denen Friedrichs des Großen nicht "aufnehmen" konnten 66 ; im Zweifelsfall kam es auf die innere Haltung an. Wenn politische Leistungen auch eine innere Profilkraft haben, 62

Ebd. 55 .

63 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 98. 64 Borchardt, Über Alkestis (wie Anm. 51), 247. Über die dem Kaiseraufsatz und

dem Alkestisessay gemeinsame ,.Königsformel" vgl. Karl Heinz Bohrer, Rudolf Borchardts Phantasma einer antikischen Vorgeschichte, in: Deutsche Halomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik, hrsg. v. Wolfgang Lange und Norbert Schnitzler, München 2000, 41-64, hier 62 f. 65 Hermann Usener, Heilige Handlung (1904): Kleine Schriften. Vierter Band (wie Anm. 21), 422-467, hier 423. 66 Rudolf Borchardt an Alfred Walter von Heymel, 25. Oktober 1908: Briefe 1907 1913 (wie Anm. 3), 194.

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sind dann die Bilder, die dem Helden seine Linie vorzeichnen, am Ende unsichtbar? "Daß der Deutsche eine neue, die deutsche Geste bekomme, ist ihm wichtiger als alle eroberten Provinzen": Worum es in Wilhelms "Kampf um ein neues Weltbild" geht, soll dieser Merkspruch sagen. Ihn schrieb "der größte lebende Dichter unserer Sprache", Stefan George, und zwar "zu einer Zeit, als weder der Terminus noch der Ton der Forderung durch Abschreiber kompromittiert war" 67 . Kaum hat Borchardt den Ruf nach der Geste ausgesprochen, klammert er ihn gleichsam ein: Diese vorsorgliche Historisierung der Losung des gegenwärtigen Kampfes verweist auf das Problem einer dichterischen Politik, die sich die Nation als Schule der Haltung vorstellt. Gesten, symbolische Akte, die Taten eher darstellen als vollziehen, zeigen Wirkung, indem sie nachgeahmt werden, "Konvention" werden 68 . Mit der Verbreitung nutzt sich ihr Effekt freilich auch ab 69 . Nur deshalb beugt sich die Welt "ewig unter die Gebärde Dantes", weil sie "ganz und gar Schicksal ist" und nichts Gewolltes an sich hat1°. Das unbewaffnete Auge vermag vielleicht gar nicht zu entscheiden, ob eine Geste wirklich nachempfunden oder bloß nachgeäfft wird71 . In Borchardts maßloser Polemik gegen die Berufsschriftsteller verrät sich, daß der Dichterpolitiker die Distanz zu ihnen künstlich herstellen muß, durch herrische Gesten. Bei Usener hatte Borchardt die Theorie kennengelernt, jeder Mythos lasse sich zurückführen auf ein "einfaches Bild, unter welchem das mythenbildende Volk eine eindrucksvolle Wahrnehmung oder Lebenserfahrung auffaßte und festhielt" 72 • In ähnlicher Weise hatte Borchardts archäologischer Lehrer Georg Loeschcke die Eigenständigkeit bildnerischer Formtraditionen gegenüber der mythischen Erzählung herausgearbeitet. Als Beispiel für ein "Schema", eine "Form", in die "jeder einen neuen Inhalt gießen konnte", nennt Loeschcke auch den mit dem Meergreis ringenden Herakles73. Borchardt beschäftigte sich in seiner Bonner Studienzeit mit den Herakles-Mythen74 , und das Bild des mit dem Ungeheuer kämpfenden HeBorchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 99. Borchardt, Das Gespräch über Fbrmen (wie Anm. 53), 339. 69 Siehe Borchardt, Der Brief an den Verleger (wie Anm. 39), 12 über die Nachahmer Nietzsches und Lagardes. 70 Borchardt, Rede über Hofmannsthal (wie Anm. 40), 65. Vgl. Rudolf Borchardt an Karoline Ehrmann, 20. Januar 1905: Briefe 1895 - 1906 (wie Anm. 44), 262 f. 71 Ebd. 261. 72 Hermann Usener, Die Sintflutsagen, Bonn 1899, 182. Siehe Borchardt, Über Alkestis (wie Anm. 51), 239 f. und vgl. Neumann, Eidos (wie Anm. 56), 189-193. 73 Georg Loeschcke, Bildliehe Tradition, in: Bonner Studien. Aufsätze aus der Altertumswissenschaft. Reinhard Kekule zur Erinnerung an seine Lehrtätigkeit in Bonn gewidmet von seinen Schülern, Berlin 1890, 248-260, hier 253 f. ; zit. nach Neumann, Eidos (wie Anm. 56), 172. 67

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ros kann man in seinem Werk häufig wiederfinden 75 . In einer Rede von 1931 läßt er "Luthers Heldenarm" die "schauerlichen Hydrenhäupter" der Anarchie "mit dem Schlage des herakleischen Retters" erledigen76 . Dante gleicht dem Herakles, wenn er sich, ein anderer Homer, von seinen deutschen Übersetzern sowenig einen Vers entreißen läßt wie der Held seine Keule77 . Als Kontrastfigur zum Urverbrecher Veltheim wird der Herakles "der rächenden Hand" aufgerufen78 . Und das Nachwort zum "Buch Joram" definiert Klassizität als "ewige Rüstigkeit und Allbereitschaft", als "herakleische oder dionysische Götterkraft zu immer neuen Arbeiten und immer frischer Inkarnation", also nicht als Altertum, sondern als eine Jugendlichkeit, die durch Reinkarnation vom Vorgestern ans Übermorgen weitergegeben wird79. Der "dämonische Mann " 80 ist Wilhelm eben dadurch, daß der Geist seiner Vorfahren in ihm wieder lebendig wird. Usener hat hinter "Platons Lehre von den Dämonen als Mittlern zwischen Göttern und Menschen" die "feste Vorstellung von der vermittelnden Tätigkeit der Ahnengeister" freigelegt 81 . In diesem Sinne hatte Borchardt von Hofmannsthai und dem Geheimnis seines "unsterblich jugendlichen Daseins" gesagt, was er auf Wilhelm, den anderen ewigen Jüngling, hätte übertragen können: "keine Herrschsucht war dämonischer ererbt als dieses Ethos" 82 . Aus dem "Kultus der Ahnen" erschließt sich für Usener die Eigenart der griechischen Sagen, der Umstand, daß ihre Helden anders als die der Dietrichsage oder des Rolandsliedes nicht die Namen geschichtlicher Persönlichkeiten tragen, sondern Götternamen. "Statt die Helden der geschichtlichen Erinnerung mythisch zu verklären, sind ohne weiteres an deren Stelle die als Heroen verehrten Ahnen der am 74 Rudolf Borchardt an Philipp Borchardt, 13. Februar 1898, Briefe 1895-1906 (wie Anm. 44), 22. 75 Vgl. Kraft, Rudolf Borchardt (wie Anm. 7), 161 f. 76 Rudolf Borchardt, Revolution und Tradition in der Literatur: Reden (wie Anm. 40), 210-229, hier 219. 77 Borchardt, Dante und deutscher Dante (wie Anm. 60), 355. Siehe auch Rudolf Borchardt an Josef Hofmiller, 17. November 1912: Briefe 1907-1913 (wie Anm. 3), 424 über die von den Lesern Rudolf Alexander Schröders geforderte "Herkulesarbeit". 78 Borchardt, Veltheim (wie Anm. 14), 38. 79 Borchardt, Nachwort zu "Joram" (wie Anm. 28), 320. 80 Borchardt, Politische Notiz (wie Anm. 41), 554. Siehe auch Borchardt, Politiker aus dem Kunstsalon (wie Anm. 2), 75 über die "dämonische Passivität" des Dichters, der sich zum Medium der Überlieferung macht, zum Priester, der der Welt ihr Orakel verkündet. BI Hermann Usener; Beiläufige Bemerkungen: Kleine Schriften. Vierter Band (wie Anm. 21), 307 - 315, hier 312. Über die "Großen" als "Dämonen" siehe auch Borchardt, Nachwort zu "Joram" (wie Anm. 28), 320. 82 Borchardt, Rede über Hofmannsthai (wie Anm. 40), 88.

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Kampfe beteiligten Stämme und Geschlechter geschoben worden. Mit anderen Worten: die geschichtlichen Persönlichkeiten sind nicht durch Sagenbildung idealisiert worden, sondern haben die Vorstellungen des mythischen Ideals so stark erregt, daß dieses jene verdeckt hat." Dieser Vorgang, den Usener gemäß seinem Axiom, .,daß die Sagenhaftigkeit einer geschichtlichen Periode in umgekehrtem Verhältnis zur Bildungsstufe des Volkes steht", in ein .,hohes Altertum" verlegt83 , soll sich nun auch in Borchardts Gegenwart ereignet haben. Ohne weiteres lassen sich Wilhelms Handlungen durch die Taten seiner als Heroen verehrten Ahnen repräsentieren: Die Schaffung der Flotte wiederholte in Borchardts Augen die Schaffung der Armee durch Friedrich Wilhelm !. 84 So energisch hat Wilhelms Auftreten die Vorstellung des machtvoll zugreifenden Idealherrschers belebt, daß die Welt seitdem nur seine Jugendkraft sehen kann. Indem Borchardt die Sage aufschreibt, schreibt er sie fort: Das Ideal verdunkelt und verdeckt die Persönlichkeit nicht, sondern wirft das Licht auf sie, in dem sie zu entdecken ist. Das .,Grauen vor den Ahnen", das .,zum höchsten Anspruch der Seele verpflichtet", macht für Usener eine primitive Mentalität aus, für Borchardt ein ethisches Ideal85 . Herakles, dessen .,heimliche tragische Verwundbarkeit" 86 immer mitzudenken ist, wenn Borchardt seine Kraft beschwört, war der Stammesgott der Hohenzollern. 1913 hat Borchardt in seinem Versepos .,Der ruhende Herakles" die Tragik des halbgöttlichen Menschen dargestellt, des schöpferischen Individuums . .,Halbgott" und .,Unmensch" wird Herakles von Athene gerufen. Seine Kraft und seine Arbeit haben ihn verunstaltet; der Welt erscheint ihr Retter als ungeschlachter Tölpel: Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen. Den versöhnlichen Schluß des Gedichts bildet die Begegnung zwischen Herakles und Dionysos, dem .,Riesen" und dem .,herrlichen Weichling": Sie erkennen einander als Brüder, verweisen auf die Möglichkeit der Vereinigung von Ethos und Schönheit87 . Borchardt hat davon abgesehen, den Kaiser auch nach dem Bild des zweiten Gottes der ewig sich erneuernden Jugend zu modellieren, obwohl er seit 1901 an einer .,Bacchischen Epiphanie" arbeitete, welche die Neuschöpfung Usener, Der Stoff des griechischen Epos (wie Anm. 21), 211. Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 92. 85 Borchardt, Der Brief an den Verleger (wie Anm. 39), 22. Ohnmächtig und heillos ist dagegen eine "Gesellschaft", die "sich Götter nach dem eigenen Bilde schafft": Borchardt, Politiker aus dem Kunstsalon (wie Anm. 2), 76. 88 Rudolf Borchardt, Der Anne Heinrich Hartmans von Aue: Prosa II (wie Anm. 51), 317-342, hier341. 87 Rudolf Borchardt, Gesammelte Werke in Einzel bänden. Gedichte, hrsg. v. Marie Luise Borchardt und Herbert Steiner, Stuttgart 1957, 539 - 560. Vgl. Hildegard Hummel, Rudolf Borchardt. Interpretationen zu seiner Lyrik, Frankfurt am Main 1983, 176-185. 83 84

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der Welt durch einen Mänadenzug besang88 . Das Bild vom berauschten, rasenden Kaiser hätte die Majestät beleidigen müssen, obwohl schon "als Nachhall von Alexanders Zügen in den fernen Osten Sagen vom Triumphzuge des Dionysos und seiner Bakchen dichterisch gestaltet" worden waren89. Nicht fern ist die dionysische Interpretation des Wilhelminismus freilich in Borchardts erstaunlicher Apologie der kaiserlichen Redegabe. Den Deutschen fehlten die Worte, wenn sie ihre Staatsräson formulieren sollten. Stellvertretend rang ihr Monarch in seinen Reden mit der Sprache. "Wo sie Improvisationen sind, hat die unglückliche Wirkung, die sie tun, dieselbe Eigentümlichkeit, die der gleichzeitigen Literatur jede Echtheit des Eindrucks benimmt: die Formlosigkeit oder die Formnot des Inneren, die ihrer Unfähigkeit, dem Ausdruck nach Stärke und Farbe den genauen Wahrheitsgrad des Erlebnisses mitzuteilen, durch Force zur Hilfe kommen will und sich völlig vergreift. Aber die Unverhältnismäßigkeit zwischen Ton und Gegenstand, die Ungleichmäßigkeit der Partien, die Jäheit und Sprunghaftigkeit der Übergänge, die in ihnen herrscht, kommt aus einem streitenden Innern und einer gärenden Bildung, die das Chaos zu überwinden sucht." Mysteriös war an diesen majestätischen Impromptus für das Hammerklavier, daß das Studium der Partitur eine unglückliche Wirkung auf den Leser hatte, aber der Vortrag des rastlosen Virtuosen die Hörer mit magischer Kraft berührte. "Wenn alle diese Reden, die der Kaiser, in beständigem Aufbruche, bald hier bald dort erscheinend, gehalten hat, ihre Absicht nicht verfehlten; wenn es ihnen gelungen ist, die alten politischen Orientierungen ins Schwanken zu bringen; wenn sie schließlich das Bild seiner Person in der öffentlichen Phantasie befestigten, so muß eine außerordentliche persönliche Überzeugungskraft, das dämonische Fluidum, das die Mächte der Geschichte über ihre Helden ausgießen, sich der logischen Kraft substituiert haben, und der überlieferte Wortlaut ist nicht viel mehr als das caput mortuum des Zaubers und das Dokument eines problematischen Zustandes."90 Als Wunderknabe erscheint der nicht mehr ganz junge König hier, den sein Bad im Zaubertrank der Geschichte unverletzlich gemacht hat. Man kann die Macht nicht rational erklären, die er über die Menschen hat, nur mit mythischen Redewendungen umschreiben - wie auch er selbst sich kaum vernünftig ausdrücken kann, sondern in Bildern zu reden beliebt. Die Gewalt seiner Persönlichkeit durchbricht die Üblichkeiten der Sprache; Eigenheiten, die jeden anderen Redner lächerlich erscheinen ließen, geben 88 Rudolf Borchardt, Bacchische Epiphanie, hrsg. v. Bernhard Fischer, München 1992. Daß das Gedicht "ein wirkliches Weltbild" werden sollte (Rudolf Borchardt an Otto Deneke, 10. Februar 1905: Briefe 1895-1906 [wie Anm. 44], 277), belegt den Zusammenhang mit den politischen Entwürfen. 89 Usener, Der Stoff des griechischen Epos (wie Anm. 21), 202. 90 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 95 f .

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ihm einen heiligen Ernst. Den charismatischen Herrscher krönt ein Kranz von Sprachblüten. Solange man die kaiserlichen Redetexte nach den Regeln der Logik prüft, unterscheidet sich Wilhelm nicht von den zeitgenössischen Literaten, die vergeblich die Form zu zwingen versuchen. Aber hört man auf das Echo des Streits in seinem Innern, dann gleicht seine Stimme dem Organ des Dichters, dessen Rede der Logik nicht gehorcht, weil in ihr der kosmische Kampf von Ordnung und Unordnung nachzittert. Von George sagt Borchardts Rede über Hofmannsthal, er habe den "'JYpus des Dichters" wiederbelebt, den die Welt schon verloren glaubte, "mit einer unerhörten Gewalt der Gebärde, mächtig durch das karge Wort, aber völlig hinreißend durch die Wucht des eigenen Beispiels". Gewisse Verse von Georges "Hymnen" nennt der Redner das "Stammeln eines supremen Menschen", der sich die "Konventionen dichterischer Mitteilung" verboten hat und "im Kampfe" mit Stil und Sprache ·"das Unmögliche erzwingt" 91 . Das Dokument eines "problematischen Zustandes" ist auch Hofmannsthals dramatische Studie "Gestern". Man meint "einem außerordentlichen Kinde" zuzuhören, "das der Worte zu früh Herr geworden ist" und "aus der bloßen leichten Gewalt des Sprechens einen inneren Rausch, Mut, Übermut, den verhängnisvollen Schein der Herrschaft über das Leben empfängt'192 • Den poetischen Erwartungen an den Kaiser entsprechen die politischen Kategorien in der Poetik. Das Reich ist ein Formproblem, "souverän" beweist der Dichter seine "Herrschaft über den Stil " 93 . Die Souveränität, die sich keinen Regeln fügen muß, um den Schein der Herrschaft zu erzeugen, hat etwas Barbarisches. Das außerordentliche Kind ist nicht frühreif. Vielmehr läßt es den Begriff der Reife, die Wünschbarkeit der Erziehung des Menschengeschlechts fragwürdig erscheinen. Es verkörpert eine Menschheit, die sich nicht entwickeln muß und ewig jung bleibt. So vermag die Bildung nichts gegen den Genius oder gerade umgekehrt das Ungeniale der Hohenzollern, den Urstoff des Hauses, "die mächtige Artung des Temperaments und Charakters, die elementarisch einsetzt und sich durchsetzt" 94 . Vollends zur mythischen Gestalt verdichtet hat sich die Gestaltlosigkeit, die Unbildung, die Materie in Veltheim, in dem die Urzeit "einen letztgeborenen halbtierisch halbgöttlichen Sohn gezeugt" hat, "den EleBorchardt, Rede über Hofmannsthai (wie Anm. 40), 59. Ebd. 78. So ist auch Joram, obgleich in biblische Ferne entrückt, "ein Problematisches, das in unser aller Lebensluft liegt": Borchardt, Nachwort zu "Joram" (wie Anm. 28), 326. Zum Epochentypischen dervon Hofmannsthal gestalteten Schmerzzustände siehe auch Rudolf Borchardt an Hugo von Hofmannsthal, 11. Oktober 1906, Briefwechsel (wie Anm. 35), 26. 93 Borchardt, Rede über Hofmannsthai (wie Anm. 40), 72. 94 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 98. 91

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menten verwandt, selber elementarisch" 95 . Veltheim, der Lebemann, genoß damit eine der "beiden höchsten Möglichkeiten des Glückes", die der Mensch kennt: "den Elementen anzugehören und selber elementarisch zu sein". Veltheim war sich selbst genug. Das andere Glück aber, "den Elementen nicht anzugehören, das Glück der souverainen sittlichen Natur", braucht sein Gegenstück. Wo nur eines der "Grundbedürfnisse der menschlichen Seele" befriedigt wird, da "haftet das Gebrechliche oder das Unrecht", und es ist kein Wunder, "dass Gebrechlichkeit und Unrecht die Welt beherrschen" 96 . Für die Gesundheit und das Recht steht die Dichtung. Der Dichter ist zum Herrn der Welt bestellt, gerade weil sein Reich "nicht von dieser Welt" ist 97 • Hofmannsthai übt "im Elementarischen" die "Herrschaft über alle Mittel" aus 98 : Gebietet er den Elementen, weil er ihrer Sphäre entstammt oder weil er über sie erhaben ist? Für die stilisierende Phantasie der Völker stellt der Dichter den '!YPus des Gottmenschen dar, aber insofern er wahrer Mensch ist, ist seine Natur auch tierisch99 . Seine Regentschaft muß ein problematischer Zustand sein. Das "Problematische" macht sowohl Form als auch Gegenstand der öffentlichen "Äußerungen" Wilhelms II. aus. Wenn "die vorausnehmende Ungeduld, ihres letzten Zieles gewiß, aber keines Mittels völlig Herrin, skizzierend, improvisierend, vergewaltigend, übertreibend und unterschätzend, in einem wilden Vorwärts über die Hürden des Gegebenen setzt", spricht WHhelm als Prophet seiner Nation, die im Status quo keine bleibende Statt hat 100 . Mit seiner Generation leidet Wilhelm unter einer Persönlichkeitsspaltung, die in einem gestörten Verhältnis zur Zeit zutage tritt. Sein "SichIdentifizieren mit der jeweiligen Phrase" verdeckt, daß er noch kein Heute hat. Das "disharmonische Schnellüberleben" treibt ihn dem Übermorgen entgegen, das sich in seinem "vorausnehmend historischen Wissen von sich selber" schon ins Vorgestern verwandelt. Die "Formlosigkeit" des Reiches Borchardt, Veltheim (wie Anm. 14), 36. Rudolf Borchardt an Hugo von Hofmannsthal, 7. Dezember 1911, Briefwechsel (wie Anm. 35), 80. 97 Borchardt, Der Brief an den Verleger (wie Anm. 39), 31. Eine Deutung von Borchardts poetisch-politischer Theologie in narzißmustheoretischen Begrillen bietet Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodemismus, Darmstadt 1996, 148-168. 98 Borchardt, Rede über Hofmannsthai (wie Anm. 40), 87. 99 Hofmannsthal, den "herrlichen Gattsmenschen", wollte Borchardt nicht "in die Abscheulichkeiten" des literaturkritischen Betriebs "hinunterstürzen" sehen (Rudolf Borchardt an Julius Zeitler, 21. Mai 1905: Briefe 1895-1906 [wie Anm. 44], 346). An George diagnostizierte, auf George projizierte er einen "Konflikt zwischen wundervoller und ganz tierisch abscheulicher Artung" (Rudolf Borchardt an Ernst Borchardt, 9. April1910: Briefe 1907 - 1913 [wie Anm. 3], 306). 1oo Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 96 f. 95

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erweist sich in dieser Sicht als Seelenleiden. Die "Mittel, sie zu überwinden", wirken "stillos", denn die "Einkehr ins eigene Innere" entfesselt das Chaos, das sie meistern sollte. Wilhelms "leidenschaftliche Selbsterforschung" läßt an einen Wissenschaftler denken, dem die Wissenschaft nicht mehr genügt: Sein "Zwiespalt" ist dionysisches Sichzerreißen101 . Wilhelm hat Macht über die dunklen Gefühle, weil er selbst in ihrer Macht steht. Was "in der Zeit Analyse und Psychologie ist", wird "bei ihm Religion" 102 . Als funktionales Äquivalent der Wissenschaft wird die Religion bestimmt, als unmethodisches Erkennen, dessen Organ die Ahnung ist. Das Objekt dieser Erkenntnis, der Inhalt der Religion, ist, wie aus der Rede über Hofmannsthai hervorgeht, die "Form", die "das Ewig-Lebendige" hat, was immer Historismus und Evolutionslehre auch behaupten mögen 103 . Daß die Selbsterkundung den Kaiser vom Chaos ins Chaos führt, ist kein Grund zur Verzweiflung, weil es die Ahnung nicht gäbe, wenn die Form nicht wäre. "Jede Sehnsucht nach einem Ding ist schon der Weg zu ihm", offenbart das "Gespräch über Formen" 104 , so ist die Sehnsucht nach der Form der Weg zur Form: In dieser Verheißung erfüllt und erschöpft sich Borchardts Plädoyer für den Kaiser. Wie das Leben selbst "keine Absichten" hat, "sondern Schicksal" 105 , so ist Wilhelm nicht zum Politiker geboren, "der Aufgaben, statt Ahnungen, gefühlt und formuliert hätte, taktische Kampfpläne statt eines sich selber geheimnisvollen Ungestüms auf dem dumpf geliebten Wege" 106 . Es ist das Privileg des Dichters, sich von Ahnungen auf dem Weg der Liebe fortreißen zu lassen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Eine "Welt", verkündet die Rede über Hofmannsthal, beherrscht der Dichter "durch Ahnung und Machtfülle" 107 . Wie die Ahnung Hofmannsthals "auf ein Weltganzes" geht, kann das Formproblem des Deutschen Reiches seine Lösung nur in der Ebd. 100. Ebd. 95. 103 Borchardt, Rede über Hobnannsthal (wie Anm. 40), 57. 104 Borchardt, Das Gespräch über Fonnen (wie Anm. 53), 345. Vgl. Borchardt, Über Alkestis (wie Anm. 51), 253: "Es hoffen können, verbürgt schon die Kraft, es zu werden". 105 Borchardt, Rede über Hobnannsthal (wie Anm. 40), 65. 106 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 93. Bei der Dumpfheit handelt es sich um eine Gestirnmtheit oder Seelenlage, ein religiöses Talent, das die Welt für einen psychischen Mangel hält, eine Empfänglichkeit für innere Wahrheiten, die der Außenwelt als Unempfindlichkeit erscheint. Seine Sinne spürt der Mensch zugleich "als den ungeheuren dumpfen Drang" und "als tiefste heiligste Sicherheit" (Borchardt, Das Gespräch über Fonnen [wie Anm. 53], 347). In der Jugend "ist etwas dunkel Wünschendes, das aus sich selbst hinaus will. Je dumpfer und kindischer es ist, um so heiliger ist es, um so reiner will es erkannt, um so adeliger befriedigt werden" (ebd. 354). Wilhelm ist ein redseliger Parsüal. 107 Borchardt, Rede über Hobnannsthal (wie Anm. 40), 80. 101

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Weltpolitik finden 108 . Wilhelms größte poetische Tat, poetisch im Sinne des erhabenen Machens, der Erzeugung der Wirklichkeit durch ein Machtwort, ist der Flottenbau. Borchardt feiert ihn als "Schaffung aus dem Nichts" 109 . So knüpfen Hofmannsthals erste Werke laut Borchardt "nirgends erkennbar an, schaffen alle Konventionen der dichterischen Mitteilung organisch aus sich selber" 110. Paradoxerweise wirft der Dichterpolitiker seinen Gegenspielern, den Politikern aus dem Kunstsalon, vor, die funktionale Differenzierung der Gesellschaft zu verkennen, die ästhetische und die politische Sphäre zu vermischen- während seine Zweireichelehre sie so streng trennt, daß jedes der beiden geschlossenen Systeme als Abbild des anderen erkennbar wird. Die Kritik des kaiserlichen Kunstgeschmacks weist er mit der Forderung zurück, der Künstler solle "die wahre Unabhängigkeit des Souveräns im eigenen Reiche" durch Unempfindlichkeit beweisen; im Verhältnis von Thron und Staffelei stehe "Gottesgnade gegen Gottesgnade" 111 • Im Lichte des Goethewortes über Friedrich den Großen, "das Ausschließende zieme sich für das Große und Vornehme", erscheint das Unverständnis des Monarchen geradezu als Zeichen der Huld, die Mißachtung als Ausdruck einer Achtung, die "zwischen dem Souverain eines Bereichs und anderen Souverainen" die "Distanz" bestehen läßt 112 . Borchardts spöttisches Wort über den Kunstbetrieb, im "Knäuel der Assekurazionen zwischen Kunstherstellenden, Kunstjargon Schreibenden und von Kunst Profitierenden" könne schwerlich "die königliche Unabhängigkeit des Herrn im eigenen Lande" gedeihen113 , zeigt, daß seiner Rede vom Souverän der verfassungshistorisch präzise Begriff zugrundeliegt: Souverän ist, wer auf Erden keinen Höheren anerkennt, der König als Kaiser in seinem Reich. George ist in der Rede über Hofmannsthai eine "souveräne Person, durch bedingungslose Treue gegen sich selber vollendet" 114 . 1906 sandte Borchardt George einen Fehdebrief; darin verteidigte er das 10a

Ebd. 76.

Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 92. Im Eranos-Brief (wie Anm. 37), 117120 schreibt Borchardt seine Rettung aus der Verzweiflung an Philologie und Welt einer Erleuchtung zu, die er 1897 in der Banner Universitätsbibliothek aus Herders ,.Ältester Urkunde des Menschengeschlechts" empfing. Hier fand er ein ,.Evangelium" , dessen Dogma lautete: "Schaffen war Beschwören". 110 Borchardt, Rede über Hofmannsthai (wie Anm. 40), 71. m Borchardt, Politiker aus dem Kunstsalon (wie Anm. 2), 84. Schon die urgriechische Gesellschaft soll ,.im höchsten Grade funktionell ausgebildet und durchorganisiert" gewesen sein (Borchardt, Über Alkestis [wie Anm. 51], 260). 112 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 105 f. Auch große Kunst und große Fbrschung suchen einander ,.nicht zu verstehen": Borchardt, Dante und deutscher Dante (wie Anm. 60), 360. 113 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 107. 114 Borchardt, Rede über Hofmannsthai (wie Anm. 40), 60. 109

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"Urrecht, Herr in meinem ungekränkten Hause zu bleiben, mein Leben selber zu regieren, seinen Plan gegen jede fremde Gewalt zu sichern". Borchardt sprach "als Feind zum Feinde", als ein "Selbstherr und Richter" zum anderen115 . Die Deutschen, "ein unpolitisches Volk", müssen "von historisch notwendiger Unreife zur Selbstherrschaft" geführt werden116 , und ihr Erzieher, der Dichterpolitiker, führt ihnen das Bild der Souveränität vor Augen, weil er selbst die "Unabhängigkeit" schon erreicht hat117 . Der Sezessionist kann nicht souverän sein, weil er in feudale Treueverhältnisse verstrickt ist; Borchardts "selbstgewollte Verbannung" 118 war insofern eine Antwort auf die Produktionsbedingungen der modernen Kunst119 . Die Souveränität des Künstlers und die Souveränität des Werkes, soziologischer Befund und ästhetisches Urteil sind zu trennen und gehören doch zusammen. Problematisch an der Souveränitätsidee hinter dem Hymnus auf den Flottenschöpfer erscheint, daß eine politische Kategorie, die in die ästhetische Sphäre übertragen wurde, nun aus der Kunst in die Politik zurückgeholt wird und nicht mehr die gleiche ist. Im Meisterwerk fallen Schein und Sein der Souveränität tatsächlich zusammen. Der Betrachter darf von der "anxiety of influence" absehen, von der übermächtigen, zur Verdrängung zwingenden Inspiration durch den Vorläufer, die den Meister nötigte, den absoluten Neuanfang zu simulieren. Hingegen ist es fragwürdig, im politischen Wettbewerb das Moment der Imitation auszublenden: Der Geniestreich provoziert den Gegenstoß, und mancher Befreiungsschlag erweist sich als Akt der Selbstfesselung. Von der Herausforderung Großbritanniens spricht Borchardt mit keinem Wort, wenn er die fabelhaft freie Tat rechtfertigt, die zugleich ein "Akt staatlicher Notwendigkeit" gewesen sein soll. Fast könnte man glauben, die Flotte sei tatsächlich zur Erziehung "der mit Aufbietung des gewöhnlichen Pathos widerstrebenden Nation" geschaffen worden120 . Borchardt prüft die kaiserlichen Proklamationen nicht an den Bedingungen der internationalen Lage; umgekehrt muß die Wirklichkeit dem Anspruch von Wilhelms Worten genügen. Es soll keine Welttatsachen geben, die nicht im Willen des Weltpolitikers ihren Grund haben, als gälte auch für den Kaiser, was der Dichter von seinem eigenen Leben sagt: "das Dasein selbst, das der Erschaffende zwingt sich zu formieren, ist Kommen115 Rudolf Borchardt an Stefan George, 14. Januar 1906: Briefe 1895-1906 (wie Anm. 44), 402 f. 116 Borchardt, Politiker aus dem Kunstsalon (wie Anm. 2), 72. 117 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 88. 118 Borchardt, Der Brief an den Verleger (wie Anm. 39), 12. 119 Siehe Rudolf Borchardt an Friedrich Wolters, 17. Oktober 1906, Briefe 18951906 (wie Anm. 44), 435 f. 12o Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 92.

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tar zu einem dunklen und verstümmelten Gedicht" 121 . Souveränität ist die Kraft, von allen Bedingungen der eigenen Existenz abzusehen, die man nicht selbst gesetzt hat, oder umgekehrt, in nietzscheanischer Wendung, die Fähigkeit, die ganze Welt so anzusehen, als hätte man sie selbst geschaffen. Borchardt als Erzieher richtet, wie Kurt Flasch an den Kriegsreden gezeigt hat, an den Leser oder Hörer die neuplatonische Forderung, sich "nicht länger über die Dinge der Außenwelt zu definieren", sondern sich selbst zu erkennen als Seele, die nicht Ding unter Dingen ist, sondern "der Ort des Unkäuflichen, des Unbedingten" 122 . Und wie Borchardt im Krieg die Deutschen zur "Selbsteinkehr" ermahnen wird, so glaubt er, daß in Wilhelm ein verzehrendes Feuer der "Selbstprüfung und Selbstdurchdringung" brennt 123 . Liest man Borchardts Souveränitätslehre auf dem Hintergrund seiner neuplatonischen Seelenmetaphysik, werden sowohl Eigenheiten seines Formbegriffs als auch Eigentümlichkeiten seiner politischen Urteile verständlich. Die Souveränität hat eine Außen- und eine Innenseite. Der unabhängige Staat existiert aus eigener Kraft. Form ist bei Borchardt eine dynamische Größe: Die Geschlossenheit des Kunstwerks verdankt sich der Spontaneität des Lebens, das "seiner selbst Herr" ist12\ Urstoff und Urform der Souveränität. Die "künstlerische Form" bezeichnet nichts anderes als "einen Willen" 125 • Bismarcks Bündnissystem, das die nationalen Energien zu bändigen versuchte, stellt in dieser Sicht nicht den Gipfel der Staatskunst dar, sondern den Inbegriff der Formlosigkeit. Im Geflecht der Rückversicherungen und Vorbehalte ist eine Vieldeutigkeit gewollt, die von der ästhetischen Kritik als Undeutlichkeit mißbilligt wird. Die Kongreßdiplomatie des neunzehnten Jahrhunderts unternahm es, die Mächtekonkurrenz in geordnete Bahnen zu lenken. Borchardts Formbegriff genügt dieser gute Wille nicht. Das System des organisierten Gleichgewichts, in dem alle Elemente ihre Positionen wechseln können, aber keine durchschlagende Veränderung eintreten soll, ist nicht geschlossen und lebendig, sondern konturlos und stabil, "das erste formlose Weltbild, das die Geschichte kennt" 126 • Die Geschlossenheit des souveränen Staates bewirkt, daß sein Innenleben für die Außenwelt unsichtbar ist und sich ihren Berechnungen entzieht. Seine Lebenskraft ist sein bestgehütetes Arcanum. In einer phan121 122

Borchardt, Der Brief an den Verleger (wie Anrn. 39), 15. Kurt Flasch, Rudolf Borchardts Kriegsreden, in: Rudolf Borchardt und seine

Zeitgenossen (wie Anrn. 12), 355-369, hier 362. 123 Borchardt, Der Kaiser (wie Anrn. 4), 94. 124 Borchardt, Rede über Hofmannsthai (wie Anrn. 40), 64. 125 Rudolf Borchardt an Karoline Ehrrnann, 20. Januar 1905: Briefe 1895 - 1906 (wie Anrn. 44), 260. 126 Borchardt, Weltfragen (wie Anrn. 9), 42.

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tastisch elaborierten Allegorie hat Borchardt 1907 seine Beziehungen zu Alfred Walter Heyrnels "Insel" mit dem Verhältnis einer Kolonialmacht zu einem Unternehmen in ihrer Einflußsphäre verglichen. Der Unternehmer braucht den Staat, muß "von einer Potenz im geheimen gestützt und getragen werden", muß "Ausdruck einer nicht geschäftlichen, sondern absoluten Macht" sein wollen. "Nur in dem Maasse in dem er mit ganz dämonischen, dunklen, in keinem Augenblicke auf ihre eventuale Nachdruckskraft genau festzulegenden Weltkräften zusammenhängt, kann er selbst erwarten eine mehr als bloss mercantile, eine Welt-Thatsache zu werden." Dann nämlich "bekommt sein Geschäftsganzes die Einheit und Zuspitzung, die in sich selber Intensität und Energie ist". Dann also geht auf das Unternehmen etwas von der Natur der Souveränität über. So stellt sich Borchardt auch das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Dichterpolitiker vor: Er ist unabhängig, gerade weil er sich zum Organ der Staatsräson macht, im Gegensatz zu den politisierenden Literaten, die mit der permanenten Opposition die Unfreiheit wählen. Wilhelm, der dämonische Mann, verkörpert die rational nicht aufzulösende Macht des souveränen Staates, deren Charakter im Zeitalter der Weltpolitik in ihrer wahren Schärfe oder Unschärfe hervortritt. Bezeichnend für die kolonialisierenden Staaten ist das Ineinander "ganz dunkler und vager Machtmittel und ganz präciser Kulturabsichten": Eine "ganze durchgedachte Ideologie" will Borchardt Heyrnel zur Verfügung stellen, hinter der aber "jene dunkle Potenz" steht, "jene Einheit", die "aus einem Willen und einer Seele kommt" 127 . Insofern sich die Einheit des Fühlens, Wollens und Denkens im Handeln herstellt, wird die Politik des Dichters nach Ansicht von Flasch nicht von der "Standardkritik an deutscher Innerlichkeit" getroffen. Die Seele, aus der die Formen entstehen, mag Borchardt "das Innere" nennen. Aber das Innere- "das ist unser Wille, unsere Freiheit, dann auch unser unbewußtes Gesetz, nicht isoliertes Gefühl" 128 . Wie die seelenlosen Mechanismen der Bündnissysteme so stoßen auch die konstitutionellen Formen, die den dunklen Grund der Autorität erhellen und die absolute Macht in tausend Relationen verstricken, bei Borchardt auf Mißbilligung. Frankreich hat für den Versuch, die in England und Amerika entwickelten "Formen bürgerlicher Freiheit" mit der klassizistischen Utopie Rousseaus zu verbinden, mit dem "Untergang geschichtlicher Selbständigkeit im Politischen" gebüßt129 . Borchardt erneuert die Topoi der romantischen Kritik des staatsphilosophischen Rationalismus und rügt am Konstitutionalismus eine Künstlichkeit, die er für das Gegenteil der Kunst hält130 . Das deutsche Volk ist für Borchardt noch kein "politisches Volk". 127 Rudolf Borchardt an Alfred Walter Heymel, 13. Juli 1907: Briefe 1907-1913 (wie Anm. 3), 100 ff. 128 Flasch, Rudolf Borchardts Kriegsreden (wie Arun. 122), 362. 129 Borchardt, Weltfragen (wie Arun. 9), 39 f.

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Es hat kein Runnymede gehabt, kennt "die Mischung aus Declaration of Rights und konventionell-ritterlicher Loyalität gegen Vertreter von Herrschaftssymbolen" nicht131 . Im Deutschen Reich gibt es, mit anderen Worten, keine loyale Opposition Seiner Majestät. Da die Deutschen die Erfahrungen der Engländer nicht gemacht haben, wäre es unsinnig, die deutsche Verfassung der englischen anzupassen. Wenn der Blick auf die Formerfindungen anderer Staaten gar nichts zur Lösung des Formproblems des Reiches beitragen kann, stellt sich freilich die Frage, was der Formbegriff im Politischen noch bedeutetl32 • Ist er anderes als die Chiffre einer Unabhängigkeit um jeden Preis? Muß nicht auch die Imitation ein Mittel der Selbstorganisation sein können, wenn der Stilbegriff verständlich bleiben soll133? Verführt die Ablehnung der "europäischen Konstitutionsschablone" 134 Borchardt zur Absage an die klassische Tradition der europäischen Politik? Der Traum des Dichterpolitikers von der Souveränität mag aus dem Zweifel geboren sein, ob Originalität überhaupt noch möglich ist. Wilhelms Ablehnung der ästhetischen Avantgarde, deren rebellischer Individualismus in Borchardts Augen Gruppenzwang und Konformismus tarnt, wird zur politischen Tat stilisiert: Der Kaiser läßt sich seine Worte nicht vorschreiben, verachtet "das konstitutionelle Nachsprechen der nichtssagenden Phrase" 135 . Die "Weltfragen" verhöhnen den "konstitutionellen König" als "eine gekrönte und bezahlte Puppe, die die Glieder bewegen und auf Druck eine Thronrede sprechen kann" 136 • Der Autor karikiert die liberalen Kritiker Wilhelms II., die Formnot des Reiches auf einen psychologischen Zufall reduzieren: Selbst Serbien rühmt sich eines konstitutionellen Herrschers, "während der außerordentlich begabte und impulsive Regent, der an der Spitze des Reiches steht, leider wie viele seiner Ahnen eine zu ausgeprägte Persönlichkeit besitzt" und auch "durch die wohlgemeintesten Warnungen einer königstreuen aber freiheitlichen und mutigen Presse nicht auf das Ablesen von Thronreden und die Unterzeichnung von Dekreten zu beschränken ist" 137 . Ein konstitutioneller Monarch hätte "die großen politischen 130 So ist der "Organismus" von Georges Kunstreligion "gedacht" und daher "tot" (Rede über Hofmannsthai [wie Anm. 40], 64). 131 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 109. 132 Den esoterischen Charakter des Fbrmbegriffs verkündet Das Gespräch über Fbrmen (wie Anm. 53), 348: "Was der Pöbel Fbrm nennt, ist Inhalt, was er Inhalt nennt, Resultat einer Fbrmung". 133 So, im Blick auf die zeitgenössische Warenhausarchitektur einerseits, im Rückblick auf englische Einflüsse auf den Sturm und Drang andererseits, Rudolf Borchardt an Karotine Ehrmann, 16. April1905: Briefe 1895-1906 (wie Anm. 44), 336 f. 134 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 108 f. 135 Ebd. 105. 136 Borchardt, Weltfragen (wie Anm. 9), 22. 137 Ebd. 26 f.

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Akte und Aktionen des Kaisers" nicht ausführen können, da kein dem Volk verantwortlicher Minister Mehrheiten für sie zustandegebracht hätte. Aus der Verdoppelung der kaiserlichen Handlungen in "Akte und Aktionen" mag man heraushören, daß es bei ihnen auf die symbolische Bedeutung mindestens ebenso ankommt wie auf die tatsächliche Wirkung. Wo der politische Beobachter nur Aktionismus wahrnehmen mag, ein Handeln um seiner selbst willen, da erblickt der Dichter einen erhabenen Akt, die Geste als Selbstzweck. Einer Politik der freien Hand redet Borchardt das Wort, deren Handlungen sich dadurch als "großartige" erweisen, daß sie vorher niemand für möglich oder schicklich gehalten hätte. Drei Wegmarken nennt Borchardt, die "nur ein sich selbst verantwortlicher souveräner Wille" setzen konnte: das Krüger-Telegramm, die Versöhnung des Staates mit den Katholiken, die Agrarpolitik, die dem "in allen Kriegen verarmten und aufgeopferten heroischen Schwertadel" eine "letzte Frist auf der Scholle" gönnt. Der Kaiser paktiert nicht mit organisierten Interessen, wenn er Katholiken und Junkern die Hand reicht; er ist schließlich kein Minister, der eine parlamentarische Mehrheit organisieren muß. In der Landwirtschafts- wie in der Religionspolitik erfüllt Wilhelm vielmehr eine historische Pflicht, die das Mittelalter der Gegenwart hinterlassen zu haben scheint. Im Katholizismus findet "eine immense und uralte seelische Möglichkeit des deutschen Wesens" ihren "Ausdruck"138 . Der Kulturkampf wird hier für beendet erklärtnamenseiner kulturprotestantischen Sensibilität, die in der Religionsgeschichte nicht die eine Wahrheit sucht, sondern eine Vielfalt von Gefühlen und Stimmungen139 • Wenn das Leben einer Nation der Reichtum ihrer seelischen Möglichkeiten ist, dann wird ihre Einigung zu einer poetischen Aufgabe: Der Dichter ist es, der sich in Charaktere und Epochen hineinversetzen kann und mit jedem Wort eine Fülle unrealisierter Potentiale suggeriert. Aber ruft der Kaiser die Vergangenheit wirklich ins Leben zurück? Oder hält er die Vergänglichkeit nur für einen Augenblick auf? Gespenstern gleichen die Vasallen, die Wilhelms Thron umgeben, greise Recken, die schon mit einem Fuß im Grabe stehen, die letzten 138

Borchardt, Der Kaiser (wie Arun. 4), 109.

1907 wurde Borchardt von Tommaso Gallarati Scotti zur Mitarbeit an der modernistischen Zeitschrift "11 Rinnovamento" eingeladen. Er lehnte aus politischen Rücksichten ab, stellte aber eine künftige Mitwirkung in Aussicht, nach einer Änderung im Verhältnis des deutschen Staates zu den katholischen Parteien: Rudolf Borchardt an 'lbmmaso Gallarati Scotti, 26. und 30. Juni 1907: Briefe 1907 - 1913 (wie Arun. 3), 81 und 85 ff. Vgl. Elena Raponi, Rudolf Borchardt und Tommaso Gallarati Scotti, in: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen (wie Arun. 12), 143-156, hier 146 f. Dem Zentrum rechnet es Borchardt als Verdienst an, daß es durch seine Mittelstellung den Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise verhindere (Der Kaiser [wie Arun. 4], 90). 140 Ebd. 102. 139

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Söhne aussterbender Geschlechter. Sie sind für keine Schlacht mehr gut, nur noch für einen poetischen Effekt. Die Pietät, die Borchardt Wilhelm zuschreibt, bleibt unverstanden in einer Öffentlichkeit, die für vergangene seelische Möglichkeiten kein Organ mehr hat. "Die Politik des Kaisers ist einsam gewesen und fast bis heut geblieben. " 140 Die Einsamkeit ist die Daseinsform des Dichters. Sein Schicksal freilich ist, daß ihn die Welt mit unwiderstehlicher Kraft anzieht, von der er ein für allemal geschieden ist. In der absoluten Isolation feiert er die Kommunion mit dem Universum. Die Kraft, die das Entfernteste zusammenzwingt, die der Ahnung eine Richtung gibt, die das Chaos heraufführt, um die Form hervorzubringen, ist die Liebe. Unter ihrem Gesetz steht Borchardts Kosmologie141. In der Kunstsalonpolemik macht er sich ein Wort Macaulays über Dante und Milton zueigen: Jeder "Dichter von erstem Range" sei "Staatsmann und Liebender zugleich" 142 . Der Dichter "ist Politikerkraft seiner Konzeption der Welt als eines Ganzen" 143 . Die Intention der Universalität, die Hingabe an ein Anderes, das als ein Ganzes ergriffen wird, die Selbstentäußerung als Zweck der Selbstherrschaft, macht das Wesen der Liebe, der Politik und der Dichtung aus. Die Erziehung der deutschen Nation, die Heranbildung des von Nietzsche geschauten neuen '!YPus, kann dann nur im Geiste jenes pädagogischen Eros gelingen, den das "Gespräch über Formen" dem toten Buchstaben der positivistischen Philologie entgegensetzt. Borchardt, der an einem Individuum, das Literaten und Liberale zum pathologischen Fall erklären144 , den '!YPus des jungen Königs neu schafft als den '!YPus einer problematischen Individualität, bekennt, daß er Wilhelm "liebt und manchmal fast in der Gefahr ist, ihn schrankenlos zu bewundern" 145 . Die Liebe hat ihn aber nicht blind gemacht für die Frage, ob der Geliebte sie erwidern kann. Hat Wilhelm überhaupt teil an dem Aus141 Siehe Borchardt, Eranos-Brief (wie Anm. 37), 99 und Über Alkestis (wie Anm. 51), 266. Vgl. Klaus Schuhmacher, Der messianische Liebhaber Rudolf Borchardt, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), 234-256. 142 Erst Borchardt schmiedet aus Macaulays beiläufiger Bemerkung eine Sentenz. Siehe Thomas Babington Macaulay, Milton, in: The Complete Works of Lord Macaulay, vol. Vll, London 1898, 1-62, hier 28. Schon 1907 führte Borchardt die Wendung in einem Brief an Wolters im Zusammenhang mit "meinen politischen Dingen" (11. Juli 1907: Briefe 1907- 1913 [wie Anm. 3], 93) an. 143 Borchardt, Politiker aus dem Kunstsalon (wie Anm. 2), 74. 144 Ihre pathologische Betrachtung ist mitleidlos: Sie verkennen das Allgemeinmenschliche am Fall des Kaisers, das Schicksal, das seine Generation mit ihm teilt. Siehe dagegen Rudolf Borchardt an Hugo von Hofmannsthal, 23. Juli 1911: Briefwechsel (wie Anm. 35), 70: "Wir waren als Jünglinge was Jünglinge ewig sein werden, Sonderfälle und darum, im rein neutralen Sinne des Wortes, pathologisch." Beim ewigen Jüngling wird freilich das Leiden chronisch. Ihm gegenüber kann man nicht mehr neutral sein: Man muß ihn lieben oder hassen. 145 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 103.

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tausch erotischer Energien, der den Kosmos in Bewegung hält? Die "Weltfragen" geben eine negative Antwort. "Seine Macht und seine Wichtigkeit äußern sich in allen Formen, in denen solche Eigenschaften sich geschichtlich äußern können, eine einzige ausgenommen: die einzige Form ist die der Liebe und des Geliebtseins. " 146 Im Glückwunsch zum Thronjubiläum hat Borchardt dieses Urteil, das Wilhelm aus der menschlichen Gemeinschaft auszuschließen scheint, nicht wiederholt. Der Überschwang des Liebhabers, der sich selbst zur Räson ruft und bekennt, er sei "der Grenze dankbar" 147 , welche die Beschränktheit von Wilhelms ästhetischem Horizont seiner Bewunderung ziehe, offenbart das Problem aber eher, als da? er es verdecken könnte: Es erhebt sich die Frage, ob Wilhelm überhaupt geeignet ist, die ihm von Borchardt zugedachte Rolle zu spielen, ob sein Lobredner nicht, wie ein verliebter Jüngling, ein Traumbild beschworen hat. Dabei ist Borchardt doch keineswegs blind für die Schwächen des Kaisers, eher steigert er ihren Effekt durch seine Dramatisierung seelischer Kämpfe, die für das Alltägliche und das Gewöhnliche keinen Platz läßt. So ist auch die Lieblosigkeit von Wilhelms Existenz nicht etwa ein psychischer Defekt, der auf nichts verweist als auf eine mißglückte Erziehung, die einen Geburtsfehler nicht wiedergutmachen konnte 148 . Für Borchardt wird alles zum Symbol, und auch das Stigma des Lebens ohne Liebe muß etwas bedeuten: Die absolute Einsamkeit des Individuums kann nur mit dem Ganzen etwas zu tun haben. Das philologische Programm der restitutio in integrum, der Wiederherstellung des Ganzen aus den Fragmenten, die die Fragmente verschwinden läßt, wird in Borchardts Poetik zum Evangelium einer Neuschöpfung der Welt aus ihren Scherben. Je weniger das Bruchstück an sich gefällt, desto höher ist der Begriff, den es von der verlorenen Einheit gibt. Durchgehend deutet Borchardt die Haltungsfehler des Kaisers zu Zeichen der AuserwähltheU um: Dem Augenschein der Formlosigkeit liest er die Evidenz eines Formversprechens ab 149 . So schließt der Speer seiner Methode, die zerreißt, um zu versöhnen, auch die letzte, schlimmste Wunde, die er mit den maßlosen Erwartungen an einen wiedergeborenen Helden der Vorzeit schlug. Wie das lyrische Ich vieler Gedichte Borchardts beladen ist "mit dem Bewußtsein der heraufdämmernden Unmöglichkeit von Liebe für den, der ohne Kompromiß dem entstellten Leben sich weiBorchardt, Weltfragen (wie Anm. 9), 546. Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 103. 148 Auf ein schlechthin sinnloses Geschehen, dem sich keine höhere Bedeutung abgewinnen läßt, schrumpft Wilhelms Leben, die Leidensgeschichte eines Monsters, in John Röhls riesiger Biographie; siehe Patrick Bahners, Geschichte. Eine Kolumne: Persönliches Regiment, in: Merkur 48 (1994), 1007 - 1013. 149 Vgl. Grange, Rudolf Borchardt 1877-1945 (wie Anm. 48), Band 1, 399. 146 147

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gert" 150 , so ist die "Ritterlichkeit des freien Mannes", die Liebe als soziale Tugend, verschwunden aus einer Gesellschaft, die sich ihren Selbsthaß verbirgt, wenn sie Wilhelm zum Sündenbock macht151 • Der am wenigsten geliebte Mann ist der meistgehaßte und der meistgefürchtete. Indes, und hier schlägt das Unheil in den Vorschein des Heils um, sollen diese "außerordentlichen und seltenen Formen des ökumenischen Widerhalls" der "Natur" eines einzelnen Menschen "genügen, uns mit der höchsten Vorstellung von seinem Erdendasein zu erfüllen" 152 . Die höchste Vorstellung, die sich die Welt von einem Menschen machen kann, ist die Idee ihres Erlösers. Wilhelm, "geschmäht und beleidigt" 153 , gleicht dem leidenden Gottesknecht: Der Stein, den die Bauleute der modernen Zivilisation verworfen haben, ist zum Eckstein des Weltgebäudes geworden. Noch ist das Volk, das durch Wilhelms Herrschaft "gesegnet" ist, blind. Es erkennt nicht, daß es "in ihm seinen Daseinsgrund, in ihm seine Zukunft" hat154 . Die Person des Kaisers hat danach eine metaphysische und moralische, ja eine eschatologische Funktion. Wie der Christ nach der Lehre des Marburger Theologen Wilhelm Herrmann den geschichtlichen Jesus, den zweifellos wirklichen sittlich vollkommenen Menschen, als den "Glaubensgrund" erfährt, der die Macht und die Gnade Gottes verbürgt155 , so soll der Deutsche die bezaubernde Gestalt des Kaisers, die so geschichtsmächtige wie zeitlose Heldengestalt, als Grund seines Daseins erleben: Er ist der Ursprungsheros, von dem das neue Reich sich ableitet; sein Wille beweist, daß die Deutschen souverän sind, daß sie ihre Zukunft wollen können und dabei die Absichten der Vorsehung erfüllen. Wilhelms heilsgeschichtliches Amt verschlüsselt Borchardt am Schluß des Kaiseraufsatzes in einem historischen Bild: Zur Legitimierung des hohenzollernschen Kaisertums bemüht er die staufisehe Reichstheologie. Er zitiert die Schlußverse von Walthers Kronenspruch: "Swer nu des Riches irre geh, Der schaue wem der Weise obe dem Nacke steh: Der Stein ist aller Fürsten Leitesterne". Der Dichterpolitiker findet in der Gestalt des "supremen politischen Dichters" 156 , der "aus dem Herzen des Volkes gerufen" hat 157 , im "Walther des Reichs" 158 , der "die höchste Möglichkeit deutscher 150 Theodor W Adorno, Die beschworene Sprache. Zur Lyrik Rudoli Borchardts, in: ders., Noten zur Literatur IV; Frankfurt am Main 1974, 63-89, hier 77. 151 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 106. !52 Borchardt, Weltfragen (wie Anm. 9), 546. 153 Borchardt, Politische Notiz (wie Anm. 41), 554. !54 Borchardt, Weltfragen (wie Anm. 9), 546. !55 Siehe Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit. Band 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, 790 ff. 156 Borchardt, Nachwort zu "Joram" (wie Anm. 28), 325. 157 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 110.

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Poesie als wahrer Weltreife" repräsentiert159 , sein Vorbild und Urbild160 . In der Tat paßt gerade der Kronenspruch, der seine "suggestive Wirkung" der "Betonung des visuellen Eindrucks" verdankt161 , gut zu Borchardts Poetik des sinnstiftenden Bildes. Was aber sieht das Volk, wenn es Borchardts Ruf folgt und den Blick auf den Kaiser richtet? Nichts. Über Wilhelms Nacken steht nicht der Waise, der kostbarste Stein der Reichskrone, da sie nicht seine Krone ist. Der Deutsche Kaiser wird überhaupt nicht gekrönt. Walther wollte den Thronstreit zwischen Philipp von Schwaben und Otto von Braunschweig durch den unwiderleglichen Augenschein entscheiden: Die wahre Krone wies Philipp als den wahren König aus, obwohl er nicht am richtigen Ort (in Aachen) und nicht durch den richtigen Coronator (den Erzbischof von Köln) gekrönt worden war. An Walthers Kriterium gemessen ist Wilhelms Kaisertum illegitim. Der Annahme des Kaisertitels durch den preußischen König war eine Debatte vorangegangen, in der nationalliberale Gelehrte ernste Bedenken geltend gemacht hatten 162. Sie warnten vor dem Mißverständnis, das mittelalterliche Reich solle wiederbelebt werden, das katholisch und übernational gewesen war. Der Brief Wilhelms I. an die deutschen Fürsten vom 14. Januar 1871 und die Adreßdebatte des Reichstagsam 30. März 1871 setzten in diesem Sinne das neue vom alten Reich ab 163 . Mit der Zeit, als der wissenschaftliche, kritische Historismus hinter dem ästhetischen, eklektischen Historismus zurücktrat, gingen diese Skrupel verloren164 . Dem Zeitalter der Weltpolitik leuchtete Heinrich von Sybels Kritik des staufischen Universalismus nicht mehr ein. Die Alldeutschen pflegten die Erinnerung an die deutsche Weltherrschaft, wie andererseits auch die Pazifisten auf ein Friedenskaisertum in der moralischen Nachfolge der römisch-deutschen Kaiser Borchardt, Weltfragen (wie Anm. 9), 542. Rudolf Borchardt, Stefan Georges "Siebenter Ring": Prosa I (wie Anm. 28), 258 - 294, hier 281. 160 Absehen muß Borchardt von den materiellen Produktionsbedingungen, denen die positivistische Germanistik seiner Zeit lebhaftes Interesse entgegenbrachte (siehe Roland Richter, Wie Walther von der Vogelweide ein "Sänger des Reiches" wurde. Eine sozial- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Rezeption seiner "Reichsidee" im 19. und 20. Jahrhundert, Göppingen 1988, 199 ff.): Walther, der vom Lohn für seine Lieder leben mußte, war einer der ersten Literaten der deutschen Literatur- und wurde einer ihrer ersten Renegaten. 161 Matthias Nix, Untersuchungen zur Funktion der politischen Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide, Göppingen 1993, 44. 162 Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 18711918, München 1969,27-30. 163 Arno Borst, Barbarossa 1871, in: ders., Reden über die Staufer, Frankfurt am Main 1978, 91-177, hier 135-139. 164 Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (wie Anm. 162), 107 ff. !58

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hoffen konnten 165 . Wilhelms "verschwommene Weltreichsutopie" gab solchen Schwärmereien Stoff166 . In Reden, aber auch in Handlungen wie der Ehrung Karls des Großen in Aachen und dem Einritt in Jerusalem beschwor der Kaiser "Bilder einer deutschen Geschichte, nicht wie sie gewesen ist, sondern wie sie hätte werden sollen" 167. Borchardts Phantasie, das Volk solle Wilhelm als dem Träger der Reichskrone huldigen, fügt sich ein in den Zusammenhang dieser Wilhelminischen Geschichtsphilosophie des "Als Ob" 168. Freilich hat Borchardt den Leser auf diese abschließende Offenbarung nicht vorbereitet. Während Veltheim, der Rest Völkerwanderung, als "'!ypus einer Gesellschaft" erscheint, "wie sie der Übergang einer Urzeit ins Mittelalter erzeugt" und wie sie im "Mittelalter des heutigen Amerika" wieder entstehe 169, wird Wilhelm weder als Hüter "der europäischen Gesittung"170 noch als Beschützer der Katholiken mit dem Mantel der römischdeutschen Kaiser umkleidet. Nach knappsten Bemerkungen zur außenpolitischen Lage, etwa zu den guten Beziehungen zu einem keineswegs mittelalterlich gemalten Amerika, endet der Aufsatz abrupt. Es muß verblüffen, daß der Erzieher des neuen 'JYpus des Deutschen, der dank seinem "im morgen lebenden" Willen171 der "Vorläufer" einer großen Generation172 sein soll, am Ende ins Mittelalter entrückt wird. Das ist einer der Effekte, die Leser wie Kessler als grotesk empfunden haben - ähnlich dem Anfang, der Wilhelm ebenso unvermittelt mitten aus den Jubiläumsfeierlichkeiten in die Zeitlosigkeit der Völkerphantasieprodukte versetzt. Borchardt begrüßte Wilhelm als den Erstgeborenen eines Geschlechts, das für Bücherwissen nur noch Verachtung übrig hatte. Er muß freilich gehofft haben, daß die Deutschen wenigstens ihren Walther noch auswendig kannten. Denn nur der gesamte Text des Gedichtes erklärt, warum Borchardt aus ihm zitiert. Ein Wunder nennt es Walther, daß die Krone dem König genau paßt, obwohl sie doch älter ist als er. Das alte Reich und der neue Herrscher ergänzen einander vollkommen, ja sie machen einander vollkommen, jeder strahlt im Glanze des anderen. Der Zusammenfall der Gegensätze ist augenfällig: "si liuchtent beide ein ander an, daz edel gesteine wider den jungen süezen man: die ougenweide sehent die fürsten gerne." Wenn Walther sagt, Philipps "keiserliches houbet" zieme der Krone so gut, 165 Ebd. 159-163. 166 Ebd. 165.

167 Borst, Barbarossa 1871 (wie Anm. 163), 177; vgl. Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (wie Anm. 162), 109 ff. 168 Borst, Barbarossa 1871 (wie Anm. 163), 177. 169 Borchardt, Veltheirn (wie Anm. 14), 42. 170 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 95. 171 Ebd. 94. 172 Ebd. 100.

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daß sie von Rechts wegen niemand mehr scheiden solle, obwohl Philipp doch gar kein Kaiser ist, mag er sich die staufisehe Hausideologie vom kaiserlichen Stamm zu eigen machen173 . Im Gedicht ist es aber die Schönheit des jungen Mannes, die ihn als kaiserlich ausweist. Am Ende von Borchardts Aufsatz erscheint also die gleiche Figur, die an ihrem Anfang stand: der TYPus des Jungen Königs. Der Text, dem die Stringenz einer Abhandlung ebenso fehlt wie die Freiheit des Essays, gewinnt als politische Dichtung, als Spruch, die Einheit seiner Form. In Mainz muß sich nach Walthers Zeugnis am 8. September 1198 ein Vorgang der spontanen Verbildlichung ereignet haben, wie er Usener zufolge am Anfang der Sagenbildung steht. Die heilige Handlung, der Ritus der Krönung, brachte einen neuen Mythos hervor, obwohl oder gerade weil nicht alle Vorschriften befolgt werden konnten. Als Philipp die Krone aufs Haupt gesetzt wurde, hatten die Fürsten nur noch Augen für den Jungen König, den idealen Herrscher, den sie aus der Erinnerung kannten. Vollkommen ist die Einheit von Krone und Träger, Person und Rolle, Körper und Geist, Schönheit und 'fugend allerdings nur im Gedicht. Obwohl Philipp die Reichskrone trug, konnte er sich gegen Otto nicht durchsetzen. So müssen wir Borchardts Wort für die Wahrheit seines Kaiserbildes nehmen. Wo Walthers Spruch den Lesern, die keine Augenzeugen des Mainzer Geschehens gewesen waren, den Augenschein ersetzte, da tritt Borchardt mit seinem Bild des Kaisers gegen dasjenige an, das in der Öffentlichkeit von dem allgegenwärtigen Mann produziert und reproduziert wird. Es soll den Augenschein nicht vertreten, sondern verdrängen. Die Wirkung der Identifikation des Hohenzollern und des Staufers beruht auf ihrer Unglaubwürdigkeit, auf einer Verblüffungswirkung: Borchardts Kaiser ist Wilhelm der Plötzliche. Denn für Borchardt lag Wilhelms Hauptstadt noch nicht einmal in Deutschland, im Deutschland der Kultur, des alten Reiches, das ein römisches Deutschland gewesen war174 • In Bonn, nicht in Berlin wollte er 1907 mittelhochdeutsche Gedichte vortragen; die "altdeutschen Sachen" wären "für Berliner Mägen Gummi oder Gips" 175 . 173 Nix, Untersuchungen zur Funktion der politischen Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide (wie Anrn. 161), 49. 174 Rudolf Borchardt an Berthold Vallentin und Friedrich Wolters, 25. November 1905: Briefe 1895-1906 (wie Anrn. 44), 376. Vgl. Gustav Seibt, Römisches Deutschland. Ein politisches Motiv bei Rudolf Borchardt und Ernst Kantorowicz, in: Sinn und Fbrm 46 (1994), 61-71. Es vollendet die Unglaubwürdigkeit von Borchardts poetischer "Action", daß gerade Walther die "römische Tradition des Kaisertums" in den "Hintergrund" drängte und "die deutsche Zunge, die Nation", in den Vordergrund rückte: Heinz Thomas, Das Identitätsproblem der Deutschen im Mittelalter in Geschichte, in Wissenschaft und Unterricht 43 {1992), 135-156, hier 148. 175 Rudolf Borchardt an Ernst Borchardt, 2. Oktober 1907: Briefe 1907 - 1913 {wie Anm. 3), 137.

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Wenn Borchardt unter Berufung auf Walther die Mahnung aussprach, "daß der Weg zum Reiche über den Kaiser führt, nicht über den Premier" 176 , so stand er nicht von vornherein außerhalb der zeitgenössischen Verfassungsdiskussion. Die Reichsverfassung war ein Kompromiß, der die genauere Bestimmung der kaiserlichen Stellung der Verfassungsentwicklung überließ. Die positivistische Rechtswissenschaft war geneigt, den Tatsachen der Macht ein eigenes Gewicht gegenüber den Buchstaben der Verfassung zuzugestehen. Wenn Wilhelms persönliches Regiment den konstitutionellen Spielraum überschritt, mochten sich Panegyriker veranlaßt sehen, aus der juristischen Not eine politische 'fugend zu machen und sein Charisma zur übergesetzlichen Quelle der Legitimität zu erklären177 . In der politischen Führungsschicht, die ein lebhaftes Gefühl dafür hatte, daß die charismatische Legitimität der rechtlichen und der traditionalen Legitimität der Hohenzollernherrschaft auf Dauer schaden mußte, und die Wilhelm überdies aus der Nähe studieren konnte, hatte man für theoretische Experimente dieser Art wenig übrig. Aber auch Paul Laband, der einflußreiche und repräsentative Rechtslehrer, stellte bereits 1896 fest, die faktische Entwicklung der Verfassung, die dem Bundespräsidium die Machtfülle eines echten Monarchen verschafft habe, bestätige "die naive Auffassung des Volkes", wonach "ein Reich ohne Kaiser ein Rumpf ohne Haupt wäre". Wenn Laband darlegt, daß gegenüber "tiefempfundener Liebe" zum "Führer des Volkes" juristische Einreden nichts ausrichten 178 , scheint er die formgebende Kraft der Volksphantasie anzuerkennen, an die Borchardt glaubt. "Der Weg zum Reich geht über den Kaiser. " 179 Schon die Geopolitik der "Weltfragen" sollte diesen Satz demonstrieren. Wie die "Weltfragen" und viel später die Weltgeschichte der Kultivierung, die "Der leidenschaftliche Gärtner" schreibt, mit dem Garten Eden anfangen180, so ist der Himmel nie fern, wenn Borchardt vom Reich spricht. Wie niemand zum Vater kommt außer durch Christus, so gelangt niemand ins Reich außer über den Kaiser. In der protestantischen Theologie der Zeit gab es als Reaktion auf den KanUanismus der Schule Albrecht Ritschls, der das Reich Gottes nur noch als sittliche Größe verstanden wissen wollte, eine Rückwendung zur Eschatologie 181 . Das kommende Gottesreich als Inhalt

Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 110. Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (wie Anm. 162), 117. 178 Paul Laband, Das deutsche Kaisertum. Rede zur Feier des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers, Straßburg 1896; zit. nach Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (wie Anm. 162), 128. 179 Borchardt, Weltfragen (wie Anm. 9), 545. IBO Vgl. Markus Bernauer, Rudolf Borchardts Gartenidee, in: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen (wie Anm. 12), 245-264, hier 253 f . 176 177

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der Verkündigung Jesu wurde wiederentdeckt. Aus den wissenschaftlich ausgelegten, scheinbar für immer angeeigneten heiligen Schriften trat eine fremde Vorstellungswelt hervor, die man nicht einfach durch Verstandesoperationen mit dem Horizont der Gegenwart vermitteln konnte. Auch wenn man an der moralischen Deutung des Gottesreiches festhielt, rückte man daher die Person Christi wieder ins Zentrum des Glaubens. Wo Ritschl betont hatte, Jesu Predigt löse das Reich Gottes von jedem Zugeständnis an die sinnliche Vorstellungskraft, da ließ man es nun in der Gestalt des Predigers anschaulich werden. Nach Ernst Troeltsch war das Zentrum des Gemeindelebens, aus dem die religiöse Lehre erst erwachsen ist, nicht das Christusdogma, sondern "das Bild einer lebendigen, vielseitigen und zugleich erhebenden Persönlichkeit" 182 • Die liberale Theologie entwickelte durchaus Verständnis für die irrationalen Momente der Religion, sofern sie nur undogmatisch waren, und ließ das Wunderbare, psychologisch umgedeutet, wieder in die Wirklichkeit ein. Als den Bekenner einer solchen wissenschaftlich belehrten, aber über die Wissenschaft hinausstrebenden Religion, eines "ebenso modernen wie tiefsinnigen, durch und durch individuellen" Christentums stellt Borchardt Wilhelm hin, unter Berufung auf das "in dem außerordentlichen Brief an den Admiral Hollmann" niedergelegte Glaubensbekenntnis 183 • Es ist eine Ironie der Geschichte, die man mit Helmuth Plessner als tragisch ansehen darf, daß der Fortschritt der Wissenschaft in den vom Kulturprotestantismus geprägten deutschen Bildungsschichten das Mißtrauen gegenüber der Vernunft, gegenüber den einfachen Lösungen von Formeln und Dogmen, genährt hatte. Es war nicht moralische Schwäche, die das liberale Bürgertum nicht gegen das persönliche Regiment Wilhelms II. opponieren ließ. Es klingt apologetisch, wenn Hermann Oncken ausführt, ein konstitutioneller Monarch sei zu "langweilig" und stehe im Widerspruch zur "Persönlichkeitskultur" der Zeit184 • Aber wenn Onckens Kollege Friedrich Meinecke in diesem Sinne fordert, die "Gesamtpersönlichkeit der Nation" müsse durch eine "lebendige Persönlichkeit" verkörpert werden185 , dann 181 Vgl. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit (wie Anrn. 155). Band I, 845 ff. ; Band II: Das 20. Jahrhundert, 69 ff. 182 Zit. nach Handbuch der Dogmengeschichte, hrsg. v. Michael Schmaus, Alois Grillmeier u. a., Band ill, Freiburg 1972,217. 183 Borchardt, Der Kaiser (wie Anrn. 4), 95. In diesem Brief (gedruckt bei Wilhelm Schüssler, Wilhelm II. Schicksal und Schuld, Göttingen 1962, 136 ff.) steht ein emphatischer Christusglaube ("Er feuert uns an, es lockt uns, Ihm zu folgen") neben einer Theorie der kontinuierlichen Offenbarung Gottes in periodisch wiederkehrenden Weisen und Helden. 184 Antwort auf eine "Kaiserumfrage" der "Tat" zum fiinfundzwanzigjährigen Thronjubiläum 1913; zit. nach Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (wie Anm. 162), 90.

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steht hinter dieser Verteidigung des deutschen 'JYpus der konstitutionellen Monarchie eine Geschichtsphilosophie, deren Individualismus sie als bürgerlich zu erkennen gibt. Die Persönlichkeit und das Leben sind die letzte Hoffnung eines Liberalismus, der im Prozeß der Aufklärung alle lliusionen hat verlieren wollen und nicht zwangläufig in eine Politik der kulturellen Verzweiflung verfällt. Wenn Borchardt den Kaiser als das Wunderkind seiner Zeit zeichnet, scheint er ihn der Persönlichkeitskultur nach ihren Maßstäben verständlich machen zu wollen. Der problematische Charakter taugt als Problem für ein Salongespräch und könnte ihm eine ernste Wendung geben: Die "Verlegung des Problematischen aus dem Kaiser in das Volk" 186 zwingt die Gesellschaft zum Blick in den Spiegel. Indem Borchardt den Kaiser zunächst im Bild des alterslosen Heros fixiert, stellt er eine Vermenschlichung und Verlebendigung in Aussicht, die er dann freilich nie ernsthaft durchführt. Sein charakteristisches Mittel bleibt die Evidenzbehauptung, die eigentlich weniger eine Behauptung als eine Handlung und ein Zeichen, eine Geste ist: Sie fordert nicht zur Argumentation, sondern zur Unterwerfung auf. Zu einem Gestus der Schroffheit verdichten sich die Setzungen und die Übertreibungen, das Andeuten und das Abbrechen. Wo der Leser sich zu Einfühlung und Einverständnis verleitet sehen könnte, erzwingt Borchardt wieder Distanz und Fremdheit. Bei allem Pathos des Übergangs und des neuen Zeitalters gewinnt Borchardt sein Programm kaiserlicher Souveränität nicht wie Friedrich Naumann aus einer Analyse der modernen Gesellschaft. Naumanns Funktionsstelle des sozialen Kaisers könnte auch ein deutscher Bonaparte besetzen. Bei Borchardt kommt alles auf die persönlichen Eigenschaften Wilhelms ab, und dennoch bleibt Wilhelms Persönlichkeit ungreifbar. Vom "Umriß seines geschichtlichen Bildes" würden anekdotische "Details" nur ablenken187 . Die Persönlichkeit muß sich offenbaren, in den unkonstitutionellen Großtaten, für die kein Minister eine Mehrheit organisieren könnte. Für diese Theorie der Genialität der unverantwortlichen Handlung bedeutete die Krise, in die das Reich wenige Wochen nach der Publikation von Borchardts Aufsatz durch die Veröffentlichung des Kaiserinterviews im Daily Telegraph gestürzt wurde, die Katastrophe. Borchardt bekannte seine "Verzweiflung über diese Ereignisse", in denen er "den endgültigen Schiffbruch meiner teuersten Hoffnungen erblicken musste", im März 1909 in einem Brief an Gustav Pauli, von dem im Oktoberheft der Süddeutschen Mo185 Freiburger Universitätsrede vom 14. Juni 1913; zit. nach Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (wie Anm. 162), 91. 186 Rudolf Borchardt an Alfred Walter von Heymel, 25. Oktober 1908: Briefe 1907-1913 (wieAnm. 3), 194. 187 Borchardt, Der Kaiser (wie Anm. 4), 94 .

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natshefte ein kritischer Aufsatz über Wilhelms Kunstpolitik gedruckt worden war188. Daß dieser "dämliche" 189 Text hatte erscheinen können, empfand Borchardt als "Akt der (diplomatisch ausgedrückt) Unfreundlichkeit der Redaktion" 190, "die ihre eigene emphatisch eingeleitete Action" , für deren Gelingen alles auf die Einheitlichkeit des Willens ankam, "desavouiert und rückgängig" gemacht habe 191 . Daß Borchardt an einen Erfolg seiner "Action" geglaubt hat, ist unwahrscheinlich. Auch vor dem Bekanntwerden der jüngsten Indiskretionen Seiner Majestät mußte es weite Kreise befremden, wenn etwa das Krügertelegramm als visionäres Heldenstück ausgegeben wurde. Vielleicht hat Borchardt in seiner italienischen Villa unterschätzt, wieviel Ansehen der Kaiser auch beim staatsfrommen Bürgertum nicht erst im Zuge des Eulenburg-Skandals verloren hatte; überschätzt hat er vielleicht "die genaue parteilose unbezweifelbare private Information, über die ich zu wiederholten Malen habe verfügen dürfen" 192. Aber daß er sogar seine geistespolitischen Verbündeten wie Hofmannsthal, Sehröder und Heymel nicht überzeugen konnte, traf ihn "nicht unvermutet" 193. Rechenschaft über seine Beweggründe legte er in einem nicht abgeschickten Brief an Pauli ab. Er erklärte, daß er "in der Kaiserfrage Convertit" sei. Er habe die "allgemeinen Sentiments- und Culturstimmungen" geteilt, aus denen heraus seine "ganze Generation" ihr Geschmacksurteil über "die rohe, laute, grelle, ungeformte Person des Kaisers" gesprochen habe 194 . Als er sich von den Stimmungen gelöst habe, sei ihm auch das Urteil fragwürdig geworden. Die Scheidung der Geister war das Ziel von Borchardts "Action", einem Experiment, das um der Reinheit des Resultateswillen keinerlei Rücksichten nahm. Sehröder empfand den Aufsatz als "geradezu herostratisch"195. Borchardt legte Feuer an die Heiligtümer der liberalen Öffentlichkeit, die sich im Flammenschein seiner Kritik als Scheinheiligkeiten erweisen sollten. Wenn Borchardt sich rühmte, den "Posteritätsblick" erlangt zu haben, "der wesentliches und unwesentliches an einer historischen Gestalt anders formuliert als das mitlebende Jahrhundert" 196 , so rechnete er damit, 188 Rudolf Borchardt an Gustav Pauli, 26. März 1909: Briefe 1907-1913 (wie Anm. 3), 216. 189 Rudolf Borchardt an Ernst Borchardt, 13. Oktober 1908: ebd. 184. 190 Rudolf Borchardt an Alfred Waltervon Heymel, 25. Oktober 1908: ebd. 191. 191 Rudolf Borchardt an Alfred Waltervon Heymel, 17. Oktober 1908: ebd. 187 f. 192 Rudolf Borchardt an Gustav Pauli, 2. November 1908: ebd. 198. 193 Rudolf Borchardt an Alfred Walter von Heymel, 25. Oktober 1908: ebd. 193. 194 Rudolf Borchardt an Gustav Pauli, 2. November 1908: ebd. 197 ff. 195 Rudolf Alexander Sehröder an Hany Graf Kessler, 9. Oktober 1908, Hofmannsthall Kessler, Briefwechsel (wie Anm. 27), 517. 196 Rudolf Borchardt an Gustav Pauli, 2. November 1908: Briefe 1907-1913 (wie Anm. 3), 199.

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seiner Perspektive in der Gegenwart kein Recht verschaffen zu können. Er mochte hoffen, in einem Morgen zu stehen, in das er die Deutschen durch die Gewalt seiner Worte hinüberziehen konnte. Aber er wird sich doch eher in einem Übermorgen gesehen haben, das sein Volk nie erreichen sollte. Der Waise hätte Wilhelms Haupt wohl geziert, denn der Rebell gegen Vater und Mutter, der auch den Übervater überwand, ist selbst das Waisenkind seines Zeitalters, als Sonderling verachtet, weil man seine Einzigartigkeit nicht begreift197 . Diese Einsamkeit ist auch das Los des Schriftstellers, der sich die Unabhängigkeit des Weltüberblicks erkämpft. In den Wirkungsabsichten des Dichterpolitikers, der Worte als Taten nimmt und gleichwohl weiß, daß die Welt sich nicht an Gedichten regeneriert198 , liegt von Anfang an eine Zweideutigkeit. Die Dichtung verändert die Welt, indem sie den Blick auf die Welt und die Rede über die Welt verändert. Aber darf es für diese Veränderung des Ganzen, die recht besehen eine Verwandlung ist, für die der Relativismus der alles mit allem vergleichenden Historie keinen Maßstab hat, auf einzelne politische Tatsachen ankommen? Norbert Miller hat auf die autobiographischen Züge des Veltheim-Porträts hingewiesen, auf die "Haltung einer schöpferischen Vorwegnahme von Leben und Erkenntnis aus einem ungebrochen leuchtenden, einem inneren Bild der Realität hinter der Realität". Als "Abenteurer der Geschichtserkenntnis", eisern entschlossen, "die eigene Identität und die durch sie gestützte Welteinsicht nicht an die communis opinio preiszugeben", wird Borchardt von Miller mit Heinrich Schliemann verglichen, der seinen Kindheitstraum dort ausgrub, wo er nach Ansicht der Professoren nichts finden durfte 199 . Die Erinnerungen aus der Bonner Schule, die Borchardt 1908 nach dem Tod Franz Büchelers an die Frankfurter Zeitung gesandt hatte, zitieren eine Erledigung Schliemanns, mit der Usener, "das Seherhaupt zurückgeworfen", einmal eine Vorlesungsstunde geschlossen haben soll. Daß Schliemann eine durch Brand zerstörte Stadt auf der Kulturstufe der homerischen Gesellschaft ausgegraben habe, das sei nicht zu bezweifeln; "aber wer das Troja Homers wiederfinden will, das Troja des Priamos und der Helena und des Kampfes um den himmlischen Schatz, der, meine Herrn, muß vorerst im Becher des Helios über den Götterstrom gefahren sein!" 200 Das war vielleicht 197 Der Waise oder "Orphanus" heißt so, wie Albertus Magnus erläutert, weil sich seinesgleichen sonst nirgendwo findet. Es handelte sich möglicherweise um einen Jaspis, wie er in der Offenbarung des Johannes als Christussymbol erscheint; siehe Reinhart Staats, Die Reichskrone. Geschichte und Bedeutung eines europäischen Symbols, Göttingen 1991, 73 -76. 198 Borchardt, Rede über Hobnannsthal (wie Anm. 40), 63. 199 Norbert Miller, Rudolf Borchardts Aufsatz "Die Tonscherbe", in: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen (wie Anm. 12), 265 - 280, hier 274.

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nicht ganz fair. Auch Schliernano hatte schließlich, wie es Usener vom Philologen forderte, ein inneres Bild der Realität im Kopf, als er sich auf die Suche nach der Realität begab. Durch radikales Ernstnehmen dieser hermeneutischen Gnmdregel hat Usener das Reich der Philologie erheblich ausgedehnt. Er hat nicht nur Lücken in Texten geschlossen, indem er aus dem weitgehend Erhaltenen das zufällig Verlorene ableitete, sondern auch umgekehrt aus dem glücklich konservierten Fragment eine Welt von Bildern, Gedanken und Handlungen rekonstruiert. Der Erkenntnis des Erkannten bahnte er den Weg zum Kontinent des Vergessenen, der Glaubensvorstellungen und Verhaltensweisen, die älter sind als die schriftliche Tradition 201 . Der Becher des Helios ist eine von Hephaistos gefertigte Schale, in welcher der Sonnengott während der Nacht über den Okeanos ins Land der Morgenröte getragen wird202 . "Panyasis aber sagt im ersten Buch der Herakleia, daß Herakles sich von Nereus die Schale des Helios beschafft habe und nach Erytheia gefahren sei." Dieses "Rotland", wo Geryoneus mit seinem Gefolge und seinen Rindern lebte, identifiziert Wilamowitz in seinem Kommentar zum Herakles des Euripides als das Totenreich jenseits der Abendröte. Den Kampf des Herakles mit Geryoneus deutet er als Bild für die Überwindung des Todes und das Eingehen des Helden in den Himmel. Eine Schale im Vatikan zeigt Herakles in seinem Gefährt203 . Als "Geryoneus" saß Veltheim mit Borchardt bei Tisch204 . Bei Usener und Borchardt deutet der Becher darauf, daß das innere Bild, das der Philologe mitbringt, eine mythische Erinnerung ist. Seine Herkulesarbeit rekapituliert den Weg vom Mythos zum Logos, von der Dunkelheit zum Licht205 . In der Erinnerung verhilft er dem Leben zum Sieg über den Tod206 , aber er kehrt immer wieder zum Ursprung zurück. Borchardt hat die Methode der Bonner Schule, "vom Punkte aus das All" zu entwickeln207 , noch einmal radikalisiert und in ein poetisches 200 Rudolf Borchardt, Aus der Banner Schule. Erinnerungen eines Schülers an Franz Bücheler: Prosa VI (wie Anm. 14), 45-58, hier 54. 201 Vgl. Kany, Mnemosyne als Programm (wie Anm. 20). 202 Athenaios 11,469d-470d zitiert u. a. Aischylos, Helladen (frg. 69 N. 2 ) und Mimnermos, Nanno (frg.10 D.). 203 Campbell zu Mimnermos frg. 10 D. Für freundliche Hinweise danke ich Robert Cramer (Bonn /Wuppertal). 204 Borchardt, Veltheim (wie Anm. 14), 36. 205 Über den "Sieg des Lichtes über die Finsternis" als das "Thema" aller philologischen Fbrschung siehe Borchardt, Eranos-Brief (wie Anm. 37), 113. 208 Oder triumphiert in der schöpferischen Restauration der Tod über das Leben? Als Verführung zu einem "Sprung ins 'lbtenreich" deutet Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus (wie Anm. 97), 167 die "Mahnung", die Borchardt 1927 an Marburger Studenten richtete, "unsere Zeit zu verleugnen" und "wie Herakles in die Unterwelt zu gehen, um die 'lbten zu holen": Die geistesgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts: Reden (wie Anm. 40), 324-344, hier 344.

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Verfahren übersetzt, dessen Produkte freilich nicht weniger Geschichte als Dichtung sein sollen. "Er spricht nicht über eine von ihm erträumte Gegenwirklichkeit, sondern er verwandelt alle geschichtlichen Erinnerungen in eine solche Gegenwirklichkeit, in eine Welt hinter der Erscheinung, auf die die Phänomene, aber richtig gedeutet, untrüglichen Durchblick geben. " 208 Der Baron von Veltheim überlebt nur von Gnaden Rudolf Borchardts. Sein Blick auf Wilhelm Il. hat die Nachwelt dagegen nicht in den Bann schlagen können. Veltheim, "dieser Block Granit" , ist in Borchardts Zeichnung das Urgestein, das aus der Vorgeschichte in die Welt der Philologie hineinragt. Er "war nicht der Dichter, sondern sondern er saß ihm unbewußt gegenüber"; er "gab keinen Text" und ahnte nichts von der Interpretation; "den Zusammenhang, in dem er etwas oder alles bedeutete, kannte er nicht, und wußte nicht, daß ein solcher Geschichts- und Geschichtenzusammenhang voller Beziehungen in uns auflebte, indes er ihn cyclopisch illustrierte"209 - "Oger und Polyphem" 210 . Wilhelm hingegen war zwar auch nicht der Dichter, aber er trat als Dichter auf. Er rebellierte gegen die Bildung der Vatergeneration, aber nur deshalb, weil er den Geschichtszusammenhang, in dem sein Leben seinen Sinn erfüllen sollte, am besten zu kennen glaubte. Die Souveränität des Hochstaplers war seine Unfähigkeit zum Rollenspiel: "Nur weil er, und solange er, er selber war, blieb er unwiderstehlich"211. Veltheim, der Widerwärtige, war unwiderstehlich: Widernatürlich ist die Natur der Liebe. Das Geliebte wird geliebt als es selber. Man liebt an ihm nicht "etwas, was außerhalb seines Gefüges noch da wäre", nichts "als Existenz" 212 . Wilhelm wurde nicht geliebt, obwohl er sich im ewigen Maskenspiel nicht anders denn liebenswürdig gab. Von dieser Unsouveränität ist etwas auf seinen Lobredner übergegangen. Man möchte ihn einen unwürdigen Liebhaber nicht nennen. Das Liebesobjekt freilich war seiner verschwenderischen erotischen Beredsamkeit am Ende wohl nicht würdig213. 207 Rudolf Borchardt an Edith und Julius Landmann, 29. Dezember 1909: Briefe 1907-1913 (wie Anm. 3}, 285. 208 Miller, Rudolf Borchardts Aufsatz "Die 'lbnscherbe" (wie Anm. 199}, 278. 209 Borchardt, Veltheim (wie Anm. 14), 38 f. In der Untersuchung des Alkestisstoffes nimmt Borchardt "die Scheidung seiner vergleichsweis jungen und delikaten Schicht von dem uralten Granite der urältesten" vor (Borchardt, Über Alkestis [wie Anm. 51], 237). 210 Borchardt, Veltheim (wie Anm. 14}, 36. 211 Ebd. 39. 212 Borchardt, Das Gespräch über Fbrmen (wie Anm. 53}, 348. 213 Nach der Flucht des Kaisers 1918 nannte ihn Borchardt im Gespräch "diese jämmerliche Figur", ohne damit seinen Aufsatz freilich zu widerrufen (Kraft, Rudolf Borchardt [wie Anm. 7], 408). In der Weimarer Republik setzte er seine Hoffnungen auf das Haus Wittelsbach. Nach dem 'lbd Wilhelms II. erfüllte Borchardt seine Treue-

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Die Verbildlichung der Geschichte, die nach Usener den Mythos und die Dichtung produziert, hat zwei Seiten: Abstraktion und Ausschmückung. An der Begebenheit treten die wesentlichen Züge hervor, aber es treten auch unwesentliche Details hinzu, erinnert aus anderen Geschichten. Veltheim, der Götze, bannt den Leser, weil Borchardt dem reduzierenden Verfahren gefolgt ist. Wer dieser Mann, der im Old Bailey verurteilt wurde, wirklich gewesen war, wird hinter dem Bild unsichtbar. Borchardt überschüttet ihn mit Namen und Bedeutungen, aberalldieser Schmuck fällt von ihm ab, und es bleibt nur Granit. Veltheim hatte zwei Augen, Borchardt nimmt eines weg, und es starrt uns der Zyklop an, den erst die listenreichen Sprachspiele britischer Juristen bezwangen. Polyphem war der Sohn des Poseidon214 . Eine kleine hochentwickelte Insel im Atlantischen Ozean mochte glauben, das Meer zu beherrschen, doch irgendwann würde sie verschlungen werden. Die Technik des Kaiseraufsatzes bestimmt Borchardt als Umrißzeichnung: Abstraktion, nicht Einfühlung soll das Stilprinzip sein215 . Insofern jeden Stil etwas Markantes auszeichnet, "die durch nichts von außen her zu erweiternde Begrenzung eines Weltbildes" 216 , kann man die Abstraktion, die in sich selbst zurücklaufende Linie, sogar den Stil der Stile nennen217 . George, Souverän in seinem Reich, ist einer der Dichter, "deren geistiger Umriß eine ewige Grundrichtung der menschlichen Seele mit der einfachsten Linie umschreibt'1218 . Das Bild des zum Erlöser berufenen Halbgatts aus dem Geschlecht der Hohenzollern rundet sich indes nur dank einer Poetik der Ergänzung: Den Schlußstein muß Borchardt von außen her nehmen. "Auge in Auge" sollte pflicht und schrieb einen letzten, echten Spruch, eine gewaltige Kaiserklage in vierzig Strophen, zugleich eine Anklage der Deutschen und ihres unheiligen Reiches: "Der Abschied vom Kaiser" (Gesammelte Werke in Einzelbänden. Gedichte und Übertragungen ll, hrsg. v. Marie Luise Borchardt, Ulrich Ott und Ernst Zinn, Stuttgart 1985, 64 ff.). Noch einmal erscheint Wilhelm hier als Einsamer, von aller Welt verlassen, und der Dichter erinnert an seine Intervention im Schicksalsjahr 1908: "Fürst meiner jähen Jahre,/Schon Irrender, als ich den Degen für Dich zog/Und keiner für Dich stand; den Alles trog I Und mied und ließ". 214 Hennann Usener, Göttliche Synonyme: Kleine Schriften. Vierter Band (wie Anm. 21), 259-306, hier 278. 215 So ist im Zuge von Hofmannsthals Arbeit an der Fbrm "von der Seele nur der zarte oder harte Umriß stehen geblieben": Borchardt, Rede über Hofmannsthai (wie Anm. 40), 77. 216 Borchardt, Nachwort zu ,.Joram" (wie Anm. 28), 326. Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Fbrmen (wie Anm. 53), 335 und Aus der Bonner Schule (wie Anm. 200), 55. 217 Siehe Borchardt, Dante und deutscher Dante (wie Anm. 60), 356 über Dantes "durch und durch prägnanten, schroffen und in seiner Härte doppelt stilvollen Kontour". 218 Borchardt, Rede über Hofmannsthai (wie Anm. 40), 60.

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der Leser der "Weltfragen" der "Gestalt" des Kaisers begegnen, "ohne ihr auszuweichen". Durch "jede der bisherigen Seiten" sei der Kaiser "mehr oder minder flüchtig" gegangen, dem "vorgezeichneten Plane der Gesamterörterung gemäß" laufe alles auf ihn zu. An dieser Stelle, am Anfang des Kaiserkapitels, sollte das Walther-Zitat stehen, das den Kaiseraufsatz beschließt219. Auch Wilhelm hatte zwei Augen, Borchardt aber setzt ihm ein drittes auf den Hinterkopf, den edelsten der Steine, verschollen spätestens seit Josephs II. Krönung im Jahre 1764. Sehen kann das dritte Auge nur, wer den zweiten Blick hat, den Blick des Dichters, dem der "Akt der einmaligen Wahrnehmung des eigentlich Verschwundenen" glückt2 20 . Stand der Waise wirklich über dem Nacken König Philipps? Dann ist der kostbarste Stein der Krone auf der Nackenplatte befestigt gewesen, nicht, wie man erwarten könnte, auf der Stirnplatte221 . Und dann mußten schon die Zeugen in Mainz, wenn sie dem süßen jungen Mann Auge in Auge gegenüber traten, das Kleinod im Geist ergänzen, dessen Funkeln die Rechtmäßigkeit des jungen Königtums verbürgte. Wo Borchardt wie Walther aus dem Herzen des Volkes zu sprechen meinte, wenn er den Kaiserzauber beschwor, da hatte Usener gezeigt, daß das Volk selbst die Tradition rationalisiert, die es nicht mehr versteht, und insofern schon auf dem Weg von Mythos zum Logos ist. "Die Phantasie des großen Volkes entzog sich der Bannung durch das augenfällig starke Bild deutend, erwehrte sich der Fülle des Zuströmenden sinnlichen Eindrucks durch das ordende Wort und machte sich durch dasselbe Wort nicht nur vom toten, sondern auch von dem lebenden Bilde frei, in dem der Mensch selbst Handlungen vollzog, vom heiligen Brauche dem geweihten Vorgange des Ritus." 222 Usener führt als Beispiel den von den Herakliden empfangenen Götterspruch an, bei ihrem Zug auf die Peloponnes "den Dreiäugigen" zum Führer zu nehmen. Sie erkannten die Erfüllung des Orakels -hier gibt es zwei Versionen - in einem Reiter, der nur ein Auge hatte oder auf einem einäugigen Maultier ritt. Beide vernünftigen Erklärungen der Weissagung sind nach Usener so richtig wie falsch. "Der ,Dreiäugige', unter dessen Führung allein die gefährliche Unternehmung gelingen kann, ist der alte Stammesgott. " 223 Borchardt hat der Gestalt Wilhelms II. wirklich Form gegeben- die Form eines Mythos, den niemand mehr glauben konnte.

219 22o

Borchardt, Weltfragen (wie Anm. 9), 545. Bohrer, Borchardts Phantasma (wie Anm. 64), 55.

221 Vgl. aber zum möglichen liturgischen Sinn dieser Anbringung Staats, Die Reichskrone (wie Anm. 197}, 91 ff. 222 Borchardt, Über Alkestis (wie Anm. 51}, 240 f. 223 Usener, Der Stoff des griechischen Epos (wie Anm. 21}, 223 f.

Die Religion im Erziehungsprogramm Hinzpeters Von Martin Fiiedrich Zu den gängigen Urteilen über den Weg der deutschen Geschichte gehört die Auffassung, das zweite deutsche Kaiserreich sei nicht zuletzt durch die Persönlichkeit des letzten Kaisers in den Abgrund gezogen worden. Das negative Urteil über Wilhelm II. und die bewußte Ablehnung der Traditionen des Wilhelminismus gehen in der Regel Hand in Hand und spiegeln sich in allen neueren Veröffentlichungen. Ob man, wie Hans-Ulrich Wehler, in dem vom Monarchen beanspruchten persönlichen Regiment nur eine "lllusion kaiserlicher Entscheidungsgewalt" sieht und ihm einen "überspannte[n] Anspruch" und eine "bizarre Auffassung vom Kaiseramt" vorwirft\ oder ob man, wie Hans-Peter Ullmann, seine Einflußmöglichkeiten differenzierter wahrnimmt2 , das bleibt sich im Grunde gleich. Einigkeit scheint jedenfalls zu bestehen, daß er von seinen geistigen Fähigkeiten bzw. seinen Charaktereigenschaften her seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Ob Nicolaus Sombart mit seiner äußerst positiven Bewertung3 Anklang finden wird, bleibt abzuwarten. Die sonstigen Biographien bestätigen eher den Eindruck, daß wir es bei Wilhelm II. mit einer gestörten Persönlichkeit zu tun haben4 . Praktisch alle beschäftigen sich relativ ausführlich mit seiner Erziehung und charakterisieren sie als völlig verfehlt5 . Und auch der Schuldi1 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Göttingen 4 1980, 69 f.; ähnlich die Bewertung in ders. , Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3. München 1995, 1019. 2 Hans-Peter UUmann, Das Deutsche KaiseiTeich 1871-1918. Frankfurt a .M. 1995, 143 f.- Eine Diskussion der Standpunkte und Probleme auch bei Isabel V. Hu.ll, "Persönliches Regiment", in: John C. G. Röhl (Hg.), Der Ort Kaiser Wilhelms Il. in der deutschen Geschichte. München 1991, 3-23. 3 Nicolau.s Sombart, Wilhelm li. Sündenbock und HeiT der Mitte. Berlin 1996. Geschmälert wird der Wert der anregenden Studie dadurch, daß Sombart sich kaum Mühe macht, das "Rätsel auf dem Thron" wirklich aufzulösen, sondern viel stärker damit beschäftigt ist, zu erklären, warum der Kaiser in Deutschland so gründlich diskreditiert wurde, daß hier bis heute noch kaum eine ernsthafte Fbrschung in Gang gekommen ist. 4 Am entschiedensten John C. G. Röhl, Kaiser Wilhelm li. "Eine Studie über Cäsarenwahnsinn". München 1989 (Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge 19); er sieht allerdings die Ursache voiTangig in einem bei der Geburt erlittenen Gehirnschaden, der nur sekundär durch eine fehlgeleitete Erziehung verstärkt worden sei.

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ge dafür ist leicht gefunden: Neben bzw. gemeinschaftlich mit den Eltern ist es Georg Ernst Hinzpeter, der von 1866 bis 1877 für den zivilen Bereich der Erziehung des Kronprinzensohnes verantwortlich war. Glaubt man den Biographen, dann muß er der völlig falsche Mann für diese Aufgabe gewesen sein6 • Dabei geht heute kaum noch jemand so weit, den Erzieher als schlechthin unfähig und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht hinzustellen7 • Im wesentlichen ist es das in den Memoiren Wilhelms Il. schon gezeichnete Bild, das (mehr oder weniger aus anderen Quellen ergänzt) fortgeschrieben wird: die "ganz auf harte nüchterne Pflichterfüllung" ausgerichtete Erziehung "des pedantischen und herben Mannes" 8 • Zwar hat Röhl in seiner Biographie die vom exilierten Kaiser "ganz bewußt" propagierte "Legende einer ,harten Jugend'" in Frage gestellt, indem er den Lieblingsbeleg der Biographen, den grausamen Reitunterricht Hinzpeters, als "völlig unglaubwürdig" entlarvte9 • Trotzdem spricht auch er von der "strenge[n] Zucht des kalvinistischen Erziehers" 10 . Was bei Röhl noch differenziert ist, wird bei anderen Biographen vor und nach ihm zur nicht hinterfragten Ursache für die verfehlten Prinzipien. Keiner läßt es sich entgehen, das Stichwort von Hinzpeters Calvinismus aufzunehmen11 . Damit gewinnt eine theologische Rich5 Beispielhaft John C. G. Röhl, Wilhelm ll. Die Jugend des Kaisers 1859-1888. München 1993, 158: "Acht Jahre später standen Hinzpeter und das Kronprinzenpaar vor dem Scheitern ihrer erzieherischen Hoffnungen. [ ... ] Wilhelm entpuppte sich nicht nur als faul, oberflächlich, unkonzentriert, unbegabt und schwatzhaft; er entwickelte einen ,fast krystallinisch hart gefügten Egoismus' [ ... ]". 6 Besonders massiv Tyler Whittle, The La:;t Kaiser. A biography of William ll. German Emperor and Kingof Prussia. London 1977, 28, der die Auswahl des Erziehers für einen unerklärlichen Fehlgriff hält. Ähnlich ist die Tendenz bei Röhl, Wilhelm (wie Anm. 5}, vgl. bes. 141, 149, 156 f., 185. 7 So noch Hans Bemd Gisevius, Der Anfang vom Ende. Wie es mit Wilhelm II. begann. Zürich 1971, 49 ("der selbstgefällige Kaiser-Programmierer"}. 50 ("der eitle Pädagoge"}. Zu welchen Exzessen Gisevius die Voreingenommenheit gegen Hinzpeter hinreißt, vgl. auch unten, S. 85 f. -Bei einer Rezensentin wird Hinzpeter gar zum Sadisten (Patricia A. Kollander, Rez. zu: J.C.G. Röhl, Wilhelm II: Die Jugend des Kaiser, in: German Studies Review 18 [1995] 514 f., hier 515: "sadistic tutor"); ein Attribut, das freilich keinerlei Anhalt am rezensierten Buch findet. s Wilhelm II., Aus meinem Leben 1859-1888. Berlin u . Leipzig 7 1927, 24 f. 9 Röhl, Wilhelm (wie Anm. 5}, 169. Vgl. auch ebd., 170 ("Einiges deutet allerdings darauf hin hin, daß er [scil. der Unterricht] anfangs vielleicht nicht so freudlos und so spartanisch angelegt war, wie Wilhelm ihn - in Erinnerung an die späteren Jahredarstellte"); 185. IO Ebd., 185. Vgl. auch John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm ll. und die deutsche Politik, München 1987, 34: "[ ... ) als seine Erziehung in die Hand des nielächelnden, nie-lobenden Calvinisten Hinzpeter gelegt wurde [ ... ] ". 11 Vgl. Gisevius, Anfang (wie Anm. 7}, 47; Whittle, Kaiser (wie Anm. 6), 29; Alan Palmer, The Kaiser. Warlord of the Second Reich. London 1978, 10; Lamar Cecil,

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tung unmittelbare Relevanz für die charakterliche Prägung des späteren Kaisers. Allerdings hat dies die Biographen kaum dazu bewegt, der Frage sachgerecht nachzugehen. Keiner fragt, ob die Attribuierung Hinzpeters als Calvinist, die sich wohl nur auf die Kaisermemoiren stützt12 , überhaupt stimmt bzw. in welchem Sinne sie zu verstehen ist. Und keiner fragt, was Hinzpeters Calvinismus in Bezug auf die religiöse Einstellung und in Bezug auf die Erziehungsprinzipien bedeutet. Alle tun vielmehr so, als sei mit dem Etikett die Charakterisierung schon geleistet. Denn was ein Calvinist ist, das meint man zu wissen. Drei Beispiele können verdeutlichen, welche Assoziationen das Stichwort freisetzt. Bei '!Yler Whittle spürt man den Abscheu, den bei einem Anglikaner wohl immer noch die Erinnerung an die puritanische Revolution zur Zeit Oliver Cromwells auslöst. Er räsonniert darüber, wie das Kronprinzenpaar ,übersehen' konnte, daß doch der Calvinismus mit seiner Prädestinationslehre den freien Willen, die moralische Verantwortung und die göttliche Liebe und Gnade negiert und Gott in ein Ungeheuer ("monster") verwandelt13 . Dabei setzt er schlicht voraus, daß Hinzpeter diesem Zerrbild des Calvinismus entspricht14 . In seiner Ignoranz gegenüber Fragen der Religion geht Whittle übrigens so weit, daß er meint, Wilhelm sei zum künftigen Oberhaupt der "Lutheran Prussian Evangelical Church" bestimmt gewesen. Daß die preußische Landeskirche seit 1817 eine aus Lutheranern und Reformierten (Calvinisten) gebildete Unionskirche war, das scheint ihm völlig entgangen zu sein. In Deutschland zeigen sich die Historiker und Historikerinnen etwas besser informiert. Doch auch hier gibt es eine festgefügte Vorstellung vom CalWilhelm II. Prince and Emperor, 1859 - 1900. Chapel Hill and London 1989, 19; Thomas A. Kohut, Wilhelm II and the Germans. A Study in Leadership. New York I Oxford 1991, 41, 43; Willibald Gutsche, Wilhelm II. Der letzte Kaiser des Deutschen Reiches. Eine Biographie. Berlin 1991, 18. 12 Vgl. Wilhelm II., Leben (wie Anm. 8), 25: "im Kalvinismus groß geworden". 13 Whittle, Kaiser (wie Anm. 6), 29. Ähnlich Hannah Pakula, An Uncommon Woman. The Ernpress Frederick. Daughter of Queen Victoria, Wife to the Crown Prince of Prussia, Mother of Kaiser Wilhelm. London 1995, 329; auch sie gibt vor, zu wissen, daß Hinzpeter (bei ihr nach der falschen Schreibweise der Kronprinzessin "Hintzpeter") einen "personal belief in predestination, an implacable God, and a chosen elite" gehabt habe, was sie dann freilich wieder abmildert mit der völlig unsinnigen Behauptung, Hinzpeter (der bis zum Eintritt in den Konfirmandenunterricht, also gut sechs Jahre lang, auch für den Religionsunterricht zuständig war!) "made it a point never to discuss religion with his pupils" . 14 Whittle, Kaiser (wie Anm. 6), 29: "Calvinism, in ist extreme form, has for centuries been losing ground. [ . .. ] But its originalseverity is still found in isolated evangelical churches, and quite frequently in individual Calvinists like Hinzpeter" .

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vinismus, wie aus Yvonne Wagners ansonsten so hilfreicher Darstellung von Hinzpeters Wirken deutlich wird. Sie hat wohl als erste erkannt, daß er nicht trotz, sondem wegen seines "Calvinismus" vom Kronprinzenpaar ausgesucht worden war. Was diese religiöse Prägung bedeutet, charakterisiert sie jedoch mit dem Satz: "Hinzpeters Glaube erlegte ihm auf, sich durch Pflichterfüllung der Erwählung zu versichem" 15 . Belegt ist dies mit einem Verweis auf Max Weber. Nun ist gewiß Webers berühmte Studie von 1904/ 05 bei aller Umstrittenheit 16 auch heute noch lesenswert. Aber er entwikkelte doch seine These von der Geburt des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik, innerhalb deren die Selbstvergewisserung aus der Berufsarbeit eine (wenn auch nicht die einzige) zentrale Rolle spielt17, aus dem "Calvinismus in der Gestalt, welche er in den westeuropäischen Hauptgebieten seiner Herrschaft im Lauf insbesondere des 17. Jahrhunderts annahm" 18. Kann man wirklich unbesehen annehmen, daß für einen Preußen vom Jahrgang 1827 noch genau dieselben Kennzeichen gelten, die Weber am niederländischen und englischen Calvinismus zur Zeit der Synoden von Dordrecht (1619) und Westminster (1647) hervorhob? Noch krasser zeigt das dritte Beispiel, welche Kurzschlüsse das Stichwort vom Calvinismus auslösen kann. Lamar Cecil kommt in seinem Abschnitt über die religiöse Erziehung von Wilhelm Il. auf die unterschiedlichen Einflüsse seiner Mutter und Hinzpeters zu sprechen und charakterisiert den letzteren so: "Hinzpeter [ ... ] was a doctrinaire Calvinist and believed that the Bible and the Geneva hymnal were all that any regenerate Christian required"19. Ein Beleg für diesen Satz ist nicht gegeben. Vermutlich bezieht er sich auf folgende Aussage in den auch ansonsten fleißig ausgeschriebenen Memoiren: "Vortrefflich war nach meiner Meinung der Religionsunterricht meines Lehrers. Er, der selbst, wie gesagt, Kalvinist war, hat seinen Schüler nur mit Bibel und Gesangbuch aufwachsen lassen unter Zurückstellung aller konfessionellen und dogmatischen Fragen" 20 . Sehen wir davon ab, daß hier von den Unterrichtsmaterialien für einen Schüler im Grundschulalter die Rede ist, nicht davon, welche Bücher ein wiedergeborener Christ brau15 Yvonne Wagner, Prinzenerziehung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zun1 Bildungsverhalten des preußisch-deutschen Hofes im gesellschaftlichen Wandel. Frankfurt a.M. 1995, 147. 16 Der jüngste frontale Angriff stammt von Dieter Schellong, Wie steht es un1 die "These" vom Zusammenhang von Calvinismus und "Geist des Kapitalismus"? Paderborn 1995 (Paderborner Universitätsreden 47). 17 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen 4 1947, 17-206, bes. 104-106, 108-111. 18 Ebd. 84 (Hervorhebung im Original). Siehe auch unten Anm. 42. 19 Cecil, Wilhelm (wie Anm. 11), 20. 20 Wilhelm 11., Leben (wie Anm. 8), 26.

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ehe; sehen wir auch davon ab, daß die Konzentration auf die Bibel eine seit Pestalozzi wieder ganz gängige Grundentscheidung für den Religionsunterricht der Elementarschule war21 • Vor allem ist doch die Attribuierung "Genevan" zum Gesangbuch völlig abwegig. Es ist eine absurde Vorstellung, daß der Erzieher für den Unterricht des künftigen summus episcopus der preußischen Landeskirche statt eines offiziell rezipierten Gesangbuchs 22 nach seinem Gutdünken ein anderes zugrundegelegt haben könnte; und dann auch noch das französischsprachige Genfer Gesangbuch, ob in der Form des aus Calvins Zeit stammenden Genfer Liedpsalters von 1562, an den Cecil vermutlich denkt, oder irgendeiner späteren. Wichtiger als die Frage des Gesangbuches ist jedoch die der angeblich doktrinären, orthodoxen Ausrichtung Hinzpeters, zumal wenn es stimmen sollte, daß Wilhelm II. ihr sein Leben lang anhing23 . Doch auch das scheint mir keineswegs ausgemacht. Gewiß, über die religiösen Anschauungen des Kaisers müßte erst noch viel gründlicher geforscht werden, bis wir uns auf gesichertem Boden bewegen können. Der liberale Theologe Adolf von Harnack schrieb ihm in seiner farbigen Charakterisierung einen "religiöse[n] Besitz" zu, "der orthodox war, aber sein besonderes Gepräge durch soldatische Verkürzungen einerseits, durch romantische Erweiterungen andererseits erhielt" 24 • Doch gerade die Berufung Harnacks auf eine Professur nach Berlin war der deutlichste Beleg für den kirchenpolitischen Schwenk WHhelms li. weg von der unter Wilhelm I. dominierenden orthodoxen Hofpredigerpartei und hin zu einer Förderung auch anderer Richtungen25 . Noch mit weiteren Belegen wäre der Einordnung als orthodox zu widerspre21 Vgl. Gerd Friederich, Das niedere Schulwesen, in: Karl-Ernst Jeismann/Peter Lundgreen (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band 3. München 1987, 123-152, hier 135 f. 22 In diesem Falle also wohl das in Berlin und Brandenburg fast allgemein gültige Berliner Gesangbuch von 1829 {vgl. Ilsabe Seibt, Friedrich Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829. Göttingen 1998, 23, 59 - 61, 64, 207 -214), allenfalls stattdessen die Kernlieder der Eisenacher Kirchenkonferenz von 1854, die ein erstes deutsches Einheitsgesangbuch bilden sollten (vgl. Alexander Völker, Art. Gesangbuch, in: Theologische Realenzyklopädie [TRE]12, 1984, 547-565, hier 557 f.). 23 Vgl. Cecil, Wilhelm {wie Anm. 11), 26 f.: "Willy eventually rejected his mother's theistic views in favor of Hinzpeter's unquestioning orthodoxy, to which he would cling for the remainder of his long life". Vgl. auch Röhl, Wilhelm (wie Anm. 5), 711 f.: "Wir erinnern uns, daß Wilhelm bereits bei seiner Konfirmation eine streng orthodoxe, pietistische Haltung in Religionsfragen eingenommen hatte [ ... ]". 24 Agnes von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, 1951, zitiert nach Christian Simon, Kaiser Wilhelm ll. und die deutsche Wissenschaft, in: Röhl, Ort (wie Anm. 2), 91-110, hier 100. 25 Vgl. Eckhard Lessing, Positive und "liberale" Theologie im Zusammenhang der preußischen Kulturpolitik, in: Joachim Rogge I Gerhard Ruhbach (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Bd. 2, Leipzig 1994, 331-355, hier 348-350.

