154 98 19MB
German Pages 283 [284] Year 1995
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 78
Julia Bertschik
Maulwurfsarchäologie Zum Verhältnis von Geschichte und Anthropologie in Wilhelm Raabes historischen Erzähltexten
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bertschik, Julia: Maulwurfsarchäologie : zum Verhältnis von Geschichte und Anthropologie in Wilhelm Raabes historischen Erzähltexten / Julia Bertschik. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 78) NE: GT D 188 ISBN 3-484-32078-8
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck: Weihert-Dnick GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nädele, Nehren
Inhalt
Siglenverzeichnis Vorwort
VII IX
ERSTER TEIL
Geschichte als Strukturgeschichte: Auf den Spuren >deutscher SonderwegsThe Birth of a Nation< 34 Gründungsmythen versus >deutsche Melancholie< 34 »Mit Mann und Roß und Wagen, / so hat sie Gott geschlagen!« Antinapoleonische Erhebung in Raabes Die alte Universität (1858) - eine Quellenanalyse 38 Von indianischen Eingeborenen und »Geister[n] der Vergangenheit« Zum Modell Nordamerika in Raabes Eulenpfingsten (1874) und Die Gänse von Bützow (1864-1865) 45 Marginalität und ethnologischer Blick als nationales Korrektiv in Raabes historischen Werken der Stuttgarter Zeit 51 Schleswig-Holstein-Konflikt und frühneuzeitliche »deutsche Bürgerfreiheit« in Raabes frühen Werken 55 Religiöse Konzepte: Modell >neues Israel 65 a. Diaspora 67 b. Heimwehgefühle und Brudermord 69 >Der deutsche Michel< Patriarchalische Aspekte des Nationalismus 76 Nationalismus und Historisierung 91
V
ZWEITER TEIL
Geschichte als Triebgeschichte: Zur Verbindung von Sexualität und Krieg im Werk Wilhelm Raabes
97
1.
Beständigkeit heißt Wandel - Verklammerungsmöglichkeiten von Geschichte und Anthropologie 97 2. Krieg und Sexualität 105 2.1 »[•••] wir sind daheim, sind wieder unter uns!« Krieg und Männerbund 105 2.2 Krieg und Leidenschaft 113 2.2.1 >Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen...< Der Ritter als nationales wie erotisches Modell 115 2.2.1.1 »Der Krieg ist die große Pubertät« 115 a. Duell 115 b. Schule/Initiation und Krieg 118 c. Militarisierte Trauere 120 2.2.1.2 Vom »Kriegessturm« ins »Hochzeitsbett« 121 a. Trennung und Flucht 122 b. Eroberung 125 c. Bewährung und Heimkehr 130 d. Desertion 138 2.3 Krieg und Anthropophagie 143 2.3.1 »Hast d u noch Durst, du Vieh. Geh Wasser saufen.« Kannibalismus und Vampirismus als politische Metaphern 143 2.3.2 >Da werden Weiber zu Hyänen...« Die Frau als Kriegerin - der Krieg als Frau 153 2.3.3 »Ich bin der Vampir meines eignen Herzens« Untotes Begehren und begehrende Untote 164 a. Unheimlicher Süden 164 b. Gefräßige Augen 178 2.3.4 »[...] das soll mir jetzt das rechte Fressen sein in der verhungerten, lustigen Zeit!« Kriegskannibalismus und sexueller Vampirismus in der Höhlenszene von Raabes Odfeld (1886-1887) 193 a. >Kriegs-Hunger< 194 Exkurs zur gründerzeitlich-industriellen Variante von Kannibalismus und Vampirismus in der tropischen Zimmerhöhle von Raabes Meister Autor (1872-1873) 208 b. >Liebes-Hunger< 214 3. >Textophagie< oder »pla(y)giarism« 221 (K)EIN ScHLUSS:
»Was ich schreibe, sind Maulwürfe [...]«
227
Literaturverzeichnis
245
VI
Siglenverzeichnis
Archive HAB RGst StA StB
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Raabe-Gedächtnisstätte Braunschweig Stadtarchiv Braunschweig Stadtbibliothek Braunschweig
Werke und Zeitschriften DH DVjs FH
Gebhardt
GG HdW. dt. Aberglaubens HZ JbRG Lensing/Peter, Raabe
Mitt.
RinS RK
Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Deutsche Historiker, Bd. 1 - 9 , Göttingen 1971-1982 Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Die neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 9., neu bearb. Auflage, hg. v. Herbert Grundmann, [bislang] 22 Bde., Stuttgart 1987ff. Geschichte und Gesellschaft Bächtold-Staubli, Hanns [u.a.] (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 10 Bde., Berlin u. Leipzig 1927-1942 Historische Zeitschrift Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, Braunschweig 1960-1988, Tübingen 1989ff. Lensing, Leo A. u. Peter, Hans-Werner (Hg.): Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Aus Anlaß des 150. Geburtstages (1831-1981), Braunschweig 1981 Mitteilungen für die Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes [ab 1948: Mitteilungen der Raabe-Gesellschaft], Braunschweig 1 / 191 Iff. Helmers, Hermann (Hg.): Raabe in neuer Sicht, Berlin, Köln [usw.] 1968 Wilhelm Raabe Kalender, Berlin 1911-1913, Goslar 1947f.
VII
Vorwort
>Maulwurfsarchäologie< als poetologisches Merkmal der historischen Erzähltexte Wilhelm Raabes, eines heutzutage ins Abseits gerückten Autors des 19. Jahrhunderts, der Epoche von Realismus und Historismus? D a s klingt nicht gerade nach einer optimistischen Beschreibung tagheller Wirklichkeiten oder der selbstsicheren Präsentation historischen Faktenmaterials. Eher schon nach der tastenden Erforschung von Untergrundsegmenten, nach Dunkelheit, Blindheit, aber auch nach der beharrlichen, einsamen Suche eigener Wege durch ein höhlenartiges Gängelabyrinth. U n d doch bilanziert Raabe in einer seiner wenigen Selbstaussagen ein Jahr vor seinem Tod die eigene Tätigkeit als Schriftsteller gerade im Bild eines unterirdisch wühlenden Maulwurfs. Daß er für seine Zeit damit übrigens nicht allein stand, wird im Schlußkapitel ausführlich nachzulesen sein. Vor allem in Raabes historisch situierte Texte, die immerhin fast ein Drittel des Gesamtwerks ausmachen, schreibt sich diese Maulwurfsarchäologie als geschichtshermeneutisches Programm ein. Ihre Spuren nachzuzeichnen, hat sich diese Arbeit zur Aufgabe gemacht. Infolgedessen ist die ihr eigene Argumentationsstruktur gleichfalls einer untergründigen >Wühlarbeit< verpflichtet, die jeweils neue, interpretatorische wie methodische Ansatzpunkte aufsuchen muß und sich einer einheitlich geschlossenen Darstellungsform verweigert. Was zunächst nach feuilletonistischer Wortspielerei klingen mag, soll als ein Verfahren erprobt werden, das zwei für diese Arbeit relevante Themenbereiche im Kern trifft: das Verhältnis von Geschichte und Anthropologie in Raabes historischen Erzähltexten, genauer: ihre Verbindung von struktur- und triebgeschichtlichen Aspekten. Der an historisch verorteten Erzähltexten Interessierte sieht sich inzwischen mit einer vielfältigen, zumeist historismuskritisch orientierten geschichtswissenschaftlichen Methodendiskussion konfrontiert, die die Frage nach ihrem Gegenstand selbst in konkurrierenden, widerstreitenden Ansätzen formuliert. Sie reichen von Sozial-, Mentalitäts- und Geschlechtergeschichte über Historische Anthropologie, Ethno- und Psychohistorie bis zu diversen Narrativitätskonzepten und neohistoristischen Renaissancen. Geschichte als Gegenstandsbereich moderner Geschichtswissenschaft hat sich also erweitert und ausgedehnt, ohne Historie dabei finalisieren zu wollen. Gerade in dieser >labyrinthischen< Vielfalt und Offenheit scheint mir jedoch eine Zugangsmöglichkeit zu Raabes historischen Erzähltexten zu liegen. Zeichnen sie sich doch ebenfalls durch eine weitgefaßte und variantenreiche Auffassung von Geschichte aus - nun allerdings in literarischer IX
Umsetzung. Vor allem die Mehrdeutigkeit und partielle Widersprüchlichkeit von Raabes historischen Werken hat bislang - im Unterschied zum weitaus differenzierteren Forschungsstand zu Raabes sogenannten nichthistorischen Texten - zuwenig produktive Auseinandersetzungen hervorgebracht. Dabei trägt der erste Teil meiner Arbeit zunächst dem Umstand Rechnung, daß Raabes historische Texte, in Teilen auch seine Zeitromane — bereits hier verbietet sich eine dogmatische Eingrenzung —, epochenübergreifend erzählen. Stellt diese Tatsache in der Raabe-Forschung kein N o v u m dar, so ist sie bislang doch allein als Kennzeichen einer Beliebigkeit Raabescher Zeiten-Auswahl gewertet worden. Dieser rezeptionsgeschichtlich bedingte Aspekt wird zu Beginn des ersten Teils auf der Folie einer Zeitanalyse des Literaturkritikers Hermann Marggraff hinterfragt. Gleichzeitig findet sich in Raabes Texten jedoch eine auffällige Stereotypie historischer Fixpunkte deutscher Nationalgeschichte, wie sie dem oben genannten historischen Beliebigkeitsfaktor zu widersprechen scheinen. Diese Stereotypen lassen andererseits aber auch nicht den Verdacht einer möglichen Einfallslosigkeit bei einem vielschreibenden Autor zu, sondern beinhalten ein bewußt eingesetztes methodisches System. Wie das verzweigte Gangsystem eines Maulwurfs durchläuft es untergründig Raabes Gesamtwerk. D a durch entsteht eine literarische Sicht auf Geschichte, die traditionelle Epochengrenzen aufsprengende Strukturen enthüllt. Mit dieser Art der Geschichtsbetrachtung stellen sich Raabes Texte quer zu gängigen Historismuskonzepten, nicht aber zu ersten Vorläufern der sozial-, kultur- und damit gleichfalls strukturgeschichtlichen Ansätze sogenannter HistorismusAußenseiter. In ihrem vernachlässigten Umkreis wird Raabes historisches Werk hier erstmals betrachtet. Stellt man sich darüber hinaus die Frage, was Raabes Unbehagen am historistischen Konzept seiner Zeitgenossen provoziert haben mag, dann stößt man auf ein spezifisches Interesse, das Raabes Texte an geschichtliche Entwicklungen herantragen. Wenn man beispielsweise die Beziehungen einzelner Textteile, ihre Metaphern- und Allusionsfelder aus politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereichen untersucht, so kristallisieren sich markante Etappen spezifisch deutscher Fehlentwicklungen und Abweichungen von der westeuropäischen Geschichte heraus. Sie weisen verblüffende Analogien zu Thesen zum sogenannten d e u t s c h e n Sonderweg« auf. Dies ist die Bezeichnung der neueren, struktur- und sozialgeschichtlich orientierten Geschichtswissenschaft für die >deutsche Misere« einer nationalstaatlichen Verspätung und ihrer illiberalen, letztendlich im Nationalsozialismus kulminierenden Konsequenzen. In einzelnen Modellanalysen an weniger beachteten Einzeltexten des einerseits also national interessierten und infolgedessen auch nationalistisch ausgebeuteten Autors Raabe werden daher im ersten Teil die wesentlichen Bausteine seiner zugleich dezidiert nationalismuskritischen Argumentationsführung aufgefächert (antinapoleonische Erhebung, Modell Nordamerika, Modell >neues X
Israel« u s w . ) . W ä h r e n d a l s o z . B . in R a a b e s f r ü h e n T e x t e n a u s d e r Z e i t v o r der R e i c h s g r ü n d u n g von 1871 der Z u s t a n d deutscher Zersplitterung an der T e x t o b e r f l ä c h e in Figuren- u n d Erzähleraussagen v e h e m e n t beklagt problematisieren unterschwellig eingelagerte Textsegmente diese
wird,
Stellung-
n a h m e n zugleich wieder. D a s Charakteristische dieser s u b k u t a n e n
Äuße-
r u n g s f o r m e n — aus welcher M o t i v a t i o n heraus sie jeweils eingesetzt sind, wird an d e n Einzeltexten zu ü b e r p r ü f e n sein - m a c h e n dabei eher unauffällig, j a n e b e n s ä c h l i c h w i r k e n d e , k u r z e T e x t p a r t i k e l a u s . U m sie
überhaupt
k e n n t l i c h m a c h e n z u k ö n n e n , ist e s u n a b d i n g b a r , s i e k u r z z e i t i g a u s i h r e m ursprünglichen Textzusammenhang herauszulösen. Diese Analyse-Strategie läßt sich j e d o c h d u r c h ihren Ertrag rechtfertigen: über eine solche heuristische F o r m d e r T e x t m a r k i e r u n g k ö n n e n bisherige Seitenperspektiven erst in g e h e i m e Z e n t r e n v o n R a a b e s m e h r d e u t i g angelegten Texten vorstoßen.1 W i r k e n die struktur- u n d sozialgeschichtlichen Einzelanalysen im ersten Teil z u n ä c h s t in sich geschlossen, so gibt R a a b e s Textmaterial gegen e i n e R i c h t u n g vor, d i e s i c h — e n t s p r e c h e n d d e m T o p o s e i n e r archäologie -
s t e t i g in tiefere S c h i c h t e n h i n e i n g r ä b t u n d d a d u r c h
Subtext-Strukturen
erkennbar
werden
läßt.
Gemeint
sind
Ende
Maulwurfsweitere
mentalitätsge-
schichtliche, u m kollektivpsychologische K o m p o n e n t e n erweiterte Aspekte. S i e sollen hier u n t e r d e m O b e r b e g r i f f einer >Triebgeschichte< z u s a m m e n g e -
Wollte m a n dieses Verfahren z u d e m literaturwissenschaftlich-methodisch verankern, so würde sich in erster Linie Julia Kristevas Semiotik-Verständnis anbieten. O h n e hier eine längere Auseinandersetzung mit ihrem durchaus kritikwürdigen Ansatz beginnen zu wollen, sei lediglich auf einige Grundthesen ihrer bisherigen Arbeit hingewiesen, die den weiteren Verlauf meiner Argumentationsbasis stützen sollen. W i c h t i g scheint mir für meine zweiteilige Verklammerungsstrategie von (nationalpolitischer) Struktur- und (sexueller) Triebgeschichte, für deren Analyse an einem Autor des 19. Jahrhunderts vor allem die Überlagerung mehrerer Text-Diskurse von Interesse sein wird, daher folgendes: Gerade Kristeva untersucht in ihrer Texttheorie die literarische Einschreibungsmöglichkeit von politisch-sozialen u n d individuell-triebhaften Diskurswiderständen. Sie richten sich unterschwellig gegen die offiziellen Versprachlichungssysteme der eigenen Z e i t u m s t ä n d e , in denen ein Autor sich zu artikulieren gezwungen ist (vgl.: Julia Kristeva, Séméiotikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris 1 9 6 9 sowie: dies., La révolution d u langage poétique. L'avant-garde à la fin d u 19e siècle: Lautréam o n t et M a l l a r m é , Paris 1 9 7 4 ) . Diese doppelte Orientierung des dichterischen Textes wird a u f d e m H i n t e r g r u n d eines Symbol- und Zeichenverständnisses möglich, das Kristeva von Ideen des russischen Postformalisten Michail Bachtin ableitet. Kristeva verfolgt a m Beispiel des R o m a n s seit Beginn der Neuzeit einen Ü b e r g a n g v o m S y m b o l zum Zeichen. D i e eindeutige, theologische B e s t i m m u n g des mittelalterlichen Symboldenkens löse sich zugunsten eines offenen und in sich widersprüchlichen Zeichensystems auf, das >ein unendliches Nebeneinanderstellen nicht-hierarchisierter Aussagen« ermögliche (vgl.: Julia Kristeva, Le texte d u r o m a n . Approche sémiologique d'une structure discursive transformationnelle, T h e H a g u e , Paris 1970, S . 1 4 9 f . : »une juxtaposition infinie d'énoncés non-hiérarchisés«). Auch wenn Kristevas Thesen hier im einzelnen nicht weiter verfolgt u n d diskutiert werden, schien dieser Exkurs z u m literaturtheoretischen H i n t e r g r u n d d e n n o c h nötig, u m die doppelte, oberflächige wie s u b k u t a n e Diskursmöglichkeit eines dichterischen Textes zu kennzeichnen.
XI
faßt werden. Darunter ist die historische Einbindung von Triebstrukturen ebenso wie ihr eigener, nicht zu unterschätzender Einfluß auf historische Prozesse zu verstehen. Der Terminus >Trieb< zur Bezeichnung von Vorgängen, hinter denen sich ein unbewußter Wille verbirgt, bildet sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts dabei schon vor Freuds dezidiert sexualitätsorientierter Trieblehre heraus. Methodisch gesehen, handelt es sich also wiederum um Epochengrenzen überdauernde Strukturen, die jetzt etwas über das bei Raabe immer wieder metaphorisch verklammerte Feld privater und öffentlicher Geschichte aussagen. Auch diese Verbindung ist der Raabe-Forschung in Ansätzen bekannt. Sie ist jedoch nicht in dem ihr eigenen Spannungsverhältnis von Geschichte und Anthropologie gesehen worden. Diesen Konflikt thematisiert auf breiter Basis hingegen die Forschungsrichtung der Historischen Anthropologie. Beständigkeit und Wandel werden hier als direkt aufeinander bezogene Kategorien erkennbar. In der bisherigen Raabe-Forschung ist dieser Sachverhalt dagegen allein auf die vermittelnde These einer historisch unkonkreten Uberzeitlichkeit reduziert worden - korrespondierend zur Beliebigkeitsthese für Raabes epochenübergreifendes Erzählen allgemein, wie sie ja im ersten Teil dieser Arbeit diskutiert wird. Das oben beschriebene Spannungsverhältnis nimmt im zweiten Teil nun die titelgebende Verkopplung von Sexualität und Krieg auf, unter der sich >deutsche SonderwegsGeburtsstunde< deutscher Nationalbewegung und Nationalstaatlichkeit im 19. Jahrhundert gehen. Eine Glorifizierung des Kriegs gelang dem Historismus gerade auch deswegen, weil er ihn als Triebgeschichte verdrängte. Als eine der Folgen beginnt sich nun eine spezifisch deutsche Männlichkeitskultur auszuprägen. Sie verschanzt sich in Männerbünden gegen sexuell bedrohliche Weiblichkeit, sucht diese gleichzeitig aber auch zu substituieren, wie es ja bereits im ausschließlich mannmännlich besetzten Topos einer >Kriegs-Geburt< zum Ausdruck kommt. Diese Haltung bleibt umgekehrt aber auch nicht ohne Auswirkungen auf die Beziehung zum Krieg selbst, der einem irregeleiteten Begehren beispielsweise als Sexualersatz erscheinen kann. Methodisch bieten sich vor allem aus der Ethnologie bekannte Herangehensweisen an, in denen männerbündische Strukturen auf ihre initiatorischen Funktionen zur Herausbildung einer sozial eingebundenen Geschlechtsidentität abgeklopft werden. Raabes Texte leisten für ihre Zeit hier tatsächliche Maulwurfsarbeit, was entlang von zwei großen, poetologisch relevanten Modellkomplexen (Ritterauszugs-Stationen sowie Verklammerungen von Kriegskannibalismus mit sexuellem Vampirismus) verfolgt werden kann. Stellt sich im ersten Teil anhand unterschiedlicher Vorbild- und Negativ-Modelle auch die Frage nach nationalen IdentitätsXII
Möglichkeiten, so weitet sich dies im zweiten Teil aus. Hier soll es um die individuelle K o m p o n e n t e einer gleichfalls in nationalhistorische Zusammenhänge eingebundenen Suche männlicher Geschlechtsrollen-Identität gehen. Raabes eigener >Sonderweg< im maulwurfsarchäologischen Durchwühlen untergründiger Segmente deutscher Geschichte könnte sich - in genauem Gegenteil zur negativ besetzten, geschichtswissenschaftlichen Sonderwegsthese - damit gerade als Chance und Einschreibungsmöglichkeit in die europäische Literaturproduktion der Moderne erweisen. Danken möchte ich an dieser Stelle all jenen, die am Zustandekommen meiner Dissertation, die hier in überarbeiteter Form vorliegt, auf unterschiedlichste Weise beteiligt waren. Gefördert wurde sie durch ein zweijähriges Promotionsstipendium des Nachwuchsförderungsgesetzes. Prof. Dr. Horst Denkler hat mich an eine >neue Sicht< auf Raabe und sein Werk herangeführt und meine Studien mit Interesse, Offenheit und sachkundigem Rat begleitet. Unbürokratische Hilfestellung erfuhr ich von den Mitarbeitern des Stadtarchivs, der Stadtbibliothek und der Raabe-Gedächtnisstätte Braunschweig sowie der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Herr Friedrich Ehninger ermöglichte mir zudem die Einsichtnahme in Raabes Tagebuch-Originale. Dr. Michael Schmidt verdanke ich hilfreiche Kritik und zahlreiche Anregungen. Für die ausdauernde Gesprächsbereitschaft, fruchtbare Auseinandersetzung und aufmunternde Unterstützung möchte ich vor allem meinen Freunden Andreas Neuhaus, Kristine Thelen und Imke Baumann danken, meinem Bruder T h o m a s Bertschik darüber hinaus für großzügige Buchleihgaben. Meine Eltern Georg und Sabine Bertschik haben das Interesse an Literatur, Kunst und Wissenschaft geweckt, gefördert und mir nicht zuletzt ein geisteswissenschaftliches Studium ermöglicht. Ihnen allen sei diese Arbeit gewidmet. Berlin, im Herbst 1994
J. B.
XIII
ERSTER T E I L
Geschichte als Strukturgeschichte: A u f den Spuren >deutscher Sonderwegsnationalen Mythen» gesprochen werden - Mythos verstanden als eine Form elementarer Narration auch wenn es sich zumeist nicht mehr um intakte Mythologien handelt und die terminologische Abgrenzung zu Bereichen wie >Metaphern für Geschichte« oder >Kollektivsymbolen< fließend ist. 25 Unmittelbare christliche Mythologeme werden dabei auch in dem Artikel von Hermann Marggraff benutzt. Uber einen Vergleich mit der Staatenlosigkeit des Volkes Israel dienen sie jedoch nicht nur einer pathetischen Charakterisierung der verfehlten deutschen Nationenbildung. Biblische Analogien taugen hier ebenfalls zur emotionalisierenden Abwehr eines sozialistischen »Rothe[n] Meer[es]« von »Anarchie« und »Chaos«. 26 Etwa zur gleichen Zeit bedient sich aber auch Wilhelm Raabe biblischer Wassermetaphorik, um die Möglichkeit einer proletarischen Revolution zu skizzieren. In der ersten Fassung seines Romans Ein Frühling ( 1 8 5 6 - 1 8 5 7 ) , der übrigens von Marggraff wohlwollend rezensiert worden ist, 27 spricht Raabe von einer sintflutartigen Erhebung des Proletariats. Als notwendiges Übel trifft diese »Weissagung« hier jedoch auf Zustimmung. 28 Vgl.: Hagen Schulze, Die deutsche Nationalbewegung bis zur Reichseinigung, in: Otto Büsch u. James J . Sheehan (Hg.), Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte u n d Gegenwart. Beiträge zu einer internationalen Konferenz in Berlin vom 1 6 . - 1 8 . 6 . 1 9 8 3 , Berlin 1985, S. 8 4 - 1 1 7 ; S. 104 u. S. 107. Schulze weist in diesem Z u s a m m e n h a n g z. B. darauf hin, daß der Massennationalismus vor der Reichsgründung in den katholischen Traditionsregionen mit ihrer stärkeren Religionseinbindung wesentlich geringer ausgeprägt war als im protestantischen Deutschland. Vgl.: Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, M ü n c h e n 1978 sowie: Axel Drews, Ute Gerhard, Jürgen Link, Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1. Sonderbd., T ü b i n g e n 1985, S. 2 5 6 - 3 7 5 . Vgl. zur speziellen Eingrenzung nationaler M y t h e n : Jürgen Link, W u l f W ü l f i n g ( H g . ) , Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991, S. 11. Marggraff, Weissagung, S. 6 7 . Der Topos »Rotes Meer« enthält gleich in dreifacher Form - erzwungene Flucht der Juden aus Ägypten, sozialistische Symbolfarbe Rot, rot wie Blut - negative Konnotationen. W i e konträr besetzbar diese M y t h e n sind, zeigt, daß sich auch M a r x in der Rolle des Moses sah, dessen Aufgabe es sei, sein Volk Israel (das Proletariat) aus der Verbannung (des Kapitalismus) zu führen; vgl.: Arnold Künzli, Karl Marx. Eine Psychographie, W i e n , Frankfurt a . M . [usw.] 1966, S. 6 4 0 . H [ e r m a n n ] M [ a r g g r a f f ] , Humoristische Erzählungen, in: Blätter für literarische Unterhaltung 44 ( 1 . 1 1 . 1 8 6 0 ) , S. 8 1 0 - 8 1 2 ; S. 8 1 2 . Raabes Werke werden zitiert nach: W i l h e l m Raabe, Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, hg. v. Karl Hoppe [nach dessen Tod v. Jost Schillemeit] [bis5
In Raabes Werken finden sich zudem weitere, für die Erfahrungsformen des 19. Jahrhunderts symptomatische Sprachbilder, wie sie auch Marggraff in seinem Artikel verwendet hat. Ein wesentliches Beispiel ist die Bodenmetapher, die ebenfalls in positivem als auch negativem Zusammenhang auftreten kann. Marggraff z. B. verband mit dem bildlichen Vorgang der »Wühlerei« ja das »Untergraben« alter Traditionen durch die moderne Welt. Besonders zur Zeit der revolutionären Ereignisse von 1848 gehörte diese Metaphorik zum gängigen politischen Vokabular 29 - in welcher Form sie dagegen in Raabes Texten auftritt, wird hier im Schlußkapitel zu untersuchen sein. Weitere Vergleichsmöglichkeiten zwischen Marggraff und Raabe liegen in einer melancholisch gekennzeichneten Zeitstimmung 30 sowie in der neuartigen Erkenntnis, daß die moderne Zivilisation ihre eigene Barbarei hervorbringe. Dies wird bei beiden durch Analogien tierischmenschlicher »Bestialität« im permanenten Kriegszustand ausgedrückt und reflektiert schon frühzeitig sozialdarwinistische Prinzipien. 31 Aber auch der Untergang Roms, bei Marggraff als Zentrum des Textes angelegt, gerät in Raabes Werk zum Menetekel deutscher Geschichte. So beispielsweise gleich zu Beginn seiner historischen Erzählung Des Reiches Krone (1870). Die Bedeutsamkeit des römischen Ereignisses erfährt jetzt jedoch eine Kontextualisierung im Hinblick auf frühere bzw. spätere Niedergangserscheinungen. Genannt sind die Untergänge der römischen Republik (48 v. Chr.) sowie des oströmischen Reichs (1453). 3 2 Dadurch wird zugleich eine (apokalypti-
lang] 2 0 Bde. u. 5 Erg.-Bde., Freiburg i.B./Braunschweig 1951 ff., Göttingen 1960ff. Wegen ihres textkritischen Fortschritts werden Raabes Erzählungen »Die alte Universität« und »Höxter und Corvey« dagegen zitiert nach: W i l h e l m Raabe, Die alte Universität, hg. u. k o m m . v. Ute M e n n e c k e u. Peter Rauckes, Helmstedt 1981 bzw.: W i l h e l m Raabe, Höxter und Corvey, nach der H a n d schrift von 1873/74, hg. v. Hans-Jürgen Schräder, Stuttgart 1981. Texte, die noch nicht in der »Braunschweiger Ausgabe« enthalten sind, werden zitiert nach: W i l h e l m Raabe, Sämtliche Werke. 3 Serien zu je 6 Bdn., Berlin o.J. [ 1 9 1 3 - 1 9 1 6 ] . Die Serien-, Band- und Seitenzahlen der Belegstellen werden mit den Abkürzungen BA und BA E, DaU, H u C bzw. S W angegeben; hier also: BA 1 , 2 5 7 u. 2 6 6 . — Falls nicht anders angegeben, beziehen sich die Daten literarischer Werke auf die jeweilige Entstehungszeit. Die Orthographie in Zitaten und Werktiteln richtet sich nach d e m Original. 25
30
11
32
Vgl.: Otto Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch, Straßburg u. Berlin 1906, S. 3 4 5 - 3 4 7 ( » W ü h l e r « ) ; S. 345f. sowie: Axel Drews, Ute Gerhard, Der Boden, der nicht zu bewegen war. Ein zentrales Kollektivsymbol der bürgerlichen Revolution in Deutschland, in: Link/Wülfing, Bewegung, S. 142—148. D e m T h e m a der M e l a n c h o l i e in Raabes W e r k ist bislang vor allem I r m g a r d Roebling nachgegangen: dies., W i l h e l m Raabes doppelte B u c h f ü h r u n g . Parad i g m a einer Spaltung, T ü b i n g e n 1988. - V g l . zu Raabes eigenen melancholischen S t i m m u n g e n auch die Tagebuchanalysen von: Horst Denkler, W i l h e l m Raabe. Legende - Leben - Literatur, T ü b i n g e n 1989, vor allem S. 116ff. Vgl. zu Raabes Darwinismus-Rezeption: Eberhard Rohse, »Transzendentale M e n s c h e n k u n d e « im Zeichen des Affen. Raabes literarische Antwort auf die Darwinismusdebatte des 19. Jahrhunderts, in: JbRG 1988, S. 1 6 8 - 2 1 0 . BA 9/2,323.
6
sehe) Steigerung wie auch eine Relativierung des Einmaligkeits-Charakters römischen Untergangs bewirkt. Raabe verwendet den historisch vervielfachten Niedergangstopos hier allerdings nicht zur bloßen Aktivierung nationaler Kräfte für den bevorstehenden Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, wie es zumeist gedeutet wird. 3 3 Trotz der am Schluß eindeutig durch den Erzähler bekundeten Sehnsucht nach deutscher Einheit 3 4 steht ihrer Einlösung das persönliche Kriegsleid der Figuren entgegen: Michel Groland erkrankt bei der Uberführung der deutschen Reichsinsignien nach Ungarn an Lepra; seine Verlobte wird als Vorsteherin des Leprakrankenasyls zu seiner Pflegerin statt zu seiner Ehefrau. Die dominierende melancholische Untergangsstimmung betrauert diese Opfer und verstellt so den Zugang zu nationaler Kriegseuphorie, wie sie die aktuelle Situation um 1870 herauszufordern scheint. 3 5 Wie an diesen Beispielen literarischer Aktualisierung des römischen Untergangs-Topos deutlich wurde, verbinden Raabe wie Marggraff, bei aller Unterschiedlichkeit im Detail, mit ihrem zyklischen Rückgriff auf Niedergang und Niedergangssymptome vergangener Epochen jedoch keineswegs ein auswegloses >Auf-der-Stelle-treten< der Historie oder eine fatalistisch-resignative »Negierung der Zeit«. 36 So legte es zumindest der Deutungskanon fast aller Arbeiten über Raabes Zeit- und Geschichtsbild bislang nahe. Dabei wollte sich Wolfgang Schlegel 1962 mit dieser Betonung eines pessimistischen Geschichtskontinuums lediglich von deutschnationalen, fälschlich aktualisierenden Deutungsmustern durch die Nationalsozialisten abgrenzen. Raabes Geschichtsbild sollte zum Thema einer »neuen Forschungsaufgabe« werden. 3 7 Ungeachtet einiger weniger Ausnahmen hält die deutschsprachige Raabe-Forschung an diesem historisch bedingten Interpretationsansatz jedoch bis heute fest. 38 Ein gutes Beispiel für diese
Vgl. von den neueren Arbeiten vor allem: Karl-Friedrich H a h n , Wilhelm Raabes »Des Reiches Krone«. Geschichte als erzählerisches Mittel, in: JbRG 1982, S. 1 2 5 - 1 4 1 . BA 9/2,378. Dies widerspricht älteren Oberflächenlesarten, die in diesen Opfern eine Art individueller Lebenserfüllung sehen; vgl. vor allem: Wilhelm Fehse, Wilhelm Raabe. Sein Leben und seine Werke, Braunschweig 1937, S. 360; Hermann Pongs, Wilhelm Raabe. Leben und Werk, Heidelberg 1958, S. 292f. sowie: Josef Kunz, Wilhelm Raabes Novelle »Des Reiches Krone«, in: JbRG 1966, S. 7 24; S. 24. - Vgl. zum generellen Problem einer d o p p e l t e n Rezeptionsmöglichkeit< vor allem für Raabes frühere Werke: Ulrike Koller, Vom »Lesepöbel« zur Leser-»Gemeinde«. Raabes Beziehung zum zeitgenössischen Publikum im Spiegel der Leserbehandlung, in: JbRG 1979, S. 9 4 - 1 2 7 . Hans O p p e r m a n n , Z u m Problem der Zeit bei Wilhelm Raabe, in: RinS, S. 2 9 4 - 3 1 1 ; S. 308. Wolfgang Schlegel, Über Wilhelm Raabes Geschichtsbild. Vorbemerkungen zu einer neuen Forschungsaufgabe, in: JbRG 1962, S. 2 2 - 3 1 . Vgl. hier vor allem: Walther Killy, Geschichte gegen die Geschichte. »Das O d feld«, in: RinS, S. 2 2 9 - 2 4 6 ; z. B.: S. 244 oder: Hubert Ohl, Bild und Wirk-
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und Corvey.
O b w o h l C a d o n n a in seiner
d i f f e r e n z i e r t e n Textanalyse eigentlich zu einer gegenteiligen, a u f k l ä r e r i s c h k r i t i s c h e n G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g Raabes tendiert, relativiert er dieses Ergebnis wieder, u n d zwar u n t e r Hinweisen auf ältere A u s f ü h r u n g e n zu Raabes >GeschichtsfatalismusKreis< u n d >Linie< zu s e h e n . 4 7 Dieser A n s a t z scheint auch Raabes historischen Werken eher gerecht zu werden als ein A n t a g o n i s m u s beider Modelle, wie er in der bisherigen Raab e - F o r s c h u n g zumeist verfolgt wurde. A u f der einen Seite gilt R a a b e hier ja als f o r m a l fortschrittlicher Literat. Sein achronologisches historisches Erzählen unterlaufe durch unübliche Q u e l l e n a u s w a h l und -Verarbeitung so-
44
45
46 47
S. 169ff. Dieser Ansatz kommt Raabes Schopenhauer-Interesse wohl am nächsten. Die Anstreichungen von seiner Hand in der 1892 erworbenen Ausgabe von Schopenhauers Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« häufen sich in den ersten beiden Büchern an Stellen über das Problem und die Relativität der Erkenntnis von Erscheinungen in der >Anschauung< sowie deren (künstlerischer) Vermittelbarkeit; vgl. die Ausgabe aus Raabes Bibliothek (StB: I 16/545): Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke in sechs Bänden, hg. v. Eduard Grisebach, Bd. 1, Leipzig o.J., S. 31—141 u. S. 143-229; besonders: S. 63ff. u. S. 180. Diese Einengung des Pessimismusbegriffs kritisiert bereits: Walter Hof, Der Weg zum heroischen Realismus. Pessimismus und Nihilismus in der deutschen Literatur von Hamerling bis Benn, Bebenhausen 1974, S. 144—153. Bernhard Sorg, Zur literarischen Schopenhauer-Rezeption im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1975, S. 38. Vgl. dazu: Plumpe, Zyklik, S. 21. Als »Spiralbewegung« beschreibt Klaus Jeziorkowski dabei auch Schopenhauers Geschichtsdenken: ders., Literarität und Historismus. Beobachtungen zu ihrer Erscheinungsform im 19. Jahrhundert am Beispiel Gottfried Kellers, Heidelberg 1979, S. 189f. Eine Vermittlungsmöglichkeit zwischen Natur und Geschichte im historischen Modell der Spirale weist Elke Kaiser darüber hinaus für den europäischen Raum des späten 19. Jahrhunderts am Beispiel Zolas nach: dies., Wissen und Erzählen bei Zola. Wirklichkeitsmodellierung in den »Rougon-Macquart«, Tübingen 1990, S. 72f. — Vgl. zu Raabes Poetologie in seinen Zeitromanen inzwischen auch die Beschreibung von Raabes Texten als bewußten »Kugelwelten« bzw. ihre Verbindung von >Kugel< und >Linie< als »Emblem der Moderne«: Albrecht Koschorke, Kreisbewegungen und semantische Zirkel bei Wilhelm Raabe. Eine exemplarische Analyse der Exposition seiner Erzählung »Vom alten Proteus«, in: JbRG 1990, S. 36-49; S. 48; Gerhart von Graevenitz, Der Dicke im schlafenden Krieg. Zu einer Figur der europäischen Moderne bei Wilhelm Raabe, in: JbRG 1990, S. 1-21; S. 17.
9
wie durch Parteinahme für die sogenannten >kleinen Leute« die zeitgenössischen Regeln von Historismus und historischem R o m a n . 4 8 Raabes historiographisches Darstellungsvermögen scheint sich auf der anderen Seite jedoch irgendwo in einer merkwürdigen, unkonkret-ethischen »Zeitlosigkeit des Mythischen« zu verlieren. 4 9 So verwundert es nicht, daß die wenigen Arbeiten, die den aufklärerisch-kritischen Impetus von Raabes Geschichtsdarstellung hervorheben, ihren Zugang nahezu ausschließlich über die Analyse formaler Kriterien - der Umsetzung historischer Fakten in Fiktion finden.50 V g l . zu Raabes Q u e l l e n a r b e i t vor allem: Erich Weniger, D i e Q u e l l e n zu Wilhelm Raabes » O d f e l d « , in: J b R G 1 9 6 6 , S. 9 6 - 1 2 4 und: Ingrid von Heiseler, D i e geschichtlichen Q u e l l e n und ihre Verwendung in Raabes Erzählung » H a stenbeck«, in: J b R G 1 9 6 7 , S. 8 0 - 1 0 4 sowie zu Raabes A b l e h n u n g von G e schichtshelden: Friedrich N e u m a n n , Erlebte Geschichte in Raabes Erzählung »Im Siegeskranze«, in: J b R G 1962, S. 1 0 8 - 1 2 0 . Vgl. zu Raabes formaler Kritik an H i s t o r i s m u s und traditionellem historischen R o m a n z u d e m : Stanley R a d cliffe, Wilhelm Raabe, der Dreißigjährige Krieg und die Novelle, übers, v. C h r i s t o p h Pereis, in: J b R G 1969, S. 5 7 - 7 0 (Erstveröffentlichung u.d.T.: T h e T h i r t y Years War and T h e Novelle, in: G e r m a n Life & Letters X X I I ( 1 9 6 9 ) , S. 220—229) sowie: H o r s t S. D a e m m r i c h , Raabe's View of Historical Processes, in: Lensing/Peter, Raabe, S. 9 9 - 1 1 4 . O p p e r m a n n , Zeit, S. 3 0 8 . D a ß diesem Begriff v o m a l l g e m e i n Menschlichem eine gefährliche Undeutlichkeit anhaftet, zeigt die bereits nationalsozialistisch ausgerichtete Dissertation von Clara Sieper, die auch von dieser D e u t u n g s struktur durchzogen ist: dies., Der historische R o m a n bei R a a b e und Fontane, Weimar 1930; z. B.: S. 15 o. S. 18. Vgl. hier vor allem die beiden Überblicksstudien aus den 70er Jahren, die Raabes » O d f e l d « analysieren: Walter Schiffeis, Geschichte(n) Erzählen. Ü b e r G e schichte, Funktionen und Formen historischen Erzählens, Saarbrücken, Phil. Diss. 1974 sowie: H a n s Vilmar G e p p e r t , D e r »andere« historische R o m a n . T h e o r i e u n d Strukturen einer diskontinuierlichen G a t t u n g , T ü b i n g e n , Phil. Diss. 1 9 7 6 . D i e neuere Arbeit von Michael Limlei, Geschichte als O r t der Bewährung. M e n s c h e n b i l d und Gesellschaftsverständnis in den deutschen historischen R o m a n e n ( 1 8 2 0 - 1 8 9 0 ) , Frankfurt a . M . , Bern [usw.] 1 9 8 8 (S. 2 8 1 - 3 0 8 behandeln ebenfalls » D a s O d f e l d « ) kritisiert an Schiffeis zu Recht die unverbindlichen Ergebnisse seiner unscharfen typologischen Aufteilung (S. 2 4 ) sowie an G e p p e r t die zu starre, praktisch nicht einlösbare Grenzziehung zwischen H i storie und Fiktion (S. 2 3 ) . Limlei selbst versucht sich dagegen an einer generellen Aufwertung der G a t t u n g des deutschen historischen R o m a n s als wirksam e m Spiegel verschiedener Gesellschaftsbilder. Eine ähnliche Intention, unter besonderer Berücksichtigung eines gesellschaftskritisch gewendeten H u m o r b e griffs, verfolgt die Dissertation von Philip J . Brewster, die sich ausschließlich mit Raabes Werken beschäftigt: ders., Wilhelm Raabes historische Fiktion im Kontext. Beitrag zur Rekonstruktion der G a t t u n g s p r o b l e m a t i k zwischen G e schichtsschreibung und Poesie im 19. Jahrhundert, Ithaca (N.Y.), Cornell University, Phil. Diss. 1 9 8 3 . Leider liegt sie lediglich als Mikrofiche vor und hat daher k a u m Eingang in die Forschungsdiskussion gefunden, obwohl sie interessante Ansätze enthält. So wird vor allem eine narrative Verwendung unterschiedlicher historischer Modelle bei Raabe untersucht (S. 299ff.). Hinter diesen Ansatz fällt die Arbeit von Uwe Vormweg dagegen zurück. Sie ist wieder an G e p perts Ansatz einer Abgrenzung von Historie und Fiktion orientiert: Wilhelm Raabe. D i e historischen R o m a n e und Erzählungen, 1. Auflage, Paderborn 1 9 9 3 .
IO
Ebenfalls Raabes
einen
anderen,
historischer
wesentlich
Thematik
pflegt
unverkrampfteren
die
Umgang
englischsprachige
schung. Sie wendet sich nicht nur gegen eine übertriebene
mit
Raabe-For-
Schopenhauer-
Beeinflussung, sondern hat auch Raabes auffällige Ineinssetzung von
Ge-
s c h i c h t e m i t K r i e g s g e s c h i c h t e u n d ihrer h i s t o r i s c h - a p o k a l y p t i s c h e n
Sym-
bolik thematisiert.51 Weitere produktive Ansätze, die sich für eine
neue
E i ns c hät z ung v o n Raabes historischen Werken nutzen lassen, haben
sich
über
die
Verortung
mikrologischer
Prozesse
durch
regionale,
sozialhi-
storische wie ethnologische Kriterien und Sichtweisen ergeben.52 D a b e i ist ein F o r s c h u n g s a n s a t z bis h e u t e w e i t g e h e n d v e r s c h ü t t e t geblieb e n . G e m e i n t ist d i e bis ins S p ä t w e r k u n ü b e r s e h b a r e n a t i o n a l e T h e m a t i k , in d e r s i c h R a a b e s A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e n B e s o n d e r h e i t e n
deutscher
G e s c h i c h t e widerspiegelt. Sie kennzeichnet in wohl n o c h g r ö ß e r e m
Maße
d a s , w a s H e i n r i c h D e t e r i n g in b e z u g a u f d i e r e l i g i ö s - m e t a p h y s i s c h e T h e m a tik das »schlechte G e w i s s e n der R a a b e - F o r s c h u n g « g e n a n n t h a t . 5 3 D e t e r i n g s Rezeptionsdarstellung
weist z u d e m
auffällige Parallelen
zum
Prozeß
der
A n n a h m e u n d Verdrängung von Raabes nationaler T h e m a t i k auf, welcher daher i m f o l g e n d e n n u r k u r z skizziert werden soll. V g l . zur Relativierung des Schopenhauer-Einflusses vor allem: Barker Fairley, Wilhelm Raabe. Eine D e u t u n g seiner R o m a n e , Ubers, v. H e r m a n n Boeschenstein, M ü n c h e n 1 9 6 1 , S. 2 5 8 f . (Erstveröffentlichung u.d.T.: Wilhelm Raabe. An Introduction to his Novels, O x f o r d 1960) sowie: Jeffrey L. S a m m o n s , Wilhelm Raabe. T h e Fiction o f the Alternative C o m m u n i t y , Princeton, N e w Jersey 1 9 8 7 , S. 54. — Vgl. zu Kriegsgeschichte und historischer S y m b o l i k : H o r s t S. D a e m m r i c h , Wilhelm Raabe, B o s t o n 1 9 8 1 , S. 5 7 sowie: Katherine Starr Kaiser, Structure and Narrative Technique in Wilhelm R a a b e s »Krähenfelder Geschichten«, Brown University, U S A , Phil. Diss. 1974, S. 2 0 7 ; S. 6 7 f f . u. S. 130f. Trotz kritischer Abgrenzung vom altgedienten >Heimatdichter< R a a b e liegen bis heute lediglich drei, das T h e m a eher umschreibende als analysierende, regionale Studien vor: Moritz J a h n , Raabe und der Mensch der Weserlandschaft, in: ders., G e s a m m e l t e Werke, hg. v. H e r m a n n Blome, B d . 3, G ö t t i n g e n 1 9 6 4 , S. 2 4 0 - 2 4 4 ; Werner Schultz, D i e Landschaft um die Weser in der D i c h t u n g Wilhelm Raabes, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 6 9 ( 1 9 7 6 ) , S. 1 6 5 - 1 8 0 sowie: Wolfgang Schlegel, Wilhelm Raabes Weserheimat in seinen Werken - Eine Geschichtslandschaft, in: J b R G 1 9 8 1 , S. 8 4 - 1 0 4 . Vgl. d e m g e genüber jedoch die sozialhistorischen Interpretationen von: Michael S c h m i d t , Marginalität als M o d u s der ästhetischen Reflexion. J u d e n und »unehrliche Leute« im Werk Wilhelm Raabes, in: Rainer Erb u. M . Sch. ( H g . ) , A n t i s e m i t i s m u s und J ü d i s c h e Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin 1 9 8 7 , S. 3 8 1 - 4 0 5 oder: Wolfram Siemann, Bilder der Polizei und Zensur in Raabes Werken. Realgeschichtliche G r u n d l a g e n und Antwortstrukturen, in: J b R G 1 9 8 7 , S. 8 4 - 1 0 9 . - In ethnologischer Hinsicht bot sich bis jetzt vor allem Raabes >afrikanischer< Zeitroman »Abu Telfan« an; vgl.: Doris B a c h m a n n , D i e » D r i t t e Welt« der Literatur. Eine ethnologische Methodenkritik literaturwissenschaftlichen Interpretierens, am Beispiel von Raabes R o m a n »Abu Telfan oder D i e H e i m k e h r v o m M o n d g e b i r g e « , in: J b R G 1 9 7 9 , S. 27—71 sowie: Peter J . Brenner, Die Einheit der Welt. Zur Entzauberung der Fremde und V e r f r e m d u n g der H e i m a t in Raabes »Abu Telfan«, in: J b R G 1989, S. 44—62. Detering, T h e o d i z e e , S. 11 f f .
II
Unheilvollen Rezeptionsauftrieb erfuhr Raabes nationale Geschichtsthematik vor allem durch die abenteuerlichen Vereinnahmungen und Verfälschungen der Nationalsozialisten. So reagierte z. B. Otto Graumann 1930, noch vor der Machtergreifung, folgendermaßen auf Richard M . Meyers fast zwanzig Jahre ältere These 54 von Raabes Unzufriedenheit nach der Reichseinigung 1871: »Wilhelm Raabe reichsverdrossen? Nein und abermals nein! Er ist und bleibt der getreue Eckart des deutschen Volkes.« 55 Seit den 50er Jahren verschwindet Raabes nationale Thematik dann zunächst hinter unscharfen Existentialismuskonzepten. 56 Mangels näherer Beschäftigung mit den sogenannten >alten Themen< konnte dieser Interpretationsansatz auch die in den 60er Jahren einsetzende Neubewertung von Raabes Werk unbeschadet überdauern, obwohl er sich »unschwer als ansehnliche Hypothek der frühen Lebenshilfe-Deutung innerhalb der Raabe-Literatur >in neuer Sicht< ausmachen« ließ. 57 Neben einer unkritischen Ineinssetzung der Perspektiven von Textpositionen mit denen des Autors bzw. mit denen der Analyse selbst, trägt hierzu auch die dogmatische Abtrennung des Raabeschen Spät- vom Gesamtwerk bei. So werden nationale Komponenten im Früh- und Mittelwerk als Ausdruck von Raabes nationalliberaler Jugendemphase begrüßt, auf formaler Ebene dagegen als epigonal und trivial abgewertet. In bezug auf das inzwischen anerkannte Spätwerk ändern sich dann die Forschungsinteressen bzw. spalten sich nochmals auf. Das hat zur Folge, daß der historisch-nationale Komplex mit seiner Fülle von Epochenzitaten, Mythen und Symbolen für das Gesamtwerk nicht mehr vollständig ins Blickfeld rücken kann. 5 8 An Raabes letz-
Richard M . Meyer, Die deutsche Literatur des Neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1912, S. 3 5 8 . Otto G r a u m a n n , W i l h e l m Raabe und die Reichseinheit. Ein Gedenkblatt z u m 2 0 . Todestag W i l h e l m Raabes a m 1 5 . 1 1 . 1 9 3 0 , in: Schulblatt für Braunschweig u. Anhalt 4 3 ( 2 1 . 1 1 . 1 9 3 0 ) 3 3 , S. 1 1 4 5 - 1 1 6 0 ; S. 1160. - Vgl. zu dieser verfälschenden Rezeption, exemplarisch aufgezeigt an Raabes Spätwerken »Das O d feld« und »Hastenbeck«: Karl-Jürgen Ringel, W i l h e l m Raabes Roman »Hastenbeck«. Ein Beitrag zum Verständnis des Alterswerkes, Bern 1970, A n h a n g I, S. 141—176 sowie zur nationalsozialistischen Rezeption Raabes allgemein u n d der unrühmlichen Beteiligung der damaligen »Gesellschaft der Freunde W i l helm Raabes« anhand des Archivmaterials: Denkler, Raabe, S. 1 - 7 0 . So vor allem in der einzigen größeren Arbeit zu Raabes historischem W e r k aus dieser Zeit: Aloise Esser, Zeitgestaltung und Struktur in den historischen Novellen W i l h e l m Raabes, Bonn, Phil. Diss. 1953; z. B.: S. 11 l f . So lautete bereits 1979 die berechtigte Kritik von: Eckart Oehlenschläger, Erzählverfahren und Zeiterfahrung. Überlegungen zu W i l h e l m Raabes »Altershausen«, in: Lensing/Peter, Raabe, S. 3 8 1 - 4 0 5 ; S. 3 8 2 . Dazu hat nicht zuletzt die seit den 50er Jahren erscheinende Braunschweiger Gesamtausgabe beigetragen. In ihrem Anmerkungsteil fehlen häufig Erläuterungen zu den heutzutage ungeläufigen nationalen M y t h e n k o m p l e x e n . — Interpretationsausnahmen bilden dagegen zwei Studien, die sich m i t nationalen Dichterfesten in Deutschland auseinandersetzen. In diesem Z u s a m m e n h a n g werden auch Raabes frühes Gedicht zur Wolfenbütteler Schiller-Feier sowie seine späten Zeitromane »Der Dräumling« und »Gutmanns Reisen« auf ihre
12
t e m G e s c h i c h t s t e x t Hastenbeck
interessieren z. B . n a h e z u a u s s c h l i e ß l i c h d i e
literarischen
D e r beliebteste
schen Texten
Zitatkomplexe.59
scheint aber bis heute Raabes
unter den späten
histori-
zu s e i n . H i e r ist es
Odfeld
besonders die epochensprengende Kreisbewegung einer dort geschilderten R a b e n s c h l a c h t , die fasziniert. Seit ihrer frühen Analyse durch H a n s O p p e r m a n n 6 0 gilt sie, u n g e a c h t e t v e r e i n z e l t e r K r i t i k , 6 1 als P r o t o t y p für R a a b e s Geschichtssicht
einer schicksalhaften,
»zy^/iVc/j-unendlichen«
»Apokalyp-
se«.62 Eine
produktiv-kritische
überschreitender, Deutschlands
nationaler
ihren
Beschäftigung Thematik
Ausgang.
Hier
mit
nahm
konnte
Raabes
dagegen man
an
Epochengrenzen im
Georg
anderen
k n ü p f e n , d e r R a a b e bereits 1 9 4 0 n i c h t n u r als G e s e l l s c h a f t s k r i t i k e r , d e r n a u c h als s p e z i f i s c h » d e u t s c h e [ n ] Dichter«
Teil
Lukäcs
anson-
a u f g e w e r t e t h a t t e , so, w i e
R a a b e sich selbst g e r n g e s e h e n h ä t t e . 6 3 D a b e i k o n k r e t i s i e r t L u k a c s , w i e später a u c h H a n s M a y e r u n d H e l m u t R i c h t e r , R a a b e s b e h a u p t e t e n m u s i n h a l t l i c h - h i s t o r i s c h , i n d e m er a m B e i s p i e l d e r Gänse
Pessimis-
von Bützow
Raa-
bes D a r s t e l l u n g » d e u t s c h e [ r ] M i s e r e « a u f z e i g t . 6 4
Umsetzung nationaler Thematik analysiert; vgl.: Rainer Noltenius, Dichterfeiern in Deutschland. Rezeptionsgeschichte als Sozialgeschichte am Beispiel der Schiller- und Freiligrath-Feiern, München 1 9 8 4 , vor allem S. 1 1 3 - 1 4 3 (eine aktualis., aber gekürzte Fass. befindet sich u.d.T.: Die Einheit Deutschlands unter einem Schriftsteller als Führer. Raabes Schiller-Gedicht 1 8 5 9 als politisches Glaubensbekenntnis, in: J b R G 1991, S. 6 0 - 8 1 ) ; Peter Utz, Die ausgehöhlte Gasse. Stationen der Wirkungsgeschichte von Schillers »Wilhelm Teil«, Königstein/Ts. 1 9 8 4 , vor allem S. 1 2 7 - 1 7 2 . Vgl.: Werner Schultz, Barock, Rokoko und Goethezeit in »Hastenbeck«, in: J b R G 1 9 6 6 , S. 8 0 - 9 1 ; Herman Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans, 2., durchges. Auflage, Stuttgart 1 9 6 7 , S. 1 8 6 - 2 0 6 ; Karl-Jürgen Ringel, Die zitierte Idylle. Arkadische Sehnsucht und soziale Kritik in »Hastenbeck«, in: J b R G 1981, S. 2 2 5 - 2 4 2 . - Einzige (ostdeutsche) Ausnahme bildet: Peter Goldammer, Eine Geschichte aus dem »Weltkriege des achtzehnten Säkulums«. Wilhelm Raabes »Hastenbeck«, in: ders., Über den Tag hinaus. Zur deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, 1. Auflage, Berlin u. Weimar 1986, S. 3 6 3 - 3 8 5 . Hans Oppermann, Der passive Held. Raabe: »Das Odfeld«, in: J b R G 1 9 6 7 , S. 3 1 - 5 0 ; S. 36ff. Neuerdings wird dieser Interpretationsansatz zirkulärer Strukturen im »Odfeld« weitergeführt von: Albrecht Koschorke, Der Rabe, das Buch und die Arche der Zeichen. Zu Wilhelm Raabes apokalyptischer Kriegsgeschichte »Das Odfeld«, in: DVjs 6 4 ( 1 9 9 0 ) , S. 5 2 9 - 5 4 8 . Vgl. hier vor allem: Ohl, Bild, S. 120f. Geppert, Der »andere« historische Roman, S. 2 2 7 sowie: ders., »Das Odfeld«. Zur Zeichensprache der Geschichte, in: Lensing/Peter, Raabe, S. 2 6 6 - 2 8 0 ; S. 273f. Detering, Theodizee, S. 189. Georg Lukäcs, Wilhelm Raabe, in: RinS, S. 4 4 - 7 3 ; S. 45. Lukäcs, Raabe, S. 46; S. 51 u. S. 57. — Hans Mayer erkennt dies später an Raabes »Abu Telfan«: ders., Wilhelm Raabe »Abu Telfan oder die[!] Heimkehr vom Mondgebirge«, in: Lensing/Peter, Raabe, S. 1 2 8 - 1 3 2 ; S. 130f. Vgl. auch: Helmut Richter, Einleitung zu: Wilhelm Raabe. Ausgewählte Werke in 6 Bdn., hg. v. Peter Goldammer u. H . R., Bd. 1, Berlin u. Weimar 1966, S. 5 - 1 4 7 sowie
13
Diesem Ansatz, der sich vor allem in Raabes historischen Texten mit ihren charakteristischen Epochenverschiebungen finden läßt, wird hier unter erweitertem Blickwinkel nachgegangen. Dabei sollen gerade »maulwurfsartig< geschlagene, untergründige Verbindungen zwischen Früh- und Spätwerk thematisiert werden. Fragen nach den Möglichkeiten einer nationalen Identitätsbildung werden zur Sprache kommen, die sich nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wieder neu und aktuell stellen. 65 Dazu muß zunächst jedoch die unscharfe Negativ-Vokabel der >deutschen Misere< auf dem Hintergrund neuerer, sozial- und strukturgeschichtlicher Forschungen konkretisiert werden. Auch die damit verbundenen Konsequenzen für eine Verortung von Raabes Werk im Umfeld des Historismus sind zu diskutieren.
2.
Historismus und Historismus-Außenseiter
Wie zu Beginn bereits vorgestellt, geriet das Ende des Römischen Reichs bei Hermann Marggraff und Wilhelm Raabe im doppelten Sinne zum »Fall Roms«. So deutet es auch der gleichnamige Titel einer Studie des Historikers Alexander Demandt an. 6 6 In den Urteilen späterer Jahrhunderte zum Untergang Roms macht Demandt eine Entwicklung vom apokalyptischen Symbol zum historischen Paradigma aus. 67 Die dahinterstehende analogisierende Betrachtungsweise, das Denken in historischen Typen und Strukturen, bezeuge zugleich die Lebendigkeit einer Geschichtsauffassung der >historia magistra vitae< — auch und gerade für das 19. Jahrhundert. 68 Dies widerspricht nun völlig den gängigen Vorstellungen von der Epoche des Historismus. Gilt als seine theoretische Grundlage doch vor allem eine kontemplative Einstellung gegenüber der Vergangenheit ohne jegliche aktuelle Gegenwarts- oder Zukunftsbezüge. Dieser Primat schien unerläß-
65
66
67 68
den analogen Ansatz bei der materialreichen Ausgabe von Raabes » D r ä u m l i n g « : W i l h e l m Raabe, Der Dräumling. M i t Dokumenten zur Schillerfeier 1859, hg. v. Anneliese Klingenberg, 1. Auflage, Berlin u. W e i m a r 1984. Diese neuerliche Aktualität nationaler T h e m a t i k - gerade auch für Raabes Werk — spiegelt sich besonders deutlich in den Beiträgen zum Raabe-Jahrbuch 1991 wider. Alexander Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, M ü n c h e n 1984. A. a. O., S. 6 2 0 . A. a. O . , S. 506ff. Demandts Beobachtungen modifizieren die These Reinhart Kosellecks, der gerade die zunehmende Wirkungslosigkeit dieser Geschichtssicht für die Neuzeit betont hatte; ders., Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 3 8 - 6 6 ; S. 62ff. - V g l . zum Begriff der >Strukturgeschichte< in der neueren Geschichtswissenschaft und zu ihren Vorläufern im 19. Jahrhundert: Karl Erich Born, Der Strukturbegriff in der Geschichtswissenschaft, in: Herbert von Einem, K.E. B., Fritz Schalk u. Wolfgang P. S c h m i d , Der Strukturbegriff in den Geisteswissenschaften, M a i n z 1973, S. 1 7 - 3 0 .
14
lieh, um sich von einer praktisch-politischen Geschichtseinbindung der Aufklärung zu emanzipieren. Aus der Zielsetzung eines gleichberechtigten Nacheinanders der Epochen ergibt sich die theoretische Forderung nach ihrer wissenschaftlich->objektiven< Betrachtung durch den Historiker. Er soll »blos[!] zeigen, wie es eigentlich gewesen« — so lautete die klassische Formulierung Leopold von Rankes. 6 9 In der Praxis historischer Betrachtung ist dieses Konzept jedoch selbst von ihm nicht eingehalten worden. 7 0 Dem Ideal der Überparteilichkeit widersprach zudem die nationalstaatlich orientierte politische Betätigung der Historiker der sogenannten PreußischKleindeutschen Schule (Droysen, Mommsen, Sybel, Treitschke). 7 1 Die Konzentration auf Rankes theoretische Äußerungen sowie auf die nur noch machtstaatlich bestätigende Spätform des Historismus, die sogenannte Rankerenaissance am Ende des Jahrhunderts, 7 2 verstellt den Zugang zu einem Historismus-Verständnis, welches nicht permanent um die bekannten Negativ-Verdikte kreisen will. So forderte Thomas Nipperdey eine Entmythologisierung des Historismus, d. h. seine »Übersetzung« und Rehistorisierung, um Stärken sichtbar werden zu lassen und sie für die heutige Geschichtswissenschaft zu aktivieren. 7 3 Überraschend modern, wenn auch ebenfalls nicht unproblematisch, erscheint so z. B. die bei Nipperdey reformulierte historische Verstehenslehre. Gegen moralisierende Historie gerichtet, soll Vergangenheit folgendermaßen aus den ihr eigenen Voraussetzungen begriffen werden: durch die Verbindung von wissenschaftlicher Quellenforschung mit hermeneutischer >Einfühlung< könne ein, den historischgesellschaftlichen Institutionen und Prozessen »eingelagerter, objektivierter, unbewußter Sinn« herausgelöst werden. 7 4 Methodisch kaum anders definiert sich auch der sogenannte Poststrukturalismus, der sich gegen eine ideologiekritische Einengung und Funktionalisierung zur Wehr setzt. »Dichte Beschreibung« nennt der amerikanische
69
70
71 72
73
74
Leopold von Ranke, Vorrede der ersten Ausgabe. October 1824, zu: ders., Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, 2. Auflage, Leipzig 1874, in: Leopold von Ranke's Sämmtliche Werke, 33. u. 3 4 . Bd. , Leipzig 1874, S. V - V I I I ; S. VII. Vgl. die Beispiele bei: Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, übers, v. Christian M . Barth, M ü n c h e n 1971 (durchges. u. erw. Ausgabe v.: T h e German Conception of History. T h e National Tradition of Historical T h o u g h t from Herder to the Present, Wesleyan University Press 1968), S. 112ff. A. a. O., S. 21 u. S. 2 9 . Elisabeth Fehrenbach, Rankerenaissance und Imperialismus in der w i l h e l m i n i schen Zeit, in: Bernd Faulenbach (Hg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben, M ü n c h e n 1974, S. 5 4 - 6 5 . T h o m a s Nipperdey, Historismus und Historismuskritik heute, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 5 9 - 7 3 ; S. 68f. u. S. 73. A. a. O., S. 71f.
15
Ethnologe C l i f f o r d G e e r t z dieses Verfahren einer A n n ä h e r u n g an f r e m d e K u l t u r e n . 7 5 Unter Begriffen w i e t e i l n e h m e n d e Beobachtung' 7 6 oder o b j e k tive I n t e r p r e t a t i o n ^ 7 bestimmt es neuere Richtungen einer, v o r allem f ü r den zweiten Teil dieser A r b e i t relevant werdenden, kulturanthropologisch ausgerichteten Geschichtswissenschaft wie einer diskursanalytisch-strukturalistischen Literaturwissenschaft. 7 8 Diese neueren Ansätze als >Neohistorismus< abzuqualifizieren, w i e dies z. T. v o n Sozialhistorikern geschehen ist, 7 5 erscheint also auf den ersten Blick plausibel. Dabei wird jedoch die gesteigerte methodische Selbstreflexion gerade innerhalb v o n Mentalitäts- u n d Alltagsgeschichte verkannt, deren Vertreter w i e d e r u m W i r t s c h a f t s - und Sozialgeschichte unkritische >ObjektivitätsPoststrukturalismus< bzw. >Postmoderne< Anm. 712 dieser Atbeit. Bachmann, »Dritte Welt«, S. 35. Horst Türk, Die Wirklichkeit der Gleichnisse. Überlegungen zum Problem der objektiven Interpretation am Beispiel Kafkas, in: Poetica 8 (1976), S. 2 0 8 - 2 2 5 . Vgl. aus historischer Perspektive: Hans Medick, »Missionare im Ruderboot«? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: GG 10 (1984) 3, S. 2 9 5 - 3 1 9 und aus literaturwissenschaftlicher Sicht: Friedrich A. Kittler u. Horst Türk (Hg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1977. Vgl.: Hans-Ulrich Wehler, Geschichtswissenschaft heute, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur »geistigen Situation der Zeit«, Bd. 2, Frankfurt a . M . 1979, S. 7 0 9 - 7 5 3 ; S. 745 sowie: Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff - Entwicklung - Probleme, 2., erw. Auflage, Göttingen 1986, S. 173. Vgl.: Norbert Schindler, Spuren in die Geschichte der >anderem Zivilisation. Probleme und Perspektiven einer historischen Volkskulturforschung, in: Richard van Dülmen u. N.Sch. (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags ( 1 6 . - 2 0 . Jahrhundert), Frankfurt a . M . 1984, S. 1 3 - 7 7 ; S. 21. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Buch 1: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Neudruck der Ausgabe Tübingen 1922, Aalen 1961 (Troeltsch, Gesammelte Schriften, Bd. 3/1.2), S. 102. Vgl. zur Weiterführung dieses Ansatzes neuerdings auch: Annette Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1992. 16
mente darf sich in seinem Werk daher nicht »auf im strengen Sinne historische Dichtungen beschränken«. 82 In diesem erweiterten Sinne wären selbst spezifische, auch in Raabes Werk eingegangene Wissenschaftserneuerungen des 19. Jahrhunderts - Archäologie, Ethnologie, Mythenforschung ebenso wie die Erkenntnisse von Marx und Freud - als Ergebnisse einer primär an historischen Zusammenhängen interessierten Wissenschaft zu verstehen. Ahnlich einseitig wie der Historismusbegriff werden zumeist auch die Historiker des 19. Jahrhunderts bewertet. 83 So existierten neben der dominierenden Position eines Ranke bereits erste Ansätze einer liberalen Geschichtsschreibung um Georg Gottfried Gervinus, einer soziologischhistorischen Orientierung um O t t o Hintze, einer ökonomischen Schule um Gustav Schmoller sowie einer kulturgeschichtlichen Richtung um Karl Lamprecht. Auch extrem konservative Historiker wie Heinrich von Sybel oder Heinrich von Treitschke waren zu Anfang Ranke-Kritiker und propagierten eine stärkere innenpolitisch-sozialgeschichtliche Parteilichkeit des quellenkundigen Historikers. Ihre Entwicklung zu nationalistisch-autoritärem Staatsdenken spiegelt vor allem die ambivalente politisch-soziale Situation weiter Teile des damaligen Besitz- und Bildungsbürgertums wider. In wachsender Distanz zum Proletariat der Industrialisierung suchte es den Interessensausgleich mit einem zwar konservativen, aber dafür national und konstitutionell gewordenen Staat. Ähnlich wie Raabe, aber ohne dessen Kritikfähigkeit, wurden Sybel und Treitschke erst nach der Reichsgründung von 1871 zu Anhängern Bismarcks. Den durch ihn ausgelösten preußischen Heeres- und Verfassungskonflikt hatten sie dagegen 1862 noch aufs schärfste verurteilt. 8 4 Derartige Ambivalenzen lassen sich aber auch bei den Sozial- und Kulturhistorikern des 19. Jahrhunderts feststellen. Hier handelt es sich nun um ein Auseinanderfallen von progressiven methodologischen Ansätzen und darin eingebundenen konservativ-staatstragenden Inhalten. So enthält Lorenz von Steins dreibändige Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage aus dem Jahre 1850 zwar neuartige Analysen, Schräder, V e r g e g e n w ä r t i g u n g , S. 17; A n m . 18. E i n e A u s n a h m e , die der differenzierteren Sicht d e r Sozialhistoriker auf die s o g e n a n n t e n H i s t o r i s m u s - A u ß e n s e i t e r R e c h n u n g trägt, bildet dagegen die U b e r b l i c k s s t u d i e v o n : Friedrich Jäger, J ö r n R ü s e n , G e s c h i c h t e des H i s t o r i s m u s , M ü n c h e n 1992. H e l l m u t Seier, H e i n r i c h von Sybel, in: D H , Bd. 2, S. 2 4 - 3 8 . G e o r g G . Iggers, H e i n r i c h v o n Treitschke, in: a. a. O . , S. 6 6 - 8 0 ; S. 6 7 u. S. 71 f. - Vgl. z u m E i n f l u ß des V e r f a s s u n g s k o n f l i k t s auf die b ü r g e r l i c h e n Schriftsteller des 19. J a h r h u n d e r t s sowie zu Raabes kritischer H a l t u n g , wie er sie z. B. in seiner Erz ä h l u n g » D e u t s c h e r M o n d s c h e i n « ( 1 8 7 2 ) verarbeitet hat: B e r n d Peschken u. C l a u s - D i e t e r K r o h n ( H g . ) , u. M i t a r b . v. Elke N e u m a n n , D e r liberale R o m a n u n d der p r e u ß i s c h e V e r f a s s u n g s k o n f l i k t . Analyseskizzen u n d M a t e r i a l , 1. Auflage, S t u t t g a r t 1 9 7 6 , T . l , S. 8f. u. S. 2 8 - 3 4 .
