Der zitierte Held: Studien zur Intertextualität in Wilhelm Raabes Roman "Das Odfeld" 9783110913880, 9783484320727


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German Pages 256 [260] Year 1995

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Table of contents :
I. Einleitung
II. Apokalyptische Zirkelstrukturen
III. Lebenswirbel und Todesidylle
IV. Prometheus
V. »Quaff, oh, quaff this kind nepenthe and forget this lost Lenore!«/Quoth the Raven, »Nevermore«
VI. »Falsche Christi und falsche Propheten«
VII. Raumsymbolische Befunde
VIII. Mythologische Substrukturen
IX. Herakles und Wagner oder Der Philologe als Held
X. Literaturverzeichnis
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Der zitierte Held: Studien zur Intertextualität in Wilhelm Raabes Roman "Das Odfeld"
 9783110913880, 9783484320727

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 72

Helmuth Mojem

Der zitierte Held Studien zur Intertextualität in Wilhelm Raabes Roman »Das Odfeld«

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Meinen Eltern

D 93 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Mojem, Helmuth: Der zitierte Held: Studien zur Intertextualität in Wilhelm Raabes Roman „Das Odfeld"/ Helmut Mojem. -Tübingen : Niemeyer, 1994 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 72) NE:GT ISBN 3-484-32072-9

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Hugo Nadele, Nehren

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung II. Apokalyptische Zirkelstrukturen

ι 16

III. Lebenswirbel und Todesidylle

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IV. Prometheus

64

V. »Quaff, oh, quaff this kind nepenthe and forget this lost Lenore!«/Quoth the Raven, »Nevermore« VI. »Falsche Christi und falsche Propheten« VII. Raumsymbolische Befunde VIII. Mythologische Substrukturen IX. Herakles und Wagner oder Der Philologe als Held X. Literaturverzeichnis

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I. Einleitung

Wilhelm Raabe kann als einer der zitierfreudigsten Autoren der Weltliteratur gelten. Die Tatsache ist seit langem bekannt; sie wurde positivistisch dokumentiert,1 sie schien geeignet, zahlreiche Arbeiten der Einflußforschung zu legitimieren,1 und sie inspirierte wohl auch gelegentlich Versuche, gerade die Phänomene des Zitats, der Anspielung, des intertextuellen Verweises zum Ausgangspunkt einer Interpretation von Raabes Erzähltexten zu machen. 3 Letzteres soll auch im Rahmen dieser Abhandlung gescheFritz Jensch: Wilhelm Raabes Zitatenschatz, Wolfenbüttel 1925; dazu Nachträge in verschiedenen Bänden der Mitteilungen für die Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes (künftig: Mitt.), sowie Walther Scharrer: Wilhelm Raabes literarische Symbolik, dargestellt an Prinzessin Fisch, München 1927; darin die Kapitel: Der Zitatenschatz bzw. Selbstzitate und literarische Symbole, S. 40-53. Scharrer geht allerdings über die bloße Dokumentation und Systematisierung von Zitaten deutlich hinaus, indem er ihre mögliche Funktion im Textzusammenhang erörtert. Vgl. in der Raabe-Bibliographie von Fritz Meyen (Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke (Braunschweiger Ausgabe). Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hrsg. v. Karl Hoppe, später: Jost Schillemeit, Freiburg i.Br. und Braunschweig, später Göttingen 1951-1994, Ergänzungsband i, Göttingen ^1973 (zuerst 195 5) - nach dieser Ausgabe wird künftig unter der Sigle BA mit Band- und Seitenangabe zitiert) die Stichworte »Literarhistorische Beziehungen« und »Quellen zu Wilhelm Raabes Dichtung« im Sachregister, sowie die ebendort unter dem Namen der jeweiligen Bezugspersonen verzeichneten zahlreichen Aufsätze des Typs »Raabe und ...«. Zu nennen ist hier vor allem Herman Meyers Standardwerk: Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans, Stuttgart ^967 (zuerst 1961) mit dem erhellenden Kapitel zu »Hastenbeck«; ferner Joachim Müller: Das Zitat im epischen Gefüge. Die Goethe-Verse in Raabes Erzählung »Die Akten des Vogelsangs«, in: Raabe in neuer Sicht. Hrsg. v. Hermann Helmers, Stuttgart u.a. 1968, 8.279-293 (zuerst 1964), Gertrud Höhler: Unruhige Gäste. Das Bibelzitat in Wilhelm Raabes Roman, Bonn 1969, Irmhild Bärend: Das Bibelzitat als Strukturelement im Werk Wilhelm Raabes, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (künftig: JbRG) 1969, S. 33-52, Karl Jürgen Ringel: Die zitierte Idylle. Arkadische Sehnsucht und soziale Kritik in »Hastenbeck«, in: JbRG 1981 (Revisionen. Festschrift zum 150. Geburtstag Wilhelm Raabes), S. 225-242, Eckhardt Meyer-Krentler: »Unterm Strich«. Literarischer Markt, Trivialität und Romankunst in Raabes »Der Lar«, Paderborn 1986, ders. Stopfkuchen - Ein Doppelgänger. Wilhelm Raabe erzählt Theodor Storm, in: JbRG

hen, und zwar konzentriert auf ein einzelnes Werk, den Roman Das Odfeld aus dem Jahr 1889. Er kann einerseits exemplarisch für das Raabesche (Euvre einstehen und bezeichnet doch andererseits geradezu dessen Gipfelpunkt, sowohl was die Bedeutung seiner Thematik, seines Gehalts anbetrifft, wie auch im Hinblick auf die Originalität und die bestechende Meisterschaft der formalen Gestaltung. Über die Gewichtigkeit des Buches kann man sicherlich streiten4 - es ist wohl jeder Interpret geneigt, den Gegenstand seiner Studien im Rang aufzuwerten -; der Erklärung bedürftiger erscheint vermutlich die Behauptung vom repräsentativen Charakter des Odfelds für Raabes Werk. Dieser Roman stellt eine merkwürdige Mischung von betulich Altmodischem und radikal Modernem dar, wobei den Lesern, die das Buch wegen des einen - meist des ersten - ablehnten, oft wohl kaum bewußt geworden sein dürfte, daß es just das andere - das zweite - war, das sie befremdete. Insofern kann das Odfeld als typisch für Raabes schriftstellerisches Werk der Reifezeit gelten, dem eine ähnliche Ambivalenz bei einem Großteil des Publikums und der germanistischen Forschung - hier muß man allerdings einschränken: bis vor noch nicht allzulanger Zeit - zum Nachteil ausschlug. 5 Überhaupt gilt eine vergleichbare Uneindeutigkeit auch in bezug auf Raabes literarhistorische Stellung. Herkömmlicherweise wird er dem »Bürgerlichen Realismus« zugerechnet,6 wobei an dieser Einordnung jedoch irritiert, daß seine bedeutenderen Werke erst erschienen, als schon die 1987, S. 179-204 u.a.m. Allgemein dazu in dichter, äußerst perspektivenreicher Zusammenfassung: Horst Denkler: Wilhelm Raabe. Legende - Leben - Literatur, Tübingen 1989, S. iSjfi. 4 »Stopfkuchen«, den »Akten des Vogelsangs« und »Hastenbeck« könnte man wohl durchaus die gleiche Bedeutung zusprechen. Nachdem das Augenmerk der Raabe-Forschung lange Zeit dem weitgehend trivialen Frühwerk gegolten hatte, markierte das Buch des kanadischen Germanisten Barker Fairley: Wilhelm Raabe. An Introduction to his Novels, Oxford 1960 - Wilhelm Raabe. Eine Deutung seiner Romane, München 1961. Aus dem Englischen übersetzt v. Hermann Boeschenstein - mit der Erstellung eines neuen Kanons von neun »ganz unangreifbaren« Werken (S. 188) aus der Spätzeit des Autors die Wende. Den gegenwärtigen, erneut leicht veränderten Kanon repräsentiert die zehnbändige Werkauswahl, die Hans-Jürgen Schrader als Taschenbuchausgabe ediert hat: Wilhelm Raabe. Werke in Einzelausgaben, Frankfurt/Main 1985. ' Vgl. etwa die Rezension von Heinz Schlaffer über Hubert Ohl: Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes, Heidelberg 1968, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 89 (1970), 8.287-295, die ein vernichtendes Urteil über das Werk Wilhelm Raabes fällt. * Vgl. Fritz Martinis Standardwerk: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. 1848-1898, Stuttgart 4 i98i (zuerst 1962), oder Roy C. Cowen: Der poeti-

Epoche des Naturalismus und des Fin de siecle angebrochen war, in welcher Nachbarschaft sie, zumindest auf den ersten Blick, dann doch etwas anachronistisch wirken können.7 Andererseits sind Raabes Romane denen Fontanes, die zur gleichen Zeit entstanden, zwar an sinnlicher Welthaltigkeit, an Sättigung mit Realität eindeutig unterlegen,8 weisen aber dafür durch ihre Komplexität in Anlage und Komposition sowie durch die verstörende Kompromißlosigkeit ihrer ästhetischen Gestaltung weit in die Zukunft. 9 Die Autoren des 20. Jahrhunderts knüpften dennoch nicht an Raabe an, ja sie wußten wohl in der Regel kaum etwas mit ihm anzufangen; bis auf wenige Ausnahmen10 überließ man die Pflege und Verbreitung seines Werks völkischen Konservativen, die auf literarischem Gebiet womöglich noch reaktionärer waren als auf politischem." Das Odfeld teilt, sehe Realismus. Kommentar zu einer Epoche, München 1985, wo u.a. »Stopfkuchen« und »Das Odfeld« als exemplarische Werke abgehandelt werden. 7 Vgl. etwa die Zeittafeln in den beiden ebengenannten Werken. Jedoch steht z.B. der Roman »Im alten Eisen« vom Sujet her dem Naturalismus recht nahe, gehört das Fragment »Altershausen« keinesfalls nur von den Entstehungsumständen her in den literarischen Kontext des 20. Jahrhunderts. In seiner klassisch gewordenen Interpretation des »Odfelds« spricht Walther Killy gar vom »entschiedenen Antirealisten« Raabe. Walther Killy: Geschichte gegen die Geschichte. »Das Odfeld«, in: Raabe in neuer Sicht (zuerst 1963), S. 229-246, hier S. 234. 8 Vgl. Schlaffer: Rezension, 8.295, der von einem »Rangunterschied zwischen Raabe und Fontäne [...], der in der Substanz der realistischen Romanwelt begründet ist«, ausgeht. 9 Vgl. dazu grundsätzlich Hans-Jürgen Schrader: Gedichtete Dichtungstheorie im Werk Raabes. Exemplifiziert an »Alte Nester«, in: JbRG 1989, S. 1-27. 10 Zu nennen wären hier etwa Kurt Tucholsky oder Arno Schmidt. Vgl. dazu Peter Horst Neumann: Generalstreiklektüre. Über Wilhelm Raabes literarischen Rang und Nachruhm, in: JbRG 1982,8.40-55,Leo A. Lensing: Reading Raabe: The example of Kurt Tucholsky, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies 19 (1983), 5.122-135, Horst Denkler: Der untrügliche Spürsinn des Genius für seinesgleichen. Arno Schmidts Verhältnis zu Wilhelm Raabe, in: ders.: Neues über Wilhelm Raabe. Zehn Annäherungsversuche an einen verkannten Schriftsteller, Tübingen 1988, S. 123-138 (zuerst 1985), sowie im Marbacher Ausstellungskatalog von Jochen Meyer: »Entlaufene Bürger«. Kurt Tucholsky und die Seinen, Marbach 1990, das Kapitel: Beim »alten heiligen Raabe«, S. 13-54. Eine neuere Rezeptionsphase bezeichnet der Essay von Ludwig Harig: Mit zierlich scharfbekralltem Fuß. Auf Wilhelm Raabes Fährte in Stuttgart, in: ders.: Das Rauschen des sechsten Sinnes. Reden zur Rettung des Lebens und der Literatur, München, Wien 1985, S. 106-114 (zuerst 1981), oder die intertextuelle Auseinandersetzung mit Raabes »Stopfkuchen« in Gerhard Kopfs Roman »Eulensehen«, München 1989. 1 ' Man könnte an dieser Stelle sogar Joseph Goebbels anführen - vgl. hierzu HansJürgen Schrader: Joseph Goebbels als Raabe-Redner, in: JbRG 1974, S. 112115-, folgenreicher war jedoch wohl das Wirken des präfaschistischen Literarhistorikers Adolf Bartels. Vgl. dazu den Artikel von Ernst A. Roioff zum 80. Geburtstag Bartels': Adolf Bartels über Wilhelm Raabe, in: Mitt. 33 (1943),

wie gesagt, die genannten Merkmale mit den anderen bedeutenden Büchern Raabes, und ihm wurde auch die gleiche Rezeption zuteil. Mir ist nicht bekannt, daß der Roman jemals eine Würdigung durch einen Schriftsteller von Format erfahren habe, daß er gerühmt, empfohlen, zitiert worden wäre; 12 er figurierte als eines unter vielen Erzählwerken Raabes, die man wohl schon ob ihrer stattlichen Anzahl nicht so recht im einzelnen kannte und unterschied - von Ausnahmen wie dem Hungerpastor und der Chronik der Sperlingsgasse selbstverständlich abgesehen -, eben als typisch für den zunehmend mit leicht genierter Distanz betrachteten Braunschweiger Autor. Dieser repräsentative Charakter des Romans für Raabes CEuvre ist stets mitzubedenken, wenn ich im folgenden versuche, seine Eigenart zu beschreiben, seine irritierende und geradezu singular wirkende Zwischenstellung herauszuarbeiten, die sich in der Vermischung von traditionsgebundenen Schreibweisen mit Erzählstrategien von frappierender Modernität ausdrückt, für die hier nur die Stichworte von der permanenten poetologischen Reflexion des narrativen Vorgangs oder von der buchstäblichen Einbeziehung des Lesers in die Konstruktion und den Text des Romans einstehen mögen, kurz: wenn ich mich bemühe, den außergewöhnlichen ästhetischen Rang dieses Werkes kenntlich zu machen. Gleiches gilt für sechs bis acht weitere Erzähltexte Raabes, und von diesen her sollte das Bild des Autors in der Literaturgeschichte neu bestimmt werden. Programmatische Entwürfe dieser Art lassen sich heute jedoch schwerlich noch mit dem Gestus einer Pioniertat vertreten. Beinahe schon hat das Gegenteil statt; solche Überlegungen und Anstöße können in der RaabeForschung mehr oder weniger deutlich über dreißig Jahre hinweg zurückverfolgt werden - sie fanden allerdings auch nur in diesem Kreis Anklang. Gerade dem Odfeld wurde in den sechziger Jahren beträchtliche Aufmerksamkeit durch die Literaturwissenschaft zuteil, so daß seitdem mit voller Berechtigung von einer Neueinschätzung und Aufwertung des Romans 8.31-33, sowie den kritischen Rückblick von Florian Krobb: Der »Eiserne Bestand der deutschen Literatur«. Zur Raabe-Rezeption bei Adolf Bartels, in: Mitt. 75 (1988), S. 24-25. Generell zu der »Fehlrezeption« des Autors innerhalb und im Umkreis der Raabe-Gesellschaft vgl. den Überblick bei Denkler: Wilhelm Raabe, S. 4/ff. Für »Stopfkuchen« kann man diesbezüglich immerhin auf einen Aufsatz von Romano Guardini (1932) verweisen; über »Das Odfeld« geht sogar der große Raabe-Essay von Georg Lukacs (1940) ohne Erwähnung hinweg. Beide in: Raabe in neuer Sicht, S. 12-43 und S. 44-73. Vgl. dagegen aber den jüngst (i992/ 93) entstandenen Radierungszyklus des insbesondere als Arno-Schmidt-Illustrator hervorgetretenen Malers Eberhard Schlotter.

gesprochen werden kann.' 3 Dieses Forschungsinteresse ist nicht mehr abgerissen. Das Odfeld dürfte gegenwärtig der am häufigsten interpretierte Roman Raabes sein, und die Erkenntnis, es handele sich hierbei um eines der wichtigen Werke der deutschen Literatur, beginnt sich allgemein durchzusetzen. Hier schließt die vorliegende Studie an. Wie nach dem eben Gesagten nicht anders zu erwarten, bietet sie hinsichtlich des allgemeinen Tenors wenig Neues; das Spezifische und vielleicht auch Neue daran liegt wohl in der beharrlichen philologischen Verfolgung von Raabes Zitierpraxis oder anders, in der konsequenten Untersuchung des Phänomens der Intertextualität, das, wie zu zeigen sein wird, dem Roman sein besonderes Gepräge, ja mehr noch, die formale Kontur verleiht. Demgemäß ist meine Untersuchung vom Methodischen her weniger innovativ und anspruchsvoll, als ich mir erhoffe, daß sie es von ihren Ergebnissen her sein wird. Ein Wort scheint noch angebracht zum eigentlichen Gegenstand dieser Abhandlung, zu Raabes Zitaten. Obwohl, wie gesagt, dem Phänomen schon einige Studien gewidmet worden sind, steht eine systematische Klassifizierung der verschiedenen, von Raabe gebrauchten Zitiertechniken samt ihrer jeweiligen textstrukturierenden und rezeptionssteuernden Wirkungsweise noch aus.14 Derartiges zu liefern, liegt zwar auch nicht in meiner Absicht, jedoch entdeckt man bereits bei der ersten oberflächlichen Untersuchung eines Raabeschen Romans - in diesem Fall des Qdfelds - eine solche Vielzahl von Verweisungsmethoden auf fremden Text, daß es unzulässig scheint, diese recht heterogenen Verfahren allein auf den Begriff des Zitierens im engeren Sinn festzulegen.'5 Eine Alternative bestünde darin, 13

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Dieses Dezennium hat, nachdem in der gesamten Zeit davor nur wenig Einschlägiges erschienen war, mindestens vier markante Interpretationen des Romans hervorgebracht. Killy: Geschichte gegen die Geschichte; das dem »Odfeld« gewidmete Kapitel: Der spekulative Humor in Wilhelm Raabes Erzählkunst, in dem Buch von Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des Poetischen Realismus, München ^985 (zuerst 1963), S. 241-270, Hans Oppermann: Der passive Held. Raabe: »Das Odfeld«, in: JbRG 1967, S. 31-50, schließlich die das »Odfeld« betreffenden Passagen in Ohls Abhandlung: Bild und Wirklichkeit, S. 117-155. Bereits Killy reklamiert für das »Odfeld« »einen bedeutenden Platz in der Geschichte der deutschen Literatur« (8.232). Sie findet sich auch nicht in einer Dissertation, deren Titel ähnliches erwarten läßt, die dafür aber, wenn auch etwas unsystematisch, manch andere nützliche Einsicht zum Thema enthält: M. Beda Rauch: Philologie und philologische Anspielung im Werk Wilhelm Raabes, München 1971. Vgl. hierzu die Ausführungen von Hans-Ulrich Simon im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Auflage, Bd. 4. Hrsg. v. Klaus Kanzog u.

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ihn auszuweiten, was jedoch die Gefahr der Beliebigkeit und Unscharfe nach sich zöge. Es findet sich nämlich im Odfelddie offen gekennzeichnete Textübernahme mit detaillierter Quellenangabe neben dem zwar ebenso deutlich markierten, seiner Herkunft nach aber dunklen Zitat, wobei im Rahmen einer Klassifikation noch zusätzlich nach dem Bekanntheitsgrad des Referenztextes unterschieden werden müßte. Ein Beispiel für diese zwei Techniken bietet folgende Passage: [...] und zog wie mechanisch erst die Lampe und dann des Iburgischen Schloßpredigers Theodori Kampf Wunderbaren Todes-Boten zu sich heran und schlug ihn auf bei der dritten Frage im zweiten Kapitel: »Ob das Hundeheulen, Eulenund Leichhünerschreyen von Gott oder vom Teufel?« Mit kopfschüttelndem Lächeln schob er das Buch wieder zurück und zitierte: »Quis dedit gallo intelligentiam? Wer gab dem Hahnen das Verständniß?« l6

Es begegnet darüber hinaus das kryptische, will sagen, das äußerlich nicht gekennzeichnete Zitat und die Anspielung; beides erscheint in folgendem Satz: »Nun gedenke Er der Stoa, nun zeige Er, daß ihm der Titan, der hohe Prometheus, aus dem bessern Leimen das Herz knetete, zeige Er sich erlauchter Ahnen wert und sorge Er in christlichem Vertrauen nicht darum: was werdet ihr essen, was werdet ihr trinken, wo werdet ihr euer Haupt niederlegen, und was wird die Schlacht der Raben auf dem Odfelde von euren vergänglichen Habseligkeiten und unersetzlichen Pretiosen und Kuriositäten übriggelassen haben nach eingetretener und eingeschlagener Türe?« (214) [Hervorhebung von mir, H. M]

Als weitere, kompliziertere Verweisungsmethoden wären noch anzuführen die Parodie,17 die Paraphrase eines in einem anderen Text beschriebenen Geschehens,18 die erzählerische Evokation einer ikonographisch festgelegten Situation/9 die Postfiguration mythischer oder literarischer Gestalten," der Rekurs auf Dichtergestalten im Zusammenhang der AnspieAchim Masser, Berlin, New York 1984, Stichwort »Zitat«, 8.1049-1081, bes. S. io52ff. '* BA 17: Das Odfeld/Der Lar, hrsg. v. Hans Oppermann, 2. durchgesehene Auflage besorgt v. Eberhard Rohse, Göttingen 1981 (zuerst 1966). Bei Zitaten aus diesem Band folgen künftig die jeweiligen Seitenzahlen in Klammern nach dem Zitat; hier S. 59. 17 Vgl. dazu S. io6ff.u. S. 59ff. dieser Studie. 18 Vgl. dazu S. 1671. u. S. 2i2f. dieser Studie. 19 Vgl. dazu S. 138 bzw. 142 u. S. 100 dieser Studie. 10 Die Personen des »Odfelds« treten beinahe ausnahmslos als solche Postfigurationen auf; überdies wechseln sie zwischen den jeweiligen Zuordnungen - etwa in der Art einer kleinen Theatergruppe, bei der wenige Schauspieler viele Rollen verkörpern müssen.

lung auf ihr Werk,11 die Zitatmontage/2 die Referenz auf eine ganze Ordnung, eine Klasse oder ein System von Texten13 u.a.m. Diese Aufzählung ist vielleicht unsystematisch, wahrscheinlich kommen darin Überschneidungen vor, und sie bedarf sicherlich der Ergänzung. Mir geht es hier jedoch nur darum, einen Eindruck von der Pluralität dieser Verweisungstechniken auf einen fremden Text zu vermitteln, die mir schon allein aus pragmatischen Gründen nur durch den Oberbegriff der Intertextualität,24 verstanden als allgemeine Umschreibung dessen, was sich literarisch zwischen zwei Texten abspielen kann, gedeckt erscheint, zumal im Odfeld mittels dieser Verfahren ein dichtes Netz von Bezügen - durchaus auch der verschiedenen Referenztexte untereinander - geknüpft, Verbindungen zwischen den entlegensten Büchern hergestellt, kurz, wahrhaftig ein literarischer Kosmos, das Sinnbild einer imaginären allumfassenden Bibliothek, geschaffen wird. Für die Verwendung dieses Terminus gibt es aber noch einen zweiten Grund. In der Konsequenz der radikalen Intertextualitätstheorie,25 nach der grundsätzlich jeder Text ein Mosaik von Zitaten darstellt, sich quasi im Kreuzungspunkt anderer Texte befindet,26 liegt die Annahme vom Ver21

Vgl. dazu S. 2ioff. dieser Studie. " Vgl. dazu S. r 3 8f.u. S. 85ff. dieser Studie. 13 Im »Odfeld« ist diesbezüglich vor allem die Textkategorie »biblische Apokalypse« zu nennen, auf die laufend Bezug genommen wird. Ebenfalls anzuführen wäre die Gattung »Idylle«. 14 Die nach wie vor beste Annäherung an diesen in der neueren Literaturwissenschaft geradezu beängstigende Präsenz gewinnenden, äußerst schillernden Terminus scheint mir der Band: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich u. Manfred Pfister,Tübingen 1985, zu bieten. Zur Eingrenzung, Klärung und Erläuterung des Begriffs vgl. insbesondere den grundlegenden Einleitungsaufsatz von Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität, S. 1-31. ^ Einen guten Abriß der unterschiedlichen Auffassungen von Intertextualität enthält die Studie von Udo J. Hebel: Romaninterpretation als Textarchäologie. Untersuchungen zur Intertextualität am Beispiel von F. Scott Fitzgeralds »This Side of Paradise«, Frankfurt/Main 1989; darin das Kapitel: Intertextualität Skizze einer theoretischen Konzeption, S. 17-36. Vgl. im übrigen Pfister: Konzepte der Intertextualität, sowie die Aufsätze von Renate Lachmann: Intertextualität als Sinnkonstitution. Andrej Belyjs »Petersburg« und die fremden Texte, in: Poetica 15 (1983), 8.66-107, unc ^ : Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, in: Das Gespräch. Hrsg. v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning, München 1984, S. 133-138, ferner ebendort den Beitrag von Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität, S. 139-150. Die beiden Abhandlungen Lachmanns sind jetzt - in erweitertem Kontext - auch zugänglich in: Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt/Main 1990. 16 »[...] tout texte se construit comme mosa'ique de citations, tout texte est absorption et transformation d'un autre texte. A la place de la notion d'intersubjectivite

schwinden des Autors als schöpferische und organisierende Kraft hinter dem Text, dem selbst, in Korrespondenz mit anderen Texten, Produktivität unterstellt wird: Der Autor eines Textes wird [...] zum bloßen Projektionsraum des intertextuellen Spiels, während die Produktivität auf den Text selber übergeht. [...] In dem Maße, in dem Aktivität und Produktivität dem Text und dem intertextuellen Spiel überschrieben werden, verschwindet die individuelle Subjektivität als intentionale Instanz. [...] Mit dem individuellen Subjekt des Autors verschwindet aber auch die Individualität des Werkes selbst, das zum bloßen Abschnitt in einem universalen, kollektiven Text entgrenzt wird.27

Zwar stimme ich einer solchen Auffassung im allgemeinen nicht zu, doch halte ich in diesem besonderen Fall sowohl die Verwendung des Begriffs wie auch - bis zu einer gewissen Grenze - die Annahme seiner Implikationen dadurch für gerechtfertigt, daß Raabe im Odfeld selbst über das Problem zu reflektieren scheint, inwieweit der Inhalt eines Romans oder auch die Konstituierung eines bestimmten Textsinns im freien Ermessen eines Autors liege, bzw. ob umgekehrt die zitatweise Präsenz eines fremden Textes im eigenen womöglich vom Autor nicht kontrollierte, ja unter Umständen sogar subversive, gegen die Autonomie dieses Autors gerichtete Bedeutungspotentiale freisetzen könne, was in entsprechender Sicht der Dinge ja durchaus der Entmächtigung, dem Verschwinden der »individuellen Subjektivität als intentionaler Instanz« hinter dem Text gleichkäme. Ich will hier den Ergebnissen meiner Interpretation in keiner Weise vorgreifen und merke nur soviel an, daß der Terminus »Intertextualität« bzw. auch die Bezeichnungen der unter dem Dach dieses Begriffs versammelten Methoden der Verweisung auf einen anderen Text stets im Sinne eines konkreten und vom Autor beabsichtigten Bezugs gebraucht sind.18 Von den Folgerungen, die sich auch noch aus dieser eingeengten Auffas-

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s'installe celle d'intertextualite, et le langage poetique se lit, au moins, comme double« - damit führte Julia Kristeva Ende der 6oer Jahre den Begriff »Intertextualität« in die Diskussion ein. Julia Kristeva: Le mot, le dialogue et le roman, in: dies.: . Recherches pour une semanalyse, Paris 1969, S. 143-173, hier S. 146. Pfister: Konzepte der Intertextualität, S. 8, mit Bezug auf Kristeva. Ein solches, mehr oder minder restriktives Verständnis von Intertextualität liegt zumeist jenen Arbeiten zugrunde, die es weniger auf literaturtheoretische Erkenntnis denn auf konkrete Textanalyse anlegen. Vgl. dazu Pfister: Konzepte der Intertextualität, S. iiff., bes. S. 15, bzw. Hebel: Romaninterpretation als Textarchäologie, S. 2iff. Lachmann spricht treffend von der »Zähmung der intertextuellen Strategien«; Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, S. 138.

sung von Intertextualität ergeben können, wird gegen Ende meiner Untersuchung die Rede sein. Ein letzter Punkt, der noch zu erwähnen ist, betrifft das Verhältnis der hier folgenden Studie zur speziellen Sekundärliteratur. Ich verzichte an dieser Stelle auf einen schulmäßigen Forschungsbericht, zum einen weil die einschlägigen Beiträge ohnehin in den entsprechenden Fußnoten diskutiert werden, zum anderen weil der Großteil der Oflf/eW-Philologie den Tendenzen dieser Darstellung eher fern steht. Der Klärung bedarf hingegen das besondere Verhältnis, das die Abhandlung mit meinen bisherigen, dem Odfeld gewidmeten Arbeiten verbindet. Abgesehen von einem Aufsatz, der die Quellenlage der Rabenschlacht erörtert und die vorliegende Interpretation nicht unmittelbar tangiert,29 habe ich in einer ersten Annäherung an den Roman, die nunmehr den Status einer Vorarbeit zu dieser Studie gewinnt, so schematisch das klingen mag, seinen ersten Teil, die erste Hälfte des Buches untersucht.30 Dieses mechanistische Vorgehen rechtfertigt sich dadurch, daß das Odfeld meiner Ansicht nach in zwei deutlich unterscheidbare Partien zerfällt, die man demgemäß auch getrennt behandeln kann. Mit einer Einschränkung allerdings: Die erste Hälfte des Textes bezieht sich trotz ihrer Geschlossenheit selbstredend auf die zweite und erhält auch von dort her, also durch die finale Perspektive des Romans, eine gewisse zusätzliche, übergreifende Sinngebung. Die alleinige Interpretation des ersten Teils, wie ich sie damals tendenziell betrieben habe, mußte somit notwendigerweise in Relation zu den Ergebnissen einer Gesamtdeutung manche Akzentverschiebung, manche eigenwillige Verkürzung riskieren. Zumal gegen Ende der achtziger Jahre die Leitbegriffe der OdfeldPhilologie nach wie vor »Geschichte«31 und - neueren Datums - »Apoka19

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Verf.: Über die Quellen der Rabenschlacht im »Odfeld« Wilhelm Raabes, in: JbRG 1990, S. 50-73. Verf.: Baucis ohne Philemon. Wilhelm Raabes Roman »Das Odfeld« als Idyllenumschrift, Stuttgart 1989. Hans Vilmar Geppert: »Das Odfeld«. Zur Zeichensprache der Geschichte, in: Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Aus Anlaß des 150. Geburtstages (1831-1981) hrsg. v. Leo A. Lensing u. Hans-Werner Peter, Braunschweig 1981 [recte: 1982], 5.266-280, Philip). Brewster: Wilhelm Raabes historische Fiktion im Kontext. Beitrag zur Rekonstruktion der Gattungsproblematik zwischen Geschichtsschreibung und Poesie im 19. Jahrhundert, Diss. Phil. Cornell University, Ithaca, New York 1983, darin zum »Odfeld«, S. 291-376, Irene Spiegelman: Wilhelm Raabe's historical works and his historical consciousness as revealed by his text »Das Odfeld«, Diss. Phil. New York University 1986, Michael Limlei: Geschichte als Ort der Bewährung. Menschenbild und Gesellschaftsverständnis in den deutschen historischen Romanen (1820 bis 1890), Frankfurt/Main u.a. 1988, darin S. 281-308: Unerreichbare Geschich-

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lypse«3* lauteten, war wohl allein schon der Untertitel der Monographie von dem eigentlichen Titel ganz zu schweigen -, Wilhelm Raubes Roman »Das Odfeld« als Idyllenumschrift, dazu angetan, Befremden hervorzurufen. Im Hinblick auf das unheilvolle, grausam-gewalttätige Romangeschehen scheint sich in der Tat der Gedanke an Arkadisches, an harmonischfriedliches Schäferglück geradezu von selbst zu verbieten, jedoch hat die Forschung andererseits die generelle Wichtigkeit der Kategorie »Idylle« für die Deutung von Raabes Werk längst herausgestellt.33 Es ist ja kaum zu übersehen, daß eine Vielzahl seiner Romane und Erzählungen diesen Begriff umspielen - ich erwähne als bekanntere nur Hastenheck, Stopfkuchen, Hör acker - sei es, daß er explizit genannt,34 daß er durch hintersinnige Anspielungen beschworen35 oder durch nahverwandte Vorstellungen, wie

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te und Zerfall einer individuell vergegenwärtigten Realität: Wilhelm Raabe: Das Odfeld. 1888. Heinrich Detering: Apokalyptische Bedeutungsstrukturen in Raabes »Das Odfeld«, in: JbRG 1984, S. 87-98, ders.: Theodizee und Erzählverfahren. Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raabes, Göttingen 1990, darin S. 178-197: Die Zeichen in der Welt: Geschichtserfahrung und Apokalypse in »Das Odfeld«, Albrecht Koschorke: Der Rabe, das Buch und die Arche der Zeichen. Zu Wilhelm Raabes apokalyptischer Kriegsgeschichte »Das Odfeld«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 529-548. Hiermit sind selbstverständlich nicht die frühen Versuche der Forschung gemeint, Raabe als gemütvollen Idylliker zu zeichnen, sondern etwa der richtungsweisende Aufsatz von Fritz Martini: Parodie und Regeneration der Idylle. Zu Wilhelm Raabes Horacker, in: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger, Berlin 1968, S. 232-266, die verdienstvollen Arbeiten von Karl Jürgen Ringel zu »Hastenbeck«: Wilhelm Raabes Roman »Hastenbeck«. Ein Beitrag zum Verständnis des Alterswerkes, Bern 1970, und Die zitierte Idylle (1981) oder die Studie von Uwe Heldt: Isolation und Identität. Die Bedeutung des Idyllischen in der Epik Wilhelm Raabes, Frankfurt/Main 1980. Das ist z.B. in »Horacker« oder in »Hastenbeck« der Fall. Vgl. dazu die in der vorherigen Anmerkung genannten Abhandlungen. Etwa in »Pfisters Mühle« mit dem vielsagenden, im Roman intrikate Anschaulichkeit gewinnenden Untertitel: »Ein Sommerferienheft«. Vgl auch die den Untergang der idyllischen Mühle antizipierende Bemerkung einer Romanfigur, »daß grade durch das Land Arkadien der Fluß Styx« fließe. BA 16: Pfisters Mühle/Unruhige Gäste/Im Alten Eisen, hrsg. v. Hans Oppermann, 2. Auflage besorgt v. Rosemarie Schillemeit, Göttingen 1979 (zuerst 1961), S. 64. Zu diesem Roman vgl. jetzt Gerhard Kaiser: Der Totenfluß als Industriekloake. Über den Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie und Phantasie in »Pfisters Mühle« von Wilhelm Raabe. Eine Abschiedsvorlesung, in: ders.: Mutter Natur und die Dampfmaschine. Ein literarischer Mythos im Rückbezug auf Antike und Christentum, Freiburg i. Br. 1991, S. 81-107. 10

die des Märchens,3Bestie im Menschen< hervortreibe« (S. 271). Allgemein zu den darwinistischen Bezügen des Romans (bzw. von Raabes Werk überhaupt) vgl. den sehr instruktiven Aufsatz von Eberhard Rohse: »Transzendentale Menschenkunde« im Zeichen des Affen. Raabes literarische Antworten auf die Darwinismusdebatte des 19. Jahrhunderts, in: JbRG 1988, S. 168-210, bes. S. i82ff.u. S. i94ff. Vgl. ferner Verf./Sprengel: Lebenskampf und Leibesfülle. 29

für den, der andere ißt, wie auch für den Gefressenen, dem somit das Begräbnis versagt wird. Das Wort »vogelfrei«, das im Roman einmal, auf die aus dem Kloster Flüchtenden gemünzt, Anwendung findet - »die Vogelfreien« (140) - besagt in erster Linie, daß jemand nach seinem Tod nicht christlich beerdigt, sondern den Aasvögeln, den Raben zum Fraß preisgegeben werden soll, '9 und über diese Brücke bringt Raabe das verstörende Faktum in verhaltener Andeutung an sein bildungsbürgerliches Publikum. Buchius' Rabe wird im Roman ausdrücklich als Leichenvogel, der sich auf Schlachtfeldern von den Toten nährt, vorgestellt (56). Diesem Raben nimmt Thedel sein Futter weg und droht gar noch, ihn selbst zu verspeisen (79). Damit hat sich schon im wahrsten Sinne des Wortes ein Futterkreislauf gebildet. Doch gehen im Roman öfters Menschen und Raben ineins. Der Amtmann fragt Buchius, ob er sich nicht etwa »ein paar Leichname von diesem curieusen Champ de bataille in den Taschen zum Abendbraten mitnehmen« wolle (34). Das sind verkehrte Verhältnisse, handelt es sich doch um Leichname von Aasvögeln, die nun ihrerseits von einem Menschen verzehrt werden sollen. Kurze Zeit später werden diese Unterscheidungen im Zornesausbruch des Klosterverwalters jedoch hinfällig: »Herr, Er ist es, der mir als schwarzer Unglücksrabe auf dem Dach unter meinem Dache sitzt. [...] Was muß ich mit Ihm mir meinen Tod an den Hals füttern? Was muß ich mit Ihm mir mein tagtäglich Verderbnis weiter füttern? [...] hat Er mir nicht etwa gestern abend diesen saubren Morgen im Taschentuch in den Hof getragen? Und mit dem giftigen schwarzen Galgenvogel den dreidoppelten Galgenvogel, den Musjeh, den Junker von Münchhausen? [...] Mit dem für Ihn stipulierten Mittagsbrod wird's heute wohl nichts werden können; also grabe Er draußen wieder nach Knochen, äse Er meinetwegen auf seinem Teufelsfelde, fresse er sich voll auf dem Odfelde! Hinaus mit Ihm! Wenn Sein Tisch wieder gedeckt ist in Amelungsborn, werd' ich's dem Herrn Magister und Hochfürstlicher Kammer schon zu wissen tun.« (nof.)