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chen26 • Aber schon Cecils Beleg, die Kaisennemoiren, sprechen eine ganz andere Sprache. Wilhelm II. schreibt dem Religionsunterricht seines Lehrers zu, daß er in dogmatischen und konfessionellen Fragen eine große Offenheit behalten habe, und bilanziert: "Polemik in der Religion ist mir stets fremd geblieben, und ein Begriff wie das selbstherrliche ,Orthodox' mir bis auf den heutigen Tag ein Greuel'm. Wenn dies also das Ergebnis des Religionsunterricht Hinzpeters war, den der ansonsten so kritische Schüler auch noch als "vortrefflich" qualifiziert, dann stimmt die stereotype Gleichsetzung von Calvinist mit Orthodoxer oder Eiferer28 offenbar nicht. Und damit müßte auch die geradlinige Herleitung der Hinzpetersehen Strenge von seinem Bekenntnis noch einmal überprüft werden. Vor allem müßte geklärt werden, was es denn nun wirklich bedeutet, daß er Calvinist war- wenn er es denn überhaupt war. So wird die folgende Untersuchung drei Fragen behandeln: 1. Was ist, bezogen auf das Preußen des 19. Jahrhunderts, Calvinismus? 2. Was können wir über Hinzpeters religiöse und theologische Prägung erheben? 3. Welche Rolle spielte diese für seine Unterrichtsprinzipien und -methoden? Mit dem vierten und letzten Teil wird dann nochmals Wilhelm II. selbst in den Blickpunkt treten, da zumindest vorläufig zu klären ist, für welche seiner Eigenschaften und Einstellungen die Erziehung durch Hinzpeter verantwortlich zu machen ist- und für welche nicht. Einschränkend muß freilich schon gesagt werden, daß die genaue Charakterisierung Hinzpeters wegen des Fehlens von Vorarbeiten eine schwierige Aufgabe ist. Nur wenige Aufsätze geben halbwegs brauchbare Informationen über sein Leben und Denken29 . Zu seinem Erziehungshandeln hat-trotzder ungünstigen Quellen26 Zu berücksichtigen wären vor allem seine die Orthodoxen im Höchstmaß irritierenden Äußerungen im Babel-Bibel-Streit von 1903; vgl. hierzu Hans Rall, Zur persönlichen Religiosität Kaiser Wilhelms II., in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 95 (1984) 382-394, hier 384 f.; Eckhard Lessing, Religionsgeschichtliche und modernpositive Theologie, in: Rogge!Ru.hbach, Geschichte (wie Anm. 25), 384-401, hier 391- 393; Simon, Kaiser (wie Anm. 24), 103 - 105. 27 Wilhelm 11., Leben (wie Anm. 8), 27. Vgl. auch ebd. 113, wo er die orthodoxe Haltung des Oberhofpredigers Rudoli Kögel kritisch vermerkt. 28 Vgl. die bei Anm. 19 u. 23 zitierten Sätze von Cecil sowie Whittle, Kaiser (wie Anm. 6), 2 9: "Calvinistic zealot". 29 Die Aufsätze von [Friedrich Wilhelm] Vorster, Dr. Georg Hinzpeter, der Lehrer und Erzieher Sr. Majestät Kaiser Wilhelm II. (Ein Beitrag zu seiner Charakteristik), in: Festbuch zum 31. Westfälischen Provinzial-Lehrertag am 1. und 2. Juni 1909 in Bielefeld, Bielefeld 1909, 19 - 29, sowie von Karl Möller I [Friedrich Wilhelm] Vorster, Hinzpeters Stellung in politischer, sozialer, pädagogischer und religiöser Hinsicht, in: XXII. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg, 1908, 51-70, sind eher Nachrufe ohne historische Distanz, deren Angaben mit großer Zurückhaltung betrachtet werden müssen. Etwas zuverlässiger scheint Ftanz Flaskamp, Georg Hinzpeter, ein westfälischer Schulmann, in: Westfälische Zeitschrift 112 (1962) 335-341.

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lage- Yvonne Wagner viel Material zusammengestelltl 0 , eine Untersuchung seines Wirkens nach 1877, besonders seiner Einflüsse als inoffizieller Berater seines friiheren Schülers, steht aber noch aus 31 . Die Annäherung kann daher zunächst nur indirekt erfolgen und muß einen längeren Anmarschweg einschlagen.

I.

Woran denken wir eigentlich, wenn wir von Calvinismus sprechen? Neben Max Weber ist wohl vor allem Ernst Troeltschs Interpretation maßgeblich geworden. Er bestimmte den Calvinismus, gerade im Gegenüber zum Luthertum, durch folgende Punkte: die konsequenter ausgearbeitete Prädestinationslehre, der darauf beruhende (Heils-)Individualismus, das Ideal der heiligen Gemeinde, das die Kirche zum aktiven Träger sozialer Gestaltung machte und dem Leben der einzelnen einen Zug strenger Askese aufprägte, schließlich die größere Affinität zu den modernen Tendenzen im politischen und wirtschaftlichen Leben32 • Es ist durchaus denkbar, daß für Wilhelm II. 1926 bei der Abfassung seiner Jugenderinnerungen dieser Begriff vom Calvinismus leitend war. Allerdings sind nun mannigfache Einschränkungen zu machen. Schon Troeltsch selbst machte deutlich, daß die eben genannten Kennzeichen für den Calvinismus des 16. und frühen 17. Jahrhunderts gelten, nicht mehr so eindeutig für den seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch die Einflüsse von Freikirchenturn und Pietismus umgestalteten Calvinismus. Weiterhin stellte er sehr betont die Verbindung des Calvinismus zum Nationalcharakter in Westeuropa und die des Luthertums zu dem in Deutschland und Skandinavien heraus. Ein deutscher Calvinismus kommt bei ihm nur ganz am Rande in den Blick. Man muß aber wohl noch weiter gehen und grundsätzlich Vorsicht gegenüber dem Begriff Calvinismus empfehlen. Gewiß ist die reformierte Konfessionsfamilie in vielfältiger Weise von der Theologie des Genfer Reformators 3o Vgl. Wagner, Prinzenerziehung (wie An.m. 15), 23-25 (zu den Quellen); vgl. auch dies., Prinzen, Mütter und Erzieher. Zum Bildungsverhalten des preußisch-deutschen Hofes im ,bürgerlichen Zeitalter', in: Archiv für Kulturgeschichte 80 (1998) 351-373. 31 Wenige Hinweise, die praktisch nur seinen Einsatz für seinen ehemaligen Schüler Graf Emil Görtz betreffen, bei Isabel V. Hull, The Entourage of Kaiser Wilhelm II 1888 - 1918. Cambridge 1982, 62 f., 66-68. 32 Vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (= Gesammelte Schriften. Bd. 1). 'Iübingen 1912, 607 -794; als Zusammenfassung ders., Epochen und '!YPen der Sozialphilosophie des Christentums, in: ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionsphilosophie(= Gesammelte Schriften. Bd. 4). 'Iübingen 1925, 122 - 156, hier 142 - 149, sowie als Vorstufe ders., Calvinismus und Luthertum, in: ebd., 254-261.

5 FBPG - NF, Beiheft 5

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bestimmt. Die bei reformierten Theologen selbst nicht gebrauchte Bezeichnung ist aber aus zwei Gründen problematisch. Erstens verwischt sie die vielfältigen Differenzierungen, die die reformierten Kirchen (gerade im Gegensatz zu dem durch ein festes Corpus an Bekenntnisschriften geprägten Luthertum) auszeichnen33 , zweitens suggeriert sie, die Eigenarten des späteren Calvinismus seien schon bei Calvin zu finden. Zum zweiten nur wenige Sätze. Wie schwer es selbst Theologen fällt, Calvin von seiner Wirkungsgeschichte zu unterscheiden, wird aus folgendem Zitat aus einem Vorbereitungsbuch für den Kirchentag 1989 deutlich: "Bekanntlich hat Calvin wirtschaftlichen Erfolg als Maßstab dafür angesehen, ob ein Mensch von Gott erwählt ist" 34 • Es kann offenbar nicht oft genug betont werden, daß diese Aussage bei Calvin in keiner Weise, auch nicht annähernd, zu finden ist. (Sie entspricht im übrigen in dieser Formulierung nicht einmal dem, was Max Weber für den späteren Calvinismus herausgearbeitet hat.) Der sogenannte "syllogismus practicus", der Rückschluß von dem eigenen Leben in der Heiligung au1 den Stand als Erwählter, ist eine erst im 17. Jahrhundert au1kommende Verzerrung der ursprünglichen calvinischen Lehre35 . Man muß sogar noch weiter gehen und feststellen, daß sogar die Lehre von der doppelten Prädestination, Webers Ausgangspunkt, bei Calvin selbst längst nicht die zentrale Rolle spielt wie bei seinem Nachfolger Theodor Beza in Genf und der reformierten Orthodoxie in den Niederlanden und England38 . Auch Calvin hat sie vertreten, aber er wollte keine spekulative Lehre entfalten, sondern die Majestät Gottes unterstreichen. So redet er von "Gottes ewige[r) Anordnung (aeternum Dei decretum), vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte'm. Im Fortgang seines systematischen Hauptwerks schreibt er zwar auch von Zeichen, aus denen man sich der Erwählung versichern kann; aber dabei verweist er den Menschen nicht auf sich selbst, sondern auf Christus als den "Spiegel, in dem wir unsere Erwählung anschauen sollen" 38. Entscheidend ist für Calvin gerade das, was auch den Kern der lutherischen Recht33 Als Überblick für die erste Phase vgl. Olivier Millet, Die reformierten Kirchen, in: Mare Venard (Hg.), Die Geschichte des Christentums. Bd. 8: Die Zeit der Konfessionen (1530 -1620 I 30). Freiburg u. a. 1992, 48 -121; für die theologische Entwicklung Wilhelm Neuser, Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westminster, in: Carl Andresen (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Bd. 2. Göttingen 2 1998, 165-352. 34 Zitiert nach Schellong, "These" (wie Anm. 16), 3. 35 Vgl. Gottfried Hornig, Lehre und Bekenntnis im Protestantismus, in: Carl Andresen (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Bd. 3. Göttingen 2 1998, 71 - 287, hier 91 f.; die Ausführungen von Schellong, "These" (wie Anm. 16), 29-34, sind hier wenig hilfreich, da sie die charakteristische Form des Syllogismus ganz ausblenden. 38 Vgl. Alister E. McGrath, Johannes Calvin. Eine Biographie. Zürich 1991, 267279. 37 Institutio III, 21, 5 (zitiert nach: Otto Weber (Hg.), Johannes Calvin. Unterricht in der christlichen Religion. Neukirchen 2 1963, 619). 38 Institutio 111, 24, 5 (ebd. 652).

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fertigungslehre ausmacht: Daß wir unser Heil nicht uns selbst oder irgendeiner Qualität in uns, sondern allein der Anrechnung der fremden Gerechtigkeit Christi verdanken39 .

Dieser Hinweis ist auch deshalb wichtig, weil im Deutschland des 19. Jahrhunderts eher der authentische Calvin als die nordrechter Orthodoxie rezipiert wurde40 . Doch gilt das schon für die früheren Jahrhunderte. Daß die deutschen Refonnierten keine reinen Calvinisten sind, geht schon aus ihrem Grunddokument, dem Heidelberger Katechismus von 1563, hervoru. Wir finden in ihm Elemente der Theologie Melanchthons, Calvins und sogar Zwinglis. Seine Abendmahlslehre mit dem Begriff des Siegels für die Elemente konnte für vermittlungsbereite Lutheraner durchaus noch akzeptabel sein. Die Prädestinationslehre ist gar nicht thematisiert. So repräsentierten die refonnierten Landeskirchen in der Pfalz, in Nassau, Anhalt und den kleineren Grafschaften von ihrem Entstehen an eine gemäßigte Fbrm des Calvinismus, auch wenn sie sich 1619 den Beschlüssen der nordrechter Synode anschlossen42 . In Brandenburg-Preußen sah die Angelegenheit aber noch einmal anders aus. Als Kurfürst Johann Sigismund sich am 1. Weihnachtstag 1613 im Berliner Dom das Abendmahl nach refonniertem Ritus reichen ließ, da vollzog er damit den Übertritt von der lutherischen zur reformierten Konfession; aber von einem Übergang zum Calvinismus sollte man tunliehst nicht reden43. Die eigenständige Position wird am deutlichsten aus dem grundlegenden Bekenntnis der preußischen Reformierten, der Confessio Sigismundi oder Marchica vom Mai 1614. Sie beruft sich überhaupt nicht auf Calvin, sondern zitiert an neuzeitlichen Theologen allein Luther. Die vier Themen, in denen Differenzen zwischen lutherischer und reformierter Theologie bestanden (Christologie, Taufe, Abendmahl, Prädestination), sind aufgegriffen, aber stark heruntergespielt. Vor allem die Prä39 Die Verbindung mit Luthers Rechtfertigungslehre sieht auch Troeltsch, Soziallehren (wie Anm. 32), 615 f., allerdings mit stärkerer Betonung der Differenzen. 40 Außerhalb Deutschlands wird schon im 19. Jahrhundert in dem von liberalen Ideen erfaßten deutschen "Calvinismus" eine Gefährdung der reinen Lehre gesehen. Vgl. Charles Miller, The Spread of Calvinism in Switzerland, Germany, and Ftance, in: John H. Bratt (Hg.), The Rise and Development of Calvinism. A Concise Histm:y. Grand Rapids 4 1971, 50. 41 Vgl. Neuser, Dogma (wie Anm. 33), 288 -290; Martin Friedrich, Von Marburg bis Leuenberg. Der lutherisch-reformierte Gegensatz und seine Überwindung. Waltrop

1999, 87 f.

42 So auch schon Max Webers richtiges Urteil: "Deutschland bleibt vorerst ganz beiseite, da der reine Calvinismus hier nirgends große Gebiete beherrscht hat. ,Reformiert' ist natürlich keineswegs identisch mit ,calvinistisch'" (Weber, Ethik [wie

Anm. 17], 89 Anm. 1). 43

5•

Auch zum Fblgenden Näheres bei Friedrich, Marburg (wie Anm. 41), 103-109.

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Martin Friedrich destination ist fast ausschließlich nach ihrer positiven Seite entfaltet, die Frage der Bestimmung auch zur Verdammung, die der refonnierten Orthodoxie so wichtig war, ist ganz übergangen. Die brandenburgischen Refonnierten schickten deshalb auch keine Vertreter nach Dordrecht, und die Prädestinationslehre war im Kurfürstenturn kein Streitpunkt der Konfessionen mehr.

Auch wenn Johann Sigismund darauf verzichtete, seinen Untertanen seine Konfession aufzunötigen, so förderten er und seine Nachfolger doch die Ausbreitung reformierter Gemeinden. An allen kurfürstlichen Residenzen wurden Hofprediger eingesetzt, um die sich Gemeinden bilden konnten, so auch 1657 in Bielefeld44 , der Stadt also, in der Hinzpeter aufwuchs. Für die kleine Minderheit war die Verbindung mit dem Fürstenhaus von größter Wichtigkeit, die preußischen Reformierten blieben in besonderer Weise eine staatstragende Schicht45 . Schon deshalb war es auch naheliegend, reformierte Räte und Erzieher einzustellen, seit die Kurfürsten Friedrich WHhelm und Friedrich III. dies in ihren Testamenten empfohlen hatten46 • Wie sehr die reformierte Kirche in Preußen durch die Ansiedlung der Hugenotten seit 1685 ihren Charakter veränderte, das ist leider nur unzureichend erforscht47 • Es ist anzunehmen, daß sie "calvinistischer" wurde, als sie zuvor war. Die Tendenz zum Ausgleich mit den Lutheranern, die bei den deutschen Reformierten seit Beginn des 17. Jahrhunderts stark war, konnte im 18. Jahrhundert noch nicht zum Erfolg führen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten aber Aufklärung und Erweckungsbewegung mit vereinten Kräften die alten konfessionellen Prägungen aufgeweicht, so daß der preußischen Union von 1817 keinerlei Widerstand entgegentrat48 . Erst ab 1830 wuchsen die Vorbehalte gegenüber der Union, aber nur bei den Lutheranern. Ähnlich wie in den Territorien im Südwesten (Nassau, Pfalz, Baden, Rheinhessen), wo zur selben Zeit Unionen zustandekamen, waren auch in Preußen die Reformierten die Hauptträger des Unionsgedankens. Beispiel44 Friedrich Wilhelm Schmidt, Nachrichten aus der Geschichte der evangelisch-refonnierten Gemeinde und der refonnierten Süsterki.rche zu Bielefeld 1657-1957, in: 300 Jahre Evangelisch-refonnierte Gemeinde Bielefeld. 1657-1957, hg. vom Presbyterium. o. 0. u. J., 17-81, hier 17 f. 45 Vgl. Ernst Opgenoorth, Die Refonnierten in Brandenburg-Preußen-Minderheit oder Elite?, in: ZHF 8 {1981) 439-459; Peter-Michael Hahn, Calvinismus und Staatsbildung - Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert, in: Meinrad Schaab {Hg.), Territorialstaat und Calvinismus. Stuttgart 1993, 239-269. 46 Vgl. Richard Dietrich {Hg.), Politische Testamente der Hohenzollern, München 1981, 59. 92. 47 Vgl. nur Michael Beintker, Toleranz und Bekenntnis. Theologische Beobachtungen zur Immigrations- und Religionspolitik Preußens von 1685 bis 1817, in: Johannes Langhoff/Joachim Rogge {Hg.), Immigration und Emigration - die calvinistische Einwanderung und Auswanderung in Mitteleuropa. o.O. 1985, 117-137. 48 Näheres bei Friedrich, Marburg {wie Anm. 44), 141-161.

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haftist der bedeutendste Theologe des 19. Jahrhunderts zu nennen, Friedrich Schleiermacher, der aus der reformierten Kirche stammte, aber die erste Unionsdogmatik verfaßte. Die preußischen reformierten Gemeinden gingen zwar häufig keine Fusion mit den lutherischen Gemeinden ein, aber sie erkannten die Union auf der Ebene der Landeskirche an und gewährten den Lutheranern Abendmahlsgemeinschaft Viel wichtiger als die calvinistische Theologie war ihnen die Verteidigung der Selbstregierung durch Presbyterien und Synoden, die nur unvollkommen gesichert werden konnte (in der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von 1835, die einen Kompromiß zwischen Presbyterial-Synodal- und Konsistorialverfassung darstellt). Der alte Parteiname Calvinisten blieb erhalten, aber echte Calvinisten im Sinne eines exklusiven konfessionellen Bewußtseins und einer Erneuerung der klassischen Prädestinationslehre waren in Deutschland kaum zu finden 49 • Zusammenfassend können wir feststellen, daß man sich unter einem preußischen Calvinisten normalerweise nicht (wie dies die Biographen WHhelms II. fast durchgängig tun) eine Gestalt vorstellen sollte, die geradezu direkt aus dem 16. Jahrhundert in das 19. geraten ist. Naheliegender ist es, an einen Mann zu denken, der die preußische Unionskirche als seine Heimat ansieht und sich dabei keineswegs von den Lutheranern getrennt fühlt; der an der reformierten Tradition festhält, dabei aber eher an eine demokratische Kirchenverfassung denkt, vielleicht auch noch an Schlichtheit in der Liturgie und ein signifikatives Abendmahlsverständnis, aber kaum an die doppelte Prädestination; der sich mit dem preußischen Königshaus eng verbunden fühlt, ohne aber irgendwelche Affinitäten zum Junkerturn zu haben; der vielleicht stärker als andere Zeitgenossen die Haltung der innerweltlichen Askese verinnerlicht hat, ohne diese aber zur Vergewisserung über seinen Heilsstand einzusetzen. Wollte man annehmen, daß der "Calvinist" Hinzpeter von diesem Bild beträchtlich abweicht, dann müßte er eine auffällige Ausnahme darstellen. Daß dies aber nicht der Fall ist, soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden.

n. Hinzpeters Großvater Johann Christian50 war gewiß (im landläufigen Sinn) ein Calvinist. Als Pfarrerssohn 1754 im nassauischen Driedorf gebo49 Man müßte schon an Hermann Friedrich Kohlbrügge denken, der 1846/47 neben den in der Unionskirche bestehenden reformierten Gemeinden eine separierte niederländisch-reformierte Gemeinde gründete; hierzu Wolfgang E. Heinrichs, Freikirchen - eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal. Gießen 1988, 23-166.

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ren, studierte auch er Theologie, zuerst auf der Hohen Schule Herborn, seit ihrer Gründung 1584 eine der stärksten Bastionen des Calvinismus in Deutschland, dann auf der Universität Marburg. Er wirkte als Geistlicher in der seit 1574 reformierten Grafschaft Wittgenstein, zuletzt ab 1806 als Inspektor (Superintendent) in Laasphe. In dem erst seit 1815 preußischen Gebiet wurde die Union von 1817 zurückhaltend aufgenommen. Hinzpeter benutzte bis zu seinem Tode 1822 die reformierten Gottesdienstformulare51 . Sein Sohn, Georgs Vater Friedrich Wilhelm Hinzpeter (1796-1870), kann dagegen kaum noch als reiner Calvinist bezeichnet werden52 • Über sein Studium (Theologie und Alte Sprachen in Marburg und Heidelberg ab 1813) ist nicht mehr allzuviel festzustellen, außer daß beide Universitäten zu dieser Zeit schon keine calvinistischen Hochburgen mehr waren. In Heidelberg gaben der Reformierte Carl Daub und der Lutheraner Friedrich Heinrich Christian Schwarz den Ton an; beide zwar keine unmittelbaren Vorkämpfer des Unionsgedankens, aber beide Theologen, die die traditionellen Unterschiede der protestantischen Konfessionen als inzwischen bedeutungslos ansahen53 . Gegen eine doktrinär calvinistische Ausrichtung von Hinzpeter sen. spricht aber schon, daß er nach dem Examen als Hauslehrer zu Ludwig von Vincke ging, dem ersten Oberpräsidenten der preußischen Provinz Westfalen. Vincke war ein überzeugter Lutheraner, kein Orthodoxer zwar, sondern ein Förderer der Union54 , aber einer, derwohl auch keinen orthodoxen Calvinisten zum Erzieher seiner Kinder gewählt hätte. Friedrich Wilhelm Hinzpeters konfessionell weitherzige Einstellung wird noch viel deutlicher daraus sichtbar, daß er 1823 eine katholische Frau heiratete, die Arzttochter Klara Devens, und daß er sich sogar auf die katholische Trauung einließ. Auch zwei Kinder, Georgs ältere Schwester Eleonora 50 Zur Person vgl. Friedrich Wilhelm Bauks, Die evangelischen Pfarrer in Westfalen von der Reformationszeit bis 1945. Bielefeld 1980, 210 (Nr. 2666). 51 Vgl. Jiirgen Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende in Westfalen. Die Neuordnung des evangelischen Gottesdienstes 1813-1835. Bielefeld 1991, 45. 350. 52 Vgl. die knappen Hinweise bei Flaskamp, Hinzpeter (wie Anrn. 29), 335 f.- Wo keine weiteren Belege gegeben sind, folgen die biographischen Angaben Flaskamps Darstellung. 53 Vgl. Gustav Adolf Benrath, Die Entstehung der vereinigten evangelisch-protestantischen Landeskirche in Baden (1821}, in: Hermann Erbacher (Hg.), Vereinigte Evangelische Landeskirche in Baden 1821-1971. Karlsruhe 1971,49-113, hier 7377 54 Vgl. Friedrich Brune, Der erste Oberpräsident der Provinz Westfalen- Freiherr Ludwig von Vincke und die evangelische Kirche, in: Jahrbuch des Vereins für westfälische Kirchengeschichte 65 (1972) 72 -112; Hertha Sagebiel, Praktischer Protestantismus. Evangelische Grundlagen in Vinckes Lebens- und Berufsauffassung, in: Hans-Joachim Behr I Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen zwischen Reform und Restauration in Preußen. Münster 1994, 407-424.

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und sein jüngerer Bruder Karl, wurden in der katholischen Kirche in Horst/Emscher (heute Gelsenkirchen-Horst) getauft. Warum Georg, der auch in Horst geboren wurde (die Mutter zog sich für die Geburten jeweils in ihr Elternhaus zurück, auch nachdem ihr Mann seit 1824 eine Stelle als Gymnasiallehrer in Bielefeld angenommen hatte), erst nach der Rückkehr evangelisch getauft wurde, darüber kann man nur spekulieren. In jedem Fall dürfte es für seine religiöse Einstellung höchst bedeutsam gewesen sein, daß er einer evangelisch-katholischen Mischehe entstammte. Zu seinen Lebzeiten wurde dies viel mehr diskutiert als sein vermeintlicher Calvinismus, vor allem während des Kulturkampfes, dem Wilhelm II. bekanntlich kritisch gegenüberstand. Wie weit er hierzu durch seinen früheren Lehrer beeinflußt war, ist schwer zu entscheiden. Hinzpeter selbst hat immer beansprucht, daß er für den Katholizismus keine Sympathien hege, sondern daß ihm nur die Geschlossenheit der Katholiken und die vorbildliche Organisation imponiere55 . Die Überzeugung, daß konfessioneller Friede besser sei als ein auf die Spitze getriebener Konflikt, dürfte sich aber ohne weiteres auch schon aus der Familienkonstellation herleiten lassen. Doch zunächst zu Georg Hinzpeters konfessioneller Prägung. Er begann seine ,Karriere' als Calvinist am 3. 11. 1827 mit der Taufe in der lutherischen Marlenkirche in Bielefeld. Der Biograph Flaskamp begründet das damit, daß der Lutheraner Georg von Vincke die Patenschaft übernehmen sollte56 , was mir aber nicht unbedingt einleuchtet; es wäre für den Schüler von Hinzpeter sen. auch ohne weiteres möglich gewesen, in der reformierten Petrikirche Pate zu stehen. So würde ich eher annehmen, daß Hinzpeter sich auch in der lutherischen Gemeinde zuhause fühlte. Aber selbst wenn es stimmt, daß nur die Wahl eines lutherischen Paten die Entscheidung für den Taufort vorgab, dann spricht dies gewiß nicht für eine doktrinär calvinistische Ausrichtung des Vaters. Dennoch wurde die evangelisch-reformierte Gemeinde in Bielefeld die eigentliche kirchliche Heimat der Familie Hinzpeter. Das ist daran abzulesen, daß Georg dort den Konfirmandenunterricht besuchte und 1843 konfirmiert wurde, wie später auch seine jüngeren Geschwister57 . Spätestens 1846 ist der Vater sogar als Ältester der Gemeinde nachweisbar58 . Als Georg Hinz55 Vgl. Möller/ Vorster, Hinzpeters Stellung (wie Anm. 29), 55 f. 69; Flaskamp, Hinzpeter (wie Anm. 29), 341; Wagner, Prinzenerziehung (wie Anm. 15), 145 f. 56 Flaskamp, Hinzpeter (wie Anm. 29), 336; vgl. auch Wagner, Prinzenerziehung (wie Anm. 15), 162. 57 Für Recherchen im Archiv der Ev.-reformierten Petri-Gemeinde Bielefeld danke ich Achim Detmers. 58 Vgl. Schmidt, Nachrichten (wie Anm. 44), 42. - Hier ist der Älteste "Professor Hinzpeter" als der "nachmalige[n] Erzieher Kaiser Wilhelms ll." identifiziert, was natürlich eine Verwechslung ist!

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peter nach seinem Ausscheiden als Prinzenerzieher nach Bielefeld zurückkehrte, schloß er sich der Gemeinde wieder an. Doch ist damit noch nicht gesagt, daß er dort im Sinne eines starren Calvinismus beeinflußt worden ist. Der Vertraute Hinzpeters aus seinen letzten Lebensjahren, der Gemeindepfarrer Vorster, bezeichnete ihn als "treues Glied der reformierten Gemeinde"59, ließ abertrotzseiner längeren Ausführungen über seine religiösen Einstellungen nichts erkennen, was darauf hindeutet, daß dies in einem exklusiven konfessionellen Sinn verstanden werden muß 60 . 1846 begann Hinzpeter sein Studium in Halle. Nach Angabe des Biographen studierte er nur Philosophie, Philologie, Geschichte und Geographie 61 . Berühmte Lehrer in gerade diesen Fächern hatte die unter den preußischen Universitäten nur an dritter Stelle stehende62 Hallenser Universität aber zu dieser Zeit kaum zu bieten; Flaskamp weiß nur den (eher berüchtigten) Historiker Heinrich Leo zu nennen. Hinzpeter muß aber wohl auch Theologie studiert haben. Er übernahm nicht nur später jahrelang selbst den Religionsunterricht bei den Prinzen Wilhelm und Heinrich, sondern vertrat schon nach Examen und Promotion im Schuljahr 1850/51 seinen Vater während einer Krankheit im Gymnasium Bielefeld, und zwar auch im Religionsunterricht63. Dies kann er nach meiner Ansicht nicht ohne fachliche Ausbildung getan haben.

Wenn er also entsprechend der Familientradition ein Theologiestudium aufnahm, dann läßt die Wahl des Studienortes auch Rückschlüsse auf die kirchlich-theologische Einstellung im Hause Hinzpeter zu. Laut Vorster herrschte dort eine "rationalistisch geartete Frömmigkeit aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, die die kirchliche Ordnung und Lehre ehrfürchtig stehen ließ" 64 . Ich muß gestehen, daß ich mit dieser Beschreibung Schwierigkeiten habe. Der Rationalismus war dadurch charakterisiert, daß er die kirchliche Lehre, soweit sie in den Bekenntnisschriften fixiert war, eben nicht stehen ließ, sondern vor dem Forum der Vernunft neu bewertete und 59 Vorster, Hinzpeter (wie Anm. 29), 20. -Zur Person Vorsters (1883 -1913 Pfarrer der refonnierten Gemeinde Bielefeld) vgl. Bauks, Pfarrer (wie Anm. 50), 532 Nr. 6607. 60 Vgl. Vorster, Hinzpeter (wie Anm. 29), 25-28. -Die Ausführungen sagen vermutlich mehr über Vorsters als über Hinzpeters Einstellungen aus, müssen in Ermangelung anderer Quellen aber doch später noch einmal aufgegriffen werden. 61 Vgl. Flaskamp, Hinzpeter (wie Anm. 29), 337. 62 Hinter Berlin und Bonn; vgl. die Angaben zu den Studentenzahlen bei Hans-mrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2. München 1987,514. 63 Vgl. Bericht über das Gymnasium in Bielefeld von Michaeli 1850 bis Michaeli 1851 . . . , Bielefeld o.J., 36.43. 64 Vorster, Hinzpeter (wie Anm. 29), 20. Bei Möller!Vorster, Hinzpeters Stellung (wie Anm. 29), 67, lautet der sonst fast identische Satz: "[ . .. ]scheint die [ . . . ] Frömmigkeit [ . . . ] geherrscht zu haben" .

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teilweise aufgab. So dürfte gemeint sein, daß Hinzpeter sen. die kirchlichen Dogmen nicht offensiv ablehnte, "im Uebrigen aber sittlichen Ernst, Pflichttreue und Tätigkeit als das eigentliche Wesen des Christentums ansah", wie es in der Fortsetzung des Zitats heißt. Doch auch hieran sind Zweifel angebracht. Die Hallenser Theologische Fakultät war die erste in Preußen, in der- mit der Berufung von August Tholuck im Jahr 1826 - der bislang herrschende Rationalismus zugunsten der Erweckungstheologie zurückgedrängt worden war65 • Die Berufungen von Julius Müller 1839 und Hermann Hupfeld 1843 festigten diese Ausrichtung. Zwar wirkte 1846 auch noch der greise Rationalist Wegscheider (1771-1849) in Halle, aber dennoch war die Fakultät (die größte in Preußen) vor allem beliebt bei denjenigen aus Westfalen (und darüber hinaus), die auf eine bekenntnistreue Theologie Wert legten66 . Zudem war 1846 ein Jahr, in dem in der preußischen Landeskirche die verschiedenen Strömungen besonders heftig miteinander rangen 67 . Wenn Hinzpeter gerade in diesem Jahr nach Halle ging und nicht an die in der klassischen Philologie führenden Universitäten Bonn oder Berlin, auch nicht nach Greifswald oder Breslau, wo er (innerhalb Preußens) noch am ehesten rationalistische Theologie hätte kennenlernen können, dann dürfte dies sich dadurch erklären lassen, daß im Hause Hinzpeter eine Offenheit für die von Tholuck repräsentierte Erweckungsfrömmigkeit herrschte. Immerhin war auch Ludwig von Vincke ein entschiedener Anhänger von Tholucks Frühwerk "Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner" von 182368 . Allerdings ist zu beachten, daß in Halle nicht die starre Form der Neuorthodoxie vertreten wurde, wie sie die Evangelische Kirchenzeitung Ernst Wilhelm Hengstenbergs repräsentierte 69 . Tholuck blieb der milden und weitgehend unpolitischen Stimmung der frühen Erweckung treu, als in Berlin mit der Forderung nach einem "christlichen Staat" schon längst eine Verquickung von Christentum und Politik, von Bekenntnistreue und MonarVgl. Ernst Kähler, Art. Halle, in: TRE 14, 1985, 388-392, hier 391. Vgl. Oliver Janz, Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 18501914. Berlin 1994, 156-161. 67 Vgl. Martin Friedrich, Die preußische Landeskirche im Vormärz. Evangelische Kirchenpolitik unter dem Ministerium Eichhorn (1840-1848}. Waltrop 1994, 266 385. 68 Vgl. Sagebiel (wie Anm. 54}, 408 f. ; zu Tholucks bahnbrechendem Werk und zu seiner theologischen Einordnung überhaupt vgl. Gunther Wenz, Erweckte Theologie. Friedrich August Gottreu Tholuck 1799-1877, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Bd. 1. Gütersloh 1990, 251-264, bes. 253256. 69 Zur "Partei der Evangelischen Kirchenzeitung" , zu der auch Ludwig von Gerlach und Friedrich Julius Stahl zu rechnen sind, vgl. Friedrich, Landeskirche (wie Anm. 67), 54-56, 289-292 u.ö. 65 66

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chie vollzogen worden war. Der entschiedenen Bekämpfung aller heterodoxen Tendenzen, wie sie für den Kreis um Gerlach und Hengstenberg charakteristisch war, hat er sich so an entscheidenden Punkten widersetzt70 . Noch wichtiger ist, daß Tholuck an der preußischen Union festhielt, als der Gerlach-Kreis sich zum lutherischen Konfessionalismus gewandt hatte und für eine Zerschlagung der Union arbeitete. Er war Lutheraner, aber er war auch Calvin-Kenner, der Calvins Kommentare zu biblischen Schriften und seine Institutio edierte und sogar letztere als Lehrbuch der Dogmatik empfahl71. Müller und Hupfeld setzten sich noch stärker für die Unterstützung der Union ein; in der Zeit der äußersten Gefährdung der Union im Jahr 1852 war es vor allem ihrem Protest zu verdanken, daß die preußische Landeskirche nicht wieder in drei Blöcke auseinanderbrach72 • Tholuck war im übrigen über seine akademische Tätigkeit hinaus berühmt für seine engen Kontakte zu Studenten, seine Mittwochabendgesellschaften wurden auch von zahlreichen Nichttheologen besucht73 . Zudem wirkte er als Universitätsprediger auf eine große Zuhörerschaft. Selbst wenn Hinzpeter wenig Theologie studiert haben sollte, kann er von Tholucks Einfluß nicht unberührt geblieben sein. Der Punkt ist mir deshalb wichtig, weil ich meine, daß sein Konzept der Erziehung ohne den Einfluß von Tholucks Gedanken nicht zu verstehen ist. Darauf wird gleich noch zu kommen sein. Zunächst jedoch zu Hinzpeters weiterem Studium. 1848 wechselte er nach Berlin, wo er vor allem bei den Koryphäen der Altphilologie, Geschichte und Philosophie studierte (Boeckh, Curtius, Ranke, Ritter, Trendelenburg)74. Laut Vorster soll "auf der Universität" auch "die Schleiermacher'sche Linke [ ... ] auf ihn eingewirkt" haben75 . Auf die Theologische Fakultät kann sich das jedoch kaum beziehen. Die Berliner Systematiker August '1\vesten (Schleiermachers Nachfolger) und Karl Immanuel Nitzsch können der Schleiermachersehen Schule zugerechnet werden, jedoch nicht ihrem linken Flügel76 . Die anderen Theologieprofessoren, Hengstenberg und Strauß, waren orthodox und hatten keinerlei Affinität zu Schleiermacher. Wenn Hinzpeter unter den Einfluß der linken Schleiermacherschule Vgl. ebd., 435; Wenz (wie Anm. 68), 258 f. Vgl. Leopold Witte, Das Leben D. Friedrich August Gottreu Tholuck's. Bd. 2. Bielefeld u. Leipzig 1886, 173 f., 376, 542 f. 72 Vgl. Wilhelm H. Neuser, Union und Konfession, in: Roggel Ruhbach, Geschichte (wie Anm. 25), 29-42, hier 38. 73 Vgl. Witte, Leben (wie Anm. 71), 365 f. 74 Vgl. Flaskamp, Hinzpeter (wie Anm. 29), 337. 75 Vorster, Hinzpeter (wie Anm. 29), 20. 76 Vgl. Friedrich, Landeskirche (wie Anm. 67), passim. 70

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geraten ist, dann muß das durch deren Vertreter in der Berliner Pfarrerschaft geschehen sein. Die beiden hervorragendsten Repräsentanten, Ludwig Jonas und Adolf Sydow, waren beliebte Prediger mit großem Anhang gerade im Bildungsbürgertum77 . Zudem standen sie gerade im Jahr 1848 nicht nur politisch im Rampenlicht (als Abgeordnete der preußischen Nationalversammlung), sondern vor allem auch mit ihrem kirchenpolitischen Engagement für eine vom Staat unabhängige, sich durch Synoden selbst regierende evangelisch-unierte Volkskirche; ein Bestreben, dem Hinzpeter als westdeutscher Reformierter mit Sympathie gegenüber gestanden haben müßte. Als wichtig festzuhalten bleibt jedoch nur, daß von einer soliden theologischen Bildung nicht ausgegangen werden kann. Dokumentarische Belege für Hinzpeter religiöse oder konfessionelle Stellung lassen sich vor seinem Eintritt in den Dienst der Hohenzollern leider nicht finden. Nur ein Punkt muß noch genannt werden, der zumindest eine Einordnung via negationis gibt: seine Anstellungen als Hauslehrer. Zuerst arbeitete er bei der :Familie von Sayn-Wittgenstein, der schon sein Großvater gedient hatte, anschließend beim Grafen von Görtz in Schlitz, der mit einer Schwester der Prinzen von Sayn-Wittgenstein verheiratet war. Sie war eine Pietistin78 und mag- entsprechend ihrer Herkunft aus altem calvinistischem Geschlecht - reformiert geprägt gewesen sein. Ihr Mann war aber ein ganz entschiedener Lutheraner, und zwar von solcher Färbung, daß auf ihn sicher auch das Attribut eines "Orthodoxen" angewandt werden kann79 . Wenn dieser Mann Hinzpeter eingestellt und jahrelang als Erzieher seines Sohnes behalten hat, dann kann der nicht den Eindruck eines kirchlich Liberalen, aber auch nicht eines bekennenden Calvinisten gemacht haben. Eher ist eine (mild) konservative Haltung im Sinne Tholucks anzunehmen, die der Graf von Görtz wohl noch am ehesten akzeptieren konnte. Andererseits war der Kronprinzessin Victoria gerade wichtig, für ihren Erstgeborenen keinen Theologen als Erzieher einzustellen80 . Ich würde das 77 Vgl. Martin Friedrich, "Ich bin dort kirchlicher geworden und doch zugleich viel freier". Adolf Sydow in England und Schottland 1841-1844, in: Jahrbuch für BerlinBrandenburgische Kirchengeschichte 60 (1995) 137 -154; ders., Ludwig Jonas. Ein preußischer Pfarrer als Vorkämpfer des Liberalismus, in: Deutsches Pfarrerblatt 97 (1997) 565-567; Andreas Reich, Ludwig Jonas und Adolf Sydow, Anmerkungen zur Kirchenpolitik der Schleiermacherschüler, in: Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg: Archivbericht Nr. 11, 1998, 33-56 (leider nicht auf dem neuesten Stand der Literatur und voller gravierender Fehler!). 78 Vgl. Röhl, Wilhelm (wie Anm. 5), 156 f. 79 Vgl. G. Chr. Dieffenbach, Lebenslauf des erlauchten Grafen und Herren Carl Wilhelm Heinrich Ferdinand Hermann von Schlitz, genannt von Görtz, Weimar [1885], 8 f. 80 Vgl. Röhl, Wilhelm (wie Anm. 5), 142; vgl. ebd. 146: Der zunächst als Prinzenerzieher vorgesehene Willert war nach Einschätzung Stockmars "das, was das Kron-

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zwar nicht so ausdeuten, daß sie grundsätzlich eine gleichgültige Haltung einnahm, wie Cecil nahelegt 8 \ daß sie aber auf eine nicht von vornherein in engem Sinne konfessionell ausgerichtete Erziehung Wert legte. Für sie wäre wohl ein solcher Lehrer ausgeschlossen gewesen, der es als seine Hauptaufgabe angesehen hätte, den Prinzen zur Annahme eines streng orthodoxen Glaubenssystems zu erziehen. Hier traf sie sich gewiß mit ihrem Mann, der überzeugter evangelischer Christ war82, dabei aber den liberalen Protestantenverein unterstützte, der sich in Opposition zur herrschenden Orthodoxie gegründet hatte83 . Versuchen wir auch dieses Mal zusammenzufassen, was wir über Hinzpeter erheben können. Ich meine, daß die Widersprüchlichkeit, die seine exakte Einordnung schwierig macht, gerade charakteristisch ist. Hinzpeter kann weder ein Exponent der theologischen Orthodoxie noch ein Vorkämpfer des Rationalismus gewesen sein. Er hatte zu dem großväterlichen Calvinismus weitere Traditionen aufgenommen; wahrscheinlich sowohl solche der liberalen Theologie in der Nachfolge Schleiermachers als auch solche der Erweckungstheologie. Eine feste theologische oder konfessionelle Position ist kaum festzustellen. Gerade hierin erweist Hinzpeter sich aber als typischer preußischer Reformierter, der vorrangig am Ausgleich der Gegensätze interessiert war.

m. Welche Rolle hat Hinzpeters Glaube nun für seine Erziehungstätigkeit gespielt? Glauben wir der Literatur, so müßten seine religiösen Überzeugungen schon auf die Erziehungsprinzipien eingewirkt haben. Die sind im übrigen auch besser greifbar als die Erziehungspraxis im Einzelnen, für die kaum Quellen vorliegen. Über seine pädagogischen Grundsätze dagegen hat Hinzpeter gleich mehrfach Rechenschaft abgegeben. Da sind zunächst zwei ausführliche Programme, die von ihm während der Verhandlungen mit dem prinzenpaar wohl suchte: [ ... ] ,entschieden nicht orthodox, aber doch christlich fromm'". - Vgl. auch die Nachricht bei Möller I Vorster, Hinzpeters Stellung (wie Anm. 29), 67, Hinzpeter habe als "freigeistig" gegolten und sei deshalb von der Kronprinzessin eingestellt worden. 81 Vgl. Cecil, Wilhelm (wie Anm. 11), 20. Vgl. dagegen ihre Mahnung, daß das Nachtgebet mit den Kindern nicht zu versäumen sei (Röhl, Wilhelm [wie Anm. 5], 140). 82 So auch schon die Charakterisierung durch seinen Sohn, vgl. Wilhelm II., Leben (wie Anm. 8), 8. 83 Vgl. Claudia Lepp, Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne. Der deutsche Protestantenverein in der Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfes. Gütersloh 1996, bes. 159-162.

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Kronprinzenpaar im Herbst 1866 ausgearbeitet wurden84 . Sie müssen einerseits als die authentischsten Zeugnisse seiner eigenen Überzeugung angesehen werden; andererseits ist anzunehmen, daß sie nicht vollständig umgesetzt werden konnten, sondern durch mündliche Anweisungen von Friedrich III. und seiner Frau modifiziert wurden 85 . Wichtig sind deshalb auch zwei rückblickende Rechenschaftsberichte. Da ist einmal eine "Denkschrift" vom 24. 3. 1877, bestimmt für Friedrich III. 86 . Sie beschäftigt sich grundsätzlich mit der Frage der Prinzenerziehung und bringt nur wenig Konkretes aus der Erziehung Wilhelms. Ferner gibt es eine knappere "Zusammenstellung der Grundsätze, nach welchen die Erziehung S. K. H. des Prinzen Wilhelm von Preußen 1866-77 geleitet worden ist", die Hinzpeter 1891 zum Zweck der Weitergabe an die Erzieher des japanischen Thronfolgers verfaßte87 . Die mit 287 Manuskriptseiten ausführlichste Schilderung der Erziehung, die Wilhelm li. 1889 erhielt und nach seinem eigenen Zeugnis bei der Abfassung der Memoiren benutzte88, ist leider verschollen, wie auch sämtliche Aufzeichnungen aus Hinzpeters privatem Nachlaß. Wenden wir uns daher zunächst dem Text aus dem Jahr 1891 zu, der in der am stärksten systematisierenden Form die Erziehungsziele und -grundsätze wiedergibt. Er formuliert zunächst als allgemeines Ziel eine harmonische Ausbildung einer gesunden Seele in einem gesunden Körper; so daß also der Schüler "ein gesunder, guter, frommer und tüchtiger Mann werde" 89 . Dieses für alle Erziehung gültige Ziel muß aber seine konkrete Ausprägung 84 Archiv der Hessischen Hausstütung, Nachlaß Friedrich III., "Erzieher unserer Kinder I 1865-1874" (unpaginiert). Leider wurden mir diese Dokumente vom Archiv nicht zugänglich gemacht. Ich muß mich deshalb mit den Zitaten bei Röhl, Wilhelm (wie Anm. 5), 153 -155; Wagner, Prinzenerziehung (wie Anm. 15), 148-153, 180 f., begnügen. 85 Hinzpeter erhielt bei seinem Amtsantritt keine schriftliche Instruktion, sondern wurde nur durch mündliche Unterredungen von den Vorstellungen und Wünschen der Eltern unterrichtet. Vgl. seinen Bericht an Kultusminister Althoff vom 24. 9. 1891 (GStA Berlin, I. HA, Rep. 76 I, Sect. 1, Nr. 125, Bl. 18 f.; zitiert auch bei Wagner, Prinzenerziehung [wie Anm. 15], 163 Anm. 26). 86 GStA Berlin, BPH, Rep. 52 J Gen. Nr. 3, Bl. 16-50. Hinzpeter meint wohl dieses Werk, wenn er später von ,.eine[r] Art pädagogischen Testaments" spricht, das er nach der Trennung von Wilhelm II. übergeben habe (vgl. GStA Berlin, I. HA, Rep. 76 I, Sect. 1, Nr. 125, Bl. 19 [s. Anm. 85]). 87 Ebd. Bl. 27 - 35; zuvor ab Bl. 17 die Dokumente zur Veranlassung dieser Ausarbeitung. 88 Wilhelm 11., Leben (wie Anm. 8), unpaginiertes Vorwort. Ihre Existenz wird bestätigt durch den unter Anm. 85 zitierten Brief Hinzpeters. 89 GStA Berlin, I. HA, Rep. 76 I, Sect. 1, Nr. 125, Bl. 27v. Zitiert ist im folgenden immer der ursprüngliche Text, die nachträglichen Korrekturen und Streichungen bleiben unberücksichtigt.- Vgl. auch eine sachlich entsprechende Aussage aus Hinzpeters Erziehungsprogramm von 1866, zitiert bei Wagner, Prinzenerziehung (wie Anm. 15), 152 f.

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erhalten angesichts der künftigen Aufgaben des zu Erziehenden. Es gilt, seinen Geist, Körper und Charakter auf das Königsamt vorzubereiten, das "eine Realität von furchtbarem Ernste" darstellt90 • Die Religion spielt im folgenden nur bei der Erziehung des Charakters eine Rolle, bildet dort aber das Fundament aller Bemühungen. Dies vor allem deshalb, weil die allgemein menschliche Versuchung der Selbstsucht bei einem Regenten besonders gefährlich ist, aber auch besonders fatal wäre. Dagegen gibt es nur ein Heilmittel: "Fürchten und lieben müßte er seinen Gott und Herrn, dem allein er Rechenschaft schulde von seinem Thun, und von dem er Hilfe werde erflehen müssen in seinem so schweren wie hohen Amte" 91 . Dieser kurze Satz erweist sich als wohldurchdachtes, profiliertes theologisch-pädagogisches Programm. Schon in den Eingangsworten fällt auf Anhieb die Nähe zu Martin Luthers Kleinem Katechismus auf. Dort lautet die Erklärung zum ersten Gebot ("Du sollst nicht ander Götter haben"): "Wir sollen Gott über alle Ding fürchten, lieben und vertrauen" 92 . Damit ist zugleich die Grundlage für die Möglichkeit der Erfüllung der weiteren Gebote geschaffen, deren Erklärungen jeweils mit der Formel "Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir [ ... ] " eingeleitet sind. Hinzpeter folgt Luther nicht nur in der Formulierung, sondern auch in der Sache, wenn er von der grundsätzlichen Erfüllbarkeit der Gebote im Vertrauen auf Gott ausgeht. Der Heidelberger Katechismus als das einflußreichste Unterrichtsbuch im deutschen Calvinismus nahm dagegen das Gesetz zunächst nur in seiner Unerfüllbarkeit als Beweis für die Heillosigkeit der Menschen in den Blick, um dann erst im dritten Teil die Einzelgebote unter dem Stichwort der Dankbarkeit der Christen für ihre Erlösung zu behandeln93 . Die Konsequenz einer solchen Auslegung gemäß dem dritten Gebrauch des Gesetzes ist klar: Man muß zuerst zur Annahme des Christentums geführt werden, bevor die Gebote eine positive Bedeutung haben können. Gerade das vertritt Hinzpeter jedoch nicht: Er will (siehe oben) seinen Schüler zu einem "guten, frommen" Mann erziehen, weil die Frömmigkeit im Sinne der Furcht und Liebe zu Gott in der Tat eine Voraussetzung für das Tun der guten Werke darstellt; er will aber nicht den Glauben an die göttliche Heilsordnung und die persönliche Bekehrung zur Voraussetzung dafür machen, daß den Geboten überhaupt ein positiver Sinn abgewonnen werden kann. 90 91 92

506.

GStA Berlin, I. HA, Rep. 76 I, Sect. 1, Nr. 125, Bl. 28v. Ebd., BI. 33r. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Göttingen 8 1979,

93 Vgl. Wilhelm Niesel (Hg.), Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort refonnierten Kirche. Zollikon-Zürich o.J. (3. Aufl.), 150, 170-178.

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Was nach meiner Ansicht der Grundstruktur des lutherischen Katechismus entspricht9 \ könnte natürlich auch ein Ausdruck des theologischen Rationalismus sein. Die Aufklärungstheologie hatte das Wesen des Christentums auf die Trias von Gott, Unsterblichkeit und Moral reduziert. Auch in ihrem Sinne wäre die Anerkennung Gottes eine Voraussetzung für das sittliche Handeln gewesen. Dennoch meine ich, daß Hinzpeters Satz nicht aus dem Rationalismus hergeleitet werden kann. Dagegen spricht die Fortsetzung; weniger der Verweis auf die Rechenschaft im Endgericht (der durchaus mit der rationalistischen Unsterblichkeitslehre vereinbar wäre) als vielmehr schon die Ergänzung "und Herr" zu Gott sowie die Betonung des Bittgebetes am Ende. Beides setzt die Struktur des Kleinen Katechismus fort: Mit der Bezeichnung "Herr" wird der zentrale Mittelteil des Katechismus, die Auslegung des 2. Glaubensartikels, angedeutet95, und damit also die Dimension der Erlösung. Mit dem Gebet folgt das dritte Hauptstück des Katechismus, das notwendig ist, weil nach Luthers Erläuterung im Großen Katechismus auch der Glaubende die Zehn Gebote nicht vollkommen halten kann, so daß es nötig ist, "daß man Gott immerdar in den Ohren liege, rufe und bitte, daß er den Glauben und Erfüllung der zehen Gebot uns gebe" 96 • Schließlich ist mit den letzten Wörtern das hohe und schwere Amt (als künftiger Regent) nicht nur angesprochen, sondern implizit in eine direkte Beziehung zu Gott gestellt. An dieser Stelle war der Ansatzpunkt für eine Thematisierung des Königtums "von Gottes Gnaden", das für Hinzpeter, an dessen monarchischer Gesinnung und Treue zum Hohenzollernhaus es keinen Zweifel geben konnte 97 , zur religiösen Unterweisung gehörte. Die solcherart skizzierte religiöse Erziehung ist also traditionell und hält fest an der reformatorischen Theologie (in eher lutherischer Ausprägung). Sie ist aber dennoch frei von orthodox-neupietistischer Engherzigkeit, die eine Überzeugung von der eigenen Sündhaftigkeit als Grundlage für alles Weitere nehmen wollte, um dann über die Annahme der göttlichen Sühneleistung zur persönlichen Heilsgewißheit vorzustoßen. Mit dieser Haltung war im 19. Jahrhundert meist eine Abkehr von der Welt verbunden, die aber in der Fortsetzung des Erziehungsprogramms gar nicht zu erkennen ist. Im Gegenteil, die Religion gerät kurzzeitig aus dem Blick, obwohl nun noch 94 Auch wenn es nun natürlich anband weiterer theologischer Aussagen Luthers zu differenzieren wäre. 95 Vgl. Bekenntnisschriften (wie Anm. 92), 511: .,Ich gläube, daß Jesus Christus [ ... )sei mein HERR[ ... ]". 96 Ebd. 662. 97 Vgl. Wagner, Prinzenerziehung (wie Anm. 15), 144 f.; F'ranz Ayme, Kaiser WHhelm II. und seine Erziehung. Aus den Erinnerungen seines französischen Lehrers. Leipzig 1898, 121 f.

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einmal die schwierige Aufgabe angesprochen ist, bei dem zukünftigen Regenten eine "kräftig ausgebildete[r] Individualität" und "lebhaften Enthusiasmus für jede Pflichterfüllung" zu verbinden 98 . Die Erziehung soll dazu eine umfassende Charakterbildung leisten: "Was die Menschen Hohes und Heiliges gekannt haben, müßte sie ihm zur Verehrung und Bewunderung zuführen; die erhabensten Gedancken der weisesten Männer, die schönsten Schöpfungen der größten Dichter und Künstler müßte sie seinem Verstand nahebringen" 99 . Hiernach scheinen Bildung und Kunst selbst zu Gegenständen religiösen Verehrung geworden zu sein. Aber die Religion ist nicht auf die für die Eliten auch im ausgehenden 19. Jahrhundert noch bedeutsame Bildungs- und Kunstreligion100 reduziert, sondern die kirchliche Religion erhält ihr eigenes Gewicht: "Und allen solchen wahrhaft fürstlichen Vorstellungen und Empfindungen müßte ein tieffes religiöses Gefühl die höhere Weihe geben; ohne ein solches müßten die Reinheit des Wollens und die Kraft des Handeins [ ... ] stets unerreichbar bleiben. Aber doch wäre andererseits bei seiner Erziehung noch strenger als sonst der Unterschied zwischen Religion und Kirche fest zu halten, da jeder konfessionelle Eifer als jener Selbstverläugnung hinderlich bei einem Beherrscher eines paritätischen Reiches für bedenklich gehalten werden müßte. Auf die Ordnung des Religionsunterrichts sollte deshalb auch. ganze [!] besondere Sorgfalt verwandt und die Bestimmung getroffen werden, daß er im wesentlichen vor der Verpflanzung [auf eine öffentliche Schule, M.F.] durchgeführt sein müßte, damit er ganz nach dem speziellen Bedürfnisse eingerichtet werden könnte. Dieser Unterricht sollte auf der ersten Stufe möglichst undogmatisch und auf der zweiten möglichst unkonfessionell gehalten sein. Einmal sollte dem Prinzen selbst die Möglichkeit gewahrt werden, die christliche Lehre so individuell aufzunehmen, daß sie die Richtschnur seines Lebens würde sein und bleiben können. Und ebenso sollte ihm trotz oder vielmehr neben der festen persönlichen Überzeugung die Freiheit der Anschauung erhalten werden, deren ein preußischer König und deutscher Kaiser bedürfe zu gerechtem Herrschen über sein konfessionell so tief gespaltenes Volk."Ioi

Dieser Abschnitt konnte deshalb so ausführlich zitiert werden, weil er schon Hinzpeters umfangreichste zusammenhängende Äußerung zum Thema der Religion innerhalb seines Erziehungsprogramms darstellt. Er bestätigt zunächst manche Züge seiner religiöser Einstellung, die bis hierhin nur unzulänglich belegt waren; zunächst einmal sein Interesse am konfessionellen Ausgleich, vor allem angesichts des evangelisch-katholischen Gegensat98 99

GStA Berlin, I. HA, Rep. 76 I, Sect. 1, Nr. 125, BI. 33r. Ebd., Bl. 33r-v.

IOO Vgl. hierzu Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918. München 1988, 140 - 142. 101 GStA Berlin, I. HA, Rep. 76 I, Sect. 1, Nr. 125, Bl. 33v (Hervorhebungen im Original).

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zes, der im Schlußsatz vorrangig, wenn nicht gar ausschließlich gemeint ist. Hier macht sich die Herkunft aus einer Mischehe bemerkbar. Aber die "undogmatische" Ausrichtung des Unterrichts ist eben nicht nur pragmatisch-politisch mit dem Wunsch nach Vermeidung von konfessionellen Konflikten begründet, sondern mit noch zwei weiteren Hinweisen. Zuerst damit, daß der "konfessionelle Eifer" auch der "Selbstverläugnung hinderlich" sei. Hierin vor allem wird die antiorthodoxe Stoßrichtung des Erziehungsprogramms deutlich; die Selbstüberhebung der sich auf ihren festen Glauben, womöglich ihr Bekehrungserlebnis berufenden Orthodoxen war ein verbreitetes Stereotyp und wird beispielsweise auch in Wilhelms Memoiren angesprochen 102 . Dieselbe Ablehnung müßte im Übrigen natürlich auch einen "Calvinisten" herkömmlicher Auffassung treffen, der sich in der Überzeugung, zu den Auserwählten zu gehören, der göttlichen Gnade sicher fühlte. Das Stichwort "undogmatisch" scheint besonders auf die "linken" Schleiermacher-Schüler Jonas und Sydow hinzuweisen, für die es geradezu zum theologischen Programmwort geworden war103 . Wenn es hier auftaucht, dann ist es wohl in ihrem Sinn zu verstehen, also als Kampfansage gegen eine die Union untergrabende strikte Verpflichtung auf die konfessionellen Bekenntnisse; nicht in dem späteren Sinne Adolf von Harnacks, wo es auch eine Kritik an der Entwicklung des christlichen Dogmas in der Alten Kirche und am Apostolikum einschloß. Hier hat Hinzpeter offenbar eine Grenze überschritten gesehen 10\ aber zum Orthodoxen muß er damit noch lange nicht geworden sein. Die Rolle, die er der Religion anweist, vor allem auch ihre enge Verbindung mit der Kultur insgesamt, bestätigt tatsächlich die Angabe, daß die Schule Schleiermachers auf ihn eingewirkt hat. Allerdings ist nun auch die letzte Begründung für eine "undogmatische" Gestaltung des Religionsunterrichts zu beachten. Es ist die Überzeugung, daß nur auf diese Weise eine persönliche Aneignung der Religion gewährleistet sei. Die Wichtigkeit dieses Punktes ist dadurch unterstrichen, daß er als einziger aus der gesamten Thematik auch in der Denkschrift von 1877 thematisiert ist: Bei einem Fürsten, der in einer Welt äußeren Scheins lebe, sei die Gefahr besonders groß, die "religiöse[n) Bedürfnisse auf konventionelle Uebungen" zu "reduzieren" 105 . Dem entgegenzuwirken und den Schüler zu 1o2 Vgl. das bei Anm. 27 angeführte Zitat.

Vgl. Friedrich, Landeskirche (wie Anm. 67), bes. 183 f., 315 - 317. Daß er Harnacks Position ablehnte, wird für mich deutlich aus der Aussage bei Vorster, Hinzpeter (wie Anm. 29), 26, daß "ein undogmatisches Christentum" "ihm als ein Unding" gegolten habe. Vorster hatte gerade zuvor von Hinzpeters Überzeugung berichtet, daß "das Glaubensbekenntnis" (doch wohl das Apostolische) "bleiben müßte[n)" . 1os GStA Berlin, BPH, Rep. 52 J Gen. Nr. 3, Bl. 20v. 103

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einer persönlichen Religiösität zu führen, war offenbar in besonderem Maße Hinzpeters Anliegen. Das erklärt auch seine Enttäuschung, als der Konfirmandenunterricht, den er selbst nicht zu verantworten hatte, den Schüler nicht zur Ausformulierung eines wirklich persönlichen Glaubensbekenntnisses führte 106. Die individuelle Aneignung des Glaubens war aber nicht nur bei Schleiermacher, sondern auch in der Erweckungstheologie Tholucks ein wichtiges Ziel. Die wenigen Bemerkungen zur religiösen Erziehung aus dem Rückblick von 1891lassen sich also nicht eindeutig einer theologischen Richtung zuordnen. Sie können sowohl von der liberalen als auch von der erwecktpositiven 107 Theologie hergeleitet werden. Außerdem fehlt die Festlegung, was überhaupt die wichtigsten Gegenstände der religiösen Unterweisung sein sollen. Deshalb muß nun noch eine zentrale Passage aus einem früheren Text Hinzpeters herangezogen werden. Die zweite Denkschrift Hinzpeters vom Februar 1866, mit der er den kronprinzliehen Eltern sein Erziehungsprogramm entwickelte, entsprach in ihrer Struktur anscheinend108 weitgehend dem Text von 1891. Dem Thema der Religion war nur ein ganz knapper Abschnitt gewidmet, der aber wiederum höchst inhaltsreich ausfiel. Geboten werden müsse dem Schüler: "[ ... ]die Anerkennung des Ewigen in alldem Vergänglichen und Veränderlichen [ . . . ] durch innige wahre Religiosität." "Auf dieser muß noch entschiedener gegründet sein die ganze Sittlichkeit, aus deren Gebiet das Fflichtgefühl in dem Fürsten am meisten zu kräftigen ist. Nur das christliche Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit kann dem Fürsten die Energie der Gerechtigkeit, nur das Vertrauen auf eine göttliche Weltregierung ihm die Kraft zum Herrschen geben. " 109

In Übereinstimmung mit dem Rückblick von 1891 wird also auch schon hier entschieden, daß die Religion vor allem der Charakterbildung zu dienen hat. Etwas klarer wird der zugrundeliegende Religionsbegriff. Ich würde bei der Anerkennung des Ewigen im Vergänglichen weniger an Goethe 108 Vgl. Röhl, Wilhelm (wie Anm. 5), 212 f.; Wagner, Prinzenerziehung (wie Anm. 15), 226; zur Sache vgl. auch unten S. 85 f. Das Glaubensbekenntnis ist abgedruckt bei Wilhelm II., Leben (wie Anm. 8), 365-367, bietet in seiner schablonenhaften Fbrm aber in der Tat kaum Anhalt zur Erhellung der religiösen Gedanken des Prinzen. 107 Mit diesem Begriff soll die Theologie Tholucks zunächst versuchsweise charakterisiert werden. Er soll verdeutlichen, daß Tholuck mit seiner Gegnerschaft gegen den Rationalismus sicherlich zu den Wegbereitern der späteren Kirchenpartei der "Positiven Union" gehört, ohne aber ihre strenge Orthodoxie zu teilen. 10a S.o. Anm. 84. 108 Ich zitiere den ersten Satz nach Röhl, Wilhelm (wie Anm. 5), 154, den zweiten und dritten nach Wagner, Prinzenerziehung (wie Anm. 15),148, da mir die beiden Varianten bei Röhl ("entschieden", "herrschen") weniger plausibel vorkommen.

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denken ("Kannst du zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön [ ... ]"), sondern wieder ganz deutlich an Schleiermacher, in dessen "Reden über die Religion" die Wesensbestimmung der Religion darin gipfelt, daß sie "im Menschen nicht weniger als in allen [!] anderen Einzelnen und Endlichen das Unendliche" sehen will 110• Wir können also annehmen, daß Religion für Hinzpeter dasselbe ist wie für Schleiermacher, nämlich zunächst "Sinn und Geschmack für das Unendliche" 111. Dabei teilte er sicherlich auch Schleiermachers Anschauung, daß das Christentum die erhabenste Religion sei. Beide blieben nun aber nicht bei der frühromantischen Bestimmung des Christentums stehen. Für Hinzpeter sollen zwei Glaubensaussagen im Mittelpunkt der religiösen Unterweisung stehen: die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und die göttliche Weltregierung. Ist es weit hergeholt, wenn man beides miteinander als Ausdruck des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen von Gott ansieht, das nach dem vierten Paragraphen von Schleiermachers Glaubenslehre112 das Wesen der Frömmigkeit ausmacht? Mir scheint dies das Verbindende zwischen beiden Aussagen: Die erste drückt die Abhängigkeit des Menschen hinsichtlich seines Heils, die zweite hinsichtlich seines Wohls aus. Der Begriff der Erlösungsbedürftigkeit spielt bei Schleiermacher selbst eine tragende Rolle in der Entwicklung der Sündenlehre113 , der Sache nach auch im Übergang zur Gnadenlehre114 . Der Gedanke der Weltregierung (Schleiermacher favorisiert allerdings den der Erhaltung der Welt) ist sogar in eine direkte Verbindung zur schlechthinnigen Abhängigkeit gestellt115 . Wiederum ist aber festzustellen: Die Sprachgestalt von Hinzpeters Ausführungen scheint auf Schleiermacher hinzudeuten, aber dennoch ist nicht zwingend, daß allein dessen Ansatz für ihn leitend war. Es fehlt nämlich der in Schleiermachers System wichtigste theologische Gedanke, das Bewußtsein der geschehenen Erlösung, das überhaupt erst die Sünde als Sünde er110 Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abt. Bd. 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, Berlin o. J., 211 f . Vgl. auch das Ende der zweiten Rede: "Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenbli.k, das ist die Unsterblichkeit der Religion" (ebd., 247). 111 Ebd., 212. 112 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (Abdruck der 2. Auflage). Bd. 1. Halleo.J., 13 - 19. 113 Wortlieh ist er z. B. in § 71 (vgl. ebd. 324) gebraucht. Zur Interpretation vgl. Christine Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher. 'llibingen 1996, 269 f . 114 Vgl. Schleiermacher, Glaube (wie Anm. 112), Bd. 2, 1-5 (§ 86). 115 Vgl. ebd., Bd. 1, 190-199 (§ 46).

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kennbar macht und und damit auch zur Erkenntnis der Bedürftigkeit der Erlösung führen kann 116 . Die Vorordnung der Erlösungsbedürftigkeit vor der schon geschehenen Erlösung verweist dagegen stärker auf Tholuck und Müller, für die das "Sündenbewußtsein [ ... ) das konstruierende Prinzip der theologischen Inhalte darstellt" 117 . Dem entsprach in orthodox-neupietistischen Kreisen eine Pädagogik und Seelsorge, die (wie auch heute noch bei Evangelisationen nicht unüblich) zuerst die Verlorenheit des Menschen, sein Ausgeliefertsein an Sünde und Tod, in den schwärzesten Farben malte, um dann die Bekehrung zu Christus und damit die Rettung anzubieten. Angesichts des späteren Ausgehens von der Erfüllbarkeit des Gesetzes (s.o. S. 78) ist zwar unwahrscheinlich, daß Hinzpeter die völlige Verfallenheit auch des natürlichen Menschen an die Sünde in solcher Radikalität gelehrt haben sollte; aber auffällig ist schon, in welch isolierter Stellung die Erlösungsbedürftigkeit hier auftritt. Belegt ist auch, daß Prinz Wilhelm sich im Dezember 1866, also wenige Monate nach der Aufnahme des Unterrichts durch Hinzpeter, intensiv mit der Frage des Todes beschäftigte118 . Möglicherweise deutet das auf eine verstärkte Thematisierung von Sünde und Tod im Rahmen des Religionsunterrichts. Zur Seite gestellt ist der Erlösungsbedürftigkeit allerdings doch die göttliche Weltregierung, das alte Lehrstück von der "providentia Dei", das in der Aufklärungstheologie besonders geschätzt worden war, aber auch schon im klassischen Calvinismus eine große Rolle spielte. Nach Hinzpeters Plan sollten sich offenbar beide Aspekte ergänzen bzw. gegenseitig korrigieren: Die Betonung der Erlösungsbedürftigkeit sollte verhindern, daß die Vorsehung Gottes in der Manier des Rationalismus nur zur Bestätigung der natürlichen Kräfte und Neigungen des Menschen diente. Umgekehrt sollte die Betonung der göttlichen Weltregierung einer Abwertung der Welt als Jammertal und einer einseitigen Ausrichtung auf das Jenseits vorbeugen. Dazu hatten beide Lehrstücke natürlich auch ihren jeweils positiven Sinn: Die Erkenntnis seiner Erlösungsbedürftigkeit sollte dem Prinzen den Ernst seiner Aufgabe verdeutlichen und ihn, der auch einmal vor seinem Richter Rechenschaft ablegen müßte (s.o. S. 78), zur Übung der Gerechtigkeit befähigen, das Vertrauen auf Gottes planmäßiges Handeln in der Welt ihn entlasten von der letzten Verantwortung und ihm damit gerade die Freiheit zum eigenen Herrschen eröffnen. Alle Aspekte (Abhängigkeit und Freiheit, Jenseits und Diesseits, Gesetz und Evangelium) sollten also gleichmäßig ausbalanciert sein. Vgl. Axt-Piscalar, Freiheit (wie Anm. 113), bes. 299-301. Vgl. ebd., 6-140 (Zitat 23). 118 Vgl. den Brief der Kronprinzessin Victoria an ihre Mutter vom 7. 12. 1866 (Rager Fulford [Hg.], Your Dear Letter. Private Correspondence of Queen Victoria and the Crown Princess of Prussia 1865 - 1871. London 1971, 111. 116 117

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Trotzdem ist die Problematik des Ansatzes nicht zu übersehen. Der größte Fehler in der eklektischen Konstruktion liegt wohl in der Abzweckung der religiösen Unterweisung zur Förderung der Sittlichkeit. Damit ignorierte Hinzpeter Schleiermachers Mahnung, daß die Religion ihre "eigne Provinz im Gemüthe" behalten müsse 119 . Anstatteine persönliche Frömmigkeit aufzubauen, die von dem Bewußtsein der geschehenen Erlösung getragen war, instrumentalisierte er die religiösen Begriffe, um "das Pflichtgefühl [ ... ] zu kräftigen" 120 . Ob hier die calvinistische Prädestinationslehre in ihrer verzerrten Form oder nicht doch viel eher der Einfluß Kants nachwirkt, kann wohl offenbleiben. Entscheidend ist, daß die Erlösungsbedürftigkeit wie das Vertrauen in die göttliche Weltregierung ohne das Fundament des Erlösungsbewußtseins in der Luft hängen mußte und zur hohlen Phrase werden konnte, eine Konsequenz, die schon in dem Konfirmationsbekenntnis seine Bestätigung findet 121 . Ferner konnte das Gleichgewicht der Aspekte dadurch gestört werden, daß beide nicht auf derselben Ebene angesiedelt waren. Die Erlösungsbedürftigkeit betraf das ewige Heil, hatte innerweltlich dagegen keine zentrale Bedeutung. Damit konnte der Vorsehungsglaube sich doch wieder verselbständigen und zum Schlüssel einer sich auf die persönliche Erwählung und Leitung durch Gott berufenden Weltanschauung werden. Daß diese Gefahr eingetreten ist, soll im letzten Abschnitt kurz gezeigt werden.

Bevor nun gefragt werden kann, welche Auswirkungen die (religiöse) Erziehung für die Entwicklung von Wilhelm Il. gehabt hat, ist wieder eine wichtige Einschränkung zu machen. Was Hinzpeter tatsächlich im Religionsunterricht behandelt hat, wissen wir nicht. Nur dank weniger Nachrichten sind indirekte Rückschlüsse auf den Unterrichtsstoff möglich (s.o. S. 84). Ebenso schwer greifbar sind die weiteren Einflüsse aus dem Elternhaus und den besuchten Gottesdiensten. Was gut dokumentiert ist, ist der Konfirmandenunterricht. Hierzu liegt ein 237 Blatt umfassendes Manuskript 122 vor, in dem- anscheinend durch Prinz Wilhelm selbst- der gesamte Unterrichtsstoff im Vorlesungsstil niedergeschrieben ist. Es konnte im Rahmen dieser Skizze nicht ausgewertet werden. Allerdings ist zu beachten, daß der Konfirmandenunterricht gerade nicht unter der Verantwortung des Erziehers stand. Gisevius behauptet dies zwar, wenn er IJ9 12o 121 122

Schleiennacher, Reden (wie Anm. 110), 204. S.o. S . 82. S.o. Anm. 106. GStA Berlin, BPH, Rep. 53, A. ll. Nr: 4.

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schreibt: ,.Deshalb entschloß sich der um das Seelenheil besorgte Mentor [scil. Hinzpeter], die Freiheit eines Christenmenschen, des 12- bis 17jährigen, dadurch zu garantieren, daß er die religiöse Erziehung gleich zwei Geistlichen, einem Liberalen und einem streng Orthodoxen, anvertraute" 123 . Es gehört aber schon viel Blindheit dazu, Hinzpeter hierfür verantwortlich zu machen, wo Gisevius' einziger Beleg, Hinzpeters eigene Schilderung in dem Büchlein zur Thronbesteigung WHhelms li., eigentlich jedem Unbefangenen zeigt, daß er diesen Wechsel mißbilligtel24. Der Wechsel geht, wie auch Röhl und Wagner bereits festgestellt haben 125, auf ein Machtwort von Wilhelm I. zurück. Hinzpeter hatte einen einfachen Prediger als Konfirmator favorisiert und die Eltern Wilhelms li. hatten daraufhin den liberalen Potsdamer Prediger Persius ausgewählt, aber der alte Kaiser verlangte kategorisch den Unterricht durch einen Hofprediger. Zu ergänzen ist, daß er dazu vom Oberhofprediger Kögel angestachelt wurde, der als Hyperorthodoxer Persius ablehnte, aber vor allem auch den Unterricht als sein eigenes Privileg beanspruchte126• Es war wohl schließlich ein Kompromiß, daß Persius nicht von Kögel, sondern von dem etwas milderen Hofprediger Heym abgelöst wurde.

Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, daß damit zu rechnen ist, daß das Erziehungsprogramm Hinzpeters und der Eltern von anderer Seite her konterkariert werden konnte. Auch in anderen Fällen klagte der Erzieher darüber, wie seine Erziehung zu Disziplin und Verantwortungsgefühl unterlaufen wurde durch den Großvater, der das Kind unbedingt zu militärischen Ehren führen wollte 127 . Dieser Punkt kann wohl kaum überschätzt werden. Dennoch kann man an einigen Stellen klar die Wirkung der religiösen Erziehung feststellen. In manchen religiösen Vorstellungen ist der kaiserliche Schüler deutlich im Bann seines Erziehers geblieben. Das betrifft z. B. die Abendmahlslehre, also diejenige theologische Frage, an der die Reformation in zwei Flügel zerfallen war und die bis in unser Jahrhundert die größten Probleme im Prozeß der Wiederannäherung von Lutheranern und Reformierten machte. Hier hatte Hinzpeter sich wirklich als Calvinist erwiesen und seinem Schüler eine reformierte Deutung vermittelt, der WHhelm II., wie Hans Rall gezeigt hat, bis in die Exilszeit anhing128 . Die exe123

Gisevius, Anfang (wie Anm. 7), 49.

m Vgl. G[eorg] Hinzpeter, Kaiser Wilhelm li. Eine Skizze nach der Natur gezeich-

net. Bielefeld 1888, 6: ,.Die Kirchenlehre wurde ihm geraume Zeit von einem liberalen und dann nach plötzlichem Wechsel von einem streng orthodoxen Geistlichen vorgetragen. Die gefürchtete Verwirrung der Begriffe trat keineswegs ein [ ... ]". Gisevius zitiert nur den letzten und die folgenden Sätze, der erste Satz soll wohl durch seinen oben wiedergegebenen Satz paraphrasiert worden sein. 12s Vgl. Röhl, Wilhelm (wie Anm. 5), 210-212; Wagner, Prinzenerziehung (wie Anm. 15), 224 f. 128 Vgl. Friedrich Nippold, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte. Bd. 5. Leipzig 3 1906, 575 f. 127 Vgl. Wagner, Prinzenerziehung (wie Anm. 15), 184.

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getische Entdeckung, daß von der aramäischen Urfassung der Einsetzungsworte die Streitfrage zwischen Luther und Zwingli (ob es "Das ist mein Leib" oder "Das bedeutet meinen Leib" heiße) gar nicht zu entscheiden sei, brachte ihn dann zu dem Urteil, daß die ganze Trennung der beiden protestantischen Konfessionen damit hinfällig werde. Das Interessanteste ist nun aber das, was weder der Exilskaiser selbst noch Rall bemerkt zu haben scheinen: Daß die Abendmahlsvorstellung, wie Wilhelm II. sie in zwei Sätzen zur Überwindung des konfessionellen Streits präsentierte, der calvinischen sehr nahe kam und jedenfalls nicht lutherisch war. Er legte wie der Genfer Reformator Wert auf die Realpräsenz Christi, sah die Abendmahlselemente aber doch nur als Symbole für die Gegenwart und hielt am Gelöbnischarakter der Mahlfeier fest. Es war keine wirkliche durchdachte Lösung, die Wilhelm II. bot, aber sie entsprach im Ansatz der von Calvin schon zur Überwindung der innerprotestantischen Spaltung versuchten Vermittlung129 . Dies kann auch noch einmal Hinzpeters konfessionelle Position verdeutlichen: Er war in einigen Einzelfragen gewiß der calvinistischen Tradition treu geblieben, verstand dies aber nicht im Sinne einer Gegenposition gegen das Luthertum, sondern setzte alles daran, den Ansatz Calvins entsprechend dessen eigener Intention zur Vertiefung der konfessionellen Gemeinschaft einzusetzen; damit wieder ein typischer deutscher Reformierter. Den (wenn auch noch so dilettantischen) Versuch des Doorner Privatiers, die Einheit von Lutheranern und Reformierten zu befördern, kann man so als eine charakteristische Konsequenz des in der Kindheit genossenen Religionsunterrichts werten. Hier trug offensichtlich die undogmatische, überkonfessionelle Ausrichtung Früchte. Wie seinem Lehrer lag auch Wilhelm II. daran, Gegensätze auszugleichen und zwischen Extrempositionen zu vermitteln. Das betraf nicht nur die zwischen Lutheranern und Reformierten, sondern auch die zwischen Katholiken und Protestanten und innerevangelisch die zwischen Orthodoxen und Liberalen. In seinem kirchenpolitischen Handeln steuerte er einen gemäßigten Kurs und bestätigte die Ankündigung seines Lehrers, daß er "zum obersten Bischof der Kirche [ ... ] sehr wohl geeignet, zum Parteihaupt sehr wenig" vorbereitet sei 130 . Man kann wohl sogar noch weiter gehen und behaupten, daß die Neigung zum Ausgleich von Gegensätzen, die Wilhelm II. immer wieder auch auf anderen Feldern an den Tag legte, eine Frucht des Religionsunterrichts sein kann. Der Überkonfessionalität entsprach die Überparteilichkeit, die er im-

129

Vgl. Rall, Religiosität (wie Anm. 26), 385. Zu Calvins Abendmahlslehre vgl. z. B. Friedrich, Marburg (wie Anm. 41), 66-

130

Hinzpeter, Kaiser (wie Anm. 124), 7.

12a

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mer wieder beanspruchte. Insofem kann von einer positiven Wirkung der Erziehung Hinzpeters gesprochen werden, die den Kaiser in besonderer Weise befähigte, sich zum .,Herm der Mitte" zu stilisieren 131 . Daß er ebensowenig wie sein Lehrer (bzw. noch weniger) befähigt war, tragfähige Vermittlungsmodelle auszuarbeiten, steht auf einem anderen Blatt. Wie weit die geistigen Fähigkeiten des Kaisers bei einer besseren Ausbildung noch hätten ausgebaut werden können, muß uns hier nicht vorrangig interessieren. Selbst wenn Hinzpeter hier versagt haben sollte, wird man das nicht seiner religiösen Überzeugung anlasten können. Wesentlich ist aber, daß das Ergebnis der Charakterbildung, bei der doch gerade die Religion positive Wirkungen haben sollte, den Erzieher später schwer enttäuschte132. Hier allerdings wird man kaum umhin können, ihm selbst eine Mitverantwortung dabei zuzuschreiben. Die negative Eigenschaft, die am allgemeinsten bei Wilhelm II. erkannt wurde, war die Überheblichkeit und Selbstüberschätzung. Sie war aber offensichtlich nicht bloß ein unerklärlicher Charakterfehler, sondem stand in direktem Zusammenhang mit einer religiösen Anschauung; nämlich mit einer besonders gefärbten Überzeugung des eigenen Gottesgnadentums 133. Hier ist nun nicht die Frage, wie weit ein Herrschen von Gottes Gnaden mit dem modemen Konstitutionalismus überhaupt noch in Einklang zu bringen ist. Daß es zwischen dem Anspruch des Kaisers und der Aufgabe, die ihm die Verfassung zuschrieb, Spannungen geben mußte, ist einsichtig. Doch sollte das nicht dazu führen, den Gedanken des Gottesgnadentums von vornherein als Überspanntheit abzutun. Wenn heutige Betrachter das tun, verkennen sie, daß sich hierin eine Haltung ausdrückt, die Regenten in Europa jahrhundertelang gerade zu einer vorbildlichen Pflichterfüllung bewegt hat. Richtig ist aber wohl, daß bei Wilhelm II. der ursprüngliche Gedanke nur noch in verzerrter Form lebendig war. Das Gottesgnadentum, das von allen seinen Vorfahren der Kurfürst Friedrich Wilhelm I. wohl am reinsten verkörperte, war getragen von seinem Erwählungsglauben 134. Der gab ihm tatsächlich das, was Hinzpeter für Wilhelm II. auch noch anstrebte, nämlich die .,Energie der Gerechtigkeit" und die .,Kraft zum Herrschen" (s.o. 131 Vgl. Sombart, Wilhelm (wie Anm. 3), 132 Vgl. die Belege bei Röhl, Wilhelm (wie Anm. 5}, 158, 186, 213 f. u.ö. 133 Eine ganze Reihe von Zeugnissen für seine Rede vom Gottesgnadentum sind zusammengestellt bei Gisevius, Anfang (wie Anm. 7), 74-78; Dirk von Pezold, Cäsaromanie und Byzantinismus bei Wilhelm n. Diss. Köln 1972, 87-92. 134 Vgl. die überzeugende Analyse bei Wolfgang Gericke, Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur Preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld 1977, 36-39.

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S. 82). Der Große Kurfürst war eine religiöse Persönlichkeit, die von der Überzeugung der ihm zuteilgewordenen Erlösung lebte, die sich unter der besonderen Führung Gottes wußte, daraus aber in erster Linie die Konsequenz der Dankbarkeit zog und sich im übrigen bemühte, der Verantwortung für das zeitliche Wohl wie ewige Heil der Untertanen nachzukommen. Bei Wilhelm II. dagegen ist das Gottesgnadentum zur Phrase verkommen. Zwar spricht auch er von der Rechenschaft, die er seinem Schöpfer schulde135 , nimmt also das auf, was er wohl im Unterricht gelernt hat. Aber viel zahlreicher und auch verräterischer sind die Äußerungen, die das Gottesgnadentum als eine besondere Auszeichnung werten, die ihn qualitativ über andere Menschen erhebt. Was in Hinzpeters Intention der für Monarchen so gefährlichen Selbstsucht vorbeugen sollte, erwies sich gerade als Quelle der Selbstsucht. Es ist nicht völlig sicher, daß Hinzpeters Erziehung allein diese verhängnisvolle Weichenstellung bewirkte. Abgesehen von der Frage, wie weit ein organisches Leiden der Persönlichkeitsstörung des Kaisers zugrundelag136 , ist wohl auch eine Verstärkung der Selbstüberschätzung durch die militärischen Ehren anzunehmen, mit denen Wilhelm schon als Kind überhäuft wurde 137 . Der Knabe, der durch seine eigenen Leistungen wenig Bestätigung erlangte, suchte sie sich lieber dort, wo sie leicht zu haben war, auf dem Feld des äußeren Scheins, den Hinzpeter gerade bekämpfen wollte138 . Das Ideal der Pflichterfüllung sowie die Demut, die für Hinzpeter Ergebnis der religiösen Erziehung sein sollten, sind dagegen bei Wilhelm II. kaum festzustellen. Wie gesagt, es gäbe gute Gründe, Hinzpeters Verantwortung für die Fehlentwicklungen in der Persönlichkeitsbildung seines Schüler herabzusetzen. Aber letztlich entgehen kann er ihr nicht. Zwar gibt es keinen Grund zur Annahme, daß er aufgrund einer lebensfremden und im Grunde menschenfeindlichen Dogmatik seinen Schüler mit Gewalt verzogen habe. Gerade im Religionsunterricht hat Wilhelm II. eine ganze Menge gelernt, was er in seinem späteren Leben verwenden konnte. Er hat aber nicht genau das gelernt, was er lernen sollte. Daß er später in der Lage war, sich Stücke aus der genossenen Glaubensunterweisung herauszubrechen, um damit sein übersteigertes Selbstbild zu bestätigen, und daß er die Punkte, die nach Hinzpeters Plan (der die Gefahren genau voraussah) diesem falschen Gebrauch vorbeugen sollten, ohne weiteres ignorieren konnte, das hat gewiß auch mit den beschriebenen UnausgeglichenheUen in Hinzpeters theologischem Pro135 136 137 138

Vgl. Pezo!d, Cäsaromanie (wie Anm. 133), 88 f. So die These von Röhl, s.o. Anm. 4. S .o. S . 86 (bei Anm. 127). Vgl. Wagner, Prinzenerziehung (wie Anm. 15), 148 f.

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gramrn zu tun. Er fügte Bausteine zusammen, ohne ausreichend zu prüfen, ob sie auch wirklich zueinander paßten. So komme ich zum Fazit: Nicht daß Hinzpeter Calvinist war, war verhängnisvoll, sondern daß er ein schlechter Theologe war.

Wilhelm n. und der Protestantismus Von Klaus Erich Pollmann In den ersten Wochen nach seiner Thronbesteigung im Juli 1888 wurde Kaiser Wilhelm li vor eine Entscheidung gestellt, die von richtungweisender Bedeutung war. Sollte er der Berufung des Marburger Kirchenhistorikers Adolf von Harnack an die theologische Fakultät der Berliner Universität zustimmen oder aber den Kabinettsbeschluß der preußischen Regierung zurückweisen?1 Harnack wurde der Ritschlianischen Schule zugerechnet, die eine freiere Auffassung in dogmatischen Fragen vertrat. Harnack hielt die Zuordnung einiger neutestamentlicher Schriften zu ihren angeblichen Verfassern nicht für verbürgt, hatte Zweifel an der historischen Faktizität der Wundergeschichten des Neuen Testaments und an der Jungfrauengeburt Jesu angemeldet. Das hatte der Evangelische Oberkirchenrat (EOK) in zwei Stellungnahmen moniert, die sein ablehnendes Votum zu der Berufung Harnacks begründeten. Der EOK, das oberste Leitungsorgan der altpreußischen Landeskirche, mußte gehört werden, soweit es sich um Berufungen auf die Professuren der theologischen Fakultäten an den preußischen Universitäten handelte, die dem preußischen Staat schon vor 1866 angehörten. Gewiß konnte sich der Kultusminister über das Votum der EOK hinwegsetzen, doch war eine Berufung gegen die Meinung der Leitung der Landeskirche schon ein spektakulärer Vorgang. Von besonderer Brisanz war dieser Akt aber für den Monarchen. Denn dieser hatte zu entscheiden, wem er letztlich folgen wollte: der Staatsregierung, die er berufen hatte und von seinem Vertrauen abhing, oder aber dem obersten Organ der Landeskirche, der er als Summus Episcopus vorstand.

Begonnen hatte dieser Berufungsvorgang mit dem Antrag der theologischen Fakultät bereits zu Lebzeiten Wilhelms I., im Dezember 1887. Ob der alte Kaiser sich dem Wunsch des Kultusministers ohne weiteres gebeugt hätte, ist zweifelhaft. Anders sein Nachfolger, Friedrich III., der dieser Berufung aus voller Überzeugung zugestimmt hätte, wenn er länger gelebt hätte. Wilhelm li. war nun der dritte Monarch, auf den diese Angelegenheit, die in den Medien erhebliche Wellen schlug, zukam.

1

A. von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, Berlin 1936, 156 ff.

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Wilhelm erbat sich zunächst eine weitere Rückäußerung des EOK, der an seinen zuvor im Mai 1888 vorgetragenen Bedenken festhielt. Das brachte den Kultusminister Goßler aber nicht von seinem Berufungsvorschlag ab. Kaiser Wilhelm II. hat daraufhin die Ernennung Harnacks unverzüglich vollzogen. z Diese Berufung war von weittragender Bedeutung. Denn an diesem Mann sollten sich die Geister der Landeskirche auch in Zukunft scheiden, vor allem bei dem sogenannten Apostolikumsstreit von 1892, als Harnack in seiner Vorlesung die Ersetzung des Apostolikums durch ein kurzes, weniger anstößiges Bekenntnis empfahl und diesen Standpunkt in der kirchlichen Presse verbreitete. 3 Harnack war aber auch führend an der Gründung des Evangelisch-sozialen Kongresses beteiligt und trat später an die Spitze dieses bedeutendsten Forums des Sozialprotestantismus. 4 Seine Schrift vom "Wesen des Christentums", erstmals 1899 I 1900 veröffentlicht, erreichte eine Auflagenzahl wie kaum eine andere theologische Veröffentlichung.5 Er wurde Direktor der Königlichen Bibliothek in Berlin und zwei Jahrzehnte später Gründer der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Zum zweihundertjährigen Jubiläum der Preußischen Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied er 1891 geworden war, hat er eine umfangreiche Geschichte dieser Gelehrten-Vereinigung geschrieben. 6 Seine vielfältigen Aktivitäten hatten Harnack mehrfach in die Nähe des Kaisers gebracht. Dennoch wäre es nicht zutreffend, wenn man Wilhelm II. mit diesem herausragenden liberalen Theologen und Repräsentanten des Kulturprotestantismus identifizieren würde. Die Zustimmung zu der Harnackschen Berufung nach Berlin ließe sich gewiß auch als Zeichen realistischer Einschätzung der Kräfteverhältnisse erklären. Denn der Kaiser wäre in den ersten Wochen seiner Regentschaft einer Machtprobe mit dem Reichskanzler Bismarck, der sich voll an die Seite des Kultusministers Goßler gestellt hatte, gewiß nicht gewachsen gewesen. Allerdings deutet die Bemerkung: "Ich will keine Mucker", sofern sie verbürgt ist, 7 daraufhin, daß Wilhelm sie auch innerlich mittrug.

2

3

Ebd., 169 ff. Ebd., 190 ff.

4 K. E. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1890, Berlin 1973, S. 107 ff. s A. von Hamack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1900. 6 A. von Hamack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 3 Bde. , Berlin 1900. 7 Zahn-Hamack, Adolf von Harnack (wie Anm. 1} 171.

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Die Distanzierung von den "Muckern" wäre, soweit sie zutrifft, bemerkenswert. Denn ein knappes Jahr zuvor hatte sich der junge Kronprinz selber in solchen Kreisen bewegt. Er fühlte sich von den christlich-sozialen Ideen Adolf Stöckers, dem Gründer der Berliner Stadtmission und Führer der antisemitisch geprägten Berliner Bewegung, angezogen. 8 Der volkstümliche Prediger und populistische Volksredner Stöcker erschien ihm gar wie ein neuer Luther. Die Berliner Bewegung Stöckers bildete ein kleinbürgerliches Sammelbecken für die konservative Partei und die orthodoxen Kirchenparteien der Berliner Stadtsynode. Die politische Brisanz der Nähe des Kronprinzen zur Berliner Bewegung wurde noch dadurch gesteigert, daß Bismarcks Intimfeind und Gegenspieler, der spätere Generalstabschef Alfred Graf von Waldersee, sich dem Kronprinzen näherte und diesen für einen Versammlung von einflußreichen Hochkonservativen gewann. Ziel dieses Treffens war die Förderung der Arbeit des Stadtmission weit über die Hauptstadt hinaus. Es war unvermeidlich, wenn nicht sogar beabsichtigt, daß sich an die "Walderseeversammlung" vom 27. 11. 1887 9 solche politischen Spekulationen knüpften. Hier schien sich eine politische Alternative zum damaligen Kartellreichstag, dem Bündnis zwischen Nationalliberalen und den beiden konservativen Parteien, zu formieren, bei denen die Interessen der extremen Konservativen gemäß deren Wahrnehmung unzureichend berücksichtigt wurden. Es ist keine Frage, daß sich der junge Kronprinz hier instrumentalisieren ließ und daß er die Tragweite seines Handeins nicht voll überblickte. Jedoch ist nicht zu leugnen, daß er großes Interesse für die Stöckersehe innere Missionsarbeit zeigte und die Rückgewinnung der der Kirche entfremdeten Massen als seine monarchische Sendung verstand: "Mich beseelt persönlich ja nur der so oft ausgesprochene Wunsch Sr. Majestät, die irregehenden Volksmassen durch gemeinsame Arbeit aller guten Elemente jeden Standes und jeder Partei auf dem Gebiete christlicher Tätigkeit dem Vaterland wiederzugewinnen",10 wie er in seinem Rechtfertigungsschreiben an den Reichskanzler Otto von Bismarck schrieb. Er hat diese Haltung auch nach seinem Regierungsantritt bewiesen, so z. B. bei dem demonstrativen Empfang der streikenden christlichen Bergbauarbeiter während des Arbeitskampfes im Ruhrbergbau oder bei seinen Erlassen von Februar 1890, als er 8 W: Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich-soziale Bewegung, 2. Aufl., Harnburg 1935; G. Brakelmannl M. Greschat!W. Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Harnburg 1982; K. E. Pollmann, "Adolf Stoecker", in: G. Heinrich (Hg.), Berlinische Lebensbilder. Theologen, Berlin 1990,231-247. 9 J. C. G. Röhl, Wilhelrn II. Die Jugend des Kaisers 1859 - 1888, Darmstadt 1993, 715 ff. to Ebd., 724.

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die staatstragenden Kräfte, nicht zuletzt die Kirchen, aufforderte, an der Wiedergewinnung der an die gottlose, umstürzlerische und eigentumsfeindliche Sozialdemokratie verlorenen Arbeiterbevölkerung für Monarchie, Staat und Kirche mitzuarbeiten. Diesen Auftrag leitete Wilhelm II. aus dem Gottesgnadentum seiner monarchischen Stellung ab, das nicht zwischen weltlichen und christlichen Aufträgen unterschied. Das verband ihn mit den orthodox-hochkirchlichen Kirchenführern um die Hofprediger Kögel und Stöcker, wenn er sehr bald auch den letzteren fallen ließ und sich später schroff von den christlich-sozialen Gedanken distanzierte, bis hin zu der völligen Kehrtwendung im Jahr 1896 (" christlichsozial ist Unsinn"). 11 Reichskanzler Bismarck lehnte das kronprinzliche Engagement für die christlich-soziale Bewegung nicht nur wegen der damit verbundenen Unterstützung eines politischen Rivalen strikt ab, sondern wegen eines anderen "protestantischen" Verständnisses des preußischen Königtum. Der "christlich-soziale Gedanke", so ließ Bismarck den übernächsten Thronfolger 1888 wissen, sei als Waffe der Krone gegen Sozialdemokraten und andere Demokraten "denkbar ungeeignet". Priester können dabei viel verderben und wenig helfen; die priesterfrommsten Länder seien die revolutionärsten. 12 Der evangelische Priester sei, so Bismarck, ebenso zur Theokratie geneigt wie der katholische, so bald er sich stark genug dazu fühle. Wilhelm hat sich von den Bismarckschen Vorhaltungen nicht umstimmen lassen. Der Bruch zwischen dem späteren Kaiser und Kanzler war programmiert, die Entlassung Bismarcks zu Beginn des Jahres 1890 vorgezeichnet. Was die sachliche Analyse des Kanzlers betrifft, so ist Wilhelm ihr später in beträchtlichem Maße gefolgt, nachdem auch er an dem theokratisch-sozial-agitatorischen Auftreten evangelischer Pfarrer Anstoß zu nehmen begann. Der preußische König war zugleich Summus Episcopus der altpreußischen Landeskirche, 13 eine Stellung, die zunächst eine Schutzherrschaft bedeutete, aber auch in den Bereich geistlicher Rechte übergriff, wie etwa die Genehmigung der Agende, der Ordnung für Gottesdienste, kirchliche Sakramente und Feiern. Das landesherrliche Kirchenregiment war in der Reformationszeit entstanden und hatte sich seitdem behauptet. H Im modernen Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment (wie Arun. 4) 261 ff. Röhl, Wilhelm ll. (wie Anrn. 9) 727 ff. 13 Ausführlicher dazu: K. E. Pollmann, Das landeskirchliche Kirchenregiment unter Wilhelm ll., in: A. Doering-Manteuffel u. K. Nowak (Hg.), Religionspolitik in Deutschland. Martin Greschat zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1999, 165-176. 14 0. Hintze, Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen, in: 0. Hintze, Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechtsund Sozialgeschichte Preußens, hg. u . eingeleitet von G. Oestreich, 2. Aufl. Göttingen 1967,56-96. 11

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Verfassungsstaat war diese Vorrangstellung des Monarchen in der evangelischen Kirche ein Fremdkörper. Mit der Revolution von 1848 schien die letzte Stunde des landesherrlichen Kirchenregiments geschlagen zu haben. Niemand anders als der preußische König Friedrich Wilhelm IV. selbst sah diese monarchische Prärogative als überholt an und hielt nach geeigneten Händen Ausschau, in die er die Befugnisse des Summus Episcopus legen konnte. Gefunden freilich hat er diese nicht. Damit war die Chance zu einer Reform der preußischen Landeskirche mit dem Ergebnis der Beseitigung des landesherrlichen Kirchenregiments verpaßt. Zwar ist dieses tragende Grundelement der Kirchenverfassung in der Folgezeit immer wieder in die Schußlinie geraten, und zwar von ganz verschiedenen Richtungen und Konzeptionen her, doch hat sich diese monarchische Stellung in der Landeskirche letzten Endes durchgesetzt. Die Inhaber des landesherrlichen Kirchenregiments haben die Prioritäten und landeskirchlichen Leitungsmaximen sehr unterschiedlich definiert. Wilhelm I. bekannte sich zur Unionsverfassung der preußischen Landeskirche und war auf deren Erhaltung bedacht. Auf dem Boden dieser Union war aber nach seiner Meinung nur für die bibel- und bekenntnistreuen Kirchenangehörigen Platz. Die Anhänger eines freieren Bekenntnisses, vor allem die Mitglieder des liberalen Protestantenvereins, hat er nicht akzeptiert. Sie kamen für ihn weder für ein Pfarr- noch ein Synodenamt in Frage, von einer Berufung in ein kirchenregimentliebes Amt ganz zu schweigen.15 Die Kirchenpartei der Konfessionellen, die in Fragen des Bekenntnisses orthodox war, stand ihm dabei fraglos näher als der Protestantenverein, obwohl sie zur Union ein gespanntes Verhältnis hatte und mit ihrer schroffkonfessionalistischen Einstellung eine Gefahr für den inneren Frieden der Union darstellte. Hier geriet der König zweifellos in einen Widerspruch zu seiner Maxime der unbedingten Wahrung der Union. Wilhelm I. hatte dabei auch keine Scheu, innerkirchliche Krisen etwa bei Gelegenheit der Berufung eines liberalen Predigers in ein Pfarramt, in den politischen Raum zu übertragen, da für ihn Symptome des grassierenden Unglaubens Vorboten des drohenden Verfalls und von Auflösungserscheinungen in der Gesellschaft waren. In einem konkreten Vorfall ging er dabei so weit, daß er auf einer personellen Veränderung in der Zusammensetzung des EOK bestand, andernfalls mit der Niederlegung der Krone drohte. 16 Wilhelm I. hatte in die 1875 verabschiedete Kirchenverfassung nicht zuletzt deshalb eingewilligt, um seinen liberalen Sohn auf diese Ordnung fest15 B. Satlow, Wilhelm I. als "Summus episcopus" der altpreußischen Landeskirche: Persönlichkeit, Frömmigkeit, Kirchenpolitik, Diss. Theol. Halle 1960. 16 Ebd., 284 ff.

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zulegen. Der Kronprinz Fried.rich, der auf sich und seine Gattin bei seinem Herrschaftsantritt ein Glaubensgericht zukommen sah, der bei dem Wort Hofprediger einen physischen Ekel verspürte, 17 hätte seine Sympathien für die kirchlichen Liberalen einschließlich des Protestantenvereins gewiß nicht verhehlt. Ob er diesem einen festen Platz in der Landeskirche hätte einräumen können, muß letztlich offen bleiben. Allerdings hätte das nicht nur schwere Spannungen in der Landeskirche erzeugt, sondern auch die Gefahr der Sezession der orthodoxen Parteien auslösen können. Sehr viel entschiedener noch als seine beiden Vorgänger hat Wilhelm TI. der Landeskirche seine höchstbischöflichen Direktiven vorgeschrieben. Anlaß dazu war der Wechsel im Amt des EOK-Präsidenten von Ottomar Hermes auf Friedrich Barkhausen zu Beginn des Jahres 1891, also nur wenige Jahre nach der Thronbesteigung Wilhelms II. 18 Den Hintergrund für die Direktiven, die Wilhelm TI. am 25. 2. 1891 dem EOK-Präsidenten auferlegte, bildeten die starken innerkirchlichen Spannungen der letzten Jahre, von denen bereits die Rede war. Zuletzt waren die Provinzialsynoden des Jahres 1890 von massiven Auseinandersetzungen und heftigen Attacken auf das landesherrliche Kirchenregiment geprägt. Ferner kam der sich immer mehr verstärkende Eindruck hinzu, daß die geschichtlich gewordene Kirche der alten Landesteile den Aufgaben der Jetztzeit nicht gewachsen sei, wie es Kultusminister Goßler kurz zuvor dem Kaiser gegenüber geschrieben hatte. 19 Das oberste Ziellautete nun nicht mehr wie 1878: Aufrechterhaltung des positiven Bekenntnisses und Schutz vor dem Eindringen der Irrlehren in die Landeskirche, sondern die Bündelung aller kirchlichen Kräfte "ohne Ansehen ihres konfessionellen oder kirchenpolitischen Parteistandpunkts". Deshalb müsse dem "unseligen Parteigetriebe" in der Kirche sowie den Stagnationserscheinungen in seiner Leitung ein Ende bereitet werden. 20 Damit war offenbar die Selbstblockade der gegensätzlichen kirchenpolitisch-theologischen Richtungen in den obersten Behörden gemeint, mit Männern wie dem Oberhofprediger Kögel oder dem Generalsuperintendenten Brückner auf der einen und den Theologieprofessoren Dorner und von der Goltz auf der anderen Seite. Das war nicht nur eine substantielle Kursveränderung gegenüber den Maximen Wilhelms, sondern auch gegenüber seinen kron-

17 E. Foerster, Adelbert Falk. Sein Leben und Wirken als Preußischer Kulutsminister dargestellt aufgrunddes Nachlasses unter Beihilfe des Gen. d. In:f. Adalbert von Falk, Gotha 1927, S. 466. 18 Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment (wie An:m. 4) 19 ff. 19 Goßler an Wilhelm II., 17. 2. 1891, ebd., 21. 20 Deutsch-Evangelische Kirchenzeitung, 7. u. 12. 2. 1898.

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prinzlichen Vorstellungen zur Zeit der Walderseeversamrnlung. Gleichzeitig brachte er die Landeskirche auf einen mittelparteilichen Kurs und damit die zur Zeit von Bismarcks Kanzlerschaft vorherrschende Richtung, die zunächst auch die Regierung Caprivi 1890 bestimmte. Die zweite Hauptaussage war geeignet, die Sammlungsbestrebungen wiederum in Frage zu stellen: Wilhelm TI. verlangte, und zwar als erster Monarch, die unbedingte Wahrung der "Prärogative als höchster Landesbischof" und die Zurückweisung aller darauf zielenden Angriffe. Die Wahrung seiner höchstbischöflichen Stellung sei die Voraussetzung für die Erhaltung des Ansehens der evangelischen Kirche und - nicht unbedingt zwingend- für die Bekämpfung der sozialen Umsturzbestrebungen, wozu Wilhelm II. die Kirche ein Jahr zuvor energisch aufgefordert hatte. Beide Ziele erwiesen sich als unvereinbar; denn die Vorkämpfer der Christlichsozialen mit Stöcker und Lic. Weber an der Spitze waren nicht gewillt, sich an das Tabu der höchstbischöflichen Rechte Wilhelms II. zu halten. Für Stökker blieb der Monarch zwar, auch nach der schroffen Absage gegenüber dem christlich-sozialen Prinzip, jeglicher Kritik entzogen. Das gelte aber nicht für die Maßnahmen des Summus Episcopus, die also keineswegs als Bestandteil des Königsamtes angesehen wurden. In einem weiteren Punkt knüpfte der Kaiser an die Ansichten Wilhelms I. an: das Ziel der "organischen Angliederung der Kirchenkörper der neuen Provinzen .. . bei freiwilligem Zusammenschluß". Der zuvor von Bismarck kompromißlos abgelehnten Zielperspektive widersprach auch jetzt der Kultusminister entschieden, wie aus einer Textentschärfung Goßlers zu ersehen ist. 21

Die Vereinigung aller Kräfte werde der (gesamt)preußischen Landeskirche die Macht erteilen, die es ihr erlaube, ihre Stellung gegenüber der römisch-katholischen Kirche zu behaupten. Der nach der Beilegung des Kulturkampfes aufs neue, wenn nicht zur Rückkehr zum Grundsatz der Parität, so doch zur Rücksichtnahme auf die katholische Kirche verpflichtete Monarch forderte als Kirchenoberhaupt seine Landeskirche zu einer gegen den Katholizismus gerichteten kraftvollen Selbstbehauptung auf. Auch diese unterschiedliche Akzentuierung der aus der monarchischen Stellung in Staat und Kirche abzuleitenden Grundsätze erwies sich in der Praxis als schwer haltbar. Was daraus für die Einstellung des Monarchen zum Katholizismus zu folgern ist, soll weiter unten näher erörtert werden.

21 Kultusminister von Goßler hatt den folgenden Satz gestrichen: "als ersten Schritt [ ... I. daß die k:irchenregimentllichen Funktionen des Kultusministers auf den Präsidenten des EOK übergehen". Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment

(wie Anm. 4) 20.

7 FBPG - NF, Beiheft 5

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An diese Direktiven haben sich der Evangelische Oberkirchenrat ebenso wie die Konsistorien der Provinzen peinlich und konsequent gehalten. Seitdem ist kein Mitglied in die Kirchenbehörden, niemand zum Generalsuperintendent oder Superintendent oder in eine Provinzial- oder Generalsynode berufen worden, der in dieser Hinsicht auch nur zu dem geringsten Zweifel Anlaß gab. Die Stellung des Inhabers des landesherrlichen Kirchenregiments war zum Tabu erklärt worden. Es war nicht nur der "alleruntertänigste Gehorsam", der den führenden Repräsentanten der Landeskirche die unbedingte Beachtung des kaiserlichen Machtworts nahelegte. Vielmehr war den führenden Vertretern der Landeskirche bewußt, daß es keinen stärkeren Rückhalt für sie geben konnte, als den Landesherrn in möglichst großem Umfang in die praktische Kirchenpolitik einzubinden. Sie versprachen sich davon eine Vergrößerung der landeskirchlichen Handlungsmöglichkeiten und die Garantie für einen mittleren, auf Ausgleich zwischen den auf dem Boden der Unionsverfassung stehenden Richtungen bedachten Kurs, allerdings um den Preis des Diskussions- und Kritikverbots in Bezug auf ein zentrales Verfassungsproblem. Schon das allein war langfristig für das Ansehen der altpreußischen Kirchenleitung eine Belastung. Diese wurde umso gravierender, wenn der Monarch als Staatsoberhaupt, erst recht aber in seiner höchstbischöflichen Stellung seine Autorität zu verspielen drohte. Was das letztere betrifft, kann man Wilhelm II. eine bemerkenswerte Gradlinigkeit und Konstanz bescheinigen, ganz im Gegensatz zu seinen politischen Handlungen und Reaktionen. Die große Ausnahme ist das berühmte, vom Freiherrn von Stumm veröffentlichte Kaisertelegramm: "christlich-sozial ist Unsinn", 22 das nicht nur den Stöcker-Anhang vor den Kopf stieß, sondern große Teile der preußisch I deutschen Pfarrerschaft irritierte, ohne sie doch in ihrer monarchischen Loyalität erschüttern zu können. Eine solche bereitwillige Verpflichtung auf die vom Landesherrn vorgegebenen Grundlinien hätte ferner einen uneingeschränkten Zugang des EOKPräsidenten beim Kaiser vorausgesetzt. Zwar hat die oberste Kirchenbehörde den Monarchen regelmäßig ausführlich informiert und jeweils die erforderlichen Befehle, z. B. zur Anberaumung und Genehmigung der Tagesordnung der Generalsynode, den Personalvorschlägen oder den vorgelegten Kirchengesetzen, eingeholt. In einer größeren Zahl von Fällen geschah dies auch in persönlichen Audienzen. Aber solche Audienzen mußten über den Chef des Geheimen Zivilkabinetts erwirkt werden, was im Laufe der Zeit in abnehmender Tendenz erfolgte. Ein offener Gedankenaustausch, erst recht ein kontroverser Dialog ist offenbar zu keiner Zeit geführt worden. So hat der EOK im Zusammenhang mit der Neubesetzung der Präsidentenstelle 22

Ebd., 261 ff.