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unterstützt gleichzeitig jedoch deutsche Revolutionsängste. 85 Auch kulturgeschichtliche und ethnographisch-volkskundliche Vorläufer wie Georg Steinhausen und Wilhelm Heinrich Riehl stellten ihre Forschungen zunehmend in den Dienst des kleindeutschen Nationalstaats. 8 6 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß Eckart Kehr von einer »grotesken Identifizierung von Sozialgeschichte mit sozialistischer Geschichte« im wilhelminischen Reich sprechen konnte. 8 7 Diese folgenreiche Diskreditierung der Sozialgeschichte wirkte sich in Deutschland bis weit nach 1945 aus. Als auslösender Faktor gilt Franz Mehrings Beurteilung von Lamprechts seit 1891 erscheinender Deutscher Geschichte. Er lobte sie als einen ersten methodischen Ausdruck materialistischer Geschichtsauffassung. Dies bildete den Auftakt zum sogenannten Methodenstreit der deutschen Geschichtswissenschaft, der 1898 mit einer endgültigen Abqualifizierung Lamprechts in der Historischen Zeitschrift endete. Die sozialkonservativen Universitätshistoriker sahen sich in ihrem Festhalten an einer Geschichtsschreibung nach Rankeschem Vorbild bestätigt. Dabei hatten sich ihre Forschungsinteressen für außenpolitische Haupt- und Staatsaktionen durch die sozialen, gesellschaftlichen und weltpolitischen Wandlungen bereits überholt. 8 8 Sozialpsychologische Gesichtspunkte, wie sie Karl Lamprecht später vertreten hat, Ansätze einer >oral poetryRaabe-spezifische< Abwandlungen in seinen Werken differenzierter hervortreten. Sie sollen im folgenden entlang der maulwurfsarchäologischen Darstellung von Strukturen des noch näher zu erläuternden >deutschen Sonderwegs< verfolgt werden. In diesem Zusammenhang spielt auch Raabes soziale und ethnologische« Geschichtssicht eine Rolle. Dabei steht sein gesamtes historisches Werk im Vordergrund, das durch Beispiele aus den Zeitromanen ergänzt wird.
3.
Deutsche Besonderheiten in historischer Theorie...
Nach Bismarcks Reichsgründung wurde von >Neorankeanern< wie Max Lenz und Erich Mareks eine positiv gewertete deutsche »Sonderstellung« als nationalstaatliche Struktur »von Luther zu Bismarck« konstatiert. 94 Gerade diese nationale Tradition preußisch-deutscher Geschichte gerät Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in den kritisch-analysierenden Blick von Sozialhistorikern der Bielefelder Schule um Hans-Ulrich Wehler. Seine Herausgabe der Schriften Eckart Kehrs hat die These vom >Primat der Raabes frühes Hegel-Interesse während seiner Studienzeit in Berlin ( 1 8 5 4 1856) ist dagegen hinreichend bekannt; vgl.: Karl Hoppe, Raabes Universitätss t u d i u m , in: M i t t . 4 3 ( 1 9 5 6 ) 2/3, S. 6 9 - 7 4 u. 44 ( 1 9 5 7 ) 1, S. 2 - 1 0 . So unter den Daten Januar 1890 bzw. September 1892 angegeben im A n h a n g zu: W i l h e l m Raabe, Altershausen, hg. v. Hans-Jürgen Schräder, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1985 (Raabe, Werke in Einzelausgaben, Bd. 10), S. 2 3 1 - 2 6 1 ; S. 253f. Vgl.: Verzeichnis der in der Büchersammlung des Großen Clubs vorhandenen Bücher und Zeitschriften, Braunschweig 1887 (StA: B I 5 3 0 ) . Die Lektüre der »Preußischen Jahrbücher« ist zumindest für den 2 6 . 3 . 1 9 0 3 in Raabes Tagebuch verzeichnet; vgl.: StA: H III 10 Nr. 159, T . l - 3 ; T.3. Eine Kurzfassung von Gervinus' politisch-ideengeschichtlich ausgerichtetem, f ü n f b ä n d i g e m H a u p t werk »Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen« (1835/42) befindet sich mit Raabes Namen versehen in seiner Bibliothek: StB: I 16/153 ( 1 8 4 2 ) sowie: I 16/154 (4. Aufl., 1849). Gervinus wird zudem mehrfach in Raabes spätem Erzähltext »Kloster Lugau« genannt (BA 19,21 u. 2 4 ) . - Trotz eines persönlichen Besuchs im Jahre 1860 scheint Raabe W i l h e l m Diltheys methodologischen Neuansatz einer historisch verankerten Hermeneutik dagegen nicht zur Kenntnis g e n o m m e n zu haben. H a n s - H e i n z Krill, Die Rankerenaissance. M a x Lenz und Erich Mareks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1 8 8 0 - 1 9 3 5 , Berlin 1962, S. 257f.
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(deutschen) Innenpolitik!, d. h. von einem sozialimperialistisch induzierten Interesse, die inneren Schwierigkeiten nach außen abzulenken, reaktualisiert. Kehr hatte nach 1918 Ursachen für Ausbruch und Verlust des Ersten Weltkriegs in der Auseinandersetzung mit spezifisch preußisch-deutscher Geschichte und industrieller Modernisierung untersucht. Nach 1945 bilden für eine neue Historikergeneration Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Anlaß zur Analyse preußisch-deutscher Traditionsstrukturen. Angelpunkt der von ihnen aufgestellten These vom verhängnisvoll illiberalen deutschen Sonderweg< - damit ist eine Abweichung von der westeuropäischen Entwicklung gemeint - bildet die fehlende bürgerliche Revolution in Deutschland. So konnten vorindustrielle Eliten, wie die ostelbischen Rittergutsbesitzer, ihre Vorherrschaft im deutschen Kaiserreich unter dem >preußischen Junker< Bismarck erhalten. Eine politisch aktive, parlamentarisch-demokratische Herausbildung des auf Wirtschaft und Kultur reduzierten Bürgertums verzögerte sich. 95 Die These dieser >UngleichzeitigkeitMythen deutscher Geschichtsschreibung! zu werden. Das 19. Jahrhundert dürfe nicht auf die bloße Rolle eines nationalsozialistischen Vorläufers reduziert werden. 98 Die positiven Anregungen dieses Ansatzes traten zunächst jedoch in den Hintergrund. Eine äußerlich dadurch angeregte historische Relativierung
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Vgl.: Heinrich August W i n k l e r , Der deutsche Sonderweg: Eine Nachlese, in: M e r k u r 35 ( 1 9 8 1 ) 8, S. 7 9 3 - 8 0 4 . David Blackbourn, Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, aus dem M s . übers, v. Ulla H a selstein, Frankfurt a.M., Berlin [usw.] 1980. - Die Einmaligkeit der nationalen Entwicklung Deutschlands bestritt Robert M . Berdahl bereits 1972 in seinem Aufsatz: Der deutsche Nationalismus in neuer Sicht, übers, v. Michael Geyer, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Nationalismus, 2., erw. Auflage, Königstein/Ts. 1985, S. 1 3 8 - 1 5 4 ; S. 143 (Erstveröffentlichung u.d.T.: New Thoughts on German Nationalism, in: The American Historical Review 7 7 ( 1 9 7 2 ) , S. 6 5 - 8 0 ) . Blackbourn/Eley, M y t h e n deutscher Geschichtsschreibung, S. 54 u. S. 85ff. A. a. O., S. 58; S. 128 u. S. 10. 20
des Nationalsozialismus durch einige deutsche Historiker kulminierte 1 9 8 6 schließlich im sogenannten Historikerstreit. 9 9 Inzwischen scheint sich allerdings ein kritischer Umgang mit der These v o m »deutschen Sonderweg< zumindest in der Wissenschaft durchgesetzt zu haben. S o z. B. in Untersuchungen zum ambivalenten Verhältnis v o n Nationalismus und Modernisierung oder in der Betonung verpaßter
Mo-
dernitäts-Chancen auf der Folie krisensensibler deutscher National-» Verspätung«. 1 0 0 A u f diesem Hintergrund ist der Aussage Hans-Ulrich W e h l e r s zuzustimmen, »daß die Frage nach dem »deutschen Sonderweg< weiterhin ein diskussionswürdiges T h e m a bleibt«. 1 0 1 Dies gilt erst recht im Zuge einer kritischen Reflexion über die deutsche Nation nach ihrer neuerlichen Vereinigung, w o d u r c h Jürgen Habermas' These v o n einer »postnationalen, verfassungspatriotischen Identität« 1 0 2 der Westdeutschen eingeholt w o r d e n ist. Angesichts einer anachronistisch wirkenden nationalen Renaissance in Osteuropa w u r d e n dabei zunächst Ideen einer gesamteuropäischen »Vielfalt in der Einheit« d i s k u t i e r t . 1 0 3 In umgekehrter Perspektive k ö n n t e Deutschland als verspäteter, zersplitterter Nation gerade eine positive Rolle durch ihre, seit d e m Heiligen Römischen Reich existierende, föderalistische Tradi-
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Vgl. dazu z. B.: Rudolf Augstein [u.a.], »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, 2. Auflage, München 1987.
100
Vgl.: Otto Dann, Nationalismus und sozialer Wandel in Deutschland 1 8 0 6 1850. Theodor Schieder zum 70. Geburtstag, in: O. D. (Hg.), Nationalismus und sozialer Wandel, 1. Auflage, Hamburg 1978, S. 7 7 - 1 2 8 und: Hans Mommsen, Nation und Nationalismus in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Wolfgang Schieder u. Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 2, Göttingen 1986, S. 1 6 2 - 1 8 5 sowie: Joachim Fischer, Die exzentrische Nation, der entsicherte Mensch und das Ende der deutschen Weltstunde. Über eine Korrespondenz zwischen Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie und seiner Deutschlandstudie, in: DVjs 64 (1990), S. 3 9 5 - 4 2 6 ; S. 407 u. S. 415. Hans-Ulrich Wehler, »Deutscher Sonderweg« oder allgemeine Probleme des westlichen Kapitalismus? Zur Kritik an einigen »Mythen deutscher Geschichtsschreibung«, in: Merkur 35 (1981) 5, S. 4 7 8 - 4 8 7 ; S. 483. Vgl. darüber hinaus: Helga Grebing, Der »deutsche Sonderweg« in Europa 1 8 0 6 - 1 9 4 5 . Eine Kritik, u. Mitarb. v. Doris von der Brelie-Lewien u. Hans-Joachim Franzen, Stuttgart, Berlin [usw.] 1986; Jürgen Kocka, Deutsche Geschichte vor Hitler. Zur Diskussion über den »deutschen Sonderweg«, in: ders., Geschichte und Aufklärung, Göttingen 1989, S. 1 0 1 - 1 1 3 sowie: Wolfgang Hardtwig, Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1 8 7 1 1914, in: GG 16 (1990) 3, S. 2 6 9 - 2 9 5 ; S. 285f. Vgl.: Grenzen des Neohistorismus. Gespräch mit Jürgen Habermas, geführt v. Jean-Marc Ferry für die Pariser Zeitschrift »Globe« (1988), abgedr. in: Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften 7, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1990, S. 1 4 9 - 1 5 6 ; S. 152. Vgl.: Hagen Schulze, Die Wiederkehr Europas, Berlin 1990, S. 51 sowie: Rudolf Hilf, Regionalismus als Gegengift. Nationalitätenkonflikte und Staatenzerfall, in: FH 38 (1991) 10, S. 8 9 0 - 9 0 4 ; S. 895.
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tion zukommen. 104 Statt die Historizität des Nationalstaatsgedankens als eine Entwicklungsstufe des 19. Jahrhunderts zu akzeptieren, werden diese Ansätze inzwischen jedoch zunehmend verdrängt. Als eigentlicher >Sonderweg< der Deutschen erscheinen paradoxerweise nun die bundesrepublikanischen Traditionen, die eine vielbeschworene nationalstaatliche deutsche >Normalität< angeblich behindern. 105 Dabei haben regionale Tendenzen bereits im 19. Jahrhundert die deutsche Entwicklung nicht nur gehemmt, sondern ebenso bereichert. 106 Auch Raabes literarisches Werk bewegt sich ja im Spannungsfeld von nationalem Einheitsgedanken und (niedersächsischem) Regionalismus. Den Auswirkungen dieser Verbindung wird in den folgenden Modellanalysen zum >deutschen Sonderweg< ebenfalls nachzugehen sein. Als ein früher Vorläufer dieses Ansatzes ist Justus Moser zu nennen. Seit 1774 finden seine Patriotischen Phantasien weite Verbreitung. Statt einer deutschen Nationalhistorie wird unter diesem Titel jedoch eine westfälische Regionalgeschichte entworfen. 1 0 7
4.
...und in literarischer Verarbeitung
4.1
Rabenschlacht und Reichspatriotismus O du >tapfere, kluge, w o h l m e i n e n d e ! deutsche Nation, wie hart strafst d u dich selbst seit Jahrtausenden! U n d wieder sollte das alte Spiel beginnen, und die Karten waren gemischt und wurden eben verteilt. 1 0 8
Diese Klage des Erzählers in Raabes frühem Werk Der heilige Born ( 1 8 5 9 1860) entlädt sich angesichts der gesetzlich legitimierten Bestätigung 104
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Vgl.: Eric J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780: Programme, M y t h , Reality, C a m b r i d g e , London [usw.] 1990 sowie: Krzysztof Pomian, Europa und seine Nationen, Berlin 1991. Diese These wurde zuvor bereits vertreten von: Plessner, Verspätete Nation, S. 11 u. S. 21 sowie von: Hans M o m m sen, Die Nation ist tot. Es lebe die Region, in: Guido Knopp, Siegfried Q u a n d t , Herbert Scheffler (Hg.), Nation Deutschland? 1. Hambacher Disput 1982, Paderborn 1984, S. 3 5 - 3 8 ; S. 3 8 . - Auf einen gleichfalls »aggressiven StammesRegionalismus« verweist dagegen: Traudl Lessing, W i e n e r Gespräche, in: F H 38 ( 1 9 9 1 ) 10, S. 9 0 5 - 9 1 0 ; S. 9 0 8 . Vgl.: Jürgen Habermas, Die zweite Lüge der Bundesrepublik: W i r sind wieder »normal« geworden, in: DIE ZEIT 51 ( 1 1 . 1 2 . 1 9 9 2 ) , S. 4 8 . Vgl.: Volker Sellin, Nationalbewußtsein und Partikularismus im 19. J a h r h u n dert, in: Jan Assmann u. Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1988, S. 2 4 1 - 2 6 4 ; S. 258f. Sellin verweist z. B. auf die regionalen Eigenständigkeitsbestrebungen der Bayern, deren spezifisches Oktoberfest ab 1810 zu der parallel entstehenden nationalen Festkultur stattfindet (S. 2 5 6 ) . V g l . hierzu: Renate Stauf, Justus Mosers Konzept einer deutschen Nationalidentität. M i t einem Ausblick auf Goethe, T ü b i n g e n 1991, vor allem S. 215ff. BA 3 , 1 9 4 .
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konfessionell-territorialer Reichszersplitterung durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555. Er wird als ein Baustein >deutscher Misere< gewertet und erfährt hier eine zusätzliche, historische wie literarische Traditionsverlängerung. Die erste Zeile des Textausschnitts enthält nämlich ein durch Anführungszeichen bewußt gekennzeichnetes Selbstzitat Raabes. Es weist einerseits zurück auf die vorher entstandenen Erzähltexte Lorenz Scheibenhart (1858) und Die Kinder von Finkenrode (1857-1858). Als ebenso beklagenswert werden hier jedoch historische Kontexte beschrieben, die — über den geschichtlichen Rahmen des 16. Jahrhunderts im Heiligen Born hinaus - zugleich auf weitere Stationen national-deutscher Zerrissenheit vorausweisen: in Lorenz Scheibenhart auf den Dreißigjährigen Krieg; auf die Enttäuschung nationaler Hoffnungen nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon in den Kindern von Finkenrode-109 In Raabes Spätwerk Hastenbeck (1895-1898) wird neben den Witterungsverhältnissen dagegen auch die politische Situation mit derjenigen aus dem früheren Text Höxter und Corvey (1873—1874) verglichen. Die strukturelle Analogie erweist sich in beiden Fällen als durchaus konkret: Das Wetter ließ zu wünschen übrig, und die Franzosen waren, wie üblich, im Lande.110
Mit der Floskel »wie üblich« wird auf die seit dem Westfälischen Frieden von 1648 legal gewordene Möglichkeit von Auslandsbündnissen der einzelnen Territorien angespielt. In Höxter und Corvey mischen sich die Franzosen beispielsweise in die Auseinandersetzungen zwischen der Stadt Höxter und dem Kloster Corvey ein, weil Christoph Bernhard von Galen, der für Corvey zuständige Bischof, Ludwig XIV. im Krieg gegen Holland (1872-1878) unterstützt. In den lokalen deutschen Auseinandersetzungen sehen die Franzosen daher eine Behinderung ihrer militärischen Operationen, die sie gewaltsam zu unterbinden trachten. 111 Demgegenüber sind es in Hastenbeck die Bündnispaare ÖsterreichFrankreich und Preußen-England, die sich im Siebenjährigen Krieg (17561763) gegenüberstehen. Die beiden deutschen Großmächte ringen um ihre europäische Stellung, während England und Frankreich um die koloniale Vormacht in Nordamerika kämpfen. Ausschlaggebend für das britischpreußische Bündnis ist die 1756 abgeschlossene Konvention von Westminster zum Schutze Hannovers. Seit 1714 sind das englische und das Hannoveraner Königshaus in Personalunion miteinander verbunden. Diese spezifische regionale Situation weifischer Gebiete, die so »zur Achillesferse des Inselreichs [werden], von jedem Gegner bedroht oder angegriffen, der
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BA 2 , 3 2 5 u. 2 0 4 . BA 2 0 , 1 1 . M a x Braubach, Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, 8. Auflage, M ü n c h e n 1988 (Gebhardt, Bd. 10), S. 4 9 .
23
England auf dem Festland treffen will«," 2 wird auch in Raabes spätem Text Das Odfeld (1886-1887) kritisiert. Nicht nur im militärischen Sinne ist hier vor demselben historischen Hintergrund des Siebenjährigen Kriegs von einem »Impedimentum«, von »eine[r] schwere[n] Belastung«, die Rede. 113 Der von Raabe bevorzugte Geschichtsschauplatz Niedersachsen bietet sich also nicht nur aus Abneigung gegen >große Geschichtsereignisse< oder aus einer »allgemein-menschlichen Heimatliebe« an. 114 Gerade im »zwischen Preußen und Hannover gleichsam eingekeilten Herzogtum [Braunschweig]« 115 werden territoriale Zerrissenheit und europäische Abhängigkeit Deutschlands auf engstem Raum besonders augenfällig. Dies hatte Raabe selbst noch erlebt und durch Vater und Großvater vermittelt bekommen. 116 Nicht nur von Werk zu Werk, auch innerhalb eines Textes können Anspielungen und Zitate aus anderen historischen Epochen - über die Zeitlichkeit der Haupthandlung hinaus - auf zurückliegende oder bevorstehende Ereignisse und Strukturen deutscher Zersplitterung hinweisen. So gerät z. B. der preußisch-österreichische Dualismus, der zum Siebenjährigen Krieg führt, auch schon ins Blickfeld der ein Jahrhundert früher - nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) - situierten Handlung von Höxter und Corvey. Liefert doch das Datum der ersten preußischen Königskrönung (1703) den Ausgangspunkt für die Errechnung des fiktiven Todesdatums von Raabes Protagonisten Lambert Tewes.117 Noch ein Jahrhundert früher ist die Handlungszeit im Heiligen Born angelegt (1556/57), wo bereits vom Königsberg die Rede ist. Er trägt diesen Namen allerdings erst seit dem Besuch Friedrichs des Großen, zwei Jahrhunderte später: ein anachronistischer »Irrtum«, befindet hierzu der Kommentar der Braunschweiger Ausga¿f. 1 1 8 Indirekt wird dadurch aber der hier im Vordergrund stehende evangelisch-katholische Dualismus der Religionskriege des 16. Jahrhunderts auf die preußisch-österreichische Konfrontation in den drei Schlesi-
Georg Schnath [u.a.], Geschichte des Landes Niedersachsen, 4., erg. Auflage, Freiburg, W ü r z b u r g 1983, S. 3 9 . BA 1 7 , 1 9 2 . So bei: Heiseler, Quellen, S. 98 u. S. 104 und: Schlegel, Weserheimat, S. 101. Richter, Einleitung, S. 9. Aus einem Aufsatz seines Großvaters im »Holzmindischen Wochenblatt« von 1 7 8 7 ü b e r n i m m t Raabe bekanntlich das Motto zu seinem »Odfeld«. Hier w i r d Deutschland bereits als Austragungsort kolonialer Konflikte kritisiert (BA 17,6 u. 4 2 9 ) . Ähnliches beklagt Raabes Vater 1839 in seiner handschriftlichen »Geschichte der guelphischen Lande Braunschweig und Hannover und ihrer Fürsten, im Z u s a m m e n h a n g mit der allgemeinen deutschen Geschichte«: Die englische Verbindung Hannovers habe eher Schwierigkeiten statt Glanz eingebracht und sei verantwortlich für das Leid der Weifen während des Siebenjährigen Kriegs (HAB: 1 Novissimi 2°, S. 3 1 6 u. S. 3 2 2 ) . HuC.100. BA 3 , 9 3 u. 4 7 6 .
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sehen Kriegen unter Friedrich dem Großen bezogen. Beide Epochen können analogisiert werden, weil das gemeinsame Diskursthema aus den verschiedenen Stationen deutscher Reichsteilung besteht. Der Heilige Born enthält zudem direkte Hinweise des Erzählers auf den zukünftigen Kulminationspunkt der religiösen Auseinandersetzungen im Dreißigjährigen Krieg. 119 Neben konfessionellen und ständischen Gegensätzen stehen hier zum ersten Mal machtstaatliche Interessen im Vordergrund: Der Kampf gegen die habsburgische Vormachtstellung in Europa wird auf deutschem Boden ausgetragen. Nicht anders lautete ja die Kritik am Siebenjährigen Krieg im Odfeld, wo »Canada auf unserm Boden erobert« werden sollte. 120 Auch in diesem Text wird nicht nur an das vergleichbare Elend des vorangegangenen Dreißigjährigen Kriegs rückerinnert. 1 2 1 Es werden auch die dahinterstehenden, spezifisch deutschen Ursachen verdeutlicht: Die historischen Konstanten religiöser bzw. territorialer Konfrontation führen in beiden Epochen zu weiterer Aufsplitterung und Abhängigkeit vom Ausland. Diese vergangenen Verfehlungen deutscher Reichseinheit werden in Raabes Odfeld noch einmal exemplarisch und auf engstem Raum an der zentralen historischen Zitatcollage des Zeiten->Wirbels< sichtbar, der durch eine Schlacht unter Raben ausgelöst wird. Das ist um so erstaunlicher, als ja gerade diese kurze Textsequenz einen Angelpunkt innerhalb der historisch-fatalistisch argumentierenden Raabe-Forschung darstellt. Insofern lohnt eine detaillierte Betrachtung des Textausschnitts. Schon die Wahl der Rabenvögel selbst kann dabei als nationalpolitischer Hinweis verstanden werden. 122 In der Sage vom schlafenden Friedrich Barbarossa, die im 19. Jahrhundert zum nationalen Mythos avanciert, sollen sie den Zeitpunkt des Erwachens zur nationalen Einheit ankündigen. Wie die Analyse des folgenden Zitats aus der Assoziationskette des Rabenschlacht-Beobachters Noah Buchius zeigt, scheint diese allerdings noch in weiter Ferne zu liegen: Armin und Germanicus, Sachse und Franke, die Liga und der Schwed, sie lagen sich, in einen Knäuel verbissen, wiederum im Haar im Gau Tilithi, dem Ithgau
Die erste historische Station bezeichnet hier den Kampf des Cheruskers Arminius, der 16 n. Chr. dem Römer Germanicus in der Schlacht bei Idistaviso unterliegt. Raabes Erzähler suggeriert von Anfang an zudem eine Iden119 120 121 122
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B A 3 . 1 1 8 u. 346. BA 17,6. BA 17,130f. Vgl- hierzu bereits; Paul Derks, Raabe-Studien. Beiträge zur Anwendung psychoanalytischer Interpretationsmodelle. »Stopfkuchen« und »Das Odfeld«, 1. Auflage, Bonn 1976, S. 167-175. BA 17,28. 2
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tität zwischen diesem Schauplatz und dem des Odfeld,124 Trotz der Niederlage der Cherusker ziehen sich die Römer danach endgültig aus dem Gebiet zwischen Rhein und Elbe zurück. Der germanische Sieg gegen den äußeren Feind wird durch die nächste Historien-Etappe allerdings relativiert. Sie spielt auf die inneren Hegemonieansprüche der Franken gegen die Sachsen im frühen Mittelalter an. Die Anfänge einer deutschen Reichsgründung über eine einheitliche Religionsbasis werden durch den Frankenkönig Karl den Großen gewaltsam erzwungen. Er bricht den sächsischen Widerstand, der sich unter Widukind gegen Adelsherrschaft und Zwangs-Christianisierung mobilisiert hatte. Widukind und Karl der Große werden im weiteren Verlauf der Rabenschlacht explizit genannt. 125 Sie treten aber auch in anderen Geschichtstexten Raabes als Erinnerungszeichen an den bereits verfehlten, da gewaltsam erzwungenen Beginn deutscher Einigungsversuche in Erscheinung. So z. B. im Heiligen Born oder in Hastenbeck,126 Nach der Reformation bricht diese einheitliche Religionsgrundlage zudem wieder in zwei Lager auseinander. Ihre Konfrontation bedroht jetzt die Reichseinheit und führt auch wieder ausländische Mächte ins Land. Hierauf spielt die vorerst letzte Station des Rabenschlacht-Zitats durch die Erwähnung des Kampfes zwischen >Liga und Schwed< an: Am Ende des Dreißigjährigen Kriegs werden die Protestanten gegen die katholische Liga durch die Schweden unter Gustav Adolf unterstützt. Er versprach sich davon zugleich einen Ausbau seiner territorialen Machtstellung an der Ostsee. Ein noch weiter zurückliegender Geschichtsraum, in dem es um Reichsgründung und -zerfall und um ihre Ursachen geht, wird im weiteren Verlauf der Rabenschlacht durch Hinweise auf die Kämpfe auf den Katalaunischen Feldern (451 n. Chr.) eröffnet. Römer und Westgoten besiegen hier die Hunnen unter Attila. 127 Diese Schlacht steht vor dem Hintergrund der Zerstörung des weströmischen Reichs infolge der Völkerwanderungsbewegung vom 4. bis 6. Jahrhundert n. Chr. Es kommt zu westgermanischen Reichsgründungen und damit zu ersten Vorstufen deutscher Reichsgeschichte. Uber inhaltliche Bezüge zur 0^9Z^-Handlung verknüpft sich dies gleichzeitig mit
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Vgl.: Weniger, Quellen, S. 105f. — Ausgehend von der Schlachtenbeschreibung bei Tacitus (Annalen 11,16), hatte auch Raabes Vater dieses Ereignis in seiner »Geschichte der guelphischen Lande Braunschweig und Hannover« auf d e m »Feld a m Ith«, »zwischen dem Ith und der Weser« situiert ( H A B : 1 Novissimi 2°, S. 18; A n m . 2 3 ) . BA 17,30. BA 3 , 2 2 u. 6 5 . BA 2 0 , 1 3 7 u. 196. - Im 18. Jahrhundert hatten bereits Klopstock und Herder Karl dem Großen aus eben diesem Grund die Funktion eines deutschen Nationalhelden abgesprochen; vgl.: Conrad W i e d e m a n n , Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu finden, in: Günter Birtsch (Hg.), Patriotismus (Aufklärung 4 ( 1 9 9 1 ) 2), S. 7 5 - 1 0 1 ; S. 94f. BA 17,30.
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der Sage von der sogenannten Rabenschlacht bei Ravenna. 128 Mit dem Sieger dieser Schlacht, Theoderich dem Großen, wird auf den Versuch einer römisch-germanischen Synthese angespielt. Ihr Scheitern ist wiederum durch religiöse Gegensätze bedingt - diesmal zwischen Christen und Heiden. Ein Opfer dieses Gegensatzes war übrigens der römische Philosoph Boethius, der 524 n. Chr. wegen angeblichen Hochverrats hingerichtet wurde. Seine im Gefängnis verfaßte Consolatio philosophiae dient Noah Buchius in Raabes Odfeld jetzt bezeichnenderweise als Trostmittel für dessen eigene Bedrängnis durch Belagerung und Flucht im Siebenjährigen Krieg. 129 Römer, Schweden, aber auch Engländer und Franzosen, das zeigt die Analyse des Rabenschlachtzitats auf dem historischen Hintergrund von Raabes Odfeld, haben zu verschiedenen Zeiten ihren Einfluß in einem uneinigen germanischen bzw. deutschen Reich mit seinen gegensätzlichen religiösen, territorialen oder machtpolitischen Interessen geltend machen können. Die an diesem Beispiel exemplifizierte, gegenläufige Struktur nationaler Einigungsversuche auf Kosten individueller Freiheit und Unversehrtheit bildet das analoge, sich wiederholende Element von Raabes epochensprengender, historischer Allusionstechnik. Ihr ungewöhnliches Auftreten ist von Hans-Jürgen Schräder unter den Begriff der »Geschichtssummationen« gefaßt worden. 130 Sie werden bei Raabe oft im Metaphernumfeld des Karten-, Würfel- oder Schachspiels dargestellt - dies zeigte zu Beginn dieses Kapitels auch das einleitende Zitat aus Raabes Heiligem Born.lil Entgegen bisherigen Interpretationen ist damit aber kein Spiel mit beliebigen Historienassoziationen gemeint, welches lediglich auf allgemeiner Ebene ein Geschichts- und Erfahrungs-Chaos verdeutliche. 132 Werden doch gerade die Bilder aus dem Bereich des Gesellschaftsspiels seit der Antike als politisch-historische Chiffren gebraucht. So sah Goethe ebenso wie Bismarck im Bild vom »großen blutigen Spielbrett« — Raabe bezieht es im Odfeld auf den Siebenjährigen Krieg — gerade die besondere Rolle des territorial zerteilten Deutschland charakterisiert: als ohnmächtiger »Spielstein« zwischen den übrigen europäischen Mächten. 133 Dies wird bei Raabe häufig noch durch mythische oder religiöse Bilder überhöht, wie z. B. in Buchius' Klage: »Eine heulende Wüstenei ist auch heute wieder das arme Teutschland, und wir Kinder des Landes gehen ratlos in der Irre zwischen den blutigen Fremdlingen -«. 1 3 4 Im Unterschied zu 128
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Vgl. dazu: Heimuch M o j e m , Über die Quellen der Rabenschlacht im »Odfeld« W i l h e l m Raabes, in: JbRG 1990, S. 5 0 - 7 3 , vor allem S. 5 7 - 6 7 . BA 1 7 , 1 0 5 . Schräder, Vergegenwärtigung, S. 46. Vgl. neben BA 3 , 1 9 4 auch: BA 4 , 1 4 5 ; H u C , 4 u. 4 7 ; BA 17,198. So z. B. der Tenor bei: Hans-Jürgen Schräder, »Höxter und Corvey«. Tragisches Erleben und humoristischer Freiblick in verworrenen Zeiten, in: H u C , S. 1 8 9 213; S. 2 0 7 . BA 17,35. - D e m a n d t , Metaphern, S. 3 6 3 - 3 6 8 ; S. 366f. BA 1 7 , 1 3 2 .
den ausschließlich theologisch ausgerichteten Deutungen dieser Sequenzen, 135 scheint mir das monumentale Pathos innerhalb der zumeist national eingebundenen Kontexte gerade nicht einer schicksalhaften Unveränderlichkeit das Wort zu reden. Vielmehr wird so eine Veränderung dieser Zustände eingeklagt. Dabei handelt es sich bei dem nationalstaatlich gebrauchten Topos vom >Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationdeutsche Geburt< statt, deren Schauplatz wiederum ein Berg ist. se Verbindung vergangener nationaler T h e m e n und M y t h e n m i t der politischen Gegenwart spiegelt sich im 19. Jahrhundert im gesamten kulturellen Bereich mit seinen Trivialformen wider. So vor allem in der (Historien-)Malerei, der Architektur u n d der Denkmalskunst, die eine regelrechte Blütezeit erfährt. Die künstlerische Umsetzung nationaler T h e m a t i k ist auf diesen Gebieten bislang sehr viel breiter erforscht worden, als man das für die Literatur des 19. J a h r hunderts behaupten kann. Der poststrukturalistische Philosoph Gilles Deleuze begreift dieses Werk in seiner Filmtheorie dabei als einen ersten Ausdruck des heimlichen G r u n d t h e m a s amerikanischen Kinos überhaupt; ders., Das Bewegungs-Bild. Kino 1, übers, v. Ulrich Christians u. Ulrike Bokelmann, durchges. v. Karsten W i t t e , 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1989 (Erstveröffentlichung u.d.T.: C i n e m a 1. L'image-mouvement, Paris 1983), S. 202f. Vgl. zur analogen Geschichtsauffassung der bildungsbürgerlichen, deutschen Nationalbewegung am Beginn des 19. Jahrhunderts, in der die Nation ebenfalls als notwendige Gesetzmäßigkeit historischer Entwicklung erscheint: W o l f g a n g H a r d t w i g , Studentische Mentalität - Politische Jugendbewegung - Nationalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft, in: H Z 2 4 2 ( 1 9 8 6 ) , S. 5 8 1 6 2 8 ; S. 6 2 2 . BA 4 , 1 2 7 . - Denselben Geburtstopos funktioniert Raabe 1905 in einem Brief an W i l h e l m und M a r i e Jensen dagegen zur Kritik am deutschen Imperialismus u m (BA E 3 . 5 6 7 ) .
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So erzählt Fritz Wolkenjäger seinem Freund Sever im neunten Brief, wie der ursprünglich multikulturelle Findling vom Schlachtfeld im spanischen Talavera in der Tiefe des Eisenbergwerks Seigergrund gleichfalls tief verschüttete Erinnerungen wiedergewinnt und damit seine Identität als Anna von Rhoda erhält. Aus dem »Schöße« des Berges, wie es bezeichnenderweise heißt, wird sie schließlich wie eine Neu- bzw. Wiedergeborene entlassen, 171 umgewandelt zu einer Art deutschem Symboh. 172 Uber den Verwandlungsprozeß dieser Figur vom Weltkind zur »deutschen Mutter« 173 wird zugleich auf eine historische Bedeutungsveränderung des Volksbegriffs angespielt. Seine von Herder ursprünglich als kosmopolitisch begriffene Orientierung verliert sich in der deutschen Romantik, um statt dessen als eine erste Voraussetzung spezifisch deutscher Nationalidentität angesehen zu werden. 174 So zeichnet sich Raabes Nach dem großen Kriege auch durch eine, nicht anders als penetrant zu nennende Anzahl von Anspielungen auf die deutsche Romantik aus, vor allem auf den »deutsche[n] Wald« und eine damit verbundene, spezifisch deutsche Mythologie märchenhafter Elementargeister. 175 Die Mythenanhäufung in diesem frühen Text dient einer Intensivierung des Nationalgefühls, wie sie auch Raabes lyrischer und politischer Aktivität zu dieser Zeit entspricht. 176 Rainer Noltenius hat dabei anhand der allgemeinen Schiller-Begeisterung wie am Beispiel von Raabes Gedicht zur Wolfenbütteler Schiller-Feier 1859 eine »latente Bereitschaft zum Bonapartismus« feststellen können. 177 In der Verehrung Schillers als einer Führerfigur dominierten dadurch bereits autokratisch-nationale statt demokratische Tendenzen, wodurch das spätere Klima von Bismarcks illiberaler Regierungsweise begünstigt werde. 171
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BA 4 , 1 0 4 . V g l . im Verlauf von Raabes Text auch Annas weitere, stellvertretende nationale >Initiationen< durch das Erlernen deutscher Festtraditionen von Weihnachten u n d Ostern (BA 4 , 1 3 2 - 1 3 4 ) . Darauf beläuft sich zumindest die Wertung in der durchweg älteren Sekundärliteratur; vgl.: W i l h e l m Kosch, W i l h e l m Raabe und Deutschlands Erhebung, in RK 1912 ( 1 9 1 1 ) , S. 8 0 - 8 6 ; S. 81 oder: Paul Fuchtel, Nach dem großen Kriege, in: M i t t . 2 3 ( 1 9 3 3 ) 2, S. 4 5 - 5 2 ; S. 51. BA 4 , 1 3 3 . Vgl.: Wolfgang Frühwald, Die Idee kultureller Nationbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland, in: Dann, Nationalismus in vorindustrieller Zeit, S. 1 2 9 - 1 4 1 ; S. 139f. BA 4 , 6 2 . Fritz Strich, Die Mythologie in der deutschen Literatur. Von Klopstock bis Wagner, 2 Bde., Halle a.S. 1910, Bd. 1; S. 55 u. Bd. 2; S. 293. - Vgl. zur Symbolisierung Deutschlands als >WaldGeburtshelfer< eine frühzeitige Rückbindung nationalliberaler Identität an monarchische Traditionen des Mittelalters ableiten. Vor allem nach der späteren Reichsgründung wurden diese ausdrücklich für antiparlamentarische und imperialistische Legitimationszwecke mißbraucht. 178 So tritt Kaiser Wilhelm I. in der Figur eines reitenden »Barbablanca« z. B. sinnbildhaft die Nachfolge Barbarossas auf dem Kyffhäuserdenkmal von 1 8 9 6 an. 1 7 9 Den Kyffhäuser noch ohne Denkmal hat aber auch Raabe auf seinen Wanderungen im Südharz aus der Ferne betrachtet. In einer Tagebucheintragung vom 2 . 6 . 1 8 7 8 stellt er zu diesem Erlebnis nachträglich ebenfalls eine Verbindung zu Wilhelm I. her, allerdings aus dem aktuellen Anlaß des bereits zweiten Attentatsversuchs auf den Kaiser im gleichen Jahr. 1 8 0 In Raabes nach der Reichsgründung entstandenem Spätwerk wird der mittelalterliche Traditionsbezug - ähnlich wie es Noltenius am Beispiel der ironisierten Führerfigur Schiller in Raabes Dräumling aufgezeigt hat 1 8 1 nun gerade nicht mehr ernstgenommen. Dabei wird in Raabes spätem Text Christoph Pechlin das >hehre Ideal< des Stauferkaisers Barbarossa jetzt profanisiert, indem sich eine der Hauptfiguren, Baron Ferdinand von Rippgen, aus alkoholbedingter Erschöpfung einer touristischen Besteigung des Hohenstaufen mit seinen historischen
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V g l . : Borst, Barbarossas Erwachen, S. 57 sowie S. 20ff. (zur N a m e n s g e b u n g >Barbarossa< u n d zur biographischen Vertauschung m i t Friedrich II.). — Die H i n t e r g r ü n d e des sogenanncen Sybel-Ficker-Streits u m die I n d i e n s t n a h m e universalistischer mittelalterlicher Kaiserpolitik als Legitimationsbasis großdeutscher Reichsideen behandelt: H e i n z Gollwitzer, Zur Auffassung der m i t telalterlichen Kaiserpolitik im 19. J a h r h u n d e r t . Eine ideologie- u n d wissenschaftsgeschichtliche Nachlese, in: R u d o l f V i e r h a u s u. M a n f r e d Botzenhart ( H g . ) , Dauer u n d W a n d e l der Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von R a u m e r zum 1 5 . 1 2 . 1 9 6 5 , M ü n s t e r (Wescf.) 1 9 6 6 , S. 4 8 3 - 5 1 2 . Anders a r g u m e n t i e r t dagegen T h o m a s Nipperdey, der in der Bet o n u n g i r r a t i o n a l - m y t h i s c h e r Elemente im nationalen Selbstverständnis nach der R e i c h s g r ü n d u n g auch einen Protest gegen die ö k o n o m i s c h - p r a g m a t i s c h e G r ü n d e r z e i t - S t i m m u n g sieht: ders., Nationalidee u n d N a t i o n a l d e n k m a l in D e u t s c h l a n d im 19. J a h r h u n d e r t , in: ders., Gesellschaft, S. 133—173; S. 169.
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M o n i k a Arndt, Das Kyffhäuser-Denkmal - Ein Beitrag zur politischen Ikonographie des Zweiten Kaiserreiches, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 4 0 ( 1 9 7 8 ) , S. 7 5 - 1 2 7 ; S. 7 7 . - Unter dem Etikett eines historisch naiven » T h e mentourismus« genießt der Kyffhäuser seit der deutsch-deutschen Grenzöffnung wieder breiten Zulauf; vgl.: Martin Ahrends, Barbarossa darf nicht fehlen. Geschichte ist ein T h e m a im östlichen wie im westlichen Harz, in: DIE ZEIT 2 7 ( 2 8 . 6 . 1 9 9 1 ) , S. 6 5 . StA: H III 10 Nr. 1 5 9 , T . l . Noltenius, Dichterfeiern, S. 125f. - Diese gegenläufige Tendenz unterscheidet Raabe dabei z. B. von seinem Zeitgenossen Gottfried Keller, der erst im Alter m i t einer romantischen Frühzeitverklärung sympathisierte. Vgl. dazu: Jeziorkowski, Literarität, S. 46.
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Überresten der Staufer-Stammburg gerade entziehen will, noch dazu mit folgender Entschuldigung: Ich komme mir selber vor wie eine Art Barbarossa im Kyffhäuser. Ich fühle mich wie festgewachsen, wenn auch nicht mit dem Barte am Tisch, so doch mit den Füßen und Beinen am Boden. Außerdem ist mein Kopf sehr eingenommen - 1 8 2
Im Unterschied dazu dominiert in Raabes Frühwerk Nach dem großen Kriege über weite Strecken noch Fritz Wolkenjägers nationale Schwärmerei. Sie erhält breiten Raum, da ausschließlich seine Briefe wiedergegeben werden. Schon hier ist diese Euphorie jedoch konterkariert durch Aussagen des Freundes und Briefpartners Sever, welche seine nationalpolitische Enttäuschung über die restaurativen Folgen der antinapoleonischen Kriege im Wiener Kongreß von 1 8 1 4 / 1 5 zum Ausdruck bringen. Wird dort doch schon wieder »um das Gewand der alten Mutter Germania« gewürfelt, wie bei den biblischen Kriegsknechten »um den Rock des Herrn«. 1 8 3 So findet sich das Elend deutscher Zerrissenheit über Wolkenjägers pathetische, germanisch-christliche Bildmischung mythisiert. In Vorwegnahme von Raabes späteren >SpaltungsromanenSchreckensherrschaft< dargestellt i s t . " 1 Im Zuge der antinapoleonischen Erhebung kann es daher auch zu einem »nationalen Bündnis zwischen den traditionalen und den modernisierenden Eliten« kommen. 1 9 2 Dies führt in der Folgezeit dazu, daß sich die nationalliberalen Kräfte gegenüber den so gestärkten statt geschwächten einzelstaatlichen Monarchien nicht behaupten können. Diese Ambivalenz spiegelt sich selbst in der Begrifflichkeit für jene Periode wider. Die Bezeichnungen >BefreiungsFreiheitskriege< feiern einseitig und undifferenziert einen allgemeinen antifranzösischen Widerstand, weshalb sie von Heine oder Nietzsche auch nur in Anführungszeichen verwandt worden sind. 1 5 3 Daher soll hier von spezifisch >antinapoleonischen< Kriegen gesprochen werden. Raabe dagegen vermeidet in seinen Texten fast immer eine direkte Bezeichnung. Selten ist von »Befreiungsschlachten« oder vom »Freiheitskampf ]« die Rede.15'* Auch beeinflußt diese Zeit nie direkt, sondern immer nur aus der Distanz historischer Erinnerung seine Geschichtstexte. Dadurch kann gerade der ambivalente Charakter der antinapoleonischen Erhebung als einer der Ursprünge deutscher SonderwegsGeistestyrannen«. Er ruft zur aktuellen Verteidigung der >Freisinnigkeit< auf, um »dies theure und unveräußerliche Kleinod unseres Geistes [zu] behaupten gegen jeden Angriff, der darauf in unsern Zeiten wieder gemacht wird [...]«. 2 0 6 Die bürgerlich-liberale Forderung nach geistiger Freiheit, die in weiteren Festbeiträgen aufscheint, ist allerdings eng mit einer restaurativen, lokalpatriotischen Huldigung des herzoglichen Universitätsgründers verbunden. Dieses für deutsche Verhältnisse bezeichnende politische Paradoxon der Ungleichzeitigkeit hat Eberhard Rohse am Beispiel des Braunschweiger Dramatikers Wolfgang Robert Griepenkerl feststellen können. 1848 feierte er in einer Rede gleichzeitig das Ereignis der Märzrevolution wie den Geburtstag Herzog Wilhelms von Braunschweig. 2 0 7 Auch im Anhang der Helmstedter Gedenkschrift findet sich ja eine zeitgenössische Lebensbeschreibung des Herzogs Julius. Doch selbst die festbegleitenden Studentenlieder haben sich hier vom ursprünglich national-demokratischen Va-
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Strombeck, Feier, S. 1 - 1 6 ; S. 1; S. 16 u.ö. Vgl.: Büssem, Karlsbader Beschlüsse, S. 68 sowie: George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, übers, v. Otto Weith, Frankfurt a . M . , Berlin 1976, S. 91 ff. (Erstveröffentlichung u.d.T.: The Nationalization of the Masses, New York 1975). Festbeitrag Nr. 7, in: Strombeck, Feier, S. 8 6 - 9 8 u. S. 9 9 - 1 0 4 (Anm. ), S. 97f. u. S. 104 (Hervorh. v. mir). Eberhard Rohse, Revolutionsdramatik auf dem Hoftheater. W o l f g a n g Robert Griepenkerl, in: 3 0 0 Jahre Theater in Braunschweig 1 6 9 0 - 1 9 9 0 , hg. v. der Stadt Braunschweig, Braunschweig 1990, S. 2 2 7 - 2 4 0 ; S. 2 2 7 u. S. 2 3 0 . Rohse weist hier auch auf die Verarbeitung biographischer Elemente Griepenkerls für Raabes Figur Felix Lippoldes in dem späten Text »Pfisters M ü h l e « hin (S. 2 3 7 ) .
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terlandsgesang zum partikularistisch-feudalistischen Landesvaterlied gewandelt: ihre Texte huldigen jetzt alten und neuen weifischen Fürsten. 2 0 8 Diese rückschrittliche Variante übernimmt Raabe nun gerade nicht in seinen Text. Er verwendet dagegen leitmotivisch das bekannteste Lied der Studentenverbindungen, Gaudeamus igitur.209 Nach den Karlsbader Beschlüssen konnte es in zahllosen Umdichtungen einen oppositionellen Stellenwert als »Überlieferungsbrücke [...] günstigerer Zeiten« behaupten. 2 1 0 Die Notwendigkeit einer Verbindung von Einheit und Freiheit verdeutlicht Raabe in der Alten Universität zudem über die Figureneinführung des »Deutschamerikaner^]« George Hartriegel, der seine jetzige Heimat selbst mit »United States of North-America!« vorstellt. 2 " Ihr Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) hatte nicht nur zur kolonialen Befreiung, sondern auch zu einer ersten Formulierung der Menschenrechte geführt. Auf fiktionaler Ebene findet damit in Raabes Alter Universität bereits eine private, »deutsch-amerikanische[ ] Synthese« statt, wie sie Fritz Martini erst für Raabes späten Text Alte Nester (1877-1879) festgestellt hat: 2 1 2 Durch die Liebe zwischen George Hartriegel und Ehrhardine Cellarius wird in der Alten Universität ja gleichzeitig eine späte, symbolische Aussöhnung ihrer Väter bewirkt. Wurde in manchen Helmstedter Festbeiträgen aus Raabes Quelle für Die alte Universität also bereits verdeckte Zeitkritik geübt, so setzt Raabe sogar diesen Umstand abgewandelt in seinem Text um: zur Restaurationszeit, dem historischen Hintergrund der Erzählung, diente gerade die Amerikathematik in der deutschen Literatur als Mittel politischer Camouflage. 2 1 3 208
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Vgl. z. B. die zwei >neuen Landesvaterlieder< Nr. 12 und Nr. 13 der Gedenkschrift mit den Titeln »Dem regierenden Herrn« bzw. »Dem Andenken des Herzogs Julius« (Strombeck, Feier, S. 1 3 4 f ) . Ihre Melodie entstammt ursprünglich dem vaterländischen »Weihelied«; vgl.: Ludwig Richter u. A.E. Marschner (Hg.), Alte und neue Studentenlieder. Mit Bildern und Singweisen, Leipzig 1844 (Nachdruck der Erstausgabe, D o r t m u n d 1978), Nr. 20, S. 26f. DaU,5f.; 8; 13f. u. 19. Kurt Stephenson, Das Lied der studentischen Erneuerungsbewegung 1 8 1 4 1819, Frankfurt a.M. 1958, S. 22 u. S. 54. - Auch in anderen Raabe-Texten stehen die 1819 verbotenen Studentenlieder zeichenhaft für ein Stück d e u t scher Misere«, für die Bewahrung einer inneren Freiheit, welche sich auf politischer Ebene nicht durchzusetzen vermochte. So nennt Schräder neben der »Alten Universität« z. B. noch »Die Chronik der Sperlingsgasse«, »Abu Telfan« und »Das H o r n von Wanza«; ders., Vergegenwärtigung, S. 27 u. Anm. 52. DaU,20. Fritz Martini, Auswanderer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane, in: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler, Wilfried Malsch (Hg.), Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt - Nordamerika - USA, Wolfgang Paulsen zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1975, S. 178-204; S. 194. Dies hat Karlheinz Rossbacher an der deutschen Vormärz-Rezeption von Coopers Werken analysiert; ders., Lederstrumpf in Deutschland. Zur Rezeption James Fenimore Coopers beim Leser der Restaurationszeit, München 1972, S. 13.
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Warum gerade das Charakteristikum verdeckter Zeitkritik die Helmstedter Quelle für Raabe so attraktiv machte, daß er genau diesen Umstand — entgegengesetzt zur trivialen Oberflächenhandlung — zum untergründigen Wesen seines eigenen Textes werden ließ, wird wiederum aus politischen Umständen, diesmal denjenigen der Entstehungszeit der Alten Universität, verständlich. Meinte der junge Raabe, der 1858 am Beginn politischer Aktivität stand, doch in einer Zeit neuerlicher Reaktionspolitik sich nicht anders einer Kontrolle liberal-demokratischer Inhalte entziehen zu können, als über historische Vorbilder politisch-literarischer Tarnung. Aber nicht nur als direktes Thema, wie auch in dem späteren, bekannten Werk Im Siegeskranze (1866), sind die antinapoleonischen Kriege in Raabes Erzähltexten präsent. 214 In der Form eines unterschwellig eingesetzten Leitmotivs wird an diese Zeit selbst in historisch anders verorteten Werken erinnert. Durch die Reminiszenz eines Liedrefrains werden dadurch weitere Kampfsituationen aus der deutschen Geschichte unter das Motto nationaler Befreiung gestellt. »Mit Mann und Roß und Wagen,/so hat sie Gott geschlagen« - diese Rhythmisierung einer alttestamentarischen Siegeshymne, die den Sieg Israels über die Ägypter besingt, wird 1813 zum Triumphlied über Napoleons Rußland-Niederlage erweitert. Unter dem Titel Fluchtlied findet es volkstümliche Verbreitung. 215 In Raabes Siegeskranze werden unter »Roß und Wagen« noch tatsächlich die nach Deutschland vordringenden Franzosen unter Napoleon verstanden. 216 Dagegen ist dieses Motto über die unterschwellige Struktur der Alten Universität auf die feiernden studentischen Ehemaligen und darüber hinaus ja auf die Kämpfer in den antinapoleonischen Kriegen angewandt. 217 Mit »Wagen, Roß und Mann« will Klaus Eckenbrecher im Heiligen Born gegen die katholischen Spanier ziehen, wie auch Anneke Mey im Junker von Denow.2iS Selbst der reichspatriotisch-protestantische Kampf gegen die Katholiken und ihre jeweiligen Söldnerheere wird in Unseres Herr-
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Auch im »Siegeskranze« ergibt sich dabei eine erzähltechnische Zeitenverzahnung - diesmal zwischen den antinapoleonischen Kriegen und dem Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich von 1866. In beiden Fällen wird jetzt der Partikularismus deutscher Kleinstaaterei als epochenübergreifendes Strukturelement nationaler Misere ausgestellt. Besonders deutlich ist diese Verk n ü p f u n g in einer von Ulrike Koller kommentierten Ausgabe herausgearbeitet; W i l h e l m Raabe, Im Siegeskranze. Schüler- u. Lehrerheft, hg. v. Ulrike Koller, Frankfurt a . M . 1986, Lehrerh., S. 6f. u. S. 2 9 . Vgl.: 2. Mose 15,21 sowie: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, ges. u. erl. v. Georg Büchmann, fortges. v. Walter Robert-tornow [u.a.], 3 6 . Auflage, bearb. v. W i n f r i e d H o f m a n n , Frankfurt a . M . , Berlin 1986 (einzige v. der Erstausgabe 1864 unmittelbar fortgef. Originalausgabe), S. 6 3 . BA 9/2,221 f. DaU,12. BA 3 , 2 3 7 . - BA 2 , 3 9 2 . 44
gotts Kanzlei mit diesem Zitat belegt. 219 Im Odfeld und in Hastenbeck ist mit dieser Liedreminiszenz wieder der französische Gegner gemeint, der im Siebenjährigen Krieg - wie in den vorangegangenen napoleonischen Kriegen - kolonialistische Interessen verfolgt. 220 4.2.3
Von indianischen Eingeborenen und »Geisterfn] der Vergangenheit« Zum Modell Nordamerika in Raabes Eulenpfingsten (1874) und Die Gänse von Bützow (1864-1865)
Verkörperte die Figur des Deutschamerikaners« George Hartriegel zur historischen Zeit von Raabes Alter Universität noch ein entferntes, rein literarisch fixiertes Freiheitsideal, so hatte sich dies zur Entstehungszeit des Textes bereits entschieden verschärft. Infolge der neuerlichen Reaktionsperiode nach der gescheiterten Revolution von 1848 war Amerika jetzt zum konkreten Emigrationsziel enttäuschter oder verfolgter deutscher Demokraten geworden. Ihr Auswandererschicksal hat Raabe in seinen Werken oft beschrieben. 221 In unserem Kontext nationaler Identitätsmodelle interessiert zunächst jedoch die weniger bekannte Darstellung aus Raabes Nibelungenparodie Eulenpfingsten (1874). Bei der dort genannten »Deutsch-Amerikanerin« handelt es sich um Tante Lina Nebelung, die seit 1849 in New Yorker »Verbannung« gelebt hat, nachdem ihr Jugendfreund Fritz Hessenberg wegen »demogischer Umtriebe« verhaftet worden war. 222 Für Lina gilt damit, wie für Raabes andere >Deutsch-Amerikaner< auch, daß sie nicht nur als Deutsche nach Amerika auswandern mußte. Sie kehrt aus Amerika auch wieder nach Deutschland zurück - noch dazu auf einem Schiff namens »Germania«. 223 Als ein lebendiges Mahnmal der Unterdrückung politischer wie persönlicher Freiheit zwingt Lina ihre deutsche Umgebung dadurch zu unliebsamen Erinnerungen. Uber die Ausübung eines Berufs — sie war Lehrerin am amerikanischen Vassar College für Frauen — konnte sie sich emanzipieren, so daß sie
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BA 4 , 1 5 3 ; 2 4 1 u. 3 8 2 . BA 17,65 u. BA 2 0 , 9 4 ; vgl. in »Hastenbeck« zudem das M o t t o Freiherr vom Steins: BA 2 0 , 6 u. 458f. Vgl.: M a r t i n i , Amerikaspiegelungen, S. 1 8 8 - 1 9 6 u. S. 203f. BA 1 1 , 3 5 8 ; 3 9 7 u. 3 9 5 . BA 1 1 , 4 3 9 . »Deutschland« sollte ursprünglich auch das Schiff heißen, auf d e m Eduard in »Stopfkuchen« ( 1 8 8 8 - 1 8 8 9 ) für kurze Zeit aus Afrika heimkehrt (BA 1 8 , 4 5 0 ) . - Vgl. zur oft festgestellten Bedeutung von Reise und H e i m k e h r in Raabes Werk: F[rederic] E. Coenen, W i l h e l m Raabe's Treatment of the Emigrant, in: Studies in Philology 34 ( 1 9 3 7 ) 4, S. 6 1 2 - 6 2 6 ; W i l l i a m T. Webster, Der »Hinhocker« und der »Weltwanderer«: Zur Bedeutung der Reise bei W i l helm Raabe, in: JbRG 1982, S. 2 6 - 3 9 sowie: Regina Schmid-Stotz, Von Finkenrode nach Altershausen. Das Motiv der Heimkehr im Werk W i l h e l m Raabes als Ausdruck einer sich wandelnden Lebenseinstellung, dargestellt an fünf Romanen aus fünf Lebensabschnitten, Bern, Frankfurt a . M . [usw.] 1984.
45
nun selbst die Fäden in der H a n d behält, um die übrige Welt für sich Komödie spielen zu lassen, wie es hier theatermetaphorisch heißt. 2 2 4 Fritz Hessenberg malträtiert seinen karrieresüchtigen Prozeßprotokollanten von einst dagegen noch direkter mit den »Geister[n] der Vergangenheit«. 225 Aus der multinationalen, aber dafür »freien Schweiz« zurückgekehrt, beginnt der jetzige Gerbermeister, beiläufig und immer gemütlicher werdend, Alex Nebelung >das Fell abzuziehen«. 226 Zu dessen Leidwesen kommt Hessenberg nämlich immer wieder auf Nebelungs damalige, unrühmliche Denunziantenrolle vor Gericht zu sprechen. In dieser hintergründig->behaglichen< Art der Grausamkeit gegenüber früheren Peinigern steht der gleichfalls dicke Hessenberg Raabes späterer Stopfkuchen-Figur in nichts nach. In Eulenpfingsten versteckt sich dahinter aber auch der Hinweis auf Bismarck als zukünftigem >Gerber Deutschlands«, der die ersehnte nationale Einigung rigoros auf Kosten demokratischer Prinzipien mit dem »Abfleischeisen« eben - erzwingen wird. 2 2 7 Amerika ist in Raabes Werk aber nicht nur im positiven, nationale mit freiheitlichen Zielen verbindenden Sinne präsent, wie noch im Frühwerk Die Leute aus dem Walde (1861—1862). Das gesamte St. Louis ist hier zum heimatverbundenen 48er-Exil ausgestaltet, wo im Zimmer des Gasthofs »Zum Vater Rhein« ein Portrait des erschossenen Radikalliberalen Robert Blum hängt. 2 2 8 In der früher entstandenen Chronik der Sperlingsgasse zeigt Raabe dagegen die Hauptursache deutscher Amerika-Auswanderung auf, welche in sozialen und ökonomischen Motiven bestand: 2 2 9 Die durch Verelendung erzwungene Amerika-Auswanderung einer Schuhmacherfamilie wird hier gerade als leidvoller Heimat-Verlust ausgestellt. 230 In den späten Akten des Vogelsangs gerät Amerika darüber hinaus zum Negativbild eines »hypertro-
224
225 226 227
228 22s
230
BA 11,366; 4 3 7 u. 440. - Vgl. zur Bedeutung der Theatermetapher, vor allem für Raabes Spätwerk, neben: Dieter Arendt, Auf der Bühne des Welttheaters, in: JbRG 1983, S. 7 - 3 2 , jetzt: Denkler, Raabe, S. 197ff. - Vgl. zur emanzipierten Frauenfigur Lina Nebelung und ihrem Vorbild Caecilie Kapp: Irene S. Di Maio, Nochmals zu den »Akten«: Sphinx, Indianerprinzessin, Nilschlange, in: JbRG 1987, S. 2 2 8 - 2 4 2 ; S. 235. B A I 1,431. BA 11,419 u. 428. BA 11,422; 428 u. 520: Die Bismarck-Anspielung ergibt sich aus der Umkehrung einer auf ihn bezogenen Gerber-Metaphorik, wie sie zu Raabes Zeit im Stuttgarter Künstlerverein »Das Bergwerk« gepflegt wurde. So taucht sie z. B. im »Heldenbuch des Stuttgarter Bergwerks« von 1862/63 auf. Es handelt sich dabei u m ein Protokoll mit dem Antrag, dem Bergwerk ein hartes Fell zu verschaffen, wozu ein preußischer Lohgerber am tüchtigsten sei, »weil es sonst zu den Unmöglichkeiten gehören würde, Herrn von Bismarck u n d Konsotten, die unstreitig sehr harte Felle haben müssen, dieselben über die O h r e n zu ziehen«. BA 5,380f. Vgl. dazu: Peter Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973, S. 57ff. BA 1,166f. 46
phen Kapitalismus«,231 dessen Ausbreitung Raabe auch am wilhelminischen D e u t s c h l a n d k r i t i s i e r t e . E b e n f a l l s n e g a t i v ist d e r F l u c h t o r t A m e r i k a b e r e i t s zwanzig
Jahre
zuvor
in
Christoph
Pechlin
konnotiert.
Die
Heirats-
s c h w i n d l e r i n C h r i s t a b e l E d d i s h k a n n sich s o d e r ( f i n a n z i e l l e n ) V e r a n t w o r t u n g f ü r ihr K i n d e n t z i e h e n . S t a t t d e s s e n >erzieht< sie jetzt d i e i n d i a n i s c h e n E i n g e b o r e n e n , wie v o m Erzähler sarkastisch vermerkt w i r d . 2 3 2 Ein »Nebeneinander von Enttäuschung und H o f f n u n g « prägt das deuts c h e A m e r i k a b i l d d a b e i s c h o n seit 1 8 3 0 . 2 3 3 N e b e n e i n e r h e m m u n g s l o s ers c h e i n e n d e n , k a p i t a l i s t i s c h e n P r o f i t g i e r s t ö ß t g e r a d e a u c h A m e r i k a s restriktive I n d i a n e r p o l i t i k a u f K r i t i k b e i d e u t s c h e n L i b e r a l e n . 2 3 4 Ihr I n d i a n e r b i l d ist s t a r k d u r c h d i e p s e u d o - e t h n o l o g i s c h e n T h e o r i e n d e r w e i t v e r b r e i t e t e n Werke J a m e s Fenimore C o o p e r s beeinflußt. Aus einem zivilisationsfeindlic h e n » P o p u l ä r - P a n t h e i s m u s « h e r a u s p r e i s t er d i e I n d i a n e r als e x o t i s c h - n a t u r v e r b u n d e n e W i l d e < . 2 3 5 D e r C o o p e r - L e s e r R a a b e p f l e g t e seit 1 8 5 9 allerdings auch eigene, freundschaftliche wie verwandtschaftliche K o n t a k t e zu in A m e r i k a l e b e n d e n D e u t s c h e n , d i e i h n u. a. m i t I n f o r m a t i o n e n ü b e r d i e S i t u a t i o n der Indianer versorgten.236 I m m e r vermischt mit einem
Gutteil
e t h n o z e n t r i s t i s c h e r » V e r a b e n t e u e r u n g « 2 3 7 s c h r e i b t i h m z. B . s e i n e S c h w ä g e rin M a t h i l d e T a p p e a m 7 . 6 . 1 8 9 8 a u s H i a w a t h a ( K a n s a s ) a u s f ü h r l i c h ü b e r d i e i n d i a n i s c h e V e r g a n g e n h e i t ihrer W o h n g e g e n d . S i e b e r i c h t e t a b e r a u c h
2.1 2.2 233
234
2,5
236
2,7
Martini, Amerikaspiegelungen, S. 195. BA 10,449. Vgl.: Wilfried Malsch, Neue Welt, Nordamerika und U S A als Projektion und Problem, in: Bauschinger [u.a.], Amerika, S. 9 - 1 6 ; S. 11 sowie: Hildegard Meyer, Nord-Amerika im Urteil des deutschen Schrifttums bis zur Mitte des 19- Jahrhunderts. Eine Untersuchung über Kürnbergers »Amerika-Müden«, H a m b u r g 1929, S. 4 8 - 6 8 . Vgl.: Malsch, Neue Welt, S. 12 sowie: Peter J . Brenner, Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1991, S. 198ff. u. S. 316ff. Rossbacher, Lederstrumpf, S. 65f. u. S. 67f. - Vgl. zu deutschen Übernahmen dieses Bildes auch: Bernd Steinbrink, Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Studien zu einer vernachlässigten Gattung, Tübingen 1983, S. 7 2 - 7 4 . In seinem Tagebuch vermerkt Raabe unter dem 18.2.1864 den Kauf von C o o pers »Pathfinder« sowie die Lektüre von Coopers »Prärie« am 2 5 . 7 . 1 8 6 4 (StA: H III 10 Nr. 159, T. 1). In Raabes Bibliothek befindet sich außerdem Coopers »The Last of the Mohicans« in einer mit Raabes Namen versehenen Ausgabe von 1827 (StB: I 16/75). - Raabes persönliche Kontakte zu Amerikanern werden dokumentiert bei: Geoffrey Patrick Guyton Butler, England and America in the Writings of Wilhelm Raabe: a Critical Study of his Knowledge and Appreciation o f Language, Literacure and People, o . O . , Phil. Diss. (masch.) 1961, S. 4 5 8 - 4 6 8 . Hans-Jürgen Heinrichs, Einleitung zu: Michel Leiris, Die eigene und die fremde Kultur. Ethnologische Schriften, übers, v. Rolf Wintermeyer, hg. v. H.-J. H., 2. Auflage, Frankfurt a . M . 1979, S. 7 - 4 8 ; S. 4 1 . - Vgl. zum Zusammenhang von Exocismus und Xenophobie auch: Mario Erdheim, Zur Ethnopsychoanalyse von Exotismus und Xenophobie, in: ders., Die Psychoanalyse und das Unbewußte in der Kultur, Frankfurt a . M . 1988, S. 2 5 8 - 2 6 5 ; S. 260f.
47
von der Dezimierung des Indianerstamms durch die Einschleppung bislang unbekannter Ansteckungskrankheiten sowie von der gegenwärtigen, physischen wie psychischen Verelendung der Indianer in den Reservaten. 238 In seinen späteren Werken nutzt Raabe die schlaglichtartige Einblendung von Indianischem dann gerade zur Beleuchtung der Negativfolgen eines erfolgreichen Nationalismus. Sie bestehen in der Unterdrückung von Minderheiten, wie es ja am Beispiel Amerikas besonders deutlich wurde. Eine hintergründige Verarbeitungsmöglichkeit liefern z. B. Raabes Gänse von Bützow (1864-1865). Anläßlich der hier geschilderten deutschen Revolutionssimulation zur Zeit eines bereits chauvinistisch-kriegerisch umgeschlagenen Nationalismus im ersten Koalitionskrieg (1792-1797) wird durch ein Liedzitat über Washingtons militärische Erfolge bei Yorktown (1781) auch auf den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg als Vorgeschichte zur Französischen Revolution angespielt. 239 Die anschließende Bildung der USA geht jedoch zu Lasten der Indianer. Bei der seit 1787 einsetzenden Siedlungsausdehnung nach Westen werden sie bekämpft und vertrieben. In Minnesota, dem Lebensraum der nordamerikanischen Chippeway-Indianer, kommt es dabei 1862, zwei Jahre vor der Entstehung von Raabes Text, zu einem Aufstand. Die Chippeway wehren sich gegen die Beeinträchtigung ihres Pelzhandels. Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird von monopolistischen Pelzhandelsgesellschaften die Zerstörung ihres ökonomischen Systems betrieben. 2 4 0 Ein Jahr zuvor erscheint in der Zeitschrift Die Maje eine populärwissenschaftliche Erzählung mit dem Titel Schonakisgaw, das Tschippeu>ä=Mädchen.241 Raabe wird sie gekannt haben, da sich das Exemplar dieser Zeitschrift - in der anschließend auch zwei seiner eigenen Erzählungen erschienen - in seinem Besitz befand. 2 4 2 Auf diesem Hintergrund erklärt sich wohl die unvermittelte, ironische Beschreibung des »tschippewäische[n]« Aussehens von Kämmereiberechner Bröcker, einem der Protagonisten in der zur revolutionärem Auseinandersetzung hochgeschraubten »Gänsefrage« um die artgerechte Haltung 238 239 240
241
242
StA: H III 10 Nr. 6 (T), 6 Bl„ B1.2f. BA 9/2,84 u. 437. Vgl.: Harold Hickerson, T h e Southwestern Chippewa: an Ethnohistorical Study (The American Anthropological Association 64 (1962) III/2.92), S. 89. W . O . von H o r n , Schonakisgaw, das Tschippewä=Mädchen. Nach amerikanischen Mittheilungen, in: Die Maje 4 (1861), S. 9 7 - 1 0 6 . — Vgl. zur gleichzeitigen Tendenz einer Mißbilligung amerikanischer Indianer-Unterdrückung in der populären Familienzeitschrift »Die Gartenlaube«: Karin von Welck, »Unsere« nordamerikanischen Indianer. Streifzüge durch die Literatur, in: T h o m a s Theye (Hg.), Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek b. H a m b u r g 1985, S. 177-207; S. 196f. Bänsch, Bibliothek Raabes, S. 158. - 1863 wird in der »Maje« neben Raabes Erzählungen »Eine Grabrede aus dem Jahre 1609« und »Die Hämelschen Kinder« auch eine Abhandlung über den Wandel vom indianischen zum monopolisierten Pelzhandel abgedruckt: A.W. Grube, Der Biber, in: Die Maje 6 (1863), S. 3 4 0 - 3 4 3 ; S. 343.