Um diese Zeit liegen auf dem Odfeld neben den Raben auch schon Menschen, und diesen, die ihrerseits am Morgen »gefräßig« aufgebrochen waren (141), nehmen die Flüchtlinge ihre Brotrationen, »fressen sich davon voll«, »äsen« sich satt, »stumm kauend« (155) - in dieser Situation tatsächlich aufs Animalische reduziert. Daß hier wahrhaftig Leichenfraß angedeutet werden soll, der Kreislauf des Fressens und Gefressenwerdens, kann man zuletzt daran ersehen, daß der erbeutete »Knorren angenagten, schau19

Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 12,2, bearbeitet von Rudolf Meiszner, Leipzig 1951, Sp. 4O/ff,, Stichwort »vogelfrei«. 3°

erlich feuchten schwarzen Roggenbrodes« »blutig« ist, voll vom Blut des gefallenen Soldaten (154).I0 Und wenn zum Schluß des Romans der Rabe des Magisters ausfliegt zum Leichenfraß auf dem Odfeld, dort wo Thedel, der Initiator dieser Verproviantierungsaktion liegt, schließt sich der Kreislauf erneut. Fressen und Gefressenwerden ist also gleichermaßen wie Schlagen und Geschlagenwerden in Raabes Roman Grundbedingung des Weltgeschehens, und ebensowenig wie Gott beim Kampf aller gegen alle zum Frieden wirkt, greift er hier milde und gnadenvoll ein. Nachdem der Erzähler die durch den Krieg hervorgerufene Hungersnot geschildert hat, beginnt er die eigentliche Geschichte mit der Formel: »Ein trüber Tag des Novembers siebzehnhunderteinundsechzig neigte sich seinem Ende zu« (22). Das scheint beliebig, ist eigentlich aber Zitat aus Luk. 9,11, dem Bericht von der Speisung der Fünftausend. Die generelle Parallelität verweist auf die spezifische Differenz; kein freundlicher Gott tut Wunder, um das hungernde Volk zu sättigen, stattdessen folgt im Text das ebenso unscheinbare, oben schon erwähnte Zitat aus Mi. 6,15, das die Hungersnot als Teil der Apokalypse, als von Gott verhängtes Strafgericht kennzeichnet. Ein geradezu blasphemisch eingesetztes Bibelwort übertrumpft diesen Befund noch. Buchius spricht, immer noch im Kontext von Essensknappheit und Hungersnot vom »Herr[n], der die Raben speiset« (33). Das erinnert an Luk. 12,24: »GOtt nähret sie [die Raben] doch«, oder an Hiob 38,41: »Wer bereitet dem Raben die Speise, wenn seine Jungen zu GOtt rufen und fliegen irre, wenn sie nicht zu essen haben?« - Aufrufe zum gläubigen Vertrauen auf Gott. Auf dem Hintergrund des Romangeschehens erhält die Wendung aber einen bösen Doppelsinn, sind doch die Raben, die im biblischen Kontext ja nur stellvertretend für die Menschen genannt werden, die einzigen, für deren Nahrung der Herr Zebaoth tatsächlich sorgt; durch die vielen Gefallenen im Krieg aller gegen alle, den er entfesselt. Somit erweist sich im Odfeld Gott auch als Befürworter des Kreislaufs von Fressen und Gefressenwerden, und man könnte meinen, Drastischeres könne Raabe dem Höchsten schwerlich (gar noch über den intertextuellen Umweg der Heiligen Schrift) unterstellen. Inhaltlich ist wohl in der Tat kaum eine Steigerung mehr möglich; vernichtender könnte nur noch eine direkte moralische Verurteilung sein. Eine solche findet sich denn auch gleich zu Anfang des Buches:21 Siehe den Exkurs* am Ende des Kapitels. Vgl. zu dieser Textstelle auch Limlei: Geschichte als Ort der Bewährung, S. 292, sowie Detering: Theodizee und Erzählverfahren, S. 187. 31

Herr Gott, wo bliebe Dein Titel Zebaoth, Herr der Heerscharen, wenn Du allen Deinen Kostgängern das Gemüte gegeben hättest, ihr Tischgebet und Nachtgebet so zu sagen wie Dein letzter Magister und Quintus von Amelungsborn, der alte Buchius ? Du hast es nicht getan, und so ist es nicht meine Schuld, wenn auch diese Historic einmal wieder zum größten Teil vom Gezerr um die Brosamen handelt, so von Deinem Tische fallen, Herr Zebaoth. (20)

Diese Passage benennt, in vorausdeutender Anspielung, bündig beide Dimensionen der Apokalypse im Roman: den Kreislauf des Fressens im »Gezerr um die Brosamen« und den des Schiagens in der demonstrativen Übersetzung und Verdeutlichung des Beinamens »Herr Zebaoth, Herr der Heerscharen«. Nachdem so, ähnlich wie in einer Anklagerede vor einem Tribunal, der Tatbestand gesichert ist, ergibt sich der konsequente Schuldspruch über Gott durch den impliziten Verweis auf die Lazarusgeschichte: [Luk. 16,19] ES war a^er em reicher Mann, der kleidete sich mit Purpur und köstlicher Leinwand, und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. [20] Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Thür voller Schwären, [21] Und begehrete sich zu sätigen von den Brosamen, die von des Reichen Tische fielen.

Lazarus vertritt die Menschen, der Reiche Gott; die Höllenstrafe, die jenem zuteil wurde, müßte, so legt die Parallele nahe, eigentlich auch über diesen verhängt werden. Dieser rigorosen Verurteilung Gottes steht im Odfeld die Hoffnung auf Christus, den Menschensohn, entgegen, der als Messias die Apokalypse des Herrn Zebaoth beenden soll. In der konkreten Romanhandlung sind die Erwartungen aller auf Herzog Ferdinand gerichtet, von dem man sich Befreiung von den Franzosen und ihrer Bedrückung verspricht und der obendrein durch die unterschwellige Kennzeichnung als messianischer Erlöser auch auf symbolischer Ebene Träger von Heilserwartungen ist. Ins Geschehen involviert ist allerdings mehr sein Jünger Buchius, der, anders als der nur gelegentlich in der Erzählung auftretende Herzog, die Abweichung vom gängigen Muster brutal-tierischer Verhaltensweisen konkret vorzuleben scheint." So wäre also vorläufig die Konzeption des Romans zu bestimmen: In eine mit den Metaphern des Darwinismus und der Apokalypse beschriebenen, heillosen, anti-utopischen Welt ist Buchius als Vgl. ebenda, S. ^ ., insbesondere den Schluß der Interpretation: »In Noah Buchius' Gestalt erscheint, nirgends ganz fixierbar und doch immer wieder zart angedeutet, die unerkannte Gestalt des leidenden Erlösers selbst. In einer Welt, in der es immerfort Abend wird, tritt dieser Tröster >her in einer Glorie, von der er selber am wenigsten wußtegestern und heute< der Relationen, soll verhindern, daß die Umkehrung der Bildwerte als Entwicklung oder als charakterliche Wandlung begriffen wird«. Ob die aus dieser Vorgabe resultierende Widersprüchlichkeit der »Bildwerte« als offene Ambivalenz 49

alles andere eher als der Roman einer Glaubenskrise ist. Vielmehr läßt sich die Schilderung von Buchius' innerem Werdegang als Reflex auf das Modell einer dem Vorbild Christi verpflichteten Lebenseinstellung begreifen, die den brutalen und egoistischen Verkehrsformen einer anti-utopischen Welt entgegengesetzt wird. In früheren Romanen hatte Raabe ein solches Modell als Schlußperspektive geboten.I4 Hier nun negiert er es. Die Erzählerbemerkung, wenn alle so wären wie Buchius, dann gäbe es auch keinen Herrn Zebaoth, will heißen, dann wäre Frieden in der Welt, ignoriert die Tatsache, der der Roman dann im folgenden Raum gibt, daß nämlich ein solches Dasein selbst dem Magister zur Unmöglichkeit wird, widerspricht es doch allen seinen Lebenstrieben. Dem darwinistischen Kampf ums Dasein, dem Wirbel von Fortunas Rad, kann keiner sich entziehen, will er nicht Verzicht auf jede Form von vita activa tun, sich dem Leben überhaupt verschließen. Genau das probiert Buchius - im Dienste von Raabes Versuchsanordnung - wenn er sich, ohnehin schon im Ruhestand, einer stoischen Ungerührtheit befleißigt und sich obendrein eine noch absolutere und endgültigere Abgeschiedenheit ersehnt, wie sich angesichts seiner affektiven Reaktion auf die Kampf sehe Geschichte von dem sächsischen Herzog zeigt, dem von der Erscheinung eines Engels mit der Inschrift: »Bringet mir diesen zur Ruhe« (64) träumte.15 Daß gerade Ruhe so ziemlich das einzige ist, was Buchius wirklich hat, ist er doch von seiner Schule buchstäblich in den Ruhestand abgeschoben worden, »wie man beim Auszug, halb des Spaßes wegen, einen alten, zerrissenen Rock am Nagel, einen alten, bodenlosen Korb im Winkel, ein altes, vermorschtes Faß im Keller zurückläßt« (17), und lebt nun als Kostgänger des Amtmanns ein leeres, ereignisloses Greisenalter - dies entlarvt seine Haltung als notgeborene Schutzvorrichtung, darüber hinaus aber liest sich sein Hang zur vita contemplativa in einem

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vom Autor intendiert, wie Limlei meint, oder differenzierender Interpretation dann doch zugänglich ist, mag die folgende Untersuchung ergeben. Vgl. dazu die überzeugende Deutung des dem »Odfeld« unmittelbar vorausgehenden Romans »Im alten Eisen« bei Detering: Theodizee und Erzählverfahren, S. 141-166. Das Kapitel ist überschrieben: »Auf den Wegen des Menschensohns: Welttheater und Christologie in >Im alten Eisenadvena< hii: propter te sum in exilio, sed apud te Civis. Tu habes me pro peregrine et pro cive. Ich bin hie unter den Nephilim, die halten mich pro peregrino. Das bin ich auch. Sed deus agnoscit me pro cive.« Trotzdem läßt Luther den Verweis auf Hebräer 11,13 stehen, wo es heißt: »Diese alle sind gestorben im glauben, vnd ha ben die verheissung nicht empfangen, sondern sie von fernen gesehen, vnd sich der vertroestet, vnd wol begnuegen lassen, vnd bekand, das sie geste vnd frembdlir.ge auff Erden sind.« Auch später hinzugefügte Verweise, die Raabe in seinen Bibelausgaben (Vgl. Bänsch: Die Bibliothek Wilhelm Raabes, S. i44f.) gefunden hi ben mag, beziehen sich auf die Begriffe »Fremdling« und »Gast« (Gen. 35,27, Li:v. 25,23, i Chron. 30 (sonst 29)^5, Psalm 119,19). Dies bedeutet, daß Raabe die von ihm zitierte Bibelstelle mit verblüffender Sicherheit in ihrem eigentlichen Sinn - und entgegen ihrem Wortlaut in der Lutherübersetzung - verstanden h.-.ben muß; die Begrifflichkeit bei Kraus - »flüchtiges, fremdes Leben«/»Asylfunktion« - scheint ja geradezu der Symbolsprache des »Odfelds« - Exil/Asyl entnommen. Die angeführte Literatur: Die Bibel oder Die ganze Heilige Schrift [...] nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1964; Die Schrift. Verdeutscht von Marti: i Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Bd. 4: Die Schriftwerke, Heidelberg 1980 (j. verb. Aufl.), 8.63; Hans-Joachim Kraus: Psalmen, i. Teilband: Pialmen 1-59, Neukirchen-Vluyn 1978 (5. grundlegend umgearb. Aufl. - zuerst i;»6i), 5.451 u. 455 (Biblischer Kommentar: Altes Testament Bd.XV/i. Begr. v. Martin Noth, hrsg. v. Siegfried Herrmann u. Hans Walter Wolff); D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Die Deutsche Bibel, Bd. 3, Graz 1968 (urspr. Weimar 1911), Textbearb.: O. Reichert, G. Koffmane, S. 37 u. 539; Bd. 7, 67

nung der »Väter« an das Los Bruder Philemons, des Vorgängers Buchius' denken läßt und der Kontext durch die nächsten Worte des Magisters offensichtlich wird: »Ich bin hinausgetrieben [...]« (116). Bemerkenswert ist dabei die Erinnerung an das heimatliche »Kämmerlein« (116). Zwar erscheint es durchaus als Sehnsuchtsort, schon allein dadurch, daß es den Gegenpol zur jetzigen Verbannung darstellt, gleichzeitig sagt sich Buchius aber, daß es schon zerstört, der »Greuel der Verwüstung« (116) darin angerichtet worden ist, und mit dem Asyl seiner ruhigen Tage bestimmt auch seine Sammlungen vernichtet wurden, auch sie Symbol gelassener, abstandnehmender Zeit- und Geschichtsbetrachtung. Darüber hinaus entlarvt sein anschließendes Zitat: »Jaja, wie es geschrieben steht im Neununddreißigsten: sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird!« (116), vermittels des mitzudenkenden Kontextes jene Ungerührtheitspose im Nachhinein als schlechthin irreal. Er lautet nämlich: [Ps. 39,5] Aber, HErr, lehre doch mich, daß ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß. [6] Siehe, meine Tage sind einer Hand breit bey dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! Sela. [7] Sie gehen daher wie ein Schemen, und machen ihnen viel vergebliche Unruhe; sie sammlen und wissen nicht, wer es krigen wird.

Dies steht in deutlichem Bezug zu des Magisters markiger Antwort auf Kampfs Anfechtungen: »Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. Amen!« (60). Zweimal die gleiche Wendung, doch in völlig veränderter Situation. In seiner Zelle konnte Buchius sich mit diesem Wort ebenso wie vermittels seines Museums zumindest noch den Anschein von ungerührter Standhaftigkeit angesichts der Gefahr, von der Nichtachtung persönlicher Belange geben. Der verzweifelte Flüchtling auf dem Odfeld vermag an diese Haltung nur mit Bitterkeit zu denken. Um ihn herum herrscht Apokalypse, wie sein Wort vom »Greuel der Verwüstung« verrät, ist es doch den Versen aus dem Matthäusevangelium, mit denen er selbst die Rabenschlacht ausdeutete, unmittelbar benachbart [Mt. 24,15]. Das Prodigium verwirklicht sich in diesem Sinn des universalen Untergangs, und Buchius, weitab von aller Gelassenheit, ist davon mitbetroffen. Ja, über den apokalyptischen Kontext kehren seine Gedanken zu Thedel und damit dem dritten Bereich seiner Verzweiflung zurück, was sich wieder über den Psalmisten ausdrückt: Graz 1968 (urspr. Weimar 1931), Textbearb.: O. Albrecht, 8.373; Bd. 10.1, Weimar 1956,Textbearb.: H. Volz, S. 68

»Und wer auf dem Dache ist, der steige nicht hernieder [...]« (28) / [Mt. 24,17] »Si< werden auch den Knaben vom Dach gestürzet haben und über seinen Leichnam weggetreten sein. Jawohl, ein Psalm Davids und vorzusingen für Jed· ithun: Mein Herz ist entbrannt in meinem Leibe, und wenn ich daran gedenke, weide ich entzündet; ich rede mit meiner Zunge.« ... (116) / [Ps. 39,1 und 4]

Obwohl die Worte des Magisters einen unterschwelligen Bezug zu der Raben schlacht auf weisen, ist es doch unwahrscheinlich, daß er - innerf iktional - deren Zusammenhang mit seiner jetzigen Lage auf dem Odfeld realisiert, weiß er doch auch noch gar nicht, daß er sich dort befindet. Denn auf dei- Flucht vor »Geschrei, Geheul und Kriegsgezeter« (116) ruft er erneut Gott zu Hilfe, ohne zu berücksichtigen, daß es, wie sich zeigt, wenn man die Stelle :.m Kontext (des 35. Psalms) ansieht, ein Kriegs- und Streitergott ist: [Ps. 35,1] Ein Psalm Davids. HErr, hadere mit meinen Haderern; streite wider meine Bestreiter. [2] Ergreife den Schild und Waffen, und mache dich auf, mir zu helfen. [3] Zucke den Spieß, und schütze mich wider meine Verfolger. Sprich zu meiner Seele: Ich bin deine Hülfe! [4] Es müssen sich schämen und gehöhnet werden, die nach meiner Seele stehen; es müssen zurück kehren, und zu Schanden werden, die mir übel wollen. [5] Sie müssen werden wie Spreu vor dem Winde, und dei · Engel des HErrn stoße sie weg. [ab hier von Buchius zitiert][6] Ihr Weg müsse finster und schlüpfrig werden, und der Engel des HErrn verfolge sie. [7] Denn sie haben mir ohne Ursach gestellet ihre Netze, zu verderben, (vgl. S. 116) und haben ohne Ursach meiner Seele Gruben zugerichtet. [8] Er müsse unversehens überfaller werden, und sein Netz, das er gestellet hat, müsse ihn fangen, und müsse da innen überfallen werden [...]

Während des Gebets stößt Buchius aber auf einen toten Raben und hält inne, denn nun dürften ihm die Umstände klar geworden sein, das Bild der Rabenschlacht vor Augen stehen, die Zuchtrute des Herrn verkörpernd, oder, wie er es geträumt hat, den Kampf aller gegen alle, was der Leser daran merk in kann, daß ihm scheinbar völlig unmotiviert der in seiner Zelle zurüc kgelassene Vogel einfällt, der Bote, der ihm den Traum in Wirklichkeit verm: ttelt hat. Sozusagen als Fazit der Erinnerung an diese Dinge zitiert der Magister wieder aus einem Psalm, doch er fährt nicht da fort, wo er unterbrochen wurde, sondern es drängt sich ihm nun, was angesichts seiner chrisi:omorphen Stilisierung bemerkenswert ist, der Leidenspsalm Christi auf,6 der mit den berühmten Worten beginnt: »Mein GOtt, mein GOtt, warum hast du mich verlassen? [Ps. 22,2] Die Stelle lautet:

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V§1. dazu Detering: Apokalyptische Bedeutungsstrukturen, S. 97. 69

»Portentum! Prodigium! Große Farren haben mich umgeben, fette Ochsen haben mich umringet; ihren Rachen sperren sie auf wider mich wie ein brüllender und reißender Löwe«, sagte der Magister. »Ich will's abwarten, wie alle rundum es abwarten müssen, was kommen soll«, sagte er. »Wir können nur erleben, was du willst, Herr Zebaoth, Herr der Heerscharen!« (117 / PS. , , .)

Buchius sieht sein subjektives Schicksal also durch das Prodigium vom vergangenen Abend bestimmt, und um sein Elend zu beschreiben, wählt er einen Psalmenvers, aus dem man eine Andeutung der Skepsis und Befürchtung, die er jetzt wider die eigene Kriegspartei, den Herzog Ferdinand hegt, herauszulesen vermag. Es ist Krieg aller gegen alle, und da erscheint leicht als »brüllender und reißender Löwe«, wovon es bei anderer Gelegenheit heißt:«Gradaus! vorwärts! Vivat der Herr Herzog Ferdinand! Grad seinem Kanon zu, hin unter des Löwen schützende, großmütige Tatzen« (126).7 Dem Bedenken gegenüber den weltlichen Mächten entspricht Zurückhaltung vor den jenseitigen. Anstelle des inbrünstigen Flehens zu Gott, wie es sich im 22. Psalm allerorten findet, will der Magister »abwarten«; in der Bezeichnung des Höchsten als »Herrn der Heerscharen« aber drückt sich der ganze Abstand aus, den der hilflose Flüchtling mitten unter den kämpfenden Truppen auf dem Odfeld, den »Heerscharen«, zu Gott verspürt.8 Für den Leser wird die Distanz zwischen den Hoffnungen Buchius' und den Interessen des Herzogs Ferdinand, dem jener ja anhängt, noch durch Raabes unvermitteltes erzählerisches Umschalten vom einen zum anderen unterstrichen, eine literarische Technik übrigens, die an die filmische Möglichkeit des »bedeutsamen Überblendens« erinnert.9 Auch diese Passagen rekurrieren auf die Rabenschlacht, genauer, auf den Heimweg des Amtmanns und des Magisters danach, wobei letzterer »voll wunderlichen Behagens ob der Ausbeute seines melancholischen Abendgangs« (34), sprich, des Raben, ist. Diese außenstehende Zufriedenheit hätte der Herzog Ferdinand gern geteilt - man bemerke das gleiche »Überblenden« - doch:

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Vgl. Eberhard Rohse: Nachträge zum Kommentar, in: BA 217, S. 484: »Anspielung auf den Löwen als heraldisches Sinnbild des weifischen Herzoghauses von Braunschweig-Wolf enbüttel«. Zu dieser Distanzierung Buchius' von Gott vgl. auch Detering: Theodizee und Erzählverfahren, S. iS/f., und Vormweg: Wilhelm Raabe, S. 204^ Vgl. dazu Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft, 8.55. Auf seine differenzierte Analyse dieser Szene und die erhellenden erzähltechnischen Ausführungen, die er daran knüpft, sei hiermit ausdrücklich verwiesen (S. 248ff.).

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In , »einem roten englischen Generalsrock und mit dem Stern des schwarzen Adlers des Königs Friedrich hatte er noch bei weitem weniger nach seinem Bel· agen zu fragen wie der Magister Buchius mit seinem Vogel im Kopf und im Taschentuch. (35)

Der Generalfeldmarschall muß den Schlachtplan für den nächsten Tag entweihen, den Kampf ins Werk setzen, auch er, wie es scheint, unter Wirkung des Prodigiums, hat er doch den schwarzen Vogel am Rock. Schon hier läßt sich eine Diskrepanz feststellen zwischen den Absichten des Kriegs herrn und den Ängsten zumindest des Amtmanns und der Klosterbevölkerung; Buchius hält sich ja noch beiseite. Auf dem Odfeld wird diese Differenz dann ganz offensichtlich, bekräftigt noch durch die Ironie des Erzählers. Der Herzog sorgt sich um das Gelingen seines militärischen Vorhabens: »\C'o bleibt Hardenberg? Hardenberg? Man müßte ihn längst vernehmen, den Herrn Generalleutnant!« . . . »IVun, Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf Dich!« (n j)

seufzt der Magister in geradezu entgegengesetzter Sorge, wobei man bedenken muß, daß Gott sich hier für den alten Schulmeister noch nicht als der Herr der Heerscharen entschleiert hat, der mit dem Herrn Generalleutnant jesser zusammenpassen würde. Und auch beim nächsten Mal die gleiche Unstimmigkeit. Ferdinand fürchtet: »Lieber Westphalen, Hardenberg kommt nicht zu verabredeter Zeit. Die Herren vo i Poyanne, Chabot und Stainville werden kommode Zeit haben, über Vorwohle sich zu reployieren.« »S 3 werden wir doch mit Eurer Durchlaucht gnädigster Erlaubnis zum allerwenigsten der Herren Vereinigung mit dem Herrn Marschall bei Einbeck verhindern«, tröstete der getreue Begleiter. »Iir Weg müsse finster und schlüpfrig werden« [. . .] (116)

wünscht Buchius, vor irgendwelchen Soldaten retirierend. Die Ironie ist hier bis zum Sarkasmus gesteigert, rutscht der Magister im gleichen Augenblick doch selbst auf einem toten Raben aus. Ebensowenig wie es Auserwählie vor dem Strafgericht des Herrn Zebaoth gibt, nimmt der Feldzugsplan des Herzogs Ferdinand irgendwelche Rücksicht auf diejenigen, die ihre Hoffnungen in ihn gesetzt haben. Das ist über die ernüchternde Feststellung hinaus bemerkenswert insofern, als Ferdinand ja die eigentliche Ohristusfigur der Erzählung ist, von der eine Beendigung der Apokalypse erwartet wird. Darauf verweist noch einmal die Erzählformel, mit der die Überleitung von Buchius zu ihm bewerkstelligt wird: »um dieselbige

Stunden« (115). Wie bereits erwähnt, rekurriert sie auf die Wunder, die Christus, gewissermaßen als Zeugnis, vor seinem Jünger Johannes verrichtet hat [Luk. 7,2iff.]. Zu solchen Wundertaten ist Ferdinand, ein ohnmächtiger Christus, ganz und gar nicht in der Lage. Ja, es gibt sogar einen direkten Bezug, der den Heerführer als messianische Figur demontiert. Unmittelbar vor der angespielten Wendung steht bei Lukas die Geschichte von der Auferweckung des toten Jünglings zu Nain durch Christus.10 Ferdinand hingegen verharrt niedergeschlagen »in der Erwartung, daß [...] das Feld vor ihm wieder mal umsonst sich mit Leichnamen bedecke« (115). Dieselbe traurige Ohnmächtigkeit kennzeichnet auch in Wieschens Erzählung den »guten Herzog« (53), eine Geschichte, die obendrein in ihrer Anlage deutlich an die Wunderheilungen Christi angelehnt ist: das Mädchen sitzt neben dem toten Vater am Wegesrand, Ferdinand zieht mit seinem Gefolge vorbei.'' Zwar zeigt der Herzog Mitleid, doch mehr als ein symbolisches Hilfeversprechen, für das der silberne Rockknopf figuriert, vermag er nicht zu leisten. Diese Situation steht unausgesprochen im Hintergrund, wenn der Magister auf dem Odfeld das Weinen des verzweifelten Wieschen hört, ein »Weinen, mit dem auch der Herzog Ferdinand und sein Generalstab nur mittelbar zu tun hatten« (117). Wenn auch nur mittelbar - es waren ja französische Truppen, die dem Paar Gewalt angetan haben -, zu tun hat der gute Herzog mit ihrer schlimmen Lage; die Heil und Hilfe verheißende »köstliche Reliquie« (54) erweist sich für diesmal als trügerisch. Und noch etwas kann man der Erzählerwendung entnehmen. Wenn der braunschweigische Heerführer und sein militärisches Gefolge mit Wieschens Verzweiflung nur mittelbar zu tun haben, so mit der des Magisters - dies impliziert der Kontext - unmittelbar. Das bezieht sich wohl weniger auf die reale Lage Buchius' - auch ihm widerfuhr Gewalt vorerst nur von den »[Luk./.n] Und es begab sich darnach, daß er in eine Stadt mit Namen Nain ging, und seiner Jünger gingen viele mit ihm, und viel Volks. [12] Als er aber nahe an das Stadtthor kam, siehe, da trug man einen Todten heraus, der ein einiger Sohn war seiner Mutter; und sie war eine Wittwe, und viel Volks aus der Stadt ging mit ihr. [13] Und da sie der HErr sähe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: Weine nicht! [14] Und trat hinzu, und rührete den Sarg an; und die Träger standen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, stehe auf. [15] Und der Todte richtete sich auf, und fing an zu reden. Und er gab ihn seiner Mutter.« Vgl. z. B.: »[Mt.8,i] Da er aber vom Berge herab ging, folgte ihm viel Volks nach. [2] Und siehe, ein Aussätziger kam und betete ihn an, und sprach: HErr, so du willst, kannst du mich wol reinigen. [3] Und JEsus streckte seine Hand aus, rührete ihn an und sprach: Ich will es thun, sey gereiniget. Und alsobald ward er von seinem Aussatz rein.« Weitere Beispiele bei Mt. in Kap. 8,9, 17, 20 etc. 72

Franzosen und vom Amtmann - sondern auf ihre metaphorische Entsprechung, Will heißen, der Jünger hat sich von seinem Messias abgewandt. Buchius' nunmehrige Distanz zu Gott tritt um so stärker zutage, als Raabe jetzt Wieschen, quasi als Kontrastfolie, den bisherigen Part des Magisrers übernehmen, sie die Glaubensgewißheit und das Gottvertrauen, die vor kurzem noch des alten Schulmeisters Sache waren, nun ihrerseits inbrünstig unter Beweis stellen läßt: »Um Gott und Jesu willen, Heinrich, der Herr Magister, den uns der liebe Gott zu Hülfe schickt!« (118). Das geht sogar so weit, daß Raabe jetzt ihr eine ähnlich doppeldeutige Bibelanspielung unterschiebt, wie sie bisher für den Magister typisch waren. Wiese hen kann sich ihre vorläufige Rettung nur durch den »Schutz und Schirr i« (120) des Höchsten erklären: »Der liebe Gott hat uns in seinen Rauch wie in einen Mantel genommen« (119). Das ruft Jes. 4,2ff. auf, die Ausmalung der Geborgenheit, welche die vom Strafgericht Gottes Verschonten genießen: [Jes.4,2] In der Zeit wird des HErrn Zweig lieb und werth seyn, und die Frucht der Erde herrlich und schön bey denen, die behalten werden in Israel. [3] Und wer da wird übrig seyn zu Zion, und überbleiben zu Jerusalem, der wird heilig heißen; ein jeglicher, der geschrieben ist unter die Lebendigen zu Jerusalem. [4] D«nn wird der HErr den Unflat der Töchter Zions waschen, und die Blutschulde:! Jerusalems vertreiben von ihr, durch den Geist, der richten und ein Feuer anzünden wird, [j] Und der HErr wird schaffen über alle Wohnung des Berges Zion, und wo sie versammlet ist, Wolken und Rauch des Tages, und Feuerglanz, de:.· da brenne des Nachts. Denn es wird ein Schirm seyn über alles, was herrlich ist [6] Und wird eine Hütte seyn zum Schatten des Tages vor der Hitze, und eine Zu flucht und Verbergung vor dem Wetter und Regen.

Was der Magd hier als gottgesandter, schützender Rauch erscheint, nennt der Erzähler wenig später aber »Qualm des Erduntergangs« (122). Und in der T;it findet sich an anderer Stelle beim Propheten Jesaja, im Kapitel 34, eine andere Lesart des göttlichen Rauchs: [Je 5.34,8] Denn es ist der Tag der Rache des HErrn, und das Jahr der Vergeltung, zu rächen Zion. [9] Da werden ihre Bache zu Pech werden, und ihre Erde zu Schwefel; ja ihr Land wird zu brennendem Pech werden, [10] Das weder Tag ncch Nacht verlöschen wird, sondern ewiglich wird Rauch von ihr aufgehen, urd wird für und für wüste seyn, daß niemand dadurch gehen wird in Ewigkeit; [i::] Sondern Rohrdommeln und Igel werden es inne haben, Nachteulen und R;.ben werden daselbst wohnen. Denn er wird eine Meßschnur darüber ziehen, daß sie wüste werde, und ein Richtbley, daß sie öde sey.

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Was Wieschen schon als daraus Errettete hinter sich zu haben wähnt, nämlich das göttliche Strafgericht, dauert in Wirklichkeit an, und die fünf Personen auf dem Odfeld sind ihm ausgeliefert. Das realisieren sie auch, eine nach der anderen, indem sie, in je verschiedenem Kontext, das Wort des Erzählers von der »Apokalypse« (122) bestätigen; Nach Wieschen auch Selinde: »[...] hier sind wir, und die Welt geht unter!« (122), und ebenso Thedel: »Nun mag ja das Universum zusammenkrachen [...]« (122). Obwohl sich alle anwesenden Romanpersonen in der Einschätzung ihrer Situation treffen, bleibt ein Unterschied festzuhalten, was das jeweilige Verhältnis zur Göttin Fortuna und deren Glücksrad betrifft. Wieschen will nichts mehr davon wissen: »Ach Gott, das ist ja nun der Krieg, Heinrich, in welchen du immer hineinwolltest aus dem Pferdestall und mich zur Staatsmadam machen. Nun haben wir's

[-]«("9) Auch Selinde ist weidlich ernüchtert vom realen Wirbel und Tumult: »Er ist ein Narr, er ist verrückt, er ist toll! Er hat mich aufgehoben und hin und her gerissen, durch den Feind treppab und treppauf bis aufs Dach und durch die Keller [...] Und nun sind wir erst recht mitten unter ihnen, da wir uns aus ihnen herausretien wollten!« (122) [Hervorhebung von mir, H. M.]

Während aber Mamsell Fegebanck ihre früheren Vorstellungen verabschiedet hat, bloß noch eine unfreiwillige Parodie des von ihr geträumten Liebesreigen liefert, wenn sie sich vor ihrem »Erretter[ ]« »erretten« lassen möchte (122), betont Thedel sein konsequentes Beharren auf dem Fortunaprinzip, bekennt sich, den Weltuntergang in Kauf nehmend (s. o.), zur vita activa und ihren Gesetzen: »Bis in den Tod vergesse auch ich diese Fortune nicht, Allerschönste!« (122). Die gleiche Haltung vertritt, einigermaßen überraschend, bedenkt man seinen anfänglichen Standpunkt, Magister Buchius, er allerdings aus anderen Motiven. Zwar könnte es scheinen, als würde die Liebeskette zwischen Thedel, Selinde und dem Magister erneut geschlungen, wird sie doch nun in der Tat als Reigen, in dem einer den ändern an den Händen hält, anschaulich (i22f.), doch ist auffällig, daß Buchius sich hierbei passiv verhält, von den anderen beiden in die Runde hineingezogen werden muß. Daß dies kein Rückfall in seine vorherige lebensfeindliche Unbewegtheitspose ist, beweist das unmittelbar darauf folgende entschlossene Handeln des Magisters; doch gilt diese Aktivität nun weniger der Durchsetzung irgendwelcher privaten Liebesinteressen, als vielmehr der Rettung der gesamten Flüchtlingsgesellschaft, sind es Mitmenschlichkeit und praktische Solidari74

tat, die Buchius nunmehr bewegen, sich angesichts der in der Apokalypse ringsuriher fehlgeschlagenen Glückshoffnungen - symbolisiert durch die von eir.er Kanonenkugel zerschmetterte Eiche (i2i)"-in den Wirbel zu stürzer. Hierbei werden, Punkt für Punkt, die einzelnen Aspekte seines anfänglichen Verhaltens revidiert. Das den Magister nun bestimmende Gemeinschaftsgefühl - »Wir bleiben alle beieinander, Schelze« (125) kontra; itiert mit seinem vormaligen Beiseitestehen, gerade dem Gesinde des Klosterhofs gegenüber; die Vitalität, die überschäumende Tatkraft, die von ihm Besitz ergreift - »Es kam über ihn wie ein Taumel, eine begeisterte Trunkenheit [...] So hatte er nie und nimmer sich in der Welt Trubel lebend:.g gefühlt [...]« (12 jf.) - zeichnet sich auf dem Hintergrund seiner früheren totenähnlichen Erstarrung um so deutlicher ab, und wenn Buchius damals stoische Ungerührtheit angesichts der Gefahr nur vorgegeben hatte, so kann er jetzt, nach den aufwühlenden Erfahrungen der letzten Stunden, dem drohenden Tod tatsächlich mit mutigem Bewußtsein entgegensehen: Wa; er in seiner Jugend versäumt hatte, das holte er nunmehr in der Betäubung dieses wilden, greulichen Tages ganz und gar nach [...] »Wir bleiben alle beisammen im Leben und im Sterben post jucundam juventutem, post molestam senectutem, nos habebit humus, - [...]« (1251.)

Den g;nauen Bezug zu der symbolischen Präfiguration der Szene, dem Wirbel der Rabenschlacht, stellt dann eine Äußerung des Magisters her, die vermittels eines Selbstzitats explizit auf die veränderte Situation verweist: den Übergang von der distanziert-beschreibenden zur involviert-aktiven Haltung: »D: is nennet man in Wahrheit vasa colligere, lieber von Münchhausen, und itzo dies es im bittern Ernst ein agmen compositum.« (126 - vgl. S. 31) [Hervorhebung von mir, H. M.]