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nach dem Tod von Barkhausen 1903 von sich aus die Ziele der landesherrlichen Kirchenpolitik in der Annahme vorgegeben, "daß es zur Zeit nicht in der Absicht seiner Majestät liegt, in der ... bisher eingehaltenen Richtung eine grundsätzliche Änderung eintreten zu lassen" .23 Die Berechenbarkeit des Kaisers in kirchenpolitischen Fragen erleichterte dem EOK gewiß die kontinuierlich angelegte Kursbestimmung, ersetzte aber nicht das Engagement, das sein Großvater bis zur offiziell angekündigten Demissionsabsicht bewies. 24 Wilhelm II. pflegte engere Kontakte zum Oberhofprediger Dryander, selbst Mitglied des EOK, doch darf man den anderen Mitgliedern dieses Leitungsorgans einschließlich des Präsidenten eine solche Nähe nicht unterstellen. Das machte den EOK ängstlich und übervorsichtig und provozierte wiederholt den Vorwurf des Byzantinismus. Die Beendigung des Kulturkampfes im Verlauf der achtziger Jahre sowie die seit den neunziger Jahren gesteigerte Unentbehrlichkeit der Zentrumspartei zur Gewinnung einer Gesetzgebungsmehrheit im Reichstag im Sinne der Reichsregierung nötigten den Kaiser zu einer konzilianten Einstellung gegenüber der katholischen Kirche. Das fiel Wilhelm II. grundsätzlich nicht schwer, auch wenn er sich gelegentlich anders verhalten hat. Die Autoritätsverhältnisse und der Stellenwert der Tradition imponierten ihm ebenso wie die Bedeutung der Symbole und des Ritus. In bezug auf ihre straffe Organisation konnte der die katholische Kirche in einem Atemzug mit der preußischen Armee nennen. 25 Sein Ziel der inneren Gewinnung der Katholiken war sicher kein bloßes Lippenbekenntnis. Allerdings brachte ihn die Absicht, keinen Unterschied zwischen den Konfessionen zu machen, in Konflikt mit seiner Rolle als höchster Bischof der evangelischen Landeskirche. Denn diese erwartete vom Inhaber des landesherrlichen Kirchenregiments eine eindeutige Parteinahme zugunsten des Protestantismus. Das gilt auch für den Evangelischen Oberkirchenrat, der sich sonst mit allen Stellungnahmen von politischer Brisanz tunliehst zurückhielt, von dem kämpferisch-antikatholischen "Evangelischen Bund zur Wahrung deutsch-protestantischer Interessen " 26 ganz zu schweigen. Bei mehreren Gelegenheiten, so etwa aus Anlaß der Veröffentlichung der Canisius-Enzyklika durch den Heiligen Stuhl, 1897, des von der Zentrumspartei gestellten Toleranzantrags oder der politischen Auseinandersetzung Evangelisches Zentralarchiv, Berlin, Präs. 7 I 12 ff. Satlow, Wilhelm I. als "summus epicopus" (wie Anm. 15) 140 f. 2s M. Buchner, Kaiser Wilhelm II., seine Weltanschauung und die Deutschen Katholiken, Leipzig 1929, S. 124. 2& K. E. Pollmann, Weltanschauungskampf an zwei Fronten. Der Sozialprotestantismus 1890 - 1914, in: J.-C. Kaiser und W. Loth (Hg.), Soziale Reformen im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart 1997, 72 - 78. 23

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um die Aufhebung des § 2 des Jesuitengesetzes, - jedesmal nahm der ECKPräsident in deutlicher Sprache gegen die "Anmaßungen" und hypertrophen Ansprüche der katholischen Kirche Stellung. In den Kreisen des Protestantismus entstehe der Eindruck, "daß dem Staate gegenüber Rom Alles erreicht, die evangelische Kirche aber machtlos sei", 27 so die gewiß zutreffend beschriebene Gefühlslage in breiten Kreisen des Protestantismus. Die bei einer eventuellen Verabschiedung des Toleranzgesetzes zu erwartende Rechtslage würde zur Auflösung der evangelischen Landeskirchen führen. Der EOK legte mit diesen Verlautbarungen auch den Landesherrn fest, der die Kirchenbehörde gewähren ließ, sei es aus innerer Übereinstimmung, sei es, weil er den offenen Widerspruch in der konfessionellen Polemik vermeiden wollte. Der EOK nahm dabei im wachsenden Maße die Sprecherrolle des evangelischen Deutschland, im Vorgriff auf den Zusammenschluß der evangelischen Landeskirchen unter der altpreußischen Führung, der Schaffung einer evangelischen Konföderation, in Anspruch, für die ihm der Monarch in seinen Direktiven den Weg vorgezeichnet hatte. Dieses Ziel war seit 1890 nicht vom Fleck gekommen. Nun aber, im Zuge neu entfachter Kulturkampfgesinnungen in beiden konfessionellen Lagern, beschwor der EOK offensiver den geschichtlichen Beruf Preußens als protestantische Vormacht in Deutschland. Dieser verlange den Schulterschluß zwischen Staat und Kirche unter dem monarchischen Schutz der zu einem Zusammenschluß mehr und mehr bereiten Landeskirchen. Im Jahr 1901 hatte Wilhelm II. es als Ziel seines Lebens erklärt, die Einigung der evangelischen Kirchen Deutschlands herbeizuführen. 28 Die starke Annäherung zwischen dem landesherrlichen Kirchenregiment und dem (national)liberalen Protestantismus war eine Voraussetzung dafür, daß die Landeskirche die vorübergehende Erschütterung durch die Fälle Jatho undTraubin den Jahren 1911 und 1912 doch relativ bald überwinden konnte. 29 Die Schaffung des Spruchkammerverfahrens sollte gerade der "Ketzerriecherei" der Orthodoxie das Wasser abgraben. Daß das disziplinarisch-formalistische Verfahren dennoch so hohe Wellen schlug, trotz der Beteiligung eines Adolf von Harnack an der Spruchkammer, zeigt die Erregbarkeit der Zeitstimmung und das geringe Ansehen der bürokratischen Kirchenbehörden in der Publizistik und den kulturellen Eliten. Auch hier suchte und fand der EOK bei allen Maßnahmen die förmliche Zustimmung des Kaiser, der die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, einschließlich der Theologie, im Jahr 1902 untermauert hatte.30 Er hat das zugleich auf die Freiheit der Weiterbildung der 27 Stellungnahme des EOK vom 30. 10. 1901: Evangelisches Zentralarchiv Berlin, Präs. ll., 46, I. 28 Buchner, KaiserWilhelmii. (wieAnm. 25) 33. 29 EOK-Präs. an den Kaiser, 26. 6. 1911 u. 27. 8. 1912: ebd. 30 Ebd., 33.

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Religion ausgedehnt, gestützt auf die Unterscheidung zweierlei Arten der Offenbarung: eine fortlaufende, gewissermaßen historische, und eine rein religiöse, auf die spätere Erscheinung des Messias vorbereitende Offenbarung! So hat es Wilhelm II. im Zuge des bekannten Babel- und Bibelstreits an Admiral Rollmann geschrieben. 31 Mit solchen Vorstellungen entfernte sich der Kaiser einen Schritt weit von der biblizistischen Orthodoxie, ohne indes zu einem liberalen Glaubensverständnis im Sinne der Ritschlianischen Theologie vorzudringen. Im Zeichen des Kampfes um die Weltmärkte erhielt die protestantische Sendungsidee einen weiteren politischen Bedeutungsgehalt. Ausdruck der religiösen Weihe der kaiserlichen Expansionspolitik mit dem Ziel der Erweiterung der deutschen Einflußsphären war die Palästinareise im Jahre 1898. Während des Besuchs wurde die Erlöserkirche Jerusalem eingeweiht, aus welchem Anlaß der Kaiser unter den Klängen des Psalmwortes: "Siehe Dein König kommt zu Dir" in die Altstadt einritt. 32 Im Gegensatz zu dem schlichten Luthertum Wilhelms I., der die Absetzung "ungläubiger" Prediger aus den Reihen des Protestantenvereins für seine Gewissenspflicht hielt, ist die Religiosität Wilhelms II. äußerlicher. Sie findet ihren Gefallen an der Ausgestaltung der Gottesdienste und der kirchlichen Inszenierung der großen nationalen Feiern. Auch im höfischen Zeremoniell wurde von Wilhelm II. die Gottesdienste in stärkerem Umfang eingereiht. Der königliche Prunk der Gottesdienste wurde in der liberalen Presse ebenso kritisch kommentiert wie die teure Ausstattung der KaiserWilhelm-Gedächtniskirche oder des 1905 eingeweihten neuen Doms.

Der religiöse Geist am Hofe wurde nicht unwesentlich von dem neuen TYpus von Hofprediger, geprägt. Läßt sich ein größerer Gegensatz denken als der zwischen Rudolf Kögel, dem Anführer der gegen den liberalen Oberkirchenrat in streng orthodoxem Sinne frondierenden Hofpredigerpartei und dem mittelparteilichen, theologisch wenig profilierten Ernst von Dryander, dem die Funktionen am Hofe und in der Kirchenleitung nur so zuflogen: Hof- und Oberhofprediger, Domprediger, Erzieher der Kaisersöhne, Mitglied, schließlich Geistlicher Vizepräsident des EOK, Leiter des Domkandidatenstifts, zuvor schon Generalsuperintendent der Kurmark, Mitglied des Herrenhauses. Dabei hatten die höfischen Pflichten stets den Vorrang. Die schwierige Aufgabe der kurmärkischen Generalsuperintendentur mußte wie selbstverständlich hinter die Prinzenerziehung zurückstehen. Und das zweitwichtigste Amt im EOK in der Nachfolge des profilierten Theologen Eduard von der Goltz fiel weniger dem bewährten Kirchenführer als dem Vertrauensmann des Kaisers zu. Dryander traf in perfekter Weise den höfi31 32

Ebd., 26 f. E. von Dryander, Erinnerungen aus meinem Leben, Bielefeld 1922, 221.

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sehen Ton. Die Einheit von Thron und Altar, von Staatsgewalt und Kirchenregiment, von imperialem Auftrumpfen und der Idee des Friedenskirchenregiments, -dies alles ging für Dryander noch fugenlos zusammen. Der Eindruck der biegsamen Anpassung gegenüber den veräußerlichten höfischen Tendenzen wurde auch durch den starken Anteil der Hofkreise an den kirchlichen Aktivitäten wie etwa dem Evangelischen Kirchenbauverein für Berlin geweckt, die die Gesellschaft im kaiserlichen Deutschland tief spaltete. Sowohl die Sammlungsmethoden als auch die prunkvolle Kirchenausstattung wurden von dem linksliberalen Publizisten Helmut von Gerlach in den entlarvenden Titel gekleidet: Wie man in Byzanz Kirchen baut! 33 Königstreue und Patriotismus galten als religiöse 'fugenden, die aus den politischen Tagesauseinandersetzungen herausgehalten werden mußten. Das galt - und zwar nahezu für den gesamten Protestantismus, einschließlich der Kirchenbehörden- für die uneingeschränkte Identifikation mit den nationalpolitischen Zielen, vor allem im "Kampf gegen den Polonismus", der zudem mit dem konfessionellen Gegensatz zusammenfiel. Das nationalpolitisch aufgeladene Wort vom märkischen Sande, auf dem der Kampf zwischen dem Protestantismus und dem Katholizismus entschieden wurde, machte in der Landeskirche, auch bei den Kirchenbehörden, die Runde. Im Zeichen der Einheit von Thron und Altar ist die große Mehrheit der Mitglieder der altpreußischen Landeskirche der Aufforderung des EOKPräsidenten gefolgt, sich einmütig um die Allerhöchste Person zu scharen. Das trifft für die liberal-staatskirchlich orientierten Protestanten noch stärker zu als für die konfessionalistische Rechte. Königstreue und Patriotismus wurden gleichermaßen als 'fugenden mit religiösem Anspruch angesehen, die aus den politischen Auseinandersetzungen herausgehalten werden sollten.

Die spöttische Bezeichnung der "Leibgarde" der Hohenzollern trifft, wenn irgendwo, für das Militärkirchenwesen zu. Dieses wurde nie der Landeskirche unterstellt. Wenn militärisch-organisatorische Erfordernisse im Widerspruch zu Prinzipien der evangelischen Kirchenverfassung standen, so ging dieser Konflikt stets zu Lasten der letzteren. Auf die Einführung der evangelischen Marinekirchenordnung im Jahre 1903 hatte der EOK keinen Einfluß. Dabei konnte sich die Militärseelsorge des Heeres sowie die Marineseelsorge stets auf ihren obersten Dienstherrn verlassen, der die Interessen von Armee und Marine über die der Landeskirche stellte. Die Erhaltung der Armee als das "unbedingt zuverlässige Korrektiv gegen alle zersetzenden und auflösenden Tendenzen im Volke" 34 war das oberste 33 34

254.

Die Sozialrefonn, 21. 9. 1895. H. Rudolph, Das evangelische Militärkirchenwesen in Preußen, Göttingen 1973,

Wilhelm ll. und der Protestantismus

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Gebot auch der im Dienst der Seelsorge im Heer und in der Marine tätigen Geistlichen. Die Idee des Gottesgnadentums schloß nach der Auffassung des Kaisers die Pflicht zur Rechenschaftslegung vor Gott ein. Demut vor Gott und die Unterordnung unter Gottes strafende Hand gingen einher mit der festen Überzeugung, daß die Entwicklung Preußens von der befreienden Tat Luthers bis in die Gegenwart das Ergebnis des göttlichen Eingreifens in die Geschichte sei. Die Machtstellung des Reiches beruhte in der Auffassung des Kaisers "auf unserem unerschütterlichen Gottvertrauen" .35 Mit dem selbstgewissen Glauben an einen persönlichen, in die Weltregierung eingreifenden Gott war die Vorstellung, daß Gottes Wege dem Menschen verborgen sein könnten, kaum vereinbar. Insofern stand "unser Alliierter von Roßbach und Dennewitz" 36 auch in den großen Schlachten des Ersten Weltkrieges wie selbstverständlich auf Seiten der Deutschen. Hierin liegt ein wesentlicher Grund für den Schock der bis zum letzten Moment verdrängten und geleugneten militärischen Niederlage. Diese Einstellung wurde weit geteilt, auch von katholischen Christen, und es gab sie nicht nur auf Seiten der Deutschen, aber sie wurde in der Umgebung des Kaisers besonders genährt und vorausgesetzt. Sie lag in der Konsequenz der Einheit von Thron und Altar, die sich hier als Verhängnis erwies. Sie war zugleich ein Widerspruch zu der von dem modernen Kulturprotestantismus vollzogenen Anerkennung der Trennung von Politik und Kirche. Der Kulturprotestantismus selbst war mit der kaiserlichen Gesellschaft so tief verwurzelt, daß er mit dem Kaiserreich unterging. An seiner Stelle trat die dialektische Theologie Karl Barths.

35

Buchner, Kaiser Wilhelm ll. (wie Anm. 25) 56.

36

Ebd., 58.

Die Christlich-soziale Bewegung und Wilhelm n. Von Norbert Friedrich "Stoecker hat geendigt, wie ich es vor Jahren vorausgesehen habe. Politische Pastoren sind ein Unding. Wer Christ ist, der ist auch sozial; christlichsozial ist Unsinn und führt zu Selbstüberhebung und Unduldsamkeit, beides dem Christentum schnurstracks zuwiderlaufend. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiele lassen, dieweil sie das gar nichts angeht. " 1 Mit diesem Telegramm Kaiser Wilhelms li. an seinen Erzieher Georg Hinzpeter vom 28. Februar 1896, welches die freikonservative Berliner Tageszeitung "Die Post" am 10. Mai 1896 veröffentlichte, sprach der Kaiser ein vernichtendes und folgenreiches Urteil über die evangelische christlichsoziale Bewegung, die sich zu diesem Zeitpunkt in einer schweren Krise befand. Das schroffe Diktum des Kaisers ("Christlich-sozial ist Unsinn") und seine scharfe Kritik an Person und Werk des ehemaligen Hofpredigers Adolf Stoecker markieren dabei eine öffentlich vollzogene Kehrtwendung gegenüber seiner früheren Stellung zur christlich-sozialen Bewegung; sie sind zugleich Ausdruck einer seit längerem vollzogenen Abkehr von früheren sozialpolitischen Forderungen. In den achtziger Jahren hatte sich der damalige Prinz Wilhelm fasziniert von Person und Arbeit Stoeckers gezeigt; nach Wilhelms Amtsantritt (1888} kam Anfang der 90er Jahre erneut Bewegung in die staatliche Sozialpolitik, mit dem jungen Kaiser verbanden sich große reformerische Hoffnungen. Diese Epoche dauerte freilich nur wenige Jahre. Mit diesem aus konservativen Kreisen bewußt an die Öffentlichkeit gespielten Telegramm wurde nicht nur Wilhelms seit längerem bestehende Distanz zu Adolf Stoecker und seiner Agitation für die christlich-sozialen Ideen GeI Zitiert nach Dietrich von Oertzen, Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte, Band 2. Berlin 1910, 162; vgl. dazu auch ausführlich Klaus Erich Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1890. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 44). Berlin 1973, 262 ff. Allgemein vgl. auch Norbert Friedrich/Traugott Jähnichen, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus, in: Helga Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus -Katholische Soziallehre - Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch. (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, A.13.) Essen 2000, 867-1103.

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genstand der öffentlichen Debatte, sondern zugleich seine Absage an sozialrefonnerische Impulse bestätigt. Das Urteil bedeutete für die schwache christlich-soziale Bewegung eine schwere Hypothek, von der man sich bis zum Ende des Kaiserreichs nicht mehr befreien konnte und die auch in der Weimarer Zeit nachwirkte. Im folgenden soll das Verhältnis zwischen Wilhelm II. und der christlichsozialen Bewegung an zwei Themenbereichen untersucht werden. Zunächst wird die Beziehung zwischen Wilhelm Il. und der Leitfigur der christlichsozialen Bewegung, Adolf Stoecker, dargestellt. In dieser wechselvollen, dramatischen Beziehung spiegelt sich das ganze Dilemma der christlich-sozialen Bewegung im Kaiserreich brennpunktartig wider. In einem zweiten Teil wird exemplarisch das Bild Kaiser Wilhelms innerhalb der christlichsozialen Bewegung nach dem Bruch von 1896 charakterisiert, welches geprägt war von einer Treue zum Monarchen, tiefgreifender Bewunderung und untergründiger Irritation über die verschmähte Gegenliebe. I.

Es ist nicht mehr rekonstruierbar, wann und wo sich Adolf Stoecker und der spätere Kaiser Wilhelm II. erstmals begegnet sind. 2 Es ist jedoch davon auszugehen, daß es in den achtziger Jahren - Wilhelm hatte geheiratet, zudem war es zum Bruch mit seinen Eltern gekommen, auf den noch näher einzugehen sein wird - verschiedene Kontakte gegeben hat. Zu diesem Zweitpunkt war Adolf Stoecker schon eine weithin bekannte und umstrittene Persönlichkeit. Adolf Stoecker (1835 -1909) war seit 1874 Hof- und Domprediger in Berlin; die Berufung des ehemaligen Divisionspfarrers in Metz war damals auf Vorschlag des Kaisers Wilhelm I. erfolgt, zu dem Stoecker in den Berliner Jahren ein besonderes Vertrauensverhältnis besaß. 3 Für Stoecker, der aus kleinen Verhältnissen stammte - der Vater war Schmied und Quartienneister in Halberstadt gewesen -, stellte die Berufung einen bedeutsamen sozialen Aufstieg dar. 4 Mehr noch als durch diese Aufstiegserfahrung5 wurde 2 Nach Karl Kupisch, Adolf Stoecker. Hofprediger und Volkstribun, (Berlinische Reminiszenzen, 29.), Berlin 1970, 60, haben sich beide im Hause Waldersees kennengelernt; dafür gibt es aber keinen Beleg. 3 Vgl. zum Verhältnis Wilhelm I. zu Stoecker auch Bernt Satlow, Kirchenpolitische Korrespondenzen Wilhelms II, in: . .. und fragten nach Jesus. Beiträge aus Theologie, Kirche und Geschichte. Festschrift für Ernst Barnikol zum 70. Geburtstag. Berlin 1964, 269 f. 4 Vgl. zur Berufung Oertzen, Stoecker (wie Anm. 1), Bd. 1, 103 H.; Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlichsoziale Bewegung. Berlin 1928, 35 H. ("Der Emporkömmling am kaiserlichen Hof").

Die Christlich-soziale Bewegung und Wilhelm li.

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Stoecker durch seine Erfahrungen und Erlebnisse in der jungen, aufstrebenden Reichshauptstadt Berlin, einem Zentrum der beginnenden Industrialisierung des Kaiserreichs, geprägt. Die Bevölkerung Berlins, der größten deutschen Industriestadt, wuchs allein zwischen 1870 und 1900 von über 800.000 Einwohnern auf 2,7 Millionen6 , eine Entwicklung, die mit großen sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen verbunden war. Wohnungsnot, menschenunwürdige Wohnverhältnisse, hohe Kriminalitätsraten, Prostitution und ein Verfall von Anstand und Ordnung wurden vielfach beklagt. Gerade die kirchliche Presse machte auf die gravierenden Folgen der Industrialisierung nachhaltig aufmerksam. 7 Desolat war auch die kirchliche Versorgung der Reichshauptstadt, der Ausbau der kirchlichen Strukturen hielt nicht annähernd mit dem Städtewachstum stand. Die im Vergleich zum Land mangelnde kirchliche Versorgung Berlins verschlechterte sich in den ersten Jahrzehnten des Kaiserreichs dramatisch. 8 Für Beobachter war klar: "Kirchennoth und Wohnungsnoth, sind, auch in Berlin, Zwillingsschwestern." 9 Für Stoecker, der von seiner sozialen Herkunft und seinem bisherigen Arbeitsgebieten ein waches Auge für soziale Belange hatte, bot sich hier ein großes Betätigungsfeld, zumal er in seiner Arbeit als Hofprediger augenscheinlich nicht ausgelastet war. 10 So trat er 1877 an die Spitze der 1874 durch Generalsuperintendent Bruno Brückner gegründeten Berliner Stadtmission.U Stoecker, der dieses Amt mit Unterstützung der konservativ-or5 Kritiker haben diesen persönlichen Erfahrungshorizont Stoeckers häufig als ein Grund für sein späteres Scheitern benannt, vgl. z. B. Otto Jöhlinger, Bismarck und die Juden. Unter Benutzung unveröffentlichter Quellen. Berlin 1921, 176. s Vgl. zur Geschichte Berlins in dieser Zeit Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich, in: Wolfgang Ribbe (H~.), Geschichte Berlins. Bd. II: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart. München 1988, 691-792; vgl. dazu auch Fritz Mybes, Der Evangelischkirchliche Hilfsverein und seine Frauenhilfe. Köln 1988, 5-13. 7 Vgl. dazu z. B. Martin Greschat, Die Berliner Stadtmission, in: Kaspar Elm/ Hans-Dietrich Loock (Hg.), Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 74). Berlin 1990, (451-474), 458 ff. Greschat hat die Zeitschrift der Inneren Mission, die Fliegenden Blätter ausgewertet; vgl. auch ders., Die Berliner Stadtmission und ihre Entwicklung unter der Leitung von Adolf Stoecker, in: Theodor Strohm/ Jörg Thierfelder (Hg.), Diakonie im Kaiserreich (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts, 7). Heidelberg

1995,229 - 247.

a Vgl. dazu Greschat, Stadtmission (1990) (wie Annl. 7), 461 f . 9 Fliegende Blätter 28, 1871, 309; vgl. zur kirchlichen Situation in Berlin auch ebd., 186-188 (Zur kirchlichen Statistik Berlins); die Hinweis finden sich bei Greschat, Stadtmission (1990), (wie Annl. 7), 459. 10 Vgl. dazu Frank, Stoecker (wie Annl. 4), 45. 11 Vgl. zur Stadtmission neben den Arbeiten von Greschat (wie Annl. 7) auch: Fünfundsiebzig Jahre Berliner Stadtmission, Berlin 1952.

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thodoxen "Hofpredigerpartei" antrat, baute dann die Stadtmission, zunächst ganz in deren Sinne, zu einer kirchlichen und sozialen Kampfagentur innerhalb eines blühenden kirchlichen Vereinswesens aus, mit dem Ziel, "seelsorgerlich und karitativ, vor allem aber missionierend" 12 in Berlin tätig zu werden. Dabei verbanden sich in Berlin theologische, kirchenpolitische und gesellschaftliche Zielsetzungen auf eine charakteristische Weise miteinander. Die Verbindung von Evangelisation und Mission sowie die Wurzeln in Erweckungsbewegung und Orthodoxie, mithin die Frontstellung gegenüber der liberalen Theologie und Kirchenpolitik, bestimmen so die Stadtmission. Dazu trat, und hier muß der besondere Einfluß Stoeckers, der die Berliner Stadtmission geprägt hat13 , gesehen werden, die "christlich-soziale Verantwortung", die in der praktischen Arbeit aktuell wurde. 14 In der besonderen Ausrichtung der Berliner Stadtmission kann auch eine zentrale Brücke für Stoeckers politische Tätigkeit gesehen werden. 15 1878 gründete er, nach einer stürmischen öffentlichen Versammlung ("Eiskellerversammlung") bei der er eine mutige Rede vor zahlreichen Anhängern der Sozialdemokraten gehalten hatte, die Christlich-soziale Arbeiterpartei. 16 Das Parteiprogramm, es war von Adolf Wagner und Adolf Stoecker gemeinsam entworfen worden, basierte auf kathedersozialistischen Vorstellungen. Es stellte die Partei explizit auf eine monarchistische und antisozialdemokratische Grundlage: "1. Die christlich-soziale Arbeiterpartei steht auf dem Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland. 2. Sie verwirft die gegenwärtige Sozialdemokratie als unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch." 17 Die kämpferisch antisozialdemokratische Partei stellte sich bewußt auf den Boden der bestehenden Staatlichkeit, forderte aber, im Sinne der sozialreformerischen Bewegung, eine aktive staatliche Sozialpolitik. Ziel war es, die Arbeiter für den bestehenden Staat wiederzugewinnen und sie der Sozialdemokratie zu entreißen.18 Greschat, Stadtmission (1990) (wie Anm. 7), 451. "Er ist in Gottes Hand das Werkzeug gewesen, durch welches sie in der Reichshauptstadt zu einem großen weitverzweigten Organismus auf dem Gebiet der Inneren Mission ausgebildet ist.", vgl. Adolf Stoecker, Erbe und Verpflichtung. Gedenkbuch zum 80. Jahresfest der Berliner Stadtmission, Berlin o.J. [1957], 10. 14 Ebd., 14, genannt werden u . a. die christlichen Hospize, die sog. "Schrippenkirche" , die Schiffer- und Kellnermission, die Gefährdetenfürsorge, die Mitternachtsmission etc. 15 Darauf weist auch Frank, Stoecker (wie Anm. 4), 45 zurecht hin. 16 Diese Versammlung am 3. Januar 1878 markiert gerade durch die öffentliche Auseinandersetzung Stoeckers eine Wegmarke in der Entstehung der christlich-sozialen Bewegung, vgl. dazu Günter Brakelmann, Soziale Frage im Eiskeller. Adolf Stoecker vor hundert Jahren, in: Evangelische Kommentare 11 {1978) 85-87. 17 Programm der Christlich-sozialen Arbeiterpartei (1878), zitiert nach Günter Brakelmann!Traugott Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband. Gütersloh 1994, 114-116. 12 13

Die Christlich-soziale Bewegung und Wilhelm II.

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Die Gründung einer christlichen Arbeiterpartei bedeutete nicht nur für den Pfarrer und Hofprediger Adolf Stoecker eine zentrale biographische Weichenstellung. Auch die evangelische christlich-soziale Bewegung, die bisher primär mit Johann Hinrich Wichern und der Inneren Mission und der bürgerlichen Sozialreform identifiziert worden war, wurde in Teilen auf eine andere, politische Basis gestellt. Stoecker, der evangelische Pfarrer in der Politik, verkörperte in den nächsten Jahrzehnten wie kein zweiter die christlich-soziale Bewegung. Die Gründung der Partei rief sofort Kritik hervor, die allerdings von Seiten der Kirchenbehörden, die eine Politisierung fürchteten, kaum geäußert wurde, da der Kaiser Stoecker zunächst ausdrücklich in Schutz nahm. 19 Die Position des Hofpredigers schien jedoch gefährdet, als nach den Kaiserattentaten Kronprinz Friedrich die Amtsgeschäfte führte. Der Vater des Prinzen Wilhelm und Sohn des Kaisers, liberal gesinnt, war ein Feind des konservativ-orthodoxen Hofpredigers. In einem Brief an den Kronprinzen begründete Stoecker daher seine politischen Aktivitäten ausführlich. Dieser Brief20 , der gegenüber dem amtierenden Monarchen Stoeckers Motive deutlich hervortreten ließ, ist auch für das Verhältnis des Sohnes zur christlichsozialen Bewegung von einiger Bedeutung, da hier Stoecker sein Verständnis der Monarchie direkt thematisierte: Stoecker verteidigt sich gegenüber falschen Berichten "durch eine lügnerische Presse", womit er, einen häufig wiederkehrenden Topos benutzend, die liberale Presse Berlins meint, die für ihn von Juden beherrscht wurde. Als Grund seiner politischen Tätigkeit nennt er: "Vor Gott und dem Gewissen darf ich versichern, was mich trieb, war die Verzweiflung um mein armes Volk, das ich in den Abgrund rollen sah, und die Liebe zu den Seelen, die ich retten wollte." Stoecker begründet sein Engagement ausdrücklich mit den Erfahrungen, die er in Berlin gemacht hatte. Ziel der Parteigründung ist, wirksam gegen die Sozialdemokratie zu kämpfen, "den wilden Stier bei den Hörnern zu fassen und mit demselben zu ringen" . Deutlich grenzt sich Stoecker von engen parteipolitischen Motiven ab: "Aber ich kann in Wahrheit versichern, daß das SittlichReligiöse, das Monarchisch-Patriotische vorwiegt und durchschlägt." Stoecker lobt gegenüber dem Kronprinzen die Erfolge seiner Arbeit, er sieht "Tausende für Kirche und Vaterland gewonnen". 21 Im Zentrum seiner Aus18 Vgl. zur Geschichte der bürgerlichen Sozialreform und zur Geschichte der evangelischen christlich- sozialen Bewegung die neueren Sammelbände Jochen-Christoph Kaiser/ Martin Greschat (Hg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890 bis 1938. Stuttgart 1996 und Jochen-Christoph Kaiser/Wilfried Loth (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik. (Konfession und Gesellschaft, 11). Stuttgart 1997 sowie Friedrich I Jähnichen, Sozialer Protestantismus (wie Anm. 1), 922 - 981. 19 Vgl. dazu Frank, Stoecker (wie Anm. 4), 70. 2o Vgl. den Abdruck ebd., 391 - 393.

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führungensteht dabei die staatstragende und loyale Ausrichtung der christlich-sozialen Arbeiterpartei: "Wir pflegen in unseren Versammlungen eine schlichte und einfache Frömmigkeit, jeder Dogmenstreit wird vermieden. Unsere Arbeit ist wahrlich ein Werk für Kirche, König und Vaterland." Die Verteidigung Stoeckers, der seine Stellung am Hofe bedroht sah, erübrigte sich dann freilich durch den Ausgang der Reichstagswahlen am 30. Juli 1878 - sie waren von Bismarck nach den Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. angesetzt worden - als die Partei in Berlin lediglich 1422 Stimmen erhielt. 22 Die Partei hatte eine herbe Niederlage erlitten, ernsthafte politische Alternativen gingen von ihr nicht aus. Diese ausführlich dargestellte erste Phase der Stoeckerschen christlichsozialen Bewegung enthält in nuce bereits das Konfliktpotential und die -linien, die dann das Verhältnis des künftigen Kaiser Wilhelms II. zur christlich-sozialen Bewegung bestimmten: Auf der einen Seite eine wachsende evangelisch-soziale Bewegung, die von Adolf Stoecker23 und anderen auf einen strikt staatserhaltenden, monarchistischen und antisozialdemokratischen Kurs verpflichtet wurde, zugleich aber weitreichende sozialpolitische Forderungen an den Staat stellte. Zu dieser Bewegung gehört auch die bisher nicht genannte Evangelische Arbeitervereinsbewegung, die mit ihren Zielen genau in dieses Raster paßt.24 21 Diese Einschätzung ist insofern bemerkenswert, als nur wenige Tage später die Partei eine vernichtende Wahlniederlage erleben mußte. 22 Vgl. dazu Martin Greschat, Adolf Stoecker und der deutsche Protestantismus, in: Günter BrakelmanniMartin Greschat/Werner Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers. (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 17). Harnburg 1982, (19-83), 30. Im Herbst nahm auch Kaiser Wilhelm I. seine Amtsgeschäfte wieder auf, die kirchlich-konservative Richtung behielt so Macht und Einfluß, vgl. dazu Frank, Stoecker (wie Anm. 4), 71. 23 Stoecker war mehr Missionar, Volkstribun und Tatmensch als reflektierender Politiker, er war "nach eigenem Selbstverständnis Politiker aus seelsorgerlieh-missionarischen Motiven", so das Urteil Günter Brakelmanns, der damit ebenso die Kontinuität innerhalb der Stoeckerschen Aktivitäten betont. Vgl. Günter Brakelmann, Adolf Stoecker und die Sozialdemokratie, in: Brakelmann I Greschat I Jochmann, Stoecker (wie Anm. 22), (84 - 122), 93. 24 Vgl. dazu Klaus Martin Hofmann, Die Evangelische Arbeitervereinsbewegung 1882-1914. (Schriften zur politischen und sozialen Geschichte des neuzeitlichen Christentums, 3). Bielefeld 1988. Die Satzungen der einzelnen Arbeitervereine verpflichteten die Vereine explizit auf die "Treue gegen Kaiser und Reich", ebd. 226; vgl. auch Günter Brakelmann, Die Anfänge der Evangelischen Arbeitervereinsbewegung in Gelsenkirchen 1881-1990, in: ders., Ruhrgebietsprotestantismus (Schriften zur politischen und sozialen Geschichte des neuzeitlichen Christentums, 1). Bielefeld 1987, 9- 32; neuerdings Friedrich I Jähnichen, Sozialer Protestantismus (wie Anm. 1), 948-951.

Die Christlich-soziale Bewegung und Wilhelrn II.

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Auf der anderen Seite formierten sich die Kritiker Stoeckers und der christlich-sozialen Bewegung. Dies war ein vielstimmiger Chor. 25 Liberale Kreise, und dazu müssen bei allen Einschränkungen auch Kronprinz Friedrich und seine Frau Victoria gerechnet werden, kritisierten die konservativorthodoxe Ausrichtung der Arbeit, sie fürchteten zugleich, und dies verband sie mit vielen konservativen Protestanten, eine Politisierung der Protestantismus durch Adolf Stoecker. 26 Prinz Wilhelm, der spätere Kaiser, teilte die liberalen Auffassungen seiner Eltern nicht, er orientierte sich vielmehr stark an seinem Großvater, Kaiser Wilhelm I., der Stoeckers Denken und Handeln lange mit Wohlwollen begleitete.27 Wenn auch die Kontakte und Beziehungen Stoeckers zum Prinzen Wilhelm und dessen Ehefrau in den achtziger Jahren nicht vollständig zu klären sind, so kann man doch davon ausgehen, daß es ein durchaus vertrauensvolles Verhältnis gewesen ist. Briefliche Äußerungen Stoeckers deuten in diese Richtung. 28 Hier dürfte nicht nur Stoeckers konservative, monarchistische Staatsauffassung eine Rolle gespielt haben, von Bedeutung war ebenso Wilhelms Heirat mit Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg im Jahr 1881. 29 Auguste Victoria (1858-1921) war von einem tiefen evangelischen Glauben geprägt, sie wird als orthodoxfromm, naiv und bigott beschrieben.30 Die Prinzessin und spätere Kaiserin Auguste Victoria sowie ihr Hofstaat, allen voran ihr Oberhofmeister Ernst Freiherr von Mirbach (1844-1925), galten als ein Zentrum der Orthodoxie 25 Hier soll auf die sozialdemokratische Kritik nicht weiter eingegangen werden, vgl. dazu Günter Brakelmann, Adolf Stoecker und die Sozialdemokratie (wie Anm. 23). 26 Vgl. dazu Jochen-Christoph Kaiser, Zur Politisierung des Verbandsprotestantismus. Die Wirkung Adolf Stoeckers auf die Herausbildung einer evangelischen Frauenbewegung um die Jahrhundertwende, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. (Industrielle Welt, 54). Stuttgart, 254 - 271. Zur Haltung des Kronprinzen und 99-Tage-Kaisers Friedrich 111. vgl. Friedrich Nippold, Geschichte der Kirche im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts. (Handbuch der neuesten Kirchengeschichte, 5). Leipzig 1906, 642-658; vgl. auch die verschiedenen Hinweise bei Claudia Lepp, Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Modeme. Der deutsche Protestantenverein in der Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfes. (Religiöse Kulturen der Modeme, 3). Gütersloh 1996, 159 f. 161 f. 186. 422. 27 Diese Aspekte der Biographie Wilhelrns werden ausführlich behandelt in John C.G. Röhl, Wilhelrn li. Die Jugend des Kaisers 1859 - 1888, München 1993. 28 Vgl. dazu die Belege bei Frank, Stoecker (wie Anm. 4), 184. 29 Vgl. dazu sehr ausführlich Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 27), 339 ff. ao Unter ihrer Schirmherrschaft entfalteten so zahlreiche orthodox-ltirchliche Vereine eine große Wirksamkeit, zu nennen sind beispielsweise der Evangelisch-Kirchliche Hilfsverein, der Evangelische Kirchenbau-Verein und die Evangelische Frauenhilfe, vgl. dazu neben der in Anm. 64 genannten Literatur auch Mybes, Hilfsverein und seine Frauenhilfe (wie Anm. 6).

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innerhalb des Königshofs. 31 Wilhelm selber teilte diese religiöse Überzeugung offensichtlich nicht. 32 Hier ist nicht der Ort, die Religiosität Wilhelms zu beschreiben; John Röhl weist auf eine "geradezu manichäische Religionsauffassung hin, in der das Böse stets vom Guten besiegt wird" 33 . Deutlich erscheint, daß Wilhelm weder die fromme, persönliche Religiosität seiner Frau teilte, noch die liberale kulturprotestantische Theologie des von ihm als Wissenschaftsorganisator geschätzten und protegierten Adolf von Harnack unterstützte. 34 Dabei zeigte der Kaiser durchaus ein lebhaftes Interesse an religiösen und religionsgeschichtlichen Fragen, wie etwa sein Stellung im sog. "Bibel-Babel-Streit" belegt.35 In der preußischen Kirchenpolitik leitete Wilhelm unter seiner Regentschaft auf der einen Seite eine Abkehr von der offenen Parteinahme für die konservative positive Kirchenpartei ein und förderte eine stärker ausgleichende, mittelparteiliche Kirchenpolitik, auf der anderen Seite trat er mit großem Selbstbewußtsein für eine starke Stellung des Staatskirchenturns und für eine herausragende Stellung seiner Person als summus episcopus der Landeskirche ein.36 Gerade diese Haltung zum Staatskirchenturn stand im Gegensatz zur Position des von ihm in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts geförderten Adolf Stoecker. Denn unzweifelhaft waren es Wilhelm und seine Frau, beide antisemitisch gesinnt, die Mitte der 80er Jahre Stoecker, der nach dem Scheitern der Partei als Arbeiterpartei die Ausrichtung und Zielgruppe der Christlich-sozialen Partei verändert hatte und nun entscheidend zur Popularisierung 31 Vgl. dazu auch die Bemerkungen im Briefwechsel zwischen Martin Rade und Adolf von Harnack aus dem Jahr 1899, Die Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt, hrsg. und kommentiert von Johanna Jantsch. Berlin 1996, 441 f.; vgl. dazu auch die zahlreichen Hinweise bei Bernd Andresen, Ernst von Dryander. Eine biographische Studie (Arbeiten zur Kirchengeschichte, 63). Berlin/New York 1995, passim. 32 Vgl. dazu die Hinweise bei Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 27), 378; vgl. auch Norman Richl M.H. Fisher (Hg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins. Deutsche Ausgabe von Werner Frauendienst. Bd. 3: Briefwechsel. Göttingen 1961, 288 f. (Holstein an Fürst Radolin vom 5. 12. 1890). 33 Röhl, Wilhelm n. (wie Anm. 27), 422. 34 Vgl. dazu Stefan Rebenich, Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels. Berlin 1997, 537 ff., bes. 542 f ., Rebenich lehnt die Bezeichnung "Hoftheologe" für Harnack ab; vgl. dazu auch Jantsch, Harnack und Rade (wie Anm. 31), 64 f. 35 Vgl. dazu Eckhard Lessing, Religionsgeschichtliche und modem-positive Theologie, in: Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 2. Berlin 1994, 384-401; vgl. auchAndresen, Dryander (wie Anm. 31), 242-247. 36 Vgl. zur Kirchenpolitik, die hier nicht weiter verfolgt werden kann Pollmann, Kirchenregiment (wie Anm. 1), 19-22.

Die Christlich-soziale Bewegung und Wilhelm ll.

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und Ausbreitung des Antisemitismus beitrug37 , in einer für ihn nahezu ausweglosen Situation sein Amt retteten. Stoecker, der in dieser Zeit mehr und mehr Politiker und antisemitischer Agitator wurde, dessen Auftreten in der Öffentlichkeit zunehmend polarisierte und Konflikte heraufbeschwor, wurde für den Hof und die Kirche zu einer Belastung. Als er 1885 einen Beleidigungsprozeß gegen einen linksliberalen Redakteur anstrebte und, auch wegen einer ungeschickten Verteidigung den Prozeß verlor, wollte Kaiser WHhelm I. (unterstützt von der Kirchenleitung) Stoecker als Hofprediger entlassen, bzw. zum Amtsverzicht bewegen.38 Stoecker wandte sich in seiner Not, freilich ohne große Hoffnung, an verschiedene einflußreiche Freunde, besonders an die Umgebung der Prinzen Wilhelm und dessen Frau Auguste Victoria. Während er von der Prinzessin eine solidarische Adresse zugeschickt bekam39 , verwandte sich Prinz WHhelm in einem langen Brief bei seinem Großvater für Stoecker, Dieser Brief, er gehört laut Röhl zu den "Schlüsseldokumenten aus dem frühen Leben des Prinzen" 40 , erzielte dann die gewünschte Wirkung beim Kaiser: WHhelm sah von seiner ursprünglichen Vorhaben ab. Interessant ist die Argumentationsstruktur des BriefesY Wilhelm, der sich in dem Schreiben einmal ausdrücklich auf seine Frau beruft und Stoeckers missionierende und karitative Arbeit in Berlin erwähnt, stellt zwei Aspekte in den Mittelpunkt seiner Ausführungen: Zum einen betont er Stoeckers staatstragende monarchistische Gesinnung ("Stöcker - trotz seiner Fehler - ist die mächtigste Stütze, ist der tapferste, rücksichtsloseste Kämpfer für Deine Monarchie und Dein Thron im Volk!"), der "60,000 Arbeiter . .. allein persönlich den jüdischen Fbrtschrittlern und Socialdemokraten für Dich und Deine Macht abgerungen" habe. Sodann macht er, an die antisemitischen Gefühle des Kaisers appellierend, Stoecker zu einem Opfer der jüdischen, liberalen Presse. WHhelm, offensichtlich von den antijüdischen Hetzreden Stoeckers und anderer überzeugt, verteidigt hier nicht den christlich-sozialen Politiker, den politisierenden Hofprediger oder den sozialpolitischen Mahner. Im 37 Vgl. dazu umfassend Werner Jochmann, Stoecker als nationalkonservativer Politiker und antisemitischer Agitator, in: Brakelmann/Greschat!Jochmann, Stoecker (wie Anm. 22), 123 -198; zum Einfluß Stoeckers auf die antisemitische Einstellung des Kaisers vgl. Isabel V. Hull, Kaiser Wilhelm ll. and the ,Liebenberg Circle', in: John C. G. Röhll Nicolaus Sambart (Hg.), Kaiser Wilhelm II. New Interpretations. The Corfu Papers, Cambridge 1982, (193 -220), 215. 38 Vgl. zu diesen Ereignissen Frank, Stoecker (wie Anm. 4), 167 ff.; Oertzen, Stoekker (wie Anm. 1), Bd. 1, 305 ff. 39 Vgl. dazu Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 27), 424. 40 Ebd. 41 Der Brief ist vollständig abgedruckt ebd., 424 f.; erstmalig veröffentlicht wurde er von Satlow, Korrespondenzen (wie Anm. 3), 270 f., dort auch eine Interpretation.

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Zentrum steht Stoeckers Antisemitismus. Einzig dessen Arbeit für die Stadtmission findet daneben noch ausdrückliche Unterstützung. Es wäre verfehlt, in dieser Unterstützung ein Bekenntnis Wilhelms zur christlich-sozialen Idee Adolf Stoeckers zu sehen, wenn damit das umfassende Programm Stoeckers, der von einem volkskirchlichen Christianisierungskonzept ausging, gemeint wäre. Hier finden sich stärkere Anknüpfungspunkte zwischen Stoecker und Wilhelms Frau Auguste Victoria. Wilhelm war eher vom Antisemiten Stoecker angezogen. Auch in den folgenden Jahren sollte der künftige Kaiser Wilhelm II. Stoecker, der eine charismatische Ausstrahlung besaß, unterstützen, wobei das nächste öffentliche Zusammentreffen eine schwere innenpolitische Krise einleitete und letztlich den Bruch zwischen Wilhelm und Stoecker vorbereiten sollte, der für die gesamte christlich-soziale Bewegung nahezu existentielle Folgen hatte: Die in der Literatur gut erforschte "WalderseeVersammlung" im November 1887.42 In dieser Zeit konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit weit stärker auf den Prinzen Wilhelm als in den Jahren zuvor, sah man in ihm doch den künftigen Kaiser. Denn Wilhelms Vater, der Kronprinz Friedrich1 war so schwer erkrankt, daß nicht klar war, ob er überhaupt den Thron würde besteigen können, der Kaiser selber war sehr alt. In dieser Situation lud Alfred von Waldersee, ehrgeiziger Generalquartiermeister der Armee, der engen Kontakt zum künftigen Kaiser hielt, gemeinsam mit seiner Frau zu einer Unterstützungsversammlung für die Berliner Stadtmission, die auf weitere Städte ausgeweitet werden sollte, ein. Waldersees Ehefrau war mit Prinzessin Auguste Victoria weitläufig verwandt, zudem verband die beiden eine tiefe Frömmigkeit und Religiosität. Die Versammlung war äußerst prominent besetzt. Minister, Angehörige des Hofes und konservative Abgeordnete waren erschienen. 43 Stoecker, der Vorsitzende der Berliner Stadtmission berichtete plastisch über sozialen Verhältnisse in der Reichshauptstadt. Wilhelm schrieb in seiner Autobiographie später: "Der bekannte Hofprediger Stöcker gab bei dieser Gelegenheit auf Grund seiner Erfahrungen aus der Stadtmission eine niederschmetternde Schilderung von der Not in den Berliner Vorstädten, während ich selbst mich mit einigen Worten für die Pflege des christlichsozialen Geistes einsetzte."44 42 Darstellungen finden sich u. a . bei Oertzen, Stoecker (wie Anrn. 1), Bd. 1, 373 ff. ; Frank, Stoecker (wie Anrn. 4), 213 ff.; Röhl, Wilhelm II. (wie Anrn. 27), 715 ff.; Mybes, Hilfsverein und seine Frauenhilfe (wie Anrn. 6), 20 ff.; für das Verhältnis des Prinzen Wilhelm zu Bismarck vgl. auch Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichskanzler, München 1998, 543 ff. zur Position Waldersees am Hof innerhalb dieser Affäre vgl. Norman Rich, Friedrich von Holstein. Politics and Diplomacy in the Era of Bismarck and Wilhelm II, Valurne 1. Cambridge 1965,237-239. 43 Eine Liste der eingeladenen bietet Mybes, Hilfsverein und seine Frauenhilfe (wie Anrn. 6), 20 f.

Die Christlich-soziale Bewegung und Wilhelm 11.

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So zurückhaltend hatte sich Wilhelm 1887 allerdings nicht geäußert, vielmehr bekannte er sich auf dieser Versammlung in einer Rede emphatisch zum christlich-sozialen Gedanken: "Der christlich-soziale Gedanke sei deshalb mit mehr Nachdruck als bisher zur Geltung zu bringen und die Stadtmission, nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen großen Städten ... bedürfe daher einer kräftigeren Unterstützung als bisher seitens aller christlich und monarchisch gesinnten Elemente ohne Unterschied der Parteien."4s Die Reaktionen in der Öffentlichkeit waren heftig. Während die liberale Presse in den Äußerungen des künftigen Kaisers eine politische Parteinahme für den Antisemiten Stoecker sahen, hielt sie Bismarck, der Stoecker als politisierenden Pfarrer grundsätzlich ablehnte, für eine politische Instinktlosigkeit; zudem sah er die Chance, in einer für ihn schwierigen außenpolitischen Situation durch eine Pressekampagne Einfluß auf den zukünftigen Kaiser zu gewinnen bzw. dessen Umfeld (Waldersee) zu desavouieren. Tatsächlich versuchte Wilhelm seine Stellung gegenüber Stoecker zu relativieren und zu begründen. 46 Er konnte sich mit den sozial-karitativen Zielen der Stadtmission identifizieren, gleichzeitig machte er deutlich, daß ihn die Figur Stoeckers nachhaltig faszinierte. Zu Bismarcks Sohn, Herbert von Bismarck, sagte er: "Der Stoecker hat doch etwas von Luther. " 47 Auch in den aus dieser Zeit überlieferten Äußerungen Wilhelms wird deutlich, daß dabei weniger Stoeckers sozialpolitische Stellung den künftigen Kaiser anzog, er rezipierte vielmehr den Judenfeind und evangelischen Volksmissionar Stoecker."8 Ergebnis der großen Aufregung und des großen Presserummels, der sich primär gegen die Person Stoeckers richtete, war nicht nur eine deutliche Schwächung der Person des Hofpredigers. Politisch wesentlicher sollte der nun offensichtlich gewordene Bruch zwischen Wilhelm und Bismarck sein, auch wenn sich beide zunächst wieder aufeinanderzubewegten. Wilhelms Bekenntnis zum christlich-sozialen Gedanken, entstanden unter dem Einfluß orthodoxer evangelischer Kreise, war so keine Solidaritätsadresse für den christlich-sozialen Politiker Adolf Stoecker. Stoecker, der mittlerweile auch dem Reichstag angehörte, war durch seine parteipolitische Arbeit und seine antisemitische Agitation nicht mehr lange als Hofprediger tragbar. Mit dem Tod des alten Kaisers im März 1888 schien 44 45 46

Kaiser Wilhelm II, Aus meinem Leben 1859-1888. Leipzig 1927, 340 f. Frank, Stoecker (wie Arun. 4), 213 f. Vgl. dazu den ausführlichen Brief Wilhelms an Bismarck in: Otto von Bismarck,

Erinnerung und Gedanke, Gesammelte Werke Bd. 15. Berlin 1932, 460-464. 47 Vgl. dazu ebd., 459. 48 Dazu trat Wilhelms Antisemitismus, der ihn u. a. auf den Gedanken brachte, den Juden die Pressearbeit zu verbieten, vgl. dazu u. a. Pflanze, Bismarck (wie Arun. 42), 544.

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auch sein Schicksal besiegelt, Kaiser Friedrich III. war entschlossen, Stoekker zu entlassen. 49 In dieser Situation rettete ihn sein alter Gegner Bismarck, der mit dem künftigen Kaiser und seinen Beratern die Auffassung teilte, in der kurzen Übergangszeit sollten keine tiefgreifenden politischen oder personellen Veränderungen durchgesetzt werden. 50 Für Stoecker verbanden sich mit dem Amtsantritt Wilhelms II. am 15. Juni 1888 große Hoffnungen, sah er doch in dem jungen Kaiser einen Freund und Förderer seiner kirchlichen und sozialen Ideen. Doch die nächsten beiden Jahre, die geprägt waren durch einen Kampf um Einfluß auf den jungen Kaiser51 und durch den Konflikt zwischen Kaiser und Reichskanzler, 5 2 sollten dann Stoeckers Abschied vom Hof in Raten bringen. Dabei blieb, trotz aller veränderten politischen Situation, die Konfliktlage um Stoecker bemerkenswert gleich: wieder ging es im Kern um die Frage, ob man politisches Mandat und das Amt des Hofpredigers verbinden könne, ob man als Pfarrer Politik machen dürfe. Dabei blieb die jeweilige Antwort natürlich politischen Opportunitätserwägungen unterstellt. In den Jahren des Übergangs, Wilhelm hatte sich zunächst von den "mtras" 53 gelöst, war Stoecker, in der Öffentlichkeit eine mehr und mehr kritisierte und angegriffene Figur, eine zunehmende Belastung für den Hof geworden. 54 Auf Druck des Hofes, der Regierung und des Evangelischen Oberkirchenrates erklärte Stoecker dann im April1889 seinen Verzicht auf eine parteipolitische Tätigkeit. In einer für ihn schwierigen Loyalitätsfrage hatte er sich für eine Priorität seines kirchlichen Amtes und damit auch seiner konservativen kirchlichen vor seinem sozialpolitischen und antisemitischen Engagement entschieden. 5 5 DieVgl. dazu Jöhlinger, Bismarck und die Juden (wie Anm. 5), 163 ff. Vgl. dazu auch Pflanze, Bismarck (wie Anm. 42), 545 f. 51 Die politischen Facetten der Auseinandersetzungen (außenpolitische Optionen, Frage der künftigen Sozialpolitik, Kampf für und gegen das Kartell), bleiben in diesem Zusammenhang unerwähnt, vgl. dazu ausführlich Pflanze, Bismarck (wie Anm. 42), 547 ff.; Lamar Cecil, Wilhelm II. Prince and Emperor, 1859-1900, Chapel Hill1989, 124 ff. 52 Das schwierige Verhältnis zwischen Stoecker und Bismarck, das im Untergrund auch auf diesen Konflikt rückwirkte, wobei die Person Stoeckers instrumentalisiert wurde, kann hier nicht weiter beleuchtet werden, vgl. dazu u. a. quellennah und bismarckfreundlich Jöhlinger, Bismarck und die Juden (wie Anm. 5), 133 ff.; Greschat, Stoecker und der deutsche Protestantismus (wie Anm. 22), passim. 53 Vgl. zu dieser Fbrmulierung Pflanze, Bismarck (wie Anm. 42), passim, z. B. 565. 54 In dieser schwierigen innenpolitischen Situation entstand auch Stoeckers berühmt-berüchtigter "Scheiterhaufenbrief" an den Freiherrn von Hammerstein, in dem er eine politische Mobilisierung des Kaisers gegen die Kartellpolitik Bismarcks vorschlug. Dieser Brief, 1895 vom sozialdemokratischen "Vorwärts" veröffentlicht, hat dann dem öffentlichen Ansehen Stoeckers schweren Schaden zugefügt; vgl. dazu Frank, Stoecker (wie Anm. 4), 235. 333 - 336.412 (Text des Briefes). 55 Vgl. dazu ebd., 268 f. 49

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ser Entscheidung, die von einflußreichen kirchlichen Freunden wie etwa Friedrich von Bodelschwingh ausdrücklich unterstützt wurde, korrespondierte offensichtlich auch mit dem Verhalten des Kaiserpaares, das sich noch 1889 demonstrativ zu Stoecker als Prediger bekannte. 5 6 Dennoch war für den christlich-sozialen Hofprediger Stoecker, der sich durch seinen politischen Verzicht um seine öffentliche Wirksamkeit und seine öffentliche Reputation gebracht hatte, ein Ausscheiden aus dem Hofdienst absehbar. Dies hing damit zusammen, daß sich der Kaiser, offensichtlich stark beeinflußt und gedrängt durch seinen ehemaligen Erzieher Hinzpeter, für eine arbeiterfreundliche Politik entschied, ohne aber auf Stoecker und die Christlichsozialen zu bauen.5 7 Hinzpeter war ebenso wie Bismarck ein entschiedener Gegner Stoeckers. 58 Der Zeitpunkt und die politische Konstellation, in der Adolf Stoecker dann entlassen wurde, haben dann zu einer nachhaltigen Belastung des Verhältnisses von christlich-sozialer Bewegung zum Hause Hohenzollern geführt. Das Jahr 1890 war für die Christlich-sozialen ein hoffnungsvolles Jahr: Stoeckers intimer Gegner Otto von Bismarck war gestürzt worden, der Kaiser hatte eine neue sozialpolitische Initiative eingeleitet und der Sozialgesetzgebung neuen Schwung gegeben ("neuer Kurs"). 5 9 Das Jahr war ge56 Vgl. dazu die Hinweise bei Oertzen, Stoecker (wie Anm. 1), Bd. 1, 405 f.; Frank, Stoecker (wie Anm. 4), 262 (das Kaiserpaar besuchte Stoeckers Karfreitagsgottesdienst); vgl. dazu auch: Denkwürdigkeiten des General-Feldmarschalls Alfred Grafen von Waldersee, bearbeitet und hrsg. v. Heinrich Otto Meisner. Band 2: 1888-1890. Stuttgart 1922, 39 f., insbesondere zur Stellung der Kaiserin zu Stoecker. 57 Vgl. dazu die Hinweise bei John C.G. Röhl, Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz. Band I: Von der Reichsgründung bis zum Neuen Kurs 1866-1891. (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 52/1). Boppard 1976, 394 (Friedrich von Holstein an Eulenburg am 26. 12. 1889); eine Darstellung findet sich bei Rich, Holstein (wie Anm. 43), 260 f. Erbitterter Gegner Hinzpeters war in dieser Frage insbesondere Alfred Graf Waldersee, vgl. dazu Denkwürdigkeiten des Grafen Waldersee (wie Anm. 56), 99 f. Vgl. dazu auch Yvonne Wagner, Prinzenerziehung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum Bildungsverhalten des preußisch-deutschen Hofes im gesellschaftlichen Wandel. Frankfurt/Main 1995, 146 f., 175. Der Hinweis von Michael Balfour, Hinzpeter sei ein Anhänger der Christlich-sozialen gewesen ist irrig, vgl. Michael Balfour, Der Kaiser. Wilhelm ll. und seine Zeit. Berlin 1964, 133. 58 Vgl. dazu auch die Bemerkung von Lucius von Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen. Stuttgart 1920, 493; Denkwürdigkeiten des Grafen Waldersee (wie Anm. 56), 157.164. Zum Einfluß Bismarcks in dieser Frage vgl. auch Klaus Erich Pollmann, Adolf Stoecker, in: Gerd Heinrich (Hg.), Berlinische Lebensbilder. Bd. 5: Theologen, Berlin 1990, (231-247), 239. 59 Vgl. dazu neben der in Anm. 18 genannten Literatur noch immer Karl Erich Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. Ein Beitrag zur Geschichte der innenpolitischen Entwicklung des Deutschen Reiches 1890- 1914, (Historische Fbrschungen, 1). Wiesbaden 1957; für den sozialen Protestantismus auch E.I. Kouri, Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870-1919. Zur Sozialpolitik im

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tragen von einer kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Aufbruchstimmung60, so fällt die Gründung des Evangelisch-sozialen Kongresses durch Adolf Stoecker in dieses Jahr. 61 Vordergründig bewegt durch eine Beschwerde des Großherzogs von Baden über einen Auftritt Stoeckers in Karlsruhe kam es im November 1890 zugleich zur Entlassung Stoeckers durch den Kaiser. 62 Der Kaiser, um öffentliches Ansehen bemüht und schon seit längerer Zeit auf Distanz zur Person Stoeckers, entledigte sich nun eines zur Belastung gewordenen Unterstützers. Stoecker wurde ohne Dank und Anerkennung vom Kaiser kühl aus seinem Amt verabschiedet.63 Auch die kirchliche Haltung und Stoeckers Arbeit für die Stadtmission, bisher Motor für eine Stützung Stoeckers, konnte den Hofprediger nun nicht mehr retten, gab es doch seit 1888 mit dem "Evangelisch-kirchlichen Hilfsverein der religiös-sittlichen Notstände" ein bewußt gegründetes Konkurrenzunternehmen, welches von der Kaiserin und ihrem Oberhofmeister von Mirbach protegiert und geführt wurde. 64 Dieser Verein war ein direktes Ergebnis der Übereinkünfte, die bei der Waldersee-Versammlung geschlossen worden waren, sie wurden ausdrücklich ohne Stoecker und die Berliner Stadtmission unter der Federführung von Auguste Victoria realisiert. 5 5

Bildungsbürgertum, Berlin/New York 1984, 99 ff. Die beiden maßgeblichen sog. "Februar-Erlasse" des Kaisers sind abgedruckt bei Günter Brakelmann, Kirche, soziale Frage und Sozialismus. Bd. 1: Kirchenleitungen und Synoden über soziale Frage und Sozialismus 1871-1914, Gütersloh 1977,250-252. 60 Vgl. dazu ausführlich mit vielen Beispielen Rüdiger vom Bruch, 1890 - Griindungsjahr des Evangelisch-sozialen Kongresses, in: Klaus Heienbrock u. a., Protestantische WJ.rtschaftsethik und Refonn des Kapitalismus. 100 Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß, (SWI-Materialdienst, 6). Bochum 1991, 11-18. 61 Vgl. dazu als Überblick Klaus Erich Pollmann, Evangelisch-sozialer Kongreß, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 10, 645-650; Friedrich!Jähnichen, Sozialer Protestantismus (wie Anm. 1), 953 - 956. 62 Vgl. dazu Frank, Stoecker (wie Anm. 4), 281 ff. 63 Vgl. zu den Ereignissen, Wilhelm li. schien deutlich erleichtert gewesen zu sein, auch die Darstellung bei Andresen, Dryander (wie Anm. 31), 185 f. 64 Zum "Hilfsverein" hinzu kam noch der Evangelische Kirchenbauverein, der sich v.a. um die Verbesserung der kirchlichen Versorgung Berlins durch den Bau neuer Kirchen bemühte, vgl. dazu RGG3 , Bd. 3, 323 (Hohlwein, Hilfsverein) und 1412 (Hohlwein, Kirchenbauverein); vgl. auch Iselin Gundermann, Ernst Freiherr von Mirbach und die Kirchen der Kaiserin, (Hefte des Evangelischen Kirchenbauvereins, 9). Berlin 1995; dies., Kirchenbau und Diakonie. Kaiserin Auguste Victoria und der Evangelisch Kirchliche Hilfsverein, (Hefte des Evangelischen Kirchenbauvereins, 7). Berlin 1991. 65 Vgl. dazu Oertzen, Stoecker (wie Anm. 1) Bd. 1, 382-384 (Erinnerungen des Freiherrn von Mirbach); Mybes, Hilfsverein und seine Frauenhilfe (wie Anm. 6), 2842.

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Doch für Stoecker und die christlich-soziale Bewegung sollte die Lage noch schwieriger werden. Konnte man sich 1890, trotzaller Enttäuschungen, die zu zahlreichen Legenden und Intrigen führten, noch mit der Politik des jungen Kaisers trösten, bedeutete die politische Wende des Jahres 1895, die unter dem Einfluß des Freiherrn von Stumm auf den Kaiser zu einem schroffen antisozialen Kurs führte, eine schwere Hypothek für das Verhältnis, die wohl nur durch die tiefe Bewunderung, die man für die Person und für das Amt empfand aufgefangen werden konnte. Stoecker wurde dabei vom Kaiser noch in ganz besonderer Weise desavouiert, als im Mai 1896 das eingangs zitierte Telegramm ("Christlich-sozial ist Unsinn") an die Öffentlichkeit lanciert wurde. Diese Äußerung kam zu einem Zeitpunkt als sich die christlich-soziale Bewegung in der Krise von 1895 I 96 66 gespalten hatte und es so zu einer nachhaltigen personellen und strukturellen Schwächung der insgesamt im Vergleich zur organisierten katholischen christlich-sozialen Bewegung oder zur sozialistischen Arbeiterbewegung kleinen Gruppe gekommen war. Wenn man auch nicht davon sprechen kann, daß die Geschichte der christlich-sozialen Bewegung im Jahr 1896 beendet war67 , so wurde doch durch die öffentliche Distanzierung des Kaisers der Bewegung ein großer Teil ihrer öffentlichen Glaubwürdigkeit genommen. Stoecker fühlte sich, so lassen es seine Äußerungen spüren68, vom Kaiser bzw. von dessen Beratern politisch verraten. Die Irritation und Enttäuschung hielt auch in den nächsten Jahren auf beiden Seiten an. Zwar hoffte Stoecker immer wieder darauf, daß der Kaiser seine Stellung gegenüber dem Hofprediger a.D. und dessen Bewegung revidierte 69; zugleich kritisierte er jedoch auch den Kaiser und dessen außen- und innenpolitische Eskapaden. 70 Während Stoecker zu einer Versöh66 Vgl. dazu Norbert Friedrich, "Die christlich-soziale Fahne empor!" Reinhard Mumm und die christlich-soziale Bewegung. (Konfession und Gesellschaft, 14). Stuttgart 1997, 53 ff.; Pollmann, Kirchenregiment (wie Anm. 1), 157 ff. 67 So prononciert Frank, Stoecker (wie Anm. 4), 374. Der Nationalsozialist Frank hat in seiner Dissertation, die für die Stoecker-Forschung nach wie vor unverzichtbar ist, ein zu großes Gewicht auf die antisemitische Agitation gelegt. Wenn man die christlich-soziale Bewegung nur als Teil der antisemitischen Bewegung betrachtet, dürfte seine Wertung zutreffen, trat doch die Bedeutung Stoeckers und der christlich-sozialen in der Phase einer zunehmenden Radikalisierung und einem verstärkten Hervortreten eines rassischen Antisemitismus stärker in den Hintergrund. 68 Vgl. dazu Oertzen, Stoecker (wie Anm. 1), Bd. 2, 162 f.; ausführlich nahm Stoekker in seiner eigenen Zeitung Stellung, vgl. Adolf Stoecker, Die Krisis im Evangelisch-sozialen Kongreß, in: Deutsche Evangelische Kirchenzeitung 10, 1896, Nr. 20, 185 f . Hier betonte er u. a. trotzig "Die Reichspolitik hat anderthalb Jahrzehnte das christlich-soziale Programm verwirklicht. 69 Vgl. dazu Frank, Stoecker (wie Anm. 4), 377. 70 Ebd., 389.

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nung bereit war, 1899 schrieb er sogar noch einmal an den Kaiser, zeigte sich Wilhelm unbeugsam. 71 Von seiner Seite kam es weder vor 1918 noch danach zu einer Annäherung.

n. Nach der Krise der Jahre 1895 I 96 war die Einheit des sozialen Protestantismus endgültig zerbrochen. Zwei Flügel bestimmten das Bild in der Öffentlichkeit. Auf der einen Seite gab es einen sozialliberalen Flügel, der ein Zentrum im Evangelisch-sozialen Kongreß besaß, nachdem Stoecker und die anderen sog. "älteren" 72 Christlich-sozialen den Kongreß verlassen hatten. Dieses kulturprotestantische Diskussionsforum konzentrierte sich nicht allein auf die soziale Frage, vielmehr wurden die politischen, kulturellen, theologischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen der Zeit behandelt. Führende Vertreter waren u. a. Adolf von Harnack, Friedrich Naumann, Otto Baumgarten. Auf der anderen Seite gab es ein durchaus heterogenes sozialkonservatives Lager, das sich durch eine verstärkte praktische Ausrichtung der Arbeit auszeichnete. Zu nennen ist hier primär die Freie Kirchlich-soziale Konferenz (FKSK), 1897 von Stoecker und Ludwig Weber nach dem Austritt aus dem ESK gegründet. 73 Sie wurde insbesondere unter ihrem langjährigen Generalsekretär Reinhard Mumm (1873 -1932) zu einem Zentrum des sozialkonservativen Protestantismus ausgebaut. Weniger die theoretische Durchdringung und Reflexion zeichnete die Arbeit aus, als die Organisierung praktischer Arbeitsfelder. Sie verstand sich als Zentrum der christlich-sozialen Bewegung im Sinne Stoeckers. Zu diesem Bereich sind noch die bereits genannten Evangelischen Arbeitervereine zu zählen, auch wenn es hier auch eine liberale Strömung gab, 74 sowie die 71

Vgl. dazu Oertzen, Stoecker. (wie Anm. 1), Bd. 2, 172; Frank, Stoecker (wie

Anm. 4), 377.

72 In der Literatur werden häufig die "älteren" Christlich-sozialen (Stoecker, Weber, Martin von Nathusius) von den "jüngeren" Christlich-sozialen (Naumann, Paul Göhre u. a.) unterschieden. Stoecker formulierte nach den Auseinandersetzungen 1895/96 den Konflikt prägnant: ,.Sie [die ,jungen' Christlich-sozialen) wollen in christlichem und vaterländischem Geiste dem vierten Stande zum Siege verhelfen und dadurch den sozialistischen Staat anbahnen." Die ,alten' Christlich-sozialen wenden sich gegen diese Klassenkampfvorstellung, sie wollen ,.einen auf Berufsständen sich in Harmonie und Solidarität aufbauenden Staat, der in sozialer Weisheit jedem seiner Glieder Luft und Licht verschafft, um sich richtig zu entwickeln, der das ganze des Staatslebens in christlichem Geiste ordnet und den Lebensmächten den freien Einfluß auf das Volk gestattet." Adolf Stoecker, Christlich-sozial, in: Deutsche Evangelische Kirchenzeitung 10, 1896, 35. Dieser Dissens war nicht nur eine Frage der Generation, da viele Stoecker-Anhänger, wie etwa Reinhard Mumm, der Generation Naumanns angehörten oder noch jünger waren. 73 Vgl. zur FKSK Friedrich, Mumm (wie Anm. 66), 53 ff.

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christlichen Gewerkschaften, die deutlich katholisch geprägt waren. 75 Einen gewissen Sonderstatus nimmt die Innere Mission ein, sie war, ganz in der Tradition Johann Hinrich Wicherns, antirevolutionär, sozialkonservativ und monarchistisch. Sie versuchte sich eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den aktuellen Konflikten zu bewahren. 76 Sie wird daher in diesem Zusammenhang nicht weiter problematisiert werden. 77 Die sozialkonservative christlich-soziale Bewegung, und nur sie kann mit Berechtigung so genannt werden, während die sozialliberalen Kulturprotestanten sich bewußt von dieser einengenden Bezeichnung nach 1895 abgrenzten78 , war bis zum Ende des Kaiserreichs stark auf die Person Adolf Stoeckers fixiert, der nach dem Ausscheiden aus seinem Hofpredi74 Vgl. dazu neben Hofmann, Arbeitervereine (wie Anm. 24) die Arbeit von Andrea Hinsehe, "Über den Parteien" und "neben den Gewerkschaften"? Der württembergische Landesverband evangelischer Arbeitervereine (1891-1918). Frankfurt /Main 1989. 75 Vgl. dazu Michael Schneider, Die Christlichen Gewerkschaften, (Politik- und Gesellschaftsgeschichte, 10}. Bonn 1982. Bei den evangelischen Mitgliedern der Christlichen Gewerkschaften handelt es sich dabei oftmals um Personengruppen, die ebenfalls in Evangelischen Arbeitervereinen organisiert waren. 76 Vgl. zur Haltung der Inneren Mission in dieser Zeit Jochen-Christoph Kaiser, Protestantismus und Sozialpolitik. Der Ertrag der 1890er Jahre, in: Jochen-Christoph Kaiser /Wilfried Loth (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich (wie Anm. 18}, (94 -113), 98 ff. Kaiser analysiert insbesondere die Denkschrift Theodor Lohmanns von 1884 und das 1896 als Reaktion auf den antisozialen Erlaß des Evangelischen Oberkirchenrates veröffentlichte "Nachwort", welches auch auf Fbrmulierungen Stoeckers zurückging: Sein Fazit lautet: "Sie (d.i. die Mitglieder des Centralausschusses) ließen sich 1895 I 96 nicht einfach auf die verordnete ,Wende' ein, sondern versuchten zwischen der vorsichtig- pragmatischen Behauptung eines auf begrenzte Reformen drängenden sozialprotestantischen Öffentlichkeitsanspruchs und der selbstverständlichen Loyalität gegenüber Staatsgewalt und Landeskirche ein komplizierter werdendes Gleichgewicht zu halten." 77 Unabhängig von allen Meinungsänderungen des Kaisers erfreute sich der Centralausschuss für Innere Mission auch einer gleichbleibenden Unterstützung des Hofes, so erhielt man seit König Friedrich Wilhelm Iv. eine hohe finanzielle Zuwendung zu den laufenden Arbeiten, eine Tradition die auch Kaiser Wilhelm li. fortsetzte, vgl. dazu Martin Gerhardt, Ein Jahrhundert Innere Mission. Die Geschichte des CentralAusschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, Bd. 2: Hüter und Mehrer des Erbes. Gütersloh 1948, 203. 78 Grundlage war dabei insbesondere eine Rede Rudolf Sohms auf dem Kongreß für Innere Mission in Posen 1895 zum Thema "Der Christ im öffentlichen Leben". Sohm hatte sich dort strikt gegen die Verbindung der Begriffe "christlich" und "sozial" gewandt, vgl. dazu auch ebd., 104 f. Sohms Unterscheidung wurde gerade für Friedrich Naumann und viele liberale Kulturprotestanten von großer Bedeutung. Hier sah man die zentrale Bruchstelle mit Stoecker und der christlich-sozialen Bewegung. Der Gegensatz innerhalb der evangelisch-sozialen Bewegung von Friedrich Naumann, Was wir Stöcker verdanken (1895}, in: Friedrich Naumann, Werke Bd. 5: Schriften zur Tagespolitik. Köln 1964, 191 - 198 klar herausgearbeitet worden.

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geramt79 für seine Anhänger mehr und mehr zu einer Ikone wurde und der es, gerade durch seine volkstümlichen Predigten und Reden verstand, Menschen für sich einzunehmen. 80 Die christlich-sozialen Führungspersönlichkeiten standen im Zentrum der kaiserlichen Kritik. 81 Gerade Stoecker wurde damit in seiner Führungsrolle zugleich zu einer Belastung der christlich- sozialen Bewegung, da der Kaiser nicht bereit war, seinen Bann zurückzunehmen oder zu relativieren. Trotz der Anfeindungen durch Kaiser, Regierung und große Teile der Öffentlichkeit, blieben die Grundkonstanten der christlich-sozialen Bewegung (Monarchismus, Sozialreform, Abwehr der Sozialdemokratie und Integration der Arbeiterschaft in den bestehenden Staat) in den folgenden Jahren unverändert. 82 Um den Dissens nicht auf eine grundsätzliche Ebene ziehen zu müssen, wurde der Konflikt personalisiert und auf eine Auseinandersetzung zwischen Adolf Stoecker und dem jungen Kaiser, der, so die Darstellung, umstellt war von Großindustriellen, reduziert. Charakteristischerweise findet sich somit kaum eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Stoeckers zum Monarchen auf Seiten der Christlich-sozialen. Das Telegramm, es wurde häufig nahezu kommentarlos genannt83 , wurde daher zu79 Er nannte sich nun Hofprediger a.D., wobei das Kürzel von seinen Anhängern vielfach mit "aller Deutschen" aufgelöst wurde. 80 Neben Stoecker gab es nur wenige charismatische Führungspersönlichkeiten innerhalb der Bewegung. Für die Arbeitervereine erlangte noch Lic. Ludwig Weber, Pfarrer in München-Gladbach und Führer der Evangelischen Arbeitervereinsbewegung eine große Bedeutung, vgl. zur Person Dieter Pauly (Hg.), Ludwig Weber. 18811914 Pfarrer der Evangelischen Gemeinde Mönchengladbach. Leben und Arbeit eines evangelischen Sozialrefonners. Mönchengladbach 1986. 81 Vgl. dazu auch die scharfen Angriffe des Freiherrn von Sturnm-Halberg auf Ludwig Weber, zitiert bei ebd. 15 ff.; vgl. auch Günter Brakelmann, Carl-Ferdinand Stumm (1836 -1901). Christlicher Unternehmer, Sozialpolitiker, Antisozialist, Bochum 1993, bes. 48 ff. Stumm, der die Angriffe in das preußische Herrenhaus brachte und für eine öffentliche Verbreitung sorgte, wollte die Kritik nicht auf einen Teil des sozialen Protestantismus beschränkt wissen, er hatte die Gesamtbewegung der sog. ,jüngeren' und ,älteren' Christlich-sozialen im Blick. Auch das Argument, gerade Stoecker und Weber seien glühende Monarchisten ("Säulen der Monarchie"), ließ er nicht gelten; er sah in ihnen nur "gefährliche Agitatoren", die die "Verhetzung der Massen" zum Ziel hätten, Zitate bei Pauly, Weber (wie Anm. 80), 13.21 f. 82 Nicht thematisiert wird in diesem Zusammenhang die wechselvolle staatliche Sozialpolitik. Nach dem "sozialpolitischen Frühling" 1890 schwenke der Kaiser spätestens seit 1893 wieder auf einen ablehnenden Kurs um, nicht zuletzt beraten von schwerindustriellen Kreisen, insbesondere des erwähnten Freiherrn von Stumm. Träger der staatlichen Sozialpolitik wie der Freiherr von Berlepsch wurden kaltgestellt. Erst unter dem Staatssekretär Graf Posadowsky (seit 1897) wurden nach 1899 einige Projekte wieder aufgenommen. Gerade Posadowsky besaß innerhalb der evangelischen sozialen Bewegung viele Anhänger, vgl. dazu Born, Sozialpolitik (wie Anm. 59).

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meist in direktem Zusammenhang mit den Angriffen Stumms gegen die Christlich-sozialen unter der Ausblendung des Kaisers selbst betrachtet. 84 In den zahlreichen Nachrufen und Erinnerungen an Stoecker, die in seinem 'lbdesjahr 1909 erschienen, war zwar ausführlich von Stoeckers schweren politischen Niederlagen die Rede, der Kaiser und dessen Telegramm spielten aber kaum eine Rolle. 85 Vielmehr wurde immer wieder Stoeckers Patriotismus herausgestellt: er habe immer "in heißer Liebe zu seinem kaiserlichen Herrnall das gesagt", was ihm die Not der Menschen aufgetragen habe. 86 Stoecker wird so ausdrücklich und nachträglich von seinen Anhängern ins Recht gesetzt, dabei blieb eine offene Kritik am Kaiser aus. Symptomatisch für diese Haltung, für die sich in der christlich-sozialen Presse zahlreiche Belegen finden lassen 87 , war der Erste Deutsche Arbeiterkongreß, der im Oktober 1903 in Frankfurt stattfand und der die konfessionellen Arbeitervereine, die christlichen Gewerkschaften, den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband sowie weitere Organisationen der nichtsozialistischen Arbeiterbewegung vereinigte.88 Ziel der Veranstaltung war es, sowohl neue Impulse für eine staatliche Sozialpolitik zu geben als auch Größe und Stärke der nichtsozialdemokratischen Arbeiterbewegung zu demonstrieren, die keinesfalls als eine Einheit betrachtet werden kann. In der christlich-sozialen Presse wurde diese Veranstaltung sehr groß herausgestellt: "Alle diese Verbände wollen in einer machtvollen Kundgebung beweisen, daß sie treu zu Kaiser und Reich stehen .... Die königstreue Arbeiterschaft ermannt sich; es beginnt der Entscheidungskampf zwischen ihr und den antimonarchischen sozialdemokratischen Scha83 Vgl. hierzu beispielhaft Reinhard Mumm, Adolf Stoecker, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24, Leipzig 1913. 84 Vgl. dazu z. B. Dietrich von Oertzen, Von Wichern bis Posadowsky. Zur Geschichte der Sozialreform und der christlichen Arbeiterbewegung. Harnburg 2 1908, 156 f . 85 Vgl. dazu beispielhaft in: Die Reformation 8, 1909, Nr. 8. 86 Zitat ebd., 120, von dem Theologieprofessor Richard Grützmacher. 87 Verwiesen sei hier u. a. auf folgende Zeitschriften: Kirchlich-soziale Blätter, Berlin (Organ der Freien-Kirchlich-Sozialen Konferenz); Die Arbeit. Wochenschrift für die schaffenden Stände in Stadt und Land, Berlin, Essen. Bannen (Zeitung der Christlich-sozialen Arbeiterpartei); Evangelische Arbeiterbote, Hattingen (Organ der Evangelischen Arbeitervereine); Evangelische Arbeiterzeitung, Berlin (Organ des Evangelischen Arbeitervereins Berlin); vgl. zur christlich-sozialen Pressearbeit auch Friedrich, Mumm (wieAnm. 66),154-165. 88 Vgl. zum Arbeiterkongreß Schneider, Christliche Gewerkschaften (wie Anm. 75), 236-253; Hartmut Roder, Der christlich-nationale Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im politisch-ökonomischen Kräftefeld der Weimarer Republik. Frankfurt IM 1986, 43 ff. 89 Reinhard Mumm, Christliche Arbeiterbewegung, in: Evangelische Kirchenzeitung 77 (1903), Sp. 993 f.

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ren. " 89 Die inhaltlichen Gegensätze zwischen den einzelnen Organisationen sollten so überwunden werden durch die Erinnerung an den gemeinsamen Gegner und durch den Appell an die gemeinsame Grundüberzeugung: die Hoffnung auf ein soziales Kaisertum unter Wilhelm II. So überrascht auch die emphatische Berichterstattung über den Kongreß selber nicht, der durch ein Danktelegramm des Kaisers, er hatte einen "Huldigungsgruß" erhalten, quasi geadelt worden war. Der Kaiser telegrafierte: "Ich spreche den zum ersten deutschen Arbeiterkongreß dort vereinten Vertretern der deutschen Arbeiterschaft für den Huldigungsgruß und die Versicherung ihrer monarchischen Treue und vaterländischen Gesinnung Meinen herzlichen Dank aus. Ich werde die Beratungen des Kongresses mit Meinem Interesse begleiten und auch in Zukunft allen Anregungen und Maßnahmen, welche geeignet erscheinen, das Mir und Meiner Regierung am Herzen liegende Wohl der deutschen Arbeiter zu fördern, gern Meinen Schutz und Beistand zuteil werden lassen. Wilhelm I.R. " 90 Begeistert schreibt der Berichterstatter von der Reaktion unter den Arbeitern: "Markig brauste aus Arbeiterkehlen das Kaiserhoch durch den Saal. Alle Delegierten waren Arbeitnehmer oder aus dem Arbeiterstand hervorgegangene Arbeitervertreter. Das merkt man wohl in jenen Tagen: es sitzt viel edles Gold in Arbeiterherzen." Dieses hier skizzierte Muster findet sich bei sehr vielen Veranstaltungen der christlich-sozialen Bewegung bis zum Ende des Kaiserreichs. Grußund Danktelegramme, Huldigungsadressen an den Kaiser und das Haus Hohenzollern, Erinnerungen an die von Wilhelm I. und II. angestoßenen sozialpolitischen Maßnahmen (1881 und 1890) sowie die damit verbundenen Hoffnungen auf eine Fortführung des sozialen Einigungswerkes gehörten, mit Abweichungen, zum festen Repertoire. 91 Doch der Kaiser war, wie oben dargestellt, nicht bereit, seine Position zu verändern. So darf das zitierte Telegramm an den Arbeiterkongreß, welches gerade die sozialpolitischen Wünsche, die geäußert worden waren (Koalitionsrecht, Ausweitung staatlicher Sozialpolitik etc.) nur sehr nebulös beantwortete, nicht mit einem Bekenntnis zur politischen christlich-sozialen Bewegung verwechselt werden. Während sich die Hoffnungen auf den Kaiser nicht erfüllten, konnten dagegen einzelne christlich-soziale Unternehmungen, die abseits politischer Zitiert nach ebd., 1110 f. Vgl. z. B. die Berichte und Würdigungen anläßtich des 25jäh.rigen Krönungsjubiläumsam 15. Juni 1915, in: Die Arbeit 12, 1913, Nr. 24, 13. 6. 1913, Major Klingender, Zum 15. Juni 1913; vgl. auch den Bericht von Reinhard Mumm, Die Fahrt unseres Kaisers nach der Schweiz, in: Die Arbeit 1912, Nr. 32, 5, der Bewunderung des Kaisers mit wehrpolitischen Fbrderungen mischt. 90

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Forderungen agierten, eine kaiserliche Unterstützung erhalten. Zwei Beispiele zeigen dies deutlich. Ein besonderes Arbeitsgebiet der Freien-Kirchlich-sozialen Konferenz und ihrer Frauengruppen war die Sorge um die Not der großen Zahl der Heimarbeiterinnen und Hausgewerbetreibenden. Aus dieser Arbeit entstand 1899/1900 der Gewerkverein der Heimarbeiterinnen, der von der ehemaligen Lehrerin Margarete Behm geleitet wurde. 92 Der Gewerkverein verdankt seine Entstehung der vielfältigen Unterstützung durch die FKSK, dennoch ließ er sich nicht von der Organisation vereinnahmen. Im Mittelpunkt der Arbeit des Gewerkvereins stand der Gedanke der "Selbsthilfe". Man will "auf christliche Grundlage die wirtschaftlichen, sozialen und sittlichen Interessen der Berufsgenossinnen mit allen vom Gesetz gestatteten Mitteln zu fördern" suchen. 93 Die auf praktische Hilfestellung, Lebenshilfe und Geselligkeit abgestellte Arbeit fand die Anerkennung beim Kaiserhaus, so daß die Arbeit mehrfach finanziell unterstützt wurde. 94 Voraussetzung dafür war aber der Verzicht auf eine exponierte politische Arbeit. So ist etwa Margarete Behm erst 1918 in die Politik gegangen, als Reichstagsabgeordnete der Deutschnationalen Volkspartei. Eine ähnliche Konstellation ist beim 1902 in Berlin gegründeten Vaterländischen Bauverein zu beobachten. 95 Diese christlich-soziale Baugenossenschaft war gegründet worden vom Berliner Evangelischen Arbeiterverein, einer Organisation der FKSK. Man wollte, als eine Antwort auf die Wohnungsnot in Berlin, preiswerte Mietwohnungen bauen. Das besondere dieser Baugnossenschaft war ihre Ausrichtung. Man verstand sich als Teil der christlich-sozialen Bewegung. Zielgruppe waren die kleinen Beamten, Arbeiter und Angestellten, die "um ihrer vaterländischen, christlichen Gesinnung willenmanches von ihren Arbeitskollegen und Nachbarn zu leiden gehabt hatten. " 96 Für diese Klientel baute man im Wedding (Hussitenstraße) ein großes Wohnensemble, daß sich durch eine eigenwillige, christlich orientierte Architektur auszeichnete. Die Bauten sollten in einer modernen Großstadt ein Stück Geborgenheit und Heimat sein. 97 Insgesamt fünf the92 Vgl. zum Gewerkverein Friedrich, Mumm (wie Anm. 66), 167-171, dort auch weitere Literatur. 93 So die Satzung des Gewerkvereins, zitiert nach Wilhelm Kulemann, Die Berufsvereine. Bd, 1, Jena 1908, 412. 94 Vgl. dazu Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 120, BB VII. 1, Nr. 14, adhib.18. 95 Vgl. dazu Norbert Friedrich, Der Berliner Vaterländische Bauverein von 1902, eine kirchlich-soziale Antwort auf die Wohnungsnot in Deutschland, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 61 (1997) 172-186. 96 Der Vaterländische Bauverein zu Berlin, Berlin o.J. [1903], 14. 97 Vgl. dazu Friedrich, Bauverein (wie Anm. 95), 178, dort auch Hinweise auf die antiurbanen Affekte innerhalb des deutschen Protestantismus; zu den Bauten selbst

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matisch gestaltete Innenhöfe (orientiert an der Geschichte Berlins) machten die Wohnanlage aus, die in ihrer Ausschmückung ein Stück wilhelminischer Herrschaftsarchitektur widerspiegelte. Für die künstlerische Ausschmükkung erhielt man finanzielle Zuschüsse vom Königshaus.98 Auch hier war wieder die Voraussetzung für diese Gunst, daß man sich von der politischen christlich-sozialen Bewegung und von Stoecker weitgehend fernhielt. In der christlich-sozialen Bewegung gab es bis in die Weimarer Zeit hinein die Hoffnung, daß der Kaiser, bzw. Ex-Kaiser sein Urteil über Adolf Stoecker zurücknahm und es zu einer Aussöhnung kommen konnte. Nachdem die entsprechenden Versuche noch zu Stoeckers Lebzeiten erfolglos geblieben waren, schöpfte man nach der Abdankung neuen Mut. Vor allem Reinhard Mumm, Schwiegersohn und Nachfolger Stoeckers, trieb dieses Versöhnungswerk voran. Mumm war, wie andere Christlich-soziale auch, nach 1918 Monarchist geblieben und stand in Treue zum Hause Hohenzollem.99 Als der Kaiser 1922 Stoecker "einen auf sozialem Gebiete in seiner Missionstätigkeit glänzend bewährten Mann" 100 nannte, kam bei den christlich-sozialen Stoeckeranhängem die Hoffnung auf, daß nun die Zeit für eine Versöhnung gekommen sei. Gerade Mumm engagierte sich hier. 1926 reiste er als Monarchist nach Doom, seine Erfahrungen, die er für seine Autobiographie mit dem Kommentar niedergeschrieben hatte: "Nichts daraus ist zu veröffentlichen, so lange der, von dem die Rede ist, am Leben ist" 101, lassen den Zwiespalt spüren, in dem sich Mumm befand. Auf der einen Seite Bewunderung, Anerkennung und Faszination, verbunden freilich mit der Erkenntnis, einem Mann zu begegnen, dessen Hybris jeden Bezug zur Realität verloren hatte. 102 Zudem lastete der historische Gegensatz Stoecker-Wilhelm auf der Begegnung, auch wenn Mumm nicht wagte, diese vgl. Christine Roik-Bogner, Wohnanlage des Vaterländischen Bauvereins Hussitenstraße 4 u. 5, in: Helmut Engel u. a. (Hg.), Wedding, (Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse, 3}. Berlin 1990, 44-60. 98 Vgl. dazu Geheimes Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz, Rep. 120, BB VII. 1, Nr. 124, 8, Bl. 126 f.; nach Michael Amdtl Holger Rogall, Wohnungsbaugenossenschaften. Eine selbstverwaltete Unternehmensform zwischen bewohnorientierter Tradition und sozialpolitischem Aufbruch. Eine Untersuchung von sechs ausgewählten Genossenschaften in Berlin (West). Berlin 1986, 87 f. war der Vaterländische Bauverein die einzige Genossenschaft, die eine kaiserliche Zuwendung erhalten hat. 99 Vgl. dazu Friedrich, Mumm (wie Anm. 66), 206, mit der Nennung weiterer Literatur. 1oo Kaiser Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878-1918. Leipzig/Berlin 1922, 25: W!lhelm begründet in diesem Buch noch einmal die Entfernung Stoeckers aus dem Amt des Hofpredigers. 101 Reinhard Mumm, Erinnerungen für meine Kinder, Manuskript (Kopie im Besitz des Verfassers), 189-195 (Kaiser Wilhelm II. und seine Kinder). 102 Mumm berichtet irritiert, der Kaiser habe erklärt: "Der einzige der Deutschland retten kann, bin ich", 193.

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Frage anzusprechen. Im gleichen Jahr machte Mumm einen schriftlichen Vorstoß, eine Geste des Einlenkens zu erreichen. "Für diese (d.i. die alten Stoeckeranhänger) wäre es ein Herzenswunsch, wenn ein lang vergangener Gegensatz einen versöhnenden Ausklang finden könnte, hat doch Kaiser Wilhelm der Große einst Stöcker den ,Lanzenbrecher der Hohenzollern' genannt."103 Mumm dachte daran, im Namen des Kaisers ein Kranz auf Stoeckers Grab niederlegen zu lassen. Doch dieser Plan scheiterte. 104 Erreicht werden konnte lediglich, daß der Kaiser anläßlich des Jubiläums der Stadtmission 1927 ein Telegramm sandte. Dies wurde von Mumm und den Stoecker-Anhängern als Geste der Versöhnung gewertet: "Der große Kreis der Erschienenen hörte die gütigen Worte stehend an, und es ging durch den Kreis der Stöckerianer tiefe Bewegung. Es gibt ihrer ungezählte Tausende im deutschen Vaterlande, und ich weiss, wie dankbar man seiner Majestät ist, dass dadurch ein Druck von ihnen genommen ist. " 105 Eine offene Kritik am Kaiser findet sich dagegen bei den Christlich-sozialen erst spät. 1928 griff Mumm in einer biographischen Darstellung von Leben und Werk Adolf Stoeckers, Wilhelm II. erstmals offen an. 106 Er sah in der Entlassung Stoeckers und Bismarcks im Jahr 1890 ein "Verhängnis" für die deutsche Politik. Der Abschied von Stoecker, dem "Volksmann" habe eine "Einigung des Volkes" verhindert. 107 In dieser Kritik spiegelt sich zugleich das noch immer ungebrochene Selbstvertrauen der Stoecker-Anhänger, die in der christlich-sozialen Idee die einzige mögliche Antwort auf die Krisen der Gegenwart sahen, eine Position, die in ihrer Starrheit immer weniger Anhänger überzeugen konnte.

103 Reinhard Mumm an Admiral Rebeur-Paschwitz, Haus Doorn, ohne Datum (Juni 1926), Bundesarchiv Berlin, Nachlaß Reinhard Mumm, 274, Bl. 27. 104 Ein weiteres Projekt war, die Hausandachten des Kaisers zu veröffentlichen, doch dies scheiterte am Einspruch des Hauses Doorn, vgl. dazu Bundesarchiv Berlin, Nachlaß Reinhard Mumm, 274; veröffentlicht wurde lediglich eine Andacht, vgl. Kirchlich-soziale Blätter 29, 1926, Nr. 4, 1-3 (Morgenandacht Sr. Majestät des Kaisers Wilhelm). 105 Reinhard Mumm an das Hofmarschallamt Doorn am 12. 3. 1927, a . a . 0 ., Bl. 80; vgl. auch Reinhard Mumm, Adolf Stöcker und Kaiser Wilhelm li., in: Flammenzeichen 4 (1927) Nr. 50, 10. 12. 1927. 106 Vgl. Reinhard Mumm, Adolf Stoecker, in: Hans von Arnint/Georg von Below (Hg.), Deutschnationale Köpfe. Charakterbilder aus der Vergangenheit und Gegenwart der rechtsstehenden Parteien. Leipzig 1928, 297-305. 107 Ebd., 297: Der Kaiser "konnte den Weg Adolf Stoeckers gehen und durch umfassende christlich-soziale Reform sowie durch Zurückdämmung des fremdstämmigen, besonders des jüdischen Einflusses den Reichsgedanken so fest in den Herzen verankern, daß, ähnlich wie in der Schweiz, der Wille, den Staat zu schirmen, alle Schichten durchherrschte."

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m. Die Zuneigung zum Kaiser bei Mumm und den älteren Stoecker-Anhängem (etwa im Siegerland) war echt. Nicolaus Sombart, der eine ebenso ungewöhnliche wie unhistarische Beschreibung des Kaisers vorgelegt hat, ist an diesem einen Punkt zuzustimmen: Wilhelm personifizierte das "Kaisersein" in einem hohen Maß, 108 die Bevölkerung akzeptierte diese Herrschaftsausübung, der Kaiser war so, trotzaller byzantinistischen Inszenierungen, ein Volkskaiser. Dieser Mechanismus ließ auch die christlich-soziale Bewegung nicht an ihrem Kaiser und König zweifeln, trotz der schroffen Ablehnung, die sie politisch und persönlich erfuhr. Die monarchistischen Bekenntnisse waren echt, sie sind nicht Ausdruck eines durchsichtigen politischen Kalküls. In diesem Sinne kann man feststellen, daß der Kaiser darauf verzichtete, eine politisch gesellschaftliche Gruppe, die im treu ergeben war, zu integrieren. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Neben dem genannten Widerstand gegen die sozialpolitischen Vorstellungen der Christlich-sozialen trat noch ein kirchenpolitischer Dissens. Stoekker, der in seiner Grundmotivation einen theologischen Kampf gegen die Säkularisierung führte und dessen Ziel eine umfassende Rechristianisierung und Konfessionalisierung war, strebte eine Volkskirche im echten Sinne des Wortes an/ 09 er kämpfte für eine vom Staat freie Kirche. Seine kirchenpolitische Forderung nach Trennung von Staat und Kirche110 stand damit im Gegensatz zu den von Wilhelm II. vertretenen kirchenpolitischen Vorstellungen. 111 Dennoch verkörperte der Kaiser als Monarch wie nur wenige die für die christlich-soziale Bewegung nach Stoecker maßgeblich gewordene modempositive Theologie, wie sie insbesondere Reinhold Seeberg entwickelt hat. Seeberg verband dogmatische Grundüberzeugungen mit einer auf die Gegenwart und den notwendigen Fortschritt bezogenen Gesellschaftsanalyse.112 Für Seeberg war Wilhelm II. daher auch ein "moderner Mensch", der 108 Nicolaus Sombart, Wilhelm li. Sündenbock und Herr der Mitte. Berlin 1996, bes. 85 ff.; zur Kritik an diesem Buch vgl. HZ 265 (1997), 221 f., Rezension von Peter Winzen. 109 In diesem Sinne ist auch der Feststellung von Reinhold Seeberg zuzustimmen, der in seiner Gedächtnisrede sagte: "Im Mittelpunkt all seiner Interessen stand aber schließlich die religiöse und sittliche Wiedergeburt seines Volkes." Vgl. Reinhold Seeberg (Hg.), Reden und Aufsätze von Adolf Stoecker. Mit einer biographischen Einleitung. Leipzig 1913, 19. no Vgl. dazu v.a. Greschat, Stoecker und der deutsche Protestantismus (wie Anm. 22), 57 ff.; vgl. auch Gerhard Besier, Die K.leist-Hammersteinschen Anträge auf größere Selbständigkeit der evangelischen Kirche (1886/87), in: Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 2. Berlin 1994, 284-296. 111 Vgl. dazu diesen Beitrag, 111-113.

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sich neue Ziele setzt, der aber auch "in stiller Würde die Macht der Vergangenheit in Tradition und Ordnung" repräsentierte.113 Allläßlich des 25. Kronjubiläums hatte der Theologe und Publizist Martin Rade, ein Kritiker der dogmatischen christlich-sozialen Bewegung, eine charakteristische Würdigung des Kaisers verfasst: "Der Kaiser unsrer Generation".114 Wiewohl Rade weit entfernt ist von der Bewunderung, die die christlich-sozialen Artikel auszeichnete115 , mischen sich auch bei ihm verschiedene Stimmungen. Damit liefert er ein durchaus charakteristisches Bild für das Bild des Monarchen im deutschen Protestantismus. Im Grundton eher melancholisch und den Zeitläuften kritisch gesinnt, charakterisiert er die ambivalent zu bewertende Regierungszeit als eine "Übergangszeit". Vieles ist angestoßen worden vom Kaiser, wenig ist tatsächlich realisiert. Dazu zählt er ausdrücklich auch die Sozialpolitik. Die unvollendeten Politikfelder, ein Spezifikum der sprunghaften Herrschaft des Kaisers, werden jedoch von Rade, anders als von vielen christlich-sozialen Anhängern, nicht beklagt. Seine Hoffnung zielte auf weitreichende politische Veränderungen. Rade dachte dabei wohl primär an die Außenpolitik, während die Hoffnungen der christlich-sozialen Politiker sich auf neue Impulse in der Sozialpolitik konzentrierten. Letztlich erwies sich jedoch die Hoffnung der christlich-sozialen Bewegung auf ein soziales Kaisertum Wilhelms II. als trügerisch. Der Kaiser hatte weder ein wirkliches Interesse noch ein Verständnis für die Ziele und Grundlagen der christlich-sozialen Bewegung. Insofern ist auch die These von einer Abkehr des Kaisers von der christlich-sozialen Bewegung im Jahr 1896 zu relativieren. Vielmehr waren die Annäherungen und Abgrenzungen, von dem berühmten Brief an Wilhelm I. über die Waldersee-Versammlung bis zum Telegramm 1896 immer Ausdruck verschiedener Machtkonstellationen, sei es nun eine Auseinandersetzung mit den Eltern, ein außenpolitischer Konflikt oder aber die Frage der innenpolitischen Machtbalance. Diese machtpolitische Seite des Verhältnisses zwischen dem Kaiser und Stoecker ist aber innerhalb der christlich-sozialen Bewegung praktisch nicht reflektiert worden. In den Darstellungen überwiegt daher eine 112 Zu Seeberg vgl. Friedrich Wilhelm Graf/ Klaus Tanner. Lutherischer Sozialidealismus. Reinhold Seeberg (1859 -1935), in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Band 2: Kaiserreich, Teil2. Gütersloh 1993, 354397; zur modern-positiven Religion vgl. auch Lessing, Religionsgeschichtliche und modern-positive Theologie (wie Anm. 35), 395 - 399. 113 Reinhold Seeberg, Der Protestantismus unter Wilhelm ll. Die Kräfte der Gegenwart und die Aufgaben der Zukunft, in: Der Protestantismus am Ende des 19. Jahrhunderts in Wort und Bild. Band 2. Berlin 1902, 1193. 114 Christliche Welt 27, 1913, 560 f. 115 Vgl. dazu Anm. 91.

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Schuldzuweisung in Richtung Bismarck, der in Stoecker einen gefährlichen Sozialisten gesehen habe, und der antisozialen Großindustrie. Der Kaiser hat wie nur wenige das Schicksal der christlich-sozialen Bewegung bestimmt. Durch den Politikwechsel in den Jahren 1895/96 geriet die Bewegung in eine existenzbedrohende Krise. Das Telegramm 1896 versetzte ihr zwar keinen "Todesstoß" 116, die Bewegung konnte sich aber von diesem Bann nicht mehr befreien. Bis zum Ende des Kaiserreichs lebte man in der lllusion, der Kaiser und das Haus Hohenzollern würden der christlich-sozialen Idee, wie sie Adolf Stoecker vertreten hatte, zum Durchbruch verhelfen. Der Kaiser aber sah in den Christlich-sozialen keine Verbündeten für seine Politik. Dies wurde beispielhaft deutlich, als er 1897 die Betheler Anstalten besuchte und sich dort sehr positiv über die Arbeit Bodelschwinghs äußerte ("segensreiche Erfolge evangelischer Liebestätigkeit"), zugleich aber einer eigenständigen politischen Tätigkeit eine Absage erteilte.117 Für die Christlich-sozialen bedeutete dieses Festhalten an überkommenen Vorstellungen eine schwere Hypothek. Sie wurden nun nicht nur von Sozialliberalen wie Friedrich Naumann kritisiert, die eine Vermischung von Christentum und Politik ablehnten118 , in die gleiche Richtung zielte auch die kaiserliche Kritik. Allerdings deckte sich die Kritik des Kaisers nicht mit den Bedenken, die die Liberalen gegen Stoeckers Kompositum "christlich-sozial" vorbrachten. Dem Kaiser ging es ganz offensichtlich darum, den sozialen Protestantismus als politische Bewegung im Ganzen zu kritisieren. Die in dem Kaiserdiktum enthaltene Gefahr sahen so auch die sozialliberalen Blätter, die zwar Stoeckers Weg kritisierten, ihn jedoch gegen die kaiserliche und stummsehe Kritik ausdrücklich in Schutz nahmen. 119 116 Diese Einschätzung findet sich etwa bei Ernst Pett, Thron und Altar in Berlin. Achtzehn Kapitel Berliner Kirchengeschichte. Berlin 1971, 121; Petts holzschnittartige Darstellung idealisiert den Kaiser, der als Gegner Stoeckers, der eine Vermischung von Politik und Kirche vorangetrieben habe, den Grundsatz ,Kirche muß Kirche bleiben' vertreten habe. 117 Vgl. den Bericht in: Allgemeine Evangelisch-lutherische Kirchenzeitung 30, 1897, 597: Der Kaiser warb bei diesem Besuch erstmals indirekt für die von ihm initüerte sog. "Umsturzvorlage" ("rücksichtslose Niederwerfung jedes Umsturzes und die schwerste Strafe dem, der sich untersteht, einen Nebenmenschen, der arbeiten will, am freiwilligen Arbeiten zu hindern."), die auch im Lager der christlich-nationalen Arbeiterbewegung umstritten war, vgl. dazu die Darstellung von Oertzen, Wiehern bis Posadowsky (wie Anm. 84), 166 f., 175 - 179. 118 Vgl. dazu z. B. Theodor Heuss, Friedrich. Der Mann, das Werk, die Zeit. Stuttgart/Tübingen 2 1949, 100. 119 Vgl. dazu etwa die Kommentar von Friedrich Naumann, in dem dieser noch den Begriff christlich-sozial benutzt, wenn er sich auch von Stoecker selbst absetzt, Friedrich Naumann, Wochenschau, in: Die Hilfe, 2, 1896, Nr. 20, 1 f.; vgl. auch den

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Indem man sich dennoch nicht von der Fixierung auf Kaiser, König und Vaterland lösen konnte120 und indem man dogmatisch an den Vorstellungen Stoeckers festhielt, beraubte man sich der Möglichkeit, gemeinsam mit den anderen F1ügeln des sozialen Protestantismus für eine Fortsetzung der staatlichen Sozialpolitik einzutreten. Mit dem Telegramm hatte Wilhelm II. so nicht nur seine distanzierte, teilweise auch gleichgültige Haltung gegenüber der christlich-sozialen Bewegung dokumentiert, er hatte ihr zugleich eine Hypothek aufgeladen, von der sie sich, zwischen lllusion und Enttäuschung schwankend, bis zum Ende des Kaiserreichs nicht befreien konnte.

Kommentar von Hans Delbrück, der insbesondere die jüngeren Christlich-sozialen und den ESK verteidigt: Preußische Jahrbücher, 84 (1896) 565-570. 120 Stoeckers Schlagwort hieß: "Christentum, Vaterland, wiedererstandenes Kaisertum, Sozialreform"; vgl. Reinhard Mumm, Adolf Stoecker und die Vereine Deutscher Studenten, in: Beiträge zur Geschichte des Kyffhäuserverbandes der Vereine Deutscher Studenten, hg. vom Kyffhäuserband der Vereine Deutscher Studenten. Berlin 1931, (43-64), 43. g•

Wilhelm ll., die Evangelische Kirche und die preußische Polenpolitik Von Bastiaan Schot Die Evangelische Kirche der preußischen Union, wie ihre offizielle Bezeichnung seit dem 31. Oktober 1817 lautete, bildete in den polnischen Teilungsgebieten die weitaus größte und einflußreichste kulturelle Organisation der deutschen Minderheit. Als die Pariser Friedenskonferenz im Jahre 1919 diese Gebiete dem neuerstanden Polen wiedereingliederte, nahm dessen Regierung diese Verbundenheit zum Vorwand, die in ihre Jurisdiktion übergegangene evangelische Kirche als eine deutsche Irredenta zu betrachten und deren Bewegungsfreiheit erheblich einzuschränken. Vor kurzem hat Joachim Rogall aber darauf hingewiesen, daß sich diese Kirche, schon aus Rücksicht auf ihre polnischsprachigen Mitglieder, so weit als möglich von den diskriminierenden Maßnahmen des preußischen Staates gegenüber den polnischen Untertanen, sofern sich diese zum evangelischen Glauben bekannten, distanziert hatte. Das schloß allerdings nicht aus, daß einzelne Pfarrer oder auch Laien (namentlich in die betroffenen Gebiete versetzte Beamte) öffentlich mit der polenfeindlichen Agitation sympathisierten. 1 Welche Rolle die Kirche in Wirklichkeit im amtlichen Kalkül gespielt hat und in welchem Umfang sie das Verhalten der preußischen Behörden in ihrem Sinne zu beeinflussen vermochte, bildet den Hauptgegenstand des folgenden Beitrags. Als Lenker des preußischen Staates einerseits und Oberster Bischof der evangelisch-unierten Kirche andererseits geriet Wilhelm II. manchmal ins Spannungsfeld entgegengesetzter Zielsetzungen. Inwieweit er dieser Aufgabe gewachsen war, wird in der Schlußbetrachtung erörtert werden. I. Langfristige Voraussetzungen preußischer Polenpolitik

1. Strategische Bedeutung der polnischen Teilungsgebiete Im August 1772 ging ein Traum der Hohenzollemmonarchie in Erfüllung: Bei der Ersten Polnischen Teilung erhielt sie das Fürstbistum Ermland und 1 Joachim Rogall, Die Geistlichkeit der Evangelisch-Unierten Kirche in der Provinz Posen 1871-1914 und ihr Verhältnis zur preußischen Polenpolitik, Marburg/ Lahn 1990, 179 ff.

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das sog. Königliche Preußen, jenes Gebiet, dessen Herrschaft der Deutsche Orden nach dem Zweiten Thorner Frieden 1466 dem König von Polen hatte abtreten müssen. Wurden die Städte Danzig und Thorn zunächst noch von dieser Gebietsabtretung ausgenommen, so gelang es den preußischen Diplomaten bei der endgültigen Feststellung der Grenze, dafür der sog. Netzedistrikt vom Herzogtum Großpolen (Posen) hinzuzugewinnen. So entstand die langersehnte territoriale Verbindung der Mark Brandenburg und der übrigen Herrschaften der Hohenzollern im Alten Deutschen Reich auf der einen mit dem sog. Herzogtum Preußen auf der anderen Seite, das mit der Dynastie seit 1525 erblich verbunden war. Die strategische Bedeutung der neuerworbenen Gebiete für die Verwirklichung des Strebens nach einem geschlossenen Territorialstaat war offensichtlich. Die Regierung in Berlinerließ daher eine Reihe von Verordnungen, mit derer Hilfe sie die neuerworbenen Gebiete fest in ihren Staat einzugliedern hoffte. Preußisches Recht, preußische Institutionen, preußische Beamte und nicht zuletzt das preußische Steuersystem ersetzten in kürzester Zeit die überkommenen polnischen Institutionen. Vor den Toren Danzigs und Thorns wurden preußische Zollstellen errichtet. Derselben Absicht entsprach die neue amtliche Bezeichnung für die neuerworbenen Gebiete: Das Ermland wurde mit dem Herzogtum Preußen zur Provinz Ostpreußen mit der Hauptstadt Königsberg zusammengelegt, das ehemals Königliche Preußen in die Provinz Westpreußen mit Hauptstadt Marlenburg umbenannt. Um sein gesteigertes Ansehen unter den europäischen Fürstenhäusern zu betonen, änderte König Friedrich II. den geerbten Titel König in Preußen, den sein Großvater seit 1701 führte, einseitig in König von Preußen. 2 Als im Jahre 1793, bei der Zweiten Polnischen Teilung, auch der Rest Großpolens mit den Städten Danzig, Thorn und Posen, und 1795 bei der Dritten (und vollständigen) Teilung Polens auch Masowien mit der Stadt Warschau den Hohenzollern zufiel, taufte man diese Gebiete folgerichtig auf Südpreußen, bzw. Neuostpreußen um. Damit sollte aller Welt dargelegt werden, daß Polen endgültig von der politischen Karte Europas verschwunden war und Preußen seine Stelle als führende nordosteuropäische Macht übernehmen würde. Mit der Einführung des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Länder im Jahre 1794 versuchte sich der neue Staat außerdem, als ein Musterbeispiel des aufgeklärten Absolutismus darzustellen. Preußischer Ordnungssinn und preußische Institutionen sollten von nun an der unter polnischer Herrschaft angeblich verkommenen Gesellschaft ein zeitgemäßeres Gesicht geben.3 Allerdings 2 Dazu ausführlicher: Hartmut Boockmann, Deutsche Geschichte im Osten Europas: Ostpreußen und Westpreußen, Berlin 1992, 222-253, 308 und 326. 3 Ebd., 327. Vgl auch: Hans-Jürgen Bömelburg, Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom königlichen Preussen zu Westpreussen {1756 - 1806), München 1995, 231 f .