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dieses Getiers in Raabes Gänsen von Bützow.243 Damit kann nicht nur auf die möglichen Negativfolgen eines französisch-napoleonischen, sondern unterschwellig auch auf diejenigen eines amerikanischen bzw. deutschen Nationalismus angespielt werden. 244 Diese Kritik erhält darüber hinaus noch durch mehrfache Hinweise auf eine weitere, spezifisch europäische Form der Völkerunterdrückung Unterstützung. Gemeint ist die preußischrussische Niederschlagung des polnischen Aufstands von 1794 gegen die zweite Teilung Polens.245 Auch dieses historische Ereignis erhält einen aktuellen Bezug. 1863, ein Jahr vor der Entstehung von Raabes Text, ermöglichte Bismarcks Militärkonvention von Alvensleben erneut die gemeinsame, preußisch-russische Niederschlagung eines polnischen Aufstandes gegen nationale und liberale Unterdrückung. Raabe vermerkt es am 22.2.1863 voller Zorn in seinem Tagebuch.246 Eine deutsch-amerikanische Gemeinsamkeit scheint für das 19. Jahrhundert aber nicht nur in einer allgemeinen Analogie zwischen amerikanischer Völkervielfalt und deutscher Kleinstaaterei zu liegen — beide sollen ja trotz der jeweiligen kulturellen und regionalen Sprachen- bzw. Dialektverschiedenheit zu einer gemeinsamen Nation verschmelzen. Auch die spätere Spannung zwischen Nord und Süd, die 1866 zum Krieg zwischen Preußen und Österreich führt, hat ihren amerikanischen Vorläufen im Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten 1861-1865. In Amerika kann die Einheit der Union unter Führung des Nordens jedoch erhalten und mit der Befreiung der schwarzen Sklaven verbunden werden. Durch den Deutschen Krieg wird die kleindeutsch-preußische Lösung dagegen auf Kosten der Liberalität besiegelt, wie es in der nachträglichen Anerkennung von Bismarcks verfassungswidrigem Regierungshandeln im Heereskonflikt zum Ausdruck kommt. Eine deutsch-amerikanische Parallelisierung verdeutlichen dabei auch die Zeitungsausschnitte aus der Endphase des Deutschen Kriegs, die Raabe aufbewahrt hat. So sind im preußisch-national orientierten Schwäbischen Merkur neben die deutschen Kriegsereignisse immer wieder Nachrichten aus Amerika gestellt. Sie reichen von den Ankündigungen zur Feier der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, dem Prozeß gegen den Südstaatler Jefferson Davis - er soll an der Ermordung Abraham Lincolns beteiligt gewesen sein — bis zu Suchmeldungen nach deutschen Kriegsfreiwilligen des Sezessionskriegs.247 243 244
245
246 247
BA 9/2,74f. ; 8 7 u. 4 3 8 . V g l . in diesem Z u s a m m e n h a n g nochmals Raabes »Eulenpfingsten«: Aus Furcht vor Lina Nebelungs Rache rotten sich die M ä n n e r hier ebenfalls zu einem eher kläglichen »Indianerzug« zusammen (BA 11,443). BA 9/2,68; 7 2 ; 74 u. 4 3 4 f . : Die Hinweise beziehen sich alle auf die entscheidende Erstürmung Pragas durch den russischen General Suworow ( 1 7 9 4 ) . Wiedergeg. bei: Denkler, Raabe, S. 136; A n m . 9 5 . StA: H III 10 Nr. 137: Schwäbischer M e r k u r 155 ( 3 . 7 . 1 8 6 6 ) , S. 1686; 162 ( 1 1 . 7 . 1 8 6 6 ) , S. 1726 u. S. 1731. - Deutsche Kriegsfreiwillige des amerikani49
Ü b e r d i e E r i n n e r u n g s s t ü t z e d i e s e r Z e i t u n g s a u s s c h n i t t e s e t z t R a a b e in seinen späten literarischen Verarbeitungen deutscher
Nord-Süd-Problema-
tik der innerdeutschen K o n f r o n t a t i o n daher neben der S c h w e i z 2 4 8 - wie ja a u c h in Eulenpfingsten
- n u n g e r a d e A m e r i k a als M o d e l l f ü r F r e i h e i t u n d
V ö l k e r v i e l f a l t u n d d a m i t als letzte Z u f l u c h t s m ö g l i c h k e i t s e i n e r -
satiri-
s c h e r w e i s e j e t z t - in L i e b e s h ä n d e l heillos v e r s t r i c k t e n m ä n n l i c h e n P r o t a g o n i s t e n e n t g e g e n . S o z. B . in Gutmanns
Reisen
o d e r in Christoph
s e l b s t d i e a l l m o r g e n d l i c h e L e k t ü r e d e s Schwäbischen
Merkur
Pechlin,
wo
d i r e k t in d e n
T e x t e i n g e g a n g e n i s t . 2 4 9 D e r e m p h a t i s c h e G e b r a u c h , der d i e T o p o i
von
F r e i h e i t u n d T o l e r a n z i n z w i s c h e n zu b l o ß e n L e e r f o r m e l n d e g r a d i e r t
hat,
w i r d j e t z t a u f d e m H i n t e r g r u n d einer d e z i d i e r t ins p r i v a t e E h e l e b e n
zu-
r ü c k g e n o m m e n e n H a n d l u n g ebenfalls ironisiert u n d durch
Anspielungen
auf die ausgegrenzten indianischen Ureinwohner konterkariert.250 I h r e P r o b l e m a t i k k a n n a l s o als v e r f r e m d e n d e s K o r r e k t i v e i n e r e i n d i m e n sionalen V e r w e n d u n g nationaler T h e m a t i k entgegenwirken. A n drei prägnanten,
inhaltlich völlig unterschiedlichen
Einzelbeispielen
S t u t t g a r t e r S c h a f f e n s p h a s e soll d i e S p a n n b r e i t e d i e s e r
aus
Raabes
Marginalitäts-Argu-
m e n t a t i o n i m n ä c h s t e n K a p i t e l breiter a u s g e f ü h r t w e r d e n .
sehen Sezessionkriegs sind auch Viktor Fehleysen in Raabes gleichzeitig entstehendem »Abu Telfan« oder Peter Uhusen in seinem späteren Text »Im alten Eisen« (BA 7 , 3 6 8 u. 3 8 2 ; BA 16,392ff.). In Raabes Tagebuch ist 1865 ebenfalls die Ermordung Lincolns mit E m p ö r u n g festgehalten und eine Feier der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mit Freunden verzeichnet (StA: H III 10 Nr. 159, T . l : 2 6 . 4 . 1 8 6 5 u. 4 . 7 . 1 8 6 5 ) . 248
249
250
Die Schweiz wird übrigens auch in einem von Raabe ausgeschnittenen Artikel des »Schwäbischen Merkur« vom 6 . 7 . 1 8 6 6 durch ihre neutrale Haltung im Deutschen Krieg und ihre innere Unzerrissenheit zum Vorbild (StA: H III 10 Nr. 137; 158, S. 820). BA 18,286 u. BA 10,448f. u. 3 6 0 . - Der Main als Abgrenzungslinie zwischen N o r d und S ü d , der für Politik- und Liebeshandlung in » G u t m a n n s Reisen« eine große Rolle spielt (vgl. z. B.: BA 18,332), wird ebenfalls im Deutschen Krieg von 1866 aktuell, da Preußen die gegnerischen Staaten nördlich des Mains annektiert. Raabe hat die Zeitungsmeldung über die Unterbrechung der amtlichen Postverbindung zwischen Frankfurt am Main und Preußen sogar durch Anstreichung hervorgehoben (StA: H III 10 Nr. 137: Extrablatt des Beobachters vom 1.7.1866). So in den Auseinandersetzungen zwischen Christabel Eddish und ihrem ersten Mann, Sir >Hugh< Sliddery, in »Christoph Pechlin« bzw. zwischen Klotilde Blume und Willi Gutmann in »Gutmanns Reisen« (BA 10,315 u. BA 18,274). Vgl. darüber hinaus die implizite Identifizierung des deutschen Außenseiters Stopfkuchen mit Schwarzen - aber auch mit Indianern (BA 18,114; 143 u. 6 7 ) - , was Philip J . Brewster als Mittel verdeckter Kolonialismuskritik analysiert hat; ders., Onkel Ketschwayo in Neuteutoburg. Zeitgeschichtliche Anspielungen in Raabes »Stopfkuchen«, in: J b R G 1983, S. 9 6 - 1 1 8 ; S. 112ff.
5°
4.2.4
Marginalität und ethnologischer Blick als nationales Korrektiv in Raabes historischen Werken der Stuttgarter Zeit
Während seiner Zeit in der süddeutschen Großstadt Stuttgart fühlte Raabe sich als Norddeutscher und Anhänger der kleindeutschen Nationalstaatslösung teilweise selbst als ausländischer Fremden und verspürte »Heimathlose Stimmung«. 251 Wie bereits am Beispiel der Gänse von Bützow deutlich wurde, öffnen sich seine Werke jetzt verstärkt und unter poetologisch verändertem, >ethnologischem< Blickwinkel dem Problem ethnisch, religiös oder sozial marginalisierter Gruppen. Neben der oft bemerkten, antikolonialistischen Darstellung der Schwarzen in den Werken Sankt Thomas oder Abu Telfan sowie der vorurteilskritischen Darstellung der Juden in Holunderblüte-, im oft mißverstandenen Hungerpastor oder in Gedelöcke,252 ist in diesem Zusammenhang auch die Darstellung von Frauenschicksalen zu nennen. 253 So wird in Else von der Tanne (1863—1864) die Wirkungsmacht von Weiblichkeitsstereotypen demonstriert. In der Krisenzeit nach dem Dreißigjährigen Krieg provoziert die Heiligenprojektion des Flüchtlingskindes Else durch den einheimischen Pfarrer bei der Dorfbevölkerung gerade das negative weibliche Gegenbild der Hexe. Dies führt schließlich zu Elses Steinigung vor der Kirche. 254 Im zwei Jahre später entstandenen Siegeskranze ist es nicht allein der Tod des Bräutigams in den antinapoleonischen Kriegen, der zu Ludowikes Wahnsinn und zur Kritik an der damaligen, inhumanen Ausgrenzung von psychisch Kranken führt. 255 Ludowike wird irr über der tatsächlich schizophrenen Situation zwischen eigenem Lebensentwurf und weiblicher Rollenerwartung. 256 Ihr steht in dieser Situation lediglich ein verinnerlich251 252
253 254
255
256
Denkler, Raabe, S. 88f. Vgl. neben den in A n m . 52 bereits genannten Literaturangaben: Dieter Arendt, » N u n auf die Juden!« Figurationen des J u d e n t u m s im Werk W i l h e l m Raabes, in: Tribüne 19 ( 1 9 8 0 ) 74, S. 1 0 8 - 1 4 0 . Horst Denkler, Das »wirckliche Juda« u n d der »Renegat«. Moses Freudenstein als Kronzeuge für W i l h e l m Raabes Verhältnis zu J u d e n und J u d e n t u m , in: ders., Neues über W i l h e l m Raabe. Zehn Annäherungsversuche an einen verkannten Schriftsteller, T ü b i n g e n 1988, S. 6 6 - 8 0 . Hans-Jürgen Schräder, Berleburgs Beitrag zur Geschichte der religiösen und literarischen Toleranz in Deutschland, in: Wittgenstein 6 9 ( 1 9 8 1 ) 45/3, S. 1 1 7 - 1 2 8 (zu »Gedelöcke«), y g i z u r p r a u a [ s gesellschaftlicher Außenseiterin grundlegend: Hans Mayer, Außenseiter, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1981. BA 9/1,164; 178; 180 u. 186f. - Vgl. zur Entstehung des dualistischen Frauenbildes iMadonna-Hexe« am Beginn der Neuzeit: Hilde Schmölzer, Phänomen Hexe. W a h n und W i r k l i c h k e i t im Laufe der Jahrhunderte, 2. Auflage, M ü n c h e n , W i e n 1987, S. 83ff. BA 9/2,233f. - V g l . zur Übertragung ethnologischer Kriterien auf den eigenen Alltag und seine — z. B. psychisch kranken - Außenseiter: Elmar Weingarten, Fritz Sack u. J i m Schenkein (Hg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1976. Eine ähnliche Diskrepanz ist bereits für Raabes anschließende Zeitromane
51
tes, »stilles Ausweinen< zur Verfügung. Dabei würde Ludowike die Trauer um den toten Bräutigam gerade überwinden, indem sie statt dessen selbst wie ein Mann oder wenigstens in Männerkleidern gegen die napoleonische Okkupation kämpfen und ihren Bräutigam rächen könnte. So lautet jedenfalls der Kommentar der erzählenden Schwester. Da aber selbst die Männer in ihrer Stadt sich feige unter der französischen Fremdherrschaft ducken, bleibt Ludowike die damals populär werdende Rolle einer nationalen Kriegsheldin, einer Eleonore Prohaska oder Johanna Stegen - wie im Text selbst angespielt —, erst recht verwehrt: »[...] es blieb ja alles still, und so mußte auch die Ludowike still bleiben, das war ihr Verderben«.257 Bei dem wenig bekannten Erzähltext Keltische Knochen (1864) handelt es sich dagegen um eine ethnologische Parodie. Satirisch zugespitzt wird hier die Entfremdung einer historistischen Ethnologie vom Leben vorgeführt. In diese Auseinandersetzung sieht sich der Ich-Erzähler auf seiner Österreichreise im Jahre 1859 durch zwei Archäologen verstrickt. Auf dem Hintergrund des zeitgleich stattfindenden, italienisch-französischen Kriegs gegen Österreich wird dabei nicht nur demonstrativ Partei für den nationalen Einigungsprozeß Italiens genommen. 258 Der Streit um den keltischen oder germanischen Ursprung der vorgeschichtlichen HallstattKultur, der damals in aller Munde war, wird bewußt gegen die germanische Seite entschieden — wie es sich im Titel ja bereits dokumentiert. 259 Der Grabraub durch die beiden verfeindeten Altertumskundler Zuckriegel und Steinbüchse animiert den Erzähler auf flktionaler Ebene darüber hinaus zu einer verfremdenden Rollenverkehrung. Er imaginiert die Alltags-Utensilien seiner eigenen Zeit als archäologisch-ethnologische Funde: Das w ü r d e ein lustiges Laufen und Springen bergab werden; was würde das neunzehnte Jahrhundert alles verlieren auf dem Schlangenwege nach Hallstatt
»Abu Telfan« und »Der Schüdderump« festgestellt worden. Die Frauenfiguren Nikola von Einstein und Antonie H ä u ß l e r entziehen sich hier einem fremdbestimmten Leben, das sie zu Spielbällen des Spekulantentums von Ehemann u n d Großvater degradiert. Die eine zieht sich an den äußeren Zufluchtsort der Katzenmühle zurück, die andere in den inneren der Todeskrankheit. Vgl.: Bachm a n n , »Dritte Welt«, S. 63ff. sowie: M a r g r i t Bröhan, Die Darstellung der Frau bei W i l h e l m Raabe und ein Vergleich mit liberalen Positionen zur Emanzipation der Frau im 19. Jahrhundert, Berlin FU, Phil. Diss. 1980, S. 1 3 1 - 1 4 5 . 257 258
259
BA 9/2,229 (Hervorh. v. mir); 2 2 4 u. 473f. BA 9/1,210: » W ä h r e n d das junge, kräftige Kind Italia seine W i n d e l n sprengte und der alten grämlichen Wartefrau Austria das Saugfläschchen an die Nase warf [...]«. BA 9/1,475. — Eine Neuauflage, die Raabe wahrscheinlich amüsiert hätte, erleben diese Auseinandersetzungen um die Herkunft von Skeletten und Grabbeigaben im 1991 entbrannten Archäologendisput um den Anspruch Nord- bzw. Südtirols auf den sogenannten Öztalmenschen; vgl. dazu z. B. die Glosse von: Klemens Polatschek, Die Leiche im Gletscher. Neues aus der Vergangenheit — alle Rätsel in Luft aufgelöst, in: DIE ZEIT 41 ( 3 . 1 0 . 1 9 9 1 ) , S. 9 7 .
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hinunter! Was würde der alte Kelte oder Germane alles aufraffen können an Brillen, falschen Locken, Schnupftabaksdosen, Sonnen- und Regenschirmen, Gummischuhen, Plaids, Lorgnetten! 260
Diese parodistische - >phylogenetische< - Distanzierung verbindet Raabe hier - gewissermaßen >ontogenetisch< - mit einer Distanz zu seiner individuellen Autoren-Vergangenheit als Lyriker. Uber die sarkastische Darstellung der »lyrischen Wehen« seiner Künstlerfigur Roderich von der Leine alias Herr Krautworst aus Hannover - zieht er die Trivialität der frühen »Linzer Gasthofreimereien< auf seiner eigenen Österreichreise von 1859 ins Lächerliche.261 Damals hatte Raabe nicht nur die archäologischen Funde auf dem Hochtal bei Hallstatt besichtigt. Durch die persönliche Konfrontation mit einem als antiquiert empfundenen Wiener Regime innerhalb eines unpatriotisch wirkenden österreichischen Vielvölkerstaats entschied er sich jetzt auch gegen eine >germanischunehrlichen LeutenRattenkönigs< auf. Dagegen ist diesem Gebilde aus bis zu zwan-
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wenn auch unter gleichzeitiger Ausnutzung spannungsfördernder, trivialer Elemente, für die durch Deutsche erzwungene > Vertreibung«, »Zerstreuung« und >VersprengungGermanisierungspolitik< wieder zum O p f e r . 2 7 3 4.2.5
Schleswig-Holstein-Konflikt und frühneuzeitliche »deutsche Bürgerfreiheit« in Raabes frühen Werken
Nicht nur Amerikas Entwicklung, sondern auch der Konflikt um Schleswig-Holstein bildet ein weiteres >SonderwegsAventiure< gewidmet; ders., D e r Rattenfänger von H a m e l n . Eine Aventiure, Berlin 1875, 12. Aventiure, S. 1 4 5 - 1 5 2 : » D e r Rattenkönig« (StB: I 1 6 / 6 7 4 ; mit Raabes Signatur und d e m D a t u m s v e r m e r k v o m 1 7 . 1 1 . 1 8 7 5 ) . Seit d e m 16. Jahrhundert wird der Topos v o m Rattenkönig zur Charakterisierung von etwas Unentwirrbarem u n d Richtungslosen verwendet. Vor der Reichsgründung diente dies einer negativen Zustandsbeschreibung der zersplitterten deutschen N a t i o n , worauf Raabe hier also bewußt verzichtet. Vgl.: J a k o b u. Wilhelm G r i m m , Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, Leipzig 1893, S p . 2 0 6 (»Rattenkönig«); H d W . dt. Aberglaubens, B d . 7, S p . 5 2 0 f . (»Rattenkönig«) sowie: B o g u m i i Goltz, Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius. Eine ethnographische Studie. Erster und zweiter Theil. Zweite Auflage von: » D i e Deutschen«, Berlin 1 8 6 4 , T. 1, S. 2 4 9 (StB: I 1 6 / 1 8 4 ; mit Raabes Signatur). BA 9 / 1 , 1 4 0 . - Liebs D e u t u n g , der Wende Kiza werde in Raabes Text als eine ausschließlich negative Verkörperung des >Undeutschen< den Hamelner >Herrenmenschen< gegenübergestellt, erscheint mir daher völlig verfehlt; dies., » D i e H ä m e l s c h e n Kinder«, S. 103. Eine ergiebigere Einschätzung bietet dagegen die ältere Arbeit von: Hans-Heinrich Reuter, » D e r wendische H u n d « . Ein historischer » K o m m e n t a r « T h e o d o r Fontanes zu Wilhelm Raabes Erzählung » D i e H ä melschen Kinder«, in: Weimarer Beiträge 12 ( 1 9 6 6 ) 4, S. 5 7 3 - 5 8 0 . Vgl. dazu: Erhard Hartstock, D i e sorbische nationale Bewegung in der sächsischen Oberlausitz 1 8 3 0 - 1 8 4 8 / 4 9 , Bautzen 1977, S. 152f. u. S. 4 8 sowie die Zeugnisse bei: H a r t m u t Zwahr ( H g . ) , Meine Landsleute. D i e Sorben und die Lausitz im Zeugnis deutscher Zeitgenossen. Von Spener und Lessing bis Pieck, 1. Auflage, Bautzen 1 9 8 4 .
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zwang einen Waffenstillstand. Statt einer angestrebten nationalen L ö s u n g der schleswig-holsteinischen Frage wurde so gerade der unveränderte Machteinfluß der feudalistischen Einzelstaaten demonstriert. Schließlich kam es zu radikalen Aufständen gegen die Nationalversammlung. Sie mußte zu ihrer Verteidigung nun selbst Truppenhilfe anfordern, was eine Stärkung der reaktionären Kräfte zur Folge hatte. Die liberale Bewegung scheitert damit an der historischen Überforderung einer gleichzeitigen Konstituierung von Einheit und Freiheit. Auch die Interventionsdrohungen der europäischen Mächte bedeuten eine zusätzliche Belastung. Durch die Möglichkeit einer >verspäteten< deutschen Nationalstaatsbildung sahen sie das europäische Gleichgewicht gefährdet.274 Aber auch 1866 entsteht wieder eine angespannte Situation um Schleswig-Holstein. Durch den Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 konnten beide Teile zunächst vereinigt werden. Entgegen den nationalliberalen Vorstellungen von einem unabhängigen Herzogtum, wird Schleswig-Holstein jedoch verwaltungstechnisch zwischen Preußen und Osterreich aufgeteilt. Dies führt eine Verschärfung des preußisch-österreichischen Gegensatzes herbei. Zwei Jahre später k o m m t es im Deutschen Krieg schließlich zur Auflösung des Deutschen Bundes und damit zur Trennung der beiden deutschen Großmächte. Der Konfliktfall >Schleswig-Holstein< läßt sich vor allem an drei Beispielen aus Raabes mittleren und frühen historischen Werken aufzeigen. Indirekt und epochenübergreifend wird in ihnen einer demokratischen, selbstbestimmten Lösung der Schleswig-Holstein-Frage der Vorrang vor einer nationalen Annexionspolitik gegeben. Hans O t t o Horch hat für Raabes Erzählung Sankt Thomas ( 1 8 6 1 - 1 8 6 5 ) bereits darauf hingewiesen, daß die unzusammenhängend wirkende N e n nung des dänischen Königs Christian IV. als Spanienfreund einen zeitgenössischen Bezug zur Schleswig-Holstein-Frage beinhalte: die Politik seines Nachfolgers im 19. Jahrhundert, Christian IX., hatte die Niederlage Dänemarks und somit gerade das K o n d o m i n i u m Preußens und Österreichs zur Folge. 2 7 5 Horch vermutet daher, daß Raabe im historischen, niederlän-
Vgl.: T h o m a s Nipperdey, Kritik oder Objektivität? Z u r Beurteilung der Revolution von 1 8 4 8 , in: ders., Gesellschaft, S. 2 5 9 - 2 7 8 ; S. 2 7 7 ; Winkler, D e u t scher Sonderweg, S. 8 0 2 sowie: Schulze, Deutsche N a t i o n a l b e w e g u n g , S. 9 6 f f . — Eine leicht modifizierte Bewertung dieser >Sonderwegsthese< n i m m t Roger Price a u f d e m gesamteuropäischen H i n t e r g r u n d vor; ders., 1 8 4 8 . Kleine G e schichte der europäischen Revolutionen, übers, v. Christa Schuenke, Berlin 1 9 9 2 , S. 6 3 f f . (Erstveröffentlichung u.d.T.: T h e Revolutions of 1 8 4 8 , L o n d o n 1988). B A 9 / 2 , 2 2 . - H a n s O t t o H o r c h , Historische S t a n d o r t b e s t i m m u n g vor G u i n e a . Z u Wilhelm Raabes Erzählung »Sankt T h o m a s « ( 1 8 6 5 ) , in: J b R G 1 9 8 6 , S. 1 1 4 - 1 2 8 ; S. 118f.
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disch-spanischen Konflikt dieses Textes »auch die preußisch-österreichische Auseinandersetzung sowie den deutsch-dänischen Konflikt der frühen sechziger Jahre gespiegelt sieht«. 276 Dies läßt sich durch die von Raabe aufbewahrten Schriftstücke der zweiten Generalversammlung des Deutschen Nationalvereins in Heidelberg (23-/24.8.1861) bestätigen. Raabe hatte die Veranstaltung zur Zeit seiner ersten Beschäftigung mit Sankt Thomas besucht. Auf ihr wurde gerade das Verhältnis zwischen Preußen und Österreich sowie die Lage Schleswig-Holsteins thematisiert. 277 Horch sieht in den, übrigens allein in Raabes Version als Ureinwohner erscheinenden, 278 schwarzen Sklaven der 1599 von Niederländern und Spaniern belagerten Insel Sankt Thomas nun »die sich selbst aus >Sklaverei< befreienden Schleswig-Holsteiner«. 279 Sankt Thomas stelle einen Text dar, der unterschwellig Raabes radikaldemokratische Einstellung noch Mitte der 60er Jahre dokumentiere. Dieser Interpretationsansatz läßt sich anhand eines zweiten Textes aus dieser Zeit bekräftigen. In Raabes Gedelöcke (1865-1866) werden gerade aus der Perspektive einer in Dänemark angesiedelten Handlung immer wieder dänische Annexionen der Vergangenheit reflektiert. Unterschwellig rückt so der »heutige [...] Tag« der Schreibzeit mit seiner aktuellen, deutschdänischen bzw. preußisch-österreichischen Problematik um Schleswig-Holstein ins Zentrum. 280 Der historische Hintergrund der Erzählung ist bestimmt vom gerade zurückliegenden Nordischen Krieg (1700—1721) zwischen Schweden und Dänemark. Auch in ihm ging es bereits um den Besitz ganz Schleswig-Holsteins. Der dänische Sieg mit der Übernahme der Gottorfer Schleswig-Anteile bildet zudem eine Vorstufe zur späteren Annexionspolitik Dänemarks. 281 Der Jugendfreund der Titelfigur Jens Pedersen Gedelöcke ist ein Teilnehmer dieses Krieges gewesen. Er kehrt gerade rechtzeitig mit seinem Regiment aus dem holsteinischen Altona zurück, das seit 1640 ebenfalls Dänemark angehört, um seinem kirchenabtrünnigen Freund eine inoffiziel-
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Horch, Historische Standortbestimmung, S. 118. Vgl.: StA: H III 10 Nr. 6 7 , St.2 sowie: BA 9/2,405. BA 9/2,9 u. 4 1 6 . Horch, Historische Standortbestimmung, S. 119. - Auf diesem H i n t e r g r u n d sei nochmals an Raabes gleichzeitig entstehenden Text »Die Gänse von Bützow« erinnert. W i e bereits gezeigt werden konnte, findet sich ja auch hier ein versteckter ethnographischer Hinweis auf die durch nationale Annexionspolitik >versklavte< und entrechtete Minderheit indianischer Ureinwohner. BA 9/2,168. - Heinrich Anz erwähnt bereits die aktuelle Bezugnahme dieses Textes auf den gerade zurückliegenden Deutsch-Dänischen Krieg, der Raabe stark beschäftigt hatte, geht dieser Verbindung jedoch nicht weiter nach; vgl.: ders., »Leichenbegängnisse«. Z u m Verfahren der geschichtlichen Erzählung in Raabes »Gedelöcke«, in: J b R G 1982, S. 1 1 0 - 1 2 4 ; S. 112ff. BA 9/2,171. - Vgl. zur territorialen Geschichte Schleswig-Holsteins im folgenden: Uhlhorn/Schlesinger, Deutsche Territorien, S. 52—66 u. S. 8 9 - 9 7 . 57
le Beerdigung zu verschaffen. 282 Ein weiterer impliziter Bezug zur dänischen Annexionspolitik wird durch die Figur von Famulus David Bleichfeld hergestellt. Er vergleicht die religiöse Gewissensbefragung am Sterbebett seines Mentors Gedelöcke nämlich mit der Folterung des 1401 in Hamburg hingerichteten Freibeuters Klaus Störtebeker. 283 Dieser hatte nicht nur gegen die deutsche Hanse, sondern ebenso gegen eine dänische Belagerung Stockholms (1389-1392) rebelliert. Auch in Raabes Friihwerk Lorenz Scheibenhart sprengt das Plädoyer für eine dänische Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins den Rahmen der Handlungszeit, diesmal derjenigen des Dreißigjährigen Kriegs. 284 Raabes Parteinahme steht hier noch eindeutig unter dem Einfluß freiheitlich-nationaler Prinzipien der Revolution von 1848, wie sie beispielsweise auch in einem Schulaufsatz aus dieser Zeit zum Ausdruck kommen. Unter dem Titel An der Landstraße beschreibt der junge Raabe enthusiastisch einen Zug Freischärler, die Schleswig-Holstein gegen Dänemark verteidigen wollen. 2 8 5 In Lorenz Scheibenhart (1858) wird daher auch »die verschwundene, teuere, deutsche Bürgerfreiheit« betrauert, die allerdings eher zu einem regionalen als zu einem nationalen Selbstbewußtsein im frühneuzeitlichen Deutschen Reich beigetragen hat. 2 8 6 Zu ihren Braunschweiger Vertretern gehört hier die fiktive Figur von Lorenz' Vater. Zusammen mit dem historischen Bürgerhauptmann Henning Brabandt wird er gleich zu Beginn der Erzählung für den Versuch einer demokratischen Verfassungsänderung hingerichtet. Sie sollte eine größere Einflußnahme der wirtschaftlich mächtigen Zünfte im konservativen Patrizier-Rat der Stadt bewirken. 2 8 7 Z u Folterung und Vierteilung des Volkshelden Brabandt auf dem Braunschweiger Hagenmarkt konnte es 1604 kommen, weil sich schließlich selbst die Bürgerschaft gegen ihn wandte. Sie war enttäuscht über die erfolglosen Interventionen der Bürgerhauptleute beim Kaiser, die sich gegen die Angriffe des Wolfenbütteler Herzogs Heinrich Julius auf die Autonomie der Stadt richteten. Als besonders wirkungsvoll erwiesen sich in diesem Zusammenhang auch die verleumderischen Anschuldigungen seiner Gegner. Sie schmähten Brabandt nicht nur als verräterischen Herzogsfreund, son282 283 284
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BA 9/2,187f.; 186 u. 464. BA 9/2,178. »Bin mit den Dänen ausgezogen, aber es war vorbei mit ihnen, sie hatten kein Glück auf deutscher Erd und sollten es niemalen haben.« (BA 2,333 u. 587; Hervorh. v. mir). StA: H III 10 Nr. 26,1; Nr. 6. - Auch in Raabes spätem Text »Im alten Eisen« (1884—1886) spielt ein Degen des »ersten schleswig-holsteinschen Freiheitskrieges« eine wichtige Rolle als historisch-politisches wie privates Erinnerungs-, Erkennungs- u n d Mahnzeichen (BA 16,401). BA 2,309. - Richard van Dülmen, Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1 5 5 0 - 1 6 4 8 , Frankfurt a.M. 1982, S. 369ff. BA 2,310 u. 581. - Vgl. zum historischen Hintergrund: Moderhack, Braunschweigische Landesgeschichte, S. 157ff.
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dem sogar als Zauberer, der im Bund mit dem Teufel stehe. So stellt es Friedrich Karl von Strombeck in seiner Studie über den Braunschweiger Bürgerhauptmann dar, die Raabe besessen hat. 288 Diese detaillierten Hintergründe schildert Raabe jedoch nicht, dafür aber ebenso deutlich wie Strombeck die Prozedur der Hinrichtung Brabandts. In ihrem Verlauf wurde tatsächlich ein weiterer Bürger, der jedoch nicht Scheibenhart, sondern Eimker hieß, enthauptet. 285 Hexenverbrennung und Volksaberglaube sind für Raabes Text ebenfalls von Bedeutung. Auf dem Weg nach Wolfenbüttel kommen der ausgewiesene Lorenz und seine Mutter an einer noch rauchenden »Hexenbrandstätte« vorbei. 290 Raabes fiktive Figuren werden zudem von Krähen belästigt, die auch in den Zauberei-Anschuldigungen gegen Henning Brabandt eine Rolle spielten. Seine Verfolgung durch einen Rabenvogel wurde als ausschlaggebendes >Indiz< für die angebliche Teufelsbekanntschaft angesehen.291 An der historischen Wolfenbütteler Hexenrichtstätte, noch zu Raabes Zeiten als >Hexenbrandplatz< bekannt, ist auch Raabe selbst auf seinem Gang zwischen dem Gasthof »Weghaus« in Klein-Stöckheim und Wolfenbüttel vorbeigekommen - zusammen mit Adolf Glaser, dem Redakteur von Westermanns Monatsheften,292 Mit ihm ist Raabe seit 1857 befreundet. In der von Glaser redigierten Zeitschrift erscheint 1858 Raabes Lorenz Scheibenhart, nachdem Glaser um Kürzungen, »namentlich am Anfang« gebeten
288
S t B : B r o s c h . I 9 4 8 7 : Friedrich Karl von S t r o m b e c k , H e n n i n g B r a b a n t , B ü r g e r h a u p t m a n n der Stadt Braunschweig, und seine Z e i t g e n o s s e n . E i n Beitrag zur G e s c h i c h t e des deutschen Stadt= u n d Justizwesens im Anfange des siebzehnten J a h r h u n d e r t s , 2 . Auflage, B r a u n s c h w e i g 1 9 0 4 , S. 5 7 u. S . 2 2 f f . D i e früheste Fassung von S t r o m b e c k s S t u d i e , die in den für R a a b e relevanten Teilen m i t der späteren V e r ö f f e n t l i c h u n g ü b e r e i n s t i m m t , erschien bereits 1 8 2 7 , in: B r a u n schweigisches M a g a z i n 4 0 , St. 2 1 - 2 5 , S p . 3 2 7 - 3 9 4 . Sechs M o n a t e nach B e e n d i gung des »Lorenz S c h e i b e n h a r t « greift R a a b e w i e d e r u m a u f S t r o m b e c k zurück, der als H e r a u s g e b e r der H e l m s t e d t e r G e d e n k s c h r i f t fungiert - Raabes Q u e l l e zur »Alten Universität«. I m folgenden wird n o c h zu zeigen sein, daß eine f r ü h e Fassung von S t r o m b e c k s » H e n n i ( n ) g B r a b a n ( d ) t « - A b h a n d l u n g (die S c h r e i b u n g variiert in den älteren T e x t e n ) eher als Vorlage für Raabes »Lorenz S c h e i b e n h a r t « in Frage k o m m t , als die neuerdings von E b e r h a r d R o h s e herangezogene Q u e l l e , die sich im übrigen selbst a u f S t r o m b e c k beruft (vgl.: B A 2 , 5 7 6 f . : W i l h e l m G ö r g e s , Vaterländische G e s c h i c h t e n u n d D e n k w ü r d i g k e i t e n der V o r zeit, 1. J g . , B r a u n s c h w e i g 1 8 4 3 , S. 2 1 8 - 2 3 0 ; S . 2 2 5 : A n m . ).
289
S t r o m b e c k , B r a b a n t , S . 5 6 f . u. S . 5 8 . D i e übrigen H a u p t l e u t e sind erst eine W o c h e bzw. k n a p p einen M o n a t später h i n g e r i c h t e t w o r d e n .
290
B A 2 , 3 lOf.
291
S t r o m b e c k , B r a b a n t , S . 5 0 f f . : Nr. 19 der A n k l a g e s c h r i f t ; G ö r g e s , Vaterländische G e s c h i c h t e n , geht d a r a u f n i c h t ein.
292
B A 2 , 5 8 1 u. 5 6 1 . - G l a s e r selbst schildert Raabes Interesse für die ehemalige H e x e n r i c h t s t ä t t e u n d n e n n t im Z u s a m m e n h a n g mit diesen g e m e i n s a m e n Spaziergängen u. a. auch Raabes Frühwerke »Lorenz S c h e i b e n h a r t « und » D e r J u n k e r v o n D e n o w « . A u f letzteren wird im folgenden n o c h einzugehen sein. V g l . : A d o l f Glaser, E r i n n e r u n g e n an W i l h e l m R a a b e , zum Teil aus früher Z e i t , in: R K 1 9 1 4 ( 1 9 1 3 ) , S. 1 4 3 - 1 4 8 ; S . I 4 7 f .
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hatte: Die Anspielungen auf Braunschweiger Stadtgeschichte seien f ü r ein größeres Publikum zu unverständlich und auch nicht interessant g e n u g . 2 9 3 D e m kam der junge A u t o r hier noch bereitwillig entgegen. 2 9 4 Unter diese Streichungen fiel dabei auch eine zweite, vollständige und dadurch eigentlich verständlicher w i r k e n d e N a m e n s a n r u f u n g Brabandts. 2 9 5 Dies ist auf d e m H i n t e r g r u n d zu sehen, daß Glaser ein Jahr zuvor selbst ein D r a m a über Henning Brabandt v e r ö f f e n t l i c h t hatte, w o r a u f Eberhard Rohse hingewiesen und wozu er inzwischen auch eine umfangreiche Interpretation vorgelegt h a t . 2 9 6 In diesem Theaterstück hält sich Glaser einerseits zwar an die historischen Hintergründe, w i e sie hier bereits vorgestellt w o r d e n sind. Er verlegt jedoch nicht n u r den historischen Z e i t p u n k t u m zwei Jahre vor, sondern stellt Brabandt, im Unterschied zu seiner historischen Romanvorlage, auch eindeutig auf die Seite des Herzogs v o n W o l f e n b ü t t e l . 2 9 7 A n l ä ß l i c h eines fiktiven Z u s a m m e n t r e f f e n s der beiden bei Kaiser R u d o l f II. in Prag leitet Glaser sein D r a m a in einem Vorspiel bereits m i t einer A u s s ö h n u n g zwischen Brabandt und d e m menschlich überzeugenden Herzog e i n . 2 9 8 Raabe, der Glasers D r a m a kannte, läßt der 293 2,4
295 296
297 2,8
Hinrichtung
BA 2,577f. B A E 2 , 1 7 . - Raabes spätere, mehr oder weniger erfolgreiche Verweigerungen verlegerischer Änderungsversuche sind bekannt; vgl. z. B. die Veröffentlichungsgeschichte des »Odfeld« (BA 1 7 , 4 1 1 - 4 1 7 ) . BA 2 , 5 7 9 . BA 2 , 5 7 7 : Hennig Braband. Historisches Trauerspiel in vier Aufzügen nebst einem Vorspiel von Adolph Glaser, Braunschweig 1857; Uraufführung: 2 5 . 4 . 1 8 5 7 am Braunschweiger Hagenmarkt-Theater. Rohses Interpretation des Glaserschen Dramas und seine Bezüge zu Raabes »Lorenz Scheibenhart« weichen dabei vor allem in ihrer Bewertung der sogenannten Brabandtschen Revolution von meinen Schlußfolgerungen ab, wie im folgenden zu zeigen sein wird; vgl.: ders., Adolf Glaser als Braunschweiger Literat, in: Herbert Blume u. E. R. (Hg.), Literatur in Braunschweig zwischen Vormärz und Gründerzeit. Beiträge zum Kolloquium der Literarischen Vereinigung Braunschweig v. 22.— 2 4 . 5 . 1 9 9 2 , Braunschweig 1993, S. 1 5 5 - 2 1 4 . - In Raabes Bibliothek befinden sich vier Romane und ein Sammelband mit Erzählungen von Glaser aus dem Zeitraum 1 8 5 9 - 1 8 7 9 , drei davon sind mit Datum und Raabes Namen gekennzeichnet (Bänsch, Bibliothek Raabes, S. 98). Für diese Zeit bezeugen außerdem mehrere Eintragungen in Raabes Tagebuch seine Kenntnisnahme von Glasers literarischer Tätigkeit (StA: H III 10 Nr. 114, S. 5: Ernst August Roloff, Zusammenstellung von Raabes Lektüre aufgrund seiner Tagebucheintragungen). Glaser selbst berichtet von einem frühen Theaterbesuch Raabes »aus persönlichen Rücksichten«, nämlich um Glasers Trauerspiel »Galileo Galilei« zu sehen (Glaser, Erinnerungen, S. 145). Vgl. auch die weiteren Beispiele bei: Rohse, Adolf Glaser, S. 168; Anm. 4 0 - 4 2 sowie zum persönlichen Verhältnis RaabeGlaser: Denkler, Raabe, vor allem S. 127f. und zur verdeckten Auseinandersetzung mit Glaser in Raabes Spätwerk »Der Lar«: Eckhardt Meyer-Krentler, »Unterm Strich«. Literarischer Markt, Trivialität, Romankunst in Raabes »Der Lar«, Paderborn, München [usw.] 1986, vor allem S. 7 5 - 9 3 . Glaser, Braband, S. 2 u. S. 25. - Rohse, Adolf Glaser, S. 181f. Glaser, Braband, S. 3—7; S. 7. - Gegen seinen Willen mußte Brabandt zwar mehrmals zu Unterhandlungen mit dem Kaiser nach Prag, ist dort allerdings nie mit Herzog Heinrich Julius persönlich zusammengetroffen. Auch von einer 6o
Brabandts in seiner Erzählung dagegen oppositionelle, »heimliche nächtliche Versammlungen« der Zünfte in Scheibenharts Haus vorausgehen. 2 9 9 In der Beurteilung der historischen Figur Henning Brabandts treten hier also die politischen Meinungen zwischen dem Autor Raabe und seinem literarisch ambitionierten Verleger vor der aktuellen Situation des deutschen Nachmärz stark auseinander. Dies mag auch ein Grund für Glasers Druckverzögerung, bedingt durch die >anempfohlenen< Kürzungen, gewesen sein. Sie blieben ja kein Einzelfall, was Ende der 80er Jahre schließlich zum Bruch zwischen beiden führt: Raabe m u ß im nachhinein konstatieren, »daß Glaser nicht der freundliche Vermittler, sondern eher ein Verhinderer gewesen ist.« 3 0 0 Raabes Kenntnis des Glaserschen Dramas wirkt sich aber noch durch eine zusätzliche Parallele in anderem Zusammenhang aus. Dabei spielt vor allem Glasers erfundene Schlußszene eine Rolle, in der die versöhnlerische und historisch verfälschende Tendenz seiner Brabandt-Verarbeitung besonders hervortritt. W ä h r e n d in den späteren historischen Darstellungen immer wieder die grausame Hinrichtungsprozedur des unschuldigen Brabandt hervorgehoben wird, kann er in Glasers Darstellung »der Schmach der öffentlichen Hinrichtung« durch seinen vorzeitigen Tod entgehen. 3 0 1 Ließe sich dies noch mit Schwierigkeiten bei der bühnenpraktischen Umsetzung des historischen Geschehens begründen, so begnügt sich Glaser damit jedoch nicht. Er läßt den Herzog sogar noch selbst zu einem verspäteten Rettungsversuch Brabandts auftreten. 3 0 2 Diese Schlußvariante erinnert dabei deut-
Versöhnung kann nicht die Rede sein: 1602 bewirkten die Intrigen des Herzogs gegen die Braunschweiger Bürgerhauptleute im Gegenteil, daß ihnen die Gunst des Kaisers entzogen wurde. Vgl.: Jörg Walter, Rat und Bürgerhauptleute in Braunschweig 1576—1604. Die Geschichte der Brabandtschen W i r r e n , Braunschweig 1971, S. 95ff. Walter entkräftet auch die, u. a. von Görges wie von Raabes Vater und neuerdings wieder von Rohse vertretene These von einer angeblichen Zusammenarbeit Brabandts mit d e m Herzog (Görges, Vaterländische Geschichten, S. 2 2 7 ; HAB: 1 Novissimi 2°, S. 2 6 3 ; A n m . 3 7 ; Rohse, Adolf Glaser, S. 181 u.ö.). Statt dem Braunschweiger Rat auf diese Weise zu schaden, wollten auch die Bürgerhauptleute »»lieber den Türken« als den Herzog in der Stadt sehen« (Walter, Rat, S. 81; S. 79f. u. S. 9 9 ) . 299
300
301 302
BA 2,309f. - Rohse weist eine Tagebuchnotiz Raabes vom 5 . 6 . 1 8 5 8 nach, in der Glaser als »Verfasser des Trauerspiels H e n n i g Braband« erscheint; ders., Adolf Glaser, S. 161; A n m . 15. Vgl.: Meyer-Krentler, »Unterm Strich«, S. 9 0 ; S. 93 u. S. 86 sowie: Rohse, Adolf Glaser, S. 188; A n m . 9 7 . Dies macht sich vor allem an Raabes späteren Werken bemerkbar, bei denen sich jetzt auch ihre Kunstauffassung diametral gegenübersteht. Glaser, Braband, 4. Aufzug, letzte Szene, 1. Auftritt, S. 38f. A. a. O., IV,2,7, S. 4 3 . - Auch Görges weist bereits in diese für Raabes »Scheibenhart« unzutreffende R i c h t u n g . So berichtet er von einem Abgeordneten des Herzogs, der Brabandt einen Tag nach dessen Hinrichtung vor d e m Braunschweiger Rat vergeblich für unschuldig erklären lassen wollte; ders., Vaterländische Geschichten, S. 2 2 8 . 6i
lieh an das Ende von Raabes elf Monate später verfaßter Erzählung Der Junker von Denow. Sie nimmt Glaser umgehend und ohne Änderungswünsche in Westermanns Monatshefte auf. 303 Raabe hat das Handlungsgerüst dieses Textes wie auch die Titelfigur, Christoph von Denow, einer historischen Quelle aus dem Jahr 1599 entnommen. Ahnlich wie Glaser verändert Raabe aber das Ende seines zum Tode verurteilten, historischen Helden. 304 So verstärkt Raabe zunächst Denows Unschuld, indem er ihn statt als freiwilligen als genötigten Anführer einer rebellierenden Söldnerschar zeigt. Auch Denow kann daher in Raabes veränderter Hinrichtungs->Szene< dem »abscheuliche[n] Exempel« des öffentlichen Galgentods in Wolfenbüttel entgehen. 305 Im letzten Moment wird er durch eine Kugel seines Knechts Erdwin tödlich getroffen, um so doch noch einen »ehrlichen«, einen »adeligen Tod« sterben zu können. 3 0 6 Kurz darauf erscheint auch bei Raabe — quellenabweichend — Herzog Heinrich Julius zur verspäteten Errettung des Unschuldigen. Wie in Glasers dezidiert vaterländischem Drama< liefert er hier gleichfalls das humane, fürstliche Gegenbeispiel zur »Selbstgerechtigkeit und Unmenschlichkeit des verordneten Justiz- [...]apparats«. 307 Die Leichen von Denow und seiner Geliebten, der Marketenderin Anneke Mey, die leblos auf ihn niedergesunken ist, können jedoch durch das verspätete Eingreifen des Herzogs zumindest vor ihrem Gefressenwerden durch Raben und Krähen bewahrt werden. Sehr viel stärker als noch in Lorenz Scheibenhart sind die Vogelgestalten hier leitmotivisch verdichtet. 308 All diese Elemente entsprechen nun Glasers Dramenfassung: Neben den Anschuldigungen einer Begegnung Henning Brabandts mit dem Teufel in Rabengestalt, tritt bei ihm ebenfalls eine Marketenderin auf, auch sinkt Brabandts Frau am Ende neben der Leiche ihres Mannes nieder. 309 Glasers Braband und Raabes Denow ähneln sich dabei nicht nur in den inhaltlichen Details dieses theatralischen Schlußtableaus, sondern erweisen sich darüber hinaus in ihrer Ablehnung eines frühneuzeitlichen, antiabsolutistisch-stadtbürgerlichen Autonomiewillens verwandt. In Raabes Text wird am Beispiel der Figur des Junkers als eines stolzen Nachfahren von Rittern 303 304
305 306 307
308
309
BA 2 , 6 0 2 . Vgl. zu Raabes Quellenverarbeitung: W i l h e l m Fehse, Raabes Novelle »Der J u n ker von Denow«, in: RK 1913 (1912), S. 1 6 9 - 1 8 1 ; S. 179f. BA 2 , 3 9 4 . - Fehse, »Der Junker von Denow«, S. 175. BA 2 , 4 3 2 ; 4 2 9 ; 4 3 3 u.ö. Schräder, Vergegenwärcigung, S. 37; A n m . 101. — Als »vaterländisches Drama« ist Glasers »Braband« auf dem Theaterzettel der Braunschweiger U r a u f f ü h r u n g ausgewiesen, die darüber hinaus am Geburtstag des regierenden Herzogs W i l helm von Braunschweig und Lüneburg stattfand; vgl.: Rohse, Adolf Glaser, S. 179f. 2,432f.; 4 2 1 u.ö. - Fehse spricht in diesem Z u s a m m e n h a n g sogar von einer frühen Vorform zur Rabenbedeutung in Raabes »Odfeld«; ders., »Der Junker von Denow«, S. 181. Glaser, Braband, 111,1,3, S. 27f. u. IV,1,2, S. 3 6 ; S. 3 - 7 u. S. 4 3 .
62
des zur Ostausbreitung angetretenen Deutschen Ordens diesmal eindeutig reichspatriotisches Pathos gegenüber dem Verhalten der meuternden Söldner ausgespielt. 310 Aus Raabes Sicht im 19. Jahrhundert gereiche es »der ganzen deutschen Nation zum sonderlichen Spott und Hohn«, »zu Schimpf und Schande und großem Schaden«. 311 Und das, obwohl ihr >Sozialbanditentum«, wie Eric J. Hobsbawm diese Erscheinungsform im krisenhaften Ubergang zu modernen, kapitalorientierten Gesellschaftsordnungen bezeichnet hat, 312 gerade einer patriotischen Haltung entspringt: Die Söldner fürchten ihren Verkauf nach Holland und rebellieren dagegen, »über den Rhein, von des Reichs Boden« weggeführt zu werden. 313 Uber seine Quellengrundlage noch hinausgehend, denunziert Raabe sie trotzdem als bloßes mörderisches »Raubgesindel«. 314 Diese Haltung ist für Raabes Frühwerk allerdings die Ausnahme, wie bereits an Lorenz Scheibenhart gezeigt werden konnte, und dürfte sich im Anschluß an Glasers Brabandt-Bearbeitung ergeben haben. Findet Raabes Tagebuchvermerk zu Glasers Brahand zeitlich doch gerade zwischen der Ausarbeitung von Lorenz Scheibenhart und dem Junker von Denow statt. Die Fertigstellung des letzteren, an Glasers vaterländische« Haltung angelehnten Werks Ende 1858 führt dabei - nur fünf Tage später - wohl nicht von ungefähr zum versöhnlichen Bruderschaftstrunk zwischen Glaser und Raabe am Silvesterabend. 315 Dagegen betont Raabe selbst noch in seiner späteren Skizze Der Altstadtmarkt zu Braunschweig (1865) gerade die demokratische Tradition Braunschweigs als reichsfreier Stadt. 316 Vier Jahre zuvor konfrontierte er in seinem Frühwerk Unseres Herrgotts Kanzlei bereits reichspatriotisch-nationale Bestrebungen mit liberal-regionalen Eigenheiten. Als abschließendes Beispiel soll daher die Beschreibung des Magdeburger Stadtmarkts aus Unseres Herrgotts Kanzlei (1861) näher betrachtet werden. Zur historischen Zeit des Textgeschehens sind dort neben dem Reiterstandbild Kaiser Ottos des Großen noch zwei weitere mittelalterliche Denkmale aufgestellt: Da stand ein großer Roland, welchen ein hochedler Rat erst im Jahre 1540 samt d e m alten Kaiser Otto und dem Rathause neu hatte malen lassen; da stand auf 310 311 312 313 314 315
316
BA 2 , 4 0 4 u. 6 1 0 . BA 2 , 4 1 5 u. 3 9 1 . E[ric] J. Hobsbawm, Bandits, Worcester and London 1969, S. 18ff. BA 2 , 3 9 0 f . BA 2 , 4 0 9 u. 402f. - Fehse, »Der Junker von Denow«, S. 178. V g l . zu diesen Tagebuchvermerken Raabes vom 5.6. bzw. 3 1 . 1 2 . 1 8 5 8 : Rohse, Adolf Glaser, S. 161 u. S. 163; A n m . 15 bzw. A n m . 21. Glaser hatte sich Raabes » J u n k e r von Denow« genau zwei Tage zuvor, am 2 9 . 1 2 . 1 8 5 8 , abgeholt (BA 2 , 6 0 2 ) . W i l h e l m Raabe, Der Altstadtmarkt zu Braunschweig, in: S W 3,6; 532f.; 5 3 3 . Dies betont a n h a n d verschiedener Texte aus Raabes Frühwerk auch: Lukäcs, Raabe, S. 4 9 .
63
hohem Postament ein Hirsch, zum Andenken jenes Tieres, welches nach der Legende einst zu der Königin Editha kam und sie um Hülfe für sein Junges anflehte.317
Der sächsische Kaiser und Gründer des Erzbistums Magdeburg steht hier für die Befestigung des Deutschen Reichs und seine europäische Hegemonialstellung. Die Rittergestalt der norddeutschen Rolandssäule verkörpert dagegen den Schutz städtischer Rechte, während sich in der Figur des Hirsches deutsche mit Magdeburger Lokalsage verbindet. In der Volksüberlieferung soll ein Hirsch von Karl dem Großen gefangen, mit einem goldenen Halsband versehen laufen gelassen und unter Friedrich Barbarossa wieder eingefangen worden sein. Statt auf Karl den Großen nimmt die Magdeburger Version dabei auf die Gemahlin Ottos des Großen Bezug. 318 Die reichspatriotische Thematik, die hier durch die frühen Reichsbegründer Otto und Karl heraufgerufen ist, wird zwar durch die indirekte Verbindung mit dem Nationalmythos um Barbarossa über die historische Zeit des Textes bis hin zu nationalen Einheitswünschen in Raabes Gegenwart verlängert. 319 Sie ist jedoch in regionale Traditionselemente eingebunden. Darüber hinaus gehört zu den Standbildern von Kaiser und Hirsch ja die Rolandsfigur, welche die bürgerliche Stadtfreiheit verkörpert. Die antiabsolutistische Tradition dieses Denkmalstypus setzt sich auch nach 1890 fort, indem die Figur des Roland jetzt vermehrt Bismarcks Züge aufweist. Dadurch wird der entlassene Reichskanzler nicht nur zum nationalen Schutzheiligen verklärt. So kann sich zugleich eine Protesthaltung gegenüber Kaiser Wilhelm II. artikulieren. 320 1 907 hat auch Raabe die Besichtigung des monumentalen Hamburger Bismarck-Roland-Denkmals in seinem Tagebuch vermerkt. 321 Aber schon in dem Frühwerk Unseres Herrgotts Kanzlei weist er durch eine marginal wirkende Nennung des mittelalterlichen Adelsgeschlechts der Bismarcks auf Otto von Bismarck hin, der gerade erst am Beginn seiner politischen Karriere steht. 322 In dieser Anspielung spiegelt sich nun jedoch Raabes frühe Bismarck-Ablehnung, wenn er hier den Ritter gleichen Namens von protestantischen Magdeburgern besiegen und sogar töten läßt. Raabe rekurriert dadurch wohl auf die vorübergehende Kaltstellung Bismarcks zur Zeit der »Neuen Ära« in Preußen, die 1859, 317 318 319
320
321
322
BA 4,198f. BA 4,536f. Vgl. zur nationalen Thematik direkt auch BA 4,466: »Bring bald uns unter einen Hut!« Hans-Walter Hedinger, Der Bismarck-Kult, in: Gunther Stephenson (Hg.), Der Religionswandel unserer Zeit im Spiegel der Religionswissenschaft, D a r m stadt 1976, S. 2 0 1 - 2 1 5 . StA: H III 10 Nr. 159, T.3 (10.8.1907). - Vgl. zu Raabes kritischer Reaktion in bezug auf Bismarcks Absetzung und die Aufkündigung seines europäischen Bündnissystems: Denkler, Raabe, S. 138. BA 4,361. - Vgl. zur Herkunft Bismarcks: Wilhelm Müller, Reichskanzler Fürst Bismarck 1 8 1 5 - 1 8 8 5 , Stuttgart 1885, S. lf.
64
zwei Jahre vor der Niederschrift von Unseres Herrgotts Kanzlei, begonnen hatte und dem Liberalismus kurzfristig eine neue Chance bot. 3 2 3 Die damit hier thematisierte Notwendigkeit einer Verbindung, aber auch die konfliktreiche Konfrontation der Prinzipien von Einheit und Freiheit zur Bildung eines deutschen Nationalstaats werden allerdings nicht nur bei der Skulpturen-Beschreibung von Kaiser und Roland auf dem Magdeburger Stadtmarkt deutlich. Sie verteilen sich über den gesamten Text. In den geschilderten politischen Konfliktsituationen zwischen Stadt und Reich bzw. innerhalb der Stadt selbst werden jeweils diese beiden >Denkmale< erwähnt, welche dadurch eine symbolische Bedeutung als zugleich reichspatriotisch-nationale wie liberale Leitmotive erhalten. 3 2 4
4.2.6
Religiöse Konzepte: Modell >neues Israel«
»Das Selbstbewußtsein des >auserwählten Volkes« der Juden trug durchaus Züge eines nationalen Messianismus«, konstatiert Heinrich August Winkler zum Thema früher Vorformen des Nationalismus. 3 2 5 Als vermeintlich ebenso >auserwählt< sah sich im 19. Jahrhundert auch das deutsche Volk. Es bezog sich dabei auf Luthers Religionserneuerung. Der Bruch mit dem katholischen Rom führte zu einer in Europa sonst einzigartigen religiösen Spaltung. Sie hatte nicht nur die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts zur Folge, sondern macht sich auch noch im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts bemerkbar und beeinflußt das Parteienspektrum bis ins 20. Jahrhundert hinein. 3 2 6 Weltfrömmigkeit und Reformierung des Innenlebens erleben im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts eine zusätzliche Steigerung. Korrespondierend mit einer Säkularisierung christlicher Gehalte im pietistisch beeinflußten Patriotismus, führen sie seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu einer »Sakralisierung der Nation«. 3 2 7 Diese Entwicklung funk323
324
325 326 327
Vgl. dazu: Wilhelm Kühlmann, Der Geschichtsroman als politisch-sozialer Roman. Z u m T h e m a der Bürgerfreiheit in Wilhelm Raabes »Unseres Herrgotts Kanzlei««, in: Blume/Rohse, Literatur in Braunschweig, S. 255—275; S. 262 u. S. 267: »Der weltgeschichtliche Kampf zwischen Luthertum und Katholizismus rückt so bei Raabe ebenso wie bei den Junghegelianern in eine Linie mit dem Streit für den modernen >Geist«, der sich in der Freiheit der Presse seine Bahn bricht.« Vgl.: BA 4,240; 454f. o. 473. — Diese symbolische Konfrontation von nationaler und liberaler Motivik scheint mir hier eher dem reichspatriotischen G r u n d tenor des Werkes zu entsprechen als Kühlmanns Gegenüberstellung der Prinzipien von Freiheit und O r d n u n g ; ders., Geschichtsroman, S. 274. Winkler, Nationalismus, S. 5. Conze, »Deutschland««, S. 35Nipperdey, Nationaldenkmal, S. 138 u. S. 146. - Strukturübertragungen vom Pietismus zum Patriotismus als Beitrag zu einer spezifisch deutschen M o r p h o logie des Nationalismus untersucht: Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, 2., erg. Auflage, Frankfurt a.M. 1973. Vgl. zur Bewegung des Pietismus
65
tioniert jedoch nicht nur als allgemeine Sinngebungsinstanz in einer säkularisiert-modernen Welt. Darüber hinaus wird auch eine emotionale, kollektive, historische Identität der zunächst überwiegend protestantisch und akademisch orientierten deutschen Nationalbewegung gestiftet. Sie konnte sich eben nicht auf einen alle Bevölkerungsschichten aktivierenden, revolutionären Ursprung berufen. So wird im Wartburgfest z. B. über den Appell an Elemente historischen Erinnerns die vergangene religiöse Befreiung durch Luthers Reformation mit der aktuellen kriegerischen Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft verbunden. 3 2 8 Die ideologische Gefahr einer messianisch überhöhten deutschen Nationalidentität liegt dabei nicht nur in einem antidemokratisch-passiven Erlöser-Ideal. Dies hat Rainer Noltenius anhand von Raabes Schiller-Gedicht herausgearbeitet, in dem ein »Retter« und »Befreier«, ein nationaler »Messias« herbeigesehnt wird. 3 2 9 Aber auch in Raabes frühen Prosatexten, wie in der Chronik der Sperlingsgasse, Unseres Herrgotts Kanzlei, Else von der Tanne oder Nach dem großen Kriege, wird über das christologische Bild des gegeißelten und »ans Kreuz geschlagen [en]« deutschen Volkes nicht nur territoriale Zersplitterung, erzwungene Emigration und Kriegsleid religiös überhöht. 3 3 0 Uber die fragwürdige Vorstellung eines neuen »Heiland«, dessen Auferstehungsfest in Raabes Siegeskranze mit dem ersten Pariser Frieden von 1814 parallelisiert ist, 331 artikuliert sich gleichzeitig die H o f f n u n g auf eine zukünftige nationale Einheit. Der Überzeugungsdynamik religiöser Heilslehren entsprechend können so aber auch nationale Märtyrertode in Kriegszeiten herausgefordert und legitimiert werden. 3 3 2 Von einer regelrechten »Deutsche[n] Kriegstheologie« spricht Karl Hammer daher in seiner gleichnamigen Studie, vor allem in bezug auf den Deutsch-Französischen Krieg. 333 Nicht nur das religiöse Zeichen des Kreuzes wird nun als Abzeichen staatlicher Verdienste benutzt, wie z. B. zur Kriegsauszeichnung durch das sogenannte Eiserne Kreuz seit 1813- Auch die deutschen Kriegshandlungen selbst werden über Parallelisierungen mit der biblischen Geschichte des Volkes Israel als zwangsläufig und rechtmäßig dargestellt. Der Einzug deutscher Truppen in Straßburg von 1870 ist in einer Kirchenrede beispielsweise als unvermeidlicher >Gang durchs Rote Meer< charakterisiert. Darüber hinaus wird die nachfolgende deutsche Reichsgründung durch die Bezeichnung >Neuer
328
329 330 331 332 333
darüber hinaus: Hans-Jürgen Schräder, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Heinrich Reitz 1 »Historie Der Wiedergebohrnen« und ihr geschichtlicher Kontext, Göttingen 1989, vor allem S. 23— 73. Mommsen, Nation, S. 167f. - Schulze, Deutsche Nationalbewegung, S. 92f.; S. 104 u. S. 111. Noltenius, Dichterfeiern, S. 1X 3ff. BA l,166f. ; BA 4,234 u. BA 9/1,163. BA 4,73. - BA 9/2,243f. Kaiser, Pietismus, S. 130ff. Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie (1870-1918), M ü n c h e n 1971.
66
B u n d « in d i e T r a d i t i o n d e s a l t t e s t a m e n t a r i s c h e n B u n d e s z w i s c h e n G o t t u n d Israel g e r ü c k t . 3 3 4 D i e r e l i g i ö s - n a t i o n a l e B e d e u t u n g L u t h e r s k o n z e n t r i e r t s i c h d a b e i v o r all e m in s e i n e m L i e d » E i n f e s t e B u r g ist u n s e r G o t t « , d a s seit d e m W a r t b u r g f e s t » e i n e s ä k u l a r i s i e r t - r e l i g i ö s e B e d e u t u n g als s p e z i f i s c h d e u t s c h e s K a m p f l i e d a u f d e m W e g e z u r n a t i o n a l e n E i n h e i t erhalten« h a t . 3 3 5 I n d i e s e m
Kontext
s p i e l t es a u c h in R a a b e s F r ü h - u n d S p ä t w e r k e n e i n e R o l l e . S o in
Herrgotts Kanzlei
Kanzlei,
Gutmanns
Reisen o d e r Kloster Lugau? ib
In Unseres
Unseres Herrgotts
wird die M a c h t der Kanzel i m Z u s a m m e n h a n g der Religionskriege
g e r a d e b e s t ä t i g t u n d ü b e r d a s h i s t o r i s c h e Q u e l l e n m a t e r i a l h i n a u s breit a u s g e f ü h r t . N e b e n d e n a l t t e s t a m e n t a r i s c h e n S t i l i s i e r u n g e n der k ä m p f e n d e n M a g d e b u r g e r z u m » a u s g e z o g e n e [ n ] V o l k « Israel f i n d e t allerdings a u c h e i n e K r i t i k f a n a t i s c h - r e l i g i ö s e r M a s s e n b e e i n f l u s s u n g s t a t t . 3 3 7 S i e w i r d an d e r - g e f ä h r l i c h und abstoßend gezeichneten -
F i g u r des G a s s e n p r e d i g e r s R h o d i u s
t e i l t . 3 3 8 D i e s setzt s i c h i m S p ä t w e r k Kloster
Lugau
verur-
fort, w o kriegsunterstüt-
z e n d e K i r c h e n p r e d i g t e n n a c h d e r d e u t s c h e n E r o b e r u n g v o n M e t z ( 1 8 7 0 ) in k r a s s e n G e g e n s a t z z u d e n Z a h l e n d e r K r i e g s o p f e r gestellt s i n d . 3 3 9
a.
Diaspora
Bedeutsamer
als
eine
vermeintliche
Gemeinsamkeit
im
Auserwählt-
h e i t s g l a u b e n e r w e i s t s i c h i m 19. J a h r h u n d e r t j e d o c h d i e v o r g e b l i c h e P a r a l lele j ü d i s c h e r u n d d e u t s c h e r ( N a t i o n a l - ) S t a a t s l o s i g k e i t . S i e t a u c h t e b e r e i t s in d e r e i n l e i t e n d e r w ä h n t e n Z e i t k r i t i k H e r m a n n M a r g g r a f f s a u f . E i n e sakral-pathetische Übertragung der Situation jüdischer Diaspora, noch dazu aus theoretischer, christlicher Sicht, führt zur Aktivierung
gründungsmy-
thischer E n e r g i e n . 3 4 0 S o ist a u c h d e r U m s t a n d , d a ß » R e f l e x e a u f d i e j ü d i s c h e T r a d i t i o n [...] eher den C h a r a k t e r einer m o n u m e n t a l e n d e n n kritischen
Vergegenwärti-
g u n g v o n G e s c h i c h t e [ h a b e n ] « , w i e es M i c h a e l S c h m i d t als s o n s t e h e r u n t y pisch für R a a b e s Werk aufzeigt, wohl nicht ausschließlich aus Raabes fremder, c h r i s t l i c h e r P e r s p e k t i v e z u e r k l ä r e n . 3 4 1 K a n n d e r K o m p l e x
334
"
5
336 317
338
339
340 341
jüdischer
A. a. O . , S. 23; S. 97ff. u. S. 185f. Noltenius, Dichterfeiern, S. 115. BA 4,243f. - BA 18,268f. - BA 19,109 u.ö. BA 4 , 2 6 7 . Vgl. auch die quellenangelehnten, kämpferischen Kirchenpredigten: BA 4 , 2 4 4 u. 539. BA 4 , 4 2 3 f . u.ö. - Ulf Michael Schneider verkennt diese gegenläufig-kritische Funktion der Rhodius-Figur, wenn er hier lediglich eine »kulturhistorisch hübsche Beigabe« annimmt; vgl.: ders., »... eine von meinen Jugendsünden«: Wilhelm Raabes >Federprobe< »Unseres Herrgotts Kanzlei«, in: J b R G 1993, S. 2 6 45; S. 40. BA 19,205f. Vgl.: Oskar Negt, Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a . M . 1981, S. 391 f.; Aust, Mythisierung, S. 2 6 5 sowie: M o m m s e n , Nation, S. 171. Schmidt, Marginalität, S. 4 0 4 .
67
Vertreibungsgeschichte doch gerade als monumentalisiertes Modell eingesetzt werden, um deutsche National->Misere< zu reflektieren. In diesem Sinne können in Raabes Gesamtwerk z. B. die häufigen, direkten und indirekten Anspielungen auf Titus und die Belagerung, Erstürmung und Eroberung Jerusalems (70 n. Chr.) verstanden werden, den Ausgangspunkt der Judenvertreibung.342 In Raabes späten Werken wird der nationale Topos einer angeblichen deutsch-jüdischen Schicksals-Analogie aber auch variiert und ausgeweitet. Dies geschieht einerseits durch Vorbehalte signalisierende Ironisierungen, wie es ja bereits anhand anderer nationaler Mythen in Raabes Werk verdeutlicht werden konnte. Der judenfeindliche Ahasvermythos vom heimatlos-rastlosen, unglücklichen »Ewigen Juden« wird beispielsweise in Gutmanns Reisen durch seinen Bezug auf den »ewigselige[n] Reiseonkel« Gutmann persifliert.343 In den zeitgleichen Versepen des späten 19. Jahrhunderts dient die Ahasver-Figur dagegen als Negativbild nationaler Staatenlosigkeit. 344 Häufiger führt die Thematik jüdischer Diaspora in Raabes späteren Werken jedoch zu einer Perspektivenverschiebung. Gegen eine hypostasierte deutsche Nationalstaatsidee wird auf diese Weise gerade das Anrecht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung für andere Ethnien und Bevölkerungsgruppen eingefordert: In Höxter und Corvey schrumpft der herbeigesehnte deutsche Anspruch auf Frieden und Einheit vor dem Hintergrund jahrtausendealter und erneut aktueller, jüdischer Pogromgeschichte in sich zusammen, wie sie über die Figur der Kröppel-Leah vermittelt wird. Darüber hinaus werden in Des Reiches Krone neben den verfolgten Hussiten auch die ausgegrenzten Leprakranken, in Sankt Thomas dagegen die versklavten Schwarzen zum verfolgten Volk Israel stilisiert. 345 Dadurch nimmt Raabes Werk auch im Hinblick auf diesen christlichnationalen Mythos nicht an dessen illiberaler, antijüdischer Kehrseite teil. Bot die frühe nationalliberale Phase neue Identifikationsräume für Gruppen, die sich zuvor außerhalb traditioneller Ordnungsgefüge befunden hatten, wie z. B. die akademische Jugend oder die jüdischen Intellektuellen, 346 so entwickelt sich dies zunehmend zu einer »Abwehr-Identifikation«.347 Im
342
B A 9 / 1 , 1 7 8 ; B A 9 / 2 , 3 4 6 ; H u C , 8 2 u.ö.; B A 1 7 , 7 9 u. 1 3 3 .