Dieses Bekenntnis Buchius' zum Wirbel, zum Lebenskampf im Namen von Mitmenschlichkeit und Solidarität, mutet paradox an, impliziert doch gerade das Bild vom Wirbel, gewonnen aus einer kriegerischen Auseinandersetzung, der Rabenschlacht, den kruden Egoismus eines rücksichtslosen Kjjnpfes jedes gegen jeden. Diesen Kampf ist Magister Buchius offenbar bereit, gegen die Feinde seiner kleinen Gesellschaft aufzunehmen. Bedeutungsvoller aber erscheint, daß er nicht nur diesen die Stirn bieten 12

Vgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. 123. 75

will, sondern auch dem, der sonst als Urheber des Wirbels unangreifbar außerhalb bleibt, dem Herrn Zebaoth. Diese im späteren Romanverlauf deutlicher hervortretende Tendenz hat hier ihren beinah unmerklichen Ausgangspunkt in der allmählichen Distanzierung des Magisters von Gott. Wenn auf dem Odfeld eine Geschützkugel die Eiche trifft, unter der sich die Flüchtlinge aufhalten - ein real wie symbolisch vernichtender Anschlag auf Buchius -, sieht »der Magister [...] nur einen kürzesten Moment aufwärts zum Zeus, dem Wolkenversammler« (121), und wendet seine Aufmerksamkeit dann sogleich wieder der praktischen Realität, will sagen, der Sorge um das Wohl seiner Schützlinge zu. Hinter dem durchaus gebräuchlichen Beinamen des antiken Götterherrschers verbirgt sich eine intertextuelle Referenz von bedeutender Tragweite. Die mythologische Modellfigur der Auflehnung gegen Gott ist Prometheus, und ebendiese dient Raabe hier als Hintergrund - wie in anderer Hinsicht Philemon und Baucis - für die Gestalt des Magisters Buchius und seine metaphysische Revolte.13 Konkret aufgerufen ist der Anfang von Goethes berühmter Hymne: Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst! Und übe, Knaben gleich, Der Diesteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöhn!I4

Dieses Zitat gibt gleichsam den Horizont vor, innerhalb dessen Buchius sich entwickeln wird, markiert den Extrempunkt seines Göttertrotzes. Zunächst zeigt er allerdings nur eine betonte Reserviertheit gegenüber dem Herrn der Heerscharen, den er doch vorher noch so inbrünstig angefleht hat. Gottes Vorsehung, der sich der Magister eben noch passiv-gläubig anheimgestellt hat, erscheint nun, auch durch die beinah schon saloppe Art, 13

14

Einzig Detering: Theodiz.ee und Erzählverfahren, S. 188, kommt in einem Satz, der den Mythensynkretismus im »Odfeld« herausstellt, welcher nach des Interpreten Ansicht das jüdisch-christliche Apokalypse-Modell aufhebt, auf Prometheus zu sprechen; er scheint dabei auch an Goethe zu denken, verzichtet aber darauf, diese, wie ich meine, für das Verständnis des Romans zentrale Anspielung weiterzuverfolgen: »Im erregten Durcheinander der Flucht fällt Buchius dann wiederholt ganz aus der Rolle des frommen Dulders, richtet er sein Fürbittengebet an den heidnischen Totengott, redet er statt von Gott vom blutdürstigen Odin, sieht nurmehr ein unpersönliches >Geschick< am Werk und gewinnt im Aufbegehren gegen den Vatergott Züge des rebellierenden Prometheus«. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. v. Erich Trunz, Bd. i: Gedichte und Epen, textkrit. durchges. u. komm. v. Erich Trunz, München 13 1982 (zuerst 1948), S. 44ff. (V. 1-5).

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in der er sie anspricht, nebensächlich angesichts seines durch heroischen Aktivi-imus hervorgerufenen neuen Selbstbewußtseins: »Faß Er zu, Thedel. Dei providentia mundus administratur, sagt Marcus Tullius [...]« (126). _ a, sie wird sogar gänzlich in Zweifel gezogen, wenn Buchius hinsichtlich des die Flüchtlinge verbergenden Nebels äußert: »Und er liegt auch b oß hier auf dem Odfelde wie durch Gottes gütige Vorsicht für uns!« (124). Dieses »wie durch Gottes gütige Vorsicht« bedeutet ja gerade, daß es sich nicht so verhält, es lediglich so aussieht als ob, daß die Flüchtlinge ihre bisherige Rettung also keineswegs dem lieben Gott, sondern schlicht dem Zufall bzw. einem Naturvorgang danken. Dem scheint ein anderer Ausruf Buchius' zu widersprechen: »[...] sursum corda, hat der Herr uns bis hieher in seinem Nebel geführt, so wird er uns auch im Lichte seines Morgens nicht verlassen« (126). Jedoch zeigt sich auch hier, selbst wenn man den Bezug auf den letzten Endes apokalyptischen »Rauch Gottes« außer acht läßt, bei genauem Lesen die gleiche beiläufige Skepsis, ausgedrückt in der konditionalen Konstruktion: »hat er / wird er« - wo er doch möglic herweise gar nicht »hat« -, die obendrein im zweiten Teil des Satzes eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Gottes Wirken verrät, die für die Männer der Tat, die aktiven Helden, charakteristisch zu sein scheint. Man vergle: ehe einen früheren Dialog des Magisters mitThedel: »[.,.] und uns möge Gott noch einmal gnädig sein, wie er uns schon so oft geholfen hat.« »Er wird's jawohl [...]« (95)

Buchi is ergreift Partei, er will den Verordnungen der militärischen Machthaber zuwiderhandeln und sich zum Herzog Ferdinand bzw. in die Berge und Wälder flüchten, obwohl seine eben noch geäußerte Skepsis gegenüber der eigenen Kriegspartei kaum verflogen sein dürfte (vgl. S. 43), und in genau :r Parallele hierzu beabsichtigt er offensichtlich, der Apokalypse des Herrn Zebaoth zu trotzen, versucht er eine unwahrscheinliche Rettung vor dessen Strafgericht: »Gradaus! vorwärts! Vivat der Herr Herzog Ferdinand! Grad seinem Kanon zu, hir unter des Löwen schützende, großmütige Tatzen. Ihr Berge fallet über uns und decket uns, daß die Heere über uns wegtreten und wir ihren Fußtritt über un.i hören, so wir uns bergen im Schöße der Erden!« (126)

Aus diesem Zitat [Luk. 23,30 / Offb. 6,16 u.ö.] spricht kein inbrünstiges Flehen zu Gott um Errettung; noch viel weniger kann von der Glaubenssicherh ;it eines Auserwählten die Rede sein. Nur nach außen hin bieten der Magister und seine Genossen ein tröstliches Bild aus der Bibel - das Noahs 77

mit der vollbeladenen Arche, inmitten des Strafgerichts Gottes von diesem gnädig bezeichnet. An diesen modernen Noah ist kein Ruf des Herrn ergangen, statt der Offenbarung durch den brennenden Dornbusch, wie sie Mose zuteil geworden ist, bekam er die nässetriefenden Dornen der Desillusion zu spüren, und es hieß ihn auch keine Stimme, die ihm Anvertrauten in Sicherheit, ins gelobte Land zu führen [Ex. 3,iff]. Die Romansituation ist, ganz im Gegenteil hierzu, präfiguriert durch die Flucht vor der Apokalypse, die Gestalt Noah Buchius' aber durch den mythischen Rebellen gegen Gott, Prometheus.15 Diese Situation wird von Raabe im 15. und 16. Romankapitel ausgestaltet, und sie wird, samt der Rolle, die er darin spielt, dem Magister zunehmend bewußt. Das ist bei der zufälligen Erwähnung seines »Museum[s]irge; und wer mitten darinnen ist, der weiche heraus; und wer auf dem Lande ist, der komme nicht hinein«. (133)

Das ist nun ein genaues Zitat aus Luk. 21,21, dessen Fortsetzung lautet: »Denn das sind die Tage der Rache, daß erfüllet werde alles, was geschrieben is:« [Luk. 2i, 22]. Bilden die vorher genannten, mehr beschreibenden Passagen eine Parallele auch zu den angstvollen Ausrufen des Klostergesindes (37), bzw. den dadurch vertretenen Bibelstellen, so herrscht nahezu Kongmenz zwischen dem apokalyptischen Vers aus dem Lukasevangelium und d:r Stelle aus dem Bericht des Matthäus, die Buchius zur Deutung der Raber.schlacht herangezogen hat - »wie es geschrieben stehet« (28) -, freilici mit genau entgegengesetzter innerer Einstellung: [Mt. 24,15] Wenn ihr nun sehen werdet den Greuel der Verwüstung [...] [16] Alidann fliehe auf die Berge, wer im jüdischen Lande ist. [17] Und wer auf dem Dache ist, der steige nicht hernieder, etwas aus seinem Hause zu holen. [18] Und wer auf dem Felde ist, der kehre nicht um, seine Kleider zu holen. [19] Wehe aber de:i Schwangern und Säugern zu der Zeit. (vgl. 28)

Diese Verbindung liegt um so näher, als ja die Lage der Flüchtlinge, im allgemeinen wie im besonderen, durch das Prodigium bestimmt ist, ein Bezuj;, der hier explizit hergestellt wird: Er [Buchius] stand auf sein spanisch Rohr gelehnt und sah auf die Schlacht hin und hinunter, wie er am gestrigen Abend zu ihr emporgeschaut hatte. Nun wimmelte das Odfeld von streifenden Reitertrupps beider kämpf ender Heere, und die Pferdehufe stampften die Leichname der schwarzen geflügelten Sieger und Überwundenen von gestern in Sumpf und Moor und den Heideboden. (135)

Die riiumliche Anordnung steht im Dienst der Fortunasymbolik mit ihrem rasch ;n Wechsel von oben und unten, von rauschhafter Erfüllung und jäher 81

Ernüchterung. Damit im Zusammenhang werden noch einmal in mehr oder weniger verschlüsselter Weise die enttäuschten Glückshoffnungen der Romanfiguren resümiert. Eher direkt und stereotyp bei Wieschen und Schelze: »Du Dummrian [...] Du hast es ja nun, wie du es gestern abend für mich und dich haben wolltest. Bist nun [...] mitten derzwischen!« (138), in subtilerer Weise bei dem anderen Paar. Thedel vergleicht das bedrohliche militärische Panorama großsprecherisch mit einem Tanzplatz: »Bunt genug sieht es aus, und das Gedudel, die Tanzmusik ist auch nicht übel. So'n Schützenhof!« (134) Dergleichen kam auch in Selindes Liebestraum vor (92), ' 7 dessen Distanz von der nunmehrigen Realität - und darauf verweist die Anführung - ebensogroß ist wie von der sie präfigurierenden Rabenschlacht, mit der er ja seinerseits strukturelle Gemeinsamkeiten aufweist. Dem Junker ergeht es nicht besser. Er, dessen erotisches Hoffen bekanntlich im Zeichen des Hagedorn, der Rose stand, hält jetzt seine Angebetete »wie eine entblätternde Pfingstrose« (134) im Arm - die Utopie der Liebe ist verblüht, vom Hagedorn bleiben erneut nur die Dornen, von der Rose nur die Stacheln übrig. l8 Anders verhält es sich mit Buchius. Nicht nur, daß er, der gestern »unten« war, nun »oben« ist auf der Glücksgöttin kreisendem Rad, auch im erneut herangezogenen symbolischen Bild der Rabenschlacht, dem Wirbel von Schlagen und Geschlagenwerden, bestätigt sich des vormals so hilflosen Magisters Engagement und Erfolg: Er überließ die Mamsell dem Junker von Münchhausen. Er nahm den Zügel des Schimmels des Herrn Klosteramtmanns. Er führte den Gaul und die übrige Gesellschaft weiter in den überbedrängten Tag - zum erstenmal in seinem Leben berauscht — von allem wunderlich berauscht — wie als ob er nun den ganzen wirbelnden schwarzen Vogelschwarm und Kampf von gestern abend im eigenen Hirn habe und selber als schwarzer gelehner Kriegsmann mit flatternden Rockschößen und geschwungenem spanischen Rohr im allerdicksten Haufen sich mit im Kreise drehe und Gegner niederschlage und gewalttätige Hindernisse bewältige. Siegreich! Ein Heros! Unter den Helden des heutigen Tages, wenn auch vielleicht der sonderbarste, doch wahrlich nicht der kleinste. - (13 5 f.)

Daß es sich bei diesem imaginierten Luftkampf, anders als vorher, nicht um erotische Rivalität handelt, bei der jeder gegen jeden steht und bei der der Magister im Kontrast zu seinem diesmaligen Triumphgefühl eine Niederlage gegen Selinde hatte hinnehmen müssen, ist allein schon daran ersichtlich, daß Buchius Thedel Selinde überläßt, wie ihm ja auch jegliche reale Liebes17 18

Vgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. Vgl. ebenda, S. 3 iff.u. 64ff. 82

erf ulk .ng abgeht. Daß es sich hierbei vielmehr um ein Streiten zugunsten seiner Schützlinge und gegen den Herrn der Heerscharen handelt, der über die Fl achtenden auf dem Odfeld sein Strafgericht verhängt hat, von dem der Magister sich nun auch betroffen weiß und keinesfalls ausnehmen will, ist durch den vorhin erörterten Kontext naheliegend. Bestätigt wird diese Annahme mit Nachdruck durch das Wort, mit dem Buchius sein Handeln unmißverständlich einleitet: W< r wußte jetzt einen Unterschlupf? Sie taten die Frage und »hb!« sagte Magister Buchius, und er hatte noch niemals in seinem an die Seite gedrückten, scheuen, schweigsamen, überschrieenen, überlächelten, überlachten Dasein den Accentus so kraftvoll auf das persönlichste aller Fürwörter gelegt wie jet:tt.(i35)

Diese» markant hervorgehobene »Ich« ist Zitat; es entstammt dem Gedicht, durch das des Magisters Göttertrotz von Anfang an konnotiert war, Goethes Prometheus. Aufgerufen ist an dieser Stelle seine letzte Strophe: Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, weinen, Genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich.19

Über die Parallelität des stark akzentuierten »Ich!«, des Ausdrucks kraftvollsten Selbstbewußtseins, hinaus, jenseits der beiden Protagonisten gemeinsamen Haltung, Gottes »nicht zu achten«, was sich im Falle Buchius' durch sein entschlossenes Handeln angesichts der Apokalypse manifestiert erscheint bemerkenswert, daß Goethe seinen Prometheus hier als Menschenschöpfer zeichnet. Solches trifft für den Magister allerdings nicht zu, es sei denn, man verstünde sein Verhalten als beispielgebend, als vorbild-lich, was ja seinem Lehrerberuf durchaus entspräche. Dieser Zug des Gedichts gewinnt jedoch im Odfeld Bedeutung insofern, als Prometheus hiermit in direkte Konkurrenz zu Gott gesetzt wird; die Wendung »forme Menschen / Nach meinem Bilde,« verweist ja unübersehbar auf Gen. 1,27. Eine derartige Gegenüberstellung spiegelt aber genau die Konfrontation mit Gott Zebaoth, in die sich Buchius hineingesteigert hat, und bestätigt solchermaßen, daß des Magisters Distanz zu Gott, sein Eigensinn gegenüber dem Herrn, nun zu einer tatsächlichen Auflehnung, einer HerausforGoethes Werke, Bd. i, 8.46 (V. 51-58). 83

derung von gleich zu gleich - wie sie sich im Wirbel der imaginierten Rabenschlacht auch abzeichnet - geworden ist. Indes relativiert sich das titanische Erscheinungsbild des Magisters auch gleich wieder. Auf sein prononciertes »Ich« (135) folgt ironischerweise alsbald Schelzes »Ich auch« (136) - der Knecht kennt den Ort, an dem Buchius sich vor der Apokalypse des Herrn Zebaoth verbergen will, gleichfalls. Das stumpft dem Göttertrotz des Magisters zwar keineswegs die Spitze, doch nimmt es Buchius andererseits wieder etwas zurück ins Glied, läßt auf der prometheischen Folie das menschliche - weil ironisierbare Maß stärker aufscheinen.20 Denn in der Tat, der metaphysischen Revolte des Magisters haftet, dem Pathos, mit dem er sie durchlebt, zum Trotz, eine gewisse Verhaltenheit an, oder anders, entschiedener, ausgedrückt, ihr ist eine ganz bestimmte Grenzlinie gezogen. Zwar hat Buchius seine Ruheposition, die Rolle des stoisch Abseitsstehenden zugunsten eines solidarischen Gemeinschaftsgefühls aufgegeben, was ja stupend daran erhellt, daß er seinen geheimen Schlupfwinkel jetzt der gesamten Flüchtlingsgruppe zugänglich machen möchte, und ebenso ist er nun in der Lage - ungeachtet einer deutlich spürbaren Melancholie -, seine privaten Liebeskonflikte in allgemeineren Zusammenhängen zu begreifen, will letztendlich heißen, sie dem Streit mit Gott einzubeschreiben: [...] winkte der letzte Kollaborateur ab; zwar auch lächelnd, jedoch auf eine andere Art. »Beruhige Er sich nur auch, von Münchhausen. Jedenfalls ist Er nicht der einzige gewesen, so weder dem Bruder Philemon in seiner Zelle noch dem alten Buchius in der Zelle des Bruders Philemon die Ruhe und Beschaulichkeit gegönnt hat seinerzeit - dann und wann.« (137)

Und doch geht diesem Streit seitens des Magisters offensichtlich die letzte Konsequenz ab; er bietet dem Herrn der Heerscharen Paroli, indem er ihm zu entkommen trachtet, er setzt dem apokalyptischen Strafgericht die Hoffnung auf eine Zufluchtstätte entgegen, die ihre strukturelle GleicharDen Bezug der beiden Textstellen aufeinander bemerken auch Koschorke: Der Rabe, das Buch und die Arche der Zeichen, und Vorm weg: Wilhelm Raabe, interpretieren ihn jedoch anders, als Entwertung der »von Buchius auf seine Subjektivität gelegte Betonung« (Vormweg - 8.213). Bei Koschorke heißt es: »Aber die Schilderung seiner [Buchius'] Kriegseuphorie bietet sich wieder in Bildern einer lähmenden Kreisbewegung dar. Und im Nachhinein erweist sich das so emphatisch ausgesprochene »Ich!«, das man für eine Schlüsselstelle der Erzählung zu halten versucht sein könnte, als vergeblich. Es wird kurz darauf durch das »Ich auch« des Knechtes Schelze (136) völlig konterkariert« (S. 53 if.).

tigkeil zu der musealen Klosterzelle des Bruders Philemon, dem grabesähnlichen Asyl, doch nicht verbergen kann, kurz: obwohl Buchius sich in seiner Vision von der Rabenschlacht, gerade Gott gegenüber, als aktiv zuschlagenden Heros imaginiert, was die Möglichkeit einer Niederlage des Herrn , einer Götterdämmerung in sich birgt, verweigert er diese Rolle in der Praxis - sein Widerstand gegen den Gott Zebaoth bleibt, allem äußerlichen Handeln zum Trotz, passiv. Oezug stellen die Verben am Schluß der Verse her. Sie begegnen in Buchius' Worten: »O laß sie mir [...], diese Armen hier zu erretten [...] O Schattsnführer, den Jungen - diesen Kindern gönne noch ihre Hoffnung und irren Wandel im lieben Tagesschein!« (i38f.). Der Magister fleht zu Herrn :s um etwas, das laut Iphigenie die Götter ohnehin gern gewähren. Die scheinbare Diskrepanz erklärt jedoch die Funktion der Anspielung. Keineswegs zustimmend beruft sich Buchius auf Iphigenies suggestive Vorstillung, vielmehr klagt er sie in der Art einer Vorhaltung ein, ist seine Bitte mit viel Bitterkeit untermischt, und dann gilt sie auch nur für die ander« n, nicht für sich selbst. Eine Stütze für diese Deutung liefert ein Selbst! tommentar Goethes, in welchem er - im Kontext der Erinnerung an das Piometheus-Ged'icht - den »titanisch-gigantischen, himmelstürmenden Si:in« in nähere Beziehung zu seinem Schauspiel setzt: [... | auch die Kühneren jenes Geschlechts, Tantalus, Ixion, Sisyphus, waren me:ne Heiligen. In die Gesellschaft der Götter aufgenommen, mochten sie sich nie; u untergeordnet genug betragen, als übermütige Gäste ihres wirtlichen Gönner s Zorn verdient und sich eine traurige Verbannung zugezogen haben. Ich bemitleidete sie, ihr Zustand war von den Alten schon als wahrhaft tragisch anerkannt, und wenn ich sie als Glieder einer ungeheuren Opposition im Hintergrunde meiner »Iphigenie« zeigte, so bin ich ihnen wohl einen Teil der Wirkung seh jldig, welche dieses Stück hervorzubringen das Glück hatte.27

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Gonhes Werke, Bd. 5: Dramatische Dichtungen III, textkrit. durchges. v. Lieselotte Blumenthal u. Eberhard Haufe, komm. v. Stuart Atkins, Dieter Lohmeier, Wa.traud Loos u. Marion Roben, München l°iy%i (zuerst 1952), S. 22 (V. j 54-560). Goethes Werke, Bd. 10: Autobiographische Schriften II, textkrit. durchges. v. Lie»elotte Blumenthal u. Waltraud Loos, komm. v. Waltraud Loos u. Erich Trunz, München '1982 (zuerst 1959), S. 49f. (Aus meinem Leben. Dichtung und Wairheit. Dritter Teil. 15. Buch).

Buchius ist hier als Teil dieser »Opposition« aufzufassen. Raabe bestimmt also seine Haltung unter Rückgriff nicht nur auf Goethes Hymne, sondern auch auf die Konstellation in der Iphigenie, die im Bild des in der Unterwelt leidenden Tantalus die Niederlage des »himmelstürmenden Sinns« festschreibt. Auch wenn die Figur des Tantalus in Goethes Version mit prometheischen Zügen versetzt ist, leuchtet die Notwendigkeit eines solchen Bezugs im Odfeld nicht unmittelbar ein, erleidet doch Prometheus selbst ein ähnliches Schicksal, hätte also ein Verweis auf sein späteres Los die Einheit der angespielten Hintergrundgestalt wahren können. Indessen eröffnet die Iphigenie darüber hinaus, daß sie Raabe als Quelle für die antikisierende Sprechweise des Magisters gedient haben dürfte, einen Übergang zu der Weiterinterpretation der Prometheusfigur, die sich in Buchius' Schlußworten abzeichnet. Der rebellierende Geist ihrer Ahnen ergreift einmal beinahe Besitz von Iphigenie, dann nämlich, wenn sie die Verse des berühmten Parzenliedes erinnert. Buchius' Anrufung der Parze, die er, anders als Iphigenie, auf seilen der olympischen Götter sieht, möchte ich für einen versteckten Hinweis auf diese Folie seines Göttertrotzes halten. Die im Parzenlied vorkommenden Verse: So stürzen die Gäste Geschmäht und geschändet In nächtliche Tiefen, [...]18 scheinen mir demgemäß in des Magisters Formulierung wiederzukehren: »[...] diese Armen hier zu erretten vor Schmach und Schande [...]« (138). Auch seine nachfolgende Ausdrucksweise: »[...] schonet, o schonet der Locken der Jugend!« (138) könnte von Goethes Schauspiel inspiriert sein. Die Wendung bezieht sich auf den antiken Brauch, einem Opfer kurz vor seiner Hinschlachtung das Haar zu gesonderter Darbietung an die Götter abzuschneiden, so wie er in der Iphigenie angespielt wird: [...] Wenn die Priesterin Schon unsre Locken weihend abzuschneiden Die Hand erhebt, [...]*' Größere wörtliche Nähe zu Raabes Text bietet der Vers:

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Goethes Werke, Bd. 5, S. 54 (V. 1738-1740). Ebenda, S. 23 (V. 605-608). 90

Und herrlicher und immer herrlicher Umloderte der Jugend schöne Flamme Sein lockig Haupt, [.. .]3°

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Ebeida, S. 49 (V. 1540-1543). Eine andere Passage von Buchius' Rede ist möglicherweise gleichfalls von Goethe beeinflußt. Der Abschnitt: »[...] und wenn du, der .?roserpina Bote, o Hermes, diesem Zuge voranschreitest, so winke nur dem Gre s seitab zum Hades! Winke mir allein mit dem Caduceo [...]« (138), gemahnt an eine Stelle des »Faust«: Alles deckte sich schon Rings mit Nebel umher. Sehen wir doch einander nicht! Was geschieht? gehen wir? Schweben wir nur Trippelnden Schrittes am Boden hin? Siehst du nichts ? Schwebt nicht etwa gar Hermes voran ? Blinkt nicht der goldne Stab Heischend, gebietend uns wieder zurück Zu dem unerfreulichen, grautagenden, Ungreifbarer Gebilde vollen, Überfüllten, ewig leeren Hades ? Goethes Werke, Bd. 3: Dramatische Dichtungen I, textkrit. durchges. u. komm. v. Lrich Trunz, München ''1986 (zuerst 1949), 8.275 (Faust. Der Tragödie zweiter Teil. V. 9110-9121); bzw. auch an den Schluß der Elegie »Euphrosyne«: Denn aus dem Purpurgewölk, dem schwebenden, immer bewegten, Trat der herrliche Gott Hermes gelassen hervor. Mild erhob er den Stab und deutete; wallend verschlangen Wachsende Wolken, im Zug, beide Gestalten vor mir. Tiefer liegt die Nacht um mich her, die stürzenden Wasser Brausen gewaltiger nun neben dem schlüpfrigen Pfad. Goethes Werke, Bd. i, S. 194^ (V. 143-148). Das motivgeschichtliche Vorbild dieser Fassungen, der Anfang des 24. Gesangs aus Homers »Odyssee«, war Raabe selbstverständlich auch bekannt: Aber Hermes, der Gott von Kyllene, nahte sich jetzo, Rief den Seelen der Freier und hielt in der Rechten den schönen Goldenen Herrscherstab, womit er die Augen der Menschen Zuschließt, welcher er will, und wieder vom Schlummer erwecket; Hiermit scheucht' er sie fort, und schwirrend folgten die Seelen. So wie die Fledermaus' im Winkel der graulichen Höhle Schwirrend flattern, wenn eine des angeklammerten Schwarmes Nieder vom Felsen sinkt, und drauf aneinander sich hangen: Also schwirrten die Seelen und folgten im drängenden Zuge Hermes, dem Retter in Not, durch dumpfe, schimmlichte Pfade. Und sie gingen des Ozeans Flut, den leukadischen Felsen, Gingen das Sonnentor und das Land der Träume vorüber Und erreichten nun bald die graue Asphodeloswiese, Wo die Seelen wohnen, die Luftgebilde der Toten. Homer: Ilias. Odyssee, S. 761 (Odyssee. XXIV. Gesang, V. 1-14). 91

Diese letzteren Übereinstimmungen dürften allerdings schwerlich Zitatcharakter besitzen, zu gering ist der Sinnhorizont, den sie eröffnen, zu heterogen ihr jeweils ursprünglicher Kontext. Anders verhält es sich mit einem berühmten Monolog des Stücks, nun nicht Iphigenies sondern Orests, der Hadesvision aus dem dritten Aufzug, an die Raabes Text gar keine wörtliche Anlehnung aufweist, und die ich dennoch als Vorlage, als Erklärungshintergrund für diese Szene des Odfelds ansprechen möchte. Ebenso wie Iphigenie ist ja auch Orest der Erbe des götterfeindlichen Tantalus und ebenso wie dieser ist auch ihm das grollende Parzenlied an der Wiege gesungen worden (V. 1724^). Im Unterschied zum aktiv-aggressiven, »himmelstürmenden Sinn« des Ahnen ist der Letzte des Tantalidengeschlechts jedoch der Resignation verfallen. Die Verfolgung der Götter, seine Bestimmung, »eine Schandtat schändlich [zu] rächen« (V. 709), drückt ihn nieder, er fühlt sich »durch ihren Wink zu Grund gerichtet« (V. 710), welche Empfindungen aber keineswegs zu einer Auflehnung, einer Rebellion gegen die Olympier führen, sondern im genauen Gegenteil, im schieren Todeswunsch münden: Ich bin Orest! und dieses schuldge Haupt Senkt nach der Grube sich und sucht den Tod, In jeglicher Gestalt sei er willkommen.3'

Den stärksten Ausdruck findet diese Grabessehnsucht in dem visionären Wunschtraum eines ruhig-friedlichen Jenseits: Noch einen! reiche mir aus Lethes Fluten Den letzten kühlen Becher der Erquickung! Bald ist der Krampf des Lebens aus dem Busen Hinweggespült; bald fließet still mein Geist, Der Quelle des Vergessens hingegeben, Zu euch ihr Schatten in die ewgen Nebel. Gefällig laßt in eurer Ruhe sich Den umgetriebnen Sohn der Erde laben! -3I

Daß Orest hier den Hades als Hafen des Friedens imaginiert, hat seinen Grund darin, daß er ihm endlich Befreiung von der quälenden Verfolgung durch die Erinnyen zu bieten scheint. Eine Passage aus der Beschreibung dieser Rachegöttinnen, die ihrem Opfer, »nur um [es] neu zu schrecken [,] Rast« geben (V. 1070), bringt die angesprochene Situation in den übergreifenden Kontext des Odfelds: »Sie horchen auf, es schaut ihr hohler Blick / 31 31

Goethes Werke, Bd. 5, S. 36 (V. 1082-1084). Ebenda, S. 41 (V. 1258-1265).

Mit der Begier des Adlers um sich her« (V. 1057!.). Indem die Erinnyen Adlern verglichen werden, rufen sie die Assoziation zur Qual des Prometheus wach. Und in der Tat: schimmert durch die Gestalt des Tantalus das Vorbild des Titanen hindurch, verschmelzen die beiden Figuren durch die von dgefährlich rauschend< heißt, wenn Buchius sie anredet: >Lenne, geschwollener StromÜberall weht der Wind, der in den Hafen uns führt!!, und die fraglichen Frösche lassen sich hören, während Dionysos ins Reich der Toten übergesetzt wird.3 Dementsprechend konnte auch Detering: Apokalyptische Bedeutungsstrukturen, S. 971., gerade an diesem Punkt der Romanhandlung einen Beleg für seine TKese von Buchius als »Heiligem«, als Nachfolger Christi finden, nämlich die in der Tat anrührende und einprägsame Szene, da sich der Magister dem alten, abgehetzten Pferd in geradezu franziskanischer Tierliebe zuwendet (i^ii.). Die Ze ichen einer neuerlichen Frömmigkeit bei dem eben noch so trotzig-selbstbewußt auftretenden Magister lassen sich übrigens schwerlich mit dem Bild, das Vornweg: Wilhelm Raabe, S. 206, auf die zweite Hälfte des Romans bezogen, vcn ihm zeichnet, in Einklang bringen: »Des christlichen barmherzigen Gottes erimert er [Buchius] sich vor allem, wenn auch für ihn immer deutlicher wird, daß das Ich die in es gesetzten Hoffnungen nicht wird erfüllen können.« Ausgere :hnet bei Erreichen der Höhle hätte Buchius demnach wenig Anlaß, Gott ar zurufen, danken doch die Flüchtlinge ihre - vorläufige - Rettung allein seiner n< uerwachten Tatkraft. V;>1. Oppermann: Der passive Held, 8.45: »[...] nach bekannter mythischer A ischauung gehört der, der von der Nahrung der Toten ißt, dem Totenreich«. Die Komödien des Aristophanes. Übersetzt und erläuten von Ludwig Seeger, 103

Freilich sind diese unheilvollen Omina und Symbole den handelnden Figuren allesamt nicht bewußt. Was ihnen dagegen unabweisbar vor Augen steht, ist ihre geglückte Rettung aus dem Kriegsgetümmel des Odfelds. Dennoch vermag auch diese veränderte Situation den plötzlichen Sinneswandel des Magisters nicht zu erklären, danken die Flüchtlinge ihre nunmehrige Geborgenheit doch gerade seiner Auflehnung gegen das Schicksal, seinem entschlossenen Handeln wider den Willen des Herrn Zebaoth, keineswegs aber - wie die eben aufgezählten Todesvorzeichen erneut beweisen - Gottes Gnade und Barmherzigkeit. Genau dies scheint Buchius indes zu glauben; ohne sich die Mühe zu machen, dem Leser eine halbwegs einleuchtende psychologische Entwicklung seiner Romangestalt zu suggerieren, läßt Raabe sie auf engstem Raum, in kürzester Folge zwei völlig gegensätzliche Aussprüche tun, zwei völlig kontroverse Haltungen zu Gott einnehmen. Die Erklärung liegt meiner Ansicht nach darin verborgen, daß diese beiden Ausspruche durch eine konkrete, räumliche Grenzlinie getrennt sind, den Bach Lenne. Schon vorhin wurde deutlich, daß dieser keineswegs fiktive Name eine Anspielung auf den Unterweltsfluß Lethe darstellt, der das Wasser des Vergessens führt. Wie Orest, der durch einen Trunk daraus seine irdische Qual hinter sich zu lassen gedachte, in ein harmonisches, von allen Konflikten freies Jenseits zu gelangen wähnte, so hat auch Buchius, nachdem er - ein müder, passiver Prometheus - trotzig-resigniert in den Hades eingegangen ist, seine Auflehnung gegen Gott »vergessen«, will es scheinen, als sei ihm in der Abgeschiedenheit dieses grabesruhigen Asyls wieder ein Glaube an die Güte und die Friedfertigkeit des Herrn Zebaoth möglich. Im Zusammenhang mit diesem abrupten Haltungswechsel des Magisters ist auf eine weitere literarische Folie des Odfelds hinzuweisen, Edgar Allan Poes Gedicht The Raven. Angesichts der auffälligen Rolle, welche die Raben in Raabes Roman spielen, kann eine nähere Beziehung der beiden Werke nicht weiter erstaunen;4 die Übereinstimmungen sind denn auch Berlin o.J., Bd. i, 8.431-482, hier S.438f. (V. ziof.u.ö.). Der Übersetzer Seeger war mit Raabe in dessen Stuttgarter Zeit befreundet. Erstaunlich ist dagegen, daß die Raabe-Forschung so lange keine Notiz von den zum Teil recht auffälligen Entsprechungen zwischen den zwei Texten genommen und auch nie eine Verbindung zwischen dem wohl berühmtesten Raben der Weltliteratur und dem Autor Raabe, der sich bekanntermaßen gern mit Rabenvögeln identifizierte, vermutet oder gar erörtert hat. Derks: Raabe-Studien, ist eine reichhaltige Zusammenstellung von Zeugnissen solcher Gleichsetzung 104

keineswegs auf die in Rede stehende, weiter unten diskutierte Stelle beschrär kt. Schon die Ausgangssituation des Raven findet sich im Odfeld wieder: ein Gelehrter treibt gegen Mitternacht sonderbare Lektüre (»quaint and curiovs volume of forgotten lore« - Str. i / S. 134)»' a^s es klopft. Das entspricht Buchius' abendlicher Beschäftigung mit Kampfs Todesboten sowie Thedels leisem Klopfen »zu mitternächtlicher Stunde« (72), das den Magister aus dem Nachsinnen über das Gelesene aufschreckt.6 Auch die weiteien Umstände des Geschehens sind einander angenähert. Das Gedicht spielt im Dezember, in einem nur schwach erleuchteten Zimmer, worin der Protagonist um seine verstorbene Geliebte trauert, um Lenore. Im Odfeld ist November (22), der Erzähler erwähnt die »trübe Flamme« (72) der Lampe in Bruder Philemons Zelle, der Name »Lenore«7 aber steht im Roman ein für die von Gott zunichte gemachten erotischen Träume der einzelnen Figuren und die daraus erwachsende Theodizeefrage, die Anklage, di; Empörung gegen den grausamen Herrn Zebaoth. Die angedeutete sowohl durch Raabe selbst als auch durch Freunde und Bekannte - zu danken (S. mff.), er erwähnt auch Poes Gedicht und die Anspielung darauf in einem Br.ef Wilhelm Jensens an Raabe (S. 135, Anm. 127 - der Brief in BA Erg. Bd. 3, S. 73f., Nr. 144), verfolgt diesen Bezug aber nicht weiter. Auch Jeffrey L. Sammons: Raabe's Ravens, in: ders.: Imagination and History. Selected Papers on Nineteenth-Century German Literature, New York 1988 (zuerst 1985), S. .181—300, kommt auf diesen Brief und die darin enthaltene Allusion zu sprech;n, merkt dazu jedoch lediglich generalisierend an, daß Poes Gedicht dem Braunschweiger Autor wohl bekannt gewesen sein müßte (S. 281). Erst in jüngst« r Zeit hat dann Rosemarie Haas in einem ebenso gründlichen wie perspektiveireichen Aufsatz - Raabe, der Rabe, »The Raven«. Beobachtungen zur Intertejtualität in Raabes Erzählung »Das Odfeld«, in: JbRG 1992, S. 139-164 detaillierte Untersuchungen zum intertextuellen Verhältnis der beiden Werke vorgelegt und plausibel nachgewiesen, wie das Wortmaterial aus »The Raven« »g inze Abschnitte und Stränge von Raabes Erzählung generierend durchdringt« (S. 143). Einige positivistisch-philologische Anmerkungen zum Interesse Raabes an Poe finden sich in einem Exkurs* am Ende dieses Kapitels. ^ Zi:iert wird im folgenden mit Nennung der Strophe und der Seitenzahl nach der Ausgabe: Edgar Allan Poe: Werke, hrsg. v. Kuno Schuhmacher, Bd. IV: Gedichte, Drama, Essays, Marginalien, Ölten u. Freiburg/Br. 3 i983 (zuerst 1973), 5.134-144. 6 Vj;l. dazu auch Haas: Raabe, der Rabe, »The Raven«, die in dieser Lektüreszene eine »Intertextualität verbildlichende Situation« erkennt (S. 144). 7 Auf Haas' erhellende Hinweise zur intertextuellen Präsenz der Bürgerschen Billade im »Odfeld«, die in manchem, vor allem was die Ausführungen zur U Dernahme und Transformation Bürgerschen Sprachmaterials durch Raabe anbetrifft, über meine Darstellung des Sachverhalts - Baucis ohne Philemon, S. 4iff. u. 6^i. - hinausgehen, sei hier ausdrücklich verwiesen. Vgl. daneben auch Verf.: Über die Quellen der Rabenschlacht, S. 73. 105

Vermutung der Poeschen Ich-Figur, das Klopfen könne durch die Geistererscheinung Lenores, seiner toten Geliebten, hervorgerufen worden sein (Str. j / S. 136), spiegelt sich in der beruhigenden Antwort Thedels auf die unausgesprochene Befürchtung des Magisters hin, es sei gar nicht sein »schlimme[r] Liebling[ ]« (74), der ihn aufsuche, sondern möglicherweise täusche ihn ein gespenstisches Wesen: »Ich bin's wirklich noch einmal in Fleisch und Blut [...]« (73). Thedel betritt die Klosterzelle durch die Tür, da, wo der Poesche Protagonist vergeblich nach dem Besuch sieht; im Gedicht flattert der Rabe durchs Fenster, auf welchem Weg der Raabesche Rabe Buchius' Heimstatt wieder verläßt. Dieser ist ja das eigentliche tertium comparationis der beiden Werke; dem Junker kommt die Aufgabe zu, unter veränderten Umständen und mit abweichenden Folgen den Platz der verstorbenen Geliebten aus Poes Poem einzunehmen.8 Dort tritt Lenore selbst nicht auf, das Pochen rührt von dem Raben her. Bevor das deutlich wird, äußert die Ich-Figur jedoch hierüber noch eine andere Vermutung: »'Tis the wind and nothing more!« (Str. 6 / S. 136) Im Kontext des Oäfelds gelesen, ist dies der Wind, der in Bürgers Lenore den »Hagedorn durchsaust«, der den über dem mythischen Schlachtfeld kämpfenden Rabenhaufen assoziiert ist, das boreadische Wehen, das die angestrebten Liebesidyllen allesamt verweht, zerstört, kurz: der Sturm des Herrn Zebaoth.9 Im Raven wird allerdings die gegenläufige Richtung verfolgt: läßt Raabe hinter dem Raben die Zuchtrute, den Sturm des Herrn der Heerscharen aufscheinen, so entpuppt sich in Poes Gedicht als Urheber des Klopfens statt des vermuteten Windes ein Rabe. Dieser ist seinem Artgenossen aus dem Odfeld auch literarisch verwandt, will heißen, es finden sich in den zwei Texten bezüglich der Vögel mancherlei Übereinstimmungen. Dem stereotypen »Nevermore«, das den Fragen der Poeschen IchFigur antwortet, entspricht in der gleichen Mechanik das die Kampfschen Geschichten kommentierende »Kräh« des Raben vom Odfeld. Dieser Raabesche Rabe krächzt meist im Traum (59; 62), was an eine Zeile aus der Schlußstrophe des Gedichts erinnert: »And his eyes have all the seeming of a demon's that is dreaming« (Str. 18 / S. 144). Geradezu als eine Ansammlung zentraler Motive des Romans erscheinen folgende Verse des Raven: »Prophet!« said I, »thing of evil! -prophet still, if bird or devil! Whether Tempter sent, or whether tempest tossed thee here ashore, Desolate yet all undaunted, on this desert land enchanted [...]«(Str. 15/8.142) 8 9

Auf diese Parallele verweist auch Haas: Raabe, der Rabe, »The Raven«, S. 141. Vgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. 65 u. 100. 106

Die Frage, ob ihm eine Prophezeiung geworden, der Rabe als ein »Zeichen vom Willen des Herrn« (59) anzusehen sei, treibt den Magister das ganze siebte F.omankapitel um. Dabei formuliert er ziemlich genau die Alternative, die bei Poe vorgebildet ist - »if bird or devil«: »Hörst du, Schwarzer, ob ich dich nun hereingeholt habe auf die Stube als einen finstern, bösen Unglücks- und Todesengel oder als einen guten Kameraden und Frevnd für des Winters Einsamkeit [...]«(63)'°

Zu Ende des Romans greift Buchius, nun einer schärferen Opposition das Wort redend, die in ihrer Intensität gleichfalls gesteigerte Wendung des zweiten Verses auf - »Whether Tempter sent, or whether tempest tossed thee he re ashore«: »O 3espenst, meldest du dich nun wieder und zerrest an mir und fragest, ob du deire Botschaft wohl ausgerichtet habest als Bote des höchsten barmherzigen Gottes, des Herrn Zebaoths, oder - als höllischer Gaukler seines Affen, des leid gen Satans? O Kreatur, ach Rab, Rab, wohl ist dein Zeichen Wahrheit geworden! Sie liegen bei deinen Kameraden im Campo Odini und weit rundum verstreuet, meine Brüder und unter ihnen meiner Seele Sohn im jammerhaften Saeculo. O Vieh, ich habe dich im Tuch vom Schlachtfeld, von Wotans Felde, hereingetragen und in Sicherheit gebracht; aber ich habe meinen lieben Knaben, meinen tapfern Thedel, meinen Thedel von Münchhausen, liegenlassen müssen untrr den Erschlagenen auf dem Odfelde!« (zijf.)