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mußten diese ehrgeizigen Absichten knapp zehn Jahre später wiederaufgegeben werden, als das preußische Heer, der Stolz des Landes, von den Armeen Napoleons bei Jena und Auerstädt vernichtet worden war. Auf dem Wiener Kongreß 1815 erhielten die Hohenzollern zwar Westpreußen und Posen zurück, die Stadt Warschau und ihr Umland wurden aber dem russischen Zaren zugesprochen. Damit hatten die europäischen Großmächte zumindest die territoriale Einheit der preußischen Monarchie gewährleistet.

2. Unterschiedliche Stellung des Landadels in Ost- bzw. Westpreußen Die Eingliederung der Bevölkerung der polnischen Teilungsgebiete in die absolute Monarchie erwies sich für die preußischen Regierungen als eine äußerst schwer zu bewältigende Aufgabe. Der Grund war, daß sich in den ursprünglichen Landesteilen der Monarchie, der Mark Brandenburg, Vorund Hinterpommern sowie dem Herzogtum Preußen das Verhältnis zwischen gutsbesitzendem Adel und König in ganz andere Richtung entwickelt hatte als in den neuerworbenen Territorien. Unter Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten (1640 -1688), und dessen Nachfolger hatte der Adel im Verlauf zermürbender Kämpfe auf fast alle seine ständischen Vorrechte verzichten und sich dem absoluten Führungsanspruch seines Landesherren unterordnen müssen. Nur noch die Selbstverwaltung in seinen "privaten" Domänen war ihm vom Fürsten bewilligt worden, allerdings unter der Bedingung, daß er die von der fürstlichen Zentralregierung beschlossenen Gesetze und Verordnungen loyal durchführte. Auch mit der Vergabe führender Positionen am Hof, im von ihm befehligten stehenden Heer und in der örtlichen und provinziellen Verwaltung versuchten die aufeinanderfolgenden Herrscher sich den Adel gefügig zu machen. Allmählich verwandelte sich der altpreußische Adel von einem Gegner des Absolutismus in eine seiner wichtigsten Stützen und bemächtigte sich der Schlüsselposition in der vom Fürsten geleiteten staatlichen Zentralverwaltung. 4 Diese Entwicklung war so gut wie abgeschlossen, als nun auch das königliche Preußen den Hohenzollern in die Hände fiel. Im Königreich Polen aber und also auch in den Gebieten, die nach 1772 dem preußischen Staat zufielen, hatte der Adel seinen Machtbereich dem König gegenüber nicht unerheblich erweitern können. Der Grund dafür war, daß in Polen der König einstimmig vom Landtag (Sejm) gewählt werden mußte und jeder Pole adeliger Abstammung mit seiner Stimme die Wahl entscheiden konnte (das berühmte und berüchtigte Liberum veto). Daß 4 Hans Rosenberg, Bureaucracy, aristocracy and autocracy. The Prussian experience 1660-1815, Cambridge/Mass. 1958.

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Landtagssitzungen trotzdem nicht in einem Chaos endeten, war dem Umstand zu verdanken, daß sich die Macht im Staate allmählich in den Händen einer verhältnismäßig beschränkter Zahl adeliger Magnaten konzentrierte, deren Güterbesitz sich bis in die entlegensten Gebiete des Landes erstreckte. Auf diese Grundlage hatten sie eine weitverzweigte Klientel aufgebaut, die ihnen bei wichtigen Abstimmungen zur Verfügung stand. Wer sich um die polnische Krone bewarb, war gezwungen, sich durch weitgehende Zugeständnisse der Unterstützung mehrerer dieser Großfamilien zu versichern. Führende Ämter am fürstlichen Hof oder in der vom Landtag kontrollierten Verwaltung konnten deshalb nur an Angehörige dieser Verbände vergeben werden. Auch bei der Besetzung provinzieller Verwaltungsorgane durfte der König nur Kandidaten berufen, die ihm von den in der jeweiligen Gegend begüterten und landtagsberechtigten Adelsfamilien vorgetragen wurden (das sog. Indigenat). Für die Durchsetzung etwaiger dynastischer Interessen - oder bei der Ausführung der von einem Landtag verabschiedeten Maßnahmen - war der König auf die Mitarbeit des Adels angewiesen. Dementsprechend fehlten in Polen die Voraussetzungen für die Herausbildung eines absoluten Königtums. Sowohl der Einfluß des Königs, als auch der der mit ihm regierenden adeligen Familien wurde an erster Stelle vom Machtbereich des sie jeweils umgebenden Personenkreises bestimmt. Die Ausdehnung des polnischen Reiches oder Rzeczpospolita änderte sich daher fortlaufend, und festumschriebene Grenzen lassen sich kaum ermitteln. Die häufig einberufenen Landtage dienten vor allem dazu, zwischen den Anführern der adeligen Verbände einen Kompromiß auszuhandeln und Konflikte friedlich beizulegen. Dem König fiel in solchen Fallen die- an sich nicht unbedeutende Rolle - eines überparteilichen Schiedsrichters zu. Der Begriff Personenverbandsstaat, den die deutsche Geschichtsschreibung für das Heilige Römische Reich entwickelt hat, läßt sich deshalb ohne weiteres auch auf das polnische Reich anwenden. Wie das Alte Deutsche Reich setzte sich auch Polen aus mehreren selbständigen und gleichberechtigten adeligen Herrschaften zusammen, die ihre Selbständigkeit und traditionellen Vorrechte sorgfältig vor gegenseitigen Übergriffen absicherten5 • Sich selbst bezeichnete der Adel Polens einfach nur als das Geschlecht (Szlachta). Neuerdings findet man in der Geschichtsschreibung auch den Begriff politische Nation. 6 Weil die Mitglieder eines solchen politischen Gebildes sich in der Regel einen möglichst weiten Raum für politische Manöver erschließen 5 Theodor Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter, in: Historische Zeitschrift, 159 (1939) 457-487, hier 465 f., wiederabgedruckt in: Helmut Kämpf (Hg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter, Dannstadt 1956, 284-316, hier 293. Zur politischen Verfassung des frühneuzeitlichen Polens, s. z. B. Jörg K. Hoensch, Sozialverfassung und politische Reform. Polen im vorrevolutionären Zeitalter, Köln 1973. 6 Bömelburg (Anm. 3) 96 ff.

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wollten, widersetzten sie sich jedem Versuch, ihre Tätigkeit auf ein bestimmtes Territorium zu beschränken. Langfristiges Ziel der preußischen Polenpolitik war es, die Stellung des königlich- (jetzt west-)preußischen Adels der seiner Standesgenossen in den älteren Landesteilen der Hohenzollernmonarchie anzugleichen. Adelige Familien, die sich nicht in eine absolute Monarchie eingliedern lassen wollten, sollten nach Ansicht König Friedrichs II. ihren Landbesitz in den Preußen zufallenden Territorien aufgeben und sich auf einen ihrer nicht von der Teilung betroffenen Herrschaftssitze in Restpolen zurückziehen. 7 Für diejenigen, die sich mit dem Übergang an Preußen abfanden, hatte die königliche Regierung in Berlin, noch bevor die Teilung im August 1772 durchgeführt worden war, bereits mehrere Verordnungen ausgearbeitet, die die Bewegungsfreiheit des Adels auf die preußischen Territorien einschränkten: Angehörigen des westpreußischen Adels wurde verboten, ins Ausland zu reisen oder sich dort für längere Zeit aufzuhalten. Außerdem durften sie nicht ohne königliche Erlaubnis in fremden Staatsdienst treten. Dadurch konnten siez. B. nicht mehr einer Tagung des Sejm in Warschau beiwohnen, sich um ein dort zu vergebendes Amt bewerben oder auch ihre Verbindungen zur jenseits der Grenzen verbliebenen Klientel aufrechterhalten. Erträge ihrer landwirtschaftlichen Betriebe durften sie nur innerhalb der preußischen Zollgrenzen verwenden. 8 Als diese Verordnungen nicht die erhoffte umfangreiche Abwanderung polnischer Gutsbesitzer in Gang setzten, versuchten die preußischen Behörden ihnen, etwa durch höhere Steuerforderungen gegenüber den Gutsherren der übrigen Provinzen, den Verbleib im Staate so unangenehm wie möglich zu machen. Weiterhin ging man dazu über, in die provinziellen und lokalen Verwaltungen, die der polnische König vor der Teilung-aufgrund des Indigenats- nur an Angehörige des dort ansässigen Adels hatte vergeben dürfen, zuverlässige Personen aus den Stammländern der Monarchie (namentlich Ostpreußen) zu berufen. Dadurch wurde dem alteingesessenen Landadel Westpreußens jeder Einfluß auf die Bestellung der Landräte verwehrt. In allen Landkreisen der Monarchie hatte seit mehr als einem Jahrhundert der Brauch Eingang gefunden, daß der König auf Landratposten nur Kandidaten berief, die das Vertrauen des jeweils dort begüterten Adels besaßen. Diesem Landrat fiel die Aufgabe zu, die Gutsbesitzer zur Mitarbeit an der Durchführung von den königlichen Behörden beschlossener Gesetze und Verordnungen zu gewinnen - vor allem in ihren "privaten Domänen"- und mit ihnen über die Umlage der vom König verlangten Abgaben zu verhandeln. Er bildete die Drehscheibe zwischen monarchischem Absolutismus und der vom Fürsten dem Standesadel noch be7 Ebd., 339. s Ebd., 229 ff.

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lassenen Selbstvexwaltung. Dieser Beamte verkörperte in gewisser Hinsicht den Interessenausgleich zwischen König und Landadel, auf dem der preußische Staat beruhte. Die Tatsache, daß dem polnischen Adel absichtlich dieses Zugeständnis einstweilen vorenthalten wurde, zeigt, wie sehr man in Berlin dessen politische Zuverlässigkeit anzweifelte. 9 Um die Machtstellung des königlich-polnischen Adels weiter zurückzudrängen, enteignete König Friedrich den umfangreichen Güterbesitz der polnischen Krone sowie der römisch-katholischen Kirche und Klöster und verteilte ihn unter Domänenpächtern und mittelgroßen Gutsbesitzern aus den übrigen Provinzen Preußens, namentlich Ostpreußens.10 Außerdem versuchte er, mit den Erträgen aus seinen Domänen Güter aus polnisch-adeliger Hand zu exwerben, um diese wiederum zu günstigen Bedingungen -wie verbilligten Zinsen oder langfristigen, von ihm garantierten Hypotheken interessierten und politisch zuverlässigen Anwärtern zu übertragen. Um möglichst viele Käufer oder Pächter aus den übrigen Landesteilen Preußens nach Westpreußen zu locken, war König Friedrich II. sogar bereit, kapitalkräftigen Personen bürgerlicher Herkunft ausnahmsweise den Kauf landtagsberechtigter-sonst dem Geburtsadel vorbehaltener- Güter zu erlauben, und er ließ bei dieser Gelegenheit durchblicken, etwaige Gesuche auf Erhebung in den Adelsstand wohlwollend zu exwägen. 11 Nach Ansicht König Friedrichs II. und seiner Berater sollten diese Ausnahmebestimmungen nur solange in Kraft bleiben, bis der Rest der westpreußischen Szlachta mit den neueingewanderten adeligen und bürgerlichen Familien zu einer breiten, dem Staat ergebenen Gefolgschaft verschmolzen war. Nur unter diesen Voraussetzungen glaubte man, die neuen Territorien in den Staat einzugliedern,· ohne den Adel in den übrigen Landesteilen der Monarchie zu entfremden. In seiner vor kurzem erschienenen Untersuchung hat Hans Bömelburg nachgewiesen, daß alle diese Maßnahmen einstweilen den exwarteten Zweck verfehlten. Wären jene Familien, die innerhalb des Teilungsgebietes über die umfangreichsten Güter verfügten, tatsächlich ausgewandert, dann hätten sie den größten Teil ihrer Klientel auf preußischem Gebiet zurücklassen müssen. Es würde ihnen äußerst schwer gefallen sein, irgendwo sonst in Polen eine neue Gefolgschaft aufzubauen. Darum wagten sie lieber den Kampf mit der preußischen Macht, wobei sie sich auf ihre nicht unbeträchtliche Zahl, ihre Familiensolidarität und ihre finanzielle Überlegenheit verließen. Unter diesen Umständen sahen mehrere Interessenten aus dem alten Preußen von Übersiedlung in die neuen Territorien ab. Als amtliche Erhebungen um die Mitte der achtziger Ebd., 231 f. to Ebd., 244 ff. 11 Ebd., 343 ff. 9

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Jahre schon eine nicht unerhebliche Verschiebung der Besitzverhältnisse in die erwünschte Richtung zeigten, entschloß sich der Nachfolger Friedrichs II., die Ausnahmegesetze in Bezug auf die westpreußischen Gebiete wieder aufzuheben.12 3. Das fundamentale Dilemma der preußischen Polenpolitik

Zusammenfassend läßt sich als Hauptziel der preußischen Polenpolitik im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert festhalten, daß das Bedürfnis des Staates nach einem zusammenhängenden und gesicherten Territorium mit der dem Standesadel gewährten Vormachtstellung in Staat und Gesellschaft in Einklang gebracht werden sollte. Hatten die Hohenzollern mehr als ein Jahrhundert gebraucht, um den Adel in ihren Stammländern zu disziplinieren, so standen sie jetzt vor der Aufgabe, den westpreussischen Teil der Szlachta innerhalb von lmapp zehn Jahren in ihre Herrschaft zu integrieren und auf die neuen territorialen Gegebenheiten zu verpflichten. Mit den Machtmitteln des Absolutismus hätte dies verwirklicht werden können. Aber allzu hartes Vorgehen gegen die adeligen Hochburgen in den polnischen Teilungsgebieten drohte nun auch den altpreußischen Adel gegen die Monarchie und ihre Beamten aufzubringen, weil solche Maßnahmen leicht als Vorbote eines grösseren Angriffs gegen die letzten noch vom Fürsten gewährleisteten aristokratischen Vorrechte gedeutet werden konnten. Die Angst vor dem überall in Ostmitteleuropa um sich greifenden Reformeifer aufgeklärter Bürokraten, der den Adel in der Habsburgermonarchie bereits zum Widerstand gereizt hatte, verfehlte auch ihre Auswirkung auf den traditionellen preußischen Landadel nicht. Um ähnlichen Entwicklungen in Preußen zuvorzukommen, entschloß sich der neue Herrscher, Friedrich WHhelm II., die Ziele der preußischen Polenpolitik durch einen mehr entgegenkommenden Kurs zu verwirklichen. Unter diesen Voraussetzungen vermochte der polnische Adel weitere Anschläge auf seine Vormachtstellung mit Erfolg abzuwehren. 4. Die Rolle der evangelischen Kirche

Auf der Suche nach Kandidaten für den Aufbau einer dem königlichen Absolutismus zugetanen Gefolgschaft, welche die Führungsrolle des polnischen Adels und des mit ihm eng verschwägerten römisch-katholischen Klerus hätte ersetzen können, maßen die Initiatoren der preußischen Polenpolitik den über das ganze ihnen zugefallene Gebiet zerstreut wohnenden 12

Ebd., 355 ff.; 373 ff.

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evangelischen Gemeinden nur geringen Wert bei. Stattdessen war alle ihre Energie darauf gerichtet, möglichst viele Persönlichkeiten aus den Stammländern der Monarchie, deren Königstreue über jeden Zweifel erhaben war, zu bewegen, sich als Gutsbesitzer oder Domänenpächter in der neoerworbenen Provinz niederzulassen oder sich um einen Posten in der Staatsverwaltung zu bewerben. Auf den ersten Blick mag diese Zurückhaltung gegenüber den überwiegend polnischsprachigen Evangelischen befremdend wirken. Ihre Ursprünge lassen sich bis in den Anfang der Reformation zurückverfolgen, als sich Luthers Lehre vom Alten Deutschen Reich aus über Nordosteuropa verbreitete und namentlich im Herzogtum Preußen und Livland dank der Förderung durch die entsprechenden Landesherren zum vorherrschenden Bekenntnis aufstieg. In den Kerngebieten der Rzeczpospolita blieben die polnischen Evangelischen jedoch eine Minderheit, die sich nach dem Trientiner Konzil nur mit äußerster Anstrengung gegenüber der siegreichen Gegenreformation und dem Bekehrungseifer der Jesuiten behaupten konnte, ausgenommen dort, wo sich adelige Herrscher unerschütterlich zum Protestantismus bekannten und ihre Anhänger in Schutz nahmen. Sie zeigten sich jedoch außerstande, die allmähliche Zurückdrängong der Protestanten aus dem politischen Leben zu verhindern, bis sie in den Jahrzehnten vor der Ersten Teilung durch einen Beschluß des polnischen Landtags von der Bekleidung sämtlicher öffentlicher Ämter ausgeschlossen wurden. Auf dem Papier stellte den Evangelischen der Übergang in hohenzollerische Herrschaft erheblich günstigere Überlebenschancen in Aussicht. Seit der Konversion des sächsischen Kurfürsten August des Starken, der für sich und seine Nachkommen die Wahl zum-polnischen König zu sichern hoffte, galt das Haus Brandenburg als der wichtigste Schirmherr der Protestanten im Alten Deutschen Reich. Trotzdem zögerten die preußischen Behörden, die polnischen Protestanten als eine geeignete Herrschaftsgrundlage zu betrachten. Hans Bömelburg führt in seinem vor kurzem erschienenen Buch als wichtigsten Grund für diese Zurückhaltung an, daß Friedrich II. beim Erwerb des Königlichen Preußens sich vertraglich verpflichtet hatte, die Vorrechte der katholischen Kirche vorbehaltlos anzuerkennen. Ohnehin schon erschien es ratsam, gerade in den Anfangsjahren preußischer Herrschaft jede Konfrontation mit dem einflußreichen polnischen Klerus zu vermeiden, damit sich nicht die gesamte katholische Bevölkerung gewaltsam gegen ihren neuen Landesherrn erhob. Mit dieser Argumentation übersieht Bömelburg jedoch die Bedeutung der seit langem von den brandenburgischen Kurfürsten befolgten grundsätzlichen Toleranz gegenüber religiösen Gemeinschaften.

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5. Das landesherrliche Kirchenregiment Grundlage für die Beziehungen zwischen dem Landesfürsten und den in seiner Herrschaft verbliebenen Religionsgemeinschaften war das sog. landesherrliche Kirchenregiment, das ihm eine fast uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Einrichtungen, die Ämterbesetzung und den Grundbesitz sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirchen sowie ihrer Stiftungen innerhalb seines Machtbereichs gewährte, das sog. jus circa sacra. Stillschweigend wurde jedoch angenommen, daß er sich weder in Auseinandersetzungen über die Dogmatik, die Auslegung der Schrift bzw. in allgemein theologische Fragen einmischte, noch Einfluß auf Inhalt und Form der Kirchenpredigt und der Liturgie, das jus in sacra, auszuüben versuchte. Dies alles nach dem bekannten Grundsatz: Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist. In der Praxis ließen sich diese Bereiche aber nur schwer voneinander trennen. Sobald theologische Konflikte die kirchlichen Gemeinden zu entzweien drohten, zögerten die Fürsten nie, den Frieden mit einem Machtwort wiederherzustellen. Durch diese Interventionen entwickelte sich überall im Alten Deutschen Reich der sog. Pietismus, der auf christliche Nächstenliebe abhob und sich grundsätzlich machtpolitischen Fragen fernhielt. 13 Im Prinzip brauchten die katholischen Gemeinden, die infolge der Ersten Polnischen Teilung in brandenburgisch-preußische Herrschaft übergingen, weder Beschränkungen ihres religiösen Lebens noch Verfolgungen zu befürchten. Die Zugeständnisse, die Friedrich II. beim Warschauer Abkommen vom August 1772 in dieser Beziehung machte, widersprachen also in keinerlei Hinsicht der ohnehin schon längst in seinen Ländern geltenden Praxis. Doch nach Ansicht der preußischen Behörden bedeuteten diese Bestimmungen kein Hindernis, die alten Vorrechte der Katholiken aufzuheben und den evangelischen Polen die vollständige Gleichberechtigung zu gewährleisten. Das bedeutete, daß sie nun wieder öffentliche Ämter bekleiden durften und gegen alle Versuche, sie mit Gewalt oder durch sozialen Druck zum Katholizismus zu bekehren, geschützt waren. Als sie jedoch die Rückgabe ihrer in der Zeit der Verfolgungen enteigneten Kirchen und kirchlichen Vermögen forderten, versagte die preußische Regierung die Unterstützung und war ebensowenig bereit, die Protestanten von gewissen Abgaben an die katholische Geistlichkeit zu befreien, wenn deren wirtschaftliche Existenzgrundlage dadurch gefährdet wurde.14 13 Robert Stupperich, Kirche und Konfession in den deutschen Ostgebieten, in: Bernhart Jähnig und Silke Spieler (Hg.), Kirchen und Bekenntnisgruppen im Osten des Deutschen Reiches. Ihre Beziehungen zu Staat und Gesellschaft, Bonn 1991, 1530, hier 18. 14 Bömelburg (Anm. 3) 312 f.

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Unter normalen Umständen hätte das landesherrliche Kirchenregiment die friedliche Koexistenz zwischen Katholiken und Evangelischen gewährleisten müssen und sei es auch unter der Schirmherrschaft eines absoluten Fürsten. Von den Hohenzollem wurde es aber auch dazu benutzt, die umfangreichen Besitztümer der katholischen Kirche den fürstlichen Domänen einzuverleiben und der westpreußischen Szlachta ihre traditionellen Patronats- und Schutzrechte über die katholische Kirche und Klöster zu nehmen. Nach Ansicht Friedrichs ll. schränkte das Warschauer Abkommen keineswegs die ihm zukommenden landesherrlichen Prärogativen ein. Aufgrund dieser einseitigen Auslegung war der Klerus auf einmal für seinen künftigen Lebensunterhalt auf die vom preußischen Staat aus den Erträgen dieser enteigneten Besitzungen zu leistenden Zahlungen angewiesen. Damit verschaffte sich die preußische Obrigkeit eine Handhabe, die Verbindungen der katholischen Geistlichkeit zu ihren Glaubensgenossen und ggf. auch zu ihren ehemaligen Vorgesetzten jenseits der Staatsgrenzen zu durchtrennenY Abgesehen von solchen administrativen Eingriffen verzichteten die preußischen Behörden auf jede Einwirkung auf das geistige Leben ihrer polnischen Untertanen. So konnte sich die bereits vor den Teilungen keimende Gleichsetzung von katholischem Glauben und polnischem Nationalgefühl unbehelligt weiter entwickeln. Alles in allem ergibt die preußische Kirchenpolitik ein äußerst widersprüchliches Bild. Der Staat war offensichtlich in erster Linie bestrebt, die katholische Kirche unter seine Fittiche zu bringen und der in Westpreußen beheimateten Szlachta eine ihrer stärksten Säule zu nehmen. Aber wegen des hervorragenden Einflusses dieser Kirche auf das Geistesleben der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung gingen die Behörden äußerst umsichtig vor. Dadurch konnten die evangelischen Polen sowie ihre dort schon vorhandenen deutschen Glaubensbrüder sich nur langsam von den Folgen der Unterdrückung und politischen Diskriminierung erholen. Vorerst konnten sich daher die im Jahre 1772 vorherrschenden religiösen Verhältnisse konsolidieren und deshalb blieben die Evangelischen nach wie vor eine religiöse Minderheit. Wenn ihre Zahl dennoch leicht anstieg, so war dies in erster Linie dem Zuzug von Gutsbesitzem, Domänenpächtem und vor allem auch Staatsbeamten aus den übrigen preußischen Provinzen zu verdanken. Sie aber sprachen in der Regel ausschließlich Deutsch; nur wenige unter ihnen entstammten einer Gegend, wo bereits Polnisch und Deutsch gleichermaßen gesprochen wurden. Dieser Zuwachs des protestantischen Elements wurde bald jedoch wieder ausgeglichen, indem mehrere Handwerker, vor allem die, welche im städtischen Textilgewerbe tätig waren und sich seit jeher zum Protestantismus bekannten, mit ihren Familien aus den preußi15

Ebd., 315 ff.

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sehen Teilungsgebieten in die Industriezentren des noch unabhängig gebliebenen Polens, wie z. B. L6dZ, auswanderten, wo ihnen erheblich bessere wirtschaftliche Bedingungen winkten als in den vorwiegend großagrarischen Gebieten West- oder Ostpreußens. Nur mit einiger Mühe läßt sich berechnen, wie viele polnischsprachige Evangelische in den betroffenen Provinzen wohnten. Es zeigt sich, daß ihre Zahl in mehreren Landkreisen in Wirklichkeit die ihrer deutschsprachigen Glaubensbrüder übertraf, und wenn sie in gewissen Orten doch eine Minderheit bildeten, sank sie ganz selten unter 25% aller dort registrierten protestantischen Einwohner. 16

n. Preußische Reformen und landesherrliches Kirchenregiment Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Lande, das im Jahre 1794 verkündet wurde, beruhte bekanntlich auf der "Trennung" der Person des Herrschers von seinen öffentlich-rechtlichen Funktionen. Nicht länger verkörperte der König den Staat, sondern stellte sich als dessen "Ersten Diener" dar. Nach Ansicht der Reformer sollten auch die landesherrlichen Prärogativen in die Regie der Bürokratie übergehen. Die preußischen Könige aber weigerten sich, auf das Kirchenregiment und die sich für sie daraus ergebende Stellung eines summus episcopus zu verzichten, weil sie diese als den klarsten Ausdruck ihres Gottesgnadentums empfanden. Außerdem wollten sie sich das Recht vorbehalten, ohne bürokratische Einmischung verdienstvolle Personen aus adeligen und bürgerlichen Familien in kirchliche Ämter zu berufen. Solange der König aber auf seinen kirchlichen Prärogativen beharrte, konnten die Kirchen - und namentlich die evangelische Landeskirche - gegen allzu weitgehende Eingriffe der Bürokratie in ihre traditionelle Selbstverwaltung und ihr geistiges Leben auf den Monarchen zurückgreifen. Diese Möglichkeit hat der evangelische Klerus dann auch oft ausgenutzt. Und der König hat ihn dabei verschiedentlich unterstützt, um zu verhindern, daß die Bürokratie zu viel Macht gewann. Eine der wichtigsten Fblgen dieser Entwicklung war, daß die evangelische Kirche kaum von den theologischen Auseinandersetzungen um die Aufklärung berührt wurde und sich von den politischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, namentlich vom Liberalismus und von der Sozialdemokratie, distanzierte. 17 Die Vereinigung 16 Leszek Belzyt, Sprachliche Minderheiten im preußischen Staat 1815-1914. Die preußische Sprachenstatistik in Bearbeitung und Kommentar, Marburg/Lahn 1998,

12 ff.

17 StuppeTich (Anm. 13) 26 ff. S. auch: Klaus ETich Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußi-

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der lutherischen und reformierten Landeskirchen am 31. Oktober 1817 entsprang einer persönlichen Initiative Friedrich Wilhelms III. und kam noch schwebenden bürokratischen Reformprojekten zuvor. Dieser latente Interessengegensatz zwischen Herrscher und Bürokratie dauerte während des ganzen 19. Jahrhunderts an, und nur widerwillig haben sich die Beamten dem monarchischen Vorbehalt gebeugt. Aus diesen Gründen läßt sich die evangelische Kirche der preußischen Union kaum als Staatskirche, wie häufig zu lesen ist, sondern allenfalls als königlich-preußische Landeskirche bezeichnen. Zwar haben ihr die Robenzollern eine rationale, z.T. aus Berufsbeamten zusammengesetzte hierarchische Behördenorganisation aufgesetzt: von den Kirchspielen, über die regionalen Konsistorien bis hinauf zum Evangelischen Oberkirchenrat (EOK), der 1850 ins Leben gerufen wurde. Dieser sollte dem Landesherrn die Verwaltung der routinemäßigen Geschäfte aus der Hand nehmen. Aber dennoch kann man die Kirche nicht als Staat im Staat betrachten, weil sowohl die Fäden der staatlichen Bürokratie als auch die der kirchlichen Verwaltung in der monarchischen Spitze zusammenliefen und der König immer bestrebt war, ihre Aufgabenbereiche aufeinander abzustimmen. Die Wahrnehmung dieser Arbeit fiel in der Praxis wiederum dem Kultusminister zu, der zwar in den Sitzungen des preußischen Staatsministeriums den Standpunkt der Kirche befürwortete, seinerseits jedoch an die Weisungen des preußischen Ministerpräsidenten gebunden war. Um zu verhindern, daß gravierende Meinungsunterschiede die Entschlußkraft im preußischen Kabinett lähmten, waren manche Ministerpräsidenten dazu übergegangen, sich schon vorher mit dem König auf eine endgültige Lösung zu verständigen. Ihrem Verhandlungsgeschickgelang es, den Einfluß des Staates im öffentlichen Leben auf Kosten der Kirche allmählich zu erweitern, namentlich auf dem Gebiet des Unterrichts und der Einführung der Zivilehe. Kirche und Staat überschnitten sich also mehrfach. Es gab aber ein gemeinsames Interesse, und zwar die Abwehr von Liberalismus und Sozialdemokratie. Ein weiterer Unterschied zwischen Bürokratie und Kirche läßt sich beobachten: Die gesamte evangelische Geistlichkeit, vom einzelnen Pfarrer bis hinauf zum Superintendenten und Generalsuperintendenten, sowie die übergroße Mehrheit der Konsistorialbeamten, betrachtete sich meistens als "Diener" ihres Oberhirten, nicht als Angestellte aufgrund eines formalen Dienstverhältnisses. 18 Damit hoben sie sich grundsätzlich von ihren Kollesehen Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1890. Berlin- New York 1973, 54-72. 18 Man vergleiche Wortlaut und Stil verschiedener Eingaben kirchlicher Würdenträger beim König und bei der Regierung, z. B. in dem von Gerhard Besier herausgegebenen Dokumentenband: Preußischer Staat und Evangelische Kirche in der Bismarckära, Gütersloh 1980.

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gen in der preußischen Staatsverwaltung ab. Nun hat die Geschichtsschreibung nachgewiesen, daß eben diese Staatsbürokratie dem von Max Weber entwickelten Idealtypus der rationalen Herrschaft Modell gestanden hat. Dieser Begriff paßt aber nicht für die Kirche. Vielmehr weist sie die Merkmale einer traditionalen Herrschaft auf, derer Legitimität -so Weber- sich an der Person des jeweiligen Herrschers orientiert und ihn als die Verkörperung "seit jeher geltenden" Rechtsnormen erkennt. Solange seine Autorität "geglaubt" wird, entfällt die Notwendigkeit, diese Normen zu kodifizieren. Innerhalb dieses persönlichen Vertrauens, dieses Wohlwollens, ist der Herrscher befugt, das Recht nach eigenem Ermessen zu "finden", um jeden konkreten Streitfall beizulegen. Innerhalb dieser Grenzen ist seiner Gewalt gewissermaßen keine Schranke gesetzt. 19 Das dürfte erklären, weshalb z. B. die vom König verordnete Union der reformierten und lutherischen Kirchen vom 31. Oktober 1817 sowie die Agende vom Jahre 1823, trotzmanchen Protesten und trotz dem Austritt der sog. Altlutheraner nicht auf eine Kündigung des Vertrauens zum Oberhaupt der Kirche hinauslief. 20 Daß beide Herrschaftsfonnen nebeneinander existierten, hat die Geschichtsschreibung kaum zur Kenntnis nehmen wollen. Max Weber selber hat nicht unerheblich zur Verwirrung der Geister beigetragen, indem er die rationale, an geschriebene Gesetze orientierte Herrschaft als die bezeichnete, welche zu der modernen kapitalistischen Gesellschaft am besten paßt. Die preußisch-deutsche Praxis zeigt jedoch, daß beide Formen sich sehr gut vertrugen. Obwohl sie in der Regel ohne große Reibungen zusammenarbeiteten, nahm sich die evangelische Landeskirche in der Sicht reformeifriger aufgeklärter Bürokraten im Prinzip doch als ein Fremdkörper, als ein Relikt aus vormoderner Zeit aus. Aber weil der König seine Hand über sie hielt, mußten seine Minister sich mit dieser Sonderstellung abfinden. Auch die politischen Parteien, die für sich staatliche Anerkennung und die Einführung von parlamentarischen Vertretungen forderten, empfanden die Kirche als ein Instrument der konservativen Mächte und verlangten deshalb Trennung von Kirche und Staat. Weil die Konservativen ihre unmittelbare Beziehung zum König für ein angestammtes Recht hielten und den sich daraus ergebenen exklusiven Zugang zur kirchlichen Ämterbesetzung nicht verlieren wollten, bekämpften sie grundsätzlich den umsichgreifenden Konstitutionalismus. Im Lager der bürgerlich-liberalen Opposition hat man den Interessengegensatz zwischen Kirche und staatlicher Bürokratie anscheinend 19 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von Joh. Winckelmann, 5. Aufl. Tübingen 1972, 130. 20 Werner Klän, Um Kirche und Bekenntnis. Die preußischen Altlutheraner zwischen Selbstbehauptung und Staatstreue, in: Jähnig/Spieler, Kirchen und Bekenntnisgruppen (Anm. 13) 177-199. Vgl. auch: Klaus Wappler, Der theologische Ort der preußischen Unionsurkunde vom 27. 9. 1817, Berlin 1978.

10 FBPG - NF, Beiheft 5

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übersehen. 21 Das Revolutionsjahr 1848 brachte in diesem Kraftfeld keine wesentlichen Verschiebungen. Und auch die preußische Staatsverfassung vom Jahre 1850 vermochte diese Frage nicht endgültig zu lösen, wenn auch Artikel 15 den evangelischen, katholischen und sonstigen Religionsgesellschaften eine weitgehende innere Selbstverwaltung gewährleistete. Sowohl lliedrich Wilhelm IV. als auch sein Bruder und Nachfolger Wilhelm I. bestanden nach wie vor auf ihrem Summum Episcopatum und versagten den erforderlichen Ausführungsgesetzen ihre Mitwirkung. Sogar Bismarck gelang es nicht, den König auf andere Gedanken zu bringen. 22 Dieser Gegensatz zeigte sich auch, als in den letzten Jahren der Bismarckära erneut auf Ziele und Methoden der friderizianischen Polenpolitik zurückgegriffen wurde.

1. Die Ansiedlungsvorlage 1886 und die evangelische Kirche Kernstück von Bismarcks Polenpolitik war das Ansiedlungsgesetz, das der preußische Landtag am 26. April1886 billigte. Damit setzte er der friedlichen Koexistenz zwischen preußischem Staat und polnischem Adel in den polnischen Teilungsgebieten ein jähes Ende. Ein Fingerzeig auf Bismarcks Beweggründe findet sich schon in einem Brief, den er am 20. April1848 an die Magdeburger Zeitung schickte, der aber erst in der Ausgabe vom 5. Januar 1886, abgedruckt wurde. In scharfen Worten warf er den deutschen Liberalen und Nationalisten vor, das preußische Königreich für das polnische Unabhängigkeitsstreben opfern zu wollen. Weil die Polen die Rückgabe all jener Gebiete forderten, die vor der Ersten Teilung zum polnischen Staat gehört hatten, würden "Preußens beste Sehnen durchschnitten und Millionen Deutscher der polnischen Willkür überantwortet." Er halte diese Schwärmerei "für die bedauerlichste Donquichotterie, die je ein Staat zu seinem und seiner Angehörigen Verderben begangen hat. "23 Nach der Reichsgründung änderte sich das Verhältnis zwischen der deutschen Nationalbewegung und Bismarck als Reichskanzler und Schöpfer der deutschen Einheit grundlegend. Obwohl sie ihm wegen seiner konservativen Pollmann (Anm. 17) 11-18. Gerhard Besier, Preußische Kirchenpolitik in der Bismarckära. Die Diskussion in Staat und Evangelischer Kirche um eine Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse Preußens zwischen 1866 und 1872, Berlin- New York 1980, 8-42. 23 Bismarck an die Magdeburgische Zeitung, den 20. Aprill848, zuerst abgedr. in der Ausgabe vom 5. Januar 1886; Wiederabdr. in: Die Gesammelten Werke (Friedrichsruher Ausgabe) XIV (1) hg. von Wolfgang Windelband und Werner Frauendienst, Berlin 1933, Nr. 137, 105 f. Angeblich haben die Herausgeber die verspätete Veröffentlichung übersehen. 21

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Gesinnung und seines Festhaltens am preußischen (aufgeklärten) Absolutismus mißtraute, verhehlte sie ihre Begeisterung für das, was er zustandegebracht hatte, nicht und verließ sich darauf, daß er als wahrer Realpolitiker dem Verlangen nach liberalen Reformen nicht auf Dauer widerstehen könne. Unter dem Druck einer anhaltenden Wirtschaftskrise gelang es Bismarck jedoch Ende der 1870er Jahre, einen Teil der Liberalen für eine durchgreifende Reform der Sozial- und Wirtschaftspolitik und für die Einführung hoher Einfuhrzölle zum Schutz der (rheinisch-westfälischen) deutschen Schwerindustrie und ostelbischen Großlandwirtschaft zu gewinnen und damit das Lager seiner liberalen Gegner zu sprengen. 24 Mit der Ansiedlungsvorlage versuchte er diese neue Konstellation nun auch auf die Sicherung der preußischen Ostgrenze einzuschwören. Es liegt außerdem auf der Hand, daß er die finanziellen Vorteile, welche dem notleidenden Großgrundbesitz aus den Agrarzöllen zufließen sollten, nur auf diejenigen beschränken wollte, welche er als loyale Anhänger der preußischen Monarchie und der deutschen Einheit betrachtete. Welche Rolle dieser Gesichtspunkt in Bismarcks Polenpolitik spielte, geht u. a. aus der Tatsache hervor, daß er den "Generalstabschef der Schutzzöllner", den Leiter der Reichskanzlei Christoph von Tiedemann, überredete, das Amt des Regierungspräsidenten von Bromberg zu übernehmen. 25 Tatsächlich sollte dieser ihm bald darauf die notwendige Munition für seine Offensive gegen den polnischen Adel beschaffen. So lieferten seine Berichte über die stark anschwellende Einwanderung von Saisonarbeitern aus den russischen und Österreichischen Teilungsgebieten während der frühen achtziger Jahre Bismarck einen Vorwand, alle Bewohner in den preußischen Ostgebieten, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, ohne Pardon des Landes zu verweisen. Dieses ungemein harte Vorgehen- und dazu noch mitten im Winter- erregte im Deutschen Reich und im Ausland größtes Aufsehen und brachte Bismarck eine scharfe Verurteilung durch die Reichstagmehrheit von Polen, Zentrum und sogar manchen der mit ihm verbündeten Nationalliberalen ein. Anscheinend hat ihn diese Rüge zur Kriegserklärung an den polnischen Adel vor dem preußischen Landtag provoziert. 26 Dem Ansiedlungsgesetz lagen ausführliche Berichte Tiedemanns über die finanzielle Bedrängnis zugrunde, in die zahlreiche polnische Gutsbesitzer 24 Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln- Berlin 1966, 474 ff. 25 Ebd. 455 f.; vgl. auch: Bismarck an Chr. von Tiedemann, den 27. Juli 1881, in: Otto von Bismarck, Werke in Auswahl, hg. von Alfred Milatz, VI, Darmstadt 1976, 566 f . 26 Der vollständige Text dieser Rede in der Sitzung des preußischen Landtags vom 28. Januar 1886 findet sich in: Horst Kohl (Hg.), Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesamtausgabe, XI, Berlin 1922, 411- 440.

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infolge der anhaltenden agrarischen Wirtschaftskrise geraten waren. Um ihre Schulden zu begleichen, sahen sie sich gezwungen, ihren Landbesitz zu Schleuderpreisen zu veräußern. Das bot dem preußischen Staat die einmalige Gelegenheit, zu verhältnismäßig niedrigen Preisen den umfangreichen Grundbesitz des polnischen Adels zu erwerben.27

2. Haltung gegenüber der evangelischen Kirche Schon während der amtlichen Vorarbeiten am Ansiedlungsgesetz tauchte die Frage auf, inwieweit man dort auch bestimmte Organisationen - namentlich die, welche sich besonders der Interessen der deutschen Minderheit annahmen - finanziell fördern sollte. In diesem Zusammenhang befürwortete der preußische Kultusminister eine großzügige Unterstützung der evangelischen Gemeinden in der "polnischen Diaspora", wie er es anschaulich formulierte. In seiner Begründung wies er zunächst auf die Folgen der Auswanderung mehrerer finanzstarker Mitglieder hin, so daß es den Zurückbleibenden immer schwerer fiel, die Gehälter ihrer Pfarrer sowie die Kosten für die Instandhaltung der Kirchengebäude und Pfarrhäuser ganz aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Zwar hatte der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin bereits angefangen, den am schwersten betroffenen Gemeinden beizuspringen, um aber die auf ihn entfallenden Kosten zu drükken, war er dazu übergegangen, einige sonst kaum lebensfähige Gemeinden zusammenzulegen. Demzufolge mußten die Pfarrer dieser Gemeinden wiederum längere Strecken zurücklegen, um ihre Mitglieder regelmäßig zu besuchen. Deshalb schlug der Minister vor, im Etat für die Ansiedlung zusätzliche Beträge für die Übernahme zumindest eines Teils dieser Ausgaben durch den Staat bereitzustellen. Auf diese Weise gedachte der Staat, die finanzielle Leistungsfähigkeit einer der bedeutendsten kulturellen und religiösen Organisationen der deutschen Minderheit zu stärken und sie für den "Wettbewerb" mit den in übergroßer Mehrheit katholischen Polen zuzurüsten. Namentlich folgende Aufgaben würden für solche Subventionen in Betracht kommen: (1) Zuschüsse zu den Gehältern der Pfarrer, damit sie länger an einem Ort blieben und sich nicht allzu rasch wieder an eine besser dotierte Stelle -in der Regel im Reichsinneren -versetzen ließen. (2) Finanzielle Bewilligungen für die Einrichtung oder Verbesserung angemessener und bequemerer Unterkünfte dieser Pfarrer und ihrer Familien. (3) Dotationen aus dem staatlichen Domänenbesitz, damit evangelische Geistliche ihr karges Bareinkommen vermehren und sich auch ein Fuhrwerk leisten könn27 Joachim Mai, Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885 I 87. Eine Studie zur Herausbildung des Imperialismus in Deutschland, Berlin 1962, 99-123; Richard Blanke, Prussian Polandin the German Empire (1871-1900), Boulder 1981, 46, 56 f .

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ten, um die Verbindungen auch zu ihren entferntesten Seelen enger zu gestalten. Schließlich sollte der Staat auf den Evangelischen Oberkirchenrat einwirken, die Sprengel zu verkleinern und ihre Zahl zu erhöhen, um die Pfarrer von allzu zeitraubenden Dienstreisen zu befreien.28 Der Denkschrift lagen ausführliche Erläuterungen und statistische Angaben der Regierungspräsidenten von Posen und Bromberg (Westpreußen) bei, welche die bedrängte materielle Lage und die unzureichende geistliche Versorgung der deutsch-evangelischen Minderheit in besonders grellen Farben schilderten. Der Kultusminister folgerte: "Die Berichte ergeben übereinstimmend eine sehr weitgehende Steuerbelastung, welche aus Staatsfonds rasche Abhülfe zu schaffen sein wird, wenn die Verschiebung der konfessionellen Verhältnisse in Westpreußen, Posen und Oberschlesien zuUngunsten der evangelischen Kirche nicht rapide Fbrtschritte machen soll."

Man dürfe von den betroffenen Gemeinden nicht verlangen, daß sie angesichts der rasch absinkenden Zahl ihrer Mitglieder alle auf sie entfallenden Kosten immer wieder auf die noch Bleibenden umlegten. Wollte man ihnen wirksam helfen, so rechnete die Denkschrift vor, sollte der jährliche Etat für die Ansiedlung um zumindest 650.000 Mark erhöht werden. 29 In der Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom 24. Januar 1886 fanden diese Argumente jedoch kaum Zustimmung. Ausdrücklich riet Bismarck davon ab, die Ansiedlungspolitik gleich zu Beginn mit konfessionellen Fragen zu belasten. Sie habe es ja in erster Linie auf die wirtschaftliche Verdrängung des polnischen Adels abgesehen. Außerdem weigerte sich das Finanzministerium, das die Federführung in der Ansiedlungspolitik für sich allein beanspruchte, einem anderen Ministerium Einfluß auf die Verwendung gewisser Gelder aus dem von ihm zu verwaltenden Etat einzuräumen. Allenfalls erklärte es sich bereit, einzelne Unterstützungsanträge der evangelischen Kirche, die ihm von Jahr zu Jahr über den Kultusminister vorgelegt werden sollten, wohlwollend zu prüfen.30

Auch der Vorschlag des Kultusministers, für den Unterricht der deutschen Sprache in öffentlichen polnischsprachigen Grundschulen ausschließlich deutschsprachige Lehrer anzustellen, wurde abgelehnt. Der Fi28 Denkschrift des Ministers für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 22. Januar 1886, Nr. B. 5126/ Anl. 1 (Abschr.) in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (früher Merseburg, jetzt Berlin - Dahlem) Rep. 87 (Pr. Min. für. Landwirtschaft, Domänen und Fbrsten) ZB Nr. 169, Bl. 6 - 19, hier bes. 16 ff. Für diesen Archivbesuch hat die Niederländische Organisation für wissenschaftliche Fbrschung (NWO) dem Verfasser ein Reisestipendium bewilligt. 29 Ebd., Bl. 18. 30 Protokoll einer Besprechung im preußischen Staatsministerium vom 24. Januar 1886, ebd., Bl. 32-34, hier bes. Bl. 33.

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nanzminister warnte vor der entsprechenden Mehrbelastung, da sonst die Konservativen im preußischen Landtag höchstwahrscheinlich der gesamten Vorlage ihre Stimme verweigern würden. Im Laufe der Beratungen tauchte hin und wieder das ominöse Wort "Germanisierung" auf. Offensichtlich handelte es sich um ein Problem, das den Beamten in der preußischen Provinzverwaltungoft Sorgen bereitete: Mehrere unter ihnen, die nur einen Teil ihrer Dienstzeit in den betreffenden Gebieten verbrachten, beherrschten die polnische Sprache nicht und empfanden es als unzumutbar, sie zu erlernen, wenn sie nach einigen Jahren ohnehin schon wieder in einen der rein deutschsprachigen Landesteile Preußens versetzt würden. Wäre es deshalb nicht vernünftiger, von den polnischen Untertanen zu verlangen, daß sie sich im Verkehr mit ihren Behörden der Sprache ihres Staates bedienten, anstatt ihnen teure Übersetzungskosten aufzubürden? Wenn die Regierung sich nachdrücklicher als bisher um die Verbreitung der deutschen Sprache kümmerte, so legten die Beamten dar, würde mancher hier noch verbleibender Deutsche höchstwahrscheinlich von einer geplanten Auswanderung absehen.31 Anläßlich einer Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 14. März 1886 äußerte Bismarck jedoch Zweifel daran, ob der Staat es sich je leisten könnte, die polnischsprachige Bevölkerung mit Hilfe des Unterrichts, sozusagen unter Zwang, zu gerrnanisieren. 32 Sein Engagement für deutschnationale Forderungen hing offensichtlich von den Mehrheitsverhältnissen im preußischen Landtag ab. Der Verlauf dieser und mehrerer anderer Beratungen, die der endgültigen Verabschiedung der Ansiedlungsvorlage vorangingen, zeigt, (1) welche Schlüsselrolle sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrer Ausführung dem preußischen Finanzministerium zugedacht wurde und, (2) daß die Staatsregierung die evangelisch-unierte Kirche in Posen und Westpreußen nicht für einen natürlichen Verbündeten im Kampf gegen den polnischen Adel hielt und ihr deswegen keine besondere Vorrechte gewähren wollte. Vielleicht entsprach diese Zurückhaltung der bürokratischen Gewohnheit, in hierarchischen Kategorien zu denken und irgendwelche selbständige oder halbamtliche Verbände als gleichberechtigte Partner zu behandeln. Spätestens seit dem Übergang zum Absolutismus war das oberste Ziel aller preußischen Verwaltungsreforrnen, sämtliche innerhalb des preußischen Staatsgebiets tätigen örtlichen und regionalen Institutionen dem Anspruch der zentralen Staatsbehörden auf das legitime Gewaltmonopol zu unterstellen. Auch die dem ostelbischen Adel noch zugebilligten Selbstverwaltungsaufgaben, wie z. B. die Patrimonialgerichtsbarkeit, die Gutspolizei oder kirchliche Patronatsrechte, waren diesen Bestrebungen allmählich zum Opfer ge31

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Ebd., Bl. 34. Ebd., Bl. 37.

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fallen. Das landesherrliche Kirchenregiment stellte eine der wenigen Ausnahmen dar. Es drängt sich also der Eindruck auf, daß die preußische Staatsregierung die Abhängigkeit der evangelischen Kirche von staatlichen Subventionen, namentlich in den polnischen Teilungsgebieten, dazu nutzte, die kirchliche Selbständigkeit so weit wie möglich einzuschränken. Anstatt ihre Bitte um gesetzliche Verankerung der ihr im Rahmen der Ansiedlungspolitik vom Staate zu gewährenden Beträge aufzugreifen, zwang sie die preußische Regierung, ihre finanziellen Erfordernisse von Jahr zu Jahr vorzulegen und eine Entscheidung abzuwarten. 33 In der Wahl seiner Kampfmittel gegen die Vormachtstellung der Szlachta in den polnischen Teilungsgebieten stand Bismarck Friedrich II., seinem großen Vorbild, in nichts nach. Auch er betrachtete ihre weitverzweigten Familienverbindungen als eine grosse Gefahr für den Fbrtbestand der preußischen Monarchie. Die offene Sympathie und tatsächliche Unterstützung führender polnischer Politiker während der Aufstände im russischen Polen in den Jahren 1830 und 1862 schien diesen Verdacht zu bestätigen. Und wie König Friedrich versuchte auch Bismarck, durch umfangreiche staatliche Güterankäufe den Einfluß einer den Staat tragenden Grundbesitzerschicht zu erweitern. Wäre dem polnischen Adel seine wirtschaftliche Grundlage endgültig entzogen, so würden sich die von ihm abhängigen polnischsprachigen Kleinbauern, Landarbeiter, Handwerker und Gewerbetreibenden in den Städten alsbald in loyale preußische Untertanen verwandeln.

Für die Nationalliberalen bestand der Reiz der bismarckschen Polenpolitik darin, ihre eigenen Anhänger in die bisher schwer zugänglichen Hochburgen des preußischen Konservativismus hineinbringen zu können. Dagegen unterstützte der ostelbische Gutsadel die Ansiedlungspolitik vor allem in der Hoffnung, seine von der langanhaltenden agrarischen Absatzkrise hochverschuldeten Betriebe mit staatlicher Hilfe sanieren und seine traditionelle Vormachtstellung konsolidieren zu können. Nur eine kleine Minderheit unter den Gutsadeligen, die sog. Freikonservativen, stellte sich mit voller Überzeugung hinter die Ziele der deutschen Nationalbewegung. Sollten die Ergebnisse der Ansiedlungspolitik die nationalen Erwartungen enttäuschen, nicht zuletzt auch infolge konservativer Obstruktion, so mußte sich jedoch die von Bismarck geschaffene Konstellation sogar gegen die preußische Regierung wenden.

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Dazu ausführlicher Blanke, Prussian Poland (Anm. 27) 64 ff.

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m. Wilhelm ß . und die preußische Polenpolitik 1. Die Nachfolge Bismarcks Als Bismarck am 18. März 1890, vier Jahre nach dem Inkrafttreten des Ansiedlungsgesetzes, von seinem Amt zurücktrat, bildete der Konflikt mit den polnischen Gutsbesitzern in Posen und Westpreußen ein nicht geringes innenpolitisches Problem, das er seinem Nachfolger aufbürdete. Zunächst entschlossen sich Wilhelm II. und sein neuer Reichskanzler, Leo von Caprivi, die aufgestauten Spannungen so weit als möglich wieder abzubauen. Diese Haltung entsprach den Empfehlungen des engsten Vertrauten des neuen Herrschers, Philipp Graf zu Eulenburg-Hertefeld, die Monarchie stärker auf den ostelbischen Adel zu stützen. Um die Vorherrschaft der Bürokratie vor dem Ansturm parlamentarischer Reformer zu schützen, ließ sich Kaiser Wilhelm II. außerdem überreden, die Führung der Regierungsgeschäfte selbst in die Hand zu nehmen. 34 Dieser sog. Neue Kurs brachte einen völligen Wandel in der preußischen Polenpolitik. Die Ausweisungserlasse vom Jahre 1884 I 85 wurden aufgehoben, so daß die Großgrundbesitzer wieder über billige Wanderarbeiter aus Galizien und Russisch-Polen verfügten. Die Einwohner der betroffenen Gebiete, die sich im Verkehr mit den Behörden ihrer polnischen Muttersprache bedienten, durften nicht länger von den Behörden diskriminiert werden. Die polnischen Vereine erholten sich rasch. Der Kampf gegen den polnischen Adel wurde eingestellt, und die sozialpolitische Seite der Ansiedlungspolitik trat nun stärker hervor. Faktisch wandelte sich die Ansiedlungspolitik, entgegen den von Bismarck abgegebenen Erklärungen, von einem Instrument zur Stärkung des deutschsprachigen Elements, zu einem Versuch, die Auswanderung umfangreicher Bevölkerungsgruppen in die westdeutschen Industriegebiete zu stoppen, den Großgrundbesitzern eine zusätzliche, ans Land gebundene Arbeiterschaft zu sichern und einen leistungsfähigen bäuerlichen Mittelstand zu schaffen, der trotz seiner gemischtsprachigen Herkunft die preußische Herrschaft konsolidieren würde.35 Bald zahlte sich diese Annäherung aus, als in einer Sitzung des preußischen Landtagsam 2. Mai 1891 die polnische Fraktion eine Loyalitätserklärung gegenüber Preußen abgab, und einige Tage später im deutschen 34 Hans Wilhelm Burmeister, Prince Philipp Eulenburg-Hertefeld (1847 - 1921). His influence on Kaiser Wilhelm TI and his role in the German government, 18881902, Wiesbaden 1981,1-5. 35 Vgl. Sabine Grabowski, Deutscher und polnischer Nationalismus. Der deutsche Ostmarken-Verein und die polnische Straz, Marburg/Lahn 1998, Kap. 1. Dort auch Hinweise auf die ältere Literatur. Vgl. auch: Bannelore Bruchhold-Wahl, Die Krise des Großgrundbesitzes und die Güterankäufe der Ansiedlungskommission in der Provinz Posen in den Jahren 1886 - 1898, Diss. Münster /Westf. 1980, 218 ff.

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Reichstag für den Reichsmarinehaushalt und 1893 auch für den Reichsmilitäretat stimmte. 36 Es war vielleicht ein unglücklicher Zufall, daß gerade zur selben Zeit die Ergebnisse der preußischen Volkszählung vom Jahre 1890 bekannt wurden. Diese wirkten wie eine kalte Dusche auf die hochgespannten deutschnationalen Erwartungen. Zwar hielt sich die Abwanderung der deutschsprachigen Bevölkerung in Grenzen, aber im Verhältnis zur polnischsprachigen Mehrheit ließ sich keine spürbare Verschiebung beobachten. 37 In einer ausführlichen Analyse in den Preußischen Jahrbüchern vom Jahre 1894 wies Richard Böckh, einer der damals besten Kenner der preußischen Demographie, nach, daß nicht nur die ursprünglich deutsche Bevölkerung, sondern auch ein großer Teil der polnischen mittleren und unteren Schichten in den Westen ausgewandert war. In die von ihnen zurückgelassenen Stellen rückten Wanderarbeiter nach. Manche von ihnen suchten sich nach einigen Jahren eine neue dauerhafte Existenz als Handwerker oder gelernte Arbeiter in den Städten oder u.U. auch als Siedler auf dem Lande. Es vollzog sich im deutschen Osten also eine umfangreiche Verlagerung der Bevölkerung, die nur deshalb den polnischen Anteil verstärkte, weil östlich der preußischdeutschen Grenze kaum genügend Deutsche vorhanden waren, um die Verluste auszugleichen. 38 Die mageren Ergebnisse der Ansiedlungspolitik und die zaghafte Annäherung der Regierung des Neuen Kurses an den polnischen Adel versetzten gerade die fanatischen Befürworter der Bismarckschen Polenpolitik in höchste Aufregung. Nicht ganz zu Unrecht witterten sie eine völlige Kehrtwendung in der bisher befolgten preußischen Polenpolitik und forderten deshalb die neuen Machthaber auf, eindeutig zu erklären, auf welche Gruppe sie sich eigentlich zu stützen gedächten, damit kein Morgen preußischdeutsches Territorium verloren ginge. Ihr wachsendes Unbehagen führte schließlich im Herbst 1894 zur Gründungzweier radikal-nationalistischer Kampfverbände, Deutscher Ostmarkenverein und Alldeutscher Verband, denen bald mehrere dorthin eingewanderte deutschsprachige Grundbesitzer beitraten. Sie härten nicht auf, jedes Entgegenkommen an die polnische 36 Grabowski (wie Anm. 35) 41 ff.; Roland Baier, Der deutsche Osten als soziale Frage. Eine Studie zur preußischen und deutschen Siedlungs- und Polenpolitik in den Ostprovinzen während des Kaiserreiches und der Weimarer Republik, Köln Wien 1980, 21. 37 Ebd. 85 ff.; S. auch Hans mrich Wehler, Die Polenpolitik im deutschen Kaiserreich, 1871-1918, in: Kurt Kluxen, Wolfgang J. Mommsen u . a. (Hg.), Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung, Festschrift für Theodor Schieder zum 60. Geburtstag, München 1968, 297-316, hierbes. 304. 38 Richard Böckh, Die Verschiebung der Sprachverhältnisse in Posen und Westpreußen, in: Preußische Jahrbücher 77 (1894) 424 - 436, hier bes. 427 ff. Vgl. auch Belzyt (Anm. 16) 18 ff.

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Mehrheit als Verrat an lebenswichtigen deutschnationalen Interessen darzustellen. 39 Ihre Tätigkeit wird später eingehender dargelegt. In diesem entscheidenden Moment zeigt sich, wieweit sich die preußische Staatsregierung seit den polnischen Teilungen in ihren eigenen Argumenten verfangen hatte. Wenn ihr zur Zeit Friedrichs II. auch jede deutschnationale Absicht fehlte, so hatte sie doch immer das Wachstum des staatlichen Einflusses vor allem an der Verbreitung deutscher Sprachkenntnisse gemessen. Wie ließe sich sonst die staatsbürgerliche Gesinnung der betroffenen Einwohner objektiv ermitteln? Anstatt sich anläßlich der sog. Bauernbefreiung die Sympathien breiter, katholischer und nichtadeliger Bevölkerungsgruppen zu versichern, versuchte sie die Macht des Staates durch die Einwanderung deutschsprachiger Gutsbesitzer und Domänenpächter zu konsolidieren und mit Hilfe des staatlichen Unterrichts die polnischen Einwohner allmählich zu germanisieren. Mehr als ihr vielleicht lieb war, gab die preußische Staatsregierung den nationalistischen Kräften selbst die Argumente in die Hand, mit denen diese die zaghafte Annäherung an die polnischsprachige Bevölkerung als Ausverkauf wichtiger nationaler Interessen anprangern konnten. Versucht man die Bilanz des ersten Jahres des Neuen Kurses zu ziehen, so läßt sich folgern, daß Kaiser Wilhelm und seine Berater jetzt vor einem schweren Dilemma standen: Auf welche Gruppe sollte sich der Staat in der nahen Zukunft stützen? Der polnische Adel, sofern er nicht ausgewandert war, hatte sich größtenteils aus der lokalen Verwaltung zurückgezogen, seine Güter verpachtet oder verkauft und sich mit einem Leben als Rentenempfänger oder auch als Leiter landwirtschaftlicher Kredit- und Parzellierungsgenossenschaften begnügt. Der deutsche Adel d. h. jener Adel, der sich immer als das Rückgrat der preußischen Monarchie betrachtet hatte, war der ständigen Aushöhlung seiner Macht durch die staatliche Bürokratie gewichen und hatte, wenn er sich nicht selber in ein großagrarisches Unternehmertum verwandeln wollte, seine Güter ehrgeizigen sozialen Aufsteigern aus westdeutschen Unternehmerfamilien veräußert. Die Mehrheit der Einwohner in den polnischen Teilungsgebieten Preußens sprach Polnisch und bekannte sich zur katholischen Kirche. Außerdem vertraten ihre politischen Führer, soweit sie nicht adeliger Herkunft waren, ausgesprochen liberale und demokratische Standpunkte und verhehlten nie ihre Hoffnung, daß sich ein demokratisches und liberal-parlamentarisch verfaßtes Deutsches Reich demnächst auch für die Wiederherstellung eines unabhängigen Polens innerhalb der Grenzen von 1772 einsetzen und sich mit diesem gegen 39 Grabowski, Deutscher und polnischer Nationalismus (Anm. 35) 29-57. Im allg. s.: Geoff Eley, Reshaping the German Right. Radical nationalism and political change after Bismarck, New Haven- London 1980.

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das reaktionäre Rußland verbinden würde. Aus diesem Grunde fehlte den aufsteigenden, bürgerlichen Kräften in den betroffenen Gebieten die geeignete Qualifikation für eine zuverlässige, die preußische (absolute) Monarchie tragende Gruppe.40

2. Neuer Kurs und evangelische Kirche in den polnischen Provinzen Preußens Die soeben skizzierte Unschlüssigkeit färbte auch auf die Exponenten des Neuen Kurses gegenüber der evangelischen Kirche ab. Es entsprach ganz Wilhelms II. Auffassung von seiner Schlüsselrolle in der reichsdeutschen (und preußischen) Politik, daß er auf keine seiner Befugnisse als Oberster Bischof der evangelisch-unierten Kirche verzichten wollte und es für seine Pflicht hielt, die ihm anvertraute Kirche vor "zersetzenden politischen Einflüssen" zu schützen. 41 Das dürfte wohl heißen, daß er von ihr unbedingte Treue gegenüber dem Herrscherhaus und keinerlei Kritik an seinen politischen Entscheidungen erwartete. Die evangelische Kirche in Posen und Westpreußen interessierte vor allem die Frage, welche Rolle er ihr in der Fortsetzung seiner Polenpolitik zugedacht hatte. Seit eh und je galten die Hohenzollern als die wichtigsten Schirmherren des evangelischen Glaubens und auch Wilhelm li. hat wiederholt versichert, daß er "seiner Kirche" gegenüber dem erstarkenden Einfluß sowohl der katholischen Kirche als auch der Sozialdemokratie beistehen würde. Aber wie ließ sich dieses Versprechen in die Praxis umsetzen? Unter Bismarck war es der Kirche nicht gelungen, vom Staate feste finanzielle Beiträge für die Erhaltung der in ihren Augen gefährdeten protestantischen Gemeinden in den polnischen Provinzen zu bekommen. Aber auch Wilhelm II. lehnte es einstweilen ab, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, solange die Regierung selbst noch die zukünftige Richtung ihrer Polenpolitik diskutierte. Es war die Ungeduld der polnischen Politiker, welche der Regierung einen Ausweg bot. Im Jahre 1894 wurde in allen Territorien der ehemaligen Rzeczpospolita des gescheiterten Kosciuszko-Aufstandes des achtzehnten Jahrhunderts gedacht. Viele polnische Führer benutzten die Gelegenheit, vor aller Welt ihren Einsatz für einen neuen unabhängigen nationalen Staat zu bezeugen. In den Augen Wilhelms II., der sich ohnehin schon sehr rasch von Emotionen hinreißen ließ, stellten diese Kundgebungen ein Zeichen der Undankbarkeit 40 Max Weber, Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, in: Preußische Jahrbücher 77 (1894) 424-436, hier bes. 427 ff. Vgl. auch: Ted Kaminski, Polish publicists and Prussian politics.The Polish press in Poznan during the

Neue Kurs of Chancellor Leo von Caprivi 1890-1894, Wiesbaden-Stuttgart 1988. 41 Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment (Anm. 17) 19 ff.

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und des Hochverrats dar, und er wies seine Beamten an, Maßnahmen zu entwickeln, um den drohenden Abfall der polnischen Provinzen Preußens zu verhindern. 42 Für die Kritiker der Polenpolitik des Neuen Kurses bedeuteten die polnischen Provokationen ein Geschenk des Himmels. Dank ihrer Lobby konnten sie 1898 eine Novellierung des Ansiedlungsgesetzes durchsetzen, welche der Kommission neues Kapital für den Erwerb von Grundstücken zur Ansiedlung deutschstämmiger Bauern zur Verfügung stellte und ihr außerdem erlaubte, auch Grund und Boden aus deutscher Hand zu kaufen, sobald ihr solches angeboten wurde. Auch die Kirche profitierte von der antipolnischen Wende: Aus demselben Anlaß entschied die Regierung, daß bei der Gründung von Ansiedlungsgemeinden auch die Kosten für den Bau von Kirchen, oder u.U. den Umbau von bestehenden Gebäuden zu Gotteshäusern sowie die Einrichtung von Pfarrhäusern vom Staate übernommen werden sollten. Auch sollten aus zu parzellierenden Gütern Äcker für den Unterhalt der Pfarrer und ihrer Familien abgezweigt werden. Auf diese Art konnte ein Pfarrer sein karges Gehalt aufstocken, indem er sein Feld selbst oder mit Hilfe seiner Familie bestellte oder auch verpachtete. Und schließlich konnte die Kirche beim Oberpräsidenten von Posen bzw. Westpreußen einmalige Subventionen für besondere Zwecke, etwa bei Krankenversorgung, Studium der Kinder, kostspieligen Reparaturen oder auch bei der Anschaffung und Pflege von Fuhrwerken beantragen. Dafür standen diesen Beamten besondere Dispositionsfonds zur Verfügung, über deren Verwendung sie nur dem Staatsminister Verantwortung schuldeten.43

3. Die HaKaTisten In diesem Zusammenhang verdient vor allem der Deutsche Ostmarkenverein nähere Aufmerksamkeit. Er wurde am 3. November 1894 zunächst unter dem Namen Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken gegründet und fünf Jahre später in Deutscher Ostmarkenverein umbenannt. Zu seinen Initiatoren gehörten einige der größten Gutsbesitzer in den polnischen Teilungsgebieten Preußens. Sie alle vertraten den von Max Weber skizzierten '!YPus des "modernen" landwirtschaftlichen Unternehmers, der sich in erster Linie nicht um den mit einer traditionellen Gutsherrschaft verbundenen Status und die sich daraus ergebenden Aufgaben kümmert, sondern vielmehr bestrebt ist, den maximalen Ertrag aus dem von ihm investierten Kapital zu erzielen. Nach den Anfangsbuchstaben der Gründer ist

42 43

Grabowski, Deutscher und polnischer Nationalismus {Anm. 35) 49 ff. Rogall (Anm. 1) 65 ff.

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der Verein auch als HaKaTe-Verein, bzw. die Hakatisten, bekannt geworden. Anlaß zu ihrer Initiative war die Furcht, daß die Regierung des Neuen Kurses die Fortsetzung der Ansiedlung ganz den polnischen Gutsbesitzern und den polnischen Genossenschaftsbanken überlassen und die Arbeiten der Königlichen Ansiedlungskommission wegen Erschöpfung des 1886 zugewiesen Etats einstellen würde. Indem sie den drohenden Verlust der "Deutschen Ostmark" in besonders grellen Farben an die Wand malten, gelang es ihnen, im nationalistisch gesinnten reichsdeutschen Bürgertum genügend Anhänger für den Gedanken einer radikaleren Neuauflage der von Bismarck eingesetzten Germanisierung des preußisch-deutschen Ostens zu gewinnen. Ganz wesentlich für ihren Erfolg war die Befürwortung des Projekts durch den greisen Altkanzler, der sich ihrer Initiative bediente, um sich an seinem Nachfolger zu rächen. 44 Absicht des Deutschen Ostmarkenvereins war nicht, die deutschsprachigen Einwohner in den polnischen Provinzen Preußens zu einer Massenbewegung zu vereinigen, sondern durch Pflege unmittelbarer Beziehungen zu den zuständigen Beamten der preußischen Staatsregierung so früh wie möglich in grundsätzliche Erörterungen zur Polenpolitik einzugreifen und deren Umsetzung in konkrete Maßnamen mitzubestimmen. Noch bevor dem Landtag Gesetzentwürfe zugingen, versuchte der Verein häufig, mit Flugschriften und Massenveranstaltungen die öffentliche Meinung im Deutschen Reich zu beeinflussen. Um dieser Propaganda die erwünschte Breitenwirkung zu verschaffen war es unumgänglich, die Polen als die natürlichen Feinde der deutschen Nation darzustellen und die Germanisierung der preußischen Ostgebiete zu einer Existenzfrage und als eine Verpflichtung gegenüber künftigen Geschlechtern zu stilisieren.45 Neben dem Ostmarkenverein entstand ein zweiter Machtblock, dessen Personenkreis sich teilweise mit der Führungsspitze des Vereins überschnitt, jedoch manchmal in direkter Konkurrenz zu ihm einen eigenen Weg ging: der Alldeutsche Verband. Sein Mittelpunkt war die Posener Raiffeisenbank, gegründet von Alfred Hugenberg. Durch seine Familie verfügte dieser über direkte Verbindungen zum Finanzminister Miquel, einem der Väter der Ansiedlungspolitik, und dank dieser Verbindungen gelang es ihm beträchtliches Privatkapital aus dem Deutschen Reich für den Aufbau eines ausgedehnten Netzes von Kreditgenossenschaften heranzuziehen. Im Unterschied zum Ostmarkenverein war Hugenberg überzeugt, daß die Germanisierung der "deutschen Ostmark" erst dann gelingen würde, wenn sie sich 44 Zur Entstehung und Geschichte des Ostmarkenvereins, s. die oben, Anm. 35 zitierte Arbeit von Sabine Grabowski. Zum Besuch der Initiatoren in Varzin am 16. September 1894, ebd., 59 ff. 45 Ebd.; Bruchhold-Wahl (Anm. 35) Kap. 7.

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von der Bevormundung durch den Staat und der Abhängigkeit von den jeweils wechselnden politischen Konstellationen im Landtag befreit hätte. 46

4. Evangelische Kirche und Ostmarkenagitation Der wachsende Einfluß radikal-nationalistischer Kampfverbände auf die Ansiedlungspolitik stellte die Evangelische Kirche in den polnischen Teilungsgebieten vor ein äußerst schweres Dilemma. Seit dem Übergang dieser Gebiete an Preußen betrachtete sie sich als den berufenen Interessenverteter der dort verbleibenden deutschen und polnischen evangelischen Gemeinden. Grundsätzlich hat sie sich gegenüber allen Versuchen gewehrt, den polnischen Evangelischen zwangsweise die deutsche Sprache beizubringen. Sie konnte auf Luther selbst hinweisen, der ja seit Beginn seiner reformatischen Tätigkeit auf den unverbrüchlichen Zusammenhang zwischen Sprache und religiösem Empfinden abgehoben hatte. Seit ihrer Aufnahme in die preußische Landeskirche wurden die polnischen Evangelischen von der katholischen Bevölkerungsmehrheit vorzugsweise als Deutsche bezeichnet. Das religiöse Bekenntnis und nicht die Sprache bestimmte darüber, wie man sich dem Herrscher gegenüber verhielt. Die ohnehin schon wenigen deutschsprachigen Katholiken waren demzufolge vonseiten ihren Geistlichen starkem Assimilationsdruck ausgesetzt. Demgegenüber waren die meisten evangelischen Pfarrer entweder deutscher Abstammung oder hatten an einer deutschen Universität studiert. Die zunehmende Verwaltungstätigkeit des Staates, namentlich auf dem Gebiet des Unterrichts und des Eisenbahnbaus, schlug sich auch in der wachsenden Zahl deutschsprachiger Evangelischer in den polnischen Provinzen Preußens nieder. Ihnen gegenüber blieben die Ansiedler in der Minderheit. Wegen der ihnen zugeschriebenen Bodenständigkeit galten sie jedoch als das zuverlässigere Element. Unter diesen Voraussetzungen bedienten sich die polnischen Evangelischen in ihrem Umgang mit den deutschen Glaubensbrüdern und -Schwestern immer mehr der deutschen Sprache und entwickelten um die Wende zum 20. Jahrhundert eine erstaunliche Zweisprachigkeit, wie die Volkszählungen zeigen. Doch wurden ihretwegen in fast allen evangelischen Gemeinden mindestens einmal im Monat Gottesdienste in polnischer Sprache abgehalten. Von den betroffenen Pfarrern wurde dementsprechend verlangt, daß sie ebenfalls beide Sprachen beherrschten, damit sie der sich vollziehenden Annäherung nicht im Wege stünden. Das 46 Dankwart Guratsch, Macht durch Organisation. Die Grundlegung des Hugenbergschen Presseimperiums, Düsseldorf 1974, Kap. 1; vgl. auch Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Gesammelte Politische Schriften, hg. vonJoh. Winckelmann, 2. Aufl. Tübingen 1958,294-431, hier 334.

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hatte nun wiederum zur Folge, daß sich zahlreiche Deutsche, die aus irgendeinem Grund für kürzere oder längere Zeit in diesen Gebieten verblieben und sich nicht allzu sehr von ihrer Umgebung isolieren wollten, zumindest die Anfangsgründe der polnischen Sprache aneigneten. Wer nicht mit den eigentümlichen örtlichen Verhältnissen vertraut ist, kann sich leicht im tatsächlichen Bestand der polnischsprachigen Bevölkerung täuschen. 47 Erst die jüngste Forschung hat überzeugend nachweisen können, warum sich die preußisch-deutschen Ostgebiete kaum in ein deutschnationales Bollwerk verwandeln ließen. Eine Regierung aber, die sich mit voller Hingabe für die Erweiterung der nationalen Kultur engagierte und sich dafür erhebliche Summen hat bewilligen lassen, konnte sich einen Fehlschlag nicht leisten.

5. Rückgang des Deutschtums Wie die evangelische Kirche in den preußisch-polnischen Teilungsgebieten die Auswirkungen der staatlichen Ansiedlungspolitik selbst beurteilte, geht aus einer längeren Denkschrift hervor, die das Posener Konsistorium im Frühjahr 1907 über den Evangelischen Oberkirchenrat dem preußischen Landwirtschaftsministerium vorlegte und die die Ansiedlungskommission teilweise in ihrem Tätigkeitsbericht über ihre ersten zwanzig Jahre verarbeitete. Ihr Inhalt soll im folgenden knapp analysiert werden.4 8 Gleich zu Anfang erinnert die Denkschrift daran, daß die katholische Geistlichkeit stets die Aufforderungen des preußischen Staatsministeriums, für deutsch-katholische Ansiedler eigene Kirchspiele einzurichten, abgelehnt habe. Damit drohte deutsche Katholiken in absehbarer Zeit der Verlust ihrer deutschen Nationalität. Dagegen böte die evangelische Kirche die beste Gewähr für den kulturellen Schutz deutscher Ansiedler. Anschließend hebt die Denkschrift hervor, daß sich seit Oktober 1886 die Zahl der evangelischen Kirchspiele in der Provinz Posen von 186 auf 248 (Oktober 1906) erhöht hatte, während im gleichen Zeitraum die durchschnittliche Größe einer evangelischen Gemeinde von 155,7 auf 116,8 km 2 Rogall (Anm. 1) 185 ff., 207 f. und 215 ff. Denkschrift des Posener Konsistorialpräsidenten Balan mit dem Titel: "Die Rückwirkungen des Ansiedlungsgesetzes vom 26. April1886 auf das Leben der evangelischen Provinzialkirche Posens", vom März 1907, Anlage zu einem Brief vom Posener Oberpräsidenten an den preußischen Kultusminister, vom 23. Mai 1907, Nr. GI 6595 1; in: Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, Rep. 76 In (Pr. Minist. für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten) Sekt. 7 Abt. XXX: Acta betreffend die Verbesserung der kirchlichen Verhältnisse der unter einer überwiegend katholischer Bevölkerung im Regierungsbezirk Posen zerstreut lebenden evangelischen Glaubensgenossen, Vol. V, vom Oktober 1905-1926, Patronatssachen 33 . V. Posen, Bl. 100-123. Die Denkschrift umfaßt 42 Seiten. 47

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zurückging. Entsprechend sei die Zahl der Pfarrstellen von 211 auf 281 angestiegen, so daß jetzt 2154 Seelen auf einen Pfarrer entfielen, gegenüber 2520 im Jahre 1886. Außerdem gebe es jetzt 44 ständige Hilfsprediger, gegenüber nur einem in Jahre 1886. Schließlich habe die Volkszählung vom Jahre 1905 ein Wachstum der evangelischen Bevölkerung von 531.722 Seelen (1885) auf 605.312 ergeben, also einen Zuwachs von 6,7%. Demgegenüber stieg die Zahl der Katholiken von 1.280.172 auf 1.347.958, d. h. nur um 5,2% an. Den einzelnen Pfarrern brachten diese Entwicklungen eine nicht unerhebliche Erleichterung ihrer seelsorgerischen Aufgaben. Auch der Entschluß des Staates, die Kosten für den Neubau, bzw. Erweiterung oder Ausbesserung von Kirchen, Pfarr- und Vereinshäusern zu übernehmen, habe den Etat des EOK erheblich entlastet und den Fortbestand der betroffenen Gemeinden weniger von jährlichen Spenden abhängig gemacht. Auch weist die Denkschrift auf die Bereitstellung von besonderen Pfarrdotationen aus dem von der Kommission zum Zweck der Ansiedlung erworbenen Landbesitz hin. Aus ihrem Ertrag konnten die ohnehin dürftigen Pfarrgehälter ergänzt werden. Trotzdem habe diese Entwicklung die evangelische Kirche in den polnischen Teilungsgebieten kaum von den Nachteilen ihrer Diasporalage befreit. Verantwortlich dafür war vor allem die Neigung der Ansiedlungskommission, wahllos Grundstücke aus deutscher Hand zu kaufen, damit sie nicht in polnischen Besitz übergingen. Dadurch gelang es ihr bisher nicht, neue Ansiedlergemeinden so zu steuern, daß sich in bestimmten Gegenden deutschsprachige Mehrheiten ausbildeten, die das von Polen bewohnte Gebiet auflockern sollten. Werde nämlich deutsches Land deutschen Landwirten weitergegeben, so bleibe zwar der betreffende Gutsbezirk dem deutschen Besitzstand erhalten, doch verringerte der Wegzug des betreffenden Gutsbesitzers den kirchlichen Steuerertrag in nicht unerheblichem Maße. Hinzu komme, daß die Ansiedlungskommission sogar Teile von bereits parzellierten Landgütern aus unersichtlichen Gründen später gegründeten Siedlungen angegliedert hatte, ohne sich um die Rückwirkungen auf ihre Leistungsfähigkeit zu kümmern. Die Folgen dieses sich vollziehenden sozialen Wandels wurden wie folgt dargestellt: "Dazu kommt, daß der Verlust eines wohlhabenden angesehenen und kirchlich interessierten Großgrundbesitzers von den betroffenen ländlichen und kleinstädtischen Kirchengemeinden, in denen, von den Beamten abgesehen, ein gebildeter Mittelstand meist fehlt, auch in idealer Beziehung vielfach schmerzlich empfunden worden ist. Allerdings trifft diese günstige kirchliche Qualifikation nicht auf alle abgegangenen Gutsbesitzer zu. "

Vor allem Gutsbesitzern bürgerlicher Herkunft, die erst infolge der gesetzlichen Freigabe adeliger Landgüter und in Erwartung spekulativer Ge-

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winne in den sechziger Jahren hierher gezogen waren, fehlte die erforderliche Bodenständigkeit. Ihnen brauche man aber nicht nachzutrauern: "Als Bauerngutsbesitzer und Wirtschaftsinspektoren mochten sie am Platz gewesen sein, aber sie besaßen nicht entfernt die Erziehung und diejenige Geistes- und Herzensausbildung, um die verantwortliche unter den hiesigen Verhältnissen doppelt so schwierige Stellung des Besitzers eines größeren Gutes würdig auszufüllen. Viele dieserMännerund ihre Nachkommen haben durch ihre nationale, kirchliche und sittliche Haltung dem deutschen Manne und der evangelischen Kirche wenig Ehre gemacht." Ihre Ersetzung durch eine "ärmere, aber strebsame, bäuerliche Bevölkerung war daher nur als Gewinn für die evangelische Kirche und das Deutschtum zu betrachten."

Man dürfe diesen Neusiedlern einstweilen jedoch nicht die gesamten Ausgaben für die Pfarrgehälter und den Unterhalt der kirchlichen Einrichtungen ganz alleine aufbürden. Die Kirche bleibe nach wie vor auf finanzielle Unterstützung durch den Staat und auf besondere Spenden mancher im Reich tätiger Vereine zur Förderung der evangelischen Kirchen in der Diaspora, wie des Gustaf-Adolf-Vereins, angewiesen. Der Bericht fährt fort: Während also die kirchlichen Steuererträge nicht für die Erledigung ihrer laufenden Arbeiten ausreichten, erwuchsen den kirchlichen Behörden stetig wachsende Ausgaben für die geistige Betreuung und Eingliederung der neueinziehenden protestantischen Familien. Weil sie überwiegend den westlichen Provinzen Preußens und des Deutschen Reiches entstammten, waren ihnen die ganz andersgearteten konfessionellen Verhältnisse und Traditionen in ihrerneuen Heimat völlig fremd. Die Ansiedlungskommission fragte bei der Vergabe der von ihr eingerichteten Bauernhöfe in der Regel nicht nach dem religiösen Bekenntnis der Antragsteller, sondern interessierte sich in erster Linie für ihre landwirtschaftliche Befähigung. Wer sich aber als Mitglied einer der deutschen Landeskirchen bezeichnete, galt nach amtlicher Auffassung als evangelisch. Doch die kirchlichen Behörden in den polnischen Teilungsgebieten betrachten solche Personen als Sektierer, weil sie die Preussische Union von 1817 ablehnten und voraussichtlich mehrere Jahre brauchen würden, um sich in das neue kirchliche Leben einzuleben. Noch schwieriger würde die Eingliederung von Baptisten, Methodisten und Vereinigten Brüdern in Christo sein. Besondere Probleme erwartete man mit den Altlutheranern. 49 Thre Kirche war in 49 Nach Angabe der Denkschrift wurden bis zum Oktober 1906 insgesamt 7480 Familien angesiedelt, die sich aufgrund ihrer geographischen Herkunft wie folgt unterscheiden lassen: Ostpreußen 15; Westpreußen 57; Brandenburg 587; Pommern 379; Schlesien 332; Posen 1504; Sachsen 686; Schleswig-Holstein 19; Hannover 500; Westfalen 825; Hessen-Nassau 76, der Rheinprovinz 112 und aus dem übrigen Deutschland 913. Dazu kommen aus dem Ausland: 1475 Familien. Insgesamt also 7480. vgl. ebd.: Bl. 117 - 118 (=S. 35- 36)

11 FBPG - NF, Beiheft 5

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den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Schlesien von Gegnern der Preußischen Union von 1817 gegründet worden und nach langem, zähem Ringen mit dem Staat erst 1860 als eine Freikirche mit eigenem Statut und einer eigenen Zentralbehörde, dem Breslauer Oberkollegium, anerkannt worden. Sie verfügte über eine umfangreiche Anhängerschaft in einigen unmittelbar an Schlesien grenzenden Südposener Gebieten und versuchte jetzt, neue Mitglieder unter den aus Schleswig-Holstein und Hannover eingewanderten protestantischen Familien anzuwerben. Die entsprechenden Landeskirchen waren nach der Annexion vom Jahre 1865, bzw. 1867 nicht der Preußischen Union beigetreten, und nun fürchtete das Posener Konsistorium, daß die Neuankömmlinge diesem Werben erliegen würden. Diese Furcht habe sich bisher als unberechtigt erwiesen. Der Bericht hebt deshalb hervor, wie die neueingezogenen Evangelischen das Kultur- und Geistesleben der bestehenden Gemeinden beträchtlich gehoben haben. Als Beispiel wird namentlich die Einführung von Posaunenchören in die Gottesdienste durch Ansiedler aus Friesland erwähnt. Besondere Aufmerksamkeit erforderten, so geht der Bericht weiter, die aus dem russischen Teilungsgebiet eingewanderten Anhänger der dort beheimateten Evangelisch-Augsburgischen Kirche, welche sich unter ihrem Oberhaupt, dem Warschauer Bischof Julius Bursche, prinzipiell zum polnischen Nationalismus bekannte und sich für ein unabhängiges und demokratisches Polen einsetzte, in dem alle religiösen Bekenntnisse gleichberechtigt nebeneinander leben sollten. Ihre Anziehungskraft auf die polnischsprechenden Evangelischen in Preussen sollte mit allen Mitteln entgegengetreten werden. Wegen ihrer mangelhaften Schulausbildung - der russische Unterricht fiel, wie man meinte, weit hinter die preußischen und Österreichischen Maßstäbe zurück- mußten ihnen die Pfarrer ihrerneuen Heimatgemeinden zusätzliche Schreib- und Lesestunden erteilen. Auch bei dieser Arbeit sollte ihnen der Staat helfen. Nach der Auflistung alldieser Probleme kommt die Denkschrift zum folgenden Schluß: "Nach dem Allen erscheint das Schlußurteil, daß die evangelische Provinzialkirche Posens durch die Tätigkeit der Ansiedlungskommission in den beiden ersten Jahrzehnten ihres Bestehens nach den verschiedensten Richtungen hin eine bedeutungsvolle Förderung erfahren hat, gewiß gerechtfertigt. Es sind hierbei freilich an die Arbeitskraft und die Pflichttreue der evangelischen Geistlichkeit und die Umsicht der Kirchenleitung große Ansprüche gestellt worden und es muß zugegeben werden, daß die den kirchlichen Organen erwachsenen Aufgaben nicht überall in durchaus befriedigender Weise gelöst worden sind. Dies gilt vermutlich von der Abgrenzung der zahlreichen neuerrichteten Parochien. Die Schwierigkeiten, in dieser Beziehung die berechtigten Interessen der alteingesessenen Bevölkerung mit den bisweilen recht einseitigen Ansprüchen der Ansiedlungskommission in Einklang zu bringen, waren hier und da unüberwindlich. Dazu geschah es wieder-

Wilhelm II., die Evangelische Kirche und die Polenpolitik

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holt, daß wenn nach jahrelangen Verhandlungen endlich ein neues Kirchspiel in das Leben getreten war, schon einige Jahre darauf nicht vorherzusehende neue Ankäufe der Ansiedlungskommission in der Nachbarschaft die Sachlage so veränderten, daß die getroffenen kirchlichen Einrichtungen sich hinterher nach manchen Richtungen hin als unzureichend bzw. nicht sehr glücklich erwiesen."

Dieser kritischer Bemerkung folgt am Ende doch ein optimistischer Blick in die Zukunft: "Ein wirkliches Hemmnis einer gedeihlichen Entwicklung der neuen Kirchengemeinden sind derartige Mängel aber doch nirgends gewesen. Im Gegenteil, es pulsiert in ihnen, wie bereits oben berichtet, fast überall ein frisches Leben und wenn hier und da die Gegensätze zwischen alter und neuer Bevölkerung, zwischen westdeutschen und ostdeutschen Anschauungen, zwischen kirchlichen und unkirchlichen Elementen noch nicht durchweg überwunden sind, so sind hierin doch überall Fbrtschritte bemerkbar. So ist die Hoffnung berechtigt, daß diese neuen evangelischen Bauemsehaften sich zu ebenso widerstandsfähigen bodenständigen Gebilden auswachsen werden, als es die alten evangelischen Kolonien der Provinz und zwar ebensowohl diejenigen aus der polnischen, wie aus der preußischen Zeit gewesen sind. Dazu ist freilich vor Allem nötig, daß die berufenen Führer der neuen Kirchengemeinden, ihre Geistlichen, wie bisher ihr nicht immer leichtes, aber doch schönes Amt als treue Diener ihres irdischen und ihres himmlischen Königs in lebendigem Glauben in Bewährung des Geistes und der Kraft ausrichten. " 50

Die Frage drängt sich auf, ob das Posener Konsistorium einen günstigen Eindruck hervorrufen wollte, um die preußische Staatsregierung von seinem ausschlaggebenden Einfluß auf eine erfolgreiche Eingliederung der Ansiedler zu überzeugen und sie zu großzügigerer finanzieller Unterstützung zu bewegen. Denn allein wäre das Konsistorium außerstande gewesen, die Kosten der auf sie zukommenden, in erster Linie doch sozialen Leistungen zu tragen, andererseits wollte man vermeiden, sich der Neusiedler gleich nach ihrer Ankunft mit überhöhten finanziellen Ansprüchen zu entfremden. Vergleicht man die statistischen Angaben dieser Denkschrift mit den aktuellen Erkenntnissen über die preußische Ansiedlungspolitik, so muß man feststellen, daß die Situation hier in ausgesprochen rosigen Farben dargestellt wird. Einseitig hebt die Denkschrift auf die Zahl der eingewanderten Ansiedler ab, ohne dagegen die nach dem Westen oder sogar nach Übersee abgewanderten Familien zu berücksichtigen. Nur im Regierungsbezirk Bromberg hat sich als Nettoresultat der Migrationsbewegung der Anteil der Deutschen nachweisbar erhöht, sonst ging er unaufhörlich weiter zurück. 5 1 Mit keinem Wort geht die Denkschrift auf das Problem der polnischen Evangelischen ein. Indirekt aber lassen sich mehrere versteckte Hinweise 50 51

n•

Ebd., BI. 123 (=BI. 42). Belzyt (Anm. 16) 18 f .

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auf sie finden, z. B. wenn Widerstände bei der Eingliederung der westdeutschen Einwanderer erwähnt werden. Viele unter ihnen wunderten sich, warum es seit mehr als einem Jahrhundert preußischer Herrschaft noch so viele polnischsprachige Glaubensbrüder und -schwester gab und forderten die Abschaffung bzw. Verringerung polnischsprachiger Gottesdienste. Das Posener Konsistorium erwartete jedoch, daß sie sich an die dort übliche Gemischtsprachigkeit gewöhnten. Je besser sich das Verhältnis zwischen polnischen und deutschen Evangelischen gestaltete, desto eher wurden die Polen in der deutschen Nationalität aufgehen. Man müsse aber mit mindestens ein bis zwei Generationen rechnen, bevor es so weit komme.5 2 Wie gedachte Wilhelm II. mit den Widersprüchen der Polenpolitik umzugehen? Die preußischen Behörden stellten sich nämlich nach wie vor auf den Standpunkt, daß sie mit Bauarbeiten und Landdotationen ihre Schuldigkeit getan hätten und daß die laufenden Ausgaben zu lasten der kirchlichen Konten gehen sollten. Für außerordentliche Härtefälle konnte das Posener Konsistorium ja immer Beihilfen aus dem den Oberpräsidenten von Westpreußen und Posen zur Verfügung stehenden sog. Deutschtumsfonds beantragen. Den wiederholt von kirchlicher Seite erhobenen Einwand, daß solche Anträge im Verhältnis zu den benötigten Beträgen einen erheblichen bürokratischen Aufwand erforderten, ließ man in Berlin nicht gelten. Jedes Gesuch sollte auch weiterhin einzeln und mit einer ausführlichen Begründung beim zuständigen Oberpräsidenten eingereicht werden. Dieser nahm sich in der Regel viel Zeit, um sich ausgiebig von den untergeordneten Verwaltungsinstanzen, namentlich von den Regierungspräsidenten und oft auch den Landräten, über die nationalpolitischen Verdienste des im betreffenden Antrag angegebenen Zwecks aufklären zu lassen, bevor er eine endgültige Entscheidung fällte. 5 3 Diese hier zusammengefaßten Auseinandersetzungen zeigen, daß Staat und Kirche in der Polenpolitik ganz entgegengesetzte Interessen verfolgten. Der Staat maß die Zuverlässigkeit seiner in den polnischen Teilungsgebieten wohnhaften Untertanen vor allem daran, inwieweit sie sich der deutschen Sprache, auch im privaten Verkehr, bedienen wollten und setzte sich dementsprechend für das Wachstum des deutschsprachigen Bevölkerungsanteils ein. Dieses Ziel hoffte er, durch erzwungenen Sprachunterricht und Ansiedlung deutscher Bauern zu verwirklichen. Die evangelische Kirche stand dagegen ohne Vorbehalt für die Treue ihrer Anhänger zum preußischen König ein. Sowohl in polnisch- als auch in deutsch-evangelischen AuRagall (Anm. 1) 214 ff. Der Pr. Min. f. Landwirtschaft, Domänen und Försten an den Pr. Kultusmin., den 6. Juli 1911, Nr. IAia 2314/10, GStAPrKb (Anm. 48) Rep. 76 lli Sektion 7 Abt. XXX, Val. V, Bl. 247 52

53

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gen galten er und der von ihm regierte Staat als die berufenen Garanten ihrer Religion. Nach kirchlicher Auffassung gab es deshalb keinen Grund, an der staatsbürgerlichen Gesinnung der polnischen Evangelischen zu zweifeln. Darum warnten die kirchlichen Behörden die preußischen Beamten vor einer Deutschtumspolitik, die sich einseitig an der Sprache orientierte und die religiösen Aspekte verkannte. Nicht durch Zwang, sondern im täglichen und regen Verkehr mit ihren deutschen Glaubensgenossen sollten die polnischen Evangelischen allmählich mit der deutschen Kultur befreundet werden. Der beste Beweis für den Erfolg dieser Bemühungen gehe aus ihrer zunehmenden Zweisprachigkeit hervor. Man solle in Berlin endlich verstehen, welchen Verlockungen die polnischen Evangelischen eben wegen des Sprachenkampfes vonseiten der katholischen Geistlichkeit ausgesetzt seien.s4 Eben wegen dieser Stellungnahme galt die evangelische Kirche in radikal-nationalistischen Kreisen als "konservatives" Bollwerk und unzuverlässiger Verbündeter im Kampf um die Erhaltung der "deutschen Ostmark". Vielleicht um diesem Vorwurf zu begegnen, hat das Posener Konsistorium letzten Endes darauf verzichtet, den Pfarrern zu untersagen, sich öffentlich zu den Zielsetzungen des Ostmarkenvereins oder des Alldeutschen Verbandes zu bekennen. Joachim Rogall hat darauf hingewiesen, daß es sich hier vor allem um Pfarrer mit deutscher Muttersprache handelte, die entweder einer mehrheitlich polnischsprachigen Gemeinde vorstanden, oder aber auf die politischen Anschauungen eines verhältnismäßig großen Gemeindeanteils preußischer Staatsbeamten und Schullehrer Rücksicht zu nehmen hatten.

6. Wilhelm II. zwischen Staat und Kirche Die Interessengegensätze zwischen preußischem Staatsministerium und Ostmarkenlobby auf der einen, der evangelischen Kirche auf der anderen Seite, spiegelten sich auch in den Erwartungen wider, die die Beteiligten in Wilhelm II. setzten. Orientierten sich Ministerium und Ostmarkenverbände an Kundgebungen, die er bei verschiedenen öffentlichen Anlässen in seiner Stellung als weltlicher Herrscher machte, so erkannte die Kirche nur solche Erklärungen als verbindlich an, die von ihm als Oberster Bischof abgegeben wurden. Ausschlaggebende Bedeutung erhielten in diesem Zusammenhang die mündlichen Bemerkungen Wilhelms II. vom 25. Februar 1891, als er den neuernannten Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrates, Friedrich Barkhausen, in Audienz empfing. Die königlichen Worte sind nur in der 5-i

Ragall (Anm. 1) 206 f., 218 ff.

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schriftlichen Fassung Barkhausens und deshalb nur in der indirekten Rede überliefert. Nachdem sie der preußische Kultusminister Goßler noch einmal überarbeitet hatte, galten sie den kirchlichen Behörden fortab als kirchenpolitische Direktive. 55 Zunächst legte Wilhelm dar, daß er seine Befugnisse kraft des landesherrlichen Kirchenregiments ohne jegliche Einschränkung wahrnehmen würde. Dann hob er auf seine Pflicht ab, die ihm anvertraute Kirche vor jedem zersetzenden politischen Einfluß zu bewahren. Schließlich sprach er die Hoffnung aus: "Nur durch Vereinigung aller Kräfte die evangelische Kirche diejenige Macht wiedergewinnen, welche sie befähigen , ihre Stellung der römischkatholischen Kirche gegenüber zu behaupten. "56

Damit war allen Beteiligten klar, daß er allen Hoffnungen auf eine größere Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Landesherren endgültig den Boden entzog. Auch wurde sich Wilhelm jeder Forderung widersetzen, den gewählten Kirchenversammlungen (den Synoden) einen größeren Einfluß auf die Kirchenpolitik zuzugestehen. Solche parlamentarische Experimente entsprachen nicht seiner Einstellung. Diskussionen über große politische und soziale Fragen hatten zu unterbleiben, wenn sie den Frieden und die Einheit der Kirche aufs Spiel setzten. Der EOK legte diese Mahnung dahingehend aus, daß er nie zu politischen Auseinandersetzungen Stellung nehmen dürfe, wann immer das Zusammenleben der Gläubigen in der Gemeinde dadurch gestört zu werden drohte. Offensichtlich fühlte sich Wilhelm besonders von den absolutistischen Grundzügen des landesherrlichen Kirchenregiments angesprochen, bildeten sie doch für die von ihm erstrebte persönliche Führung der Staatsgeschäfte eine sonst nirgendwo so klar formulierte rechtliche Handhabe. Außerdem bot ihm das Privileg auf die personelle Besetzung sämtlicher kirchlicher Ämter eine einzigartige Möglichkeit, eine ihm unmittelbar ergebene Gefolgschaft aufzubauen, ohne auf irgendwelche politische Folgen Rücksicht nehmen zu müssen. Kirchliche Würdenträger gehorchten, wie oben bemerkt, nur Weisungen, die er ihnen aufgrund seiner Stellung als ihr oberster Hirte erteilte, und widerstrebten allen Versuchen, sie zu Werkzeugen der weltlichen Macht zu degradieren. Auch in der Auffassung seiner Rolle als weltlicher Herrscher, sowohl als König von Preußen als auch als Deutscher Kaiser, beharrte Wilhelm II. auf den absolutistischen Traditionen des Hohenzollernhauses. Um die in ihn gesetzten Erwartungen als Träger und Verkörperung der deutschen ReichseinDazu ausführlicher: Pollmann (Anm. 17) 19-31. Ebd. 22 f. Ursprünglich hatte Barkhausen notiert: " ( . . . ) befähigen werde, den Kampf mit Rom und den finsteren Mächten des Unglaubens und Umsturzes erfolgreich zu führen." Die Korrektur stammt vom preußischen Kultusminister Goßler. 55 56

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heit zu erfüllen, bediente er sich bei manchen öffentlichen Auftritten nationaler Rhetorik. Dagegen scheinen Wilhelm II. in seiner Rolle als Oberster Bischof nationale Ausbrüche kaum unterlaufen zu sein. 57 Offensichtlich ist sich Wilhelm li. der Widersprüchlichkeit seiner Doppelrolle als Herr der Kirche und Herrscher des Staates kaum bewußt gewesen. Während seiner Amtszeit hat er öfters die preußischen Ostgebiete besucht und bei diesen Gelegenheiten immer auf ihre feste Verbundenheit mit Staat und Reich hingewiesen. So etwa als er am 2. September 1902 in Posen den Startschuß zur Sprengung der Festungsgürtel gab, sodaß die Stadt, wie mehrere andere europäische Großstädte zur gleichen Zeit, ihre wachsende Einwohnerzahl angemessener unterbringen konnte. 58 Und als er am 20. August 1910 wiederum in der Stadt weilte, um die im neuromanischen Stil erbaute Kaiserpfalz (!) einzuweihen, sprach er die Hoffnung aus: "Möge die neue Residenz mit ihren Schwestern im Lande in Treue zu Kaiser und Reich, in Liebe zu König und Vaterland alle Zeit wetteifern und sein und bleiben ein Hort und eine Pflanzstätte deutscher Kultur und Sitte."

Er gab der Freude Ausdruck, daß die vom Landtag bewilligten Beträge zu einem so erhabenen Zweck verwendet worden waren. 5 9 Wenn man bedenkt, daß in der Stadt Posen zu dieser Zeit über 70% polnischsprachige Einwohner lebten, kann man sich fragen, wie die preußische Bürokratie es fertig gebracht hat, Wilhelm li. diesen Sachverhalt zu verschleiern. Vor einem angeblich nur aus Deutschen zusammengesetzten Publikum fiel es ihm nicht schwer, ohne Einschränkung die Zielsetzungen des Ostmarkenvereins zu unterstützen. 60 Wie sich die dortige evangelische Kirche solchen Kundgebungen gegenüber verhielt, zeigt u. a. ein von Rogall veröffentlichter Passus aus dem Manuskript einer Rede, die der Generalsuperintendent im Posener Konsistorium, Paul Blau, im Jahre 1913 anläßlich eines weiteren kaiserlichen Besuchs gehalten hat: "So hat auch bei uns, vor allem in unserer von starken politischen Spannungen durchfluteten Ostmark unsere evangelische Kirche es von je her als ihr Recht und ihre Pflicht angesehen, sich auf Seiten des Deutschtums und des Königtums zu stellen und vaterländische und königstreue Gesinnung zu pflegen und zu fördern. Sie hat deshalb, nicht nur weil sie weiß, wietreuSeine Majestät zum evangelischen Bekenntnis und der evangelischen Kirche steht, sondern weil sie selber treu zu Kaiser und Reich steht und stehen will, den hohen Besuch von Herzen willkommen

Pollmann (Anm. 17) 25 Johannes Penzler (Hg.), Die Reden Kaiser Wilhelms ll. in den Jahren 1901-Ende 1905, Leipzig o.J., 121 f. 59 Bogdan Ibieger (Hg.), Die Reden Kaiser Wilhelms n. in den Jahren 1906-Ende 1912, Leipzig o.J., 195 f. so Belzyt (Anm. 16) 22 ff. und 192 f. 57

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heißen und hofft, daß hierdurch das Band, das Altar und Thron, das Kirche und Königtum, das die preußische Landeskirche und ihren obersten Bischof verbindet, umso fester und enger gelmüpft wird. " 61

Auf den ersten Blick enthalten diese sorgfältig gewählten Worte nichts, an dem der Kaiser als Staatsoberhaupt Anstoß nehmen konnte. Sieht man aber genauer hin, so fallen die wiederholten Hinweise auf Wilhelms II. Stellung als Oberhaupt der evangelischen Kirche auf, während die Rede auf eine direkte Stellungnahme zur offiziellen Polenpolitik, die ja stark von der nationalkulturellen Ideologie des Ostmarkenvereins beherrscht wurde, verzichtet. Faßt man nach üblichem kirchlichem Sprachgebrauch die Begriffe deutsch, evangelisch und Treue zum König als Synonyme auf, so läßt sich die versteckte Kritik an den von den Behörden heraufbeschworenen Spannungen in den polnischen Teilungsgebieten kaum überhören. Erst dann fällt auf, in welcher Verlegenheit sich die evangelische Kirche befand. Schon aus Rücksicht auf ihre polnischen Mitglieder mußte sie sich jedem Versuch der gewaltsamen Germanisierung dieser Gebiete entschieden widersetzen. Aber ihre prinzipielle Treue zu Wilhelm II. als ihrem von Gott eingesetzten Obersten Bischof verbot ihr, unverhüllt vor aller Welt Entscheidungen zu kritisieren, die er im Interesse der Monarchie und der Konsolidierung der Reichseinheit ausdrücklich als notwendig und manchmal sogar als historische Mission seines Hauses bezeichnet hatte. Oben wurde schon bemerkt, daß den Vorstellungen der Kirche von der Legitimität eines Herrschers der, wie Weber es formulierte, traditionale Herrschaftsbegriff zugrunde lag. Dieser sieht in der Person des Herrschers die Verkörperung der überlieferten, von Gott gesetzten Ordnung. Widerstand gegen den Herrscher bedeutet unweigerlich Widerstand gegen die traditionellen, von jeher geltenden Gesetze und gegen die berufene Obrigkeit. Aus diesem Grund konnte die Kirche ihre Kritik an der offiziellen vom Kaiser gutgeheißenen Ostmarkenpolitik nur durch die Hervorhebung ihrer Treue zum König äußern. Wie sie sich in Wirklichkeit zu dieser Politik verhielt, wird aber erst aus ihrem umfangreichen Briefwechsel mit den zuständigen preußischen Behörden ersichtlich. Und erst hier schlägt sich ihre Klage über deren offensichtliche Weigerung, im Einvernehmen mit der evangelischen Kirche nach einer konstruktiven Lösung der Polenproblematik zu suchen, nieder.

Schlußbetrachtung Die polnischen Teilungsgebiete waren die Achillesferse der preußischen Monarchie. Heutzutage gibt es Diktaturen, die nicht davor zurückscheuen, 61

Ragall (Anm. 1) 172.

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die Einwohner bestimmter Grenzregionen aus Sicherheitsgründen zu evakuieren und sie durch eine zuverlässigere Bevölkerung zu ersetzen. Etwaige nationalkulturelle Überlegungen lagen einem aufgeklärten Staat wie Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts jedoch fern. Thm fehlten außerdem die erforderlichen demographischen und finanziellen Ressourcen. So beschränkte sich Preußen in erster Linie auf die Entmachtung der polnischen Oberschicht. Hatte dieser Adel mehr oder weniger freiwillig auf ihre Herrschaft verzichtet und das Land verlassen, so ließen sich seine nunmehr herrenlos gewordenen Untertanen ohne Zweifel leicht eingliedern. Der erste Abschnitt dieses Beitrags versuchte so knapp wie möglich darzulegen, warum dieses Ziel, allen Anstrengungen zum Trotz, nie verwirklicht wurde. Die Ansiedlungspolitik Bismarcks, die nach 1898 unter Reichskanzler Bülow in verschärfter Form fortgesetzt wurde, diente vor allem dazu, den nationalen Liberalismus im Deutschen Reich für die Konsolidierung des preußischen territorialen Besitzstandes zu mobilisieren. Dank einer lebhaften Propaganda gelang es der preußischen Regierung, die gescheiterte Germanisierung der Ostgebiete zu kaschieren, dafür mußte sie jedoch allmählich extrem-nationalistischen Kampfverbänden wie dem Ostmarkenverein die Initiative überlassen. Es hat allerdings eine Alternative gegeben. In vormodernen Zeiten hat der Eroberer eines Landes oft seine Herrschaft dadurch zu konsolidieren versucht, daß er sich mit einigen an Ort und Stelle etablierten Machthabern verbündete. Sie stellten ihm ihre Gewaltmittel und persönlichen Verbindungen zur Verfügung, und er unterstützte sie in Auseinandersetzungen um die Vormachtstellung in den betreffenden Gebieten. Auf diese Art konnte ein Karl IV. z . B. sein Kaisertum nicht unerheblich erweitern, indem er in fast allen wichtigen Regionen des damaligen Heiligen Römischen Reiches einflußreiche sog. königsnahe Personenverbände für sich gewann. 62 Eine solche Lösung setzt aber voraus, daß der neue Souverän diesen Gruppen ihre traditionellen Privilegien bestätigt und sie im Prinzip frei gewähren läßt, solange sie seinen eigenen Interessen nicht schaden. Warum weigerte sich die preußische Bürokratie, der evangelischen Kirche und ihren adeligen Schirmherren in den polnischen Teilungsgebieten eine solche Rolle zuzugestehen? Der wichtigste Grund war anscheinend, daß diese Gebiete zu einer Zeit erworben wurden, als man in Berlin vollauf bestrebt war, das gesamte Territorium einem einheitlichen Recht und einer einheitlichen Verwaltung zu unterstellen und die überlieferten adeligen Pri-

62

Diese Vorgänge hat Peter Moraw, Personenforschung und deutsches Königtum,

in: Zeitschrift für Historische Forschung 2 (1975) 7-18, und ders., Kaiser Karl rv. im deutschen Spätmittelalter, in: Historische Zeitschrift 229 (1979) 1-24, ausführlich

dargelegt.

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vilegien einzuschränken oder sogar ganz aufzuheben. Gewisse königliche Prärogativen, darunter namentlich das landesherrliche Kirchenregiment, blieben jedoch, wie oben dargestellt, von diesen bürokratischen Reformversuchen weitgehend ausgenommen. Dies und ihre Diasporalage machte die Kirche in den Augen der Staatsregierung zu einem unberechenbaren Faktor. Ohne materielle Förderung durch die öffentliche Hand bestand kaum Hoffnung, die Minderheitsposition zu verlassen. Deshalb glaubten die Beamten, ihre ohnehin schon beschränkten Mittel wirksamer einsetzen zu können, wenn sie sich auf die Ansiedlung kapitalkräftiger Grundbesitzer konzentrierten. Die finanzielle Schwäche der evangelischen Kirche nutzten sie dagegen aus, um sich von ihr nicht gegen den König ausspielen zu lassen. Hinter der Fassade eines aufgeklärten Absolutismus verbarg sich ein unschlüssiger Herrscher. Wie sich Wilhelm II. auch entschied, die entgegengesetzten Ziele von Staat und Kirche ließen sich nicht versöhnen. Wenn er auch öfters an ihr nationales Verantwortungsgefühl appellierte, letzten Endes mußte die evangelische Kirche ganz allein mit den Spannungen an der preußisch-deutschen Ostgrenze fertig werden. Man kann also keineswegs behaupten, daß die Evangelisch-Unierte Kirche ein willenloses Werkzeug in den Händen der preußischen Germanisierungspolitik gewesen ist, wie ihr vor allem nach dem Ersten Weltkrieg von polnischer Seite wiederholt vorgeworfen wurde. Ihre persönliche Treue zum König hat sie allerdings daran gehindert, öffentlich gegen die Diskriminierung der polnischen Minderheit in Posen und Westpreußen Stellung zu beziehen. Dadurch war sie außerstande, "die berechtigten Interessen der alteingesessenen Bevölkerung mit den recht einseitigen Ansprüchen der Ansiedlungskommission in Einklang zu bringen. ,tfla

63

Denkschrift von 1886 (wie Anm. 48) Bl. 123 (= Bl. 42).

Wilhelm ll. und der Katholizismus Von Jürgen Strötz I. Diewilhelminische Epoche und ihr Herrscherverständnis

Das Dreikaiserjahr 1888 stellt für die deutsche Geschichte in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt dar. Nicht zuletzt bahnte sich auch ein Wandel der Herrschaftsauffassung an der Staatsspitze an. Im Gegensatz zum spartanisch-altpreußischen Partikularismus Kaiser Wilhelms !. 1, entwickelte sich unter seinem Enkel Wilhelm II. eine Idealauffassung hohenzollernscher Regierung, die sich immer stärker an ihrer Aufgabe für ganz Deutschland orientierte und ihren historischen Anknüpfungspunkt in den (katholischen) Kaisern des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation suchte2 . Entsprechend dieser mittelalterlichen Vorbilder sah sich Wilhelm II. in seiner Theorie des sakralen Königtums von Gottes Gnaden3 als "Instrument des Herrn"'\ dem die Rolle eines Vermittlers und Versöhners zwischen den divergierenden Interessen von "Welt" und "höheren Welten"5 zufiel und dessen Handeln unfehlbar und unangreifbar war6 . Dieses gottesunmittelbare Selbstverständnis des "Herrn der Mitte" (Nicolaus Sombart) 7 beinhaltete auch die Sorge um den Ausgleich der konfessionellen 1 Wilhelm 1., deutscher Kaiser 1871-1888.- Zu ihm: Franz Herre, Kaiser Wilhelm I. - Der letzte Preuße, Köln 1993. 2 Hierzu: Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871 - 1918, München-Wien 1969. - Wolfgang J. Mommsen, Preußisches Staatsbewußtsein und deutsche Reichsidee, in: Ders., Der autoritäre Nationalstaat, Frankfurt a.M. 1990, 66-85. 3 Siehe Nicolau.s Sombart, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996, hier: 94-98. 4 Hierzu: Hans Wilderotter, "Als Instrument des Herrn mich betrachtend", in: Ders. l Klau.s-D. Pohl (Hg.), Der letzte Kaiser, Gütersloh-München 1991, 307-309. Ausdrücklich verwendet der Kaiser diesen Begriff in der Rede bei der Festtafel für die Provinz Ostpreußen am Abend des 25. August (1910] {Text: Johannes Penzlerl Bogdan Krieger [Hg.], Die Reden Kaiser Wilhelms II. [1888-1912], 4 Teile, Leipzig 1897-1913, hier: Bd. 4, 203-206, [hier: 2061}. s Rene Guenon, Der König der Welt, Freiburg 1987, 21. 6 Wilderotter, Als Instrument des Herrn (wie Anm. 4) 307. 7 Sombart, Wilhelm II. (wie Anm. 3), besonders die Ausführungen über das wilhelminische Herrscherverständnis: 85-130, hier: 95.