343
B A 1 8 , 4 1 2 . - V g l . dagegen aber Raabes frühen Text » D i e schwarze Galeere« ( 1 8 6 0 ) : D i e b e l i e b t e Sage v o m »Fliegenden H o l l ä n d e r « , d e m lEwigen J u d e n des Ozeansfreien Söldners< aus dem 16. Jahrhundert in der abschreckend, aber auch faszinierend gezeichneten Gestalt des historischen Söldnerführers Christoph von Wrisberg
348
345
350
351 352
chael Geyer, in: Winkler, Nationalismus, S. 6 7 - 8 4 ; S. 80 (Erstveröffentlichung u.d.T.: Nationalismus and Strategy of International Conflict Resolution, in: H . C . Keimann (Hg.), International Behavior. A Social-Psychological Analysis, New York 1965, S. 3 5 4 - 3 7 0 ) . Vgl.: Kocka, Probleme der politischen Integration, S. 128 sowie: Mommsen, Nation, S. 175. Plessner, Verspätete Nation, S. 173 (Anm.). T h o m a s Nipperdey, Antisemitismus - Entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs (gemeinsam mit Reinhard Rürup), in: ders., Gesellschaft, S. 113-132; S. 125ff. - Volker Elis Pilgrim weist deutsch-jüdische Identifikationen selbst noch in der Vernichtungs-Phraseologie der Nationalsozialisten nach, wie z. B. beim Topos vom >Volk ohne RaumMutterrolle< den Dorfkindern gegenüber jetzt akzeptieren. Uber eine Anspielung auf die Sage von der Hinrichtung Wrangeis nach der schwedischen Niederlage von Fehrbellin fand zuvor bereits die Entmachtung der idealisierten, kriegerischen Vaterfigur statt. 367 Eine unterschwellig dagegengesetzte Anerkennung mutterrechtlich ausgerichteter Kultur ist jetzt jedoch nicht als regressiv-dunkle, verschlingende Anziehungskraft chthonischmütterlicher Tiefen gestaltet, 368 sondern als lichtvoll-pragmatischer Aufstieg, »empor« zur Alm auf der Lorena. 369
BA 9/2,300fF. u. 315ff. BA 9/2,301 u. 313. 362 p Hanson, Komik und Elend in Raabes Erzählung »Der Marsch nach Hause«, übers, v. Jochen Rohlfs, in: JbRG 1985, S. 4 8 - 6 2 . Vgl. zur Heimatthematik dort auch: S. 56. 363 Vgl.: Greverus, Territorialer Mensch, S. 303. 364 BA 9/2,287. 365 BA 9/2,318 u. 291. 366 Vgl. zu dieser Gleichsetzung von Heimat und Mutter als einer Form der Vaterablehnung durch den Sohn in der Literatur des Realismus: Hans Seewald, Das Motiv der Heimkehr bei Wilhelm Raabe, Saarbrücken, Phil. Diss. 1960, S. 118. 367 BA9/2,316f. u. 488. 368 y g | z u J i c s c r >>sehr deutsche[n] Tendenz«: Janine Chasseguet-Smirgel, Vorwort (übers, v. Max Looser) zu: Peter Zagermann, Eros und Thanatos. Psychoanalytische Untersuchungen zu einer Objektbeziehung der Triebe, Darmstadt 1988, S. IX—XIX; S. XV. 369 B A 9 / 2 , 3 l 4 f . - Auf die mutterrechtlichen Komponenten des Textes hat erstmals Pongs aufmerksam gemacht, allerdings mit deutlich restaurativer Tendenz: ders., Raabe, S. 287-290. Fehse sieht dagegen einen Zusammenhang zwischen diesem Werk und Raabes eigener »Heimkehr« nach Braunschweig, die ein halbes Jahr später erfolgte: ders., Raabe, S. 350. Bröhan verkennt das Ende der Erzählung völlig, wenn sie von einer iWiederfindung männlicher Identität! spricht: dies., Darstellung der Frau, S. 112f. (Hervorh. v. mir). Ohne auf den »Marsch nach Hause« einzugehen, sieht Roebling demgegenüber eine generell 360 361
7i
Ansätze einer Perspektivierung wie Perspektivenumkehr des Heimatbegriffs finden sich aber schon in Raabes Frühwerk. Der Begriff Heimat muß auch hier nicht als fataler Gegenbegriff zum Ausländer erscheinen, wie es im heutigen, äußere Grenzen gerade abbauenden Europa zu beobachten ist. Dies zeigt beispielsweise eine Episode um die Figur Philipp von Spiegelberg aus dem Heiligen Born. In seinem einsamen Liebesunglück um Fausta La Tedesca findet er Trost in der Trauer um gleichfalls vereinsamte, »landfremde Gräber«. 370 Damit ist der sogenannte »Toren to mayen«, der Überrest eines Klageturms gemeint, den der römische Feldherr Germanicus sechs Jahre nach der Schlacht im Teutoburger Wald (9 n. Chr.) dem Gedenken des gefallenen Varus-Heeres errichtet haben soll. 371 Der folgenreiche Sieg des Cheruskers Arminius, der zur Vertreibung der Römer führte, wird an dieser Stelle jedoch mit keinem Wort erwähnt. Statt dessen findet sich der Arminiusmythos des 19. Jahrhunderts, der als beliebtes Symbol deutscher Nationalitätsidee eine Welle von Hermanns-Dramen zur Folge hatte, 372 hier gerade zum Gedenken der gegnerischen, römischen Opfer umgedeutet. Ihr »Tod in der Fremde« symbolisiert nun einen ewigen Identitätsverlust, wie es in der literarischen Motivik des 19. Jahrhunderts als Steigerungsform des Heimwehthemas ausgebildet worden ist. 373 Auch in späteren Texten Raabes, wie in den Gänsen von Bützow oder in Gutmanns Reisen, erscheint der germanisch-deutsche Nationalmythos um Arminius/Hermann lediglich in satirischem Zusammenhang. 374 Ein gleichzeitig mit ihm verbundenes Element >deutscher SonderwegsBruderkampf< stilisierte, partikularistische Gegnerschaft der Deutschen untereinander
differenzierte Stellungnahme der Geschlechtsrollenkonzepte in Raabes Spätwerken. Sie bewege sich auf dem Hintergrund einer allgemeinen »Neubewertung weiblicher Paradigmen im Sinne einer Neubewertung naturhaften, ganzheitlichen, seelenvollen Lebens«, welche im Bürgertum seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu beobachten sei. Vgl.: dies., Raabes doppelte Buchführung, S. 147— 156; S. 155f. Auf die Stimmigkeit dieser These wird hier im zweiten Teil noch einzugehen sein. 370 371
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BA 3 , 2 9 7 . BA 3 , 1 6 8 u. 4 9 7 f . - Dies wird auch ausführlich geschildert im Geschichtsentwurf von Raabes Vater: HAB: 1 Novissimi 2°, S. 16f. y g j hierzu: Hannu Riikonen, Die Antike im historischen Roman des 19. Jahrhunderts. Eine literatur- und kulturgeschichtliche Untersuchung, übers, v. Dietrich Assmann, Helsinki 1 9 7 8 , S. 149. Vgl.: Greverus, Territorialer Mensch, S. 1 8 2 u. S. 3 7 7 . BA 9 / 2 , 9 6 u. 4 4 0 ; 105 u. 113. - BA 1 8 , 3 3 5 . Wiedemann, Nationalgeist, S. 9 1 . - So auch der Tenor in der historischen Darstellung von Raabes Vater: HAB: 1 Novissimi 2°, S. 13ff.
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wird in Raabes Werk wiederum am Themenkreis des Söldnercums durchgespielt: Wahrlich, das ist die leidige Not: Ihr möget gegen den Feind anreiten, wo ihr wollt in der Welt, ihr treffet immer gegenüber einen, der euch euren Schwertschlag oder Pistolenschuß mit einem deutschen Fluch zurückegibt. Mag es sein in Welschland, in Polackien oder im amerikanischen Reich, deutsche Fäuste trommeln uberall aufeinander, soweit die Sonne leuchtet, soweit die Nacht dunkel ist. G o t t bessere es! 376
Das zitierte Beispiel aus Lorenz Scheibenhart ist jedoch nicht nur für die frühen Werke symptomatisch. So erscheint das Heer des Siebenjährigen Kriegs in Hastenbeck ebenso »buntscheckig und mangelhaft« 3 7 7 zusammengewürfelt wie in der Innersten die Uniform einzelner marodierender Söldner. Auch ihnen ist von außen nicht mehr anzusehen, »welchem Herrn [sie] zuletzt falsch geschworen hatte[n]«. 3 7 8 Die Effizienz solcher Heere war gering, da es statt zur Verteidigung eines gemeinsamen Ziels häufig zu regional konkurrierenden, »gefährlichen Händel[n]« innerhalb der Truppen selbst k a m . 3 7 ' Eine in diesem Zusammenhang bei Raabe immer wieder beschriebene Ungewißheit, für wen oder was hier eigentlich gekämpft werde, 3 8 0 verdeutlicht also gerade die spezifisch deutsche Zersplitterung und Bündnisverwirrung und nicht ein »allgemein-metaphysisches WeltchaosBrudermord< überhöht. So muß die Titelfigur aus Lorenz Scheibenhart während des Dreißigjährigen Kriegs den eigenen, »besten Jugendfreund« auf der gegnerischen Seite erschießen. 384 Der Kampf zwischen Markus Horn und Christof Alemann kann in Unseres Herrgotts Kanzlei im letzten Moment noch verhindert werden, weil sie einander als frühere Freunde wiedererkennen. 385 In Höxter und Corvey hat Mönch Henricus seinen »allerbeste[n] Herzfreund« dagegen ebenfalls auf konfessionell gegnerischer Seite verloren. 386 Der >brüderliche< Charakter dieser Freundschaft wird hier noch besonders betont, indem eine gemeinsame Kindheit zwischen beiden hergestellt wird: sie sind zusammen aufgewachsen und erzogen worden. 387 Nicht nur in Höxter und Corvey, sondern auch in anderen Raabe-Texten werden die Freunde außerdem gegenseitig als »Bruderherz« bzw. »Herzbruder« bezeichnet. 388 Begriffen wie »Bruder«, »Freund« oder »Herz« kommt seit den antinapoleonischen Kriegen dabei eine besondere Bedeutung innerhalb einer neuartigen, »dichte[n] national-poetische[n] Semantik von starker, unmittelbarer Gefühlsansprache« zu, die z. T. auch religiös gefärbt ist. 389 Gleichzeitig wird durch Raabes »Herzbruder«-Bezeichnungen auf das barocke Freundespaar aus Grimmelshausens Der Abenteuerliche Simplicissimus angespielt. Es trägt die allegorischen Namen Simplicius Simplicissimus und Ulrich Herzbruder. Herzbruders Vater prophezeit den beiden jedoch, daß sie sich in den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs nicht gegenseitig umbringen werden. Er läßt sie ihre Freundschaft sogar mit einem Eid besiegeln, bevor Herzbruder sich bei der schwedischen Armee als Söldner verdingt. 390 Simplicissimus kann von ihm indessen zweimal vor einer Erpressung zum Söldnerdienst gerettet werden. Dieses Handlungsschema verkehrt Raabe dabei nicht nur in sein Gegenteil, sondern bricht auch die emotional positiv besetzte Bedeutungsstruktur von Begriffen wie »Bruder« oder »Herz«. Sprachreflektierend gebraucht er sie jetzt sowohl im positiven wie auch im negativen, ideologisierten Zusammenhang.
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BA 2 , 3 2 7 . BA 4 , 2 0 0 f . HuC,72f. HuC,81. Vgl.: BA 2 , 4 6 4 u. 4 6 9 ; BA 4 , 2 0 1 ; H u C , 7 4 ; BA 9/2,295 o. BA 1 2 , 1 2 3 ; 128 u. 142. Schulze, Deutsche Nationalbewegung, S. 105. - Vgl. zu den psychoanalytischen Komponenten der >brüderlichen< Freundesbeziehungen, z. B . in Raabes »Zum wilden Mann«: Roebling, Raabes doppelte Buchführung, S. 70f. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. Vollständige Ausgabe. Nach den ersten Drucken des »Simplicissimus Teutsch« und der »Continuatio« von 1669, hg. v. Alfred Kelletat, 10. Auflage, München 1988, 11,23; S. 170f. - Direkt erwähnt wird der »Simplicissimus« von Raabe 1 8 6 2 in der Erzählung »Eine Grabrede aus dem Jahre 1609« (BA 9/1,72).
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Pold Wille wird in Hastenbeck gerade durch die berechnende, tränenreiche Gefühlsintensität eines hannoverschen Werbers zum Söldnerdienst geködert, indem dieser »sein Herz« als »Freund und Bruder« zur gemeinsamen »Leidensbrüderschaft« hinzureichen vorgibt. 391 In Höxter und Corvey versucht dagegen Wigand Säuberlich, der Anführer einer Bande von Wirtshaus-»Brüder[n]«, sein vermeintliches »Bruderherz« Lambert Tewes zur Teilnahme am Überfall auf die Juden des Ortes zu bewegen. 392 Lambert verweigert sich jedoch einer »im Unheil [...] Bruderschaft machende[n] katholische[n] und lutherische[n] Menge«, die »in brüderlicher Eintracht« über die wehrlosen Juden herfällt. 393 So benennt es die ursprüngliche, handschriftliche Fassung des Textes in sarkastischer Aufdeckung eines pervertierten christlichen Brudermotivs. Das Thema >Brudermord< ist in Höxter und Corvey gleichzeitig über antike Anspielungen präsent. Der Horaz-Liebhaber Lambert kommentiert die höxterschen Konfessionsunruhen beispielsweise mit dem Anfangszitat »Quo, quo scelesti ruitis« einer Horazischen Epode. 394 In ihr wird vor neuem brudermordenden Bürgerkrieg gewarnt, wie er im Anschluß an Casars Ermordung zwischen den römischen Parteien entbrannt war. Das Reich wurde dadurch geschwächt, Einfälle äußerer Feinde begünstigt: in einer vergleichbaren Situation befindet sich auch Höxter, dessen interne Auseinandersetzungen mit Corvey zur französischen Besetzung geführt haben. Beim Angriff auf das Haus zweier Jüdinnen setzt Lambert einen Mitläufer des fanatisierten höxterschen Mobs zudem ironischerweise mit dem Cäsarmörder Brutus gleich. 395 Nach der erfolgreichen Verteidigung der Frauen verweist er dagegen in verfrühtem Optimismus auf die Beendigung des römischen Bürgerkriegs durch die Schlacht bei Aktium. 396 Auch im späteren Odfeld stehen die häufigen Anspielungen auf Casars Ermordung nicht nur in einem allgemeinen Zusammenhang von TodesVorboten, wie es bei Helmuth Mojem beschrieben wird. 397 Sie sind hier ebenfalls in den Zusammenhang »brudermörderischen Kampfes«398 des historischen Hintergrundgeschehens eingebunden — diesmal auf der Folie österreichisch-französischer Angriffe gegen Preußen und England, von denen 3
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BA 2 0 , 5 5 . - Dagegen wird die national-emphatische Betonung liberaler d e u t scher Brüderlichkeit« in Raabes »Dräumling« und » G u t m a n n s Reisen« aus der späteren Sicht der Reichsgründung als Politphrase bloßgestellt; vgl.: Utz, Ausgehöhlte Gasse, S. 138ff. sowie: Noltenius, Dichterfeiern, S. 113ff. HuC,36. H u C , 6 3 f . u. 168. H u C , 4 9 u. 157f. (»Wohin, Verruchte, reißt euch eure Wut?«); vgl. auch: BA 2 , 2 4 9 (»Student«), H u C , 9 3 : »Et tu Brüte, mein Sohn Hans Rehkop?!« H u C , 8 7 u. 177; vgl. auch: BA 2 0 , 1 0 9 f . (»Hastenbeck«). M o j e m , Quellen, S. 6 9 . So wird auch im »Schwäbischen Merkur« von 1866 der Krieg zwischen Preußen und Österreich bezeichnet. Den Zeitungsausschnitt hat Raabe aufbewahrt: StA: H III 10 Nr. 137 (Schwäbischer Merkur 158 ( 6 . 7 . 1 8 6 6 ) , S. 8 1 5 ) .
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das Kloster Amelungsborn betroffen ist. 399 Ebenso wie hier im Odfeld kann daher auch in Hastenbeck und im Heiligen Born über die innerdeutschen >Bruderkriege< die gleiche, strukturell »nicht neu[e]« Bemerkung gemacht werden, die aus einer düster-realistischen Paraphrase des biblischen Segens
der brüderlichen
Eintracht besteht (Ps. 133,1):
W i e hübsch ist es, wenn Brüder friedlich beieinander wohnen, und wie selten ist es! 4 0 0
4.2.7
>Der deutsche Michel< Patriarchalische Aspekte des Nationalismus
Die bereits angesprochene verweltlichte Frömmigkeit durch das Luthertum und später den Pietismus führt in Deutschland während des 18. und 19. Jahrhunderts auch zur nationalen Aufwertung eines spezifisch deutschen Tugend- und Freiheitsbegriffs, der sich aus der Wiederentdeckung germanischer Vergangenheit herleitet. 401 Dabei sollte Tacitus' positiv gezeichnetes Bild vom unzivilisiert einfachen, freien, ehrenhaften, kampfesmutigen und monogamen Germanen ursprünglich seine römischen Landsleute mit den Dekadenzsymptomen der eigenen Zivilisation konfrontieren. Dessenungeachtet wird es zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum zeitentrückten Prototyp männlich-biederen, >teutschen< Nationalcharakters erhoben, wie ihn z. B. auch Johann Gottlieb Fichte 1807/08 in seinen Reden an die deutsche Nation beschreibt. 402 Als ein seit der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs weitertradiertes Ideal vom barbarischen Germanen wirkt das Bekenntnis zum altdeutschen >Grobian< vor allem im Sinne eines »antirömischen Affekts«. 4 0 3 399 400
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BA 17,45; 95 u. 101. BA 17,8 u. 4 3 0 ; BA 2 0 , 3 4 u. BA 3 , 5 8 . - In Raabes spätem Zeitroman »Fabian und Sebastian« charakterisiert dieselbe Bemerkung das unfriedliche BruderVerhältnis der konkurrierenden Fabrikbesitzer zur Gründerzeit (BA 1 5 , 8 6 ) . Allein als Liebeskonkurrenz u m eine Frau findet ein Kampf »brüderliche[r] Todfeinde« dagegen im frühen Erzähltext »Nach dem großen Kriege« statt (BA 4 , 4 3 - 5 0 ) . Er sei hier trotzdem erwähnt, da er von einer ganzen Palette biblischer, mythologischer wie literarischer Anspielungen auf das »Bruderm o r d i - T h e m a untermalt ist: Sie reichen von Kain und Abel über die beiden Söhne des ö d i p u s bis zu den feindlichen Brüdern aus Schillers »Braut von Messina«. Plessner, Verspätete Nation, S. 65ff. Kaiser, Pietismus, S. 37f. — V g l . zum Einfluß von Pietismus und norddeutschem Protestantismus auf Raabes W e r k : Detering, Theodizee, S. 2 7 - 4 2 (zu »Michel Haas«) sowie: Walter Tebbe, Das geistliche Dreigestirn Jerusalem, Holtnicker und Störenfreden, Bemerkungen eines T h e o l o g e n zu »Hastenbeck«, in: JbRG 1971, S. 7 2 - 9 2 . See, Deutsche Germanen-Ideologie, S. 9ff. - Dieses Germanenbild w i r d im Verlauf des 19. Jahrhunderts sogar über das Nachschlagewerk des »Brockhaus« verbreitet; vgl.: Michael T i t z m a n n , Die Konzeption der »Germanen« in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Link/Wülfing, Nationale M y then, S. 1 2 0 - 1 4 5 ; S. 127. Vgl.: See, Deutsche Germanen-Ideologie, S. 17; S. 19 u. S. 3 3 sowie: W i e d e m a n n , Nationalgeist, S. 8 8 .
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Er richtet sich gegen die sogenannten >WelschenFranzosentümelei< gegenüber.'104 Auch Raabe, in dessen Besitz sich Goltz' Buch befand, ist von einer derartigen Haltung nicht ganz frei. Dies zeigen nicht nur die abwehrenden Zusammenbindungen von Frankreichs »Krieg und Sittenlosigkeit« im Frühwerk Ein Geheimnis, sondern auch seine Ausfälle gegen »Pariser Gassenkot« im Spätwerk Hastenbeck.'405 Zwar handelt es sich hier beide Male um reine Negativbeispiele, wie die Hochphase des französischen Absolutismus unter Ludwig XIV. oder die Mode-Erscheinung eklektizistischen Kunstgewerbes um die Jahrhundertwende. Dahinter kann sich jedoch die Gefahr verbergen, »jede Grobheit gegenüber französischer Politesse als altdeutsch [zu] legitimieren und jede »Verfeinerung« als artfremd [zu] boykottieren.« 406 Die bereits thematisierten deutschen Ambivalenzen im nationale Identität ausbildenden antinapoleonischen Widerstand erhalten somit eine tieferliegende, mentalitätsgeschichtliche Komponente. Ihrer maulwurfsarchäologisch freigelegten >SonderwegsGott-VatersLandes-Vaters< wie - als kleinste religiöse und staatliche Zelle — die häusliche Ordnung eines >Haus-Vaters< ableiten lassen. Dieses Schema spiegelt sich auf literarischer Ebene auch in der spezifischen Dramenform dieser Zeit, dem bürgerlichen Trauerspiel. 413 Anhand kleinbürgerlich-altdeutscher Familienstrukturen hat Helmut Möller seine Funktionsweisen im 18. Jahrhundert aufgezeigt. 414 Möller zeichnet ein patriarchalisches Erziehungsmodell nach, das, über die häusliche Reproduktion hausväterlicher Subordination gegenüber der Obrigkeit, bereits in der Kindheit eine erste Gewöhnung an gehorsame Unterordnung erzwingt. Dieser Sozialisationsprozeß setzt sich später im Verhältnis zum Schul- und Handwerksmeister fort. Das autoritäre Erziehungsmodell einer Disziplinierung durch (Prügel-)Strafe entspricht wiederum der häuslichen Situation zwischen Vater und Sohn. Am Ende hat sich eine Persönlichkeitsstruktur fixiert, deren Ergebnis »der Kleinbürger als der brauchbare Untertan« ist, welcher das Prinzip autoritärer Subordination im
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Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, übers, v. Traugott König, 1. Auflage, Frankfurt a.M. 1981 (Erstveröffentlichung u.d.T.: Les damnés de la terre, Paris 1961), S. 49ff. Vgl. dazu: Heinz Gollwitzer, Z u m politischen Germanismus des 19. J a h r h u n derts, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19.9.1971, hg. v. den Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 2 8 2 - 3 5 6 ; Klaus von See, Politische Männerbund-Ideologie von der wilhelminischen Zeit bis zum Nationalsozialismus, in: Gisela Völger u. Karin von Welck (Hg.), Männerbünde - Männerbande. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich. Zweibändige Materialienslg. zu einer Ausstellung des Rautenstrauch-Joest-Museums für Völkerkunde Köln v. 2 3 . 3 . - 1 7 . 6 . 1 9 9 0 , Köln 1990, Bd. 1, S. 9 3 - 1 0 2 sowie: Stefanie von Schnurbein, Geheime kultische Männerbünde bei den Germanen — Eine Theorie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft u n d Ideologie, in: a. a. O., Bd. 2, S. 9 7 - 1 0 2 . Vgl.: Bengt Algot Sörensen, Herrschaft u n d Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert, München 1984, S. 48. Möller, Kleinbürgerliche Familie, S. 10f.; S. 18f. u. S. 75ff.
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öffentlichen wie im privaten Lebensbereich weiter reproduziert. 4 1 5 Umgekehrt führt dagegen die deutsche Tendenz einer »Famiiiarisierung der politischen Terminologie« zur Verklärung des patriarchalischen Absolutismus als Herrschaftsform. 4 1 6 Ihm gegenüber verbietet sich politische Widerständigkeit als ebenso unmoralisch wie auf häuslicher Ebene der Ungehorsam des Sohnes gegenüber seinem Vater. Der Zerfall des traditionellen Sozialgebildes >ganzes Haus< 4 1 7 durch eine arbeitsteilige Industrialisierung untergräbt gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Identität des Hausvaters, vor allem im städtischen Lebensraum. Er überkompensiert seine schwindende, öffentliche wie private Autorität im reduzierten Bereich der Kernfamilie jetzt in der Rolle des gehaßten Haustyrannen, wie es auch die aufklärungskritische Dramatik des Sturm und Drang thematisiert. 4 1 8 Während Karl Immermann zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Familie in Deutschland noch einen besonderen Status als Identitätsersatz für eine fehlende deutsche Nation zumessen konnte, 4 1 9 verschiebt sich diese Relation im Z u g e eines verstärkten, pietistisch verinnerlichten Nationalismus. Im Verlauf des Jahrhunderts werden die unveränderten, ritualisierten Hausvätertugenden jetzt umgekehrt auf den Aktions- und Identifikationsraum Vaterland, in seiner Mythisierung als einem »Land der Väter«, übertrag e n . 4 2 0 Der angestrebte Nationalstaat als Vaterimago spiegelt sich dabei besonders deutlich in der Vielzahl patriotischer Vereine wider. Sie sind als hierarchisch organisierte Männerbünde strukturiert, in denen vor der Reichsgründung nahezu ausschließlich patriarchalische Nationalmythen kultiviert werden. 4 2 1 Neben den hier bereits erwähnten maskulinen Identifikationsfiguren Arminius, Barbarossa, Luther oder Schiller, sind vor allem
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A. a. O . , S. 6 6 ; S. 4 5 ; S. 2 7 7 u. S. 52ff. Sörensen, Herrschaft, S. 51 u. S. 54. — Vgl. zur Funktionalisierung kollektiver U n m ü n d i g k e i t als Herrschaftsmittel tradierter Vatergesellschaften bis ins 2 0 . J a h r h u n d e r t : Alexander Mitscherlich, A u f d e m Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, 4. Auflage, M ü n c h e n 1 9 8 0 , S. 157ff. Vgl- zu diesem Terminus: O t t o Brunner, D a s »ganze H a u s « und die alteuropäische » Ö k o n o m i k « , in: ders., N e u e Wege der Sozialgeschichte, G ö t t i n g e n 1956, S. 3 9 - 6 1 . Vgl.: Möller, Kleinbürgerliche Familie, S. 3 0 4 sowie: Peter Szondi, D i e T h e o r i e des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. D e r K a u f m a n n , der Hausvater und der Hofmeister, hg. v. Gert Mattenklott, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1 9 7 9 (Studienausgabe der Vorlesungen, B d . 1), S. 185f. Wiedergeg. bei: Möller, Kleinbürgerliche Familie, S. 3 2 0 . Greverus, Territorialer M e n s c h , S. 2 8 5 u. S. 2 8 9 . Vgl. zu den dahinterstehenden pietistischen Einflüssen: Kaiser, Pietismus, S. 40ff.: » D a s innere Vaterland«. Greverus, Territorialer M e n s c h , S. 3 0 4 f f . u. S. 2 9 2 f f . D i e der R e i c h s g r ü n d u n g von 1871 folgende Ersetzung des »>VaterVater Rhein< als treuer Bewahrer von Siegfrieds Nibelungenhort und der Hl. Michael. 4 2 2 Ursprünglich der alttestamentarische Schutzengel Israels, avanciert letzterer seit dem Mittelalter zum kriegerischen Schutzpatron der Deutschen. Bereits im 16. Jahrhundert setzt allerdings seine spöttische Karikierung zum deutschen Michel< mit der schiefen Nachtmütze ein. Dies führt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dazu, in ihm vor allem den Prototyp des altfränkisch-einfältigen, autoritätshörigen Deutschen politischer Restauration zu sehen.' 423 Der Typus des deutschen Michel< ist auch in Raabes Werk als Ausdruck nationaler und sozialer >deutscher Misere< präsent: so z. B. im historischpolitischen Liebesgespräch zwischen Gutmann junior und Klotilde Blume in Gutmanns Reisen,424 als zum »Vetter Michel« abgewandelte, harmlos-biedere Kontrastfigur zur Räuberatmosphäre der Buschmühle in der Innersten*25 oder aber verkörpert in der Titelfigur von Raabes Frühwerk Aus dem Lebensbuch des Schulmeisterleins Michel Haas (1859). Hermann Pongs oberflächliche Ineinssetzung des Michel Haas mit dem >deutschen Michel« läßt sich dabei durchaus konkretisieren. 4 2 6 Gleichzeitig kann Heinrich Deterings Aufdeckung einer >Überlagerung episodisch-offener, picarischer und zielgerichtet-geschlossener, pietistischer Erzählstruktur« eine formale Erklärungsvariante hinzugefügt werden. 4 2 7 Von der Raabe-Forschung weitgehend ignoriert, spiegelt der Lebenslauf von Raabes Titelfigur inhaltlich doch vor allem die soziale Misere deutscher Hofmeister wider. 428 Sie wird Ende des 18. Jahrhunderts beispielsweise in Jung-Stillings poetisierter Autobiographie beschrieben, die Raabe gekannt
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Vgl.: Werner Wunderlich (Hg.), Der Schatz des Drachentöters. Materialien zur Wirkungsgeschichte des Nibelungenliedes, 1. Auflage, Stuttgart 1977, S. 34ff. sowie: Siegmar Holsten, Allegorische Darstellungen des Krieges 1 8 7 0 - 1 9 1 8 . Ikonologische und ideologiekritische Studien, M ü n c h e n 1976, S. 3 4 - 3 6 . Die Bedeutungsoszillation dieses nationalen Stereotyps, in dem sich auf besonders sinnfällige Weise Elan wie Stagnation deutscher Revolutionsfähigkeit bündeln lassen, wird aufgezeigt bei: Karl Riha, Deutscher Michel. Zur literarischen und karikaturistischen Ausprägung einer nationalen Allegorie im neunzehnten Jahrhundert, in: Link/Wülfing, Nationale Mythen, S. 146—171. BA 18,340; vgl. auch zur Deutung des ersten Mottos in »Gutmanns Reisen« (ein Ausspruch von »Michels Mutter«) als Thematisierung des d e u t s c h e n Michel«: Beda Rauch, Philologie und philologische Anspielung im Werk Wilhelm Raabes, M ü n c h e n , Phil. Diss. 1971, S. 108. BA 12,169 u. 519. - Vgl. zu Raabes Thematisierung des 'deutschen Michel« weiterhin: BA l,96ff. (»Chronik«) o. BA 10,54 (»Dräumling«). Pongs, Raabe, S. 142. Detering, Theodizee, S. 41. Die Interpretation von Pongs liefert hierfür zwar einen ersten Anhaltspunkt, der aber gleichfalls an der Oberfläche bleibt: Für ihn erfüllt das »Hauslehrerdasein« der Titelfigur seine Funktion lediglich in einer weiteren Betonung von Einfalt und Umtriebigkeit Michels auf dem Hintergrund eines Querschnitts deutscher Ständegesellschaft; ders., Raabe, S. 142.
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hat. 425 Noch geläufiger ist die Darstellung dieses Problems in Jakob Michael Reinhold Lenz' Drama Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung (1772/73), dessen spezifisch deutsche Problematik Brecht 1949/50 zu einer Bearbeitung veranlaßt hat. Wie Lenz' flüchtiger Hauslehrer mit dem sprechenden Namen >Läuffer< sieht sich Raabes »Präzeptor« und »Landläufer« Michel Haas in seinem leidvoll-rastlosen Dasein als lehrender Domestik der strafenden Gewalt seiner Arbeitgeber ausgesetzt.430 Bei ihnen handelt es sich zumeist um adelige Haustyrannen, zu deren Töchtern er wie Lenzens Läuffer in Mesalliance steht. Aber auch Michels »Melanchoiey« 431 sowie die gesamte Tendenz der Erzählung zur tragikomischen, additiv-offenen Form und burlesk-krassen Darstellung ist zentralen Motiven und Formen der pietistisch beeinflußten Stürmer und Dränger verwandt. 432 Das patriarchalische, väterlich strafende Prinzip - nach dem Motto »Manneshand gehört oben« — wird dabei schon hier, im Michel Haas, anhand tyrannischer Absurditäten von Michels Brotherren karikiert: Sie laufen beispielsweise eher Gefahr, das ganze Haus in Brand zu stecken, bevor sie sich von der >Hausmutter< das Lampenöl verweigern lassen. 433 Diese Relativierungstendenz findet sich auch in einem weiteren Frühwerk Raabes, und zwar wiederum über ein zentrales Sturm-und-Drang-Motiv - den Kindsmord. In Unseres Herrgotts Kanzlei (1861) bezeichnet die nachreformatorische Zeit des historischen Hintergrunds den Beginn einer für die altdeutsche Vorstellungswelt wesentlich werdenden neuen Moral: Ungehorsamkeit gegenüber dem >pater familias« wird nicht mehr allein als ein Vergehen gegen die Tradition, sondern als eines gegen die göttliche Ordnung begriffen und dementsprechend geahndet. 434 Auch die sich allmählich durchsetzenden,
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StB: I 16/307: [Johann Heinrich J u n g - S t i l l i n g ] Heinrich Stillings J u g e n d , J ü n g l i n g s j a h r e und Wanderschaft. Eine wahrhafte Geschichte von ihm selbst erzählt, H a m b u r g 1904, »Wanderschaft«, S. 189ff. Auch Raabes Tagebuch verzeichnet - allerdings erst unter dem 2 7 . 1 0 . 1 8 8 3 - einen Eintrag zu Jung-Stilling (StA: H III 10 Nr. 159, T.2). BA 2 , 4 4 7 ; 4 7 3 u. 442fF. - Ludwig Fertig, Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz, Stuttgart 1979, S. 9 4 . Vgl.: BA 2 , 4 5 2 u.ö. sowie: Detering, Theodizee, S. 37f. Vgl. z u m gesellschaftskritischen Gehalt von Melancholie-Topos und Formproblematik im S t u r m - u n d - D r a n g - D r a m a : Gert Mattenklott, Melancholie in der D r a m a t i k des Sturm und Drang, Königstein/Ts. 1985 (S. 1 2 2 - 1 6 8 speziell zum »Hofmeister«) und: Johannes Werner, Gesellschaft in literarischer Form. H.L. Wagners »Kindermörderin« als Epochen- und Methodenparadigma, 1. Auflage, S t u t t g a r t 1977, S. 32ff. u. S. 48ff. sowie zum pietistischen E i n f l u ß : Kaiser, Pietismus, S. 14. — Auf die Sturm-und-Drang-Periode wird auch direkt in Raabes »Eulenpfingsten« hingewiesen (BA 11,429f.). V g l . : BA 2 , 4 6 2 u. 4 4 8 f . Vgl.: D ü l m e n , Frühneuzeitliches Europa, S. 193fF.
8l
monarchisch-absolutistischen Ordnungsmuster tragen jetzt zu einer besonderen Stärkung hausväterlicher Gewalt bei. 435 In Raabes Text findet sich dies durch die allumfassenden Vater-Instanzen Vater, Gott, Papst, Prediger, Kaiser, Kurfürst oder Söldnerführer verdeutlicht, in »jener Zeit strenger väterlicher Autorität«, wie auch vom Erzähler direkt betont wird. 4 3 6 Kirche und Staat befleißigen sich zudem einer allgemeinen Sittenkontrolle, welche Ehebruch und außerehelichen Verkehr hart bestraft. 437 Dieser historische Zusammenhang wird in Raabes Text noch durch die anachronistischen Züge bürgerlicher Vorstellungen von freier Partnerwahl und Liebesheirat verstärkt. 438 Durch die rigorose Behauptung väterlicher Autorität kann die konfliktreiche Trennung des Turmschützen Andreas Kritzmann von seiner schwangeren Braut Anna herbeigeführt werden. Allein gelassen und bedrängt vom mephistophelischen Nebenbuhler Adam Schwartze wird sie zu einem zweiten Gretchen, tötet in »Wahnsinn und Elend« ihr Kind und sehnt in ihrer Verwirrung noch im Kerker den Todesais ihren Hochzeitstag herbei. 435 Erinnert dies bereits deutlich an die Kerkerszene von Goethes Urfaust (1772-1775), so finden sich unterstützende Reminiszenzen an die Szene Vor dem Tor aus Goethes späterem, ersten Teil der Faust-Tragödie zu Beginn eben dieses Kapitels von Unseres Herrgotts Kanzlei-440 Im literarisch erinnerten Kindsmordmotiv scheint daher die Brisanz der (vorehelichen) Schwangerschaft Annas zu bestehen und nicht in ihrer daraus resultierenden Kennzeichnung als mütterlicher Figur. Letzteres konstatierte jüngst Irmgard Roebling, die in diesem Zusammenhang auch Annas 435 436
437 438
43> 440
A. a. O., S. 2 0 4 . Vgl.: BA 4 , 4 0 6 sowie: Roebling, Raabes doppelte B u c h f ü h r u n g , S. 4 3 . - Auf diese patriarchalische Stringenz führt auch Brent O. Peterson die Beliebtheit von Raabes Text bei konservativen protestantischen deutschen Amerika-Emigranten zurück. Sie lernten »Unseres Herrgotts Kanzlei« 1878 in einer noch trivialisierteren > Schwarz-Weiß «-Fassung der Zeitschrift »Die Abendschule« kennen. Vgl.: ders., Refunctioning History, Raabe Bowdlerized, or »Unseres Herrgotts Kanzlei« as an »Ethnic M y t h of Descent«, in: T h e German Q u a t e r l y 64 ( 1 9 9 1 ) 3, S. 3 5 3 - 3 6 7 . D ü l m e n , Frühneuzeitliches Europa, S. 2 0 1 . Dieses Verfahren widerspricht den streng historistischen Regeln von einer >unbedingten Kostümtreue auch für Seelenlagenbrüderliche< S ö l d n e r g e m e i n s c h a f t .
O b e r ihr s y m b o l i s c h
überhöhtes,
Kalbsessen, an d e m auch M a r k u s H o r n teilhaben kann,
ritualisiertes
finden
sich z u d e m
d i e >wahren B ü r g e r s k i n d e r < z u r » g e r e c h t e n « V e r t e i d i g u n g v o n
»Vaterstadt«
u n d »Vaterland« initiierend z u s a m m e n : D a s Vater-Sohn-Verhältnis hat sich a u f die politische wie konfessionelle E b e n e verlagert.449 Gerade diese unterordnende Anerkennung auf
allen
Ebenen
entspricht
einer
national
patriarchalischer
Autorität
reaktivierten,
altdeutschen
H a u s v a t e r i d e o l o g i e u n d ist n i c h t als b l o ß v e r k o m p l i z i e r e n d e
Verquickung
der K o n f l i k t e zu verstehen.450 Es führt jetzt auch a u f familiärer E b e n e Reumütigkeit u n d Vergebung von Markus' Vater herbei. Seine extrem überzogen dargestellte, »eisenherzige« Strenge wird a u f der Textebene
abschlie-
ß e n d z w a r ü b e r a n t i k e u n d b i b l i s c h e V e r g l e i c h e als e n t s c h i e d e n z u kritisiert.451
Zurückgeschraubt
auf
ein
>wackeres
Vater< auf das >Vater-LandVaterstuhl< in Beschlag, sondern weiß sich mit Vater Bodenhagen auch darüber einig,
453 454 455 456 457 458 459
BA E 4 . 2 7 2 . BA 1 2 , 1 0 9 ; 111 u. 113. BA 12,105. Ebd. Vgl.: BA 1 2 , 4 9 5 - 5 0 8 u. 509f. BA 1 2 , 1 1 8 . BA 1 2 , 1 2 5 ; 132; 116; 107f. u. 115f. - So bemerkt z. B. Siegfried Hajek zu Albrechts Charakter, der selbst dem gutwilligsten Leser einige M ü h e bereite: »Unterwürfiger, als es für einen iHelden« bekömmlich ist, fügt er sich unter das harte R e g i m e n t des alten Vaters, dessen Nachfolger er später werden wird«; ders., W i l h e l m Raabes Erzählung »Die Innerste«, in: J b R G 1977, S. 3 0 - 4 7 ; S. 4 5 u. S. 3 4 .
«5
wie das Söhnchen »traktieret sein muß«. 4 6 0 Insofern können sich auf semantischer Ebene gleichfalls häusliche wie öffentliche Zuordnungen verschieben, wenn z. B. vom »Kriegsrat« der Eltern die Rede ist, oder sich der Müller zur Ruhe setzt, indem er »das Regimente« abgibt, wie es aus der Figurenperspektive heißt. 461 Hier werden subtile Strukturverlängerungen sichtbar, die nicht allein als Ausdruck einer allgemein pessimistischen Lebenssicht eines >ewigen Krieges aller gegen alle< zu verstehen sind. 462 Auch der Rohrstock des Vaters findet nicht nur sein Äquivalent im Korporalsstock Jochen Brands, sondern, in letzter Instanz auf der politischen Ebene, im Krückstock des preußischen Feldherrn Friedrich des Großen. 4 6 3 Die Bezeichnung als alttestamentarischer »Stab Wehe« verweist gleichzeitig auf die religiöse Legitimationskomponente patriarchalischer Autorität. 4 6 4 Dieses Prinzip einer >Weitergabe des Stabes« wird auf der Textoberfläche zwar als vorbildliches Erziehungskonzept gehandelt, welches auch im metaphorischen Sinne die Räder der privaten ebenso wie der absolutistischen Staats- und Kriegs -Mühle erfolgreich in Gang halte: 465 Sic w u ß t e n im achtzehnten Jahrhundert, selbst in der rand- u n d bandlosesten Zeit des Siebenjährigen Krieges, immer noch in der richtigen Art und Weise mit den verlaufenen Herren Söhnen umzugehen, die Herren Väter. Sie hatten es gelernt von Seiner Königlichen Majestät in Preußen, Friedrich W i l h e l m dem Ersten, und waren imstande, Seine Majestät König Fritz den Zweiten als glorreiches Exemplum hinzustellen und sich des weiteren und breiteren darüber zu ergehen, d a ß der das hispanische Rohr selber fühlen müsse, welcher es einmal selber führen u n d andere, als z. B. die Kaiserin M a r i a Theresia und den französischen König Louis, fühlen lassen wolle. 4 6 6
Gerade durch die historisch distanzierte Erzählhaltung können hier jedoch Rezeptionswiderstände eingebaut werden, die den aufmerksamen Leser eben nicht zur unkritischen Akklamation einladen. Durch die bewußt übertreibende bzw. Ablehnung suggerierende Wortwahl des Erzählers wird
460 461 462
463 464 465
BA 12,122ff. BA 1 2 , 1 1 2 u. 148. Vgl. in diesem Sinne z. B.: Hajek, »Die Innerste«, S. 34ff. oder: Damaschke, »Krähenfelder Geschichten«, S. 164ff., der einen e g o i s t i s c h e n Lebenswillen« nach Schopenhauer verwirklicht sieht. Eine differenziertere Sicht bietet dagegen: Horst Denkler, »Da hat Antäus seine >alte Erde« wieder berührt...« Uber W i l h e l m Raabes und Eberhard Schlotters »Innerste«, in: J b R G 1990, S. 2 2 - 3 5 ; S. 3 0 . BA 12,129f. u. 115. BA 1 2 , 1 1 6 ; 5 1 6 u.ö. BA 1 2 , 1 2 3 u. 105- - Vgl. zu dieser negativen Konnotation staatlich-politischer Maschinerie in Raabes Werken auch die schnurrenden Räder der Bürokratie im »preußischen fridericianischen Uhrwerk« der »Gänse von Bützow« (BA 9/2,143) oder die Zustandsbeschreibung Deutschlands unter napoleonischer Fremdherrschaft als »Kaffeemühle« im Schoß der »Welthistorie« in Raabes »Siegeskranze« (BA 9/2,221). BA 1 2 , 1 1 5 ; vgl. in diesem Z u s a m m e n h a n g weiterhin: BA 1 2 , 1 1 9 u. 125.
86
das Verhalten der damalige Vätergeneration äußerst distanziert und kritisch registriert: Sie sei tatsächlich dazu >imstande gewesene, Friedrich den Großen zum »glorreichen Exempeh patriarchalischer Subordination als einer notwendigen Voraussetzung militärischer Erfolge aufzustellen. Darüber hinaus ist an späterer Stelle auch die hinter diesem Unterordnungs->Erfolg< stehende brutale Zurichtung und folgenreiche Persönlichkeitsbrechung Friedrichs des Großen durch einen Hinweis auf Küstrin, den Ort seiner Festungshaft, präsent. 467 Selbst von der Todesstrafe bedroht, wurde er hier von seinem Vater, dem sogenannten Soldatenkönig, gezwungen, der Hinrichtung seines Freundes Katte zuzusehen. Mit ihm zusammen hatte der junge Friedrich 1730 einen mißglückten Fluchtversuch — aus der Befehlsgewalt seines Vaters heraus - unternommen. In diesem Sinne entwirft Raabe in der Innersten also nicht nur ein Psychogramm des >Alten Fritznationalpädagogische< Bedeutung des historischen Romans im 19. Jahrhundert: Bucher [u.a.], Realismus, Bd. 2, S. 2 9 0 - 2 9 5 u. S. 489ff. - Vgl. zu Fontanes unterschwelliger patriotischer wie nationalkritischer Symbolik inzwischen auch: W u l f W ü l f i n g , Karin Bruns, Rolf Parr, Historische Mythologie der Deutschen 1 7 9 8 - 1 9 1 8 , M ü n c h e n 1 9 9 0 , S. 2 1 0 - 2 3 2 (zu »Stine« und »Effi Briest«),
90
sie in den historischen Texten - wie die Beispiele aus Unseres Herrgotts Kanzlei und Die Innerste gezeigt haben - durch eine im Erzählmedium betonte, geschichtliche Distanzabsicherung von Autor und Leser breiten Raum einnehmen. Sie gestatten maulwurfsarchäologische Einblicke in literarisch fixierte, deutsche Mentalitätsgeschichte. Wie vor allem das Beispiel des Männerbundsyndroms weiter zeigen wird, hat dies die >deutsche Sonderwegsethnopsychoanalytischen Prozeß< können - gerade auch im Medium der Literatur — gesellschaftlich produzierte, unbewußte Herrschaftsstrukturen in der Kultur aufgespürt werden. Als ihre Träger benennt Erdheim vor allem die initiatorisch wirkenden öffentlichen Erziehungsinstitutionen Schule, Universität oder Militär. 25 Meine Untersuchung zur Geschichte als Triebgeschichte in Raabes Werk wird sich diese Ansätze u. a. zunutze machen. Sie können in dem Bewußtsein eingesetzt werden, daß der literarische Text, wie Alfred Lorenzer es für eine sozialpsychologisch ausgerichtete Interpretationsmethode beschrieben hat, als eine »Schnittfläche in der >Dialektik von Individuum und Gesellschaft«« erscheint, wo »Unbewußtes [...] im Individuum sozial, Soziales [...] im Individuum unbewußt« wird. 2 6 Die seit den Anfängen der PsychoanaVgl.: Hans-Ulrich Wehler, Z u m Verhältnis von Geschichtswissenschaft u n d Psychoanalyse, in: ders. ( H g . ) , Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971, S. 9 - 3 0 ; S. 2 2 . Vgl.: Sebastian Goeppert, Über einige Schwierigkeiten der psychoanalytischen Kunst- u n d Literaturkritik, in: ders. (Hg.), Perspektiven psychoanalytischer Literaturkritik, Freiburg 1978, S. 4 2 - 5 3 . Vgl.: Klaus-Ulrich Pech, Kritik der psychoanalytischen Literatur- und Kunsttheorie, Frankfurt a . M . , Phil. Diss. 1977, S. 97ff. Heinrichs, Einleitung, S. 31. - Vgl. auch: Torsten Teichert, »Herzschlag außen«. Die poetische Konstruktion des Fremden und des Eigenen im Werk von Hubert Fichte, Frankfurt a . M . 1987. Erdheim, Exotismus, S. 2 6 3 u. S. 2 5 8 . M a r i o Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von U n b e w u ß t h e i t . Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1 9 8 2 , S. 7 - 4 0 . Bernd Urban, Alfred Lorenzers Konzept der Interaktionsformen innerhalb der Gegenstands- und Verfahrensproblematik psychoanalytischer TextinterpretaIOO
lyse wesentlich werdende Symbolforschung entwickelt Lorenzer für die psychoanalytische Literaturtheorie aus einer textuellen Spannung zwischen Resten frühkindlich-vorsprachlicher, utopiegeladener Protosymbole und symbolischer Interaktionsformen. Letztere transportieren bereits gesellschaftlich zeichenhaft lizensierte Lebensentwürfe. 27 Nicht so sehr die Deutung einzelner Symbole, sondern die hinter ihnen wirksamen Prozesse und Strukturen sollen hier im Vordergrund stehen. Darüber hinaus ist die beständige Möglichkeit eines diskursiven, subjektdezentrierten »Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten« 28 zu berücksichtigen. In einer so konzipierten Semiologie lautet die Grundfrage also nicht mehr »was bedeuten die Symbole?«, sondern »wie bedeuten sie?«25 Bereits Bachmann hatte die Möglichkeiten einer solchen, ethnologisch beeinflußten und kulturell ausgerichteten Auffassung von Symbolen an Raabes — allerdings dezidiert ethnologisch angelegtem - Abu Telfan aufgezeigt.30 Im Kontext der historisch-triebgeschichtlichen Komponenten in Raabes Texten wird im folgenden die mikrologische Vertiefung und Ausweitung dieses ethnologisch-literaturwissenschaftlichen Konzepts von Interesse sein. Damit ist nicht nur eine Anwendung auf Raabes nichtethnologische Texte gemeint, wie Bachmann es selbst gefordert hat. Sie spricht in Anlehnung an die ethnologischen Studien von Clifford Geertz, Michel Leiris u. a. auch davon, daß der literarische Text als ganzes - in Analogie zum Ritual — wie ein Modell funktioniere, an welchem Lebenspraxis mit allen ihren Ängsten abgearbeitet werden könne 31 — die Parallele zu Funktionsweisen der Psychoanalyse drängt sich auf. Darüber hinaus ist jedoch zu fragen, ob nicht sogar innerhalb von Raabes Texten literarische, politisch-nationale, historische, religiöse oder volkskulturelle Modelle ein-
t i o n , in: G o e p p e r t , Perspektiven psychoanalytischer L i t e r a t u r k r i t i k , S. 1 9 4 2 1 1 ; S. 2 0 2 f . - Vgl. zur R e z e p t i o n s g e s c h i c h t e sozialpsychologischer RaabeI n t e r p r e t a t i o n e n : Roebling, Raabes d o p p e l t e B u c h f ü h r u n g , S. 2 2 1 - 2 3 4 . A l f r e d Lorenzer, D e r G e g e n s t a n d psychoanalytischer T e x t i n t e r p r e t a t i o n , in: G o e p p e r t , Perspektiven psychoanalytischer L i t e r a t u r k r i t i k , S. 7 1 - 8 1 ; S. 77ff. Jacques Lacan, D a s D r ä n g e n des B u c h s t a b e n s im U n b e w u ß t e n o d e r die Vern u n f t seit F r e u d ( 1 9 5 7 ) , übers, v. N o r b e r t H a a s , in: J. L., S c h r i f t e n 1 - 3 , ausgew. u. hg. v. N . H „ Ö l t e n u. F r e i b u r g i.B. 1 9 7 2 - 1 9 8 0 , Bd. 2, S. 1 5 - 5 5 ; S. 3 6 ( E r s t v e r ö f f e n t l i c h u n g u.d.T.: L'instance de la lettre d a n s l ' i n c o n s c i e n t o u la rais o n d e p u i s F r e u d , in: J. L., Ecrits, Paris 1966, S. 4 9 3 - 5 2 8 ) . D a n Sperber, U b e r S y m b o l i k , übers, v. Eva M o l d e n h a u e r , 1. Auflage, F r a n k f u r t a . M . 1 9 7 5 , S. 7 9 ( E r s t v e r ö f f e n t l i c h u n g u.d.T.: Le s y m b o l i s m e en général, Paris 1974). B a c h m a n n , » D r i t t e Welt«, S. 33f. u. S. 5 2 (diese A u f f a s s u n g v o n S y m b o l weist d a m i t über das a n f a n g s a n g e s p r o c h e n e , e i n d i m e n s i o n a l literarhistorisch festgelegte S y m b o l v e r s t ä n d n i s Julia Kristevas h i n a u s ) . - Vgl. h i n s i c h t l i c h eines >ethnosemiotischen< Realismus a m Beispiel G o t t f r i e d Kellers inzwischen a u c h : M a r k Lehrer, Intellektuelle A p o r i e u n d literarische O r i g i n a l i t ä t . W i s s e n schaftsgeschichtliche S t u d i e n z u m d e u t s c h e n Realismus: Keller, R a a b e u n d F o n t a n e , N e w York, San Francisco [usw.] 1991, S. 1 5 - 5 0 ; S. 3 5 . B a c h m a n n , » D r i t t e Welt«, S. 45.
IOI
gesetzt sind. A n ihnen k ö n n t e sich auf d e m Hintergrund v o n repressiver Sexualmoral u n d d o m i n a n t e r M ä n n l i c h k e i t s k u l t u r im 1 9 . J a h r h u n d e r t eine subkutane A r t zu schreiben entwickeln, die den sensiblen Feldern erotischen Begehrens, seiner aggressiven A b w e h r 3 2 und ihrer beider E n g f ü h r u n g im Bereich v o n Krieg und Sexualität überhaupt erst zu einer Versprachlichung verhelfen w ü r d e . U m dies an Raabes Texten zu ü b e r p r ü f e n , kann es notwendigerweise nur d a r u m gehen, die »Ensemblewirkungen v o n
Ge-
schlechterrollen« 3 3 in den Blick zu b e k o m m e n . Dies ließ die Raabe-Forschung bislang vermissen, da sie sich hauptsächlich und d a d u r c h meist isolierend m i t Raabes Frauenfiguren beschäftigt hat. 3 4
Vgl. zu diesem Zusammenhang, auf dem Hintergrund eines sexuell codierten Angstbegriffs bei Schopenhauer, Kierkegaard und vor allem Freud: Denkler, Wohltäter Maienborn, S. 18ff. So lautet der produktive Vorschlag der Ethnohistorikerin Nathalie Zemon Davis, wiedergeg. bei: Friederike Hassauer, Gleichberechtigung und Guillotine: Olympe de Gouges und die feministische Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution. Eine Fallstudie in programmatischer Absicht, in: Ursula A.J. Becher u. Jörn Rüsen (Hg.), Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1988, S. 2 5 9 - 2 9 1 ; S. 268. Damit steht sie in der bundesrepublikanischen Forschungslandschaft allerdings nicht allein; vgl. im Unterschied dazu: Hanna Schissler, Männerstudien in den USA, in: GG 18 (1992) 2, S. 2 0 4 - 2 2 0 . Zum Männerbild in Raabes Werk gibt es so gut wie keine Untersuchungen, außer einem Ansatz von: Zdenko Skreb, Die Gestalt des jungen Mannes in Raabes Erzählwerk, in: JbRG 1975, S. 1 2 4 145. Dieses Stichwort fehlt daher auch in der bislang zweiten Auflage der Raabe-Bibliographie von Fritz Meyen (BA E l , 4 2 4 f . ) . - Dagegen hat sich die Bestimmung des Frauenbilds von Anfang an hauptsächlich mit der Frage befaßt, ob Raabes Frauenfiguren mit erotischen oder unerotischen Zügen ausgestattet seien. Die These von einer erotischen Konnotation ist inzwischen eindeutig in den Vordergrund gerückt. Als Beispiel für diesen Paradigmenwechsel in der Bewertung von Raabes Frauenfiguren soll hier exemplarisch die Rezeptionsgeschichte der Phöbe Hahnemeyer aus den »Unruhigen Gästen« (1884) nachgezeichnet werden. Diese im Text selbst als »lutherische Nonne« (BA 16,274) charakterisierte Krankenpflegerin und Pastorenschwester ist bis Ende der 60er Jahre in religiös betonter Lesart nahezu ausschließlich als entsagend-unerotische, ja graue Frauenfigur gesehen worden (vgl.: Adele Steinberg, Jugendliche Frauen bei Wilhelm Raabe, Bonn 1908 (masch.), S. 7f. Pongs, Raabe, S. 4 9 9 512. Gertrud Höhler, Unruhige Gäste. Das Bibelzitat in W i l h e l m Raabes Roman, Bonn 1969. Eine Ausnahme bildete: Karl Lorenz, Der Liebesroman Phöbes und Veits in den »Unruhigen Gästen«, in: Mitt. 11 ( 1 9 2 1 ) 3/4, S. 1 3 2 139). Walter Schedlinskys sozialgeschichtliche Arbeit von 1980 ist dann eine der ersten, die dem T h e m a der unterschwelligen Erotik in der Darstellung von Phöbes Beziehung zu Veit von Bielow breiten Raum gibt (ders., Rolle und industriegesellschaftliche Entwicklung. Die literarische Vergegenständlichung eines sozialgeschichtlichen Phänomens im Werk Wilhelm Raabes, Frankfurt a . M . 1980, S. 3 4 8 - 3 7 4 ) . In seinem Aufsatz über die idefekte Familie< bei Raabe beschwört Jeffrey L. Sammons 1985 zwar wiederum Raabes angebliches »gründliches Desinteresse an der Liebesthematik«, gesteht aber den »Unruhigen Gästen« ebenfalls einen »subtext of erotic attraction« zu, wie es dann in seiner zwei Jahre später erscheinenden Raabe-Monographie heißt (ders., Die defekte
102
Daß das Schreiben für Raabe wohl auch lebenspraktische Entlastungen herbeigeführt hat und psychotherapeutische Verfahrensansätze seinem Werk nicht fremd sind, darauf hat vor allem Horst Denkler hingewiesen. 35 In Raabes spätem Text Fabian und Sebastian werden dabei auch ganz direkt psychologische mit ethnologischen Kriterien verbunden. Denn hier ist explizit die Rede von einer »geheimnisvollefn] Kraft und Macht im Innern, welche der Mensch selber ist und die ihm doch wie etwas ihm Fremdes sich aufdrängt«. 36 Diese unentdeckten Regionen des Unbewußt-Triebhaften sind bereits lange vor Sigmund Freuds Metapher vom >dark continent< (hier der weiblichen Sexualität aus männlich-psychologischer wie kolonialistisch verstandener Sicht) zum Thema geworden. Eine frühzeitige Kritik von Bewußtsein und neuzeitlicher Subjektphilosophie wußte sich schon seit dem 17./18. Jahrhundert im exotisch-dunklen Bildbereich vom »wahrefn] innere[n] Afrika« als dem »ungeheure[n] Reich des Unbewußten« (Jean Paul) zu artikulieren. 37 Vor allem die deutschsprachige Philosophie des 19. Jahrhunderts muß als »letzte und wichtigste vorfreudianische Phase dieser Entdeckungsgeschichte« zur Kenntnis genommen werden, deren Einfluß auch Freud nicht völlig verleugnen konnte. 38 Einen Überblick dieser Entwicklung bietet z. B. der Metaphysik-Bestseller der Gründerzeit, Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten, dessen zweite Auflage von 1870 auch in Raabes Bibliothek nicht fehlen durfte. 39 Hartmann erwähnt neben Jean Paul u. a. Leibniz, Kant, Schelling, Fichte, Hegel, Herbart, Fechner, Carus und besonders Schopenhauer (zu ergänzen wären: Fortlage, Nietzsche und Lipps). 40 Sind hier bereits Anregungen für Raabes literarisiertes
Familie bei W i l h e l m Raabe und die Fiktion der alternativen Gemeinschaft, in: J b R G 1985, S. 2 7 - 4 3 ; S. 3 9 u. S. 31; ders., Raabe, S. 2 4 2 ) . Leo A. Lensing n i m m t diesen Ansatz 1988 auf u n d konkretisiert die erotische Dimension Phöbes durch einen Vergleich der »Unruhigen Gäste« mit Zolas »Nana«, wobei er an beiden Werken jetzt den Kampf zwischen Sexualität und Religion herausstellt (ders., Naturalismus, Religion und Sexualität. Zur Frage der Auseinandersetzung mit Zola in W i l h e l m Raabes » U n r u h i g e Gäste«, in: J b R G 1988, S. 1 4 5 - 1 6 7 ; S. 159). Diesen Z u s a m m e n h a n g erweitert Detering 1990 für seine D e u t u n g der »Unruhigen Gäste« als allegorischem Text (ders., Theodizee, S. 9 2 - 1 4 0 ) . 35
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38 39
40
Vgl. zu Beispielen selbsttherapeutischen Sich-Frei-Schreibens, nicht nur auf sexuellem Gebiet: Denkler, Raabe, S. 181 u. S. 206f. BA 1 5 , 1 2 2 (Hervorh. v. mir). V g l . hierzu die ausführliche Einleitung von Ludger Lütkehaus zu der von ihm herausgegebenen Textanthologie: »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entd e c k u n g des U n b e w u ß t e n vor Freud, Frankfurt a . M . 1989, S. 7 - 4 5 ; S. 7f. A. a. O., S. 19; S. 9; S. 3 3 u. S. 4 4 . A. a. O., S. 38f. Bänsch, Bibliothek Raabes, S. 140. - Vgl. zur Genese des Freudschen Begriffs vom »Es« in Hartmanns Philosophie wie zu seinen A n k l ä n gen in Raabes späten Texten »Vom alten Proteus« und »Kloster Lugau«: Damaschke, »Krähenfelder Geschichten«, S. I48ff. W i e d e r g e g . bei: Lütkehaus, »Dieses wahre innere Afrika«, S. 1 7 0 - 1 9 1 . 103
Interesse an der »terra incognita« des Unbewußten zu finden,41 so erhält selbst Raabes Zeitgenossenschaft zu den Erkenntnissen Sigmund Freuds einen späten, konkreten Bezug. Beschäftigte sich Freuds erste literarische Anwendung der Psychoanalyse doch mit Wilhelm Jensens Novelle Gradiva. Hier faszinierte Freud vor allem die archäologische Einkleidung psychischer Verdrängungsprozesse, die das Seelische zugleich unzugänglich machen, aber auch konservieren. Freuds 1907 erschienener, tiefenpsychologischer Deutung schloß sich sogar ein persönlicher Briefwechsel mit dem Autor, einem langjährigen Freund Raabes, an. In diesem reagiert Jensen zwar nicht gerade »unwirsch«, aber doch reichlich irritiert auf Freuds Interpretation wie seine entstehungsgeschichtlichen Nachfragen. 42 Auch Raabes eigene Vita soll in diesem Zusammenhang nicht völlig ausgeklammert werden, weil sie einige Besonderheiten aufweist. So ist die enge Beziehung des verheirateten Raabe zu Marie Jensen, der Frau von Raabes oben erwähntem Schriftstellerkollegen Wilhelm Jensen, schon früh auf Interesse in der Raabe-Forschung gestoßen. 43 Erst von Horst Denkler ist sie jedoch im Sinne eines zwar ernsten, aber schließlich doch umgangenen Triebkonflikts mit seinen möglichen poetologischen Konsequenzen interpretiert worden. 44 Noch folgenreicher für meine Untersuchung wird sich aber Raabes matriarchal geprägte Individuation nach dem frühen Tod des Vaters — Raabe war gerade mal vierzehn Jahre alt — erweisen.45 Sie scheint zunächst quer zur patriarchalisch ausgerichteten Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu stehen. Wird auf die Krisensymptome gegen Ende der Epoche doch gerade durch eine martialisch-männliche Hypertrophierung reagiert. 46 Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob sich dieser Gegensatz in Raabes »Psychopoetik«47 tatsächlich als eine >Spaltung< einschreibt, über welche die patriarchalische Gesellschaft mit mütterlich-weiblichen Gegenbildern konfrontiert wird. Dies hatte Irmgard Roebling für Raabes Spätwerk festgestellt. Auch in meiner Arbeit konnte dieser Ansatz in natio-
So auch H a r t m a n n s Bezeichnung; vgl.: a. a. O., S. 170. Jensens drei Briefe von Mai und Dezember 1907 sind abgedruckt in: Die psychoanalytische Bewegung 1 (1929) 3, S. 2 0 7 - 2 1 1 ; S. 207. Vgl. z. B.: Else Hoppe, Wilhelm Raabe und Marie Jensen, Mythos einer Freundschaft, in: JbRG 1966, S. 2 5 - 5 7 . Denkler, Raabe, S. 102ff. Denkler spricht von Raabes regelrechter »Mutterfixierung« bis über ihren Tod hinaus: a. a. O., S. 95 u. S. 97. Vgl. dazu: Nicolaus Sombart, T h e Kaiser in bis Epoch: some Reflexions on Wilhelmine Society, Sexuality and Culture, in: John C. G. Röhl u. N. S. (Hg.), Kaiser Wilhelm II. New I n t e r p r e t a t i o n , Cambridge, London [usw.] 1982, S. 2 8 7 - 3 1 1 ; z. B.: S. 294. So Eberhard Rohses Bezeichnung auf dem Berliner Raabe-Kongreß von 1987, welcher sich erstmals ausführlich mit diesem T h e m a auseinandergesetzt hat; vgl.: Hans-Jürgen Schräder [u.a.], Protokoll vom Berliner Kongreß zur RaabeForschung, in: JbRG 1988, S. 2 1 1 - 2 5 2 ; S. 239. 104
nalen Kontexten bis jetzt bestätigt werden. Muß darüber hinaus aber nicht überprüft werden, inwieweit sich — innerhalb der begrenzten Mann-FrauStereotypen - bei einer gleichzeitigen, unterschwellig weiblichen Codierung gerade exklusiv männliche Refugien herausbilden? An erster Stelle wäre hier z. B. an die vielfältige Ausbildung von Männerbünden zu denken. Es erscheint daher sinnvoll, die mentalitätsgeschichtlichen Untersuchungen zum >deutschen Sonderweg« vom Ende des ersten Teils dieser Arbeit durch neuere psychoanalytische Ansätze zur Geschlechteridentität und -differenzierung (>gender studies«) zu ergänzen. Sie gehen u. a. von einer >Objektbeziehung der Triebe< aus. So versteht Peter Zagermann seine Neudefinition von Freuds umstrittener Theorie des divergierenden Verhältnisses von Lebens- und Todestrieb. 48 Die Beziehung zwischen Eros und Thanatos wird bei Zagermann von ihrer biologisch fragwürdigen Anbindung befreit und erscheint als ein psychischer, objektbezogener Triebdualismus des Ichs. Das prägende und ersehnte >Objekt der Objekte« bildet die Mutterimago. Im Vordergrund von Zagermanns Untersuchungen stehen Stabilität und Objektablösung des Ichs, so daß die bislang negativ belegten Imagines des «kastrierenden Vaters« bzw. der «verschlingenden Mutter« gerade in ihrer positiven Funktionsweise erkannt werden können: sie schützen vor «tödlichen« Tendenzen der Objektverschmelzung und Ich-Auflösung. 49
2.
Krieg und Sexualität
2.1
»[...] wir sind daheim, sind wieder unter uns!« 5 0 Krieg und M ä n n e r b u n d
Antinapoleonische Kriege als «Geburtsstunde« deutscher Nationalbewegung; Deutsch-Französischer Krieg als militärischer «Geburtshelfer« des kleindeutschen Nationalstaats - ähnlich wie die amerikanische Nationalstilisierung vom «Land, das einst mit dem Gewehr erschlossen wurde«,51 scheint auch die deutsche Nationalidentität im 19. Jahrhundert durch das Z a g e r m a n n , Eros (wie A n m . 3 6 8 des ersten Teils). — V g l . darüber hinaus: Irene Fast, Von der Einheit zur Differenz. Psychoanalyse der Geschlechtsidentität, Heidelberg 1 9 9 2 sowie: Harriet G o l d h o r Lerner, D a s mißdeutete Geschlecht. Falsche Bilder der Weiblichkeit in Psychoanalyse und Therapie, Zürich 1 9 9 1 . V g l . zur B e d e u t u n g von Z a g e r m a n n s T h e s e n auch das aufschlußreiche Vorwort von Chasseguet-Smirgel, S. I X - X I X . Aus Raabes Vereinsmaterialien (StA: H III 10 Nr. 28,111; St.2, S. 14). V g l . : Lynne B. Iglitzin, War, Sex, Sports and Masculinity, in: Lancelot L. Farrar jr. ( H g . ) , War. A Historical, Political, and Social Study, Santa Barbara, California ( U S A ) , O x f o r d (England) 1978, S. 6 3 - 6 9 ; S. 6 5 u. S. 6 7 sowie zur heutigen, waffenenthusiastischen «gun culture« Amerikas, die sich immer noch a u f diesen Mythos beruft: Rolf Kunkel, Wo die Welt noch in Schuß ist. Sieben T a g e in der Woche Feuer frei: Ein Besuch in Amerikas bekanntestem Waffengeschäft, in: D I E Z E I T 4 6 ( 8 . 1 1 . 1 9 9 1 ) , S. 94.
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Ereignis des Krieges entscheidend geprägt w o r d e n zu sein. 5 2 Dies ist nicht o h n e A u s w i r k u n g e n auf die Bildung eines Männlichkeitsideals geblieben, dessen virile Maskulinität seit den Kriegen gegen Napoleon in den m ä n n e r bündischen Vereinen der Turner, Schützen oder Burschenschaften weitergepflegt w u r d e . 5 3 Ausgelöst v o n den Dichtungen Klopstocks, etablierte sich bereits im 1 8 . J a h r h u n d e r t ein m ä n n l i c h - e m p f i n d s a m e r Freundschaftskult in literarischschwärmerischen >BündenHerrendiskursesNegativ< ständig anwesend sein lassen.« ( W i l h e l m Salber, Zur Psychoanalyse von M ä n n e r b ü n d e n (Morphologie von Brüderlichkeit), in: Völger/Welck, M ä n n e r b ü n d e , Bd. 1, S. 4 1 4 7 ; S. 4 6 ) . Ein bizarres Beispiel bot dafür in neuerer Zeit ein Fernsehgespräch zwischen dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und dem Soziologen Alfons Silbermann, das am 1 2 . 6 . 1 9 9 2 im regionalen Abendprogramm Nord 3 der Reihe »Vis ä Vis« ausgestrahlt wurde. Ohne die Institution des Talkmasters im H i n t e r g r u n d gefielen sich die beiden darin, einander gegenseitig die kulturelle Insuffizienz >der Frau an sich< zu bestätigen. Statt Frauen konsequenterweise zu ignorieren, bildeten sie also das i T h e m a Nr. 1< über die gesamte Redezeit.