Daß der Sturm (tempest) im Symbolgefüge des Odfelds auf den Herrn Zebaoj:h verweist, bedarf ebensowenig einer weiteren Erläuterung wie der Umstand, daß »desert land« in semantischem Bezug zu dem Namen »Odfeld« üteht, klingt dieser doch wiederum unüberhörbar an Worte wie »öde«. »Ödland« an. Vordergründig betrachtet, scheint die Ausdrucksweise des Magisters - »Botschaft«, »Zeichen« - hier nur anzudeuten, daß er den Rabenkampf nun endgültig als Ankündigung einer wirklichen Schlacht mit tragischen Folgen für sich selbst begreift. Dahinter steht jedoch die Interpretation des Prodigiums als Sinnbild des von dem Herrn Zebaoth entfesselten ewigen Krieges aller gegen alle. Der Hinweis auf die fatale Koinzidenz von Buchius' Rettung des unheilverheißenden Raben vom OdfeM mit dem bitteren Verlust, den er durch den Tod des Junkers erfährt, kann ebenso für die Situation bei Poe geltend gemacht werden - dessen Protagonist hat das gleiche Mißverhältnis zu beklagen: nachdem er seine Geliebte verloren hat, fliegt ihm der ominöse Rabe zu. Darüber hinaus erinntrt dieser Schmerz daran, daß die Rabenschlacht im Odfeld ja auch ein 10

Vgl. dazu Haas: Raabe, der Rabe, »The Raven«, mit zum Teil denselben Textbelegen (S. 149 u. Anm. 44). 107

Zeichen des universalen Liebeskriegs ist, welche Erkenntnis der Rabe dem Magister gegenüber geradezu szenisch veranschaulicht, indem er dessen im Bild des Rabenkampfs geträumten erotischen Niederlage gegen Selinde durch das Hacken nach seiner Brust eine realsymbolische Note beifügt (83). Im 12. Romankapitel versucht Buchius dann seine aus der Botschaft des Raben resultierenden Empfindungen zu bewältigen, die Fassung wiederzuerlangen, was ihm jedoch völlig mißlingt, da seine Gedanken immer wieder zu Thedel, zur Quelle seines Liebesgrams zurückkehren.11 Ähnliches widerfährt dem Helden des Gedichts. Während er nachsinnt, was das Wort des Raben, seine Botschaft wohl zu bedeuten habe, leitet ihn seine Trauer unterschwellig zur erneuten Erinnerung an die niemals - »nevermore« - je wiederzugewinnende Lenore (Str. 12 und 13, S. 140 und 142). Wie einleuchtend diese Übereinstimmungen zwischen dem Odfeld und Poes Raven jeweils auch sein mögen, der Sinn, die Funktion einer solchen Nachgestaltung bleibt doch vorläufig im Dunkeln; die angesprochenen Gedichtstellen scheinen ja beinah schon Quellencharakter zu besitzen und den Bedeutungshorizont des Romans ganz und gar nicht zu erweitern.12 Dazu kommt, daß sie sich fast ausschließlich auf den ersten Teil des Odfelds beziehen - die spätere Abwendung des Magisters von Gott, die metaphysische Revolte, zu der ihn sein Unglück treibt, finden im Raven keine Entsprechung. Dagegen folgt dort eine Strophe, die unvermittelt eine Beruhigung allen Leidens in seligem Vergessen ausmalt: Then, methought, the air grew denser, perfumed from an unseen censer Swung by seraphim whose foot-falls tinkled on the tufted floor. »Wretch,« I cried, »thy God hath lent thee - by these angels he hath sent thee Respite - respite and nepenthe from thy memories of Lenore; Quaff, oh, quaff this kind nepenthe and forget this lost Lenore!« Quoth the Raven, »Nevermore.« (Str. 14 / S. 142)

Als Sinnbild der Erlösung von der Erinnerungsqual der Ich-Gestalt figuriert »nepenthe«, laut Homers Odyssee, IV. 22of., ein zauberkräftiger Trank des Vergessene, der Kummer lindert und Seelenfrieden bewirkt.13 Vgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. iO3ff. Haas: Raabe, der Rabe, »The Raven«, gibt diesem Gedanken keinen Raum. Homer: Odyssee. Griechisch und deutsch. Übertragung von Anton Weiher, München 1955, S. 92 (IV. Gesang, V. 221): » «. In der Übertragung von Voß - Homer: Ilias. Odyssee, S. 48$ (Odyssee, IV. Gesang, V. 220-226) - lautet die Passage: Siehe, sie warf in den Wein, wovon sie tranken, ein Mittel Gegen Kummer und Groll und aller Leiden Gedächtnis. Kostet einer des Weins, mit dieser Würze gemischet,

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Manch s deutsche Übersetzungen des Gedichts wählen statt »Nepenthes« gar das geläufigere, jedoch stärkere »Lethe«.' 4 Dadurch wird der Bezug zum C dfeld überdeutlich. Dem Zustand gemilderter Trauer, beschwichtigter Verzweiflung, endlich befreiten Aufatmens bei Poes Helden entspricht Buchius' Empfinden nach Überschreiten der Lenne, also unter dem Einfluii der Lethe; das Gefühl, der quälenden und zermürbenden Auseinandersetzung mit dem grausamen Gott Zebaoth entronnen zu sein, statt Leid uid Unglück himmlische Gnade, göttliches Wohlwollen, kurz: die Geborgenheit des Glaubens erfahren zu dürfen. Dementsprechend dankt der Mi.gist.er dem Herrn für seine Errettung, genauso wie auch die IchFigur c.es Raven meint, die ersehnte Ruhe habe ihr Gott durch seine Engel geschenkt. Der Kommentar des Raben hierzu ist vernichtend: »Nevermore«. Er leugnei: die wohltätige Kraft des Vergessens ebenso wie die Möglichkeit einer heilsamen göttlichen Spende für die Menschen, und seine Negation gilt in gleicher Weise dem gegenwärtigen Schein des Friedens, der Harmonie zwischen Magister Buchius und dem Herrn der Heerscharen im Odfeld. Zunächst mehren sich hierfür die Vorzeichen. So erscheint bedeutungsvoll, daß dem schon erwähnten toten Hahn von dem französischen Soldaten der Hals umgedreht worden ist (142), eine Tötungsart, die, wiewohl durchaus üblich, hier an einen erstickten oder ausbleibenden Hahnenschrei

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Dann benetzet den Tag ihm keine Träne die Wangen, War ihm auch sein Vater und seine Mutter gestorben, Würde vor ihm sein Bruder und sein geliebtester Sohn auch Mit dem Sehweite getötet, daß seine Augen es sähen. Vgl etwa die im Anhang der Ausgabe: Poe: Werke, Bd. IV, S. 859ff. abgedruckte moderne Übertragung von Hans Walter Sundermann (1973), S. 863, oder die im Exkurs am Ende dieses Kapitels erwähnte Übersetzung des Gedichts von Betty Jacobson im »Magazin für die Literatur des Auslandes« 49 (1880), S. n8f. Da Raabe sie wohl gekannt hat - vgl. Exkurs - sei die entsprechende Strophe hier abg:druckt: Da durchwürzt mit einem Male wie aus einer Räucherschale Schien die Luft, als schritten Engel Weihrauch spendend vor mir her; »Ja, ein Gott hat euch gesendet, mir durch Seraphim gespendet, Leonoren zu verschmerzen, Trostes lindernde Gewähr! Trink, o trink den Trank aus Lethe, sei Vergessen noch so schwer!« Sprach der Rabe: »Nimmermehr!« (S. 119) Zu dieser und anderen Übersetzungen von Poes Gedicht aus dem 19. Jahrhunden vgl. den Aufsatz von Armin Paul Frank und Erika Hulpke: Poes deutscher Ratenhorst: Erkundung eines übersetzungsgeschichtlichen Längsschnitts Teil I (18; 3-1891), in: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte. Hrsg. v. Brigitte Schultze, Berlin 1987, S. 96-148. 109

denken läßt. Nach christlicher Symbolik ist jedoch der Hahnenschrei Zeichen für die Auferstehung und die endliche Wiederkunft Christi;15 mithin läßt sich dieses Detail im Odfeld lesen als abermalige Absage an die Hoffnung auf eine Beendigung der Apokalypse des Herrn Zebaoth durch seinen Sohn, den milden Messias. Daß sich jenseits der Lenne die Lage der Flüchtlinge nicht entscheidend geändert hat, verrät auchThedels Bemerkung: »Überwind haben wir hier zum wenigsten« (143). Impliziert diese Feststellung schon an sich nur eine vorläufige Salvierung und wird sie gleichermaßen durch den Erzählerkommentar relativiert - »freilich windstill[ ], aber schlachtüberdonnert[ ]«(143) -, so verkehrt der symbolische Kontext sie vollends in das Gegenteil des eigentlich Gemeinten: die Schlucht bzw. die Höhle mag wohl das Gepräge eines Asyls tragen; gegen Gottes Sturm bietet sie dennoch keinerlei Schutz. Schon gar nicht vermag die Örtlichkeit die Qualität eines idyllischen Lokals zu gewinnen, wozu sie der Junker flugs stilisiert, indem er der Grotte zu ihrer vermeintlichen Konnotation von friedlicher Geborgenheit noch ohne weiteres den unter den gegebenen Umständen wahrhaft utopischen, illusionären Charakter eines erotisch unterfütterten, in seiner ausgemalten Szenerie auf die ersehnte Erfüllung hindeutenden locus amoenus zuspricht :l6 1

' Vgl. dazu Reallexikon für Antike und Christentum (RAG). Hrsg. v. Theodor Klauser u.a., Bd.XIII, Stuttgart 1986, Art. »Hahn« (Claudia Nauerth), Sp. 360-372, bes. Sp. 364. '* Vgl. dazu die Ausführungen von Denkler: Wilhelm Raabe, der mit Verve im »Odfeld« und insbesondere an dieser Stelle des Romans »eine sexuell unterfütterte Sprache, die sich an Sexualsymbolen orientiert und sexuelle Bewegungsabläufe durchschimmern läßt« nachgewiesen hat: »Die Flucht in eine >Erdhöhle< (159) im >Erdenbauch< (159) nährt Vaginal- und Uterusvorstellungen mit den Wortassoziationen >Schoß< (147), >Loch< (158), >Spalte< (14j), >Ritze< (146), >Kluft< (158), >Schluft< (149), >Schlund< (170) und den zugeordneten Attributen >unansehnlichabschüssigdunkeleng< (145), >naß< (147), >tiefbreitbeinig [...] und mit hochgeschwungener Rechten< steht der jugendliche Held über der Höhlenspalte (145); ein alter Zwerg mit >einer Kappe halb über die Augen< sitzt >bei seinem Loch< und läßt >die Beine baumeln< (162); >nackigt [...] und gottlob auch mit einem jungen Tannenbaum in der Faust< ist der jugendliche Held als >Wilder Mann< zu >sehen< und zu >spüren< (i67f.). Ein doppelbödiger Dialog wird gesprochen (etwa 159), der die umworbene Ansprechpartnerin >noch nasser in der Einbildung< macht (168), zumal ihn eine Fülle von Zimten aus der galanten Barock- und Rokoko-Lyrik erotisch aufheizt« (S. 180). Zu ergänzen wäre Denklers eindringliche Darlegung freilich durch die Beobachtungen Brewsters - Wilhelm Raabes historische Fik-

no

The del Münchhausen, den linken Arm um des Herrn Amtmanns Vetterstochter lege id, breitbeinig stehend und mit hochgeschwungener Rechten, zitierte außer sich vor Vergnügen den Kanonikus Gleim: »>Hier hon man keinen Muffel seufzen, Hier läuft kein Kramer mit Gewichten, Hier rast kein Menzel mit Husaren Hier sind wir einfach, fromm und stille! Hier schwärmen keine schwarzen Sorgen, Hier hört man kein Geschrei der Laster Hier wollen wir uns Hütten bauen! Was fehlt der Fülle solcher Wonne ? Ach Freund, es fehlt uns noch die Liebe. Geh, hole du dein blondes Mädchen, Ich will die braune Doris holen - .< Schieb deinen Kerl, deinen Heinrich, fürsichtig dem Magister nach, Wieschen. Ach Mamsell, Prinzessin, Engel, meine Göttin, >Neulich sprach ich mit den Bergen, Und sie priesen mir ihr Silber, Und den Schatz in goldnen Adern, Und sie wollten mir ihn schenken — < alle Hagel und Wetter, höre einer den Chabot, wie er die Berge hinauf drückt -

tion - zum Motiv des Kindes im Mutterleib: »Der Satz im Bibelzitat [des Magisters anläßlich der Rabenschlacht]: >Wehe aber den Schwangern und Säugern zu der ZeitSie kommen zu Tausenden und Hunderttausenden! Sie verschonen diesmal nicht das Kind im Mutterleibe< (37). Die metaphorische Tnreformation im Entschluß, sich zu >bergen im Schöße der Erden< (126), gewährt später in der Tat keine Sicherheit vor den Truppen; die Kinder werden vom Leih der (Mutter) Erde wieder herausgezerrt. Diesen zunächst wohl spekulativ erscheinenden Zusammenhang erhellt aber wiederum die Zitatkonstellatioi, in der jener Entschluß gefaßt wird: >Ihr Berge fallet über uns und decket un.i, daß die Heere über uns wegtreten und wir ihren Fußtritt über uns hören, so wi;· uns bergen im Schöße der Erden!< (ebd.). Der biblische Kontext lautet: >D :nn siehe, es werden Tage kommen, da man sagen wird: Selig die Unfruchtbarer, und der Schoß, der nicht geboren, und die Brüste, die nicht genährt haben! Dann wird man anfangen, zu den Bergen zu sagen: Fallt über uns! Und den Hügeln: Bedecket uns!< (Lukasevangelium 23:30-31). Die durch Zitat, Verwendungszusammenhang und ursprünglichen Kontext vermittelte Bedeutungskonstellation ergibt das Bild einer Zeit, in der es besser wäre, nicht geboren zu sein, we Iches dem Entschluß, gleichsam in den Schoß zurückzukriechen, eine innere Lcgik apokalyptischen Geschehens gibt« (S. 352^). Müchhausens subjektive Sicht des Geschehens geht durchaus in der ersten Interpretation des Textes auf; dü'se wird jedoch für den Leser durch die zweite alsbald überlagert und relativiert. III

>Und die Sänger auf den Zweigen Jagt er aus den grünen Zellen In die Ritzen hohler Klippen - < Kotz-Kreuz-Element, es geht nicht anders, Selinde. Ob Sie nun mag oder nicht, Jungfer Fegebanck, mit hinunter, mit hinein muß Sie jetzt, wenn Sie nicht zu blutigem Brei getreten sein will!« (i4jf.)

Die übermütige Laune, mit der Münchhausen sein anakreontisches Panorama entwirft - wie schon anhand anderer Stellen des Romans ausgeführt, unterstreicht die Allusion der Idylle den prinzipiellen menschlichen Anspruch auf Glück -, erfährt denn auch eine harsche Abfuhr; die heitere Liebeswelt ist den realen Verhältnissen nicht im mindesten gewachsen. Das deutet sich schon an im Titel des Gewährsmanns, den Thedel für die Idylle nennt, des »Kanonikus Gleim« (145) - ein Won mit frommer und friedlicher Bedeutung, in dem jedoch das martialische, die Flüchtlinge mitsamt ihren freundlichen Vorstellungen so sehr bedrohende »Kanon« (145) verborgen ist. Diese Lesart wird bekräftigt durch den Satz, mit dem der Junker die nunmehrige Lage seiner Gefährten beschreibt: »sicher wie Daun bei Kolin im Felsennest!« (143). Die Anspielung auf die dort stattgehabte Schlacht ruft nämlich auch ebendesselben »Kanonikus Gleim« Preussische Kriegslieder -von einem Grenadier auf, reichlich blutrünstige Machwerke, die den Geist, der sich in dem Versuch in scherzhaften Liedern ausspricht, augenblicklich brechen.17 Schließlich demontiert Thedel die von ihm herbeizitierte Idyllenwelt selbst. Das Verfahren, das er anwendet, sie erstehen zu lassen, der Akt des Zitierens, verselbständigt sich ihm unter der Hand, 17

Zu denken wäre etwa an die zweite Strophe aus dem »Schlachtgesang vor dem Treffen bey Collin den iSten Junius 1757«: Auf hohen Felsen stehen sie, In ihrem Adlernest, Hohnlachend; Brüder, sehet sie, Sie träumen Siegesfest. Ebenso an die zweite und siebente Strophe aus dem »Lied nach der Schlacht bey Collin den iSten Junius 1757: Wir aber stürmten noch das Nest, Wir wolten noch hinan! Wir kletterten, wir hielten fest Uns aneinander an. Da Hessen wir den blöden Feind In seinem Felsennest. Nun jubelt er; o Menschenfreund! Nun hat er Siegesfest. Preussische Kriegslieder von einem Grenadier. Von J.W.L. Gleim. Hrsg. v. August Sauer, Heilbronn 1882 (Nachdruck: Nendeln 1968) S. i6f. 112

die Worte drehen sich ihm quasi im Munde um, so daß, was er zu Anfang als anrrutige Schäferszene entwirft, nachher davon gefährdet, ist »zu blutigem Brei getreten« zu werden (146). Diesen Prozeß der Umkehrung führt Raabe abgestuft und differenziert vor. Dei Junker deklamiert aus drei anakreontischen Gedichten Gleims. Beim e rsten wählt er nach freiem Belieben freundliche Partien aus und läßt weg, was ihm nicht passend erscheint. So etwa, nebst anderem, die Verse: Hier wafnet sich kein Held zum Morden, Hier soll uns kein erzürnter Priester Und keines Prinzen Dumheit ärgern. [...] Hier brennt kein Schwefel in der Hölle, Hier brüllt kein Teufel, wie ein Löwe.'8

Verse, die mehr oder minder symbolisch mit Bezug auf Herzog Ferdinand bzw. den unterirdischen Ort, an den sich die Flüchtlinge hingerettet haben, gelesen werden können. Innerfiktional ist also allein Münchhausens Wollen bei diesem Zitieren maßgeblich; der Erzähler läßt ihn eine harmonische Idyllenwelt erschaffen, in der »kein Menzel mit Husaren rast« (146). Daß dieses Wunschbild der Realität gegenüber schon jetzt im Hintertreffen ist, das Be wußtsein seiner Scheinhaftigkeit in sich trägt, erhellt daran, daß es ex negative definiert werden muß, nämlich - wie in diesem Fall - durch die Abwesenheit von Krieg. Diese Tendenz setzt sich bei dem nächsten Zitat fort. E »äs nun angeführte Gedicht soll Selinde schmeicheln, den poetischen Höhepunkt der sich steigernden Lobpreisungen »Mamsell, Prinzessin, Engel, meine Göttin« (146) darstellen: Der Werth eines Mädchens. Neulich sprach ich mit den Bergen, Und sie priesen mir ihr Silber, Und den Schatz in goldnen Adern, Und sie wollen mir ihn schenken, Und ich wolt ihn zu mir nehmen; Aber, da ich nehmen wolte, Sprang ein Mädchen aus dem Busche, Gleich verließ ich Gold und Silber.t?

18

19

Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Versuch in scherzhaften Liedern und Lieder. Kritisch hrsg. v. Alfred Anger, Tübingen 1964, S. 7 (An Herrn von Kleist). Ebenda, S. 97. "3

Indem Thedel jedoch nach dem vierten Vers abbricht, weil der Kriegslärm zu bedrohlich wird, sich statt des poetischen »Mädchens aus dem Busche« die französischen Truppen bemerkbar machen - »alle Hagel und Wetter, höre einer den Chabot, wie er die Berge hinaufdrückt« (146) -, muß auch die Pointe ausbleiben, die das Gedicht überhaupt erst dem anakreontischen Genre zuordnet; das Zitierte steht, solchermaßen die Wehrlosigkeit, die Ohnmacht der Idylle gegenüber dem Krieg bezeichnend, als sinnloses Fragment da. Der Schäferwelt gelingt es mitnichten, den tatsächlichen Verhältnissen ihr Gepräge zu verleihen, wohl aber findet das Gegenteil statt. Der Ausruf, mit dem Münchhausen sein zweites Gleimzitat unterbricht, leitet gleichzeitig sein drittes ein: »alle Hagel und Wetter, höre einer den Chabot, wie er die Berge hinaufdrückt >Und die Sänger auf den Zweigen Jagt er aus den grünen Zellen In die Ritzen hohler Klippen —c« (146)

Von idyllischem Geist ist hier nichts mehr zu spüren. Die aus dem durchaus anakreontischen Kontext gerissene Passage hat sich der traurigen Realität anverwandelt, das harmlose Bild, das bei Gleim auf allerdings verschlungenen Umwegen eine Doris zu immerwährendem Küssen verleiten soll,20 wird transparent für das harte, wirkliche Schicksal der vor den Soldaten in die »Klippen des Rothen Steins« (142) Geflüchteten, das Pronomen im zweiten Vers substituiert nunmehr statt des Herbstes den französischen Feldherrn und die von ihm ausgehende Bedrohung, kurz: hat Thedel eben noch das »Rasen« und »Morden« des Krieges aus seiner herbeizitierten Idyllenwelt verbannen wollen, so diktiert nun ebendieser Krieg die Zitatauswahl aus dem idyllischen Kontext und prägt ihr als seinen Stempel eine neue martialische Bedeutung auf. Daß die anakreontische Liebe, die der Junker hier so poetisch beschwört, sich vor dem Zeichen des Blutes, dem in Aussicht gestellten »blutigen Brei« (146), spurlos verflüchtigt, erweist sich realiter in einer späteren Szene, da Thedel auf seine galanten Annäherungsversuche hin »ein letztes [...] Zeichen von Mamsell Selindens Zärtlichkeit« erhält, nämlich »vier blutige Striemen [...] vom linken Ohr hinunter bis zum Kinn« (i/o), und hierauf prompt in ein Zitat aus Gleims Kriegsliedern ausbricht:

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Ebenda, S. 96 (Die Reue). 114

»Zu rächen jeden Tropfen Blut, Der unter Severn floß, War alles Feuer, schäumte Wut, Schnob Rache Mann und Roß!« (17l)11

Auch hinter amoroser Rokoko-Tändelei - so das Fazit der ausgedehnten Gleim-Anspielung - wird in gespenstischer Verkehrung dieser anmutigen Utopie des Glücks das unheilvolle Signum des blutigen Kampfes aller gegen alle sichtbar. Ebensowenig jedoch wie Münchhausen diese Verhältnisse zu deuten weiß, ist der Magister fähig, seine und seiner Gefährten Lage zutreffend einzuschätzen. Sozusagen weiterhin im Banne der Lethe stehend, sieht er sich durch die Gnade des Herrn in Sicherheit geführt, nicht ahnend, daß die mehrmalige Bekundung dieses Glaubens durch Bezug auf frühere einschlägige Äußerungen von ihm seine jetzige fromme Zuversicht zwar markant hervortreten läßt, ihr gleichzeitig aber auch in fatalem Doppelsinn glatterdings Hohn spricht. Das wird deutlich, wenn Buchius in biblisch gesättigtem Sprachgebrauch die Größe und Güte Gottes feien, wobei er unter Zur Illustration des Kontextes, aber auch des Gleimschen Tons seien einige weitere Strophen des Gedichts hierher gesetzt: Grausame kriegerische Lust Zu tödten, war noch nicht Gekommen sonst in unsre Brust, Getreten ins Gesicht. Jetzt aber, Vater! hatten wir Nicht Herz, wir hatten Wuth, Wir sahn den Feind mit Mordbegier, Wir dürsteten sein Blut!

Unmenschlich gaben wir nicht mehr Dem Bitten und dem Flehn Der Knieenden vor uns Gehör, So schnell es sonst geschehn! Wir holten auf der schnellen Flucht Des Feindes Fersen ein! Warum war er voll Siegessucht ? Gestrafet mußt er seyn ! Nicht Tieger, menschliches Geschlecht, Glühn wider sich, wie du! Wir, Menschen, riefen im Gefecht, Sterbt Hunde! Menschen zu. Gleim: Preussische Kriegslieder, S. 3if. (Siegeslied nach der Schlacht bey Lissa den 5ten December 1757, V. 181-188 u. 201-212).

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anderem auf den Psalter rekurriert, jenes Buch der Bibel, dem auch die Zitate entstammen, vermittels derer sich wenige Stunden vorher seine allmähliche Entfremdung von Gott manifestiert hatte (vgl. S. 66ff. dieser Studie): »Aber mein Gott, muß Er denn selbst bei diesem Donner Gottes über dem Haupte der ewige Jokulator sein, Münchhausen ?« rief der Magister zurück. »Fasse Er doch lieber jetzt mit an und helfe Er mir Schelzen in die Sicherheit zu bringen! Nur ruhig, Wieschen, - hier sind wir fürs erste zu Hause. Nun danket dem Herrn, denn seine Hand war über uns bis jetzt; stehet oder sitzet und gewöhnet eure Augen an die Finsternis. Sitzet still und horchet! Die Berge und Felsgesteine sind wahrlich auf uns gefallen, bedecken uns und geben uns Schutz. Horche Er, Thedel von Münchhausen, lieber Sohn, wie der Könige Zorn und Hader von ferne uns zu Häupten toset bis zu den Ohren des Abgrundes [...]« (i 4 8f.)

Der »Donner Gottes« ruft Psalm 18 auf, den der Magister schon einmal in seiner Zelle - damals uneingestandenermaßen - erinnert hat, als er seiner vorgeblich ungerührten Standhaftigkeit zum Trotz inbrünstig auf gnädige Auserwählung, auf Errettung vor dem Strafgericht des Herrn Zebaoth hoffte. Nun scheint sie ihm, wie sein quasi einverständiges Zitat belegt, zuteil geworden zu sein, ganz so wie es die Heilige Schrift verheißt: [Ps. 18,1] Ein Psalm vorzusingen, Davids, des HErrn Knechts, welcher hat dem HErrn die Worte dieses Liedes geredet zur Zeit, da ihn der HErr errettet hatte von der Hand seiner Feinde und von der Hand Sauls, [2] Und sprach: Herzlich lieb habe ich dich, HErr, meine Stärke; [3] HErr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter, mein GOtt, mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Hörn meines Heils, und mein Schutz. [4] Ich will den HErrn loben und anrufen, so werde ich von meinen Feinden erlöset. [5] Denn es umfingen mich des Todes Bande, und die Bäche Belials erschreckten mich, [6] Der Höllen Bande umfingen mich, und des Todes Stricke überwältigten mich. [7] Wenn mir angst ist, so rufe ich den HErrn an, und schreie zu meinem GOtt: so erhöret er meine Stimme von seinem Tempel, und mein Geschrey kommt vor ihn zu seinen Ohren. [8] Die Erde bebete, und ward bewegt, und die Grundveste der Berge regeten sich, und bebeten, da er zornig war. [9] Dampf ging auf von seiner Nase, und verzehrend Feuer von seinem Munde, daß es davon blitzete. [10] Er neigete den Himmel, und fuhr herab, und Dunkel war unter seinen Füßen, [n] Und er fuhr auf dem Cherub, und flog daher, er schwebete auf den Fittigen des Windes. [12] Sein Gezelt um ihn her war finster, und schwarze dicke Wolken, darinnen er verborgen war. [13] Vom Glanz vor ihm trenneten sich die Wolken, mit Hagel und Blitzen. [14] Und der HErr donnerte im Himmel, und der Höchste ließ seinen Donner aus mit Hagel und Blitzen. [15] Er schoß seine Strahlen, und zerstreuete sie, er ließ sehr blitzen, und schreckte sie. [16] Da sähe man Wassergüsse, und des Erdbodens Grund ward aufgedeckt, HErr, von deinem Schelten, von dem Odem 116

und Schnauben deiner Nase. [17] Er schickte aus von der Höhe, und holete mich, und zog mich aus großen Wassern. [18] Er errettete mich von meinen starken Feinden, von meinen Hassern, die mir zu mächtig waren, [19] Die mich überwältigten zur Zeit meines Unfalls; und der HErr ward meine Zuversicht. [20] Und er füh rete mich aus in den Raum; er riß mich heraus, denn er hatte Lust zu mir. (Zu Seile 148 vgl. V. 14)

Was h.er indes als vergangene und bewältigte Gefahr figuriert, droht Buchius and seinen Gefährten nach wie vor. Bis ins Detail verweist ja die biblische Rede auf die Sinnbildlichkeit des Ortes, den die Flüchtlinge als sicheren Schutzraum ansehen (V. 5 und 6). Die »Bäche Belials« spiegeln sich im Bach Lenne, der die Konnotation des Unterweltflusses Lethe besitzt: und den Eingang zum jenseitigen Totenreich vorstellt, in dem die Amelungsborner Gesellschaft in - symbolischer - Wirklichkeit angelangt ist, von der »Höllen Bande« und des »Todes Stricke« umfangen: »Transite ad infcros! Das sind wir! Zu den Unterirdischen sind wir gegangen« (151). Eine weitere Anspielung - »danket dem Herrn, denn seine Hand war über uns bis jetzt; stehet oder sitzet [...]« - gilt dem 139. Psalm, der ein Preislied auf Gottes Allmacht und Vorsehung darstellt: [Ps. 139,1] HErr, du erforschest mich, und kennest mich. [2] Ich sitze oder stehe aul, so weißt Du es; du verstehest meine Gedanken von ferne. [3] Ich gehe oder lie|;e, so bist du um mich, und siehest alle meine Wege. [4] Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, daß du, HErr, nicht alles wissest. [5] Du schaffest es, was ich vor oder hernach thue, und hältst deine Hand über mir.

Dieser Rekurs scheint unverfänglich, es sei denn man verstünde den alludierten Vers 5 (mitsamt seinem hier angeführten Kontext) in, dem bisherigen Romangeschehen entsprechendem, sarkastischem Doppelsinn als Ausdruck wehrlosen und verhängnisvollen Ausgeliefertseins, wie ihn ähnlich auch moderne, philologische Übersetzungen nahelegen: »Von hinten und von vorne umschließt du mich, / legst auf mich deine Hand.«11 Darüber hinaus fällt jedoch auf, daß beide angesprochenen Psalmen das Lob des Herrn mit dem Motiv des Lichts verknüpfen: [Ps. 139,11] Spräche ich: Finsterniß mögen mich decken; so muß die Nacht auch Licht um mich seyn. [12] Denn auch Finsterniß nicht finster ist bey dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsterniß ist wie das Licht. [Fs. 18,29] Denn Du erleuchtest meine Leuchte; der HErr, mein GOtt, macht meine Finsterniß Licht.