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Jürgen Strötz

Differenzen8 . Die Integration des katholischen Bevölkerungsteils erachtete Wilhelm II. daher als notwendigen Schritt hin auf die innere, geistige Einigung Deutschlands, dessen zentrifugale Kräfte auch zwanzig Jahre nach der Kaiserproklamation von Versailles noch wirksam waren9 . Konzentration und Anspannung aller Kräfte wurden andererseits in der wilhelminischen Epoche als unabdingbare Voraussetzungen für den Aufbau einer deutschen Weltmachtstellung angesehen, die das Überleben des Reichs sichern sollte. Das Streben des Kaisers, ein Herrscher aller Deutschen zu sein 10, die sozialen, politischen und religiösen Gegensätze abzubauen, ist nur in diesem Kontext zu verstehen und führte zu einem Mentalitätswandel, der die Diffamierung der Katholiken als Reichsfeinde aufgab, um nicht weiterhin 36% Bevölkerung vom gemeinsamen nationalen Bewußtsein auszuschließen11 . ß . Die Religiosiät Wilhelms ll. und der Katholizismus

Wilhelm II. hat sich schon vor seinem Regierungsantritt konsequent um die deutschen Katholiken bemüht. Damit distanzierte er sich von den Vorstellungen seines Großvaters, der dem Katholizismus zeitlebens skeptisch gegenüberstand. Obwohl - oder gerade weil - sich der Enkel stets seiner Stellung als Summus episcopus der evangelisch-lutherischen Kirche bewußt blieb 12 , entwickelte er ein gutes Verhältnis zu den Katholiken. Dazu a Hierzu: Anton Rauscher (Hg.), Probleme des Konfessionalismus in Deutschland seit 1800 (=Beiträge zur Katholizismusforschung B), Paderborn u. a. 1984, 9-69. 9 Siehe hierzu die programmatische Thronrede Wilhelms Il. aus Anlaß der 25jährigen Jubelfeier des Deutschen Reichs am 18. Jan. 1896, die im Aufruf "Ein Reich, Ein Volk, ein Gott" gipfelte (Penzler, Reden Kaiser Wilhelms Il. I 2 [wie Anm. 4) 5-8, hier: 8). Ernst Graf von Reventlow, Von Potsdam nach Doorn, Berlin 5 1940, 384, sah darin die Forderung an das Volk, "einen, also ,denselben' Gott zu verehren" -jenseits aller konfessionellen Gegensätze. 1o Sombart, Wilhelm II. (wie Anm. 3) hat erst jüngst dieses Leitmotiv in der Herrschaftsauffassung des Kaisers herausgearbeitet, wobei er allerdings bewußt gegenüber der Person des Kaisers "eine gewisse Pietät" bewahrt (ebd. 8). Sein Essay versteht sich als "ein neuer und letzter Versuch" (ebd. 7), den derzeit führenden Biographen des Kaisers, John C. G. Röhl, Wilhelm Il.- Die Jugend des Kaisers 1859-1888, München 1993, zu einer Wohlwollenderen Haltung gegenüber seinem Forschungsgegenstand zu bewegen. 11 Im Jahre 1900 zählte das Deutsche Reich 56,37 Mio. Einwohner; davon waren 20,32 Mio. Katholiken(= 36%) und 35,23 Mio. (= 62,5%) Protestanten (Angaben nach: Herders Konversations-Lexikon II, Freiburg i.B. 3 1903, Deutschland-Statistik I.B [nach Sp. 1224)). 12 Wilhelm II. verstand sich in dieser Aufgabe als Schützer und Förderer des gesamten Christentums in Deutschland, als dessen oberster Repräsentant, einschließlich der deutschen Katholiken. -Siehe: Reventlow, Potsdam (wie Anm. 9) 387.

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beigetragen hat in erster Linie der mystizistische Grundzug seiner persönlichen Religiosität13 . In der katholischen Kirche mit ihren Riten und ihrer Hierarchie sah er das von ihm verehrte Mittelalter und die monarchische Herrschaftsordnung exemplarisch realisiert 14 . Nicht ohne Grund hat er daher der von ihm idealisierten Concordia sacerdotii et imperii in seinen Lebenserinnerungen Ereignisse und Gestalten ein ausführliches Kapitel gewidmet15. Auch die Festschriften zu den diversen Kaiserjubiläen kommen nicht ohne einen entsprechenden Artikel aus 16; eine ., Tradition", die sich auch nach der Abdankung Wilhelms am 9. November 1918 fortsetzte. Unter diesen Beiträgen ist besonders das Buch Kaiser Wilhelm 11., seine Weltanschauung und die Deutschen Katholiken hervorzuheben, das der Würzburger Universitätsprofessor Max Buchner17 1929 in Leipzig publizierte. Worin lagen aber die tieferen Ursachen der Sympathie des Kaisers für die Katholiken? Buchner18 sieht sie vor allem im gemeinsamen Glauben von Katholiken und Protestanten an den Gekreuzigten und im gemeinsamen christlichen Sittengebot begründet, die für Wilhelm die konfessionsübergreifenden Zentralthemen des Glaubens darstellten. Daneben sei der Kaiser vom katholischen Autoritätsgedanken angezogen worden, der im konservativ eingestellten Papsttum seinen symbolhaften Ausdruck fand. Das feste System der Tradition in der katholischen Kirche habe ihn beeindruckt, weil er selbst die Tradition als wichtigste Grundlage des preußisch-deutschen Staates ansah, und im Hang der Kirche zu Symbolik und Repräsentation 13 Hierzu: Hans Rall, Zur persönlichen Religiösität Kaiser Wilhelms II., in: Zeitschrift für Kirchengeschichte [ZKG] 95 (1984) 382-394.- Siehe auch: Daniel Chamier, Wilhelm II. - Der deutsche Kaiser, Gütersloh 1989. - Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 10) zwar tendenziös und bislang nur die Jugendjahre umfassend, jedoch bei weitem die detaillierteste Studie der jüngeren Vergangenheit. - Hans Rall, Wilhelm II., Graz-Wien-Köln 1995. 14 Reventlow, Potsdam (wie Anm. 9) 395. 15 Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878-1918, Berlin 1922, 173 - 186. 16 Siehe z. B. Franz Dittrich, Der Kaiser und die Kirche: Die katholische Kirche, in: Achenbach-Büxenstein (Hg.), Unser Kaiser. 25 Jahre der Regierung Kaiser WHhelms II., Berlin-Leipzig 1913, 249-257. 17 Max Buchner (1881-1941), Historiker und kath. Publizist, seit 1924 Hrg. der Gelben Hefte, 1926 - 1936 Ordinarius für Geschichte in Würzburg, 1936 in München, 1940 zwangsemeritiert, einer der führenden Köpfe des Widerstandes gegen die NSDiktatur an der Münchener Hochschule. - Zu ihm: Anton Ritthaler, Art. Buchner, Max, in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955) 707 f. (Lit.). - Wilhelm II. dankte Buchner am 11. Februar 1929 in einem Handschreiben für sein Buch und lobte, daß darin seine Weltanschauung richtig charakterisiert worden sei. Der Exil-Kaiser legte in diesem Brief ein "Glaubensbekenntnis" ab, das sich dem katholischen Eucharistieverständnis annäherte (Rall, Wilhelm II. [wie Anm. 13]365). 18 Max Buchner, Kaiser Wilhelm II., seine Weltanschauung und die Deutschen Katholiken, Leipzig 1929, 109.

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habe er eine eigene Vorliebe wiederentdeckt. Genährt wurde diese Bewunderung schließlich auch durch Wilhelms Großmutter, Kaiserin Augusta, die ihren Enkel mit überzeugten Katholiken bekanntmachte und die selbst ein Zentrum des Widerstandes gegen den Kulturkampf bildete19 .

m. Der Prinz und der Kulturkampf In seiner Studienzeit im katholisch geprägten Bonn konnte der Prinz aus nächster Nähe die Auswirkungen des von Bismarck initiierten Kulturkampfs beobachten. Seine Jugenderinnerungen verurteilen diesen Konflikt auf das Entschiedenste als "ein schweres Verhängnis für die geistige Einheit Deutschlands" 20 .

Zu dieser Auffassung war er gelangt, weil er durch Vermittlung seines "Oheims geistlicher Natur'c21, Kardinal Hohenlohe-Schillingsfürst22 , einige der führenden katholischen Bischöfe Preußens kennen- und schätzengelernt hatte23 . Besonders großen Eindruck machte auf den jungen Prinzen offensichtlich auch der Sekretär für außerordentliche geistliche Angelegenheiten Luigi Galimberti24 , der 1887 die Glückwünsche Papst Leos XIII. zum 90. Geburtstag Kaiser Wilhelms I. in Berlin überbrachte. Obwohl der Prinz große Hochachtung vor der Amtskirche und ihren Vertretern empfand25 , weil sie für ihn Stützen des monarchischen Reichsgedankens waren, ent19 Buchner, Wilhelm 11. (wie Anm. 18) 110. -Zum Kulturkampf: Johannes B . Kißling, Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche,3 Bde., Freiburg i.B. 19111916. - Erich Schmidt-Volkmar, Der Kulturkampf in Deutschland 1871-1890, Göttingen 1962. - Rudolf Lill (Hg.), Der Kulturkampf (Beiträge zur Katholizismusforschung A: 10), Faderborn u. a. 1997. 20 Wilhelm II., Aus meinem Leben 1859-1888, Berlin-Leipzig 1927,248. - So auch in: ders., Ereignisse (wie Anm. 15) 175-178. 21 Röhl, Wilhelm ll. (wie Anm. 10) 715. 22 Gustav Adolf Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1823 - 1896), 1866 Kardinal. Zu ihm: Hubert Wolf, Gustav Adolf zu Hohenlohe-Schillingsfürst, in: Gerhard Taddey u. a. (Hg.), Lebensbilder aus Baden-Württemberg 18, Stuttgart 1994, 350-375. 23 Vor allem den Breslauer Fürstbischof Georg von Kopp (zu ihm: Anm. 37) und die Bischöfe von Metz (Franz Ludwig F1eck [1824 -1899; Bischof ab 1886]) und Ermland [Andreas Thiel; zu ihm: Anm. 100]. -Siehe: Röhl, Wilhelm II. [wie Anm. 10] 619. 24 Luigi Galimberti (1836-1896), 1887 Nuntius in Wien, 1893 Kardinal, bedeutender päpstlicher Diplomat, der u. a. 1885 den Schiedsspruch in der Karolinenfrage verfaßte; maßgeblich an der Beilegung des Kulturkampfs beteiligt. - Zu ihm: G. Aureli, La politica di Leone Xlll. da Luigi Galimberti a M. Rampolla, Roma 1912. 25 Reventlow, Potsdam (wie Anm. 9) 395, vermerkt ausdrücklich, daß der Kaiser die katholischen Geistlichen stets als "die edlen Herren der Kirche" bezeichnete, während die evangelischen von ihm als "gewöhnliche[ ] Untertan[en] " betrachtet wurden.

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wickelte er schon frühzeitig- aufgrund seiner autokratischen Vorstellungen vom Parlamentarismus 26 - eine große Skepsis gegenüber der Zentrumspartei27. Die politische Vertretung des deutschen Katholizismus im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus war ja als klerikal-partikularistische Opposition gegen die Reichsgründung ins Leben getreten28 . Wilhelm sah das Zentrum daher das Sammelbecken aller "Reichsfeinde", damit als "ein europäisches Unikum" 29 . Die Fraktion habe nie einen Hehl aus ihrer tiefen Abneigung gegen das protestantische Kaisertum gemacht und sich auch nach dem Kulturkampf "nie zu einer rückhaltlosen freudigen Bejahung des Reichsgedankens ... aufschwingen können" - so Wilhelm II. 30 Sein Verdikt traf besonders die Parteiführung, denn diese - vor allem Ludwig Windthorst3 1 -habe aus "einer ausgesprochenen Opportunitäts- und Augenblickspolitik" heraus den aufrichtigen Idealismus der katholischen Wählermassen mißbraucht und sie dadurch auf lange Zeit hindurch von der Integration in das Reich abgehalten32 . Wilhelms Haltung gegenüber dem Katholizismus war deshalb schon in seinen Jugendjahren gespalten: Einerseits bewunderte er die römische Kirche als solche, andererseits sah er im Zentrum eine latente Gefahr für die Reichseinheit. Seine überwiegend prokatholischen Sympathien wurden jedoch nicht zuletzt durch einige persönliche Freunde und Berater gefördert, z. B. durch Hauptmann Fritz von Born und Leutnant Oskar von Chelius33 . So lehnte Wilhelm den Kulturkampf nicht nur deshalb ab, weil er seiner nationalen Sammlungsidee widersprach, sondern auch, weil durch ihn die altpreußische Idee der religiösen 26 Hierzu: Rudolf Vierhaus, Kaiser und Reichstag zur Zeit Wilhelms li., in: FS für Hermann Heimpel, Bd. 1, Göttingen 1971, 257-281. 27 Zu ihr: Karl Bachern, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei, 9 Bde., Köln 1927-1932 (Nachdruck 1967). - Winfried Becker (Hg.), Die Minderheit als Mitte (Beiträge zur Katholizismusforschung, B), Paderborn 1986. 28 Zur Stellung der Katholiken gegenüber der Reichsgründung 1871: Rudolf Lill, Die deutschen Katholiken und Bismarcks Reichsgründung, in: Theodor Schieder Ernst Deuerlein (Hg.), Reichsgründung 1870 I 71, Stuttgart 1970, 345-360. - Willy Real (Hg.), Katholizismus und Reichsgründung, Paderborn 1988. 29 Wilhelm II., Aus meinem Leben (wie Anm. 20) 248. 30 Ebd. 31 Ludwig Windthorst (1812 -1891), geistiger Führer des Zentrums. -Zu ihm: Margaret Lavinia Anderson, Windthorst (Fbrschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 14), Düsseldorf 1988.- Zum Mißtrauen des Prinzen gegenüber Windthorst: Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 10) 619. 32 Wilhelm II., Aus meinem Leben (wie Anm. 20) 248 f. 33 Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 10) 715.- Oskar von Chelius (1859 -1923), Generalleutnant, 1914 Militärbevollmächtigter am russ. Hof u. Generaladjutant des Kaisers, Komponist.- Zu ihm: Wilibald Gurlitt (Hg.), Riemann Musik Lexikon, Personenteil A-K, Mainz u . a. 121959, 304.

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Toleranz verletzt wurde34 , die ihm als Quintessenz seiner Prinzenerziehung durch Georg Hinzpeter35 als heilig galt36 . Seine Freude über die Beendigung der Auseinandersetzung, zu der er- nach eigener Aussage -mit allen Kräften beigetragen hatte, drückte der Prinz daher in einem Brief an Kardinal Hohenlohe vom 1. April 1887 folgendermaßen aus: "Daß dieser unselige Kulturkampf beendigt ist, darüber bin ich glücklicher als ich sagen kann. In der letzten Zeit haben mich hervorragende Katholiken, unter andem auch Kopp37 , wiederholt besucht und mich mit einem wohltuenden, vollkommenen Vertrauen beehrt. Vielfach war ich so glücklich, mich zum Dolmetsch ihrer Wünsche machen und ihnen Dienste erweisen zu können. So war es meiner Jugend vergönnt, an diesem Werke der Friedensstiftung mitzuarbeiten. " 38

rv. Kaiser Wilhelm D. und die Päpste Leo XID. und Pius X. Als Wilhelm II. am 15. Juni 1888 den Thron bestieg, war klar, daß die Beziehungen zum Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche einen besonderen Stellenwert in seinem politischen Programm einnehmen würden. Zum einen sollte durch sie die Integration der Katholiken erleichtert werden, andererseits wollte er an die mittelalterlichen Traditionen des römisch-deutschen Kaisertums anknüpfen. Sein zweiter Staatsbesuch im Jahre 188839 zeigte bereits die Absicht, den Kulturkampf vollständig beizulegen. Während des Italienaufenthalts stattete er als erster Kaiser des neuen deutschen Reichs Papst Leo XIII. 40 einen halbstündigen Freundschaftsbesuch im Vati34 Das Suu.m cuique war für ihn die Voraussetzung, den Katholiken die Freude am Reich zu ermöglichen.- Siehe: Wilhelm II., Ereignisse (wie Anm. 15) 175. 35 Georg Hinzpeter (1827 -1897), Altphilologe und Calvinist, Zivilerzieher Prinz Wilhelms in den Jahren 1866-1877, der in religiösen Fragen strikte Neutralität bewahrte. -Zu seiner Rolle maßgeblich: Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 10} 149-249. 36 Wilhelm 11., Aus meinem Leben (wie Anm. 20) 249: "Den Abbruch des Kulturkampfes habe ich seinerzeit freudig begrüßt und im Geiste der Toleranz, die mir Hinzpeters Erziehung und die Tradition meines Hauses zu eigen gemacht hatten." Bezeichnend ist, daß Wilhelm bei seiner Konfirmation (1874) nur ein "allgemeines christliches Glaubensbekenntnis" ohne konfessionelle Richtung ablegte. - Siehe: Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 13) 27. 37 Zu Georg von Kopp, 1887-1914 Fürstbischof von Breslau: Rudolf Morsey, Georg Kardinal Kopp, Fürstbischof von Breslau 1887-1914. Kirchenfürst oder "Staatsbischof"?, in: Wichmann Jahrbuch für Kirchengeschichte im Bistum Berlin 21-23 (1967 - 1969} 42 - 65. - Hans-Georg Aschoff, Kirchenfürst im Kaiserreich- Georg Kardinal Kopp, Hildesheim 1987. 38 Prinz Wilhelm an Kardinal Gustav zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 1. April1887, zit. nach: Röhl, Wilhelm TI. (wie Anm. 10) 715. 39 Sein zweiter Staatsbesuch führte ihn zu den verbündeten Mächten ÖsterreichUngarn und Italien.

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kan ab 4 \ der das zweite Friedensgesetz vom April 1887 besiegeln sollte42 . Zwar antwortete der Monarch auf eine Anspielung des Pontifex bezüglich der Wiederherstellung des Kirchenstaates mit Rücksicht auf das verbündete Italien ausweichend43 , doch wollte Wilhelm II. dessen Wunsch nach weiteren Konzessionen für die deutschen Katholiken offensichtlich entgegenkommen. Für den Vatikan hatte diese Visite vor allem deshalb eine historische Bedeutung, weil seit dem Untergang des Patrimonium Petri im Jahre 1870 kein europäischer Souverän mehr den Papst besucht hatte44 • Bezeichnend für die Stimmung, die dieses Ereignis auch bei den Protestanten hervorrief, ist eine Rede des Königsherger Professors Philipp Zorn45 , in der es hieß: "Der evangelische Deutsche Kaiser als Freund des Königs von Italien in Rom und als ausgezeichneter Ehrengast des Papstes im Vatikan! Was liegen darin für gewaltige Momente der Weltgeschichte, welche ergreifenden Wandlungen des Staatslebens!" 46 Nach den Verheerungen des eben überstandenen Kulturkampfs mußte dieser Besuch, der den Grundstein zu einem dauerhaften und echten Freundschaftsverhältnis zwischen Wilhelm II. und Leo XIII. legte47 , gerade auf die Katholiken wie ein Wunder wirken. Aber auch für den Kaiser blieb der damalige Eindruck unvergeßlich. Noch im Exil erinnerte er sich daran, daß ihm die ungeheuere Prachtentfaltung 40 Leo Xlll., Papst von 1878 bis 1903.- Zu ihm: Oskar Köhler, Leo XIII., in: Martin Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte 12 (Das Papsttum II), Stuttgart-Berlin-Köln 1993, 203-223 (Lit.). 41 Hierzu: Edoardo Soderini, Leo xm. und der deutsche Kulturkampf [Dt. Bearbeitung von Richard Bauersfeld], Innsbruck-Wien-München 1935, 260-264. - Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 13) 56-58. 42 Dieses Gesetz trat am 29. April1887- noch unter Wilhelm I. -in Kraft und enthielt als Hauptbestimmungen: Aufhebung des Verbotes der Gründung neuer Priesterseminare, des staatlichen Zwanges zur dauernden Besetzung der Ffarrämter, der Verpflichtung der Mitteilung kirchlicher Disziplinarerkenntnisse an den Staat. - Zu diesem Gesetz: Kißling, Kulturkampf III (1916) (wie Anm. 19) 331 - 353. 43 Er wies stattdessen auf die Gefahren hin, welche die Anarchie in Frankreich und der russische Panslawismus für den europäischen Frieden in sich bargen (Rall, Wilhelm li. [wie Anm. 13] 57). 44 Der Eindruck dieses Besuchs wurde allerdings dadurch abgeschwächt, daß der Kaiser danach sofort in den Quirinal fuhr und dort das deutsch-italienische Bündnis mit dem Hinweis auf Rom als Hauptstadt des geeinten Italien bekräftigte (ebd.). 45 Phitipp Carl Ludwig Zorn (1850-1928), protest. Rechtslehrer, Historiker u. Politiker, 1877-1890 Ordinarius für Rechtswissenschaften an der Universität Königsberg, seit 1900 auf ausdrücklichen Wunsch Wilhelms li. in Bonn, 1901 - 1903 Lehrer des Kronprinzen des Deutschen Reichs in Staats- und Kirchenrecht. - Zu ihm: Konrad Zorn, Zorn, Philipp Carl Ludwig, in: Anton Chroust (Hg.), Lebensläufe aus Franken 5 [La.F.) (Erlangen 1936) 530-544. 46 Rede Zorns vom 15. Oktober 1888; zit. nach: Dittrich, Der Kaiser und die katholische Kirche (wie Anm. 16) 250. 47 Bu.chner, Wilhelm II. (wie Anm. 18) 130.

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"ein kleines äußeres Bild der Macht der römisch-katholischen Kirche" vermittelt habe48 . Eine direkte Folge dieses ersten Treffens war, daß sich der Monarch in den 1890er Jahren um den Abbau weiterer Kulturkampfgesetze bemühte. So wurden die katholischen Theologen wieder vom aktiven Militärdienst befreit (Februar 1890) und im Jahre 1891 die sog. Sperrgelder den preußischen Diözesen zurückgegeben. 1894 wurden die Redemptoristen und die Vater vom Heiligen Geist, die durch das Jesuitengesetz von 1872 betroffen waren, wieder zugelassen. 1904 wurde der§ 2 dieses Gesetzes (Ausweisung bzw. Internierung einzelner Ordensmitglieder) aufgehoben und auch seine endgültige Beseitigung im Jahre 1917 ging auf eine Initiative des Kaisers zurück. In näheren Kontakt trat Wilhelm II. und der Papst erneut im Jahre 1893, als Leo XIII. sein 15jähriges Regierungsjubiläum feierte. Aus diesem Anlaß sandte der Kaiser seinen (katholischen) Generaladjutanten, Frhrn. von Loe49 nach Rom50 . Kurz nach dieser Mission reiste er selbst über die Alpen, um dem italienischen König Umberto I. (1878 -1900) eine Visite abzustatten. Anläßlich dieses Aufenthalts in der Ewigen Stadt besuchte Wilhelm II. in Begleitung seiner Gemahlin am 20. April 1893 auch den Papst. Ein Hauptthema dieses einstündigen Treffens im Vatikan dürfte die soziale Frage gewesen sein, die Leo XIII. zwei Jahre zuvor in seiner Enzyklika Rerum novarum51 grundsätzlich erörtert hatte und die auch ein Anliegen des Kaisers war, wobei sichbeidein der scharfen Verurteilung des Sozialismus einig waren52 . Vorbereitet wurde dieses Gespräch unter anderem durch die sozialpolitischen Erlasse Wilhelms II. vom Februar 189053 , die bei den Katholiken ein lebhaftes Echo gefunden hatten. Der deutsche Episkopat hatte sich damals sogar entschlossen, in einem gemeinsamen Hirtenschreiben seine Freude darüber auszudrücken, daß der Kaiser "in weiser Erkenntnis Wilhelm II., Ereignisse (wie Anm. 15) 176. Walter Frhr. von Loe (1828-1908), kath., 1884 Kommandierender General des Vlll. Armeekorps in Koblenz, 1895-1897 Gouverneur von Berlin, 1905 Generalfeldmarschall. - Zu ihm: Wilhelm Kisky, Generalfeldmarschall Frhr. von Loe (18281908), Euskirehen 1939. 50 Leo XIII. war am 3. März 1878 gekrönt worden; Loe wurde im Februar 1893 nach Rom geschickt.- Siehe: Soderini, Leo XIII. (wie Anm. 41) 300. 51 Text dieser Enzyklika vom 15. Mai 1891 bei: Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Lat.-dt. Ausgabe von Peter Hünermann, Freiburg u. a. 37 1991, Nr. 3265-3271. 52 Rall, Wilhelm ll. (wie Anm. 13) 70. 53 Besonders der Erlaß vom 4. Februar 1890 über die Arbeiterfrage. Text bei: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte ll, Stuttgart 1964, 413 f. (Nr. 270). -Zur Haltung des Kaisers in der sozialen Frage: Leo Haupts, Wilhelm ll., die deutschen Katholiken und die Anfänge der wilhel.minischen Sozialpolitik, in: Historisches Jahrbuch (HJ] 101 (1981) 130 - 140. - Rall, Wilhelm ll. (wie 48

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Anm. 13) 86-103.

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der Verhältnisse" und "dem edeln [sie!] Zuge seines Herzens folgend" die Lösung der sozialen Frage als seine Aufgabe erlaßt habe54 • Neben dem Meinungsaustausch über dieses für beide Seiten wichtige Thema gewann der zweite Papstbesuch auch durch eine symbolische Geste Wilhelms li. große Bedeutung: Der Monarch überreichte Kardinal Led6chowski55 , dem ehemaligen Erzbischof von Gnesen und Posen, der 1874 inhaftiert, für abgesetzt erklärt und anschließend als "Staatsfeind" behandelt worden war, ein Ehrengeschenk und versicherte ihm, daß alles Vorgefallene vergessen sein sollte5 6 . Pomphaft inszeniert, wurde auch die dritte Visite des Kaisers bei Leo XIII. am 3. Mai 1903 zu einem erstrangigen Ereignis. Der konkrete äußere Anlaß war diesesmal das silberne Thronjubiläum des inzwischen 93jährigen Papstes. Es waren aber die Vorgänge im Hintergrund, die auch dieses letzte Zusammentreffen der beiden Männer bedeutsam machten: Durch Initiative des Kaisers hatte Rußland 1895 seine Vatikangesandtschaft wiedereröffnet und 1901 hatte Wilhelm li. die vieldiskutierte Berufung des Katholiken Martin Spahn57 an die Straßburger Universität genehmigt. Schon beim Bekanntwerden der Absicht des Kaisers, den Papst zu besuchen, wurde deshalb das katholische Deutschland von großer Begeisterung ergriffen; in Rom selbst wurde der Monarch im Stil mittelalterlicher Kaiserkrönungen mit dem Ruf "Heil Karl dem Großen!" empfangen58 . Dieser Jubel war ein deutliches Zeichen dafür, wie tiefgreifend sich bereits die Beziehungen zwischen dem deutschen Staat und der katholischen Kirche gewandelt hatten. Wilhelm li. kam die indirekte moralische Bestätigung des Papstes für den auf Weltebene ausgedehnten imperialen Anspruch Deutschlands sehr gelegen. In Ereignisse und Gestalten schildert der Kaiser diesen Besuch daher 54 Hirtenschreiben der Bischofskonferenz zur sozialen Frage, Fulda, 22. August 1890, abgedruckt bei: Erwin Gatz (Hg.), Akten der Fuldaer Bischofskonferenz li 1888-1899 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A: 27), Mainz 1979, Dok. Nr. 549, hier: 100. 55 Mieczyslaw Halka von Led6chowski (1822-1902), 1866-1886 Erzbischof von Gnesen und Posen, 1875 Kardinal.- Zu ihm: Erwin Gatz, Led6chowski, Mieczyslaw von, in: ders. (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785 I 1803 bis 1945, Berlin 1983, 437-440. 56 Dittrich, Der Kaiser und die katholische Kirche (wie Anm. 16) 250. - Reventlow, Potsdam (wie Anm. 9) 392. 57 Martin Spahn (1875-1945), Prof. für Geschichte in Bonn (1901), 1901-1918 in Straßburg. - Zu ihm: Walter Ferber, Der Weg Martin Spahns: Zur Ideengeschichte des politischen Rechtskatholizismus, in: Hochland 62 (1970) 218-229.- Rudolf Morsey, Martin Spahn (1875- 1945), in: Anton Rauscher u. a. (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern 4, Mainz 1980, 143-158. -Zum Fall Spahn siehe auch S . 190 f. im vorliegenden Beitrag. 58 Buchner, Wilhelm li. (wie Anm. 18) 131 f. - Reventlow, Potsdam (wie Anm. 9) 391.

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ausführlich59 : Leo XIII., der wenige Monate später verstarb 60 , sei ihm trotz seiner Schwäche entgegengekommen und habe ihm beide Hände gereicht. In dem folgenden Gespräch hätte der Papst seine volle Übereinstimmung mit den Regierungsgrundsätzen des Monarchen ausgedrückt, habe er doch seit langem die Herrschaftsausübung Wilhelms beobachtet und zu seiner Freude festgestellt, daß sie sich auf den Boden des Christentums gründe und von "hohen religiösen Grundsätzen" geprägt sei61 . Demzufolge müsse er (der Papst) den Hohenzollern und Deutschland seinen apostolischen Segen erteilen, vor allem deshalb, weil das Reich in Zukunft zum "Schwert der katholischen Kirche" werden sollte. Auf diese Idee habe er (der Kaiser) zwar erwidert, "daß das alte römische Reich deutscher Nation doch nicht mehr bestehe", konnte damit aber Leo XIII. nicht von seiner festen Überzeugung abbringen62 . Diese Haltung habe sich auffallend von derjenigen der deutschen Kirchenfürsten- mit expliziter Ausnahme Kardinal Koppsunterschieden: Er (Wilhelm II.) habe sich trotz der zur Schau getragenen Höflichkeiten der Bischöfe nie darüber getäuscht, daß sie ihn stets als "Ketzer" ansahen und "daß im katholischen Süden und Westen des Reiches dieser Gedanke nie ganz verschwinden würde. " 63 Waren die Beziehungen des Kaisers zu Leo XIII. von großer gegenseitiger Sympathie getragen, so ließ sich dieses Verhältnis nur bedingt auf den Nachfolger Leos, Papst Pius X. 6 \ übertragen. Dessen Regierungsprogramm konzentrierte sich nämlich auf die Abgrenzung der katholischen Kirche gegenüber der Welt und auf den Kampf gegen die innerkirchliche Bewegung des Modernismus, so daß die Berührungspunkte mit dem Kaiser eher gering waren. Wenn auch das Verhältnis zwischen dem Hl. Stuhl und Deutschland während des Pontifikats Pius X. grundsätzlich ungetrübt blieb65 , so löste die päpstliche Enzyklika Editae saepe ("Borromäusenzyklika")66 vom 29. Mai 1910 eine schwere Krise aus, weil durch sie die Gefühle der Protestanten auf das Empfindlichste getroffen wurden67 • In diesem Schreiben wur59 Wilhelm II., Ereignisse (wie Anm. 15} 177 f.- Aus römischer Sicht: Soderini, Leo XIII. (wie Anm. 41) 304-307. 80 Am 20. Juli 1903. 61 Wilhelm II., Ereignisse (wie Anm. 15} 177. 62 Ebd. 63 Ebd. 178. 64 Pius X., Papst von 1903 bis 1914. - Zu ihm: Erika Weinzierl, Pius X ., in: Greschat, Gestalten 12 (wie Anm. 40) 224-240. 85 Ebd. 224. 86 Text: Hermann Schuster (Hg.), Quellenbuch zur Kirchengeschichte In, Frankfurt a.M. 5 1962, 67. 67 Hierzu: GisbeTt Knopp, Die Borromäus-Enzyklika und ihr Widerhall in Preußen, in: ZKG 86 (1975) 41-77.

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den Luther und die Reformatoren indirekt als hochmütige und rebellische Antichristen bezeichnet, deren Ziel die Durchsetzung der "zügellosen Willkür", der Lasterhaftigkeit, des Unfriedens und der Anarchie gewesen sei. Aus verworfenen Völkern hervorgegangen, hätten sie blind den "verkommensten Fürsten" gehorcht. Hatte Pius X. diese Enzyklika erlassen, um am Beispiel des hl. Karl Borromäus die wahren von den falschen Reformen abzugrenzen und die Modernisten als "Erben" der Reformatoren zu brandmarken, gewannen die Ausführungen durch die Verbindung mit Luther jedoch auch eine antiprotestantische Spitze, die den konfessionellen Frieden im Reich gefährdete. Bayern, Preußen und Sachsen legten daher sofort offiziellen Protest ein und die deutschen Bischöfen baten den Papst, von der Veröffentlichung im Reich abzusehen. Pius X. entsprach diesem Wunsch und versicherte umgehend Deutschland, dessen protestantischen Fürsten und Bürgern seine volle Hochschätzung68 . Nach dieser Erklärung entspannte sich die Situation bald wieder und auch der Kaiser war beschwichtigt, so daß dieser Vorfall sein Verhältnis zum Katholizismus nicht nachhaltig beeinflußen konnte. V. Wilhelm II. und die deutschen Katholiken

Die Beziehungen des Kaisers zum deutschen Katholizismus sind vielschichtig und bisher in ihren Einzelaspekten keineswegs erschöpfend aufgearbeitet69. Unter dem übergeordneten Ziel der kaiserlichen Integrationspolitik lassen sich aber mehrere Bereiche und Ebenen unterscheiden, die durch politische Erwägungen, persönliche Motivationen und Wilhelms Herrscherideologie determiniert waren.

68 Rudolf Lill, Der deutsche Katholizismus zwischen Kulturkampf und 1. Weltkrieg, in: Hubert Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte VI I 2, Freiburg-BaselWien 1973,515-527, hier: 526. 69 Das Verhältnis Wilhelms 11. zu den deutschen Katholiken wird lediglich in den größeren biographischen Beiträgen (siehe Anm. 13) ansatzweise erörtert; eine wissenschaftliche Monographie zu diesem Thema ist nach wie vor Desiderat. Hingegen ist die Stellung des Katholizismus im Kaiserreich Untersuchungsgegenstand mehrerer helVorragender Publikationen wie etwa: Anton Rauscher (Hg.), Der soziale und politische Katholizismus I, München-Wien 1981,72-135.- Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich(= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus 75), Düsseldorf 1984.Klaus Schatz, Zwischen Säkularisation und Zweitem Vatikanum, Frankfurt a.M. 1986, 123 - 142; 181-206.- Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch, München 1988, 9 - 66.

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1. Der Kaiser und die Zentrumspartei Wie bereits eiWähnt, sah der Kaiser die Zentrumspartei schon in seiner Studienzeit als "Sammelbecken der Reichsfeinde", als Opposition gegen die innere Reichseinigung. Nach dem Ende der schärfsten Kulturkampfmaßnahmen drohte die Partei jedoch auseinanderzufallen. Es bildeten sich alsbald Fraktionen um die geistigen Führer Windthorst, Schorlemer-Alst70 und Franckenstein71 . In dieser dauernden Bestandsgefährdung72 mußte das Zentrum immer mehr von seinem Konfrontationskurs gegen die Regierung abgehen - eine Entwicklung, die sich schon am Ende der Bismarck-Ära abgezeichnet hatte. Das Jahr 1890 stellte dann in doppelter Hinsicht einen Einschnitt für die Partei dar: Mit dem Sturz des Eisernen Kanzlers hatte sie ihren entschiedensten Gegner verloren und ihr Wahlerfolg in diesem Jahr fiel mit dem Beginn des Persönlichen Regiments Wilhelms II. zusammen 73 • Die Regierung, die den Neuen Kurs trug, konnte nun die katholische Partei nicht mehr ausgrenzen, wollte sie ihre Ziele durchsetzen. Selbst der Kaiser, der ja dem Parlamentarismus ablehnend gegenüberstand, kam immer mehr zur Überzeugung, daß die Einbindung des Zentrums in den Block der Regierungsparteien eine dringende Notwendigkeit war. Nicht ohne politisches Gespür erkannte er die Gelegenheit, die ihm die Erkrankung Windthorsts bot, um die Sympathien des Zentrums zu gewinnen: Er zeichnete den streitbaren Politiker in besonderer Weise dadurch aus, daß er ihn persönlich an seinem Krankenbett besuchte74 • Sofort nach dessen Tod (14. März 1891) verfaßte er ein Beileidstelegramm, in dem es hieß: "Die hohe geistige Bedeutung dieses Mannes und die hervorragende Stellung, welche er seit langen Jahren im Reichstage und im Abgeordnetenhause als Führer der Zentrumspartei eingenommen hatte, [ ... ]sichern ihm überall, wohin die Nachricht von seinem Ableben dringt, auch bei denen, mit welchen er im politischen Kampfe gewesen, ein achtungsvolles Andenken. " 75 Auch dem ehemaligen Fraktions70 Burghard Frhr. von Schorlemer-Alst (1825-1895), Führer des konservativen Parteiflügels. - Zu ihm: Günther Mees, Schorlemer-Alst und der Westfälische Bauernverein in der deutschen Innenpolitik, vornehmlich der Jahre 1890-1894, (Diss.) Münster 1956. 71 Georg Arbegast Frhr. von und zu Franckenstein (1825-1890), Fraktionsvorsitzender des Zentrums, Vertreter einer kompromißbereiten Richtung. - Zu ihm: Leonhard Lenk, Franckenstein, Georg Frhr. von, in: Sigmund Frhr. von Pölnitz (Hg.), La.F. (wieAnm. 45) 6 (Würzburg 1960) 171-196; 197-203. 72 Siehe hierzu: Ernst Heinen, Staatliche Macht und Katholizismus in Deutschland li, Paderborn 1969, 193. 73 Das Zentrum errang zusammen mit den sog. Hospitantenstimmen rund 36% der Gesamtstimmen. - Zum Persönlichen Regiment: Erich Eyck, Das persönliche Regiment Wilhelms li., Erlenbach I Zürich 1948. 74 Dittrich, Der Kaiser und die katholische Kirche (wie Anm. 16) 251. 75 Zit. nach: ebd.

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vorsitzenden der Partei, Freiherrn von Franckenstein, hatte er bereits im Vorjahr eine ähnliche Ehrung zuteil werden lassen, so daß die katholische Germania schreiben konnte: "Es hat nichts zur inneren Gewinnung der Herzen der Katholiken nach dem Kulturkampf so sehr beigetragen, wie die Ehrungen, welche unser hochherziger Kaiser unseren großen 'lbten Franckenstein und Windthorst erwies. " 76 Durch solche Gesten ermöglichte Wilhelm II. dem Zentrum das langsame Hineinwachsen in die Rolle einer staatstragenden Partei77 . Je mehr sich andererseits der politische Katholizismus in flexiblem Eintreten für die Kolonial- und Weltpolitik78 und im gemeinsamen Kampf gegen die Sozialdemokratie der Regierungsposition annäherte, desto mehr stieg das Ansehen des Zentrums in den Augen des Kaisers. Eine direkte Folge dieses sich gegenseitig bedingenden Prozesses war es, daß die Partei im Gefolge der Reichsfinanzreform von 1909 zur wesentlichen Stütze des Reichskanzlers Bethmann Rollweg avancierte79 • Der typische Vertreter dieser neuen Parteirichtung in den letzten Vorkriegsjahren war Matthias Erzberger80 , der nach dem Rücktritt Bülows im Jahre 1909 zum wichtigsten Verbindungsmann des Zentrums zur Regierung wurde. 2. Die Paritätsdiskussion

Die Integration des Katholizismus in das parlamentarische System stand jedoch in auffallendem Gegensatz zur sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellung der Katholiken im Kaiserreich, was unter dem Stichwort der Paritätsdiskussion thematisiert worden ist81 • Die damit verbundene Problemstellung fand ihren Ausgangspunkt in der weitverbreiteten Zit. nach: ebd. Hierzu: Ernst Deuerlein, Die Bekehrung des Zentrums zur nationalen Idee, in: Hochland 62 (1970) 432-449. 78 Hierzu: Hans Pehl, Die deutsche Kolonialpolitik und das Zentrum (1884-1914), Limburg 1934. - Herbert Gottwald, Zentrum und Imperialismus, (Diss.) Jena 1966. Heinz Gollwitzer, Der politische Katholizismus im Hohenzollernreich und die Außenpolitik, in: Werner Pöls (Hg.), Staat und Gesellschaft im politischen Wandel, Stuttgart 1979,224-257. 79 Nämlich als Bestandteil des sog. "blau-schwarzen Blocks" auf den sich Bethmann Hollweg (RK 1909 - 1917) in seiner Politik der Diagonalen (1909-1914) maßgeblich stützte. Zu Bethann Hollweg: Werner Frauendienst, Art. Bethmann Hollweg, Theobald Theodor Friedrich Alfred v., in: NDB (wie Anm. 17) (1955) 188-193. - Zu seiner Politik: Wilfried Loth, Das Kaiserreich, München 1996, 132-142. - Zur Politik des Zentrums in dieser Zeit: Ders., Katholiken im Kaiserreich (wie Anm. 69) 181231. 80 Matthias Erzherger (1875-1921)- Zu ihm: Theodor Eschenburg, Mattbias Erzberger, München 1973.- Wolfgang Ruge, Matthias Erzberger: Eine politische Biographie, Berlin 1976. 81 Hierzu: Martin Baumeister, Parität und katholische Inferiorität, Paderborn 1987. 76 77

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Ansicht, daß die Katholiken im wilhelminischen Staat Bürger "zweiter Klasse" gewesen seien, daß sie "inferior" behandelt wurden. Demnach handelt es sich bei der Paritätsdiskussion um die Frage der prinzipiellen Rechtsgleichheit, der Gleichrangigkeit und Gleichbehandlung der beiden christlichen Konfessionen im Rahmen der staatlichen Rechtsordnung. Im Gefolge des Kulturkampfs hatte sich einerseits ein starkes "katholisches Bewußtsein" (Vereine, Presse, etc.) entwickelt, andererseits stärkte die kaiserliche Integrationspolitik später das Bemühen der Katholiken, sich aktiv in das politisch-gesellschaftliche System des Staates einzubinden und als "vollwertige" Bürger anerkannt zu werden. Aus diesem Grund überlagerte die Paritätsfrage seit den 1890er Jahren alle anderen Ziele des Zentrums; man sah in ihr den Kernpunkt aller Probleme, mit denen der Katholizismus im Wilhelminischen Reich noch immer zu kämpfen hatte. Dabei kristallisierten sich zwei Hauptgebiete der Paritätsforderung heraus 82 , nämlich die nach freiem Zugang der Katholiken zu den politischen Schlüsselpositionen in Verwaltung und Justiz in den überwiegend katholischen Provinzen Preußens und die nach verstärkter Öffnung des ganzen Bildungswesens, besonders der staatlichen Universitäten. Letztlich wurden diese Forderungen im Laufe der Zeit mit der Frage der konfessionellen Zusammensetzung der höheren Beamtenschaft in Preußen identisch83 , die nur zu 18,8% aus Katholiken bestand84 • Entscheidend hierfür war aber nicht in erster Linie die religiöse Komponente, wie vom Zentrum behauptet, sondern das streng reglementierte Auswahlverfahren und das Patronagesystem, die offenen Wettbewerb unmöglich machten. Somit spielte das politisch-soziale Umfeld, aus dem die Kandidaten kamen, eine viele entscheidendere Rolle85 . Diese Situation änderte sich bezeichnenderweise während der Regierung Wilhelms II., der bewußt Katholiken förderte, um so die Paritätsdiskussion abzuschwächen. Manche Zeitgenossen sahen in ihm deshalb sogar einen Katholikenkaiser. Graf von Waldersee bemerkte hierzu 1896: "In evangelischen Kreisen wird das Dominieren der Katholiken stark empfunden. Tatsächlich rechnet, was die sogenannte Gesellschaft anlangt, kein evangelisches Haus mehr mit. " 86 Katholische Familien begannen in den Mittelpunkt der Hofgesellschaft zu rücken87 ; auch der Generalgouverneur von Berlin, Nach: Baumeister, Parität (wie Anm. 81) 13 f. Ebd. 14. 84 Zahl nach: Ebd. 19. 85 Hierzu: Karl Gabriel I Franz Xaver Kaufmann (Hg.), Zur Soziologie des Katholizismus, Mainz 1980. 88 Tagebuchnotiz Waldersees vom 3. März 1896; zit. nach Buchner, Wilhelm II. (wie Anm. 18) 139. - Siehe hierzu auch: Reventlow, Potsdam (wie Anm. 9) 395 f . 87 Zu nennen wären hier Fürst zu Fürstenberg, Radiziwill, Sagan, Lichnowsky, Hatzfeld und Fritz Hohenzollern. 82 83

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von Loe, war bezeichnenderweise Katholik88 . Die Ernennung HohenloheSchillingsfürsts89 zum Reichskanzler im Jahre 1894 kann ebenfalls als Ausdruck der Bemühungen des Kaisers gelten, die Ungleichbehandlung der Katholiken nach Kräften abzubauen. Zwar mußte der Monarch hierfür herbe Kritik einstecken, doch der inzwischen eingetretene Mentalitätswandel hatte bereits die Rehabilitierung des Katholizismus als "nationaler Faktor" der deutschen Geschichte unumkehrbar gemacht90 . Beigetragen hat hierzu v.a. die vom Kaiser propagierte Kritik an der liberalen Weltanschauung, die die Aufnahmebereitschaft der deutschen Gesellschaft für eine spezifisch religiöse Lebensgestaltung steigerte, die gerade vom Katholizismus geboten wurde. All dies konnte aber nichts an der Tatsache ändern, daß die deutsche Beamtenschaft eine "protestantische Domäne" blieb. Je mehr nämlich die Katholiken gesellschaftsfähig wurden, desto mehr zogen sich die Beamten auf ihre Bastion zurück. So blieben gerade unter Wilhelm II. Konfession und soziale Herkunft die determinierenden Faktoren für die Zusammensetzung der deutschen Beamtenschaft.

3. Der Kaiser und der deutsche Episkopat Schon in den ersten Kundgebungen des neuen Kaisers im Jahre 188891 hatten die deutschen Bischöfe die sichere Gewähr für eine friedliche Zukunft der katholischen Kirche im Reich erblickt92 . Die guten Beziehungen zwischen Staat und Kirche, die sich bereits am Ende der Regierung WHhelms I. angebahnt hatten, sollten sich zum "sicheren Hort in der Sturmflut der umsturzdrohenden Lehren und Ideen der Gegenwart" entwickeln93 . Diese Adresse des katholischen Episkopats fand bei Wilhelm II. große Resonanz, da sich in ihr auch seine eigene Ansichten von der Aufgabe der Religion wiederspiegelten. Dankend schrieb er deshalb am 7. November 1888 an die Bischöfe zurück: "Daß Ich die Glaubensfreiheit Meiner katholischen Buchner, Wilhelrn II. 139. (wie Anm. 18).- Zu Loe siehe Anm. 49 dieses Beitrags. Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901), Katholik, 18661870 bayer. Ministerpräsident, 1894-1900 Reichskanzler. - Zu ihm: Giinter Richter, Art. Chlodwig Fürst zu H.-Schillingsfürst, in: NDB (wie Anm. 17) 9 (1972) 487 - 489 (Lit.). 90 Heinrich Lutz, Demokratie im Zwielicht. Der Weg der deutschen Katholiken aus dem Kaiserreich in die Republik 1914-1925, München 1963,21. 91 Gemeint ist damit v. a . die Thronrede bei Eröffnung des Landtages vom 27. Juni 1888 (Text: Penzler, Reden Kaiser Wilhelrns II. I 1 (1888 - 1895) [wie Anm. 4] 15 - 18), in der der Kaiser den Schutz der freien Religionsausübung aller Bekenntnisse garantierte. 92 Die Bischofskonferenz an Wilhelrn II., Fulda, 29. August 1888. - Text: Gatz, Akten II (wie Anm. 54) 21 f. (Dok. Nr. 510), hier: 22. 93 Ebd. 88 89

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Untertanen durch Recht und Gesetz gesichert weiß, stärkt Meine Zuversicht auf [die] dauernde Erhaltung des kirchlichen Friedens. " 94 Ein Beweis, daß es dem Kaiser mit dieser Überzeugung ernst war, ist unter anderem auch das besondere Vertrauens- und Freundschaftsverhältnis, das er zu zu mehreren deutschen Oberhirten, vor allem den preußischen, unterhielt. In diesen persönlichen Beziehungen sah er die beste Voraussetzung um sich- unter Umgehung des Zentrums - die Sympathien seiner katholischen Untertanen zu sichern und deren Integrationsprozeß voranzutreiben. An erster Stelle muß in diesem Zusammenhang der Breslauer Fürstbischof Georg von Kopp genannt werden, der für den Kaiser mehrmals wichtige Vermittlermissionen beim ID. Stuhl übernahm und sich dabei als loyaler Untertan seines Herrschers erwies95 . Diese enge Beziehung übertrug sich auch auf dessen Nachfolger Kardinal Adolf Bertram96 . Die Kölner Erzbischöfe Hubert Theophil Simar97 und Felix von Hartmann98 waren ebenso mit Wilhelm II. befreundet wie der Paderborner Bischof Karl Joseph von Schulte99 und der Ermländer Oberhirte Andreas Thiel 100 • Für die außerpreußischen Bischöfe kann stellvertretend der 1917 zum Münchner Erzbischof ernannte Michael von Faulhaber101 angeführt werden, der aus seiner monarchistischen Gesinnung auch nach der Revolution keinen Hehl machte und mit dem Exilkaiser in enger Verbindung blieb. Noch 1922 meinte Faulhaber in einer Rede auf dem Münchner Katholikentag im Hinblick auf die Ereignisse von 1918: "Die Revolution war Meineid und Hochverrat und bleibt in der Geschichte erblich belastet und mit dem Kainsmal gezeich94

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Wilhelrn II. an Krementz, Berlin, 7. November 1888.- Text in: ebd. (Dok. Nr. 513)

Wilhelm 11., Ereignisse (wie Anm. 15) 176. Adolf Bertram (1859-1945), 1906-1914 Bischof von Hildesheim, 1914-1945 Fürst- bzw. Erzbischof von Breslau, 1916 Kardinal.- Zu ihm: Bernhard Stasiewski, Betram, Adolf, in: Gatz, Bischöfe 178511803 (wie Anm. 55) 43-47. 97 Hubert Theophil Simar (1835 -1902), 1891-1899 Bischof von Paderborn, 18991902 Erzbischof von Köln. -Zu ihm: Eduard Hegel, Simar, Hubert Theophil, in: Gatz, Bischöfe 178511803 (wieAnm. 55) 705-707. 98 Felix von Hartmann (1851-1919), 1911-1912 Bischof von Münster, 1912-1919 Erzbischof von Köln, 1914 Kardinal.- Zu ihm: Eduard Hegel, Hartmann, Felix von, in: Gatz, Bischöfe 178511803 (wieAnm. 55) 286-289. 99 Karl Joseph von Schulte (1871-1941), 1910-1920 Bischof von Paderborn, 1920-1941 Erzbischof von Köln, 1921 Kardinal. - Zu ihm: illrich von Hehl, Karl Joseph Kardinal Schulte (1871-1941), in: Rheinische Lebensbilder 9, Düsseldorf 1982, 261-274. 1oo Andreas Thiel (1826-1908), 1886-1908 Bischof von Ermland.- Zu ihm: HansJürgen Karp, Thiel, Andreas, in: Gatz, Bischöfe 1785 I 1803 (wie Anm. 55) 756-758. 101 Michael von Faulhaber (1869-1952), 1911-1917 Bischof von Speyer, 19171952 Erzbischof von München und Freising, 1921 Kardinal. - Zu ihm: Ludwig Volk, Faulhaber, Michael von, in: Gatz, Bischöfe 1785 I 1803 (wie Anm. 55) 177-181. 95

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net" 102 . Durch die Berufung Florian von Stablewskis103 nach Gnesen-Posen versuchte der Kaiser auch die polnischen Katholiken für sich zu gewinnen104. Stablewski stand mit der deutschen Staatsführung in gutem Kontakt und konnte so nach der Zeit des Kultur- und Volkstumskampfes viel für ein besseres Verhältnis zwischen Polen und Deutschen leisten. Im Mai 1894 schrieb er an Leo XIII., daß "er und seine Priester [ ... ] die Pflicht, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, um so freudiger erfüllen [würden], da an der Spitze des Staatswesens ein so hochherziger Fürst stehe, dessen wohlwollende Gesinnung gegen die Katholiken sie mehr als einmal kennen gelernt hätten. " 105 Ein weiteres Beispiel aus katholischer Perspektive ist der Bericht der Kölnischen Volkszeitung über einen Feldgottesdienst, der von Kardinal Hartmann im Beisein Wilhelms im Jahre 1916 an der Westfront abgehalten wurde. Dort heißt es: "Den Deutschen Kaiser sah man an der Spitze der Beterschar, wie er sein Haupt vor dem neigte, an den wir alle, Katholiken und Protestanten, glauben [ ... ]. Der packendste Augenblick während dieser wunderbaren Feier war es, als der Kirchenfürst zum Schlusse der Predigt sich an den Kaiser wandte und als sich nun die beiden Männer, beide Führer und Fürsten in ihren Reichen, über die schweigende, waffenbewährte Männergemeinde hinweg in die Augen blickten. " 106 Somit waren nicht nur viele Vorurteile des Episkopats dem Kaiser gegenüber abgebaut worden, sondern auch die Integration der Katholiken in das Reich ein gutes Stück vorangebracht worden.

4. Der Kaiser und die katholischen Herrscherhäuser Ein weiterer Beitrag Wilhelms II. in dieser Richtung war das freundschaftliche, wenn auch nicht unproblematische Verhältnis, das er zu den katholischen Fürstenhäusern, v.a. Habsburg und Wittelsbach, unterhielt107. Schatz, Säkularisation (wie Anm. 69) 224. F1orian Oksza von Stablewski (1841-1906), polnischstämmig, 1891- 1906 Erzbischof von Gnesen und Posen. - Zu ihm: En.vin Gatz, Stablewski, Florian Oksza von, in: ders., Bischöfe 1785 I 1803 (wie Anm. 55) 726 f. -Zu seiner Wahl: Harry Kenneth Rosenthal, The election of archbishop Stablewski, in: Slavic Review 28 (1969) 265275. 104 Zur Haltung des Kaisers gegenüber der katholisch-polnischen Minderheit in Preußen siehe u . a . seine Rede vom 9. August 1905 Seßhaftigkeit und Katholizismus in der Ostmark, in: Penzler, Reden Kaiser Wilhelms ll. I 3 (1901-1905) (wie Anm. 4) 262-264. 1os Zit. nach: Dittrich, Der Kaiser und die katholische Kirche (wie Anm. 16) 251. Zur Haltung Stablewskis siehe auch: Reventlow, Potsdam (wie Anm. 9) 392 f. 106 Kölnische Volkszeitung vom 23. November 1919; zit. nach: Buchner, Wilhelm II. (wie Anm. 18) 119 f. 107 Buchner, Wilhelm II. (wie Anm. 18) 115. 1o2 Zit. nach:

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Dadurch sollten die Wunden, die der Kampf um die Reichsgründung bei vielen Katholiken hinterlassen hatte, geschlossen werden. Dies traf besonders auf seine Beziehung zu Österreich zu, das 1866 gewaltsam aus Deutschland hinausgedrängt worden war und um das sich Wilhelm li. deshalb besonders bemühte. Den durch das Schicksal gebeugten Kaiser Franz Joseph I. (1848-1916) - eine Symbolfigur des katholischen Herrschertums108 - verehrte er wie einen Vater. Hingegen waren seine Verbindungen zu den katholischen Dynastien im Reich, besonders zu den Wittelsbachern109 und Wettinern, weitaus komplexer, da ja hier der Problembereich der Souveränität des Kaisertums und der Reichseinheit unmittelbar berührt wurde. So hatte Wilhelm li. dem Prinzregenten Luitpold von Bayern (18861912) zwar "Treue" gelobt110, jedoch sah er im bayerischen Partikularismus, der sich mit dem politischen Katholizismus verband, eine latente Gefahr für das Reich. Diesen Tendenzen trat der Kaiser mehrmals energisch entgegen, wodurch es häufig zu Eklats kam. Seine Ausbrüche richteten sich dabei zwar in erster Linie gegen die bayerische Politik; es konnte aber nicht ausbleiben, daß er die angebliche "Unzuverlässigkeit des katholischen Südens" mit dieser assozierte. Dessenungeachtet stand er in gutem persönlichen Verhältnis zum Prinzregenten, der übrigens kirchlicherseits auch nicht ganz unumstritten war111 . Die reservierte Beziehung zu dessen Nachfolger, König Ludwig III. (1912 -1918), war jedoch ein getreues Abbild dafür, wie schwer sich der Kaiser tat, den süddeutschen Katholizismus zu verstehen. 5. Die Gunsterweise an die deutschen Katholiken

Die Sympathie Wilhelms II. für seine katholischen Untertanen zeigte sich augenfällig an den reichen Stiftungen, die er verschiedenen Kathedralen in Preußen und in Elsaß-Lothringen zuteil werden ließ. Dadurch wollte er nicht nur ein Bekenntnis zum gemeinsamen christlichen Kulturerbe ablegen, sondern auch öffentlich demonstrieren, daß er sich um die religiösen Belange der Katholiken kümmerte. In diesem Zusammenhang sind folgende kaiserliche Gunsterweise erwähnenswert: Für den Dom zu Metz stiftete er ein großartiges Portal ("Christusportal"), das er persönlich am 14. Mai 1903 108 Siehe hierzu: Roger Aubert, Der Ausbruch des 1. Weltkriegs, in: Jedin, Handbuch VI/2 (wie Anm. 68) 538-545, hier: 543 f. 109 Hierzu: Hans-Michael Körner,"Na warte Wittelsbach!", in: Wilderotter-Pohl, Der letzte Kaiser (wie Anm. 4) 31-42. 110 Buchner, Wilhelm li. (wie Anm. 18) 118. -Der Kaiser verstand hierunter die Achtung der Souveränität Bayerns und den Fortbestand der freundschaftlichen Verhältnisse zum Hause Wittelsbach. 111 Hierzu: Kar! Möckl, Die Prinzregentenzeit, München-Wien 1972. -Hans Michael Körner, Staat und Kirche in Bayern 1886-1918, Mainz 1977.

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- unter Anwesenheit Kardinal Kopps als päpstlichem Legaten - dem ihm befreundeten Bischof Benzler112 übergab 113 und das zugleich ein Symbol der Zugehörigkeit Lothringens zum Reich sein sollte. Dem Dom zu Münster schenkte er ein Glasfenster, auf dem der Besuch Karls des Großen in Paderborn in Gegenwart des Papstes Leo III. im Jahre 799 dargestellt war und in der Kathedrale zu Frauenberg in Ostpreußen entstand auf seine Anordnung ein Grabdenkmal für den ermländischen Domherrn Nikolaus Kopernikus (1473 -1543) 114 . Die bedeutendste kaiserliche Stiftung in Deutschland erhielt jedoch der Aachener Dom, weil hier symbolisch an die karolingische Tradition angeknüpft werden konnte: Die gesamte Innenausschmückung (besonders die Domkanzel) wurde auf Initiative und mit reicher Stiftungsbeigabe Wilhelms II. erneuert. Zur Einweihung im Juni 1902 erschien der Monarch selbst und hielt dabei seine wichtigste Katholikenrede 115 , in der er beide Konfessionen dazu aufrief, die Gottesfurcht und die Ehrfurcht vor der Religion zu erhalten und zu stärken116 . Die Aachener Kaiserrede, die von in- und ausländischen Katholiken begeistert aufgenommen wurde117 , gipfelte schließlich im Gelöbnis des Glaubens und der Widmung des Reichs an den Erlöser118 . Übertroffen wurde diese Stiftung nur noch durch die Überlassung des Dormitionsgrundstückes in Jerusalem an die deutschen Katholiken im Jahre 1898 119 , als Wilhelm II. eine Pilgerfahrt zu den Heili112 Willibrord Benzler OSB (1853 -1921), 1893-1901 Abt von Kloster Maria Laach, 1901 - 1919 Bischof von Metz. - Wilhelm II. erhoffte von der Ernennung Benzlers zum Metzer Oberhirten eine engere Hinwendung Lothringens an das Reich. - Zu ihm: Erwin Gatz, Benzler, Willibrord, in: Ders., Bischöfe 1785/1803 (wie Anm. 55) 35 - 38. -Zu seinem Verhältnis zum Kaiser: Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 13) 72 f. 113 Vgl. die Rede des Kaisers vom 14. Mai 1903 (Die Kathedrale in Metz), in: FenzZer, Reden KaiserWilhelms II./3 (1901-1905) (wie Anm. 4) 158. 114 Dittrich, Der Kaiser und die katholische Kirche (wie Anm. 16) 253. 115 Text der Rede (In Aachen), in: Penzler, Reden Kaiser Wilhelms II./ 3 (1901 1905) (wie Anm. 4) 96 - 102. 116 Ebd. 101. 117 Sogar das Pariser Journal des Debats würdigte die Rede und sprach dem Kaiser großes Lob aus (siehe: Dittrich, Der Kaiser und die katholische Kirche [wie Anm. 16] 256). Allerdings rief die Aachener Rede ansonsten in Frankreich einiges Befremden hervor (siehe: Penzler, Reden Kaiser Wilhelms II./3 [1901-1905] [wie Anm. 4] 101 [•]), weil Wilhelm II. darin Leo XIII. zitierte, der 1902 gegenüber General von Loe geäußert hatte: "Das Land in Europa, wo noch Zucht und Ordnung und Disziplin herrsche, Respekt vor der Obrigkeit, Achtung vor der Kirche, und wo jeder Katholik ungestört und frei seinem Glauben leben könne, das sei allein das Deutsche Reich, und das danke er dem deutschen Kaiser." (Ebd. 100). 118 Ebd. 102: "Und so will auch Ich [ ... ] Mein Gelöbnis hiermit aussprechen, das [!] Ich das ganze Reich, das ganze Volk und Mein Heer, [ . . . ] Mich selbst und Mein Haus unter das Kreuz stelle" . 119 Hierzu: Erwin Gatz, Katholische Auslandsarbeit und deutsche Weltpolitik unter Wilhelm II., in: Römische Quartalschrift 73 (1978) 23-46.

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genStättender Christenheit in Palästina unternahm. Anläßlich dieses Besuches war ihm vom osmanischen Sultan Abdul Hamid II. (1876 -1909) das Terrain der Dormition de la Sainte Vierge geschenkt worden, das eine Überlieferung mit dem Heimgang Mariens verknüpft. Der Kaiser überließ es unverzüglich dem Deutschen katholischen Palästina-Verein, der sich jahrelang vergeblich darum bemüht hatte. Am 31. Oktober 1898, dem gleichen Tag, an dem er die protestantische Erlöserkirche in Jerusalem einweihte, übergab der Monarch das Grundstück offiziell an deutsche katholische Würdenträger im Hl. Land120 . Zwei Jahre später wurde mit kaiserlicher Förderung der Bau der Dormitionkirche (Dormitio Beatae Mariae Virginis) begonnen; ab 1906 siedelten sich dann die Beuroner Benediktiner in der Abtei auf dem Zionsberg an und als 1910 das Gotteshaus eingeweiht wurde, entsandte Wilhelm II. seinen Sohn, Prinz Eitel Friedrich, als Stellvertreter. Vom Papst wurde der Kaiser für diese außerordentlichen Geschenke zum Ritter des Ordens vom Hl. Grab ernannt, eine Anerkennung für die pyscholgische Wirkung, die von ihnen auf die Beziehungen zwischen Katholiken und protestantischem Reich ausging.

6. Der "Fall Spahn" Ein singuläres Beispiel für die prokatholische Einstellung Wilhelms II. ist der in der damaligen Zeit heftig diskutierte Fall des Geschichtsprofessors Martin Spahn121 im Jahre 1901, der in seinem Verlauf fast einen neuen Kulturkampf ausgelöst hätte. Der Kaiser ergriff hier gegen eine starke protestantische Opposition die Partei der Katholiken, was zeigt, daß seine Haltung keineswegs die ungeteilte Zustimmung intellektueller evangelischer Kreise genoß. Martin Spahn hatte sich als 23jähriger an der von der nationalprotestantischen Historiographie dominierten Berliner Universität habilitiert. Weil er Katholik war, riet man ihm aber von der Bewerbung für einen Lehrstuhl in der Reichshauptstadt ab und empfahl ihm Straßburg als Wirkungsstätte, wo eine Katholisch-Theologische Fakultät errichtet werden sollte, die als Gegengewicht zur antipreußischen Erziehung in den Priesterseminaren von Straßburg und Metz dienen sollte. Spahn, der inzwischen einen Ruf nach 12o Seine Rede hierzu: Penzler, Reden Kaiser Wilhelms 11./2 (1896 - 1900) (wie Anm. 4) 123 f.- Am 2. November 1898 besuchte das Kaiserpaar auch das katholische Hospiz in Jerusalem, wo Wilhelm II. die deutschen katholischen Missionsbestrebungen in aller Welt unter seinen Schutz stellte (Text: Ebd. 126). 121 Zu seiner Person: Anm. 57 dieses Beitrags. - Zu seinem Fall: Rudolf Morsey, Zwei Denkschriften zun1 "Fall Spahn" (1901), in: Archiv für Kulturgeschichte 38 (1956) 244-257. - Christoph Weber, Der "Fall Spahn" (1901), Rom 1980.

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Bonn angenommen hatte (1901), erschien dabei als der rechte Mann, den katholischen Studenten in Straßburg Geschichtsvorlesungen zu geben. Zwar wurde die projektierte Fakultät erst im Jahre 1903 mit Zustimmung des Kaisers eröffnet122 , doch sollte die dortige Geschichtsprofessur bereits 1901 neu besetzt werden 123 • Mit der Berufung Spahns verband man auch die Absicht, das "katholische Element" zu verstärken, weil sich unter den 111 Dozenten der Straßburger Universität zu dieser Zeit nur 11 katholische Lehrpersonen befanden124 . Die Hochschule lehnte den befähigten Wissenschaftler jedoch ab und protestierte bei Wilhelm II. 125 , der hierauf aber nicht einging, sondern stattdessen-gegen den Rat einflußreicher protestantischer Kreise - den Vorschlag zur Berufung Spahns genehmigte. Es war der große Historiker Theodor Mommsen, der gegen diese Entscheidung mit seinem Schlagwort von der" voraussetzungslosen Forschung" Einspruch erhob und hierfür den Beifall vieler Universitäten erhielt126 . Die Auseinandersetzung, ob die Konfession ein Hinderungsgrund für die Freiheit der Forschung sei, entbrannte daraufhin offen, zog weite Kreise in der ·akademischen Welt Deutschlands und vergiftete sie auf Jahre hinaus 127 • Spahn ließ sich hiervon jedoch nicht beeindrucken und trat - ermutigt durch den Kaiser - seine Straßburger Stellung an. Damit war der Streit aber noch lange nicht beendet und sogar der Reichstag mußte sich noch mit dem Fall beschäftigen. Diese Vorgänge machten einerseits deutlich, daß zwar Kaiser und staatliche Organe die Katholiken als "integriert" betrachteten und diesen Prozeß weiter fördern wollten, dies andererseits vom Nationalprotestantismus noch immer vehement abgelehnt wurde. Die katholischen Bürger hatten aber zu diesem Zeitpunkt bereits so viel Selbstvertrauen gewonnen, daß sie den Angriffen mit Hilfe der Autorität widerstehen und das Paritätsprinzip wirkungsvoll einfordern konnten.

122 Die Kath.-Theol. Fakultät der UniversitätStraßburg wurde 1902 errichtet und erhielt 1903 die päpstliche Approbation.- Siehe: Georges Knittel, Art. Straßburg (Bistum), in: Lexikon für Theologie und Kirche 9 e1964) 1106 f., hier: 1107. 123 Wilhelm Spael, Das katholische Deutschland im 20. Jahrhundert, Würzburg 1964, 139. 124 Ebd. - Diese Beteiligung der Katholiken stand in Mißverhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil in Elsaß-Lothringen, wo auf 7 Katholiken lediglich 2 Protestanten kamen (Angaben: Herders Konversations-Lexikon II (wie Anm. 11), Statistik Deutschland I [nach Sp. 1224]). 125 Spael, Das katholische Deutschland (wie Anm. 123) 140. 126 Ebd. 127 Ebd., 142.

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7. Der Kaiser und der Benediktinerorden

Ein spezielles Verhältnis hatte der Monarch zum Benediktinerorden128 , den er für einen der großen Kulturträger des Abendlandes hielt. Weil dieser Orden immer große christliche Toleranz übte, den Gehorsam gegen die Obrigkeit predigte und in der Vergangenheit oft der Helfer der römischdeutschen Kaiser gewesen war129 , zog ihn Wilhelm II. allen anderen katholischen Ordensgemeinschaften vor. Diese enge Beziehung wurde geradezu exemplarisch an der Abtei Maria Laach130 sichtbar. 1802 in Staatsbesitz übergegangen und 1862 durch die Jesuiten erworben, standen die Klostergebäude nach deren Vertreibung im Jahre 1872 leer. Auf Befehl des Kaisers wurden sie 1892 den Benediktinern zur Wiederbesiedlung übergeben, weshalb er das Kloster gewissermaßen als "seine Stiftung" ansah. Unter dem ersten Abt, Willibrord Benzler131 nahm der Konvent rasch einen bemerkenswerten Aufstieg und wuchs Wilhelm II. besonders ans Herz als das "stille Heim am Laacher See, wo die Söhne St. Benedikts ihr frommes Werk treiben und der Welt zeigen, daß seinem Gott dienen zu gleicher Zeit erlaubt, Königstreue und Vaterlandsliebe in der Bevölkerung groß zu ziehen und zu pflegen" 132 • Die mehrmaligen Besuche des Kaisers in Maria Laach und seine finanzielle Hilfe für die Restaurierung der Klosterkirche machten deutlich, daß er an die Traditionen der mittelalterlichen Herrscher anknüpfen wollte 133 . Für seine Stiftungen erhielt er 1913 von der Abtei eine Nachbildung des mit dem Christogramm versehenen Feldzeichens Kaiser Konstantins, das den ideelen Hintergrund seines Engagements beleuchtete134 .

128 Hierzu: Godehard Hoffmann, Kaiser Wilhelm li. und der Benediktinerorden, in: ZKG 106 (1995) 363-384. -Zur Sicht des Kaisers: Wilhelm II., Ereignisse (wie Anm. 15) 181-183. 129 Buchner, Wilhelm II. (wie Anm. 18) 121 f. 130 Zu diesem Kloster: Theodor Bogler I Emmanuel v. Severus, Maria Laach, München-Zürich 151993. - Zur Beziehung Wilhelms II. zu Maria Laach: Hoffmann, Wilhelm II. und der Benediktinerorden (wie Anm. 128) 369-374. 131 Zu ihm: Anm. 112 dieses Beitrags. 132 Trinkspruch bei dem Festmahl der Rheinprovinz in Koblenz am 31. August 1897, in: Penzler, Reden Kaiser Wilhelms II./2 (1896-1900) (wie Anm. 4) 60. 133 Diese Absicht wurde auch amBesuch des Monarchen in Monte Cassino (5. Mai 1903) deutlich. Ausdrücklich vermerkt Wilhelm II., daß vor ihm "fast alle deutschen Kaiser und vor ihnen die Langobardenkönige" diese Abtei besucht hätten (Wilhelm II., Ereignisse [wie Anm. 15] 182). - Vgl. hierzu: Soderini, Leo XIII. (wie Anm. 41) 307.- Hoffmann, Wilhelm II. und der Benediktinerorden (wie Anm. 128) 374 f. - Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 13) 73. 134 Hoffmann, Wilhelm II. und der Benediktinerorden (wie Anm. 128) 380-382.

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Neben Maria Laach erfreute sich vor allem die Erzabtei Beuron135 im Gebiet von Hohenzollern-Sigmaringen der besonderen Protektion des deutschen Kaisers. Hier hielt er am 13. November 1910 eine aufschlußreiche Rede, die zeigt, wie er sich das Zusammenwirken von Thron und Altar vorstellte: "Von Anfang meiner Regierung an war es Mir eine besondere Freude, die Benediktiner in ihren Bestrebungen zu unterstützen, da Ich beobachtet habe, daß sie überall, wo sie gewirkt, nicht nur die Religion aufrecht zu erhalten und zu stärken bestrebt waren, sondern auch als Kulturträger [ ... ] sich hervorgetan haben [ ... ].Was Ich von Ihnen erwarte, ist, daß Sie in den Bahnen Ihrer Vorfahren weiterarbeiten und Mich unterstützen in Meinen Bestrebungen, dem Volk die Religion zu erhalten. Dies ist um so wichtiger, als das zwanzigste Jahrhundert Gedanken ausgelöst hat, deren Bekämpfung nur mit Hilfe der Religion und mit Unterstützung des Himmels siegreich durchgeführt werden kann." 136 Wenn heute diese Verquickung von Politik und Glaube fraglich erscheint, so ist zu bedenken, daß dies damals für die Katholiken die Erfüllung ihrer Hoffnungen darstellte, endlich als Stütze des Staates anerkannt zu werden. Wie bereitwillig sich auch die Orden in dieses Konzept einfügten, zeigt ihre Missionsarbeit in den deutschen Kolonien, besonders des Benediktinerordens in Deutsch-Ostafrika 137 , wo sich Imperialismus und Religion oft miteinander vermischten138 . VI. Der Kaiser, die Katholiken und der Erste Weltkrieg Am Vorabend des "Großen Krieges" herrschte in Deutschlandangesichts der scheinbar unausweichlichen militärischen Konfrontation, die über die zukünftige Stellung des Reichs in Europa und der Welt entscheiden mußte, eine erwartungsvolle Spannung aus Fatalismus und Euphorie 139 . Daß die 135 Zu diesem Kloster: FS Beuron 1863-1963, Beuron 1963.- Zum Verhältnis Wilhelms II. zu dieser Erzabtei: Hoffmann, Wilhelm ll. und der Benediktinerorden (wie Anm. 128) 375-382. 136 Rede beim Besuch des Klosters Beuron am 13. November 1910, in: Penzler, Reden Kaiser Wilhelms ll. I 4 (1906 -1912) (wie Anm. 4) 227 f. 137 Siehe hierzu: Frumentius Renner, Die Benediktinermission in Ostafrika - eine Überschau, in: ders., Der fünfarmige Leuchter TI (St. Ottilien 1971) 123-152. - Bernhard Mirtschink, Zur Rolle christlicher Mission in kolonialen Gesellschaften. Katholische Missionserziehung in "Deutsch-Ostafrika", Frankfurt a .M. 1980. 138 Hierzu: Hubert Mohr, Katholische Orden und deutscher Irnperalismus, Berlin 1965.- Klaus J. Bade (Hg.), Imperialismus und Kolonialmission, Wiesbaden 1982.Horst Gründer, Christliche Mission und deutscher Imperialismus, Paderborn 1982. 139 Hierzu: Gustav Schmidt, Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in: Michael Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, 397-433. Jost Dülffer I Karl Holl (Hg.), Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im Wilhelminischen Deutschland 1890- 1914, Göttingen 1986. 13 FBPG - NF, Beiheft 5

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Deutschen in dieser Situation konfessionsübergreifend zusammengeschweißt wurden, war auch eine Folge der kaiserlichen Integrationspolitik, die es den Katholiken ermöglichte, sich mit der "nationalen Sache" zu identifizieren140. Treue gegenüber Rom und Loyalität gegenüber dem Staat waren nun keine sich ausschließendenden Gegensätze mehr, so daß die Einbindung der Katholiken in das Gefüge des wilhelminischen Reichs bereits vor Juli 1914 ihren Höhepunkt erreichte. Weil die Frage des Überlebens des Weltkatholizismus und seiner Neuorientierung in deutsch-katholischem Sinn mit dem Sieg der deutschen Waffen gleichgesetzt wurde, erschien der nun ausbrechende Krieg vielen Katholiken als Abwehrkampf gegen die antichristlichen EntenteMächte 141 • Das uneingeschränkte Vertrauen in die sittliche Gerechtigkeit des Kampfes, das Wilhelm II. von seinen Untertanen forderte, ergab sich schon allein daraus, daß man an der Seite des bedrängten (katholischen) Verbündeten Österreich-Ungarn und seines greisen, tiefreligiösen Kaisers focht 142 . Dies blieb bis 1916 die Haltung, die die Katholiken zum Krieg tatsächlich einnahmen143. So äußerte sich der spätere Erzbischof Michael von Faulhaber 1915: "Nach meiner Überzeugung wird dieser Feldzug in der Kriegsethik für uns das Schulbeispiel eines gerechten Krieges werden. " 144 Schon recht bald wurden Überlegungen angestellt, wie ein möglicher deutscher Sieg generell für den Katholizismus nutzbar gemacht werden konnte: Zum einen sollte das "germanische Element" in der Weltkirche gestärkt, zum anderen der Papst unter den besondern Schutz des deutschen Kaisers gestellt und durch die neuen Kolonialerwerbungen die Missionstätigkeit der Orden gefördert werden. Konkret erhofften sich die Katholiken neben der Durchsetzung ihrer vollen innenpolitischen Parität, daß Deutschland und Österreich Europa ein neues "katholisches" Gesicht geben würden, etwa durch die Befreiung ganz Polens vom Joch des "schismatischen" Rußland 145• Mit Zustimmung Wilhelms 11. wurden bereits 140 Aubert, Der Ausbruch des 1. Weltkriegs (wie Anm. 108) 539. -Zu den Katholiken im 1. Weltkrieg: Lutz, Demokratie im Zwielicht (wie Anm. 90) 43-66. -Rauscher, Katholizismus I (wie Anm. 69) 130-135.- Loth, Katholiken im Kaiserreich (wie Anm. 69) 278-381. 141 Vgl. hierzu die Rede Wilhelms II. am 4. August 1914 bei Eröffnung des Reichstags (zit. bei: Rall, Wllhelm II. [wie Anm. 13] 312).- Zur Sicht als Abwehrkampf gegen "antikatholische Mächte": (Quellen:) Georg Pfeil$chifter (Hg.), Deutsche Kultur, Katholizismus und Weltkrieg, Freiburg i.B. 1915, bes. 70-74.- Heinrich Schrörs, Das christliche Gewissen im Weltkriege, Freiburg i.Br. 1916. - (Sekundärliteratur:) Heinrich Missala, "Gott mit uns". Die deutsche katholische Kriegspredigt 19141918, München 1968. - Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie 1870-1918, München 1971. 142 Heinrich Schrörs, Ist der Krieg ein Religionskrieg?, in: Pfeilschifter, Deutsche Kultur (wie Anm. 141) 47-74, hier: 72. 143 Lutz, Demokratie im Zwielicht (wie Anm. 90) 43. 144 Michael von Faulhaber, Wafien des Lichts, Freiburg 1918, 132.

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1914 auch konkrete Pläne zur Verbesserung der rechtlichen, finanziellen und territorialen Lage des Papsttums ausgearbeitet, die auf die Wiedererrichtung des Kirchenstaats hinausliefen146 . Daneben beteiligten sich die Katholiken auch an der allgemeinen Kriegszieldiskussion in Deutschland: Wenn man die Annexionspläne der Regierung147 auch katholischerseits als "reale Garantien gegen eine Wiederholung des heimtückischen Überfalls"148 sah, so wird daran "die seit Jahrzehnten schrittweise vollzogene Anpassung der deutschen Katholiken an Mentalität und Methoden der deutschen Politik im imperialistischen Zeitalter" 149 deutlich. Auf der anderen Seite führte die Kriegssituation aber auch zu einer Zunahme der Religiösität und der kirchlichen Aktivitäten in der Heimat, die sich sowohl am Kirchenbesuch und Sakramentenempfang als auch an der Opferwilligkeit und dem wachsenden Gemeinsinn der deutschen Katholiken zeigte150. Hatte Wilhelm II. hierzu durch seine Appelle, den Himmel um den Sieg der deutschen Waffen anzuflehen, beigetragen, so setzte er sich auch persönlich für das religiöse Leben der katholischen Soldaten ein. Durch seine häufigen Frontbesuche, seine Teilnahme an katholischen Gottesdiensten und durch sein Engagement für die ungehinderte Tätigkeit der katholischen Feldgeistlichen, hat er bleibende Eindrücke hinterlassen151 . Mit Ausbleiben der versprochenen raschen Siege und angesichts der unerhörten Opfer in den Materialschlachten verlor der Kaiser aber auch bei den Katholiken seinen religiösen Nimbus. Ihre Friedenshoffnungen richteten sich nun v.a. auf Papst Benedikt XV.152, der von Anfang an eine neutrale Haltung im Krieg einge145 Schrörs, Religionskrieg? (wie Anm. 142) 73. - Lutz, Demokratie im Zwielicht (wie Anm. 90) 43 f. 146 Dies obwohl Italien zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht auf Seite der EntenteMächte stand. Nach Lutz, Demokratie im Zwielicht (wie Anm. 90} 44, sollte Italien dem Papst die Leostadt in Rom und einen Landstreifen rechts des Tibers bis zum Meer abtreten. Auch auf die sofortige Zahlung von 200 Millionen Goldlire an den Papst sollte Italien verpflichtet werden. 1~7 Siehe hierzu den nicht unumstrittenen Beitrag: Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1984 (Nachdr. der Sonderausg. 1967). 148 Lutz, Demokratie im Zwielicht (wie Anm. 90) 45. 1~9 Ebd. 46. - Siehe hierzu auch: Frida Wacker, Die Haltung der deutschen Zentrumspartei zur Frage der Kriegsziele im Weltkrieg 1914/18, (Diss.) Würzburg 1937. - Ernst Heinen, Zentrumspresse und Kriegszieldiskussion unter besonderer Berücksichtigung der "Kölnischen Volkszeitung" und der "Germania", (Diss. phil.), Köln

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150 Vgl. hierzu: Etienne Fouillox, Die katholische Frömmigkeit, in: Andre Vauchez u. a. (Hg.), Geschichte des Christentums 12, Freiburg-Basel-Wien 1992, 238-302, hier: 238 f. 151 Hierzu: Frank Betkerl Almut Kriele (Hg.), "Pro fide et patria!". Die Kriegstagebücher von Ludwig Berg 1914/18, katholischer Feldgeistlicher im großen Hauptquartier Wilhelms li., Köln u. a. 1998.

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nommen hatte, um so die Rolle eines Friedensvermittlers übernehmen zu können. Das vorrangige Ziel seines Pontifikats war nämlich die schellstmögliche Beendigung der Kriegsgreuel, für ihn der "Selbstmord" des gesitteten Europa 153 . Jedoch erst als im Sommer 1917 die Ermüdung der beiden Kriegsparteien immer offenkundiger wurde, traten Benedikts Friedensbemühungen in ein entscheidenderes Stadium. Jetzt zeigte sich die deutsche Seite sogar in der belgischen Frage, die für den Papst den Schlüssel zum Frieden darstellte, auffallend konzessionsbereit. Der Kaiser selbst sprach den Gedanken aus, daß gerade die katholische Kirche, mit der er seit vielen Jahren in bestem Einverständnis stehe und die einen internationalen Charakter trage, die berufene Instanz für die Propagierung des Friedensgedankens sei 154 • Obwohl er sich von der päpstlichen Note vom 1. August 1917155 viel versprach, hatte der Monarch zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr die reale Macht, von sich aus Schritte in der von ihr bezeichneten Richtung zu unternehmen. Zudem machte die Oberste Heeresleitung (OHL) ihm und dem Volk immer noch vor, daß ein Sieg mit Annexionen möglich sei 156 . Forderte diese grobe Fehleinschätzung noch gewaltige Blutopfer, so markiert das Scheitern der päpstlichen Friedensinitiative aber auch den Wendepunkt der Beziehungen der deutschen Katholiken zur preußischen Monarchie und speziell zum Kaiser. Mehr denn je distanzierten sie sich jetzt vom Staat, während Wilhelm II. diesem Ablösungsprozeß durch die vollständige Aufhebung des Jesuitengesetzes im Jahre 1917 157 und die Berufung des dezidiert "katholischen" Reichskanzlers Grafen von Hertling158 entgegenzuwir152 Benedikt XV., Papst von 1914 bis 1922. -Zu ihm: Georg Schwaiger, Benedikt XV., in: Greschat, Gestalten 12 (wie Anm. 40) 241-256. 153 August Pranzen I Remigius Bäumer, Papstgeschichte, Freiburg i.B. 1988, 379. 154 Siehe hierzu: Wilhelm I!., Ereignisse (wie Anm. 15) 226 f.- Vgl. auch: Wolfgang Steglich, Die Friedenspolitik der Mittelmächte 1917 I 18, Bd. 1, Wiesbaden 1964. 155 Diese Friedensnote erging an die Staatsoberhäupter aller kriegführenden Parteien. - Text: Arnold Strucker (Hg.), Die Kundgebungen Papst Benedikts XV. zum Weltfrieden, Freiburg i.B. 1917, 72 - 79. - Zu ihr: Wolfgang Steglieh (Hg.), Der Friedensappell Papst Benedikts XV. vom 1. August 1917 und die Mittelmächte (Quellen und Studien zu den Friedensversuchen des Ersten Weltkriegs 2), Wiesbaden 1970.Vorausgegangen war ein Treffen zwischen Nuntius Pacelli und Wilhelm II. in dessen Großem Hauptquartier am 29. Juni 1917. 156 Zur Rolle der OHL: Martin Kitchen, The Silent Dictatorship. The Politics of the German High Command under Hindenburg and Ludendorff 1916-1918, London 1976. 157 Hierzu: Bernhard Duhr, Das Jesuitengesetz, sein Abbau und seine Aufhebung, Freiburg i.B. 1919. 158 Georg Frhr. (seit 1914 Graf) von Hertling (1843-1919), 1912 bayer. Ministerpräsident, Vertreter eines gemäßigten Konservativismus, Nov. 1917- Sept. 1918 Reichskanzler.- Zu ihm: Rudolf Morsey, Georg Graf v. Hertling (1843-1919), in: ders. (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern 1, Mainz 1973,43-52. - Winfried Becker, Georg von Hertling 1843-1919, Bd. 1, Mainz 1981.

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ken suchte. Die Erfolglosigkeit dieser letzten Bemühungen des Herrschers um seine katholischen Untertanen vor Kriegsende zeigte sich daran, daß nun Erzberger, der sich zum Exponenten der Forderung nach sofortigem Friedensschluß ohne Bedingungen und zum Gegner der Monarchie gewandelt hatte, im politischen Katholizismus tonangebend wurde. Die teilnahmslose Resignation, mit der die Katholiken die Abdankung des Kaisers im November 1918 zur Kenntnis nahmen, war dann nur noch die logische Konsequenz ihrer bereits vollzogenen inneren Abkehr vom wilhelminischen Staat. Vll. Epilog und Resümee Entsprechend dieser Entwicklung der letzten beiden Kriegsjahre fanden sich die deutschen Katholiken relativ rasch in die politischen Gegebenheiten der Weimarer Republik ein 159 , die aber ungeliebt blieb, weil man ihr die Schuld an der militärischen Niederlage und den Bestimmungen des Versailler Vertrages gab. Je mehr sich diese Überzeugung durchsetzte, desto mehr interessierten sich christlich-konservative Kreise wieder für Wilhelm II., der als herausragender Vertreter der konstitutionellen Monarchie und als Gegenpol zur "atheistischen" Demokratie galt160 . Obwohl sich der ExilKaiser im holländischen Doorn immer stärker den Lehren früherer Kulturen zuwandte, in denen er die Bestätigung für einen an ihm verübten "rituellen Königsmord" 161 zu finden glaubte, blieb sein Verhältnis zum Katholizismus auch nach 1918 ungebrochen: Zwar bedauerte er, daß die Katholiken in der Krisensituation des Jahres 1917 von ihm abgefallen waren, doch verurteilte er sie dafür nicht. Immer wieder empfing daher Wilhelm II. in Doom bekannte Katholiken, unter anderem auch den Schriftsteller und Dichter Reinhold Schneider162 , der 1933 ein Buch über Die Hohenzollern 163 veröffentlicht hatte. In Deutschland wurde Kaisers Geburtstag {27. Januar) in vielen katholischen Kirchen auch in der Weimarer Republik mit Festgottesdiensten begangen und katholisch-monarchistische Gruppen forderten in den 1920er und 1930er Jahren ebenso offen die Restitution der Hohenzollernherrschaft wie verschiedene katholische Publikationsorgane wie etwa die Münchner Katholische Kirchenzeitung unter Kardinal von Faulhaber und die Zeitschrift Monarchie und Leben 164 . Diese Forderungen verbanHierzu: Schatz, Säkularisation (wie Anm. 69) 224-238. Rall, Wilhelm li. (wie Anm. 13) 359. 161 Hierzu: Hans Wilderotter, Zur politischen Mythologie des Exils, in: ders.-Pohl, Der letzte Kaiser (wie Anm. 4) 131-142, hier: 136-138. 162 Reinhold Schneider (1903 -1958)- Zu ihm: Cordula Koepcke, Reinhold Schneider, Würzburg 1993. 163 Reinhold Schneider, Die Hohenzollern, Leipzig 1933. 159 160

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den sich nicht nur mit der Hoffnung auf eine Erneuerung der Gesellschaft in christlichem Sinn, sondern oft auch mit dem Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime165, das auch vom Exil-Kaiser zunehmend abgelehnt wurde. Die neue Regierung versuchte daher gewaltsam, alle derartigen Bestrebungen zu unterdrücken, was ihr allerdings nicht vollkommen gelang. Der Tod Wilhelms II. am 4. Juni 1941 bedeutete in dieser Hinsicht eine Zäsur für diese Kreise. Mit ihm wurde nämlich nicht nur der Repräsentant einer Geschichtsepoche zu Grabe getragen, sondern auch der letzte, anachronistische Versuch, das sakral verstandene, überkonfessionelle römisch-deutsche Kaisertum mit der nationalen Einheitsidee des 19. Jahrhunderts in Einklang zu bringen. Der hierfür notwendige Integrationsprozeß des katholischen Bevölkerungsteils ist dem Monarchen nur teilweise gelungen166. Dies lag nicht allein an den konfessionellen Gegensätzen, die gerade im Hohenzollernreich immer noch einen bedeutsamen gesellschaftlichen Faktor darstellten, sondern auch an dessen 167 Instrumentalisierung für machtpolitische Ziele. Als das Scheitern der letzteren offenkundig wurde, mußte daher auch die mühsam errungene Einbindung der Katholiken in das protestantische Reich wieder zerfallen. Von bleibender Bedeutung ist aber die Annäherung der Konfessionen, die trotz aller Brüchigkeit bereits durch Wilhelm II. bewirkt wurde und deren positive Folgen erst heute sichtbar werden.

164 Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 13) 359.- Monarchie und Leben wurde von Karl Ludwig Frhr. von Guttenberg (1902 -1945) herausgegeben; zu seinen Mitarbeitern gehörte u. a . Reinhold Schneider (siehe: ebd.). Die Nationalsozialisten verboten diese Zeitschrift. 165 Unter den Vertretern des katholisch-monarchistischen Widerstands befanden sich etwa Michael von Faulhaber, Karl Ludwig Frhr. von Guttenberg und Reinhold Schneider. - Siehe hierzu: Ludwig Volk, Kardinal Faulhabers Stellung zur Weimarer Republik und zum NS-Staat, in: Stimmen der Zeit 177 (1966) 173-195. - Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 13) 359. -Monarchistisches Gedankengut vertrat v.a . auch die national-konservative Widerstandsgruppe um Carl Friedrich Goerdeler (1884-1945), Ludwig Beck (1880-1944) und Ulrich von Hasseil (1881-1944), teilweise aber auch der Kreisauer Kreis. -Siehe hierzu: Ger van Rocm, Widerstand im Dritten Reich, München 7 1998. 166 Siehe: Reventlow, Potsdam (wie Anm. 11) 396. 167 Gemeint ist der Integrationsprozeß der Katholiken.

Papst und Kaiser Von Stefan Sarnerski Über seinen dritten und letzten Besuch1 bei Papst Leo XIII. 2 berichtet Wilhelrn II. in seinen Erinnerungen: "Interessant war mir, daß der Papst mir bei dieser Gelegenheit sagte, Deutschland müsse das Schwert der katholischen Kirche werden" 3 • Solche Worte eines protestantischen Souveräns, dessen Land gerade den von Bismarck initiierten Kulturkampf gegen die Katholische Kirche beigelegt hatte? Auch die Warmherzigkeit und der Respekt, mit dem der alte Kaiser im Exil den Papst in Rom eingehend aus der Retrospektive schildert, verwundern nicht nur, sie machen stutzig! Ganz offensichtlich steckt mehr dahinter, als eine gelegentliche, im amtlichen Verkehr aufgehende Beziehung zwischen dem Repräsentanten einer aufstrebenden europäischen Großmacht und dem Oberhaupt einer 1900 Jahre bestehenden kirchlichen Institution4 , zu der sich rund 36 Prozent der deutschen Bevölkerung bekannte5 . Über Wilhelrns intensives Verhältnis zum Katholizismus, das sich von seinen beiden Vorgängern auf dem Kaiserthron grundlegend unterschied, war bereits die Rede6 • Eine Betrachtung der Wechselwirkung zwischen Staat und Kirche im wilhelrninischen Deutschland kann nicht zum Ziele führen; viel eher ist es die spezifische und eigentümliche Beziehung Wilhelms ll. zum Papsttum, die zu einer Untersuchung herausfordert, denn bei genauerem Hinschauen tritt das Kirche-Staat-Verhältnis ganz hinter diese personale Relation zurück. Damit ist vordringlich 1 Die Begegnung fand am 3. Mai 1903 statt. Bericht und Gedächtnisprotokoll des Kaisers ist festgehalten bei: Bernhard Fürst von Bü.low, Denkwürdigkeiten, Bd. 1, Berlin o.J., 610-615. 2 Leo Xlll. (Vincenzo Gioacchino Graf Pecci, 1810-1903), war von 1878 bis 1903 Papst; Oskar Köhler, Leo XIII., in: Martin Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 12: Das Papsttum li, Stuttgart u. a. 1985, 203-223; Josef Schmidlin, Papstgeschichte der neuesten Zeit, Bd. 2, München 1934, 331-589. 3 Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878-1918, Berlin 1922, 177. 4 Ohne Zweüel war der Hl. Stuhl für Wilhelm auch attraktiv durch die "ungeheure Prachtentfaltung" (Wilhelm 11., Ereignisse und Gestalten [wie Anm. 3] 176) und das Alter der Institution. 5 Vgl. dazu kurz: Thomas Nipperdey, Religion um Umbruch. Deutschland 18701918, München 1988, 38-42. 6 Vgl. den Beitrag von Jü.rgen Strötz in diesem Sammelband.

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der ganz persönliche Bereich des Kaisers und seiner Herrschervorstellung anvisiert7 . Durch seine Bindung an das Papsttum verstand sich das von den fränkischen Karolingern nach antik-römischer Tradition wiedererrichtete westliche Kaisertum in seiner politischen Hegemonialstellung im Abendland als heilsgeschichtlich begründetes imperium christianum. Durch die Krönung und Salbung in Rom wurde der Kaiser zum universellen Schirmherrn der Christenheit, Verbreiter und Schützer des katholischen Glaubens und die höchste friedenstiftende und ordnende Macht. Die Erneuerung des karolingischen Kaisertums durch Otto den Großen beschränkte sich auf das westfränkische Reich und wies einen stark verkirchlichten Inhalt auf. Sein Enkel Otto III. überhöhte mit dem Gedanken der renovatio imperii romanorum die Romidee bei gemeinsamer universeller Regierung von Kaiser und Papst unter kaiserlicher Führung. Auch die Nachfolger der Ottonen, die sich als deutsche Könige und römische Kaiser verstanden, hielten den Ideengehalt des Reiches als religiöse und politische Einheit mit universalem Anspruch weiterhin aufrecht8 . Mit dem Niederlegen der Kaiserkrone durch Franz II. am 6. August 1806 fand das römisch-deutsche Kaisertum sein Ende. Konnte und wollte Wilhelm II. hier anknüpfen, wie das eingangs erwähnte Zitat suggeriert, das auf die mittelalterliche Schutzfunktion durch das Deutsche Kaisertum anspielte? Die Frage ist bisher eher ausweichend beantwortet worden, da man bei Wilhelm widersprüchliche Aussagen zu dieser Thematik findet 9 . Um hier weiterzukommen, sind zwei Voraussetzungen entscheidend: zunächst eine möglichst weitgehende Beschränkung auf die Person des Papstes und des Kaisers als handelnde Protagonisten, denn schließlich hat sich Wilhelm II. "um den geschichtlichen und politischen Hintergrund [ . . . ] wenig gekümmert" 10 ; dann die Entwicklung dieser 7 Zur Kaiservorstellung Wilhelms II. immer noch am unrlassendsten, obgleich an vielen Stellen unscharf: Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871-1918 (Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts 1), München-Wien 1969, 89-220.- Bereits Hull hat in ihrer Untersuchung der kaiserlichen Umgebung festgestellt, daß Persönlichkeiten und Strukturen kaum voneinander zu trennen sind: Isabel V. Hull, The entourage of Kaiser Wilhelm II, 1888-1918, Cambridge u. a. 1982, 293-306. Auch Röhl weist darauf hin, daß Wilhelms Freundeskreis die Institutionalisierung der kaiserlichen Persönlichkeit darstellt: John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 4 1995, 127. s Vgl. zusammenfassend: Hans-Werner Goetz, Art. Kaiser, Kaisertum, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Stuttgart-Weimar 1999, 851-853. 9 Vgl. ausführlich immer noch: Fehrenbach, Kaisergedanke (wie Anm. 7) 109-111. 10 Ebd. 110.- Wilhelms Vorstellungen und die Äußerung derselben sind meist im Licht der liberalen Kritik betrachtet worden, was häufig genug zu Verzerrungen führte.

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personalen Beziehung bis 1918, die durchaus starken Schwankungen ausgesetzt war. Vom Gottesgnadentum Wilhelms II. ist immer wieder die Rede gewesen11 . Man hat ihm das aber, wie auch eine mittelalterliche Kaiserauffassung, tatsächlich nie abgenommen12 • Statt dessen wurde in letzter Zeit verstärkt vom sakralen Königtum als soziologischem Phänomen, das aber in eine andere Richtung weist13 , gesprochen. Wilhelms "persönliches Regiment" sollte als "Königsmechanismus im Kaiserreich" 14 erklärt werde, um traditionelle Erklärungmuster aus der deutschen Geschichte abzulösen. In diesem Zusammenhang können die "absolutistischen Wahnvorstellungen Wilhelms II. " 15 kaum mit religiöser oder pseudoreligiöser Auffassung von Herrschaft und Kaisertum in Verbindung gebracht werden. Tatsächlich ging es Wilhelm II. jedoch um viel mehr als um das Gottesgnadentum der Hohenzollern16 . Denn bei ihm herrschte eine viel ältere, tiefgreifende, wesentlich religiös untermauerte, Universalistische Tradition vor, nämlich die des mittelalterlichen Kaisertums der Karolinger und ihrer Nachfolger17 , die den Ideengehalt des preußischen Königtums weit hinter sich ließ. Der Deutsche Kaiser war nun nicht mehr der - preußische Schutzherr seiner protestantischen Landeskinder, sondern immer auch auf das Wohl seiner katholischen Untertanen bedacht. Außerdem bezog sich Wilhelm II. in seiner "Ahnentafel" nicht mehr primär auf Friedrich den 11 Vgl. ausführlich: Dirk von Pezold, Cäsaromanie und Byzantinismus bei Wilhelm li, Diss. Köln 1971, 87-92. Vgl. auch: Röhl, Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 7) 124125. 12 Bereits Fehrenbach (Kaisergedanke [wie Anm. 7] 111): "Die Vorliebe Wilhelms li. für den mittelalterlichen Kaisergedanken war kaum so ernsthaft gemeint, wie seine liberalen Kritiker ihm unterstellten". 13 Vgl. Nicolaus Sombart, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996, 85 - 130. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Michael Spöttel. 14 Mit dem vom Soziologen Norbert Elias stammenden Begriff des "Königsmechanismus" versucht Röhl das Erklärungsmuster des "Persönlichen Regiments" zu verdrängen: Röhl, Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 7) 116-140. 15 Ebd., 125.

16 Pezold bleibt beim Gottesgnadentum stehen: von Pezold, Cäsaromanie und Byzantinismus (wie Anm. 11), 87-88. - Wilderotter spielt stark vereinseitigend die mittelalterliche Vorstellung vom Gottesgnadentum des Herrschers gegen die Position der Päpste aus: Hans Wilderotter, "Als Instrument des Herrn mich betrachtend". Zum historischen und politischen Selbstverständnis, in: ders./Klaus-D. Pohl, Der letzte Kaiser. Wilhelm li. im Exil, München 1991, 307 - 309, hier: 307. Vgl. hierzu auch: Ernst Graf zu Reventlow, Von Potsdam nach Doorn, Berlin 5 1940, 357-363. 17 Fehrenbach vermischt beide Vorstellungen: Fehrenbach, Kaisergedanke (wie Anm. 7) 90-91; dies., Images of Kaiserdom: German attitudes to Kaiser Wilhelm II, in: John C. G. Röhl/Nicolaus Sombart (Hg.), Kaiser Wilhelm II. New Interpretations, Cambridge 1982, 269 - 285, hier: 275-283. Sie läßt aber eine religiöse Deutung und das Papsttum weitgehend unberücksichigt.

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Großen und den Großen Kurfürsten, sondern er wurde ausgreifender und, religiös motiviert, universalistischer. Wilhelm sprach 1903 von der Offenbarung Gottes in einzelnen historischen Persönlichkeiten, um das gesamte Menschengeschlecht "weiter zu führen und zu fördern", und zieht hier ganz unbefangen die Linie von "Moses, Abraham, Homer, Karl de[m) Große[n), Luther, Shakespeare, Goethe, Kant [zu) Kaiser Wilhelm de[m) Große[n). Die hat er ausgesucht und Seiner Gnade gewürdigt, für ihre Völker auf dem geistigen wie physischen Gebiet nach Seinem Willen Herrliches, Unvergängliches zu leisten" 18. Es sei gerade die Vorsehung gewesen, die Wilhelm I. "als den ersten großen Kaiser des neuen Deutschen Reiches" 19 direkt an das mittelalterliche Kaiserideal eines Friedrich Barbarossas anknüpfen ließ, "dem es gelang, gewissermaßen das Land einmal zusammen zu fassen" 20. Die Person des Großvaters wird hier nicht nur politisch verklärt, sie wird durch eine solche Hohenzollern'sche renovatio imperii auch sakralisiert. Unbekümmert sprach er vom "geweihten Fuß" 21 Wilhelms I., der seinerzeit Koblenz betreten habe, und einer erforderlichen Heiligsprechung seines Ahnen22. Ein solch romantisch verklärter, mystisch-religiöser Anachronismus schloß jedoch mit traditioneller Notwendigkeit den Papst als geistliches Oberhaupt ein- will man denn einen Universalistischen Anspruch mit religiösem Anstrich aufrecht erhalten 23 . Wilhelms gutes Verhältnis zu seinen katholischen Untertanen hatte nicht zum wenigsten hier seine Ursache. Das erkannte auch Kaiser Franz Joseph I. in seiner knappen Feststellung: "Religion geht ihm über Konfession" 24 • Wilhelm mußte also aus ideologischen Gründen an einem "möglichst enge[n) Zusammenschluß der beiden Konfessionen zum Kampfe gegen den Unglauben" 25 , wie sich ein Zeitgenosse ausdrückte, starkes Interesse haben. 18 Brief Wilhelms li. an Admiral von Hollmann vom 15. Februar 1903: Wilhelm Schüssler, Kaiser Wilhelm li. Schicksal und Schuld, Göttingen 1962, 136. 19 Johannes Penzler, Die Reden Kaiser Wilhelms li. in den Jahren 1896-1900, Leipzig o.J., 39 (Rede beim Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages, 26. Februar 1897).

20 Ebd. 21 Ebd., 62 (Trinkspruch beim Festmahl der Rheinprovinz in Koblenz, 31. August

1897). 22 Die vielzitierte Heiligsprechung basiert auf ebd., 39 (Rede beim Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages, 26. Februar 1897). 23 Bereits Reventlow spricht vom Wilhelm li. als vom "Schützer und Förderer des gesamten Christentums in Deutschland, einschließlich der Christen des katholischen Bekenntnisses": Reventlow, Von Potsdam nach Doorn (wie Anm. 16) 387. 24 Albert Frhr. von Margutti, Vom alten Kaiser, Leipzig-Wien 1921, 62. 25 Max Buchner, Kaiser Wilhelm li., seine Weltanschauung und die deutschen Katholiken, Leipzig 1929, 111-112. - Dieselbe Deutung bietet: Hans Rall, Wilhelm li.

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Es scheint sogar, als habe Wilhelm in Papst Leo XIII. das rechte Gegenüber für solch romantische Fiktion gefunden. Als politisches Vorbild hatte sich Leo nicht ohne Grund den großen Papst des Mittelalters, Innozenz III., ausgesucht und eine Restauration der hochmittelalterlichen Ordnung angestrebt, ohne die an sich nicht wiederholbaren historischen Formen zu adaptieren. In der Vorstellung der "universalen Kompetenz seines Amtes auch in der modernen Welt" 26 war bereits ein gewisser Widerspruch eingeschlossen. Auch bei Leos eigenem Amtsverständnis zeigte sich bei aller Flexibilität im Praktischen ein Anachronismus im Prinzipiellen. Bereits in der Enzyklika Diuturnum illud von 1881 erhob er mit dem Hinweis auf das Hochmittelalter Anspruch auf Mitwirkung in der internationalen Politik. Auf die Einladung zur Raager Friedenskonferenz von 1899 reagierte er mit einem Rekurs auf papale Traditionen: Es könne hier nicht um eine bloß moralische Unterstützung durch den Pontifex gehen, sondern um die effektive Mitwirkung des Papstes als Souverän27 , um der "heiligen Sache der christlichen Zivilisation zu dienen" 28 . I. Romzug

Aus dieser neuen Perspektive drängt sich - bisher vollständig unbemerkt - die Deutung von Wilhelms erster Italienreise als mittelalterlich anmutender, symbolhafter Romzug auf, der tatsächlich kurz nach seinem Regierungsantritt stattfand. Selbst der ihm gegenüber recht distanzierte preußische Gesandte und Augenzeuge Kurd von Schlözer klassifizierte die Begegnung im Vatikan als "welthistorischen Akt" 29 -waren doch Kaiser und Eine Biographie, Graz u. a. 1995, 56: "sich auch vor der Weltöffentlichkeit zu der gemeinsamen christlichen Religion bekennen". Auch Reventlow (Von Potsdam nach Doorn [wie Anm. 16] 384) deutet dasselben an: "Während seiner Regierung hat Wilhelm li. eine, man kann es wohl so ausdrücken, ununterbrochene Propaganda für das Christentum in Deutschland getrieben". 26 Oskar Köhler, Leo XIII., in: Martin Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 12: Das Papsttum, Bd. 2, Stuttgart u. a. 1984,207. 27 Vgl. dazu: Christoph Weber, Quellen und Studien zur Kurie und zur vatikanischen Politik unter Leo XIII. Mit Berücksichtigung der Beziehungen des ffi. Stuhles zu den Dreibundmächten, Tübingen 1973, 437. 26 Zitiert nach: Köhler, Leo XIII. (wie Anm. 26) 208. 29 Kurd von Schlözer, Letzte römische Briefe 1882-1894, Berlin-Leipzig 1924, 130. -Selbst die Londoner Times sprach von einem "großen geschichtlichen Ereignis"; vgl. G. Pietro Sinopoli di Giunta, Kardinal Mariano Rampolla del Tindaro, Hildesheim 1929, 175. -Auch der gegenüber Wilhelm li. kritisch eingestellte Hanus spricht von einer "geschichtlichen Zusammenkunft": Franciscus Hanus, Die preußische Vatikangesandtschaft 1747-1920, München 1954, 367. Vgl. auch: Rall, Wilhelm li. (wie Anm. 25) 56.