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herrückt, was zu folgender, zweideutiger Reaktionsbeschreibung führt: »da versagte der ungarische Humor, da ward das Schwänzle [=Spitzname des Mitglieds August Rincklake; J. B.] klein«. 63 Einer völligen Auflösung der Männerrunde kann allerdings durch einen neuerlichen Frauenausschluß erfolgreich begegnet werden. Die >Heimkehr< in den gleichgeschlechtlichen Kreis gestaltet sich zudem - wie die Uberschrift des Berichts zeigt — im sprachlichen Bildbereich eines mannmännlichen Geburtsvorgangs. Auf dieses paradox erscheinende, männerbündische Merkmal wird später noch zurückzukommen sein. Eine ausschließlich »männliche Art« wurde darüber hinaus als Dogma politischer Auseinandersetzung ausgegeben. 64 Sie bezieht sich im nationalstaatlich »verspätetem Deutschland des 19. Jahrhunderts vor allem auf nationale Diskurse. In dem Maße wie der Nationalismus — nach den exklusiv männlichen Kriegserlebnissen - emotional aufgeladen, ästhetisiert und ritualisiert wird, wächst ihm jetzt die Möglichkeit zu, Erotik und Sexualität zu transzendieren, während Frauen gleichzeitig ausgegrenzt werden. Die nationalpolitischen, männerbündischen Strukturen, die sich in der Folgezeit verfestigen, erfahren 1902 sogar eine pseudo-wissenschaftliche Untermauerung durch das Buch Altersklassen und Männerbünde des Ethnologen Heinrich Schurtz. Seine fragwürdige Theorie eines ethnologisch-anthropologisch festgelegten Geschlechterdualismus versteht sich als Widerlegung der mutterrechtlichen Theorien Johann Jakob Bachofens. 65 Schurtz verweist die Frau auf ihre >naturgegebenen< Bereiche Geschlecht, Emotionalität, Haushalt und Familienleben, während der Mann, »dem rein geselligen Dasein, das Gleiches mit Gleichem zu erhöhter Kraftentfaltung und gesteigertem Lebensbewußtsein vereinigt, aus seinem innersten Wesen her-
63
StA: H III 10 Nr. 28,111; St.2, S. 1 1 - 1 4 ; S. 12f. Hahne, Kleidersellerbüchlein, S. 2 7 . - Auch in der Benutzung des Plattdeutschen durch den Braunschweiger Verein »Buerschaft von Kreyenfelde«, d e m Raabe seit 1870 angehörte, sieht Herbert Blume nicht zuletzt eine Fluchtmöglichkeit aus der Prüderie des späten 19. Jahrhunderts. Über den ländlich geprägten Dialekt, mit dem sich (angebliche) bäurische Grobheit und Freizügigkeit assoziieren ließ, konnte sich Obszön-Zotiges aus der Analsphäre in Wort, Bild und theatraler Aktion artikulieren. In der städtisch-beruflichen Alltagswelt der Klubmitglieder unterlag dies sonst einer (hoch)sprachlichen Tabuisierung. Vgl.: ders., Niederdeutsch zwischen Lebensform und Kostüm. Funktionen des Dialekts in W i l h e l m Raabes Freundeskreis »Die Bauernschaft vom Krähenfelde«, in: Blume/Rohse, Literatur in Braunschweig, S. 323—343; S. 331 f.
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Diese Ansicht vertrat 1866 z. B. auch der Liberale (sie) H e r m a n n B a u m g a r t e n in e i n e m Brief an Treitschke - ein Jahr nach der G r ü n d u n g des »Allgemeinen Deutschen Frauenvereins« durch Luise Otto-Peters; wiedergeg. bei: Bröhan, Darstellung der Frau, S. 4 0 . — Vgl. zur politischen Machtverflechtung m ä n n e r bündischer Strukturen bis ins 20. Jahrhundert, g e m ä ß d e m kölschen Nachkriegsmotto Konrad Adenauers »Meer kenne uns, meer helfe uns«: Völger/ Welck, M ä n n e r b ü n d e , Bd. 1, S. XVIII u. S. XXVf. Heinrich Schurtz, Altersklassen und M ä n n e r b ü n d e . Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft, Berlin 1902, S. V.
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aus huldigt und die Liebe zum Weibe als Episode betrachtet«. 6 6 Schurtz' Buch blieb lange Zeit unwidersprochen - paßte es sich doch nahezu perfekt in die männliche Vorstellungswelt des wilhelminischen Bürgertums ein. Es prägt den Terminus >MännerbundMann< und >MenschMännerbundsyndrom< als ein wesentlicher Faktor deutscher Nationalentwicklung 7 3 — unter diesem mentalitätsgeschichtlichen Blickwinkel erhält
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A. a. O., S. 2 1 . Vgl.: Völger/Welck, M ä n n e r b ü n d e , Bd. 1, S. XXIII. Hans Blüher, Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, 3 Teile; T.3: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion, Berlin 1912. Vgl. dazu: Julius H . Schoeps, Sexualität, Erotik und M ä n n e r b u n d . Hans Blüher und die deutsche Jugendbewegung, in: Knoll/Schoeps, Typisch deutsch, S. 1 3 7 - 1 5 4 . - Röchling, die Raabes Spätwerk erstmals auf dem H i n t e r g r u n d der Jugendemphase um die Jahrh u n d e r t w e n d e liest, geht auf diesen dritten Teil von Blühers »Wandervogel«Studie bezeichnenderweise nicht ein. Dadurch gerät die J u g e n d b e w e g u n g bei ihr zum eindimensionalen Gegenbild einer patriarchalisch dominierten Kultur. V g l . : dies., Raabes doppelte B u c h f ü h r u n g , S. 2 3 6 u. S. 209ff. Vgl.: Jürgen Reulecke, Das J a h r 1902 und die Ursprünge der M ä n n e r b u n d Ideologie in Deutschland, in: Völger/Welck, M ä n n e r b ü n d e , Bd. 1, S. 3 - 1 0 ; S. 7. Diese Sicht vertreten vor allem: Mosse, Nationalismus, S. 100 sowie: Sombart, Kaiser, S. 305ff.; ders., M ä n n e r b u n d , S. 167ff. Hassauer, Gleichberechtigung, S. 2 7 3 . Theweleit, M ä n n e r p h a n t a s i e n , Bd. 2, S. 3 2 8 u. S. 3 3 0 . Sombart, M ä n n e r b u n d , S. 172. — Mosse zeigt zwar einige Parallelen zur Entwicklung des britischen Empires auf (ders., Nationalismus, S. 104f.);
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a u c h d i e v o n R a a b e m e h r f a c h zitierte nationalliberale S c h i l l e r - F o r m e l v o m >einig e i n z i g e n , ewigen Brüdenolk
einzig, ewigen Willi< v o r g e n o m m e n w o r d e n , w i e es in bewußter A b w a n d l u n g d e s S c h i l l e r - M o t t o s h e i ß t . 7 5 U m g e k e h r t w i r d g e r a d e die E r o t i s i e r u n g des exklusiv m ä n n l i c h e n , n a t i o n a l p o l i t i s c h e n D i s k u r s e s a u f g e z e i g t . S o f i n d e t sich eine » i n n i g e , j u g e n d f r i s c h e B r u d e r s c h a f t « einer » F l u t v o n Vaterl a n d s - [ . . . ] H i n g e b u n g u n d - B e g e i s t e r u n g « ausgesetzt: Alles war für eine schöne Minute innige Männerfreundschaft, vaterlandsaufopferungssehnsüchtige Rührung, zärtliches Händedrücken zwischen den Stühlen. 7 6 In dieser A t m o s p h ä r e v e r f l ü c h t i g t sich d i e Frau nicht berechtigte
Diskussionspartnerin.
Sie wird
speziell
in
nur ihrer
als
gleich-
erotischen
E i g e n s c h a f t , »als m a n n b a r e J u n g f e r , als n o c h heiratsfähige j u n g e W i t w e « , zur » N i c h t i g k e i t — g a n z u n d gar nicht v o r h a n d e n « . 7 7 Statt d e s s e n w i r d in d e r h i s t o r i s c h - n a t i o n a l e n S e m a n t i k der v o n R a a b e n a h e z u
wortwörtlich
ü b e r n o m m e n e n p o l i t i s c h e n R e d e n der C o b u r g e r N a t i o n a l v e r e i n s - T a g u n g 7 8 D e u t s c h l a n d jetzt stellvertretend zu e i n e m erotisch u n g e f ä h r l i c h e n , weiblic h e n Ideal stilisiert. D e r n a t i o n a l p o l i t i s c h bewegte M a n n k a n n sich so einerseits in d i e v e r a n t w o r t u n g s v o l l e Rolle des S o h n e s seiner » M u t t e r G e r m a nia« g e g e n ü b e r b e g e b e n , 7 ' sich andererseits aber a u c h in der R o l l e d e s L i e b habers wähnen:
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besonders stark sind männerbündische Strukturen und Vorstellungen jedoch im national >verspäteten< Deutschland ausgeprägt; vgl.: Sombart, Kaiser, S. 305 u. S. 310; Anm. 6. Friedhelm Henrich, »Wunsiedel und die Gründung des Deutschen Nationalvereins«. Polarität und Komplexität in Wilhelm Raabes »Gutmanns Reisen«, in: J b R G 1991, S. 6 - 3 2 ; S. 27ff. BA 18,365. BA 18,313; 370 u. 281. BA 18,313. Vgl.: BA 18,468 u. 494. BA 18,360. Das Zitat ist hier dem Redner Unruh aus Berlin entnommen. Vgl. zum Germaniabild als Braut und Mutter: Mosse, Nationalismus, S. 115 sowie zu diesem deutschen Nationalstereotyp der passiven Frau im 19. Jahrhundert generell: Gerhard/Link, Anteil der Kollektivsymbolik, S. 45. IIO
Ziemt es sich, d a ß die Braut u m den Bräutigam werben m u ß , ohne d a ß dieser nur mit einem Zeichen zu verstehen gibt, daß er die Braue begehre? Ist Deutschland nicht wert, d a ß der Freier um es werbe? 8 0
Dieses Zitat ist der Rede des Frankfurter Advokaten Braunfels entnommen. Es enthält Raabes einzige größere Abweichung vom Protokoll der Coburger Generalversammlung. Während Deutschland im Originalzitat gleich zu Beginn mit einer sakralisierten >hohen Braut« in eins gesetzt wird, 8 1 erreicht Raabe dagegen eine Abkopplung des öffentlichen, nationalpolitischen vom privaten Liebesdiskurs. Indem Raabes Text das bereits festgefügte Deutschland-Braut-Symbol auf die Ebene eines Vergleichs zweier, gleichberechtigt nebeneinander existierender Bereiche zurückführt, kann das metaphorische Liebesmotiv aus dem politischen Kontext entbunden und statt dessen in eine wirkliche Liebeshandlung umgesetzt werden. Gerade dieses »zierliche[ ] Gleichnis« führt im folgenden nämlich zu Wilhelms Verlassen der Vereinsversammlung, um Klotilde - in der Umkehr national-erotischer Zuschreibungen - über seine pseudohistorische Darstellung habsburgischer Heiratspolitik einen wirklichen Heiratsantrag zu machen. 82 Dadurch ist wieder ein ironischer Brückenschlag zwischen Liebe und Nationalpolitik ausgeführt: Als Österreicher wird Wilhelms anfänglicher Nebenbuhler Alois Pärnreuther schließlich sowohl zum privaten wie auch — durch die Entscheidung des Deutschen Nationalvereins für die kleindeutsche Lösung zum politischen Verlierer. 83 >Verlierer< sind am Ende von Gutmanns Reisen, trotz der dort erkannten Männerbundstrukturen, aber auch die Frauen. So mündet gerade die Dominanz des Familiär-Privaten in eine Absage an ein weibliches Engagement in der Öffentlichkeit. Nicht als >heroische Heldenweiber< sollen Frauen agieren, sondern ihre eigentlich politische Rolle in der Haushalts->Führung< erfüllen8"* — frei nach dem Motto »Das Weib und der Ofen sollen im Hause bleiben«. 85 Als letztes >Kampfinstrument< bleibt ihnen lediglich die Herr-
BA 18,320. Vgl. BA 18,494: »Ist es schon vorgekommen, ziemt es sich, daß Deutschland, die hohe Braut, um den Bräutigam werben m u ß [...]«. BA 18,320ff. u. 338ff. V g l . dazu, unter Betonung der politischen Komponente: Dieter Kafitz, Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung. Dargestellt an Romanen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Freytag Spielhagen Fontane Raabe), 1. Auflage, Kronberg/Ts. 1978, S. 209f. sowie: Dietmar Schirmer, Raabes Bild des Politischen. Beitrag zu einer politischen Metaphorologie. Vortrag vor dem Raabe-Gesprächskreis Berlin v. 1 7 . 2 . 1 9 9 3 in der Stadtbibliothek W i l m e r s d o r f (Veröffentlichung in Vorbereitung). BA 18,393. So lautet das M o t t o bei: M a t h i l d e Reichardt-Stromberg, Frauenrecht und Frauenpflicht. Eine Antwort auf Fanny L e w a i d s Briefe »Für und wider die Frauen«, 3., durchges. Auflage, Leipzig 1883. Das Buch befindet sich in Raabes Bibliothek (StB: I 16/494). - Vgl. zum ambivalenten Verhältnis Raabes zur Frauenfrage: Denkler, Raabe, S. 125f.: Theoretisch stand Raabe den zeitgenösIII
schaft über den Hausschlüssel. 86 Dieses bei Raabe häufige Motiv dient übrigens auch Schurtz in seiner Männerbund-Stud\e als komischer Gipfel deutscher Geschlechterauseinandersetzung »zwischen Stammtisch und Familienleben«. 87 Doch selbst aus diesem Terrain werden die Frauen in Raabes Text ja vertrieben, wird ihnen »hinterm Rücken mitgespielt«: Die Ehestiftung, die >Familienpolitik< also, findet gerade nicht unter den Argusaugen der mütterlich-matronenhaft gezeichneten >Hausdrachen< Lina Gutmann und Liane Blume statt, sondern auf dem Hintergrund der männerdominierten Nationalvereinstagung. 88 Der matriarchale Bereich kann seit Mitte des 19. Jahrhunderts zwar als Krisenausdruck der Moderne dem patriarchalischen Prinzip ausgleichend gegenübergestellt werden. 8 9 Die in Gutmanns Reisen anklingende Nachtseite dieser Aufwertung, die auch in Roeblings Untersuchung ausgespart bleibt, 9 0 besteht jedoch in einer weiteren Zementierung des Geschlechterdualismus. Um den matriarchalen Mythos als Gegenpol zu fortschrittsimmanenten Mängeln, wie dem Verlust an Uberschaubarkeit, der beginnenden Umweltzerstörung oder der Verelendung weiter Bevölkerungsteile, wirksam werden zu lassen, durfte der Aufgabenbereich der Frau gerade nicht als rationale Verdienstarbeit erscheinen. Er wurde statt dessen zum unmittelbaren, naturhaft-irrationalen »Output ihres Trieb- und Gefühlslebens« 91 stilisiert. Diese Abkopplung von jeglicher sozialer Erfahrung und öffentlicher Wirkung führte paradoxerweise sogar zu einer biologischen Ablösung matriarchaler Ideale. Das wird am Beispiel der Entwicklung weiblicher Sozialarbeit in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts deutlich: leitende Positionen können selbst hier nicht von Frauen ausgeübt werden,
sischen — nicht nur im konservativen Lager beheimateten - Ansichten von einer Aufwertung (wie Reduzierung) der Frauen auf den privaten Haushaltsbereich nahe, da das weibliche Wesen sich nun mal auf eine »Dependenr der Eierstöcke« reduziere. Dies ist auch die einhellige Meinung der politischen Gegner Treitschke und Virchow (wiedergeg. in: Thomas Sandkühler, Hans-Günter Schmid, »Geistige Mütterlichkeit« als nationaler Mythos im Deutschen Kaiserreich, in: Link/Wülfing, Nationale Mythen, S. 2 3 7 - 2 5 5 : S. 241; Anm. 17. Vgl. zu Raabes Äußerungen in diesem Zusammenhang: B A E 4 , 1 8 7 ) . Denkler verweist jedoch auf tolerant-fortschrittliche Abweichungen innerhalb Raabes eigener Lebenspraxis, die sich nicht zuletzt in der Finanzierung einer Berufsausbildung für seine Töchter Margarethe und Klara niedergeschlagen haben. 86 87
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91
Vgl.: BA 18,415. Schurtz, Altersklassen, S. 21. In diesem einleitenden Kapitel über »Natürliche u n d künstliche Gesellschaftsteilung« zitiert Schurtz sogar direkt aus Raabes »Abu Telfan« (S. l l f . u. S. 21). BA 18,4l0ff.; 216 u. 226. Vgl.: Sandkühler/Schmid, »Geistige Mütterlichkeit«, S. 238; S. 242f. u. S. 254. Vgl.: Roebling, Raabes doppelte Buchführung, S. I47ff. sowie Verena EhrichHaefelis Rezension zu Roeblings Studie, die hier ebenfalls Einseitigkeit konstatiert (JbRG 1990, S. 154-163; S. 161). Heidemarie Bennent, Galanterie und Verachtung. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur, Frankfurt a.M., New York 1985, S. 28.
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weil dies dem öffentlichkeitsabgekehrten Weiblichkeitsmythos widersprechen wurde. 92 Um überhaupt eine Ablösung der Frau vom engsten Familienbereich zu legitimieren und eine sozialberufliche Emanzipation zu erreichen, hatte sich die national engagierte bürgerliche Frauenbewegung vor der Reichsgründung dem Ideal einer beruflich orientierten »geistigen Mütterlichkeit< verschrieben. Dies bot zu Beginn des 20. Jahrhunderts nunmehr Männern die Möglichkeit, dieses abgelöste Ideal für sich selbst zu vereinnahmen, statt sogenannten >Mannweibern< das Feld zu überlassen. Erst im Männerbund, der sowohl männliche wie weibliche Potenzen für sich in Anspruch nimmt, könne diese Idee ihre wahre Entfaltung im Hinblick auf das Ideal eines »mütterlichen Führer[s]« erleben. 93 Damit ist die soziale »Selbsterfindung des Mannes« - unter nachträglichem Ausschluß der gebärenden und erziehenden Frau - perfekt, ähnlich wie es in außereuropäischen Initiationsritualen durch symbolische, mannmännliche Zeugungs- und Geburtsinszenierungen vollzogen wird. 94 So bleibt im geschützten Binnenraum des Männerbunds die identitätsgefährdende Symbiose mit der idealisierten Imago der >guten Mutten erhalten, während ihre beängstigende, verschlingende, aber gerade identitätserhaltende Kehrseite abgespalten und bekämpft werden kann. 95 Diesem Phänomen wird im folgenden entlang der Verbindungslinien von Krieg und Sexualität in Raabes Texten weiter nachgegangen, die hier wahrhaft maulwurfsarchäologisch in verschüttete Tiefen vorstoßen.
2 . 2 Krieg u n d Leidenschaft Die Kriegsarmee den erregenden und ermutigenden Reizen weiblicher Leidenschaft zugänglich zu machen — diese zunächst ungewöhnlich anmutende Forderung stellt zu Beginn des 19. Jahrhunderts der französische General Joseph von Rogniat in seinen Considérations sur l'art de la guerre
Vgl.: Sandkühler/Schmid, »Geistige Mütterlichkeit«, S. 243ff. A. a. O., S. 249f. - Vgl. darüber hinaus zur These vom deutschen Faschismus als Mutterideologie: Helm Stierlin, Adolf Hitler. Familienperspektiven, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1975, S. 5 0 - 8 7 ; Nicolaus Sombart, M a x Weber und Otto Gross: Z u m Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Eros im wilhelminischen Zeitalter, in: ders., Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse, M ü n c h e n , Zürich 1987, S. 2 2 - 5 1 ; S. 44ff.; M a n f r e d Pohlen, Zu den Wurzeln von Gewalt. Ein psychoanalytischer Beitrag zur Genealogie der Gewalt der Familie und zur Genealogie des Faszinosums des Faschismus, in: Peter Passett u. Emilio M o d e n a (Hg.), Krieg und Frieden aus psychoanalytischer Sicht, Basel u. Frankfurt a . M . 1983, S. 1 3 2 - 1 9 7 ; Chasseguet-Smirgel, Vorwort, S. XVff.; Rohrbacher/Schmidt, Judenbilder, S. 389ff. Sombart, M ä n n e r b u n d , S. 163. - Wolfgang Lipp, M ä n n e r b ü n d e , Frauen und C h a r i s m a . Geschlechterdramen im Kulturprozeß, in: Völger/Welck, M ä n n e r bünde, Bd. 1, S. 3 1 - 4 0 ; S. 32f. Sombart, M ä n n e r b u n d , S. 164.
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auf. 9 6 Daß der Ausnahmezustand des Krieges als ein Drama der Leidenschaften erscheinen kann, dem Rogniat einen ganzen Katalog anregenswerter Affekte widmet, ist wiederum eine Folge der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege. 97 Die Revolutionierung des Kriegsund Heerwesens führt vermutlich erstmals in der Geschichte zu einer Emotionalisierung, Erotisierung und Schreckens-Ästhetisierung des Kriegsgeschehens, was sich vor allem in der Literatur zwischen Romantik und Realismus fortschreibt. 9 8 Statt gedungener Söldnersklaven erlaubt die patriotische Bindung des jeweiligen Volkes an seine Nation jetzt den Masseneinsatz von Soldaten, deren individuelle Leistung zu Auszeichnung und Beförderung führt. Gerade die Struktur des frühen deutschen Nationalismus besteht zudem aus einer kriegerisch-emphatischen Konstituierung gegenüber einem Feindbild. So stellt es sich ja auch in der Bebilderung antithetisch erzählter Fiktionen der nationalen Populärmythen dar (Siegfried gegen Hagen, Hermann gegen Varus usw.). 99 Raabes historische Werke handeln nahezu ausschließlich von Kriegen, so daß Horst S. Daemmrich in seiner Raabe-Monographie zu dem Schluß kommt: »War [...] becomes almost synonymous with history.« 100 Geht es hierbei lediglich um eine allgemeine Thematisierung historischer und individueller Uberlebenskämpfe im Brennspiegel einer kriegerischen Extremsituation, 1 0 1 die sich im >ewigenRitter-Auszug, -Bewährung u. -Heimkehr< sowie >Kannibalismus/VampirismusHeiße< Gesellschaften, S. 336ff. sowie: Albrecht-Heide, Patriarchat, S. 24. BA 4 , 4 1 3 . BA 4 , 1 6 7 . Vgl. auch: BA 4 , 2 9 1 : »[...] das Blut der Streiter und die Tränen der Frauen [...] fanden sich so zusammen.« 120
Was in diesem frühen Raabe-Text Mitte des 19. Jahrhunderts erstaunlich klar, wenn auch noch unreflektiert beschrieben ist, bezeichnet Chaim F. Shatan in seiner psychoanalytischen Untersuchung über Vietnamveteranen als den verhängnisvollen Kreislauf von Militarisierter Trauer und Rachezeremonielh. 136 Das Rache-Ritual des Blutvergießens wird als Ausdruck militarisierten Schmerzes und verleugneter Tränen gerade für erneute Kampfhandlungen einsetzbar. Es bietet zwar eine kurzzeitige, emotionale Ersatzbefriedigung, stellt aber keine wirkliche Befreiung dar. 137 In Anlehnung an Freuds Theorie einer Mischung von Lustprinzip und Todestrieb, um Aggressions- und Destruktionsneigungen zu binden, sieht Shatan aber noch eine weitere Funktion in der Struktur des Kriegsdienstes verankert, deren maulwurfsarchäologischer Aufdeckung in Raabes Werk nun an einzelnen Stationen des >Ritter-Modells< nachgegangen werden soll: Die Abtrennung vom weiblichen Geschlecht begünstige die Kanalisierung der dadurch ungerichteten sexuellen Triebkräfte der männlichen Jugendlichen auf das Ziel des Tötens. Die ersehnte Vereinigung der Leiber finde nicht im Miteinander, sondern im Gegeneinander statt. 138
2.2.1.2 Vom »Kriegessturm« ins »Hochzeitsbett« 139 Im Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, das die Brüder Grimm in ihrer im 19. Jahrhundert entstehenden Märchensammlung wiedergeben, geht es um einen Sohn, der als »Taugenichts« verschrien, vom Vater »in die weite Welt« ausgeschickt wird, um etwas zu lernen. 140 Da er sich vor nichts zu ängstigen scheint, möchte er die Furcht kennenlernen. Die größte Mutprobe auf seiner Reise besteht er schließlich in einem verwunschenen Schloß des Königs, wo Gespenster ihr Unwesen treiben. Als Dank erhält er die schöne Königstochter zur Frau, aber die Bekanntschaft des Gruseins hat er zu seinem Bedauern noch immer nicht gemacht. Ihm, der sogar schon mit lebendig werdenden Toten in einem Bett gelegen hat, begegnet dieses Gefühl jetzt erst im eigenen Ehebett. Während er schläft, überschüttet ihn seine Frau mit einem Eimer voll naßkalter, zappelnder Gründlinge. Zum ersten Mal kann er so feststellen: Ach was gruselt mir, was gruselt mir, liebe Frau! Ja, nun weiß ich, was Gruseln
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C h a i m F. Shatan, Militarisierte Trauer und Rachezeremoniell, in: Passett/Modena, Krieg, S. 2 2 0 - 2 4 9 ; S. 234ff. A. a. O., S. 243f. A. a. O., S. 2 2 6 . BA 2 0 , 1 7 8 . Brüder Grimm ( H g . ) , Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter H a n d (7. Auflage, 1857), hg. v. Heinz Rölleke, Bd. 1, Stuttgart 1980, Nr. 4, S. 4 1 - 5 1 ; S. 43f. A. a. O., S. 51.
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Begreift man Volksmärchen als eine Form unbewußter kollektiver Geschichtsschreibung, die mentale Befindlichkeiten aufzuzeigen vermag, 1 4 2 so verrät die Motivwahl hier einiges: Heimliches Ziel der Abenteuerreise mit ihren >rites de passage< ist das Bett der Ehe, das an Schrecknissen alles Vorherige zu übertreffen scheint. Daher erfordert diese Station wohl einen gründlich abgehärteten »Kriegsmann [als] Bräutigam«. So charakterisiert sich in Raabes Heiligem Born Klaus Eckenbrecher in einem Brief an seine Zukünftige. 1 4 3 Auch Klaus Theweleit verweist in seiner Studie über »Männerphantasien« auf die archetypischen Vorformen dieses Schemas. Als Beispiele nennt er antike und mittelalterliche Heldenepen sowie den literarischen Initiationstypus des bürgerlichen deutschen Bildungsromans im frühen 19. Jahrhundert und gelangt zu der Feststellung: [...] die aufs Warten trainierte Einzige erwies sich zum Schluß wirklich als das schwerste aller Hindernisse (wenn sie nicht im letzten M o m e n t geraubt wurde und die Weltreise von vorn beginnt [...]). 1 4 4
Diese Struktur wird in Raabes spätem Text Hastenbeck sogar indirekt als spezifische Männerangst ausgewiesen. Das Grimmsche Märchen ist hier nämlich zur Charakterisierung der >Wackerhahnschen< eingesetzt - einer ehemals sexuell wie kriegerisch aktiven Frauenfigur die ohne Ausnahme »in ihrem Leben nicht das Gruseln hatte begreifen und lernen können«. 1 4 5 Wie dieses Modell dagegen an den jugendlichen Männerfiguren durchgespielt wird, soll nun an exemplarischen Beispielen aus Raabes frühen wie späten historischen Werken untersucht werden. Die Protagonisten müssen sich jetzt nicht mehr altmodischen Schloßgespenstern — wie im Märchen —, sondern dem nicht minder gespenstischen Phänomen des Krieges erwehren.
a. Trennung und Flucht Gleich zweimal m u ß in Raabes Heiligem Born der »Taugenichts« Klaus Ekkenbrecher »in die weite Welt« und in den Krieg ziehen, bevor er endgültig bei seiner »Prinzessin inmitten des Zaubermärchens« bleiben darf. 1 4 6 Sie
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Vgl. zu dieser Form der Märcheninterpretation: Oskar Negt, Das eigensinnige Kind u n d die enteigneten Sinne. Kommentar zu: Brüder Grimm, Der Wolf und die sieben jungen Geislein, in: Freibeuter 5 (1980), S. 118-125; S. 120. BA 3,240. Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1, S. 304 u. Bd. 2, S. 358. BA 20,183. - Ähnliche Beispiele aus Raabes Texten liefert Fritz Jensch, dessen nationalistisch ausgerichtete Deutung hier jedoch gerade den »Typus des deutschen Helden« zu erblicken meint: ders., Von Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, in: Mitt. 12 (1922) 2, S. 4 9 - 6 2 ; S. 52. BA 3,46; 45 u. 342f. Daß Raabe sich zu dieser Zeit desselben Märchentons in den Briefen an seine Braut Bertha bedient, hat Hans Butzmann nachgewiesen
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singt währenddessen melancholische Lieder am Spinnrad. Diese Struktur entspricht einem tatsächlichen Kunstmärchen, nämlich Ludwig Tiecks 1797 erschienener, frühromantischer Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence. Sie ist als Vorausdeutung auf die Entwicklung von Raabes Liebeshandlung direkt im Text genannt. 1 4 7 Um eine ziellose Wanderschaft, »weit, weit in die Welt«, als zweckfreier, romantischer Lebensform, wie in Eichendorffs bekannterer, 1826 erschienener, märchenhafter 7ä«ffHunflüggen Gelbschnäbeln< das >Fliegen< beizubringen. So heißt es hier jedesmal in ambivalenten, »angst-lust-besetzten« Vogelmetaphern. 150 Besonders deutlich zeigt sich dies im Heiligen Born (1859-1860) und in Hastenbeck (1895-1898): Die Liebenden werden >in flagranti« ertappt, was ihre Trennung und den späteren Kriegseintritt der Männer herbeiführt. Beide Male werden die Liebespaare Klaus und Monika bzw. Pold und Immeke dabei von einem Elternteil im Garten aufgestört. Seine naturalen Gegebenheiten entfalten in Form anstürmender Frühlingswasser, gespitzter Saugrüssel, »Rosenmädchen« oder »schwellende[r] Blattknospen« eine indi-
(BA 3 , 4 8 1 ) . - Analoge Vergleiche finden sich auch im später entstandenen Werk » D e s Reiches Krone«. Sie sind diesmal antiken Heldenepen entlehnt (BA 9/2,355). 147
BA 3 , 9 7 . D i e an dieser Stelle erwähnte Entführungsszene des Tieckschen Märchens, das a u f einer spätmittelalterlichen deutschen Volksbuchvorlage des 16. Jahrhunderts (Raabes Erzählzeit im »Heiligen Born«!) beruht, bleibt für Klaus Eckenbrecher jedoch bloßer Wunschtraum. Weitere Ähnlichkeiten zwischen beiden Texten liegen dagegen in den romantiktypischen lyrischen Einlagen, d e m Austausch brieflicher Botschaften des getrennten Liebespaares wie im Auftreten einer verführerischen Nebenbuhlerin (Sulima bei Tieck, Fausta bei Raabe). Vgl.: L u d w i g Tieck, Schriften in 12 B d n . , hg. v. Manfred Frank [u.a.], B d . 6, Frankfurt a . M . 1985, S. 2 4 7 - 3 0 5 .
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A u c h hier wird bereits die Geschichte von der schönen M a g e l o n e herbeizitiert; vgl.: J o s e p h von Eichendorff, Aus d e m Leben eines Taugenichts, in: ders., Werke, nach den Ausgaben letzter H a n d unter Hinzuziehung der Erstdrucke, hg. v. Ansgar Hillach, B d . 2, M ü n c h e n 1970, S. 5 6 5 - 6 4 7 ; S. 576f.
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Vgl.: B A 17,98f. u. 163; BA 2 0 , 1 4 1 u. 169 sowie zu diesem Frauentyp in Raabes Werken allgemein: Bröhan, Darstellung der Frau, S. 5 0 - 7 3 sowie: Denkler, R a a b e , S. 177f. B A 3 , 1 8 ; B A 4 , 1 5 7 ; 160 u. 2 3 2 ; B A 17,65. - Vgl. zu Raabes Verwendung dieser ambivalenten Vogelmetapher auf dem H i n t e r g r u n d der >AngstlustWackerhahnsche< kommentiert den kriegerischen Einfall« von Immekes Pflegemutter in ein Gebüsch, wo sie ihr Kind mit Pold Wille »in den Nüssen« aufgespürt hat, mit einem zweideutigen: »Sie waren wohl noch nicht ganz reif«. 152 Der Triebverzicht, der hier von den männlichen Jugendlichen geleistet werden muß und kurzfristige »Energieverschiebungen« 153 auf den Kriegsschauplatz zu erfordern scheint, ist auf der Textoberfläche also allein von außen, durch den elterlichen Autoritätsanspruch legitimiert. Damit funktioniert er wie im klassischen Freudschen Sinne - als ein Gehorsam einforderndes Realitätsprinzip. Deutlicher tritt der triebpsychologische Untergrund einer befürchteten eigenen, inneren Gefährdung bei Raabe jedoch an anderer Stelle hervor. Dann nämlich, wenn es sich bei den weiblichen Figuren nicht um desexualisierte Kind-Frauen, sondern um ihr dämonisiertes Gegenbeispiel, die gestaltgewordene erotische Weiblichkeit, handelt. 154 Statt einer von außen erzwungenen Trennung ergibt sich jetzt eine ebenso zwanghafte Flucht der Männer in den Kriegsdienst. So wird z. B. in Raabes frühem Text Aus dem Lebensbuch des Schulmeisterleins Michel Haas (1859) eine alttestamentarische Anspielung auf Josephs Bedrängnis durch den Beischlafswunsch von Potiphars Frau bemüht, um das Verhältnis zwischen Haas und einer Bäckerstochter, einem »schönen, wilden Weibsbild«, eindeutig werden zu lassen. 155 Ihren nächtlichen Übergriffen kann sich Haas wie sein biblisches Vorbild nur durch Flucht entziehen. Bevor Haas sich wenig später von einem preußischen Regiment anwerben läßt, kann er Kriegs- wie Liebesdienst zunächst noch durch eine Krankheit entgehen, die »das Nestküchlein« wieder nach Hause, in den gesicherten Schoß der Familie, zurückführt. 156 In Raabes späterem Text Die Innerste (1874) weiß der ehemalige Kriegsteilnehmer Jochen Brand dagegen aus eigener Erfahrung, daß der berüchtigte preußische Söldnerwerber Colignon »das Nestküchelchen« — gemeint
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BA 3 , 1 6 u. 2 8 4 ; BA 2 0 , 4 6 . - Vgl. in diesem Z u s a m m e n h a n g auch die direkte Analogisierung des »Liebesspiel[s]« von Mensch und Schmetterling in Raabes Zeitroman » U n r u h i g e Gäste« (BA 1 6 , 2 3 4 ) sowie zur erotisierten Natur- bzw. Wettermetaphorik in der Literatur des 19. Jahrhunderts allgemein: F[riedrich] C . Delius, Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus, M ü n c h e n 1971, S. 68f. BA 2 0 , 4 8 u. 54. Terminologie und Deutung entsprechen hier: Sigmund Freud, Der M a n n Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen ( 1 9 3 9 ) , in: ders., Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, 10 Bde. u. 1 Erg.-Bd. , Frankfurt a . M . 1982, Bd. 9, S. 4 5 5 - 5 8 1 ; S. 5 6 2 . Vgl. zu diesem Typus in Raabes Werk: Bröhan, Darstellung der Frau, S. 74—94 und: Denkler, Raabe, S. 177f. BA 2 , 4 4 4 f . (1. Mose 3 9 , 1 2 ) . BA 2 , 4 4 9 f . 124
ist hier Albrecht Bodenhagen - »nur zu seinem Besten« von der rothaarigen Doris Radebrecker, der »wilde[n] Königin« der übelbeleumdeten Buschmühle, weg- und ins Kriegsgeschehen hineingeholt habe. 1 5 7 Dabei wollte Raabes Müllerssohn, diesmal in tatsächlicher Analogie zum Eichendorffschen Taugenichts, zuerst bloß in die »lustige weite Welt«; der Krieg diente lediglich als Vorwand gegenüber den Eltern. 1 5 8 Doch nachdem Albrecht selbst »ganz und gar Bescheid in der Buschmühle weiß«, kann er nur noch Reißaus nehmen. 1 5 9 Raabe spielt durch diese Namensgestaltung seiner Mühle nicht nur mit einer sexualisierten Naturmetaphorik, sondern deutet darüber hinaus eine bis in mythische Vorstellungen zurückreichende, volkstümlich weitertradierte Ineinssetzung von Mühle und weiblichem Genitale an. 1 6 0 Gerade davor also flüchtet Albrecht Bodenhagen auf die folgende, für Raabes historische Texte typische Art und Weise: [...] und wie ich in den Krieg gekommen bin, davon weiß Doris Radebrecker in aller Welt am besten auszusagen. 161
b. Eroberung Als Ritter ist in Raabes frühem Text Lorenz Scheibenhart auch Herzog Christian von Braunschweig, der >tolle Christian< genannt, gekennzeichnet. Sein vorzeitiges Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg, noch bevor dieser auf den Kreis Niedersachsen übergreift, verstand er selbst als ritterlichen Dienst an seiner Base, der böhmischen >Winterkönigin< Elisabeth von der Pfalz. Ihr Ehemann, Kurfürst Friedrich, hatte durch die Annahme der Krone im aufständischen Böhmen einen auslösenden Faktor für die Entstehung des Krieges geliefert. 1618 hatte hier der alteingesessene evangelische Adel gegen die katholische Landesherrschaft revoltiert. 162 In Raabes Text trägt Christian von Braunschweig nicht nur Elisabeths Handschuh als Ehrenzeichen seiner Dame am Hut, sondern bedient sich sogar ihres »Weibernamen« als kriegerischem Schlachtruf im Kampf gegen Kaiser und katholische Liga. 163 Was Raabe seine Titelfigur hier noch erstaunt feststellen läßt, verdichtet sich in seinen anderen historischen Werken immer stärker
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BA 12,123 u. 166f. BA 12,129. Ebd. - Vgl. auch das >Reißausnehmen< Bürgermeister Hanes vor den fordernden Reizen Mamsell Hornborstels in Raabes »Gänsen von Bützow« (BA 9/2, 127). Vgl. zu weiblich-mütterlichen Mühlenkultresten, zur Mühlenbedeutung als Initiationsstätte wie zur Volksphantasie-Tradition, in einsam gelegenen Mühlen Freistätten erotischer Ausschweifung zu sehen: Danckert, Unehrliche Leute, S. I43f.; S. 135 u. S. 131 ff. BA 12,130. Vgl.: Zeeden, Zeitalter der Glaubenskämpfe, S. 81 ff. sowie: Schnath, Geschichte des Landes Niedersachsen, S. 32. BA 2,326 u. 585. - Vgl. im selben Kontext auch: HuC,72f. u. 171 f. I2
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zum Motiv des Ritters, dessen Frauenliebe sich auf dem Schlachtfeld bewähren muß. 1 6 4 Das Motiv des >Liebeskriegs< bildete sowohl in der höfischen Dichtung des Mittelalters als auch in der antiken Erotik bereits ein stehendes bildsprachliches Element. 1 6 5 Uralte, alltagssprachlich erhalten gebliebene kriegerisch-erotische Doppelbedeutungen von Begriffen wie >BelagernEntwaffnenBezwingen< oder >Erobern< werden zu leitmotivischen Metaphernkomplexen mit teilweise emblematischem Charakter erweitert. Vermittels einer solchen Literaturtradition erweist sich das Lieben auch in Raabes Texten als geradezu >mühevoller Soldatendienst«. So stellt es Alfons Spies z. B. an Ovids römischer Elegie Militat omnis amans fest. 1 6 6 Das literarisierte Liebeswerben gleiche auch insofern dem Kriegsleben, weil u. a. »die Wohnung belagert und bestürmt, evt. die Geliebte entführt werden« müsse. 1 6 7 Eben dieses Schema wird in Raabes Frühwerk Die schwarze Galeere gerade zur abschreckenden Zeichnung der gewaltsamen italienischen Kriegs- wie Liebes->Eroberer< umgedreht. Zwei von ihnen machen regelrecht »Jagd« auf Myga van Bergen und reißen ihre »schöne Beute« nach »Kriegsrecht« an sich. 1 6 8 In anderen antiken Beispielen erscheint die Schönheit der Geliebten dagegen als eine zu erobernde Burg oder der Liebende selbst als eine Stadt, die von Eros belagert wird. 1 6 9 Auch in Raabes letztem Stuttgarter Text Des Reiches Krone heißt es vom »Ritter« Michel Groland, daß er »um das Herz der Jungfrau Mechthildis eine neue und lange Belagerung anfangen [mußte]«, nachdem er sich in ihr Kinderherz bereits »fast wie in die Nürnberger Burg geschlichen hatte«. 170 In Unseres Herrgotts Kanzlei ist es statt dessen
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In einer Wiederbelebung des Geistes mittelalterlicher Ritterturniere sah auch Rogniat eine Triebfeder zur Befeuerung kriegerischer Leidenschaften im beginnenden 19. Jahrhundert; ders., Betrachtungen über die Kriegskunst, S. 6 5 2 u. S. 6 5 5 f . V g l . zu dieser fortwirkenden »masculine mystique«: Iglitzin, War, S. 6 6 . - Ähnliche Muster, allerdings ohne ein tatsächliches Kriegsgeschehen, auf dessen U n t e r s u c h u n g es hier ja gerade a n k o m m e n soll, lassen sich dabei auch in Raabes Zeitromanen finden. M a n denke z. B. an Velten Andres, der in den »Akten des Vogelsangs« auszieht, die Welt oder wenigstens Helene Trotzend o r f f zu erobern. Dies wird ausdrücklich in Parallele zum »Ritter o h n e Furcht u n d Tadel, gesetzt (BA 19,307f.; 3 0 2 u. 4 7 5 ) .
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V g l . : Erika Kohlet, Liebeskrieg. Z u r Bildersprache der höfischen D i c h t u n g des Mittelalters, Stuttgart, Berlin 1935 sowie: Alfons Spies, Militat o m n i s a m a n s . Ein Beitrag zur Bildersprache der antiken Erotik, T ü b i n g e n , Phil. Diss. 1 9 3 0 . Spies, Militat o m n i s amans, S. 6 4 - 6 6 . - Diese Elegie findet sich auch in einer der Ausgaben des Ovid-Kenners Raabe: StB: I 1 6 / 4 5 2 : Publius O v i d i u s N a s o , O p e r a , T . l u. 2 [Lemburg 1612], T . 2 , S. 1 9 4 - 1 9 6 . Spies, Militat o m n i s a m a n s , S. 37. B A 3 , 4 2 4 ; 4 2 7 ; 4 5 1 u. 4 4 9 . - Vgl. zu den antiken T o p o i der kriegerischen >Liebesjagdi und ihrer weiblichen Siegesbeute: a. a. O . , S. 26 u. S. 6 3 . So bei Lukian und Euripides; vgl.: Spies, Militat o m n i s a m a n s , S. 2 5 u. S. 17f. B A 9 / 2 , 3 4 0 . - An d e m historischen Ereignis der gewaltsamen B u r g - Ü b e r n a h me aus der Macht der Hohenzollernschen Burggrafen ( 1 4 2 0 ) hatte R a a b e seine
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die Stadt Magdeburg, die von ihren Belagerern >genommen< werden soll, wie man »ein hübsches Mädchen nimmt.« 1 7 1 Rektor Eyring versucht in Raabes drei Jahre später entstandenen Gänsen von Bützow (1864—1865) dagegen die »politisch-amorose[n]« Höhenflüge seines Kollegen zu stoppen, wenn auch ohne Erfolg. 1 7 2 Magister Albus' Angebetete, Mamsell Hornborstel, erscheint in seinen klassikorientierten Liebestiraden gleich als das ganze Italien, das zu Eroberung und archäologischer Erforschung einlädt. Eyring nimmt diesen Topos auf, warnt jetzt allerdings vor diesem >Land der EheBewährungsKranz< er-
bewehrte Germania-Darstellung (in freizügiger Abbildung W u l f h i l d e M ü h l e n hoffs) einen Skandal beim kleinstädtischen Schiller-Fest (BA 1 0 , 1 3 0 u. 173ff.). Vgl. darüber hinaus zur bis in die Antike zurückreichenden Tradition einer geographischen Verkörperung durch weibliche Figuren allgemein sowie zu Genese und Entwicklung der Germaniafigur speziell: Gerhard Brunn, G e r m a n i a und die Entstehung des deutschen Nationalstaates. Z u m Z u s a m m e n h a n g von Symbolen und W i r - G e f ü h l , in: Rüdiger Voigt (Hg.), Symbole der Politik. Politik der Symbole, Opladen 1989, S. 1 0 1 - 1 2 2 . Die Popularität der G e r m a n i a setzte vor allem nach der Reichsgründung - und d a m i t gegenläufig zu ihrer Kritik in Raabes zeitgleich entstehendem » D r ä u m l i n g « - ein. 194 195
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BA 4 , 2 1 2 u. 4 1 4 . Den Ritter als ein Symbol deutscher Lauterkeit interpretiert Mosse als nationales Modell deutscher Literatur im 19. Jahrhundert; ders., Nationalisierung, S. 126. Limlei, Geschichte, S. 54 u. S. 56 sowie S. 68 (zur Negation dieses Schemas in Raabes »Odfeld«). - Vgl. zur nationalen Komponente dieses >Ritter-AuszugMotivs< im Zeitroman des 19. Jahrhunderts: Nicolaus Sombart, Prinz Kuckuck. Der Zeitroman des W i l h e l m i n i s m u s , in: ders., Nachdenken über Deutschland, S. 122—133; S. 127f.: »Der Aventurier des wilhelminischen Deutschlands ist auf der Suche nach dem >Reichgothic noveh, des romantischen Schauerromans angelsächsischer Provenienz, nach. Besonders kraß ist sie von Matthew Gregory Lewis in The Monk (1796) etabliert worden oder, als gemäßigtere Variante, ein Jahr später durch Ann Radcliffe in The Italian or The Confessional of the Black Penitenti-201 Doch vor Eckenbrechers endgültiger Heimkehr zu der ihm vom Vater jetzt anvertrauten Braut gilt es bei Raabe noch ein wirkliches Kriegserlebnis zu bestehen, auf das später noch genauer einzugehen sein wird. Auch die von Reginas Vater in Unseres Herrgotts Kanzlei (1861) geäußerte Bedingung, »Wer mein Kind heimführen will, der muß es durch eine stolze, eine tapfere, glorreiche Tat gewinnen«, 202 erfüllt sich schließlich durch Markus Horns Schlachtenerfolge. Sie stempeln ihn, statt des feigen und bösartigen Adam Schwänze, erst als »Kriegsmann« zum rechtmäßigen »Schwiegersohn«. 203 Verstärkt wird dieses Schema hier dadurch, daß das
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V g l . : B A 3 , 4 4 u. 19 sowie Klaus E c k e n b r e c h e r s e m p h a t i s c h e n Ausruf: »Krieg! Krieg! O M o n i k a F i c h t n e r ! Krieg! Krieg!« [...] » O M o n i k a , jetzt mag unser W e i z e n zu b l ü h e n anfangen!« ( B A 3 , 2 0 6 ) . V g l . zu dieser Auffassung v o m Krieg als ( e r o t i s c h e m ) >AbenteuerAbenteuer- u n d KriegsrauschWackerhahnsche< u n d den Schweizer U t t e n b e r g e r in » H a s t e n beck«.
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BA 3,42. B A 3 , 2 9 1 f.
200 201 202 203
V g l . : I n g e b o r g W e b e r , D e r englische S c h a u e r r o m a n , M ü n c h e n , Z ü r i c h 1 9 8 3 . BA 4,320. BA 4,398.
I3i
beiderseitige Liebesbekenntnis des j u n g e n Paares m i t t e n im Kriegsgescheh e n zustande k o m m t . D e r I m p u l s f ü r die erste U m a r m u n g v o n
Markus
u n d Regina ergibt sich aus i h r e m beiderseitigen S c h r e c k über eine u n e r w a r t e t e f e i n d l i c h e Beschießung. Sie b e f i n d e n sich gerade a u f der S t a d t m a u e r M a g d e b u r g s , zwischen sich -
in u n ü b e r s e h b a r phallischer B e d e u -
t u n g - d e n L a u f eines g r o ß e n G e s c h ü t z e s . 2 0 4 A u f d e m H i n t e r g r u n d einer solch d o m i n a n t e n S c h e m a t i k k a n n es sogar passieren, d a ß sich die G r e n z e n zwischen >hellem< u n d >dunklem< H e l d 2 0 5 v e r w i s c h e n . S c h l i e ß l i c h t r ä u m t auch
Raabes
Negativfigur
mit
dem
bezeichnenden
Nachnamen
>Schwar(t)ze< v o n nichts a n d e r e m als d a v o n , seine Liebste in einer gewaltsam e n E x t r e m s i t u a t i o n v o r d e m kriegerisch-erotischen K o n k u r r e n t e n b e w a h ren zu k ö n n e n , u m »über seinem L e i c h n a m die h o l d e Regina L o t t h e r i n z u m A l t a r f ü h r [ e n ] « zu k ö n n e n . 2 0 6 Z w a r hat Raabe seine F r ü h w e r k e Unseres l i g e Born
Herrgotts
Kanzlei
u n d Der
hei-
später selbst als m a r i o n e t t e n a r t i g e »Magdeburgerei« bzw. als » K i n -
d e r r o m a n t i k « a b g e w e r t e t , 2 0 7 d o c h S p u r e n dieses archetypischen
Modells
m ä n n l i c h - j u g e n d l i c h e r »Lust am K r i e g e « 2 0 8 finden sich auch in Raabes späten historischen Texten. S o >bewährt< sich T h e d e l v o n M ü n c h h a u s e n in Raabes Odfeld
(1886—
1 8 8 7 ) ja zunächst ebenfalls ritterlich gegenüber S e l i n d e Fegebanck. W i e
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BA 4 , 3 3 3 u. 3 4 7 . - Vgl. zur phallischen Ästhetik des Kriegsgeräts im Sinne eines Substituts verdrängter Omnipotenzwünsche: Horst-Eberhard Richter, Z u r Psychologie des Friedens, 1. Auflage, Reinbek b. H a m b u r g 1982, S. 9 5 - 9 9 . y g [ z u dieser Bezeichnung: Titzmann, »Germanen«, S. 134ff. T i t z m a n n leitet diesen Trivialgegensatz aus der Konfrontation germanischer und nichtgermanischer Heldenkonzeption in der historischen deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts ab. Gleichzeitig beobachtet Titzmann hier ebenfalls den Typus des jugendlichen, kriegerisch wie erotisch erfolgreichen Helden, den er als eine Art R e f u g i u m innerhalb der d o m i n a n t e n M ä n n l i c h k e i t s k u l t u r der Realismus-Epoche begreift: Über die Figur des jugendlichen Helden könnten auf fiktionaler Ebene infantil-pubertäre Wunschphantasien aus der Distanz des R ü c k blicks heraufbeschworen werden (S. 137f.).
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b a 4 , 2 2 8 . - Vgl. in diesem Z u s a m m e n h a n g auch die m e r k w ü r d i g nekrophil a n m u t e n d e Verbindung von Erotik und Tod in Raabes spätem Zeitroman »Unruhige Gäste«. Literarhistorisch zwischen Romantik und Dekadenz angesiedelt, entwickelt sich die engere Beziehung zwischen Phöbe und Veit über ihren eigenen Grabstätten, die sie vorzeitig festgelegt haben (BA 16,239ff.). In Raabes zwanzig Jahre früherem Text »Keltische Knochen« dient eine analoge Verbind u n g dagegen der Belustigung. Archäologische Grabräuber versuchen die weibliche Aufsichtsperson des urzeitlichen Gräberfeldes auf >priapische< Weise abzulenken (BA 9 / l , 2 3 3 f f . ) .
207
BA E 4 . 2 7 2 u. BA 3,8. So die erzählperspektivische Charakterisierung Thedels im »Odfeld« (BA 1 7 , 1 0 5 ) . Vgl. in diesem Z u s a m m e n h a n g auch Raabes »Marsch nach H a u se«: »[...] und die Lust war immer dieselbe, ob man den Feind schlug oder ihm die Fersen zeigte.« (BA 9/2,279). - »Kriegslust« als tatsächliches Lebensprinzip des Rittertums konstatiert für das 15./16. Jahrhundert: Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1 u. 2, 16. Auflage, Frankfurt a . M . 1991, Bd. 1, S. 271 u. S. 298f.
208
132
Jan Norris in der Schwarzen Galeere kann auch Thedel einer drohenden Vergewaltigung seiner Liebsten zuvorkommen. Er rettet sie vor dem »letzten, schlimmsten Einbruch [...] durch den welschen Feind«, wobei es eben »nicht bei bloßen Kolbenstößen gegen die Türen bleibt, sondern auch die Musketen in die Türschlösser abgefeuert werden, um den Eintritt rascher zu erzwingen.« 209 So heißt es hier wiederum in einem doppeldeutigen, sexualisierten Bild, in dem Selindes Zimmer mit ihrem eigenen Körper zu verschmelzen scheint. Schließlich rächt Thedel Selindes und vor allem seine eigene Ehre als ihr früherer, sexuell jedoch permanent abgedrängter Anbeter »aus dem tiefsten Naturrecht heraus«. 210 Er streckt einen der feindlichen Soldaten, die das Kloster wie Selindes Kammer »überschwemmten]«, mit einem Faustschlag zu Boden, so daß dieser »blutüberströmt« liegen bleibt. 211 Daß in Raabes Kriegsszenen »statt der Liebesflüsse der Blutstrom fließt«,212 die unterdrückte Sexualität der jungen Männer zur Aggression gegen den Feind kanalisiert ist, erweist sich an anderer Stelle als noch offensichtlicher. Dort nämlich, wo die erotische Frau selbst zum Kriegsschauplatz gemacht, vernichtet und diesmal die ihr verfallene Männlichkeit »gerächt« wird. Im Heiligen Born ist es die erotische Verführerin und politische Intrigantin Fausta La Tedesca, die Klaus Eckenbrecher zum ersten Mal die Möglichkeit bietet, »auch sein Feuerrohr« abzuschießen. 213 Auf der unterschwellig sexualisierten Ebene dieser Bildlichkeit, deren phallische Symbolik bereits in Raabes kriegsthematischen Texten begegnet ist, heißt das nichts anderes, als daß Klaus eine Art sexueller Initiation durchlaufen hat. Sie findet nicht nur als stellvertretende kriegerische Handlung statt, sondern führt gleichzeitig auch zum Tod der erotisch dämonisierten Frauenfigur.214 Einerseits erweist Klaus seinem Arbeitgeber Philipp von Spiegelberg dadurch einen Dienst, der für diesen allerdings zu spät kommt. Er ist schon zu tief in Faustas politische wie sexuelle Netze verstrickt - doch dazu später. Klaus Eckenbrecher kann seinen Tod hier nur noch »ritterlich in der Schlacht«, am feindlichen Kriegsgegner in Gestalt von Faustas Gefährten Don Cesare Campolani, »rächen«. 215 Andererseits hat Klaus jetzt selbst freien Zugang zu Monika Fichtners Haus, wie es durch die Anthropomor209
210 2,1 212 215 214 215
BA 17,96 u. 98. - Vgl. zum Motiv der Vergewaltigung durch den Kriegsfeind in Raabes historischen Texten z. B. auch: B A 4 , 3 4 l f . (»Kanzlei«) u. BA 9/1,25 (»Recht«) sowie zu dieser sexuellen Kriegstaktik allgemein: Susan Brownmiller, Gegen unseren W i l l e n . Vergewaltigung und Männerherrschaft, Frankfurt a . M . 1 9 7 8 , S. 3 8 - 1 1 4 (Erstveröffentlichung u.d.T.: Against Our W i l l : M e n , Women and Rape, New York 1975) sowie: Heike Sander, Barbara Johr ( H g . ) , Befreier Befreite. Krieg, Vergewaltiger und Kinder, M ü n c h e n 1992. BA 17,96f. BA 17,98f. Theweleit, M ä n n e r p h a n t a s i e n , Bd. 1, S. 241. BA 3 , 2 6 5 . BA 3 , 2 6 1 . BA 3 , 3 3 2 u. 3 1 5 .
133
phisierung wiederum sexuell unterfüttert heißt. 2 1 6 Die Aufnahme einer >ungefährlichendie Horner abgerannt hatwelcheslustigen Jagd< zwischen den bereits bekannten Bienen und Schmetterlingen, übergetretenen Wassern, Büschen und Rosenlauben endlich einen Kuß erbeuten. Dies bringt in der Küche derweil — sinnbildhaft für die in Wallung geratenen Triebe - die Töpfe schier zum Überkochen. 223 Doch mitten hinein lacht und kreischt plötzlich die Innerste/Doris Radebrecker (das erotische Begehren), fordert ihr Recht und beendet die launige Liebesannäherung des jungen Müllers abrupt. Wie im eingangs erwähnten Grimmschen Märchen über die männliche (Sexual-) Furcht bleibt auch hier nur ein »eiskaltefr] Schrecken« zurück. 224 Weihnachtlich friedvolle Ruhe kann am Schluß ebenfalls erst eintreten, nachdem auch diese ihr Begehren überdeutlich, ja markerschütternd artikulierende >Weiberkehle gestopft« und die erotische Gefahr in Gestalt einer weiblichen Wasserleiche abgetötet worden ist. 225 Die blutigen Blessuren, welche die männlichen Figuren — wie hier in der Innersten, so auch in anderen historischen Texten Raabes - bei der kriegerischen Abwehr erotisierter Weiblichkeit davontragen, können auf triebpsychologischer Ebene als Male einer umgekehrten sexuellen Initiation im Vermännlichungsprozeß gewertet werden. Auf der Textoberfläche gilt er zwar als erfolgreich abgeschlossen, da sich die »einstigen Taugenichts [e]« nach ihrem Kriegsauszug nun in Ehe- und Berufsstand etabliert haben. 226 Dies geht jedoch nicht nur mit einem »asketisch-resignativen Verzicht auf Sinnlichkeit im allgemeinen und in der Sexualität im besonderen« einher, wie es Michael Titzmann für die germanische Heldenadaption im historischen Roman des bürgerlichen Realismus aufzeigt. 227 Titzmann stellt hier ebenfalls eine Zunahme kriegerischer Verletzung, Verstümmelung und Verkrüppelung der jugendlichen Protagonisten fest. Die schmerzvolle Selbstka222
223 224 225
225
227
BA 1 2 , 1 8 6 ; 122f.; 126; 131; 143 u. 166f. Vgl. auch wieder M a t t h . 5,30, wo im weiteren Z u s a m m e n h a n g des Ehebruchs ebenfalls vom Abhacken der rechten H a n d die Rede ist. BA 1 2 , 1 5 1 - 1 5 5 . BA 12,156. BA 12,192f. - Auch gegen Ende von »Unseres Herrgotts Kanzlei« wird eine Wasserleiche geborgen, die aus einem »nackten, zerfetzten weiblichen Körper« besteht (BA 4 , 4 5 2 ) . Die brutale Zerstörung, die sich hier bis in den Erzählduktus einschreibt, bezieht sich ebenfalls auf ein »wilde[s] Weib« (BA 4 , 3 8 7 ) , auf die erotisch dämonisierte Frauenfigur J o h a n n a von Gent. BA 3 , 3 4 0 (Hervorh. v. mir). So ist z. B. Klaus Eckenbrecher im »Heiligen Born« R e i t e r h a u p t m a n n geworden, Albrecht Bodenhagen ü b e r n i m m t in der »Innersten« den M ü h l e n b e t r i e b seines Vaters und Pold W i l l e wird in »Hastenbeck« Zeichenlehrer der Braunschweiger Prinzessinnen. T i t z m a n n , »Germanen«, S. 139f. - In bezug auf Raabes Texte hat Denkler das bürgerliche, erstmalig im »Hungerpastor« direkt thematisierte Credo von »Arbeit und (ehelicher) Liebe« als Bewältigungsmöglichkeit ausgemacht: ders., Raabe, S. 178.
135
stration männlich sexuellen Begehrens, 228 die damit symbolisiert werden kann, mündet speziell in Raabes Texten dagegen wieder in eine Regressionsphase ein. Die zumeist im Kopfbereich auftretenden Kriegsverletzungen wie auch die ohnmächtige Bewußtlosigkeit der heimgekehrten Männerfiguren 2 2 5 können auf der einen Seite eine kurzzeitige Abkehr von den »kopfgeleiteten Normen der Uber-Ich-Instanzen« verbildlichen, wie Irmgard Roebling es am Motiv des Kopflosen bei Raabe, Wedekind und in den Theorien Freuds und Lacans festmacht. 2 3 0 Diese Abkehr erweist sich in den oben beschriebenen Fällen jedoch nicht als eine Hinwendung zum »libidinösen Prinzip«, wie Roebling weiter annimmt. 2 3 1 Die Auflösung kontrollierender Ich-Instanzen und -Grenzen findet bezeichnenderweise ja nicht in einem symbolisch verschlüsselten Liebesakt statt. An dieser Stelle wird möglichen Auflösungstendenzen mit allen (erzählstrategischen) Mitteln entgegengearbeitet, wie im Kannibalismus/Vampirismus-Kapitel noch detaillierter zu zeigen sein wird. Statt dessen finden Entgrenzungserscheinungen jetzt auf dem aseptischen Krankenlager statt, mit dem Ergebnis, daß die geliebten Frauen in eine sexuell ungefährliche Rolle, nämlich in diejenige der fürsorglich pflegenden Krankenschwester gedrängt werden. 2 3 2 Darüber hinaus wird der Charakter einer Mutter-Kind-Beziehung inszeniert, welche sich durch die existentiell hilflose Situation der kranken Männer ergibt. So beugt sich z. B. die zur Seelnonne gewordene Mechthild Grosse in Des Reiches Krone als »Mater Leprosorum«, d. h. als »der Sondersiechen Mutter«, nach der Kriegsheimkehr ihres leprakranken Verlobten »zu ihm nieder wie zu einem Kinde«. 233 Auch Anneke Mey verkörpert im Junker von Denow eine nahezu sakrale Mütterlichkeit, wenn sie das wunde Haupt ihres Ge-
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229
230
231 232
233
Im Sinne einer Groteske stellt Raabe dies dagegen bei seinen männlichen Pfarrersfiguren aus, so z. B. in »Hastenbeck« (BA 2 0 , 9 3 - 9 7 ) oder in »Unruhige Gäste« (BA 16,207). Vgl. z. B.: BA 2,274; 396f.; BA 4,455 u. 461 o. BA 20,51. - Vgl. zum Motiv der O h n m a c h t als einer sinnbildlichen Kastration anhand eines weiteren literarischen Beispiels aus dem 19. Jahrhundert: Erich Köhler, Urszene — phantasiert und nachgeholt. Zu Ernest Feydeaus Roman »Fanny«, in: Goeppert, Perspektiven psychoanalytischer Literaturkritik, S. 54—70; S. 68. Roebling, Raabes doppelte Buchführung, S. 68. - Vgl. demgegenüber aber die vor allem am Jahrhundertende vielfach künstlerisch thematisierte männliche Angstfigur der biblischen Salome, die den Kopf des Mannes forderte, den sie vergeblich begehrte. Der Kopf steht hier gerade für die männliche Potenz, die von Salome zur Strafe kastriert wird. Roebling, Raabes doppelte Buchführung, S. 68; Anm. 37. Vgl. z. B. die »wahrhaft männliche Fassungskraft« Reginas an Markus' Krankenlager in »Unseres Herrgotts Kanzlei« (BA 4,462; Hervorh. v. mir) oder Phöbe Hahnemeyers tatsächlichen Krankenschwesterberuf in »Unruhige Gäste«. Diesen entsexualisierten Frauentypus sowie männliche Ohnmachtszustände, die als eine Art lerlittenem statt erfahrenem Orgasmus< durch soldatischen Drill ausgelöst werden können, beschreibt: Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1, S. 1 3 1 - 1 4 5 u. Bd. 2, S. 166. BA 9 / 2 , 3 7 7 u. 374. 136
liebten in ihrem Schoß birgt, »wie eine Mutter ihr Kind«. 234 In Hastenbeck fängt der fieberkranke Exsöldner Pold Wille beim Anblick seiner Liebsten hemmungslos an zu weinen und zu schluchzen. 235 Der Erzählerkommentar beeilt sich zwar zu versichern, daß der Ausbruch nichts mit kindischer Weichmütigkeit zu tun habe. 236 Durch dieses Entschuldigungsmanöver entlarvt sich der Charakter des Vorgangs jedoch als eine Art stellvertretender ejakulativer Ausbruch, dessen Erfüllung jetzt »in der Auflösung der eigenen Grenzen im Tränenstrom und in der Rückkehr in den Mutterleib [liegt]«.237 Vielfach taucht das Bild der eigenen Mutter in den Fieberträumen der verwundeten Krieger auch direkt auf. 238 Im Student von Wittenberg verschmilzt es für den verletzten, ohnmächtigen Erzähler über die Namensidentität mit seiner späteren Ehefrau gleich in eins. 239 Eine andere, nicht weniger aussagekräftige Traumform wird dagegen in Michel Haas von der Mutter der Titelfigur selbst erzählt. Michels Leiden an der Ruhelosigkeit seines Daseins versuchte sie zu lindern, indem sie den inzwischen erwachsenen Sohn, der ihr am Abend erschienen war, mit zu sich ins Bett nimmt. Er bekommt jedoch regelrecht »kalte Füße« und macht sich davon. 240 Die Kriegsheimkehr der jugendlichen Männer zielt in Raabes historischen Texten also in Wirklichkeit an einer Vereinigung mit der geliebten Frau vorbei und statt dessen auf den Rückzug in ihre menschliche >UrheimatWackerhahnsche< jedoch in völlig andere Bilder gefaßt. Sie entspringen auf der Textoberfläche zwar einem ironischen, indirekten und auf Täuschung angelegten Sprechakt, 2 4 4 stammen andererseits aber aus ihrer eigenen, figurativ weiblichen Erfahrungsweise des männerdominierten Kriegsgeschehens. Aus dieser Blickdistanz können wesentliche Aspekte dieses Systems überhaupt erst zugänglich gemacht werden. Aus der Sicht der >Wackerhahnschen< stellt sich der Vorgang der (Zwangs-)Rekrutierung nämlich als die in Raabes historischen Texten ja bereits bekannte Mischung aus Liebeshochzeit und mütterlicher Umarmung dar. Damit erscheint das militärische Ritual in eindeutig weiblicher Konnotation. In seiner »Liebesbrunst« sei Pold wie so mancher andere »dem ersten Werber [...] in die ausgebreiteten Arme«, »in die zärtlichen Pratzen« gerannt, heißt es beispielsweise. 245 An die »Liebe und Zärtlichkeit« innerhalb dieser mannmännlichen Truppe reiche selbst Immekes weibliche Zuneigungspotenz nicht heran, auch wenn die soldatische Konvention des Treueschwurs - »bis in den Tod« - dem des Hochzeitszeremoniells groteskerweise bis aufs Haar gleiche. 246 Genauso findet es dann tatsächlich bei der improvisierten Hochzeit von Pold und Immeke statt, die wiederum nur durch die Ausnahmesituation des Krieges möglich geworden ist. 247 Dieser Befund kann durch weitere Beispiele aus Raabes historischen Werken bekräftigt werden. So wird während des Kampfgetümmels im Junker von Denow einerseits zwar angstvoll nach der Mutter gerufen. 2 4 8 Zu einer männlich-kriegerischen Ersatzmutter der Titelfigur gerät jedoch später dessen Knecht
242 243 244
245 246 247
248
Greverus, Territorialer Mensch, S. 104. BA 20,55f. Wolf-Dieter Stempel, Ironie als Sprechhandlung, in: Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning (Hg.), Das Komische, M ü n c h e n 1976, S. 2 0 5 - 2 3 5 ; S. 234. BA 20,51 f. BA 20,52. BA 20,131 f.; 135 u. 143: »Ja, ja, ja! Nicht wahr, Pold - nicht wahr, Immeke, ein Weg! ein Leben und ein Grab!« BA 2,396. 138
Erdwin Wüstemann. Statt Anneke Mey hält er Denow jetzt vor der bevorstehenden Hinrichtung tröstend in seinen Armen. 245 In der »guten und festen Stadt Magdeburg«, 250 deren mauerbewehrte Sicherheitszone neben bräutlichen auch mütterliche Züge aufweist, will Markus Horn in Unseres Herrgotts Kanzlei schließlich gewissermaßen Mutterstelle an seinem ohnmächtigen und verwundeten Vater vertreten. Er hätte ihn »am liebsten selbsten in seinen Armen heimgetragen«. 251 Noch deutlicher tritt diese Analogie in Raabes späterem Text Die Innerste hervor. Wiederum in bewußt zynischer Verkehrung der militärischen Unterordnungsgreuel innerhalb der männerbündischen Soldatentruppe, stellt Korporal Brand sein kriegerisches Befehls- und Drillverhältnis zum Untergebenen Albrecht Bodenhagen in folgendem Bild der Fürsorglichkeit dar: »Hab ich dich nicht auf dem Buckel getragen wie eine Mutter ihr Kind?« 252 Diese Kriegsintimität in der mannmännlichen Beziehung zwischen Beschützer und Schützling wird von Raabe hier also nicht mehr, wie noch im Frühwerk, als real beschrieben, sondern ad absurdum geführt und als bloße Ideologieproduktion entlarvt. Kriegsbeziehungen stellen sich nicht nur in männlichen, patriarchalisch-phallischen Bildbereichen, als Beziehung zwischen >Vater und Sohn< dar - dies wurde ja im ersten Teil deutlich - , sondern absorbieren gleichzeitig weiblich-mütterliche Stereotypen. 2 5 3 Dadurch können einerseits die wahren Verhältnisse verdrängt werden, indem der destruktive kriegerische Akt des Tötens und Zerstörens zum positiven, Leben schaffenden Zeugungs- bzw. Geburtsakt verklärt ist. 254 Raabes historische Texte verweisen hier auf tiefgreifende Erkenntnisse der neueren Forschung. Aus dem Extremfall des Kriegsdienstes konnten männerbündische Wesensmerkmale extrapoliert werden, wie sie auch im Gewaltsystem des deutschen Faschismus zu unheilvoller Gel-
249 250 251 252 253
254
BA 2 , 4 3 0 f . BA 2 , 2 5 5 f . BA 4 , 4 6 3 . BA 12,128. Zu diesem Komplex gehört z. B. auch die unsägliche, aber bis heute beliebte Tradition, Kriegsgerät mit weiblichen Namen zu versehen. Auch in Raabes »Unseres Herrgotts Kanzlei« ist - quellengetreu - von Braunschweigs »groß Geschütz, die faule Metze genannt«, die Rede (BA 4 , 1 5 4 u. 5 3 3 ) . Das Grimmsche W ö r t e r b u c h aus d e m 19. Jahrhundert weist den Begriff >Metzeseine< A t o m b o m b e sinnigerweise den Namen »Little Boy« erhielt, entstand bildlich die Situation, als ob Tibbets Mutter im zerstörerischen Bombenabwurf noch einmal einen »kleinen Jungen« gebären würde, während in W i r k l i c h k e i t viele andere sterben sollten. V g l . zur phallischen Komponente: Richter, Psychologie, S. 9 9 . 139
tung g e k o m m e n s i n d . 2 5 5
Neben der m ä n n e r b u n d t y p i s c h e n
Vereinnah-
m u n g weiblicher Potenzen als selbstherrlichem Ausdruckswunsch nach absoluter Unabhängigkeit und Ausschließung v o n Frauen, spricht der Ethnopsychoanalytiker M a r i o Erdheim darüber hinaus einen weiteren
Folge-
A s p e k t weiblicher C o d i e r u n g des modernen, männlich ausgerichteten M i l i tärwesens patriarchalisch orientierter Gesellschaften an: Hinter den Mauern der Kaserne m u ß der Rekrut zuerst einmal die Frauenrolle, so wie sie in unserer Gesellschaft üblich ist, zu spielen lernen: Er übt mit höchster Präzision das Bettenmachen, Aufräumen und Putzen. Unversehens merkt er, daß er sich laufend die Frage stellen muß, ob er auch passend angezogen sei, ob sein Gewand richtig sitze und der Gelegenheit entspreche oder nicht. Noch nie mußte ich mich so oft täglich umziehen wie beim Militär. Die Geschlechtsumwandlung greift tief und beginnt selbst die Träume zu gestalten. [...] Eine Reihe von Kameraden erzählte mir von Schwangerschaftsträumen während der Militärzeit: der Schlafsaal verwandelte sich in einen Kreißsaal, und die Rekruten brachten Kinder auf die Welt. Nur ein M a n n , welcher derart als Frau behandelt wurde, wird sich dem weiblichen Geschlecht gegenüber so verhalten können, wie es bei uns üblich ist. 2 5 6 Diese Verweiblichungsstrategie, die die jugendlichen M ä n n e r zumeist als b e w u ß t e n Demütigungsvorgang erfahren, löst narzißtische Bedrohungsängste aus. D i e traditionellen Geschlechterrollen scheinen kurzzeitig zu vers c h w i m m e n , die erzwungene Identifikation m i t dem weiblichen Geschlecht verursacht eine folgenreiche Fusion innerer und äußerer Ängste. Dies kann in letzter K o n s e q u e n z zur angstbesetzten Festigung eines in Regression u n d p e r m a n e n t e r A b w e h r h a l t u n g gegen zukünftige
(Geschlechts-)Verunsiche-
rungen gehaltenen männlichen »Körperpanzers« 2 5 7 f ü h r e n - wie er ja zur tatsächlichen Ausstattung früheren Rittertums gehört hat. In Raabes historischen Texten, die dieses triebgeschichtliche Schema gerade über markante Stationen des volkspoetischen Ritter-Stereotyps zur Sprache
bringen,258
steht
für
diese
letzte
Etappe
auch
wieder
eine
Fluchtbewegung, diesmal diejenige der Desertion. So heißt es hier folgerichtig im soldatischen Vokabular f ü r die Tendenz, selbst noch der k i n d h a f t desexualisierten Liebsten »fahnenflüchtig [zu] w e r d e n « . 2 5 9 Dieses Verhalten
255
256 257
258
259
Vgl. hierzu: Mosse, Nationalismus, S. 110 u. S. 163ff. sowie zum Phänomen der Angst als libidinöser Bindung an den Krieg, z. B. in der Literatur Ernst Jüngers: Karl Prümm, Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre ( 1 9 1 8 - 1 9 3 3 ) . Gruppenideologie und Epochenproblematik, Kronberg/Ts. 1974, S. 153 u. S. 167. Erdheim, »Heiße. Gesellschaften, S. 343. Theweleit, Männerphantasien, Bd. 2, S. 206. Y g ] z u d i e s e m erweiterten Begriff der iVolkspoesie«, deren strukturell und motivisch analoge Merkmale sich in Märchen, Sage oder Volkslied, aber auch in Bereichen der Trivialliteratur verfolgen lassen: Hermann Bausinger, Formen der »Volkspoesie«, 2., verb. u. verm. Auflage, Berlin 1980, vor allem S. 234f. u. S. 286f. BA 20,78. Vgl. auch: BA 9/2,287: Sven Knäckabröd >desertiert< in »Der Marsch nach Hause« in Umkehrung der Begriffsbedeutung zunächst »von den Wei140
stellt der S c h w e i z e r Kriegsinvalide U t t e n b e r g e r in Raabes Hastenbeck
dabei
an Pold W i l l e fest. I m m e k e s K o s e n a m e , » B i e n c h e n von B o f f z e n « , 2 6 0 k a n n hierzu eine Aufschlüsselung liefern: Einerseits wirkt er v e r n i e d l i c h e n d , andererseits ist er aber auch Teil von Raabes bereits vorgestellter, naturaler S e x u a l i t ä t s v e r s c h l ü s s e l u n g s - T a k t i k m i t ihren n a t u r k u n d l i c h
anthropomor-
p h i s i e r t e n T i e r m e t a p h e r n . 2 6 1 L e d i g l i c h unter A u f b i e t u n g allergrößter M ü h e n w e i ß die >Wackerhahnsche< I m m e k e den geliebten Pold daher auch n u r ins E h e b e t t zu s c h a f f e n . 2 6 2 D i e s e A m b i v a l e n z v o n B e g e h r e n u n d A b w e h r läßt sich in Hastenbeck
zu-
d e m a m M o t i v k o m p l e x der »blutigen B i u m e n [ ]« bzw. R o s e n v e r f o l g e n . 2 6 3 D a b e i s c h w a n k t die auch in a n d e r e n T e x t e n R a a b e s v o r g e n o m m e n e G l e i c h setzung des w e i b l i c h e n Reifungsprozesses i m vegetativen B i l d einer sich e n t f a l t e n d e n P f l a n z e n b l ü t e 2 6 4 bereits i n n e r h a l b ihres i n t e n d i e r t e n tungsgehalts. bolismus
Wird
doch
damit
zunächst
im
Sinne
a u f die
eines
reine,
romantischen
asexuelle
Form
Bedeu-
Blumensym-
der
Liebesent-
w i c k l u n g angespielt, m i t der R o s e als d e m S y m b o l der J u n g f r ä u l i c h k e i t . 2 6 5 G l e i c h z e i t i g k l i n g t aber auch eine Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t »der sich h i n g e b e n d e n , der L i e b e sich >öffnenden< Frau« an, w e l c h e s c h o n früh zu e i n e r I d e n t i f i k a t i o n der P r o s t i t u i e r t e n i m Z e i c h e n der B l u m e g e f ü h r t h a t . 2 6 6 I n Hastenbeck
ist diese D o p p e l h e i t n o c h weiter g e t r i e b e n . D e r ü b l i c h e r -
weise m i t e i n e r Liebesidylle c o d i e r t e B e r e i c h der B l u m e ist hier direkt an seinen
eigentlichen
Kriegswunden
Gegenbereich
gekoppelt.267
Es
der rosenhandelt
bzw.