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Kraus: Psalmen, 2. Teilband: Psalmen 60-150, S. 1091. "7

Dasselbe Motiv prägt das 18. Kapitel des Odfelds in entscheidender Weise. Insgesamt fünfzehnmal ist auf zehn Seiten von Licht oder Finsternis die Rede, wohl doch häufiger, als es die Plausibilität der Situationsschilderung erforderte. Die Flüchtlinge betreten die Höhle, gewöhnen ihre Augen an die Finsternis und stellen fest, daß ein schwacher Lichtschein von außen durch die Felsritzen fällt. Dann entzündet Buchius eine Laterne, die aber bald wieder erlischt, worauf die Gesellschaft erneut im durch den spärlichen Schimmer nur wenig aufgehellten Dunkel sitzt.13 Inmitten all dieser realitätsverhafteten Bemerkungen über die jeweiligen Lichtverhältnisse überrascht ein eindeutig metaphorischer Rekurs auf diesen Kontext. Der Magister äußert über seinen Vorgänger in der Höhle: »Der arme Sünder und diluvii testis, der Sündflut Zeuge, hat dort auch sein Lager sich zubereitet in seinem betrübten finstern Leben. Nun, die Gnade Gottes wird ihn itzo wohl auch in ein klareres Licht erhoben und zu besserer Einsicht verhelfen haben.«(151)

Dieses Licht ermöglicht religiöse Einsicht und Erfahrung, es steht für göttliche Gnade, für Erlösung aus der Dunkelheit der Gottferne, kurz, es 13

Eine Auflistung der fraglichen Stellen: - Bis das Auge sich gewöhnt hatte, war's freilich ein bißchen dunkel [...] (148). - »[...] gewöhnet eure Augen an die Finsternis« (148). - [...] und nun suchten sie wirklich allgemach ihre Augen an die Dunkelheit ihres Zufluchtsortes zu gewöhnen [...] (149). - [...] die eben ihre Augen an das Licht in der Finsternis gewöhnten! (149). - »Es fällt, weiß Gott, auch noch Licht von oben herein [...]« (150). - Es fiel wirklich hier und da durch die übereinandergeschichteten Blöcke ein Glimmer vom grauen Morgen in die [...] Höhle (150). - Und was das Licht anbetraf, so sollte es damit noch viel besser kommen. [...] Funken spritzten [...] und [...] Magister Buchius, mit einer kleinen Blechlaterne [...] seine Gäste [...] beleuchtend [...] (150). - »[...] solange der Lichtstumpen in der Laterne reicht [...]« (i 51). - »Der arme Sünder [...] hat dort auch sein Lager sich zubereitet in seinem betrübten finstern Leben. Nun, die Gnade Gottes wird ihn itzo wohl auch in ein klareres Licht erhoben und zu besserer Einsicht verhelfen haben« (151). - »[...] solange das Licht in der Laterne reicht [...]« (i $3). - [...] saß die ganze Gesellschaft [...] bei dem Schein des Lichtstümpfchens in der Laterne [...] (15 5). - [...] und dann erlosch das Licht in der Laterne [...] (156). - [...] er versuchte [...] die Angst der gejagten Menschenkreatur im Finstern zu beschwichtigen [...] (156). - »[...] nur eine kurze Weile die Augen zumachen! Nachher scheinen die Sterne wieder in den Brunnen, oder, ich sage es besser, wir sehen noch ferner das angenehme Licht auch dieses schlimmen Tages« (156). - [...] der schwache Schimmer des Tageslichtes, welcher durch dieselben Steinritzen in ihren Zufluchtsort einsickerte [...] (156). 118

ist das biblische »Licht in der Finsternis«, welche Metapher im Odfeld ja mehrfich angespielt wird, zur Kennzeichnung der Christusähnlichkeit des Herzogs Ferdinand und ebenso, um die christomorphe Stilisierung des Magisters selbst zu unterstreichen; man denke an den - gleichfalls symbolisch überhöhten - »Schein seiner Blechlampe [...] in die sturmvolle Finsternis des Jahres siebenzehnhunderteinundsechzig« (64).24 Insofern passen diu oben angeführten Psalmenverse, die Gott im Licht feiern, ganz genau zu Buchius' sinnbildlichem Tun, nämlich dem Erleuchten der dunklen Höhle, das also in Parallele steht oder vielmehr sogar in Bedeutungsgleichheit zu seinem Loben und Preisen des Herrn, seinem Dank für die unwal· rscheinliche Rettung. Das Licht- bzw. Feuermotiv - in beiden einschlägigen Fällen liegt ein gewichtiger Akzent auf der Entzündung des Lichts, dem Feuerschlagen (40; r;o) - figuriert übrigens als ein verbindendes Moment zwischen den dispariten Rollen des Magisters. In seiner Empörung gegen Gott glich Buchi is Prometheus, jener mythologischen Gestalt, die den Menschen das Feuer gebracht hat. Von einer solchen Konnotation ist der alte Schulmeister wieder weit entfernt, obwohl er ironischerweise buchstäblich das gleich; tut: seinen Schutzbefohlenen die Flamme der Erleuchtung bietet, ihnen das Licht in der Finsternis zeigt - freilich in einem ganz anderen Verständnis. Somit kann der Leser im Rahmen dieser Einheit des Tuns den inneren Entwicklungsgang des Magisters verfolgen: vom Jünger und Propheten hin zu Prometheus, und von da wieder zurück zum Propheten und Jünger. W:nn ich jedoch vorhin dargelegt habe, daß das Gottvertrauen, das aus der frommen Glaubensverkündung - der verbalen wie der gestischen dieses sozusagen bekehrten Prometheus spricht, in geradezu groteskem Mißverhältnis zu den tatsächlichen Erfahrungen der Flüchtlinge mit dem Herrn Zebaoth steht, so erweist sich das - symbolisch - auch anhand des Lichcnotivs in dieser Szene. Bei genauerer Betrachtung nämlich und in Erwägung seines erörterten religiösen Hintergrunds ist die Ironie, mit der Raabc es einsetzt, unverkennbar. Dreimal wird darauf hingewiesen, daß Buchius und seine Gefährten »ihre Augen« an die Dunkelheit »gewöhnten« [zweimal 148, 149). Bei der vierten Wiederholung dieser Aussage taucht eine leichte Variation auf, die den theologischen Kontext ins Spiel bring:: »[...] die eben ihre Augen an das Licht in der Finsternis gewöhnten!« (149). Diese Lesart findet Bestätigung in Inhalt und Diktion von Vj;l. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. }6f. 119

Thedels Ausruf, der wahrhaftig das Licht in der Dunkelheit erkennt: »Es fällt, weiß Gott, auch noch Licht von oben herein« (150), ganz so, wie es der Psalmenvers behauptet: [Ps. 139,11] Spräche ich: Finsterniß mögen mich decken; so muß die Nacht auch Licht um mich seyn. [12] Denn auch Finsterniß nicht finster ist bey dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsterniß ist wie das Licht.

Die reale Erscheinungsform des »Lichtes in der Finsternis« indes erweist sich als ebenso dürftig wie die Bereitschaft des Herrn Zebaoth, den Flüchtlingen zu helfen: »Es fiel wirklich hier und da durch die übereinandergeschichteten Blöcke ein Glimmer vom grauen Morgen in die [...] Höhle« (150). Doch ist ja Buchius als Prophet berufen, die Ausstrahlung Gottes an die Gläubigen weiterzutragen, den heiligen Schein im Dunkeln zu multiplizieren: Und was das Licht anbetraf, so sollte es damit noch viel besser kommen. Es klang in der Tiefe Stahl auf Stein, die Funken spritzten, es fingen Zunder und Schwefelsticken und nun: »Salvete, hospites!« sprach Magister Buchius, mit einer kleinen Blechlaterne [...] seine Gäste und Schützlinge [...] beleuchtend [...] (150)

Gerade weil das erwähnte Bibelwort diese Deutung untermauert - »Denn du erleuchtest meine Leuchte; der HErr, mein GOtt, macht meine Finsterniß Licht« [Ps. 18,29] - muß es als böse Ironie seitens des Autors erscheinen, daß diese symbolisch aufgeladene Lampe nach kürzester Zeit wieder erlischt; ihr Schein hatte bei Buchius' Genossen ohnehin statt einer Hinwendung zu spirituellen Belangen das krasse Gegenteil bewirkt. Gleich dem Magister selbst, der schon zu Anfang des Romans in Philemons Zelle seiner Erkenntnis, daß »mehr als ein Einiges Not tue«, gefolgt ist und mit »Schulmeisterappetit« zulangte (58), ziehen auch sie jetzt der geistlichen Nahrung irdische Genüsse vor: auf Buchius' frommes »Sursum corda« hin erwidert Selinde »bissig« (!): »Wenn der Herr Magister mir eine wirkliche Kompläsance erweisen wollten, so sollten Sie lieber, solange das Licht in der Laterne reicht, in den aufgegriffenen Schnappsäcken nachsehen, was die Rappsäcke aus aller Herren Länder an Proviant mit sich hatten.« (153)

Sobald es hingegen wieder dunkel ist, muß Buchius erneut ihre »Angst [...] im Finstern« beschwichtigen. Die Worte, mit denen er es tut, enthalten jedoch einen Anklang an die biblische Beschreibung der Apokalypse:

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»Niichher scheinen die Sterne wieder in den Brunnen, oder, ich sage es besser, wir sehen noch ferner das angenehme Licht auch dieses schlimmen Tages.« (156) [OrVb.9,i] Und der fünfte Engel posaunete. Und ich sähe einen Stern gefallen vom Himmel auf die Erde: und ihm ward der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben. [2] Und er that den Brunnen des Abgrunds auf. Und es ging auf ein Rauch aus dem Brunnen, wie ein Rauch eines großen Ofens: und es ward verfinstert die Sonne und die Luft von dem Rauch des Brunnens. Die Finsternis, die in der Höhle herrscht, ist Zeichen der Apokalypse des Herrn Zebaoth. Noch sind die Flüchtlinge aus Amelungsborn ihr allerdings nicht endgültig zum Opfer gefallen: Als sie wiederum aufblickten, merkten sie, daß der schwache Schimmer des Tageslichtes, welcher durch dieselben Steinritzen in ihren Zufluchtsort einsikkerte, genügte, sie »lebendig im Grabe« bei Besinnung zu erhalten. (156) Diese Formel bringt die Situation auf den Punkt. Vor dem Strafgericht des Herrn der Heerscharen haben sich Buchius und seine Gefährten in ein jenseitiges Asyl geflüchtet, sie sind dem Tod um den Preis entgangen, »lebendig im Grabe« ausharren zu müssen, will sagen, der Magister befindet sich wieder auf dem Stand, den er zu Beginn des Romans in der Zelle des Bruders Philemon inne hatte. Ebensowenig jedoch wie er sich dort dem Wirbel von Fortunas Rad entziehen konnte, trotz seines Willens zur Ruhe in die Apokalypse des Herrn Zebaoth hineingeriet, kann die Höhle ihm nun Sicherheit vor dem Kampf aller gegen alle bieten. Der Schlacht auf dem Odfeld, dem sozusagen handgreiflichsten Ausdruck von Gottes Strafgericht, sind Buchius und seine Schützlinge zwar in der Tat vorläufig entgangen, so wie er es unter Bezug auf seine früheren Prophezeiungen ausführt: »Die Berge und Felsgesteine sind wahrlich auf uns gefallen, bedecken uns und geben uns Schutz. Horche Er, Thedel von Münchhausen, lieber Sohn, wie der Könige Zorn und Hader von ferne uns zu Häupten toset [...]« (148)*' 15

«Ihr Berge fallet über uns und decket uns, daß die Heere über uns wegtreten und wir ihren Fußtritt über uns hören, so wir uns bergen im Schöße der Erden!« (126). - »Nun sei es, wie es geschrieben steht: Es sollen wohl Berge weichen und Hügel einfallen; aber meine Gnade soll nicht von dir weichen« (143). - Buchius' Sicht der Ereignisse beruft sich immer noch auf den von ihm bei Erreichen der Höhle zitierten Bibelvers: »[Jes.54,10] Denn es sollen wol Berge weichen, und Hügel hinfallen; aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens, soll nicht hinfallen, spricht der HErr, dein Erbarmer.« (vgl. den Anfang dieses Kapitels). Dem stehen aber etliche, zum Teil in dieser Untersuchung schon angeführte Bibelstellen entgegen, die anhand desselben Motivs 121

Im kleineren Maßstab, innerhalb der Flüchtlingsgesellschaft selbst, setzt sich der Kreislauf des Schiagens und Geschlagenwerdens jedoch, wie der Erzähler nachdrücklich betont, unvermindert fort: »Dem, der uns hieher nachschleicht, dem schlage ich den Hirnkasten ein«, hatte Knecht Heinrich, wehmütig den Kopf schüttelnd, geseufzt, nachdem er, von den Förstern um König Heinrichs Vogelherd gejagt, dem alten Buchius auf die Sprünge geraten war und - sich bei ihm eingeschlichen hatte. (147)

Könnte man noch annehmen, daß diese Bemerkung, die sich ja auf frühere Zeiten bezieht, nach den schlimmen Erfahrungen des gegenwärtigen Tages für die Gruppe dieser dem Tod und der Vergewaltigung eben noch Entronnenen keine Geltung habe, so wird man bald eines anderen belehrt; das in der Rabenschlacht zur Anschauung gelangte Prinzip des Kampfes jedes gegen jeden findet Bestätigung sogar im Reden und Tun der Flüchtlinge in der sie bergenden Totenhöhle. Das stellt in verschlüsselter Andeutung Selindes unwirsche Reaktion auf Buchius' frommes Dankgebet an Gott heraus: »[...] aber rufen müssen wir doch mit dankerfülltem Gemüte Sursum corda...« »Ach, was habe ich von Seinem ewigen Sumsumkrahkrah und anderm Rabengekrächze?« ächzte die Schöne bissig. (153)

Wird durch dieses Mißverständnis das Symbol, das Zeichen des Wirbels aufgerufen - man achte auf den Gleichklang der Wörter »Rabengekrächze« / »ächzte«, der Selinde selbst zu einem Raben stempelt26 -, so folgen unmittelbar darauf seine Realisierungen. Es ist kein Zufall, daß Mamsell Fegebanck, in ihrer »bissigfen]« Äußerung fortfahrend, aufs Essen zu sprechen kommt, die Anregung gibt, in den »Schnapp[!]säcken« (153) der vonThedel ausgeplünderten toten Soldaten

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apokalyptisches Unheil verheißen. Eher unspezifisch Hos. 10,8 oder Luk. 23,30, ausführlicher und mit pointiertem Bezug zur Romansituation Mt. 24,6f. und Offb. 6,i$i. »[Mt.24,6] Ihr werdet hören Kriege und Geschrey von Kriegen: sehet zu, und erschrecket nicht. Das muß zum ersten alles geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da. [7] Denn es wird sich empören ein Volk über das andere, und ein Königreich über das andere, und werden seyn Pestilenz und theure Zeit, und Erdbeben hin und wieder. [8] Da wird sich allererst die Noth anheben.« »[Offb.6,15 ] Und die Könige auf Erden, und die Obersten, und die Reichen, und die Hauptleute, und die Gewaltigen, und alle Knechte, und alle Freyen verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen; [16] Und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallet auf uns, und verberget uns vor dem Angesicht deß, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes. [17] Denn es ist gekommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?« Wenig später legt ihr der Erzähler das Wort von der »Pechrabenschwärze«, die in der Höhle herrsche, in den Mund (158). 122

nachzusehen, ob diese ihrerseits etwas an Nahrungsmitteln gestohlen hätten. Der Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden bestätigt sich in der dann folgenden Szene, die ja wie gezeigt die Andeutung eines kannibalischen Mahls enthält; eingeleitet wird sie - wahrlich ein Beleg für des Autors rabenschwarzen Humor - durch ein Lächeln der »Schönsten von Kloster Amelungsborn«, das eigentlich ein Zähneblecken ist: »aber lächeln tat sie und wies ein beneidenswert gesundes Gebiß dabei von einem Ohre zum ändern [...]« (155). Wenn Münchhausen dazu noch ausruft: »Ja, diese verdammten Englischen! Sie haben immer das Hörn des Überflusses mit sich. Jeses, nun seh einer, was Mademoiselle Kriegsfortuna ihr in die Schwanenhände gelegt hat [...]« (155)

so erscheint die Situation vollständig ins Symbolgerüst des Odfelds einbezogen: der Name der Göttin mit dem sich unentwegt drehenden Rad verweist, zumal in der Wortverbindung mit »Krieg-« auf den andauernden, gewaltsamen Wechsel im Schicksal der Menschen, die »Schwanenhände« aber erinnern, eingedenk der erneuten Konnotation Selindes als Rabe, an ihre zeitweilige Erscheinungsform als Walküre, welchen Wesen die Möglichkeit der Verwandlung zur Schwanenjungfrau eignet, denen aber auch die Verteilung der Todeslose obliegt.27 Damit schließt sich der Kreis nun in der Tat. Denn die Gaben, die die Flüchtlinge aus Fortunas »Hörn des Überflusses«, eigentlich aber aus Selindes Händen entgegennehmen, um ihr Leben damit weiterzufristen, vertreten ja sinnbildlich das Fleisch und Blut ihrer toten Artgenossen - »>Alles blutig! Alles voll Blut!< murmelte der alte Herr schaudernd, einen Knorren angenagten, schauerlich feuchten schwarzen Roggenbrodes hinüberzeigend [...]« (i 54) -, sind jedoch gleichzeitig von tödlicher Vorbedeutung auch für sie selbst, namentlich für Münchhausen, der diesen Zyklus überhaupt erst wieder in Gang gesetzt hat. Die hier herausgearbeitete Chiffre des Kreislaufs, des Wirbels, durchzieht im Grunde die gesamte Szene. Wenn Buchius die Plünderung der gefallenen Soldaten mit dem Ausruf: »Welch ein Leben! Welch eine Zeit!« bedenkt, so antwortet Münchhausen mit beinah gleichbedeutenden Worten: »O tempora! O mores!« (153), seine gespielte Entrüstung gilt aber nicht dem eigenen räuberischen Tun, sondern dem vorangegangenen Diebstahl des nun selbst beraubten Plünderers. Die nämliche Struktur waltet hinsichtlich des Motivs der silbernen Schuhschnallen vor. Wieschen, der die ihren seinerzeit von französischen Soldaten weggenommen wurden 17

Vgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. 86ff. "3

(53)> entschädigt sich dafür jetzt durch die von dem »welschen Spitzbuben« (i 54) ebenfalls gestohlenen- das Prinzip des Wirbels erweist sich als stärker denn die demütig-christliche Abwartehaltung, die der Knopf des Herzogs Ferdinand versinnbildlicht. Es erweist sich auch als stärker im Feld der Liebe. Buchius nimmt die enthusiastische Erklärung des Schülers an »seinen besten, liebsten, tapfersten, klügsten Herrn Magister« auf »wie ein Marodebruder, der unterwegens was aufgreift und mitnimmt, uneingedenk der nächsten Kugel und ihres durch Ursache und Wirkung bestimmten Ziels. « (157). Zwar deutet dieses Bild ein tragisches Ende der erotischen Verwicklungen im Roman auch schon an, vorläufig allerdings evoziert es das Modell des Liebeskreislaufs, der sich jagenden und überkreuzenden Begehrlichkeiten, noch einmal in exemplarischer Weise. Dies erweist sich am Anfang des 19. Kapitels, wennThedel in der finsteren Höhle Selinde heißblütig auf den Leib rückt und daraufhin prompt von seinem alten Lehrer zur Ordnung gerufen wird: »[...] aber lieber Münchhausen, wenn Er da drüben keinen Platz findet, so krieche Er hier herüber zu mir her und belästige Er nicht Mademoiselle unnotwendigerweise. Hier ist des Raumes zur Genüge für Ihn und mich.« (i j8f.)

Die pädagogische Ermahnung wandelt sich zur erotischen Einladung, das Gerangel um die Plätze »in diesem dunkeln Loch« (158) wird transparent für das Im-Kreise-Schweifen der Liebesleidenschaft, einer Liebe, die sich im Falle des Magisters durch seine Anspielung auf die beiden platonischen Schriften und ihren Helden erneut als der des Sokrates verwandt zu erkennen gibt (i59).18 18

Vgl. dazu abermals die Belege bei Denkler: Wilhelm Raabe, S. 180. Wie schwer sich die ältere Forschung mit der Benennung und Interpretation des von homoerotischen Nuancen geprägten Verhältnisses von Buchius zu seinem Schüler tat, deutet sich in einem frühen Aufsatz Fritz Martinis an: Wilhelm Raabes Geschichtsdichtung, in: Zeitschrift für Deutschkunde 49 (1935), S. 16-28, hier S. 24. Martini rekurriert wohl auf die vorliegende Textstelle, versteht sie vermutlich auch in gleicher Weise, weicht seiner eigenen Deutung aber insofern wieder aus, als er entgegen dem Sinn des von ihm herangezogenen Referenztextes, nämlich Hölderlins Gedicht »Sokrates und Alcibiades«, die verfängliche Konstellation umkehrt und von einer - selbstverständlich seelengeadelten - Neigung Thedels zu seinem Lehrer spricht: »Seine [Thedels] Neigung zu dem stillen Helden und verstaubten Magister Buchius greift in tiefste Bereiche männlicher Verbundenheit und läßt wohl an das Wort Hölderlins von der Liebe des Weisen zu dem jungen und schönen Leben denken«. Möglicherweise stand ihm dabei auch - was meine Annahme bestätigen würde - die Situation in Platons »Gastmahl« vor Augen (216c - 2196). 124

Wenn selbst Buchius, seiner wiedergefundenen Frömmigkeit zum Trotz, sich am Treiben des erotischen Wirbels beteiligt, verwundert es kaum, daß auch Thedel, in strenger Parallele zur Situation in der ersten Romanhälfte, die religiös belegte Lichtmetaphorik in den Dienst seiner amourösen Absichten stellt - »Mademoiselle Selinde, o mein Licht im Dunkel« (159) -, da, wo er, um erneut mit Hagedorn zu sprechen, hingebungsvoll anbeten sollte, handgreiflich zu lieben wünscht.19 Das bestätigt sich auch durch das ihm vom Erzähler zugeordnete Vergilzitat, welches von der Liebesbegegnung des Aeneas mit Dido handelt: »Weil die geschäftigen Rotten die Tal umstellen mit Fanggarn Schutt ich hinab und errege mit hallendem Donner den Himmel Dann zur selbigen Kluft gehn Dido und der Gebieter Trojas ein.« ... (158)

Überhaupt das Irritierendste an dieser Szene ist wohl die Spannung, die sich zwischen der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Krieg und der erotischen Atmosphäre innerhalb der Höhle ergibt. Zwar finden sich auch bei Vergil unfreundliche äußere Umstände, Sturm mit Donner und Hagel und alles überschwemmender Regen, welche die Menschen schutzsuchend fliehen lassen, doch sind dies gerade die Umstände, die nach Junos Willen Dido und Aeneas zur Liebeserfüllung führen sollen. Im Odfeld gewinnen sie allerdings einen anderen Charakter, wandeln sich - »schwarzes Gewölk« (IV. 120), »hallende[r] Donner« (IV. 122), »Sündflut« (IV. 164) - zu Metaphern der Apokalypse, die, der realen Gefahr für die Flüchtlinge durch die Soldaten beigesellt - »Weil die geschäftigen Rotten die Thal' umstellen mit Fanggarn« (IV. 121) -, jeglichem Liebes- und Glücksverlangen entgegenstehen.30 Eine weitere Abweichung der angesprochenen Romansituation von Vergil besteht darin, daß die Geschlechterrollen vertauscht sind. Strebt im antiken Epos die Frau, Dido, die erotische Verbindung an, so übernimmt hier Münchhausen, der jugendliche Liebhaber, den aktiven Part, wohingegen Selinde durch ihr passives Verhalten sich dem Vorbild des Trojanerhelden zuordnet. Auf eine derartige Verkehrung stimmt schon der prononcierte Hinweis des Erzählers ein, nicht der in solchen Dingen notorische Zeus, sondern seine Gattin Juno sei die Initiatorin des Ganzen (158). Der 19 30

Vgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. 3/ff. Die Zitate folgen der Raabe offenbar vorliegenden Übersetzung der Aeneis von Voß: Des Publius Vergilius Maro Werke von Johann Heinrich Voss, Bd. 2,3: Äne'is. Zweite verbesserte Ausgabe. Braunschweig 1821, Bd. 2, S. 2i7ff. Vgl. zu dieser Szene auch Killy: Geschichte gegen die Geschichte, S. 236. 125

Rollenwechsel der beiden Figuren bezieht sich auf die Negation von Thedels Liebesutopie im ersten Teil des Romans, die gleichfalls auf dem Hintergrund einer Geschlechtsumwandlung anschaulich wurde.31 Dieser Rekurs scheint mir ein erneuter Hinweis zu sein auf die universale Gültigkeit des Traums vom erotischen Glück im Odfelä, dem die Romanfiguren unentwegt nachstreben, auch wenn die Wirklichkeit dieses Streben von vornherein zur Aussichtslosigkeit verurteilt. Ebenso dürfte die Tatsache, daß in diesem Roman nun schon zum zweitenmal ein Liebesverhältnis des Aeneas angespielt wird, nach dem zu Creusa, für welches gleichfalls Thedel und Selinde einstanden, jetzt das zu Dido, erneut unterstreichen, daß es Raabe im Odfeld nicht bloß um jeweils einzelne erotische Beziehungen geht, sondern um die Utopie der Liebe überhaupt. Ihr steht im Roman allerdings die Apokalypse des Herrn Zebaoth entgegen, die sich jenseits ihrer Erscheinungsform als martialische Bedrohung für arkadische Träume auch im Geschlechterverhältnis selbst, im Liebeswirbel, zeigt und die nachdrücklichste Differenz zu der vergilischen Episode hervorruft: Didos Leidenschaft findet Erfüllung, die Thedels nicht. In stimmiger Parallele scheinen sich dagegen wieder die Ermahnungen Thedels durch Buchius und Aeneas' durch Merkur zu befinden - haftet dem Magister doch noch von seinem Übergang über die Lenne her die Konnotierung als Hermes an und will er nun den liebesdurstigen Junker ebenso auf »Heldenart« (i $9) einschwören, wie es Zeus' Bote in der Aeneis mit dem Trojaner tut. Aber wenn Buchius auch Merkur vorstellt, so doch keineswegs den Gesandten des Göttervaters, vielmehr traf ihn ja die Bezeichnung des Todesboten, des Totenführers, was paradoxerweise sogar die vergilische Beschreibung, im Kontext des Odfelds gelesen, pointiert: Jezo fasst er den Stab, der erblichene Seelen vom Orkus Aufruft, oder hinab in den traurigen Tartarus sendet, Schlummer giebt und enthebt, und vom Tod' auch die Augen entsiegelt. Hiermit treibt er herrschend die Wind', und durch wirrige Nebel Schwimmet er.3*

Mit einem Wort: das Streben nach Realisierung der erotischen Träume führt im Odfeld in den Tod, die Utopie der Liebe wird vor dem Strafgericht des Herrn Zebaoth zunichte, und was anfangs noch ein, wie auch immer geartetes, Asyl, einen Schutzraum vor der Apokalypse zu bieten schien, die Höhle, wird zuletzt von den Flüchtlingen freiwillig verlassen, finden sie 31 }1

Vgl dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. 6of. Des Publius Vergilius Maro f...] Äne'is von Voss, Bd. 2, S. 227 (IV. 242-246). 126

doch dort die gleichen Bedingungen vor wie außerhalb, wo sie - im Exil dem Zorn Gottes und seinem Weltgesetz des unablässigen Kampfs aller gegen alle ausgeliefert waren.33 Zumal sich in dem unterirdischen Zufluchtsort neben den vorhin beschriebenen Manifestationen des Wirbels im Verhalten der Flüchtlinge untereinander gleichermaßen das höchsteigene Eingreifen des Herrn der Heerscharen - mit »oberste[r] Hand« (109) - in den Kreislauf des Schiagens abzeichnet. Angedeutet wird das schon in des Magisters Reminiszenz an das Schicksal des verjagten Königs Gariomer. Weniger die Tatsache seiner Vertreibung selbst als vielmehr die Lautung von Buchius' Worten ist es, die Wieschen erschrecken läßt - »Uh Jeses, Heinrich, hörst du das, und gruselt's dir da nicht noch mehr?« (160) -, unterstreicht sie doch in ihrem Anklang an Rabengekrächz die universale Geltungskraft des apokalyptischen Prodigiums vom Anfang der Geschichte, das Ausgeliefertsein nun eines anderen Flüchtlings, in dessen Schicksal sich das eigene jedoch unverhüllt spiegelt, an die Macht des grausamen Herrn Zebaoth: »Chariomerus autem rex Cheruscorum a Chattis imperio suo eiectus« (160). Die anderen tun den unreflektierten Schauder der Dienstmagd leichthin ab, ohne im geringsten zu merken, daß in ihren eigenen Worten ähnlich unheilvolle Anspielungen verborgen liegen. Wenn Münchhausen etwa auf die Ermahnung des Magisters hin antwortet, er habe sie gehört »wie die, welche am Ohrenklingen leiden, das ganze Gehör voll Pauken, Flöten und Trompeten haben« (159), so verweist die übermütige Erwiderung auf eine die Lage der Flüchtlinge in krasser Direktheit beschreibende Stelle des Jeremias: (Jer. 19,3] So spricht der HErr Zebaoth, der GOtt Israels: Siehe, ich will ein solches Unglück über diese State gehen lassen, daß, wer es hören wird, ihm die Ohren klingen sollen [.. .][?] Denn ich will den Gottesdienst Juda und Jerusalems dieses Orts zerstören, und will sie durch das Schwerdt fallen lassen vor ihren Feinden unter der Hand derer, so nach ihrem Leben stehen, und will ihre Leichname den Vögeln des Himmels und den Thieren auf Erden zu fressen geben; [8] Und will diese Stadt wüste machen und zum Spott, daß alle, die vorüber gehen, werden sich verwundern über alle ihre Plage, und ihrer spotten. [9] Ich will sie lassen ihrer Söhne und Töchter Fleisch fressen, und einer soll des ändern Fleisch fressen in der Noth und Angst, damit sie ihre Feinde und die, so nach ihrem Leben stehen, bedrängen werden.

33

Darauf wurde in der Forschung schon mehrfach hingewiesen. Vgl. Heldt: Isolation und Identität, S. 228f., oder Limlei: Geschichte als Ort der Bewährung, S. 3ein Einsehen«: »Er hielt wenigstens an dieser Stelle [...] seine gütige Hand über die gejagte Kreatur« (195). Was wie ein Schutzversprechen klingt, hat jedoch seine Implikationen. Die Formulierung von der »Hand Gottes« über den Vertriebenen stellt den Bezug zu des Magisters gleichlautender, glaubenssatter Äußerung in dem vorherigen Asylraum her (vgl. 148) und etabliert somit eine Parallele zwischen dem Katthagengehölz und der Totenhöhle am Ith. Diese unterschwellige Gleichsetzung gewinnt Berechtigung insofern, als der jetzige Aufenthaltsort der Flüchtlinge in der Tat ebenfalls ein Ort des Todes ist. Das kann man erkennen an der Beschreibung der Stellung, die die Romanfiguren daselbst einnehmen, nämlich »auf einem gefällten Baumstamm aneinandergedrückt kauernd wie die Krähen auf dem Dachfirst« (195). Dem Volksglauben nach ist es ein Todesvorzeichen, wenn Rabenvögel sich auf Hausdächern niederlassen;6 hier sitzen Buchius und seine Gefährten auf einem »gefällten« »Eichenstamm« (195). Dennoch hat ihre Pose die gleiche Bedeutung, ist die Eiche doch schon von der Philemon-

6

Vgl. dazu Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. v. Hanns Bächtold-Stäubli u.a., Bd. 7, Berlin und Leipzig 1935/36, Sp.445ff., Art. »Rabe« (Peuckert), sowie Bd. 5, ebenda 1932/33, Sp. 3611., An. »Krähe« (ders.). 146

und-Baucis-Erzählung herThedel zugeordnet,7 dessen Tod also insgeheim die Szene im Katthagen-Asyl bestimmt. Abgesehen davon ruft ja allein seine bloße Abwesenheit eine An totenähnlicher Erstarrung bei den vier Flüchtlingen hervor. Wie schon in der Höhle verharren sie jetzt ebenfalls stumm nebeneinander, ohne »ein überflüssig Wort für den Nachbar« (195) übrig zu haben; zudem geht der Gruppe nun jegliche erotische Spannung ab, und es wird auch nichts gegessen - beides Zeugnisse der Vitalität, für die vormals der jugendliche Junker mit Leib und Leben einstand. Von daher verwundert es nicht, daß Wieschen - gleichermaßen eine Parallele zum vorherigen Asyl - den Zufluchtsort schließlich als Bedrohung empfindet und vorschlägt, ihn zu verlassen: »Lieber auch tot als so lebendig hier im Busch und draußen unter den toten Menschen!« (199). Daß der Raum des Katthagengehölzes darüber hinaus auch symbolisch vom Tod geprägt ist, von demThedels nämlich, was sich über den gefällten Eichenstamm andeutet, wird wenig später von der Ausdrucksweise des Erzählers bestätigt, der in personifizierender Rede davon spricht, daß »der kalte Novemberwind« (198) den Schutzort durchweht: »Hui, Kameraden, hinein in den Katthagen und Busch und Baum in die Frisur und dem alten Kollaborator von Amelungsborn, dem Magister Buchius, bis in die Knochen« (198). Die Vermenschlichung der Pflanzenwelt - »Frisur« - ist ein hintergründiger Hinweis darauf, daß umgekehrt Münchhausen sich in einem Baum versinnbildlicht. Der boreadische Wind aber, der die Bäume im Katthagen verheert, möglicherweise auch den »Eichenstamm« »gefällt[ ]« hat (195), stellt nichts anderes vor als Gottes Sturm, die in diesem Roman vielfach begegnende Metapher für die Apokalypse des Herrn Zebaoth. Wie schon die Höhle ist auch dieser Fluchtort keineswegs dem allgemeinen Unheilsgeschehen entzogen, ja er wird sogar, in Verkehrung seiner ursprünglichen Markierung, zum bedeutungsträchtigen Schauplatz, da sich das absolute und hilflose Ausgeliefertsein der Menschen an den bösartigen Herrn der Heerscharen, ihre vollständige metaphysische Verlassenheit, endgültig bekundet. Zwar verlagert sich die Romanhandlung alsbald wieder auf das titelgebende Odfeld, wo mittlerweile Thedel gefallen ist - der schlimmste Ausdruck eines solchen Zustands der Welt -, was diesem Platz eine ähnliche oder gar noch gesteigerte symbolische Bedeutung verleiht; das zeichenhafte Verhängnis erscheint jedoch schon ganz und gar vorweggenommen am angeblichen Ort der Geborgenheit, dem todesumwitterten Asyl im KatthaVgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. 56. 147

gen. Im Zusammenhang mit der Beschreibung des dort wehenden, verderbenbringenden Windes macht der Erzähler die Bemerkung: »Es war Herbst, und es wollte Winter werden und augenblicklich auch noch Abend dazu« (198). Das ist eine Anspielung auf die berühmte Formulierung im Lukas-Evangelium aus dem Gespräch der beiden Emmaus-Jünger mit dem wiederauferstandenen Christus: [Luk. 24,29] Und sie nöthigten ihn, und sprachen: Bleibe bey uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget. Und er ging hinein, bey ihnen zu bleiben.

Im Odfeld hat sich Ferdinand, der »falsche Christus« nicht geopfert, schon gar nicht kann er nach einem heilbringenden Tod dem auf ihn Hoffenden, seinem Jünger Buchius, erscheinen und das Abendmahl mit ihm teilen. Diese Differenz zur Bibel unterstreicht die Allusion. Statt eines Zeichens der Wiederkunft Christi findet sich im Roman jedoch eines der Apokalypse, der Wind, ja die zitierten Worte gewinnen gar eine doppelte Bedeutung, indem sie zwar durchaus auf den Bericht des Lukas, gleichzeitig aber auch auf die Schreckensreden des Propheten Jeremia verweisen: Qer. 6,2] Die Tochter Zion ist wie eine schöne und lustige Aue. [3] Aber es werden Hirten über sie kommen mit ihren Heerden, die werden Gezelte rings um sie her aufschlagen, und weiden ein jeglicher an seinem Ort [und sprechen:] [4] Rüstet euch zum Kriege wider sie; wohlauf, laßt uns hinauf ziehen, weil es noch hoch Tag ist; ey, es will Abend werden, und die Schatten werden groß; [5] Wohlan, so laßt uns auf seyn, und sollten wir bey Nacht hinauf ziehen, und ihre Palläste verderben. [6] Denn also spricht der HErr Zebaoth: Fället Bäume, und macht Schütte wider Jerusalem; denn sie ist eine Stadt, die heimgesucht werden soll. [...] [8] Bessere dich, Jerusalem, ehe sich mein Herz von dir wende, und ich dich zum wüsten Lande mache, darinnen niemand wohne.

Das »wüste Land« des Zitats evoziert, wie schon mehrfach erläutert, das Odfeld, die Aufforderung hingegen, »Bäume zu fällen«, an und für sich ein eher unmaßgeblicher Bestandteil des über Jerusalem hereinbrechenden Strafgerichts, bezieht sich im Kontext des Romans gelesen auf den ebendort erfolgenden Tod Münchhausens - man denke an den »gefällten« »Eichenstamm«. Die entscheidende metaphysische Valenz erhält dieses sicherlich traurige doch andererseits keineswegs welterschütternde Ereignis jedoch durch die Kennzeichnung des toten Junkers als »Menschensohn« (205). Dies macht freilich die Verkehrung der bei Lukas beschriebenen Situation komplett. Statt von einer erlösenden Auferstehung des Messias wird im Odfeld von seinem unwiderruflichen Tod berichtet. Zwar fällt dieser Heiland, anders als die »falschen Christi« Buchius und Ferdinand, wirklich 148

seiner tödlichen Bestimmung anheim, endet als Opfer, doch istThedel eben ein »Menschensohn« in des Wortes einfachster Bedeutung, nämlich in der Tat ein Mensch, dessen Tod niemand hilft, geschweige denn die Welt insgesamt errettet. Indessen hat Raabe bei der Zeichnung Thedel Münchhausens und des Geschehens um ihn durchaus Hinweise angebracht, die erkennen lassen, daß diese Figur, wenn sich in ihr schon kein richtiger Messias verkörpert, sie doch an dessen Stelle gesetzt ist - mit den oben genannten Konsequenzen. Neben der eindeutigen Bezeichnung als »Menschensohn« (205) vgl. z. B. Mt. 8,20; 9,6; u.ö. - wäre noch anzuführen die allerdings nur vermutungshalber zu erschließende Übereinstimmung des Zeitpunkts, an welchem der Junker stirbt, mit der Todesstunde Christi: »um die neunte Stunde« [Mt. 27,46]; das ist: drei Uhr nachmittag. Im Odfeld heißt es, von der Perspektive der vier Flüchtlinge aus gesehen: Nach drei Uhr nachmittags wurde es ganz still. So still, daß es fast zu einem neuen Schrecken wurde. Nur die Rauchwolke vom brennenden französischen Lager bei Stadtoldendorf stieg noch immer auf f...] (198)

Man kann, wie gesagt, nur vermuten, daß es um diese Stunde ist, da Thedel seinen Geist aufgibt, und es wären dann die beschriebenen äußeren Umstände - beunruhigende, unnatürliche Stille und die aufsteigende Qualmwolke am Horizont - ein fernes Echo der erschreckenden Ereignisse, die den Tod des tatsächlichen Erlösers begleiteten: [Mt. 27,45] Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsterniß über das ganze Land, bis zu der neunten Stunde. [...] [51] Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwey Stücke, von oben an bis unten aus. [52] Und die Erde erbebete, und die Felsen zerrissen, und die Gräber thaten sich auf, und standen auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen, (vgl. Luk. 23,44f.)