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Papst seit Karl V. und Joseph li. nicht mehr zusammengetroffen, vor allem nach dem diplomatisch folgenreichen, endgültigen Fall des Kirchenstaates 1870. Seither fühlten sich die Päpste als Gefangene im Vatikan und mißbilligten jede auswärtige Kontaktaufnahme mit der italienischen Regierung. Nach dem Thronwechsel vom 15. Juni 1888 bereitete man schon im Sommer den Besuch Wilhelms in der Ewigen Stadt vor30 , der dann am 11. und 12. Oktober stattfand31 • Noch vor der Paradetafel im italienischen Königspalast stattete der jugendliche Kaiser dem Papst eine Visite im Vatikan ab, deren Höhepunkt ein persönliches Gespräch der beiden Oberhäupter war. Die deutschen Katholiken feierten das Ende des Kulturkampfes, das Papsttum einen Triumph über das italienische Königshaus. Und Wilhelm? Er sprach von einem "freundschaftlichen Vertrauensverhältnis" 32 , das das erste Zusammentreffen begründet habe. Auch die Kurie faßte den Besuch des neuen Kaisers als ein "Anknüpfen persönlicher Beziehungen mit Papst Leo XIII. " 33 auf. Die Einrichtung einer personalen Bindung war nach Wilhelms ureigenem Verständnis vom Regieren die notwendige Basis für die Ausübung der Herrschaft34 . Damit hatten sich die Erwartungen des jungen Monarchen an seinen "Romzug" erfüllt: Papst und Kaiser standen nun Seite an Seite dem Abendland vor. Weitere Besuche festigten dieses Band nach Wilhelms Ansicht. Er sprach sogar von einer inneren Übereinstimmung in der "Regierungsart [ ... ]auf der Grundlage des festen Christentums" 35 . Die katholische Presse - das Trauma des Kulturkampfes noch deutlich in Erinnerung - griff diesen tieferen Sinn solcher kaiserlichen Visiten verständnisvoll auf. Über Wilhelms dritten Besuch im Vatikan im Jahre 1903 schrieb ein kirchliches Organ: "Da sahen die Römer einen Karl den Großen wieder heranziehen zu Peterskirche und Vatikan, hinantreten zum Papst, ihn begrüßen, der würdevolle Imperator den würdigen Pontifex" 36 • Und ein zeitgenössischer Schriftsteller kommentierte: "wie in Tagen mittelalterliSchlözer, Letzte römische Briefe (wie Anm. 29) 125. Eingehende Schilderungen in der Memoirenliteratur: Schlözer, Letzte römische Briefe (wie Anm. 29) 119-137; Paul Maria Baumgarten, Römische und andere Erinnerungen, Düsseldorf 1927, 213-222; Arthur de Waal, Prälat Dr. Anton de Waal, Karlsruhe 1937, 51-54. Darstellungen: Hanus, Preußische Vatikangesandtschaft, 362- 367; Edoardo Soderini, Leo Xill. und der deutsche Kulturkampf, Innsbruck u. a. 1935,260 - 265. 32 Wilhelm 11., Ereignisse und Gestalten (wie Anm. 3) 176. 33 Archivio della Sacra Congregazione degli Affari Ecclesiastici Straordinari/Vatikan (AA.EE.SS.), Germania 850, fol. 17v (Aufzeichnung des Staatssekretariats ohne Datum; sie geht auf einen Bericht Erzhergers zurück): "annodare personali relazioni con Papa Leone XITI.". 34 Vgl. Hull, The entourage (wie Anm. 7) 8-14. 35 Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten (wie Anm. 3) 177. 36 Zitiert nach: Reventlow, Von Potsdam nach Doorn (wie Anm. 16}, 391. 30 31

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eher Kaiserkrönungen" 37 . Auch der ehemalige Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow erinnerte sich: "So mag Kaiser Otto III. dem Papst Silvester II. gegenübergestanden haben" 38 • Und auch der greise Leo XIII. verglich die Herrscherauffassung Wilhelms direkt mit Karl dem Großen, "dem die Mission dazu vom damaligen Papst Leo III. erteilt worden sei" 39 . Tatsache ist jedoch, daß durch die sich in der Folge durchsetzende frankophile Kurienpolitik des Kardinalstaatssekretärs Rampolla eine Schwerpunktverlagerungeinsetzte und selbst der Papst mit aller Vorsicht taktierte -"mißtraute er doch der neuen Ära in Deutschland" 40 • Das jugendliche Ungestüm in Politik und Auftreten leistete dieser Reserve Vorschub wie etliche Schnitzer des Kaisers bei seiner ersten römischen Visite41 . Diese Deutung wird auch durch das tatsächliche Fazit des Zusammentreffens unterstrichen: Das Gespräch zwischen Papst und Kaiser war auf eine halbe Stunde angesetzt, dauerte tatsächlich aber nur etwa zehn Minuten, da Herbert Graf von Bismarck die Besprechung unterbrach42 . Er erörterte dann am folgenden Tag "dieselben Fragen" 43 noch einmal, so daß dem Kaiserbesuch im vatikanischen Palast nur symbolische Bedeutung zukommen konnte. Greifbare Ergebnisse, abgesehen von einem persönlichen Kennenlernen der beiden Souveräne, sind nicht zu erkennen. War also der erste Besuch bei Leo XIII., dem noch zwei weitere folgen sollten, tatsächlich nur ein "romantischer Selbstbetrug" 44 im Sinne seiner mittelalterlichen Kaiserauffassung? Immerhin muß Wilhelms "Romzug" Buchner, KaiserWilhelmll. (wieAnm. 25) 131-132. Bülow, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 1) 610. 39 Ebd., 613 (Gedächtnisprotokoll des Kaisers). Der Papst spielte dabei auf die Aacher Rede des Kaisers vom 19. Juni 1902 an. 40 Hanv.s, Preußische Vatikangesandtschaft (wie Anm. 29) 367. 41 Beispielsweise verlieh Wilhelm dem Ministerpräsidenten Crispi den Schwarzen Adlerorden, während Rampolla nur ein Bischofskreuz erhielt; bei der Paradetafel im Quirinal stieß der Kaiser auf das deutsch-italienische Bündnis an und sprach von Rom als der Hauptstadt Italiens und von seinem Besuch beim Papst, was das italienische Königshaus peinlich berührte. Auf das Umschwenken der päpstlichen Politik aufgrund Wilhelms Ungeschicklichkeit macht sogar der sonst sehr wohlmeinende Buchner aufmerksam: Buchner, Kaiser Wilhelm II. (wie Anm. 25) 130; vgl. auch: Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 25) 57- 58; Josef Schmidlin, Papstgeschichte der neuesten Zeit, Bd. 2, München 1934, 468. 42 Der Reichskanzler war über die Tatsache und die Durchführung der Reise höchst unzufrieden. In seinen Tagebüchern berichtete Franz Xaver Kraus: "Bismarck selbst war mit dem Resultat der Romreise nicht zufrieden und sagte Herbert: ,Ihr habt mir mein ganzes Konzept in Rom verdorben'": Hubert Schiel (Hg.), Franz Xaver Kraus. Tagebücher, Köln 1957, 543 (Eintrag 24. Dezember 1888). 43 Schlözer, Letzte römische Briefe (wie Anm. 29) 132; Soderini, Leo XIII. und der Kulturkampf (wie Anm. 31) 264. 44 Schlözer, Letzte römische Briefe (wie Anm. 29) 134. 37

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solch ein persönlicher Anspruch unterlegt werden, um ein an sich diplomatisch waghalsiges Unternehmen, das weder politischen Erfordernissen genügte, noch positiv greifbare Ergebnisse zeitigte, erklären zu können. Der mangelnden politischen Effektivität des Besuches widerspricht jedoch nicht die Tatsache, daß der ID. Stuhl die Äußerungen und Aktionen des Kaisers in den ersten Monaten als Ausdruck innen- und außenpolitischer Friedensliebe wertete45 • Wenn auch die außenpolitische Linie des m. Stuhls aufgrund Harnpollas Einflußnahme umschwenkte, so setzte man doch im Vatikan anfangs ohne Zweifel große Hoffnungen auf eine für deutsche Katholiken günstige Kirchenpolitik und auf die Stabilität der politischen Situation in Europa. ß. Der Bärenführer und sein Strohmann

Daß der Kaiser nun selbst das Heft in die Hand nehmen könnte und einen neuen Kurs einschlagen werde, mußte im Vatikan erst plausibel unter Beweis gestellt werden. Als Eisbrecher betätigte sich hier der Fürstbischof von Breslau, Kardinal Georg von Kopp46 • Kopp, der großen Einfluß auf Leo XIII. hatte und sich auf beiden Seiten als Informant seinen Weg geebnet hatte47 , gewann auch das Vertrauen Wilhelms 11.48 Der Fürstbischof berichtete Ende November 1889 über einen Kaiserbesuch in Breslau, daß Wilhelm vollständig auf vatikanischer Linie sei; der Kaiser mißbillige die Aufstellung eines Denkmals für den als Ketzer verbrannten Giordano Bruno als Skandal49 , den er "absolut verdammte" 50. Kopp ging aber noch weiter. Er schien zu jener Zeit bereits umfassend begriffen zu haben, daß Wilhelm zur Selbstregierung neigte51 . Vielleicht versprach er sich auch AA.EE.SS., Gennania, fase. 756, Osseroatore Romano, 23. November 1888. Kopp (1837 -1914) war von 1887-1914 Fürstbischof von Breslau, 1893 Kardinal; Erwin Gatz, Kopp, Georg von, in: ders. (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, 400 -404; Hans-Georg Aschoff, Kirchenfürst im Kaiserreich - Georg Kardinal Kopp, Hildesheim o.J. 47 Wilhelm ß. berichtete die Aussage Leos Xßl. von 1893 in einem Gedächtnisprotokoll: "Das sei ein Mann, auf den könnten Wir Uns beide verlassen, weil er offen und wahr sei und einem immer die Dinge vortrage, wie sie wirklich lägen": Bü.low, Denkwiirdigkeiten (wie Anm. 1) 612. 48 Wilhelm Il., Ereignisse und Gestalten (wie Anm. 3) 176: "Besonders eng war ich zeitlebens mit dem Fürstbischof von Breslau Kardinal Kopp verbunden". 49 Auf Weisung des italienischen Ministerpräsidenten Crispi wurde 1887 auf dem Campo dei Fiori in Rom ein Denlonal für den 1600 verbrannten Giordano Bruno errichtet; vgl. de Waal, Prälat Dr. Anton de Waal (wie Anm. 31) 51. so AA.EE.SS., Gennania, fase. 760, Kopp an die Kongregation, 30. November 1889: "lo scandalo per Giordano Bruno da lui (dall'Imperatore) assolutamente condannato". 45 46

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größere persönliche Einflußnahme auf den jungen Kaiser und damit einen doppelten auf die päpstliche Deutschlandpolitik52 . In jedem Falle konnte er Wilhelm überzeugen, sich bei anstehenden Ernennungen preußischer Bischöfe direkt mit dem In. Stuhl in Verbindung zu setzten. Man erzielte nämlich in Breslau Übereinstimmung darin, daß die Ernennung Hermann Dinglstads zum Bischof von Münster53 weder den Papst, noch den Kaiser, noch Kopp zufriedenstellte, der Oberhirte vielmehr eine Kreatur des Zentrums sei, das Kopp kirchenpolitisch ausschalten wollte. Leicht sophistisch bemerkte der Breslauer Fürstbischof gegenüber dem Hohenzollernfürst, daß man sich in Rom anders verhalten hätte, wenn man gewußt hätte, daß sich der junge Kaiser so für die katholischen Belange Preußens interessiert hätte. Wilhelm reagierte prompt und ließ dem Papst seine Grüße "voll von Respekt und Vertrauen" 54 übermitteln. Im gleichen Atemzug brachte Kopp die unzweifelhaft bevorstehende Besetzung in Paderborn vor55 • Dazu wolle er das Terrain vorbereiten und den Paderborner Franz Xaver Schulte56 ins Spiel bringen, der in der preußischen Regierung und in Paderborn gefürchtet sei. Auch wenn dieses Manöver schließlich erfolglos endete, so wird doch deutlich, daß Kopp den jungen Kaiser als persönlichen Transmissionsriemen für seine eigene Personalpolitik einzusetzen beabsichtigte. Der In. Stuhl nahm die Meldungen Kopps verhalten freudig auf. Es schien sich dann auch tatsächlich auf der Ebene der deutschen Kirchenpolitik Tauwetter einzustellen, denn noch 1889 war der Papst nicht geneigt, der preußischen Regierung irgendwelche Konzessionen zu machen57 . In der rö51 Auch Franz Xaver Kraus notierte diesen Eindruck am 28. Oktober 1889 aus katholischen Kreisen: "Jedenfalls wiegt jetzt schon der Wille des Kaisers vor": Schiel, Franz Xaver Kraus (wie Anm. 42) 560. 52 Bereits seit 1884 hatte Kopp großen Einfluß auf die Bistumsbesetzungen in Deutschland; vgl. Aschotf, Kopp (wie Anm. 46) 89. 53 Dingistad (1835 -1911) war von 1889 bis 1911 Bischof von Münster, vgl. Eduard Hegel, Dingelstad, Hermann, in: Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder (wie Anm. 46) 132-134.- Der Zentrumsabgeordnete Klemens Perger soll 1889 die Wahl betrieben haben. Fest steht, daß Dingistad zum zentrumsfreundlichen Flügel des preußischen Episkopats gehörte. 54 AA.EE.SS., Germania, fase. 760, Kopp an die Kongregation, 30. November 1889: "di esprimersi su Sua Santita intermini molto amabili, pieni di rispetto e di fiducia". 55 Paderborn wurde jedoch erst 1891 mit dem 'lbd des Bischofs Franz Kaspar Drobe vakant. Sein Nachfolger wurde Hubertus Simar (1891 - 1899). 58 Schulte (1833 -1891) war von 1889 bis 1891 Generalvikar in Paderborn, seit 1884 auch aufgrundeiner bischöflichen Verleihung Domkapitular; vgl. Erwin Gatz, Schulte, Franz Xaver, in: ders., Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder (wie Anm. 46) 679. 57 Geht aus dem Brief Kopps an die Kongregation vom 30. November 1889 hervor: AA.EE.SS., Germania, fase. 760.

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mischen Kurie hoffte man nun, teilweise aus Eigeninteresse, durch den neuen Kaiser die kirchenfeindliche italienische Regierung zu zügeln - trotz des deutsch-italienischen Bündnisses58 -, man betrieb auch nach Kopps Vorschlägen Personalpolitik auf allerhöchster Ebene. Das ist deutlich für die Jahre 1890 und 1891 zu erkennen. So mußte beispielsweise die Kandidatur des liberalen Kirchenhistorikers Franz Xaver Kraus 59 für das vakante Bistum Straßburg60 durch die Vermittlung des Statthalters Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst direkt mit dem Kaiser besprochen werden61 . Auch bei der Besetzung von Limburg und Metz lassen sich direkte Kontaktaufnahmen zwischen Leo XIII. und Wilhelm II. nachweisen62 • Anfang 1891 sprach Kraus vom "persönlichen Eingreifen des Papstes" 63 und einem Brief des Pontifex an Wilhelm in dieser Sache, auf den "nun des Kaisers Antwort abgewartet werden mußte" 64 • Bei der Suche nach einem neuen Bischof von Straßburg kam es "infolge des Briefes des Papstes an den Kaiser gar nicht zur offiziellen Verhandlung" 5 5 . Wilhelm II., der vom Format Kopps vollständig überzeugt war, bemühte sich im Oktober 1891 offiziell um die Ernennung des Breslauer Fürstbischofs zum Kardinal66 • Diese scheiterte jedoch zunächst am Widerstand des Kardinalstaatssekretärs Rampolla, der Wilhelm offen verärgerte. Als dann im Sommer 1892 die Promotion Kopps beschlossene Sache war, kommentierte Leo XIII. die Ernennung folgendermaßen: "Da nun der Deutsche Kaiser mir den Wunsch zu erkennen gegeben hat, den Monsignor zum Cardinal ernannt zu sehen, so werde ich demselben gerne den Hut verleihen" 67 • Auch AA.EE.SS., Gennania, fase. 760, Kongregation an Kopp, 6. Januar 1890. Der modernistische Kirchen- und Kunsthistoriker und Kirchenpolitiker Kraus (1840 -1901) studierte nach seiner Priesterweihe in Freiburg /Br. und Rom, seit 1878 Professor für Kirchengeschichte in Freiburg/Br., setzte sich als Kirchenpolitiker maßgeblich für die Aussöhnung zwischen Katholizismus und moderner Kultur ein, beriet in kirchenpolitischen Fragen vielfach Wilhelm II.; kritische Würdigung bei: Christoph Weber (Hg.), Liberaler Katholizismus. Biographische und kirchenhistorische Essays von Franz Xaver Kraus (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts 57), Tübingen 1983. 60 Pierre Paul Stumpf (1822 -1890), Bischof von Straßburg 1887 -1890), starb am 10. August 1890; Erwin Gatz, Stumpf, Pierre Paul, in: ders., Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder (wie Anm. 46) 750-752. 61 Vgl. Eintrag vom 10. November 1890: Schiel, Franz Xaver Kraus (wie Anm. 42) 567 - 568. Vgl. dazu ausführlich: Erwin Gatz, Kirchliche Personalpolitik und Nationalitätenprobleme im Wilhelminischen Deutschland, in: Archivum Historiae Pontüiciae 18 (1980), 353-381, hier: 367-371. 62 Zu Metz (1899/1901) vgl. ebd., 371-381. 63 Schiel, Franz Xaver Kraus (wie Anm. 42) 570 (Eintrag 11. Januar 1891). 64 Ebd. 65 Ebd., 571. 66 Zur Ernennungsfrage vgl.: Weber, Quellen und Studien (wie Anm. 27) 428 ff. 58

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in Zukunft zogen Kaiser und Kron-Kardinal an einem Strang, obgleich Eulenburg solche Kontakte zwischen Leo XIII. und Wilhelm II. mit dem Hinweis auf die sich wandelnde Haltung des Pontifex68 zugunsten demokratischer Strukturen störte69 . Das waren auch die tieferen Gründe, weshalb sich das Verhältnis von Papst und Kaiser auf deutscher Seite im Sommer 1892 merklich abgekühlt hatte70 • Über ein Abendessen beim Kaiser notierte Kraus, daß Wilhelm sehr "ägriert über die Kurie von Rom und deren Anschluß an die Demokratie" 71 gewesen sei, insbesondere auch "über den Papst, dessen antiitalienische Haltung er unendlich bedauert" 72 habe. Hinzu kam, daß die Römische Frage als wechselseitiger Störfaktor mit Ausschließlichkeit entweder das deutsch-italienische Bündnis begünstigte oder eine tiefere Beziehung zwischen Papst und Kaiser. Beides war gleichzeitig nicht zu haben, oder aber unglaubwürdig und nicht praktikabel. Wilhelms sprunghafter Ansatz, die von Bismarck hergebrachten bündnispolitischen Konstellationen aufzubrechen - wenn er dann etwas derartiges gewollt haben sollte und es ihm nicht allein um seine Kaiseridee ging-, scheiterten am politischen Unverständnis des jungen Monarchen ebenso wie an seiner Unstetigkeit. Die Prärogative Rampollas, der die Kurienpolitik an Frankreich band, und die wachsende, altersbedingte Schwäche des Papstes taten das ihre 73 , um in Zukunft jede konstruktive, direkte Zusammenarbeit zwischen Kaiser und Papst zu vereiteln. Bis zum Frühjahr 1893 schien der einflußreiche Eulenburg, der zum Schutze der preußisch-aristokratischen Hegemonie an der Zügelung der politischen Kräfte des Katholizismus interessiert war74 , den Kaiser auf Gegenkurs gebracht zu haben75 . Der Grund: die "völ67 Ebd., 518. - Die Ernennung von "Kron-Kardinälen" war keine Seltenheit. Bemerkenswert war jedoch, daß Kopp trotz Harnpollas Widerstand so rasch zum Kardinalat aufrückte. 68 Zu Beginn seines Pontifikats läßt sich eine strikt konservative Gesinnung beobachten; 1881 konzedierte Leo in bestimmten Fällen eine Wahl von Inhabern der öffentlichen Macht, ohne die Volkssouveränität gutzuheißen; 1892 schärfte er den zivilen Gehorsam gegenüber der Republik als gegenüber einer gottgewollten Macht ein und verprellte damit einen Großteil der Monarchisten: Köhler, Leo Xill. (wie Anm. 26) 208-210; Patrick de Laubier, Das soziale Denken der Katholischen Kirche. Ein geschichtliches Ideal von Leo xm. zu Johannes Paul II, Fi'eiburg/ Schw. 1982, 18-65. 69 Vgl. hierzu die von Eulenburg gutgeheißene Denkschrift von F.X. Kraus von 1893: Weber, Quellen und Studien (wie Anm. 27) 525-528. 70 Auch später, so bei der Besetzungen in Köln 1899, 1902 und 1912 sowie in Metz 1900 und Straßburg 1890, hatte es eine direkte Einflußnahme des Kaisers- wohl auf Anraten Kopps- gegeben; vgl. Aschoff, Kopp (wie Anm. 46) 91-92, 96-97. 71 Schiel, Franz Xaver Kraus (wie Anm. 42) 590 (Eintrag 20. Juni 1892). 72 Ebd.

Vgl. Weber, Quellen und Studien (wie Anm. 27) 526. Vgl. Hans Wilhelm Burmeister, Prince Philipp Eulenburg-Hertefeld (18471921). His influence on Kaiser Wilhelm II and his Role in the German Government, 1888-1902, Wiesbaden 1981, 7. 73

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lige Zuwendung des Papstturns zum Demokratismus und zur Republik" 76 . Wilhelm wünschte nämlich, daß Kraus nach Rom gehe, um "die Absichten der kaiserlichen Regierung zu unterstützen [ ... und die Kurie] auf Bahnen zu halten, welche das Band mit den alten Monarchien nicht völlig zerschneidet"77. Einmal mehr hatte Wilhelm nachgegeben und den politischen Zickzackkurs selbst verursacht. Außerdem gehörte zur Tragik des Kaisers, daß seine individuellen Entwürfe, die ganz auf Person und Amt zielten, im politischen System des Bismarckreichs keinen Platz hatten.

m. Die Soziale Frage als "Ort" des Universalistischen Kaisertums 1890 war jedoch davon noch nichts zu spüren. Wilhelm glaubte noch daran, mit dem Papst politisch am selben Strang ziehen und mit ihm seine Vorstellungen vom mittelalterlich-universalistischen Kaiserturn verwirklichen zu können. Ausgerechnet die Bewältigung eines modernen Problems führte zur Manifestation dieser anachronistischen Idee auf europäischer Ebene78 : der Umgang mit der Arbeiterfrage, die bekanntlich beide Persönlichkeiten stark beschäftigte. Die Soziale Frage wurde dadurch nicht nur zum Schnittpunkt der beiderseitigen Interessen, sondern gerade zum Zentralpunkt, in dem das mittelalterliche Kaiserbild Wihelms II. sichtbar wurde. Das tatsächlich bahnbrechende und moderne Ereignis im Pontifikat Leos XIII. war die Promulgierung der Sozial-Enzyklika Rerum novarum von 1891. Der Papst bekannte sich darin vor der Weltöffentlichkeit zu den Prinzipien der Lohngerechtigkeit, zum Koalitionsrecht als unentziehbarem Menschenrecht und zur Staatsintervention zum Schutz der Arbeiterschaft. Damit grenzte er die Katholische Soziallehre deutlich von dem zu seiner Zeit noch weitgehend ungebremsten Liberalkapitalismus ab und wies den Weg zur staatlichen Sozialpolitik79• Vom Naturrecht ausgehend, war Leos 75 Bunneister spricht ganz offen von Gegenkurs: "Eulenburg worked against the influence of the Center Party and of Roman Catholicism in general": ebd., 24. Die Frage der Staatsform war demnach nur ein vorgeschobenes Argument. 78 Schiel, Franz Xaver Kraus (wie Anm. 42} 599 (Eintrag vom 20. März 1893}. 77 Ebd. 78 Verschiedentlich ist bereits die kaiserliche Sozialpolitik und Wilhelms positive Haltung gegenüber den Katholiken in einen ganz losen Zusammenhang gebracht worden. Eine beiden Teilen gemeinsame ursächliche Motivation ist bisher nicht erkannt worden; vgl. Fehrenbach, Kaisergedanke (wie Anm. 7} 194 -195; Weber, Quellen und Studien (wie Anm. 27} 525. 79 Vgl. dazu: Lothar Roos, Kapitalismus, Sozialreform, Sozialpolitik, in: Anton Rauscher (Hg.}, Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963, Bd. 2, München-Wien 1982, 52-158, hier: 109 -110; Johannes Messner, Die Magna Charta der Sozialordnung. 90 Jahre Rerum novarum, Köln

1981.

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entscheidender Ansatz die Menschenwürde, die daraus abgeleiteten Menschenrechte und die mit ihnen zusammenhängenden Sozialprinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohls. Von diesem Ausgangspunkt aus kritisierte er scharf jede utilitaristische Ethik des individualistischen Liberalismus, den er für die kapitalistische Klassengesellschaft verantwortlich machte. Dabei schlug er den Mittelweg zwischen zwei Extrempositionen ein: Er rügte einerseits das Versagen der öffentlichen Gewalt und das ungenügende, rein formale Gemeinwohlverständnis des herrschenden Staatsverständnisses und betonte auf der anderen Seite gegenüber sozialistischen Theorien das Ziel der Sozialpartnerschaft, die Unverzichtbarkeit des Sondereigentums an Produktionsmitteln und die Begrenzung der Staatsmacht80 . Der Papst verwandte sich aber auch ganz praktisch für soziale Belange. Der Ausbau des katholischen Vereins- und Verbandswesens in Deutschland wurde von Leo XIII. ausdrücklich gebilligt und unterstützt, den Verdiensten und Erfolgen des katholischen Gesellenvereins sprach er 1899 seine Anerkennung aus und lobte die Tätigkeit der deutschen Arbeitervereine und Wohlfahrtseinrichtungen. In seinem Pontifikat expandierten nicht nur bereits bestehende kirchliche Standesorganisationen, auch neue entstanden seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, darunter die christlichen Gewerkschaften, die vom Papst ausdrücklich unterstützt wurden81 . Wilhelms soziales Engagement, das in seinen ersten Regierungsjahren deutlich hervortrat und nicht zum mindesten den Sturz Bismarcks herbeiführte, hatte vor allem einen christlichen Ausgangspunkt. "Wer Christ ist, der ist auch sozial" 82 , hatte Wilhelm 1896 geäußert und gleichzeitig jeder parteipolitischen Exklusivität ihre Berechtigung abgesprochen. Sein sozial-caritatives Gedankengut ging vor allem auf den Einfluß orthodoxer evangelischer Kreise zurück83. Ohne näher auf diesen Themenkreis einzu80 Unscharf: Köhler, Leo xm. (wie Anm. 26) 211. Vgl. dazu zusammenfassend: Patrick de Laubier, Das soziale Denken der Katholischen Kirche, Freiburg/Schw. 1982, 13-49. 81 Vgl. dazu: Schmidlin, Papstgeschichte (wie Anm. 41) 472; Jii.rgen Aretz, Katholische Arbeiterbewegung und christliche Gewerkschaften- Zur Geschichte der christlich-sozialen Bewegung, in: Rauscher, Der soziale und politische Katholizismus (wie Anm. 79) 159-214, hier: 163 -173; Wilfried Loth, Die deutschen Sozialkatholiken in der Krise des Fin de Siecle, in: ders. I Jochen-Christoph Kaiser (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich, Stuttgart u. a . 1997, 128 -141; Wilfried Loth, Der Volksverein für das katholische Deutschland, in: ders./ Jochen-Christoph Kaiser (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich, 142-154. 82 Zitiert nach: Dietrich von Oertzen, Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte, Bd. 1, Berlin 1910, 162. Vgl. auch die vorsichtigen Bemerkungen: Lamar Ceeil, Wilhelm II. Prince and Emperor, 1859-1900, Chapel Hill-London 1989, 133. 83 Vgl. hierzu ausführlich: Fehrenbach, Kaisergedanke (wie Anm. 7) 184-199.

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gehen84 , sind an dieser Stelle jedoch einige Orientierungspunkte erforderlich. Schon im Bergarbeiterstreik von 1889 wird seine Haltung deutlich, auch den Arbeitern ein öffentliches Forum zu schaffen, für Lohngerechtigkeit zu sorgen und nach Möglichkeit soziale Spannungen abzubauen. Gleichzeitig achtete er jedoch sorgsam darauf, daß die Aktionen der Arbeiterschaft nicht im Zusammenhang mit den Sozialdemokraten standen, die er bekanntlich als Reichs- und Vaterlandsfeinde diskreditierte85 . Ohne Zweifel stand hier die Idee des besorgten Landesvaters und das personifizierte Symbol der Reichseinheit als politische und gesellschaftliche Größe im Vordergrund. Greifbare Folgen seines sozialpolitischen Engagements waren zunächst die Invalidenversicherung vom Juni 1889 sowie seine eigenen "Bemerkungen zur Arbeiterfrage" und seine "Vorschläge zur Verbesserung der Lage der Arbeiter" vom Januar 189086 . Im Februar präzisierte er seine gesetzgebensehen Vorhaben auf ein Sechs-Punkte-Programm: Ausbau der Sozialversicherung, Vorschriften für den Arbeiterschutz (gesetzliche Gleichberechtigung, Arbeitszeitregelung), Einführung eines Schlichtungsverfahrens zur Wahrung des sozialen Friedens, Schaffung von Arbeitervertretungen, Wiederherstellung der staatlichen Bergaufsicht und die Umformung der staatlichen Bergwerke zu sozialen Musteranstalten87 . Ohne Zweifelliegt hier eine Prinzipienkongruenz zwischen Leo XIII. und Wihelm II. vor. Darüber hinaus wurde die Sozialreform zur Basis einer Allianz von Papsttum und Deutschem Reich88 . Diese Allianz, die ganz in die mittelalterliche, (pseudo-)religiöse Kaiseridee Wilhelms II. paßte, brachte eine Reihe von politischen Konsequenzen und Implikationen mit sich, die hier nur gestreift werden können, jedoch ein bezeichnendes Licht auf die Tragweite der Papst-Kaiser-Relation wirft. Nur eine starke Monarchie, so Wilhelm 1893 gegenüber Leo, sei in der Lage, soziale Reformen ohne ernste innenpolitische Umwälzungen durchzuführen, welche die bestehenden Institutionen- einschließlich der Kirche- zerstören könnten89 . Vorausgegangen war nämlich die Reichstagswahl mit einem Stimmenzuwachs für die Sozialdemokraten von nahezu 100 Prozent90 . Die Bemerkung des Kaisers Vgl. hierzu vor allem den Beitragvon Norbert Friedrich. Vgl. dazu: Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 25} 86-103; Cecil, Wilhelm li (wie Anm. 82) 184 - 199. 86 Vgl. dazu: Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 25) 90. 87 Vgl. ebd., 91-93; Hans-Jörg von Berlepsch, "Neuer Kurs" im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch 1890 bis 1896, Bonn 1987, 57 - 58. 88 Vgl. Burmeister, Eulenburg-Hertefeld (wie Anm. 74) 61; Fehrenbach, Kaisergedanke (wie Anm. 7) 194. 89 Vgl. auch zum folgenden: Burmeister, Eulenburg-Hertefeld (wie Anm. 74) 61. so Der Stimmenanteil von 10,1% im Jahre 1887 stieg auf 19,7% im Jahre 1890. Außerdem wurden die Sozialistengesetze nicht verlängert. "Unter der Wirkung des 84 85

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unterstrich nicht nur die praktische Notwendigkeit einer Allianz, sie war auch als deutliche Warnung an die Kurie zu verstehen, sich von jeglicher Unterstützung partikularistischer und demokratischer Tendenzen fernzuhalten, die beispielsweise deutlich in der französischen Republik und der separatistischen Haltung in Bayern zutage traten. Solche Elemente untergrüben beide Mächte- Kirche und Monarchie. Hier wird neben der Freude über einen willkommenen Bündnispartner etwas ganz Grundsätzliches deutlich: Es ging bei der Zusammenarbeit von Papst und Kaiser auf dem Gebiet der Sozialpolitik schließlich um nichts anderes als um die Existenzfrage der Monarchien und der Kirche - kurzum: um das monarchische System als solches. Offensichtlich schrieb Wilhelm der Sozialen Frage, die er nicht den Sozialdemokraten überlassen wollte, solche Sprengkraft zu, ein ganzes verfassungsstaatliches System zu eliminieren91. Die direkte Verbindung von christlich-sozialem Gedanken und dem monarchischem Autoritätsprinzip läßt sich bereits in seiner Kronprinzenzeit unter Stoeckers Anleitung beobachten: "Der wirksamste Schutz von Thron und Altar [ist] in der Zurückführung der glaubenslosen Menschen zum Christentum und zur Kirche und damit zu der Anerkennung der gesetzlichen Autorität und der Liebe zur Monarchie zu suchen. Der christlichsoziale Gedanke ist deshalb mit mehr Nachdruck als bisher zur Geltung zu bringen" 92 . Vor diesem Hintergrund drängt sich ein Vergleich mit dem mittelalterlichen Reichsgedanken auf: Einheit und innerer Friede waren nur durch das Zusammenwirken von Papst und Kaiser gewährleistet. Leo XIII. war also nicht nur ein zufällig gegebener, interessierter Gesprächspartner, er war auch institutionell der richtige Mann. Die Durchführung der Internationalen Arbeiterschutzkonferenz, die vom 15. bis zum 29. März 1890 in Berlin stattfand, sollte das tatsächlich aller Welt vor Augen führen. Der junge Kaiser hatte erkannt, daß eine durchgreifende Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Deutschland nicht ohne internationale Verständigung und Kooperation möglich war, da die deutsche Industrie im supradoppelten Schocks griff ein Krisengefühl um sich, das in die Forderung nach einer durchgreüenden Sozialpolitik und einem Schulterschluß der Staat, Monarchie und Gesellschaft tragenden Kräfte einmündete": Klaus Erich Pollmann, Soziale Frage, Sozialpolitik und evangelische Kirche 1890-1914, in: Jochen-Christoph Kaiser I Martin Greschat (Hg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890-1938, Stuttgart u. a. 1996, 41-56, hier: 42. 91 Vorsichtig und allgemein: Pollmann, Soziale Frage (wie Anm. 90) 43: "Unter den Kräften, die zum Kampf gegen den Umsturz aufgerufen wurden, waren auch die Kirchen". Vgl. auch: Cecil, Wilhelm n (wie Arun. 82) 151-152. 92 Walter Frank, Hofprediger Adolf Stöcker und die christlich-soziale Bewegung, Hamburg 2 1935, 167.

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nationalen Wettbewerb auch weiterhin konkurrenzfähig bleiben mußte, um ihre eigenen Arbeitnehmer nicht brotlos zu machen93 . Angesichts der Internationalität der Konferenz formulierte man als Hauptverhandlungsgegenstände den Arbeiterschutz in den Bergwerken, die Regelung der Kinder-, Jugend- und Frauenarbeit und den Schutz des Sonntags. Darüber hinaus sollte die Ausführung der von der Konferenz beschlossenen Prinzipien und Maßnahmen erörtert werden. Bismarck schloß sich vordergründig der Idee einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz an, hoffte aber, die konkrete Erörterung der Sozialen Frage durch die naturgemäß langwierige Willensbildung auf internationalem Parkett verzögern zu können94 . Noch bevor die Konferenz im Reichs-Anzeiger angekündigt worden war, hatte das amtliche päpstliche Organ, der Osseroatore Romano, bereits am 8. Januar 1890 darüber kurz berichtet95 . Das Blatt kommentierte am 22. Februar das kaiserliche Projekt ausführlich, das als Rezeption päpstlichen Gedankenguts euphorisch gelobt wurde96 . Wilhelm halte "es für notwendig, als Beobachtung der göttliche Weisung" 97 , sich der Sozialen Frage zu widmen. Gerade darin sah der Osseroatore "ganz offensichtlich einen katholischen Einschlag" 98 . Denn eigentlich habe Leo XIII. eine Problemlösung initiiert, und man hoffe nun, daß auch mit Hilfe der Konferenz "die Welt endlich davon überzeugt wird, daß allein durch die Berücksichtigung der Weisungen der Kirche die Staaten ihre sozialen Probleme bewältigen können" 99. Zur Bekräftigung wurde eine Stellungnahme des Erzbischofs von Westminister, Kardinal Henry Edward Manning100 , angeführt. Auch dieser wies auf die großen Gefahren hin, die dem Staat durch die ungelösten 93 Auf diesen Gedanken hatte ihn Paul Kaysers gebracht, der für die Konferenz eine Denkschrift anfertigte. Vgl. hierzu: Berlepsch, Neuer Kurs (wie Anm. 87) 53. Vgl. auch: Cecil, Wilhelm n (wie Anm. 82) 152. 94 Vgl. Rall, Wilhelm li. (wieAnm. 25) 90-94; Berlepsch, NeuerKurs (wieAnm. 87) 53, 56-57. 95 AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Osservatore Romano vom 8. Januar 1890. 96 Auch zum folgenden: AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Osservatore Romano vom 22. Februar 1890. -Auch die übrige internationale Presse sprach sich zu jener Zeit zugunsten einer Teilnahme an der Konferenz aus; vgl. Berlepsch, Neuer Kurs (wie Anm. 87) 57. 97 AA.EE.SS., Germania, fase. 766: "Ora Guglielmo li dichiara necessario, e coll'osservanza dei comandamenti divini da lui proclamata". 98 Ebd.: "manifestamente l'impronta cattolica". 99 Ebd.: "il mondo si persuadera finalmente ehe solo affidandosi alla direzione della Chiesa possono gli Stati vincere le difficolta [ ... ] sociale". too Manning (1808-1892), Konvertit, Studien in Rom, 1865 Erzbischof von Westminster, 1875 Kardinal, gehörte auf dem I. Vaticanum zu den Infallibilisten und antiliberalen Kardinälen; vgl. K. G. Robbins, Henry Edward Manning, in: Martin Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte 9 I 2: Die neueste Zeit II, Stuttgart u. a. 1985, 7 - 19.

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sozialen Probleme entständen, und hielt daher die kaiserliche Initiative "als eine der klügsten und würdigsten von allen, welche die heutigen Souveräne vorgeschlagen haben" 101 . Wilhelm II. erweise sich gerade hier als wahrer, weitsichtiger Staatsmann. Nicht nur die kuriale Publizistik war voll des Lobes über die internationale Konferenz, auch die päpstliche Diplomatie pries hinter den Kulissen Wilhelms Vorstoß. Etwa zur gleichen Zeit würdigte der Wiener Nuntius Luigi Galimberti 102 die Einladung des Kaisers an alle europäischen Regierungen als einen notwenigen Schritt, ohne den keine Lösung der Probleme, die zur Zeit die Menschheit bewegten, möglich sei. Ganz offensichtlich freute man sich auch in der Wiener Nuntiatur über die Rezeption päpstlichen Gedankengutes in Deutschland103 . Dieser durchweg positiven kurialen Haltung konnte man in Berlin sicher sein, als man ein diplomatisches Manöver anstieß, das Papst und Kaiser bei der Lösung des angeblich wichtigsten europäischen Problems gleichsam Seite an Seite zeigen sollte. Dieser abendländische Schulterschluß, der die mittelalterliche Kaiservorstellung überdeutlich wiederbeleben sollte, wurde vom deutschen Botschafter in Wien, Prinz Heinrich VII. Reuß104 , eingeleitet. Bei einem persönlichen Gespräch in der dortigen Nuntiatur brachte der Botschafter die Arbeiterschutzkonferenz zur Sprache und sondierte die Mitarbeit des Papstes. Nachdem Nuntius Galimberti ein Eingreifen Leos XIII. nicht nur als "vernünftig und auch nützlich" 105 bezeichnet hatte, erkundete Reuß die Möglichkeit, den Papst selbst einzuladen. Immerhin war Leo nicht nur an der Thematik als solcher interessiert, sondern vor allem auch an Einzelfragen wie beispielsweise am Schutz des Sonntags. Reuß schien damit offene Türen einzulaufen, da "der Heilige Vater nichts mehr ersehnt, als teilzuhaben an der Fülle Seiner moralischen Mission, welche auch die Sozialordnung miteinschließt" 106 . Der Botschafter machte seine Offerte ganz offensichtlich mit der Bemerkung schmackhaft, daß der Papst bei einer Einladung zur internationalen Konferenz 101 Zitat Mannings: AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Osservatore Romano vom 22. Februar 1890: "come il piu savio eil piu degno di tutti quelli ehe emarono finora dall'iniziativa dei sovrani del nostro tempo". 102 Galimberti (1836 - 1896) war von 1887 bis 1892 Nuntius in Wien, 1893 Kardinal; vgl. Giuseppe de Marchi, Le nunziature apostoliche dal1800 al1956 (Sussidi eruditi 13), Rom 1957 48. 103 AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Galimberti an Rampolla, 25. Februar 1890. 104 Reuß (1825-1906), 1878-1894 Botschafter in Wien; vgl. Weber, Quellen und Studien (wie Anm. 27) 429 Anm. 2. 105 AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Galimberti an Rampolla, 25. Februar 1890. 106 Ebd.: "il Santo Padre nulla desidera meglio, ehe corrispondere alla pienezza della Sua missione morale,la quale comprende anche l'ordine sociale".

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"come sovrano" 107 behandelt werden würde, was der Amtsauffassung Leos XIII. Tribut zollte. Der über das Problem überraschend gut informierte Nuntius mußte jedoch sofort eine gewisse politische Reserve anmelden. Es stand zu jener Zeit zu befürchten, daß die Intemationalität der Konferenz wesentliche Einbußen erleiden würde, denn der päpstliche Gesandte hatte erfahren, daß Frankreich eine ablehnende Haltung einnehme, Großbritannien die Soziale Frage kaum zur Regierungssache mache und das mißliebige Italien, dessen ungeachtet, sicherlich einen Vertreter schicken wolle108. Immerhin war dem Nuntius das Projekt zu wichtig, um die Frage aus der Hand zu geben wußte er doch um das unzweifelhafte päpstliche Interesse. Tage später suchte Galimberti eigens Reuß auf, um nochmals die Frage der Einladung zu erörtem. Dem deutschen Botschafter kam es vor allem darauf an, ob Leo XIII. eine Aufforderung zur Teilnahme akzeptieren würde. Der Nuntius hielt sich jedoch bedeckt, sprach von einer "situazione anormale" 109 des m. Stuhls wegen der Römischen Frage und der Anwesenheit zahlreicher nichtkatholischer Vertreter, die zunächst einmal erfordere, die Position eines päpstlichen Emissärs genau zu definieren. Galimberti ließ aber keinen Zweifel daran, daß eine Einladung ein Zeichen "der guten Beziehungen zwischen dem Pontifex und dem Kaiser" 110 sein würde. Der Nuntius berichtete über den Meinungsaustausch am 25. Februar an Rampolla; schon am folgenden Tag insistierte er auf eine Antwort aus dem Staatssekretariat11 \ da die Zeit bis zum Beginn der Arbeiterschutzkonferenz drängte. Am 27. Februar erinnerte er nochmals an diese delikate Frage und beschrieb die Tagung als einen Meinungsaustausch unter Diplomaten112, was zweifellos die besondere Aufmerksamkeit des Papstes wecken sollte. In Rom schrieb man dieser delikaten Angelegenheit höchste Priorität zu. Rampolla rief eine adunanza particolare für den 6. März zusammen - ganz offensichtlich im Auftrag des Papstes 113. Die Mitglieder der Adunanz- fast ausschließlich Kardinäle - waren dagegen Wilhelm und seinem Sprachrohr Ebd. Vgl. ebd. -Tatsächlich nahmen an der Konferenz neben Deutschland Vertreter aus Großbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn, Italien, Belgien, Schweden, Norwegen, Dänemark, den Niederlanden, Luxemburg, Spanien, Schweiz und Portugal teil; vgl. Berlepsch, Neuer Kurs (wie Arun. 87) 58 Anm. 30. 109 AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Galimberti an Rampolla, 25. Februar 1890. no Ebd.: "buoni rapporti fra il Sommo Pontefice e l'Imperatore". ll1 AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Galimberti an Rampolla, 26. Februar 1890. 112 AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Galimberti an Rampolla, 27. Februar 1890. 113 Vgl. auch zum folgenden das Protokoll der Adunanz vom 6. März 1890: AA.EE.SS., Germania, fase. 766. 101

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Kopp nicht gerade freundschaftlich gesonnen. Rampolla, Led6chowski, Monaco La Valletta und Serafino Vannutelli, mit denen Leo XIII. sich gewöhnlich zu beraten pflegte, waren erklärte Gegner Kopps und einer deutschfreundlichen Politik der Kurie114 . Sie hatten aber die Rechnung ohne Papst und Kaiser gemacht. Inzwischen war der preußische Gesandte Schlözer, ein diplomatisch versierter Kenner des vatikanischen Ambientes, am 4. März bei Rampolla vorstellig geworden, wo er eine Drahtnachricht aus Berlin präsentierte, durch die der Kaiser "lebhaft wünscht, daß die katholische Kirche auf der Konferenz in Berlin vertreten ist" 115 . Bei dieser Gelegenheit hatte Schlözer eine praktikable Lösung vorgeschlagen, die der Bedeutung der Thematik wie auch der Delikatesse der Situation gleicherweise Rechnung trug: Auf die Einladung zur Konferenz sollte der Papst mit einem Telegramm antworten, "wie es S. Majestät der Kaiser möchte" 116 • Reuss sprach in Wien gar von einem Briefwechsel. Außerdem sollte Fürstbischof Kopp als päpstlicher Repräsentant für die Arbeiterschutzkonferenz entsandt werden. Wie nicht anders zu erwarten, fällte die hochkarätige Versammlung im Vatikan ein negatives Votum für den Papst: Obgleich Rampolla referierte, daß "dieser Monarch öffentlich die Nützlichkeit und die Notwendigkeit der Religion zur Lösung dieses brennenden Problems erkannt" 117 habe und an der Aufrichtigkeit der religiösen Absichten des Kaisers kein Zweifel bestehe, riet man Leo XIII. ab, sich direkt zu beteiligen; stattdessen solle er einen Brief an Wilhelm II. zur "moralischen Unterstützung" 118 senden. Ein Repräsentant sollte auf keinen Fall ernannt werden. Der Papst setzte sich jedoch über das Votum der einseitig interessierten Kardinäle hinweg und entschied, keinen eigenen direkten Vertreter zu entsenden, weil man Verwicklungen mit Italien scheute und es bei der Konferenz nicht ausschließlich um kirchliche Belange ging. Stattdessen sollte Kopp als Repräsentant der Katholischen Kirche vom Papst "als einer von seinen Delegaten" 119 bestellt werden, der allerdings mehr beobachtende Funktion haben sollte und keineswegs intervenieren dürfe. Darüber hinaus wurde vereinbart, daß der Kaiser diplomatisch korrekt keine offizielle EinVgl. Weber, Quellen und Studien (wie Arun. 27) 431, 434. AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Rampolla an Galimberti, 17. März 1890: "desidera vivamente ehe la Chiesa eattolica sia rappresentata alla conferenza di Berlino". 116 AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Protokoll der Adunanz vom 6. März: "ehe Sua Maesta l'Imperatore desidera". 117 Ebd.: "questo Monarchaha riconosciuto pubblicamente l'utilita e la necessita della religione per lo scioglimento di quest'arduo problema". 118 Ebd.: "appoggio morale" . 119 Ebd.: "come uno dei suoi delegati". 114 115

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ladung nach Rom absenden sollte, sondern nur einen höflichen Brief, der den Papst um seine moralische Unterstützung bitten sollte. Das war ohne Zweifel ein bedeutender Prestigegewinn für Kaiser und Konferenz, der Wilhelms eigene Worte rechtfertigte: "Wo er nur konnte, hat Papst Leo XIII. mir Freundlichkeiten erzeigt" 120 . Zwar wurde kein Kardinal als päpstlicher Legat ernannt, doch die Tatsache, daß ein Fürstbischof als päpstlicher Delegat auf einem mehrheitlich von Protestanten besuchten Kongreß erschien, war bereits eine außerordentliche Sache. Sie darf nicht als pures Entgegenkommen des Papstes gewertet werden; immerhin hatte Leo XIII. sich persönlich dieser Thematik verschrieben, und Kopps Präsenz in Berlin würde aller Welt demonstrieren, daß der ID. Stuhl als gleichrangiges Mitglied einer internationalen Veranstaltung auftreten könne. Die Niederlage schien Rampolla nur schwach zu verschleiern. Dem einflußreichen deutschfreundlichen121 Galimberti in Wien wurde zunächst am 9. März nur mitgeteilt, daß man sich für einen Brief des Kaisers bedanken würde 122. Vom Inhalt der Adunanz erhielt der Nuntius keine Kenntnis. Der Kontakt wird aller Wahrscheinlichkeit nach mündlich über Schlözer gelaufen sein - und zeigte prompte Wirkung. Wilhelm li. lud in einem von Bismarck gegengezeichneten Brief vom 8. März Leo XIII. zur Mitarbeit an der Arbeiterschutzkonferenz ein, indem er sich auf die bekannte Sorge des Papstes um die Belange der Arbeiter und Armen bezog. Weiterhin bat er, wie abgesprochen, um die Entsendung Kopps als päpstlichen Delegaten123. Das verabredete Antworttelegramm des Papstes fiel sehr warmherzig aus 124 . Leo XIII. wies auf seine bisherigen sozialethischen Äußerungen hin und wertete Wilhelms Einladung ganz als Bestätigung der päpstlichen Position, nach der zur Problemlösung wesentlich die Beteiligung der Kirche gehörte. Ruhe und Ordnung sei nur durch Gerechtigkeit sicherzustellen. Deutlich ist dem Schreiben der bekannte Anspruch des Papstes auf universale Mitsprache zu entnehmen, der auf der Berliner Konferenz eine offenkundige Realisierung erwarten durfte. Die Warmherzigkeit des Pontifex war weder Kanzleistil noch Attitüde. Aus einem Brief Harnpollas an Galimberti geht hervor, daß Leo XIII. gerne einen direkten Repräsentanten nach Berlin entsandt hätte, den Kaiser jedoch um Verständnis für die verwickelte politische Lage des ID. Stuhls bitten mußte125 • Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten (wie Anm. 3) 176. Vgl. dazu die Einschätzung von Schlözer, Letzte römische Briefe (wie Anm. 29) 100-102. 122 AA.EE.SS., Gennania, fase. 766, Rampolla an Galimberti, 9. März 1890. 123 AA.EE.SS., Gennania, fase. 766, Wilhelrn II. an Leo xm., 8. März 1890. 124 AA.EE.SS., Gennania, fase. 766, 2 Telegramminuten Leos Xill. an Wilhelrn II., 14. März 1890. 12o

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Noch ehe die entsprechende Instruktion an Kopp telegraphisch übermittelt wurde, hatte die Internationale Arbeiterschutzkonferenz in Berlin am 15. März ihre Arbeit aufgenommen, zu der immerhin 15 Staaten ihre Vertreter entsandt hatten126. In der Instruktion, die diesen Namen kaum verdient, sprach der Papst nochmals seine Freude über das Projekt aus, das den päpstlichen sozialethischen Prinzipien ein sehr vorteilhaftes Forum biete 127 • Inzwischen hatte man in Berlin am 17. März drei Kommissionen gewählt, die sich gesondert mit den verschiedenen Arbeitsthemen beschäftigen sollten128. Nun erst wurde vollends deutlich, daß die unterschiedliche Gesetzgebung der europäischen Staaten keine Möglichkeit bot, konkrete Beschlüsse zu fassen 129. Man verharrte im Erörtern, Sondieren und im Formulieren von Wünschen und Anregungen, die in der Folge im Ausland wenig bewirkten. Dabei waren die Beschlüsse recht konkret und breit gefächert: Einschränkung der Arbeitszeit, Vermeidung von Streiks durch Schiedsgerichte, Schutz des Sonntags, Gewährleistung einer schulischen Ausbildung. In Deutschland dagegen flossen die Beschlüsse modifiziert in Gesetzesnovellen ein, die in den folgenden Monaten den Reichstag passierten130. Überschattet wurde die Konferenz jedoch bald durch den Sturz Bismarcks am 20. März. Noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse berichtete der Konferenzteilnehmer Kopp am 1. April über den guten Willen und festen Glauben des Kaisers, meinte aber, der junge Monarch stehe den aufziehenden Gefahren noch unentschlossen gegenüber131. Aber nicht nur Kopp schien mulmig zumute gewesen zu sein. Auch der Papst bedauerte den Rücktritt des Reichskanzlers und brachte vor allem die Karolmenfrage und die Beilegung des Kulturkampfes in Erinnerung132. In einem unverfänglichen Schreiben lobte Leo XIII. eine gute Disposition Bismarcks gegenüber dem ID. Stuhl, von der er "unbezweüelbare Proben in Händen" 133 halte. Mit deutlichen Worten beschrieb er Bismarcks Politik als ein Werk der Friedenssicherung und bedauerte es ausdrücklich, daß sich der AltAA.EE.SS., Germania, fase. 766, Rampolla an Galimberti, 17. März 1890. Vgl. Berlepsch, Neuer Kurs (wie Anm. 87) 58. -Weder Berlepseh noch Rall (Wilhelm II. [wie Anm. 25] 95) listenden ffi. Stuhl auf: Kopp fällt unter die deutsche Delegation. 127 AA.EE.SS., Germania, fase. 766, Minute der Instruktion an Kopp vom 20. März 1890. 128 Zur Arbeit der Konferenz vgl. Berlepseh, Neuer Kurs (wie Anm. 87) 58-60; Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 25) 95. 129 Vgl. Berlepsch, Neuer Kurs (wie Anm. 87) 58-59. 130 Vgl. dazu die Ausführungen bei: Rall, Wilhelm II. (wie Anm. 25) 95-103. 131 AA.EE.SS., Germania, fase. 767, Kopp an Leo XIII., 1. April1890. 132 AA.EE.SS., Germania, fase. 767, Leo XIII. an Kopp, 21. April1890. 133 Ebd.: "abbiamo in mano non dubbie prove". 125 126

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kanzler nun ganz aus dem politischen Geschäft zurückziehen wolle. Auch in der Kurie machte sich offensichtlich Unsicherheit über die Zukunft breit. Sicherlich war Bismarcks Abgang ein weiterer Faktor, der den internationalen Mißerfolg der Arbeiterschutzkonferenz herbeiführte134 • Am 11. Juli ließ er verlautbaren, "die Ergebnisse der Konferenz sind gleich Null" 135 • Bismarck hatte dem Projekt nie konstruktiv und positiv gegenübergestanden; nach seiner Entlassung, die nicht zum wenigsten durch die Soziale Frage herbeigeführt worden war, mußte sich diese Haltung noch verstärken. Die ausländischen Stimmen beurteilten die Konferenz im großen und ganzen jedoch recht positiv136 • Trotz des Mißerfolgs auf internationaler Ebene stellte die Konferenz für Deutschland einen bedeutenden sozialen Modernisierungsimpuls dar. Für das hier interessierende Verhältnis von Papst und Kaiser ist deutlich geworden, daß ohne Einschränkungen, jedoch mit den unabwendbaren politischen Vorbehalten, ein Zusammenwirken von Pontifex und Imperator geglückt ist, das tatsächlich im Religiösen wurzelte. WHhelm II. hatte den entsprechenden Briefwechsel beider Gewalten unter dem 26. März stolz im Reichs-Anzeiger publizieren lassen, um zumindest Deutschland die kongeniale Kooperation zum Wohle des Abendlands vor Augen zu führen 137 • Bereits die gemeinsame Einschätzung der Sozialen Frage als entscheidender politischer Faktor für das innenpolitische Gefüge der Staaten Europas sowie das offenkundig faktische Engagement beider Souveräne, das im christlichen Gedankengut seine Wurzeln hatte, lassen die Arbeiterschutzkonferenz für beide Seiten zum Kulminationspunkt der mittelalterlichen Kaiseridee werden, die der Pontifex willig stützte. Tatsächlich bewahrheitete sich hier das eingangs zitierte Wort Leos XIII. vom "Schwert der römischen Kirche", das aus seiner Sicht wohl noch größere Relevanz besaß als aus Wilhelms Perspektive. Aber auch die deutschen Katholiken begrüßten offen und deutlich diese Zusammenarbeit von Papst und Kaiser im Rahmen der Sozialpolitik138 . Diese Kooperation war zusammen mit der Aufhebung der Kulturkampfgesetze und den kaiserlichen Besuchen im Vatikan ein deutlicher Impuls für die Emanzipation der Katholiken und ihre vollwertige politische und gesellschaftliche Integration in das Reich139 • Liberale Kreise sprachen dagegen 134 Aufgrund einer je anderen innenpolitischen Ausgangssituation im Ausland konnte die Konferenz nur Empfehlungen und Minimalforderungen ausgeben. Berlepsch zieht eine positive Bilanz: Berlepsch, Neuer Kurs (wie Anm. 87} 60-61. 135 Zitiert nach: Rall, Wilhelm ll. (wie Anm. 25} 95. 138 Vgl. Berlepsch, Neuer Kurs (wie Anm. 87} 61. 137 Vgl. ebd., 59. - Die Entsendung eines päpstlichen Vertreters übersieht Berlepsch jedoch. 138 Vgl. die katholische Pressemeldungen bei: ebd., 61.

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von der Romanisierung des Kaisertums und beschworen das Schreckgespenst des illtramontanismus in der deutschen Regierung 140 . Abgesehen vom innenpolitischen Gegenwind führte die Sprunghaftigkeit und Unstetigkeit des leicht beeinflußbaren jungen Monarchen dazu, daß nach 1893 eine vollständige Abwendung von sozialen Bestrebungen im politischen Regierungsgeschäft zu beobachten war, die mit der Übernahme anti-ultramontaner Positionen einherging141 . Schon im Sommer 1892 bemerkte der Großherzog von Baden die inkonsequente Art, "wie der junge Herr die Geschäfte behandelt, wie er viele Dinge unüberlegt anfaßt, die er dann wieder fallen läßt" 142 - worunter der Großherzog vor allem die Arbeiterfrage subsumierte. Immerhin hatte der soziale Ausfluß der mittelalterlichen Kaiseridee, die eigentlich ganz im Persönlichen von Papst und Kaiser verhaftet war, bis heute allseits geschätzte Folgen gezeitigt, die für die damalige Zeit Pilotfunktion besaßen und einen Modernisierungsschub bewirkten. Iv. Die Palästina-Fahrt

Im Anschluß an diesen erheblichen Prestigegewinn143 , der auch die guten Beziehungen zwischen Kaiser und Kurie widerspiegelte, wies das Verhältnis von Pontifex und Imperator erhebliche Schwankungen auf. Vor allem die Kurie unter der Federführung Harnpollas sah in Wilhelm einen protestantischen Staatsmann, den es argwöhnisch zu beobachten galt. 1898 jedenfalls ist deutlich greifbar, daß die Stimmung an der Kurie Wilhelms Operationen keine Rückendeckung mehr gab. Das wird nicht zum geringsten Teil auch auf den schwächer werdenden greisen Papst zurückzuführen sein. Am 23. Juli 1898 erbat der persönlich interessierte Kölner Erzbischof, Kardinal Phitipp Krementz 144 , bei der Propaganda-Fide-Kongregation Auskunft darüber, ob man bei der bevorstehenden Palästina-Reise WHhelms II. den Protestanten vollständig das Feld überlassen wolle. Es stehe nämlich zu befürchten, daß die evangelischen Christen im Hl. Land den kai139 Vgl. Karl Buchheim, Ultramontanismus und Demokratie. Der Weg der deutschen Katholiken im 19. Jahrhundert, München 1963, 166; Petzold, Cäsaromanie (wie Anm. 11) 136. 140 Vgl. Reventlow, Von Potsdam nach Doorn (wie Anm. 16) 393. 141 Vgl. Weber, Quellen und Studien (wie Anm. 27) 528. 142 Schiel, Franz Xaver Kraus (wie Anm. 42) 594 (Eintrag vom 31. August 1892). 143 Vgl. Berlepsch, Neuer Kurs (wie Anm. 87) 63. 144 Krementz (1819-1899), 1885-1899 Erzbischof von Köln, 1893 Kardinal; vgl. Erwin Gatz, Krementz, Philipp, in: ders., Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder (wie Anm. 46) 411 - 415.

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serlichen Besuch ganz für ihre Interessen vereinnahmen würden145 . Man solle Wilhelm doch von katholischer Seite, etwa vom Deutschen Verein vom Heiligen Land146 , der seinen Sitz in Köln hatte, ein Geschenk überreichen oder ähnliches. Bereits im Frühjahr hatte Kopp die Reichsregierung auf einen päpstlichen Repräsentaten aufmerksam gemacht, der den Kaiser im ID. Land empfangen sollte 147 • Tatsächlich standen hinter dieser Bitte nicht nur konfessionelle Fragen, sondern auch nationalpolitische Erwägungen. Seit seinem Amtsantritt hatte Leo XIII. unter Vermittlung der europäischen Höfe von der Hohen Pforte eine öffentliche Garantie für die freie katholische Religionsausübung verlangt. Das seit Jahrhunderten bestehende französische Protektorat über das Heilige Land stellte sich dabei "mehr als Hemmnis denn als F"örderung" 148 heraus. Dennoch ordnete die Propaganda-Kongregation 1888 an, daß sich die Missionare bei Streitfällen an die französischen Konsuln zu halten hätten. Der daraufhin einsetzenden scharfen Kritik der katholischen Presse in Deutschland begegnete der Papst mit einem Brief an den Kölner Kardinal Krementz 149 . In diesem Zusammenhang stand Wilhelrns Palästina-Fahrt. Er versuchte, eine unmittelbare diplomatische Verbindung zwischen der Pforte und dem ID. Stuhl einzurichten, etwa in Form einer römischen Legation, die direkte Verhandlungen über Missionsfragen zuließ, um die französische Hegemonialstellung im Orient zu brechen. Leo XIII. ließ sich darauf nicht ein, um die ohnehin diffizilen Beziehungen zu Frankreich nicht zu belasten150• Für den Präfekten der Propaganda-Fide war die Palästina-Reise des Kaisers schlicht eine Angelegenheit des Staatssekretariats, so daß sogleich Rampolla eingeschaltet wurde151 . Wiederum rief man eine Adunanz in der Kongregation für die Außerordentlichen Angelegenheiten ein, die bereits wenige Tage später tagte 152 . Die wesentlichen Gesichtspunkte waren kirchenpolitische Implikationen und die Tatsache, daß Wilhelm II. ein protestantischer Souverän war. Für Rampolla stellte das seit Jahrhunderten beAA.EE.SS., Germania, fase. 786, Krementz an Led6chowski, 20. Juli 1898. Der Deutsche Verein vom Heiligen Land entstand 1895 durch die Zusammenlegung des 1879/1885 gegründeten Palästina-Vereins und des 1855 gegründeten Vereins vom m. Grab. Er verstand sich als deutsche Präsenz im Hl. Land in Konkurrenz zu den Protestanten und anderen Nationen; vgl. dazu kurz: Erwin Gatz, Katholische Auslandsarbeit und deutsche Weltpolitik unter Wilhelm II. Zur Stiftung der Dermition in Jerusalem (1898), in: Römische Quartalschrift 73 (1978) 23-46, hier: 25-30. 147 Vgl. Gatz, KatholischeAuslandsarbeit (wieAnm.146) 37. 148 Schmidlin, Papstgeschichte (wie Anm. 41) 515. 149 Vgl. ebd., 516 Anm. 7. 150 Zum gesamten Hintergrund der Reise vgl. Gatz, Katholische Auslandsarbeit (wie Anm. 146) 27-29. 151 AA.EE.SS., Germania, fase. 786, Led6chowski an Rampolla, 23. Juli 1898. 152 Protokoll der Sitzung vom 29. Juli 1898: AA.EE.SS., Germania, fase. 786. 145

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stehende französische Protektorat über den Orient mit seiner "offenkundige[n] politisch-nationale[n] Zielsetzung" 153 in erster Linie ein politisches Hindernis für eine auch nur halboffizielle Geste der Kurie gegenüber WHhelms Palästina-Fahrt dar. Die Adunanz hielt ganz allgemein einen Empfang durch kirchliche Vertreter für inopportun. Ein Bischof sollte auf keinen Fall dabei sein, und der deutschfreundliche154 Patriarch von Jerusalem wurde angewiesen, sich der heiklen Situation bewußt zu sein und die kirchlichen Würdenträger im Heiligen Land entsprechend zu informieren155 . Auch der Papst selbst sprach sich gegen einen Empfang durch katholische Vertreter aus156 . Am 29. Oktober zog Wilhelm II. in Jerusalem ein157 und benachrichtigte

noch am selben Tag Kardinal Kopp, daß er den Katholiken ein bedeutendes Geschenk machen werde158 • An der überlieferten Stelle der Todesstätte Mariens, der Dormitio, stiftete der Kaiser ein Grundstück für den Bau einer Kirche, deren Betreuung 1906 den Benediktinern der Beuroner Kongregation übergeben wurde. Gerade diesen Ordenszweig hatte der Kaiser signifikant ausgewählt, weil er nach Wilhelms eigenen Worten "im Mittelalter stets in gutem Verhältnis zu den deutschen Kaisern gestanden" 159 habe. Bei der Feierlichkeit, an der auch der lateinische Patriarch gegen den Willen des Vatikans teilnahm, drückte Wilhelm als Deutscher Kaiser und König von Preußen seinen Dank an den Sultan aus, der ihm den Kauf ermöglichte. Die Dormitio sei "der Ausdruck inniger Freundschaft und zu gleicher Zeit eingehenden Interesses für Meine deutschen Unterthanen [ . .. ], nunmehr in der Hand des deutschen katholischen Palästina-Vereins zu einem Segen für

Schmidlin, Papstgeschichte (wie Anm. 41) 515. Vgl. Gatz, Katholische Auslandsarbeit (wie Anm. 146) 29. 155 AA.EE.SS., Germania, fase. 786, Rampolla an den Patriarchen von Jerusalem, 1. August 1898. - Auch die Anfrage des ffi. Land-Vereins bei der Kurie, ob gegen die Begleitung eines Kölner Weihbischofs Bedenken beständen, wurde negativ beantwortet: Gatz, Katholische Auslandsarbeit (wie Anm. 146) 39. 156 AA.EE.SS., fase. 786, Sitzungsprotokoll vom 29. Juli 1898. 157 Zur Palästinareise vgl. Gatz, Katholische Auslandsarbeit (wie Anm. 146) 3646; Horst Gründer, Die Kaiserfahrt Wilhelms TI. ins Heilige Land 1898. Aspekte deutscher Palästinapolitik im Zeitalter des Imperialismus, in: Heinz Dollinger u. a. (Hg.), Weltpolitik und Europagedanke. Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer, Münster 1982,363 - 388. 158 Vgl. Rall, Wilhelm TI. (wie Anm. 25) 190. Die Idee des Erwerbs der Dormitio ging vom m. Land-Verein aus und wurde von Kopp im Februar unterstützt: Gatz, Katholische Auslandsarbeit (wie Anm. 146) 36. 159 Wilhelm 11., Ereignisse und Gestalten (wie Anm. 3) 181. Wilhelm veranlaßte auch, daß das berühmte Kloster bei der Wiederbesiedlung diesem Ordenszweig 1892 übergeben wurde. Vgl. zum Zusammenhang von Benediktinern und Kaisergedanke: Godehard Hoffmann, Kaiser Wilhelm II. und der Benediktinerorden, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 106 (1995) 363-384, hier: 372-375, 382-383. 153 154

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Meine katholischen Unterthanen, speziell auch für die Bestrebungen im Heiligen Lande" 160 . Auch den Papst vergaß Wilhelm bei dieser Gelegenheit nicht. Amselben Tag benachrichtigte er telegraphisch Leo XIII. von der Stiftung und brachte dabei zum Ausdruck, "wie teuer Mir die religiösen Interessen der Katholiken sind, welche die göttliche Vorsehung Mir anvertraut hat" 161 • Der Besuch und solche kaiserlichen Worte mußten die Franzosen unwillkürlich brüskieren, zumal die Palästina-Fahrt ganz im Rahmen Bülow'scher "Weltpolitik" stand162 . Zur Abwehr deutscher Ansprüche hatte man ein "Nationalkomitee für die Erhaltung und Verteidigung des französischen Protektorats" ins Leben gerufen, das der Papst approbierte. Mehr noch! Leo XIII. sprach wenig später von der providentiellen Schutzfunktion Frankreichs im Orient163 • Unzweifelhaft hat Wilhelms Besuch der deutschen katholischen Auslandsarbeit im Heiligen Land bedeutende Impulse gegeben, die sich von Anfang an um den Schutz des Reiches bemüht hatte 164 . Der außenpolitische Schaden seinerneuen weltpolitischen Ambitionen, zu denen auch die neue wirtschaftspolitsche Hinwendung zum Osmanischen Reich gehörte, war jedoch unübersehbar. Selbst der Papst spielte dieses Mal nicht mit. Das lag nicht allein an der Federführung Rampollas, sondern vor allem an den kirchenpolitischen Zwängen, in denen sich die Kurie gegenüber Frankreich befand. Wieder scheiterten Wilhelms religiös-kirchenpolitische Ansprüche an hergebrachten politischen Konstellationen und mangelnder diplomatischer Sensibilität. V. Konversion?

Bereits aus dem bisher Gesagten erhält man den Eindruck, als habe die Kurie alles, was direkt mit Wilhelm II. zu tun hatte, zur Chefsache erklärt. Der Kardinalstaatssekretär hatte schon die Arbeiterschutzkonferenz und die Palästina-Fahrt des Kaisers zu einem Verwaltungsvorgang höchsten Ranges erhoben. Gleichzeitig berührte eine Affäre sogar den Geheimbereich Rampollas, indem sie jedem, selbst dem innerkurialen Geschäftsbereich, entzogen wurde. Der entsprechende Schriftwechsel stammt direkt aus dem Zitiert nach: Rall, Wilhlem II. (wie Anm. 25) 190. Zitiert nach: ebd., 191. Das Schreiben muß nach Gatz auf den 29. Oktober datieren: Gatz, Katholische Auslandsarbeit (wie Anm. 146) 43. 1e2 Vgl. ebd., 24. 163 Vgl. Schmidlin, Papstgeschichte (wie Anm. 41) 516; Gatz, Katholische Auslandsarbeit (wie Anm. 146) 39. 164 Vgl. Gatz, Katholische Auslandsarbeit (wie Anm. 146) 25. 160 161

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persönlichen Nachlaß des Kurienkardinals 165 . Schließlich ging es im Herbst 1898, kurz vor der Palästinareise des Kaisers, um nichts geringeres als um seine Konversion. Katholizierende Tendenzen wurden Wilhelm II. bereits in früheren Jahren bescheinigt. Nun aber schien es ernste Anzeichen für einen Konfessionswechsel zu geben. Die romantisierend verklärten äußeren Umstände haben gewiß das Ihre dazu beigetragen, Wilhelm in eine Krisis zu versetzen: Die bevorstehende Reise in das Land, in dem Jesus Christus gewirkt hatte und gestorben war, dazu noch im für die Katholische Kirche bedeutsamen Rosenkranzmonat Oktober. Es waren jedoch nicht etwa Hirngespinste von Wilhelms Zeitgenossen, die den Gedanken einer Konversion mit Dringlichkeit heraufbeschworen, es gab handfeste Anzeichen für eine religiöse Bewegung innerhalb seiner Persönlichkeit. Auslösendes Moment für die gesamte Affäre war ein Gespräch mit dem Innsbrucker Jesuitenrektor Victor Kolb, das auf die Initiative des Kaisers zurückging166 . Der bekannte Volksschriftsteller Kolb, der sich in Schrift und Wort der Sozialen Frage, der Glaubensspaltung und dem Wesen der Religion gewidmet hatte und beste Verbindungen zum Adel und zum Österreichischen Kaiserhaus unterhielt, war für Wilhelm der richtige Mann167. In dieser Unterhaltung mußte Wilhelm sehr deutlich geworden sein, denn Kolb berichtete am 8. Oktober, daß eine anonyme hochgestellte Persönlichkeit "incline vers la religion catholique"168. Der Jesuitenpater ließ die Konversionsfrage-ohne Namen zu nennen - Rampolla zur Kenntnis bringen, welcher sich umgehend an Kolb wandte 169. Daraufhin eröffnete der lnnsbrucker Pater eine Korrespondenz mit dem Kardinalstaatssekretär, die gegenüber allen Seiten geheim gehalten und von Rampolla als äußerst wichtige Angelegenheit behandelt wurde. Der Kaiser war offenbar in Gewissensnot. Er neige zwar dem katholischen Glauben zu, da er nach den durchaus ernst zu nehmenden170 Worten Kolbs unter dem Eindruck der Größe der Katholischen Kirche sowie dem Charme 165 Vgl. Vermerk auf dem Briefwechsel Harnpollas mit Pater Kolb SJ: AA.EE.SS., (}ermania,fasc. 794. 166 Vgl. auch zum folgenden: AA.EE.SS., (}ermania, fase. 794, Kolb an Rampolla, 8. Oktober 1898. 167 Kolb (1856-1928) war zunächst Theologieprofessor in Innsbruck, 1886-1896 an der Universitätskirche in Wien, 1897 - 1898 Rektor in Innsbruck, hielt außerdem zahlreiche Volksmissionen ab; Ludwig Koch, Jesuiten-Lexikon. Die (}esellschaft Jesu einst und jetzt, Paderborn 1934, 1005-1006; Die Erinnerung an P. Viktor Kolb, Wien 1929. 168 AA.EE.SS., (}ermania, fase. 794, Kalb an Rampolla, 8. Oktober 1898 169 Das geht aus dem überlieferten Brief Kalbs vom 8. Oktober hervor. 170 Wilhelm selbst spricht von der großen Prachtentfaltung des Papsttums und der imponierenden, väterlichen Persönlichkeit Leos XITI.: Wilhelm II., Ereignisse und (}estalten (wie Anm. 3) 176-178. Auch Bülow bescheinigt Wilhelm, er sei "begeisterungsfähig, in hohem (}rade impressionabel, phantastisch" gewesen: Bülow, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 1) 610. 15 FBPG- NF, Beiheft 5

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und der unvergleichlichen Würde Leos XIII. stehe, sehe aber andererseits die großen innen- und kirchenpolitischen Schwierigkeiten, die einen solchen Schritt behinderten 171 . Tatsächlich deutete der Kaiser in diesen Jahren den "Papst als Haupt des großen christlichen Weltimperiums, welches die Fortsetzung des alten Römischen Imperiums sei" 172 . Da der Kaiser weiteren Gesprächsbedarf bei Kolb anmeldete, bat dieser Rampolla nun um Instruktionen. Erst am 14. Oktober gab der Jesuit die Identität des katholizierenden Monarchen preis und sprach deutlich von dem bevorstehenden Jerusalembesuch des Kaisers 173. Bereits wenige Tage später antwortete der Kardinalstaatssekretär und riet zu äußerster Vorsicht im Umgang mit dem Kaiser. Obgleich bei Gott nichts unmöglich sei, wisse doch niemand, was in einem anderen Menschenherz vor sich gehe174• Statt dürrer Worte und fehlender Hilfestellung hätte man sich mehr Enthusiasmus bei Rampolla gewünscht, zumal die Katholische Kirche und erst recht der Vatikan nichts zu verlieren hatten, denn das Geheimnis blieb bis zuletzt gut gehütet. Im Gegenteil! Welch ein Triumph hätte eine Konversion nach noch nicht vergessenen Kulturkampfzeiten bedeutet! Pater Kolb jedenfalls mußte handeln. Weitere Gespräche mit dem Kaiser standen unmittelbar nach dessen Rückkehr aus dem Orient Ende November bevor. Wilhelms Abwesenheit nutzte Kolb dann ganz offensichtlich zu einer Romreise, um vor Ort die Situation zu erörtern und Ratschläge einzuholen. Außerdem war Vertraulichkeit oberstes Gebot, wollte man nicht durch eine unbeabsichtigte Indiskretion das ganze Projekt desavouieren175 • All das verdeutlicht den tatsächlichen Ernst, den der Jesuit und Rampolla der Sache entgegenbrachten. Sie hielten die Konversionsabsichten nicht für eine kaiserliche Grille. Jüngstes Beispiel war der Großherzog von Hessen, der tatsächlich katholischen Religionsunterricht erhielt. Trotz erneuter Gespräche war man bis Mitte Februar 1899 jedoch immer noch nicht weitergekommen. Auch den Papst hatte man inzwischen eingeweiht und ihm für das Frühjahr einen Besuch des Kaisers in Rom angekündigt176 , der tatsächlich aber erst 1903 stattfand. Das alles war sehr vielversprechend, obgleich man sich wegen der politischen Zwänge und des rein protestantischen Umfelds des Monarchen, die gegen eine Festigung der Konversionsabsichten arbeiteten, kaum große Illusionen machte. AA.EE.SS., Gennania, fase. 794, Kolb an Rarnpolla, 8. Oktober 1898. Diese Bemerkung fiel in der Privataudienz 1899 gegenüber Leo Xlll.: Bülow, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 1) 615. 173 AA.EE.SS., Germania, fase. 794, Kolb an Rarnpolla, 14. Oktober 1898. 174 AA.EE.SS., Gennania, fase. 794, Rampolla an Kolb, 18. Oktober 1898. 175 AA.EE.SS., Gennania, fase. 794, Kolb an Rarnpolla, 22. Oktober 1898. 176 AA.EE.SS., Gennania, fase. 794, Kolb an Rarnpolla, 17. Februar 1899. 171

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Im Juli 1900 war man immer noch keinen Schritt vorangekommen. Auf kirchlicher Seite hielt man die Frage immer noch für eine res gravissima 177 , bewertete aber die äußeren Umstände als viel zu ungünstig für einen veritablen Schritt. Für den Jesuiten wurde es indes immer schwerer, den Kaiser überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Dieser fürchtete im protestantischen Berlin nicht nur das Gerede am Hof, sondern auch eine breite politische Diskussion. So fanden verschiedentlich im Freien und fern der Hauptstadt beiläufige Gespräche zwischen den beiden ungleichen Persönlichkeiten statt, die Wilhelm häufig ungewohnt wortlos zeigten. Der Monarch fürchtete ganz offensichtlich nicht zu Unrecht den Klatsch protestantischer Pastoren über sein Hinneigen zum Katholizismus ebenso wie die Linkspresse, die schon von einem "vom Pontifex gekrönten deutschen Kaiser" 178 sprach. Kolb selbst zweifelte nicht an der aufrichtigen Gesinnung Wilhelms II.; er hielt sie für echt und tiefgehend. Allein die politischen Umstände schätzte er als "insuperabiles" 179 ein. Ganz richtig erkannte er, daß sich Wilhelm nie gegen seine Ratgeber und die politischen Zwänge werde durchsetzen können. In Rom, so schien es, hatte man die Hoffnungen auf eine Konversion längst aufgegeben, obgleich man Wilhelm auch in den folgenden Monaten sehr aufmerksam beobachtete. Seine öffentlichen und halböffentlichen Kommentare und Bemerkungen waren nämlich keinesfalls einheitlich katholizierend. 1901 war er angeblich sehr entrüstet, als die verwitwete Prinzessin Anna von Preußen, eine Enkelin Friedrich Wilhelms III., zum katholischen Glauben übertrat180. Noch 1938/39 bedauerte er es offen, wenn ihm bekannte Persönlichkeiten konvertierten181 • Bekanntlich hatte Wilhelm II. auch nach seiner Abdankung im November 1918 nicht die Konfession gewechselt, obgleich nun alle politischen Rücksichten obsolet wurden. Es ist gewiß falsch, Wilhelms Konversionsabsichten als unecht oder rein oberflächlich in Zweifel zu ziehen, dafür pflegte er viel zu lange Gespräche mit dem Innsbrucker Jesuiten. Ihm fiel offenbar das Verlassen seiner alten Konfession schwer; eine Ökumene, wie er sie für die protestantischen Kirchen immer wieder aktiv angestrebt und selbst für alle Konfessionen herbeigewünscht hatte 182, wäre ihm der geeignete Ort des religiösen Bekenntnisses gewesen, so wie er sich immer zum Christentum als solchem - frei von kon177 Auch zum folgenden: AA.EE.SS., Germania, fase. 794, Kolb an Rampolla, 9. Juli 1900. 178 Ebd.: ,.de Imperatore Germanico a Pontifice coronato". 179 Ebd. 180 Vgl. Hans Rall, Zur persönlichen Religiosität Kaiser Wilhelms ll., in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 95 (1984), 382-394, hier: 385-386. 181 Vgl. ebd., 386. 182 Vgl. ebd., 385-386.

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fessioneller Abgrenzung- bekannt hatte. Die von Wilhelm gewünschten und durchgeführten Konversionsgespräche mit einem Jesuiten sind jedenfalls eine unleugbare Tatsache. Indes geriet die Kurie, vor allem unter Pius X.183 , mehr und mehr in den Strudel des Modernismus. Wilhelms Konversion war vergessen; er selbst mußte nun der Kurie als Protestant höchst verdächtig erscheinen. Geradezu gierig schnappte man alle antikatholischen Äußerungen des Kaisers auf und transportierte sie als wichtige Chefsache bis zu den höchsten Würdenträgern der römischen Kurie. Unzweifelhaft war man durch eine mögliche Konversion sensibel geworden; die strikt antimodernistische und "antireformerische Kurialrichtung" 184 mußte vollends an der Entdeckung der wahren Gesinnung des Kaisers Interesse haben. Im März 1905 erreichten Meldungen das Staatssekretariat, die über "feindliche Aussagen gegen die katholische Religion" 185 aus dem Munde des Kaisers und des Kronprinzen berichteten. Obgleich man zugeben mußte, daß die Zeitungsmeldungen, auf die man sich berief, auch schlecht recherchiert sein könnten, sei doch bereits die Angelegenheit "von großer Bedeutung" 186 . Das Staatssekretariat gab Weisung, mit aller Vorsicht Nachforschungen anzustellen. Fast schon hysterisch versuchte man von München aus Informationen über die tatsächliche Aussage des Kaisers anläßlich der Einweihung des protestantischen Doms in Berlin zu beschaffen 187 . Man befragte anwesende Pastoren und schlug in alten Zeitungen nach, konnte aber nur sehr ungenau Wilhelms Wortlaut rekonstuieren188 . Offenbar sprach der Kaiser bei der Einweihung von einem Bündnis aller Protestanten gegen den Ultramontanismus in Deutschland, womit vor allem das Zentrum als politische Kraft getroffen werden sollte. Hintergrund waren sicherlich die Angriffe der Zentrumspartei auf die deutsche Kolonialverwaltung, die 1906 in die Auflösung des Reichstags mündeten189 . Selbst das katholische Presseorgan, die Kölnische 183 Pius X. (1835 -1914), war von 1903 bis 1914 Papst; vgl. Josef Schmidlin, Papstgeschichte der neuesten Zeit, Bd. 3, München 1936, 5 -177; Erika Weinzierl, Pius X., in: Greschat, Gestalten der Kirchengeschichte (wie Anm. 26) 224-240. 184 Vgl. Schmidlin, Papstgeschichte (wie Anm. 183) 139. Zur Begriffsbestimmung und verschiedenen Ausprägungen vgl. jüngst den Sammelband: Hubert Wolf (Hg.), Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des li. Vatikanums, Paderborn u. a. 1998. 185 " .. . propositi ostili alla religione cattolica": auch zum folgenden: AA.EE.SS., Germania, fase. 823, Staatssekretariat an den Nuntius in München, 18. März 1905. 188 Ebd.: "digrandeimportanza". 187 Die Einweihung fand am Hochzeitstag des Kaiserpaars, am 27. Februar 1905, statt; vgl. Rüdiger Hoth, Der Berliner Dom, Geschichte und Gegenwart, Regensburg 7 1998, 19. 188 Vgl. dazu den detaillierten Bericht des Münchener Nuntius vom 24. März 1905: AA.EE.SS., Germania, fase. 823.

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Volkszeitung, warnte zu jener Zeit vor der lllusion, der Kaiser habe Sympathien für die Katholische Kirche. Da auch der Hof im Anschluß keine offizielle Stellungnahme abgab, war jedem Gerücht 'IUr und 'lbr geöffnet. Zwar beruhigte sich der Blätterwald rasch wieder, doch der Geruch der religiösen Unlauterkeit haftete spätestens seit diesem Zeitpunkt dem Kaiser in römischer Sichtweise an.

Von diesen deutsch-vatikanischen Irritationen war noch im 'Frühjahr 1907 ein Rest zu spüren. Dertreue kaiserliche Gefolgsmann Kopp berichtete dem neuen Kardinalstaatssekretär Anfang Februar, daß Wilhelm II. sich große Mühe gebe, alle Unstimmigkeiten auszuräumen190 . Auf einem Empfang sagte der Kaiser zu Kardinal Kopp - auf seine Bemerkungen bei der Domeinweihung anspielend -, er sei an keinem Kampf gegen die Katholische Kirche interessiert. Er wolle vor allem die vertrauensvollen Beziehungen zum m. Stuhl und zum deutschen Episkopat fortsetzen. Für vielfach zu beobachtende Störungen und Querelen seien nach Aussage des Kaisers die Regierung und die Verwaltung verantwortlich- die ja ihm persönlich unterstanden. Solche Entschuldungsstrategien konnten daher auch in Rom kaum mehr auf bereitwillige Akzeptanz stoßen. Modernismusängste waren auch hier wieder am Werk, die eine konfessionelle Hypersensibilisierung züchteten. Außerdem veranlaßte der Harden-Prozeß den Münchener Nuntius dazu, dem Kaiser Anfang 1908 Schwäche vorzuwerfen191 . Hinzu kam eine ganze Kanonade von abgegriffenen Klischees, die sorgfältig mit dem anderen Material im Dossier "Wilhelm Il." aufbewahrt wurden: Wilhelm sei schlecht informiert, er lese die Tägliche Rundschau, die feindlich gegen die Katholische Kirche schreibe, der Kronprinz und seine Mutter seien große Förderer des Luthertums. Solche bereits in der Formulierung "märchenhafte" Wendungen waren nicht dazu angetan, daß Verhältnis von Papst und Kaiser zu verbessern. Ohne Zweifel war das insgesamt als gut und konstruktiv zu bezeichnende Verhältnis von Leo XIII. und Wilhelm Il. Geschichte. Der Modernismus tat das seine, um die Atmosphäre endgültig zu vergiften. Der Erste Weltkrieg ließ Wilhelm II. als politischen Protagonist ins zweite Glied treten. Die Friedensinitiative von Benedikt XIV. von 1917 war 189 Vgl. Schmidlin, Papstgeschichte (wie Anm. 183) 96. Sowohl Kopp als auch der Vatikan mißbilligten das Verhalten führender Zentrumspolitiker. Nach der Reichstagswahl erfolgte die Regierungsbildung ohne das Zentrum. 190 Vgl. auch zum folgenden: AA.EE.SS., Gerrnania, fase. 833, Kopp an Meny del Val, 3. Februar 1907. 191 AA.EE.SS., Gerrnania, fase. 833, Münchener Nuntius an Meny del Val, 22. Januar 1908. - Zum Harden-Prozeß vgl. kontrovers: Rall, W!lhelm II. (wie Anm. 25) 247 -248; Burmeister, Eulenburg (wie Anm. 74) 173; Röhl, Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 7) 65 - 72; Sombart, W!lhelm II. (wie Anm. 13) 159-204.

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zwar für den Kaiser ein sehr beeindruckender Akt192 , blieb aber für das Kriegsgeschehen faktisch bedeutungslos 193 . Viel interessanter ist die tatsächliche Verwendung des Papstes für den abgedankten und im niederländischen Exil weilenden Kaiser, der um seine Auslieferung an die Alliierten als Kriegsverbrecher fürchten mußte 194 . Interessant deshalb, weil sich urplötzlich die Fronten verkehrten. Nicht mehr Wilhelm spielte den werbenden Part in dem nun nicht mehr gleichrangigen Verhältnis. Dabei war der Einsatz von Papst und Kardinalstaatssekretär für den Ex-Kaiser in der Bedrängnis weit davon entfernt, ein bloß humanitäres Manöver zu sein. Bereits ein Brief des Kölner Kardinals Felix von Hartmann195 , der dem Kaiser auch im Exil seine Freundschaft bewahrte, gibt Anfang Dezember 1918 die richtige Richtung an. Der Hl. Stuhl solle sich bei den Alliierten dafür verwenden, daß der Ex-Kaiser nicht vor ein internationales Tribunal gezerrt werden würde: "Es wäre zu scheußlich, wenn das grauenvolle Drama des Weltkrieges durch einen Mord an dem zuende ginge, der die Krone des Deutschen Reiches trägt" 196 • Es ging hier weniger um die strittige Schuldfrage als um das monarchische Prinzip, zu dem sich vor allem die Institution des Papsttums bekannte. Die römische Kurie wandte sich im Juli 1919 vor allem an die im Gegensatz zu Frankreich gemäßigtere britische Regierung, um auf der Versailler Friedenskonferenz günstigere Bedingungen für Deutschland zu erwirken. Durch einen Brief des Kardinalstaatssekretärs an den britischen Außenminister unternahm Benedikt XIV "einen weiteren sehr lebhaften Schritt" 197 für einen erträglichen Frieden und die Unverletzlichkeit des Ex-Kaisers. Der Hl. Stuhl bot seinen gesamten diplomatischen Aktionsradius auf - sogar mit der italienischen Regierung trat man in Kontakt -, um Wilhelm auf die eine oder andere Weise die Auslieferung zu ersparen. Wenige Tage später bezeichnete der Kardinalstaatssekretär gegenüber einem italienischen Politiker die alliierte Forderung als "eine juristische Ungeheuerlichkeit, ein[en] äußerst gravieren192 Wilhelm widmete dem Besuch Pacellis ein ganzes Kapitel: Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten (wie Anm. 3) 225-230. 193 Vgl. dazu: Wolfgang Steglich, Der Friedensappell Papst Benedikts XV. vom 1. August 1917 und die Mittelmächte, Wiesbaden 1970. 194 Vgl. dazu zuletzt: Stefan Samerski, Der ID. Stuhl und der Vertrag von Versatiles, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 107 (1996), 355-375, hier: 368 - 369. 195 Hartmann (1851-1919), 1912-1919 Erzbischof von Köln, 1914 Kardinal; ihm werden gute Kontakte zu Wilhelm II. bescheinigt; vgl. Eduard Hege!, Hartmann, Felix von, in: Gatz, Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder (wie Anm. 46) 286-289. 196 AA.EE.SS., Germania, fase. 866, Hartmann an Benedikt XIV., 3. Dezember 1918: "Sarebbe troppo orribile, se il damma funesto della guerra mondiale fasse finito coll'assassino di quello ehe porta la corona dell'Impero tedesco". 197 AA.EE.SS., Germania, fase. 886, Staatssekretariat an Balfour, 4. Juli 1919: "une autre tres vive instance".

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den politischen Fehler" 198 . Die ganze Frage sei ein "aus dem Haß und Revanchegeist erwachsener Mißbrauch der Macht, wie es nur wenige Beispiele in der Geschichte" 199 gebe. Auch die Niederlande wurden durch den dortigen Nuntius unverhohlen gedrängt, Wilhelm nicht auszuliefern200 . Der Nuntius solle der Regierung im Namen des Papstes ausrichten, daß ihr bei einer unnachgiebigen Haltung "die Sympathie der gesamten zivilisierten Welt" 201 sicher sei. Als der Druck der Allüerten nach der deutschen Unterzeichnung des Versailler Vertrags größer wurde, wandte sich Kardinal von Hartmann nochmals um diplomatische Unterstützung in der Auslieferungsfrage an den Papst, denn Wilhelm II. sei "weder dem Gesetz, noch gegenüber den Gerichten oder dem Parlament verantwortlich, sondern nur Gott allein, dem obersten Richter". Deutlicher kann man wohl auch die kuriale Haltung, die sich nach außen auf die argumentativen Figuren der Gerechtigkeit, Feindesliebe und Humanität zurückzog, indirekt damit aber die Pariser Vorortverträge attackierte, kaum umreißen. Das Gottesgnadentum, vor allem wenn es um eine so prominente und mit Leo XIII. befreundete Person ging, durfte nicht angetastet werden. Fast täglich gingen die Depeschen zwischen Rom und Den Haag hin und her. Der Nuntius, der für alle drei Benelux-Länder zuständig war, wurde angewiesen, die niederländische Hauptstadt nicht zu verlassen und wiederholt der dortigen Regierung den päpstlichen Standpunkt zu verdeutlichen202 . Keine Institution hat sich so vehement für den protestantischen Ex-Kaiser verwandt, wie Papst Benedikt XIV Ende Juli hatte auch der englische König verlautbaren lassen- ebenso wie ein Großteil der britischen Aristokratie-, an einem Prozeß gegen WHhelm II. nicht interessiert zu sein203. Auch von der niederländischen Regierung war zu hören, daß man keinen alliierten Auslieferungsantrag mehr befürchte204. Als der Antrag Anfang 1920 aber doch eintraf, blieb die Regierung in Den Haag bei ihrer festen Haltung, das Exil zu respektieren. Die Antwortnote des Kardinalstaatssekretärs war kein Ausdruck der Erleichterung, sie war ein wahrer Jubelschrei der Kurie, die alle diplomatische Formalität weit hinter sich ließ. "Ich möchte für die dortige Regierung meine 198 AA.EE.SS., Germania, fase. 887, Kardinalstaatssekretariat an Nitti, 7. Juli 1919: "una enormita giuridiea, un errore politieo gravissimo". 199 Ebd.: "abuso di forza odioso e ributtante, eome poehi esempi nella storia". 2oo Der Kardinalstaatssekretär hielt es im Juli für die Hauptaufgabe des dortigen Nuntius, eine Auslieferung zu verhindern: Gasparri an Nieotra, 10. Juli 1919: AA.EE.SS., Germania, fase. 887. 201 Ebd.: "la simpatia di tutto i1 mondo eivile". 202 AA.EE.SS., Germania, fase. 887, Gasparri an Nieotra, 19. Juli 1919. 203 AA.EE.SS., Germania, fase. 887, Nieotra an Gasparri, 10. August 1919. 204 AA.EE.SS., Germania, fase. 887, Nieotra an Gasparri, 8. August 1919.

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Glückwünsche zu der noblen und würdigen Antwort auf das Auslieferungsbegehren zum Ausdruck bringen" 205 , telegraphierte der Kardinal gleich am Tage nach der niederländischen Absage. Das war der letzte Akt des Verhältnisses von Papst und Kaiser, bei dem es um nicht weniger als um das monarchische Prinzip als solches ging. Die breite diplomatische Intensität, die der m. Stuhl ausschließlich zugunsten der persönlichen Integrität Wilhelms II. in Szene gesetzt hatte, ist ein letzter Beweis für die enge institutionelle Beziehung zwischen dem Kaiser und dem Papsttum. Als Fazit läßt sich folgendes festhalten: Die oberflächlich diagnostizierte "größenwahnsinnige Selbstverherrlichung Wilhelms II. " 206 entpuppt sich in ihrem motivischen Ursprung als Mittelalterrezeption des Kaisergedankens, wobei Wilhelms religiös-ideologisches Verständnis stärker das Kaisertum der Karolinger und der Ottonen mit seiner engen "verfassungsmäßigen" Anhindung an das Papsttum in sich aufnahm, als beispielsweise staufisch emanzipierte Vorstellungen. Der Papst gehörte schlicht zu Wilhelms Kaisertum dazu, zumal er sich mit Leo XIII. in vielen wesentlichen - neuen Punkten seines Regierungsprogramms traf. Außerdem schien die Person dieses Papstes als imponierend väterliche Autoritätsfigur dazu angetan, das für Wilhelm wichtige Vertrauensverhältnis als Basis des Regierens zu festigen. Ohne Zweifel hatten beide die persönliche Vorstellung, als kongeniale Partner das Abendland - und vielleicht noch ausgreifender - missionarisch lenken zu müssen. 1903 berichtete Leo XIII. dem Kaiser, ihm sei "ein Traum erschienen, das sei der, daß der jetzige Deutsche Kaiser gleichsam von ihm, Papst Leo XIII., die Mission erhielte, den sozialistischen und atheistischen Ideen entgegen Europa wieder zum Christentum zurückzubringen" 207 • Dieses besondere, quasi verfassungsmäßige Verhältnis von Papst und Kaiser ließ Wilhelm immer wieder die Nähe des Papsttums suchen und legitimierte ihn auf der anderen Seite, direkt mit dem Pontifex über Bischofsernennungen zu verhandeln und sei es auch als Instrument des Breslauer Fürstbischofs Kopp. Diese- im Vergleich zum Bismarckreich- breite Palette von politischen Innovationen brachte auch schon aufgrund von Wilhelms sprunghafter Unstetigkeit und Beeinflußbarkeit wenig Überlebenschancen mit sich, ganz abgesehen von Eulenburgischen und protestantisch-preußischen Störfeuern. Auch die Methode schlug bekanntlich fehl: Politik ließ 205 AA.EE.SS., Germania, fase. 888, Gasparri an Vallega, 24. Januar 1920: "Voglia presentare in via risexvata a cotesto Governo le rnie felicitazioni per la risposta nobile e degna data alla domanda di estradizione". 206 Vgl. John C. G. Röhl, Kaiser Wilhelm ll. "Eine Studie über Cäsarenwahnsinn" (Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge 19), München 1989, 13. 207 Bülow, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 1) 613 (Anlaß: Besuch des Kaisers beim Papst 1903).

Papst und Kaiser

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sich nicht mehr von Person zu Person machen. Das hatte auch Leo XIII. erfahren müssen, der mehr und mehr in Rampollas Fahrwasser geriet. Sein Nachfolger stand vor allem unter dem Verdikt des Antimodernismus, so daß das von Leo aufgebaute gute Verhältnis bereits durch die konfessionelle Sensibilisierung der Kurie ins Gegenteil umzuschlagen drohte. Wilhelm stand mit seinen konfessionell-religiösen Gedanken und Bedürfnissen in Berlin allein da, weshalb seine Konversion, isoliert betrachtet, skurill erscheint und scheiterte; dabei darf nicht vergessen werden, daß seine sozialund konfessionspolitischen Ansätze, die die Integration von Katholiken und Arbeitern in das Reich tatsächlich förderten, moderne und wegweisende Schritte waren, so daß bereits hier ansatzweise erkennbar wird, daß Preußen im Reich aufging. Wilhelms Inkonsequenz und Instabilität sind menschlich verständlich, waren aber politisch verhängnisvoll.

Wilhelms ß. Sakralitätsverständnis im Spiegel seiner Kirchenbauten Von Jürgen Krüger Spätestens seit der monumentalen Stauferausstellung 1977 in Stuttgart, mit der es üblich geworden ist, bei historischen Ausstellungen auch das Nachleben der jeweiligen Epoche ausführlich zu beleuchten, spätestens seit dieser Ausstellung wurde es Allgemeingut, daß mit Wilhelm li. eine besondere Spielart des Historismus modern wurde, der sich in der Aufnahme der deutschen Spätromanik, eben der Stauferzeit, äußerte. 1 Ein Blick auf einige Hauptmonumente der beiden Epochen scheint diese Beurteilung zu bestätigen. Die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche, 1890-1896 von Franz Heinrich Schwechten erbaut, nimmt mit ihrem Fbrmenapparat dezidiert spätromanische Dekorationsformen auf; darüber hinaus gelang es ihrem Erbauer, in der perspektivischen Choransicht der Kirche die Silhouette der Marlenkirche von Gelnhausen aufzunehmen und spielerisch abzuwandeln. 2 Gelnhausen als Ort der besterhaltenen staufischen Kaiserpfalz, dazu sogar als staufisehe Stadtgründung, gehörte im 19. Jahrhundert zu den bekanntesten Orten mit staufischen Bauwerken. 3 Mit Franz Heinrich Schwechten ist zugleich der Architekt benannt, mit dem die meisten der wilhelminischen Bauprojekte verbunden sind; ihm werden wir bei den folgenden Ausführungen daher immer wieder begegnen. 4 Die Hohenzollern als Nachfolger der Hohenstaufer 1 Die Zeit der Staufer. Ausstellungskatalog, 5 Bände, Stuttgart 1977 - 1979, darin verschiedene Katalogbeiträge und in Bd. 5 Aufsätze, vor allem Michael Bringmann, Gedanken zur Wiederaufnahme staufiseher Bauformen im späten 19. Jahrhundert, in: ebd., Bd. 5, 581- 620; Michael Bringmann, Studien zur neuromanischen Architektur in Deutschland. Diss. phil. Heidelberg 1968. Die hier vorgelegten Ausführungen fußen auf meiner Habilitationsschrift: Jürgen Krüger, Rom und Jerusalem. Kirchenbauvorstellungen der Hohenzollern im 19. Jahrhundert. Berlin 1995. Dazu kommt einiges neue Material. 2 Vera Frowein-Ziroff, Die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche. Entstehung und Bedeutung (Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Beiheft 9). Berlin 1982, hier der Vergleich der Abbildungen 88 (Gelnhausen) und 91 (Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche). 3 Monumente Gelnhausens wurden z. B. publiziert von G. Moller in: Denkmäler der deutschen Baukunst Bd. 3 Darmstadt 1844, Taf. XLII die pfalz. 4 Vgl. jüngst Peer Zietz, Franz Heinrich Schwechten. Ein Architekt zwischen Historismus und Moderne. Stuttgart 1999. Für die Biographie nach wie vor wichtig

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Abbildung 1: Bad Hornburg v. d. H., Erlöserkirche {Max Spitta uns Franz Schwechten, 1902 -1908). Die Kirche erhebt sich mit ihrem Chor über einer hohen Geländeschwelle {heute teilweise durch Neubauten verdeckt), so daß die Chorseitentürme- auf Fernsicht berechnet- mächtiger sind als die Fassadentürme. In den Fbrmen ist der Bau der rheinischen Spätromanik verpflichtet. Helmut Maier, Berlin. Anhalter Bahnhof. 2. Aufl. Berlin 1987, 75 ff. Das Werk Schwechtens ist nach wie vor großenteils schlecht bearbeitet. Eine eigene Monographie ist in Vorbereitung.

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Abbildung 2: Limburg a. d. Lahn, Stiftskirche. Historische Aufnahme (um 1896) aus der UB Karlsruhe. In Komposition des Baus und Lage über dem Tal wird der Vorbildcharakter der Limburger Stiftskirche für die Hornburger Kirche deutlich.

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waren überall zu spüren; die Hohenzollern als Verwalter, ja als eigentliche Erfüller des hohenstaufischen mittelalterlichen Kaiserreichs, das mit dem Tod Friedrichs Il. so jäh geendet hatte, diese These wurde vielfältig propagiert, und das Kyffhäuser-Denkmal ist monumentaler Ausdruck für sie.5 Doch Wilhelm Il. als Erfüller hohenstaufischer Politik, als Erben des mittelalterlichen Kaiserreichs zu sehen - wohlgemerkt, immer im Spiegel der Monumente-, greift zu kurz, wie ein anderes Beispiel zeigen kann: Die 1908 eingeweihte Erlöserkirche in Bad Hornburg vor der Höhe eignet sich dafür besonders gut, weil sie nicht nur wie viele anderen Gemeindekirche, sondern auch zugleich Schloßkirche ist. 6 Vor diesem Neubau diente die Hornburger Schloßkapelle auch der evangelischen Ortsgemeinde für deren Gottesdienste, bis in den 1860er Jahren der Wunsch nach einem selbständigen Kirchenbau aufkam. Da die Kirche auch Wilhelm II. als Schloßkirche dienen sollte, trug er wesentlich zu dem Kirchenbau bei, gab das Grundstück, das direkt an das Schloßareal grenzte und finanzierte den Bau großenteils. Franz Schwechten führte den Bau nach dem Tod von Max Spitta weiter, und akzentuierte die Grundgedanken des Bauwerks klarer: Am Rande des Schloßparks und über einer Geländekante erhebt sich der Kirchenbau. Die vier Türme mit rheinischen Rautendächern - je zwei an der Fassade und zu seiten des Chores -markieren einen längsgerichteten Bau mit großem Querhaus, so erscheint es zumindest von außen, und tragen zugleich wesentlich zu dem malerischen Erscheinungsbild der Kirche bei (Abb. 1). Als Vorbild diente die nahe gelegene Stiftskirche in Limburg an der Lahn mit ihrer türmereichen Silhouette über dem Lahntal (Abb. 2). Das stauferzeitliche Vorbild ist evident. Im Gegensatz dazu steht der Eindruck des Inneren: Die Vierung ist zu einem überkuppelten Zentralraum geweitet, an dem vier kurze Kreuzarme anliegen. 7 Goldgrundige Mosaiken an den Gewölben verstärken den byzantinisierenden Charakter des Innenraums. Die Engelsgestalten in den Kuppelpendentifs lassen an die Hagia Sophia denken (Abb. 3). Offensichtlich funktioniert hier das "Staufermodell" nicht mehr, und viele andere Beispiele belegen, daß dies kein Einzelfall ist. Neben der Stauferzeit waren Kunstwerke auch von anderen Epochen vorbildhaft für Wil5 Gunther Mai (Hrsg.), Das Kyffhäuser-Denkmal 1896-1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext. Köln 1997 6 Literatur zur Hornburger Kirche: Ernst Gerland, Der Mosaikschmuck der Hornburger Erlöserkirche (Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertums-Kunde zu Hornburg v.d.H., 11). Hornburg v.d.H. 1911; Heinz Schomann, Die Hornburger Erlöserkirche - Kaiserdom oder Palastkapelle?, in: Mitteilungen des Vereins für geschichtliche Landeskunde zu Bad Hornburg v.d.Höhe 35 (1982) 304-353; Krüger, Rom und Jerusalem (wie Anm. 1), passim; Zietz, Schwechten (wie Anm. 4), 66-67. 7 Dieser Gegensatz zwischen Außen- und Innenwirkung ist typisch für zahlreiche Kirchenbauten Schwechtens. Weite Innenräume, häufig auf zentralem Grundriß, waren im ausgehenden 19. Jahrhundert für besucherstarke Gottesdienste beliebt.

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Abbildung 3: Bad Hornburg v. d. H., Erlöserkirche, Innenraum in Richtung Chor. Die Wände sind mit verschiedenen Marmorsorten inkrustiert, die Gewölbe mit Mosaiken auf Goldgrund dekoriert. Dadurch erhält der Raum eine Wirkung, die von der äußeren total abweicht.

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helm II., und schließlich konnten sogar moderne Baugedanken in seine Bauwerke eingehen. Die Frage, der hier weiter nachgegangen werden soll, ist also weiter zu differenzieren, und es soll gezeigt werden, daß Wilhelm II. bestimmte Absichten verfolgte, wenn er bei seinen Bauwerken verschiedene Stile einsetzte und bestimmte Vorbilder wählte. Diese Absichten sind weniger von einer Vorliebe für bestimmte Stile abhängig als vielmehr von seinem Religiositätsverständis, das natürlich eng mit seinem Politik- und Geschichtsverständnis zusammenhängt. Seine religiösen Vorstellungen, soweit sie auf Kunst und Architektur zu beziehen sind, sollen im folgenden unter drei Gesichtspunkten behandelt werden: dem der Sozialen Frage, des Herrschaftsverständnisses und der "imitatio Constantini". Wie zentral die zu behandelnden Bauwerke in Wilhelms II. Denken verwurzelt waren, entsprechend welchen Stellenwert seine religiösen und historischen Vorstellungen für ihn hatten, erhellt schon daraus, daß die Aufträge für diese Bau- und Kunstwerke programmatisch mit seiner Thronbesteigung begannen und sich wie ein roter Faden durch seine Regierungszeit ziehen. I. Wilhelm ll. und die Soziale Frage

Das erste große Projekt betraf keinen Neubau, sondern- vielleicht bezeichnenderweise - eine Restaurierung: die Wiederherstellung der Wittenberger Schloßkirche. 8 Schon lange war diese Kirche, die wegen Luthers Thesenanschlag und seinem Grab als Mutterkirche der Reformation geschätzt wurde, in einem ruinösen Zustand. Als Wittenberg 1815 preußisch wurde, inspizierte Schinkel kurze Zeit darauf die Kirche, jedoch ohne Restaurierungsmaßnahmen zu ergreifen. Erst Friedrich Wilhelm IV. ließ von Ferdinand von Quast als punktuelle Maßnahme die Thesentür erneuern. Schließlich brachte das Lutherjahr 1883 die erforderliche Aufmerksamkeit: Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere Kaiser Friedrich III., beauftragte Friedrich Adler mit einer großangelegten Restaurierung, die beim Tod des Monarchen aber noch lange nicht abgeschlossen waren. Es war der erklärte Wille Wilhelms II. nach seiner Thronbesteigung 1888, die Arbeiten möglichst rasch zu Ende zu führen. Am 31. Oktober 1892 weihte er die Schloßkirche feierlich wieder ein. s Die Wiederherstellungsmaßnahmen werden hier stark verkürzt wiedergegeben und auf eine programmatische Aussage zugespitzt; vgl. Krüger, Rom und Jerusalem (wie Anm. 1), 192 ff.; Jürgen Krüger, Die Restaurierung der Wittenberger Schloßkirche- ein Schlüssel zur wilhelminischen Kirchenbaupolitik, in: Stefan Oehmig (Hg.), 700 Jahre Wittenberg. Weimar 1995, 405 -417; Martin Treu, Reformation als Inszenierung - Die Neugestaltung der Schloßkirche zu Wittenberg 1885-1892, in: Stefan Rhein/Gerhard Schwinge (Hg.), Das Melanchthonhaus Bretten. Ein Beispiel des Reformationsgedenkens derJahrhundertwende. Ubstadt-Weiher 1997,15-29.

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So muß zwar die Herrichtung der Schloßkirche im wesentlichen als ein Monument Friedrichs III. gelten, wir verdanken aber Wilhelm II. einige substantielle Änderungen im Restaurierungskonzept, die den Bau programmatisch an den Beginn der Regierungszeit Wilhelms Il. rücken. So sollte z. B. nun das von F'riedrich Wilhelm IV. eingebaute Thesenportal beibehalten werden, so daß die Schloßkirche einen doppelten Gedenkcharakter erhielt: an Luther und an die eigene Dynastie. Ferner wurde die als Turmabschluß geplante Kaiserkrone durch ein Kreuz ersetzt; Wilhelm empfand in diesem Zusammenhang eine Krone als unangemessen, als christlicher Turm aber wirke er wie ein "Pharos" und sollte das Licht des evangelischen Glaubens verkünden. 9 Die bedeutendste Änderung der Ausstattung erfolgte buchstäblich in allerletzter Minute: F'riedrich Adler mußte noch ein Fürstengestühl mit 22 Sitzen schaffen, auf welchem die evangelischen Fürsten bei der Wiedereinweihung Platz nehmen konnten (Abb. 4). 10 Der Termin der Einweihung war lange vorher auf den 31. Oktober 1892 festgelegt worden, den 375. Jubiläumstag des Thesenanschlags. An diesem Tag wollte Wilhelm II. die deutschen und europäischen Fürsten evangelischen Bekenntnisses in der Schloßkirche versammeln, um das "Wittenberger Bekenntnis" zu unterzeichnen, eine Verpflichtung der Fürsten und des Klerus, die Werte einer christlichen Welt zu erhalten. Der Termin erhielt weitere Symbolkraft dadurch, daß der Reformationstag vorher kein deutschlandweit einheitlicher Feiertag war, vielmehr jede Landeskirche einen eigenen Feiertag hatte, der meist von der Einführung des reformatorischen Bekenntnisses im jeweiligen Land bestimmt wurden. Erst mit dem Lutherjahr 1883 waren die Feiertage großenteils vereinheitlicht worden, und mit der Einweihung der Wittenberger Schloßkirche wurde der 31. Oktober als Reformationstag allgemein üblich. Das Wittenberger Bekenntnis wurde so zu einer Demonstration der Einigkeit des Glaubens, bleibendes Zeugnis davon sind der Reformationstag und das Chorgestühl der Schloßkirche. Damit hatte die Wittenberger Kirche eine neue Bedeutung gewonnen, die sie zu Beginn der Restaurierung noch nicht hatte: dieser lag bekanntlich im Lutherjahr 1883, in dem, ausgelöst durch den Kulturkampf, die Spannungen zwischen den Konfessionen noch einmal kulminierten, gegenseitige Beschimpfungen und Verleumdungen an der Tagesordnung waren- erinnert sei nur an "Majunkes Lügen" über den Tod Luthers - und evangelische "Lutherkirchen" oder katholische "Bonifa9 Mit dem Pharos wird auf den berühmtesten Thnn der Antike, den Leuchtturm von Alexandria, angespielt. 10 Dabei wurden die Kosten auf die Fürsten umgelegt. II Wichmann von Meding, Das Wartburgfest im Rahmen des Reformationsjubiläums 1817, in: Zeitschrift für Kirchengschichte 97 (1986) 204 - 236, hier besonders S. 205 ff. zu den einzelnen Festtenninen.