sich
blutroten,
also
um
tödlichen
eine
Meta-
p h e r n v e r s c h i e b u n g in sich w i d e r s p r ü c h l i c h e r Z e i c h e n u n d n i c h t u m die »große[ ] A n t i t h e s e v o n >Blut< u n d >Blumeerotischer Desertion«, z. B. in Ovids Werken: Spies, Militât omnis amans, S. 69. BA 2 0 , 1 3 . Lensing verweist in diesem Zusammenhang auf Brehms »Tierleben« als Beitrag zur Darwinismusverbreitung in Deutschland; ders., Naturalismus, S. 165. BA 2 0 , 5 8 . BA 2 0 , 7 5 . Vgl. z. B.: BA 9/1,170f. u. 178 (Else in »Else von der Tanne«); BA 9 / 2 , 3 3 6 (Mechthild in »Des Reiches Krone«); BA 15,13 (Konstanze in »Fabian und Sebastian«) o. BA 18,238; 241; 270f. u. 395 (Klotilde Blume in »Gutmanns Reisen«). Vgl. dazu: Mosse, Nationalismus, S. 121 f. Vgl. zu dieser, aus der Antike stammenden Blumensymbolik: Danckert, Unehrliche Leute, S. 152ff. Vgl.: BA 2 0 , 1 0 1 (»[...] wir, wie im Feldlager so in der Garnison, verstehen uns auch auf das Blumenmalen! Blaurot, rosenrot, blutrot!«) u. 176 (»In den Gärten, hinter und an den Zäunen, in den Hecken, zahm und wild, blühten sie, die Rosen, aber, leider Gottes auch auf den Schlachtfeldern [...]«). Meyer, Zitat, S. 200ff. - Vgl. zu den Übernahmen dieser Deutung z. B.: Rin-
141
bei genauerem, Raabes untergründiger Maulwurfsarchäologie verpflichtetem Lesen doch gerade eine irritierende Uneindeutigkeit. Sie entsteht durch eine auf semiotischer wie symbolischer Ebene sich gegenseitig relativierenden Aussagekraft. Darüber hinaus ist auch dieses Motiv auf dem Hintergrund einer literarischen Tradition zu sehen, die Gerhard Kaiser als patriotischen Blut- und Wundenkult< bezeichnet hat. 2 6 9 Abgeleitet aus einer barockmystischen wie pietistischen Verehrung von Blut und Wunden Christi, beobachtet Kaiser die Verwendung einer erotisierten Blumenmetapher für die blutigen Wunden heroisierter Schlachten, vor allem an der patriotischen deutschen Dichtung (Klopstock) aus der Zeit der antinapoleonischen Kriege (Arndt, Stolberg). Dieser Kontext wird bereits in Raabes Siegeskranze unterlaufen. Die dort am Ende zitierten »blutigroten Röslein< aus Theodor Körners Schwertlied von 1813 illustrieren den tatsächlichen Liebes- und Lebensverlust Ludowikes - gegenläufig zum allgemeinen nationalen Triumph. 270 Das Motiv der rosa-blutigen Blumen erweitert sich im dreißig Jahre später entstandenen Hastenbeck darüber hinaus zu einer triebgeschichtlichen Mischung von Wunsch und Tabu, ähnlich wie in Kafkas Erzählung Ein Landarzt (1916/ 17). Verbindet sich die rosa-blutige >BlumenRosaWiedergänger< die Lebenden ins Grab nachholen. 2 3 2 Andererseits werden gleichzeitig auch vorwissenschaftliche Ansichten über schädlichen und (vampiristisch) ansteckenden »Gestanck« und »Dampf der Todten Cörper« vertreten. 2 9 3 Auffassungen, die von Michael Ranft schon 1728, vor allem aber 1734, in der erweiterten Neuauflage seines Tractat / von dem I Kauen und Schmatzen / der Todten / in Gräbern, dazu benutzt wurden, vampiristische Phänomene auf ihre »natürlichen Ursachen« (chemische Prozesse, Tiereinflüsse) zurückzuführen und damit gerade zu entmystifizieren. 294 In Raabes Text ist im Umfeld von Gedelöckes Tod zwar vielfach von gefletschten oder auch teuflisch gebleckten Zähnen und Gebissen sowie von Klauenhänden mit gefährlich scharfen Fingernägeln die Rede. 295 Auch die Beerdigungsversuche erscheinen aus der Sicht seiner Umgebung als Werk des Satans, von »schweflicht Leuchten« und »feurige[m] Hufschlag« umgeben. 2 9 6 Als die wahren >Aasfresser< und >Leichenfledderer< erscheinen jedoch die amtlichen Glaubensdogmatiker. Sie bedienen sich abergläubischer Vampirismus-Vorstellungen als bloßen kirchlichen Druckmittels, wie es schon von Zeitgenossen zur historischen Zeit des Textes kritisiert worden ist. 2 9 7 In Raabes Erzählung halten sich Gedelöckes Freunde bei ihrer geheimen mitternächtlichen Beerdigungsprozedur jedoch, entgegen allen gerade
291 292
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Gedelöcks, S. 56. A. a. O., S. 20. BA 9/2,179. - Vgl. auch den Bericht über die wiederholte Beerdigung eines angeblichen Wiedergängers Ende des 16. Jahrhunderts bei: Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 524 u. S. 517f. sowie: G ü n t e r Wiegelmann, Der »lebende Leichnam« im Volksbrauch, in: Zeitschrift für Volkskunde 62 (1966), S. 161-183. Gedelöcks, S. 24f. - BA 9/2,179. Michael Ranfts ... Tractat / von dem / Kauen und Schmatzen / der Todten / in Gräbern, / Worin die wahre Beschaffenheit / derer Hungarischen / Vampyrs / u n d / Blut=Sauger / gezeigt, ... Leipzig, 1734, S. 38. - Vgl. zur Stellung Ranfts innerhalb des Vampirismusdiskurses im 18. Jahrhundert: Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 519ff. sowie zur heutigen, gerichtsmedizinischen Bestätigung von Ranfts Erklärungsansätzen: Steffen Berg, Renate Rolle, Henning Seemann, Der Archäologe und der Tod. Archäologie u n d Gerichtsmedizin, M ü n chen u. Luzern 1981, S. 66ff. Vgl.: BA 9/2,170; 174; 187; 193 o. 206f. BA 9/2,185; 195f. u. 201f. BA 9/2,178 u. 189: die schwarze Amtstracht der kirchlichen Würdenträger evoziert Raben- und Aasgeier-Assoziationen. - Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 523.
148
populär werdenden Theorien vom Unwesen der Vampire und >Nachzehrer5/«tstuhluntote< Schuld - am eigenen Innersten des Scharfrichters nagt, bis Mördlings eigenes »Herzblut« - bildlich gesprochen - über die Felsen des alten Opfergesteins zu rinnen beginnt. 314 Durch die Verklammerung von Dämonologie, christlicher Schuldverstrickung und psychischer Nachtseiten wird an diesem Beispiel die historisch-methodische Funktion der vampirischen Ungeheuer deutlich. Sie fungieren, wie der Literaturpsychologe Leslie A. Fiedler es pointiert hat, als ein 307 308
505 310 311
3,2
313 314
BA 9/1,30. O h n e »Das letzte Recht« zu berücksichtigen, hat Eberhard Rohse diese T h e m a tik u n d ihre Entwicklung seit Raabes Stuttgarter Werken aufgezeigt; ders., »Transzendentale M e n s c h e n k u n d e « , S. 169 u. S. 176ff. BA 9/1,31. BA 9/1,35. BA 1 1 , 2 1 3 . - Vgl. zu den psychoanalytischen Implikationen: Roebling, Raabes doppelte Buchführung, S. 64—70. BA l l , 2 1 5 f . - Vgl. zum Typus aufhockender Untoter sowie zur Analogie zwischen Alp und Vampir: Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 5 1 7 u. S. 5 0 8 . B A I 1,216. BA 11,194. - Oppelt verweist auch auf die abergläubische Vorstellung, der Scharfrichter könne die Krankheit der Melancholie anhexen (ders., »Unehrlichkeit«, S. 6 3 0 ) . Dies wäre im Z u s a m m e n h a n g von Roeblings Melancholie-Interpretation von » Z u m wilden M a n n « zu überprüfen (dies., Raabes doppelte B u c h f ü h r u n g , S. 7 1 - 7 8 ) . Auf den Konnex von Vampir und Melancholie soll hier dagegen später a m Beispiel der sexuellen Vampircodierung in Raabes Werken eingegangen werden.
150
Artikulations-Zwischenglied innerhalb des Verständnisvakuums zwischen abergläubischen Restbeständen, »der Abdankung der orthodoxen Lehren von der Erbsünde und dem Aufkommen der modernen, wissenschaftlichen Theorien über das Unbewußte«. 315 Gleichzeitig sind die Vampirgestalten Embleme für das Geschichtsbewußtsein europäischen Bürgertums. An der Epochenwende vom 18. zum 19. Jahrhundert, zwischen den Schrecknissen von Revolution und den Enttäuschungen politischer Restauration, beginnt es am Licht der Aufklärung zu zweifeln und läßt sich von unheimlich gezeichneten, alterslosen Gestalten der Dunkelheit literarisch faszinieren. 316 Für die Deutschen verband sich dies seit dem 19. Jahrhundert dabei vor allem mit nationalpolitischen, spezifisch deutschen Kontexten. Ein kritisches Beispiel aus der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts bietet die hier als Kapitelüberschrift zitierte Vampirabwehr in Heiner Müllers schon erwähnter dramatischer Geschichtscollage Germania Tod in Berlin. Sie dient als Strukturbild für die Belastung des deutschen Sozialismusversuchs in der DDR durch preußisch-deutsche Traditionslinien des Untertanengeistes und der Gewalt. In der Szene Brandenburgisches Konzert 2 erscheint Friedrich der Große als Vampir, der zum blutsaugerischen Kehlenbiß ansetzt, während er sich auf dem Rücken eines Maurer-Aktivisten festgekrallt hat. 317 Dieser hatte sein Berliner Reiterdenkmal gerade erst demontiert und sollte dafür im Potsdamer Schloß ausgezeichnet werden. Aus Müllers Sicht steht der Vampir also für ein lediglich parasitär existierendes (gesamtdeutsches) preußisches Erbe, das den Lebenssaft des beginnenden (einzelstaatlichen) Neuen anzapfen und dadurch lebensgefährlich schwächen kann. 318 Als »sich selber zerfleischend« wird gleich zu Beginn von Raabes spätem Text Des Reiches Krone (1870) dagegen die nationale Zersplitterung der Deutschen im historischen Kontext religiöser Machtkämpfe charakterisiert. 319 Die Kannibalismusmetapher als drastische Ausdrucksform na315
W i e d e r g e g . bei: Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 534. - Eben diesen Aspekt betont Coppolas »Dracula«-Film. Entfaltet sich die (angstbesetzte) Sehnsucht nach märchenhaft-mythischen Bereichen bei Stoker/Coppola doch gerade auf dem H i n t e r g r u n d technischer Neuerungen (Schreibmaschine, G r a m m o p h o n , Phonograph und - nicht zuletzt - Kinematograph). Deswegen scheint mir auch der durchweg ablehnende Tenor in der intellektuellen Filmkritik nicht berechtigt, der hier - wiederum in Vampirismus-Metaphorik schwelgend - lediglich eine Ausgeburt »postmodernen Spätbarocks [...] a m ausgebluteten Leichnam eines ganzen Filmgenres« zu erblicken vermochte; vgl. z. B.: Andreas Kilb, Einer mit Herz, in: DIE ZEIT 7 ( 1 2 . 2 . 1 9 9 3 ) , S. 6 1 .
316
Vgl. dazu: Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 547; S. 541 u. S. 505. Diese Szene bildet übrigens die Komplementärszene zum clownesken >Müllervon-Sanssouciverzehrt< seinen K ö r p e r bei l e b e n d i g e m Leibe. Sie frißt an seinem H e r z e n u n d läßt ihn bereits vorzeitig »uralt« auss e h e n . 3 2 0 Als »Lebendigtote[r]«, über dessen H a u p t aaswitternde
Raben
schon ihre Kreise ziehen, 3 2 1 gerät die Figur zu einer sinnfälligen Verkörper u n g nationaler A g o n i e , zu einem melancholischen A b g e s a n g , k a u m geeignet für die siegestrunkene deutsche K r i e g s e u p h o r i e von 1 8 7 0 . D a s >Untote< als ein S y m b o l für die unbewältigte, >nachzehrende< deutsche G e s c h i c h t e kann a u f der anderen
Seite aber auch als
nationaler
H o f f n u n g s t r ä g e r deutscher Reichseinigung in populärmythischer, jederzeit abrufbarer E i n k l e i d u n g auftreten. Verbergen sich hinter den
nationalen
Mythengestalten u n d -Verflechtungen schlafender, nationale Wiederaufers t e h u n g verheißender H e l d e n f i g u r e n nicht geradezu klassische A u s f o r m u n gen untoter P h a n t o m e ? W i e a m Beispiel der Kyffhäusersage u m den Stauferkaiser Friedrich Barbarossa m i t den R a b e n über s i c h . 3 2 2 W i e im Fall von K ö n i g i n L u i s e , der einflußreichen G e m a h l i n Friedrich W i l h e l m III. von Preußen. Ihr früher T o d im Jahre 1 8 1 0 ließ sie zu einer Art weiblichem, eher preußisch-bürgerlich ausgerichtetem, zweiten Barbarossa w e r d e n . 3 2 3 O d e r wie bei K ö n i g Sebastian von Portugal, dessen plötzlicher Schlachtent o d nahe der m a r o k k a n i s c h e n Stadt Alcassar ( 1 5 7 8 ) ebenfalls angezweifelt, er selbst zu einem messianischen M y t h o s i m kurz d a r a u f spanisch besetzten Portugal wurde. W ä h r e n d dieser M y t h o s in Portugal zur k o m p l e x e n Beweg u n g des >Sebastianismo< anwächst, reduzierte sich seine
Überlieferung
durch die deutsche Publizistik M i t t e des 19. J a h r h u n d e r t s lediglich a u f eine weitere Nationalvariante des bekannten deutschen B a r b a r o s s a b i l d e s . 3 2 4 A u c h R a a b e bedient sich in seinen Werken dieser Beispiele. S o geht er gleich zu B e g i n n von Sankt
320 321 322
323
324
Thomas, vor d e m H i n t e r g r u n d von Fremdherr-
BA 9/2,374. BA 9/2,365; 362 u. 359. Eben diese Raben wurden in einer Abhandlung Richard Wagners, nach dessen Enttäuschung über die zerschlagene Revolution von 1848, gleichfalls zu Aasvögeln pointiert, die am deutschen Reich zehren. Vgl. dazu sowie zu Hitlers Reaktivierung des Barbarossamythos für seine Kriegszwecke: Borst, Barbarossas Erwachen, S. 34 u. S. 57; Anm. 45. £jen J j e s e r Legendenbildung mit ihren Schwankungen zwischen den Typisierungen >preußische Jeanne d'Arc«, protestantische Maria< oder bürgerlich-gesamtdeutsche Frau und Mutter« verfolgt: Wulf Wülfing, Die heilige Luise von Preußen. Zur Mythisierung einer Figur der Geschichte in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Link/Wülfing, Bewegung, S. 233—275; S. 261 u. S. 266 (neuerdings auch in: ders. [u.a.], Historische Mythologie, S. 59-111). - Vgl. zur Verbindung von Königin Luise und Germania sowie zum sentimentalen Totenkult im wilhelminischen Deutschland und seinen Analogien zum viktorianischen England, der Hochburg des Schauer- und Vampirromans: Mosse, Nationalismus, S. 116f. Vgl. dazu: Alfred Opitz, Nachdenken über Sebastian. Funktion und Rezeption eines nationalen Mythos, in: Link/Wülfing, Nationale Mythen, S. 106-119. 15*
schaff und Freiheitskampf, ausführlich auf den Sebastianmythos ein. 325 Neben den im ersten Teil bereits thematisierten Anspielungen auf den mythisierten Friedrich Barbarossa selbst, läßt Raabe seine im nationalen Sinne aktivierten Frauenfiguren auch häufig als dessen weibliches, dem Luisenmythos entsprechendes Pendant erscheinen. Unter Einbeziehung von Märchenmotiven entsteht in dem frühen Text Nach dem großen Kriege dabei das Bild vom wachzuküssenden deutschen Domröschen! Anna von Rhoda. 326 Im der mittleren Schaffensperiode zuzurechnenden Siegeskranze ist in Verbindung mit Ludowike, der über ihrer persönlichen, national bedingten Tragödie Irregewordenen, die Rede vom >lebendigbegrabenen Schneewittchens 3 2 7 Aus ihrer Verwirrtheit >erwacht< Ludowike im Augenblick nationalen Siegestriumphes jedoch nur, um kurz darauf zu sterben. Im späten Text Kloster Lugau >erwacht< Eva Kleynkauer beim Ausbruch des DeutschFranzösischen Kriegs dagegen endgültig und zudem noch >traumhaft siegesgewiß< aus ihrem grabesschlafähnlichen Zustand, dem sie durch vorherige Liebesverwicklungen verfallen war. 328 Wie Raabe in seinen Texten allerdings mit tatsächlich (national)politisch kämpfenden Frauenfiguren umgeht, das soll im folgenden unter dem Gesichtspunkt kannibalistischer Motivik betrachtet werden, bevor das Phänomen der wirklich vampiristisch Untoten ins Blickfeld rücken kann. 2.3.2
>Da werden Weiber zu Hyänen...< Die Frau als Kriegerin - der Krieg als Frau
Karl-Friedrich Hahn hat für Raabes Text Des Reiches Krone bereits kritisch darauf hingewiesen, daß die weibliche Hauptfigur Mechthild Grosse einer heroisierenden Typisierung zur kriegsaufrufenden Germania unterliegt. 329
325 326
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329
B A 9 / 2 , 7 f f . u. 4 1 5 . BA 4 , 6 5 . V g l . in Raabes »Marsch nach Hause« auch den »verzauberten Schlaf« der beiden exilierten Schweden, in dem sie vor der Schlacht bei Fehrbellin gelegen haben sollen (BA 9/2,294). - Die Verwebung des Dornröschenmotivs mit der Kyffhäusersage beschreibt: Borst, Barbarossas Erwachen, S. 50. BA 9/2,242 u. 2 4 6 . BA 19,209f. Dies wird in »Kloster Lugau« noch durch einen Hinweis auf die nationale Stiftung des »Luisenordens« durch Friedrich W i l h e l m III. unterstrichen. Die Verleihung dieses Ordens sollte besonders in politisch brisanten Zeiten das Ritual des nationalen Luisenmythos mobilisieren (vgl.: BA 19,108 sowie: W ü l f i n g , Heilige Luise, S. 266f.). - Auch Raabes Vater e r w ä h n t in den handschriftlichen Aufzeichnungen seiner Reisen aus den Jahren 1 8 1 4 - 1 8 4 3 , die ihn hauptsächlich an national bedeutsame Schauplätze führten, lobend Christian Daniel Rauchs Luisen-Sarkophagdenkmal. 1834 hatte er es bei einem Berliner Aufenthalt aufgesucht (vgl.: StA: H III 10 Nr. 3 9 : Gustav Carl M a x i milian Raabe, M e i n e Reisen 1 8 1 4 - 1 8 4 3 , B1.189). Rauchs bekanntes Grabd e n k m a l stellt die junge Königin im Todes-ScA/a/dar und übte einen wesentlichen Einfluß auf die damit verbundene M y t h e n b i l d u n g zukünftigen, nationalen >Erwachens< aus (vgl.: W ü l f i n g , Heilige Luise, S. 260ff.). H a h n , »Des Reiches Krone«, S. 136.
153
Auch in Dona Camilla Drago aus Raabes fünf Jahre früher beendetem Text Sankt Thomas (1861-1865) existiert auf spanischer Seite eine kriegerische Nationalfigur, diesmal im Sinne des weiblich codierten Barbarossamythos. Während Camilla zunächst in einer Hängematte schlafend eingeführt wird, >erwacht< sie aus Fieberträumen und Lethargie im Augenblick des niederländischen Angriffs auf das spanisch besetzte Schloß Pavaosa. 330 Nach dem plötzlichen Kriegstod ihres Onkels, des Kommandanten Franzisko Meneses, erstürmt Camilla selbst die Schloßmauer zur kriegerischen Verteidigung. Camillas geradezu fanatische Verzückung, in die sie dabei gerät, erfährt hier jedoch keine Glorifizierung, sondern ist - im Gegenteil dämonisiert: W i e der schöne, aber tödliche Genius dieser glühenden Insel erschien sie nun; es war, als habe die verderbliche M a c h t der tropischen Sonne in ihr einen Körper gefunden; [,..] 3 3 1
Damit wird Camilla zu einer vampirischen Personifizierung der pestartigen Fieberseuche Madorka, an der sie sich anfangs selbst infiziert hatte. Die Krankheitssymptome - ein unnatürlicher, >untoter< Wechsel zwischen Schlaftrunkenheit und Hyperaktivität - übertragen sich schließlich auch auf die gegnerischen Parteien der europäischen Krieger. 332 Die Männer werden von der Tropeninsel (=Camilla) bei lebendigem Leibe buchstäblich verzehrt, »behext«, (sexuell) ausgesaugt bis die »ruhelose Erschlaffung« in den »Fangarme[n]« dieser »Bestie« schließlich zum Tode führt. 3 3 3 Hans Otto Horch sieht in der Spanierin Camilla daher den Typus einer kämpferischen Jeanne d'Arc verwirklicht. 334 Besonders durch die vampirisch-verschlingende Dämonologisierung scheint sich mir dagegen eher die allegorische Kriegsdarstellung der >Bellona< anzukündigen. Sie taucht in Raabes späteren historischen Werken immer wieder als abschreckend »blut-
330 331
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334
BA 9/2,9 u. 4 7 . BA 9/2,47. - Vgl. zur allegorischen Verschränkung von Landschaft und Figur bereits: Horch, Historische Standortbestimmung, S. 126f. sowie zur Heldenf u n k t i o n von Schauplätzen bei Raabe überhaupt: W i l h e l m Brandes, Ein Entwurf zu »Sankt Thomas«, in: M i t t . 11 ( 1 9 2 1 ) 3/4, S. 7 4 - 8 0 ; S. 80 (»Sankt T h o m a s « , »Die Innerste«, »Das Odfeld«). BA 9/2,37. BA 9/2,37; 38f. u. 4 9 . In Raabes Quelle (wie auch in den historisch zeitgleich angelegten Texten »Der Junker von Denow« und »Die schwarze Galeere« handelt es sich u m Karl Curths Fortsetzung zu Schillers »Geschichte des Abfalls der Niederlande von der Spanischen Regierung« aus dem Jahr 1823) ist neben den sexuellen Implikationen dieser Tropenkrankheit auch bereits die Rede von einer innerlichen Fettaufzehrung ihrer Opfer; vgl.: W i l h e l m Fehse, Eine RaabeQuelle, in: M i t t . 4 ( 1 9 1 4 ) 4, S. 9 5 - 9 9 ; S. 98. - Was in Raabes Text als vampiristische Inselrache für die versklavten Eingeborenen erscheint, diagnostizierte Fanon später umgekehrt als psychische Störung eines algerischen Kolonisationsopfers. Seine Depersonalisierung hatte sich in blutentleerenden Vampirismus-Ängsten artikuliert. Vgl.: ders., Die Verdammten, S. 220ff. Horch, Historische Standortbestimmung, S. 122 u. 126.
154
dürstige«, höhnisch lachende oder zerstörerisch erdzerwühlende, weibliche Verkörperung grausamen Kriegsgeschehens auf. 3 3 5 Als eine direkt gestaltgewordene Bellona sollte in Raabes erstem Entwurf zu Die Innerste (1874) zunächst auch Doris Radebrecker erscheinen. 3 3 6 Diese Eindeutigkeit ist in der endgültigen Textfassung deutlich zurückgenommen. Statt dessen verteilen sich Dämonisierungs-Elemente jetzt sowohl auf den titelgebenden Harzfluß wie auf diese ihn teilweise personifizierende Frauenfigur. Ihre Flußnähe erinnert dabei an ein weiteres, spezifisch deutsches Beispiel weiblicher Mythisierung: an das romantische Konstrukt der Loreley. Auf einem Rheinfelsen sitzend, lockt sie vorbeifahrende Schiffer durch Schönheit und Gesang an, um sie dann in den (Wasser-)Tod stürzen zu lassen. Auch Doris Radebrecker wird in Raabes Text die Fähigkeit zugeschrieben, mit ihrer Stimme die Männer gegen deren Willen zur Räuberhöhle, in den Dienst ihres Vaters, hersingen zu können. 3 3 7 Sie selbst wird als fordernde Kriegerin und »Hexe« der »Sägemühle mit gefräßigen Zähnen« dargestellt, die lachend ihre eigenen Zähne zeigt und bedrohlich mit blutigen Messern hantiert. 3 3 8 Die blutsaugerische, vampiristisch-verschlingende Metaphorik verdichtet sich jedoch auch hier in besonderem Maße, wenn vom weiblich codierten Naturelement, dem Fluß namens >Innerste< (=Doris), die Rede ist. Die Innerste wird nun ausdrücklich als »blutdürstig« beschrieben, da sie nach abergläubischen Vorstellungen regelmäßig »ein Lebendiges für ihren Hunger verlange«. 339 Genauso gierig wie sie diese »Beute« verschlingt, benagt, zerfrißt, so vertilgt die Innerste - als Rache für ihre ökologische Mißhandlung 3 4 0 - auch alles um sich herum, was ihr zu nahe tritt, gefräßig und grausam »wie eine Tigerkatze«. 341 Neben diesen beiden, von der Raabe-Forschung bereits bemerkten Verbindungen zwischen (sexuell) dämonologisierten, kriegerischen Frauengestalten und aggressiver, weiblich-verschlingend ausgestatteter Naturland335
336 3,7
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339 340 341
Vgl. z . B . : BA 2 0 , 4 8 (»Hastenbeck«); BA 9 / 2 , 2 5 7 (»Marsch«) u. 198 (»Gedelöcke«) sowie zur B e l l o n a - D a r s t e l l u n g allgemein: H o l s t e n , Allegorische D a r s t e l l u n g e n , S. 36f. BA 1 2 , 5 0 3 . BA 1 2 , 1 6 4 u. 162. D e r s i n g e n d e R u f k ü n d i g t a m E n d e a u c h ihren letzten K a m p f gegen d e n Sarstedter M ü l l e r s o h n an ( 1 9 0 ) . - In diese R i c h t u n g weist a u c h R o e b l i n g s D e u t u n g s a n s a t z , w e n n sie v o n d e r Figur D o r i s R a d e b r e c k e r als v o n »eine[r] s p ä t e [ n ] Schwester der Sirenen« s p r i c h t (dies., Berliner L u f t , S. 2 2 1 ) . D e r unheilvoll a n z i e h e n d e Sirenengesang, d e m d e r griechische Sagenh e l d O d y s s e u s n u r d u r c h eine List w i d e r s t e h e n k o n n t e , ist in Raabes » H e i l i g e m Born« z u d e m e i n d e u t i g erotisch k o n n o t i e r t (BA 3 , 1 4 1 ) . BA 1 2 , 1 6 6 ; 160f.; 165 u. 168. D e r K o r p o r a l J o c h e n B r a n d v e r b l u t e t a m E n d e an e i n e m Messerstich von ihr (193f.). BA 12, 104 u. 130. Dies w i r d bereits in Raabes Q u e l l e b e t o n t ( 5 2 1 ) . Vgl. zu d e n ö k o l o g i s c h e n I m p l i k a t i o n e n : D e n k l e r , »Innerste«, S. 23ff. BA 1 2 , 1 4 7 ; 132 u. 176. - Auf die aggressive T i e r m e t a p h o r i k bei Raabes s p ä t e n F r a u e n f i g u r e n h a t bereits Jean Royer hingewiesen: Köter, Kater u n d Katze in Raabes » S t o p f k u c h e n « , in: Lensing/Peter, Raabe, S. 2 9 9 - 3 2 3 .
155
schaft, existieren besonders in Raabes historischen Werken noch deutlichere bildliche Überlagerungen von kriegerischen Ereignissen mit kannibalisch/vampiristisch gezeichneter Weiblichkeit. Es handelt sich hierbei um eine Codierungsstrategie, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts politische wie sexuelle Kollektivängste abwehrwirksam zu verklammern wußte. 342 In Raabes frühem Text Unseres Herrgotts Kanzlei kann beispielsweise einer der feindlichen Belagerer Magdeburgs, Herzog Georg von Mecklenburg, nach seiner Gefangennahme nur mit Mühe der unbändigen Rachsucht >kreischender Weiber< entrissen werden. Sie dringen mit Äxten, Stangen, Schwertern und Spießen auf ihn ein. 343 Doch selbst die heimtückische Meuterei innerhalb der Stadt wird zu einem weiblichen Höllenspuk stilisiert, wo »Weiber, Hexen, halbnackte Dirnen mit Messern, Beilen, Knitteln« wüten - der atemlose Erzählrhythmus spiegelt plastisch das Entsetzen des männlichen Augenzeugen wider. 344 Etwas anders verfährt Raabe dagegen im neun Jahre später entstandenen Text Der Marsch nach Hause (1869-1870). Sein Ausgangspunkt besteht in den historisch überlieferten Vorkommnissen um die Aufreibung der Schweden durch die »mannhaften Weiber des Bregenzer Waldes« während des Dreißigjährigen Kriegs.345 Am 4. Januar 1647 lauern vorarlbergische Frauen einer zurückgelassenen Kompanie schwedischer Besatzer auf und erschlagen die schon zur Flucht Bereiten »bis auf den letzten Mann«. 346 Der blutgetränkte Ort des Geschehens erhielt daraufhin den Namen >rote EggTeufelin< und >Hexe< dämonisiert, die >Geheimprostitution< betreibe (sexuelle Variante). Vgl. dazu die kritische Dok u m e n t a t i o n von: Tessa Prager, Der Ort, wo man die Augen schließt, in: DIE ZEIT 12 ( 1 5 . 3 . 1 9 9 1 ) , S. 102.
343
BA 4 , 3 6 6 . BA 4 , 4 6 4 . Vgl. zu Raabes Quelle: BA 9/2,475f. BA 9/2,260 u. 4 7 5 . BA 9/2,260f. Dies wie auch das folgende M o m e n t fehlen in Raabes Q u e l lenvorlage; vgl.: Joseph Bergmann, Die Schweden in und um Bregenz, und ihre Aufreibung durch die mannhaften Weiber des Bregenzer=Waldes, in: Vorarlber-
344 345 346 347
156
- über den Quellenrahmen hinaus — in einem »wutentbrannten]« Tanz, den die »Weiber vom Walde«, »noch nicht in der Stimmung, den alten, lieben Beruf der Frauen, die barmherzigen Schwestern und Krankenwärterinnen zu spielen«, um die niedergemetzelten Schwedenkörper aufführen. 348 Dadurch geraten die Frauen hier - im krassen Gegensatz zur (auch im Text) sonst erwarteten, engelsgleichen Pflegerinnenrolle - eindeutig in den Geruch bacchantischer Raserei und grausam-zerstückelnder, verschlingender Ekstase. Andererseits erlaubt der Charakter national interpretierter Befreiung, der diese Tat auszeichnet, aber auch, von den »schönen Züge[n] weiblichen Mutes« und »weiblicher Tapferkeit« zu sprechen. 345 Dadurch eröffnet sich Raabes Erzähler die Möglichkeit, einen ironisch-kritischen Blick auf die im Kampf fehlende Männlichkeit zu tun, die sich später zum historischen Chronisten aufwirft. Aus dieser spezifisch männlichen Sichtweise traditioneller Geschichtsschreibung kann dann lediglich »in verlegener und etwas bänglicher Bewunderung Kunde [ge] geben« werden. 350 Daß sich Raabe kurz nach Beendigung des Textes mit diesem ambivalent bleibenden Rückgriff auf eine weibliche Kriegsanekdote der Historie durchaus wieder auf der Höhe seiner eigenen Zeit bewegte, dokumentiert ein von ihm gesammelter Zeitungsausschnitt aus der Wochenzeitschrift Daheim von 1870. Er findet sich dort einige Seiten nach dem ersten Teilabdruck von Raabes Marsch nach Hause. Im Angesicht des gerade beginnenden Deutsch-Französischen Kriegs wird in einem Artikel des Herausgebers Robert König, mit dem Titel Frauenthorheit und Frauendienst im Kriege, die Möglichkeit eines weiblich-kriegerischen »Amazonenfreicorps« gerade als völlig indiskutabel abgelehnt. 351 Der auch hinter dieser historisch-mythisch kostümierten Zurückweisung eines aktiven Kriegseinsatzes von Frauen
348 349 350 351
ger Volkskalender für das Schaltjahr nach der gnadenreichen Geburt unseres Heilandes Jesu Christi 1852 [unpag.]. BA 9/2,261. BA 9/2,260. Ebd. StA: H III 10 Nr. 137: R[obert] K[önig], Frauenthorheit und Frauendienst im Kriege, in: Daheim 6 (1870) 48, S. 767f. - Während das Bild der Amazonen nach wie vor aus dem Raster akzeptabler weiblicher Positionen herausfiel, ist am Beispiel national engagierter Frauenvereine gegen Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich eine zunehmende Identifikation mit kämpferischen Frauenvorbildern aus der Historie zu beobachten. Die sogenannten »Bismarckfrauen« erinnerten so z. B. an die Heldinnen der antinapoleonischen Kriege; vgl.: Karin Bruns, Machteffekte in Frauentexten. Nationalistische Periodika ( 1 8 9 5 - 1 9 1 5 ) , in: Becher/Rüsen, Weiblichkeit, S. 3 0 9 - 3 3 8 . Für die Entwicklung weiblicher Emanzipation bedeutete dies, daß sich selbst den konservativen Frauen des Kaiserreichs dadurch eine (national legitimierte und von ihnen selbst eher notgedrungen akzeptierte) Möglichkeit bot, »bei gleichzeitiger Abgrenzung von der Frauenbewegung und >getarnt< mit familiarer und religiöser Metaphorik am politischen Geschehen zu partizipieren« (a. a. O., S. 329f.; vgl. dazu neuerdings auch ausführlich: Wülfing [u.a.], Historische Mythologie, S. 1 3 2 - 1 5 3 ) .
157
sichtbar w e r d e n d e Furor m u ß dabei v o r dem Hintergrund einer sich herausbildenden m o d e r n e n Massengesellschaft mit ihren technischen, tisch-sozialen,
psychologischen
wie
poli-
rollenspezifisch-emanzipatorischen
Neuerungen und Erschütterungen gesehen werden. In Deutschland ist es v o r allem der revolutionäre Umsturzversuch v o n 1 8 4 8 , der nicht n u r zu ein e m A u f b r u c h der Frauen in Ö f f e n t l i c h k e i t und Politik f ü h r t . D a r ü b e r hinaus läßt er die Möglichkeit einer breiten Entfesselung leidenschaftlichdynamischer menschlicher K r a f t p o t e n t i a l e sichtbar werden. Ihr gewaltvoller A u s b r u c h f ü h r t gleichzeitig Lust und Schrecken der eigenen, individuellen Triebhaftigkeit v o r Augen. U m sich d e m daraus resultierenden K o n g l o merat sexuell-politischer Ängste, die männlich-bürgerlicher Respektabilität bedrohlich erscheinen, erwehren zu k ö n n e n , ist im politischen wie literarischen Diskurs eine weibliche C o d i e r u n g der Massen zu beobachten. So kann nicht n u r die Angst v o r der eigenen Sexualität zur Angst v o r d e m sexuell dämonisierten >Naturwesen< Frau verkehrt und verdrängt w e r d e n . 3 5 2 Gleichzeitig greifen auf der politischen Ebene damit patriarchalisch-familiale Disziplinierungs- und Ausgrenzungsmechanismen: Die rebellierende Masse hat sich - durch ihre Subscriptio als W e i b und daher genau wie dieses - zwangsläufig der männlichen A u t o r i t ä t zu u n t e r w e r f e n . 3 5 3 Sie verkörpert sich
in derjenigen
des (Landes-)Vaters,
des Ehemanns
oder
des
Psychiaters — in letzter, medizinisch-therapeutischer Instanz im Zuge einer fortschreitenden
Pathologisierung
eines hysterieverdächtigen
weiblichen
Körpers.
Vgl. zur anthropologischen »Leerstelle >Frauvorbeugenden< Feminisierung und Hysterisierung von Männern aus den arbeitenden, und damit gefährlichen Klassen< führen konnte, zeigt: Ursula Link-Heer, »Männliche Hysterie«. Eine Diskursanalyse, in: Becher/Rüsen, Weiblichkeit, S. 3 6 4 - 3 9 6 ; S. 385f. - Auch Bachofens Mutterrechts-Thesen von 1861 enthielten antirevolutionäre Implikationen dieser Art; vgl: Fritz Kramer, Verkehrte Welt. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1977, S. 61 ff. Vgl. darüber hinaus zum angstbesetzten politischen wie weiblich-körperlichen Bild der >roten Flut« (sozialistische Revolution/Menstruationsblut) im 19. und 20. Jahrhundert: Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1, S. 236ff. u. S. 373ff.
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Diese zweifache »Normalisierungsstrategie« 357 ' — bezüglich der sozialen Masse bzw. einer nichtfamilialistischen Weiblichkeit - hat ihren eigentlichen großen Vorläufer in den Ereignissen der Französischen Revolution. Ihre Postulate von menschlicher Freiheit und Gleichheit begannen sich kurzzeitig auch auf die Geschlechterrollen auszuwirken. 355 Doch selbst den, revolutionären Gedanken und Ereignissen aufgeschlossenen, deutschen Parisbeobachtern erschien die massive, ja kriegerische Beteiligung der französischen Frauen am politischen Aufstand - beim Sturm auf die Bastille oder beim Protestzug nach Versailles - als deutsches Schreckbild. So z. B. auch dem niedersächsischen Reformpädagogen und Robinson CrusoeBearbeiter Joachim Heinrich Campe. In Briefen und Reiseberichten schildert er die Revolutionärinnen von 1789 nicht als politische Akteure, sondern ausnahmslos als nymphomanische Hysterikerinnen, und damit allein als sexualisierte Geschlechtswesen. Ihre blutrünstige Aggressivität scheint ihm selbst zu Greueltaten wie derjenigen des Kannibalismus fähig. 356 Mit dieser Angstvision stand Campe nicht allein. Vor allem Jules Michelets Geschichte der Femmes de la révolution von 1854 erwies sich in dieser Hinsicht als prägend für das 19. Jahrhundert. Michelet reduziert selbst den wirkungsvollen, aber eher unspektakulären Einsatz der revolutionären Frauenclubs und ihrer Wortführerinnen (Madame Roland, Théroigne de Méricourt, Etta Palm d'Aelders, Olympe de Gouges) auf eine den Revolutionsprozeß gravierend hemmende, >typisch weiblich-verführerische< Intrigantinnenrolle. 357 Das historische Material gerät auch ihm zur bloßen Folie eigener Projektionen. Dabei dürfen die obligatorischen sexuellen Pathologisierungen wahnsinniger, zerfleischender weiblicher »Hyäne[n]« ebenfalls nicht fehlen, da die emanzipatorischen Aktivitäten der Revolutionärinnen als bedrohlich, ja geradezu als kastrierend empfunden werden. 358 Eben dies prägt ja auch den Titel dieses Kapitels, angelehnt an die sprich354
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Gerhard, Masse, S. 152. - Vgl. auf dem H i n t e r g r u n d des Revolutionsversuchs von 1848 auch die doppelte Verunglimpfung revolutionärer Arbeiter-Frauen. Dies zeigt für die W i e n e r Verhältnisse: Gabriella Hauch, Blumenkranz und Selbstbewaffnung. Frauenengagement in der W i e n e r Revolution 1848, in: Helga Grubitzsch, Hannelore Cyrus, Elke Haarbusch (Hg.), Grenzgängerinnen. Revolutionäre Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Weibliche W i r k l i c h k e i t und männliche Phantasien, 1. Auflage, Düsseldorf 1985, S. 9 3 - 1 3 3 ; S. 128f. V g l . zu den W a n d l u n g e n des Frauentyps im Verlauf der Französischen Revolution: Mayet, Außenseiter, S. 7 2 . Wiedergeg. u. k o m m , bei: Ursula Geitner, »Die eigentlichen Enragées ihres Geschlechts«. A u f k l ä r u n g , Französische Revolution und Weiblichkeit, in: Grubitzsch [u.a.], Grenzgängerinnen, S. 1 8 1 - 2 1 7 ; S. 187ff. Jules Michelet, Die Frauen der Französischen Revolution, frei bearb. u. mit geschichtl. A n m . v. Eduard M a r i a Oettinger, Brüssel u. Leipzig 1854, S. 61; S. 223ff. u. S. 2 7 9 (Erstveröffentlichung u.d.T.: Les femmes de la révolution, Paris 1854). A. a. O., S. 120. - Vgl. dazu die historischen Korrekturen von Helga Grubitzsch, die auch auf die Fülle der Kastrationsmetaphern in Michelets Text hinweist: Michelets »Frauen der Revolution«, in: dies, [u.a.], Grenzgängerinnen, S. 1 5 3 - 1 7 9 ; S. 167ff. u. S. 176f.; A n m . 8.
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wörtlich bekanntgewordene Zeile aus Schillers antirevolutionärem Lied von der Glocke (1799). Die angeblichen Beispiele männlicher Zerstückelung nimmt Bogumil Goltz dann in seine Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen auf, dessen zweite Auflage aus dem Jahr 1863 auch Raabe besessen hat. 3 5 9 Sie dienen Goltz wiederum als grausame »Zeugnisse« für seine allgemeine Theorie der »Exzesse« und der »Dämonie namentlich in der Weiber=Natur!« 360 Goltz deutet diese Verfehlungen als Reaktion auf eigentlich männliches Rollenversagen, als kriegerischen Ansporn für eine feige und tatenlos empfundene Männlichkeit. Eben dieses Argument der »unbeschützte[n] Jungfrauen und Wöchnerinnen«, die sich nicht länger auf männliche »Schwächlinge« und Hasenfüße verlassen wollen, taucht nun auffällig oft, allerdings in polemischer Ausnutzung durch die Frauen selbst, in Raabes ein Jahr später begonnener deutscher Revolutionssatire Die Gänse von Bützow ( 1 8 6 4 - 1 8 6 5 ) auf. 361 Die Bewertungen des darin geschilderten Bützower Frauenaufstandes gegen die neue, von der kleinstädtisch-männlichen Obrigkeit oktroyierte Gänsehaltungsverordnung gehen in der bisherigen Raabe-Forschung diametral auseinander. Sie variieren zwischen Anklängen an Schopenhauersche Misogynie oder aber an ein geschlechtsspezifisches Umdenken im Sinne Olympe de Gouges' Frauenrechtsforderung aus der Französischen Revolution. 362 Dieser - vermeintliche — Widerspruch läßt sich jedoch aufheben, wenn nicht nur die Männerversammlungen auf dem Hintergrund von Ereignissen und Protagonisten der Französischen Revolution gelesen werden - wie in der Raabe-Forschung bereits geschehen —, sondern ebenso mit den Frauenfiguren in Raabes Text verfahren wird. Gerade an ihnen zeigen sich nämlich die seit diesem Ereignis populären Angstvisionen vor der selbständigen Frau als einer politisch wie sexuell bedrohlichen Megäre. Gleichzeitig kann dies aber durch die allein männliche Perspektive der Erzählerfigur Rektor Eyrings ironisiert und - entsprechend der gesamten Textstruktur — ins Uberdimensionale und damit Lächerliche gesteigert werden. So ist die zur Witzblattfigur der mannstollen >alten Jungfer< klischierte, alleinstehende Aufrührerin mit dem martialisch klingenden Namen >Hornborstel< direkt als Bützower »Madame Roland« ausgewiesen. 363 Sie zeichnet für Brotrevolte, 364 Handwerkeraufstand und Gänserevolution verantwortlich.
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StB: I 16/183: Bogumil Goltz, Zur Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen, 2. Auflage, Berlin 1 8 6 3 , S. 228f. (mit Raabes Namenszug versehen). A. a. O . , S. 2 2 6 u. S. 2 3 0 . Vgl.: B A 9 / 2 , 1 3 8 f . u. 106. Vgl.: Kirchhoff, Philosophische Einflüsse, S. 3 0 6 f . und: Roebling, Berliner Luft, S. 2 1 8 f . sowie, etwas ausgewogener: Bröhan, Darstellung der Frau, S. 95— 117. BA 9/2,128; 8 9 ; 95 u.ö. Möglicherweise bezieht sich Raabe hier auf ein Ereignis aus dem Vorfeld der
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Ihr historisches Vorbild aus der Französischen Revolution übte großen Einfluß auf die Politik der Girondisten aus, einer gemäßigten republikanischen Partei, die das Bürgertum der Provinzen vertrat und der >terreur< unter Robespierre zum Opfer fiel. A m 8. November 1793, fünf Tage nach der Hinrichtung der Frauenrechtlerin Olympe de Gouges, wurde M a d a m e Roland guillotiniert. Auch sie hatte den bewaffneten Fraueneinsatz als mutiges »Amazonenschauspiel« in der patriotischen Tradition einer Jeanne d'Arc begrüßt. 3 6 5 Dadurch gab sie ein denkbar schlechtes Beispiel für die Vorstellungen patriarchalisch hierarchisierter Familienharmonie ab, welche sich im Z u g e diktatorischer Radikalisierung des Revolutionsprozesses wieder mit Macht durchzusetzen begannen. 3 6 6 Gerade auf dieses Ideal reduzieren sich M a d a m e Rolands politischen Aktivitäten jedoch in der Darstellung Jules Michelets. Er stilisiert sie zur treusorgenden Ehefrau, die nicht müde wurde, die Männer der Revolution zum Handeln zu ermahnen, und dabei rein unwissentlich ihren eigenen M a n n in den Schatten gestellt habe. 3 6 7 Während Michelet durch eine verfälschende, positive Vereinnahmung zur Befestigung der Geschlechterideologie beiträgt, erreicht Raabes Text dasselbe ex negativo, durch das Mittel warnender Abschreckung. Raabes Mamsell Hornborstel kann sich zwar gegen die Einsperrung ihrer G ä n s e durchsetzen. Auf der historischen Folie der weiblichen Revolutionsaktivitäten läßt sich dabei tatsächlich eine konkrete Ubereinstimmung der vielbeschworenen Textanalogie >Gänse/Weiber und Französische Revol u t i o n herstellen: Seit 1793 - ein Jahr später ist die Handlung in Raabes Gänsen von Bützow angelegt - erfolgte in kurzen Intervallen der völlige Ausschluß der französischen Frauen aus der politischen Öffentlichkeit. So wird den Frauen im April 1793 das Bürgerrecht aberkannt. Im Oktober werden die feministischen C l u b s geschlossen. Zwei Jahre später untersagt der Konvent Frauen die Teilnahme an politischen Versammlungen, Zuwiderhandelnde werden unter Hausarrest gestellt. 3 6 8 Die revolutionären, polispäteren 48er Revolution in Deutschland. Siebzehn Jahre vor der E n t s t e h u n g dieses Textes in Stuttgart sorgte dortselbst ein »Brot-Krawall« für Aufsehen. Auch hier stach besonders die aggressive Beteiligung von Frauen (allerdings aus der Unterschicht) und ihrer Anführerin n a m e n s Beate Calwer hervor; vgl.: S a b i n e Kienitz, » D a war die Weibsperson nun eine der Ärgsten mit Schreien und Lärmen«. D e r Stuttgarter Brot-Krawall 1847, in: C a r o l a L i p p ( H g . ) , S c h i m p f e n d e Weiber und patriotische J u n g f r a u e n . Frauen im Vormärz und in der Revolution 1 8 4 8 / 4 9 , B ü h l - M o o s 1986, S. 7 6 - 8 7 . 365
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Wiedergeg. bei: C l a u d i a O p i t z , » D i e vergessenen T ö c h t e r der Revolution« Frauen und Frauenrechte im revolutionären Frankreich von 1 7 8 9 - 1 7 9 5 , in: Grubitzsch [u.a.], Grenzgängerinnen, S. 2 8 7 - 3 1 2 ; S. 2 8 9 . A. a. O . , S. 2 9 5 f f . Michelet, Frauen der französischen Revolution, S. 1 3 4 - 1 6 2 ; S. 148 u. S. 159. - V g l . dazu wiederum korrigierend: Grubitzsch, Michelets »Frauen der Revolution«, S. 158. Vgl.: O p i t z , » D i e vergessenen T ö c h t e r der Revolution«, S. 2 9 4 f . sowie: H a s sauer, Gleichberechtigung, S. 2 7 9 : Im M ä r z 1800 verbietet das napoleonische l6l
tisch aktiven Frauen sind in Frankreich zu diesem Zeitpunkt also genauso eingesperrt und aus dem öffentlichen Leben verbannt wie die freilaufenden Gänse der Bützower Frauen, deren revolutionäres »Geschrei und ärgerlicher Unfug, Gackeln, Zischen« der männlichen Stadtbevölkerung ebenfalls als nicht mehr tragbar erschienen war. 369 Damit endet aber auch schon jegliche spezifische, frauenemanzipatorische Analogie zwischen Bützower Gänsen/Frauen und den Frauen im revolutionären Frankreich. Die übrige Beschreibung der Frauen um Mamsell Hornborstel spielt dagegen mit den allgemeinen Abwertungs- und Dämonologisierungs-Stereotypen, wie sie bereits in den Versionen von Michelet und Goltz vorgestellt worden sind. So setzt die Hornborstel ihre weibliche Verführungs- wie Verweigerungskraft nicht nur bewußt für ihre öffentlichen Angelegenheiten ein, um vom armen Magister Albus bis zu Bürgermeister Hane die Bützower Männlichkeit zum Spielball ihrer Interessen zu machen. Ganz im Sinne der Michelet-Theorie von einer >naturgegebenen« Dominanz weiblicher Liebeshändel in der Politik wird sogar der Anschein erweckt, Mamsell Hornborstels politische Aktivitäten kämen ausschließlich ihren eigenen Heiratswünschen zugute. Werden ihre verschiedenen Revolten doch allein als Racheakte gegen den Bürgermeister dargestellt, der ihr den Laufpaß gegeben hat. 3 7 0 Zu allem Uberfluß steht am Ende des Gänseaufruhrs Mamsell Hornborstels glückliche Verlobung mit einem bei ihr einquartierten Husarenleutnant, dessen Schweriner Truppe zur Sicherheit der Stadt anrücken mußte. 3 7 1 Wie eine zweite Lysistrate hatte die Hornborstel die übrigen Frauen zuvor zum Geschlechterkampf aufgewiegelt. 372 Als revolutionärer« Bützower Frauenclub fand man sich dabei zum nachmittäglichen Kaffeeklatsch in ihrem Hause ein. Diese weiblich-biedere Form der Geselligkeit 373 n i m m t in der Vorstellung des erzählenden Rektors Eyring nun wahrhaft monströse Ausmaße an. In Anlehnung an antike Muster, wie sie auch während der Französischen Revolution beliebt waren und dem oberlehrerhaften Sprachduktus des Rektors entsprechen, sieht er Erinnyen mit Schlangenhaaren vor sich. Unter Verwendung der antiken Metrik des Daktylus imaginiert Eyring
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Konsulat Frauen schließlich das Tragen der Kokarde, der Insignie der Revolution. N u n ist ihre Spur selbst aus dem symbolisch erinnernden Rahmen des öffentlichen Raums getilgt. BA 9/2,78 u. 74f. BA 9/2,127f. BA 9/2,14 lf. Vgl.: BA 9/2,84 u.ö. sowie zum Lysistrate-Motiv: Bröhan, Darstellung der Frau, S. 106. Wolfgang Schivelbusch sieht in ihr geradezu eine zur privat-idyllischen Karikatur abgesunkene Entwicklung des ursprünglich öffentlich-politisch ausgerichteten, männerdominierten Kaffeehausgesprächs des 17./18. Jahrhunderts: ders., Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel, 2. Auflage, München, Wien 1981, S. 80ff. 162
ihre Handarbeiten schließlich als »scheußliches Netzwerk zum Fang der Verbrecher von Bützow und dem Universo«. 374 Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Verunglimpfung der Hornborstel als männermordender »Giftmischerin« und »Lamia«. 375 Mit letzterer ist ein früher Vorläufer der Vampirgestalten im griechischen Volksglauben gemeint. Lamien sollen schöne Jünglinge anlocken, ihnen das Blut aussaugen und ihr Fleisch und Herz verzehren. 376 Als Adonis erscheint Magister Albus in Raabes Text nun gerade nicht. Trotzdem ist auch er in seiner tollen Liebesphantasie sofort bereit, sein Herz für Mamsell Hornborstel herauszureißen und es ihr mit folgender, >heroischer< Steigerungskette zu überreichen: »Nimm, zermalme, iß!« 377 Am Ende kann der Magister sich gerade noch nach Berlin retten. Als Opfer der Verderberin Hornborstel muß statt dessen Bürgermeister Hane herhalten, der über ihren politischsexuellen Attacken tatsächlich verstirbt. 378 Daß es sich bei dieser vampiristischen, als monströser Männermythos ausgestellten Dämonisierung um eine politisch-sexuell verklammerte Abwehrhaltung handelt, wie sie gerade aus der Zeit der Französischen Revolution bekannt ist, wird in Raabes Text nochmals an einem literarischen Zitat deutlich. Es leitet das elfte Kapitel ein und besteht aus einer Strophe des Gedichts Die Westhunnen der Grafen zu Stolberg aus dem Jahr 1793. Raabes Großvater nahm es ein Jahr später in seine sogenannten Collectanea, eine Sammlung handschriftlicher Notizen und Literaturauszüge, auf, die eine der Quellen für Raabes Gänse von Bützow bildet. 379 Die Französische Revolution in ihrer Endphase der >terreur< erscheint hier wie auch im weiteren Gedichtverlauf der Stolbergs ebenfalls zur »Hure« und »Kannibalen]« gesteigert, »schamlos«, unzüchtig und bluttriefend 380 — genauso wie Mamsell Hornborstel, die ironisierte Revolutions-Personifikation auf der Figurenebene der Gänse von Bützow. Raabes Text persifliert somit nicht nur die deutschen Zustände im Angesicht der Revolution, sondern verspottet gleichzeitig die damit verbundenen, sexualisierten männlichen Angstvisionen. 374
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BA 9/2,90 u. 438f. - Auch in Michelets Darstellung bedienen sich die Pariser Frauengesellschaften (angeblich) verführerischer Netze« zur Durchsetzung ihrer Ziele; vgl.: Michelet, Frauen der französischen Revolution, S. 2 2 3 . B A 9 / 2 , 1 2 7 f . u. 118. Vgl.: Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 507f. BA 9/2,102. BA 9/2,127f. u. 141 f. BA 9/2,424f.; 129 u. 4 4 6 . Zu Raabes Zitat aus den »Westhunnen« fehlt im Anmerkungsapparat der »Braunschweiger Ausgabe« jedoch der Hinweis auf die »Collectanea« seines Großvaters; vgl. statt dessen: StA: H III 10 Nr. 31 (8°), S. 1 4 9 - 1 5 2 . Christian u. Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Vaterländische Gedichte, H a m b u r g 1815, S. 5 - 8 ; S. 6f. BA 9/2,129. - Raabes Großvater hatte a m 1. Januar 1793 im »Holzmindischen Wochenblatt« selbst einen szenischen Abgesang auf das vorangegangene Jahr veröffentlicht, in dem der Beginn der menschenverschlingenden Schreckensherrschaft des Pariser Konvents als das Werk 163
Bisher handelte es sich bei den untersuchten kannibalisch zerstückelnden und vampirisch verschlingenden männlichen Kopfgeburten also ausschließlich um eine Reaktion auf äußerliche Irritationen der sozialen Ordnung. Gemeint waren Erschütterungen des traditionellen Gefüges durch politische wie geschlechtsspezifische Emanzipationsforderungen. Die als erschreckend empfundene >Unordnung< suchte sich - auch in Raabes Texten - im Bild hysterisch außer Kontrolle geratener weiblicher Geschlechtswesen eine konkrete Gestalt. W a r u m dieses Muster andererseits aber auch zur Befriedung innerer Trieb-Irritationen herhält, soll nun an Raabes maulwurfsarchäologisch weiter fort>wühlenden< Texten dargestellt werden, die mit dem literarisierten Phänomen eines sexuell zerstörerisch wirkenden Vampirs arbeiten. Das Interesse an dieser Figuration richtet sich dabei nicht nach der gemeinhin üblichen Auffassung einer hypertrophierten Kehrseite der unterdrückenden Sexualmoral im 19. Jahrhundert, die sich in wollüstig-angstbesetzten Männerphantasien weiblich-sexueller Verteufelung auslebe. Über die Basis der bereits thematisierten, männerbündischen >Sonderwegsterreurbuveur de sang< darüber hinaus: Gabor Klaniczay, T h e Uses of Supernatural Power: the Transformation of Populär Religion in Médiéval and Early-Modern Europe, Originalausgabe, hg. v. Karen Margolis u. übers, v. Susan Singerman, Princeton (N.Y.) 1990, S. 188 u. S. 2 3 8 ; A n m . 3 5 . Charles Baudelaire, L'Héautontimorouménos/Der Selbsthenker, in: Baudelaire, Les Fleurs du M a l . Die Blumen des Bösen [französisch-deutsch; frz. O r i g i n a l nach: Charles Baudelaire, Les Fleurs du M a l . Texte de la seconde édition suivi des pièces supprimés en 1857 et des additions de 1868, hg. v. Jacques Crépet u. Georges Blin, Paris 1942; dt. Übers, v. Friedhelm Kemp], Frankfurt a . M . u. H a m b u r g 1962, S. 133.
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durch William Polidori die literarische Vampirismuswelle im Europa des 19. Jahrhunderts einleitete. 382 In diesem Werk mit dem schlichten Titel The Vampyre beobachtet der Ich-Erzähler im Laufe einer Reise von Südeuropa nach Griechenland mysteriöse Veränderungen an seinem Freund und Begleiter — beide haben zuvor dieselbe Schule und Universität besucht. Offenbar die Beute eines unheilbaren (Liebes-)Schmerzes geworden, »zehrte« dieser »sichtlich ab«. 383 Ohne erkennbare Krankheitsursache wird der Freund körperlich immer schwächer und leidet zunehmend an Schlaflosigkeit, bis er schließlich stirbt. Erschreckend »bleich und abgemagert« trifft aber auch Raabes Ich-Erzähler in der frühen, wenig bekannten Erzählung Der Student von Wittenberg (1854/55-1857) seinen unglücklich verliebten Freund und Universitätskollegen, den Wittenberger Studenten Paul Halsinger. 384 Diese fiktive Jugenderinnerung, die ihrem Erzähler (in der historischen Gestalt des reformatorischen Dichters und Schulrektors Georg Rollenhagen) selbst wie ein Alp auf der Seele zu liegen scheint, 3 8 ' spielt sich zwar nicht im fernen Griechenland, sondern im deutschen Magdeburg ab. Sie entpuppt sich jedoch ebenfalls als Vampirgeschichte auf südlichem Hintergrund. Soll bereits Pauls Vater durch eine Zauberin zu Tode gekommen sein, 386 so wiederholt sich dieses Schicksal nun an Paul Halsinger selbst. Die Ursache seiner Auszehrung, seines Wahnsinns und seines Todes hat im Unterschied zu Polidoris Vampyre jetzt konkrete Gestalt in der schönen Italienerin Felicia Guarnieri angenommen. Als Wohnort wird ihr von Raabe selbst in Magdeburg noch eine Italien assoziierende, »venedische[ ] Straße« zugeordnet. 387 Felicia wird einerseits direkt zur sexuell verzehrenden, sogenannten >Empusa< gesteigert, einer anderen griechischen Vorläuferin der Vampirin. Von dieser ist überliefert, daß sie mit ihren männlichen Opfern schlafe, sie hinterher »zerreißet«, anfrißt und ihr »Herzblut« trinkt. 3 8 8 Gleichzeitig werden über die Figur Felicias als einer >welschen Katholikin< aber auch die reichspatriotischen Bedrohungsängste der protestantischen Magdeburger zur historischen Zeit von Raabes Text (nach der Belagerung von 1550/51) befriedigt. Beide Verteufelungsstrategien führen am Ende zum Uberfall auf die Italienerin und ihren Vater, einen erfolgreichen Goldschmied. Ein sozial verunsicherter, fanatisierter Mob aus arbeitslosen Söldnern, aufrührerischen Handwerkern, konkurrenzneidischen Bürgern sowie Verwandten Paul Halsingers brennt schließlich das Haus, als »Hexenneste« verschrien, nieder. 385 Der Erzähler
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S t u r m / V ö l k e r , Von d e n e n V a m p i r e n , S. 5 4 5 - 5 5 4 sowie: Schroeder, V a m p i r i s m u s , S. 2 0 7 . Z i t . nach: S t u r m / V ö l k e r , Von d e n e n V a m p i r e n , S. 3 9 - 4 5 ; S. 41. BA 2 , 2 6 1 . BA 2 , 2 5 1 f. u. 5 6 0 f . (zu Raabes Q u e l l e ) . BA 2 , 2 5 4 u. 5 6 7 . BA 2 , 2 5 9 u. 5 6 7 f . BA 2 , 2 5 8 . - S t u r m / V ö l k e r , Von d e n e n V a m p i r e n , S. 5 0 8 . B A 2 , 2 6 9 f f . ; 2 6 1 u. 253f.
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kann sich vor der unkontrolliert rasenden (und damit ja selbst verweiblichten) »Welle Volkes«, die über den Magdeburger Stadtmarkt tobt, gerade noch in Sicherheit bringen. 390 Bezeichnenderweise klammert er sich an das dort stehende, männlich wie reichspatriotisch ruhig und sicher wirkende Reiterstandbild des deutschen Kaisers Otto des Großen. Sein vampirisierter Freund, Felicia und ihr Vater werden dagegen von den Flammen >verzehrte Immer noch auf dem Hintergrund dieser trivialen Verkettung reichspatriotisch-konfessioneller und sexueller Abgrenzung bewegt sich aber auch der weibliche »Vampyr« 391 Fausta La Tedesca in Raabes drei Jahre später beendetem Heiligen Born (1859-1860). Wie im Student von Wittenberg spielt seine Handlung Mitte des 16. Jahrhunderts. Vergleichbar mit der motivischen Weiterentwicklung des Byron-Fragments durch Polidoris Vampyre tritt jetzt auch in Raabes Heiligem Born die erotische Komponente des Vampirismus-Phänomens deutlicher hervor. Sie scheint bereits im Aberglauben auf. 392 Fausta ist wieder eine Figur italienischer Herkunft — und zwar mütterlicherseits —, ebenso wie die gefährlich verführerische Sängerin Alida in Raabes frühem Zeitroman Ein Frühling. Hier erwähnt Raabe auch zum ersten Mal eine Quelle, die sich in seinem Besitz befand. Erst zwei Jahre später verwendet er sie im Heiligen Born jedoch ausführlich für die Skizzierung abergläubischer Strukturen zum historischen Zeitpunkt seines Textes. 393 Es handelt sich um Jobst Höckers Traktat Der Teufel selbs aus dem Jahr 1568. Raabe zitiert aus Kapiteln, in denen sich die frauenfeindliche Grundeinstellung der intellektuellen Dämonologie widerspiegelt, wie sie ja auch in der Hexenliteratur allgemein deutlich wurde. 394 So wird beispielsweise über die angebliche geschlechtliche Verbindung des schwächeren Geschlechts< mit dem Teufel als eigentlicher Sünde der Hexen referiert. Sie sollen nachts nun selbst als sogenannte »Incubi und Succubi« mit unschuldigen Opfern sexuell verkehren. 395 Dazwischen findet sich bei Höcker aber auch ein kritisch zu nennender Definitionsversuch der Hexen und Unhol-
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BA 2 , 2 6 1 . BA 3 , 1 0 6 . V g l . : Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 5 5 0 . V g l . : BA 3,471fr. u. BA 1,214. V g l . vor d e m H i n t e r g r u n d sozialer wie religiöser W a n d l u n g e n und Krisen im 16. Jahrhundert sowie einer im damaligen europäischen Intellektualismus vorherrschenden gnostischen Grundhaltung, nach der die Frau als Symbol von Natur, Sinnlichkeit und Sexualität den M a n n an der intellektuellen Erkenntnis hindere: D ü l m e n , Frühneuzeitliches Europa, S. 2 8 9 - 2 9 1 sowie: M a r i o Erdheim, Hexenwahn und Kulturzerstörung, in: ders., Psychoanalyse, S. 3 0 7 - 3 1 8 . Vgl. dazu die Quellenwiedergaben in Raabes Text: BA 3 , 1 5 2 ; 167 u. 496f. sowie: Barbara Ehrenreich u. Deirdre English, Hexen, H e b a m m e n und Krankenschwestern, übers, v. Ilona Balthazar, M ü n c h e n 1975, S. 15—17 (Erstveröffentlichung u.d.T.: Witches, Midwives a n d Nurses. A History of W o m a n Healers, O l d Westbury (N.Y.) 1973).