Wenn es sich denn so verhält, spiegelt dieses Echo im heiklen Gleichgewicht von einerseits annähernder Parallelität und andererseits deutlicher Abschwächung das Verhältnis von wirklichem Christus und wirklichem »Menschensohn« ein weiteres Mal trefflich wider. Gesicherter erscheint der Umstand, daß Thedel, wenn ihn der Erzähler als »junge[n] Curtius« (170) bezeichnet, in der Tat die Rolle eines Erlösers zugesprochen bekommt, der für das Gemeinwohl sein Leben hingibt. Einige Passagen der Romanhandlung fügen sich dieser Lesart, die Münchhausen mit dem Messias gleichsetzt, ebenfalls. So offenbart sich das Durchwaten der Lenne, zu dem Buchius den Junker auffordert - »>Wir können [...] nicht hier weilen, Dieterich von MünchhausenHindurch!Das Odfeld< durch Verschränkungen des Tagesgeschehens mit jahrtausendealter Erfahrungslast und durch die plastisch evozierten Geschicke seiner kaum orientierungsfähigen, passiven Helden ein beklemmendes Bild der wehrlosen Geschichtsunterworfenheit der Menschen und der beständigen Sinnlosigkeit all ihres kriegerischen Projektierens.« Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft, konstatiert lakonisch, daß das »Ofeld« gewißlich »zu Raabes pieces noires« zähle (S. 243). 175

daß ein mehrmaliger Szenenwechsel von außen nach innen und umgekehrt den Handlungsverlauf des Romans bestimmt, sowie ferner, daß das Geschehen außerhalb stets auf dem Odfeld lokalisiert ist, jenes innerhalb zweimal in der Zelle des Magisters und einmal in der Höhle spielt, wozu noch der nicht ganz eindeutige Raum des Katthagengesträuchs kommt. Etwas schematisiert könnte das so aussehen:

Oben (Innen)

(Außen) h I.Kap. 3. Kap. 5. Kap.

B.Kafr

l S.Kap.

25i1(ap.

25. Kap.

:.Kap.) (Katthagen)

Unten (Innen)

Höhle

Motor dieses häufigen Ortswechsels sind die Wünsche und Sehnsüchte der Romanfiguren. Alle drei Hauptgestalten träumen sich im wahrsten Sinn des Wortes von innen nach außen, aus dem Kloster hinaus aufs Odfeld: Buchius im neunten, Selinde im zehnten Kapitel und von Thedel erfährt man gar, daß er »hundertmal im Traum über [das] Odfeld geritten« sei (186). Diese Wunschträume werden sämtlich enttäuscht, sei es schon im Traum selbst, sei es in symbolischer Vorwegnahme durch ihren jeweiligen Bezug auf das unheilvolle Rabenprodigium, sei es schließlich nach ihrer Verwirklichung in der anti-utopischen Realität.3 Jedenfalls ändern sich auf dem Odfeld die Bedürfnisse und Absichten der Protagonisten dergestalt, daß sie sich nun nach der Ith-Höhle wenden, einem der Zelle des Magisters strukturell ähnlichen Innenraum. Von dort verlangt es sie wieder ins Freie, sodann suchen sie von neuem Schutz im Katthagen, den sie aber gleichfalls nach kurzer Zeit verlassen usw. Diesem permanenten Hin und Her zwi3

Vgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon. 176

sehen Innen- und Außenräumen liegt als Voraussetzung zugrunde, daß das Odfeld, über dem sich die zeichenhafte Rabenschlacht ereignet hat, der Ort des Lebenswirbels schlechthin ist, der Jagd nach dem Glück, die jedoch auch als Kampf aller gegen alle oder gar als apokalyptisches Strafgericht des Herrn der Heerscharen erscheinen kann. Nach diesem symbolischen Ort treibt es die Romangestalten allesamt, bis sie, von den Auswirkungen der Apokalypse bedroht, einen Ruhepunkt im Wirbel suchen, einen Raum, der ihnen angesichts des Kampfes aller gegen alle Schutz und Geborgenheit verheißt. Dies ist das durchgehende Charakteristikum der Innenräume, der Zelle wie der Höhle und auch des Dickichts im Katthagen. Allerdings entspricht diesen Schauplätzen, gerade weil sie dem vitalen Treiben entzogen sind, ein Zustand totenähnlicher Erstarrung, könnte man sie doppelsinnig Stätten der Abgeschiedenheit nennen - Selinde wimmert in der dunklen Höhle: »'s ist wie lebendig begraben!« (156) -, so daß die des Lebenswirbels eigentlich Müden schleunigst danach trachten, ebendorthin, in den Tumult und den Taumel der Aktivität zurückzugelangen: »Hier hocken wir, Hans und Hannchen, im Keller und erzählen einander dumme Spükegeschichten, und draußen bringen sie die Welthistorie zum Austrag, ohne daß einer von uns drauf acht gibt« (169). Die Spannung, die sich in diesen Bewegungsabläufen ausdrückt - sie entsteht aus der Diskrepanz zwischen der verschatteten Ruhe des weltflüchtigen Asyls und der Vorstellung von einem erfüllten Leben, zwischen der vom Kampf ums Dasein geprägten Situation des Exils und dem Wunschtraum des Zu-Hause-Seins, der Utopie von Heimat -, diese Spannung wirkt in der Tat als unaufhörlich stimulierender Impuls dem sinnlosen Stillstand entgegen, den ich vorhin als pauschalen Eindruck, der sich nach der Lektüre des Odfelds aufdränge, nannte. Allerdings läßt sich nicht leugnen, daß die Kraft dieser Anstöße augenscheinlich ohne Auswirkung verpufft, die durch sie erzeugte Dynamik ebenso fruchtlos bleibt wie die Stagnation, die sie eigentlich überwinden soll, fügt sich das durch sie hervorgerufene Hin und Her der Romanfiguren doch unversehens derselben Kreisfigur, die der Erzähler als bestimmend für den Verlauf der Menschheitsgeschichte überhaupt ins Spiel gebracht hat. Ein Blick auf den durch die ausgeklügelte Kapiteleinteilung hindurchschimmernden Aufbau des Romans kann diesen Befund stützen. Vergegenwärtigt man sich das vorhin skizzierte Schaubild des räumlich gegliederten Handlungsverlaufs, so springt zunächst ins Auge, daß die OdfeldAbschnitte (3., 13., 23.) regelmäßig in Intervallen von 10 Kapiteln angeord1/7

net sind.4 Für die beiden Zellenkapitel (5., 25.) gilt die doppelte Entfernung von 20, das Höhlenkapitel (18.) liegt allerdings nicht in ihrer Mitte, was gleichfalls einem Zehnerrhythmus entspräche - es ist leicht nach hinten verschoben. Hingegen markiert es genau die Mitte zwischen den letzten beiden Odfeldkapiteln (13., 23.), von ihnen jeweils durch eine Distanz von 5 getrennt. Das erste Zellenkapitel (5.) nimmt wiederum keineswegs die Mitte zwischen den zwei früheren Odfeldkapiteln (3., 13.) ein, der Abstand zum ersten beträgt 2, der zum zweiten 8, doch ergibt die Summe dieser beiden Zahlen ja ebenso 10 wie die der beiden vorhergenannten aus dem zweiten Teil des Romans (j + 5). Genau in der Mitte befindet sich wiederum das 8., das Auftrittskapitel Thedels, in welchem dieser, von außen her kommend, ins Kloster eindringt.5 Dem ist noch hinzuzufügen, daß der Abstand jeweils des ersten und des letzten Odfeldkapitels (3., 23.) zu den beiden Zellenkapiteln ($., 25.) in beiden Fällen 2 ausmacht, wie es der parallelen Situation auch entspricht. Ein Schaubild, das diesmal die Abstände zwischen den Kardinalpunkten des Romangeschehens angibt, mag diese Ausführungen verdeutlichen (s. S. 179). Der Aufbau des Odfelds präsentiert sich demnach wie folgt: Der Roman besteht aus zwei Teilen, die symmetrisch um das 13. Kapitel, das mittlere Odfeldkapitel, angeordnet sind. Der erste Teil zerfällt nach der Einleitung in zwei ungleiche Partien, von denen die erste (2)^ die Voraussetzungen dessen schildert, was die zweite (8) im einzelnen ausmalt: die erotischen 4

Die Zahlen beziehen sich im folgenden auf die Romankapitel. ' Wie genau es Raabe bei diesem Roman auf die numerierte Kapiteleinteilung ankam, läßt sich erstens daran erkennen, daß einige unzusammenhängende Notizen, die offenbar einer ziemlich frühen Entstehungsphase des Romans angehören, das Eindringen Thedels in das Kloster bereits dem »8. Kapitel« zuordnen, was bedeutet, daß Raabe einen genauen Entwurf vorliegen haben mußte. Vgl. Oppermann: Kommentar, S-4Oof. Zum zweiten ist dies an der Empörung des Autors über eine eigenmächtige Textkorrektur seines Verlegers abzulesen, die dahin ging, die Kapiteleinschnitte zu verwischen bzw. zu verschieben: »[...] einen großen Schrecken haben Sie mir durch Ihren Vorschlag einer neuen Kapiteleintheilung gemacht. Dadurch würde das Buch ein ganz anderes, und mir eine jahrelange Arbeit über den Haufen geworfen. Verehrtester Herr, ich schaffe meine Werke, so gut, oder schlecht sie sein mögen, als ein Poet und ich stehe für die Richtigkeit m e i n e r Eintheilung![...] Die Theile sind nicht willkürlich gemacht und müssen so bleiben wie sie sind. [...] Auch habe ich nichts dagegen, daß dieTheilung durch römische Zahlen I-XXV gemacht wird; aber diese fünfundzwanzig Abschnitte müssen bestehen, wie sie der Dichtung angemessen sind.« Brief Raabes an den Verleger Elischer vom 12.2. 1888, zitiert nach Oppermann: Kommentar, S. 414^ 6 Die nun folgenden Zahlen in Klammern bezeichnen die Abstände zwischen den Kapiteln, also die Differenz ihrer Numerierung. 1/8

Oben (Innen)

Zelle

Zelle

Realität während der Schlacht

(Außen) l I.Kap. 3.Kap. 5.Kap.

Unten (Innen)

Konsequenz nach der Schlacht

25. Kap.

Höhle

Sehnsuchtsvorstellungen der drei Hauptgestalten und ihr jeweiliges Scheitern.7 Der zweite Teil gliedert die Empörung Magister Buchius' gegen Gott ( j) sowie die Phase seiner neuerlichen Frömmigkeit (5) in zwei gleichlange Sequenzen, die ebenmäßig das 18. Kapitel einrahmen, um sodann mit einem letzten Abschnitt (2) auszuklingen, der, vom Inhalt her ohnehin etwas uneindeutig, eine Entsprechung zur allgemein gehaltenen Einleitungspassage (2) bilden könnte. Somit hätte man als Struktur: 3 + 10 + 10 +2 (* + 8) (5 + 5) bzw. wenn man statt der Anzahl der Kapitel die Abstände dazwischen, die Differenz ihrer Numerierung, nimmt, die vollkommen symmetrische Aufteilung:8 2 + 10 10 + 2

(i + 8) (5 + 5) Daß es sich, wenn auch einigermaßen ähnlich, doch nicht ganz genauso verhält, liegt an der augenfälligen Parallelität der Abschnitte 3. - 5. und 23. 25., die beidesmal den Weg vom Odfeld zur Zelle beschreiben. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes scheint sich mir die Struktur des Odfelds nämlich dieserart darzustellen. Nach der Einleitung folgt die RomanVgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon. Das entspricht in etwa dem von Killy: Geschichte gegen die Geschichte, S. 239^, vorgeschlagenen Schema.

179

Handlung einem Zyklus, der durch das 13. Kapitel in zwei gleiche Segmente geteilt wird, 3. - 13. und 13. - 23., die ihrerseits, wie schon beschrieben, zerfallen; der letzte Abschnitt 23. - 25. mündet in Parallele zu dem ersten 3. - 5. wieder in die schon einmal durchlaufene Figur. Zur Veranschaulichung dieses Aufbaus kann, wie sich oben andeutet, eine Sinuskurve dienen oder gleicherweise ein Kreis:

Zelle

Zelle

Kap. 25. Kap.

3.Kap. 5.Kap

Höhle

(8. Kap.)

Zelle 25. Kap., 5. Kap,

Odfeld 13. Kap.

Odfeld 23. Kap., 3. Kap.

Höhle 18. Kap.

180

In Zahlen drückt sich diese Anordnung so aus: 3 + 10 + 10 + (2 + 8) (j + s) (2 + y) Beide, die Sinuskurve sowohl als auch der Kreis, beschreiben unendlich oft dieselbe Linie; dazu kommt, daß in den Einleitungskapiteln des Romans mit Nachdruck auf das angeblich Immergleiche, das Zyklische des menschlichen Geschichtsverlaufs hingewiesen wird, sowie des weiteren Buchius' Schlußwort, mit dem er den Raben entläßt, damit er von neuem »hin und her« (220) fliege. Dies alles zusammen legt die Folgerung nahe, die Unbekannten aus der Strukturformel des Odfelds seien in Wirklichkeit gar keine, vielmehr bezeichne das y bloß die längst vorgegebene Verlängerung des Ansatzes 23. - 25. zu einem weiteren kompletten Bogen x, der sich abermals fortsetze, bis die Figur des sich in unaufhörlicher Wiederholung seiner selbst erschöpfenden Kreises vollständig sei. Dagegen möchte ich zu bedenken geben, daß die oben erwähnte inhaltliche Uneindeutigkeit gerade des letzten Abschnitts 23. - 25. geeignet ist, einen solchen Schluß zu unterminieren. Daß die Handlung des Odfelds sich im Kreis bewegt, ist nicht zu bestreiten; wie aber, wenn diese Struktur des Romans, statt Ausweis eines unfruchtbaren Pessimismus zu sein, dazu diente, die Hauptgestalt, Magister Buchius, zweimal dieselben Stationen (Odfeld, Zelle) passieren zu lassen, um hierdurch zu verdeutlichen, welche Veränderungen sich in der Zwischenzeit mit ihr zugetragen haben? Wie also, wenn der vermeintliche Kreis des Althergebrachten, des Immergleichen sich zu einer grundsätzlich offenen, in eine neue, noch unbekannte Zukunft führende Spirale erweiterte? Um diese für die Problemstellung des Odfelds in der Tat entscheidende Frage zu klären, bietet sich ein eingehender Vergleich der betreffenden Schauplätze an. Hierzu halte ich die Innenräume für zweckmäßiger; einmal, weil der Roman mit einer in der Klosterzelle spielenden Szene endet, die demnach tendenziell den Charakter eines Ausblicks hat, am ehesten richtungsweisend für eine virtuelle Fortschreibung des Geschehens sein dürfte, sodann wegen des schon einmal erörterten symbolischen Zusammenhangs von Interieur und Innenleben der Hauptfigur, des unterschwelligen Hinweises auf die jeweilige Weiterentwicklung des Konflikts zwischen Magister Buchius und dem Herrn Zebaoth, welcher der Eigenart und dem Zustand der diversen Innenräume zu entnehmen ist. Daher möchte ich die Signifikanz folgender Schauplätze untersuchen: der Zelle des Bruders Philemon, und zwar zu Anfang und zu Ende der Romanhandlung, der Höhle am Ith, sowie, etwas außer der Reihe, des Dickichts im Katthagen. 181

Sieht man von der letzten Szenerie einmal ab, so springt bei den übrigen Räumen zunächst ihre auffällige Gleichartigkeit ins Auge. Das ist im Falle der Klosterzelle nicht weiter verwunderlich, handelt es sich doch da zweimal um denselben Ort; allerdings wird der erst nachträglich richtiggestellte Umstand, daß sie das wechselvolle Geschehen unverändert überdauert habe, ja besonders hervorgehoben. Frappierender sind die weitreichenden Übereinstimmungen zwischen der Zelle, wie sie sich im ersten Teil des Romans präsentiert, und der Höhle. Beide Lokalitäten dienen dem Magister als »Asyl« (407150) und beide beherbergten schon einmal in mehr oder weniger großem zeitlichen Abstand andere Einsiedler, denen sich Buchius eng verbunden fühlt: Der Troglodyt, der vor ungezählten Jahrtausenden den heimeligen Ort für sich eingerichtet hatte [...] und der Vorgänger in der Zelle des letzten Kollaborators von Amelungsborn, der letzte katholische Mönch, Bruder Philemon, sie waren beide für den Magister Buchius in mancher trübseligen Stunde wie lebende gute, teilnehmende Stubengenossen gewesen in den Ithklippen wie im Kloster. (151)

Stets sind die Räumlichkeiten bei Buchius' Eintritt - einmal allein, das andere Mal in Begleitung - »dunkel« (39/148), worauf der Akt des Lichtanzündens besonders ausführlich geschildert wird (40/150). Thedel nähert sich sowohl der Zelle als auch der Höhle, Liebeslyrik deklamierend (68/ 146), er bringt da wie dort ein begeistertes »Vivat« auf seinen alten Schulmeister aus (72/146 bzw. 156), doch gelten seine tatsächlichen Liebesabsichten in beiden Fällen Selinde. Selbst das ironische Spiel mit der Überführung des Bildes vom »Licht in der Finsternis« aus dem religiösen in den erotischen Bereich, das Münchhausens entschlossenes Vorhaben, nunmehr zu lieben, statt weiterhin bloß anzubeten (66f.),9 illustriert, kehrt in der IthGrotte wieder: nachdem Buchius' Laterne, deren Leuchten erneut von dem Bibelwort gespeist wird, verlöscht, erhellt Thedel die Finsternis mittels erotischer Lichtmetaphern: »Mademoiselle Selinde, o mein Licht im Dunkel! [...] je finsterer die Hölle, desto heller meine Sonne; je kälter der Keller, desto heißer meine Amour! ...« (159). In diesem Zusammenhang fällt auch zweimal ein Zitat aus Vergil (75/158), I0 der Junker wird zweimal durch den Hunger von seiner Liebe abgelenkt (78^/153), und er verläßt

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Vgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. 36ff. Die Selbstbezeichnung Thedels als »Corydon« (75) rekurriert auf Vergils 2. Ekloge. Vgl. dazu ebenda, S. 78ff. 182

regelmäßig den Raum in aufgeregter Hast (9 5 f. 7169), wobei ihm Buchius folgt und in die Hände ausländischer Soldaten gerät (105/171). In der Höhle ist ebenso von Wieschens Schuhschnallen die Rede wie in Philemons Zelle (53/154), krächzt dort ein wirklicher Rabe, wird hier Selinde durch das Latein des Magisters an »Sumsumkrahkrah und andres Rabengekrächze« erinnert (46,56,59 u.07153), schließlich ruft die Erwähnung desTroglodyten und seines Topfes (151) auch den zentralen Bestandteil von Buchius' Interieur auf, das Museum (42f.). Selbst das Gespräch der Flüchtlinge in der Höhle erinnert an die Beschäftigung des Magisters am Vorabend in seiner Wohnung: einmal ausgehend von den abenteuerlichen Überlegungen des Pastors Dünnhaupt (i6if.), das andere Mal auf den pseudowissenschaftlichen Untersuchungen des Schloßpredigers Kampf basierend (45), handelt es sich in beiden Fällen um Erzählungen voller übernatürlicher Phänomene und Anzeichen, um Spukgeschichten und Todesankündigungen, die hier wie dort auf das reale Erscheinen Thedel Münchhausens zulaufen (63 bzw. 67/165^). Aus diesen Anführungen ergibt sich, daß die Innenräume des Odfelds strukturell tatsächlich von gleicher Art sind, ja über eine solche Typisierung hinaus wirken sie, selbst was Details betrifft, einander so sehr angenähert, daß - in der symbolischen Übertragung auf das Roman-, sowie in weiterer Perspektive auf das historische Geschehen - der Eindruck von Stagnation, von notwendigem Ausbleiben jeglicher Veränderung sich unfehlbar einstellt. Der Anschein von Unberührtheit, von völliger Identität mit ihrem Zustand vor den Kriegsereignissen, den die Zelle Philemons am Ende der Romanhandlung hervorruft, wäre geeignet, diese Auffassung zu unterstützen - erwiese er sich denn nicht als trügerisch. In Analogie hierzu drängt sich somit auf, jenseits der augenfälligen Gleichheit von Zelle und Höhle auch die Unterschiede, die Abweichungen voneinander zu bedenken. In diesem Zusammenhang dürfte eine grundsätzliche Verständigung über Wesen und Eigenart der fraglichen Schauplätze von Nutzen sein. Wie schon mehrfach ausgeführt, steht das Odfeld in engem Bezug zu Ovids Geschichte von Philemon und Baucis. Dieser Umstand prägt auch die Szenerie des Romans, ist darin doch nicht allein die Örtlichkeit der Vorlage eingegangen, sondern auch die damit konnotierte Bedeutung. Wenn also, wie ich dargelegt habe, die antike Idylle auf zwei Faktoren aufbaut, der unwandelbaren Zuneigung des alten Paares und seiner ungekünstelten Frömmigkeit, der das großzügige Wohlwollen der Götter antwortet, so wird dies anschaulich im Schlußtableau der Erzählung, dem Tempel mit den zwei Bäumen davor, welches Ensemble das himmlische 183

Geschenk eines den Tod nicht achtenden Liebesglücks bezeichnet. Im Odfeld ist diese Ikonologie freilich nicht vollständig anzutreffen. Zwar liegt die Wohnung des Magisters in einem Gotteshaus, dem Kloster, und ebenso findet sich davor eine Linde (106); das Pendant dazu, die Eiche, steht jedoch auf dem Odfeld (121), entsprechend der Trennung von Buchius und Bruder Philemon, die nicht bloß eine zeitliche - sie leben ja in verschiedenen Jahrhunderten - sondern auch eine räumliche ist: während der Mönch ins Exil mußte (13), fand sein potentieller Partner ein Asyl in Amelungsborn (18). Hat Raabe auch dieserart die antike Idylle mit einer desillusionierenden Neufassung konterkariert, so hält er doch den utopischen Anspruch auf Liebesglück und göttliche Geborgenheit, der sich in dem Entwurf Ovids ausdrückt, unvermindert aufrecht. Das läßt sich nicht zuletzt an den Raumverhältnissen ablesen: die ursprünglich kirchliche Bestimmung der Heimstätte des Magisters deutet gleicherweise auf die menschliche Sehnsucht nach Schutz durch die jenseitigen Mächte, nach metaphysischer Sicherheit, wie der Umstand, daß Buchius gerade die ehemalige Wohnung Philemons inne hat, die dazu noch aus »eigentlich zwei Räume[n]« (40) besteht, Beleg ist für den Wunsch nach diesseitiger Glückserfüllung in der erotischen Gemeinschaft mit dem Gefährten. Dieser utopische Anspruch kollidiert im Roman allerdings mit der Apokalypse des Herrn Zebaoth, der sein Strafgericht wahllos über Gerechte und Ungerechte herniedergehen läßt und von vornherein das Streben nach einem freudevollen und sorglosen Dasein zunichte macht. Die Vereinzelung der dem antiken Idyllenpaar nachgestalteten Figuren, die sich in der Aufsprengung des überkommenen, symbolisch überhöhten Schauplatzes spiegelt, ist Ausdruck hiervon. So wie jedoch das räumliche Inventar der Ovidischen Idylle und damit ihre Ikonologie im Odfeld nur partiell vorhanden ist, die Bäume getrennt stehen, so birgt auch der Sinn seiner Helden die Haltung ihrer Vorgänger nur fragmentarisch. Gelangten Philemon und Baucis durch den Zusammenklang von anhaltender Liebe und selbstloser Frömmigkeit dahin, noch dem Tod als letztem Schrecknis ihrer wunschlosen Zufriedenheit den Stachel zu rauben, ihn gar dem Leben selbst zu integrieren, wie an dem Bild der Bäume erhellt, die eigentlich verwandelte Lebewesen, lebensvolle Gräber und Zeugnis der über den Tod triumphierenden, das physische Aufhören überdauernden Liebe sind, so ziehen Buchius und Thedel - letzterer ist, wie seine Zuordnung zu der

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Eiche beweist, eine Philemonfiguration11 - aus der apokalyptischen Situation, mit der sie als genuine Nachfahren von idyllischem Personal nun fertigwerden müssen, für ihre Einstellung je eine andere Konsequenz. Buchius hat den Wunsch nach Liebe unterdrückt, zurückgedrängt und gibt sich stattdessen in seinem Asyl, als einem Ort des Abstands und des Abseits vom Leben und seinem Wirbel, der gläubigen Hoffnung auf Schutz und Geborgenheit durch den allmächtigen Herrn der Heerscharen hin. Das kann man an der bereits erörterten Einrichtung seiner Bibliothek, seines Museums erkennen, die die Haltung distanzierter Ungerührtheit, welcher der Magister sich weitab aller Anteilnahme am Schicksal anderer befleißigt, ebenso bekunden wie seine affektive Reaktion auf den Knopf des Herzogs Ferdinand, »dies kostbare Zeichen, daß in der Welt das Licht nimmer ganz in Greuel, Blut und Nacht verlischt« (54), sein inbrünstiges Sehnen nach himmlischer Obhut, nach gnadenreicher Bestätigung des demütig dargebrachten Gottvertrauens verrät. Buchius' Standpunkt prägt sich vermittels der Metapher vom »Licht der Welt«, dem »Licht in der Finsternis«, die ja in seiner Rede wie auch in seinem Tun anschaulich wird (40/64), dem unvollständigen, in seiner Aussagekraft gebrochenen Idyllenschauplatz ein und verleiht ihm eine entscheidende Akzentuierung. Der Magister schickt sich zwar in das Faktum der beiden vereinzelten Bäume, pocht aber mit frommem Sinn um so mehr auf die Anwesenheit und die Bedeutung des Tempels als Stätte hingebungsvoller Andacht und der Geborgenheit in Gott. In Verkehrung dessen, was Thedel für sich geltend macht: »[...] ich habe lieben wollen, / Was ich doch nur anbeten sollen!« (68), kann man von Buchius behaupten, daß er, wo er eigentlich lieben hätte sollen, nur und ausschließlich anbeten will. In dieser Ansicht wird man bestärkt, wenn man Münchhausen, sozusagen als Komplementärfigur des Magisters, diesem gegenüberstellt. Das Programm des Schülers lautet, wie gesagt, »lieben« statt »anbeten«, und gleich bei seinem ersten Auftreten im Roman versucht er, es zu verwirklichen, indem er nämlich Buchius' religiöse Lichtmetapher ins Erotische umdeutet, sein Ziel in dunkler Nacht, das »Licht in der Finsternis«, das eigentlich den Weiheort bezeichnet, an dem der Magister sich im Gebet ergeht, auf seine Art, nämlich brünstig und begehrlich ausmalt: »O Selinde, Selinde, du wirst nicht mehr Licht haben wie der Magister! [...] O Selinde, Mademoiselle Selinde, mein Stern, meine Fackel, mein Herzbrand!« (67). I2 Vgl. ebenda, S. 56 u. 123. Vgl. ebenda, S. 38. 185

Wie schon an anderer Stelle ausgeführt, folgt Thedel mit dieser unfrommen Absicht, einen sakralen Raum, einen Begräbnisplatz gar, in einen locus amoenus, eine Lotterwiese zu verwandeln, den Spuren Hagedorns, des Gewährsmanns für Liebesdinge im Odfeld, in dessen Philemon und Baucis es von dem hier in Rede stehenden Ort schließlich heißt: An einem Feiertag, als er im Vorhof gehet, Und Reisenden erzehlt, woher der Bau entstehet, Verwandelt sich sein Haupt; zu Blättern wird das Haar; Den Leib deckt Rind' und Mos; und Baucis wirds gewahr, Und sucht ihm, doch umsonst, die Rechte hinzureichen. Sie wird zum Lindenbaum, so wie ihr Mann zur Eichen. Der wolerfüllte Wunsch ist ihrer Treue Lohn, Und ieder Vater zeigt die Bäume seinem Sohn. Man siehet ihre Zweig' am allerschönsten grünen Und vielen Liebenden mit holdem Schatten dienen. Der Ruf legt ihnen bald die Zauberwürkung bey: Hier reize Laub und Gras zur süssen Buhlerey. Man sagt gar, daß allhier auch spröde Schäferinnen Das Schmeicheln und zuletzt den Schmeichler liebgewinnen; Daß manche, deren Stolz den Hirten widerstand, Zum erstenmal ihr Herz hier voller Mitleid fand; Daß einer Phyllis Kuß den Lycas hier beglücket, Und er sie drauf gelehrt, was noch weit mehr entzücket.'J

Gleich Lycas, dem Hagedornschen Schäfer, begnügt sich auch Münchhausen damit, in der Nachfolge Philemons und Baucis' nur ein Stück von deren Lebenseinstellung zu übernehmen, die Bereitschaft zur Liebe, ergänzend zu Buchius, der den anderen Teil, die fromme Gläubigkeit, erwählt hat. Beides zusammen bewirkte, wie oben dargetan, den außergewöhnlichen Glückszustand des antiken Paares, nun aber, da sowohl die äußeren Voraussetzungen, das Ambiente, wie auch - als Folge hiervon - die innere Gestimmtheit der Figuren fehlen, kann es dazu nicht kommen, vermag der traditionelle Schauplatz seine Symbolkraft nicht nur nicht zu entfalten, vielmehr verkehrt sich, dieweil das heikle Gleichgewicht seiner Zusammensetzung gestört ist, seine ursprüngliche Aussage ins genaue Gegenteil. In der Tat, wo auch immer Münchhausen sein erotisches Vorhaben angeht, stets ist nur einer der beiden vorgeschriebenen Bäume vorhanden im Kloster die Linde (106), im Freien die Eichbäume (85/121) -, was den Schluß zuläßt, daß Raabe im Odfeld das Gelingen eines Liebesverhältnisses 13

Hagedorn: Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen, S. 183^ (Philemon und Baucis). 186

per se für unmöglich erklärt; darüber hinaus ignoriert der Junker gemäß seiner bloß partiellen Philemon-und-Baucis-Nachfolge das Fehlen des Tempels als Garanten göttlichen Schutzes, und dies zeitigt als Folge den Blitzschlag des Herrn der Heerscharen in die Eiche auf dem Odfeld, die Vorausdeutung auf das vernichtende Ende, das diesem Versuch einer Liebesidylle notwendigerweise bereitet ist. Denn dies scheint mir, jenseits des Bezugs auf die Erzählung Ovids, die Quintessenz des Raabeschen Konstruktes zu sein: daß nämlich bei Annahme eines bösartigen, apokalyptischen Gottes die aktiven Bestrebungen der Menschen, sich desungeachtet Glücksräume zu schaffen, Wunschregionen erotischer Erfüllung, grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sind, oder anders ausgedrückt: daß sich in der Zerschmetterung der Eiche, die ja durch ihre Zuordnung zu Philemon ein Symbol der Liebe ist - der griechische Name kann etwa mit »der Liebende« übersetzt werden' 4 -, die prinzipielle äußere Bedrohung der Liebesidylle durch den Tod unter den real existierenden Verhältnissen manifestiert. Für eine innere Gefährdung des Anspruchs auf Glück steht das Beispiel des Magisters, der es durch seine Passivität und Willenlosigkeit dahin bringt, beinahe an der Klosterlinde - den ihm zugeordneten Liebesbaum aufgehängt zu werden (io6f.). Verliert das Bild des Schauplatzes im Falle Thedels seinen Sinn dadurch, daß dieser meint, auf den einen Bestandteil den Tempel - verzichten zu können, so erreicht der Magister durch die gleiche, jedoch komplementäre Einstellung ebendasselbe - indem er glaubt, über das Fehlen der Eiche hinwegsehen zu dürfen, bewirkt er, daß auch »sein« Baum das Zeichen des Todes trägt, die Aussichtslosigkeit seines verdrängten Glücksverlangens unterstreicht. Damit hat eine genaue Umkehrung der ursprünglichen Verhältnisse stattgefunden. Symbolisieren die Gräber Philemons und Baucis' den Sieg der Liebe über den Tod, so demonstriert Thedel die Todesverfallenheit der Liebesidylle.15 Wird bei dem antiken Paar der Tod dem Leben anverwandelt, so im Falle des Magisters 14

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Vgl. dazu Manfred Beller: Philemon und Baucis in der europäischen Literatur. Stoffgeschichte und Analyse, Heidelberg 1967, S. 17. Der etwas unwirsche Einwand gegenüber einer solchen Deutung des Namens »Philemon« von Franz Bömer: Kommentar zu P. Ovidius Naso: Metamorphosen, Buch VIII-IX, Heidelberg 1977, S. 193, »an >den Liebenden< denkt dabei der Durchschnittshörer so viel und so wenig wie im Deutschen an den Wolf, wenn man den Vornamen Mozarts oder Goethes hört«, ignoriert den Unterschied zwischen Realität und Fiktion; alltägliche Namen können in literarischem Kontext sehr wohl »sprechende« sein. Ich verweise abermals auf Panofskys grundlegende Ausführungen zum Motiv des Grabs in der Idylle: Panofsky: Et in arcadia ego. 187

das Leben dem Tod. Bedeutet doch das mögliche Gehängtwerden nur die Konsequenz seiner Haltung lebloser Erstarrtheit, die Realisierung seines Zustande des lebendig Begrabenseins. Solchermaßen kann man an Buchius, nachdem Münchhausen den notwendigen Mißerfolg des aktiven Glückstrebens dargetan hat, die Katastrophe der sich in resignativer Lebensangst äußernden Passivität nachvollziehen, die Fatalität widerstandsloser Hinnahme der verfügten Verhältnisse. Dieserart präsentiert sich die Ausgangsposition der Raabeschen Kontrafaktur zu Ovids Idylle. So pessimistisch sie auch anmuten mag, die Romangestalten geben desungeachtet den utopischen Anspruch aus ihrer Vorlage keineswegs auf, vielmehr entwindet sich selbst Buchius seiner Reglosigkeit und strebt gleichermaßen aktiv nach Erfüllung des überkommenen Liebeswunsches. Allerdings steckt ja schon in den oben beschriebenen Umkehrungen und Vertauschungen das Moment des Wirbels, und so entbehrt es ganz und gar nicht der Folgerichtigkeit, daß die Handlung jetzt nach außerhalb wechselt, wo auf dem Odfeld der Lebenswirbel sich in der Rabenschlacht, im Kampf ums Dasein, im Drehen von Fortunas Rad erzeigt. Mit anderen Worten: Bei dem Versuch, die Liebeseinheit von Philemon und Baucis wiederherzustellen, geraten die entwurzelten Idyllenfiguren in direkte Berührung mit der Apokalypse, antwortet ihrem erotischen Verlangen das Strafgericht des Herrn Zebaoth, so wie es der Donnerschlag über der Eiche bereits andeutete. Davor suchen sie Schutz in der Höhle; metaphorisch könnte man von neuem Halt, von neuem Boden unter den Füßen, endlich von einem neuen geheiligten locus amoenus sprechen, der womöglich das einzulösen vermag - Liebe und göttliche Geborgenheit, ein Leben verheißendes Grab und einen die Gnade des Himmels offenbarenden Altar -, was der ursprüngliche Idyllenschauplatz versprochen, die Klosterzelle Bruder Philemons aber nicht gehalten hat. Die auffälligen Übereinstimmungen zwischen der Zelle und der Höhle stehen also im Dienste von Raabes Konzept einer Neugestaltung der Geschichte von Philemon und Baucis. Hierbei erhebt sich jedoch die Frage, ob dieser zweite Innenraum dadurch nur und ausschließlich als potentieller Erfüllungsort der Idylle präpariert ist, oder ob die Annäherung an die Klosterzelle so weit geht, daß auch die auf ein Mißlingen der Idylle hinweisenden Indizien übernommen sind, also gerade die Negation der menschlichen Glückssehnsucht erneut zur Anschauung gebracht und somit zementiert wird? Zunächst irritiert allerdings der Umstand, daß von der eben erörterten, mit dem Gehalt der Vorlage konnotierten Philemon-und-Baucis-Szenerie rein gar nichts vorhanden zu sein scheint, weder ein Tempel 188

noch die beiden Bäume, und auch keine faßbare Andeutung auf das überkommene Personal, etwa in Gestalt Bruder Philemons, auszumachen ist, so daß sich der Verdacht einstellt, die vorhin belegte Gleichartigkeit der beiden Schauplätze sei von daher gesehen vielleicht doch bloß phänomenologischer und keineswegs struktureller Natur. Sieht man indes genauer hin, finden sich die erforderlichen Requisiten und Allusionen - sogar in beeindruckender Vollständigkeit - dann doch, freilich um ein vieles versteckter, was aber, wie sich gleich zeigen wird, sehr wohl seine Gründe hat. Die fiktive Liebesgemeinschaft in der Nachfolge Philemons und Bau1 cis , die in Amelungsborn zwischen dem Magister Buchius und Bruder Philemon hätte möglich sein können, wären sie nicht von vornherein getrennt gewesen, wiederholt sich in der Höhle unter denselben, durch den vergrößerten zeitlichen Abstand zwischen den Beteiligten gar in ihrer Aussichtslosigkeit noch gesteigerten Prämissen, nun mit dem vorgeschichtlichen Einsiedler als hypothetischem Partner des alten Schulmeisters: DerTroglodyt [...] und der Vorgänger in der Zelle des letzten Kollaborators von Amelungsborn, der letzte katholische Mönch, Bruder Philemon, sie waren beide für den Magister Buchius in mancher trübseligen Stunde wie lebende gute, teilnehmende Stubengenossen gewesen in den Ithklippen wie im Kloster. (151)