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Abbildung 4: Wittenberg, Schloßkirche, sog. Fürstengestühl, 1898 von Friedrich Adler entworfen (rechte Hälfte), mit Wappen der evangelischen Fürstenhäuser in den Rückenteilen der Sitze. Stilistisch paßt sich das Gestühl dem spätgotischen Bild an, das für die gesamte Restaurierung gefordert worden war.

tiuskirchen" gebaut wurden, die den Kampf der Konfessionen stadtquartierweise propagandistisch auszutragen hatten. Zielgruppe der neuen Wittenberger Glaubensaussage von 1892 waren aber nicht mehr die Katholiken, sondern die Arbeiterschaft. Der Kulturkampf war inzwischen nämlich weitgehend beigelegt worden. Eine neue Gefahr drohte nun, die Soziale Frage. Seit der Reichsgründung 1871 hatten die Städte ein vorher ungeahntes Wachstum erfahren und zur Verelendung der Bevölkerung beigetragen. Gegen die Interessenvertretung der Arbeiter, für die 1869 die Sozialdemokratische Partei gegründet worden war, waren die berüchtigten Sozialistengesetze erlassen worden. Wilhelm II. hatte sie im Februar 1890 aufgehoben, wohl wissend, daß damit die eigentliche Soziale Frage nicht gelöst sei, sondern daß man sie auf anderem Wege lösen müsse. Kirche und Kirchenbau wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert von beiden Konfessionen gegen diese neuen gesellschaftlichen Gefahren aktiviert. Im Fall der Wittenberger Schloßkirche wird das durch die zeitgenössischen Presseberichte ganz offensichtlich. Sogar katholische Tageszeitungen be-

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richteten ausführlich über die Wittenberger Feiern- zehn Jahre vorher wäre das ohne Polemik undenkbar gewesen - und benannten das neue Problem, das es zu bekämpfen galt, sehr deutlich12 . Insofern steht die Schloßkirche also am Anfang eines doppelten Programms: eines Programms herrscherlicher Kirchenbauten mit repräsentativem Charakter und eines sozial geprägten Kirchenbauprogramms. Die Soziale Frage gehörte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sicher zu den drängendsten, trotzdem standen ihr sowohl Kirchenleitung als auch Regierung lange ziemlich hilflos gegenüber. Herrscherliehe 'fugenden, wie sie Prinzen und Prinzessinnen zu erlernen pflegten, halfen aufgrund der Dimension der Not nicht weiter. Karitative Tätigkeiten des Kronprinzenpaares - der spätere Wilhelm II. hatte am 27. Februar 1881 Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustusburg geheiratet - wie die Organisation von Basaren, Festen und Posaunenspendenaktionen wirkten wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Berlin galt gar als die "unkirchlichste Stadt der Welt". In dieser Situation am Ende der 80er Jahre besann man sich darauf, daß die Bevölkerung Berlins zwar sprunghaft gestiegen war, die Stadt aber seit der Reichsgründung praktisch keinen Kirchenbau mehr erhalten hatte. Um die Bevölkerung kirchlich und sozial zu versorgen, brauchte man überschaubare Gemeinden und neuartige Kirchenbauten. Dies machte sich der "Evangelische Kirchenbauverein für Berlin" zum Programm, der 1890 unter Mitwirkung des Kaiserpaares gegründet wurde. Erste Kirche dieses Programms, dem Berlin in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg zahllose Neubauten zu verdanken hatte, war die Erlöserkirche in Rummelsburg, einer armen Berliner Vorstadt, die am 21. Oktober 1892 von Wilhelm II. eingeweiht wurde. 13 Der Berliner Magistrat hatte ein Grundstück zur Verfügung gestellt, zwar zwischen Bahngeleisen und abseits gelegen, aber ungewöhnlich groß. So hatte der Architekt Max Spitta keine Mühe, ein großes Bauprogramm zu verwirklichen. Neben der neogotischen Kirche entstand ein Pfarrhaus und erstmals ein weiteres eigenes Haus mit Kinderkrippe und Volksküche. Das Besondere an diesem Bauprogramm sind die Nebenbauten, die gleichzeitig mit der Kirche entstanden und als ebenso wichtig angesehen wurden, damit einerseits der Geistliche jederzeit bei der Kirche und Gemeinde sein konnte und andererseits der Gemeinde Raum für soziale Aktivitäten und den Ärmsten von ihr, nämlich die, die noch nicht 12 Das Wittenberger Bekenntnis ist z. B. abgedruckt in: Chronik der Christlichen Welt 2, 1892, 424. Katholische Stimmen dazu aus den Tageszeitungen "Germania" und "Kölner Volkszeitung" sind auf den folgenden Seiten abgedruckt. 13 Spitta, Erlöserkirche und Pfarrhaus in Rwnmelsburg, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 14 (1894) 183-185; Die Bau- und Kunstdenkmale in der DDR. Hauptstadt Berlin, Bd. 2. Berlin (DDR) 1987, 207-208. Der Komplex ist relativ gut erhalten.

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einmal über eine Küche verfügten, Räume für die einfachsten Bedürfnisse zur Verfügung standen. Dies war im Kern die Idee des Gruppierten Kirchenbaus, der in den folgenden Jahren intensiv weiterentwickelt wurde und zu interessanten neuen architektonischen Lösungen führte, insbesondere dann, wenn nicht so viel Platz wie in Rummelsburg zur Verfügung stand. 14 ll. Wilhelm ll. Imperator Rex Dei Gratia

Freilich, an Orten, die Wilhelm II. etwas bedeuteten, mußten die Bauwerke und ihre Ausstattung anspruchsvoller ausgeführt werden als in Rummelsburg. Die deutsche evangelische Kirche in Rom, die 1911 begonnen und - kriegsbedingt-erst 1922 fertiggestellt wurde, mag dafür ein gutes Beispiel sein. Der römische Kirchenbau hat eine lange und komplexe Vorgeschichte, in der auch die Entwicklung der evangelischen Gemeinde eine große Rolle spielt. 15 1817 konnte der erste evangelische Gottesdienst in der ewigen Stadt stattfinden, als Jubiläumsfeier des Wittenberger Thesenanschlags von 1517. Dabei wurde bereits der Wunsch geäußert, die nächste Zentenarfeier in einer eigenen Kirche durchführen zu können. Seit 1819 betreuten Gesandtschaftsprediger die langsam wachsende Gemeinde, und zunächst wurde in der Wohnung des preußischen Gesandten Niebuhr ein Raum provisorisch als Kapelle eingerichtet. Es ist der Tatkraft von Niebuhrs Nachfolger, a Wichtigster Vertreter des Gruppierten Kirchenbaus wurde Otto March, dessen programmatische Aufsätze auch gesammelt erschienen: Otto March, Unsere Kirchen und Gruppirter Bau bei Kirchen. Berlin 1896. Zur Entwicklung dieses Phänomens, allerdings in einer anderen Kunstlandschaft, vgl. Wemer Franzen, Auf dem Weg zum Gemeindezentrum. Evangelischer Kirchenbau im Zeitalter der Hochindustrialisierung 1871-1914, in: Dietrich Meyer (Hg.), Kirchliche Kunst im Rheinland, Bd. 2 (Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, Bd. 4). Düsseldorf 1991, 165 - 226. 15 Beide Aspekte, sowohl historisch als auch kunsthistorisch, sind noch nicht genügend untersucht. Zur Geschichte vgl. Ernst Schubert, Geschichte der deutschen evangelischen Gemeinde in Rom 1819 bis 1928. Leipzig 1930; Amold und Doris Esch, Anfänge und Frühgeschichte der deutschen evangelischen Gemeinde in Rom 18191870, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 75 (1995) 366 -426; zur Kunstgeschichte Jü.rgen Krüger, Deutsche Evangelische Kirchen im Ausland -vom einfachen Kapellenbau zur nationalen Selbstdarstellung, in: Klaus Raschzock/Reiner Sörries (Hg.), Geschichte des protestantischen Kirchenbaues. Erlangen 1994, 93 - 100; ders., Rom und Jerusalem (wie Anm. 1), 41- 56; Andreas Puchta, Die deutsche evangelische Kirche in Rom (Studien zur Kunst der Antike und ihrem Nachleben, Bd. 2). Bamberg 1997; Journal für Kunstgeschichte 2 (1998) 77 -79; Jü.rgen Krüger, Evangelisch-lutherische Christuskirche Rom (Kleiner Kunstführer 2397). Regensburg 1999; direkt zum Kirchenbau besonders ders., Wilhelminische Baupolitik im Ausland: Die deutsche evangelische Kirche in Rom, in: Römische Historische Mitteilungen 39 (1996) 375-394.

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Christian Carl Josias Bunsen, zu verdanken, daß schon bald darauf im Palazzo Caffarelli, in der neuen Gesandtschaftsresidenz auf dem Kapitol, ein großer Raum als ständige Kapelle hergerichtet werden konnte. Freilich unterstand sie immer noch dem Gesandtenrecht, war also rechtlich erheblich eingeschränkt, durfte z. B. von außen nicht als solche erkennbar sein. Erst nach dem Ende der Papstherrschaft über Rom, als die Stadt Metropole des Königreichs Italien wurde, wurden nichtkatholische Kulte mit eigenen Bauten zugelassen, eine Situation, die andere Konfessionen sofort ausnutzten, wie z. B. die amerikanischen Episkopalisten, für die George Edmund Street in kürzester Zeit St. Pauls within the Walls an der Via Nazionale errichtete. Der Gedanke zum Bau einer großen deutschen evangelischen Kirche in Rom kam erst später auf, war offenbar noch eine Frucht des schon abklingenden Kulturkampfes. Jedenfalls begannen ab 1890 große Spendensammlungen im Deutschen Reich zugunsten dieses Projektes, während die römische Gemeinde darüber noch geteilter Meinung war. Wilhelm II. hat sich erst in einer späteren Phase- nach der Jahrhundertwende-für diesen Kirchbau interessiert, dann aber auch für eine entsprechende Ausgestaltung des Projekts gesorgt, wie man an der Entwicklung des ständig anspruchsvoller werdenden Projektes deutlich ablesen kann. Zunächst hatte der deutschrömische Architekt Ernst Wille eine erste Skizze angefertigt, jedoch hat der Deutsch-Evangelische Kirchenausschuß das Projekt wegen seiner Prominenz gleich nach Berlin gezogen, wo Richard Schultze, ein in Kirchenbauten erfahrener Architekt, eine Planserie vorlegte16 . WHhelm II., der sich Pläne aller wichtigen Neubauten regelmäßig vorlegen ließ, war mit Entwürfen Schultzes nicht zufrieden und beauftragte nun Franz Schwechten. Dieser entwickelte ein völlig neues Konzept, das schließlichmit weiteren Modifikationen - zur Ausführung gelangte. Wesentliches Ziel des Entwurfes war es, einen "monumentalen" Kirchenbau zu schaffen, der also schon eine große Außenwirkung haben würde. 17 Am Außenbau entfaltet besonders die mächtige, eingiebelige Fassade zwischen dem niedrigen 'furrnpaar eine große Wirkung, die einen viel größeren Kirchbau erwarten läßt (Abb. 5). Mit Architekturzitaten spielt Schwechten hier ziemlich frei: Staufisches, aber auch frühmittelalterliches Formengut tritt an Fenster- und Portalrahmen auf, das Baumaterial des römischen Travertins bindet den Bau in das städtische Ensemble ein. Mit den großen Nischen in der Fassade, die Christus und die Apostelfürsten aufnehmen, verläßt Schwechten den 16 Richard Schultze hatte u. a. kurz vorher die evangelische Kapelle in Madrid erbaut. 17 Monumentalität war ein wichtiges Ziel der Architektur um die und kurz nach der Jahrhundertwende, vgl. etwa die großen Nationaldenkmäler wie Kyffhäuser oder Vdlkerschlachtdenkmal. Gerade bei den wilhelminischen Kirchenbauten wurde auf eine entsprechende Wirkung geachtet.

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Abbildung 5: Rom, Deutsche evangelische Kirche (Franz Schwechten 1911-1922). Durch das Baumaterial, den römischen Travertin, paßt sich die Kirche der römischen Umgebung an. In den Fenster- und Portalformen werden Dekorationselemente der Völkerwanderungs- und der Stauferzeit aufgenommen, hier jedoch noch viel stärker als bei früheren Bauten als dekorative Versatzstücke verwendet. Die drei Nischen über dem Portal, für die dann die Statuen von Christus mit den Apostelfürsten Petrus und Paulus angefertigt wurden, wurden als letztes von Schwechten entworfen. Mit ihnen überwand Schwechten erstmals an einem kaiserlichen Auftragsbau die historistischen Vorgaben und entwickelte moderne Bauformen.

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Abbildung 6: Rom, Deutsche evangelische Kirche, Apsismosaik (Ernst Pfannschmidt). Mit dem Rankenwerk um Mandorla und Maiestas Domini nahm Pfannschmidt auf die berühmtesten römischen Apsiskompositionen Bezug: S. Clemente und S. Maria Maggiore. Wegen der großen kaiserlichen Aufträge war in Berlin eine eigene Glasmosaikanstalt - Puhl und Wagner- gegründet worden, die durch moderne Fertigungsmethoden wesentlich schneller produzieren konnte. Die Mosaiken wurden dort vorgefertigt und an den entsprechenden Wänden oder Gewölben -ähnlich einer Tapete- auf dem vorbereiteten Putz nur noch ausgerollt.

Historismus und wendet sich moderneren Stilrichtungen zu, eine sehr überraschende Eigenheit dieses wilhelminischen Baus18 • Das Innere wird vom Eindruck kostbarer Materialien beherrscht, Marmortäfelungen an den Wänden und Mosaiken auf Goldgrund an den Gewölben. Die figürlichen Darstellungen konzentrieren sich ganz auf die Apsiskalotte und den Triumphbogen. Hier thront der Weltherrscher auf einem Regenbogen in einer Mandorla, der Rest der Kalottenfläche ist mit einem Rankenwerk ausgestattet, das seinen Ursprung direkt unter der Mandorla hat (Abb. 6). Farbwahl- blau I golden- und Rankenkomposition lassen uns die18 Diese gradkantigen Nischen waren als letzte in den Entwurf eingefügt worden. Schwechten lag dieser Punkt besonders am Herzen und arbeitete lange an einer Lösung. Die Mehrkosten für die Statuen wurden von der Landeskunstkommission übernommen.

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ses Mosaik sofort in einer römischen Tradition sehen. Das ist besonders beachtenswert, weil auf diese Weise der Bau als Ganzes trotz seiner mitteleuropäischen Eigenheiten bewußt in der römischen Tradition steht. 19 Zweierlei verdient innerhalb des Entwurfsprozesses hervorgehoben zu werden: Zum einen, so wie Wilhelm II. direkt Einfluß auf die Architektur nahm - ihm wurde auf diesem Gebiet auch von Fachkreisen eine gewisse Kompetenz bescheinigt20 -, hat er auch die Ausgestaltung dieser Kirchen bestimmt. War bei diesem vom evangelischen Deutschland durch Spenden finanzierten Bau eine aufwendige Ausstattung nicht vorgesehen, so wünschte er dies doch, aus Vorliebe zur mittelalterlichen Mosaiktechnik. Die Mehrkosten wurden durch eine großzügige Spende des schlesischen Industriellen Graf Renekel von Donnersmarck gedeckt. Zum anderen bestimmte der Monarch aber auch das figürliche Programm. Hatte Ernst Pfannschmidt eine monumentale Kreuzigung für die Apsis vorgesehen, eine sicher sehr eigenwillige Vorstellung, so wünschte Wilhelm II. den Fantokrator und setzte sich damit auch durch (Abb. 6). 21 Die Pantokrator-Darstellung, mit Vorliebe als Mosaik in die Apsiskalotte gesetzt, war offenbar Wilhelms Lieblingsmotiv. Auch bei der Neuausgestaltung der Klosterkirche von Maria Laach, das wenige Jahre zuvor auf seinen Entscheid hin von Beuroner Benediktinern wieder besiedelt worden war, stiftete er eine solche Apsisdekoration, obwohl die Beuroner in ihrer Kongregation eine Marlendarstellung favorisiert hatten (Abb. 7).22 In diesem Falle hatte Wilhelm II. auch ein konkretes Vorbild benannt, nämlich die Christusbüste in der Klosterkirche von Monreale bei Palermo.23

19 Der Maler Ernst Pfannschrnidt, der häufig mit Schwechten zusammenarbeitete, hatte viele Jahre in Rom verbracht und kannte insofern die römischen Monumente bestens. 20 Wilhelm 11. wird in entsprechenden Künstlerlexika (z. B. Thieme/Becker) behandelt. 21 Pfannschrnidts Entwurf abgebildet bei Krüger, Wilhelminische Baupolitik (wie Anm.15),Abb.17. 22 Harald Siebenmorgen, "Kulturkampfkunst". Das Verhältnis von Peter Lenz und der Beuroner Kunstschule zum Wllhelminischen Staat, in: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3). Berlin 1983, S. 409-430, zu Maria Laach besonders S . 420-426. Wilhelm 11. hatte schon vorher das Hochaltarziborium gestiftet, das von Spitta entworfen wurde (heute demontiert). Der Kaiser hatte besonderes Interesse an dieser Hoheitsform, vgl. seine spätere Publikation: Wilhelm 11., Ursprung und Anwendung des Baldachins. Amsterdam 1939. 23 Wie aus einem Bericht des Abtes vom 24. November 1905 hervorgeht: Berlin, Geheimes Staatsarchiv PK, I. HA, 2.2.1. 23347, f . 73-77. Jegliche Wünsche der Mönche, Details zu verändern (z. B. Cherubim miteinzubeziehen) wurden abgewiesen und die Christusbüste schrittweise dem Vorbild von Monreale immer mehr angeglichen.

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Abbildung 7: Maria Laach, Benediktinerabtei, Apsismosaik (1912). Als Vorbild für Maria Laach hatte Wilhelm II. ausdrücklich das Apsismosaik von Monreale benannt, die Patres hatten ursprünglich eine Marlendarstellung vorgesehen.

Mit den Kathedralen und Klöstern der Normannen auf Sizilien ist eine weitere Gruppe von monumentalen Vorbildern für wilhelminische Projekte benannt, die über die Gruppe der staufischen Monumente hinausweist. Was die eigentliche Wurzel für Wilhelms li. Begeisterung für die Normannen war, ist nicht ganz klar, wir können nur einzelne Spuren verfolgen: Schon in seiner Kindheit beschäftigte er sich besonders gerne mit normannischer Geschichte. In seiner Regierungszeit vertiefte er diese Kenntnisse, indem er seine jährlichen großen Kreuzfahrten vorzugsweise in diesen Gebieten unternahm. Jedes Jahr fuhr er nach Norwegen, in die Heimat der Normannen, und mehrere Reisen führten ihn nach Italien, wobei Süditalien und Sizilien im Mittelpunkt standen. 24 Bei diesen Reisen besuchte er auch Palermo und 24 Birgit Marschall, Reisen und Regieren. Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelms II. Heidelberg 1991. Großen Einfluß, gerade auch bezüglich der Nordlandbegeisterung, hatte Philipp Graf zu Eulenburg auf ihn. Seine Mittelmeerreisen sind bislang nicht in ähnlich gründlicher Weise untersucht worden. Sie begannen normalerweise in Venedig oder Genua. Die wichtigsten Reisen: 1889 Genua - Konstantinopel - Venedig; 1893 Rom; 1896 Genua- Neapel- Palermo- Venedig; 1898 Venedig- Palästina- Venedig; 1903 Rom - Montecassino; 1905 Neapel- Sizilien- Apulien; 1908 Venedig Sizilien- Korfu; 1909 Venedig- Brindisi- Korfu; 1911 Venedig- Korfu; 1912 Venedig

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Umgebung, und wir können aus den später in Auftrag gegebenen Bau- und Kunstwerken erschließen, welche Werke ihn besonders faszinierten: die Cappella Palatina in Palermo und die Klosterkirche von Monreale, und zwar aufgrund ihrer Darstellungen und ikonographischen Zusammenhänge. Außer dem Fantokrator-Mosaik in der Apsis dürfte ein weiteres Mosaik die Aufmerksamkeit des Kaisers gefesselt haben: Das Krönungsmosaik zu Seiten des Hochaltars, in dem gezeigt wird, wie der Normannenkönig WHhelm II. (!)von Gott gekrönt wird. 25 Das Verhältnis des Königs zu Gott, das von Gott selbst eingesetzte Amt des Königs und damit seine besonders herausgehobene Stellung werden hier besonders anschaulich gemacht. Die Stirnseite der Cappella Palatina variiert das Thema nochmals: Unter einem die ganze Wand füllenden Fantokrator in Mosaik zwischen den Apostelfürsten befindet sich der Thron der normannischen Herrscher, der in Cosmatentechnik ausgeführt wurde. 26 Der deutsche Kaiser Wilhelm II. fühlte sich, ähnlich wie die Normannenkönige des 12. Jahrhunderts, und ähnlich wie seine Vorfahren auch nach der Französischen Revolution noch vom Gottesgnadentum durchdrungen, 27 und in den Bildformularen in Palermo und Monreale fand er die adäquate Darstellung seines Gottes- und Herrschaftsverständnisses: Der allmächtige Gott (Pantokrator) und sein eigenes Gottesgnadentum Dei gratia. Seine so definierte Rolle konnte Wilhelm II. am besten in einem eigenen Herrschaftsbezirk entsprechend baukünstlerisch umsetzen, also in einem seiner Schlösser. Das beste, auch anspruchsvollste Beispiel dafür bietet die Kaiserresidenz in Posen, die in den Jahren 1903-1910 wiederum von Franz Schwechten errichtet wurde.28 Die "deutsche Pfalz im Osten"- so die zeitgenössische Bezeichnung - war als Gegenstück zur Aachener Pfalz geplant. Der weitläufige Komplex hat die Kriege gut überlebt, allerdings wurden auf Hitlers Veranlassung einige Teile im Innern umgebaut, darunter ausge-Korfu- Olympia; 1914 Venedig- Korfu; Die Reisen wurden im Kaiserlichen Marinekabinett geplant, in deren Archiv finden sich auch die meisten Unterlagen da2u. 25 Für Abbildungen vgl. zu Monreale, Apsismosaik: Hermann Fillitz, Das Mittelalter I (Propyläen Kunstgeschichte). Berlin 1969, Taf. XXX; zum Krönungsmosaik: Joachim Ott, Krone und Krönung. Mainz 1998, Abb. 253 und S. 85 zur besonderen ikonographischen Stellung der normannischen Mosaiken. 26 Abgebildet z. B. in: Hans-Rudolf Meier, Die normannischen Königspaläste in Palermo (Manuskripte zur Kunstwissenschaft, 42). Worms 1994, Abb. 30. 27 Das Gottesgnadentum ist besonders deutlich bei Friedrich Wilhelm IV. zu spüren gewesen, in seinen Gedanken und Aussprüchen sowie seinen Kunstwerken, aber auch bei Kaiser Wilhelm 1.; vgl. Krüger, Rom und Jerusalem (wie Arun. 1), 122 f ., 173, 175. 28 Zietz, Schwechten (wie Anm. 4), 79 - 80 mit weiterer Literatur und modernen Aufnahmen; grundlegend bleibt die Erstpublikation in: Berliner Architekturwelt 1912, 181-189 wegen ihrer Aufnahmen des Originalzustandes.

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rechnet auch die Schloßkapelle. Die schweren Formen des Äußeren wirken kaum noch als Imitat der Stauferzeit, die nur noch in kleineren Architekturzitaten spürbar wird. Die Schloßkapelle entfaltete eine ganz andere Wirkung: In ihrer achteckigen Gesamtdisposition, die an die Aachener Pfalzkapelle erinnert, wurden als wesentliche Dekorations- und Ausstattungsstükke Elemente der Cappella Palatina und von Monreale übernommen, und zwar offenbar in ihrer Materialbeschaffenheit-Mosaik und Cosmatenarbeit - und ihrer Ikonographie (Abb. 8). Auf den wenigen Fotografien, die uns

Abbildung 8: Posen, Kaiserresidenz, Schloßkapelle. Die "deutsche pfalz im Osten", wie sie als Gegenstück zur Aachener pfalz genannt wurde, nahm im Äußeren wieder staufisehe Bauformen auf, die allerdings aufgrund der riesigen Bawnasse nicht mehr so stark wahrgenommen wurden. Die Schloßkapelle dagegen ist italienischen Vorbildern verpflichtet: eine Mischung aus römischer Cosmatenarbeit (Fußboden, Kanzel, Thron) und normannisch-byzantinischen Mosaiken.

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den Raum überliefern, sind Fantokrator und Thron sowie ihre Abhängigkeit vom sizilianischen Vorbild gut zu erkennen. Die Posener Schloßkapelle, die einzige für Wilhelm II. gebaute, ist damit der wichtigste, leider verlorene Zeuge für die Visualisierung des Dei gratia-Gedankens des letzten Hohenzollern-Kaisers.

m. Imitatio Constantini Im Gegensatz zur PosenerSchloßkapelle ist die Hornburger Erlöserkirche vorzüglich erhalten. Außerdem hat sie in jüngster Zeit eine behutsame Restaurierung erfahren. In mancher Hinsicht der Posener Kapelle vergleichbar, können wir einige Gemeinsamkeiten feststellen: die Diskrepanz zwischen Außen- und Innenbau und die Fantokrator-Darstellung in der Apsis zum Beispiel. Daneben aber gibt es auch Unterschiede. Der Innenraum der Hornburger Kirche wirkt stärker byzantinisch, und er verzichtet auf die italischen Stilelemente. Tatsächlich finden wir in diesem Innenraum wieder neue Aspekte des Herrschafts- und Sakralitätsverständnisses von Wilhelm II. visualisiert.

Mit kostbaren, fein geäderten Marmorplatten verkleidete Wände erinnern an Innenräume byzantinischer Kirchen wie San Vitale in Ravenna oder Bauten Konstantinopels selbst (Abb. 3). Die Gewölbe mit ihren großen goldenen Mosaikflächen zeigen keine figürliche Darstellungen und bieten daher wenig Anknüpfungspunkte für eine Interpretation. Lediglich der schon genannte Fantokrator blickt aus der Apsis herab, und vier elegante Engelsgestalten schmücken die Pendentifs der Kuppel. Den Schlüssel zur Interpretation der Ausstattung bildet der große Leuchter, der aus der Kuppel herabhängt (Abb. 9). Materiell nicht besonders wertvoll - eine Eisenkonstruktion - bilden seine sechs gleichlangen Arme, die mit Glühbirnen besetzt sind, ein dreidimensionales griechisches Kreuz. Wenn der Kreuzleuchter angeschaltet ist, erstrahlt der ganze Raum, und die Goldmosaiken entfalten ihre Wirkung. Ein Lichtkreuz am Himmel, das ist Konstantins Vision, die wir hier nacherleben können. Bevor Konstantin der Große in die Schlacht an der Milvischen Brücke nördlich Rom zog, sah er ein Kreuz am Himmel; daraufhin befahl er, die erste christliche Standarte anzufertigen, und es wurde die erste Schlacht im Namen Christi geschlagen, erfolgreich für Konstantin, der damit seinen Mitkaiser Maxentius besiegte und anschließend im Mailänder Edikt das Christentum legalisieren konnte. So berichten uns Eusebius und andere antike Schriftsteller mit weitgehender Übereinstimmung.29 Der römische Kaiser Konstantin war ein weiteres Vorbild für Wil-

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helm II, was sowohl künstlerisch als auch ideologisch seinen Niederschlag finden sollte. Dieser Aspekt soll hier als letzter dargestellt werden. Die Bestimmung des Hornburger Kreuzleuchters ist quellenmäßig nicht belegt. Freilich, auch in der quellenreichen Neuzeit und Moderne entzieht sich manche Deutung der scheinbar objektiven, schriftlichen Absicherung, da weder Künstler noch Auftraggeber all ihre Gedanken bei der Gestaltung eines Kunstwerkes in schriftlicher Form preisgeben. So bleibt auch hier nur die Suche nach einer Interpretation, die in einem Kontext einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen kann. Der Schlüssel zur Bestimmung des Hornburger Kreuzleuchters liegt zunächst in seiner klaren Form und Funktion. Sucht man sodann nach einem Vorbild, findet man ein einziges: den Kreuzleuchter, der in der Eingangskuppel der Markuskirche in Venedig hängt (Abb. 10).30 Dieses Exemplar, aus Bronze gefertigt, mehrere Meter hoch, bildet nach wie vor ein Rätsel in der San Marco-Forschung, da sein Alter nicht genau bekannt ist. Heute gilt seine Entstehung im 13. oder 14. Jahrhundert als wahrscheinlich. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch galt der Leuchter als ein byzantinisches Stück, das mit dem 4. Kreuzzug aus Konstantinopel nach Venedig gelangt sei und aus der Hagia Sophia stamme. 31 Konstantinopel als von Konstantin gegründete Stadt, zugleich in früher Zeit als Hort der meisten Bruchstücke des Kreuzes Christi, damit erhält der Kreuzleuchter als Symbol der Kreuzesvision ein neues Gewicht und größere Wahrscheinlichkeit, gerade in den Augen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kreuzesvision und Schlacht an der Milvischen Brücke entbehrten zudem in jenen Jahren nicht einer gewissen Aktualität. Im Jahr 1912 beging man feierlich den 1600. Jahrestag der Schlacht, stellte es doch ein markantes 29 Konstantins Vita und Vision haben eine reiche Literatur hervorgebracht, vgl. als neue Zugänge dazu den Artikel von Stuart George Hall, Konstantin 1., in: TRE 19, S. 489-500 und zur Kreuzesvision Michael di Majo Jr. u. a ., The Caeleste Signum Dei of Constantine the Great, in: Byzantion 58 (1988) 333-360, jeweils mit ausführlichen Literaturhinweisen. 30 Da die Literatur zu San Marco sich auf bestimmte Denkmälergruppen konzentriert, ist der Leuchter praktisch nie abgebildet und behandelt. Alte Literatur: Ongania, I.:Augustale Basilica di S. Marco, Venedig 1888, Taf. Z.a.1 (ohne Kommentar); Victor H. Elbern, Per figuram crucis, in: Festschrift für Klaus Wessel. München 1988, 95 - 102, als einzige moderne Literatur dazu. Die Festschrift zur Einweihung der Hornburger Kirche erwähnt ebenfalls das venezianische Stück als ikonographisches Vorbild; Die Einweihung der Erlöserkirche in Hornburg vor der Höhe am Sonntage Cantate den 17. Mai 1908. Berlin o.J. (1908), 50. 31 So Eugenios M. Antoniades, St. Sophia, Constantinople, in: Knowledge 26 (1903) 27-30, 49 - 52, 88-91, 102-104, der in einer Innenansicht der Hagia Sophia den venezianischen Kreuzleuchter einzeichnet.

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Abbildung 9: Bad Hornburg v. d. H., Erlöserkirche, Kreuzleuchter. Das Eisengestell ist mit zahlreichen Glühbirnen bestückt. Der Kreuzleuchter hängt genau in der Mitte der Kuppel herab.

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Abbildung 10: Venedig, San Marco, Kreuzleuchter. Der Kreuzleuchter, der aus der westlichen Kuppel herabhängt, hat -mit der ajour gearbeiteten Kugel darüber, ungefähr eine Höhe von vier Metern. An den Annen sind rote Glasgefäße mit Kerzen befestigt (früher bunte Glasgefäße).

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Datum in der Geschichte des Christentums dar. 32 Eine typische Form des Gedenkens im 19. Jahrhundert war die der Gedächtnis-Kirche,33 , so auch hier: Papst Pius X. stiftete nahe des Ortes der Schlacht die Kirche S. Croce al Flaminio. 34 Wilhelm II. dagegen dachte mehr an die Kreuzesvision und die unmittelbare Folge, nämlich das von Konstantin in Auftrag gegebene Feldzeichen für die Schlacht, das sogenannte Labarum. 35 Weil es auf göttliche Eingebung hin angefertigt wurde, versinnbildlicht es auf eindringliche Weise den göttlichen Hintergrund der Herrschaft Konstantins und seiner christlichen Nachfolger. Die Standarte wurde für lange Zeit im Kaiserpalast von Konstantinopel aufbewahrt und diente als Vorbild für byzantinische Feldzeichen, die, mit Kreuzpartikeln des inzwischen von Helena gefundenen Kreuzes versehen, Vision und Reliquien miteinander verbanden. Die Kenntnis vom genauen Aussehen des Labarum freilich war verloren gegangen. Das 19. Jahrhundert hatte mit massiver Kritik am Visonsbericht des Eusebius eingesetzt, so daß auch dem Labarum jeder tiefere Sinn abgesprochen wurde. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts wendete sich die Forschungssituation und wurde die Überlieferung wieder ernst genommen, so daß verschiedene Versuche zu einer Rekonstruktion des Labarum unternommen wurden. 36 Vielleicht der anspruchsvollste Versuch wurde von WHhelm II. veranlaßt, der den Christlichen Archäologen Joseph Wilpert dafür gewann. Wilpert hatte vom Kaiser schon mehrfach Hilfe für seine wissenschaftlichen Unternehmungen erhalten, so für sein monumentales Werk über die römischen Wandmalereien und Mosaiken. Nach philologischen Vorarbeiten an den Quelltexten wurden schließlich zwei Exemplare des Labarum in Auftrag gegeben, bei den Mönchen von Maria Laach und den Benediktinerinnen der Abtei St. Hildegard bei Rüdesheim, wobei das erste 32 Die Feiern wurden mit jenen zum Jubiläum des Mailänder 'Ibleranzedikts kombiniert und dafür ein Komitee eingesetzt: Consiglio superiore per i festeggiamenti del XVI centenario della pace della Chiesa, in: Civilta Cattolica 63 (1912) vol. 1, S . 3-21. 33 Harold Hammer-Schenk, Artikel Denkmalkirchen, Votivkirchen, Gedächtniskirchen, in: TRE 18, S. 510-512; Jü.rgen Krü.ger, Die Erlöserkirche- eine protestantische Gedächtniskirehe, in: Dem Erlöser der Welt zur Ehre. Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum der Einweihung der evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem. Leipzig 1998, 163-182. 34 Giulio und Mario Bosio, S. Croce al Flaminio (Le Chiese di Roma illustrate, 86). Roma 1965. 35 Die sprachliche Herkunft dieses Wortes ist nach wie vor ungeklärt. Seit dem 4. Jahrhundert ist es ein Synonym für das konstantinische Feldzeichen geworden; Rudoll Egger, Das Labarum. Die Kaiserstandarte der Spätantike (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse 234, 1. Abh.), Wien 1960, ferner Gerhard Wirth, Art. Labarum, in: LMA 3, S. 1600. 36 Auftraggeber für diese Unternehmungen waren z. B. der in Italien noch aktive Konstantinsorden sowie der Marianist Maurice; vgl. Krü.ger, Rom und Jerusalem (wie Anm. 1) 232 f.

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Exemplar für Wilhelm II. selbst bestimmt war, das zweite aber für den Papst (Abb. 11)! 37 Nach Klärung der diplomatischen Verhältnisse wurde ihm das Labarum im Sommer 1914 überreicht. Heute wird das päpstliche Exemplar - eine schöne Fügung - eben in der Kirche S. Croce al F1aminio aufbewahrt. 38 Mit dem kaiserlichen Geschenk an den Bischof von Rom erinnerte Wilhelm II. nicht nur allgemein an das Bündnis von Thron und Altar, sondern in einer ganz spezifischen Form an die Anfänge ehendieses Bündnisses, das durch Konstantin grundgelegt wurde. Welche Bedeutung er gerade dem Kreuzzeichen beimaß, erhellt auch aus einer der wenigen Zeichnungen, die von Wilhelm II. erhalten geblieben sind: Auf einem kleinformatigen Zettel hatte der Monarch verschiedene Kreuzformen skizziert, wobei dem Labarum und einem konstantinischen Schild mit Kreuzzeichen besonders viel Platz eingeräumt wird (Abb. 12). Ist das erhaltene Blatt auch erst im Jahre 1919 entstanden, so muß es doch eine frühere Version gegeben haben. Bereits im Jahr 1904 war ein solches Blatt nämlich im Hohenzollernmuseum in Berlin ausgestellt. 39 Gleich im Eingangsraum der Öffentlichkeit präsentiert, kommt dieser Zeichnung damit Programmcharakter zu. Der Hornburger Kreuzleuchter, das Labarum und die eigenhändige Zeichnung der Kreuze weisen uns zu einem Wilhelm II., der den Spuren Konstantins folgt, und diese Spuren verdichten sich noch mehr, wenn wir ihnen ins Heilige Land folgen. Mitten in der Altstadt von Jerusalem, umgeben von Basarstraßen, liegt die Grabeskirche, wo Martyriumsort und Grabstätte Christi verehrt werden. Der erste Kirchenbau wurde von Konstantin in Auftrag gegeben, doch später vielfach verändert. Mit der Kreuzfahrerzeit wurde diese ehrwürdige Stätte ein Spielball verschiedener christlicher Denominationen: Griechen und Lateiner, Armenier und Kopten stritten um den Besitz der heiligen Stätte- genauso an anderen Orten in Palästina-, so daß der Kirchenbau als Spiegelbild einer zerrissenen Christenheit angesehen werden kann, gerade im Gegensatz zum Tempelberg, auf dem die El-Aksa-Moschee und der Felsendom in ihrer baulichen und dekorativen Würde dem Islam ein glänzendes Zeugnis ablegen. 40 37 Joseph Wilpert, Vision und Labarum Konstantins d. Gr. im Licht der Geschichte und Archäologie, in: Fünf Vorträge von der Generalversammlung (der Görres-Gesellschaft) zu Aschaffenburg (Vereinsschriften 1913, 3). Köln 1913, 5-17. 38 Der Aufbewahrungsort des Stückes Wilhelms li. ist nicht bekannt, womöglich im Zweiten Weltkrieg zerstört. 39 Paul Seidel (Hg.), Führer durch das Hohenzollernmuseum. Neue Ausgabe. Berlin 1904, 2. In früheren Auflagen wird das Blatt nicht erwähnt, was freilich eine wesentlich frühere Entstehung des Blattes nicht definitiv widerlegt. 40 Die Grabeskirche ist nach wie vor schlecht publiziert; für einen Überblick mag es genügen, auf Reiseliteratur hinzuweisen: Erhard Gorys, Heiliges Land. Köln 1996, 95 - 104.

17 FBPG - NF, Beiheft 5

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Abbildung 11: Das Labarum, die Standarte Konstantins des Großen bei der Schlacht an der Milvischen Brücke. Joseph Wilpert lieferte die wissenschaftliche Grundlage für die Rekonstruktion, die von Nonnen in St. Hildegard bei Rüdesheim ausgeführt wurde. Diese Nachfertigung, ein Geschenk Wilhelrns ll. an den Papst zur Erinnerung an den 1600. Jahrestag der Schlacht, wird heute in der Kirche S. Croce al Flaminio, aus gleichem Anlaß errichtet, aufbewahrt.

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Abbildung 12: Wilhelm II., Zeichnung mit Kreuzzeichen, datiert 6. Mai 1919 (Hechingen, Burg Hohenzollern, Hausarchiv). Wilhelm li. interessierte sich besonders stark für die Entwicklungsgeschichte des Kreuzes, die er auf diesem Papier in einigen wesentlichen Etappen festhielt Besonders wichtig waren ihm vorgeschichtliche und germanische Fbrmen und vor allem die Verwendung durch Konstantin in Labarum und Legionärsschild. 17*

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Als sich im 19. Jahrhundert die europäischen Mächte nach jahrhundertelangem Desinteresse wieder für das Heilige Land und Jerusalem interessierten, wollten sie auch mit eigenen Kirchen am Ursprungsort des Christentums vertreten sein. Rußland gelang es sogar, ein Grundstück im Areal der konstantinischen Basilika zu erwerben und damit gewissermaßen Anteil an der Grabeskirche zu erhaltenY Aber auch das protestantische Preußen drängte nach Jerusalem. 42 Vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. gingen sogar wesentliche Impulse für diese Bewegung aus, als er zusammen mit der anglikanischen Kirche im Jahr 1841 ein englisch-preußisches Bistum in Jerusalem gründete43 • Eine Kapelle wurde bald darauf nahe der Zitadelle eingeweiht, doch war die supranationale Konstruktion des Bistums im Zeitalter des Nationalismus auf Dauer nicht haltbar. Dieser Situation und dem Willen, einen eigenen Kirchenbau zu besitzen, verdankt letztlich die evangelische Erlöserkirche unmittelbar neben der Grabeskirche ihr Entstehen. 44 Bereits Anfang der 1870er Jahre von Friedrich Adler geplant, wurde der Kirchbau erst 20 Jahre später von Wilhelm II. energisch vorangetrieben. Verschiedene Baugedanken überlagern sich in diesem Projekt, das heißt sie bauen aufeinander auf und erweitern die Bedeutung, die dem Kirchenbau zugemessen wurde. Geplant war zunächst, und das wurde in dem Bau Friedrich Adlers auch verwirklicht, die Wiederherstellung der mittelalterlichen Kirche S. Maria Latina, der Hauptkirche des sich hier einst befindenden Johanniterhospizes. Das entsprach der Idee Friedrich Wilhelms IV., der den protestantischen Zweig dieses Ordens 1852 wiederbegründet hatte, historische Gebäude für alte Zwecke wieder in diesen alten Formen herzurichten. 45 1869 gelangte Preußen endlich in den Besitz des Ruinengeländes, worauf Fri.edrich Adler sofort seine Bauuntersuchungen anstellte und einen Plan entwarf. 46 Als Wilhelm II. 1893 endlich das Projekt wieder aufgriff, sah er andere Zusammenhänge: Erst war die Wittenberger Schloßkirche restauriert worden, nun sollte die Jerusalemer 41

Yeshoshua Ben-Arieh, Jerusalem in the 19th century - the Old City. Jerusalem

1984, 237-238.

42 Heinz Gollwitzer, Deutsche Palästinafahrten des 19. Jh. als Glaubens- und Bildungserlebnis, in: Festschrift Walter Goetz. Marburg 1948, 286-324. 43 Christiane Schütz, Preußen in Jerusalem (1800-1861). Karl Friedrich Schinkels Entwurf der Grabeskirche und die Jerusalempläne Friedrich Wilhelms IV. (Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Beiheft 19). Berlin 1988; Martin Lückhoff, Anglikaner und Protestanten im Heiligen Land. Das gemeinsame Bistum Jerusalem (Abhandlungen des Deutschen Palästina-Vereins 24). Wiesbaden 1998. 44 Die komplizierte Entstehungsgeschichte kann hier nur skizziert werden, ausführlich bei Krüger, Rom und Jerusalem (wie Anm. 1), 57-108. 45 Krüger, Rom und Jerusalem (wie Anm. 1}, 130-132 und passim. 46 Peter Lemburg, Leben und Werk des gelehrten Berliner Architekten Friedrich Adler (1827 -1908}. Berlin FU Diss. phil. 1989 (Mikrofiche), 72 ff.

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Kirche folgen, für die das gleiche Architektenteam verantwortlich war. 47 Noch klarer wird die Verbindung durch die Zeremonialdaten. Wie die Wittenberger Kirche sollte die Kirche in Jerusalem am Reformationstag eingeweiht werden. Wie in Wittenberg wurde die Einweihung eine Demonstration evangelischer Einheit, diesmal allerdings im Gegensatz zu und vor dem Hintergrund der zerstrittenen Christenheit, wie es in der Grabeskirche gegenüber täglich erlebbar war. 48 Wilhelm II. hat die Pläne Adlers, die sein Vater Friedrich III. -noch als Kronprinz- schon gebilligt hatte, jedoch wiederum nicht unverändert übernommen.49 Insbesondere bei der Ausstattung hatte der Kaiser weitere Wünsche; als wichtigstes wünschte er "in der Halbkuppel der Hauptapsis ein Christusbild in halber Figur in Mosaik" ,50 eine Christusbüste nach dem Vorbild der Laterankirche in Rom (Abb. 14).51 Damit verwies er aber wieder auf Konstantin, der die Laterankirche für den Bischof von Rom erbaut hatte. Eine deutsche evangelische Kirche in Jerusalem zu haben, das entsprach der gängigen Praxis der damaligen Zeit, in Auslandsgemeinden für Landsleute Sorge zu tragen. 52 Statt einer Kirche ist es aber vor allem auf den Wunsch des Kaiserhauses zurückzuführen, daß in der Region JerusalemBethlehem sogar drei evangelische Kirchen gebaut wurden. Dies ist mit Bedürfnissen der Seelsorge nicht zu erklären, sondern wieder nur mit Konstantin: wie sein Vorbild ließ Wilhelrn II. Kirchen an den drei Stätten errichten, die an Geburt, Tod und Himmelfahrt Jesu Christi erinnern, auf diese Weise die irdischen Stationen, die im Glaubensbekenntnis genannt werden, in monumentale Gedächtnisorte verwandelnd. 53 Das beotnt auch Treu, Reformation (wie Anm. 8). Dies machte Wilhelm li. in seiner Ansprache in der evangelischen Weihnachtsltirche in Bethlehem deutlich; die Rede auszugsweise abgedruckt in: Reichsbote vom 6. 12. 1898; zum Zusammenhang der Kaiserreise vgl. weiter unten. 49 Hartnäckig hält sich das On-dit, daß Wilhelm li. den Turm selbst entworfen habe. Weder hat er ihn entworfen noch stammt das Vorbild aus Tivoli, vgl. dazu Krüger, Rom und Jerusalem (wie Anm. 1), 95 f. 50 Bei der Audienz am 28. Mai 1896 festgelegt; genauer Nachweis bei Krüger, Rom und Jerusalem (wie Anm. 1), 96. 51 Rainer Warland, Das Brustbild Christi (Römische Quartalschrift, Suppl. 41). Freiburg 1986. 52 Vgl. dazu- katholischer- wie evangelischerseits- entsprechende Literatur, die in jenen Jahren reichlich erschienen ist, z. B. die Zeitschrift Deutsch-Evangelisch im Ausland; Beda Kleinschmidt, Auslanddeutschtum und Kirche. Handbuch. 2 Bände. München 1930; für unser Thema ergiebig Ernst Schubert, Die Fürsorge der Hohenzollern für die evangelische Diaspora, in: Auslanddeutschtum und Evangelische Kirche. Jahrbuch 1935; betr. Bauwerken vgl. Krüger, Deutsche evangelische Kirchen im Ausland (wie Anm. 15). 47 48

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Abbildung 13: Jerusalem, Areal der Grabeskirche (Bildmitte) mit der Erlöserkirche (mit mächtigem 'furm, darüber). Die Grabeskirche ist rings von Basarstraßen umgeben, so daß sie in der Stadt kaum wahrgenommen werden kann. Auf dem Gelände südlich der Grabeskirche (im Bild darüber) befand sich im Mittelalter das riesige Johanniterhospiz, allgemein als "Muristan" bekannt. Im 19. Jahrhundert bildete der Muristan den größten Ruinenkomplex in der Jerusalemer Altstadt. Auf dem größten Teil wurde dann ein griechischer Basar erbaut (im Bild rechts oben), während sich Preußen das südliche Drittel sichern konnte (im Bild oben), um darauf die ehemalige Johanniterkirche S. Maria Latina wiederaufzubauen. Wilhelm II. weihte die Kirche am 31. Oktober 1898 persönlich ein.

53 So erwogen von John Wilkinson, Christian Pilgrims during the Byzantine Period, in: Palestine Exploration Quarterly 108 (1976) 75-101, hier 82. Die evangelische Kirche in Bethlehem war bereits 1893 eingeweiht worden. Auf dem Ölberg entstand die Himmelfahrtskirche, ungefähr gleichzeitig mit der katholischen Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg, für die Wilhelm II. das Grundstück gegeben hat. Diese beiden Kirchen wurden im April 1910 gleichzeitig eingeweiht und entsprachen auf diese Weise dem Wunsch Wilhelms II., ein Monarch für alle Deutschen zu sein, damit also auch zur Versöhnung der Konfessionen beizutragen.

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Abbildung 14: Jerusalem, Erlöserki.rche, Apsis (um 1970). Wilhelm II. hatte für die Apsis der Erlöserkirche eine Christusbüste in Mosaik gewünscht, das gleiche Motiv wie in der Laterankirche in Rom. Die umgebende Apsiskalotte wurde lediglich ausgemalt. Bei der letzten Restaurierung durch den Berliner Architekten E. W. Krueger 1970 wurden sämtliche Malereien entfernt, lediglich das Mosaik blieb übrig (Fbto E. W. Krueger, ca. 1970, das sich heute im Besitz von Chana Schütz, Berlin, befindet, der ich für die Überlassung sehr danke).

Gerade die Bauten im heiligen Land lagen Wilhelm li. besonders am Herzen. Mit ihnen wurde ein kirchenpolitisches Bauprogramm nicht nur des evangelischen Deutschland abgeschlossen, sondern auch und noch mehr die Glaubensvorstellungen des Kaisers in monumentale Fbrm gegossen. Am deutlichsten wird dies durch die Reise, die der Kaiser zur Einweihung der Erlöserkirche nach Palästina und in den Nahen Osten im Herbst 1898 unternommen hat.54 Seit Jahrhunderten war erstmals wieder ein Staatsoberhaupt in dieser Region, entsprechend erregte die Reise auch international Aufmerksamkeit. 54 Die Kaiserreise von 1898 hatte ein lebhaftes Echo ausgelöst und auch publizistisch entsprechenden Niederschlag gefunden. Als zeitgenössische, offiziöse Dokumentation ist zu benutzen: Das deutsche Kaiserpaar im Heiligen Lande im Herbst 1898. Berlin 1899; an neuerer Literatur vgl. besonders Horst Gründer, Die Kaiserfahrt Wilhelms II. ins ffi. Land 1898, in: Weltpolitik - Europagedanken - Regionalismus. Festschrüt Gollwitzer. Münster 1982, 363-388.

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Wilhelms II. Vorstellungen vom Kirchenbau werden also von verschiedenen Quellen gespeist. Er nutzte Kirche und Kirchenbau als Mittel gegen die aktuelle Soziale Frage, ein Unterfangen, was letztlich in dieser Form scheitern mußte. Die von ihm persönlich geprägten Kirchenbauten allerdings dienten in vielfältiger Weise seiner Staatsidee. Er fühlte sich von Gott eingesetzt und als solcher verantwortlich für seine Untertanen. Das Gottesgnadentum äußerte sich künstlerisch in den Pantokratordarstellungen der Apsiden, die wiederum konform mit den Namen der Kirchen gingen: Immer handelte es sich um Erlöserkirchen (Salvatorkirchen im lateinischen Sprachgebrauch), eine für evangelische Kirchen ungewöhnliche Bezeichnung. Er sah das Kaiseramt nicht nur als Fortsetzung des mittelalterlichen Amtes, sondern führte es bis auf seine christliche Wurzel zurück: auf Konstantin, der für die christliche Ära das System von Thron und Altar begründet hatte. Aufgrund der vielfältigen Aufgaben konnten seine Kirchenbauten nicht einem einzigen Stil verpflichtet sein. Restaurierungen erforderten romanische (Jerusalem) oder spätgotische Stillagen (Wittenberg), das Gottesgnadentum ließ sich arn besten byzantinisch-normannisch darstellen und die kaiserliche Macht staufisch. Es ergibt sich auf diese Weise ein komplexes Bild, das nicht mehr stilrein sein kann, sondern künstlerische Aufgaben an verschiedene herrscherliehe Vorgaben bindet, insgesamt aber impliziert, Kunst in den Dienst der Staatsidee zu stellen. 55 Abbildungsnachweis Gabi Fichera, Rom: 5, 6 Ernst W: Krueger, Berlin: 14 Jürgen Krüger, Karlsruhe: 1, 3, 9, 10, 12 Fbto Stolze, Wittenberg: 4 Postkarte: 7 Karlsruhe, Universitätsbibliothek: 2 Rom, Bibliotheca Hertziana: 11

Reproduktionen au.s Büchem: Berliner Architekturwelt 1912: 8 Francis E. Peters: Jerusalem; Princeton 1985: 13

55 So der programmatische Titel des Buches von Georg Malkowsky, Die Kunst im Dienst der Staatsidee. Berlin o.J. [1912], der sein Material aus der preußischen Geschichte bezieht, aber Kirchen nicht einbezieht.

Religionsunterricht: Stütze für König und Vaterland, Waffe gegen den Umsturz Von Walter Eykmann Im 19. Jahrhundert begann in Deutschland der Siegeszug des naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittes; Erfahrungwissenschaften und praktische Technik schufen den modernen Industriestaat1 . Er war individualistisch geprägt und der Nationalstaat sein Signum. Alle äußeren Voraussetzungen des menschlichen Daseins wurden in ungeahnter Weise revolutioniert. Am Ende des Jahrhunderts gilt nur noch das praktisch Verwertbare, das Nützliche. Aber auch dies: Das Menschenzeitalter brachte den Massen ein erträglicheres Leben und die Teilhabe an den Gütern der Kultur. Das Wunderwerk der modernen Technik verstärkte die Säkularisierung und schwächte die vitalen Kräfte der Religion - zuerst in protestantischen Regionen und in den Städten, später überall. Nur ein paar Zahlen als Hinweise: In den ersten 25 Jahren der Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. (1888 bis 1913) wuchs die Bevölkerung Preußens von 30 Millionen (1890) auf über 40 Millionen 1910. Die Bevölkerung des Deutschen Reiches stieg von 49,5 auf 65 Millionen. Die Lebenserwartung erhöhte sich; die mittlere Lebensdauer nahm um mehr als ein Viertel zwischen 1871 und 1910 zu; bei den Männern von 35,6 auf 44,8 Jahre, bei den Frauen von 38,4 auf 48,3. Anders formuliert: Preußen stellte gut 60% Deutschlands, sein Gewicht war übermächtig, wenn auch nur in einzelnen Bereichen.2

Der Protestantismus befand sich bereits seit der Mitte des Jahrhunderts in einer schweren Glaubenskrise. Die evangelischen Landeskirchen hatten mit einer immer stärker um sich greifenden Unkirchlichkeit zu kämpfen, welche allmählich auch die ländlichen Regionen ergriff. "Kulturveräußerlichung und Kulturseligkeit war die fast unvermeidliche Folge des neuen I F. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 3: Erfahrungswissenschaften und Technik, Freiburg/Br. 1934; dtv Taschenbuch, Nachdruck, München 1987; Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 3 1999. 2 S. Körtel F. W. v. Loebell (Hg.), Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., 4 Bde., Berlin 1914; hier Bd. 2, 570 ff.

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wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Herrschaft des Erwerbsgedankens, des Geldes und der Technik hat im Verein mit dem Luxus und der gesteigerten Genußsucht eine wirkliche Laxheit und religiöse Gleichgültigkeit erzeugt, welche, je länger je mehr, besonders in den Kreisen des schnell reich gewordenen Bürgertums, zu nahezu völliger Entwöhnung vom Kirchenbesuch geführt hat. " 3 Die Gründe dafür lagen außerhalb und innerhalb der Kirche: Der als modern geltende religiöse Subjektivismus und Individualismus, die voranschreitende Aufklärung bis hin zum theoretischen Materialismus und Monismus, die Fluktuation der Bevölkerung mit allihren sozialethischen Folgen, der wachsende praktische Materialismus, die antikirchliche Agitation und die Erziehungspraxis der sozialistischen Parteien schwächten allesamt die kirchliche Praxis und die bereitwillige Akzeptanz der christlichen Lehre. Ein Zeitgenosse Wilhelms II. konstatierte: "Die evangelischen Landeskirchen haben mit wenigen Ausnahmen faktisch aufgehört, Bekenntniskirchen zu sein." Ein heftiger Kampf um die "Grundwahrheiten des Christentums" herrsche unter den Protestanten, "der Streit greift tief ins kirchliche Leben insgesamt, tobt in den theologischen Fakultäten, kirchlichen Synoden, Presbyterien und Kirchenvorständen, bei Kirchen- und Pfarrwahlen, Professorenberufungen und kirchenregimentliehen Besetzungen. Die Erregung pflanzt sich fort bis in die kommunalen und politischen Körperschaften, die parlamentarischen Parteien und beeinflusst die Gesetzgebung. Die Schule mit ihren Erziehungsfragen, vor allem der Religionsunterricht, ist in heftigste Mitleidenschaft gezogen. " 4 Während der Regierungszeit Wilhelms II. hat sich die evangelische Glaubens- und Erkenntniseinheit, auf der die Bekenntniskirchen in ihrer historischen Gestalt beruhten, vollständig aufgelöst. Das war vor allem eine Folge der sich wissenschaftlich vertiefenden Theologie. Für einen calvinistisch erzogenen, kindlich-gläubigen, untheoretisch denkenden Regenten wie WHhelm II. bedeutete diese Ausgangsposition eine starke Belastungsprobe. I.

Dass der Staat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein "Schulstaat" geworden war, hatte der Kulturkampf im Deutschen Reich und vor allem in Preußen exemplarisch gezeigt. Die Schule war ein wesentlicher Teil der politisch-sozialen wie der kulturell-moralischen Ordnung. In diesen Zusammenhang gehört die bekannte "Allerhöchste Ordre" Wilhelms II. 3 Hunzinger, Die evangelische Kirche und Theologie, (in: Anm. 2), hier: 976. Hunzinger war in Theologie und Philosophie promoviert, Professor und Hauptpastor an St. Michaelis in Hamburg. 4 Ebd., 982.

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vom 1. Mai 1889 an das preußische Staatsministerium, die als Grundlage einer Schulreform dienen sollte: "Schon längere Zeit hat Mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben. Aber Ich kann Mich der Erkenntniß nicht verschließen, dass in einer Zeit, in welcher die sozialdemokratischen Irrthümer und Entstellungen mit vermehrtem Eifer verbreitet werden, die Schule zur Förderung der Erkenntniß dessen, was wahr, was wirklich und was in der Welt möglich ist, erhöhte Anstrengungen zu machen hat. Sie muss bestrebt sein, schon der Jugend die Ueberzeugung zu verschaffen, dass die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern in Wirklichkeit unausführbar und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich sind. Sie muss die neue und die neueste Zeitgeschichte mehr als bisher in den Kreis der Unterrichtsgegenstände ziehen und nachweisen, dass die Staatsgewalt allein dem Einzelnen seine Familie, seine Freiheit, seine Rechte schützen kann, und der Jugend zum Bewusstsein bringen, wie Preußens Könige bemüht gewesen sind, in fortschreitender Entwicklung die Lebensbedingungen der Arbeiter zu heben, von den gesetzlichen Reformen Friedrich des Großen und von Aufhebung der Leibeigenschaft an bis heut. Sie muss ferner durch statistische Thatsachen nachweisen, wie wesentlich und wie konstant in diesem Jahrhundert die Lohn- und Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen unter diesem monarchischen Schutze sich verbessert haben." 5 Die Sozialistengesetze, schon zweimal erneuert, hatten sich als ungeeignet erwiesen, die Sozialgesetzgebung war noch nicht erprobt, - da konnte und durfte die Schule keineswegs zurückstehen im Kampf für die Monarchie, für die bürgerliche Ordnung. Die Furcht vor der Sozialdemokratie, die Angst vor einem Umsturz waren für Wilhelm und für die Regierenden Realitäten. Und selbstverständlich war, die Konstitutionelle Monarchie mit rechtsstaatliehen Mitteln zu verteidigen- unsere Zeit kennt dafür die wehrhafte Demokratie. Nun muss man unterscheiden zwischen den verschiedenen Schularten. Zunächst geht es um die Volksschule. 6 Immerhin besuchten sie über 90% al5 Zitiert nach: H.-G. He1'1'litz u. a. (Hg.), Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung, München 1993, 115-116. Vgl. auch H. Rall, Wilhelrn II. Eine Biografie, Graz 1995, 103 - 104. 6 Nipperdey (wie Anm. 1), bes. Kapitel XII (Kirche und Religion) 428-530; fernerhin: Kapitel XIII (Das Bildungswesen: Volksschule) 531-547.

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ler Schulpflichtigen. Die zentrale Frage der Schulpolitik war deshalb, wer über die Schule bestimmen sollte. Die Volksschule sollte- das war einhellige Meinung der etablierten Gesellschaft, sowohl soziale Disziplin und politische Loyalität der Massen sichern und festigen, als auch die moderne Berufs- und Arbeitstüchtigkeit, die Grundkenntnisse und -fähigkeiten vermitteln. Darum stand die Volksschule im Mittelpunkt des Parteienkampfes, darum prallten hier schärfere Gegensätze als in anderen Schularten aufeinander. Hier entschied sich die Stellung der Kirche, hier wurde gerungen um die Massen, um die zukünftige Gesellschaft. Erziehung muss ein Teil der Staatskunst sein- und der Münsteraner Universitätsprofessor Paul Cauer weitete Wilhelms Reformvorschläge in seinem Jubiläumsbeitrag 1914 aus: "Mit voller Entschiedenheit vertrat Kaiser WHhelm II. von vomherein den Gedanken, auf die Jugend in Zucht und Lehre zu wirken, so, da sie, erwachsen, dereinst möglichst vollkommen imstande wäre, die Pflichten gegen das Vaterland und den Staat zu erfüllen. Alle eingreifenden Änderungen ... sind im Grunde auf dieses Ziel gerichtet." 7 Die Volksschule war zunächst Staatsschule; der Staat setzte die Rahmenbedingungen, die Inhalte und Ziele, er erzog und prüfte das Lehrpersonal, er normierte und kontrollierte Schule und Lehrer. Immer noch gab es kein einheitliches Schulrecht für ganz Preußen (so weit es die Volksschulen betraf). Auch in den anderen deutschen Staaten lagen die Verhältnisse ähnlich; allerdings hatte das Königreich Bayern hier die Nase vom. Die Volksschule war kirchlich geprägt, konfessionell organisiert, normalerweise unter der Aufsicht von staatlich bestellten Geistlichen. Die unmittelbare, die lokale Aufsicht spielte eine heute kaum mehr vorstellbare Rolle, war doch der Volksschullehrerstand längst nicht voll professionalisiert.8 Der kirchlich gebundene Religionsunterricht war ein traditionell ordentliches Lehrfach. Mit Selbstverständlichkeit hielten die Kirchen an dieser Ordnung zäh fest: Wo die Umwelt noch weithin religiös geprägt sei, müsste auch die Vorbereitung auf das gesellschaftliche und berufliche Leben von einem alles durchdringenden religiösen Geist erfüllt sein. Nur das könne die beruhigende Sicherheit vermitteln, die die Kinder auch in den Widersprüchen der Zeit brauchten. Diese Einheit von religiöser und staatlicher Integration der Jugend in die Gesellschaft durfte nicht angetastet werden. Der Kulturkampf hatte dieses traditionelle Bündnis grundlegend erschüttert und vieles durcheinander gewirbelt. Die Schule wurde in den Kampf gegen die Katholische Kirche einbezogen, was ebenso die protestanKörte I Loebell (wie Anm. 2) 1084. a Nipperdey (wie Anm. 1) 532.

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tische Orthodoxie traf. Zugleich ging es darum, die Schule zu modernisieren und ihre Effektivität zu verbessern. Hebel war zunächst die Schulaufsicht. 1872 hatte ein Gesetz das uneingeschränkte Recht des Staates fixiert, haupt- wie nebenamtliches Schulaufsichtspersonal zu ernennen und - das war entscheidend- auch die Ernennung zu widerrufen. Damit sollte die tatsächliche, quasi automatische Bindung an ein geistliches Amt abgeschafft werden. Die Folge war einerseits eine weitere Säkularisierung, andererseits aber auch eine Professionalisierung der Schulaufsicht. In Wirklichkeit aber ging es um den kirchlichen Charakter der Schule, um Kirchenanspruch und Staatsanspruch. Seit 1872 war nicht mehr die einklassige Dorfschule, sondern die in drei Jahrgangsklassen differenzierte Schule die Norm. War die dreiklassige Schule die neue Mindestnorm, dann mussten in gemischt-konfessionellen Gebieten an die Stelle der gerade für Minderheiten typischen einklassigen Konfessions- nun mehrklassige "Simultanschulen" treten. Als Bismarck den Kulturkampf abbrach, galt wieder Konfessionalität vor Mehrklassigkeit. Mehr Geistliche erhielten nun Schulaufsichten. Das Zentrum beabsichtigte jedoch, die alte kirchliche Position in der Schulausbildung zurückzuerobern - z. B. auf dem Wege der direkten Aufsicht und Weisungsbefugnis des Pfarrers über den Religionsunterricht. Damit freilich stand die Partei allein da. In dieser Situation wollte sich Wilhelm II. nicht nur als Sozialreformer, sondern auch als "Schulkaiser" profilieren. Die Schule sollte, wie es seine Ordre vom 1. Mai 1889 formulierte, eine wesentliche Aufgabe im Kampf gegen Sozialdemokratie und Umsturz übernehmen. Die Chancen waren gut; da es an allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen fehlte- so viel auch im Verordnungswege geschehen war, in Preußen wie z. B. in Bayern und anderswo - schien es sich jetzt anzubieten, den Grundzug des preußischen Volksschulwesens, dass nämlich der Religionsunterricht ein Pflichtfach der Volksschule war und darüber hinaus der gesamte Unterricht von religiösem Geist erfüllt sein soll, zu verwirklichen. Am 12. November 1890 brachte der preußische Kultusminister Gustav von Goßler (1881-1891) den Gesetzentwurf über die Volksschulen im preußischen Abgeordnetenhaus ein. Doch dem Zentrum war das Gesetz zu wenig entgegenkommend, und die Konservativen hatten ebenfalls Einwände. Beide Parteien hatten miteinander eine starke Mehrheit. Der Entwurf scheiterte, und im März 1891 trat Goßler zurück. Der Reichskanzler und preußische Ministerpräsident Caprivi dachte nun daran, ein Schulgesetz mit Hilfe eines Bündnisses von Zentrum und Konservativen zustandezubringen. Schließlich wollte und brauchte Caprivi auch für andere Vorlagen das Zentrum, vor allem im Reichstag für die Militärvorlage. Also versuchte er, sich durch Zugeständnisse in der preußischen Schulpolitik das Zentrum zu verpflichten. Der neue Minister Graf Zedlitz-

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Trützschler wurde Goßlers Nachfolger. Ein neuer Entwurf wurde am 15. Januar 1892 eingebracht. Religion als höchstes Bildungsgut, die Kirche als oberste Bildungsmacht - das sollte nun gesetzlich festgeschrieben werden. Konfessionsbindung vor Mehrklassigkeit, Konfessionalisierung auch des Schulvorstands, konkrete Herrschaft der Kirchen über den Religionsunterricht Selbst Dissidentenkinder sollten am Religionsunterricht teilnehmen müssen. Private, d. h. konfessionelle Schulgründung sollte freigegeben werden. Caprivi sprach davon, es geht um kirchliches Christentum oder Atheismus und Umsturz. Daraufhin erhob sich ein öffentlicher Proteststurm zu Gunstender staatlichen, nicht-kirchlichen Schule in liberal-konservativen, protestantischen Kreisen. Das Bürgertum ging auf die parlamentarischen Barrikaden, tobte gegen die konservativ-klerikale "Reaktion", kämpfte gegen die Obrigkeit. Die Schulfrage wurde zum Symbol für Liberalität und Modernität. Diese breite Opposition und die Gefahr drohender Entfremdung des protestantisch-liberalen Bürgertums veranlassten die Regierung zum Rückzug. Die große schulpolitische Krise endete mit einer Niederlage der preußischen Regierung, insbesondere des Ministers Zedlitz-Trützschler- im Grund aber auch mit einer Wilhelms Il. Denn er hatte ja nicht nur Bescheid gewusst. Bei aller möglichen Selbstständigkeit des Ressorts: In so entscheidenden, elementar einschneidenden Fragen lief ohne die Zustimmung des Monarchen gar nichts. Hier zeigte sich, dass eben der "Untertanengeist" wie der "Obrigkeitsstaat" keine monolithischen Einheiten waren, die jede Regung von Widerstand oder anderer Ansicht einfach erstickten. Denn in der preußischen Regierung waren der Innenminister, vor allem aber Finanzminister Miquel, ein alter Nationalliberaler, der mit Rücktritt drohte, gegen den Entwurf gewesen. Und so fiel im Kronrat vom 17. März 1892- nach gut neun Wochen- bereits das Aus. Wilhelm soll zum Kultusminister gesagt haben, "Sie haben mir einen netten Salat angerichtet". Er vergaß gerne, dass ja er diesen "Salat" gewünscht hatte. Als Repräsentant der herrschenden Schichten hätte Wilhelm auch zwangsläufig zum Träger der vorherrschenden Ideen werden müssen. Diese waren aber immer weniger kirchlich-religiös. Andererseits bewies er mit seiner Haltung Eigenständigkeit und Individualität, die nach den Worten des bayerischen Gesandten Hugo Graf Lerchenfeld-Köfering auch ihre Schattenseiten hatte: Wilhelm sei abgeneigt- er hätte wohl richtiger sagen sollen nicht fähig- "sich zu konzentrieren und sich in die Dinge zu vertiefen"; der Kaiser habe "Mangel an Augenmaß und eigentlichem politischen Gefühl. Er möchte in alles eingreifen, für alles die Verantwortung tragen und betrachtet, wenigstens theoretisch, die Minister als seine Vollzugsor-

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gane. Genau vermag er aber dem Gang der Staatsmaschine nicht zu folgen, und so sind es meistens Einzelheiten, Lieblingsprojekte, bei denen man sein Eingreifen bemerkt. " 9 Zedlitz-Trützschler demissionierte, und selbst der Reichskanzler Caprivi geriet ins Wanken. Er blieb Kanzler, musste jedoch das preußische Ministerpräsidium abgeben: eine unmögliche Konstruktion ohne längeren Bestand. Der Volksschulgesetzentwurf wurde am 28. März zurückgezogen und hatte bis zur Revolution 1918 keine Chance, weiter debattiert zu werden. Die Möglichkeit, mit der breiten Mehrheit von Zentrum und Konservativen die überragende kirchliche Vormachtstellung in der Volksschule festzuschreiben, war damit endgültig begraben. Was blieb anderes übrig, als dem wankelmütigen königlichen Charakter zu folgen? Die Minister des Kaisers lavierten wie er selber. Immerhin wurde 1905/06 der Schulunterhalt gesetzlich geregelt. Die Liberalen verzichteten notgedrungen auf ihr Lieblingskind, die Simultanschule, und fanden sich mit der Konfessionsschule als Regelschule ab. Die Konservativen stimmten den finanziellen Verbesserungen zu, das Zentrum enthielt sich. Nur so konnte der Wortführer der preußischen Lehrer, Julius Tews, von einem "Jena und Auerstädt" 10 der preußischen Volksschule sprechen. Dabei hatten doch die Vertreter beider Richtungen annehmbare Kompromissformeln gefunden, hatten beide Schularten gleichberechtigt nebeneinander gestellt, die anstößigen Ausdrücke "Konfessionsschule" und "Simultanschule" vermieden und einfach Schulen unterschieden, in denen nur evangelische oder nur katholische Lehrkräfte unterrichteten, und solche Schulen, in welchen gleichzeitig evangelische und katholische Lehrkräfte angestellt waren. So waren feste, gesetzliche, zahlenmäßige Grundlagen in Fragen der Konfession geschaffen, auch der von konfessionellen Minderheiten. Ebenso war für den Religionsunterricht der Minderheit gesorgt, wenn deren Zahl wenigstens zwölf Schüler betrug. Eine Grundlage für den konfessionellen Frieden war damit gelegt. Mit diesen neuen preußischen Verordnungen hatte die Volksschule gewiss einen Modernisierungsschub erfahren. Eine andere Frage blieb allerdings offen: Ob sie auch "ihre wichtigere Aufgabe, die religiöse, sittliche und vaterländische Bildung der Jugend zu pflegen, jetzt besser löst als zuvor". Denn, so Wilhelm 1914, die Religiosität sei im Volke und auch in der Jugend zurückgegangen. Über zunehmende Verrohung und steigende Kriminalität 9 Hugo Graf Lerchenfeld-Köfering, Erinnerungen und Denkwürdigkeiten, Berlin 1935, 123. 10 Vgl. Nipperdey (wie Anm. 1) 536; Die Berliner "Kreuzzeitung", das Organ der preußischen Konservativen, schrieb hinsichtlich des Scheiterns des Zedlitzschen Entwurfes von einem "inneren Olmütz".

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werde offen geklagt; dass sich Volk wie Jugend "den Idealen der Königstreue und Vaterlandsliebe" entfremden, sei offenbar. 11 Volksschule als Schule der Untertanen, ihre Indienstnahme durch den Staat- das war das Programm des Kaisers. Die Schule sollte sozial disziplinieren, konservativ-monarchisch und bürgerlich prägen und binden, antisozialdemokratisch vor allem. Sie sollte Pflicht und Gehorsam, die "richtige" Gesinnung und Loyalität verbreiten, gegen Systemkritik immunisieren sowie die soziale Differenzierung der Gesellschaft legitimieren. Vor diesem Hintergrund war letzten Endes die Religion, die das private Leben stabilisierte und die staatliche Ordnung legitimierte, so zentral. Darum auch war der Religionsunterricht wichtig. Das Ethos des Volkes müsse religiöse Fundamente haben - das war noch eine weit über die Kirchen hinausreichende Selbstverständlichkeit. Für alle Konservativen folgte daraus die zentrale Stellung der Religion in der Schule. Abertrotz Konfessionsschule und Lehrplan gelang das nicht mehr, jedenfalls nicht mehr im protestantischen Milieu. Immer kam es darauf an, wer unterrichtete und wie. Entkirchlichung, das Abschwächen religiöser Bindungen nahmen zu; die Lesestoffe verweltlichten. Die religiöse Erziehung in der Schule hörte auf, Katechismusunterricht oder kirchliche Unterweisung zu sein. Sie war schon gar nicht mehr eine alles durchdringende Sinnvermittlung. Vielfach beschränkte sie sich auf das Auswendiglernen von theologischen und kirchlichen Texten, ohne den Kindern Erklärungen zu bieten. Oder sie wurde "biblische Geschichte", zwar kindgemäß, aber jenseits aller Theologie, mehr Wissen von Religion als Religion selbst. Religion im Schulunterricht wandelte sich in ein Stück Tradition. Die Schule hatte - wie hätte es anders sein können - ungeachtet aller Anstrengungen, die eigene Religiosität ihrer Schüler nicht mehr auf Dauer prägen und wahren können. Was die höheren Schulen angeht, so waren sie die Schulen der Nation, will heißen: Sie besaßen das Monopol für die Zulassung zum Studium und für das Einjährigenprivileg und damit verbunden ein hohes Sozialprestige.12 Da Preußen zu etwa zwei Drittel Deutschlands ausmachte, war hier Schulreform immer eine nationale Debatte. Das Gymnasium formte die gesamte Führungsschicht, war die Grundlage der herrschenden Ordnung, zugleich Grund wie Waffenarsenal jeder Opposition. Reform und Kritik erwuchsen aus ihm. Nun tobte seit der Mitte des Jahrhunderts vornehmlich in Preußen ein "Schulkrieg". Das heißt, Realgymnasien, Real- und Oberrealschulen lagen im Streit mit dem humanistischen Gymnasium. Die Idee der n F. Sachse, Zur Schulreform. Anregungen und Gesichtspunkte besonders in Rücksicht auf die Volksschule, Leipzig 1881, hier: 1107. 12 Nipperdey (wie Anm. 1) hier: Kapitel XIII (Das Bildungswesen: Die höheren Schulen) 547-561.

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klassischen Bildung als eine einzig wahre allgemeine höhere Bildung verlor gegenüber den Ideen einer modernen realistischen Bildung, die lebensnäher war - und kirchenferner, ärmer an Religion, wenngleich der Religionsunterricht einen festen, gesicherten Platz hatte. Der Kaiser hatte mit dem preußischen Kultusminister, "wie es in der Natur der Sache lag, eingehend und andauernd Verbindung gehabt" 13 • Er nennt freilich nur Gustav von Goßler, der über zehn Jahre das Ministerium leitete, und August von Trott zu Solz (Juli 1909- August 1917). Weder der von Wilhelm mit dem konfessionsbetonten Volksschulgesetz beauftragte und dann fallengelassene Zedlitz-Trützschler sind ihm erwähnenswert, noch die Minister Robert Bosse (März 1892 - September 1899) und Konrad (1906 geadelt) Studt (September 1899- Juni 1907)- die doch entscheidend das preußische Schulwesen gestaltet haben. Auch Ludwig Holle (Juni 1907 -Juli 1909) wird nicht genannt; er hat das Mädchenschulwesen 1908 reformiert. Goßler und Trott dürften wohl als die bedeutendsten und hervorragendsten Träger dieses Amtes zu bezeichnen sein, das in der Gestalt des genialen Ministerialdirektors Friedrich Althoff einen fast einzigartigen Mitarbeiter besaß. Bezeichnend für den Kaiser ist, wen er nicht nennt und was er ungesagt lässt, z. B. kein Wort über das Volksschulwesen. Was Wilhelm am stärksten antrieb und beschäftigte, das war die Reform der höheren Schulen. Seine schlechten Erfahrungen im Kasseler Gymnasium zitierte er wieder und wieder. Zunächst hatte er ja das gesamte Schulwesen modernisieren wollen. Die preußische Ordre vom 1. Mai 1889 hatte das angekündigt. Und während Minister Goßler seinen Volksschulgesetzentwurf vorbereitete, veranlasste Wilhelm II., dass am 31. Oktober 1890 über vierzig Fachleute zu einer Konferenz über die Reform der höheren Schulen nach Berlin in das Ministerium geladen wurden. Am 4. Dezember begannen die Beratungen14 . In seiner Rede gab Wilhelm seine Ansichten und Ziele deutlich kund. Die heranwachsende Jugend müsse entsprechend der "Weltstellung unseres Vaterlandes" 15 herangebildet werden. Der Geist der Sache, nicht die bloße Form seien wichtig. Die Uniformität seiner Gedankengänge traten immer wieder in solchen Wendungen zu Tage wie: "Wenn die Schule das getan hätte, was von ihr zu verlangen ist- und ich kann zu Ihnen als Eingeweihter sprechen, denn ich habe auch auf dem Gymnasium gesessen und weiß, wie es da zugeht- so hätte sie von vornherein von selber das Gefecht gegen die Sozialdemokratie übernehmen müssen. 13

Wilhelm 11., Ereignisse und Gestalten, Berlin 3 1927, 151.

a Die Reden Kaiser Wilhelms II., hrsg. von J. Penzler (Bd. 1- 3), hrsg. von B. Krie-

ger (Bd. 4), Leipzig o. J.; zitiert: Reden I {1888 -1895), II {1896 -1900), 1905), IV {1906 - 1912). Hier: Reden I, 152-167. 1s Reden I, 153. 18 FBPG - NF, Beiheft 5

m {1901-Ende

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Die Lehrerkollegien hätten alle miteinander die Sache fest ergreifen und die heranwachsende Generation so instruieren müssen, dass diejenigen jungen Leute, die mit mir etwa gleichaltrig sind, also von etwa dreißig Jahren, von selbst bereits das Material bilden würden, mit dem ich im Staate arbeiten könnte, um der Bewegung schneller Herr zu werden. Das ist aber nicht der Fall gewesen. " 16 Ausführlich betont der Kaiser die "nationale Basis", denn das Gymnasium soll "nationale junge Deutsche erziehen". Er möchte "das Nationale bei uns weiter gefördert sehen in Fragen der Geschichte, Geographie und der Sage." Persönlichkeit, Erziehung und Charakterbildung müssten wieder in den Mittelpunkt rücken, und- "die jungen Leute müssen für das jetzige praktische Leben vorgebildet werden. " 17 Da war der Redner ganz in seinem Element - selbst wenn er "nur" als preußischer Herrscher direkt auf Reformen dringen konnte. Unzweifelhaft hört man im Unterton den Kaiser heraus, der für die Bundesstaaten den Ton angeben wollte. In seinen Erinnerungen hat er seine "blassen, überstudierten Landeskinder" bedauert und sich gerühmt: Als Kaiser "erkämpfte ich für meine deutsche Jugend die Schulreform gegen einen verzweifelten Widerstand der Philologie innerhalb und außerhalb des Ministeriums und der Schulkreise. Die Reform ist leider nicht so geworden, wie ich sie erhoffte ... " 18 Preußen, das war das Deutsche Reich in seinen Augen. Wilhelm als Speerspitze der Modernisierer, der Antihumanisten; das war erstaunlich und doch verständlich bei seinen An- und Absichten. Doch wo blieb die Religion in diesem Kontext der Eröffnungsrede vom 4. Dezember 1890? Die Zuhörer- so konnte er annehmen- hatten ja wohl noch die Ordre von 1889 im Ohr, worin die Schulen alle miteinander zum Kampf gegen die Sozialdemokratie aufgerufen, und auf Religion und patriotische Geschichte verpflichtet worden waren, wie er meinte. Allein, das scheint nicht der Fall gewesen; denn in seiner Abschlussrede vom 17. Dezember 1890 sprach er gleich anfangs dieses Manko an. "Wie ich höre, ist es Ihnen damals bei der Eröffnung aufgefallen, dass meinerseits die Religion nicht erwähnt worden ist. Meine Herren! Ich war der Ansicht, dass meine Ideen und Gedanken über Religion, d. h. über das Verhältnis eines jeden Menschen zu Gott, welche sie sind und wie heilig und hoch sie mir sind, so sonnenklar vor aller Blicken daliegen, dass jedermann im Volke sie kannte. Ich werde selbstverständlich als preußischer König wie als summus episcopus meiner Kirche es meine heiligste Pflicht sein lassen, dafür zu sorgen, dass das religiöse Gefühl und der Funke christlichen Geistes in der Schule gepflegt und gemehrt werde. Möge die Schule die Kirche achten und 18 17

18

Ebd., 154. Ebd., 157. Wilhelm 11. (wie Anm. 13) 153-154.

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ehren, und möge die Kirche ihrerseits der Schule beistehen und ihr bei ihren Aufgaben weiter wirken helfen; dann werden wir zusammen im Stande sein, die Jugend zu den Anforderungen unseres modernen Staatslebens heranzubilden. Ich denke hiermit diesen Punkt vollkommen erledigt zu haben. ul9 Wilhelrn rief seinen Beratern und der Öffentlichkeit ins Gedächtnis, "dass nur derjenige zum Lehrer unserer Jugend berufen ist, der treu und aus voller Überzeugung auf dem Boden der Monarchie und der Verfassung steht. Ein Anhänger radikaler Utopien ist als Lehrer der Jugend ebenso wenig zu brauchen wie in den Geschäftsstuben der Staatsverwaltung. Der Lehrer ist nach seinen Rechten und nach seinen Pflichten in erster Linie Beamter des Staats, und zwar des bestehenden Staats." Im übrigen gehe es nicht darum, die "Lehren der Socialdernokratie" in der Schule im Einzelnen zu erörtern. Wer ein klares Verständnis vorn Wesen des Staates und von seinen Fortschritten habe, "wird ... unsern Staat gegen feindliche Angriffe, wie von außen, so im Innern, verteidigen". Ein verständnisvolles Entgegenkommen auf dem Gebiet der öffentlichen Wohlfahrt und Freiheit werde sich die Sympathien "aller gemäßigten und einsichtsvollen Elemente dauernd" 20 erhalten. Ganz nach Wilhelrns Vorstellungen lockerte die Konferenz den starren Neuhumanismus; das Gymnasium wurde als Ganzes reformiert. Weniger Stunden, mehr Sport, kein lateinischer Aufsatz mehr im Abitur, überhaupt weniger Latein und Griechisch, dafür mehr Deutsch und mehr deutsche und moderne Geschichte als alte Geschichte. Als dann Ministerialdirektor Althoff zum Hochschulreferat auch noch das höhere Schulwesen in seine Zuständigkeit nehmen konnte, kam es auf einer neuen Schulkonferenz im Juni 1900 zu folgendem Ergebnis: Gymnasium, Realgyrnnasiuum und Oberrealschule erhielten die gleichen Rechte. Grundsätzlich waren alle drei gleichberechtigt für den Nachweis zum Hochschulzugang. Nur die Studiengänge Theologie und alte Sprachen verlangten weiterhin das humanistische Abitur. Der Religionsunterricht blieb Pflichtfach. In allen höheren Schularten fielen 19 Wochenstunden in neun Schuljahren an. So war es 1882 gewesen, ebenso 1892 und so blieb es nach dem Lehrplan von 1901. Allerdings, Kultur und Geschichte wurden darin wichtiger; sie dienten zur Loyalitätslegitimierung. Der Religionsunterricht allein vermochte das nicht mehr zu leisten. War er doch zunehmend bei den Protestanten von biblisch-kirchlicher Geschichte, von wissenschaftlicher Theologie bestimmt. Davon blieb auch Wilhelrn II. nicht unberührt. Der evangelische Theologe Adolf von Harnack war Gesprächspartner für religiöse Themen. Hier, in einer mehr, 19 20

18°

Reden I, 163. Ebd., 165 f .

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oft weniger orthodox-lutherischen Theologie mit zeittypischen Akzenten auf Nationalismus, persönlicher Frömmigkeit und überkommener Moral, verfestigt sich Wilhelms Religion. Er ist für "Weiterbildung der Religion" 21 , er lässt der wissenschaftlichen Forschung freien Lauf und nimmt geradezu begierig neue Erkenntnisse auf. Aber er ist sprunghaft und wankelmütig wie so oft. In einer solchen liberalen und säkularen Umwelt muss jeder Religionsunterricht an Prägekraft verlieren; im protestantischen Bereich ohnehin. Und selbst katholische Lehrer blieben nicht unangefochten. Es wird wohl ein Desiderat bleiben: Wie hat der Religionsunterricht in Preußen ausgesehen, was hat er bewirkt? Und zwar in den evangelischen Kronlanden, in Brandenburg, Pommem z. B. - und in den katholischen Provinzen vom Ermland und Schlesien angefangen, über Oberschlesien und Posen mit den polnischen Kindern bis hin zur Rheinprovinz und nach Westfalen. Trotz aller Anstrengungen Wilhelms, vieler Lehrer und aller Mühen im Religionsunterricht: Die Zahl der Sozialdemokraten hat ebenso kräftig zugenommen wie die ihrer Wähler, die Liberalen behaupteten sich, die Kritik nahm zu, die Menschen verweltlichten, je stärker die industrielle Gesellschaft sich ausbreitete. Eine aus Religiosität gestaltete Schule, ein Religionsunterricht mit ganz bestimmten, klar definierten Zielen - das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die praktische Anwendung und Auswertung. WHhelm II. hat die von ihm statuierte Wirkung als gegeben vorausgesetzt. Diesen Eindruck jedenfalls gewinnt der Leser seiner Reden, Proklamationen, Trinksprüche, Briefen und Predigten. Es sind stereotype Sätze, Wendungen, auch Floskeln und Redensarten, die immer wiederkehren. Sie setzen einen in seinem Sinn erfolgreichen Religionsunterricht voraus; sie bauen auf fest gegründeter Religiosität, auf ein tief eingewurzeltes Christentum, ein unerschüttertes Gottvertrauen und eine innige Gläubigkeit. Doch ehe auf den religiösen Anruf des Kaisers bei zahlreichen offiziellen Gelegenheiten einzugehen ist, muss kurz und knapp von der Persönlichkeit Wilhelm II. gehandelt werden.

n. Dazu soll nur eine Quelle herangezogen werden, die, wenn man es so nennen darf, theologisch einschlägig ist. Die Tochter von Adolf von Harnack erzählt, was ihr Vater erlebt, erfahren und auf einen Begriff zu bringen versucht hatte. Der Kaiser erschien ihm als außerordentlich fesselnde Persönlichkeit, aber nicht leicht zu deuten, widerspruchslos, ungemein lebhaft; er 21 Chr. Simon, Kaiser Wilhelm ll. und die Wissenschaft, in: John H. G. Röhl, Der Ort Kaiser Wilhelms ll. in der deutschen Geschichte, Schriften des Historischen Kollegs Nr. 17, München 1991, 104.

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beherrschte die Sprache, verstand Eindrücke, Erlebnisse zu schildern- "im Gespräch wollte er der Gebende bleiben, wollte mitteilen, belehren, seine eigenen Gedankengänge entwickeln - und war weniger bereit, das aufzunehmen, was der Gesprächspartner zu bieten hatte . . . Der Kaiser war nicht engherzig, er war auf vielen Gebieten aufgeschlossener als seine Umgebung; aber im Hintergrund seines Wesens lagen feste Wälle, durch die er seine eigentlichsten, durch Tradition und Erfahrung gewonnenen Überzeugungen schützte. Es waren da der Glaube an sein Gottesgnadentum mit allen Folgerungen in Bezug auf seine Rechte und Pflichten und mit dem Glauben an die Weltaufgabe Deutschlands; und eng mit diesem verknüpft sein religiöser Besitz, der orthodox war, aber sein besonderes Gepräge durch soldatische Verkürzungen einerseits, durch romantische Erweiterungen andererseits erhielt. u22

Wilhelm war selbstverständlich geprägt vom Religionsunterricht, den er erhalten hatte. Der Bielefelder Gymnasiallehrer Dr. Georg Hinzpeter hat ihn nach kaiserlicher späterer Meinung "vortrefflich" erteilt. Der Kalvinist "hat seinen Schüler nur mit Bibel und Gesangbuch aufwachsen lassen unter Zurückstellung aller konfessionellen und dogmatischen Fragen. Diese betrachtete er als ,Erzeugnisse menschlichen Geistes', welche dazu angetan wären, die großen, klaren und einfachen Linien unseres christlichen Glaubens, wie sie der Herr gelehrt hat, zu ,verpriestern' und das Gemüt des Kindes zu verwirren. Ich verdanke es dieser weisen Maßregel, dass dogmatische oder konfessionelle Fragen für mich niemals eine vorherrschende Bedeutung gehabt haben. Ich bin dadurch in die Lage versetzt worden, mit voller Objektivität an die kirchlichen und religiösen Fragen beider Bekenntnisse, die wir in Deutschland haben, heranzutreten; Polemik in der Religion ist mir stets fremd geblieben, und ein Begriff wie das selbstherrliche ,Orthodox' mir bis auf den heutigen Tag ein Gräuel. Für den künftigen Herrscher war das wohl das einzig richtige Prinzip der religiösen Erziehung. " 23 So berichtet der Kaiser selbst. Er zitiert dann auch Aufzeichnungen seines Lehrers. Dieser habe tatsächlich alles vermieden, was an konfessionelle Differenzen oder gar Streitigkeiten erinnern konnte. Das Resultat sei gewesen, "dass religiöses Fühlen und Denken eine Gewohnheit, ja ein Bedürfnis geworden ist, dass der christliche Glaube in dem Herzen des Prinzen Wurzel geschlagen und dass damit die christliche Weltanschauung einen maßgebenden Einfluss auf sein Denken und Wollen erlangt hat." Damit ist sein eigener Religionsunterricht als eigentlich undogmatisch zu charakterisieren und selbst für die Konfirmation "sollte nun der dogmatische möglichst un22

Ebd., 100.

23 Dies und das Folgende: lin 3 1927, 26-27, 64, 90.

Kaiser Wilhelm 11., Aus meinem Leben 1859-1888, Ber-

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konfessionell gegeben werden." Wilhelm sollte sich die Freiheit bewahren, die christliche Lehre "seiner eigenen Individualität so weit anzupassen, dass sie die Richtschnur seines Lebens bleiben könne; und weiter sollte ihm trotz oder vielmehr wegen seiner festen religiösen Überzeugung die Freiheit der Anschauung bewahrt werden, deren ein preußischer König und deutscher Kaiser bedarf zum gerechten Regieren überkonfessionell so verschiedene Untertanen." Wilhelm hat nach diesen von seinem Erzieher Hinzpeter vorgetragenen akonfessionellen und eigentlich undogmatischen Maximen zu reagieren und zu regieren versucht. Was ihm nach seinem ganzen Charakter, nach seiner Auffassung von den Pflichten eines preußischen Königs und deutschen Kaisers am nächsten lag, das war, die Religion in besonderem Maße zu instrumentalisieren im Dienste des Staates; dabei setzte er stillschweigend voraus, was der Staat nicht leisten konnte, der Religionsunterricht jedoch erbringen sollte, nämlich eine tief verwurzelte Religiosität. Sie anzusprechen, in Dienst zu nehmen - in militärischen Dienst ganz besonders -, das beweisen die Ansprachen bei der Vereidigung von Rekruten. Am 7. November 1899 erklärte er den Garderekruten in Berlin, "ihr habt den Eid vor Gottes Altar und seinem Kruzifix auf die durch Priesterhand geweihten Fahnen geschworen." (Priester beider Konfessionen verliehen der Eidesleistung sakralen Charakter). Der Kaiser ,schloss mit fester Stimme', "ein guter Soldat ist auch ein guter Christ und muss als solcher seine Religion hochhalten als das Band, welches uns alle zusammenhält".24 Vor Marinerekruten in Kiel entließ er am 23. November 1900 die Soldaten mit dem Wunsch: "Wandelt auf Wegen, die ihr vor eurem Gott und mir verantworten könnt." 25 Am 7. November 1905 wurden Berliner Rekruten vereidigt. "Durch den Fahneneid habt ihr eine große Verantwortung vor dem höchsten Herrn übernommen. Ich erwarte von euch, dass ihr euch dessen bewusst seid." Das sei die Eigenart des deutschen Soldaten, dass er willig dem Rufe seines Königs folge- "ohne Murren und Zagen, nur im Vertrauen auf seinen König und im Vertrauen auf seinen Gott, der den Rechtschaffenen nicht verlässt. Darum haltet auch fest am Gebet, denn der Ruf zu Gott gibt die Kraft, auch in schwerster Stunde ... " 26 Fünf Tage später leitete der Kaiser in Potsdam seine Ansprache mit den Sätzen ein: "Ihr seht hier den Altar und auf demselben das Kreuz, das Symbol aller Christen. Als solche schwuret ihr heute den Fahneneid, und ich wünsche und hoffe, dass ihr dieses Schwures stets eingedenk bleibet. " 27 24 25

26 27

Reden ll, 181. Reden ll, 244. Reden m, 282. Reden m, 283.

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Was Wilhelm bei der 25-Jahrfeier der Reichsgründung am 18. Januar 1896 in Berlin nach der Thronrede zum 1. Garderegiment äußerte, soll nicht überbewertet werden, auch wenn er von einem Gelübde sprach: "Für des Volkes und des Reiches Ehre einzustehen, sowohl nach innen als nach außen. Ein Reich, Ein Volk, Ein Gott. "28 Er liebte die großen Worte, die Gelegenheiten rissen ihn impulsiv mit sich und manches wäre besser ungesagt oder geschickter formuliert worden. Aufschlussreich sind die königlich-kaiserlichen Reden- je nach Funktion- dennoch immer wieder. Den Katholiken legte er am Beispiel der Laacher Benediktiner ans Herz, der Welt zu zeigen, "dass seinem Gott dienen zu gleicher Zeit erlaubt, Königstreue und Vaterlandsliebe in der Bevölkerung groß zu ziehen und zu pflegen. " 29 Für den protestantischen Kaiser war es selbstverständlich, dass bekennende Katholiken, die immerhin fast ein Drittel seiner Untertanen in Preußen ausmachten, die Aufgabe hätten, die bestehende Ordnung zielstrebig zu bewahren. In dem Zusammenhang erinnert Wilhelm auch sehr gerne an die lobenden Worte Papst Leos XIII. über Preußen und den Kaiser.30 Im Aachener Münster forderte er von den Katholiken am 19. Juni 1902 klipp und klar: "So erwarte ich auch von Ihnen allen, dass Sie mir helfen werden, ob Geistliche oder Laien, die Religion im Volke aufrecht zu erhalten." Auch hier übermannte ihn die zeitgenössische Germanenbegeisterung. "Zusammen müssen wir arbeiten, um dem germanischen Stamme seine gesunde Kraft und seine sittliche Grundlage zu erhalten. Das geht aber nur, wenn man ihm die Religion erhält, und das gilt in gleicher Weise für beide Konfessionen." Beide müssen das "eine große Ziel im Auge behalten, die Gottesfurcht und die Ehrfurcht vor der Religion zu erhalten und zu stärken ... Wer sein Leben nicht auf die Basis der Religion stellt, ist verloren." Darum gelobte der Kaiser, "das ganze Reich, das ganze Volk und mein Heer ... mich selbst und mein Haus unter das Kreuz" 31 zu stellen.

Umsturz und Unglauben, Abfall vom christlichen Glauben, harsche Kritik an Regierung, König und Kaiser - dem allen ließ sich nur steuern, wenn die Religion erhalten blieb und gefestigt wurde. Religion wurde zum Allheilmittel, zu einer Art Wunderdroge, gerade auch gegen jede Regierungskritik. Auf dem Hintergrund dieser "nationalen Arbeit" mussten konfessionelle Schranken fallen. Als ein junger, verwirrter Mann 1901 den Kaiser angriff und leicht verletzte, da machte Wilhelm den Grund in der "Kritik an Maßnahmen der Regierung und der Krone" aus, die "in der schärfsten und verletzendsten Form" erfolge. "Hieraus erwachsen die Unklarheit und die 28 29

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Reden ll, 8. Reden ll, 60 (31. 8. 1900). Reden ill, 99; Bericht über die Worte des Papstes, dort: Anm. 100 f. Reden ill, 99 ff.

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Demoralisation in der Jugend. " 32 Die Volksvertretung - in diesem Fall meinte er das preußische Abgeordnetenhaus - müsse und könne hier bessernde Hand anlegen. Und natürlich müsse ebenso von der Schulbehörde Wandel geschaffen werden. Damit saß Wilhelm li. dem alten und immer noch nicht überwundenen Irrtum auf, dass gesellschaftliche Phänomene rein staatlich gesteuert oder behoben werden könnten. Merkwürdigerweise nähert sich der Kaiser damit sozialistischen Denkstrukturen. Es wechseln, durchaus einleuchtend, die Appelle an die Obrigkeiten mit jenen an die Untertanen. Im Kampf gegen den Unglauben, "gegen den menschenfeindlichen Geist des Unglaubens und des Umsturzes" 33 forderte er von allen Bürgern einen vorbildlichen christlichen Wandel, Gottesfurcht, Königstreue und Vaterlandsliebe. In der Tischrede beim Festmahl der Provinz Westfalen (31. 8. 1907) betonte der Kaiser das "Bild versöhnlicher Einheit", das er gern auf das gesamte Vaterland übertragen sähe. "Ich glaube, dass zu einer solchen Einigung aller unserer Mitbürger, aller unserer Stände nur ein Mittel möglich ist, das ist die Religion. Freilich nicht in streng kirchlich dogmatischem Sinne verstanden, sondern im Weiteren, für das Leben praktischeren Sinne. " 34 Hier griff er natürlich auf seine eigenen Erfahrungen, vermittelt durch seinen Lehrer Hinzpeter, zurück- oder genauer ausgedrückt: Diese Methode scheint nicht nur unzeitgemäß zu sein, sie mutet geradezu paradox an, da politische und gesellschaftliche Einheit -oder war doch mehr Uniformität gemeint - einen noch nicht wiederhergestellten gemeinsamen christlichen Glauben zu bewerkstelligen war. In Wilhelms Bewusstsein waren die immer noch gravierenden konfessionellen Hürden schlichtweg inexistent. Am 13. November 1910 besuchte der Kaiser per Automobil das Kloster Beuron. Er benutzte den Anlass, in der Person des Erzabtes Tidefons Schober die Benediktiner zu loben, da "sie überall, wo sie gewirkt, nicht nur die Religion aufrecht zu erhalten und zu stärken bestrebt waren", sondern auch Kulturträger in Musik, Kunst und Wissenschaft. Er erwarte, "dass sie ... mich unterstützen in meinen Bestrebungen, dem Volk die Religion zu erhalten. Dies ist umso wichtiger, als das 20. Jahrhundert Gedanken ausgelöst hat, deren Bekämpfung nur mit Hilfe der Religion und mit Unterstützung des Himmels siegreich durchgeführt werden kann." Schließlich habe er das Kreuz für die Klosterkirche gestiftet, um zu beweisen, "dass die Regierungen der christlichen Fürsten nur im Sinne des Herrn geführt werden können und dass sie helfen sollen, den religiösen Sinn, der den Germanen angebo32 Reden m, 14 f., Attentat am 6. 3. 1901; hier die Schlußsätze im Brief an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses in Berlin. 33 Reden IV, 61 (12. 2. 1907). 34 Reden IV, 87.

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ren ist, zu stärken und die Ehrfurcht vor Altar und Thron zu vermehren. Beide gehören zusammen und dürfen nicht getrennt werden. " 35 Königlich-preußische wie kaiserliche Reden und Taten lassen sich zutreffend nur aus dem Zusammenhang interpretieren. Das gilt für den militärischen Bereich wie für den zivilen. Die religiöse Bezugnahme bei Rekrutenvereidigung setzte quasi um, was eine Kabinettsordre vom 13. Februar 1890 gefordert hat. "Zweck und Ziel aller, namentlich aber der militärischen Erziehung ist die auf gleichmäßigem Zusammenwirken der körperlichen, wissenschaftlichen und religiös sittlichen Schulung und Zucht beruhende Bildung des Charakters. Keine Seite der Erziehung darf auf Kosten der anderen bevorzugt werden ... Im Religionsunterricht ist die ethische Seite desselben hervorzuheben und das Hauptgewicht darauf zu legen, dass die Zöglinge in Gottesfurcht und Glaubensfreudigkeit zur Strenge gegen sich zu Duldsamkeit gegen andere erzogen und in der Überzeugung befestigt werden, dass die Betätigung der Treue und Hingabe Herrscher und Vaterland gleich wie die Erfüllung aller Pflichten auf göttlichen Geboten beruht."36 Nächstes Beispiel: Als der Kaiser am 6. September 1894 in Königsberg eigenmächtig, ohne Reichskanzler Caprivi zu Rate zu ziehen, zum "Kampf für Religion, für Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes" 37 aufrief- es war zum Abschluss der Kaisermanöver in Ostpreußen, da hatte WHhelm in der ihm eigenen Art darauf reagiert, was am 24. Juni geschehen war: Ein italienischer Anarchist hatte Carnot, den Präsidenten der Französischen Republik, ermordet. Attentate, Morde, Anschläge von Anarchisten sind in Europa um die Jahrhundertwende vertraute Geschehnisse. Oder: Die Seepredigt "Seiner Majestät Kaiser Wilhelm Il. gehalten an Bord S.M. Jacht Hohenzollern am 7. Sonntag nach Trinitatis im Jahre des Heils 1900" unter dem Motto "Haltet an im Gebet!" als matialischer Sonderdruck veröffentlicht. Als Summus Episcopus predigte der Kaiser, wenn kein Pfarrer an Bord war. An jenem 29. Juli, zurzeit des Boxeraufstands in China, - wenige Tage zuvor hatte Wilhelm in Bremerhaven ein Truppendetachement nach Fernost verabschiedet - hatten die heidnischen Amalekiter das Beispiel zu liefern. Dort "will man dem Siegeszug christlicher Sitte und christlichen Glaubens wehren. Der Gottesbefehl zum Kampf ist ergangen; die Streiter aber bedürfen der Hilfe, des Gebets. Das Gebet des Gerechten vermag viel, wenn es ernstlich ist. Wohlan denn: drüben in der Ferne die Reden IV, 228. A. Kohut, Kaiser Wilhelm II. als Denker. Goldene Worte und Aussprüche aus seinen Reden, Erlässen, Gesprächen, Briefen und Telegrammen, Lüneburg 1913, s. 86f. 37 Rall (wie Anm. 5) 158. 35

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Scharen der Kämpfer, hier in der Heimat die Scharen der Beter. Die heilige Macht der Fürbitte entspringt aus der heiligen Pflicht um sie. Die christlichen Streiter "brauchen Segen von oben, Lebenskräfte und Siegesmächte ... und diese himmlische Welt, sie öffnet sich nur dem Gebet ... Wir wollen nicht nur Bataillone von Kriegern mobil machen, nein, auch eine heilige Streitmacht von Betern ... " 38 Hier wird selbst ziviler Gehorsam militarisiert und religiös durchformt. Der Kaiser wendet sich immer an alle, setzt "Einheit" gleichsam voraus, wie bereits beim "noch" konfessionellen Christentum, zieht jedoch stärker auf Einheitlichkeit ab. Nach einem Feldgottesdienst am 5. März 1915 in Polen hielt Wilhelm eine kurze Rede. Darin sind Religion und Geschichte seltsam verquickt; man könnte auch sagen, der Kaiser stützt sich auf den Religions- und Geschichtsunterricht und zieht Bilanz darüber, was er von beiden erwartet hatte. "Wir Preußen", heißt es da, haben "das feste Vertrauen auf unsern großen Alliierten dort oben, der unserer gerechten Sache zum Siege verhelfen wird. Nach Luther: "Ein Mann mit Gott ist immer die Majorität". Kindliches Vertrauen in Gottes Führung und pathetisch verklärter Anruf der Geschichte: "Wir wissen es aus unserer Kinderzeit, und als Erwachsene haben wir es beim Studium der Geschichte gelernt, dass Gott nur mit den gläubigen Heeren ist." Der Schlusssatz lautet: "Und so erwarte und verlange ich auch von euch, dass jeder sein Letztes hingibt an Gesundheit und Lebenskraft, bis der Sieg unser ist. " 39 Bis der Sieg unser ist -gebaut auf einem überkonfessionell christlich modern vermittelten Glauben, den der Religionsunterricht vermittelt haben sollte, ebenso wie der Geschichtsunterricht, der gewissermaßen mit Beispielen und Erfolgsgeschichten aus der Zeit Friedrichs II. und Wilhelms I. Anschauungsmaterial liefern sollte. Die Verweltlichung aber war schon bis zum Krieg 1914 weit vorangeschritten. Die Religionslehrer waren ohnehin überfordert, wenn sie nicht bloß die überkommene Ordnung, die konstitutionelle Monarchie aus dem Glauben fundamentieren sollten, sondern auch den Krieg. Dies war im ersten und zweiten Jahr vielleicht noch zu vermitteln. Seit Verdun, dem Stellungskrieg im Westen, den Materialschlachten, den immer fürchterlicher werdenden technischen Mordwerkzeugen, also ab 1916, zerbrach in den Massen der alte Kinderglaube. Der Krieg brach rasch mühsam aufgerichtete religiöse Dämme und spülte sie bei vielen Menschen -nicht nur Soldaten- weg im Grauen der Stahlgewitter: Was in friedlichen 38 Reden II, 212-219 verstreut. Der Sonderdruck sieht so aus: Eisernes Kreuz auf dem Titelblatt; Schlußseite ein Ordensritter mit emporgestrecktem Kreuz, Unterzeile: "Auf zum Kampf für unsere heiligsten Güter!" 39 E. Johann, Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten, Trinksprüche Wilhelms II., München 2 1977, 128.

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Zeiten wohl noch Jahrzehnte gedauert hätte, konzentrierte sich nun auf wenige Jahre. Das 19. Jahrhundert, begeistert und optimistisch begrüßt, gekennzeichnet von verschiedenen kirchlichen Aufbrüchen zuerst bei den Katholiken, dann aber auch bei den Evangelischen, wurde verschlungen von den Feuerstürmen, entfacht von Menschenhand. Das 20. Jahrhundert, ohnehin sorgenvoll von zahlreichen Denkern erwartet, hatte gleich zu Anfang erfahren, wie gering ein Menschenleben zählte. Auch der Religionsunterricht, wie Wilhelm ihn verstand, war gescheitert, da er in einer zunehmend säkularen Welt und Gesellschaft von vorne herein zerbrechen mußte. Dennoch hat Wilhelm II. durch seine Initiativen im Schulsektor einen nicht unerheblichen Modernisierungsschub im Ausbildungsbereich bewirkt und konfessionelle Schranken und staatliche Beschränkungen abzubauen geholfen.

Leo Frobenius: Des letzten deutschen Kaisers Ethnologe Von Michael Spättel I. "Zu der von mir gesuchten Brücke zwischen Asien und Europa" "a) Ich glaube an Einen, Einigen Gott. b) Wir Menschen brauchen, um ihn zu lehren, eine Fbrm, zurnal für unsere Kinder. c) Diese Fbrm ist bisher das alte Testament in seiner jetzigen Überlieferung gewesen. Diese Fbrm wird unter der Fbrschung und den Inschriften und Grabungen sich entschieden wesentlich ändern; das schadet nichts, auch daß dadurch viel vom Nimbus des ausetwählten Volkes verloren geht, schadet nichts. Der Kern und Inhalt bleibt immer derselbe, Gott und Sein Wirken! Nie war Religion ein Ergebnis der Wissenschaft, sondern ein Ausfluß des Herzens und Seins des Menschen aus seinem Verkehr mit Gott." 1

Dieses Glaubensbekenntnis legte Wilhelm Il. in einem Brief an Admiral Rollmann ab. Er verteidigte sich in diesem Brief gegen die stürmischen Reaktionen, die ein Vortrag des Assyriologen Friedrich Delitzsch am kaiserlichen Hofe in der Öffentlichkeit ausgelöst hat. Delitzsch hatte 1902 in seinem Werk Babel und Bibel die literarische Abhängigkeit des Alten Testamentes von babylonischen Überlieferungen nachzuweisen versucht und wurde so der Vorreiter des sogenannten Panbabylonismus. Die Quintessenz dieser religionswissenschaftliehen Richtung ist es, daß nicht das Judentum die originäre Quelle des christlichen Fundaments der abendländische Kultur, sondern das astrale Weltbild der sumerisch-babylonischen Religion Ursprung und Vorbild fast aller Religionen, insbesondere aber des Alten Testaments, gewesen ist- eine Hypothese, die in Wilhelm 11.' Bekenntnis anklingt. Wilhelm II. bewunderte den hohen Standard der babylonischen Kultur, ihre politischen und militärischen Leistungen. Im Zuge der Eroberung Kanaans sei "das kleine Israel", geprägt von seinem Wüstenund Nomadenleben, in diese hochentwickelte und mächtige Kultur hineingezwängt worden. Unbestreitbar- siehe die Tontafeln! -sei der Einfluß der Babyionier auf das Alte Testament. 2 1

Das Bekenntnis des Kaisers im Urteile der Zeitgenossen, 2., etw. Aufl., Halle

1903, 9.

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In einem Brief an Hauston Stewart Chamberlain, den er sehr geschätzt hat, ging der mittlerweile ins Exil geflohene Kaiser nach mehr als zwanzig Jahren ein weiteres Mal auf etwaige Einflüsse des Orients auf die christliche Religion ein. Gestützt u. a. auf die protestantische Bibelkritik von Eduard Meyer und auf Chamberlains Gott und Mensch, ließ sich Wilhelm II. zu krassen antisemitischen Tiraden hinreißen: Es müsse endlich gründlich gebrochen werden mit dem Glauben, der Jahwe der Juden sei der Gott der Christen. Denn nicht die Juden seien "unsere Religionsvorläufer, sondern Zoroaster mit den Persern, also Arier!" Das Judentum habe durch das Alte Testament die Lehren des Parsismus erhalten und an das Christentum übermittelt, selbst aber diese Lehren abgelehnt und nicht angenommen. Von einer religiösen Vorläuferschaft des Judentums für das Christentum könne aus diesem Grund nicht die Rede sein. Der einzig original jüdische Zug des Christentums sei die Intoleranz. Hier habe der zornige und rachelüsterne jüdische Gott seinen unheilvollen Einfluß entfaltet "die Gottesfigur eines Volkes, das alle anderen Menschen und Völker als seine Feinde ansieht, die seine Sklaven werden sollen, also im diametralen Gegensatz steht zu allen Geboten, die der Heiland uns gab, den Verkehr von Mensch zu Mensch zu regeln. Daher sage ich: ,Fbrt mit Jahwe!' Christus muß an dessen Stelle kommen!"