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den / oder Zauberschen / und iren Wirckungen.396 Mit geradezu aufklärerischem Impetus warnt Höcker hier davor, allzu »leppische[n] Historien« der Volks- wie der Gelehrtenmagie Glauben zu schenken, welche man z. T. »feischlich dem Hexenwerck zuschreibet«. 397 Gleichzeitig sieht er aber eine andere, ebenso auf abergläubischen Vorstellungen beruhende Konstruktion am Werk, die vor allem für Raabes Text wichtig werden sollte: Höckers Definition der Hexe beruht auf Zügen, die auch den späteren Vampir kennzeichnen. Als ein neuer magischer Akteur der Frühaufklärung vertrieb er den frühneuzeitlichen Hexenglauben von der Bühne übernatürlicher Vorgänge. 398 Höckers Hexe leitet sich nämlich von den hier bereits erwähnten griechischen >Lamien< und >Striges< (dämonischen Vogelmenschen) ab, welche besonders für Kinder eine Gefahr bedeuten. Ihnen saugen sie in der Nacht das Blut aus und zerfleischen ihren Leib. 3 9 9 Wie bereits im Fall von Felicia aus Raabes Student von Wittenberg wird im Heiligen Born auch Fausta z. T. noch als Gemisch zwischen Vampirin und »fremdländische[r] Hexe« gesehen, die verbrannt oder gepfählt werden solle. 4 0 0 Faustas Verbrechen besteht nicht nur in einer politisch-kriegerischen Beeinflussung ihres Pyrmonter Gastgebers Philipp von Spiegelberg, sondern vor allem in seiner sexuellen Verführung. Gleichzeitig erschreckt und erregt hat sich dieser sofort mit »Leib und Seele« Faustas teuflischem Zauber hingegeben, »welcher immer fester und unlösbarer seine magischen Bande um ihn schlang.« 401 Der angstbesetzte Koituswunsch des Spiegelbergers deutet sich auf metaphorischer Ebene z. B. an, wenn er sich in den »engen, niedern« Eingang zum »Turme Faustas« hineinzwängen muß. 4 0 2 Bewußt zweideutig steht der Turm hier sowohl für Faustas Wohnort wie für ihren eigenen Körper. Diese auf die Halbitalienerin Fausta La Tedesca projizierte Triebgefahr artikuliert sich jetzt aber sehr viel deutlicher über das literarisierte Dämonologiemodell des Vampirs.
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S t B : I 1 6 / 6 4 5 : J o b s t H ö c k e r , D e r Teufel s e l b s / D a s i s t / W a h r h a f f t i g e r / b e s t e n d i ger u n d w o l g e g r ü n d t e r b e r i c h t von den T e u f e l n . . . [ 3 . Teil fortges. v. H e r m a n n H a m e l m a n n ] , Ursel 1 5 6 8 , T . 2 , 4 8 . K a p . , S . 2 6 1 - 2 9 2 .
397
A. a. O . , S . 2 8 5 f . ; S . 2 6 9 u. S . 2 7 2 f . H ö c k e r b e t o n t z. B „ d a ß n i c h t j e d e K r a n k h e i t a n g e h e x t sein müsse und verweist statt dessen a u f die Pest als e i n e r sehr viel häufigeren Ursache. Auch zweifelt er eine S c h ä d i g u n g durch das abges c h n i t t e n e H a a r von H e x e n sowie ihre a n g e b l i c h e F ä h i g k e i t des >Wettermachens« an.
398
V g l . zu diesem W a n d e l : G a b o r Klaniczay, T h e D e c l i n e o f W i t c h e s and the Rise o f Vampires u n d e r the E i g h t e e n t h - C e n t u r y H a b s b u r g M o n a r c h y , in: ders., T h e Uses o f S u p e r n a t u r a l Power, S. 1 6 8 - 1 8 8 u. S . 2 3 5 - 2 3 8 .
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Höcker, S. 5 0 7 f .
400
BA 3 , 1 6 7 . B A 3 , 1 2 2 u. 9 8 . B A 3 , 2 7 5 . - V g l . in diesem Z u s a m m e n h a n g z. B . auch die gleichfalls assoziationsreiche W e g b e s c h r e i b u n g zur W o h n u n g der F e c h t m e i s t e r i n n a m e n s » F e u c h t « in Raabes späten »Akten des Vogelsangs«: » D a war wieder der d u n k l e E i n g a n g u n d die steile, enge Treppe [...]« ( B A 1 9 , 3 0 6 ) .
401 402
D e r Teufel
selbs,
S. 2 6 3 .
-
Sturm/Völker,
Von
denen
Vampiren,
167
Raabe hat seine Figur diesmal mit allen klassischen Vampirmerkmalen 403 ausgestattet. So ist die schöne Fausta »marmorkaltf ]« und »totenbleich« — also blutleer - , wie später auch ihre männlichen Opfer Simone Spada, Cesare Campolani und vor allem Philipp von Spiegelberg. 404 Fausta wacht nachts und legt sich erst im Morgengrauen schlafen. Die Männer wälzen sich derweil in Alpträumen, um am nächsten Morgen »[m]üde und abgespannt« zu erwachen. 405 Das Blut - symbolisiert durch den »¿/«¿roten« Wein, den Fausta Nacht für Nacht im Zelt des blinden Magiers Simon trinkt - wird ihnen ausgesogen, bis sie selbst einen Zustand »zwischen Leben und Tod« erreichen, und »der böse Feind« von Fausta auf sie übergegangen ist. 406 Alle drei Männer sind dem Tod geweiht, der sie später im Schlachtengetümmel ereilt. Aber auch Fausta kann schließlich »gerichtet« werden. 407 Verdächtig wenig Blut fließt dabei aus ihrer tödlichen Wunde. Und ihre Hände sperren sich mit nahezu teuflischer Macht erfolgreich dagegen, nach christlichem Gebrauch zusammengefaltet zu werden. 408 Mit Fausta La Tedesca ist hier der Typus eines diabolisierten, sinnlichen >TatmenschenSich-Voll-Saugens< auf Kosten der anderen Existenz bezichtigt. Damit sind zunächst alle Varianten geschlechtsspezifischer, freundschaftlicher, gründerzeitlich-finanzieller oder auch sozialer Unterjochung gemeint. 4 1 5 Noch variantenreicher gestaltet sich die Bezeichnungspalette dieser (gespielt) diabolisierten Vorgänge: vom »Alp« oder »Nightmare« über die zähnefletschende »Teufelin« oder (mittelalterliche) »Valandin« bis hin zu den seltenen Formen der (römischen) »Lemure« oder (arabischen) »Gule« läßt Raabe nichts aus. 416 Im Verlauf des Textes konzentriert sich die Vampirzuschreibung jedoch wiederum auf die beiden weiblichen Protagonisten Lucie und Christabel. Sie sind nun selbst Leserinnen der romantischen Vampirismus-Literatur eines Polidori, Byron und Coleridge, die natürlich auch Raabe vertraut war. 417 So steht die Beschwörung von Samuel Taylor Coleridges 1816 erschienener, fragmentarischer Verserzählung Christabel im Zentrum von Lucies brieflichem Hilferuf an die gleichnamige Freundin. 418 In humoristischer Anlehnung an »Kolleritsch«, wie dieser hier heißt, verzichtet Raabe jetzt nicht nur auf die geisterbahnartige Schocktechnik des Schauerromans zugunsten einer Herausstellung unheimlicher Alltagsaspekte und psychologischen Terrors. 419 Er übernimmt auch das Motiv der vampiristischen Frauenbeziehung mit lesbischen Zügen, wie es - parallel zur Entstehungszeit von Raabes Christoph Pechlin — auch in Sheridan Le Fanus 1872 erschienener Carmilla dominiert.
415
416 417
418 419
BA 10,219 (Lucie-Ferdinand); 233 (Ferdinand-Christoph); 241 f. (ChristophLucie); 393 (Lucie-Ferdinand); 399 (Lucie-Christoph) u. 409 (ChristabelChristoph). BA 10,241; 399 u. 513; 409 u. 514. Vgl.: BA 10,240ff. u. 506. - Auf Polidoris, Byron zugeschriebenem »Vampyre« wird in Raabes Frühwerk »Die Leute aus dem Walde« angespielt (BA 5,20 u. 516). Seit 1863 finden sich zudem Tagebucheintragungen zu Byrons Werken, die Raabe in verschiedenen Ausgaben besaß (StA: H III 10 Nr. 114, S. 2; Bänsch, Bibliothek Raabes, S. 133). Coleridges poetische Werke gehörten seit 1869 zu Raabes Bibliothek (StB: I 16/73: T h e Poetical Works of Coleridge, Shelley and Keats, Paris 1829; versehen mit Raabes Signatur und Anschaffungsdatum). Vgl. zu Raabes literarischer Verarbeitung von Byron und Coleridge auch die Auflistung bei: Butler, England and America in the Writings of Raabe, S. 2 4 8 - 2 7 3 . BA 10,240f. BA 10,240. Vgl. z. B. die dämonisch anmutende Beschreibung einer süddeutschen Bauernhochzeit aus touristischer Sicht, deren »fürchterliche Gemütlichkeit< in eine handfeste Schlägerei ausartet (BA 10,295-323). - Vgl. zum Vampirmotiv in Coleridges »Christabel«: Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 5 6 5 - 5 7 0 .
170
Coleridges Christabel nimmt die schutzsuchende Geraldine in ihr Schloß auf, die als (sexuell codierte) Vampirin allmählich von ihr Besitz ergreift. Der betont zärtliche Gefühlsaustausch seiner beiden Frauenfiguren bietet auch Raabe eine Denunziationsfolie für seine, in Weiterführung des Coleridge-Fragments, jetzt männermarternden Vampirinnen. 4 2 0 Aus dem Land Coleridges stammend, gerinnt Raabes Christabel dabei zur Karikatur der hageren, blassen, fischblütig-prüden Engländerin mit Blaustrumpf-Allüren, die, obgleich bereits in den Dreißigern, erst noch zum »blühen« gebracht werden müsse. 4 2 1 Dieser Aufgabe n i m m t sich nun der eingefleischte Junggeselle Christoph Pechlin an. Erwartungsgemäß fühlt er sich dabei bald »blutleer« und dem Wahnsinn nahe. 4 2 2 Selbst sein geliebtes Spiel auf der Maultrommel, ein hartnäckiges Relikt des >alten Adams« aus Studententagen, hat Christabel ihm schnell ausgetrieben. 4 2 3 Doch noch bevor er seine Schnauze endgültig »in die Spalte« dieses »Honigbaumes« schieben kann, hat das »giftig-sphinxhaft[e]« Schreckgespenst der »Polypin« und »Perlmutterhexe« ihr Gebiß bereits entblößt. 4 2 4 Christabel entpuppt sich als abgefeimte Heiratsschwindlerin, die den Schwaben mit ihrem unehelichen Sohn sitzenläßt. Kann sich Pechlin aus dieser Situation trotzdem noch als » M a n n und Held« retten, 4 2 5 so ist sein Freund weniger glücklich dran. Selbst treue »Männerfreundschaft« konnte nicht verhindern, d a ß Ferdinand von Rippgen am Ende komplett unter »den Daumennagel« seines vampirisch veranlagten Weibes gerät und dabei immer magerer, »hohlwangiger, dünnstimmiger und spindelbeiniger« wird. 4 2 6 Äußerlich ganz das Gegenteil ihrer Freundin, entspricht >Lucia< von Rippgen, wie sie sich auch nennen läßt, wiederum dem bereits bekannten, unheilverheißenden südlichen Frauentypus. Diesmal in der Danteschen Ausformung einer »fiera moglie«, also einer »Bestie von (Ehe-)Weib«, ist sie zur Schreckfigur der schwarzlockigen, korpulenten Matrone mit >olympischer Stirn< und >imperatorischer< Gestik gestaltet. 4 2 7 Lucie gewinnt dem süddeutschen Stuttgart sogar italienische Züge ab und führt sich daraufhin — »ins heftigste Animalische verwandelt« - wie der Prototyp der übelbeleumdeten, männermordenden Renaissancefürstin, wie eine zweite Lucretia Borgia, auf. 4 2 8
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422 421 424 425 426 427 428
Vgl. z. B.: BA 10,229. BA 1 0 , 2 4 0 ; 244f.; 4 3 5 u. 375ff. - Vgl. zu diesen Stereotypen der »Englische[n] Frauen« auch das gleichnamige Kapitel bei: Bogumil Goltz, Der Mensch und die Leute. Zur Charakteristik der barbarischen und der civilisierten Nationen, Berlin 1858, S. 7 0 3 - 7 1 1 . BA 10,419. BA 10,396. BA 1 0 , 3 4 4 ; 4 4 2 u. 4 3 5 . BA 10,449. BA 1 0 , 3 9 4 ; 4 5 0 u. 2 2 0 . BA 10,218f. u. 505; 2 1 0 u. 2 3 7 . BA 1 0 , 2 4 2 ; 3 7 3 ; 2 3 7 u. 506. Der langlebige Nachruf ihrer Zeitgenossen verleumdete diese geist- und einflußreiche italienische Papsttochter ( 1 4 8 0 -
171
Doch nicht nur über eine sich moralistisch gebärdende Ablehnung der italienischen Renaissance - bereits durch vorgeblich authentische Berichte mittelalterlicher Südenreisender aus dem deutschen und englischen Raum entstand das Stereotyp vom verfallenden, verschlingenden, unheimlichen Italien. Es sollte sich vor allem in der Romantik und im Schauerroman des 18./19. Jahrhunderts zur literarischen Konstante verfestigen. Dieser zum Klischee der Unterhaltungsindustrie gewordene Topos verfügt also über eine lange, oft übersehene Traditionsgeschichte. 429 Die Exterritorialisierung der eigenen, verunheimlichten erotischen Imagination, ihre Verlagerung nach Italien, hing mit der christlich-asketischen Verdrängung und Dämonisierung der antiken Götter Griechenlands und Roms zusammen. Ihr nun verbotenes Treiben blieb allerdings als unterschwelliges Phantasie-Desiderat weiter lebendig. 430 Frau Venus, die Inkarnation >untotenfemme fatale< stilisiert, deren Monopol »sexueller Kannibalismus« sei. So urteilte 1845 beispielsweise der französische Schriftsteller Théophile Gautier, der auch Raabe bekannt war; vgl.: Mosse, Nationalismus, S. 126; Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 562 sowie: StA: H III 10 Nr. 114, S. 4 und: Bänsch, Bibliothek Raabes, S. 128. Vgl. zu dieser Entwicklung u n d ihren Ursprüngen: Walter Pabst, Venus u n d die mißverstandene Dido. Literarische Ursprünge des Sibyllen- und des Venusberges, H a m b u r g 1955, S. 7 - 2 1 . A. a. O., S. 98. Vgl. zur historischen Entstehung des Venusbergmotivs in der Überlieferung deutscher Italienfahrer des 15. Jahrhunderts, die Andrea da Barberinos Dichtung des »Sibyllenberg von Norcia« zum tatsächlich existierenden Venusberg umdeuteten: a. a. O., S. 92—113 sowie zu seiner literarischen Verarbeitung in der deutschen Romantik allgemein: H a r t m u t Böhme, Romantische Adoleszenzkrisen. Z u r Psychodynamik der Venuskult-Novellen von Tieck, Eichendorff und E.T.A. H o f f m a n n , in: Klaus Bohnen, Sven Aage Jörgensen u. Friedrich Schmöe (Hg.), Literatur und Psychoanalyse. Vorträge des Kopenhagener Kolloquiums zur deutschen Literatur am 6./7.10.1980, Kopenhagen, M ü n c h e n 1981, S. 133-176. Vgl. zur erwachenden Venus(statue) als Erosverkörperung in Eichendorffs »Marmorbild« speziell: Lothar Pikulik, Die Mythisierung des Geschlechtstriebes in Eichendorffs »Marmorbild«, in: Koopmann, Mythos, S. 1 5 9 - 1 7 2 u n d zum Schauplatz Rom, der in Eichendorffs »Taugenichts« die heidnisch-erotische Welt darstellt: Oskar Seidlin, Versuche über Eichendorff, Göttingen 1965, S. 120ff. Grimmelshausen, Simplicissimus, IV,4-6; S. 2 4 8 - 2 5 7 (es handelt sich um einen Besuch im Freudenhaus).
172
Gerade im Unterschied zu den - nicht nur in der Literatur - schließlich trivial verflachten und national ausgebeuteten Italienklischees zu Raabes Zeit, 433 hält Raabes Literatur die sich dahinter verbergenden kultischen wie literarischen Untergründe — maulwurfsarchäologisch - wach. So wird in seinen Texten durch Anspielung und Nachfolge des »getreuen Knecht Eckart« aus Ludwig Tiecks 1797 erschienener, prototypischer VenusbergNovelle Der getreue Eckart und der Tannhäuser vor »Frau Venus« zu warnen versucht. 434 In Der Student von Wittenberg scheint sich dem Erzähler die kunstvolle Verzierung eines italienischen Weinkelches mit heidnischen Figuren zu einem grauenerregend lebendigen Pandämonium zu verzerren. Aus seinem übersteigerten Entsetzen, motiviert durch eine Sichtweise christlich-protestantischer Dämonisierung, erlöst ihn hier jedoch lediglich schallendes Gelächter. 435 Durch diese bewußte Bezugnahme bewegt sich bereits Raabes Frühwerk auf einer motivisch reflektierteren und literarisch distanzierteren Ebene, als es eine plane Kontradiktion >welscher (=böser) und deutscher (=guter) Liebe< auf den ersten Blick glauben macht. Als lebenspraktische Autormeinung mißverstanden, erschien sie später besonders deutsch-nationalen Interpretatoren ausnutzbar. 436 Eine besonders eindrucksvolle Variante liefert demgegenüber Raabes Text Die Hämelschen Kinder (1863). In ihm findet sich die mit der Venusberg-Thematik eng verknüpfte, auf archaischen Strukturen beruhende Mythisierung der Adoleszenzproblematik verarbeitet. Wird in Raabes Umsetzung der Rattenfängersage doch mehrfach der verschlingende Einzug der männlichen Jugend Hamelns in die »schwarze Höhle«, in die »dunkle Gruft« des nahegelegenen Koppenberges betont. 437 Wie auch hinter dem Eintritt der Tannhäuser-Nachfolger vieler romantischer Märchennovellen in den Venusberg, der zumeist keine Rückkehr in eine bürgerlich geordnete Gesellschaft mehr zuläßt, verbirgt sich dahinter die vorchristliche Vorstellung von einer Erfahrungsreise in weibliche Kulträume. An ihrem Ende steht der symbolische Tod und das Verschwinden der Entwicklungsstufe Pubertät. Übriggeblieben sind davon jetzt lediglich verzerrte Reminiszenzen »an den archaischen Initiationstod in den Spalten
433
434
435 436
437
Vgl. z. B.: Goltz, Charakteristik u. Naturgeschichte der Frauen, S. 1 4 5 - 1 5 0 ; S. 148 (StB: I 16/183). V g l . : BA 3 , 1 6 7 f . (es handelt sich hier um ein mißglücktes Attentat auf Fausta La Tedesca im »Heiligen Born«) sowie: BA 1,343 (»Frühling«). - Auch unter Raabes Archivalien befindet sich eine Notiz zum >Venusbergwerkvagina dentata< dominiert. Sie begleiten jetzt den Beischlafswunsch, symbolisch getarnt als ein Verweilen im Venusberg. 440 Die erotische Verführung, ja Verfallenheit der Adoleszenten ist in Raabes Hämelschen Kindern zudem über zahlreiche weitere, eher abgelegene Hintergrundaspekte der Rattenfängersage motiviert. Sie werden in Raabes Quellenmaterial angedeutet. Neben der hier bereits analysierten sozialhistorischen Ausrichtung zum nationalpolitischen Korrektiv, verleiht Raabes Erzähltext in dieser Konzentration einer ganz eigenen Mythenlesart literarische Gestalt. Als ein erotischer Verführer und >Mädchenfänger< ist die literarisierte Figur des Rattenfängers dabei schon interpretiert worden. So erstmals wohl in Goethes Rattenfänger-Gedicht von 1804. Auch für Raabes Hämelsche Kinder wurde diese Verbindung bereits angesprochen. 441 Hinter ihr verbirgt sich wiederum eine christliche Verdrängung antiker Gottheiten, die nun in anderer, dämonologisierter Form wiederkehren. So läßt sich der durch sein Flötenspiel verzaubernde Rattenfänger als Stellvertreter Apollons, des - neben Diana und Frau Venus - dämonischen Heidengotts par excellence, interpretieren. Diesem Hauptgott der Musik waren Mäuse und Ratten zugeordnet. Wegen seiner großen Ähnlichkeit zu Dionysos wurde er von älteren Mythologen sogar mit diesem Gott der Ekstase gleichgesetzt. 442 Apollons Fähigkeit, Frauen durch seine Musik in Bann zu schlagen, ließ ihn in Heines 1854 erschienenen Göttern im Exil sogar unter Vampirverdacht geraten. 443 Ursprünglich verkörperte der Rattenfänger zudem den Initiationsführer. Die Überlieferung seiner äußeren Erscheinung - »Rock von vielfarbigem, bunten Tuch«, Jägergestalt mit »rote[m], wunderlichen Hut« 444 - läßt an alte Ritualkleidung in der Tradition des Schamanismus denken. 445
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439 440
441 442
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Vgl.: Hans Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen W i l d n i s und Zivilisation, Frankfurt a . M . 1985, S. 3 9 - 6 0 u. S. 2 7 4 - 3 4 2 ; S. 53 u. S. 7 7 . Böhme, Romantische Adoleszenzkrisen, S. 159f.; S. 157 u. S. 141 f. Duerr, Traumzeit, S. 2 8 2 ; A n m . 19. — Dies wird an späterer Stelle u n d in erweitertem Kontext auch an der Höhlenszene von Raabes »Odfeld« zu überprüfen sein. Vgl. hier vor allem: Sammons, Raabe, S. 251 ff. Vgl.: Gerhard Goebel, Apoll in H a m e l n . Ein Nachtrag zu den »Göttern im Exil«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.E 32 ( 1 9 8 2 ) , S. 2 8 6 - 2 9 9 ; S. 286ff. Eine erste und lange Zeit übersehene Verbindung des sogenannten >Mäuse-Apollo< zum Rattenfänger-Mythos lieferte der vergleichende M y thenforscher Joseph Vigil Grohmann bereits 1862 — ein Jahr vor der Entstehung von Raabes Text. A. a. O., S. 288f. So beispielsweise in der bekannten, auch von Raabe verwendeten Fassung der Brüder Grimm; vgl.: dies., Deutsche Sagen, 2 Bde., 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1981, Bd. 1, Nr. 245, S. 2 6 6 - 2 6 9 ; S.' 2 6 6 sowie: BA 9/1,452. Vgl.: Danckert, Unehrliche Leute, S. 134.
174
Auf diese Weise wird in den Hämelscben Kindern auch Raabes Rattenfängerfigur bei seinem ersten Auftritt beschrieben. 446 Der als unzivilisiert, wild und fremd gekennzeichnete Heide Kiza, der eher einem Wolf als einem Menschen ähnelt, erscheint hier pünktlich zum Maifest. So, wie seine magischen Vorläufer, die dazu sogar die Gestalt eines Werwolfs angenommen haben sollen. 447 Hinter diesem Frühlingsritual verbergen sich vorchristliche Naturkulte: Im Rhythmus des Jahreszeitenwechsels wurden die Vegetationsgötter orgiastisch beschworen. In anthropomorphisierter Gestalt treten sie jetzt als Maikönig und -königin auf und werden in Raabes Text durch die Figuren Floris und Athela verkörpert. 448 Ihr >Zwischenreich< (zwischen Winter und Sommer, Kindheit und Erwachsenwerden) findet zudem mitten zur historischen >Zwischenzeit< des Interregnums im 13. Jahrhundert statt - am Herrschaftsübergang von Staufern und Weifen zu den Habsburgern unter Rudolf I. 449 Auf einer Waldwiese am Rande der Stadt erreicht das Fest durch den wendischen Initiationsführer Kiza schließlich seinen Höhepunkt. Kizas Marginalexistenz kennzeichnet also nicht nur einen sozialen Randzustand, sondern weist gleichzeitig auf den Ubergangszustand der Pubertät hin. Dieser auf allen Bedeutungsebenen des Textes evozierte >Zwischenzustand< führt dabei eine grundlegende »Krisis in der Ordnung der Dinge« 450 herbei. Die Normalität scheint außer Kraft gesetzt. So erwecken Kizas verbotene Pfeifenklänge erst die wahre »Lust des Tanzes«, die auf einmal »wild und toll« erwacht und die Hamelner Jugend wie »mit Zauberbanden« gefangen hält. 451 Im schwindelerregenden Kreiseln des Reigens lösen sich mit den Haaren der Mädchen aus den befestigenden Bändern zugleich die letzten Reste sozialer Zivilisationskontrolle: Zu einer Raserei wurde der Tanz, und alle Besinnung ging unter in der wüsten Lust. 4 5 2
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BA 9/1,134. Vgl.: Duerr, Traumzeit, S. 64 u. S. 3 5 2 ; A n m . 19. Vgl.: BA 9 / 1 , 1 3 l f . sowie zu den Hintergründen der Maifeiern: Hans Freimark, O k k u l t i s m u s und Sexualität. Beiträge zur Kulturgeschichte der Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig o.J., S. 2 8 4 u. S. 403f. Der Brauch ist zu dieser Zeit für H a m e l n urkundlich bezeugt; vgl.: Spanuth, Raabe u. die Hämelschen Kinder, S. 18; A n m . 3. BA 9/1,123 u. 129. Vgl. zur analogen Bewertung dieser Zeitspanne als wilder »Blüthezeit des Faustrechts« auch den handschriftlichen Geschichtsabriß von Raabes Vater (HAB: 1 Novissimi 2°, S. 176f.). Duerr, Traumzeit, S. 66f. BA 9/1,130; 133 u. 135. BA 9/1,135 u. 133f. — Vgl. zum Haar als einem uralten Symbol der ungebändigten Vitalität und der Geschlechtssphäre, wie es von Raabe auch in anderen Texten (z. B.: BA 3 , 1 2 5 ) verwandt wird: Danckert, Unehrliche Leute, S. 149 sowie: Duerr, Traumzeit, S. 61; S. 99f. u. S. 4 0 5 ; A n m . 99. Die beängstigende W i r k u n g dieses Symbols verfolgt im 19. Jahrhundert: Gay, Erziehung der Sinne, S. 221 f.
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Lust, aber auch Zorn - alle Leidenschaften treten plötzlich ungehemmt zutage und lassen das orgiastische Fest für die wieder zu Bewußtsein Kommenden schließlich »in Blut und Jammer« enden. 453 Obwohl auch hier im letzten Moment »ein warnender getreuer Eckart« in der Gestalt eines ordnungsstiftenden Mönchs auf dem Schauplatz erscheint. 454 All dies steigert sich beim Maifest des nächsten Jahres zu einem bacchantischen Massenwahn, als würde die Menge »von dem wunderlichen epidemischen Wahnsinn des Mittelalters, dem Veitstanze gepackt«. 455 So wird dieser Zustand in der Erzählperspektive jetzt konkretisiert. Bei dem hier beschriebenen Phänomen der >TanzwutVenusberg< endet also — gemäß bürgerlich-christlicher Verzerrung heidnischer Archetypen - tatsächlich tödlich. Die triebauslösende Kraft, personifiziert in Raabes heidnisch-
459 460 461
462 463 464
Vgl.: Hecker, Volkskrankheiten, S. 133. BA 9/1,147 u. 149. BA 3 , 8 3 f . u. 125f. - Zur erotischen Aufladung der Szenerie nutzt Raabe hier zudem den verbreiteten Topos von der Laszivität des Badelebens, der im Klischee des >Kurschattens< bis heute überlebt hat; vgl. dazu: Reinhold P. Kuhnert, Urbanität auf dem Lande. Badereisen nach Pyrmont im 18. Jahrhundert, Göttingen 1984, S. 207f. sowie zur Bade-Erotik im Spätmittelalter: Elias, Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 294ff. und, mit einigen Abstrichen: Duerr, Traumzeit, S. 87. BA 10,438 u. 4 4 4 . Elias, Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, S. 369ff. BA 9/1,157. - Vgl. zur Deutung des Krieges als patriarchalisch-religiösem Sohnesopfer im Kampf um den Machterhalt der konkurrierenden Generationen: Ulrich Ventzlaff, Der Arzt in der Mitverantwortung für eine bedrohte Z u k u n f t , in: Rundbrief der International Physicians for the Prevention of Nuclear War 2 0 ( 1 9 8 6 ) [unpag.] (frdl. Hinweis von Ulrike Koller, Göttingen). Ventzlaff sieht diesen Effekt z. B. in der sinnlosen militärischen Operation der Schlacht bei Langemarck von 1914 verwirklicht. In ihr fanden vor allem junge, unausgebildete und unzureichend bewaffnete deutsche Kriegsfreiwillige im aussichtslosen Gefecht gegen englische Elitetruppen den Tod.
177
ekstatischer R a t t e n f ä n g e r f i g u r , deren s i n n e n v e r w i r r e n d e M u s i k z u m Tanz ebenso w i e zur S c h l a c h t a n i m i e r e n k o n n t e , w i r d schließlich selbst a b g e t ö t e t und
dämonisiert:465
Kiza
stirbt
in
einem
feindlichen
Hinterhalt
der
S c h l a c h t , d e r e n v e r h e e r e n d e A u s w i r k u n g er allein v e r s c h u l d e t h a b e n soll.
b. Gefräßige
Augen
W i e bisher zu sehen war, gestaltet Raabe das w e i b l i c h e G e g e n s t ü c k zu sein e n R i t t e r f i g u r e n — die selbst das A b e n t e u e r suchende »Frau
Aventiure«466
- bereits seit seinen f r ü h e s t e n W e r k e n a u f einer b e w u ß t ausgestellten e u r o päischen T r a d i t i o n s f o l i e der d ä m o n i s c h - s c h a u r i g e n »schwarzen RomantikUmrationalisierung der Bedrohlichkeit von Kindheit in die Bedrohtheit der Kinder< verfehlt (dies., Kindheit, S. 2 2 5 ) . Nicht die Kindheit, sondern das pubertäre, noch ungesicherte Zwischenstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein erscheint als Bedrohung. Nach dem gleichen Prinzip funktioniert auch Raabes späterer pubertätsproblematisierender Text »Prinzessin Fisch« ( 1 8 8 1 - 1 8 8 2 ) . Hier handelt es sich um die südländische (sie) Mexikanerin Romana, die den Primaner Theodor zu e i n e m - sexuell codierten - Voyeur »mit dickem, rotem Kopf und den glänzendsten Augen« macht (BA 15,241). Theodors pubertäre Ü b e r h ö h u n g seiner >Frau Venus« erleidet jedoch ebenfalls eine brutale Ernüchterung. Er ertappt die Mexikanerin, die jetzt zur »alte[n] gelbefn] Zigeunerschachtel« und »Hexe mit den falschen Zähnen« degradiert ist (BA 1 5 , 2 4 7 u. 3 2 0 ) , beim Ehebruch mit seinem eigenen Bruder. V g l . zu diesem Themenkreis vor allem das Nachwort von Heide Eilert in: W i l h e l m Raabe, Prinzessin Fisch, Stuttgart 1980, S. 2 2 9 245.
466
Hans ligner, Die Frauengestalten W i l h e l m Raabes in seinen späten Werken, Berlin 1916, S. 94 (Hervorh. v. mir). V g l . zur Kritik an Praz' Einseitigkeiten in seiner Studie »La Carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica«, Florenz 1930: Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 5 5 8 . Nicht nur die deutsche Entwicklung wurde dadurch ignoriert, sondern das Auftreten des weiblichen Vampirs in der Literatur (vom männlichen Typus wird in Raabes Werk noch zu sprechen sein) auch erst wieder a m Ende des 19. J a h r h u n d e r t s verortet. Als D a t i e r u n g s b e l e g des ersten literarischen Erscheinens eines blutsaugenden, weiblichen Vampirs n i m m t Schroeder dagegen ein Gedicht des schottischen Dichters Robert Burns aus d e m J a h r 1793 an; vgl.: ders., Vampirismus, S. 174ff. Vgl.: Babener, Vampire T h e m e , S. 4 u. S. 2 7 .
467
468
178
seinen Vampirismustexten jedoch eines zweiten, älteren, aber weniger geläufigen Mittels: der vampirisch-tödlichen Augenkraft des saugenden wie des durchdringenden Blicks. Dieses Motiv läßt sich nicht nur in der gesamten romantischen Vampirliteratur verfolgen, 469 sondern geht auf eine alltagspsychologische Bezugnahme zwischen Seele und Auge zurück. Ins Abergläubisch-Dämonologische gewendet, wird dabei z. B. von einer Verzauberungsmöglichkeit durch den »bösen Blick« ausgegangen, wie sie auch den Hexen (als vampirischen Vorläufern) vorgeworfen werden konnte. 470 Bereits in Gottfried Kaeppels Reiseskizze über Pyrmonts Merkwürdigkeiten aus dem Jahr 1800, die Raabe im Heiligen Born (1859-1860) als Quellenmaterial für die Entstehungsgeschichte des Pyrmonter Kurbads benutzt hat, 471 findet sich in der Schilderung eines typischen Tagesablaufs folgende Beobachtung des Verfassers: Aus d e m Blick mancher Schönen schießt die M i ß g u n s t ihre giftigsten Pfeile gegen eine oder die andere Vorüberwandelnde [...] 4 7 2
Diese marginal wirkende Bemerkung dient hier der Beschreibung standesbewußten Lebens, welches - als eine Art Mikrokosmos des allgemeinen gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses — zusehends den Charakter des Kuraufenthalts zu prägen beginnt. Bis zum Zeitalter des Absolutismus funktionierten Heilbäder dagegen als standesübergreifender Teil öffentlichen Lebens. 473 Der Blickkontakt, der bei Kaeppel also rein metaphorisch im Sinne gesellschaftlicher wie geschlechtsspezifischer Konkurrenz und >Vernichtung< gemeint war, entpuppt sich in Raabes Heiligem Born nun als beängstigendes und tatsächlich »todbringend [es]«, 474 sexuell codiertes Kampfinstrument seiner weiblichen Vampirfigur: M i t ihren schwarzen Augen sog Fausta La Tedesca Herrn Philipp alle Kraft und M a c h t aus, d a ß er immer bleicher und hohlwangiger wurde, immer finsterer und immer menschenscheuer. 4 7 5
Eine eindeutig erotische Besetzung von Auge und Blick findet bereits in der antiken Literatur weite Verbreitung. Genauso verwundend wie die Lie469
470
471 472
473 474 475
V g l . dazu: Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 555 u. S. 5 6 7 sowie die dort leicht gekürzt abgedruckte Rezension der französischen Ausgabe von Polidoris »Vampyre« durch Charles Nodier ( 1 8 2 0 ) unter d e m Titel »Vampirismus und romantische Gattung« (S. 4 9 0 - 4 9 5 ; S. 4 9 5 ) . Vgl.: Michael T i t z m a n n , Bemerkungen zu Wissen und Sprache der Goethezeit ( 1 7 7 0 - 1 8 3 0 ) . M i t d e m Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen, in: Link/Wülfing, Bewegung, S. 1 0 0 - 1 2 0 ; S. 111 u. S. 113 sowie: H d W . dt. Aberglaubens, Bd. 1, Sp.684 (»Auge«). Vgl.: BA 3 , 4 7 4 . [Gottfried Kaeppel] Pyrmonts M e r k w ü r d i g k e i t e n . Eine Skizze für Reisende und Kurgäste. ... Leipzig 1800, § 2 8 , S. 4 9 . Vgl. dazu: Kuhnert, Badereisen, S. 3 3 . BA 3 , 2 5 3 . BA 3 , 1 6 8 . 179
bespfeile des Eros können auch die Strahlen aus den Augen der Geliebten wirken.'* 76 Eben dieser verzehrenden Augenwaffe bedient sich im hochmittelalterlichen Minnesang dann die >frouwe< gegenüber ihrem ritterlichen >dienestmanerkennen< eine Rolle gespielt habe - »so daß also wechselseitiger Blickkontakt als Äquivalent eines Sexualaktes fungieren kann«. 478 Eine direkte, im abschrekkenden Sinne gemeinte Korrelation von Augen und Sexualorganen nahmen am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert auch die Masturbations-Theoretiker vor, wenn sie unfolgsamen Jünglingen mit bevorstehender Erblindung drohten. 479 Ganz entgegen den Verteufelungen dieser Art kann als ein literarischer Höhepunkt in der obsessionellen Verfolgung der Augenmetapher und ihrer erotischen Entsprechungen Georges Batailles Histoire de l'oeil gelten; sein erster veröffentlichter Text, der 1928 unter Pseudonym erschien. In ihm drückt sich ein einziger Protest gegen die Sublimierung von Kultur, gegen die Entsinnlichung von Wahrnehmung und die Instrumentalisierung von Sexualität und Erotik aus. Uber die bildlich realisierte Szene eines in die Vulva plazierten menschlichen Auges kulminiert Batailles Text am Ende in der Vorstellung vom »sinnlich sehenden Blick«. 480 Zeitgleich mit Bunuel und Dalis berühmter Sequenz aus ihrem surrealistischen Film Un chien andalou, in der ein Auge von einem Rasiermesser durchschnitten wird, macht Bataille also gerade auf die »kastrierte[n] Augen« 481 einer normierten Wahrnehmung aufmerksam. Historisch zeitgemäß konzentriert sich Raabes Augenmetaphorik ein halbes Jahrhundert früher dagegen noch allein auf die beängstigend kastrierenden und verschlingenden Komponenten. 482
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Vgl.: Spies, M i l i t a t omnis amans, S. 24 sowie zum erotisierten Komplex von Augenzauber, -verlust und -blendung allgemein: Helga Slessarev, Bedeutungsanreicherung des Wortes: Auge, in: Monatshefte 6 3 ( 1 9 7 1 ) 3, S. 358—371; S. 3 6 0 . Vgl.: Kohler, Liebeskrieg, S. 5f.; S. 31 u. S. 150. Vgl.: 1. Mose 4,1 sowie: Titzmann, Bemerkungen zu Wissen u. Sprache der Goethezeit, S. 119. Titzmann, Bemerkungen zu Wissen u. Sprache der Goethezeit, S. 119 (u. a. mit Textbeispielen aus dem Belehrungsbuch »Über die heimlichen Sünden der J u gend« des Pädagogen Christian Gotthilf Salzmann, das 1799 bereits in dritter Auflage erschien). V g l . dazu: Klaus Laermann, Georges Bataille - Das Auge als Fetisch, in: Horst Albert Glaser (Hg.), Wollüstige Phantasie. Sexualästhetik in der Literatur, M ü n c h e n 1974, S. 6 2 - 1 0 2 ; S. 102. Georges Bataille, Die Geschichte des Auges, in: ders., Das obszöne Werk, übers, v. M a r i o n Luckow [nach: ders., Histoire de l'oeil, hg. v. Jean-Jacques Pauvert, Paris 1967], Reinbek b. H a m b u r g 1988, S. 5 - 5 3 ; S. 3 1 . An dieser Stelle sei noch einmal an die - über ihre Entstehungszeit hinaus — prägende Interpretation des Augenverlustes als eines symbolischen Kastrationsersatzes durch Raabes jüngeren Zeitgenossen S i g m u n d Freud erinnert (s. Anm. 218). 180
Ihr sexuell-gefräßiger Symbolgehalt ist dabei nicht eindeutig festlegbar - er flottiert zwischen phallischer und vaginaler Codierung. So stellen im »Duell der Blicke« die großen, starren, feurig sprühenden, funkelnden oder triumphstrahlenden Augen beispielsweise ein Potenzzeichen dar. 4 8 3 Übersteigerte Aggressivität kann aber ebenso dem männermordenden Frauentypus zugeschrieben werden. Dies geschieht bei Raabe nicht nur in den regelrechten Augenzweikämpfen zwischen Fausta La Tedesca und ihren männlichen Opfern, sondern es charakterisiert auch die verderberische Augenwirkung seiner Vampirinnen Felicia (Der Student von Wittenberg), Lucia und Christabel (Christoph Pechlin).AM Weitaus häufiger findet sich in seinen Texten jedoch die Augenfunktion des verschlingenden Abgrunds, an dessen Rändern die Wimpern wie Zähne der schrecklichen >vagina dentata< drohen. 4 8 5 Bei Raabes südlichen Frauenfiguren bieten sich dazu vor allem ihre dunklen »Höhlenaugen« an, die wie schwarze, einsaugende Löcher vor den männlichen Protagonisten aufreißen. 4 8 6 Ihr Äquivalent sind die »grünblauen, kühlen« »Meerfeienaugen« 487 seiner nördlichen Wasserfrauen. Doris Radebrecker oder Christabel Eddish versuchen ihre Männer damit ebenso in eine fürchterlich »strudelnde[ ] Wasserhöhle«, in einen »finster flutenden Schoß« zu ziehen, der einem »Höllenrachen« voll schnappenden Getiers gleicht, wie der klaffend-»gähnende[ ] Spalt« den Taucher in Friedrich Schillers gleichnamigem Gedicht. 4 8 8 Nicht nur die hier wiedergegebenen Schiller-Zitate weisen dabei
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Vgl. dazu: G e r t Mattenklott, D e r übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek b. H a m b u r g 1982, S. 54 u. S. 5 7 sowie zur aggressivkriegerischen Besetzung erotisierter Augenlust seit den Anfängen der Photographie im 19. Jahrhundert: T h i l o Koenig, D a s kriegerische Vokabular der Photographie, in: Fotogeschichte 12 ( 1 9 9 2 ) 4 3 , S. 3 9 - 4 8 . B A 3 , 8 4 u. 8 8 ; B A 2 , 2 6 3 u. 2 6 5 ; BA 1 0 , 2 3 7 ; 2 5 1 u. 3 0 1 . Vgl.: Theweleit, M ä n n e r p h a n t a s i e n , Bd. 2, S. 141. B A 1 5 , 3 7 3 u. B A l , 2 9 3 f f . BA 1 2 , 1 5 5 ; B A 1 0 , 2 4 4 u. 2 8 5 . Friedrich Schiller, D e r Taucher ( 1 7 9 8 ) , in: Schillers Werke. Nationalausgabe, B d . 2 / 1 , hg. v. N o r b e r t Oellers, Weimar 1 9 8 3 , S. 2 6 6 - 2 7 1 ; S. 2 6 7 - 2 6 9 ; S. 2 7 0 u. S. 2 6 6 . Vgl. analog zu diesem Gesamttenor in Raabes »Innerste«, wie ihn Denkler bereits ausführlich beschrieben hat (ders., »Innerste«, S. 3 3 ) , auch die früher entstandene — schwächere — Flußliebesszene zwischen Christabel und C h r i s t o p h Pechlin in Raabes gleichnamigem Z e i t r o m a n . D e r rauschende, spülende und wühlende Fluß ist hier der Neckar; die Szenerie ist ebenfalls mit diversen weiblichen Wassergeistern angefüllt und endet schließlich mit einer bedeutungsschwangeren Beschreibung von L u d w i g Hofers M a r m o r b i l d im Stuttgarter Schloßgarten. Es stellt den griechischen J ü n g l i n g Hylas im M o m e n t seines Versinkens in der Wassertiefe durch die Kraft »zudringliche[r] Wasserjungfern« dar (BA 1 0 , 3 6 3 - 3 7 2 u. 5 1 2 ) . - Keine Ruhe im »kühlen Schoß« des Weserflusses findet im noch früheren »Heiligen Born« dagegen der M ö n c h Festus (BA 3 , 2 9 3 ) . Statt dessen geistert er als >Untoter< noch einige Zeit am Ufer entlang (BA 3 , 3 3 6 f r . ) . Seine sündige Liebesglut hatte sich zuvor ebenfalls durch erschreckend »feurige[ ]«, wahnsinnig glühende Augen Bahn gebrochen, mit denen er M o n i k a Fichtner heimlich beobachtet hatte (BA 3 , 1 5 7 ; 2 8 9 f f . ; 16ff.;
l8l
eine g r o ß e Ä h n l i c h k e i t zu den b e k a n n t e n , weiblich-sexuell c o d i e r t e n W a s sersog-Phantasien in Raabes Texten auf. In Eulenpfingsten
findet
dieses G e -
d i c h t auch d i r e k t Eingang, da die gefährliche M a c h t v o n Schillers C h a r y b d e auf die L i e b e s a u f w a l l u n g des j u g e n d l i c h e n Protagonisten Elard N ü r r e m berg b e z o g e n i s t . 4 5 8 D i e A n s p i e l u n g w i r d h i e r j e d o c h in ein ü b e r t r i e b e n komisches, »rosig d u r c h l e u c h t e t e s ] « H a p p y - E n d der L i e b e n d e n Elard u n d Käthchen verkehrt.490 Dagegen weist der Rest der hier e r w ä h n t e n Beispiele einen Z u s a m m e n hang
von
»Augen-Aggressivität,
Kastrationsangst
und
Verschlingungs-
p h a n t a s i e n « 4 9 1 auf, w i e es auch in e i n e m anderen literarischen Klassiker e r o t i s c h - d ä m o n i s i e r t e r M e t a p h o r i k des Auges u n d des Blicks erzeugt w i r d — in E.T.A. H o f f m a n n s 1 8 1 7 erschienener Erzählung Der
Sandmann,492
Seit Raabes f r ü h e s t e n literarischen Erzeugnissen, genauer seit seinen Weihnachtsgeistern
v o n 1 8 5 7 , d u r c h z i e h e n direkte w i e i n d i r e k t e A n s p i e l u n -
gen a u f H o f f m a n n u n d sein W e r k die E r z ä h l t e x t e . 4 9 3 S o v e r w u n d e r t es n i c h t , d a ß der H o f f m a n n - K e n n e r Raabe sich auch f ü r das >Nachtstück< des Sandmanns
interessierte, f ü r diese, t r o t z einer bis h e u t e w e i t e r a n s c h w e l l e n -
den F o r s c h u n g s l i t e r a t u r , 4 9 4 rätselhaft b l e i b e n d e G e s c h i c h t e v o n K i n d h e i t , 6 0 u. 142). Die ganz ähnliche Gestaltung eines voyeuristischen Geistlichen, der in der B e k ä m p f u n g äußeren Naturaufruhrs (Gewitter, Flut) seine eigene, innere Liebesleidenschaft zu einer Kind-Frau zu unterdrücken sucht, findet sich in Stifters sechs Jahre vorher erschienener Novelle »Kalkstein«. V g l . dazu z. B.: John Reddick, Tiger und Tugend in Stifters »Kalkstein«: Eine Polemik, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 95 ( 1 9 7 6 ) , S. 2 3 5 - 2 5 5 ; S. 2 3 6 ; S. 242f. u. S. 2 4 4 . 489 490
491 492
493 494
BA 1 1 , 4 4 5 . Vgl. hierzu auch: BA 14,438f. (»Wanza«), BA 11,446f. - In diesem distanziert-ironisierten Sinne ist auch Raabes drei Jahre zuvor beendeter »Dräumling« zu sehen. Die »Sumpffee« W u l f h i l d e vermag den verliebten Maler Haeseler hier lediglich im Sinne einer bildhaften Reminiszenz an diesen Verschlingungs-Topos »an dem Herzen in den A b g r u n d hernieder[zuziehen]« (BA 10,10 u. 51). Vgl. zur U m k e h r u n g der Weiblichkeitsstereotypen in diesem Raabe-Text allgemein: Bröhan, Darstellung der Frau, S. 1 8 2 - 1 9 4 . M a t t e n k l o t t , Übersinnlicher Leib, S. 58. Vier Jahre später entsteht von seiner H a n d übrigens auch ein literarischer Exkurs über »Vampirismus«, den H o f f m a n n im vierten Band der »Serapionsbrüder« verarbeitet. Auch Hoffmann orientierte sich dabei an Lord Byron (bzw. Polidori) und Michael Ranft - beide werden explizit genannt. Vgl.: E[rnst] T [ h e o d o r ] A [ m a d e u s ] Hoffmann, Die Serapionsbrüder, Bd. 4, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 5, hg. v. Hans-Joachim Kruse, 1. Auflage, Berlin u. W e i m a r 1978, S. 5 1 2 - 5 3 1 . BA 2 , 2 8 1 u. 5 7 3 . Aus diesem inzwischen überbordenden Feld seien nur genannt: Freud, Das Unheimliche, S. 2 5 0 - 2 5 7 . Peter von M a t t , Die Augen der Automaten. E.T.A. H o f f m a n n s Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst, T ü b i n g e n 1971, S. 7 6 - 1 1 6 . Friedrich A. Kittler, »Das Phantom unseres Ichs« und die Literaturpsychologie: E.T.A. Hoffmann - Freud - Lacan, in: Kittler/Turk, Urszenen, S. 1 3 9 - 1 6 6 . Hans-Thies Lehmann, Exkurs über E.T.A. Hoffmanns »Sandmann«. Eine texttheoretische Lektüre, in: Gisela Dischner u. Richard Faber (Hg.), R o m a n tische Utopie - Utopische Romantik, Hildesheim 1979, S. 3 0 1 - 3 2 3 . 182
L i e b e , W a h n s i n n u n d T o d . R a a b e b e w a h r t e s i e a l s E i n z e l a u s g a b e in s e i n e r B i b l i o t h e k a u f u n d e r w ä h n t e sie 1 8 8 7 / 8 8 i m
Lar. 495
Z u r E r i n n e r u n g sei d a s H a n d l u n g s g e r ü s t , d a s H o f f m a n n s v i e l s c h i c h t i g e m Text über (Augen-)Angst u n d (Augen-) Lust natürlich nicht gerecht werden kann, rasch rekapituliert. In seiner K i n d h e i t w u r d e N a t h a n a e l unter d e m V o r w a n d , der
Sandmann
k o m m e , i m m e r d a n n ins Bett geschickt, w e n n sich der schreckliche A d v o kat C o p p e l i u s zu alchimistischen Experimenten mit d e m Vater angekündigt hatte. N a t h a n a e l s heimliche B e o b a c h t u n g der beiden wird für ihn schließl i c h z u m t r a u m a t i s c h e n E r l e b n i s . E r h a l l u z i n i e r t d i e >Urszene< d e s s c h e n m a c h e n s , 4 9 6 schreit vor A n g s t a u f u n d w i r d e n t d e c k t . In
Men-
Coppelius
495
B A 1 7 , 3 4 4 . - S t B : Brosch I 9 4 2 8 : E[rnst] T [ h e o d o r ] A [ m a d e u s ] H o f f m a n n , D e r S a n d m a n n . Ein Nachtstück, Leipzig o.J. A u f d e m Titelblatt ist das A n s c h a f f u n g s j a h r 1873 verzeichnet. Dies bedeutet beim Bibliothekenleser Raabe jedoch selten den Z e i t p u n k t seiner ersten Lektüre. D a ß sie im Falle des H o f f m a n n s c h e n » S a n d m a n n « mindestens vierzehn Jahre früher liegt, wird im folgenden zu zeigen sein.
496
Vgl. dazu speziell: Kittler, H o f f m a n n - Freud - Lacan, S. 157. D i e hier angedeutete Verbindung zwischen alchimistischer Prozedur und Koitus — beides vor den Augen der Kinder geheimgehalten - erklärt sich dabei auch über die Hintergründe der Alchimie: Eine ursprünglich sexualisierte A u f f a s s u n g von Pflanzen und Erdmetallen erfordert die notwendige »Vermischung der beiden »Ges c h l e c h t e r [...] für das Gelingen des Schmelzvorgangs« und die alchimistische iGeburt« des neuen Stoffes. Vgl. zum H i n t e r g r u n d alchimistischer Prozeduren allgemein sowie zur Initiationsfunktion des S c h m i e d s , in dessen Feuerkessel der Initiand symbolisch zerstückelt und gekocht wird: Mircea Eliade, S c h m i e d e und Alchemisten, übers, v. E m m a von Pelet, 2., v. R o l f H o m a n n bearb. u. nach der neuesten frz. Aufl. erg. Auflage, Stuttgart 1 9 8 0 , S. 3 7 ; S. 39ff. u. S. 8 7 (Erstveröffentlichung u.d.T.: Forgerons et Alchimistes, Paris 1956). Besonders augenfällig wird dieser mannmännliche, sexualisierte Z e u g u n g s a k t in Raabes f r ü h e m historischen Text »Ein Geheimnis« ( 1 8 6 0 ) : »Aus einem Loch in der schwarzen, feuchten M a u e r ringelt sich eine bunte Schlange hervor, sie steigt an d e m Beine Stefano Vinacches empor, sie umschlingt seinen A r m und scheint ihm ins O h r zu zischen. Ein Zittern ü b e r k o m m t den G o l d m a c h e r , aus der Brust zieht er ein winziges Fläschchen; - im Tiegel gärt und kocht die metallische M a s s e , die Flammen züngeln — aus der Phiole in der H a n d des Meisters fällt das Projektionspulver in den Tiegel « (BA 3 , 3 6 7 ) . A u f der Folie des authentischen Falles eines G o l d m a c h e r s zur Zeit Ludwig XIV. führt dies jetzt zur D ä m o n o l o g i s i e r u n g einer männlichen Figur, des Neapolitaners Stefano Vinacche. Seine schwarzen, funkelnden Augen haben ihm die Pariser U m g e b u n g zu Willen gemacht (BA 3 , 3 5 0 u. 3 6 2 ) - das bekannte Schema weiblicher Diabolisierung unter umgekehrten Vorzeichen also. A u f H o f f m a n n s formlos grauen S a n d m a n n verweist z u d e m die von Detering beschriebene, »verschwommen[e]« Identität Vinacches (ders., Theodizee, S. 4 5 ) . Detering erwähnt hier auch einen bereits hergestellten H o f f m a n n - B e z u g durch Eduard Klopfenstein, allerdings nicht zum » S a n d m a n n « , sondern zur Kriminalerzählung » D a s Fräulein von Scuderi« (S. 43; A n m . 1). - In einem weiteren Frühwerk Raabes, » N a c h dem großen Kriege«, führt die mythisch aufgeladene S c h m i e d e - A t m o sphäre zur Liebes-iBehexung< Fritz Wolkenjägers (vgl.: BA 4,26f. u. 55). D a s zerstörerische Bild von Alchimie, Feuer, Schmiede- und Gießwerkstatt weitet
183
Drohungen, ihm die Augen auszureißen und seinen Körper zu zerstückeln, scheinen sich für Nathanael die gräßlichen Prophezeiungen der Amme zu bewahrheiten, die dem Sandmann eben diese Fähigkeiten zugeschrieben hatte. Nathanael verfällt daraufhin in eine todesähnliche Ohnmacht, aus der er in den Armen seiner Mutter erwacht. Coppelius verschwindet dagegen spurlos, nachdem Nathanaels Vater bei einem ihrer Experimente zu Tode gekommen ist. Jahre später wird Nathanael jedoch wieder auf diese grauenvollen Erinnerungen gestoßen, da er in dem Optiker Coppola einen Doppelgänger des Coppelius zu erkennen glaubt. Coppola will ihm nämlich >Augenuntoten< Zustand der Frauenfiguren zu unterstreichen. 503 In ihren Augen scheint zudem das Zentrum der erotischen Verführungskraft zu liegen. Während Faustas Augen als das Lebendigste an ihr beschrieben werden, sind diejenigen Olimpias dagegen starr und tot. 504
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Denkler, Raabe, S. 191; A n m . 19. Auch hier spielt der (Leblosigkeit suggerierende) Augenkontakt eine große Rolle. — Als nahezu »übermenschlich« wird in Raabes früherem Text »Unseres Herrgotts Kanzlei« zudem das scharfe Auge des (dämonisierten) Schützen Andreas Kritzmann beschrieben (BA 4 , 2 9 9 ) . Als »Rächer aus Liebe< haust er unter den Glocken seines Kirchturms jedoch eher wie der Glöckner Quasimodo aus Victor Hugos 1831 erschienenem, populärem historischen R o m a n »Notre-Dame de Paris. 1482«. Auf ihn verweist in Raabes Text auch die Charakterisierung von Kritzmanns Turmgehilfen. W i e in Hugos Beschreibung des Glöckners Quasimodo ist dieser ein »verwachsener, taubstummer, elternloser Knabe« (ebd.). Raabe kannte die zeitgenössische französische Abenteuerliteratur seit seiner Kindheit, darunter auch Hugos Werke (vgl. seine zahlreichen Tagebucheintragungen; 1864 sogar direkt zu »Notre-Dame«: StA: H III 10 Nr. 114, S. 8). Roebling, Raabes doppelte Buchführung, S. 136f. Werner Schultz, Einwirkungen des >Romantikers< E.T.A. H o f f m a n n auf den >Realisten< W i l h e l m Raabe, in: JbRG 1976, S. 1 3 3 - 1 5 0 ; S. 1 4 l f . Einen ersten Anstoß in dieser Richtung lieferte bereits: W i l h e l m Fehse, Raabe und E.T.A. H o f f m a n n , in: M i t t . 9 ( 1 9 1 9 ) 3, S. 5 7 - 6 6 . V g l . : BA 3 , 2 0 6 u. 5 0 0 ; 135 u. 4 9 5 ; 168 u. 4 9 7 . E[rnst] T[heodor] A[madeus] Hoffmann, Der Sandmann, in: ders., Nachtstücke, Reinbek b. H a m b u r g 1964, S. 7 - 4 0 ; S. 27; S. 3 0 u. S. 32f. - BA 3 , 1 0 6 u. 191. H o f f m a n n , Der S a n d m a n n , S. 3 2 . - BA 3 , 9 9 . H o f f m a n n , Der S a n d m a n n , S. 29; S. 33 u. S. 3 6 . - BA 3 , 1 0 6 . 185
Hoffmanns Olimpia wird damit eindeutig als rein männlicher - von Männern gezeugter wie von Männern liebessehnsüchtig erblickter Wunschautomat, als eine »Allegorie auf das Begehren par excellence«,505 ausgestellt. Olimpia ist das reflektierende Spiegelbild Nathanaels. Vermittels eines künstlichen Hilfsmittels, Coppolas Fernglas, sieht er allein das sowohl Grauen wie Verzückung auslösende »Phantom unseres eigenen Ichs«, dessen ersehnten »Liebesblick« er sich nun imaginieren kann. 506 Ebenso wie der antike Mythos von Narziß ein Mythos des tödlichen Begehrens ist - Narziß ertrinkt beim Versuch, sich mit seinem geliebten Spiegelbild zu vereinen - so erweisen sich auch Nathanaels Augenspiegelungen einer >narzißtischen Liebesverfallenheitbösen Prinzip«, das im Unterschied zu Hoffmanns Sandmann jetzt geschlechtsverkehrt von Frauen, z. B. von Fausta im Heiligen Born verkörpert wird, 508 im Grunde um ein regressives, im infantilen »Spiegelstadium«509 stehengebliebenes Begehren der männlichen Figuren. Es ist auf dem Hintergrund einer gescheiterten, objektidentischen und dadurch panzerungsbedürftigen Ich-Konstitution entstanden, für die eine »unkontrollierte Triebregung als solche zur Gefahr wird«. 510 Dies soll im folgenden an den unterschiedlich literarisch materialisierten, krisenhaften »Ambivalenz[en] von Entgrenzungslust und Fragmentierungsangst« 511 in Raabes Erzähltexten untersucht werden. Kehren wir zunächst zu den Augen zurück, und zwar diesmal zur Beschreibung ihrer verschlingenden Wirkung aus der Sicht der betroffenen männlichen Figuren. Bereits in Ein Frühling (1856—1857) findet sich eine erstaunlich präzise Beschreibung der regredierenden Spiegelungssituation. Bezeich505 50S
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Mattenklott, Übersinnlicher Leib, S. 76. H o f f m a n n , Der Sandmann, S. 17 u. S. 31. - Vgl. zu diesem Komplex von Künstlichkeit, Körperentfremdung, Kommunikationsiosigkeit und Augenbeherrschung im Sinne einer Identitäts- u n d Erkenntniskrise der Aufklärung: Peter Utz, Das Auge u n d das O h r im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, S. 272—280 sowie: Knut Boeser, Der blinde Blick. Assoziationen zum Auge, in: Psychoanalyse 2 (1981) 3, S. 2 1 8 - 2 4 8 ; S. 236ff. So heißt es dann bei: Freud, Das Unheimliche, S. 256 (Anm.). - Vgl. zu Freuds Theorie des Narzißmus: Kurt Eissler, Todestrieb, Ambivalenz, Narzißmus, übers, v. Elke vom Scheidt, durchges. v. Hans Lobner, Hamburg 1980, vor allem S. 36— 4 3 (Erstveröffentlichung u.d.T.: Death Drive, Ambivalence and Narcissism, in: T h e Psychoanalytic Study of the Child 26 (1971), S. 2 5 - 7 8 ) . BA 3,168. - H o f f m a n n , Der Sandmann, S. 23. So lautet die Beschreibung dieses Zustands schließlich bei: Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint (1949), übers, v. Peter Stehlin, in: Lacan, Schriften 1, S. 6 1 - 7 0 (Erstveröffentlichung u.d.T.: Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je telle qu'elle nous est révélée dans l'expérience psychanalytique, in: J. L„ Ecrits, Paris 1966, S. 9 3 - 1 0 0 ) . Lehmann, Exkurs über Hoffmanns »Sandmann«, S. 314. Böhme, Romantische Adoleszenzkrisen, S. 169; Anm. 27. 186
nenderweise erfolgt sie nicht aus einer direkten Konfrontation männlicher und weiblicher Protagonisten, sondern, diese transmittierend, über das ungefährlichere Nacherzählungsmodell eines orientalischen Märchentraums: Er lag zu ihren Füßen, sein Haupt ruhte in ihrem Schoß. [...] Wenn er von Zeit zu Zeit die Augen aufschlug, sah er [...] über sich gebeugt, ihr wunderbar schönes, im Schein des Mondes totenbleiches Gesicht mit der Sternenpracht der schwarzen Augen. Dann zuckte er zusammen; er war wie ein willenloses Kind geworden, nichts war ihm von ihm selbst geblieben; alles war - sie! 312
Die fusionäre Versuchung erscheint total, übermächtig und ichgefährdend, da im Blick der Geliebten die Mutterimago aufgesucht und damit die Erfahrung der frühen dualen Beziehung des hilflosen Kindes zur ersten Bezugsperson reproduziert wird. Das Selbst ist noch nicht sicher abgegrenzt, sondern unterliegt dem Bann des Imaginären in der Spiegelidentifikation. 5 1 3 Dadurch ist es von Auflösung und Verwechslung mit dem anderen bedroht, das nicht als solches erkannt wird. Die Darstellung scheinbar unkontrollierbarer Triebhaftigkeit in Form eines Ich-Verlustes bestimmt auf der Figurenebene des Heiligen Born aber auch die Erlebnisweise Philipp von Spiegelbergs in seiner Beziehung zu Fausta La Tedesca. Entsprechend der erotischen Funktionsweise der Augen in diesem Text ist Philipps erotische Erregung als zeitweiliger Verlust des Sehvermögens beschrieben. 514 Dies wird jetzt bis zum »durchaus unzurechnungsfähigen Zustande« einer völligen Auflösung in schwindelerregendem »blaue[n] Nebel« oder in verschwimmender »roter Glut« gesteigert. 5 1 5 Warum sich diese orgasmusanaloge Entgrenzungssehnsucht auch hier zum Alp-»Traum« auswächst, 5 " 5 erklärt in diesem Fall eine nähere Untersuchung 512
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BA 1,295. - Vgl. zur Funktion des Mythosmodells als Distanzierungsmöglichkeit vom Unheimlichen: Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1984, S. 132. Lacan deutet den Jubel des sechs- bis achtzehnmonatigen Kindes dabei als Freudensausdruck einer erlebten Ich-Konstitution im einheitlichen Abbild, das die vorherige, zerstückelte Einzelerfahrung für den Spiegelungsmoment aufhebt; vgl.: Bernhard Greiner, »Sujet barri< und Sprache des Begehrens: Die Autorschaft >Anna Segherss in: Walter Schönau (Hg.), Literaturpsychologische Studien und Analysen, Amsterdam 1983, S. 3 1 9 - 3 5 1 ; S. 326. Titzmann, Bemerkungen zu Wissen u. Sprache der Goethezeit, S. 119. BA 3,128 u. 87. - Vgl. aber auch die verwirrende Sonnenblendung Phöbes (»wie blutige Flammen im Auge«) in Raabes spätem Text »Unruhige Gäste« (BA 16,275). Damit ist hier eine erotisch bedingte Auflösungstendenz bisheriger Begrenzungen im Selbstverständnis dieser Figur gemeint. Sie kann allerdings durch erneute Zwangsbefestigungen abgefangen werden (Rückzug unter den sicheren, »engen Lichtkreis« der Arbeitslampe wie - als komplementäres Naturbild zur heißen, feuerroten Sommersonne - hinter »eine Mauer« eiskalten, weißen Winterschnees; BA 16,336f. u. 321). Vgl. dagegen zur positiv gewerteten Deutung dieses Prozesses; als Phöbes heilsamen Rückzug »in die biblisch vorgegebene Identität«: Detering, Theodizee, S. 122f. BA 3,92. - Vgl. dazu auch: Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus. 187
der — vordergründig dämonologisierten - Verschlingungsmodelle. Vor allem dasjenige des Vampirs kann Aufschlüsse liefern, da es neben der Hexe zum »Projektionsträger männlicher Ängste vor dem Uberwältigtwerden« 517 avanciert ist. Wieder ist es die Augenfunktion, die wesentliche Hinweise geben kann. Faustas gefräßigen Blicken wird im Heiligen Born nämlich nicht nur die Fähigkeit zugeschrieben, Blut zu saugen, sondern auch Blut und Herz — »Herzbluts wie es bei Raabe in diesem Zusammenhang des öfteren heißt — zu vergiften. 518 Und zwar, gemäß der antiken Humoralpathologie, der Lehre von den Körpersäften, mit der >acedia< (»Trägheit des Herzensgelangweilten, melancholischen HerrschersGlücksAnimaprojektion< bezeichnet: Ein männliches Ich projiziert sein psychisches Bild der Frau - von Jung >Anima< genannt — auf die in der Realität begegnende Frau und begegnet in ihr letzten Endes nur sich selbst. 5 4 1 Durch Elses Anwesenheit, so heißt es in Raabes Text weiter, wird aber auch der in seiner Einsamkeit unfertig-jung gebliebene Leutenbacher wieder zum Kind. 5 4 2 Er erhält damit die Chance zum Neubeginn einer Ich-Konstituierung, deren Scheitern im Verlauf des Textes vorgeführt wird. Die Unterbrechung seiner symbiotisch-narzißtischen Beziehung zur inzwischen erwachsen gewordenen Else (an der Textoberfläche motiviert durch das Attentat auf sie) erfährt der Pfarrer ähnlich wie das Kleinkind bei
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BA 9/1,177. BA 9/1,176. BA 9/1,159. - Vgl. zu dieser naheliegenden, häufigen Bedeutungsübernahme z. B.: Gertrud Brate, Form und Inhalt in W i l h e l m Raabes »Else von der Tanne oder Das Glück Domini Friedemann Leutenbachers, armen Dieners am Wort Gottes zu Wallrode im Elend«, in: JbRG 1973, S. 5 4 - 7 0 ; S. 6 6 oder: Hans Oppermann, Mythische Elemente in Raabes Dichtung, in: JbRG 1968, S. 4 9 - 8 2 ; S. 5 6 . BA 9/1,174 u.ö. BA 9/1,179 u. 174. Vgl. zur Tiefenpsychologie Jungs wie zu ihrer literaturwissenschaftlichen Anwendbarkeit: Ingrid Riedel, Traum und Legende in Ingeborg Bachmanns » M a l i n a « , in: Bernd Urban u. W i n f r i e d Kudszus (Hg.), Psychoanalytische u n d psychopathologische Literaturinterpretation, Darmstadt 1981, S. 1 7 8 - 2 0 7 ; S. 180 (zur Animusprojektion). - Erste Interpretationsversuche an einem Raabe-Text u n t e r n a h m in dieser Hinsicht: Franz Zwilgmeyer, Archetypische Bewußtseinsstufen in Raabes Werken, insbesondere in den »Akten des Vogelsangs«, in: J b R G 1984, S. 9 9 - 1 2 0 . BA 9/1,179.
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Lacan als traumatische Erfahrung einer Abwendung der Mutter. Leutenbachers erstes wahnsinniges Aufbegehren gegen diesen Zustand weicht schließlich abgrundtiefer Trostlosigkeit des Alleingelassen-Seins nach Elses Tod. 543 Der Pfarrer läuft schließlich ziellos in den Schneesturm hinaus, verliert sich in der Wildnis und durchlebt in der Kälte, der »unendliche[n] Angst« und der Desorientierung, in die er gerät, noch einmal die ursprüngliche Not des Neugeborenen.544 Der fundamentale Mangel, gesteigert durch die Abwesenheit einer Mutterimago, kann jedoch nicht durch ein Eintreten in die subjektbildende Welt der Sprache sublimiert werden. Diese Überwindungsmöglichkeit ist von Lacan an das mutterabtrennende Hinzutreten eines Dritten, des Vaters, gebunden worden. Während Raabe in einem frühen Entwurfsfragment zu Else von der Tanne noch eine geisterhafte Stimme in dieser Schnee-Einsamkeit zu Leutenbacher sprechen ließ, 545 wartet der Pfarrer am Ende der endgültigen Textfassung jedoch vergebens darauf, »daß man seinen Namen [die in Sprache umgewandelte, symbolische Identitätsformel; J.B.] rufen werde.« 546 Daraufhin überläßt er seinen Körper dem erstickenden »Sarge« aus Schnee - der tödlichen Kehrseite seines Wunsches nach Rückkehr in den Mutterschoß. 547 Leutenbachers Scheitern wird jedoch zum Gewinn für Raabes Textform. Sie kann den Prozeß verhinderter Subjektbildung als Sprachewerden einlösen. Unter ständiger »Thematisierung des Verschriftungsvorgangs« erscheint die Geschichte des Pfarrers in seiner Grenzauflösung zwischen Innen* und Außenwelt als sein eigener, innerer Monolog, als die Vorstufe eines >stream of consciousnessKrieg< wird hier als eine Art »vergesellschaftete[r] Aggressivität« 557 erkannt. Die Kriegssituation lehrt zwangsläufig eine Umkehrung bzw. Außerkraftsetzung gesellschaftlich-moralischer Normen und Werte. Dadurch birgt sie die Gefahr eines generellen Zivilisationsvakuums in sich — habe ich z u m ersten Mal in einem Vortrag u.d.T. »>[...] das soll mir jetzt das rechte Fressen sein in der verhungerten, lustigen Zeit!* Kriegskannibalismus im Werk Wilhelm Raabes« am 1 1 . 6 . 1 9 9 2 vor d e m Raabe-Gesprächskreis Berlin in der Stadtbibliothek W i l m e r s d o r f vorgestellt (Veröffentlichung in Vorbereitung). 554 555 556 557
HuC,24. S c h m i d t , Marginalität, S. 4 0 0 - 4 0 2 . H u C , 8 8 u . 31. D i e s bemerkt Fanon zu den Auswirkungen des Kolonialismus in Algerien; ders., D i e Verdammten, S. 2 5 6 .