Durch diese Gestalt vermehrt sich die Zahl der Philemonfigurationen; neben den Ausgangspunkt des Typus im Odfeld, den Mönch Philemon, und seine aktuelle Ausformung in der Person Thedel Münchhausens tritt, eine historische Fluchtlinie eröffnend, der Höhlenmensch. Diese Reihung unterstreicht noch einmal, daß es Raabe nicht um die Darstellung eines einzelnen, durch seinen homophilen Charakter etwa noch besonders pikanten, erotischen Verhältnisses ging, sondern um das Grundsätzliche, das Zeitlose des menschlichen Glücks- und Liebesverlangens überhaupt. Somit wird auch begreiflich, wieso in dieser Szene noch eine weitere PhilemonAusprägung - im wahrsten Sinne des Wortes - herumspuken kann: »Er saß [...] auf den Ruderibus der Klus, mit langem greisen Bart und einem Eichenkranz, doch das Haupt gesenket wie in tiefsten Gedanken. Er kümmerte sich nicht um mich. Er sah nicht nach mir.« (164)

Diese Figur scheint zwar nicht sonderlich geeignet, zärtliche Gefühle zu erwecken, dagegen möchte ich jedoch zu bedenken geben, daß die drei phantastischen Erzählungen in der Höhle, von deren zweiter dies der Protagonist ist, gleich den unheimlichen Geschichten Kampfs im ersten Teil des Romans auf Münchhausen zusteuern - als Held der letztgenannten 189

Begebenheit gibt er sich ja selbst zu erkennen -, der Junker also den wie auch immer vermittelten Hintergrund für Buchius' Vision darstellt. Dazu kommt, daß Thedel über das frivole Lessing-Zitat'6 die Berichte von Geistern und Gespenstern in ein ganz und gar erotisches Licht rückt, und endlich der Umstand, daß die fragliche Gestalt einen »Eichenkranz« trägt, also ihre Zuordnung zu dem Philemon-Typus klar zu erkennen gibt. Dieses Detail ist wichtig, wird doch hierdurch, mithin im Grunde kraft Buchius' Imagination ein Teil des Philemon-und-Baucis-Lokals beschworen, die Eiche, wenn auch nur rudimentär und scheinhaft. Eine solche Behauptung könnte als bloße Spitzfindigkeit abgetan werden, fügte sich der Eiche nicht auf kaum weniger komplizierte Weise eine Ergänzung hinzu, die das überkommene, gleichnishafte Raumensemble vervollständigt. Beim Betreten der Höhle zitiert Münchhausen, um dem neugefundenen Unterschlupf einen idyllischen Anstrich zu verleihen, ein anakreontisches Gedicht Gleims. Die dortige Beschreibung des bukolischen Platzes, zu dem die Grotte sich ihm verwandelt, führt er jedoch nicht an, er setzt sie sozusagen voraus: Wie lieblich sprudelt diese Quelle! Wie sanft küßt mich der West im Gaukeln! Wie reitzend schwebt das Laub im Schatten! Wie fruchtbar blüht die Lind am Ufer! Wie munter steht das Thal voll Blumen! Hier, Freund! Hier ist das Land des Friedens, Hier ist es gut, hier laß uns wohnen [...]I7

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Thedel zitiert mit parodistischer Absicht Lessings »Alten«: »O Jüngling, sei so ruchlos nicht, Und leugne die Gespenster, Ich selbst sah eins beim Mondenlicht Aus meinem Kammerfenster! [..·] Auch weiß ich nicht, was manche Nacht In meiner Tochter Kammer Sein Wesen hat, bald seufzt, bald lacht; Oft bringt's mir Angst und Jammer. Ich weiß, das Mädchen schläft allein; Drum müssen es Gespenster sein.« (165^) Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe, hrsg. v. Wilfried Barner u. a., Bd. i: Werke 1743-1750, hrsg. v. Jürgen Stenzel, Frankfurt/Main 1989, S. iO4f.: Die Gespenster. Gleim: Versuch in scherzhaften Liedern und Lieder, S. 6 (An Herrn von Kleist). 190

Inmitten dieser real ausgemalten Gleimschen Landschaft überrascht dann ein metaphorisches Bauwerk: »Hier sei mein Herz ihr froher Tempel«.18 Damit sind die erforderlichen Requisiten für den Schauplatz der harmonischen Geschichte von Philemon und Baucis beieinander, will sagen: verbände man die in Thedels Vorstellung existierenden räumlich-symbolischen Elemente - Linde, Tempel - mit der sinnbildlichen Quintessenz aus der Vision des Magisters - der Eiche -, so entstünde in der Tat der ersehnte locus amoenus, böten sich die Voraussetzungen für eine endliche Realisierung des tradierten utopischen Anspruchs auf Glück. Jedoch, war im Fall der Zelle die Ikonologie der Idylle nur in Bruchstücken vorhanden, so ist sie es nun bloß imaginär - eins wie das andere Zeichen für die Aussichtslosigkeit menschlichen Glücksstrebens. Insofern scheint die oben geäußerte Vermutung sich zu bestätigen, daß nämlich die Gleichartigkeit der beiden Innenräume, Klosterzelle und Höhle, vor allem die Negation der utopischen Träume der Romanfiguren beglaubigen soll, sich darin die resignative Einsicht von der Unmöglichkeit einer Veränderung ihrer Lage zum Besseren hin ausspricht. Dazu paßt, daß offensichtlich auch die Einstellungen und das Verhalten der Hauptpersonen unverändert geblieben sind, bringt doch der Magister erneut seine Frömmigkeit dadurch zum Ausdruck, daß er ein Licht in der Finsternis leuchten läßt (r 50), und verleiht der Schüler diesem religiösen Sinnbild erneut eine andere Bedeutung, indem er es in die Sphäre des Erotischen überträgt (159). Die verlorene Einheit der ursprünglich zusammengehörigen Positionen des »Liebens« und des »Anbetens«, die säuberlich auf die beiden Romangestalten verteilt sind, wirkt sich wie schon in der Zelle dahin aus, daß statt des Triumphs der Idylle über den Tod ihre schutzlose Preisgabe an ihn zur Anschauung gelangt, und zwar abermals in doppelter Hinsicht. Zum einen in Gestalt schleichender Angleichung, insofern nämlich als die Flüchtlinge sich, trotzdem sie in der Höhle ein Asyl gefunden haben, wohlgeborgen sind, »wie lebendig begraben« (156) fühlen, welcher Zustand ja dem des passiven, mutlosen Magisters zu Anfang der Geschichte entspricht. Zum anderen durch die unmittelbare Gefährdung von außen, manifestiert sich das amouröse Verlangen der Helden doch ausgerechnet in der Unterwelt, also buchstäblich im Totenreich, was zwar einerseits eine Intensivierung, eine Überspitzung der Hagedorn-Absicht, auf den Gräbern der Vorgänger zu lieben, bedeutet, andererseits aber auch eine Verschärfung und Konkretisierung der daraus resultierenden Situation vom Odfeld darstellt, wo der 18

Ebenda, S. 7. 191

martialische Blitz des Herrn der Heerscharen, das tatsächliche Ende der potentiellen Liebesidylle vorwegnehmend, die Eiche Philemons zerschmetterte. So könnte man ohne weiteres meinen, es sei der zweite Innenraum des Romans ein getreues Abbild des ersten, wenn nicht der Vergleich der Höhle mit der Zelle dann doch einen grundlegenden Unterschied zutage förderte. Er besteht darin, daß die Höhle nicht im selben Maß ein Ort des Abstands und der Erstarrung ist, was etwa allein schon der Umstand verrät, daß nun an die Stelle von Buchius' einsamer, stoisch-ungerührter Lektüre in Kampfs Abhandlung das impulsive, gemeinschaftliche Erzählen von selbsterlebten Geschichten getreten ist, oder auch der Hinweis auf den Kochtopf des Troglodyten, der jedoch diesmal nicht als zusammenhangsloses, objektivierendes Museumsstück erscheint, sondern in greifbarer Geschichtlichkeit die subjektiven Erfahrungen des Magisters spiegelt und erhellt; - vielmehr entpuppt sich das unterweltliche, jenseitige Asyl unversehens als ein Raum der Vitalität, ist darin der Wirbel, der Buchius schließlich auch in seiner Klosterzelle erfaßte und ins Freie trieb, von Anbeginn präsent und bestimmend. Die Lebenstriebe, welche der Magister zunächst in sich abtöten wollte, reißen jetzt, wie bereits ausgeführt, ihn und die anderen Flüchtlinge in die Kreisbewegung des Kampfes aller gegen alle, sei es, daß es hierbei ums Essen, ums Schlagen oder ums Plündern geht.'9 Der somit entstehende Wirbel umgreift zuletzt auch jene beiden Empfindungen, die sich vor der Philemon-und-Baucis-Folie besonders abheben, die Frömmigkeit und die Liebe. Das ist etwa daran zu merken, daß Buchius' glaubensverkündendes Licht in der Finsternis nach kürzester Zeit wieder erlischt, er aber dafür mit eifersüchtiger Anteilnahme, ja mit eigenen verkappten Liebesanträgen auf die nun von erotischer Lichtmetaphorik durchzogenen Annäherungsversuche Thedels in Richtung Selindes reagiert. Ist dies im Text nur mittelbar zu erschließen, so spricht die diesbezügliche Symbolik, hat man sie erst einmal erkannt, eine deutlichere Sprache. Die Gestalt aus Buchius' Vision trägt einen »Eichenkranz« und sitzt »auf den Ruderibus der Klus« (164), einer Kapelle. Abgesehen davon, daß der Magister, wenn er eine Philemonfigur und eine Eiche imaginiert, ja sozusagen die Seite und den Baum gewechselt hat, er sich, statt weiter anzubeten, zu dem amourösen Programm bekennt, das bisher Thedels Sache war, scheint mir auch bemerkenswert, daß der Schauplatz seines Tagtraums sakral konnotiert ist, die Hagedornschen Voraussetzungen in spiegelbildli19

Vgl. dazu Kap. V dieser Studie, bes. S. noff. 192

eher Entsprechung zu dem Münchhausen zugeordneten Lokal, also bis auf das abermalige Fehlen eines Baumes - jetzt der Linde -, vollständig erfüllt sind. In dem Umstand, daß es sich anstelle des Tempels lediglich um Ruinen, um Reste einer Kapelle handelt, verbirgt sich allerdings der Hinweis, daß mit Buchius' Übergang vom Anbeten zum Lieben auch seine Frömmigkeit zerfallen ist, nur noch in Rudimenten existiert. Von daher hat den Magister zwar ein kompletter innerer Umschwung ergriffen, er verhält sich so wieThedel zu Anfang der Geschichte; ebensowenig wie der Schüler aber auf eine Erfüllung seines Strebens hoffen durfte, wird sie nun dem Lehrer zuteil, vielmehr müßte ihm stattdessen, hat er doch seine Gläubigkeit aufgegeben, die direkte, zerstörerische Einwirkung des Herrn Zebaoth auf seine erhoffte erotische Idylle drohen. In Analogie zu dieser Wandlung verändert auch Münchhausen seinen Standpunkt. Rein äußerlich zeigt sich das an seiner Absage an Selinde, gar an die Liebe überhaupt: »O Venus, o Cypria, Paphia, und wie du sonst geheißen wirst, Canaille! [...] Zum Teufel mit allem Frauenzimmer« (i/o). Dazu paßt, daß er von dem symbolischen Philemon-und-Baucis-Raumensemble jetzt nicht mehr die Eiche, sondern Linde und Tempel bevorzugt, die bislang Ausdruck der Frömmigkeit und somit Buchius'Teil waren. Daß es sich bei dem Junker wahrhaftig um einen Wechsel von der Erotik zur Religion handelt, umgekehrt wie ihn der Magister vollzogen hat, läßt sich darüber hinaus an der betreffenden Gleimschen Gedichtzeile ablesen: »Hier sei mein Herz ihr froher Tempel«,10 die, wörtlich verstanden, in der Tat den Übergang des Herzens, das traditionellerweise als Sitz des Liebesgefühls gilt, in eine Stätte der Andacht und des gläubigen Gebets beschreibt. Sucht man auf der Ebene des faktischen Romangeschehens nach einem faßbaren Zeichen von Thedels neugewonnener frommer Gesinnung, so stößt man schließlich darauf, daß die von ihm ermöglichte Speisung der Flüchtlinge in der Höhle im Grunde eine Feier des christlichen Abendmahls vorstellt, die »Tischplatte des Troglodyten« (153), auf der das blutgetränkte Brot liegt, einen Altar andeutet, Münchhausen selbst aber, der den offensichtlich rituellen Vorgang mit seinen Kommentaren begleitet, die Rolle des Priesters, ja wie die vorhin ausgebreiteten Indizien nahelegen, des Heilands selbst spielt.21 Hierdurch findet eine ganz und gar artifizielle Angleichung nun auch Gleim: Versuch in scherzhaften Liedern und Lieder, S. 7 (An Herrn von Kleist). Vgl. dazu Kap. VI dieser Studie, bes. S. i48ff. 193

des konkreten Schauplatzes an das Raumsymbol der Erzählung von Philemon und Baucis statt. Denn somit tritt, quasi als Transposition der auf die überkommene idyllische Örtlichkeit zurückgreifenden Einbildungen der Romangestalten - Eiche, Linde, Tempel - in ein realitätsnäheres Stadium, der Doppelcharakter der Szenerie als Grab und Altar zutage - die »Lager« (151) und »Tischplatte« (153) genannten Steinblöcke in der unterirdischen Höhle -, was der Struktur nach genauestens der Vorlage entspricht. Obwohl demzufolge die Voraussetzungen für die Neubegründung eines Glückszustandes, einer Idylle, vorhanden zu sein scheinen, gilt auch im Falle Münchhausens, daß die Einseitigkeit seiner Haltung, seine nun uneingeschränkte Frömmigkeit, ebenso wie die Unvollständigkeit des Lokals, das zwar das Totenreich überhaupt, schließlich aber doch bloß die Grabstätte einer einzigen Person, des Philemon-ähnlichen Troglodyten versinnbildlicht, aller möglichen Erfüllung entgegenwirken. Schlimmer noch: Statt den Tod zu überwinden, was die Bedingung für den Eintritt einer Glückszeit wäre, gibt sich ihm Thedel vermittels des Abendmahls, das er in dieser chthonischen Krypta zelebriert, endgültig preis, fällt der vermeintliche Christus durch seine kultische Handlung am Opfertisch selbst dem Hades anheim, in einer Weise jedoch, daß, anders als bei dem wirklichen Messias, aber anders auch als bei Philemon und Baucis, seinem Sterben keinerlei Aussicht auf ewiges Leben innewohnt. Dergleichen bestätigt sich in einer anderen Parallele zu der Ovidischen Vorlage. Dort werden die beiden Alten bekanntlich zu Beginn der Überschwemmung von den Göttern auf einen hohen Berg geleitet, der ihnen Zuflucht vor den steigenden Gewässern bietet. Im »Odfeld« kehren diese Verhältnisse durchaus verändert wieder. Hier weist Buchius dem jungen Münchhausen, der im Roman den Platz der Olympier aus der Idylle einnimmt und im übrigen durch seine Kennzeichnung als Christusfigur Götterrang beanspruchen darf, den rettenden Ausweg aus dem Kriegsgetümmel, das oft genug einer Sintflut verglichen wird (etwa 210). Die angestrebte Freistatt ist aber mitnichten auf einem Berg, einem dem Himmel nahen Ort gelegen, sondern befindet sich unter der Erde, in der Unterwelt, was also die Bestimmung des Junkers zum Tode auch von dieser Seite her ankündigt und besiegelt. Auffällig ist indes, daß die jeweilige Vertauschung von Buchius' und Münchhausens Standpunkten des »Liebens« und des »Anbetens« ihr, wie man etwas salopp formulieren könnte, Bäumchen-wechsel-dich-Spiel keineswegs auch den Austausch der ihnen prädestinierten Schicksale nach sich zieht. Will heißen: Obwohl Thedel dem Eros abschwört und sich in 194

gläubiger Hingabe übt, unterliegt er weiterhin der akuten, direkten Todesbedrohung, ja sie verstärkt und konkretisiert sich gar noch durch sein frommes Tun; ebenso wie Buchius, trotzdem er sich dem rückhaltlosen Liebesbegehren verschrieben hat, dann doch derjenige ist, der den Zustand des »lebendig-begraben-Seins« als am wenigsten bedrückend empfindet und somit nach wie vor der Gefahr des unmerklichen, allmählichen Hinübergleitens vom Leben in den Tod ausgesetzt scheint. Diese Unstimmigkeit begreife ich als Hinweis darauf, daß die eben erörterten Positionswechsel der Hauptfiguren weniger reales Romanereignis sind, als vielmehr die formale Einlösung eines Musters darstellen, das Raabe offenbar in der Höhlenszene zur Anschauung bringen wollte, des Wirbels. Bleiben die beschriebenen Neuorientierungen, nachdem sie ohnehin ziemlich im Verborgenen stattfanden, für die äußere Handlung doch rundum folgenlos und harmonieren sie auch nicht unbedingt mit den in früheren Kapiteln herausgearbeiteten Phasen von Buchius' Entwicklungsgang - so bekennt sich dieser zum Beispiel nach Überschreiten der Lenne gerade wieder zu seiner anfänglichen Frömmigkeit und verleugnet sie nicht etwa zugunsten der Äußerung zärtlicher Gefühle -, ganz abgesehen davon, daß es wohl auch spürbar gegen das im Odfeld an und für sich nirgendwo verletzte Wahrscheinlichkeitspostulat verstoßen würde, wenn der lebensfrohe Schüler sich unversehens als asketischer Einsiedler gebärdete oder der ältliche, etwas skurrile Magister in erotomanischen Reden und Bestrebungen exzellierte. Dies läßt, wie gesagt, nur den Schluß zu, daß dem Autor daran lag, die Höhle in exemplarischer Weise zum Schauplatz des Wirbels zu machen, indem er über das erzählte Geschehen hinaus noch zusätzlich dessen Struktur verdeutlichte. Derlei erscheint insofern bemerkenswert, als das Asyl des Troglodyten gerade der Ort ist, der den Flüchtlingen Schutz vor dem apokalyptischen Wirbel bieten soll, in den das Streben nach Verwirklichung ihrer Liebesidylle sie hineingerissen hat. Nun zeigt sich, daß der Innenraum, an den sich gleichermaßen die Hoffnungen der Romanhelden auf Geborgenheit und auf Erfüllung ihrer erotischen Wünsche knüpfen, ebenso von der verhängnisvollen Kreisfigur geprägt ist wie das Außerhalb des Odfelds," ja daß der Wirbel dem Liebesverlangen der Protagonisten geradezu einbeschrieben ist und eine tatsächliche Befriedigung ihrer utopischen Ansprüche von vornherein unmöglich macht. Dies dokumentiert sich darin, daß die Einbildungskraft der verhinderten Idyllenfiguren nicht in der Lage ist, das voll" Vgl. dazu auch Vornweg: Wilhelm Raabe, S. 189^ 195

ständige Philemon-und-Baucis-Lokal heraufzubeschwören, daß es - in Analogie zu der Situation in der Klosterzelle - von ihnen bloß zum Teil imaginiert wird und zwar bezeichnenderweise zum jeweils anderen Teil als bisher; anstatt daß sie dem ersehnten Ziel eines sorgenfreien Glückszustandes näher kommen, bewegen sich die Romangestalten in fruchtlosem Zirkel drumherum. Daraus geht hervor, daß jegliches aktive Bemühen, die Vorgabe des antiken Wunschtraums zu erreichen, mit dem gleichen negativen Ergebnis vorliebnehmen muß, das schon der eingezogenen Passivität des Magisters im Kloster zuteil geworden war. Buchius' und Thedels wechselseitige Vertauschung ihrer jeweiligen Einstellungen, die ja nichts an der Gesamtsituation der Fragmentarisierung des idyllischen Inventars ändert, bleibt fruchtlos, und so liegt es nahe, daß auch dem realen Schauplatz dieses unwirklichen Geschehens, der Höhle, die vermittels ihres Doppelcharakters als Grab und Altar durchaus in der Traditionslinie der sinnbildlichen Szenerie aus der Ovidischen Erzählung und in struktureller Verwandtschaft zu der Zelle in Amelungsborn steht, genausowenig wie letzterer die spezifische Aussage des originalen Idyllenraums innewohnen kann, die Verheißung eines über den Tod triumphierenden Liebes-Lebens und des gütigen Wohlwollens der Götter. Wie schon in Bruder Philemons Wohnstatt verkehrt sich auch im Unterschlupf des prähistorischen Einsiedlers der überkommene Sinn der symbolischen Örtlichkeit in sein Gegenteil, will sagen, die Höhle ist bestimmt durch Gottverlassenheit und Tod. Ein solches Resultat ist dazu angetan, den Eindruck von verhängnisvollem Stillstand im Konflikt des Magisters Buchius mit dem Herrn Zebaoth, der sich beim ersten Vergleich der Innenräume aufdrängte, zu untermauern. Denn in der Tat hat sich die Lage der Romanfiguren in keiner Hinsicht zum Besseren gewendet, verweist die Kongruenz der beiden Stationen auf ihrem Entwicklungsgang im Rahmen des Erzählgeschehens auf die unverändert anhaltende Differenz zwischen dem ursprünglichen Idyllenpaar und seinen neuzeitlichen Nachfolgern und damit - in übertragenem Verständnis - auf die Aussichtslosigkeit des menschlichen Verlangens nach glücklichen Lebensumständen. Diese Diagnose verschlimmert sich noch dadurch, daß die aktiven Bestrebungen, nun auch des Magisters, nachdem Münchhausen eine derartige Einstellung schon früher ohne Erfolg vorgelebt hat, ebenfalls keinerlei positive Auswirkungen haben, was nichts anderes bedeutet, als daß selbst die eifrigsten Bemühungen um Fortschritt, das tatkräftigste Handeln zur Überschreitung des im Roman durch die Chiffre der Apokalypse gekennzeichneten status quo, unweigerlich in den fatalen 196

Kreislauf des Immergleichen zurückführt, dem es sich doch gerade entwinden wollte. Das scheint sich gegen Ende des Romans in niederschmetternder Weise zu bestätigen. Der dritte abgeschlossene Schauplatz der Handlung nämlich, das Katthagengehölz, vermittelt, auch ohne daß sein unschwer zu erkennender negativer Bezug zu dem Philemon-und-Baucis-Lokal erörtert würde, von vornherein den Eindruck tödlicher Erstarrtheit. Der Umstand, daß die Flüchtlinge in diesem neuerlichen Asyl ausgerechnet auf einem entwurzelten »Eichenstamm« (195) kauern, stützt den Befund freilich auch von dieser Seite her. Ist darin doch die im wahrsten Sinne des Wortes radikale Negation der überkommenen Ikonologie zu sehen, bedeutet dieses auf den Tod Thedels, des aktiven Vertreters menschlicher Glücksansprüche, hinweisende Detail den faktischen Schlußstrich unter die utopischen Bestrebungen des potentiellen Idyllenpersonals. Allerdings ist mit dieser Szene weder der Roman zu Ende, noch schließt sich dadurch der dem Geschehen zugrundeliegende strukturelle Kreis letzteres erfolgt erst mit dem nachfolgenden Kapitel, dem 23., das auf dem Odfeld spielt und in dem realiter von Münchhausens Tod die Rede ist. Dies führt darauf, den fraglichen Textabschnitt nicht gesondert zu betrachten, vielmehr seine untergründige Verbindung zur tatsächlichen Schlußpassage des Buches ins Auge zu fassen. Hierbei erweist sich, daß die Situation im Katthagengehölz komplementär ist zu der Finalszene des Romans in dem Sinn nämlich, daß - in strikter Analogie zum ersten Teil der Erzählung das idyllische Inventar erneut zwischen den beiden Schauplätzen, der Klosterzelle in Amelungsborn und dem Dickicht neben dem Odfeld, aufgeteilt ist. Die dadurch symbolisierte Trennung des hypothetischen Liebespaars in der Nachfolge von Philemon und Baucis ist ja im Lauf des 24stündigen, exemplarischen Geschehens auch keineswegs aufgehoben worden; konträr dazu besiegelt der Tod des Junkers, der sich in dem gefällten Baum versinnbildlicht, das endgültige Scheitern des schönen Traums. Somit scheint alles unverändert. Das Finaltableau entspricht bis auf die eingetretene Konsequenz der Ausgangsposition, das Schicksal Thedel Münchhausens verweist auf das Muster Bruder Philemons und der Bezug des Katthagenlokals zu dem vorgegebenen Raumensemble von Grab und Altar konkretisiert sich dadurch, daß der umgestürzte Eichenstamm ein motivisch gebundenes, wiewohl statt Auferstehung unwiderruflichen Tod verkündendes Kenotaph für den Junker darstellt, hingegen auf die Abwesenheit des Andachtszeichens, das den Altar vertreten könnte, ausdrücklich hingewiesen wird: 197

»Liebster Gott, Herr Magister, meinen Rockknopf hat mir ja der liebe Herr in der Hand behalten, als er in seiner Zerstreuung weiterreiten mußte!« (194)

An die Stelle der gnadenverheißenden Reliquie - es ist ohnehin die eines falschen Erlösers - tritt die Anspielung auf die Rabenschlacht (197) und die Erwähnung des aufkommenden Windes, will sagen, die Signale der Apokalypse überformen die zerfallenen Restelemente der Idylle. Magister Buchius' Haltung ist dem angepaßt. Er sitzt reglos, stumm, resigniert auf dem Eichenstamm und versinkt alsbald in Schlaf bzw. in dumpfe Benommenheit, einen Zustand also, der seiner Verfassung vom Anfang der Geschichte, welche den Stempel des lebendig Begrabenseins trug, nicht unähnlich ist. Damals riß ihn die Zuneigung zu seinem Schüler aus der Erstarrung, im vorliegenden Fall entringt ihm die Sorge um seinen Liebling lediglich den doppeldeutigen Ausruf: »Münchhausen, ist Er denn wieder von Gott verlassen?« (196), der die beklemmende Situation präzise bezeichnet, ohne daß jedoch eine neuerliche Aktivitätsphase des Magisters - er tut die Äußerung gar noch träumend - darauf folgte. Das ist um so bemerkenswerter, als die beiden betreffenden Kapitel - das 12., da Buchius Thedel zuliebe seine Passivität aufkündigt, und das 22., da er, buchstäblich auf Münchhausens symbolischem Grab sitzend, der Lethargie verfällt - im zyklischen Verlauf des Geschehens symmetrisch angeordnet, also von der Konstruktion des Romans her aufeinander bezogen sind. *3 Der Kreis hat sich somit geschlossen, die Auflehnung des Magisters gegen Gott, sein aktives Handeln im Dienste der Utopie ist abermals in die willenlose Hinnahme des verfügten Schicksals eingemündet, der fruchtlose Zirkel des Immergleichen erfüllt sich unangefochten. Jedoch, wie schon einmal bemerkt, ist der Roman damit noch keineswegs an sein Ende gelangt, und dem Leser bleibt auch Buchius' trauriges Dahindämmern nicht als Abschiedseindruck. Die Solidarität innerhalb der kleinen Gruppe, die ich Vgl. im Schaubild:

(8. Kap.) 25. Kap., 5. Kap.

23. Kap., 3. Kap.

13. Kap.

Katchagcn 22. Kap.

18. Kap.

198

vorhin als einen der Hoffnungsmomente des Buchs benannte, beweist sich, indem die Gefährten den apathischen Magister aufrütteln und ihn auf ihrem weiteren Weg mit sich ziehen. Dieser Vorgang ist die Voraussetzung für den Schlußauftritt des alten Schulmeisters, der demzufolge eine Alternative zu Buchius' derzeitiger Befindlichkeit, seinem geistigen und körperlichen Habitus im Katthagengehölz darstellen könnte. Daß es sich tatsächlich so verhält, der Magister zum Finale des Romans hin wahrhaftig heroisches Format, ja antike Größe entwickelt, ist etwa an der homerischen Anleihe24 abzulesen, vermittels derer der Erzähler Buchius' Erwachen zu neuer Tatkraft bereits im Ansatz aufwertet: Er schüttelte den Frost und die Ermüdung wie die Betäubung von sich, der alte zähe Schulmeister von Amelungsborn, der Männerfürst und Magister omnium artium Buchius. (201)

Der Schauplatz, an dem diese neugewonnene Energie zur Entfaltung und letztlich auch zur Auswirkung kommen kann, ist das Kloster, jener Ort also, der durch seine raumsymbolischen Elemente Linde und Tempel die Ergänzung des Katthagengestrüpps mit der umgestürzten Eiche zu dem vollständigen Philemon-und-Baucis-Lokal darstellt und damit dem Magister zur Bestimmung zu werden scheint, so wie es das Odfeld dem Junker geworden ist. Daß diese Fragmentarisierung der idyllischen Szenerie seit Beginn des Romans unverändert geblieben ist, spiegelt, wie schon erwähnt, die fortdauernde Trennung der potentiellen Nachfolger des antiken Liebespaars, will sagen, das endgültige Scheitern ihrer Utopie vom Glück. Obendrein ist das Kloster von den durchziehenden Marodeuren geplündert worden, bis auf die Zelle Bruder Philemons, die jedoch entgegen ihres anfänglichen Anscheins der Unversehrtheit durch den darin eingeschlossenen Raben verwüstet wurde. Dieses Faktum bildet die Analogie zu der gefällten Eiche im Katthagen, die über das Mißlingen der Idylle hinaus den Tod Thedels, eines ihrer Träger, in der Apokalypse signalisiert. Zu Amelungsborn ist weder das Kloster abgebrannt, noch die Linde umgehauen worden - zumindest erfährt man nichts davon -, was allerdings auch nur zu dem Schicksal des Magisters, der anderen potentiellen Idyllenfigur, stimmt, dem im Unterschied zu dem plötzlichen Ende, das Münchhausen bereitet wurde, bekanntlich die kümmerliche, verschattete Existenz eines lebendig Begrabenen droht. Dieser uneigentliche Tod, der über dem zweiten Teil des Philemon-und-Baucis-Ambientes lastet, manifestiert sich metaphorisch, und zwar im Motiv des Kots. Die Klostersäle sind nämlich nicht bloß 24

Vgl. dazu Oppermann: Kommentar, S. 446. 199

ausgeräumt und verheert, sondern auch vielfach mit Exkrementen besudelt worden: Was von dem Durchmarsch [Hervorhebung von mir, H.M.] 25 in den früheren Schulstuben von Kloster Amelungsborn zurückgeblieben war, das war eitel scheußlicher Unrat, teuflischer Hohn, Stank und Mutwillen - ein Spott auf alle klösterliche und pädagogische Zucht und Reinlichkeit. Magister Buchius wendete schaudernd den Blick nach oben und hielt trotz allem, was er schon in seinem Leben und vor allem am heutigen Tage hatte riechen müssen, die Nase zu. (213^)

Und aus Buchius' Reden ist zu entnehmen, daß der Rabe es in seiner Zelle der zügellosen Soldateska gleichgetan hat: »Nun sieh mal, guck mal, guck nur mal an, wie du hier bei intimerer Besichtigung gehauset hast. Da liegen die kurieusen Töpfe der Vorfahren, da liegen ihre Knochen! Das halbe Raritätenkabinett vom Brett gestoßen - Zettel abgerissen, und - hier- sehe Er einmal hier, Er Erzschweinigel!« (218)

Dieser Akt der Verunreinigung scheint mir in doppelter Hinsicht bedeutungsvoll. Allgemein spricht daraus krasseste, gröbste Mißachtung, die sich dadurch, daß der beschmutzte Ort ein Kloster, eine sakrale Stätte ist, gar zur Lästerung, zur Blasphemie steigert. Diese ist jedoch keineswegs gegen Gott gerichtet, vielmehr geht sie, in radikaler Verkehrung des Üblichen, von dem Herrn Zebaoth selbst aus, dessen Bote, der apokalyptische Rabe, in krudem Hohn den symbolischen Idyllenschauplatz und damit das Glücksverlangen der Romanfiguren bescheißt. Geschändet wird der Tempel Philemons und Baucis', das utopische Sinnbild menschlichen Glücks. Zusätzlich zu dieser zynischen Negation von Buchius' Wunschvorstellung an sich kann man die Ausscheidungen des Vogels auch als verschlüsselten Hinweis auf den Zustand interpretieren, dem der Magister jetzt von neuem anheimgefallen ist, nämlich des Begrabenseins bei lebendigem Leibe. Denn als Endprodukt der Verdauung steht der Kot in Analogie zum Tod,16 so wie Essen Ausdruck von Vitalität ist. Die Mahlzeiten in Zelle und Höhle, deren Entsprechung die nunmehrige Defäkation des Raben darstellt, habe ich ja auch in diesem Sinn gedeutet, so daß der Zusammenhang der Exkremente in Buchius' Wohnung mit seiner Situation am Ende des 15

16

Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung, hrsg. v. der Akademie der Wissenschaft der DDR in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaft zu Göttingen, Bd. 6, Leipzig 1983, Sp. 1670, Art. »Durchmarsch«: »umgangssprachlich für diarrhöe«, mit Verweis auf das Wörterbuch der Deutschen Sprache von Daniel Sanders, Bd. 2,1, Leipzig 1863. Vgl. dazu Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 5, Sp. 332, Art. »Kot« (Bargheer).