Für einen wahren Christen sei das Alte Testament nur bedingt tauglich. 3 Wilhelm II. argumentierte hier ganz im Sinne des arischen Mythos, der in Deutschland an die bereits mit der Reformation erstarkende intellektuelle Strömung anknüpfen konnte, die das Neue vom Alten Testament zu distan2 Hauston Stewart Chamberlain, Briefe. Die Briefe II (1916-1924). München 1928, Brief an Chamberlain vom 16. 2. 1903. 3 Chamberlain, Briefe (wie Anm. 2), Brief an Chamberlain vom 12. 3. 1923. Der Antisemitismus Wilhelms II., als junger Mann ein Verehrer des exzessiv antisemitischen Hofpredigers Adolf Stoecker, ist nicht nur in seinen theoretischen Anstrengungen, die christliche Religion von ihren jüdischen Ursprüngen zu befreien, greifbar. Zum Antisemitismus Wilhelms II. vgl. den Artikel von John C.G. Röhl, Wilhelm II.: "Das Beste wäre Gas!", in: Die Zeit, 25. 11. 1994. Der Erste Weltkrieg beförderte den Haß des Kaisers auf die Juden - er vertrat nun eine Verschwörungstheorie. Indes verurteilte er laut v. Dsemann die Ausschreitungen gegenüber den Juden im Zuge der Reichsprogromnacht: es sei eine Schande, was da jetzt zu Hause vor sich geht, und forderte zu Protesten gegen das Nazi-Regime auf (Vgl. Sigurd v. Ilsemann, Der Kaiser in Holland. Aufzeichnungen des letzten Flügeladjudanten Kaiser Wilhelm II., hrsg. v. Harald v. Koenigswald, Bd. 2. München 1968, 313). Doch noch in seinen letzten Lebensjahren klagte er in Briefen die Juden an, verantwortlich für den Ausbruch beider Weltkriege zu sein. 1939 schrieb er seiner Schwester: "Die Hand Gottes schafft eine neue Welt und wirkt Wunder ( ... ) Wir werden die Vereinigten Staaten von Europa unter deutscher Führung; ein weiter europäischer Kontinent, den niemand je zu erhoffen wagte! Die Juden verlieren ihre unheilvollen Positionen in allen Ländern, die sie seit Jahrhunderten zur Feindlichkeit getrieben haben" (zit. nach Röhl, Das Beste [wie Anm. 3]).

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zieren suchte. 4 In diesem Rahmen war die Frage nach der ,rassischen Zugehörigkeit' von Jesus Christus von Bedeutung. Niemals sei Jesu ein Jude gewesen, teilte der Kaiser 1930 einem Jugendpastor mit. 5 Die Suche des Wilhelm II. nach einer Brocke zwischen Asien und Europa6 war zugleich die Suche nach heidnischen Wurzeln des Christentums. 7 II. Leo Frobenius: Kulturmorphologie im Zeichen der Weimarer Republik

Das- antisemitisch überdeterminierte-faiblefür heidnische Religiosität, das durch seine christliche Gesinnung hindurchschillert, ist nach des Kaisers Flucht in sein holländisches Exil inspiriert worden durch den bis heute wohl bekanntesten Vertreter der deutschsprachigen Völkerkunde: Leo Frobenius. Frobenius überzeugte 1925 den letzten deutschen Kaiser davon, daß aus dem Alten Testament noch mehr Bücher auf alte asiatische Legenden zuriickzuführen seien, als dieser vermutet habe und daß die Stellen aus dem Neuen Testament, in denen es heißt ,Auf daß die Schrift erfüllet ward!', Fälschungen seien, vermerkt Sigurd v. llsemann in seinen Aufzeichungen über den Kaiser in Holland. 8 Der beriihmte Afrikaforscher und Kulturphilosoph war Seiner Majestät zu diesem Zeitpunkt schon lange freundschaftlich verbunden. Im Dezember Vgl. Leon Poliakov, Der arische Mythos. Harnburg 1993, 340 ff. Vgl. John G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm li. und die deutsche Politik, 2., unveränd. Aufl., München 1988, 21. 6 So kommentiert Wilhelm II. seine mit Dörpfeld unternommenen Ausgrabungen auf Korfu (Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten 1878-1918. Leipzig-Berlin 1922, 170). 7 Im Sinne der "Begriffsklärung" von Richard Faber ist das christliche Verständnis Wilhelms eine Spielart des Neo-Paganismus. Nach Faber ist die Suche nach möglichst alten Anfängen ein typisches Merkmal des Neo-Paganismus: "So interessiert ihn in der Antike eben das Archaische, ja Vorgriechisch-, ,Asiatische' oder -,Pelasgische' und- außerhalb der mittelmeerischen Welt- das ,Bodenständig'- Eigene als das ,Germanische', ,Keltische' usw. oder das Exotische in allseinen Spielformen". Insgeheim könne sogar der römische Katholizismus "im Sinne von Monarchie und Hierarchie, Disziplin und Heroismus" mit Sympathien rechnen (Richard Faber, Einleitung: ,Pagan' und Neo-Paganismus. Versuch einer Begriffsklärung, in: ders. u. Renate Schlesier (Hg.), Die Restauration der Götter. Nürnberg 1986, 10 ff., hier 11). Man kann hier ergänzen: Wilhelm II., der genau diese 'lUgenden favorisierte, hatte keinerlei Mühen, sie mit seinem protestantischen Christentum zu vereinen. Der gemeinsame Nenner aller Strömungen des Neo-Paganismus, der anti-christlichen wie auch der pro-christlichen, ist der anti-jüdische Affekt. Auf eine subtile Weise scheint mir selbst die Soziologie Max Webers - allen voran seine Paria-Hypothese - von neo-paganen Zügen keineswegs frei zu sein (vgl. Michael Spöttel, Max Weber und die jüdische Ethik. Frankfurt/M.-Berlin 1997). a v.Ilsemann, Der Kaiser, Bd. 2 (wie Anm. 3), 22. 4

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1912 hatte Wilhelm II. dem Gelehrten eine halbstündige Audienz gewährt und war von dessen Forschungen und Theorien so begeistert, daß er Frobenius nicht nur zu einem privaten Plausch am Abend einlud, sondern ein lebenslanger Anhänger (und Mäzen) des Ethnologen wurde. Die Flucht des Kaisers in sein Doorner Exil dürfte die Beziehung noch intensiviert haben. Der Völkerkundler war im Hause des Kaisers ein stets gern gesehener und geschätzter Gast. Er übte eine charismatische Wirkung auf den Kaiser aus, die weit über wissenschaftliche Probleme hinausreichte. 9 Frobenius sei der einzige Deutsche, den er getroffen, der auf alle Fragen eine prompte, kluge Antwort geben könne, lobte Wilhelm den Wissenschaftler.10 Der Kaiser war fasziniert von der von Frobenius begründeten Kulturtheorienamens Kulturmorphologie. 11 Gestützt auf seine Forschungen in Afrika, entwarf Frobenius die Kulturmorphologie in den zwanziger Jahren. Schicksalshaft ist der einzelne Mensch seiner Kultur unterworfen, die als mirakulöse spirituelle Substanz ("Paideuma") ein "Eigenleben" über den Köpfen ihrer Träger hinweg führe. Einem lebenden Organismus gleichend, durchlaufen Kulturen drei Stadien. Sie wachsen als "Barbarei" heran, reifen zur "Kulturei" und enden schließlich kläglich als "Mechanei". Im Zentrum der Kulturmorphologie steht ein "Konflikt der Kulturstile". Idealtypischerweise läßt er sich am Gegensatz zwischen bodenbauenden und viehzüchtenden afrikanischen Gesellschaften beschreiben. In der Opposition zwischen "Äthiopen" und "Hamiten" kommt Frobenius zufolge die Differenz zwischen einander antithetisch zugeordneten kulturellen Mustern zum Vorschein. 12 9 "In sehr überlegten, kurzen, scharfen und klaren Worten setzte er [Frobenius] dem Kaiser auseinander, daß es in Deutschland nicht schneller gehen könne, und daß man unendlich Geduld haben müsse. Er begreife wohl, wie schwer es sei, vom Haus Doorn aus die Entwicklung in der Heimat in Ruhe zu betrachten, aber jedes Hetzen und Übereilen müsse schaden. Ich habe den Kaiser nie so gesehen; er war ganz still, hatte selten eine Zwischenfrage, nie einen Widerspruch! Man fühlte ordentlich, wie jedes Wort bei ihm saß. Mit verschränkten Armen stand Frobenius vor dem Kaiser und sprach gewaltig auf ihn ein. Fraglos hat dieser geniale Mann damit ein gutes Wort getan" (Sigurd v. Ilsemann, Der Kaiser in Holland. Aufzeichnungen des letzten Flägeladjudanten Kaiser Wilhelm ll., hrsg. v. Harald v. Koenigswald, Bd. 1. München 1967, 289). 1o Vgl. v.llsemann, Der Kaiser, Bd. 2 (wie Anm. 3), 22. 11 Ein detailliertes Bild der Kulturmorphologie und der Rezeption findet sich bei Hans-Jii.rgen Heinrichs, Die fremde Welt, das bin ich. Leo Frobenius: Ethnologe, Fbrschungsreisender, Abenteurer. Wuppertall998. Dort sind weiterführende Literaturhinweise zu entnehmen. 12 In seiner ,Kulturgeschichte Afrikas' hat Frobenius postuliert, daß die Antinomie zwischen Äthiopik und Hamitik- oder auch: Pnanzer und Viehzüchter- in einer vorausgegangenen Epoche der kulturellen Evolution - dem Stadium der Sammler und Jäger- eine Parallele im Gegensatz zwischen mystischer "Gabulu"- und magischer

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Äthiopische Kulturen sind männlich, mystisch und idealistisch geprägt. Sie sind von heiliger "Hingabe an das Leben" und an die "Sippe" erfüllt. Innerhalb der Kulturmorphologie symbolisiert das noch juvenile und unverbrauchte äthiopische "Paideuma" zudem Erneuerung und wahres Leben. Hamitische Kulturen dagegen sind weiblich, materialistisch und rationalistisch ausgerichtet; sie sind von ihrem profanen "Willen zur Herrschaft" bestimmt. In ihren von abstrakten Gesetzen regulierten "Clans" grassiert eigensüchtiges Verhalten. Längst erstarrt und verbraucht, ist das hamitische Prinzip dem Untergang geweiht. Hamiti.k dient als Metapher für Entfremdung, Verfall und Thd. 13 Frobenius verquickte diese Kulturtheorie mit einem erkenntnistheoretischen Konzept. Gegen die Dominanz des Positivismus bzw. der analytischen Vernunft befürwortete er einen anschauenden (intuitiven) Zugang zu einer "Wirklichkeit", die hinter der profanen Sphäre der mit dem Verstand "mechanistisch" zu erkennenden Tatsachen liegt. Wirklichkeit- dies ist ein sich hinter dem Rücken der Menschen und Völker vollziehender Weltenplan. Diese Wirklichkeit "ergreift" die Menschen der juvenilen, der religiösen Kulturen, die noch am Anfang ihres Lebenszyklus stehen. Frobenius knüpfte mit seiner Betonung der Kulturdualität auf eigenwillige Weise an gängige Paradigmen an, die im 19. Jahrhundert entstanden waren und die Entstehung des Staates bzw. von ,Hochkultur' überhaupt aus Überschichtung zu erklären suchten. Gumplowicz und Oppenheimer postulierten, daß Staaten ihren Ursprung in der Eroberung und folgenden politischen Organisation einer Region durch nomadische Hirtengruppen haben. Ethnologen wie z. B. Seligman übertrugen dieses Paradigma auf die Ethnologie Afrikas: Nomadische Hirten- sogenannte Hamiten- wanderten vom Kaukasus nach Afrika ein und zivilisierten Afrika; d. h.: sie bildeten Staaten.14 "Mahalbi "kultur habe. Diese kulturellen Fbrmationen seien jeweils mit einem bestimmten, sich z. B. in Felsbildern ausdrückenden Stil verwoben: die Gabulukultur mit dem "ostspanischen" und die Mahalbikultur mit dem "frankokantabrischen" Stil {Leo Frobenius, Kulturgeschichte Alrikas. Frankfurt IM 1933). 13 An einigen Stellen seiner Werke ist dieser Dualismus seltsam gebrochen. ,Männliche' Äthiopik und ,weibliche' Hamitik erscheinen als Komplemente der einen großen Kultur {z. B. Leo Frobenius, Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre. Erlebte Erdteile, Bd. 4. Frankfurt /M. 1928, 445). Marshall Sahtins führt die Tatsache, daß die Metapher des Männlichen und des Weiblichen nicht nur in der abendländischen Geistesgeschichte, sondern in vielen Kulturen verbreitet ist, darauf zurück, daß das Leben der Gesellschaft durch die Kombination von entgegengesetzten, aber komplementären Qualitäten hervorgebracht wird, von denen jede ohne die andere unvollständig ist (Marshall Sahlins, Inseln der Geschichte, Harnburg 1992, 93). 14 Vgl. Charles G. Seligman, The races of Africa, first revised edition {first published 1930). London 1939. 19 FBPG - NF, Beiheft 5

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Der 'lbpos der Überschichtung impliziert nicht selten die Differenz zwischen unterlegener mutterrechtlicher Urbevölkerung und patriarchalischer Eroberergesellschaft. Ein eingewanderter männlicher Herrscher, ein starker junger Krieger und Eindringling von außerhalb repräsentiert Männlichkeit; er wird in vielen Fällen mit Himmel und Sonne assoziiert. ,Weiblich' dagegen erscheint das indigene Volk, das mit den Mächten der Erde und der Unterwelt, mit Wachstum und friedlicher Feldarbeit assoziiert wird. Es ist in diesem Zusammenhang an Bachofen zu erinnern, der das Patriarchat mit Staat und Kultur identifizierte, das Matriarchat dagegen mit Urbevölkerung, Natur und Feldbau. Einer der ersten Verehrer des Schweizers, Alexis Giraud-Teulon, war der Meinung, daß Bachofen den Nachweis erbracht habe, daß in der antiken Staatenwelt eine authochtone gynaikokratische Substratkulturvon einwandernden vaterrechtliehen Ariern und Semiten überschichtet worden sei. Das Mutterrecht sei nicht, wie Bachofen angenommen hatte, eine allgemeine Entwicklungsstufe der Menschheit, sondern das Attribut eine großen Rasse. Der Sieg des Vaterrechts sei also nicht das Ergebnis einer evolutionären Entwicklung, sondern das Resultat eines geschichtlichen Kampfes. Frobenius widersprach der herkömmlichen wissenschaftlichen Legende von den staatsbildenden, männlichen Hamiten. 15 Die Hamiten und Hamitaiden - obzwar ohne Zweifel geborene Herrennaturen (aber eben nicht mehr!) 16 - hätten selbst keine Staaten geschaffen (dazu seien sie gar nicht fähig!), sondern die bereits bestehenden Staatsgebilde erobert und dort die herrschenden Dynastien gestellt. Im Zuge der Eroberung hätten die Staaten ihren ursprünglich sakralen Charakter verloren und sich in rein militärisch ausgerichtete Staatswesen gewandelt, die von kriegerischer Disziplin und Subordination bestimmt waren. 17 Damit hat sich, so die kulturmorphologi15 Die ethnologische Hamitentheorie hat Frobenius mit anderen Vorzeichen versehen, da er Hamiten mit Weiblichkeit und die ackerbauenden Äthiopen mit Männlichkeit assozüerte. Über die Gründe dieser Transfonnation kann man spekulieren: Streck sieht den Grund in der Biographie von Frobenius angelegt (Bernhard Streck, Äthiopen und Pelasger. Zu den Quellen der imaginären Ethnographie, in: Paideuma 42 (1996) 169 ff., hier 179). Der Frobenius-Schüler Jensen lieferte eine wissenschaftliche Begründung: Er wies auf den "männlichen Geist" der vom Ackerbau lebenden Kulturen hin: Die Rites de passageund ihre zentrale Zeremonie, die Beschneidung der jungen Männer, würden die Zeugungsfähigkeit des Mannes unterstreichen; sie spielen die geniale Fähigkeit der Natur, sich zu regenerieren, nach (Adolf E. Jensen, Beschneidung und Reifezeremonien bei Naturvölkern. Stuttgart 1933. Reprint New York-London 1938, 155 f., 172). 1e Leo Frobenius, Monumenta Africana. Der Geist eines Erdteils. Weimar 1939, Neudruck. Erstausgabe 1929, Erlebte Erdteile, Bd. 7, 245. 17 Leo Frobenius, Erythräa. Länder und Zeiten des Heiligen Königsmordes. Berlin-Zürich 1931, 351 f. Noch in der Fbrtsetzung der Kulturmorphologie durch Jensen spielen die Hamiten bzw. Niloten (eine Untergruppe der Hamiten) die Rolle von

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sehe Imagination, in Afrika genau das gleiche historische Drama wie auf europäischem Boden abgespielt, wo ein sakraler Staat - das Heilige Römische Reich Deutscher Nation- von der westlichen Zivilisation ,überschichtet' worden war. Offensichtlich hat Leo Froebenius "im großen soziologischen Laboratorium Afrikas" nach einem Muster für die ersehnte Erneuerung Deutschlands gesucht. Denn der Dualismus zwischen Äthiopen und Hamiten beschränkte sich in den Augen des Afrikaforschers keineswegs ausschließlich auf Afrika. Er verkündete, daß die Grenze zwischen Äthiopik und Hamitik in Europa exakt am Rhein verlaufe. 18 Die Heldennation Deutschland sei dem äthiopischen Lager zuzurechnen, währenddessen die Westkulturen Frankreich, England und USA zur hamitischen Sphäre gehören würden. Während die ethnologische Beschreibung der Äthiopen dem zeitgenössischen Ideal deutscher Kultur entsprach, stellten die Hamiten gleichsam deren verkehrte Welt - die westliche Zivilisation - dar. Strukturell und tendenziell war diese Zivilisationskritik antisemitisch, selbst wenn sie sich nicht offen gegen Juden richtete. 19 Noch durch die Werke seines ersten Schülers Adolf E. Jensen zieht sich wie ein roter Faden der Versuch, den jüdischen Monotheismus zum Sündenbock des Niedergangs einst göttlicher Kultur zu stilisieren. Visionär beschwor Frobenius die Überwindung der Weimarer Republik in Form einer "Kulturwende", ein Ereignis von weltgeschichtlicher Dimension. Es sei die - vom Schicksal bestimmte - Aufgabe der Deutschen, diese Wende aktiv zu gestalten und so dem Elend der materialistischen Periode ein Ende zu bereiten. Bei Wilhelm II. fiel diese "Schicksalskunde" auf fruchtbaren Boden: herrschsüchtigen Eroberern, welche die ihnen eigentümliche Kultur den autochthonen Gruppen oktroyierten (Vgl. Michael Spöttel, Hamiten. Völkerkunde und Antisemitismus. Frankfurt IM. -Berlin 1996, 62 ff.). Tatsächlich - insofern ist Frobenius Recht zu geben -ist die Überschichtungstheorie mittlerweile ad acta gelegt worden, da sich herausgestellt hat, daß die Gründung sakraler Königtümer und die Entstehung sozialer Stratifikation keine voneinander abhängige Phänomene sind und insofern nicht auf das Konto einer eingewanderten Gruppe- den Hamiten- zurückgehen. Aber, und hier irrt Frobenius, die Entstehung des sakralen Königtums und die Bildung von Staaten dürften voneinander unabhängig erfolgt sein. In den frühen Bauernkulturen Rwandas, Buhayas oder Karagwes beispielsweise hat es Dorfhäuptlinge mit sakralem Charakter bereits gegeben, bevor Reiche durch Einwanderer gegründet wurden (G. Liesegang I S. Seitz I J.C. Winter, in: Hermann Baumann (Hrsg.), Die Völker Afrikas und ihre traditionallen Kulturen, Bd. 2: Ost-, West- und Nordfrika. Wiesbaden 1979, 1 ff., hier 22). 18 Leo Frobenius, Schicksalskunde im Sinne des Kulturwandels. FrankfurtiM. 1932. In ,Kulturgeschichte Afrikas' hat Frobenius auf entsprechende historische Beziehungen hingewiesen (Frobenius, Kulturgeschichte (wie Anm. 12), 191 f .). 19 Vgl. Spöttel, Hamiten (wie Anm. 17).

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"Ich bin wie erlöst! Endlich weiß ich, welche Zukunft wir Deutschen haben, wozu wir noch berufen sind! Die ganzen Jahre nach der Revolution habe ich darüber gegrübelt, jetzt endlich weiß ich es: wir werden die Führer des Orients gegen den Ok-

zident! Mein Bild ,Völker Europas' muß ich jetzt ändern. Wir gehören ja auf die andere Seite! Wenn wir den Deutschen erst einmal beigebracht haben, daß Franzosen und Engländer gar keine Weißen, sondern Schwarze - die Franzosen z. B. Hamiten- sind, dann werden sie schon gegen die Bande vorgehen". 20

Von Doorn aus suchte der Kaiser dies Schicksal nach Kräften zu fördern, durch eigene wissenschaftliche Publikationen, aber auch als Gastgeber von wissenschaftlichen Kongressen, aus denen 1931 die ,Doorner Arbeits-Gemeinschaft' hervorging. 21

m. Der sterbende Gott Wenn hier von Einflüssen der Kulturmorphologie auf das Weltbild Wilhelms die Rede ist, so muß auf einen Schwerpunkt der Arbeiten von Frobenius hingewiesen werden, der eine besondere Faszination auf S.M. entfaltet hat: das heilige Königtum. Ich gebe im folgenden einen kurzen Überblick über die charakteristischen Züge dieser Institution und stelle anschließend markante Positionen der Theoriebildung vor. Denn die Eigentümlichkeit der Interpretation von Frobenius gewinnt gerade im Kraftfeld vergleichbarer Ansätze Konturen. Eike Haberland, ein später Jünger der von Frobenius inszenierten ,Frankfurter Schule der Volkerkunde', hat in einem kleinen Aufsatz etwas nebulös geschrieben, daß diese Institution in Gesellschaften verbreitet gewesen sei, welche die "Schwelle zu den Hochkulturen" bildeten. 22 George Frazer, der erste Ethnologe, der sich ausführlich mit der Problematik des sakralen Königtums beschäftigt hat, sieht in der Figur des heiligen Königs eine Sprosse auf der Leiter der kulturellen Evolution, die zwischen den Magiern und Regenmachern des "age of magic" und den Gottkönigen des "age of religion" 2o Vgl. v. llsemann, Der Kaiser, Bd. 1 (wie Anrn. 9), 287. Gestützt auf die Kulturmorphologie, revidierte der letzte Monarch 1936 seine Position zum Krieg zwischen Abessinien und Italien. Zunächst auf der Seite der Abessinier stehend, erhoffte er sich plötzlich einen italienischen Sieg, da ,Weiß' gegen ,Schwarz' siegen müsse (Vgl. v. llsemann, Der Kaiser, Bd. 2 (wie Anrn. 3), 287 f .). Eine ähnliche Position vertrat die Kulturmorphologie (Vgl. Spöttel, Hamiten (wie Anrn. 17), 63). 21 Vgl. Hans Wilderotter, Zur politischen Mythologie des Exils. Wilhelm II., Leo Frobenius und die ,Doorner Arbeits-Gemeinschaft', in: ders. I Klaus D.Pohl (Hg.), Der letzte Kaiser- Wilhelm II. im Exil. Berlin 1991, 131 ff. 22 Eike Haberland, Das Heilige Königtum, in: Burghard Freudenfeld (Hg.), Völkerkunde. Zwölf Vorträge zur Einführung in ihrer Probleme. München 1960, 77 ff., hier: 77.

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liegt. In der Tat: Es sind kulturell recht unterschiedliche Formationen, deren politisches, religiöses und wirtschaftliches Zentrum das sakrale Königtum bildet. Gemeinwesen ohne ausdifferenzierte Sozialstruktur, jedoch mit einem Häuptling an ihrer Spitze sind darunter ebenso zu finden wie Gesellschaften, die eine differenzierte ständische Ordnung der Gesellschaft entwickelt haben, zum Teil in Städten leben, ihre Äcker und Felder großzügig zu bewässern in der Lage sind, Rad und Pflug benutzen und schriftkundig sind. Nach Haberland, der sich in erster Linie auf die afrikanische Ethnografie stützt, ist das sakrale Königtum eine von der Person seines Trägers unabhängige Institution, die als Ausdruck einer auf die Erde projizierten kosmischen Ordnung gilt: nicht der König, wohl aber das Königtum ist göttlich. Übermenschliche Eigenschaften erhält der Herrscher erst mit dem Erlangen der königlichen Würde. Der König gilt einmal als die Verkörperung der regierenden himmlischen Mächte- zum anderen spiegelt sich das Schicksal seiner Untertanen und des von im regierten Landes in ihm wider. Man glaubt an den unmittelbaren Einfluß des Königs auf den Zustand von Natur und Gesellschaft. Ökologische und soziale Krisen, etwa Dürrezeiten oder mangelndes Kriegsglück, werden mit persönlichen Schwächen des Königs in Zusammenhang gebracht, sei es, daß er seine Funktionen vernachlässigte, sei es, daß er nicht mehr über die notwendigen körperlichen oder geistigen Ressourcen verfügt, um seinen Aufgaben gerecht zu werden. Jedenfalls: Erst die Entfernung des Königs aus seinem Amt wird - so der gesellschaftliche Konsens- die natürliche Ordnung wieder in ihr Lot bringen. Hier hat der im Zusammenhang mit dem sakralen Königsturn vielleicht spektakulärste Brauch seine Wurzel: der rituelle Königsmord. In seiner berühmten Studie The Golden Bough hat Frazer diesen Brauch ausführlich erörtert. Frazer untersuchte das Verhältnis der Priesterkönige zu weitverbreiteten agrikulturellen Riten, durch deren Vollzug der ,Korngeist' in der letzten Garbe, in Tieren, menschlichen Wesen oder bildliehen Darstellungen bewahrt werden soll. 23 Manchmal zerstört man diese Dinge, um die Fruchtbarkeit des Boden vor der Saat zu gewährleisten. Frazer vermutete, daß diese Riten im Zentrum bestimmter Zeremonien und der daran sich an23 Frazer wurde zu seinen Reflexionen über den sterbenden Gott maßgeblich von Robertson Smith' ,Lectures on the Religion of the Semites' (1889) inspiriert. Gestützt auf seinen Mentor Julius Wellhausen, der die protestantische Bibelkritik maßgeblich geprägt hat, führte Smith gegen die traditionelle theologische Auffassung aus, daß keineswegs Schuld und Sühne daß zentrale Motiv des Opfers bilden. Im Zentrum des Opferrituals stehe die Kommunion zwischen Gott und seinen Verehrern durch das gemeinsame Teilhaben am lebenden Fleisch und Blut eines heiligen Opfers. Die archaische Praxis des freiwilligen Todes des göttlichen Opfers enthalte zugleich einen Kerngedanken der christlichen Doktrin: der Erlöser gibt sein Leben für sein Volk bzw. für seine Gemeinde oder aber die Menschheit her.

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knüpfenden Mythen stehen, die bei den alten Zivilisationen des Mittelmeeres und des Nahen Osten verbreitet waren. Diese Zeremonien und Mythen heben die Geschichte eines Gottes hervor (manchmal eines göttlichen Sterblichen), der erschlagen wurde oder starb und dann wiedererweckt wurde durch die Liebe einer Göttin, die die Mutter oder Gattin des Toten war oder sich in ihn verliebt hatte. Bekannte Beispiele sind Adonis und Aphrodite, Tammuz und Astarte, Osiris und Isis, Dionysos und Demeter, Persephone (sie als einzige ist eine Tochter) und Demeter. In diesen Mythen sah Frazer auf dramatische Weise das Sterben und Wiederbeleben der Vegetation im Wechsel der Jahreszeiten thematisiert- der rituelle Königsmord soll die stete Erneuerung der Natur sicherstellen. Frazer gab eine rituelle Begründung für diese Praxis: "Hence, if there is any measure of truth in this theory, the practice of putting divine men and particulary divine kings to death, which seems to have been common at a partiewar stage in the evolution of society and religion, was a crude but pathetic attempt to disengage an immortal spirit from ist mortal envelope, to arrest the forces of decomposition in nature by retrenching with ruthless hand the first aminaus symptoms of decay".24

Frazer war der Ansicht, daß sich der Opferritus allmählich zivilisiert hat. War ursprünglich der König umgebracht worden, so wurde das letztendlich triste Los später in zahlreichen Gesellschaften einem Stellverteter zuteil, einem Gegenkönig, der über eine kurze Zeitspanne hinweg - zwischen den Zeiten, d. h . anläßlich karnevalistischer Festivitäten- alle Vorteile der Regentschaft genießen konnte. 25 Nicht selten waren es Kriminelle, die nach einer kurzen Freudenzeit schließlich hingerichtet wurden. 26 Schließlich, so Frazer, wurde das Menschenopfer abgeschafft und durch ein blutiges (Tier-) oder unblutiges (Pflanzen-)opfer oder gar durch einen symbolischen Ritus ersetzt. Noch heute werden Faschings- bzw. Karnevalshoheiten gewählt, die über die tollen Tage (Relikte alter Vegetationskulte) hinweg regieren, doch freilich ihre Regierung nicht mit dem Leben bezahlen müssen. Im Kölner Karneval wird am letzten Tag eine Figur- der ,Nübbel'- verbrandund so ein Menschenopfer symbolisch vollzogen.

24 James G. Frazer, The Golden Bough, Part Ill, The Dying God, 3rd Edition. New York-London 1963, V f.- Der sterbende Gott, ergänzt Frazer in einem anderen Band des ,Golden Bough', diente seiner Gemeinde zugleich als Sündenbock (vgl. James G. Frazer, The Scapegoat. The Golden Bough, Part VI, 3rd Edition. Landen 1963). 25 Frazer, Dying God (wie Anm. 24), 52, 56, 195; Frazer, Scapegoat (wie Anm. 24), 409. 26 Frazer hat bemerkenswerterweise die Kreuzigung Christi (nach Matthäus 27, 26-31) mit Erneuerungszeremonien-Frazer bezieht sich auf den Bericht von Dien Chrysostomos über das babylonische Sacaea-Fest - in Verbindung gebracht (Frazer, Scapegoat (wie Anm. 24), 412 ff.).

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Gegen die Thesen Frazers zum sakralen Königturn sind eine Reihe von Einwänden erhoben worden. Henri Frankfort zufolge hat Frazer die Unterschiede im Ritus und Weltbild zwischen den einzelnen Kulturen zugunsten seiner generellen These nivelliert. 27 Ein Musterbeispiel Frazers für das sakrale Königturn -in Afrika hat diese andernorts längst historische Institution bis in das 20. Jahrhundert hinein existiert- ist das der Shilluk. In seiner Frazer-Lecture von 1948 suchte Edward E. Evans-Pritchard die rituelle Tötungs des Königs als eine von den Shilluk kolportierte Fiktion zu entlarven. Es gebe keine Beweise, daß Könige erwürgt, erstickt oder in einer Hütte aufgebahrt und dort zum Sterben zurückgelassen würden, sobald sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Gattinnen zufriedenzustellen oder aber Anzeichen von Hinfälligkeit oder Senilität zeigen. Indes habe die Annahme eines rituellen Königmords handfeste politische Konsequenzen. In Krisenzeiten treten die ansonsten latenten Spannungen innerhalb der politischen Struktur der Shilluk-Nation offen zutage. Da das Schicksal der Nation und die Vitalität des Königs miteinander verknüpft scheinen, provozieren nationale Krisen die möglichen Thronanwärter zur Rebellion gegen den vermeintlich schwächer werdenden König. So stirbt der König tatsächlich einen gewaltsamen 'Ibd- doch nicht in Form eines heiligen Rituals, sondern als Opfer der Hofintrigen möglicher Nachfolger, die sich auf die Gefolgschaft der mit dem bisherigen Regime Unzufriedenen stützen können. Kurz: die Ermordung des Königs sei das Ergebnis von Machtkämpfen zwischen verschiedenen, zumeist lokal gebundenen Fraktionen der Schilluk, die freilich nur in Zeiten nationaler Not offen ausgetragen werden. Die Institution des Königturns wird nicht infragegestellt. Im Gegenteil: die Rebellionen sollten genau die mit dem Königturn verbundenen Werte wahren. Man rebelliert gegen den König im Namen des Königturns, das die nationale Einheit symbolisiert und insofern gewährleistet. Das sakrale Königturn habe seinen Platz typischerweise in gesellschaftlichen Systemen, in welchen die politischen Segmente Teil einer lose organisierten Struktur ohne eigentliche Regierung sind. Eine eigentlich politische Macht im Sinne einer permanenten und direkten Kontrolle über die Bevölkerung sei allerdings mit dieser Institution nicht verbunden. 28 In diesem Punkt kam Helmut Straube nach seiner Analyse des Königturns der Shilluk zu einem konträren Ergebnis: Der König könne sehr wohl als zentrale Autorität angesprochen werden, 27 Henri Frankfort, Excurxus: Tammuz, Adonis, Osiris, in: ders., Kingship and the Gods. Chicago 1955, 286 ff. 28 Edward E. Evans-Pritchard, The Divine Kingship of the Shilluk of the Nilotic Sudan (The Frazer Lecture, 1948), in: Essays in Social Anthropology. London 1962 (Ausgabe 1969), 66 ff.

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"die in der Lage ist, ihren politischen Willen notfalls mit Gewalt durchzusetzen, und die über ein klar abgegrenztes Territorium und die auf ihm lebende Bevölkerung eine stetige Kontrolle ausübt, auch wenn diese Kontrolle recht lückenhaft ist und in ihrer Intensität Schwankungen unterworfen ist. Der Herrschaftsanspruch des Königs beruht auf seiner sakralen Position als Garant der Weltordnung. die Herrschaftsausübung dagegen auf seiner beachtlichen wirtschaftlichen Macht, die es ihm erlaubte, eine zahlreiche Klientel um sich zu sammeln und zu unterhalten" .29

Max Gluckman ging im Rahmen der Frazer-Lecture 1952 auf die sozialen Komponenten von in Südost-Afrika üblichen Vegetations-Zeremonien ein. 30 Die markante Tendenz der Zeremonien, die einen karnevalesken Charakter haben, sei es, daß Positionen zur Sprache gebracht werden, die den gängigen sozialen und moralischen Kanon auf den Kopf stellen; insofern werden, so Gluckman, soziale Spannungen offen zum Ausdruck gebracht. Frauen müssen ihren Anspruch auf Zügellosigkeit und Dominanz vorbringen, Prinzen müssen sich dem König gegenüber so verhalten, als würden sie den Thron beanspruchen, das gemeine Volk artikuliert sein Ressentiment gegen die herrschende Autorität. Aus diesem Grund könne man die Zeremonien ,Rituale der Rebellion' nennen. Da diese Rituale ihren Platz im Kontext eines etablierten und sakralen traditionellen Systems hätten, stellen sie wohl die Machtverteilung, nicht aber das System als solches in Frage. Der institutionalisierte Protest gewährleiste eine Erneuerung der Einheit des Systems. Wenn nun die potentielle Rebellion in Form der großen FruchtbarkeitsZeremonien in der Praxis die Einheit der Gesellschaft stärkt, könnte es dann nicht sein, fragt Gluckmann, daß sogar tatsächliche Rebellionen die gleiche Funktion haben? In der Tat wurden infolge der periodisch stattfinden Bürgerkriegen nicht die politischen Institutionen verändert, sondern nur die Personen, die sie innehatten, ausgetauscht. Dies heißt: erwies sich ein König als 'JYrann, geriet nicht das Königtum in Gefahr, sondern man suchte einen besseren König an die Macht zu bringen. Ferner wurde die Sozialstruktur niemals in Frage gestellt: Nur ein Mitglied der königlichen Familie konnte Nachfolger eines abgesetzten Königs werden. So diente letzten Endes jeder Aufstand dem Erhalt des Königtums und damit der geltenden Ordnung. Ihren Platz hat die Institution des heiligen Königtums (und die damit verknüpften Formen des Protests) freilich nur in einem relativ stationären,repetitiven' (Gluckman)-System. 31 29 Helmut Straube, Die Stellung und die Funktion des Shilluk-Königs als zentrale Autorität, in: Paideuma 19/20 (1973/74) 213 ff., hier: 254. ao Analoge Zeremonien in der Antike, z. B. die römischen Saturnalien, behandelt Frazer insbesondere in Frazer, Scapegoat (wie Anm. 24), 306 ff.

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Die Analysen der beiden britischen Ethnologen zielten darauf ab, den politischen Kern dieser Institution und der damit verbundenen Rituale freizulegen. Michael Young hat diese Deutung unter Berufung auf das sakrale Königtum der Jukun als unzureichend kritisiert. Jukun-Könige würden nicht aus politischen, sondern aus rituellen Beweggründen getötet- wie bereits Frazer vermutet hatte. Jedenfalls lassen sich die sozio-strukturellen Voraussetzungen, die Evans-Pritchard unterstellte, im Falle der Jukun nicht nachweisen. Da die Annahme vorherrscht, die Gesundheit des Königs sei mystisch verbunden mit dem Heil seines Volkes und sein Leben mit dem Leben des Getreides, leiten Krisen wie Dürre und Hungersnot die rituelle Tötung ein. 32 Fast man die ethnologische Diskussion um das heilige Königtum kurz zusammen, so kann man sagen, daß sich idealistische (Frazer, Young) und materialistische Interpretationen (Evans-Pritchard, Gluckman, Straube) gegenüberstehen. Marshall Sahlins hat in seinen theoretisch ausgerichteten Arbeiten den Versuch unternommen, einen ethnologischen Kulturbegriff auszuarbeiten, der den Dualismus zwischen idealistischen und materialistischen Positionen hinter sich läßt. Die entscheidende Eigenschaft der Kultur sei nicht, daß sie materiellen Zwängen gehorchen müsse, "sondern daß sie dies gemäß einem bestimmten symbolischen Schema leistet, das niemals das einzig mögliche ist. Es ist folglich die Kultur, die jeweils die Nützlichkeit konstituiert." Sahlins läßt materielle Zwänge und Kräfte nicht außer acht und ist auch nicht der Ansicht, daß diese keine Einflüsse auf die kulturelle Ordnung hätten. Nur: diese Auswirkungen können seiner Ansicht nach nicht aus dem Wesen der Kräfte herausgelesen werden, da sie von der kulturellen Umgebung abhängen. 33 Sahlins sieht im göttlichen Königtum einen einst universell verbreiteten Strukturtyp, der erst mit dem Erscheinen der Athener polis radikal Abschied genommen habe34 ; er führt in diesem Zusammenhang den Begriff der "heroischen Geschichte" in die Debatte ein: 31 Max Gluckman, Rituals of Rebellion in South-East Africa (Frazer Lecture 1952), in: Order and Rebellion in Tribai Africa. London 1963, 110 ff. 32 Michael W. Young, The divine kingship of the Jukun: A reevaluation of some theories, in: Africa 36 (1966) 135 ff. 33 Marshall Sahlins, Kultur und praktische Vernunft. Frankfurt/M. 1994, 8 f., 289 f . In ,Inseln der Geschichte' wendet Sahlins gegen idealistische Ansätze ein, Idealisten würden das Gewicht der ,Realität' ignorieren (Sahlins, Inseln (wie Anm. 13}, 151). 34 Sahtins hält eine eindeutige Unterscheidung zwischen ,göttlichen Königen', ,heiligen Königen', ,magischen Königen' und ,Priester-Königen', ja selbst zwischen ,Häuptlingen' und ,Königen' nicht für sinnvoll (Sahlins, Inseln [wie Anm. 13], 164, Anm.3).

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"Die historischen Abläufe ergeben sich aus der Präsenz des Göttlichen unter den Menschen, beispielsweise in der Person des heiligen Königs oder in den magischen Kräften eines Häuptlings. Dementsprechend wird das Prinzip der historischen Praxis gleichbedeutend mit göttlichem Handeln: die Erschaffung der menschlichen und kosmischen Ordnung durch einen Gott."

Ein spezifisches Merkmal der .,heroischen Gesellschaften" sei ihre "hierarchische Solidarität": Der Zusammenhalt der Mitglieder oder Untergruppen ist durch ihre gemeinsame Unterordnung unter die herrschende Macht bedingt - eine Macht, die nicht nur über, sondern auch außerhalb der Gesellschaft steht. Eine Reihe von heiligen Tabus gewährleisten diesen Standort. Sahlins spricht von .,Mytho-Praxis"; d. h.: das historische Handeln wird explizit als Projektion mythischer Beziehungen organisiert. Seine These erläutert Sahlins u. a. am Beispiel der hawaiischen Form des sakralen Königtums in ihrer Konfrontation mit der europäischen Expansion. In seiner Deutung wird James Cook zu einem sterbenden Gott. Bei seiner Ankunft auf Hawaii im Januar 1979 wurde Cook als Gott Lono begrüßt, der Gott des Wachstums der Natur und der Fortpflanzung des Menschen, der jedes Jahr auf die Insel zurückkehrt und den Winterregen mitbringt und der weiter ein alter König ist, der kommt, um seine heilige Braut zu suchen. Die Einheimischen vollzogen die Zeremonie des Makahiki (Frazer hat dieses große hawaiische Neujahrsfest in seiner Studie The Dying God ausführlich beschrieben). Nachdem Cook einige Wochen später den hawaiischen König Kalaniopu'u auf Grund eines Mißverständnisses gefangen nehmen ließ, wurde er von einem verehrten Wesen zum Objekt der Feindschaft und von den Hawaianern erdolcht. So wurde Cook vom göttlichen Empfänger der Opfergabe zum Opfer selbst - laut Sahlins eine im polynesischen Denken durchaus mögliche Transformation, die in den Kämpfen der Könige immer aktualisiert wurde. Der Tod von Cook war zugleich der Tod von Lono. Ankunft und Tod des Fruchtbarkeitsgottes wurden Jahr für Jahr wieder im Makahiki zeremoniell - d. h. auch durch Menschenopfer- wiederholt. 35 Iv. Schicksal oder die Idee des Sichselbstopferns

Gleich der Deutung, die Sahlins dem heiligen Königtum gegeben hat, ist die entsprechende Interpretation von Frobenius kulturorientiert36 , doch auf Sahlins, Inseln (wie Anm. 13), 48 f., 57, 63, 81, 105 ff. Zwischen Sahlins' Kulturtheorie und der Kulturmorphologie gibt es Beriihrungspunkte. Ich denke etwa an den von Sahlins in ,Kultur und praktische Vernunft' 35 36

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idealistische Weise. 37 Frobenius beschäftigte sich intensiv nach dem Ersten Weltkrieg mit dieser Institution. 38 In den Jahren 1928 bis 1930 unternahm der Gelehrte eine Expedition in den Süden Ostafrikas und untersuchte die berühmten Ruinen von Simbabwe. Die Ergebnisse seiner Forschungsreise veröffentlichte er in Erythräa. Länder und Zeiten des Heiligen Königsmords. Bewegt schildert er den tiefen Eindruck, den die afrikanische Variante dieser Institution in ihm hinterlassen hat: "Das was mich unter allem hier in Betracht Kommenden immer wieder und fast persönlich am gewaltigsten ergreift, ist die Gestalt jenes Gottkönigs, der in dem hohen Sinne, ein höchstes Symbol zu schaffen, zunächst als völlig makelloser Mensch edelster Zucht und Art gewählt wird, - dann eine durch erdenklichste MachtaustaUung erreichte Erhöhung erlebt- um endlich ein Dasein damit zu vollenden, daß er geopfert wird". 39

Der machtvolle Gottkönig ist nach Frobenius das Symbol einer Gemeinschaft, die ergriffen und hingebungsvoll "bis zur letzten Selbstaufgabe" die ewig gültige und heilige Ordnung des Kosmos- "die große Tragödie vom Werden und Vergehen", die ihren Ausdruck im Jahreszeitenwechsel und im Wandel der Gestirne findet- spielt, ohne mit ihrem Spiel profane Zwecke zu verfolgen. Die Lebensform des heiligen Königs wird durch die Bewegungen des Mondes bestimmt; er entzieht sich der Öffentlichkeit bei abnehmendem Mond, verbirgt sich bei Vollmond. 40 entwickelten Kulturbegriff; mit seinen Attacken gegen einseitig utilitaristische Positionen erinnert Sahlins an die Kritik von Fi'obenius an materialistisch-analytischer Mentalität, zumal Sahtins zwischen spezifisch westlich-kapitalistischer und archaischer Rationalität unterscheidet (Vgl. Sahlins, Inseln [wie Anm. 13}; ders., Kultur [wie Anm. 34]). Eine weitere Parallele ist die Betonung der Bedeutung der geschichtlichen Dimension für die menschliche Kultur (und umgekehrt). Hans-Jürgen Heinrichs erwähnt in seiner Fi'obenius-Biographie (siehe Anm. 11) wohl die französische Rezeption der Kulturmorphologie, geht aber nicht auf analoge Entwicklungen in der amerikanischen Ethnologie ein. Ich glaube auch nicht an einen unmittelbaren Einfluß von Fi'obenius auf die amerikanische Theoriebildung, doch sind vermutlich über Fi'anz Boas einige Gedanken in die Cultural Anthropology eingeflossen, die auch Fi'obenius inspiriert haben. 37 Zur Verwurzelung des kulturmorphologischen Kulturbegriffs im deutschen Idealismus vgl. Fritz Kramer, Einfühlung. Überlegungen zur Geschichte der Ethnologie im präfaschistischen Deutschland, in: Thomas Hauschild (Hg.), Lebenslust und Fi'emdenfurcht. Frankfurt IM. 1995, 85 ff. 38 1892 hat Frobenius einen Aufsatz über ,Staatenentwicklung und Gattenstellung im südlichen Kongobecken' verfaßt und afrikanische Königstümer behandelt (wiederabgedruckt in: Leo Frobenius, Ausfahrt: Von der Völkerkunde zum Kulturproblem, Erlebte Erdteile, Bd. 1. Frankfurt IM. 1925). Sein frühe Position hat er später als unausgegoren charakterisiert. 39 Frobenius, Erythräa (wie Anm. 17), 222. 40 Frobenius, Paideuma (wie Anm. 13), 298; ders., Kulturgeschichte (wie Anm. 12), 34, 40; ders., Erythräa (wie Anm. 17), 242 f.

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Die Herrschaft des "Priesterkönigs" duldet keinen Widerspruch, sie ist absolut. Keiner irdischen Gerechtigkeit hat er Folge zu leisten. Selbst die schrecklichsten Wirkungen seines Regiments sind gerecht, da der König der Vollstrecker göttlichen Schicksals ist. Gerade die "Hingabefähigkeit" des Einzelnen - sie schließt Menschenopfer bei den alljährlichen Zeremonien mit ein- der Gerneinschaft bzw. dem Herrscher gegenüber ist Frobenius zufolge der beste Beweis der noch ungebrochenen, selbst das Alltagsleben restlos durchdringenden Religiosität und Harmonie eines Volkes.41 Freilich täuscht die grenzenlose Verfügung des heiligen Königs über die ihm Untergebenen darüber hinweg, daß er als Werkzeug des Schicksals diesem dennoch ausgeliefert ist. Stets wandelt der Herrscher arn Rande gewaltsamen Untergangs: "Er selbst konnte zum Opfer werden. Wenn seine körperliche Intaktheit durch eine Krankheit Schaden erlitt, so konnte er hingerichtet werden. Ja, auch die portugiesischen Nachrichten lassen es durchleuchten, daß diese Könige nach Ablauf bestimmter Regierungsfristen dem rituellen Morde durch den Strang verfielen".42

Die Tötung des Königs leitet einen chaotischen, anarchischen Zustand ein, die bestehende juristische und moralische Ordnung gilt nicht mehr. Dies rituelle Chaos wird erst durch die Inthronisation des Nachfolgers beendet. In Kulturgeschichte Afrikas kommentierte Frobenius: "Das Ereignis der Opferung des Königs hatte die Bedeutung der Zeitabschnitte gliedernder Zäsur. Es war ein Tag des Schreckens, der Umkehrung aller Verhältnisse, des Rechts auf Gewalttaten für die einen, der Pflichten zur Erduldung für die Anderen. Und dies bei Völkern, die sonst ein vorbildlich geordnetes Leben führten. Dem Schrecken und Grauen des Untergangstages folgte dann ein jubelhaftes Begehen des Einsetzens eines neuen Herrschers und die Wiederkehr in eherner Zucht und Ordnung" _43

Zwar beziehen sich diese Sätze auf das afrikanische Königtum, doch lassen sie sich durchaus als ein Kommentar tagespolitischer Ereignisse in Deutschland lesen. Parallelen zum zeitgenössischen Geschehen drängten sich offenbar auf. Schließlich interpretierten Konservative die europäische Geschichte seit der französischen Aufklärung als ordnungsloses InterregFrobenius, Paideuma (wie Anm. 13), 49. Frobenius, Erythräa (wie Anm. 17), 4. Auch hier liegt eine Analogie zwischen dem Leben des Königs und dem Mond vor: "Wie der Mond aufsteigt, zur Fülle gelangt, abschwillt und stirbt, so war auch der König bald sichtbar, erstrahlte in gabenspendender Herrlichkeit und trat dann bis zur völligen Verborgenheit zurück. Und wurde hingerichtet. Er verschwand wie sein großes Vorbild, bis die Schwestergattin ihn erlöst und ihn wieder in neuer, junger Gestalt an das Licht und vor die Augen der Völker führt" (Frobenius, Erythräa [wie Anm. 17], 243). 43 Frobenius, Kulturgeschichte (wie Anm. 12), 33 f. 41

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num, dem ein baldiges Ende - durch die Wiedereinsetzung der ewig gültigen, unveränderlichen Ordnung - beschieden sei. In den Jahren 1933 und 1934 bezog Frobenius mehrfach durchaus wohlwollend Stellung zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Er war offensichtlich überzeugt, daß sich seine 1932 in Schicksalskunde gestellte Prognose einer baldigen- vom äthiopischen Deutschland zu bewältigenden - Kulturwende erfüllt habe. 44

Der Ursprung heiligen Königtums lag nach Überzeugung von Frobenius außerhalb Afrikas: Mit dem Königsturn sind "orgiastische Sitten und Kultusübungen" verbunden, die der Natur "echt negerisch-äthiopischer" Stämme zuwiderlaufen, denn diesen "sexualgesunden" Volkern fehlt "jede Art der Genußsucht auf diesem Gebiete" und "das Geschlechtliche (spielt) sich in außerordentlich geregelter und taktvoller Weise" ab. Dennoch hat sich das heilige Königtum - und keineswegs zufällig - in den äthiopischen Gebieten verbreiten können. 45 44 Leo FTobenius, Schicksalskunde im Sinne des Kulturwandels. Frankfurt/M. 1932, 37. Noch im Vorwort zur 2. Auflage (1938) lobt er, daß seine in der 1. Auflage gestellte "Diagnose" sich als richtig erwiesen habe. Frobenius scheint - wenigstens zunächst- die Person Hitlers durchaus gelitten zu haben. Wilhebn II. jedenfalls kommentierte verärgert einen Brief des Fbrschers an den Grafen Schwerin: "Für H. hat er begeisterte Worte in der Öffentlichkeit, für W II. findet er keine" (zit. nach Wilderotter, Zur politischen Mythologie (wie Anm. 21), 139). Heinrichs zufolge hat Frobenius den Nazis weniger Sympathien entgegengebracht, als es diese Äußerungen vermuten lassen. So habe er sich im März 1938 anläßlich eines Besuchs bei seinen Freund Karl Kereny in Budapest erschüttert über den kurz zuvor vollzogenen sogenannten Anschluß Österreichs an Deutschland gezeigt und geäußert, daß er sich einen Sieg des Nationalsozialismus auf keinen Fall gewünscht habe (Heinrichs, Fremde Welt (wie Anm. 11), 97). War Frobenius tatsächlich ein Regime-Gegner, oder hat er sich, wie beispielsweise Heidegger, von den Nazis nach anfänglichen Sympathien abgewendet, als ihm bewußt wurde, daß diese seine Hoffnungen auf eine Kulturwende doch nicht in der von ihm intendierten Weise einlösen würden? Anhänger des Gelehrten aus dem Kreis der Kulturmorphologen haben 1933 eigens seine geistige Vorreiterrolle für die ,deutsche Revolution' betont, so v. der Steinen und Wahlenberg (Leo FTobenius, Ein Lebenswerk aus der Zeit der Kulturwende. Dargestellt von seinen Freunden und Schülern. Leipzig 1933). Von den Nazis wurde Frobenius mehr geduldet denn gelitten. Man verstand seine Kulturmorphologie als eine Art Milieulehre. Alfred Rosenberg lehnte aus diesem Grund 1938 seine Teilnahme an einer Feier des 40jährigen Jubiläums des ,Fbrschungsinstituts für Kulturwissenschaften' ab. Frobenius widersprach mit seiner Kulturtheorie nazistischer Rassendoktrin. Ein Vortrag des Forschers über den "Konflikt der Kulturstile" vor dem ,Verein zur Abwehr des Antisemitismus' am 2. 6. 1930Frobenius hob hervor, daß "allein die Kultur ( ... )als Seelenhaftes" Körper und infolgedessen "Rasse" und Nationen bestimme-, provozierte einen geharnischten Artikel im ,Volkischen Beobachter'. 45 Leo FTobenius, Indische Reise. Ein unphilosophisches Reisetagebuch aus Südindien und Ceylon. Berlin 1931, 21; Frobenius, Kulturgeschichte (wie Anm. 12), 161, 207; FTobenius, Menumenta (wie Anm. 16}, 70, 217, 265.

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Im Anschluß an seine Expedition nach Simbabwe reiste Leo Frobenius nach Indien, um den Nachweis zu erbringen, daß das sakrale Königtum durch Migrationen von Asien nach Afrika importiert worden ist. Im südlichen Indien glaubte er die archiktektonischen Reste einer sakralen Staatsform ausmachen zu können, die der in Südostafrika verbreiteten "süderythräischen Kultur" wie "ein Ei dem andern" gleiche. Das rituelle Königsopfer sei ein Bestandteil der "Shivakultur", die es der vorarischen Dravidakultur entlehnt habe. 46

Zwei Religionen, zwei sich fast gegensätzlich auswirkende Lebensgefühle existieren nach Frobenius auf indischem Boden, die sich durch bestimmte typische Merkmale voneinander unterscheiden: die Mondreligion Shivaismus und die Sonnenreligion Vishnuismus. 47 Den Shivaismus beschreibt er als "die dunkle Verherrlichung eines düsteren Schicksals. Des Schicksals, das als unabwendbare Macht über allem Dasein vernichtend dahinwuchtet; unabwendbar, unbeeinflußbar! Alles abschließend mit Zerstörung, Tod. Dieses Schicksal kann nur durch sklavische Unterwerfung, durch dramatischtreunachgebildete Hingabe erträglich werden. Die Gottheit und alles Geschehen herrisch und so ernst, daß unter ihrem zermalmendem Walten keine zartere Regung wie Tugend, Heldensinn, Frömmigkeit aufkommen kann. Fast weiblich abolut, und so Blut, Selbstopfer und jede letzte Konsequenz fordernd. An Stelle eines der Postulate innerer Ethik herrscht eine hartherzige Priesterschaft, die das Grauenvolle bevorzugt und dies noch drastischer hervortreten läßt durch Überwurf eines äußeren Vorhanges von kindlichen Spielen und Täuschungen" .48

Die beiden Richtungen des Hinduismus sind Relikte sehr alter- bis in die paläolithische Zeit zurückreichende -kultureller Formationen, deren Gegensätzlichkeit sich in den Bestattungssitten niedergeschlagen hat. Sind im Norden Leichenverbrennungen Usus gewesen, so wurde im Süden der Körper konserviert- eine Praxis, der sich Schädeljagd, aber auch die Verehrung der Ahnenschädel verdanken. "Alle älteren Stämme Südostasiens und des Malaiischen Archipels, von denNagabis zu den Dajak, Madagassen usw. usw.", aber auch die Äthiopen gehören diesem von einem mystischen "Lebensgefühl" bestimmten kulturellen Komplex an.49

Frobenius, Ecythräa {wie Anm. 17), 325, 329 f. Frobenius, Indische Reise {wie Anm. 46), 271 ff. Eine Liste der entsprechenden Merkmale gibt Wohlenberg, in: Frobenius, Lebenswerk {wie Anm. 45), 41. 48 Frobenius, Indische Reise {wie Anm. 46), 280. 49 Frobenius, Ecythräa (wie Anm. 17), 338; Frobenius, Indische Reise {wie Anm. 46), 220. Frobenius hat mitunter auch vom Gegensatz zwischen hyperboreischer und äquatorialer Kultur gesprochen (Frobenius, Kulturgeschichte [wie Anm. 12], 184 f.; Frobenius, Monumenta [wie Anm. 16], 266). 46 47

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Die Arier, die die alten Stämme Südindiens wie die Draviden unterworfen haben, gehörten, fährt Frobenius fort, dagegen dieser Kultur ursprünglich nicht an. Sie, die sich einst als ,Sonnensöhne' bezeichneten, übernahmen jedoch die Religion der Einheimischen, bilden heute eine "Monddynastie".50 Aus dem Norden nach Südindien eingewandert, haben sie sich damit an ein Lebensgefühl angepaßt, daß selbst in grauer Vorzeit im Norden der Welt entstanden ist. Die zentrale Idee dieser Kultur sei "die Geburt des Schicksals, des Schicksals als Idee; des Schicksals als einer ebenmäßig und unbeirrbar dahinrollenden Fügung, die nur erträglich wird durch völlige Hingabe, Unterwerfung, durch ein Leben, das seinem Sinn nachgelebt wird, durch eine Selbstopferung nach dem Vorbild der erhabendsten Erscheinung im großen, in der kosmischen Welt".

Dieses Lebensgefühl, das um das "Mysterium des Tod-Lebensgeheimnisses" kreist, kann nur im Norden entstanden sein, wo Werden und Vergehen, Frühlingsgeburt und Wintertod einander abwechseln. "Vom Schicksalstod des Gottes über die Dramatik des heiligen Königsopfers bis zur Gestaltung der christlichen Idee" manifestiert sich ein einziger kultureller Archetyp, dessen Epizentrum sich freilich im Laufe der Zeit verschoben hat, in die Weiten des Pazifik und des Fernen Ostens hinein und dann wieder zurück in den Vorderen Orient, nach Afrika und Zentraleuropa. 51 Kurz: Frobenius konstruiert einen kulturhistorischen Zusammenhang der Idee des Sichselbstopfern, welche in Form des sakralen Königtums ihre höchste Entfaltung gefunden haben soll. Seine Schriften über das Königtum in Afrika und Asien sind eine melancholische Reminiszenz an die Monarchie in Mitteleuropa - nicht umsonst widmet er sich erst nach Ende des Ersten Weltkriegs intensiv dieser Thematik. Man darf vermuten, daß sie durch die persönliche Bekanntschaft, ja Freundschaft zu Wilhelm II. nicht unwesentlich inspiriert wurden, vielleicht hat gerade Wilhelms Regentschaft Frobenius' Blick auf außereuropäische Gesellschaften geprägt. 52

so Frobenius, Indische Reise (wie Anm. 46), 282 f.

Frobenius, Indische Reise (wie Anm. 46), 282 f., 287 ff. Zu den spezifischen Seiten der Wilhelminischen Monarchie vgl. Röhl, Kaiser, Hof uns Staat (wie Anm. 5); Nicolaus Sombart, Wilhelm II., Sündenbock und Herr der Mitte. Berlin 1996. Nach Wilderotter, Zur politischen Mythologie (wie Anm. 21), 138, spielte Frobenius mit seinen Publikationen über das ,heilige Königtum' direkt auf den Machtverlust des letzten deutschen Kaisers im November 1918 an. Da WHhelm eine Wiedereinsetzung in Amt und Würde erhoffte, habe Frobenius die Rolle des Stellvertreters beim babylonischen Neujahrsfest thematisiert. Gegen Wilderotters Auifassung spricht, daß Frobenius eben diesen Zug des babylonischen Königtums als Dekadenzerscheinung perhorresziert hat. Vgl. Frobenius, Indische Reise (wie Anm. 46), 27 f. Zuzustimmen ist allerdings der Feststellung Wllderotters, "daß auf 51

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Das der Untergang der Monarchie als schmerzhafte Verlusterfahrung empfunden und wissenschaftlich verarbeitet wurde, läßt sich auch aus den Publikationen des Paters Wilhelm Schmidt herauslesen, der anderen bestimmenden Figur der zeitgenössischen deutschspachigen Volkerkunde, deren Vita erstaunliche Parallelen zu Frobenius aufweist. Schmidt war nicht nur eine einflußreiche Gestalt des politischen Katholizismus in Österreich, sondern zugleich Beichtvater des letzten Kaisers der Donaumonarchie, dem er bis in das Exil hinein seine Treue bewahrte. Mit seiner Kulturkreislehre suchte Wilhelm Schmidt die Existenz des Höchsten Wesens in archaischen Kulturen zu erweisen ("Uroffenbarung", "Urmonotheismus")- der Verfall archaischer Heiligkeit ist in dieser, von kulturmophologischer Seite aus freilich irrelevanter Position, die prekäre Essenz eines Zivilisationsprozesses, der mit dem Machtverlust der königlichen Dynastien in Mittel- und Osteuropa zu sich selbst gekommen ist. 5 3 Der Verlust des Mittlers zu Gott, der Verlust des heiligen Königs, bedeutet den Verlust Gottes überhaupt dieser Glauben dominiert unterschwellig Kulturkreislehre wie auch Kulturmorphologie. Auf das Ende des heiligen Königtums in Mitteleuropa reagierte Frobenius mit einer Kulturphilosophie, deren manichäische Tendenz nicht zu übersehen ist. Er läßt seine Leser nicht im Zweifel darüber, auf welcher Seite des welthistorischen Dauerkonflikts-Mythos vs. Magie, Äthiopen vs. Hamiten, Osten vs. Westen, sakraler Staat vs. Republik - seine Sympathien angesiedelt sind. Insofern ist die Kulturmorphologie die fachspezifische Variante eines Phänomens, das in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts den intellektuellen Diskurs im deutschsprachigen Raum maßgeblich geprägt hat. 54 Micha Brumlik hat auf die gnostischen Züge der Kulturkritik des deutschen Bildungsbürgertums verwiesen. 55 In der kulturmorphologischen Konzeption des heiligen Königtums besetzt der König die Platzstelle des Parakleten, der seine Anhänger von allen Übeln erlöst (Wilhelm li. hebt in den Tagungen der ,Doorner-Arbeits-Gemeinschaft' monarchistische Propaganda im Inkognito historischer Abhandlungen betrieben wurde": Wilderotter, Zur politischen Mythologie (wie Anm. 21), 133. 53 Vgl. Spöttel, Hamiten (wie Anm. 17). 54 Zum geistigen Habitus der Anhänger einer ,konservativen Revolution' gehört, so Nicolaus Sombart, ein, "rational überhaupt nicht verständlicher Afiekt ( ... ) Ihr sonderbares Weltbild ist durch eine paranoide Feindfixierung geprägt. Sie definieren ihre Identität in der Negation. Was sie treiben, ist immer ,Kulturkritik' auf der Basis eines spezifischen Sendungsbewußtseins, eines Begriffs von Kultur, der sich wesentlich als Ablehnung der ,Moderne' definieren läßt. Sie stehen damit auf dem Boden eines ,ethnischen Fundamentalismus'" (Nicolav.s Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. München-Wien 1991, 16 f.). 55 Micha Bru.mlik, Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen. Frankfurt IM. 1992.

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seiner Arbeit über das Königtum in Mesopotamien die Messiaserwartung der alten Babyionier hervor, eine Erwartung, die sich Jahrtausende später bei den Deutschen in Form des Barbarossamotivs wiederholt habe). 5 6 Was ist der markante Unterschied der kulturmorphologischen Variante des heiligen Königtums zu vergleichbaren Entwürfen? Frobenius hat sich insbesondere an der klassischen Studie von Frazer orientiert. Wenn man in der Kulturmorphologie den Versuch sieht, die zuvor diskriminierten ,Primitiven' zu rehabilitieren57 , so wird dieser Versuch nur um den Preis eines Imago des Archaischen erkauft, demzufolge die überpersönliche Gewalt altertümlicher Institutionen von Beginn des kulturellen Evolutionsprozesses an mit Zucht und Härte die triebhafte Natur des Menschen in Schach gehalten hat. 58 Die Notwendigkeit stetiger autoritärer Repression des Individuums wird stillschweigend vorausgesetzt. 59 Zwar läßt sich auch Frazers Golden Bough als Legitimation monarchischer Herrschaft lesen. Doch erscheint in Frazers Entwurf am Ende eine liberale und prosperierende Gesellschaft - eine für die Kulturmorphologie unvorstellbare Konstellation. Frazer argumentiert, im Zuge der kulturellen Evolution hätten sakrale Häuptlingstümer die ursprüngliche Demokratie (ein entgegen den Meinungen moderner Romantiker sklavischer Zustand!) abgelöst und den Weg zu einer zivilisierten, wohlhabenden und freiheitlichen Gesellschaft bereitet. In den Augen Frazers war dies ein echter Fortschritt, der alle entscheidenden Züge der modernen Zivilisation einleitete. 60 Die entscheidende Differenz der Kulturmorphologie zu Frazer liegt in der antievolutionistischen Tendenz. Während Frazer die Periode der Magie dem Zeitalter der Religion vorausgehen läßt61 , bildet nach Frobenius Magie Wilhelm II., Das Königtum im alten Mesopotamien. Berlin 1938, 26. Vgl. Heinrichs, Die fremde Welt (wie Anm. 11); Bernhard Streck, Kultur als Mysterium. Zum Trauma der deutschen Völkerkunde, in: Helmuth Berking/Richard Faher (Hg.), Kultursoziologie-Symptom des Zeitgeistes? Würzburg 1989, 89 ff. 58 Frobenius bemerkt mit Blick auf die seiner Ansicht nach mit dem sakralen Königtum verbundenen orgiastischen Kulte: "( ... ) das Geschlechtsleben diente der Vorstellung von den Bedingtheiten der astral-kosmischen Weltanschauung, die Vereinigung der Geschlechter diente einer Problematik. Das heißt: ein fraglos natürliches ,Triebleben', eine auch allen Wesen höherer organischer Umwelt eigentümliche Lebensbedingtheit wurde in diesem Kulturkreis und in dieser Kulturperiode durch Weltanschauung und Kultus eingeufert oder versklavt, verdingt oder normiert, untergeordnet und in allen Fällen des triebhaften Eigensinnes beraubt und eingefügt. Die Vorstellung war Prinzip ( . .. ) und das Geschlechtsleben trotz seiner Naturhaftigkeit dienstbar geworden" (Frobenius, Kulturgeschichte (wie Anm. 12), 163). ss Arnold Gehlen hat diese Tendenz der Kultunnorphologie in eine systematische ,lnstitutionenphilosophie' gegossen (vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Bonn 1956). 80 James G. Frazer, The Golden Bough, Part 1, The Magie Art and the Evolution of Kings, Vol. 1, 3rd Edition. London, New York 1963, 216 ff., 373, 420 f. 58 57

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("Anwendung") eine Verfallsform des archaisch Heiligen ("Ausdruck"). Und während Frazer die Überwindung archaischer Opferriten als zivilisierten Fortschritt begrüßt62 , feiert Frobenius die Ergriffenheit des archaischen Menschen von der "Idee des Sichselbstopferns". Indien, wo Selbstopfer vor noch nicht allzu langer Zeit Konjunktur hatten und ihren Ausdruck in Witwenverbrennungen, ekstatischen Massenselbstmorden und rituellen Selbstmorden der Könige fanden, erscheint in Indische Reise als jung und unverbraucht- ganz im Gegensatz zum den indischen Subkontinent noch beherrschenden, aber sterbenden Europa. 63 V. Symbolik des Blutes

,Der Tod soll zum Leben führen'- dieses gnostischem Denken entstammende und im Kielwasser des Ersten Weltkriegs populäre64 Motiv stellt die Essenz der Kulturmorphologie dar. Noch 1944 schreibt Adolf E. Jensen mit Bezug auf die grausigen Praktiken archaischer Völker wie Menschenopfer, Kannibalismus und Kopfjagd: "Ohne Töten kann menschliches oder tierisches Leben nicht bestehen; ( .. . ) Eine Lehre vom Leben ist darum auch eine Lehre vom Tode und vom Töten". 65 Töten? Der heilige König ist nicht nur eine tragische Figur, der kraft seines künftigen Todes regiert, er gilt zugleich als lebendige Inkarnation souveräner Macht. 66 Das markante souveräner Macht aber ist das Recht zum Töten. 67 Leo Frobenius war sich dessen bewußt.68 Mit seiner Darstellung 61

Frazer, The Magie Art, Vol. I (wie Arun. 60), 334, 352, 371 f.

Zwar räumt Frazer ein, der Gedanke, daß das Opfer zugunsten der Gemeinschaft deren zukünftiges Wohl sichert, sei ein sehr fruchtbarer Gedanke, der der jeweiligen Gruppe langfristig zugute komme- doch ist ,Opfer' hier doch wohl eher metaphorisch zu verstehen (James G. Frazer, The Golden Bough, Part 1: The Magie Art and the Evolution of Kings, Vol. II. London-New York 1963, 119). 63 Frobenius, Indische Reise (wie Arun. 46), 146 f. 84 Nicht wenige Intellektuelle deuteten die in ein militärisches Debakel Deutschlands einmündenden Gemetzel des Ersten Weltkriegs als ein heilsames, weil erneuerndes Opfer. Dies gilt auch für Frobenius: Die Vernichtung und Erneuerung eines Termitenhaufens im Kongo dient in ,Schicksalskunde' als Metapher für das Schicksal Deutschlands (Frobenius, Schicksalskunde (wie Arun. 18), 13). 65 Adolf E. Jensen, Das Weltbild einer frühen Kultur, in: Paideuma 3 (1944), 81. 66 Vgl. z. B. Georges Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität. München 1978. 67 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Frankfurt IM. 1983, 162; Elias Canetti, Masse und Macht. München-Wien 1992, SOLWährend Fbucault von Bataille angeregt wurde, erläutert Canetti seine Thesen zum tödlichen Aspekt absoluter Macht u. a. am Beispiel des sakralen Königtums in Afrika. 68 Bereits 1892 notierte er über den Herrscher der Baluba: "Er ist Richter über Leben und 'Ibd und die zügellose Willkür macht ihn zum grausamen Despoten. Ohren, 62

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des sakrales Königturns hat Frobenius einen Opfergedanken in die Kulturmorphologie eingeführt, der die Schnittstelle dieser völkerkundlichen Strömung zum Nazismus ist. 69 Ich verweise hier auf Yvonne Karows Analyse und Interpretation der Reichsparteitage der NSDAP. Karow interpretiert die Reichsparteitage als repräsentative Großopferfeste, die nach dem Vorbild antiker Liturgie konzipiert waren. Anläßlich dieser Kultveranstaltungen wurde eine mythische Heilsgeschichte dramatisiert, durchgespielt und vergegenwärtigt. Die periodisch-zyklische Rhytmisierung des Kultus spiegelt, so Karow, "die inszenatorische Absicht, die Bewegung mit der steten rhytmischen Wiederkehr natürlicher Prozesse (das ,ewige Stirb und Werde') in eins zu setzen und ihr somit Ewigkeitswert und damit Ursprungsnähe zu verleihen". Hitler wird im Kontext kultischer Inszenierungen zu einer Figur, die Züge sakralen Königtums erkennen läßt. Der Tod war das zentrale Motiv der Reichsparteitagsfeierlichkeiten, d. h. des märtyrergleichen Opfers für Deutschland bzw. für Hitler. Durch den zentralen, Gemeinschaft stiftenden Ritus der Fahnenweihe, in deren Mittelpunkt die Berührung mit der ,Blutfahne' stand, wurde die Welt der 1923 gefallenen ,Märtyrer der Bewegung' in die der Lebenden eingebunden und ihr Opferschicksal mit dem der Traditionsträger, die zur Nachahmung animiert wurden, verknüpft. Karow: .,Der Opfergedanke erscheint hier also in radikalisierter und totalisierter Fbnn. Nicht ein Teil, sondern ein ganzes Volk bietet sich dem ,Ursprung' als Opfer an. ( ... ) In dieser Bewußtseinslage erscheint der rituell vollzogene Tod im Selbstopfer als persönlicher Beitrag für die Schaffung einer geeinten, starken und letztlich unbesiegbaren Volksgemeinschaft, des Totenheeres".

Nach Karow war die nazistische Gesellschaft von einem "Opferdenken" beherrscht, das theoretische Reflexionen über alternative politische und soNasen, Hände werden guten und getreuen wie schlechten Untertanen abgeschlagen, nur um der unumschränkten Gewalt Ausdruck zu geben (Frobenius, Ausfahrt (wie

Anm. 39), 83).

69 Der Opfergedanke ist Teil eines Komplexes, den Fbucault ,Symbolik des Blutes' genannt hat: .,Gesellschaft des Blutes oder richtiger des ,Geblütes': Im Ruhm des Krieges und in der Angst vor dem Hunger, im Triumph des Todes, in der Souveränität des Schwertes, der Scharfrichter und der Martern spricht die Macht durch das Blut hindurch, das eine Realität mit Symbolfunktion ist" (Foucault, Wille zum Wissen (wie Anm. 67), 175 f.). Die ,Symbolik des Blutes' war nach Fbucault essentieller Bestandteil nazistischer Ideologie und Praxis (ebd., 178). Vgl. Sombart, Die deutschen Männer (wie Anm. 55), 67 ff. Die ,Symbolik des Blutes' hat innerhalb der Kulturmorphologie nicht nur im Kontext des heiligen Königtums ihren Platz. Frobenius beispielsweise schwadronierte: .,Wo die Klinge der Schwerter und die Spitze der Speere in den Leib des Gegners zucken, wo Atem und spritzendes Blut kämpfender Menschen zusammenfließen, wächst herrliches Mannesturn in seliger Trunkenheit" (Leo Frobenius, Der Kopf als

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ziale Optionen verächtlich als "Systemdenken" abtat: "Das Opfersystem als solches wird ausgeblendet und die Systemzeit ist in diesem Denken die Zeit dieser die Opferbereitschaft schwächenden, sie mit ,Dolchstößen' traktierenden ,Zwischenzeit' ". 70 Das auf den Reichsparteitagen inszenierte mythische Geschichtsbild konnte erfolgreich gegen die Realität ausgespielt werden, da es von einem Großteil der Bevölkerung akzeptiert wurde. Paul Tillich hat in diesem Zusammenhang von einer,ursprungsmythischen Bewußtseinslage' gesprochen. Die Kulturmorphologen haben diese Mentalität nicht nur mit ihren Arbeiten inspiriert, sie waren auch selbst davon ,ergriffen'. Frobenius etwa glaubte 1934, "daß das, was das deutsche Volk augenblicklich erlebt, eine Ergriffenheit bedeutet, die der Schöpfung einer neuen Religion gleichkommt, die wir in der Einstellung auf ununterbrochen angestrebte, nie sterbende, niemals aufhörende Bewegungsharmonie erblicken können- gegenüber der ganzen Weltgeschichte". 71

Tatsächlich verwirklichten die Nationalsozialisten - siehe die Inszenierungen anläßlich der Reichsparteitage- ein kulturmorphologisches Projekt: die Renaissance des Mythos und des Rituals. Eine Gesellschaft, die Opfer und Tod in das Zentrum religiöser Festivitäten rückt, muß systematisch antisemitisch werden. Denn die jüdische Prophetie hat an die Stelle des ursprungsmythischen Opfersbegriffs die Forderung nach Gerechtigkeit gerückt. Im 1. Jahrtausend v. Chr. haben die Juden das Opfer verworfen und infolgedessen das Verbot zu töten in ihre Religion integriert. Sie haben damit einen Zug der abendländischen Zivilisation begründet72 , den die Anhänger einer konservativen Revolution in Deutschland im Anschluß an Nietzsches Kritik am Christentum als dekadent-westliche Mentalität geschmäht haben. Hitler hat versucht, diese Revolution des Judentums zu revidieren. 73 Schicksal. München 1924, 66). Vgl. zu diesem Thema weiter StrecksAusführungen über die Rolle des Schauderns innerhalb der Kulturmorphologie (Streck, Kultur als Mysterium (wie Anm. 58)). 70 l'Vonne Karow, Deutsches Opfer: Kultische Selbstauslöschung auf den Reichsparteitagen der NSDAP. Berlin 1997, 26, 80, 129, 137, 184 f. , 195 71 Leo Frobenius, Schicksalskunde, in: Zweites Nordisches Thing. Veröffentlichungen der ,Väterkunde', Bd. 2. Bremen 1934, 204 ff., hier 214. 72 Vgl. Gunnar Heinsohn, Was ist Antisemitismus? Frankfurt IM. 1988; ders.: Warum Auschwitz? Reinbek bei Harnburg 1995. Ein erklärter Anhänger archaischer Heiligkeit wie Ludwig Klages hat in seinem Hauptwerk ,Der Geist als Widersacher der Seele' nicht nur emphatisch den "Ursinn des Opfers" beschrieben, sondern zugleich die welthistorische Verantwortung des Judentums für den Untergang der heidnischen Kultur herausgestrichen. 73 Heinsohn, Warum Auschwitz? (wie Anm. 72), 156 ff.

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Ich möchte mit meinen bisherigen Ausführungen nicht die Behauptung aufstellen, daß die Vernichtung der Juden einen Rückfall in archaische Barbarei darstellt. Ohne Frage: die Vernichtung der europäischen Juden ist ein Kind der Moderne. Die Utopie, die auf eine rassisch reine Gesellschaft abzielte, ließ sich nur durch die höchst modernen Mechanismen der Bürokratie realisieren. Die moderne Vernichtungsmaschinerie hat kein historisches Vorbild, auch wenn sie von religiösen Ritualen und Mythen mit in Bewegung gesetzt wurde, die an antike und heidnische Vorbilder anknüpfen. 74 VI. Von Mesopotamien nach Preußen

Der letzte deutsche Kaiser hat das Ende der deutschen Monarchie niemals überwunden. Die Tagebücher seines Adjudanten v. llsemann belegen, daß die Hoffnungen Wilhelm Il., noch einmal in Amt und Würden eingesetzt zu werden, geradezu zwanghafte Züge aufwies. Die Stellungnahmen zum Nationalsozialismus und zu seinen führenden Figuren bis hin zu Adolf Hitler waren weitgehend von der Frage ,cui bono?' bestimmt. Noch nach der ,deutschen Revolution' wurde Wilhelm II. von der fixen Idee beherrscht, daß die Nazis ihn wieder in sein altes Amt einsetzen würden. Erst Hitlers Rede gegen die Monarchie am 31. 1. 1934 und die sich anschließende Auflösung aller monarchistischen Verbände haben ihm wohl den illusionären Charakter seiner Hoffnungen demonstriert. Das hat ihn freilich nicht davon abgehalten, auf Erfolge in den ersten Kriegsjahren mit Glückwunsch-Telegrammen an den ,Führer' zu reagieren. Sah sich Wilhelm Il. in seine Hoffnungen auf eine Unterstützung für seine Person durch die Nazis getrogen, so ließ er sich doch nie in seinem Glauben irritieren, daß erstens die Monarchie die einzige der deutschen Nation gemäße Regierungsform und zweitens er selbst der einzig geeignete Regent sei. Und dieser Glauben ist ganz sicher durch die Kulturmorphologie genährt worden. Schließlich konterkariert Frobenius mit seinem Mythos vom heiligen König jenen Legitimationsverlust, den die traditionale Herrschaftsordnung europäischer Gesellschaften seit Reformation und französischer Revolution erlitten hat. Über Jahrtausende hatten königliche Herrscher ihre Ansprüche auf göttliche Sanktionierung gestützt. "Man glaubte", so Reinhard Bendix, "daß eine Gottheit oder ein göttlicher Geist die Herrschaft heilige, und deshalb konnte man die Rechte des Herrschers nicht in Frage stellen, sollte nicht ein Sakrileg die Wohlfahrt aller gefährden". 75 Im Kielwasser der Reformation war jedoch die Überzeugungskraft Vgl. Faber, ,Pagan' (wie Anm. 7), 23. Reinhard Bendix, Könige oder Volk. Machtausübung und Herrschaftsmandat, 1. Teil.Frankfurt/M. 1980,20. 74 75

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der alten Berufung des Herrschers auf göttliche Sanktionierung unheilbar geschwächt worden. Ein strahlender, uneigennütziger, keinen partiellen Interessen, sondern lediglich dem Gemeinwohl verpflichteter heiliger Herrscher an der Spitze eines Reiches von aufopferungsvollen Untertanen, die in rauschenden Kulten den ewigen kosmischen Kreislauf von Leben und Tod, Werden und Vergehen feiern -dieses romantische Bild eines "natürlichen Staates" mußte bei einem Monarchen auf fruchtbaren Boden fallen, der sich zugleich als Oberster Bischof seines Volkes und von Gott eingesetztes Werkzeug des Schicksals verstand76 und von der heiligen Sendung seines Volkes überzeugt war. 77 Das heilige Königtum des Leo Frobenius - gleicht es nicht jenem monarchischen System, welches der amtierende Kaiser in Preußen hatte etablieren wollen? Hat nicht Wilhelm II. einen symbolischen Köngsmord vollzogen, als er Bismarck entließ, den legendären und bewunderten Gründer seines Reiches, als dieser Lebenskraft und Gesundheit einzubüßen begann? Unter Wilhelms Ägide hatte die Hohenzollernmonarchie den Versuch unternommen, sich zu charismatisieren. 78 Wilhelm II. wollte das Kaisertum zum ,Hort der Reichsidee' erheben, nicht zuletzt auch, um der wachsenden BismarckBewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wieder und wieder strich er sein Gottesgnadentum heraus- und die Verdienste der Hohenzollern-Dynastie für das deutsche Reich. 79 Mit seinem Bestreben "an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert eine Monarchie von Gottes Gnaden mit einer spätabsolutistischen Hofkultur einzuführen" (Röhl), steht Wilhelm II. einzigartig im modernen Europa da. Zeitgenossen mokierten sich über sein ,Persönliches Regiment' -neben dem primären Ordnungssystem der institutionellen Verteilung der Machtverhältnisse bildete sich ein sekundäres System auf den Monarchen bezogener hierarchischer Vorschriften, Zeremonien und Privilegien aus, das den Zugang zu politischen Schlüsselpositio76 Vgl. v. Ilsemann, Der Kaiser, Bd. 2 (wie Anm. 3), 82 f.,143, 185. Vgl. weiter: "Es ist für mich keinem, auch nicht dem leisesten Zweifel unterworfen, daß Gott sich immerdar in Seinem von Ihm geschaffenen Menschengeschlecht andauernd offenbart. ( ... ) um es weiter zu führen und zu fördern, ,offenbart' er sich bald in diesem oder jenem großen Weisen oder Priester oder König, sei es bei den Heiden, Juden oder Christen. Harnmurabi war einer, Moses, Abraham, Homer, Karl der Große, Luther, Shakespeare, Goethe, Kant, Kaiser Wilhelm der Große.- Die hat er ausgesucht und Seiner Seele gewürdigt, für ihre Völker auf dem geistigen wie physischen Gebiet nach seinem Willen Herrliches, Unvergängliches zu leisten. Wie oft hat mein Großvater dieses nicht ausdrücklich betont, er sei ein Instrument nur in des Herren Hand" (Das Bekenntnis {wie Anm. 1), 5 f.). 77 Vgl. v. Ilsemann, Der Kaiser, Bd. 1 (wie Anm. 9), 325. 78 Vgl. Sombart, Willleim ll. (wie Anm. 53). 79 Vgl. v. Ilsemann, Der Kaiser, Bd. 2 (wie Anm. 3), 100.

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nen regelte. Nach Röhl ist es gerechtfertigt, das politische System des Wilhelminischen Kaiserreichs -im Unterschied zu der vorausgehenden Epoche der ,Kanzlerdiktatur' Bismarcks - in seiner Essenz als Monarchie zu begreifen. Der Kaiser und sein Hof hätten die politische Macht und Entscheidungsgewalt innegehabt und die Richtlinien der Innen-, Außen- und Rüstungspolitik bestimmen können. 80 Über Jahrzehnte hinweg beschäftigte sich Wilhelm mit religionsgeschichtlichen und archäologischen Aspekten des Vorderen Orients. Er war überzeugt, daß in Mesopotamien die Wiege des deutschen Kaisertums stand. Hier kam die Kulturmorphologie entgegen. Denn nach Frobenius ist Mesopotamien ein -neben Simbabwe und Indien- drittes Kulturgebiet, "in dessen Lebensbedingtheit das rituelle Königsopfer einmal Symbol einer astralmythologischen Wesensganzheit gewesen sein muß" .81 Leo Frobenius stützt sich weitgehend auf Frazers Aufzeichungen über das babylonische Fest Sacaea. Dabei greift einmal mehr die Dekadenzthese des deutschen Gelehrten: Die Tötung eines Stellverteters anstelle des Königs, nach Frazer ein Schritt hin in Richtung zur Humanisierung des Opfers, erscheint als Zeichen wachsenden kulturellen Verfalls. Frobenius bemerkt über das babylonische Neujahrsfest: "Kein Zweifel, daß auch hier der König anfänglich selbst den Opfertod starb. Die Fbnn, daß der König selbst lediglich gedemütigt, an Stelle seiner also ein Verbrecher inmitten des Volkes als Spottkönig gekrönt, gefeiert und geopfert wurde, ist eine sekundäre, eine wohl aus anderer Kultur übernommen (sie!)". 82

1938 veröffentlichte S.M. ein Buch unter dem Titel Das Königtum im alten Mesopotamien. Wilhelm strich den theokratischen Charakter des Herrschaftssystems der Sumer heraus. Der irdische König war zugleich Werkzeug seines Gottes als auch dessen Stellvertreter auf Erden, also Oberpriester. Er vereinigte alle geistliche und weltliche Macht in seiner Hand. Die klassische sumerische Gesellschaftsordnung war auf Dauer nicht dem Druck der benachbarten semitischen Dynastie Akkade gewachsen. Der semitische Eroberer Sargon gründete um die Mitte des 3. vorchristlichen Jahrtausends das erste mesopotamische Weltreich und veränderte die alte sumerische Kultur entscheidend. Wilhelm II.: "Dank ihrer Assimilationsfähigkeit übernahmen die semitischen Eroberer in vielem die sumerische Kultur. Aber sie pfropften ihr dabei ihre abweichende Weltan80 Röhl, Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 5), 11 ff., 112 f. Eine gegensätzliche Auffassung vertritt Wehler. Er spricht von einer "Polykratie". Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. m: 1849-1914. München 1995. 81 Frobenius, Erythräa (wie Anm. 17), 326; vgl. ders., Indische Reise (wie Anm. 46), 27 f. 82 Frobenius, Indische Reise (wie Anm. 46), 27 f.

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schauung auf, eine Weltanschauung der Steppe, in der Macht vor Recht ging. Thr Gottesbegriff begründete sich auf die Macht, und die Macht beruhte bei ihnen auf Reichtum. Wie ihr Gott, so mußte auch ihr König der mächtigste und reichste sein". Vasallen wurden von Sargon mit Grundbesitz belohnt, dieser wurde Eigentum der betreffenden Geschlechter. "Damit fand die alte ,sakrale Gemeinwirtschaft' ihr Ende. An ihre Stelle trat der private Grundbesitz, verbunden mit der Entwicklung des Kapitalismus" . Zwar erlebte die sumerische Kultur einige Jahrhunderte später ihre Renaissance. Doch Dungi, der neue Herrscher, war nicht mehr ein Priesterkönig an der Spitze einer sakralen Gemeinschaft; er war ein ,Gottkönig' an der Spitze eines konsequent absolutistischen Systems. Um 1700 v. Chr. gelangte der Despot Harnmurabi an die Macht, Wilhelm zufolge "ein babylonischer Vorgänger König Friedrich Wilhelms I., ,des Baumeisters des Preußischen Staates'!" Harnmurabi begründete eine Epoche der Aufklärung und erwies als warmherziger, sozial engagierter Vater des Volkes. Nach einem kurzen Intermezzo durch indogermanische Gruppen, die von Norden her in mehreren Wellen nach Vorderasien eindrangen, traten schließlich die Assyrer auf den Plan, ein semitisch geprägtes Mischvolk. Wilhelm II. lobt zwar die assyrischen Herrscher für ihre Tatkraft und ihr politisches Talent, stellt jedoch kritisch fest, daß "der einstige ,Priesterfürst' ( ... ) zum rein weltlichen König geworden (war); neben dem Gedanken der universalen Weltherrschaft war der in Sumer ursprünglich damit verknüpfte Gedanke des ,Gottkönigtums' verblaßt". Diesen Herrschern, die ein Zeitalter der Vernunft begründeten, war jede Mystik fremd. Fazit: Das sakrale Königtum der alten Sumer enthielt den Keim einer Entwicklung, die schließlich in das christliche akzentuierte Gottesgnadentum preußischer Herrscher eingemündet ist. Wilhelm II. stilisierte die sumerischen Despoten zu leuchtenden Vorbildern: "Wenn sich die Hohenzollern-Fürsten ,von Gottes Gnaden' nennen, so ist dies nicht wie bei den orientalischen Herrschern ein Anspruch auf Göttlichkeit, sondern ein Ausdruck christlicher Demut und Frömmigkeit, der aber auch zugleich den Begriff göttlich übertragener Pflichten in sich schließt. ( . . . ) Man weiß, wie dieser ,Auftrag' mich selbst gerade auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge erfüllt hat. Darum habe ich auch ein besonderes Interesse für die soziale Gesetzgebung der alten mesopotamischen Herrscher, unter denen Urukagina und vor allem Harnmurabi auf diesem Gebiete besonders hervortreten. Sie waren beseelt von Verantwortungsgefühl gegenüber dem Himmelherrn und wußten sich von ihm berufen, das Recht zu schützen, jeden Frevel zu sühnen und zwar - wie Harnmurabi es gleich in der Einleitung zu seiner monumentalen Gesetzgebung hervorhob - ,damit der Starke den Schwachen nicht unterdrücke'". 83

Des letzten deutschen Kaisers Ethnologe

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Das etwa Harnmurabi in der Wahl seiner Mittel, die Einhaltung der von ihm verkündeten Gesetze zu gewährleisten, nicht zimperlich war, irritierte ·den letzten deutschen Kaiser nicht. Er plädierte vielmehr unverhohlen für härtere Strafen in Deutschland.84 Diese Studie wie auch vergleichbare in den dreißiger Jahren veröffentlichte Publikationen (Die chinesische Monade; Studien zur Gorgo) machen deutlich, daß Frobenius' Persönlichkeit, aber auch dessen Kulturmorphologie auf das Denken des letzten deutschen Kaisers eine suggestive Wirkung ausübten. Wilhelm II. kolportierte das von Frobenius entworfene Bild archaischer Sakralität und Monarchie, die unter dem Druck hamitischer bzw. semitischer Einflüsse85 einem tödlichen Säkularisierungsprozeß unterworfen sind, sich aber in Deutschland noch am ehesten haben halten können. Königtum und Religion bildeten in seinem Denken eine Einheit: Der Verlust des Königtums würde zugleich das Ende der Religion bedeuten. Wilhelm II., Das Königtum (wie Anm. 57), 18, 27, 36, 43. 1903 äußerte er in einem Brief an Chamberlain über des Gesetzes-Kodex Hammurabis: "Nach den wenigen Proben, welche mir bisher vorgekommen sind, ist der Sinn ein hoher und die Gerechtigkeit eine strenge, welche darinnen zum Vorschein kommen, z. B. über die Verleumdung heißt es: ,Wenn jemand wider seinen Nächsten Böses nachsagt, und er kann keine Beweise dafür anbringen und die Verleumdungen gehen dem Nächsten ans Leben (Fall Krupp), dann soll der Verleumder des Todes sterben!' Hätte ich nur so einen Paragraphen zur Verfügung gehabt, dann hätte ich dem ,Vorwärts' anders begegnen können!" {in: Chamberlain, Briefe [wie Anm. 2], 190}. 1930 plädierte er für ein härterer Strafrecht {vgl. v. Ilsemann, Der Kaiser, Bd. 2 [wie Anm. 3], 137). Wenn Wilhelm die Grausamkeit vorchristlicher Herrscher - besonders gegenüber besiegten Feinden- hervorhebt (Wilhelm II., Das Königtum [wie Anm. 57], 44), dann muß an seine empörende ,Hunnenrede' gegenüber deutschen Soldaten vor der Entsendung nach China erinnert werden. Eine gegenteilige Auffassung vertritt Nicolaus Sombart: Tatsächlich sei Wilhelm ein .,Friedensfürst" gewesen: "Im Sinne des idealen Königtums war er Mittler und Vermittler. Das war sein Ehrgeiz. Darin war er auch charakterlich das Gegenteil von Bismarck ( . . . ). Sein Konzept politischen Handeins war nicht das des Gewaltpragmas. Er zielte nicht auf die Vernichtung des Feindes, sondern auf innen- und außenpolitische Versöhnung. ( ... ) Was er über alles verabscheute, war Krieg und Bürgerkrieg. Was er wollte, war Frieden, er war eine irenische Natur". Zwar habe er die beiden größten Bauvorhaben - deutsches Heer und deutsche Flotte- inszeniert, doch im kaiserlichen Selbstverständnis seien Heer und Flotte primär keine Kriegsmaschinen, sondern Symbole der nationalen Macht, Größe und Wohlfahrt gewesen. Mit der Flotte beispielsweise habe der Kaiser keine Seeschlachten, sondern Flottenparaden antizipiert (Sombart, Wilhelm li. [wie Anm. 53], 53, 130}. Sombart stützt sich auf ethnologische Forschungen zum Königsmythos. Er berücksichtigt offensichtlich nicht die Beiträge, die beispielsweise Evans-Pritchard und Straube zu der fachinternen Diskussion beigesteuert haben. Macht es Sinn, die Aufrüstung des deutschen Militärs ausschließlich als Teil des "Königrituals" zu behandeln? 85 In einem Aufsatz, den er 1925 verfaßte {,Der Jude heute'), behauptete Wilhelm den afrikanisch-negroiden Ursprung der Juden, welche sich heute als Bolschewisten verkleiden würden. Vgl. Röhl, Das Beste {wie Anm. 3). 83

84

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Zugleich ist die Mesopotamien-Studie eine Projektion seiner realen Machtpraxis, seiner Phantasien und Vorurteile auf die sumerische Kultur. Wilhelm II. beschuldigte brieflich die Juden, der Monarchie in Deutschland den Garaus bereitet zu haben.86 Sogar die Eulenburg-Affäre interpretierte er im Nachhinein in diesem Sinne. 1927 äußerte er gegenüber Fürst FritzWend zu Eulenburg-Hertefeld, daß Eulenburg "absolut unschuldig" und einem "von Holstein, Harden und internationaler Judenschaft" herbeigeführten Justizmord zum Opfer gefallen war, der "den einleitenden Schritt" der Revolution gegen die Hohenzollernmonarchie darstellte. 87 Diese Schuldzuweisungen belegen einmal mehr die ausgeprägt gnostische Tönung der kaiserlichen Religiosität, denn gnostisches Denken und Antisemitismus gehen Hand in Hand. Der Kreis schließt sich: Das Christentum des Kaisers ist in letzter Konsequenz nicht mehr als eine Variante der Gnosis; es war der Wille, das jüdisches Erbe zu bewahren, der das Christentum als eigenständige Religion überhaupt erst konstituierte. 88

86 Im Dezember 1919 schrieb Wllhelm li. an Generalfeldmarshall Mackensen: "Die tiefste, gemeinste Schande, die je ein Volk in der Geschichte fertiggebracht, die Deutschen haben sie verübt an sich selbst. Angehetzt und verführt durch den ihnen verhaßten Stamm Juda, der Gastrecht bei ihnen genoß! Das war sein Dank! Kein Deutscher vergesse das je, und ruhe nicht bis nicht diese Schmarotzer vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet sind! Dieser Giftpilz am Deutschen Eichbaum!" (zit. nach Röhl, Kaiser, Hof und Staat [wie Anm. 5], 22). 87 Zit. nach Röhl, Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 5) 218, Anm. 155. 88 Brumlik, Die Gnostiker (wie Anm. 56), 50.

Biographische Daten zu Wilhelm ß. 1859

Geburt Friedrich Wilhelm Victor Albertsam 27. Januar in Berlin

1866-1877

Erziehung durch den Calvinisten Hinzpeter

1877

Abitur in Kassel-Wilhelmshöhe

1877-1879

Studium in Bonn

1881

Heirat mit Prinzessin Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg

1888

Tod Kaiser Wilhelms I. am 9. März; Tod Kaiser Friedrichs m. am 15. Juni; Regierungsantritt Wilhelms Il.; erster Besuch bei Papst Leo Xill.

1890

Entlassung Bismarcks; Aufhebung der "Sozialistengesetze"; Internationale Arbeiterschutz-Konferenz in Berlin; der Rückversicherungsvertrag mit England wird nicht verlängert

1896

Die "Krügerdepesche" führt zur Abkühlung der Beziehungen zu England

1898

Palästina-Reise

1900

"Hunnenrede" des Kaisersanläßlich der Einschiffung des deutschen Expeditionskorps zur Niederschlagung des Boxeraufstandes in China

1900-1908

Reichskanzler Bernhard von Bülow

1901

Tod der Großmutter, Queen Victoria von England

1905

Landung des Kaisers in Tanger. Erste Marokko-Krise

1907

Artikelserie Maximilian Hardens gegen Eulenburg und die Umgebung des Kaisers

1908

Wilhelm II. verliert durch sein Daily Telegraph-InterviewSympathien und Vertrauen. Zunehmende Kritik am "Persönlichen Regiment"

1911

Zweite Marokko-Krise durch den "Panthersprung" nach Agadir

1914

Ausbruch des Ersten Weltkriegs

1918

Abdankung des Kaisers im November

1920

Die Niederlande lehnen die Auslieferungsforderung der Entente ab; Umzug Wilhelms nach Haus Doorn

1927

Gründung der "Doorner Arbeits-Gemeinschaft"

1941

Wilhelm II. stirbt in Doorn am 4. Juni

Autorenverzeichnis Patrick Bahners, Frankfurter Allgemeine Zeitung, FrankfurtiMam Dr. Walter Eykmann MdL, Maximilianeum/München PD Dr. Martin Friedrich, Spener-Arbeitsstelle, Evang.-Theol.-Fakultät, Ruhr-Universität Bochum Dr. Norbert Friedrich, Evang.-Theol.-Fakultät, Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Jürgen Krüger, Institut für Kunstgeschichte, Universität Karlsruhe (TH) Prof. Dr. Klaus Erich Pollmann, Rektorat, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg PD Dr. Stefan Samerski, Institut für Kirchengeschichte der Kath.-Theol.-Fakultät der Universität München Prof. Dr. Bastiaan Schot, Faculteit der Letteren, Rijks Universiteit Leiden (Niederlande) Dr. Michael Spöttel, Achim

Jürgen Strötz, Kath.-Theol.-Fakultät, Universität Passau

Personen- und Ortsregister Aachen 46 f., 189, 250 f., 279 Abdul Hamid II.; Sultan 190 Adler, Friedrich 240 f., 260 f. Alexander der Große 33 Algeciras 17 Althoff, Friedrich 273, 275 Anna von Preußen 227 Auerstädt 135, 271 August der Starke 140 Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg 111, 113 f. , 118, 174, 243 Bad Hornburg vor der Höhe 238, 252 f., 257 Barkhausen, Friedrich 96, 99, 165 f. Barth, Karl103 Baumgarten, Otto 120 Behm, Margarete 125 Benedikt XIV.; Papst 196,229 - 231 Benzler, Willibrord 189, 192 Berlin 48, 63, 67, 73-75, 92 f., 105, 107110, 114 f., 118, 125 f., 134, 137. 148, 164f., 174, 184, 190, 213, 215, 217219,228,243,245, 257,273,278f. Bertram, Adolf Kardinal186 Bethmann-Hollweg, Theobald Theodor 183 Beuron; Benediktinerkloster 193, 223, 248,280 Beza, Theodor 66 Bielefeld 68, 71 f. , 277 Bismarck, Herbert von 115, 205 Bismarck, Otto von 28, 39, 92 - 94, 97, 110, 115 - 117, 127, 130, 146f., 149152, 155, 157, 169, 174, 182, 19~ 214, 219f., 269, 310f. Blau, Paul167 Bodelschwingh, Friedrich von 117, 130 Boeckh, Richard 74, 153 Bonn 20, 30, 48, 53, 73, 174, 191 Born, Fritz von 175

Borromäus, Karl181 Bosse, Robert 273 Bremerhaven 281 Breslau 73, 162,206-208, 232 Bromberg 147, 149, 163 Brückner, Bruno 96, 107 Bruno, Giordano 206 Buchner, Max 173 Bücheler, Franz 53 Bülow, Bernhard von 169, 183, 205, 224 Bunsen, Christian Carl Josias 245 Burckhardt, Jacob 27 f. Bursche, Julius 162 Calvin 66 f., 74 Caprivi, Leo von 97, 152, 269-271, 281 Carnot, Marie Fran~ois Sadi 281 Cauer, Paul268 Chamberlain, Hauston Stewart 286 Chelius, Oskar von 175 Cook, James 298 Cromwell, Oliver 61 Curtius, Ernst 74 Dante Alighieri 28, 43 Danzig 134 Daub, Carl 70 Delitzsch, Friedrich 285 DenHaag231 Dennewitz 103 Devens, Klara 70 Dinglstad, Hermann 207 Doorn, Isaak August 12, 126, 197, 288, 292 Dordrecht 62, 67 f. Dorner, 96 Driedorf 69 Dryander, Ernst von 99, 101 f. Eitel Friedrich, Prinz von Preußen 190 Erzberger, Matthias 183 Eulenburg-Hertefeld, Fritz-Wend zu 314

318

Personen- und Ortsregister

Eulenburg-Hertefeld, Philipp zu 16, 52, 152,209,314 Evans-Pritchard, Edward E. 295, 297 Faulhaber, Michael von 186, 194, 197 Flasch, Kurt 39 Förster-Nietzsche, Elisabeth 27 Franckenstein, Georg Arbogast Frhr. von und zu 182f. Frankfurt am Main 123, 292 Franz Il.; österr. Kaiser 200 Franz Joseph I.; österr. Kaiser 188, 202 Friedrich III.; deutscher Kaiser 68, 77, 91,96,109,114,116,240f.,261 Friedrich Barbarossa; Kaiser 202, 305 Friedrich der Große; preuß. König 29, 37,238,267,282 Friedrich Wilhelm I.; preuß. König 29, 312 Friedrich Wllhelm I.; Der Große Kurfürst 29,88 Friedrich Wilhelm m.; preuß. König 144 Friedrich Wilhelm IV.; preuß. König 95, 146, 240f., 260 Galimberti, Luigi 174, 215f., 218 Gelnhausen 235 Gelsenkirchen-Horst 71 Genf 63, 65, 87 George, Stefan 25, 30, 33 f., 56 Gerlach, Helmut von 74, 102 Giraud-Teulon, Alexis 290 Gnesen 179, 187 Görtz, Carl Wilhelm von Schlitz, gen. von 75 Goethe, Johann Wolfgang von 3 7, 82 Goltz, Eduard von der 96, 101 Goßler, Gustav von 92, 96 f., 166, 269, 273 Greifswald 73 Gumplowicz, Ludwig 289 Haberland, Eike 292 f. Halberstadt 106 Halle 72f. Hannover 162 Harnack, Adolf von 63, 81, 91 f. , 100, 112, 120, 275 f. Hartmann, Felix von 186 f., 230 f. Heidelberg 67, 70

Helena; Kaiserin 256 Renekel von Donnersmarck, Guido 248 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 73 f. Herborn 70 Hermes, Ottomar 96 Herrmann, Wilhelm 45 Hertling, Georg Frhr. von 196 Hesse, Hermann 17 Heym, Albert 86 Heymel, Alfred Walter 40, 52 Hinzpeter, Eleonora 70 Hinzpeter, Friedrich Wilhelm 70 Hinzpeter, Georg Ernst 11, 60-90, 105, 117' 176, 277 f., 280 Hinzpeter, Johann Christian 69 Hinzpeter, Karl 71 Hitler, Adolf 250, 307-309 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 23 Hohenlohe-Schillingsfürst, Clodwig von 185,208 Hohenlohe-Schillingsfürst, Gustav Adolf von 174, 176 Hofmannsthal, Hugo von 21, 24, 28, 31, 34f., 37,52 Holle, Ludwig 273 Hollmann, Fritz von 50, 101, 285 Homer 22, 202 Horst I Emscher 71 Hugenberg, Alfred 157 Hupfeld, Hermann 73 f. nsemann, Sigurd von 287,309 Innsbruck 225, 227 Jena 135, 271 Jensen, Adolf E. 291, 306 Jerusalem 47, 101, 189f., 223, 226, 257, 260f., 264 Johann Sigismund von Brandenburg 67, 68 Johannes der Täufer 15 Jonas, Ludwig 75, 81 Joseph II.; österr. Kaiser 57 Kant, lmmanuel85, 202 Karl der Große; Kaiser 47, 169, 179, 189, 202,205 Karl V.; Kaiser 204 Kessler, Harry Graf 21,47 Kiel278

Personen- und Ortsregister Kögel, Rudolf 86, 94, 96, 101 Köln 46, 186 f., 221 f., 229, 294 Königsberg i. Pr. 15, 134, 281 Kolb, Victor 225 f. Konstantinder Große; Kaiser 252, 256 f. Konstantinopel252 f., 256, 261, 264 Kopernikus, Nikolaus 189 Kopp, Georg Kardinal von 176, 180, 186, 189, 206-208, 217-219, 222f., 229, 232 Kraft, Werner 17 Kraus, Franz Xaver 208-210 Krementz, Philipp Kardinal221 f. Laasphe70 Laband, Paul 49 Langen, Albert 18 Led6chowski, Mieczyslaw Hal.ka Kardinal von 179, 217 Leipzig 173 Leo ill.; Papst 189, 199, 205 Leo XIII.; Papst 11, 174, 176-180, 187, 203-206, 208-214, 216-219, 222, 224,226,229,231-233,279 Leo, Heinrich 72 Lerchenfeld Köfering, Hugo Graf von undzu270 Lic 97 Limburg 208, 238 L6d.Z 143 Loe, Walter Frhr. von 178, 185 Loeschcke, Georg 30 Ludwig ill.; bayer. König 188 Luitpold von Bayern; Prinzregent 188 Luther, Martin 31, 65, 67, 78f., 87, 93, 103,115,158, 181,202,240f.,282 Macaulay, Thomas Babington 43 Magdeburg 146 Mailand 252 Mainz48, 57 Manning, Henry Edward Kardinal214 Marburg 45, 70, 91 Maria Laach, Benediktinerabtei 192 f., 248,256,279 Marlenburg 134 Meinecke, Friedrich 50 Melanchton 67 Metz 106, 188, 190, 208 Meyer, Eduard 286

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Miquel, Johannes von 270 Miller, Norbert 53 Milton, John 43 Mirbach, Ernst Freiherr von 111, 118 Mommsen, Theodor 191 Monaco La Valletta, Raffaele 217 Monreale, bei Palermo 248, 250f. Müller, Julius 73f., 84 München 186, 197, 229 Münster 189, 207, 268 Mumm, Reinhard 120, 126-128 Napoleon Bonaparte 135 Naumann, Friedrich 15, 51, 120, 130 Niebuhr, Barthold Georg 244 Nietzsche, Friedrich 13-15, 26 f., 43, 308 Nitzsch, Karl Imanuel 74 Oncken, Hermann 50 Oppenheimer, Franz 289 Otto der Große; Kaiser 200 Otto ill.; Kaiser 200, 205 Otto von Braunschweig 46, 48 Paderborn 186, 189, 207 Palermo 249 f. Paris 133 Pauli, Gustav 51 f. Persius, Konrad 86 Pestalozzi, Johann Heinrich 63 pfannschmidt, Ernst 248 Philipp von Schwaben 46-48, 57 Pius X.; Papst 180 f., 228, 256 Plessner, Helmuth 50 Posen 134, 149f., 152, 156, 159, 162, 165, 167,170, 179,187,250,252,276 Quast, Ferdinand von 240 Rade, Martin 129 Rampolla del Tindaro, Mariano 205 f. , 208f., 216 - 218, 221f., 224-226,233 Ranke, Leopold von 74 Ravenna 252 Reuß, Heinrich VII. Prinz von 215 - 217 Ritschl, Albrecht 49 f. Ritter, Gerhard 74 Rom 17, 100, 177-179, 194, 199f., 207, 209l,216, 218,226l,229,231,244t, 252,257,261

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Personen- und Ortsregister

Roßbach 103 Rousseau, Jean-Jacques 40 Rüdesheim 256 Rummelsburg 243 f. Schinkel, Karl-Friedrich 240 Schleiennacher, Friedrich 69, 74, 76, 81-83,85 Schliemann, Heinrich 53 f. Schlözer, Kurd von 203, 217 f. Schmidt, Wühelm 304 Schneider, Reinhold 197 Schober, lldefons 280 Schorlemer-Alst, Burghard Frhr. von 182 Schröder, Rudolf Alexander 52 Schulte, Franz Xaver 207 Schulte, Karl Joseph von 186 Schultze, Richard 245 Schwarz, Friedrich Heinrich Christian 70 Schwechten, Franz Heinrich 235, 238, 245,250 Seeberg, Reinhold 128 Seligmann, Charles G. 289 Shakespeare, William 202 Silvester II.; Papst 205 Simar, Hubert Theophil186 Spahn, Martin 179, 190f. Spitta, Max 238, 243 Stablewski, Florian Oksza von 187 Stöcker, Adolf 93, 97f., 105-123, 126131 Straßburg 190f., 208 Strauß, David Friedrich 74 Street, George Edmund 245 Studt, Konrad von 273 Sturnm-Halberg, Carl Frhr. von 98, 119, 123 Stuttgart 235 Sybel, Heinrich von 46 Sydow, Adolf 75, 81 Tews, Julius 271 Thiel, Andreas 186 Tholuck, Friedrich August Gottreu 7375,82,84 Thorn 134

Tiedemann, Christoph von 147 Tillich, Paul 308 Trendelenburg, Friedrich Adolf 74 Trient 140 Troeltsch, Ernst 50, 65 Trott zu Solz, August von 273 1\vesten, August 74 Umberto I.; ital. König 178 Usener, Hennann 20 f., 29-32, 48, 53 f., 56f. Vannutelli, Serafino 217 Venedig253 Victoria von Preußen, Prinzessin 75, 111 Vincke, Georg von 71 Vincke, Ludwig von 70, 73 Vorster, Friedrich Wühelm 72 Wagner, Adolf 108 Wagner, Richard 13 f. Waldersee, Alfred Graf von 93, 114f., 118,129,184 Walther von der Vogelweide 45 f. , 48 f., 57 Warschau 134 f., 137, 141f. Weber, Ludwig 120 Weber, Max 62, 65 f ., 145, 156, 168 Wegscheider, Julius August Ludwig 73 Weimar 126, 197 Westminster (London) 62, 214 Wiehern, Johann Hinrich 109, 121 Wien 20, 135, 215, 217 f. Wilhelm I.; deutscher Kaiser 46, 91, 95, 97, 101, 110f., 113, 124, 146, 171, 174, 202, 282 Wille, Ernst 245 Wilpert, Joseph 256 Windthorst, Ludwig 175, 182 f. Wittenberg 240-244, 261, 264 Wittgenstein 70 Würzburg 173 Zedlitz-Trützschler, Robert von 269271, 273 Zeitler, Julius 24 Zorn, Phitipp 177 Zwingli, Ulrich 67, 87