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Norbert Elias spricht von der »Regressionsmöglichkeit des Krieges« im Prozeß menschlicher Zivilisation. 558 Wie das Beispiel des Judenpogroms in Raabes Höxter und Corvey zeigt, kann ihr am wirksamsten entgegengearbeitet werden, indem sich über einen Abgrenzungsprozeß gegen Außenseiter Gesellschaft wieder neu konstituiert. Dadurch werden Auflösungstendenzen umgangen, die bis an den Rand einer Art vorzivilisatorischer Barbarei heranreichen können. Zu diesem kriegsbedingten Zustand menschlicher Rebarbarisierung stößt dagegen die Darstellung in Raabes Odfeld vor. Auf dem Hintergrund des Siebenjährigen Kriegs erscheint hier ebenfalls alles als »Ein Elend!«, als »Ein Morast«. 559 Um einem wiederholten, französischen Überfall auf das Kloster Amelungsborn zu entgehen, flüchten sich die Protagonisten Magister Noah Buchius, sein ehemaliger Schüler Thedel von Münchhausen, die Nichte des Klosteramtmanns, Selinde Fegebanck, der Knecht Heinrich Schelze und die Hausmagd Wieschen hinaus auf das leichenübersäte Odfeld. In einer Höhle im Ith-Berg finden sie schließlich Unterschlupf. Doch selbst innerhalb dieser schutzsuchenden Gruppe gibt es bald niemanden mehr, »dem noch ein überflüssig Wort für den Nachbar oder die Nachbarin übriggeblieben war«. 560 Die »Greuel der Verwüstung« herrschen eben auch innerhalb der eigenen, »armen vier Wände«. 561 So heißt es hier symbolhaft im Hinblick auf die private Sphäre von Buchius' Klosterzelle. Zwar ist sie als einzige von den französischen Soldaten verschont geblieben. Dafür hat aber der Rabe, den der Magister verletzt vom Odfeld geborgen hatte, diesmal die Zerstörung des Zelleninventars übernommen. Buchius' humanes »Mitleid gegen die Kreatur«, 562 dessen Mißbrauch in Kriegszeiten ja gerade demonstriert wird, ist dabei eine Ausnahme, aber ebenso ein Produkt der Extremsituation >KriegauffrißtZivilisierten< und den sogenannten »wilden BarbarenVersöhnungzum Fraß< und trägt dadurch mit zum vorzeitigen Tod ihres früheren Liebhabers Karl Schaake bei. Für genau diese Prozesse aber steht in Meister Autor vor allem ein Name: Frau Christine von Wittum. Wie Lucie von Rippgen und Christabel Eddish aus Raabes kurz zuvor beendetem Christoph Pechlin gehört sie »zum Typus des [...] modernen Hexentums«,654 »halb Hexe, halb femme fatale«. 655 Die schon etwas matronenhafte Witwe eines »kleinstaatlich juristischen Menschenfressers« verkörpert jetzt den negativ belegten Typus der alleinstehenden Dame der Gesellschaft. 656 Aus einer durch notorische Unbeschäftigtheit hervorgerufenen, modernen Form »tödliche[r] Langeweile« spinnt sie Intrigen innerhalb ihrer kleinbürgerlichen Umgebung und scheint damit sowohl Gertrud Tofote wie auch den Ich-Erzähler Emil von Schmidt in ihre Fänge zu zwingen. 657 Christine von Wittum wirkt wie ein Konglomerat aus Raabes bislang beschriebenen, dämonologisierten Weiblichkeitsstereotypen. Als »dunkeläugige« Wasserfrau rauscht sie jetzt durch die »Wellen« - diesmal sind damit im übertragenen Sinne die verschlingenden Fluten bürgerlicher Gesellschaftskonventionen gemeint. 658 Doch nicht nur von ihr geht ein spezifisch weiblicher Zauberbann aus. Auch der verhängnisvolle primitive Fetisch, der »Stein der Abnahme« aus Gertruds geerbtem Haus, zeigt auf seiner weiblich codierten Oberfläche — in »der Größe einer Weiberfaust« — bezeichnenderweise ein »Weibergesicht« von »unerbittlicher Grausamkeit«. 659 Zwar wird ihm von einem Möchtegern-Archäologen ein glückbringender Sexualzauber zugeschrieben. Doch aus der Sicht Karl Schaakes wie des IchErzählers verbindet sich mit diesem vorgeblichen Glücks-Apfel lediglich eine biblische Reminiszenz an die Vertreibung aus ihrem versunkenen Paradies-Garten. 660
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B A I 1,75. Gustav Plaehn, Das Welt- und Zeitbild im »Meister Autor« und seine dreifache Spiegelung, in: M i t t . 2 0 ( 1 9 3 0 ) 1, S. 6 - 2 0 ; S. 8. Siegfried Hajek, »Meister Autor« - Sprachschichten und Motive, in: J b R G 1981, S. 1 4 9 - 1 6 8 ; S. 159. BA 1 1 , 1 0 7 u. 112. BA 1 1 , 1 5 0 . BA l l , 9 2 f . ; 119 u. I l 4 f . BA 1 l , 5 2 f . BA 1 1 , 1 1 7 ; 51f. u. 137. 212
Auch die »Höhle« der »Blutsaugerin« Christine von Wittum befindet sich nun nicht mehr in einem märchenhaften Zauberwald, sondern - wie vom Erzähler mehrfach betont - »in der allermodernsten Vorstadt«. 661 Raabe nutzt dabei die historistisch-exotische Einrichtungsmode der Gründerzeit, um ihre Wohnstatt als einen regelrechten »tropischen Zimmergartenf ]« erscheinen zu lassen. 662 Was draußen, in der deutschen Provinz ebenso wie in den überseeischen Kolonien, gerade der Zerstörung anheimfällt, findet sich im Inneren des Hauses — in Form einer gleichfalls kannibalisch zu nennenden, allegorischen Zerstückelung der Zusammenhänge — um so prächtiger reinstalliert. 663 In der Schwüle dieses künstlichen Urwalds setzt die moderne Vampirin von Wittum nun endgültig ihre »scharfen Nägel [...] in das weiche Herzfleisch« ihres männlichen Opfers Emil von Schmidt, wie es kurz zuvor heißt. 66 ' 1 Doch entgegen der bisher im Text parallelisierten, kannibalistisch bzw. vampiristisch konnotierten, technischen wie sexuellen Verschlingungsängste erweisen sich letztere aus der Sicht des Ich-Erzählers jetzt bloß noch als lächerliches Literatenklischee. 665 Analog zur Entwicklung des Schwarzen Ceretto Wichselmeyer, der in den sogenannten >besseren Kreisen< der Gründerzeitgesellschaft inzwischen gerade wegen seiner Exotik suggerierenden Hautfarbe als Dienstbote begehrt ist, 6 6 6 beschreibt Raabe hier auch erste Vereinnahmungstendenzen des >wilden< Frauentyps. Seine Ausbrüche wirken nur mehr »entzükkend«. 6 6 7 Genauso wie das unheilvolle Triebhaftigkeit verheißende Gewitter im Hintergrund der Liebesszenerie vor seinem Ausbruch ganz einfach »krepiert[ ]«, so verflüchtigt sich am Ende auch die erzähltechnisch aufgebaute, weiblich-sexuelle Dämonologisierung in einer eher konventionell und bieder zu nennenden Vernunftehe. 668 661 662 663
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BA 1 1 , 1 0 8 ; 114 u. 120. BA 11,148 u. 151. V g l . zu dieser gründerzeitlichen Einrichtungsmode und ihrem allegorischen Charakter: Hans J ü r g e n Hansen ( H g . ) , u. Mitarb. v. Hanns Theodor F l e m m i n g [u.a.], Das pompöse Zeitalter. Zwischen Biedermeier und Jugendstil. Kunst, Architektur und Kunsthandwerk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, O l d e n b u r g u. H a m b u r g 1970, S. 7 1 - 1 1 1 ; S. 77f. u. S. 88 sowie zur allegorischen Zerstückelungs-Technik der Moderne im Angesicht technologischkapitalistischer Zerstörungsprozesse: Heinz Schlaffer, Faust zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1981, S. 189. BA 1 l , l 4 7 f . BA 1 1 , 1 2 0 . - V g l . in diesem Z u s a m m e n h a n g auch Martinis Sicht einer in »Meister Autor« nur mehr ironisch eingesetzten M ä r c h e n m e t a p h o r i k (>Hexe< Christine - >Prinzessin< Gertrud); ders., Raabes Verzicht auf Versöhnung«, S. 190. BA 11,87 u. 102. BA 11,144. - D a m i t behält Raabe aber zugleich die bekannte, auch in Goltz' Zivilisations-Charakteristik auftauchende Gleichsetzung von Frauen und >Wilden< bei - beide werden als naturhaft und emotional definiert; vgl.: Goltz, Der Mensch, S. 185f. BA 11,152. - V g l . zu diesem scheinbaren, die triviale Schreibkonvention bew u ß t überbietenden Doppelhochzeits-Happy-End zwischen den Paaren C h r i "3
b. >Liebes-Hunger< Anders verfährt Raabe dagegen im dreizehn Jahre später begonnenen, historischen Odfeld. Thedel von Münchhausen soll hier selbst in der spärlich beleuchteten, mit vaginaler Symbolik überladenen Höhle immer noch nicht erfahren, »wo Barthel Most holt«. 669 Raabe führt an ihm gleich beide Handlungsvarianten des bereits vorgestellten ritterlichen Liebesmodells (Trennung und Kriegsflucht) vor. In erweitertem Kontext kann es jetzt wieder aufgenommen werden. Bedingt durch seinen Schulwechsel von Amelungsborn nach Holzminden muß Thedel sich zunächst von Selinde, dem Liebes-»Ideal seiner Schultage« trennen, nachdem er auch ihrer Tante schon ein Dorn im Auge geworden war. 670 Als Thedel dort ebenfalls vor die Tür gesetzt wird, ziehen Selinde und er gemeinsam »in die weite Welt«, 671 die sich jetzt allerdings auf den kriegsgebeutelten Schauplatz des nahegelegenen Odfeld und die Höhle im Ith reduziert hat. Thedels reicher Zitatenschatz weist seine Wunschvorstellungen bezüglich Selinde dabei als Ambivalenz von Begehren und Abwehr aus. So folgen auf Gedichtstrophen aus Benjamin Neukirchs barocker Lyrikanthologie, die einen literarisch konventionalisierten Triebverzicht propagieren, Zitate von süßlich-derber Sinnlichkeit aus Johann Wilhelm Ludwig Gleims anakreontischen Scherzhaften Liedern.672 Dies kulminiert in der Ith-Höhle schließlich in einer Anspielung auf Vergils Höhlenszene seiner Aeneis, wo das gleichfalls schutzsuchende Paar Dido und Aeneas auf Göttergeheiß die Ehe vollzieht. 673 Thedels Zwiespalt ist an der Textoberfläche zunächst wiederum durch äußere Hindernisse motiviert. Sie bestehen z. B. in Buchius' kontrollierenden Ermahnungen in der Höhle oder sind geschlechtsverkehrt auf die wankelmütige, ihre Liebesversprechungen nicht einhaltende Frauenfigur Selinde verlagert. Sie erscheint dadurch jetzt in der Negativschablone der »Canaille«. 674 Andererseits korrespondiert diesem Geschehen aber der symbolisch aufgeladene Höhlenschauplatz im Erd-Inneren, der ge-
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stine-Emil u n d Gertrud-Vollrad: M a r t i n i , Raabes Verzicht auf 'Versöhnung«, S. 190ff. BA 17,86. Auf die sexuell unterfütterte Höhlensymbolik im »Odfeld« hat zuerst Denkler hingewiesen; ders., Raabe, S. 180. - Ahnlichen Konnotationen unterliegt auch die Beschreibung des Blutstuhl-Massivs in Raabes früherem Text » Z u m wilden M a n n « ; vgl.: Roebling, Raabes doppelte B u c h f ü h r u n g , S. 6 7 . BA 17,153 u. 7 5 . BA 17,81. BA 17,68; 78; 97 u. 146. BA 1 7 , 1 5 8 . — Vergil, Aeneis. Lateinisch-deutsch, in Z u s a m m e n a r b . mit M a r i a Götte hg. u. übers, v. Johannes Götte, 6., vollst, durchges. u. verb. Auflage, M ü n c h e n u. Zürich 1983, IV, 1 2 0 - 1 2 8 ; S. 141. Vgl.: BA 1 7 , 1 7 0 u. 158ff. 214
rade zwischen Koitus- und Mutterleibs-Assoziationen oszilliert. 6 7 5 Die gleiche Ambivalenz, gesteigert zur bekannten, aggressiv-verschlingenden, sexuell-vampirischen Mutterimago, findet sich aber auch auf der Figurenebene verkörpert, nämlich in Selinde Fegebanck selbst. W ä h r e n d Thedels anfängliche Anbetung erst spät, nach dem Höhlenaufenthalt, in Verteufelung umschlägt, ist Sehndes Negativkonnotation über die Perspektive der übrigen Figuren, allen voran derjenigen des Magisters, bereits von langer Hand vorbereitet. Dieser DämonologisierungsStrategie schließt sich im Verlauf des Textes nicht nur die Erzählerperspektive an, sondern darüber hinaus häufig auch eine unkritische Übernahme ihrer Interpretoren. 6 7 6 So macht sich Selinde im Kloster als allererstes durch ihre Vorliebe für die verlockenderere Lebensart der französischen Kriegsgegner verdächtig. Damit ist sie bereits zur »Jungfer Allewelt« abgestempelt, womit hier nichts Geringeres als nationalpolitische wie sexuelle Hurerei gemeint ist. 6 7 7 Doch auch auf der Flucht über das Schlachtfeld erscheint Selinde mit ihrer »harmlose[n], albernefn] Seele« dem Magister bald »als das Schwerste, was er zu tragen oder besser zu schleppen« hatte. 6 7 8 In geradezu unverhohlener Brutalität schwenkt hierauf auch die Erzählhaltung ein. So findet Selindes »stumpfsinnig« erstarrter Blick Erwähnung, oder sie selbst wird, nicht ohne sexuell abwertende Untertöne, als »entblätternde Pfingstrose« beschrieben. 6 7 9 Darüber hinaus ist sie schon vorher, in den beiden parallel geschalteten, sexuell codierten Flugträumen, 6 8 0 die Buchius und Selinde zugeschrieben werden, als Vampirisierte und Vampirin ausgewiesen. W i r d Selinde in ihrem Traum doch wie eine zweite Lenore von ihrem angebeteten, aber bereits verstorbenen Reiterleutnant zum Totenritt abge675
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Denkler, Raabe, S. 180. Vgl. in diesem Z u s a m m e n h a n g auch Denklers Hinweis auf die ebenfalls wörtlich zu nehmende Bedeutung von Raabes Erzählungstitel »Die Innerste«; ders., »Innerste«, S. 28. Neuerdings erst wieder vertreten durch: Haas, Raabe, der Rabe, » T h e Raven«, S. 146ff. BA 17,209. - Vgl. in diesem Zusammenhang auch Helmuth M o j e m s weitläufige Namensassoziationen zu Selinde Fegebanck, deren (sexuell) abwertende Implikationen er allerdings ausschließlich der von ihr bevorzugten französischen Partei zuschreibt; ders., Baucis, S. 54. BA 17,88 u. 131. BA 17,144 u. 134. Vgl. dazu auch die ähnlich krasse Darstellung der verführten u n d an ihrer Gefängnisstrafe zugrunde gegangenen Kindsmörderin M a r i a n ne Erdener in Raabes fünf Jahre früherem Text »Fabian und Sebastian« (BA 15,155f. u. 166). - Eine Parallele bietet auch Gottfried Kellers im Entstehungsjahr von Raabes »Odfeld« erschienener Zeitroman » M a r t i n Salander«. Hier ist es die verführerische U n g a r i n M y r r h a Glawicz, deren Debilität auf Figuren- wie Erzählebene gleichermaßen einem auffällig brutalen Enthüllungsverfahren unterzogen wird (vgl. hierzu vor allem Kellers 19. u. 2 0 . Kap. sowie: Friedrich Hildt, Gottfried Keller. Literarische Verheißung und Kritik der bürgerlichen Gesellschaft im Romanwerk, Bonn 1978, S. 102ff.). V g l . zu dieser psychoanalytischen Deutungsweise seit Freud: Balint, Angstlust, S. 61 ff.
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N e b e n G o e t h e s Braut
von
Korinth
( 1 7 9 7 ) zählt dieses, d e n Sa-
g e n s t o f f d e r T o t e n h o c h z e i t v e r a r b e i t e n d e G e d i c h t G o t t f r i e d A u g u s t Bürgers v o n 1 7 7 3 zu e i n e m w e s e n t l i c h e n V o r b i l d der englischsprachigen V a m p i r literatur. S o f ü h l t e n sich z. B. n i c h t n u r C o l e r i d g e u n d Poe angeregt: B ü r gers b e k a n n t e r , auch in Raabes Odfeld
zitierter Vers -
»Die Toten reiten
schnell< - , t a u c h t sogar n o c h in B r a m S t o k e r s 1 8 9 7 e r s c h i e n e n e m
Dracula
auf, d e m letzten g r o ß e n , in dieser T r a d i t i o n s t e h e n d e n R o m a n . 6 8 2 B u c h i u s sieht sich in seinem T r a u m dagegen gerade v o n S e l i n d e Fegeb a n c k aufs Ä r g s t e bedrängt. In der m o n s t r ö s e n Gestalt einer rabenartigen H a r p y i e , halb (Aas)vogel, halb Frau, ist sie w i e der p e r s o n i f i z i e r t e v a m p i r i sche A l p in seine Brust v e r k r a l l t u n d h a c k t a u f diese e i n . 6 8 3 A u f d e r H a n d l u n g s e b e n e v o n Raabes Odfeld
ist es schließlich Selinde, die in d e r Ith-
H ö h l e den A n s t o ß z u m blutig->kannibalischen< P r o v i a n t v e r z e h r d e r t o t e n S o l d a t e n gibt. Dabei w i r d in der Erzählerperspektive n o c h ihr
»benei-
d e n s w e r t gesundes G e b i ß « h e r v o r g e h o b e n , w o h l dazu geeignet, auch T h e del das H e r z abzupressen«. 6 8 4 G e r a d e in der H ö h l e e n t f a l t e t sich n u n , analog z u m bereits analysierten, k a n n i b a l i s c h - v e r s c h l i n g e n d e n Bild v o m »Hungen des Krieges, die parallele V e r b i l d l i c h u n g des u n m ä ß i g e n >Hungers< eines regredierten, m ä n n l i c h e n Liebesbegehrens. W i e d e r u m a r t i k u l i e r t es sich spiegelverkehrt über d i e P r o j e k t i o n der v a m p i r i s c h e n Frau.
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BA 1 7 , 8 8 - 9 3 . V g l . zu dieser »Lenoren«-Tradition: Sturm/Völker, Von denen Vampiren, S. 51 l f f . u. S. 5 6 4 - 5 8 1 . - Eine direkte Anspielung auf Goethes Vampirgedicht »Die Braut von Korinth« findet sich dagegen in Raabes vier Jahre später begonnenem Zeitroman »Kloster Lugau«; gefolgt von Ludwig U h l a n d s romantischer Versverarbeitung des Totenhochzeits-Motiv in dessen 1815 erschienenem Gedicht »Die Nonne« (BA 19,38; 126 u. 4 4 1 ) . In der »Odfeld«-Höhle wird aus Thedels M u n d zudem das Ende von Lessings Gedicht »Die Gespenster« ( 1 7 4 7 ) zitiert. In ihm wundert sich ein Vater über die gespenstischen nächtlichen Liebesgeräusche aus dem Schlafzimmer seiner Tochter (BA 1 7 , 1 6 5 f . ) - neben der englischen waren Raabe also auch die deutschen Vorläufer der VampirismusLiteratur geläufig.
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BA 17,83. - Erinnert sei in diesem Z u s a m m e n h a n g auch an Coleridges Ballade » T h e Ancient Mariner. A Poet's Reverie« (überarb. Fass. v. 1 8 0 0 ) . Ihre Kannibalismus-Szenen an Bord eines Schiffes haben Poe zu seinem »Arthur Gordon Pym« angeregt. Auch Coleridges Matrosen erscheint der vampirische N a c h t m a h r in Gestalt einer Totenbraut. In genauer U m k e h r u n g zum Rabenretter Buchius ist er durch die m u t w i l l i g e T ö t u n g eines schiffsbegleitenden Albatros schuldig geworden. Raabe könnte diesen Text gekannt haben. In seiner Coleridge-Ausgabe ist er direkt vor »Christabel« abgedruckt, dem Subtext von Raabes früher verfaßtem »Christoph Pechlin«, in d e m sich sogar eine A n spielung auf Coleridges »Ancient Mariner« befindet (Vgl.: StB: I 16/73, S. 6 0 6 6 u. BA 1 0 , 3 4 7 u. 5 1 6 ) . - Vgl. zu weiteren geflügelten weiblichen M i s c h w e sen in Raabes Werk, die ebenfalls eine vampirisch gezeichnete Triebkraft verkörpern: Roebling, Berliner Luft, S. 2 2 1 (zu der Verbindung Raubvogel-Doris Radebrecker in »Die Innerste«) sowie: Di M a i o , Nochmals zu den »Akten«, S. 2 2 9 (zum »Sphinx«-Zitat Heines in Raabes »Akten des Vogelsangs«).
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BA 1 7 , 1 5 3 ; 155 u. 130. - Auch in Bürgers Gedicht »Die beiden Liebenden«, auf dessen Bezug zu Raabes »Odfeld« M o j e m hingewiesen hat (ders., Quellen, 216
Noch direkter als Pfarrer Leutenbachers >Seelenhunger< nach Else von der Tanne in Raabes gleichnamigen Text,685 ist im späteren Odfeld jetzt gerade Thedels elementarer Bedarf nach Selinde zum regelrechten >LiebesHunger« nach seinem »Zuckerkind«, »süße[n] Herzchen«, seiner »Allersüßeste[n]« gesteigert. 686 Wie es selbst noch in geläufigen Alltagsformulierungen anklingt (>zum Fressen gern haben«), offenbart sich damit auch in Raabes Text die Sehnsucht nach einer Symbiose von >Hunger< und >Liebe«, deren einzigartige Verbindung in der frühen Mutter-Kind-Dyade existiert hat: Mutter ist jene, die ihren eigenen Leib zu essen gibt. Sie hat das Kind in sich genährt und bietet ihm dann ihre Milch. 6 8 7
Den damit verbundenen Zusammenhang einer ersten, prägenital-oralen Sexualorganisation mit dem radikalen Ziel einer »Einverleibung des Objekts« beschrieb daher schon Freud nicht anders als einen »kannibalische[n/«: »Die Sexualtätigkeit ist hier von der Nahrungsaufnahme noch nicht gesondert, Gegensätze innerhalb derselben nicht differenziert.« 688 In abwertender Form nimmt darauf auch der Magister in Raabes Odfeld Bezug. Er kommt im Zusammenhang von Thedels physischem Hunger direkt auf Selinde als »einem andern Stück guten Fleisches« zu sprechen. 689 Buchius' besonders enge Beziehung zu seinem »liebsten, liebsten Schüler[ ]«, die in der Raabe-Forschung bereits Anlaß zu homoerotischen Spekulationen bot, 690 dient dabei nur dem einen Zweck: Thedel von Selinde und damit von einem ausschließlich matriarchal codierten Begehren loszulösen. Auf diesem Hintergrund wäre die Beziehung Buchius-Thedel also eher im Sinne einer rituellen Homosexualität zu verstehen. Sie wird in Initiationsriten praktiziert, um die primäre Identifikation mit der Mutter durch eine männliche Identität zu ersetzen.691 So funktioniert z. B. auch
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S. 73), wird der verwundende Zahn der Geliebten hervorgehoben. Entgegen Raabes Handlungsführung finden die beiden Liebenden am Ende jedoch zueinander, und zwar wiederum in einer dunklen Felsenhöhle; vgl.: Bürger, SW, S. 6 7 - 7 1 ; S. 70f. So bezeichnet von: Pongs, Raabe, S. 236. Vgl. zu dieser Form des >begehrenden Hungers« (nach einem Äquivalent der Mutterliebe) auch Roeblings Interpretation zu Raabes titelgebendem »Hungerpastor«: dies., Raabes doppelte Buchführung, S. 49f. BA 17,68 u. 123. - Eine »ideale Verbindung von Liebes- und Essensgenuß« konstatiert in diesem Zusammenhang auch Mojem, ohne diesem Faktum jedoch weiter nachzugehen; ders., Baucis, S. 53 u. S. 79. Vgl.: Canetti, Masse, S. 245 sowie: Thomsen, Menschenfresser, S. U l f . Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), in: ders., Studienausgabe, Bd. 5, S. 3 7 - 1 4 5 ; S. 103. BA 17,82 (Hervorh. v. mir). BA 17,204. Vgl. nach Andeutungen bei Derks (Raabe-Studien, S. 123-154) und Schiffeis (Geschichte(n) Erzählen, S. 94) dazu inzwischen ausführlich: Mojem, Baucis, S. 7 0 - 8 9 . Vgl.: Theodore u. Ruth W. Lidz, Weibliches in Männliches verwandeln: M ä n n lichkeitsrituale in Papua Neuguinea, in: Robert M. Friedman, Leila Lerner 217
Buchius' burschenschaftlich-männerbündische Verjüngungseuphorie auf dem Schlachtfeld, bei der er Selinde zum ersten Mal erfolgreich abschütteln kann. 692 Auf Thedel verfehlt dies jedoch seine Wirkung. Seine frühkindlich-verschlingenden Liebesansprüche an Selinde werden durch diese schließlich selber abgewehrt. Sie verweigert in der Höhle »den Schlüssel zur Speisekammer«, wie es in dieser zur triebpsychologischen Metapher erhobenen Formel auch an anderen Stellen in Raabes Texten heißt. 693 Doch erst nachdem Selinde, nun in der gefährlichen Schablone einer »Wildkatze«, Thedel das Gesicht blutig gekratzt hat, verläßt er fluchtartig die Höhle. 694 Darauf erfolgt zunächst die bereits bekannte Ritualisierung der aggressiven Triebabfuhr im Kriegsgeschehen oder, in Thedels Worten: Vivat der Tod fürs Vaterland! Pro duce - pro rege. Zum Teufel mit allem Frauenzimmer. Dulce et decorum est. 6 9 5
Nach diesem Horaz-Zitat tönt aus seinem Mund, statt der sonst üblichen Gleimschen Liebeslieder, zum ersten Mal ein Kriegslied aus der Feder dieses Autors. Es schäumt nur so vor blutrünstigen Rachewünschen, verschoben auf die mannmännlich-politische Ebene.696 Wie im schon geschilderten Fall des Spiegelbergers aus Raabes frühem Vampirtext Der heilige Born, ist jedoch auch Thedels Kriegseinsatz nur von kurzer Dauer. Sein physischer Tod ist hier ebenfalls konsequenter Ausdruck einer psychischen Existenzvernichtung des eigenen Ichs als Folge seines Strebens nach tödlicher Verschmelzung mit der Mutterimago. Im Unterschied zum Schneetod des Pfarrers in Raabes Else von der Tanne mißlingt dies jedoch in der vaginal codierten Odfeld-Höhle. Es mißlingt gerade wegen der dort in vampirisch-verschlingender Dämonologisierung installierten Selinde-Figur, deren eigentliche Schutzwirkung so offenbar wird. Die tödliche Verschmelzung vollzieht sich statt dessen im männerbündischen Kriegsgeschehen, auf dessen matriarchale Konnotationsmöglichkeiten bereits eingegangen worden ist. 697 Insofern kann der kannibalisch-verschlingend gezeichnete Krieg — im Meister Autor zudem eine aus den Fugen geratene, kannibalisch verstümmelnde Technik — auch mit einer vampirisch
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( H g . ) , Zur Psychoanalyse des M a n n e s , übers, v. Franz J. Neyer, Berlin, H e i delberg [usw.] 1991 (Erstveröffentlichung u.d.T.: Toward a New Psychology of M e n . Psychoanalytic and Social Perspectives, New York 1986), S. 1 1 5 - 1 3 3 . BA 17,125f. u. 4 4 0 . BA 1 7 , 1 5 5 . Vgl. z. B.: BA 10,416 o. BA 18,102. BA 1 7 , 1 7 0 . BA 1 7 , 1 7 0 u. 4 4 4 . — Pohlen nennt dies auch den »Todeshunger« als Negationsfolge eines maßlos-ungestillten (Primär-)Objekthungers; ders., Zu den Wurzeln von Gewalt, S. 172 u. S. 190. BA 17,171. - Vgl. auch den Erzähler-Exkurs zur wechselweisen Verschiebung von Liebe u n d Krieg in Biographie und Dichtung Gleims bzw. Christian Ewald von Kleists in Raabes »Innerste« (BA 1 2 , 1 5 1 ) . V g l . dazu vor allem das Kapitel »Desertion«. 218
verschlingenden, sexualisierten Mutterimago korrespondieren. Gerade dies zeigt sich an der einmaligen Zusammenführung dieser beiden Assoziationsstränge in Raabes Odfeld-Wöh\e. Sehndes Hände treten dort genauso scharfnägelig und blutig in Aktion, wie es im späteren Hastenbeck von den Fingern der kriegführenden Parteien heißt. 698 Die schlundartige Höhlenvagina ist nicht nur im Odfeld mit unansehnlichem Schlamm angefüllt, so, wie auch der weiblich-verschlingende Fluß im früheren Text Die InnersteMit der gleichen Negativmetapher werden in Höxter und Corvey oder im Heiligen Born gerade die Kriegsfolgen belegt. 700 Ebenso wie die Höhle im Odfeld also keinen abgeschlossenen Schutzraum gegen die Kriegsgreuel mehr darstellt, steht sie jetzt auch nicht mehr im Zeichen matriarchaler Geborgenheit. Dagegen wohnte dem MutterErde-Archetyp in E.T.A. Hoffmanns romantischer (Venus-) Berg-Novelle Die Bergwerke zu Falun (1818) noch eine Dialektik inne: Elis Fröbom begegnet im Berg sowohl einer Königin, dem Typus der >guten< Mutter, als auch einer verschlingenden Medusa, dem Typus der >bösen< Mutter. 701 Diese Ambivalenz des Mutterbildes hat sich fast siebzig Jahre später, am Jahrhundertende, ausschließlich ins Negative gewendet. Das läßt sich nicht nur im Fall von Raabes Odfeld verfolgen, sondern beispielsweise auch an Zolas bereits erwähntem, >kannibalischen< Bergwerks-Roman Germinal702 Ein Anschreiben gegen die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend negativ besetzte Vaterinstanz, zugunsten einer utopisch aufgeladenen, meist regressiv gefärbten Mütterlichkeit 703 - den Eindruck vermitteln Raabes kannibalismus/vampirismusthematische Texte nicht. Welche Konsequenzen sich daraus für die weitgehend unhinterfragte, gemeinhin übliche Thesenannahme vom >Mutterkult< in jener Zeit ergeben könnten,
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BA 2 0 , 1 0 3 . BA 1 7 , 1 7 0 ; 145 u. 149. - BA 12,104 u. 131. H u C , 4 8 (»trübe Flut«) u. 88 (.stinkender Schlamm«). B A 3 , 1 1 8 f . (»Blut- und Schmutzpfütze«). — Vgl. zu dieser abwertenden Konnotation von Sexualität und Krieg: Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1, S. 4 0 1 ff. V g l . hierzu: Böhme, Romantische Adoleszenzkrisen, S. 153. Yg| z u Zola w i e d e r u m : Schmeling, Labyrinthischer Diskurs, S. 80 u. S. 8 7 9 4 . Für die Literacur des 2 0 . Jahrhunderts sei in diesem Z u s a m m e n h a n g auch an die im Z u s a m m e n h a n g des Kriegskannibalismus bereits erwähnte Stalingradszene Heiner Müllers erinnert; ders., Germania Tod in Berlin, S. 50. V g l . hierzu vor allem: Roebling, Raabes doppelte Buchführung; besonders auch ihre, den Thesen dieser Analyse entgegenstehende, >thanatographische< Melancholiekonzeption (S. 1 0 5 - 1 1 7 ) . - Vgl. zu einem frühen Vorläufer des ausschließlich negativ bewerteten, autoritär-kastrierenden Vaterbildes: Otto Gross, Zur Ü b e r w i n d u n g der kulturellen Krise, in: ders., Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. M i t einem Textanhang v. Franz J u n g , hg. u. k o m m . v. Kurt Kreiler, Frankfurt a . M . 1980, S. 1 3 - 1 6 (Erstveröffentlichung in: Die Aktion 3 ( 1 9 1 3 ) , S p . 3 8 4 - 3 8 7 ) . 219
müßte auf breiterer Basis weiterverfolgt werden. Was Raabes Texte aus diesem Kontext betrifft, ist festzustellen, daß sie - unterschwellig - gerade die tödliche Konsequenz einer Schwächung der paternalen Funktion demonstrieren. Die an den Vater gebundene, symbolische Kastration< - so hat Lacan die Aufhebung der Freudschen Ödipussituation in eine im Namen des Vaters vermittelte, symbolische (Sprach-)Ordnung genannt - , sie dient nicht nur der Unterbindung des »inzestuösen Kurzschluß zwischen dem Knaben und der Mutter«. 704 Sie führt dadurch gleichzeitig den Einsturz kindlich narzißtischer Allmachtsphantasien herbei. Eine Schwächung dieser Funktion sieht Reinhart Meyer-Kalkus gerade als den »Effekt einer matriarchalen Codierung des Begehrens unter den Bedingungen eines paternalistischen Regimes in Familie und Gesellschaft« 705 - Raabes eigene Kindheitssituation drängt sich unweigerlich auf. 706 Die traditionelle Geschlechterrollen-Spezifizierung innerhalb einer zunehmend intimisierten bürgerlichen Familie (der Mann betätigt sich in der Öffentlichkeit; die Frau im Haus) stärkt dabei die Omnipräsenz der Mutter im Entwicklungsprozeß des Kindes. Die väterliche Rolle wird dagegen durch physische wie emotionale Abwesenheit geschwächt. Ein Thema, das vor allem im 19. und 20. Jahrhundert die Literaturproduktion prägt. Meyer-Kalkus zeigt in seiner Werther-Interpretation aber auch, daß diese Struktur bereits zur Zeit von Empfindsamkeit und Sturm und Drang dem Figurenarsenal an schwachen Vätern und verfeindeten Brüdern den Typus des >ewigen Jünglings« hinzufügt, der nicht zum Mann werden kann. 7 0 7 In Abwandlung eines Zitats von Peter Gay geht es also sehr wohl um die Furcht vor der Kastration, die allerdings die Furcht, erwachsen zu werden, impliziert. 708 Oder, um mit der Metaphorik des Vampirismus zu sprechen: Raabes im frühkindlich->kannibalischen< Stadium verharrende männliche Protagonisten sind im Grunde diejenigen, die vampirisch an ihren Mutterimagines >zehren< und >saugenuntoten< und gefährdeten Identitätskonstrukts ständig wieder aufs neue zu versichern. Im Modell des weiblichen Vampirs findet sich dies lediglich geschlechtsverkehrt und diffamierend auf Frauen übertragen.
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Meyer-Kalkus, Werthers Krankheit, S. 120f. A. a. O., S. 123. - V g l . zum sozialhistorischen H i n t e r g r u n d : Christina von Braun, M ä n n l i c h e Hysterie. Weibliche Askese. Zum Paradigmenwechsel in den Geschlechterrollen, in: Karin Rick (Hg.), Das Sexuelle, die Frauen u n d die Kunst (Vorträge des Symposions »Weibliche Kreativität u n d Sexualität in Psychoanalyse und Literatur« v. 1 5 . - 1 7 . 5 . 1 9 8 7 in W i e n ) , T ü b i n g e n o.J., S. 1 0 38; S. 23 u. S. 33; Anm. 6 2 (zu >kannibalistischen< Vereinnahmungstendenzen). Zu einem matrilinearen, präödipalen Über-Ich Raabes spitzt auch Friedrich A. Kittler Derks Thesen in der Rezension zu dessen »Raabe-Studien« zu (vgl.: J b R G 1976, S. 1 7 6 - 1 8 0 ; S. 179). Meyer-Kalkus, Werthers Krankheit, S. 138. Gay, Erziehung der Sinne, S. 2 2 6 : »Es ging nicht um die Furcht vor der Kastration, sondern um die Furcht, erwachsen zu werden [...]«.
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Vielmehr decouvriert sich hier jedoch ein »Vampirmann«, wie Volker Elis Pilgrim diesen Typus folgerichtig genannt hat. 7 0 9 Auf eine identitäts-problematisierende Engführung dieser Ergebnisse im Sinne >deutscher SonderwegsMaulwurfsarchäologie< - dessen Relevanz für Raabes historisches Erzählen hier immer deutlicher wurde - auf breiter Basis vorgestellt wird.
3.
>Textophagie< o d e r » p l a ( y ) g i a r i s m « 7 1 0 D e r Erzähler, dieser Gierschlund, braucht alles, u m ans Werk gehen zu können. D i e sogenannten Anspielungen, Zitate, das ganze gelehrte Konzept der
ture citationelle
littéra-
sind nur insofern interessant, als sie Hinweise auf seinen Totali-
tätsanspruch darstellen, auf seinen Willen, sich ausnahmslos und skrupellos der gesamten Wirklichkeit, d. h. also auch und vor allem der Literatur als Arbeitsmaterial zu bedienen. D e n n die Wirklichkeit besteht nicht nur aus d e m , was sich a u f der Gasse tut, sondern vor allem aus dem, was in den Büchern steht und was diese im K o p f des Erzählers, der ja auch sein eigener Leser ist, anrichten. M i t Einfallslosigkeit oder einem M a n g e l an Stoffen hat das überhaupt nichts zu tun: im Gegenteil — die eigenen Stoffe entzünden sich an oder verschränken sich m i t der Literatur, weil die Literatur im Leben eines Erzählers einen viel größeren Stellenwert hat, als sich mancher Kritiker in seinem trostlosen G e w e r b e vorstellen k a n n . 7 "
Die Kritikeranspielung, die Gerhard Köpf hier in seiner Rede als RaabePreisträger 1990 verwendet, rekurriert wohl auf einen aktuellen Fall des gleichen Jahres. Angetrieben von der nicht gerade als besonders literaturinteressiert ausgewiesenen Illustrierten stern, wurde im Januar 1990 Walter Kempowskis bereits 1978 erschienener, historischer Roman Aus großer Zeit unter Fälschungs-Verdacht ins Rampenlicht skandalhungriger Medien gezerrt. Bediente sich der angebliche Plagiator Kempowski in seinem fiktionalen Text doch der völlig legitimen literarischen Technik einer (regional709
Volker Elis Pilgrim, Der V a m p i r m a n n . Über Schlaf, Depression und die Weiblichkeit. Eine Forschungsnovelle, Düsseldorf 1989, S. 9 6 u. S. 103. - V g l . z u m Verhältnis von Identifikation, Identität und damit verbundenem Vampirismusdiskurs auch: Laurence Arthur Rickeis, Warum Vampirismus? D i e Darstellung oder Bestattung des Anderen v o m Phantasma bis zum Film, in: Eijiro Iwasaki ( H g . ) , Begegnung mit dem »Fremden«. Grenzen - Traditionen Vergleiche. Akten des V I I I . Internationalen Germanisten-Kongresses, Tokyo 1990, B d . 2 / 1 , M ü n c h e n 1991, S. 1 5 7 - 1 6 6 .
710
Vgl. zu diesem, das literarische Verfahren der Intertextualität charakterisierenden Wortspiel von R a y m o n d Federman aus dem Jahre 1 9 7 6 : Dieter Borchmeyer, D i e Postmoderne - Realität oder Chimäre?, in: Schulz/Mehigan, Literatur, S. 3 0 1 - 3 3 2 ; S. 3 2 0 . K ö p f , L o b der Nacherzählung, S. 4f.
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authentischen) Quellencollage - wie sie ja auch in Raabes historischen Werken begegnet. Genausowenig wie Raabe hatte Kempowski daraus einen Hehl gemacht. Trotzdem schien er einen idealistisch-originalitätssüchtigen Kunst-Nerv seiner Zeitgenossen empfindlich getroffen zu haben - und das selbst im Zeitalter der fleißig zitierenden und verwertenden »Posthistoire«. 712 Dabei hätte sogar ein Blick auf den literarischen Altmeister Goethe eines Besseren belehren können. Er bezeichnete in einem Gespräch mit Eckermann nämlich schon 1828 die Anzweiflung von künstlerischer Originalität nicht anders als »sehr lächerlich«: »man könnte ebensogut einen wohlgenährten Mann nach den Ochsen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm Kräfte gegeben.«713 Ob »wohlgenährter Mensche oder >Gierschlund< - auffällig ist an den Poetologie-Bekenntnissen Goethes wie Kopfs zu ihrer literarhistorischen Eingebundenheit bzw. ihrem Text-im-Text-Verfahren 714 die Metaphernwahl des Essens, ja Verschlingens der textuellen Produkte anderer. In einer Art von »poetischem Kannibalismusverdaut< (verarbeitet) und schließlich in veränderter Form wieder »ausgeschieden« (literarisiert). Ein solches Erzählverständnis im Sinne eines » k ö r p e r s p r a c h l i c h e [ n ] Ritualfs]« stellt Wieland Zirbs z. B. für Raabes Stopfkuchen fest. 715 Hier ist es der fiktive Erzähler Eduard, der im Schiffs^ac^ sein Manuskript zu
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V g l . z u m angeblichen Literatur-Skandal um Kempowski die kritische D o k u mentation von: Volker Hage, Ein Fall von Philiscerei. Ist Walter Kempowski ein Plagiator?, in: DIE ZEIT 4 ( 1 9 . 1 . 1 9 9 0 ) , S. 49f. Im Unterschied zu Hage scheint m i r hierbei jedoch nicht nur ein Lehrstück über die U m g a n g s f o r m e n der M e d i e n w e l t vorzuliegen, sondern auch eines über die vorherrschende, anachronistische Auffassung von Literatur im Industriezeitalter. - V g l . zum künstlerischen Verfahren von >Posthistoire< bzw. >Postmoderne< am besonders augenfälligen Beispiel neohistoristischer Architektur: Peter Anselm Riedl, Nostalgie und Postmoderne, in: Assmann/Hölscher, Kultur, S. 3 4 0 - 3 6 7 . Das Spiel m i t Modellen in der >postmodernen< Literatur, die dazu häufig die Form des historischen Romans einsetzt (Eco, Hildesheimer, R a n s m a y r ) , beleuchtet: Hanns-Josef Ortheil, Was ist postmoderne Literatur? ( 1 9 8 7 ) , in: ders., Schauprozesse. Beiträge zur Kultur der 80er Jahre, M ü n c h e n 1990, S. 106— 115; S. 107 u. S. 109. V g l . zum allgemeinen - gesellschaftlichen bzw. kunsttheoretischen - H i n t e r g r u n d zudem: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek b. H a m b u r g 1986 sowie: Christa u. Peter Bürger, Postmoderne: Alltag, Allegorie u n d Avantgarde, 1. Auflage, Frankfurt a . M . 1987. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, mit einer Einführung hg. v. Ernst Beutler, M ü n c h e n 1976, S. 300ff. (16.12.1828). Vgl. zu diesem Verfahren: Renate Lachmann, Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, in: Stierle/Warning, Das Gespräch, S. 1 3 3 - 1 3 8 ; S. 137f. sowie zur intertextuellen Zitat- und Allusionstechnik und ihren Einflüssen auf die Postmoderne: Heinrich F. Plett (Hg.), Intertextuality, Berlin, New York 1991. Zirbs, Strukturen des Erzählens, S. 1 2 7 - 1 3 7 u. S. 2 0 3 . 222
schreiben beginnt, nachdem er zuvor dem schwer verdaulichen, weil dominanten, geradezu »alles verschlingenden« Redeverhalten Heinrich Schaumanns - genannt Stopfkuchen - ausgesetzt gewesen war. 716 Das so bekundete, unauflöslich zusammenhängende (Text-)Gebilde (erzählerischen) Hineinstopfens bei gleichzeitiger Nahrungs- bzw. Text-Produktion erhält seinen emblematischen Schlüssel gerade in diesem Spitznamen von Raabes Figur: >Stopfkuchen< bezeichnet ja ein Reststück des Kuchenteigs, in welches die übriggebliebenen Zutaten hineingestopft werden — das zukünftige Nahrungsprodukt wird hier sozusagen mit seinen eigenen Bestandteilen >gefüttertkannibalischTodesbote< unter den Augen seines Retters mit dem sprechenden Namen >Buch\\is< nun gerade die Textseiten aus dessen Buchlektüre über Wunderbare Todes-Boten: Raabes fiktive Figuren und ihre erzählerische Bestimmung erweisen sich also auch hier von Literarischem >unterfüttertSonderwegsPanzerungsdeutsche Sonderwegsdie H u r e Frankreich! oder >das männlich-potente, soldatische Deutschland«): G e r h a r d / L i n k , Anteil der Kollektivsymbolik, S. 29f. u. S. 44f. sowie: S o m b a r t , Kaiser, S. 3 0 4 f .
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Eissler, Todestrieb, S. 39. So sieht der im deutschen Exil lebende persische Wissenschaftler B a h m a n N i r u m a n d die rassistischen Pogrome im wiedervereinigten D e u t s c h l a n d beispielsweise a u f d e m H i n t e r g r u n d der »permanente[n] Identitätskrise, die die D e u t s c h e n im Verlauf ihrer Geschichte erleben mußten«. D i e innere Verunsic h e r u n g führe dazu, daß das Bekenntnis zur eigenen Nation über eine Feindbild-Abgrenzung erfolge. Vgl.: ders., Der Deutsche haßt nicht die Fremden eher haßt er sich selber, in: D I E Z E I T 4 0 ( 2 5 . 9 . 1 9 9 2 ) , S. 59f. D i e hier vertretene A u f f a s s u n g von Identität folgt d a m i t nicht einer Foucault und Derrida geschuldeten Prämisse, nach der gerade derjenige das Schlagwort der Identität bem ü h e , der mit Widerspruch und Streit nicht leben könne. Vgl. zu diesem Identitätskonzept im nationalen R a h m e n dagegen: Wilhelm S c h m i d , Was geht uns D e u t s c h l a n d an?, Frankfurt a . M . 1 9 9 3 .
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(K)EIN
SCHLUSS:
»Was ich schreibe, sind Maulwürfe f...]« 1
Will man die Arbeitsweise von Raabes historischem Werk charakterisieren, so muß man also von einer maulwurfsähnlichen Wühlbewegung ausgehen. Sie gräbt mentalitätsgeschichtliche Untergrundschichten archäologisch frei, bis zu den Seelentiefenhöhlen des Subjekts. 2 Die Tragfähigkeit, ja Mächtigkeit dieses Konzepts erweist sich jedoch erst, wenn im bodenverhafteten Bild des >Maulwurfs< das wohl prägnanteste und komplexeste Symbol des 19. Jahrhunderts erkennbar wird. Seine Ausläufer reichen bis in unsere Zeit hinein. Gerade im national »verspätetem Deutschland wird einer national-identifikatorischen Unsicherheit, die sich dementsprechend als » B o d e n l o s i g k e i t « artikuliert, beispielsweise eine geduldige »deutsche Bergmannsnatur« entgegengehalten. 3 Sie spiegelt sich auch in den nationalen Höhlenmythen eines Barbarossa wider. Dagegen wurde im eingangs paraphrasierten, modernitätsverunsicherten Artikel Hermann Marggraffs bereits eine spezifischere Maulwurfsmetaphorik deutlich. Nach den Ereignissen von Französischer und 48er Revolution meinte sie den revolutionären Prozeß des >Wühlens< und >Untergrabensübersetzte< Hinübersetzen der H a u p t f i g u r e n (inklusive Erzähler und Leser) mit der Fähre nach Höxter und d a m i t ebenfalls ins (Orts-)Zentrum der fiktiven H a n d l u n g hinein: H u C , 5 f f . BA 3 , 6 3 . Lion Feuchtwanger, Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans ( 1 9 3 5 ) , in: ders., C e n t u m Opuscula, Bd. 2, hg. v. Wolfgang Berndt, Rudolfstadt 1 9 5 6 , S. 5 0 8 - 5 1 5 ; S. 5 1 0 . Einen gut zusammengefaßten Überblick bietet dazu immer noch: Ulf Eisele, Realismusproblematik: Überlegungen zur Forschungssituation, in: DVjs 51 ( 1 9 7 7 ) 1, S. 1 4 8 - 1 7 4 . V g l . hier vor allem: Geppert, Der »andere« historische Roman, S. 1 u. S. 45—54 sowie zur theoretischen Auseinandersetzung mit den Asthetikproblemen im Grenzbereich von Historie und >story»historische[n] Figur«« Gewordener, wie es durch die Anführungszeichen wiederum relativierend heißt, scheint Klaus Eckenbrecher es nun »wohl wert, ein wenig aus der Nacht der Vergessenheit ans Licht und unter die Augen und Brillen des deutschen Publikums gehoben zu werden.« 56 Hier präsentiert sich wieder ein >Maulwurf-auf-der-Schaufel< - diesmal als Reflexionsbild über den Prozeß der Fiktionsetablierung im Medium des historischen Romans. An seinem neuralgischen Endpunkt steht folgerichtig ein »Dunkel«, in dem (fiktive) Geschehnisse und Figuren wieder verschwinden oder im »immer dichter werdenden Nebel« undurchdringlicher historischer Distanz untergehen. 5 7 Dem Bild des maulwurfsartigen Hervorgezogen-Seins von »längst begrabenen, vermoderten, vergessenen Gesellen«, wie es oft Raabes frühe historische Texte prägt, 5 8 entspricht in den späteren Werken der bereits erwähnte Fiktionsbeginn in Dunkelheit und Nacht. Hier markiert nun das künstliche Licht den gleichfalls künstlich erzeugten, fiktiven Handlungs- und Figureneinsatz. Durch diesen Verzicht auf die
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Stempel (Hg.), Geschichte - Ereignis und Erzählung, München 1973 und: Hayden White, Metahistory. T h e Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973. BA 3,21 (Hervorh. v. mir). BA 3,29. BA 3,21. Vgl.: BA 3,346 (hier noch gefolgt von einer literarhistorischen Reminiszenz an Cervantes' »Don Quixote«; vgl. auch: 504f.); 465 (»Galeere«) u. 359 (»Geheimnis«). BA 3,357 (»Geheimnis«),
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obligatorische Natur-Metaphorik haftet ihm nicht mehr die Aura des Organisch-Natürlichen an. Während Magister Buchius' Blechlampenschein vor Thedels erstem Auftritt im Odfeld z. B. weit in die »Finsternis des Jahres siebenzehnhunderteinundsechzig« hinausleuchtet, so weist in Hastenbeck derselbe Lichtschein aus dem Boffzener Pfarrhaus Erzähler und Leser den Weg dorthin. 5 9 Ihr Eintritt in den Lichtkreis der Lampe läßt sie gleichsam in die fiktionale Kunstwelt eintreten. Gerade in den späten historischen Texten, wie hier in Hastenbeck, ist es jetzt der Erzähler selbst, der in dunkler Nacht bei trübem Lampenschein sitzt. Wie ein Maulwurf »[ ]wühlt« er sich in die Dunkelheit seiner historischen Quellen oder leuchtet »mit kümmerlichen Lämpchen in die >Nacht der Zeiten< hinein[ ]«. 6 0 Das Licht steht hier also nicht mehr als Symbol strahlend heller Erkenntnis, sondern stellt ein unzureichendes, >trübe< wie >kümmerliches< Arbeitsinstrument dar, das der Widerständigkeit des Quellenmaterials kaum gewachsen ist. Diese >Licht-Quelle< — im wahrsten Sinne des Wortes 61 — ist gerade »nicht dazu da, daß man sie betrachtet, sondern daß man betrachtet, was sie beleuchtet.« Von Dan Sperber hier für eine sozialanthropologische Sichtweise auf das Verhältnis von Symbol und literarischem Kontext bezogen, 62 kann es auch für Raabes implizite Poetologie seiner historischen Texte gelten: nicht die vergangene Historie soll anhand des fiktionalen Kontextes >erhellt< werden, sondern dieser Kontext selbst erzeugt seine historische Verlängerung. Auf die Sonne, die von oben nur einen äußerlichen Widerschein erzeugen kann, wird also nicht nur explizit verzichtet. Es wird sogar eine generelle Sichtbarmachung von außen, durch Lampen- oder Augenlicht, ausgeblendet, um damit den literarischen Imaginations- und Erinnerungsprozeß ganz nach innen, in eine dunkle Tiefe, richten zu können. 6 3 Nur auf der Basis einer solchen, höhlenartigen Dunkelheit kann >Quellenstaub< schließlich als >Lichtfunke< einer erzählerischen Phantasiewelt sichtbar werden. 64 Ebenso wie die neblige Dunkelheit um einen Leuchter die vergrö59
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BA 17,64 u. BA 2 0 , 1 1 f. In »Hastenbeck« ergibt sich durch die leitmotivische Idyllen-Zitation Salomon Geßners nochmals eine Beziehung zwischen f i k t i o n a lem Erzählen und Lampenrequisit: Als Belohnung für die parallel gesetzte Erzählung von Daphnis und Chloe wird eine kunstvolle Lampe ausgesetzt (BA 2 0 , 2 9 u. 4 6 4 ) . - Auch zu Beginn von Raabes »Christoph Pechlin« leiten sich Nacht und Lampenschein über Coleridges »Christabel« literarhistorisch her (BA 1 0 , 2 0 8 ; 2 l 4 f f . u. 2 4 1 ) . BA 2 0 , 8 0 f . u. 7 0 . - Vgl. auch: BA 9/2,167f. (»Gedelöcke«). V g l . z u m doppeldeutig gebrauchten Begriff der >Quelle< in Raabes historischen Werken auch: BA 2 0 , 4 0 o. BA 17,13. Sperber, Symbolik, S. 105 (Hervorh. v. mir). - Vgl. dagegen zur traditionellen Metaphernverbindung von Quelle (= historisches Material) und Licht (= erschließende Erkenntnis) für eine sich als >objektiv< verstehende Geschichtsforschung: Demandr, Metaphern, S. 189f. V g l . : BA 9 / l , 1 6 3 f . (»Else«); BA 9/2,213; 220f. u. 2 3 8 (»Siegeskranze«) o. BA 17,7f. (»Odfeld«). BA 2 0 , 4 2 u. 81 (»Hastenbeck«). - Vgl. auch: BA 9/1,62 u. 82f. (»Grabrede«; 238
ßernde Wirkung seiner Flamme hervorruft, 6 5 so kann auch das gesamte Fiktionsprodukt metaphorisch für sich in Anspruch nehmen, »wie ein buntfarbigster Lichtblitz über den dunklen Ozean von Druckerschwärze [zu] fallen«. 66 Dabei handelt Raabes Zeitroman Fabian und Sebastian, an dessen Beginn dieses Zitat steht, doch gerade von der maulwurfsartigen Außenseiterexistenz des schon fast aus dem familiären Fabrikbetrieb gedrängten, »von dem scharfen jüngern Bruder vollständig in den Schatten gedrückten]« Fabian Pelzmann.67 Dieser kurzsichtigen, seiner Umgebung durch schokoladendunkle Kleidung auf das Unauffälligste angepaßten >Maulwurfscote< Historie) u n d S o n n e (= »lebendige< F i k t i o n ) bezogen) sowie als genaues G e g e n b i l d , n o c h i m E i n k l a n g m i t h i s t o r i s t i s c h e n R o m a n t r a d i t i o n e n : BA 4 , 1 7 2 (»Kanzlei«). Dieses Bild k e n n z e i c h n e t in Raabes »Gedelöcke« gerade die fiktive U m s e t z u n g d e r historisch abgeleiteten T i t e l f i g u r (BA 9 / 2 , 1 6 9 ) . BA 15,7. Vgl. zu d i e s e m G e b r a u c h d e r L i c h t m e t a p h o r i k a u c h : BA 4 , 1 4 3 u. 3 1 2 (»Kanzlei«) o. BA 9 / 2 , 1 4 3 (»Gänse«). BA 1 5 , 7 3 ( H e r v o r h . v. mir). BA 1 5 , 3 4 u. 17f. Vgl. a u c h die W e r k s t a t t - » H ö h l e « des Bildhauers Q u e r i a n in »Frau Salome« (BA 1 2 , 7 3 ) . - Eine g a n z ä h n l i c h e Z u s a m m e n b i n d u n g v o n m a u l w u r f s a r t i g e r A u ß e n s e i t e r e x i s t e n z , N a h r u n g s - wie G e n u ß m i t t e l n u n d K ü n s t l e r t u m n i m m t in d e r L i t e r a t u r des 2 0 . J a h r h u n d e r t s T h o m a s B e r n h a r d im zweiten Teil seiner 1 9 7 6 e r s c h i e n e n e n , a u t o b i o g r a p h i s c h e n J u g e n d e r i n n e r u n g e n vor. U n t e r d e m Titel »Der Keller. E i n e E n t z i e h u n g « beschreibt er die selbstgew ä h l t e Lehrzeit des G y m n a s i a s t e n im Keller einer K o l o n i a l w a r e n h a n d l u n g u n d die d a m i t v e r k n ü p f t e k ü n s t l e r i s c h e E n t d e c k u n g der M u s i k . Vgl. hierzu: Schivelbusch, Lichtblicke, S. 155ff- sowie: D o l f Sternberger, Pano r a m a o d e r A n s i c h t e n v o m 19. J a h r h u n d e r t , H a m b u r g 1938, S. 166ff. - Diese n e u e L i c h t / D u n k e l - B e d e u t u n g , die sich a u c h in der L i t e r a t u r des 19. J a h r h u n d e r t s niederschlägt, wird leider n u r a m R a n d e gestreift bei: Pilar Baumeister, D i e literarische Gestalt des B l i n d e n im 19. u n d 2 0 . J a h r h u n d e r t . Klischees, V o r u r t e i l e u n d realistische D a r s t e l l u n g e n des Blindenschicksals, F r a n k f u r t a . M . , Bern [usw.] 1 9 9 1 , S. 15f. u. S. 4 3 5 - 4 4 4 .
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Einen Eindruck davon liefert auch Raabes später Text Meister Autor (1872-1873). Ich-Erzähler von Schmidt ist einer Abendeinladung Christine von Wittums gefolgt. Schon von weitem sind die »von einer Gaskrone tageshelle erleuchteten« Fenster in der Abenddämmerung zu erkennen, die den Ankömmling mit Assoziationen an Bühnendekorationen erfüllen. 70 Zu einem vertraulichen Gespräch mit Gertrud Tofote nimmt er zunächst jedoch in einem Nebenzimmer Platz. Der intime Charakter dieser Szene wird durch eine spezielle Beleuchtungsstrategie noch unterstrichen. Im Unterschied zu den übrigen Räumlichkeiten ist dieser »Winkel« nämlich lediglich »durch eine einzige aus einem Lilienkelche züngelnde Flamme erhellt«. 71 Um wieviel effektvoller kann sich daraufhin der bühnenreife Auftritt der Gesellschaftsdame von Wittum vor den beiden entfalten. Nachdem der abtrennende, purpurrote Türvorhang plötzlich zurückgeschoben wird, erscheint sie jetzt »in einer Flut von blendendem Licht, begleitet von dem lustigsten Stimmengewirr«. 72 Diesen raschen Übergang »aus der Dämmerung in die glänzendste Helle« empfindet der Ich-Erzähler zwar als etwas peinlich, aber zugleich auch als einen erregenden (Kunst-)»Genuß«: In einem Akt der >Ikonophagie< verschlingen seine Augen die perfekt ausgeleuchtete >Vampirin< hier nahezu selbst. 73 Die im Text als solche gekennzeichnete, theatrale Licht/Dunkel-Wirkung — sie wird an anderen Stellen in Raabes Werk wiederum als Fiktionseinstieg genutzt 74 - beruht auf einer Neuerung in der Bühnenentwicklung, wie sie ebenfalls erst das 19. Jahrhundert hervorbringt. Die Beleuchtungsmöglichkeiten verbannen jetzt nicht nur die der Barockzeit entstammenden, illusionistischen Bühnenmalereien. Sie ermöglichen auch erstmalig eine Verdunklung des Zuschauerraums während der Aufführung, wie sie für uns heute selbstverständlich geworden ist. Dadurch wird eine Vereinzelung des jeweiligen Zuschauers in der Masse des Publikums erwirkt, dessen subjektive Wahrnehmung - aus einem höhlenartigen Dunkel auf ein exponiert erleuchtetes Geschehen - eine viel stärkere Intensivierung erfährt. 75 Diese Art der Illusionserzeugung steht auch im Vorder-
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BA 1 1 , 1 0 9 . BA 1 1 , 1 1 0 . BA 1 1 , 1 1 2 . Ebd. Mattenklott, Übersinnlicher Leib, S. 90. - Einen Hell/Dunkel-Gegensatz bestätigt für die Charakterisierung moderner und alter Stadtteile in Raabes »Meister Autor« auch: Gabriele Henkel, Braunschweig in Raabes »Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten«. Stadt-Paradigma und narrative Struktur, in: Blume/Rohse, Literatur in Braunschweig, S. 2 7 7 - 2 9 5 ; S. 2 8 8 u. S. 2 9 0 . Vgl. hier vor allem: BA 12,199ff. (»Proteus«) sowie zu Raabes Zeichenstil in dieser Hinsicht: Arndt, Der zeichnende Raabe, S. 137f. Vgl.: Schivelbusch, Lichtblicke, S. 191 ff. sowie: Blumenberg, Licht, S. 446f. Richard Wagners Reformierung des Vorhangsystems (zur Seite auseinandergehend, statt nach oben hochgezogen) sorgte zudem dafür, d a ß - wie es auch a m literarischen Beispiel aus Raabes »Meister Autor« zu sehen war - die B ü h n e n 240
grund der spezifischen Lichtmedien des 19. Jahrhunderts, wie Panorama, Diorama, Laterna magica, mit denen sich die ersten Schritte auf dem Weg zum Kinofilm ankündigen. Hier ist es nun endgültig das Licht, das die Eigenrealität der Szene aus dem Dunkel heraus erschafft. 7 6 Diesen Eindruck ließ sich auch der jugendliche Theatergänger Raabe bei seinen Besuchen von Panorama, Kinematograph oder Tonbildtheater nicht entgehen. 7 7 Ihr ästhetisches Licht/Dunkel-Prinzip, so modern es technisch wirken mag, basiert auf uralten menschlichen Erfahrungen von der magischen, Phantasie anreichernden Funktion von Licht und Feuer auf dem Hintergrund einer Höhlendunkelheit. In letzter Instanz kann sie sich selbst noch als diejenige der eigenen Augen-Höhle entpuppen: J e d e s L i c h t s p i e l w i r d e r l e b t w i e das L i c h t a m E n d e des T u n n e l s - h i e r des S e h t u n n e l s - , als e i n e E r l ö s u n g aus d e m D u n k e l , d i e a b e r a u c h n u r d u r c h d a s D u n kel m ö g l i c h i s t . 7 8
Wiederum in bewußter Umkehrung von Piatons Höhlengleichnis des aus der dunklen Höhle in die Lichthelle der Wirklichkeitserkenntnis heraustretenden Menschen formuliert in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts Nietzsche gerade die Höhle - in ihrer modernen Ausrichtung als Festspielhaus, Konzertsaal oder zukünftigem Filmtheater - zu einem Ort der Kunst um. Mit dieser Funktion eines vollkommen neuartigen künstlerischen >Epiphanieraumes« lebt die ursprüngliche, mythisch-kultische Bedeutung realer Höhlenorte, wie sie auch in Raabes historischen Werken eine Rolle spielen, in neuer Einkleidung auf. 7 ' Wirkung s i c h s o f o r t als ganzes Bild p r ä s e n t i e r e n k o n n t e , a n s t a t t als l a n g s a m e s Stückwerk von u n t e n nach o b e n . Vgl. dazu: H a n s Knudsen, D e u t s c h e T h e a t e r g e s c h i c h t e , 2 . , n e u b e a r b . u . erw. A u f l a g e , S t u t t g a r t 1 9 7 0 , S. 3 1 1 s o w i e z u r g e genseitigen W e r t s c h ä t z u n g von Raabe u n d Wagner: Willi Wöhler, Richard W a g n e r u n d B r a u n s c h w e i g , in: 3 0 0 J a h r e T h e a t e r in B r a u n s c h w e i g , S. 249— 2 5 4 ; S. 2 5 3 f . 76
V g l . : S t e r n b e r g e r , P a n o r a m a , S. 11—21 s o w i e : S c h i v e l b u s c h , Lichtblicke, S. 1 9 8 f f . S c h i v e l b u s c h m a c h t h i e r d e u t l i c h , d a ß e r s t d i e G e w ö h n u n g a n d i e (filmischen) Lichtmedien für eine endgültige Akzeptanz der T h e a t e r v e r d u n k l u n g s o r g t e . P l ä n e d a f ü r lagen seit B e g i n n des 19. J a h r h u n d e r t s vor, d u r c h s e t z e n k o n n t e s i c h dieses P r i n z i p j e d o c h e r s t in d e r z w e i t e n J a h r h u n d e r t h ä l f t e m i t E n g l a n d als V o r r e i t e r .
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V g l . z u d i e s e n T a g e b u c h e i n t r a g u n g e n R a a b e s aus d e n J a h r e n 1 8 9 3 , 1 8 9 7 , 1 9 0 4 , 1 9 1 0 u n d z u s e i n e r » S c h a u l u s t « g e n e r e l l : D e n k l e r , R a a b e , S. 1 3 2 f . - D i e s e o p t i s c h e n I n s z e n i e r u n g s t e n d e n z e n v e r f o l g e n in b e z u g a u f e i n e ( h i s t o r i s c h e ) Vers i n n l i c h u n g v o n ( n a t i o n a l e r ) G e s c h i c h t e d u r c h d i e ä s t h e t i s c h e I n s t i t u t i o n des M u s e u m s u n d e i n e z u n e h m e n d e G e s t a l t u n g des ö f f e n t l i c h e n R a u m e s z u m i D e n k m a l s r a u m c H e i n z S c h l a f f e r , R e a l i s i e r t e H i s t o r i e u n d Poesie des R e a l e n i m 19. J a h r h u n d e r t , i n : P f e i f f e r [u.a.], A r t social, S. 5 3 - 5 7 ; H e l m u t P f e i f f e r , Ästhetisches Bewußtsein u n d imaginäres M u s e u m . Funktionen der Kunst u n d W a n d e l des G e s e l l s c h a f t s b e g r i f f s , i n : a. a. O . , S. 7 8 - 1 0 3 ; S. 7 9 s o w i e : A r n d t , K y f f h ä u s e r - D e n k m a l , S. l O l f f .
78
S c h i v e l b u s c h , L i c h t b l i c k e , S. 2 0 8 f . W i e d e r g e g . bei: B l u m e n b e r g , H ö h l e n a u s g ä n g e , S. 6 l 4 f f . u. S. 4 0 f f . — D u r c h die Medialisierung unserer v o m Fernsehen b e e i n f l u ß t e n Welt sieht auch der
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Daß aber auch Raabes poetologisches Programm einer »Archäologie des Maulwurfs« 8 0 sowohl über die literarische Geschichtshermeneutik wie auch über die Epochengrenzen des 19. Jahrhunderts als ein ganz eigenständiger, jetzt also im positiven Sinne zu verstehender >Sonderweg< hinausweist, hat dabei ein anderer, der >Maulwurfs H o m u n k u lus< auf d e m H i n t e r g r u n d der epischen P r o d u k t i o n u m 1870, in: H e l m u t Koopm a n n (Hg.), M y t h o s u n d Mythologie in der Literatur des 19. J a h r h u n d e r t s , F r a n k f u r t a . M . 1979, S. 2 6 3 - 2 7 5 . Babener, Liahna K l e n m a n : Predators of the Spirit: T h e Vampire T h e m e in N i n e t e e n t h - C e n t u r y Literature, Los Angeles (California), Phil. Diss. 1975. B a c h m a n n , Doris: D i e »Dritte Welt« der Literatur. Eine ethnologische M e t h o d e n kritik literaturwissenschaftlichen Interpretierens, am Beispiel von Raabes R o m a n »Abu Telfan oder D i e H e i m k e h r v o m Mondgebirge«, in: J b R G 1979, S. 2 7 - 7 1 . Bänsch, D o r o t h e a : D i e Bibliothek W i l h e l m Raabes nach Sachgebieten g e o r d n e t , in: J b R G 1970, S. 8 7 - 1 6 5 . Balint, Michael: Angstlust u n d Regression. Beitrag zur psychologischen Typenlehre, übers, v. K o n r a d Wolff u. M i t a r b . v. Alexander Mitscherlich u. M . B., Stuttgart o.J. (Erstveröffentlichung u.d.T.: Thrills a n d Regressions, L o n d o n 1959). Bataille, Georges: D a s obszöne Werk, übers, v. M a r i o n Luckow, R e i n b e k b. H a m b u r g 1988.
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