200

Romans ohne weiteres zutage liegt. Bestätigt wird ein solcher Befund durch den Satz aus dem von dem Raben zerrissenen Todesboten: »Bringet mir diesen zur Ruhe!« (217). Einerseits muß der Magister diese Worte auf das Los Münchhausens beziehen, dem wahrhaftig die ewige Ruhe zuteil geworden ist, andererseits verweisen sie auf seine eigene Lage, die - man denke an die lähmende Betäubung, welche ihn umfängt -, wenn auch im uneigentlichen Sinn, gleichfalls als die eines Abgeschiedenen apostrophiert werden kann. Gegen diesen Zustand des lebendig Begrabenseins, in dem sich Buchius zu Anfang des Geschehens ja schon einmal befand, opponierten damals unterschwellig seine Vitalitätsinstinkte. Dieselbe Irritation kehrt auch jetzt wieder, freilich in grotesker Verzerrung. Letzteres keineswegs, weil sie sich statt über den Hunger nun vermittels des Sexus äußert, sondern weil dieses erotische Verlangen einem Toten gilt, man ist versucht zu sagen, selbst in leichenhafter Erstarrung daherkommt. Somit widerfährt der Grundaussage der Ovidischen Idylle im Bild des phallischen Raben eine höhnische Parodie. Denn vermochte die einträchtige Liebe Philemons und Baucis' selbst das Grab, die physische Auflösung zu überwinden, so wird am Ende des Odfelds lediglich die Fortdauer unerfüllten sexuellen Begehrens über den Tod hinaus anschaulich, wird der Grundimpetus menschlichen Glücksstrebens, die erotische Sehnsucht, indem sie in krude Nekrophilie übergeht, auf grausige Weise dem Tod anverwandelt. Auf diese Situation - es ist im Grunde die gleiche wie im Katthagen, nur reicher ausgeführt - reagiert Magister Buchius nun in der Tat anders als vorher, womit die Vermutung, der Schlußabschnitt sei nicht nur komplementär zu der letztbesprochenen Szene im Katthagengebüsch angelegt, sondern auch als Alternative dazu zu verstehen, sich bestätigt. Schon das Durcheinander in seiner Zelle, die zerstörte Beschaulichkeit seines Museums, deutet darauf hin, daß es Buchius nicht mehr möglich ist, die vormalige Distanz zu den Dingen, die Pose stoischer Ungerührtheit, aufrecht zu erhalten. Durch den Raben hat, wie im letzten Kapitel beschrieben, der Wirbel Eingang in die Klosterzelle gefunden, und der Magister, fernab jeglicher Todeserstarrung bei Lebzeiten, ignoriert ihn mitnichten. Indem er die Absicht des Raben, hinaus aufs Odfeld zu fliegen, zu vereiteln strebt - übrigens ein Auftritt, der im Zusammenhang steht mit den früheren Szenen in Zelle und Höhle, da Thedel den Raum verließ und Buchius ihn zurückzuhalten suchte; in sarkastischer Analogie dazu drängt es nun den Aasvogel nach draußen, sein Leichenmahl an dem Junker zu halten -, indem der Magister sich also dem wütenden Tier, dem Abgesandten des Herrn 201

Zebaoth, widersetzt, bezieht er im Wirbel Position gegen Gott, bietet in letzter Konsequenz dem apokalyptischen Herrn der Heerscharen trotzig die Stirn. Daran, daß Buchius beim Betreten seiner Wohnung, anders als in den erwähnten Parallelfällen, kein Licht in der hereinbrechenden Finsternis entzündete, war seine Abkehr von Gott schon deutlich abzulesen. Jetzt handelt er demgemäß, und wenn dies auch vergeblich zu bleiben scheint, so ist damit am Ende des Romans doch ein Zeichen gesetzt, eine Schlußperspektive geboten. Der prometheische Gestus der Auflehnung verbindet sich dem Scheitern der Idylle ohne Zwang, erwächst gar daraus als logischer Fortgang. Anschaulich wird dies über das sinnbildliche Lokal mit seinen überkommenen Elementen Grab und Altar. Bevor nämlich der Magister den Kampf mit dem Raben aufnimmt, sich zur offenen Revolte gegen den Herrn der Heerscharen bekennt, negiert sein apokalyptischer Gast quasi im Resümee des Geschehens noch einmal die symbolischen Garanten von Philemons und Baucis' Glück einer den Tod überdauernden Liebe und der Geborgenheit in Gott. Aus Hunger hackt der Vogel nach dem Arm der wundertätigen Marienstatue (218), welche Reliquie den Altar vertritt, und er schlägt, im Bestreben, zum Leichenfraß aufs Odfeld zu gelangen, einen Aschenkrug, also ein Gra^gefäß, in Scherben (219). Beides deutet die Schändung des toten Schülers durch den »dunklefn] Bote[n] Wodans« (217) an. Diese zynische Enttäuschung menschlicher Glückssehnsucht treibt den frommen Magister in die metaphysische Rebellion. Der Schauplatz, der eigentlich in der Tradition von Philemon und Baucis' lieblicher Aue zu stehen bestimmt war, wandelt sich zum kahlen kaukasischen Felsen, an dem Buchius, ein neuer Prometheus, der Apokalypse des Herrn Zebaoth trotzt. Der anfängliche Eindruck, wonach die Gleichartigkeit der im Lauf der Handlung vorkommenden Innenräume den fruchtlosen Kreislauf des Geschehens und, in weiterer Perspektive, der Historic überhaupt, verdeutliche, die verschiedentlich im Roman hervortretenden Momente der Stagnation und Resignation generalisiere, hat sich somit als unzutreffend erwiesen. Die signifikanten Übereinstimmungen, die man zwischen Zelle und Höhle bemerken kann, erscheinen in dem Augenblick, da Buchius seine Wohnung zum zweiten Mal betritt, hinfällig und bedeutungslos, hat dieser Schauplatz sein Gesicht doch völlig gewandelt, sind die für seinen ersten Aufenthalt daselbst charakteristischen Raum- bzw. Handlungselemente, die in der Ith-Grotte noch weitgehend unverändert wiederkehrten, Punkt für Punkt in ihrer Bedeutung negiert worden. 202

Gleiches gilt hinsichtlich der strukturbildenden Prägung der Innenräume durch das symbolische Lokal der Ovidischen Idylle. Die von vornherein gegebene Fragmentarisierung des räumlichen Ensembles von Eiche, Linde und Tempel bleibt zwar über den gesamten Romanverlauf hinweg bestehen, allerdings stellt ja bereits die »Verwirbelung« der Zuordnungen zwischen den Philemon-und-Baucis-Bäumen und dem Odfeld-Personal in der Höhle ein Moment der Instabilität, den Beginn einer Verwandlung dar; vollends anschaulich wird letztere dann durch die umgehauene Eiche und das verwüstete Kloster im Schlußabschnitt des Buches. Von Stagnation kann also nicht die Rede sein, doch schlagen die erwähnten Veränderungen auch keineswegs zum Besseren aus, bedeuten wohl gar einen Fortschritt gegenüber hoffnungslosem Stillstand, vielmehr bezeichnen sie die Situation der Menschen der Anspruch des Odfelds greift, wie schon erwähnt, ins Große, Allgemeine - als immer noch bedrängter, noch unglücklicher, noch aussichtsloser. Dem läuft eine andere Entwicklung zuwider, die sich gleichfalls über den jeweiligen Zustand der verschiedenen Innenräume dokumentieren läßt, nämlich die des Magisters Buchius von demütig-schicksalsgläubiger Gottergebenheit zur rückhaltlosen Revolte gegenüber dem apokalyptischen Herrn Zebaoth. Dieses Hineinwachsen der Hauptgestalt in die Prometheusrolle vollzieht sich ja in der Tat als Loslösung aus der totenähnlichen Erstarrung, die sie zu Anfang umfaßt, bzw. als Bejahung des Lebenswirbels, wodurch die Parallele der Zerstörung von Buchius' musealer Mönchszelle, dem Inbegriff des Konservierens von Althergebrachtem, besonders sinnfällig erscheint. Demgemäß spricht, dem äußeren Anschein zum Trotz, aus dem zirkeiförmig angelegten Geschehen des Romans keinesfalls die Fatalität des sich unendlich wiederholenden Kreislaufs, die Rebellion des Magisters wider den von Gott verhängten status quo nötigt, konträr dazu, von einer dynamisch ins Neue vorstoßenden Struktur, einer Sinnfigur des Fortschritts auszugehen. Somit könnte man das Odfeld einen Roman der Emanzipation nennen, der die Befreiung der Menschen aus dem apokalyptischen Zustand des Unglücks und des Leidens, in den sie Schwäche, Lebensangst und Resignation versetzt haben, aufklärerisch fordert, welche Tendenz sich in der zuletzt durch die Handlung hindurchschimmernden Symbolgestalt des Prometheus, des genuinen Helden aus dem siecle des lumieres und »vornehmsten Heiligen und Märtyrer im philosophischen Kalender«27 geradezu exemplarisch verkörpert. Karl Marx: Vorrede zur Dissertation. Zitiert nach Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 1979, 8.633. Vgl. Karl Marx: Frühe Schriften. Hg. v. Hans-Joachim Lieber u. Peter Furth, Darmstadt 1971, Bd. i, S. 22. 203

Befremdlich ist bloß, daß diese mythologische Folie den Titanen nicht im Moment seines Triumphs zeigt - wie es etwa in Goethes Gedicht geschieht -, sondern die Situation seiner Bestrafung vor Augen führt, die in Aischylos' Drama vorgebildet ist. Zwar bleibt Prometheus selbst am Kaukasos und in Fesseln moralischer Sieger über Zeus, doch geht damit eben untrennbar seine vernichtende tatsächliche Niederlage gegen den Götterherrscher und die Folter durch den olympischen Adler einher. Dazu fügt sich, daß diese Figur, wie schon vorhin erörtert, in Raabes Roman keineswegs als Sinnbild ewigwährenden Trotzes und ungebrochener Empörung gegen die himmlische Allmacht aufgefaßt ist, daß vielmehr - dies legen die im 4. Kapitel ausgebreiteten intertextuellen Bezüge nahe - die prometheische Auflehnung in pragmatischer und erfolgsorientierter Beurteilung als aussichtslos erachtet wird, weil der schließliche Todeswunsch des unentwegt Gemarterten seinen Widerstand unweigerlich zum Erlöschen bringen muß. Ergänzt man diesen Befund noch um die Bemerkung, daß der Schluß des Odfelds im Erzählzusammenhang ja schon die zweite Referenz auf die Prometheusgestalt darstellt, nach Buchius' selbstbewußtem Auftrumpfen gegenüber dem Herrn Zebaoth am Bach Lenne, so sieht man sich gezwungen, die obige Behauptung einer emanzipatorischen, revolutionären Tendenz des Romans geradezu umzukehren. Denn entweder man liest die doppelte Bezugnahme auf den Titanen in chronologischer Weise - dann schlägt zu Buche, daß Prometheus das erste Mal im Augenblick wildester Empörung wider Gott, das zweite Mal aber zur Stunde seiner Niederwerfung durch ebendenselben erscheint, also ungeachtet der trotzigen Haltung des Magisters, ausgerechnet das Scheitern des metaphysischen Sturmlaufs gegen den Herrn der Heerscharen sich dem Leser als Fazit einprägt. Oder, man vermerkt die Zweizahl der Anspielungen und daß in beiden Fällen sowohl der Aufstand als auch der Sturz des Titanen zur Anschauung gelangt. So gesehen vermag die prometheische Revolte die Kreislinie im Handlungsverlauf des Odfelds und des Althergebrachten überhaupt eben doch nicht zu unterbrechen, sie ist, ganz im Gegenteil, fest darin integriert28 und wiederholt sich selbst unendlich oft. Dies bedeutet freilich eine fortwährende Erneuerung des oppositionellen Potentials, doch erschöpft sich dieses ja ebenso regelmäßig, ohne die geringste Wirkung hervorzurufen. Sollte Raabe also wahrhaftig, indem er die prominente Symbolfigur des 18

Prometheus tritt im »Odfeld« als mythologische Hintergrundfigur zunächst in den Kapiteln 14. - 16. auf, dann erst wieder im 15. Kapitel. Vgl. im Schaubild: 204

vernunftgegründeten Fortschritts und der selbstbewußten Emanzipation von Gott demontiert, ihr durch die Zubilligung des »passiven Heldentums« zwar einerseits seine Reverenz erweist, ihr andererseits aber mit kritischer Schärfe jegliche Erfolgsaussicht, jegliche Perspektive auf eine Veränderung der Verhältnisse abspricht, - sollte also Raabe mit dem Oäfeld und dessen tapferem, sympathischem, jedoch unglücklichem und handlungsunfähigem Helden, Magister Buchius, einen Roman der generellen Hoffnungslosigkeit, der indirekten Bejahung des status quo, der Apokalypse geschrieben haben ?

(8. Kap.)

Prometheus 25. Kap., 5. Kap.

23. Kap., 3. Kap.

Prometheus 18. Kap.

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VIII. Mythologische Substrukturen

Um es vorwegzunehmen, Raabe hat mit dem Odfeld mitnichten ein pessimistisch-verzweifeltes Werk geschrieben, ganz im Gegenteil scheint mir der Roman im Zeichen einer schier religiösen Hoffnung zu stehen, spricht daraus die bestimmte, fast schon chiliastisch anmutende Zuversicht, daß die geschilderten apokalyptischen Verhältnisse sehr wohl zu bewältigen, umzukehren, in idyllischen Frieden zu verwandeln seien. Hält man dem entgegen, daß eine solche utopische Perspektive doch wohl deutlich wahrnehmbar sein müßte, was ja, wie in den vorangehenden Kapiteln dieser Untersuchung ersichtlich wurde, keinesfalls zutrifft, so ist freilich zu ergänzen, daß der grandiose Ausblick auf eine zu erwartende Glückszeit nur auf sehr verschlungenen Umwegen zu gewinnen ist, dem Leser zum Ende des Textes hin beileibe nicht als fertiges Ergebnis zuteil wird - und dies gewiß zum Besten des Buches. Abgesehen davon, daß die Vision, die meines Erachtens die Quintessenz des Odfelds darstellt, in eine komplexe Möglichkeitsstruktur gebettet ist, die es rechtfertigt, von einer Utopie im Konjunktiv zu sprechen, die Bedeutungsnuancen sowohl des Potentialis wie auch des Irrealis umgreifend, muß diese Utopie jenseits des äußeren Romangeschehens über die mythologischen Andeutungen des Textes aufgesucht, vom Leser buchstäblich konstruiert werden.1 Läßt er sich auf dieses Spiel ein, zeigt sich der Rolle des »passiven Poeten« gewachsen, mit welchen ahnungsvollen Worten ein Rezensent den Akt der Raabe-Lektüre schon im 19. Jahrhundert beschrieb,2 so wird ihm das Odfeld in der Tat Zu den mythologischen Elementen in Raabes Erzählwerk vgl. den ertragreichen Aufsatz von Renate Böschenstein: Mythologie zur Bürgerzeit. Raabe - Wagner Fontäne, in: JbRG 1986, 8.7-35, der auch utopische Momente des Mythos akzentuiert: »Der Mythos enthält nicht nur Figurationen von Welterfahrung, nicht nur Projektionen von Verlangen, Angst und Aggression, sondern auch Zeichen für die Sehnsucht des Menschen nach einer Welt, die anders beschaffen wäre« (S. 34). Allgemein zum Begriff des Mythos vgl. die umfassende, substantielle Darstellung von Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Karl Alberti: Vom Krähenfelde bis zum Odfelde. Zum 60. Gebunstag Wilhelm Raabe's am 8. September 1891. In: Bayreuther Blätter 14 (1891), 8.299. Allerdings hat Alberti seine Formulierung wohl kaum in dem Sinn gemeint, den man 206

zum Roman der Hoffnung werden, zur subversiven Ermunterung, Zustände bleierner Stagnation, ja selbst Situationen apokalyptischer Aussichtslosigkeit als das zu begreifen, was sie im Grunde immer schon gewesen sind: veränderbar. Kurz nachdem die Flüchtlinge aus Amelungsborn auf ihrem Weg nach der Höhle im Ith den Bach Lenne überschritten haben, der in symbolischer Lesart die Grenze zur Unterwelt markiert, halten sie inne und orientieren sich über den Stand der um sie herum tobenden Schlacht: »Herr Magister«, rief Knecht Heinrich, »Herr Magister, mir deucht, es gehet schlecht für unsern Herzog Ferdinand, und die Franschen gewinnen's ihm ab.« »Zum Henker ja«, rief Thedel. »Monsieur Le Crapaud und Monsieur La Grenouille sind wieder im Vorhupfen gegen den Idistavisus und also auch gegen uns. Ihr Kanon kommt wahrhaftig näher! Hört nur! All ihr groß und klein Geschütz hat was wie vom Froschsumpf an sich: Brekkekekk, brekkekekk, Koax, Koax! O mit Jovis Donner gegen die Batrachier! Vivat Fridericus Rex! Vivat Ferdinandus Dux!« (145)

Beiläufig habe ich schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß Münchhausen mit dieser onomatopoetischen Wiedergabe von Froschgequake, als welches ihm der Gefechtslärm der Franzosen erscheint, eine Anleihe bei Aristophanes macht, und zwar aus dessen Stück Die Frösche. Es ist dies jedoch nicht bloß ein schmückendes oder illustrierendes Zitat, vielmehr soll es als ein beiden Texten gemeinsames charakteristisches Element die Aufmerksamkeit des Lesers darauf lenken, daß es zwischen Raabes Roman und der antiken Komödie von der jeweils geschilderten Situation her durchaus noch mehr und gewichtigere Übereinstimmungen gibt als bloß das auffällige Froschgequake selbst. Bei Aristophanes befindet sich der als Herakles verkleidete Dionysos unter Charons Führung auf dem Weg in den Hades, wobei ihn der lautstarke Chor der Unterweltsfrösche ärgert und er sich bemüht, diesen zum Schweigen zu bringen, indem er sein Gequake bald durch Spottreden, bald durch nachahmendes Geschrei, bald durch Blähungen, von denen er überdies noch geplagt wird, zu übertönen sucht:

ihr heute zusprechen möchte, zumindest legt dies der Kontext nahe: »So werden wir durch Raabe passive Poeten - gewiss die seltenste Wirkung moderner Romanlectüre. Da wir nun an der Hand des Dichters seine Gestalten mitdichten, erhalten sie für uns den Charakter des Selbsterlebten; sie gehen als liebe gute Bekannten mit uns durch unser wirkliches Leben, obwohl sie doch die ureigenste Welt des Dichters bilden, die er sich selbst geschaffen hat.« 207

FRÖSCHE von Zeit zu Zeit auftauchend: Brekekekex, koax, koax! Brekekex, koax, koax! Brüder in Sumpf und Bach, Laßt uns im Flötenton Feierlich unser Lied Anstimmen, süß melodisch, Koax, koax! Das wir von jeher dem Sohne des Zeus, Dem Nysischen Bakchos aus Sümpfen laut Zugejubelt, wenn trunkenen Zugs Am heiligen Topffest alles Volk Wallfahrte zu unserem Gefilde! Brekekekex, koax, koax! DIONYSOS: Mich aber brennt schon am Gesäß Ein Wolf bei euerm »Koax, koax, koax!« FRÖSCHE: Brekekekex, koax, koax! DIONYSOS: Euch schiert das wenig, wie mich deucht! FRÖSCHE: Brekekekex, koax, koax! DIONYSOS: Daß ihr zerplatzt mit eurem »Koax!« Nichts, nichts als »koax« und wieder »koax!« FRÖSCHE: Allerdings, Herr Naseweis! Denn uns lieben die leierkundigen Musen, Liebt der bocksfüßige Pan, Virtuos auf dem Haberrohr, Uns geneigt ist der Harfner Apollon, Denn er braucht Rohr zum Steg seiner Zither, Das wir ihm feucht in Sümpfen ziehn. Brekekekex, koax, koax! DIONYSOS: Aber ich habe Blasen schon, Mein Podex schwitzt entsetzlich, und Beim nächsten Bücken quakt er mit: »Brekekekex, koax, koax!« Ich bitte dich, o musikalische Bande, Hör auf! FRÖSCHE: Lauter noch laßt es erschallen als je, Wenn wir an hellen Sommertagen Aufgehüpft aus Kress' und Kalmus Auf melod'schen Wellen schwammen, Sangesfrohe Musenjünger, Oder, uns vorm Regen duckend, Tief im Grund den Unkenreigen Orgelten, vergnüglich sprudelnd Wasserblasenperlengequirl! Brekekekex, koax, koax!

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DIONYSOS den Schenkel lüpfend: So! Das klingt zu euerm Ton! FRÖSCHE: Oh, da wird's uns schlimm ergehn! DIONYSOS: Schlimmer mir noch hier am Ruder, Immer auf dem Punkt zu bersten! FRÖSCHE: Brekekekex, koax, koax! DIONYSOS: Meinethalb könnt ihr all' krepieren! FRÖSCHE immer crescendo: Jetzt erst laßt uns mächtig schrein, Was vom Morgen bis zum Abend Unsre Gurgel halten will: Brekekekex, koax, koax! DIONYSOS schreit: Brekekekex, koax, koax! Meister sollt ihr doch nicht werden! FRÖSCHE: Du willst uns bemeistern? Koax! DIONYSOS: Aber ihr noch minder mich! Schreien will ich, muß es sein, Tagelang, bis auf den Hund Ich für immer mich gequakt! Brekekekex, koax, koax! Frösche verstummen DIONYSOS: Vertrieben hätt' ich euch das »Koax, koax, koax!«3

Bei Raabe wird Thedel, der im Mittelpunkt dieser kurzen Szene steht, gleichfalls von einem Unterweltsführer geleitet, nämlich von Buchius, der wenige Seiten zuvor zwar nicht als Charon, wohl aber als Hermes Psychopompos figuriert. Über die Parallele der Ausgangslage hinaus tut der Schüler auch das gleiche wie der verkleidete Gott: er schmäht, er quakt und er furzt. Letzteres allerdings nicht leibhaftig - es nähme sich in einem Roman des poetischen Realismus auch einigermaßen seltsam aus - sondern lediglich in vokaler Imitation. Der aristophanische Dionysos setzt ja ausdrücklich und voller Hohn mittels der von Thedel erneut aufgegriffenen Onomatopöie »Brekekekex, koax, koax!« das Geräusch des Froschgesangs dem seiner Darmwinde gleich. Für einen derartigen Beiklang in der Rede Münchhausens hat Raabe überdies gesorgt, indem er das lautmalerische Zitat nicht nur in den Romantext einfügte, sondern es noch zusätzlich - die Metaphorik drängt sich hier geradezu auf - darin widerhallen ließ. Wenn der Junker schreit: »Vivat Fridericus Rex! Vivat Ferdinandus Dux!« so ist das nichts anderes als ein Echo des unmittelbar davor erschollenen »Brekkekekk, brekkekekk, Koax, Koax!«, und zwar einschließlich seiner erör3

Die Komödien des Aristophanes, Bd. i, S-438ff. (Die Frösche, V. 210-272). 209

terten doppelten Bedeutung. Nur daß Thedel mit diesem Ausruf nicht die Franzosen verspotten, sondern seiner Begeisterung für die alliierten Feldherren, seiner martialischen Verve und Entschlossenheit, Ausdruck verleihen will. Durch den fatalen Hintersinn der Interjektion verpufft jedoch jeglicher heldenmütige Enthusiasmus, die Worte des Schülers erweisen sich als aufgeblasene Rodomontade, als flatus vocis, und wenn er ihnen gar noch in hochgreifender Steigerung beifügt: »O mit Jovis Donner gegen die Batrachier!«, so bezieht sich das unverkennbar auf das spöttische Sprichwort: »Er macht aus einem Furz einen Donnerschlag«.4 Über das Aristophanes-Zitat entpuppt sich Münchhausen also als Prahlhans, als Windmacher und Maulheld, was nicht zufällig so gut zu seinem Namen, den er ja wohl dem Bürgerschen Lügenbaron schuldet, stimmt, oder mit anderen Worten: in der mythologischen Tiefenschicht des Romans, da Buchius - über Goethe vermittelt - soeben in der Rolle des Prometheus auftrat, agiert Thedel Münchhausen als falscher Komödienherakles aristophanischer Provenienz. Diese intertextuelle Anbindung des Ouf/eW-Personals an antike Heroenfiguren bzw. ihre literarischen Spiegelungen erscheint angesichts einer weiteren Analogie zwischen den Fröschen und dem Odfeld besonders bedeutsam. Der zweite Teil der Komödie enthält den berühmten Dichteragon im Hades zwischen den beiden verstorbenen Tragikern Aischylos und Euripides, durch den der Theatergott Dionysos den Dramatiker ermitteln möchte, der in schwerer Zeit zum Wohl des athenischen Staates wieder in die Oberwelt zurückkehren soll, fehlt es doch dort an einem guten Dichter.5 Dem entspricht in Raabes Roman - und somit im epischen Genre - der Erzählwettstreit in der unterirdischen Höhle. Zwar stehen die von den Flüchtlingen in dieser Situation vorgebrachten Geschichten nicht ausdrücklich in Konkurrenz zueinander, doch versuchen ihre Erzähler durchaus, sich gegenseitig zu übertrumpfen, rivalisieren offensichtlich um die Darbietung der erstaunlichsten Begebenheit, der überraschendsten Pointe. Desgleichen könnte man gegen eine Parallelisierung der beiden Szenen einwenden, daß im Odfeld drei Personen miteinander wetteifern, bei Aristophanes nur zwei. Jedoch hat Schelzes Schilderung des Kobolds von der 4

5

Vgl. dazu Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. Hrsg. v. Karl Friedrich Wilhelm Wander, Bd. i, Leipzig 1867 [Nachdruck: Darmstadt 1964], Sp. 1294, Art. »Furz«, Nr. 22. Laut Küpper: Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache, Bd. 3, Stuttgart 1983, 5.961, Art. »Furz«, Nr. 32, ist die Wendung etwa seit 1600 belegt. Vgl. auch Röhrich: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. i, S. 490, Art. »Furz«. Die Komödien des Aristophanes, Bd. i, S. 459ff. (Die Frösche, V. 836ff.). 210

Hohlen Burg bloß einstimmende Funktion, schafft lediglich die Atmosphäre für die nachfolgenden beiden Erlebnisberichte, die, im Unterschied zu dem ersten, beziehungsreich in das Symbolgeflecht des Romans einverwoben sind. Die Erzähler dieser zwei sehr unterschiedlichen Gespenstergeschichten sind Buchius und Thedel, also jene beiden Figuren, denen die mythologischen Gestalten des Prometheus und des Herakles entsprechen; in den Fröschen treten Aischylos und Euripides gegeneinander an, just die Schöpfer der klassischen Prometheus- bzw. Herakles-Orzmen. Stellt dies auch keine Parallele im eigentlichen Sinn dar, so ist andererseits das Verfahren, einen Autor biographisch oder namentlich mit seinem Werk gleich- oder in ganz bestimmte Beziehung zu setzen, im Odfeld auch nicht ohne Beispiel man denke an die bereits erörterten Fälle Hagedorns, Bürgers oder Ovids.6 Dazu kommen strukturelle Analogien zwischen den jeweiligen Situationen. In den Fröschen streitet ein Archaiker gegen einen Modernen, ein zumindest historisch - Alterer gegen einen Jüngeren, ein Frommer gegen einen skeptischen Rationalisten. Die Parallelen bei Raabe sind augenscheinlich. Die Geschichte, die der alte Buchius in antiquierter Umständlichkeit vorträgt, ist geprägt von abergläubischer Scheu, von ehrfürchtiger Ergriffenheit angesichts des Unerferschlichen; die in flottem Ton und mit dem Gestus aufgeklärter Frivolität von dem jungen Münchhausen zum Besten gegebene Anekdote hingegen hat gerade die Entmystifikation, den rationalen Nachweis aller natürlichen Umstände bei einer ähnlichen Gespenstererscheinung zum Inhalt.7 Schließlich ist der gleiche Ausgang dieser literarischen Konkurrenzen anzuführen. Bei Aristophanes darf Aischylos den Hades verlassen; er ist der Dichter, den die Stadt Athen in schwieriger Lage am nötigsten braucht. In Raabes Roman muß gleichfalls einer der beiden Kontrahenten in der Unterwelt verbleiben, nämlich Thedel, die dem Euripides entsprechende Gestalt; die Gefährten finden seinen Leichnam unweit eines der Lenne zufließenden Baches, welches Gewässer im Odfeld, wie schon erwähnt, die Grenze zum Jenseits bezeichnet. Buchius dagegen, der Aischylos' Stelle einnimmt, überlebt; offenbar hat er die im Kontext der Romanproblematik gültigere Geschichte mit weiterführender Perspektive erzählt. Diese Gespenstergeschichten Buchius' undThedels dürfen nicht isoliert von ihrer jeweiligen mythologischen Rolle als Prometheus respektive He* Vgl. dazu Verf.: Baucis ohne Philemon, S. 26,47 u. 64$. 7 Vgl. dazu Oppermann: Der passive Held, S. 461. 211

rakles betrachtet werden. Bei näherem Hinsehen erweist sich nämlich, daß das von ihnen Berichtete in ganz bestimmtem Zusammenhang mit dem entsprechenden Äschyleischen bzw. Euripideischen Drama steht. Die //era&/es-Tragödie führt aus, wie der Held, der geradewegs vom Hades, dem Schauplatz der letzten der ihm aufgegebenen zwölf Arbeiten, kommt, seine vom Tod bedrohte Familie rettet, indem er den Tyrannen Lykas erschlägt, gleich darauf jedoch in einem Wahnsinnsanfall, den seine Feindin, die Göttin Hera, bewirkt hat, Frau und Kinder eigenhändig ermordet. Die Verzweiflung des Herakles nach seinem Erwachen weicht schließlich im Gespräch mit dem Freund Theseus der schmerzerfüllten Annahme seines Schicksals, einer stillen Ergebung in die über ihn verhängte Passion.8 Thedels Geschichte weist zu der Handlung dieses Stücks einige interessante Parallelen auf. Zunächst kommt auch er zu Beginn seines Abenteuers eben aus dem Hades; diese Bedeutung nimmt nämlich der »Froschpfuhl auf dem Odfeld« (167) im Hinblick auf die Aristophanischen Frösche an. Sodann entspricht der »junge[ ] Tannenbaum in der Faust« (167) des Junkers der Keule des Herakles, wie wohl insgesamt der »Wilde Mann« (167), mit dem Thedel sich vergleicht, seinem Äußeren nach als ein Derivat des griechischen Heros angesehen werden kann. Schließlich errettet Münchhausen gleichfalls die Seinen, nämlich die Klosterleute samt dem ihm befreundeten Heinrich Schelze, aus der Gewalt ihrer Feinde. Der Schüler stilisiert sich also in seiner Geschichte, die ohnehin ihn selbst zum Mittelpunkt hat, unbefangen eigensüchtig zu Herakles, dem Inbegriff des Helden, indem er - wenn auch, ohne es zu wissen - mit seiner Erzählung dem Geschehen des Euripideischen Dramas folgt. Allerdings nur in dessen erstem Teil, da Herakles im Rahmen einer gerechten Weltordnung der drohenden Untat begegnet. Für die in der zweiten Hälfte der Tragödie geschilderte Situation, da der Protagonist auf empörend ungerechte Weise selbst zum Opfer der Götter wird, findet sich in Thedels Erlebnisbericht keine Entsprechung, ebensowenig wie für Herakles' Haltung am Schluß des Dramas, da er bittere Anklagen gegen Hera erhebt: Soll tanzen doch des Zeus berühmte Gattin und erschüttern den Olymp mit ihrem hohen Schuh! Erfüllt hat sie den Wunsch, den sie gehegt, sie hat den ersten Mann von Griechenland aus seinen Wurzeln Euripides: Tragödien. Griechisch und deutsch von Dietrich Ebener, Bd. 3, Berlin 1976,8.18-101. 212

gerissen und zerschmettert - wer noch könnte beten zu solcher Gottheit?9

Den bereits beschlossenen Freitod erkennt Herakles jedoch als Konsequenz des ihm feindlichen Götterwillens und entscheidet, diesem zum Trotz, die Last des ihm gewordenen Schicksals weiter zu tragen, sich einem Leben zu stellen, das schwerer zu erdulden sein dürfte als der Tod.10 Für diese im Rahmen der /eW-Thematik allein relevante Art des Heldentums fehlt Münchhausen, so wird man annehmen können, das Verständnis. Verkörpert er doch eigentlich gar nicht einen neuen Herakles; vielmehr muß man in ihm laut dem angespielten Aristophanischen Hintergrundtext einen zwar großsprecherischen, jedoch feigen, komödiantisch karikierten Dionysos sehen, der sich für Herakles bloß ausgibt, allerdings - gattungstypologisch - nicht die Züge des gewaltigen, unbezwingbaren Heros annimmt, sondern die des bramarbasierenden Vielfraß und Saufaus. Dadurch ist offensichtlich, daß Münchhausen die Befähigung für die im Odfeld geforderte Oppositionsrolle gegen den Herrn Zebaoth - diese ist es nämlich, zu der eine der beiden Romanfiguren durch die geeignetere Erzählung im jenseitigen Wettstreit die Möglichkeit eines Weiterlebens in der Oberwelt erwirkt und die somit bei Raabe als Handlungsmotivation dem Wohl des athenischen Staates in den Fröschen entspricht - ganz und gar abgeht; Thedel stirbt einen nüchternen, perspektivlosen Tod, an den sich keinerlei Verheißung, wie sie mit seinen verschiedenen anspruchsvollen mythologischen Rollen jeweils verbunden ist, knüpft: weder die Auferstehung des gekreuzigten Christus, noch die triumphale Wiederkunft des zerstückelten Dionysos, noch die Apotheose des sich selbst verbrennenden Herakles. Offensichtlich stellt die Geschichte, die der Magister in der unterirdischen Höhle erzählt, demgegenüber eine vorzuziehende Alternative dar. Das verwundert um so mehr, als darin gar keine Handlung, geschweige denn irgendeine Form von Heldentum auszumachen ist. Buchius berichtet, daß er ein gespenstisches Wesen - unklar, ob Mensch aus grauer Vorzeit oder ob gar Göttergestalt - erblickt habe, das »mit einem blutigen Messer auf den Ruderibus der Klus« (164) gesessen sei, ihn, den Magister, aber gar nicht beachtet habe. Kennzeichnend erscheint allerdings, daß im Unterschied zu Thedels Erzählung, deren Hauptfigur der Schüler selbst ist, Buchius von der eigenen Person nur am Rande spricht, lediglich als passiver 9 10

Ebenda, S. 93 (Herakles, V. 1303-1308). Vgl. dazu Dietrich Ebener: Einführung und Kommentar zu »Herakles«, in: Euripides: Tragödien, Bd. 3, S. 12.

Zeuge einer Begebenheit auftritt, in deren Mittelpunkt ein anderer steht. Dieser andere ist ein Opfernder - er kommt mit dem »blutigen Messer« vom »Opferstein, allwo man die Römer und die Soldaten Caroli Magni abgeschlachtet hat« (165) -, der für seinen Beobachter kein Interesse zeigt: »Er kümmerte sich nicht um mich. Er sah nicht nach mir« (164). Diese Konstellation erinnert in manchem an die Szene, da die Flüchtlinge aus Amelungsborn auf dem Weg nach der schützenden Höhle die Lenne durchquerten und Buchius sich, um die Gefährten zu retten, den Göttern als Opfer preisgeben wollte, welches Anerbieten diese aber offensichtlich verschmähten und statt seiner den jungen Münchhausen zum Tode bestimmten. Ich habe vorhin ausgeführt, daß die Figur des Prometheus den mythologischen Hintergrund für eine solche Haltung des Magisters bildet, insofern als im Odfeld der Göttertrotz und das letztendliche Todesbegehren des revoltierenden Titanen in diese eine Geste gefaßt, zur typologischen Signatur der prometheischen Position gegenüber Gott geworden ist.'' Als abermaliger und schließlich prinzipieller Rekurs auf diese Grundeinstellung wäre demnach die Vision des Magisters zu interpretieren, die somit deutlich akzentuiert Bezug auf Aischylos' Drama vom Gefesselten Prometheus, das literarische Urbild des Rebellen wider die Götter, nähme. Dieser Bezug konkretisierte sich allerdings, anders als im Parallelfall, da Thedel den Handlungsverlauf des Euripideischen Stücks zumindest teilweise in seiner Geschichte nachvollzieht, im Verweis auf eine abstrahierte, symbolische Situation, die den Standpunkt des Protagonisten in nuce zu fassen beansprucht: eben das Bild der Opfer- und Todessehnsucht des Prometheus, die jedoch keine Erfüllung findet, da ihm die schier endlose Qual am kaukasischen Felsen prädestiniert ist, in welchem Schicksal sich wiederum der Schluß des Romans und das Los des dem Raben ausgelieferten Magisters spiegelt. Diese etwas spekulative Interpretation ist von anderer Seite her durchaus wahrscheinlich zu machen, finden sich doch im Umfeld von Buchius' Erzählung einige versteckte Hinweise, die eine präzisere Deutung der rätselhaften Episode ermöglichen. Während des Gesprächs der Flüchtlinge in der Ith-Höhle fällt einmal der Ausdruck »Bärenhäuter«. Thedel berichtet, er und seine Schulgenossen seien von den Lehrern in Amelungsborn pejorativ als »cheruskische Bärenhäuter« (161) tituliert worden, in welcher Funktion, als harmloses Scheltwort, die Wendung auch allgemein geläufig

" Vgl. dazu Kap. IV dieser Studie, bes. S. 95. 214

ist." Selinde läßt jedoch in ihrer Replik - selbstredend unwissentlich - eine andere Bedeutungsnuance des Wortes hervortreten, indem sie von »Bärenfellen« spricht, »auf denen sich Seine Herren Vorfahren geräkelt haben« (162). Eine solche Zerlegung des Kompositums verbunden mit der Evokation germanischer Frühzeit - unter den »Vorfahren« sind die Cherusker zu verstehen - erinnert nämlich daran, daß der Ausdruck »Bärenhäuter« eine Übersetzung des altwestnordischen Wortes »Berserker« darstellt. Dieses bezeichnete die Mitglieder germanischer Kriegerbünde mit kultischer Beziehung zu Odin, dem Schlacht- und Totengott, für die neben ihrer rasenden Kampfeswut insbesondere die schreckenerregende Vermummung mit Bären- oder Wolfsfellen charakteristisch war. I3 Da die germanischen Krieger ihre gefangenen Gegner häufig Odin zu opfern pflegten,'4 liegt ein Zusammenhang mit Buchius' Vision nahe. Was dieser imaginiert, ist ja im Grunde nichts anderes als eine Opferszene, die eben stattgefunden haben muß, kommt doch der »erste[ ] ureigenef ] Herr[ ] und Eigentümer der heiligen Stätte« gerade mit »blutige[m] Messer« »von dem Orte, wo sein Stein gestanden hat, sein Altar und Opferstein, allwo man die Römer und die Soldaten Caroli Magni abgeschlachtet hat« (164^). Überdies ist jene Stelle noch durch das »Agnus Dei« (164) gekennzeichnet, das »Lamm Gottes«, das für den sich am Kreuz aufopfernden Christus steht. Zunächst mag es den Anschein haben, als ob unter dieser grausigen Gestalt ein Opferpriester zu verstehen sei, liest man aber genauer - »erster ureigener Herr und Eigentümer der heiligen Stätte«, »sein Stein« [Hervorhebung von mir, H.M.], »allwo man [d.h. nicht er selbst] die Römer und die Soldaten 12

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Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. i, Leipzig 1854, Sp. 11281., An. »Bärenhäuter«. Vgl. dazu Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Berlin 2 i